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Full text of "Deutsche Stilistik"

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BUCi-IHANDLUNG 


OSKAR  BECK  /AUfScWEN 


■vUUüWO 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  in  München. 

Handbuch 

des  deutschen  Unterrichts 

an  den  höheren  Schulen. 

In  Verbindung  mit  einer  Anzahl  Gelehrter  und  praktischer  Schulmänner 

herausgegeben  von 

Dr.  Adolf  Matthias, 

Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  vortragendem  Rat  im  k.  preuß.  Kultusministerium. 

Das  Werk  ist  vollständig  in  6  Bänden,  die  in  etwa  14  Teilen  zur  Ausgabe  gelangen  werden. 
Jeder  Teil  wird  ein  abgeschlossenes  Ganzes  bilden  und  auch  einzeln  abgegeben  werden. 

Prospekt. 

Bis  in  die  siebenziger  Jahre  des  neunzehnten  Jahrhunderts  bildeten 
die  alten  Sprachen  den  Mittelpunkt  des  gymnasialen  Unterrichts  und  ihre 
Kenntnis  in  gewissem  Sinne  die  Vorbedingung  für  alle  höheren  Berufsarten. 
Seit  Beginn  der  achtziger  Jahre  ist  ein  Wandel  auf  diesem  Gebiete  ein- 
getreten. Wohl  sind  seitdem  die  alten  Sprachen  noch  bestimmend  für  die 
Eigenart  und  auch  für  gewisse  Vorrechte  der  Gymnasien,  sie  bilden  aber 
nicht  mehr  den  Kern  oder  Mittelpunkt  des  gesamten  Gymnasialunterrichts 
und  des  gesamten  höheren  Unterrichts  überhaupt.  Unsere  höheren  Schulen 
haben  mehr  und  mehr  den  Charakter  von  Gelehrtenschulen  abgestreift  und 
sich  verwandelt  in  Pflegestätten  höherer  Allgemeinbildung.  So  sehr  man 
das  in  gewisser  Hinsicht  bedauern  mag,  so  sehr  man  wünschen  muß,  daß 
die  klassische  Bildung,  dieses  wertvolle  Erbteil  unserer  Väter,  der  modernen 
Bildung  zuliebe  nicht  Schaden  leide,  und  man  verlangen  muß,  daß  nicht 
noch  mehr  Luft  und  Licht  dem  Studium  der  Antike  entzogen  werde,  ebenso 
unumwunden  soll  man  der  neuen  Zeit  ihr  Recht  geben  und  die  bedeut- 
same Verschiebung  in  der  Wertung  der  Unterrichtsgegenstände  an  den 
deutschen  höheren  Lehranstalten  als  etwas  Berechtigtes  anerkennen,  das 
mit  geschichtlicher  Notwendigkeit  aus  dem  Geiste  der  Zeit  und  dem  Werde- 
gange unseres  deutschen  Volkes  erwachsen  ist.  In  dieser  Verschiebung  der 
Werte  ist  bemerkenswert  das  wachsende  Ansehen,  dessen  sich  der  deutsche 
Unterricht  mehr  und  mehr  zu  erfreuen  hat.  Wer  aufmerksam  die  Geistes- 
entwickelung  unseres  Volkes  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahr- 
hundertsbeobachtet hat,  wird  zugeben  müssen,  daß  die  Achtung  des  deutschen 
Unterrichts  mit  dem  Wachsen  der  Sehnsucht  unseres  Volkes  nach  einheit- 
licher Gestaltung  und  mit  der  Kräftigung  des  nationalen  Gedankens  mehr 
und  mehr  sich  bemerkbar  gemacht  hat  und  nach  der  Aufrichtung  des 
Deutschen  Reiches  so  in  den  Vordergrund  getreten  ist,  daß  die  Zeit  der 
Erfüllung  für  diesen  Unterrichtsgegenstand  nunmehr  gekommen  war.  Es 
war  deshalb  ein  geschichtlich  begründeter  Ausdruck  gesunder  Zeitrichtung 


und  Zeitstimmung,  wenn  von  der  höchsten  Stelle  im  Reich  im  Jahre  1891 
die  Forderung  nach  höherer  Wertschätzung  des  deutschen  Unterrichts  ge- 
stellt wurde.  Für  deutsche  Schulen  hätte  solche  Anschauung  stets  als  selbst- 
verständlich angesehen  werden  und  nicht  erst  solch  nachdrucksvoller  Betonung 
von  autoritativer  Seite  bedürfen  sollen.  Aber  wer  die  geschichtliche  Entwicke- 
lung  dieses  Lehrgegenstandes  kennt,  weiß,  daß  es  vor  40  oder  50  Jahren 
geradezu  ein  Wagnis  gewesen  wäre,  dem  Gedanken  Ausdruck  zu  geben, 
der  deutsche  Unterricht  solle  der  Schwerpunkt  des  gesamten  Unterrichts 
werden;  man  würde  bei  den  Verfechtern  des  Gelehrtenideals  unserer  Schulen 
als  ein  sonderbarer  Schwärmer  mitleidigem  Lächeln  begegnet  sein  und 
die  Abweisung  erfahren  haben,  man  fordere  von  diesem  Unterricht,  was  er 
weder  leisten  könne  noch  solle.  Heute  haben  sich  die  Rollen  verschoben; 
heute  stehen  diejenigen,  die  nicht  von  der  hohen  Bedeutung  des  deutschen 
Unterrichts  überzeugt  sind,  als  Sonderlinge  da.  Denn  es  erscheint  heut- 
zutage einfach  als  eine  nationale  Pflicht  und  eine  pädagogische 
Forderung  ersten  Ranges,  daß  unsere  Jugend  ein  Anrecht  darauf 
habe,  in  das  Verständnis  ihrerMuttersprache  undderenGeschichte, 
in  des  eigenen  Volkes  Literatur  und  Geistesleben  eingeführt  und 
so  der  Pflege  heimischer  Empfindungen  und  vaterländischen  Sin- 
nes in  vollem  Umfange  teilhaftig  zu  werden. 

Dieser  Pflicht  will  das  Handbuch  des  deutschen  Unterrichts  ge- 
recht werden,  das,  hervorgegangen  aus  dem  engsten  Einvernehmen  des 
Veriegers  und  des  Herausgebers,  durch  lebendige  Zusammenarbeit  mit  be- 
deutenden Männern  auf  dem  Gebiet  der  germanistischen  Wissenschaft  und 
des  deutschen  Unterrichts  geschaffen  werden  soll.  Es  will  allen  Lehrern 
und  Lehrerinnen  (denn  die  höheren  Mädchenschulen  haben  auf  diesem 
Unterrichtsgebiete  gleiche  Rechte  und  Pflichten),  insbesondere  aber  denen, 
welchen  der  deutsche  Unterricht  anvertraut  ist,  die  Möglichkeit  bieten,  ein 
tieferes  Verständnis  unserer  Sprache  und  ihrer  Geschichte  zu  gewinnen 
und  ihr  Urteil  und  ihren  Geschmack  für  logische,  sittliche  und  ästhetische 
Fragen,  die  mit  dem  deutschen  Unterricht  zusammenhängen,  fortwährend 
zu  bilden  und  zu  vervollkommnen.  Kein  Unterricht  kommt  so  leicht  in 
Gefahr,  der  Oberflächlichkeit  und  der  Phrase,  diesem  gefährlichsten  Gift 
aller  gesunden  Erziehung,  zum  Opfer  zu  werden.  Kein  Lehrgegenstand 
sollte  aber  sorgfältiger  und  gewissenhafter  vor  dieser  Gefahr  geschützt  werden 
als  dieser,  abgesehen  vom  Religionsunterricht,  ethisch  bedeutsamste  Teil  des 
Lehrplans  unserer  höheren  Schulen.  Ein  sicheres  Gegengemcht  gegen  alle 
Phrase  ist  nun  zweifellos  gediegenes  Wissen,  festes  Können  und  Vertiefung 
in   das  durch  die  schöne  Literatur  vermittelte  Geistesleben  unseres  Volkes. 

Noch  eins  kommt  hinzu.  Wir  Deutsche  haben  lange  Zeit  einen 
wenig  lebendigen  Formsinn  gehabt,  dagegen  ein  starkes  Gefühl  der  Unab- 
hängigkeit auch  unserer  Sprache  gegenüber.  So  sehr  wir  zu  Zeiten  geneigt 
gewesen  sind,  uns  in  fremdländischen,  besonders  altsprachlichen  Regeln  zu 
tummeln  und  heimisch  zu  machen,  so  schwer  ist  es  uns  vielfach  geworden, 
uns  in  unserer  eigenen  Sprache  Gesetzen  und  Regeln  zu  fügen.     Lessings 


beschämendes  Wort,  der  Charakter  des  deutschen  Volkes  bestehe  darin, 
keinen  Nationalcharakter  zu  besitzen,  gilt  in  gewissem  Sinne  auch  auf 
dem  Gebiete  des  deutschen  Unterrichts.  Während  wir  auf  fremdsprach- 
lichem Gebiete  in  unseren  Schulen  Hervorragendes  geleistet  haben  und 
dort  fremdem  Geiste  und  fremder  Form  so  zugetan  waren,  daß  uns  viel- 
fach das  Fremde  zur  anderen  Natur  geworden  ist,  waren  wir  zu  deutschem 
Geist  und  deutscher  Form  in  ein  Verhältnis  der  Entfremdung  geraten  und 
sind  erst  spät  zu  der  Erkenntnis  gekommen,  daß  wir  den  eigenen  Sprach- 
charakter fast  verloren  haben.  Mehr  und  mehr  aber  hat  sich  in  den  letzten 
Jahrzehnten  die  Anschauung  Bahn  gebrochen,  daß  die  Zeiten  vorüber  sind, 
wo  allein  der  Mann  zu  den  Gebildeten  gerechnet  wurde  und  sich  den  höchsten 
Aufgaben  und  Berufen  gewachsen  glauben  durfte,  der  sich  die  aus  dem  Alter- 
tum geretteten  Wissensschätze  angeeignet  und  dazu  die  Kunst  gelernt  hatte,  sich 
in  gutem  und  gewandten  Latein  auszudrücken.  Aber  auch  die  Zeit  ist  für 
immer  vorüber,  wo  Sprache  und  Geistesbildung  unserer  westlichen  Nachbarn 
als  unübertreffliche  Muster  hingestellt  wurden,  und  französische  Eleganz  allein 
als  Zeichen  höherer  Bildung  angesehen  wurde.  Wer  heute  als  ein  wahrhaft 
gebildeter  Mann  in  seinem  Vaterlande  gelten  will,  der  wird  nicht  mehr 
ungestraft  vaterländische  Bildung  vernachlässigen  dürfen,  und  es  wird  ihm 
als  ein  bedenklicher  Mangel  anhaften,  wenn  er  seines  Vaterlandes  Sprache, 
Literatur  und  Geistesschätzen  nicht  den  Haupt-  und  Ehrenplatz  in 
seiner  Bildung  einräumt. 

Das  Handbuch  wird  im  ersten  Bande  die  geschichtliche  Entwicke- 
lung  des  deutschen  Unterrichtes,  die  Behandlung  des  deutschen  Lese- 
stoffes und  des  deutschen  Aufsatzes  bringen.  Der  zweite,  dritte  und 
vierte  Band  haben  den  Bestand  und  das  Werden  der  deutschen  Sprache 
darzustellen.  Neben  der  Grammatik  der  neuhochdeutschen  Sprache  bietet 
zunächst  der  zweite  Band  kurzgefaßte  Grundrisse  des  Gotischen,  Althoch- 
deutschen und  Mittelhochdeutschen,  verbunden  mit  der  Erklärung  ausge- 
wählter Texte.  Der  dritte  Band  enhält  die  deutsche  Stilistik,  Metrik  und 
Poetik,  also  die  künstlerische  Tätigkeit  des  Sprachgeistes,  wie  sie  sich  zum 
Zwecke  mehr  bewußter  Wirkungen  vollzieht.  Der  vierte  Band  bietet  die  Ge- 
schichte der  deutschen  Sprache,  die  Etymologie  und  die  Sprichwörter,  also  das 
Werden  und  Sein  unserer  Sprache,  bei  dem  das  Schaffen  des  Volksgeistes  in 
mehr  unbewußter  Empfänglichkeit  und  Darstellungskraft  mitwirkend  tätig  ist. 
Der  fünfte  Band  wird  einen  Einblick  in  die  deutsche  Altertumskunde,  die 
deutsche  Religion,  Mythologie  und  Heldensage  bieten,  die  aufs  engste  ver- 
bunden sind  mit  dem  Leben  unserer  Sprache  und  die  ohne  die  Erkenntnis 
der  mitbestimmenden  sprachlichen  Kräfte  zum  vollen  Verständnis  nicht  ge- 
langen können.  Der  sechste  Band  wird  die  deutsche  Literaturgeschichte  enthalten, 
die  alles  das  aus  den  fünf  ersten  Bänden  gleichsam  zusammenfaßt,  was  an 
literarischen  Werten  sich  im  Laufe  der  Geschichte  abgeklärt  und  befestigt  hat. 

Dr.  Adolf  Matthias,  C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung 

Geh.  Oberregierungsrat  und  vertragender  Rat  Oskar  Beck. 

im  l<.  preuss.  Kultusministerium. 


Inhalt  des  Gesamtwerkes: 

Erster  Band: 

1.  Die  geschichtliche  Entwickelung  des  deutschen  Unterrichts  von 
Dr.  Adolf  Matthias,  Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  Vortrag.  Rat  im  k.  preuß. 

Kultusministerium.       (Erscheint  im  Laufe  des  Jahres  1906. 1 

2.  Der  deutsche  Aufsatz  von  Prof.  Dr.  Paul  Geyer,  Oberlehrer  am  Gym- 
nasium zu  Brieg.  21  Bog.  Lex. 8".   Geheftete Mk.,  geb.  7 Mk.  (Erschienen!) 

3.  Die  Behandlung  der  Lesestücke  und  Schriftwerke  von  Dr.  Paul 

Goldscheider,      Gymnasialdirektor    in     Mülheim   a.   Rh.      32   Bog. 

Lex.8".     Geheftet  8  Mtl.,  gebunden  9  Mk.     lErsanenem) 
Zweiter  Band: 

/.  Einführung  in  das  Gotische,  Althochdeutsche  und  Mittelhoch- 
deutsche an  der  Hand  der  Erklärung  ausgewählter  Texte,  nebst  Wörter- 
verzeichnissen von  Dr.  Friedrich  von  der  Leyen,  Privatdozent  an 
der  Universität  München. 

2.  Grammatik  der  neuhochdeutschen  Sprache.  Von  Dr.  Ludwig 
Sätterlin,  a.o.  Professor  an  der  Universität  Heidelberg.  Mit  Anhang: 
Die  deutsche  Au\ssprache  auf  phonetischer  Grundlage.  Von 
Dr.  Theodor  Siebs,  ord.  Professor  an  der  Universität  Breslau. 

Dritter  Band: 

/.  Deutsche  Stilistik.  Von  Dr.  Richard  M.  Meyer,  a.o.  Professor  an  der  Uni- 
versität Berlin.      15^12  Bog.  Lex.  8^.    Geheftet  5  Mk.,  geb.  6  Mk.    (Erschienen!) 

2.  Deutsche  Poetik.    Von  Prof.  Dr.  Rudolf  Lehmann,    Oberlehrer  am 

Luisenstädt.  Gymnasium  und  Dozent  an  der  Universität  in  Berlin. 

I,  Erscheint  im  Herbst  1906.) 

3.  Deutsche  Verslehre.     Von  Dr.  Franz  Saran,  a.o.  Professor  an   der 

Universität   Halle.      (Erscheint  im  Sommer  I906.I 

Vierter  Band: 

/.  Geschichte  der  deutschen  Sprache  von  Dr.  Viktor  Michels,  ord.  Pro- 
fessor an  der  Universität  Jena. 

2.  Etymologie  der  neuhochdeutschen  Sprache.  Eine  Darstellung  des 

deutschen  Wortschatzes  in  seiner  geschichtlichen  Entwick- 
lung. Mit  Index.  Von  Dr.  Herman  Hirt,  a.o.  Professor  an  der 
Universität  Leipzig. 

3.  Sprichwörter,  sprichwörtliche  Redensarten,  geflügelte  Worte. 

Fünfter  Band: 

/.  Deutsche  Altertumskunde,  Religion  und  Mythologie.  Von  Dr.  Fried- 
rich Kauffmann,  ord.  Professor  an  der  Universität  Kiel. 

2.  Deutsche  Heldensage.  Von  Dr.  Friedrich  Panzer,  Professor  an  der 
Akademie  für  Sozial-  und  Handelswissenschaften   in  Frankfurt  a.  M. 

Seclister  Band: 

Deutsche  Literaturgeschichte.  Von  Dr.  Ernst  Elster,  ord.  Professor  an 
der  Universität  Marburg  a.  L. 


HANDBUCH 

DES 

DEUTSCHEN  UNTERRICHTS 

AN  HÖHEREN  SCHULEN 


In  Verbindung  mit  Prof.  Dr.  Ernst  Elster  (Marburg),  Gymn.Prof.  Dr. 
Paul  Geyer  (Brieg),  Gymn.Dir.  Dr.  Paul  Goldscheider  (Mülheim 
a.  Rh.),  Prof.  Dr.  Hermann  Hirt  (Leipzig),  Prof.  Dr.  Friedrich  Kauff- 
mann  CKiei),  Gymn.Prot.  Dr.  Rudolf  Lehmann  (Berlin^,  Priv. Dozent 
Dr.  Friedrich  von  der  Leyen  (München),  Prof.  Dr.  Richard  M. 
Meyer  (Berlin),  Prof.  Dr.  Viktor  Michels  (Jena),  Prof.  Dr.  Friedrich 
Panzer  CFrankfurt  a.  M.),  Prof.  Dr.  Franz  Saran  (Halle),  Prof.  Dr. 
Theodor  Siebs  (Breslau),  Prof.  Dr.  Ludwig  Sütterlin  (Heidelberg) 

HERAUSGEGEBEN   VON 

DR.  ADOLF  MATTHIAS 

GEH.  OBER-REG.-RAT  UNO  VORTR.\GENDEM  R.\T  IM   K.  PREUSS.  KLLTUS.MLNTSTERIU.H 


DRITTER  BAND,   ERSTER  TEIL 
DEUTSCHE  STILISTIK 


MUENCHEN   1906 

C.  H.  BECK'SCHE  VERL.^GSBUCHH.\NDLUNG 
OSKAR  BECK 


r\(o\^^a 


DEUTSCHE 

STILISTIK 


Von 


DR.  RICHARD  M.  MEYER 

PROFESSOR    AN   DER   UNIVERSITÄT  BERLIN 


Und  geht  es  noch  so  rüstig 
Hin  über  Stein  und  Steg, 
Es  ist  eine  Stelle  im  Wege, 
Du  kommst  darüber  nicht  weg. 

Th.  Storm. 


MUENCHEN  1906 

C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG 

OSKAR  BECK 


C.  H.  Beck 'sehe  Buchdruckerei  in  Nördliagen. 


KONRAD   BURDACH 


UND 


ERNST  ELSTER 


IN  FREUNDSCHAFT  ZUGEEIGNET 


Inhaltsverzeichnis. 

Einleitung.  Seite 

§    1.   Theoretische  und  praktische  Aufgabe 1 

§    2.   Bedenl<en 1 

§    3.   Abgrenzung 1 

§    4.   Absicht 2 

§    5.    Literatur       2 

Stilistik. 

Erstes  Kapitel.    Allgemeines. 

§    6.    Literatur       3 

§    7.    Definitionen 3 

§    8.    Erläuterung       3 

§    9.   Auffassung 4 

§  10.    Verhältnis  zur  Rhetorik 4 

§  11.    Geschichte 4 

§  12.    Grundlage 4 

§  13.    Einteilung 5 

§  14.   Elemente  der  Rede 5 

§  15.   Rekapitulation       5 

Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht. 

§  16.    Gemeinverständlichkeit      5 

§  17.   Barbarismus 6 

§  18.    Soloecismus 6 

§  19.   Archaismus 7 

§  20.    Neologismus 9 

§  21.   Modewörter 12 

§22.   Idiotismus 15 

§  23.   Provinzialismus 16 

§24.    Kunstwörter 17 

§  25.    Fremdwörter 18 

§  26.    Niedere  Worte 21 

§  27.   Rekapitulation       22 

Drittes  Kapitel.    Die  Worte  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

§  28.   Wortwahl • 22 

§29.   Genauigkeit 24 

§30.   Amphibolie       25 

§  31.    Anschaulichkeit 26 


VIII  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

§  32.   Mittel  der  Wortwahl 27 

§  33.   Assoziationen 28 

Viertes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  formeller  Hinsicht. 

§  34.  Wortverbindung 31 

§  35.  Satzteile 32 

§  36.  Sandhi  oder  Satzphonetik 32 

§  37.  Hiatus  und  Euphonie 33 

§  38.  Störende  Lautähnlichkeit 35 

§  39.  Formelbruch 35 

§  40.  Polyptoton 36 

§  41.  Annominatio 36 

Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

§  42.  Allgemeine  Wortbeziehungen 37 

§  43.  Anteil  am  Satz 37 

§  44.  Wortwiederholung 37 

§  45.  Flektierte  Wortwiederholung      38 

§46.  Häufung       39 

§  47.  Oxymoron 40 

§  48.  Spezielle  Wortbeziehungen 42 

§  49.  Eigenart  des  Adjektivs 42 

§  50.  Prädikativer  und  attributiver  Gebrauch 43 

§  51.  Das  Attribut 43 

§52.  Tautologie 43 

§  53.  Figura  etymologica 44 

§54.  Epitheton:  Definition 45 

§55.  Epitheton:  Eigenart 46 

§  56.  Entwicklung  des  Epithetons 47 

§  57.  Aufgabe  des  Epithetons 51 

§  58.  Anwendung  des  Epithetons 52 

§  59.  Steigerung 53 

§  60.  Subjekt  und  Prädikat 54 

§61.  Constructio  kata  synesin 54 

§  62.  Eigentliches  Zeugma 55 

§  63.  Uneigentliches  Zeugma 55 

§  64.  Prädikat  und  Objekt 55 

§  65.  Rückblick 56 

Sechstes  Kapitel.    Der  Satz  in  formeller  Hinsicht. 

§  66.  Definition  des  Satzes 56 

§  67.  Syntax  und  Stilistik       56 

§68.  Wortstellung 56 

§  69.  Allgemeines  zur  Prosarhythmik 58 

§  70.  Numerus  und  Rhythmus 60 

§71.  Rhythmus 61 

§  72.  Klausel 61 

§73.  Melodie 63 

§  74.  Tempo 63 

§  75.  Ausdehnung 64 

§  76.  Numerus  im  engern  Sinn 65 

§77.  Regeln 69 


Inhaltsverzeichnis.  IX 


Seite 
Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

§    78.   Forderungen  an  den  Satz 70 

§    79.   Einheit 70 

.  §    80.   Parataxe  und  Hypotaxe 72 

§    81.   Störungen  der  Einheitlichl<eit 73 

§    82.   Parenthese 73 

,   §    83.   Ellipse 74 

§    84.   Aposiopese 75 

§    85.   Anakoluth 76 

§    86.    Störungen  der  Vollständigkeit 77 

§    87.   Mehrdeutigkeit 77 

§    88.    Undeutlichkeit 78 

§    89.    Anmerkung 79 

§    90.   Exkurs 80 

§    91.   Nachtrag 81 

§    92.    Interpunktion 81 

§    93.   Typographische  Hilfsmittel 83 

Achtes  Kapitel.    Arten  des  Satzes. 

§    94.   Arten  des  Satzes 84 

§   95.   Satz-  und  Stilarten 84 

§    96.   Ausruf 84 

§    97.   Aussage 86 

§    98.   Zusammengesetzter  Satz 86 

§    99.    Frage 87 

§  100.   Symbolische  Sätze 87 

§  101.    Heischesätze 89 

Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht. 

§  102.   Arten  der  Satzverbindung       89 

§  103.   Normale  Satzverbindung 90 

§  104.   Asyndeton 90 

§  105.   Polysyndeton 90 

§  106.    Bindung  durch  betonte  Worte.    Anaphora 91 

§  107.    Epiphora 93 

§  108.    Symploke 94 

§  109.    Epanodos 95 

§  110.   Epanalepsis 95 

§111.   Wortaufnahme 95 

§  112.    Refrain ' 96 

§  113.    Gegenrefrain 97 

§  114.   Responsionen 97 

§115.    Kontinuität 98 

§  116.    Variation  des  Subjekts 98 

§  117.   Tropen 99 

§  118.   Einteilung  der  Tropen 100 

§119.    iVlietonymie 102 

§  120.   Umschreibung 105 

§  121.   Euphemismus 107 

§  122.    Grenzfälle  der  Umschreibung 107 

§  123.    Synekdoche       108 

§124.    Metapher       HO 

§  125.    Variation  und  Wiederholung 112 


X  Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Andere  Satzbindemittel       113 

Parallelismus • 113' 

Inversion       114 

Reim 114 

Zählung ■ 115 

Rückblick 115 

Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

Einheit  der  Rede 115 

Analysen       116 

Entwicklung  der  Rede 117 

Formen  der  Entwicklung 118 

Geradlinige  Entwicklung 118 

Akkumulation 119 

Amplifikation 119 

Gewundene  Entwicklung 120 

Zweiteilung 121 

Antithese       122 

Chiasmus 125 

Klimax 127 

Kette 128 

Wortspiel 129 

Verweisung 130 

Hysterologie 131 

Periodenbau      131 

Satzschluß • 132 

Elftes  Kapitel.    Aufiere  Hilfen. 

Äußere  Beziehungen 133 

Apostrophe 133 

Inhaltliche  Hilfen  von  außen  her 134 

Sprichwort 134 

Zitat 135 

Parodie 137 

Anspielung 137 

Reminiszenz 138 

Sentenz 138 

Gleichnis      139 

Katachrese 141 

Parabel 143 

Beispiel 143 

Anekdote 144 

Zwölftes  Kapitel.    Innere  Hilfen. 

Beste  Hilfe 145 

Disposition 146 

Lektüre 148 

Feilen 149 

Abschluß       151 

Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa. 

Recht  der  Einteilung 152 

Einteilung  der  Prosa 152 


§ 

126 

§ 

127 

§ 

128 

§ 

129 

§ 

130 

§ 

131 

§ 

132 

§ 

133 

§ 

134. 

§ 

135. 

§ 

136 

§ 

137. 

§ 

138. 

§ 

139. 

§ 

140. 

§ 

141. 

§ 

142 

§ 

143. 

§ 

144. 

§ 

145 

§ 

146. 

§ 

147. 

§ 

148. 

§ 

149 

§ 

150. 

§ 

151. 

§ 

152. 

§ 

153. 

§ 

154. 

§ 

155. 

§ 

156. 

§ 

157. 

§ 

158. 

§ 

159 

§ 

160 

§ 

161 

§ 

162 

§ 

163 

§ 

164 

§ 

165 

§ 

166 

§ 

167 

§ 

168 

§ 

169 

§ 

170 

Inhaltsverzeichnis.  XI 


Seite 

§  171.  Monologische  Prosa 155 

§  172.  Aphorismus 155 

§  173.  Essay 158 

§  174.  Tagebuch 159 

§  175.  Erzählende  Prosa 160 

§  176.  Arten  der  erzählenden  Prosa 165 

§  177.  Novelle 168 

§  178.  Literarisches  Porträt 168 

§  179.  Schwank 170 

§  180.  Rätsel 171 

§  181.  Märchen 172 

§  182.  Roman 174 

§  183.  Wissenschaftliche  Darstellung 179 

§  184.  Bericht 182 

§  185.  Inschrift 183 

§  186.  Brief 184 

§  187.  Zeitung 188 

§  188.  Mitteilende  Prosa       194 

§  189.  Dialog 195 

§  190.  Wissenschaftliche  Untersuchung       196 

§  191.  Rede .     .  •» 197 

§  192.  Flugschrift 199 

§  193.  Rückblick 200 

Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.      ^ 

§  194.  Norm  und  Umgestaltung 201 

§  195.  Moment 201 

§  196.  Zeit 203 

§  197.  Umgebung 205 

§  198.  Thema 206 

§  199.  Temperament 207 

§  200.  Bildungsstufe 215 

§  201.  Weltanschauung 216 

§202.  Individualität 217 

§203.  Rückblick 219 

Anhang.    Rhetorik. 

§204.  Definition 221 

§  205.  Literatur • 221 

§  206.  Geschichte  der  deutschen  Beredsamkeit 223 

§  207.  Art  der  deutschen  Beredsamkeit 224 

§  208.  Eigentümliche  Momente  der  Rede 226 

§  209.  Wirkung  der  unmittelbaren  Absicht 226 

§  210.  Wirkung  des  mündlichen  Vortrags       229 

§211.  Wert  der  Redekunst 230 

§  212.  Gesellige  Unterhaltung 231 

Alphabetisches  Register 233 


Einleitung. 


§  1.  Theoretische  und  praktische  Aufgabe.  Die  Stilistik  wird  insgemein 
als  eine  Art  Geheimmittellehre  aufgefaßt,  die  allerlei  Kunstgriffe  zur  Erzielung 
ästhetischer  Wirkungen  an  die  Hand  geben  soll.  Davon  kann  im  Ernst 
nicht  die  Rede  sein;  vielmehr  ist  sie  eine  wissenschaftliche  Disziplin,  die 
als  solche  das  Verständnis  vorhandener  Erscheinungen  zu  fördern  und  zu 
verbreiten  sucht.  In  diesem  Sinn  behandeln  wir  die  Stilistik  in  dem  fol- 
genden Abriß  als  ein  System  theoretischer  Erkenntnisse,  das  sich  selbst- 
verständlich praktisch  verwerten  läßt,  gerade  wie  die  Grammatik  (im  Sprach- 
unterricht) oder  jede  andere  Wissenschaft. 

Die  Rhetorik  ist  dagegen  nach  ihrer  Eigenart  wirklich  immer  vorzugs- 
weise praktisch  gewesen.  Die  mündliche  Beredsamkeit,  die  ihren  eigent- 
lichen Stoff  bildet,  läßt  sich  nicht  in  der  Weise  beobachten,  wie  Leistungen, 
die  in  Schrift  oder  Druck  vorliegen:  die  Gelegenheit  zum  Studium  ist  un- 
gleich seltener  und  dauert  kürzer.  Und  ferner  ist  bei  der  Beredsamkeit 
das  Ziel  überwiegend  selbst  ein  praktisches:  sie  ist  auf  eine  bestimmte 
Wirkung,  Überredung,  Gemütsbestimmung  gerichtet,  während  die  sonstige 
Prosa  und  Poesie  dergleichen  mindestens  nicht  so  unmittelbar  anstreben. 

§  2.  Bedenken.  Es  ist  daher  nicht  zu  leugnen,  daß  die  herkömmliche 
Verkuppelung  „Stilistik  und  Rhetorik"  eine  gewisse  Schiefe  in  sich  birgt. 
Stellt  man,  wie  es  so  oft  geschieht,  noch  drittens  die  Poetik  hinzu,  so  wird 
die  Kluft  einigermaßen  überdeckt,  da  die  Poetik  zwischen  den  theoretischen 
Aufgaben  der  Stilistik  und  den  praktischen  der  Rhetorik  vermitteln  kann; 
obwohl  sie  in  neuerer  Zeit  die  praktischen  Tendenzen  immer  mehr  ab- 
geschüttelt hat,  die  die  Lehrbücher  früherer  Zeiten  (man  denke  nur  an  den 
berühmten  „Poetischen  Trichter"  von  Nürnberg  1647!)  beherrschten. 

Wir  suchen  der  Ungleichmäßigkeit  dadurch  Herr  zu  werden,  daß 
wir  auch  die  Rhetorik  rein  theoretisch  behandeln  und  nur  eben  hier,  wie 
übrigens  bei  der  Stilistik  auch,  Folgerungen,  die  sich  aus  den  Tatsachen 
unmittelbar  ergeben,  nicht  verschweigen. 

§  3.  Abgrenzung.  Auf  diese  Weise  erhalten  wir  zwei  Disziplinen,  deren 
Abgrenzung  untereinander  und  gegen  die  Poetik  von  der  Definition  ab- 
Handbuch des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  UI,  Teil  1.  1 


Einleitung. 


hängig  ist,  die  wir  von  beiden  und  vor  allem  von  der  Stilistik  geben.  An 
dieser  Stelle  mag  nur  bemerkt  werden,  daß  in  der  Stilistik  und  Rhetorik 
stärker  als  in  der  Poetik  solche  Formen  zu  behandeln  sind,  die  mit  bewußter 
Absicht  verwandt  werden;  doch  handelt  es  sich,  wie  schon  angeführt,  nur 
um  eine  Verschiedenheit  des  Grades.  Ein  Amerikaner,  Dobell,  hat  definiert: 
„Poesie  ist  der  Ausdruck  einer  Gemütsstimmung  nach  ihren  eigenen  Ge- 
setzen; Rhetorik  nach  den  Gesetzen  der  Hörer."  Das  deutet,  in  pointierter 
Übertreibung,  auf  eine  wirkliche  Verschiedenheit.  Die  Stilistik  gehört  dabei 
mit  der  Rhetorik  insofern  zusammen,  als  es  sich  bei  beiden  vorzugsweise 
um  Regeln  handelt,  die  durch  die  spezifische  Anwendung  vorgeschrieben 
werden. 

§  4.  Absicht.  Wir  werden,  wo  es  irgend  angezeigt  scheint,  den  Stoff 
in  dreifacher  Gliederung  geordnet  zeigen:  die  anzugebenden  Tatsachen 
sollen  psychologisch  eriäutert,  historisch  eingereiht,  normativ  ver- 
wertet werden.  Der  Tatbestand  selbst  bleibt  aber  die  Hauptsache  und  die 
historischen  Zusammenhänge  werden  wir,  dem  Zweck  dieses  Lehrbuches 
entsprechend,  am  wenigsten  betonen.  —  In  Literaturangaben  sparsam, 
beschränken  wir  uns  auf  die  Angabe  solcher  Bücher,  aus  denen  unsere 
Leser  einen  unmittelbaren  Vorteil  ziehen  können;  und  da  in  Hinsicht 
auf  die  Beobachtung  des  Tatsächlichen  die  alte  Tradition  der  Franzosen 
und  die  neue  Tendenz  der  Amerikaner  unsere  deutsche,  auf  die  spekulative 
Ergründung  gerichtete  Art  vielfach  übertreffen,  habe  ich  verhältnismäßig 
häufig  auf  lehneiche  fremdsprachliche  Arbeiten  hinweisen  müssen. 

§5.  Literatur.  Von  allgemeinen  Darstellungen,  die  Stilistik  und  Rhetorik  umfassen, 
nenne  ich  hier  nur  zwei  deutsche  Bücher.  Das  bekannte  Werk  von  W.  Wackernagel, 
Poetik,  Rhetorik  und  Stilistik  (Akademische  Vorlesungen,  herausgegeben  von  L  Sieber, 
Halle  1873,  Waisenhaus)  verdankt  seine  Beliebtheit  der  geschickten  Auswahl  deutscher 
Beispiele;  übrigens  bleibt  es  völlig  von  der  antiken  Theorie  abhängig,  außer  in  der  Dis- 
position, die  aber  keineswegs  glücklich  heißen  kann.  Das  Büchlein  von  A.  Philippi,  Die 
Kunst  der  Rede.  Eine  deutsche  Rhetorik  (Leipzig  1896,  Grunowi  sucht  dagegen  mit  Ent- 
schiedenheit einen  modernen  Standpunkt  einzunehmen,  den  es  mit  Geschmack,  doch  ohne 
systematische  Vollständigkeit  durchführt  —  Einzelne  Literatur  habe  ich  überall  soweit 
angezogen,  daß  die  mir  besonders  förderlich  scheinenden  Schriften  dem  zur  Hand  sind, 
der  auf  dem  betreffenden  Gebiet  weiter  arbeiten  möchte,  daß  aber  für  andere  die  Einsicht- 
nahme in  die  angeführten  Bücher  entbehrlich  ist. 

Zur  Erläuterung  der  gefundenen  Regeln,  Empfehlungen  und  Bedenken  geben  »ir 
möglichst  kurze  Beispiele;  wo  solche  bei  geringem  Nachdenken  jedem  zu  Gebote  stehen, 
haben  wir  den  Raum  gespart.  Reichliche  Beispiele  findet  man  insbesondere  bei  Wacker- 
nagel (s.  o.)  und  bei  G.  Gerber,  Die  Sprache  als  Kunst  (Bromberg  1871  f.  :  weniger  zu 
empfehlen  ist  das  Büchlein  von  O.  Weise,  Stilistische  Musterbeispiele  ileipzig  1902,  Teub- 
ner).  Im  übrigen  scheint  uns  efwa  für  Paradigmata  von  Stilrichtungen  oder  Gebrauchsarten 
bei  den  Lesern,  für  die  dies  Buch  berechnet  ist,  die  Aufforderung  zum  eigenen  Suchen 
in  den  Werken  unserer  besten  Schriftsteller  passender  als  das  Herausklauben  von  .schönen 
Stellen-! 


Stilistik. 


Erstes   Kapitel. 
Allgemeines. 

§  6.  Literatur.  Geistreich,  aber  schematisch  und  gewaltsam  hat  K.  F. 
Becker  (Der  deutsche  Stil,  Frankfurt  a.  M.  1848,  Kettembeil)  die  deutsche 
Stilistik  auf  Logik  und  Grammatik  aufgebaut  und  damit  auf  lange  Zeit  die 
ruhigere  historische  Betrachtung  verdrängt,  die  sich  etwa  bei  Theodor 
MuNDT  (Die  Kunst  der  deutschen  Prosa,  Berlin  1837,  Veit)  in  Kraft  findet. 
Weiterhin  hat  man  fast  immer  nur  versucht,  die  griechisch-römische  Stilistik 
auf  die  deutsche  Sprache  anzuwenden  (so  auch  W.  Wackernagel,  s.  o.). 
Von  neueren  Darstellungen  ist  die  wichtigste  die  von  K.  Wunderlich  (Der 
deutsche  Satzbau,  Stuttgart  1901,  Cotta),  die  sich  freilich  mehr  als  eine 
Darstellung  der  Syntax  unter  stilistischen  Gesichtspunkten  gibt  (vgl.  auch 
desselben  Deutsche  Umgangssprache,  Weimar  und  Berlin  1894,  Felber). 

§  7.  Definitionen.  Die  üblichen  Definitionen  pflegen  die  Stilistik  völlig 
aus  dem  Zusammenhang  der  grammatischen  Disziplinen  herauszureißen,  in 
den  sie  doch  durchaus  gehört  (wie  zuerst  K.  F.  Becker,  freilich  über  das 
Ziel  hinausschießend,  betonte).  Sie  findet  aber  dort  ihren  guten  Platz.  Die 
herkömmliche  Einteilung  der  Grammatik  folgt  dem  Aufbau  der  Sprache. 
Kann  man  „Grammatik"  überhaupt  definieren  als  die  Lehre  von  den  Ele- 
menten und  (was  meist  fortgelassen  wird!)  den  umgestaltenden  Faktoren 
einer  Sprache,  so  ist  im  einzelnen  die  Lautlehre  die  Wissenschaft  von  den 
Elementen  und  den  umgestaltenden  Faktoren  der  Silbe;  die  Formenlehre 
von  denen  des  Wortes;  die  Syntax  von  denen  der  fertigen  "Rede;  die  Be- 
deutungslehre von  denen  der  sprachschaffenden  Anschauung.  Jede  dieser 
beschreibenden  Disziplinen  hat  nun  eine  vergleichende  Disziplin  zur  Seite; 
so  zeigt  die  Lautphysiologie  Elemente  und  umgestaltende  Faktoren  der  Laut- 
lehre in  allgemeinerer  Beleuchtung,  die  Etymologie  die  der  Formenlehre, 
die  Stilistik  die  der  Syntax,  die  Sprachphilosophie  die  der  Bedeutungslehre. 

§  8.  Erläuterung.  Die  Stilistik  ist  also  im  letzten  Sinne  nichts  anderes  als 
eine  vergleichende  Syntax,  d.  h.  Lehre  von  den  normalen  Gestaltungen 
der  syntaktischen  Möglichkeiten.  Tatsächlich  kommen  zwar  alle  Möglich- 
keiten syntaktischer  Fügung  in  der  menschlichen  Rede  und  Schrift  auch 
wirklich  vor;  die  Lehre  aber  bezieht  sich  nur  auf  die  normalen  Fälle,  das 

1* 


4  Stilistik. 


sind  diejenigen,  die  unter  bestimmten  Gesichtspunkten  als  allein  zweck- 
mäßig und  berechtigt  erscheinen.  Herrschend  ist  dabei  also  der  Gesichts- 
punkt der  kunstmäßigen  Anwendung;  und  insofern  kann  man  die  Stilistik 
mit  der  Sprachphilosophie  vergleichen,  die  die  tatsächlichen  Wortschöpfungen 
und  Sprachschöpfungen  an  der  Idee  eines  vollkommenen  Ausdrucks  der 
Gedanken  und  Anschauungen  mißt.  Die  kunstmäßige  Anwendung  selbst 
aber  muß  im  einzelnen  erläutert  werden,  so  daß  die  Stilistik  psycho- 
logisch für  die  Ausdrucksformen  zu  leisten  hat,  was  die  Lautphysiologie 
physiologisch  für  die  Lautiehre  vollbringt;  und  so  daß  sie  historisch  für 
die  Figuren  und  sonstigen  Ausdrucksmittel  anstreben  muß,  was  die  Etymo- 
logie für  die  Wurzeln  und  Suffixe  leistet. 

§  9.  Auffassung.  Die  Stilistik  ist  also,  prägnant  ausgedrückt,  die  Lehre 
von  der  kunstmäßigen  Anwendung  der  fertigen  Rede  (ihrer  Elemente  und 
ihrer  umgestaltenden  Faktoren),  und  die  deutsche  Stilistik  ist  die  Lehre 
von  der  kunstmäßigen  Anwendung  der  deutschen  Sprache. 

§  10.  Verhältnis  zur  Rhetorik.  Das  Wort  „Stilistik"  ist  von  ^stilus"  (lat. 
für  griech.  „Stylus")  „Schreibgriffel"  abgeleitet  und  bezeichnet  dementspre- 
chend vorzugsweise  die  Lehre  von  der  schriftmäßigen  Sprachkunst,  der  die 
Rhetorik  als  Lehre  von  der  mündlichen  Redekunst  gegenübersteht.  Es 
ist  aber  klar,  daß  beide  sich  vielfach  berühren  und  sogar  decken  müssen, 
und  so  läßt  sich  denn  die  Unterscheidung  höchstens  soweit  streng  durch- 
führen, als  die  Stilistik  die  spezifischen  Erfordernisse  der  mündhchen  Be- 
redsamkeit der  Rhetorik  übedäßt.  Die  Rhetorik  setzt  also  die  Stilistik 
voraus.  —  Auf  andere  Definitionen  und  Einteilungen  gehen  wir  nicht  ein. 

§  11.  Geschichte.  Die  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Stilistik  geht 
auf  die  Griechen  zurück,  bei  denen  sie  sich  aber  mit  Rhetorik  und  Poetik 
immer  in  engster  Fühlung  befand.  Auch  bildete  sich  schon  im  hellenischen 
Altertum  der  Gegensatz  zwischen  theoretischem  und  praktischem  Betrieb 
heraus  (vgl.  z.  B.  Böckh,  Encyklopädie  und  Methodologie  der  philologischen 
Wissenschaften,  S.  602).  Vom  modernen  Standpunkt  aus  wird  die  Entsvicke- 
lung  der  theoretischen  Stilistik  kurz  beleuchtet  von  W.  Scherer  (Poetik 
S.  35  f.)  und  Philippi  (a.  a.  O.  S.  245  f.).  Die  neueren  Theorien  werden  im 
allgemeineren  Zusammenhang  nur  gestreift  von  H.  Lotze  (Geschichte  der 
Ästhetik  in  Deutschland,  bes.  S.  441  f.,  619  f.)  und  in  den  zahlreichen  ge- 
schichtiichen  Darstellungen  der  Poetik  (bes.  K.  Borinski,  Poetik  der  Re- 
naissance in  Deutschland,  1886).  Was  wir  vor  allem  brauchten,  wäre 
eine  Geschichte  der  wichtigsten  Einzelformen  in  ihrer  praktischen  und 
theoretischen  Entwickelung:  Evolution  der  Epitheta,  des  Chiasmus  u.  dgl. 
Wir  besitzen  solche  Arbeiten  beinahe  nur  für  die  Metapher  und  die  ihr 
nächstverwandten  Figuren. 

§  12.  Grundlage.  Die  historischen  Betrachtungen  haben  sich  dabei  fast 
durchweg  zu  viel  auf  die  Lehrbücher  und  zu  wenig  auf  die  Literatur  selbst 
gestützt.    Vor   allem    aber  ist   die  breite  Grundlage,    die  der  kunstmäßige 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht. 


Betrieb  in  der  naiven  alltäglichen  Übung  besitzt,  nur  gelegentlich  beachtet 
worden.  Was  den  Theoretikern  künstlich  erdachte  Hilfsmittel  der  Rede 
schien,  stellt  sich  bei  näherer  Prüfung  fast  stets  als  volkstümlich  selbst- 
verständliches Ausdrucksmittel  dar;  nur  daß  eben  die  Kunst  und  die  be- 
wußte Technik  die  zufällige  Anwendung  zu  zweckmäßigem  Gebrauch  zu 
veredeln  wußten.  Daher  entstand  denn  auch  wieder  durch  eine  andere 
Verwechslung  der  Irrtum,  als  sei  alle  älteste  Rede  „Poesie",  d.  h.  kunst- 
mäßige Anwendung  der  Sprache  zum  Ausdruck  von  Stimmungen  und  An- 
schauungen gewesen:  in  Wirklichkeit  wurden  eben  die  Mittel,  die  uns  jetzt 
spezifisch  „poetisch"  scheinen,  damals  allgemein  und  auch  ohne  poetische 
Absicht  (und  Wirkung)  verwandt.  —  Wir  werden  uns  besonders  bemühen, 
auf  den  volkstümlichen  Hintergrund  selbst  der  scheinbar  ausgeklügeltsten 
stilistischen  Tropen  und  Figuren  hinzuweisen. 

§  13.  Einteilung.  Hieraus  geht  auch  gleich  hervor,  daß  wir  uns  an  die 
überkommenen  künstlichen  Einteilungen  nicht  halten  können;  ebenso- 
wenig an  neuere  Versuche,  die  (wie  Wackernagels  Gruppierung)  lediglich 
von  der  kunstmäßigen  Verwendung  ausgehen.  Vielmehr  folgen  wir  dem 
Aufbau  der  Sprache  selbst  und  tragen  der  syntaktischen  Grundlage  der 
Stilistik  Rechnung,  indem  wir  von  den  Worten  zum  Satz,  zum  Perioden- 
bau, zum  Gesamtcharakter  der  Rede  stufenweise  aufsteigen,  bis  wir  in  dem 
individuellen  Stil  den  Gipfel  erreichen,  der  von  der  volkstümlichen  Basis 
am  weitesten  abliegt  —  und  sie  am  besten  überblicken  läßt. 

§  14.  Elemente  der  Rede.  Analysieren  wir  die  „fertige  Rede",  d.h.  die- 
jenigen Anwendungen  der  menschlichen  Sprache,  die  an  sich  zum  Ver- 
ständnis zwischen  Angehörigen  des  gleichen  Sprachgebiets  (und  der  gleichen 
Kulturstufe!)  genügen,  so  finden  wir  als  letzte  Elemente  die  Worte.  Eine 
Silbe  oder  ein  einzelner  Laut  können  solche  Dienste  nur  dann  tun,  wenn 
sie  eben  selbst  die  Geltung  von  Worten  haben.  Dies  ist  der  Fall  bei  Inter- 
jektionen (wie  „oh!")  oder  ähnlichen  Bildungen.  Ein  Wort  aber  kann  un- 
zähligemal  allein  vollkommen  zum  Ausdruck  selbst  langer  Gedankenreihen 
genügen;  wenn  z.  B.  mit  einem  einzigen  „Nein!"  ausgedrückt  wird,  daß  ich 
eine  ganze  mir  vorgetragene  und  ausführlich  begründete  Meinung  ablehne, 
oder  wenn  ich  mit  einem  hinweisenden  „Da!"  eine  zusammengesetzte  Menge 
von  Gegenständen  der  Anschauung  des  Angeredeten  zugänglich  mache. 

§  15.  Rekapitulation.  Die  Stilistik  hat  also  mit  der  kunstmäßigen  Be- 
handlung der  Worte  zu  beginnen,  und  zwar  hat  sie  diese  (wie  die  anderen 
Elemente)  zunächst  in  formeller,  dann  in  inhaltlicher  Hinsicht  zu  prüfen. 

Zweites  Kapitel. 

Die  Worte  in  formeller  Hinsicht. 

§  16.  Gemeinverständlichkeit.  Formell  gilt  allgemein  die  Bestimmung, 
daß  die  Worte,  die  wir  anwenden,  gemeinverständlich  sein  müssen.  Denn 
da  wir   die   Stilistik  als  die  Lehre  von  der  kunstmäßigen  Anwendung  der 


Stilistik. 


Rede  auffassen,  diese  selbst  aber  als  an  sich  verständliche  (d.  h.  ohne  Hilfe 
von  Gebärden  und  andern  Verdeutlichungen  verständliche)  Anwendung  der 
Sprache,  so  folgt  für  die  kunstmäßige  Rede  um  so  mehr,  daß  ihre  Ele- 
mente ohne  weiteres  verständlich  sein  müssen.  Auf  diese  durchaus  be- 
rechtigte Forderung  gehen  zunächst  mehrere  negative  Vorschriften  zurück. 

§  17.  Barbarismus.  Die  Rede  wendet  sich  an  die  Angehörigen  eines 
bestimmten  Sprachgebiets.  Verpönt  sind  deshalb  alle  Verstöße  gegen  den 
hier  henschenden  Wortgebrauch.  Eine  Verstümmelung  oder  Entstellung 
der  Wortformen  nennt  man  Barbarismus,  und  wer  sich  ihrer  schuldig 
macht,  steUt  sich  damit  aus  dem  Kreis  der  Sprachgenossen  heraus.  Ein 
Deutsch,  wie  es  etwa  Riccaut  de  la  Marliniere  in  „Minna  von  Bamhelm" 
radebricht,  würde  uns  auf  die  Dauer  unerträglich  sein,  schon  weil  es  über- 
flüssige Mühe  beim  Verständnis  erfordert.  Wir  empfinden  es  aber  auch 
mit  Mißbehagen  als  eine  Verleugnung  unserer  Muttersprache,  wenn  ein 
Deutscher  sie  wie  eine  fremde  Sprache  behandelt.  Die  Art,  wie  noch 
Friedrich  der  Große  das  Deutsch  mißhandelte,  würde  heute  als  Barbarismus 
unerträglich  sein.     (Vgl.  über  den  Barbarismus  Wackernagel  S.  333.) 

König  Friedrich  gibt  z.  B.  auf  eine  Beschwerde  der  Stadt  Frankfurt  a.  d.  O.  über  Ein- 
quartierungslast (1763)  den  Randbescheid:  .Das  kan  ja  nicht  anders  Seindt,  ich  kan  das 
Regiment  nicht  in  der  Tasche  stechen."  Oder  auf  die  Bitte  dreier  Husarenoffiziere  um 
Heiratserlaubnis  (1765):  .Wann  Huzaren  Weiber  nehmen,  So  Seindt  Sie  Selten  noch  dan 
ein  Schus  pulver  wert;  aber  Wen  er  meinte,  daß  Sie  doch  guht  Würden,  So  Weite  ich  es 
erlauben.'    (Zurbonsen,  Quellenbuch  zur  brandenburgisch-preußischen  Geschichte.  S.  238.) 

§  18.  Soloecismus.  Macht  der  Barbarismus  den  Eindruck,  als  sei  der 
Sprechende  der  deutschen  Rede  gar  nicht  mächtig,  so  kann  doch  auch  schon 
bloße  Nachlässigkeit  im  Wortgebrauch  das  Verständnis  erschweren.  In  ge- 
pflegter Rede  wächst  sich  dies  zu  dem  Kunstfehler  des  Soloecismus  (von 
der  Stadt  Soli  in  Cilicien,  deren  Griechisch  schlecht  gewesen  sein  soll)  aus. 

Beweglich  klagt  über  die  Nachlässigkeit  im  Sprechen,  die  unter  Gebildeten  nirgends 
so  häufig  ist  als  in  Deutschland,  schon  Fr.  L.  Jahn  (Deutsches  Volkstum,  Neue  Ausgabe 
1817,  S.  203):  .Deutsche  Mädchen!  Warum  ist  euch  solche  Muttersprache  Tand?  Reden 
ist  Euch  doch  Bedürfnis?  Warum  keine  Ordnung  in  eurer  Sprachlehre,  da  Ihr  sie  doch 
sonst  so  sehr  liebt  und  befördert?  Sprachfehler  sind  freilich  nicht  Fehler  des  Herzens, 
Mangel  einer  Kenntnis  ist  nicht  Geistesmangel.  Aber  wie  kommt  es,  daß  ihr  euch  die 
gröbsten  Fehler  und  Sinnenentstellungen  in  der  Muttersprache  nicht  übel  nehmt  und  sogar 
zu  Gute  haltet?  Ihr  rügt  doch  sonst  die  kleinsten  Verstöße  gegen  Übereinkommnisse  der 
Gesellschaft,  und  richtet  strenge  über  Abweichungen?  Die  Sprache  ist  die  uralte  Ge- 
sellschaftsstifterin  und  der  Sprachgebrauch  eine  nie  aus  der  Mode  kommende  Mode.  Glaubt 
Ihr  etwa,  die  deutsche  Sprache  sei  eine  so  schmutzige  Beschäftigung,  wenn  man  nicht 
damit  zu  tun  habe,  müsse  man  die  Schmutzflecke  auf  der  Arbeitsschürze  nachsehen?  Ihr 
irrt,  wenn  Ihr  meint:  aus  einem  hübschen  Munde  klinge  alles  schön.  Ein  hübscher  Mund 
wird  durch  ungewaschenes  Zeug  häßlich  und  ekelhaft." 

Wie  die  andern  hier  zu  erörternden  Fehler  (Archaismus  u.  s.  w.)  kann 
auch  der  Soloecismus  sich  auf  die  Verbindung  mehrerer  Worte  beziehen, 
findet  aber  doch  schließlich  immer  im  Gebrauch  unrichtiger  Worte  oder 
Wortformen  seinen  Ausdruck.    Hierher  gehört  also  die  Anwendung  falscher 


Zweites  Kapitel.   Die  Worte  in  formeller  Hinsicht. 


Ausdrücke,   z.  B.  die  Verwechselung  von  Präpositionen   (das  vulgäre  „bei 
Müllers  gehen"  statt  „zu  Müllers  gehen")  oder  ihre  ungenaue  Anwendung. 

So  haben  Lassalle  und  Bucher  in  ihrer  Flugschrift  gegen  Julian  Schmidt  (.Herr 
Julian  Schmidt  der  Literarhistoriker"  S.  28)  diesem  einen  Soloecismus  vorgehalten:  ,es 
entsteht  eine  immer  größere  Spaltung  zwischen  den  einzelnen  und  zwischen  der  Totalität 
der  Nation".  .Nach  Herrn  Julian  Schmidt",  sagen  sie,  „fließt  der  Rhein  nicht  zwischen 
Deutschland  und  Frankreich,  sondern  zwischen  Deutschland  und  zwischen  Frankreich!" 
Doch  gehört  gerade  diese  lässige  Doppelsetzung  von  „zwischen"  zu  den  häufigsten 
Soloecismen;  selbst  im  Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Schiller  begegnet  sie  uns. 

Hierher  gehört  überhaupt  sehr  viel  von  dem,  was  Wustmann  in  seinen 
bekannten  „Sprachdummheiten"  anstreicht,  z.  B.  die  Verwendung  des  Ad- 
verbs als  Adjektiv:  „die  bruchstückweise  Veröffentlichung"  (a.  a.  O.  S.  212; 
doch  vgl.  Ph.  Bohner,  Zeitschrift  f.  deutsche  Wortforschung  5,  237). 

In  manchen  Fällen  kann  auch  der  Sorgfältige  schwanken;  als  Hilfe 
für  solche  unsichere  Momente  bietet  sich  D.  Sanders'  Wörterbuch  der 
Hauptschwierigkeiten  in  der  deutschen  Sprache  an.  Doch  ist  gegenüber 
seinen  Angaben  (und  noch  mehr  gegenüber  den  dogmatischen  Willkürlich- 
keiten WusTM-ANNS;  vgl.  z.  B.  Minor,  Allerlei  Sprachgrobheiten,  1892)  daran 
zu  erinnern,  daß  sich  die  Sprache  in  beständigem  Fluß  befindet.  Es  kann 
deshalb  etwas,  was  früher  Soloecismus  war,  binnen  kurzem  dem  Sprach- 
gebrauch entsprechen ;  wie  sich  denn  z.  B.  die  Verbindung  der  Präposition 
trotz  mit  dem  Genetiv  (statt  Dativ)  schon  beinah  eingebürgert  hat.  Oder 
umgekehrt,  wie  etwa  die  ursprünglich  allein  berechtigte  Präteritalform  „er 
stund"  heut  gegenüber  der  Form  „er  stand"  als  „falsch"  empfunden  wird. 
Vor  allem  ist  aber  zu  bedenken  —  was  Rudolf  Hildebrand  nicht  müde 
wurde  zu  betonen  — ,  daß  wegen  jener  beständigen  Veränderungen  der 
Sprache  und  des  Sprachgefühls  auch  mehrere  Formen  gleichzeitig  erlaubt 
sein  können:  weil  „silberne  HochzeW  richtig  ist,  ist  „Silberhochzeit'' 
(schon  bei  Jean  Paul!)  noch  nicht  falsch. 

§  19.  Archaismus.  Der  unaufhörliche  Fluß  der  sprachlichen  Entwickelung 
läßt  also  früher  geltende  Formen  veralten;  wer  sie  doch  anwendet,  macht 
sich  des  Archaismus  (vgl.  Wackern aoel  S.  329,  Raleigh,  On  style,  London 
1898  S.  32)  schuldig.  Dahin  gehört  also  ein  eigensinniges  Festhalten  an  nicht 
mehr  gebräuchlichen  Wortformen  oder  Worten,  wie  wenn  z.  B.  der  Ger- 
manist Karl  Weinhold  lange  „Grätz"  für  die  Universitätsstadt  „Graz"  schrieb 
und  bis  zuletzt  „stund"  statt  „stand",  oder  wenn  man  „itzt"  oder  „jetzo", 
„zween"  und  „zwo"  für  „jezt"  und  „zwei"  gebraucht. 

Wenn  aber  die  beiden  vorher  genannten  Fehlerquellen  nur  selten 
eine  andere  als  eben  diese  Beurteilung  leiden,  gilt  das  nicht  ebensosehr 
vom  Archaismus.  Barbarismen  und  Soloecismen  können  natüriich  einmal 
berechtigt  sein,  wo  eine  Figur  zu  charakterisieren  ist,  wie  eben  Lessings 
Riccaut  oder  Grillparzers  Galomir  (in  „Weh  dem  der  lügt"): 

Uf  —  heiß  —  Und  mild  —  da.'  ach,  dort  Schatten  —  Baum. 
Ruh  aus,  Mann,  ruh.  dann  weiter.    Heiß  die  Haube. 
Noch  einmal  rufen  —  Hupf  —  Ah!  —  niemand  hören! 


8  Stilistik. 

Aber  selbst  dann  muß  die  Entstellung  der  Rede  mit  Maß  gebraucht 
werden;  daß  die  Leser  des  18.  Jahrhunderts  dicke  Bände  des  „Deutsch- 
franzosen""  Trömer  („Ehn  Curieuse  Brief  von  Lustbarkeit  in  Dress  als 
Krosse  Potentat  an  diese  Ortt  kewess  .  ."  1728)i)  als  lustigen  Spaß  ge- 
nießen konnten,  beweist  uns  heut  nur  die  Stumpfheit  ihres  Geschmacks 
und  Sprachgefühls.  Schon  das  „Messingsch"  Fritz  Reuters  wird  uns 
leicht  zu  viel,  wo  nicht  die  prächtige  Gestalt  des  Inspektors  Bräsig  uns 
mit  seiner  Redeweise  versöhnt.  —  Aber  das  Rückgreifen  auf  ältere  Sprach- 
formen ist  von  anderer  Art,  weil  diese  doch  immerhin  echt  deutsch  sind 
und  einmal  in  voller  Geltung  blühten.  Deshalb  haben  gerade  Schriftsteller, 
die  zu  der  Sprache  ein  inneres  herzliches  Verhältnis  hatten,  gern  zu  Ar- 
chaismen gegriffen.  Das  pflegt  damit  zu  beginnen,  daß  mit  altfränkischen 
Worten  auch  zuerst  nur  wieder  altfränkische  Art  gezeichnet  werden  soll  wie 
bei  Uhland  („Klein  Roland"): 

Ich  hab  bezwungen  der  Knaben  acht. 
Von  jedem  Viertel  der  Stadt: 
Die  haben  mir  als  Zins  gebracht 
Vierfältig  Tuch  zur  Wat  — 

WO  „Wat",  ein  1808  ganz  unverständliches  Wort  für  „Kleidung",  wie  eine 
Nachahmung  alter  Prunkmöbel  oder  Waffenstücke  wirkt.  So  oft  in  älteren 
Übersetzungen,  die  Bruchstücke  des  alten  Baus  in  den  neuen  einmauern, 
wie  Simrock  es  gern  tut: 

Aber  der  Jötun,  wie  immer  trotzig 

Mit  Thor  um  die  Stärke  stritt  er  aufs  neu 

(Hymiskwidha  Str.  28), 

wo  das  altgermanische  Wort  für  „Riese"  gleichsam  die  unmögliche  Figur 
wahrscheinlicher  machen  soll.  Ihren  Hauptplatz  aber  finden  solche  „archäo- 
logische Archaismen"  in  historischen  Romanen  und  Dichtungen;  besonders 
die  Anfangsbände  von  Freytags  „Ahnen"  haben  durch  ihr  Übermaß  sogar 
den  Spott  herausgefordert,  vor  allem  freilich  durch  die  Wortstellung:  „Ich 
trage  Kunde,  die  das  Herz  der  Männer  bewegt,  nicht  weiß  ich,  ob  sie  euch 
Freude  bereitet  oder  Trauer"  (Werke  8,  13).  Oder  archaisierende  Wort- 
stellung mit  älterer  Wortwahl  vereint:  „Spende  wegemüdem  Mann  den 
Trunk  aus  deinem  Born"  (ebd.).  Hier  liegt  natürlich  die  Absicht  vor, 
durch  die  fremdartige  Sprache  uns  sofort  aus  der  gewohnten  Atmosphäre 
herauszuheben.-) 

Aber  sobald  sich  der  Sinn  erst  einmal  liebevoll  in  die  Sprechweise 
der  Vorzeit  versenkt  hat,  gewinnt  deren  Ton  auch  an  sich  Gewalt  über 
uns.  Alle  Perioden,  die  sich  besonders  dem  MittelaUer  mit  neuenvachtem 
ästhetischem,  religiös-politischem,  historisch-politischem  Interesse  zuwandten. 


')    Vgl.    GOEDEKE,    Grundriß    zur   Ge-  »)  Vgl.  W.  ScHERER,  Vorträge  und  Auf- 

schichte  der   deutschen    Dichtung,   2.  Aus-      Sätze  S.  1  f. 
gäbe,  4,  25. 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht. 


hat  es  gereizt,  auch  an  ihrer  Redeweise  zu  lernen.  So  im  „Sturm  und 
Drang",  „im  ,Götz'  ist  manches  der  alten  Sprache  entlehnt;  im  ,Werther' 
findet  sich  das  Luthersche  Adjektiv:  ,hänn'\  ,in  Krieg'  wie  ,ln  Turn' 
(„Götz")  für  ,/ff  den',,  (Erich  Schmidt,  Richardson,  Rousseau  und  Goethe 
S.  257).  Oder  in  andern  Schriften  Goethes  die  Fortlassung  des  Artikels: 
„Was  brauchts  dir  Denkmal!"  „Säule  ist  mit  nichten  ein  Bestandteil  un- 
serer Wohnungen"  („Von  deutscher  Baukunst").  Noch  stärker  pflegte  die 
Romantik  diesen  Ton  und  ließ  oft  keine  Zeile  ohne  „Maid",  „Recke", 
„Minne"  —  Worte,  die  sie  doch  unserm  Sprachgebrauch  fast  völlig  wieder- 
gewonnen hat.  So  schloß  selbst  H.  Heine  eines  seiner  frühesten  Ge- 
dichte: 

Fromme  Minne  mag  es  sein. 

Was  mir  drang  ins  Herz  hinein, 

Als  ich  weiland  schaute  dein, 

Wunnevolles  Magedein! 

Am  wenigsten  ist  solches  Eintauchen  in  die  Redeweise  früherer  Zeiten 
da  zu  tadeln,  wo  es  zur  Erweckung  neuer  triebkräftiger  Fortsetzungen  der 
alten  Sprache  führt,  wie  bei  Fr.  L.  Jahn  (a.  a.  O.  S.  263): 

„Wem  das  Leben  nur  ein  Kerbstock  bleibt,  zum  Alltage  zusammenzurechnen,  wer 
aus  diesen  Zeitmerken  nichts  weiter  herausbringt  als  eine  große  Zahl,  der  hat  sich  die 
Mühe  vergeblich  gemacht,  der  hat  in  den  Tag  und  die  Welt  hineingelebt,  als  ein  groß- 
städtischer Morgenverschläfer,  so  die  Sonne  in  ihrer  Schönheit  und  Pracht  niemals  auf- 
gehen sah." 

Archaismen  und  Neologismen  gehen  also  gern  zusammen  —  natur- 
gemäß, da  beide  der  Abneigung  gegen  die  abgebrauchte  Alltagssprache 
ihre  kunstmäßige  Verwendung  (freiHch  nicht  schon  ihren  Ursprung!)  ver- 
danken. Deshalb  ist  jetzt  sogar  in  dem  Land  der  konservativsten  Rede- 
gewohnheit, in  Frankreich,  eine  Dichterschule  bemüht,  sprachliche  Anlehen 
bei  Ronsard  und  andern  Dichtern  des  ausgehenden  Mittelalters  mit  sprach- 
lichen Neuschöpfungen  zu  verbinden,  i) 

§  20.  Neologismus.  Neologismen  also,  die  Wackernagel  (S.  338) 
als  „das  fehlerhafte  Widerspiel  des  Archaismus"  bezeichnet,  sind  von  vorn- 
herein so  wenig  fehlerhaft  wie  Archaismen;  denn  wie  jede  „vox  obsoleta" 
einmal  frisch  und  kräftig  war,  so  war  jedes  geltende  Wort  eipmal  ein  Neo- 
logismus. Vollends  ist  es  seltsam,  in  beiden  ein  „Auflehnen  gegen  die 
Selbstkräftigkeit  der  Sprache",  ein  Erzeugnis  „dünkelhaften  Wahns"  zu 
sehen;  denn  in  wem  wirkt  denn  die  „Selbstkräftigkeit  der  Sprache",  wenn 
nicht  in  denen,  die  sie  bereichern,  sei  es  durch  Auffischen  und  Auffrischen 
gestrandeten  Sprachgutes,  sei  es  durch  Weiterbildung  des  Erhaltenen? 

Gerade  kräftige  Naturen,  die  die  Sprache  lieben,  pflegen  zu  neuern. 
Das  gilt  überall,  auch  bei  den  konservativeren  Romanen, 2)  vor  allem  aber 


')    Geistreich    spricht    über   berechtigte      de  mots  nouveaux  dans  la  langue  fran^aise 
Archaismen  W.  Raleigh,  On  Style  S.  33  f.     ,   et  des  lois  qui  la  regissent;   Paris  1877  — 
'')  J.  Darmesteter,  De  la  creation  actuelle   !   sehr  lehrreich. 


10  Stilistik. 


bei  den  germanischen  Individualisten.  Historisch  stehts  ähnHch  wie  bei 
dem  Spiegelbild  Archaismus:  auch  hier  ist  die  sprachliche  „Mode"  ein 
Symptom  völkerpsychologischer  Zustände.  Wie  rückwärtsgewandte  Zeiten 
auch  in  der  Sprache  gern  archaisieren  (Romantik!),  so  neuern  fortschritt- 
lich denkende  gern  auch  hier  (Aufklärung!).  Perioden  der  Sprachneuerung 
pflegen  vorsichtig  mit  Übersetzung  fremder  Ausdrücke  anzuheben  —  wie 
denn  die  „Puristen"  allezeit  die  kühnsten,  freilich  seltener  die  glücklichsten 
Wortschöpfer  gewesen  sind.  So  schafft  sich  die  ^Aufklärung''  zwar  dies 
bezeichnende  Wort  selbst,  bildet  aber  „Fortschritt"  im  politisch-welthisto- 
rischen Sinn,  „Entwickelung",  ^Gemeingeist"  französischen  und  englischen 
Schlagworten  nach;  und  ebenso  werden  literarische  Tendenzen  durch  die 
(von  Lessing  nicht  gebildete,  aber  durchgesetzte)  Übersetzung  von  ^senti- 
mental" mittelst  „empfindsam"  und  (später)  von  „volkstümlich"  für  „populär" 
bezeichnet.  Als  die  Romantik  eine  politisch-erneuernde  Richtung  einschlägt, 
beginnen  wieder  Jahn  und  die  „Alldeutschen"  mit  der  Wiedergabe  fremder 
Worte,  worin  ihnen  denn  im  großen  der  Aufklärer  Campe  vorangegangen 
war;  und  auch  sie  schreiten  bald  zu  echten  Neologismen  fort.  Es  ist  be- 
kannt, daß  wir  diesen  Übersetzern  so  hübsche  Nachbildungen  wie  „Stell- 
dichein" {„rendez-vous"),  besonders  aber  so  kräftige,  unentbehrlich  ge- 
wordene Neubildungen  wie  „Volkstum"  und  „Landwehr"  verdanken. 
„Schlagwörter"  sind  in  ihrem  Aufkommen  natürlich  überhaupt  vorzugsweise 
charakteristische  Neubildungen  (vgl.  mehrere  Aufsätze  in  der  Zeitschrift  für 
deutsche  Wortforschung;  O.  Ladendorf,  Historisches  Schlagwörterbuch, 
Straßburg  1906). 

Neben  jenen  beiden  berühmtesten  Neologen  der  letzten  Zeit,  Campe 
und  Jahn,  sind  als  glückliche  Bildner  neuer  Worte  vor  allem  Herder  und 
Nietzsche  zu  nennen,  jener  mit  neuen  Ableitungen,  dieser  mit  Zusammen- 
setzungen (wie  „überdeutsch",  „überhistorisch";  den  „Übermenschen"  hat 
er  dagegen  von  Goethe  übernommen).  Goethe  ist  sparsamer  in  Neu- 
bildungen, führt  sie  vorsichtig  ein  („Melina  war,  was  ich  mit  einem  Worte 
eine  Anempfinderin  nennen  möchte";  „Wilhelm  Meisters  Lehrjahre")  und 
häuft  sie  erst  in  der  Ahersdichtung,  besonders  im  , Faust';  doch  sind  ge- 
rade von  diesen  letzten  Neologismen  wenige  durchgedrungen  (.buschen 
sich  zur  Schattenruh"  , Faust'  II  Ak-t  1  v.  4655,  von  Fr.  Th.  Vischer  heftig 
angegriffen:  wenn  ich  sagen  dürfe,  der  Berg  buscht  sich,  d.  h.  bedecke 
sich  mit  Gebüsch,  dürfe  ich  auch  sagen  „der  Tisch  löffelt  sich":  bedeckt 
sich  mit  Löffeln  .  .  .).  —  Später  blühte  eine  eigentliche  Wortfabrikation  um 
1848  auf  und  Johannes  Scherr  war  nur  ihr  lautester  Vertreter,  wenn  er 
etwa  von  Napoleons  III.  „erdezemberter  Kaiserkrone"  sprach.  Die  Witz- 
blätter haben  einen  großen  Anteil  an  dieser  neologischen  Scheinblüte, 
ebenso  die  Flugschriften  und  umlaufenden  Gedichte,  von  denen  z.  B.  „Atten- 
täter" und  wahrscheinlich  auch  „Krawall"  dem  allgemeinen  Sprachschatz 
zugeführt  wurden. 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht.  1 1 

Die  häufigsten  Mittel  der  Neubildung  sind  in  grammatischer  Hinsicht 
die  Ableitung  und  die  Zusammensetzung.  Die  Ableitung  besteht 
darin,  daß  im  Gebrauch  befindliche  Wurzeln  oder  Stämme  mit  neuen,  d.  h. 
bisher  nicht  mit  ihnen  verbundenen  Suffixen  ausgestattet  werden.  Diese 
Suffixe  selbst  aber  sind  ihrerseits  ebenfalls  längst  im  Gebrauch;  nur  häufige 
Ableitungssilben  sind  „produktiv".')  Produktiv  sind  jetzt  besonders  -er 
für  Nomina  agentis,  -ung  für  Nomina  actionis.  Mit  ihnen  werden  täglich 
neue  Worte  gebildet,  die  gar  nicht  als  solche  auffallen,  Nomina  agentis 
besonders  in  Zusammensetzungen:  „Streikbrecher"',  „Rohrleger",  „Arbeit- 
nehmer'', Nomina  actionis  von  einfachen  und  zusammengesetzten  Verbis: 
„Lagerung'',  „Durchbrechung";  auch  mit  fremdsprachlichem  Kern:  „Kar- 
tellierung",  „Vertrustung"  (von  französisch  Kartell  und  englisch  Trust).  — 
Die  Zusammensetzung  besteht  im  Verschmelzen  selbständiger  Worte  und 
ist  imDeutschen  von  unbegrenzter  Ausdehnungsfähigkeit:  „Bildungsphilister" , 
„Zuchtwahl";  auch  neuerdings  gern  und  zu  gern  mit  Eigennamen:  „Kneipp- 
kur", „Ibsendrama"  —  überflüssige  Anstrengungen,  um  eine  Präposition 
auf  Kosten  des  Atems  und  des  Wohlklangs  zu  ersparen. 

„Die  Leichtigkeit  des  Zusammensetzens  im  Deutschen  hat  man  ohne  hinreichenden 
Grund  zu  der  Fülle  griechischer  Zusammensetzungen  gehalten.  Schlechte  ungebärdige 
Zusammensetzungen  leimen  ist  keine  besondere  Kunst,  in  tüchtigen  müssen  die  einzelnen 
Wörter  besser  gelötet  und  aneinander  geschweißt  sein.  Eine  echte  Zusammensetzung  ist 
erst  dann  vorhanden,  wenn  sich  zwei  Wörter  gesellen,  die  los  und  ungebunden  im  Satz 
nicht  nebeneinander  stehn  würden;  wir  Deutschen  haben  aber  eine  Unzahl  sogenannter 
Komposita,  die  für  sich  konstruierte  Wörter  bloß  etwas  enger  aneinander  schieben  und 
dadurch  nur  schärfer  und  unbeholfener  machen;  die  Wörter  fangen  zuletzt  gleichsam  selbst 
an,  sich  für  zusammengefügt  zu  halten  und  wollen  nicht  mehr  getrennt  auftreten.  Solcher 
Zusammenschiebung  ungemeine  Tunlichkeit  im  Deutschen  verführt  ohne  alle  Not  nichts- 
sagende Wörter  zu  häufen  und  den  Begriff  des  einfachen  Ausdrucks  nur  dadurch  zu 
schwächen.  Wenn  hier  in  Berlin  jemand  hingerichtet  worden  ist,  liest  man  an  den  Straßen- 
ecken eine  „Warnungsanzeige"  angeheftet.  Nun  will  warnen  sagen:  Gefahr  weisen,  an 
Gefahr  mahnen;  in  jener  Zusammensetzung  steckt  also  unnützer  Pleonasmus  .  .  .  ein  bloßes 
.Warnung'  oder  „Verwarnung"  wäre  nicht  allein  sprachgemäßer,  sondern  auch  kräftiger .. . 

Man  sollte  meinen,  eine  ganze  Zahl  deutscher  Zusammensetzungen  seien  bloß  aus 
Trägheit  entsprungen  oder  in  der  Verlegenheit,  für  einen  neuen,  ungewohnten  Begriff  den 
rechten  Ausdruck  zu  finden.  Da  wo  unsere  alte  Sprache  einfache  Namen  hatte,  suchte  die 
neuere  immer  die  gröberen  Zusammensetzungen  unterzuschieben,  wie  a.  B.  die  deutschen 
Monatsnamen  lehren,  und  schon  Karl  der  Große  stellte  mit  seinen  Vorschlägen  kein  Meister- 
stück auf.  Die  Komposition  ist  alsdann  schön  und  vorteilhaft,  wenn  zwei  verschiedene 
Begriffe  kühn,  gleichsam  in  ein  Bild  gebracht  werden  (Grammatik  2,  965),  nicht  aber,  wenn 
ein  völlig  einfacher  Begriff,  in  zwei  Wörter  verschleppt  wird.  Unser  „himmelblau"  oder 
„engelrein"  ist  allerdings  schöner  als  das  französische  Meu  comme  le  ciel',  ,pur  comme 
un  ange';  aber  ich  stehe  ebensowenig  an,  dem  lateinischen  malus,  pomus,  dem  französischen 
pommier  den  Vorzug  vor  unserem  Apfelbaum  zu  geben. ..."  J.  Gri.m.m,  Über  das  Pedantische. 
Kleine  Schriften  1,346.  Vgl.  V.  Hehn,  Italien,  Petersburg  1867,  S.  183  f.,  der  die  romanischen 
Simplicia  wie  guanto  italienisch,  bücher  französisch  gegen  Handschuh,  Scheiterhaufen 
u.  dergl.  lobt  und  den  Verlust  einfacher  mittelhochdeutscher  Worte  für  Johanniswürmchen 
oder  Zahnfleisch  beklagt. 

')  Vgl.  Kluge,  Stammbildungslehre  der  germanischen  Dialekte. 


12  Stilistik. 

Die  englische  und  französische  Art,  Eigennamen  gewissermaßen  zur 
Taufe  eines  Einzelfalls  zu  benutzen  —  the  Tichborne  case,  le  cos  Clemen- 
ceau  —  wirkt  hier  neben  der  Neigung  zur  telegrammfähigen  Konzentration. 

Die  glücklichsten  Neubildungen  sind  die,  die  entweder  eine  neue 
„Wurzel"  schaffen  oder  durch  Benutzung  seltenerer  Suffixe  dem  Eindruck 
des  „eben  frischen  Fabrikats"  entgehen.  Daß  eigentlich  neue  „Wurzeln" 
gebildet  werden,  wird  zwar  noch  bestritten,')  aber  doch  sind  zwei  Gruppen 
nicht  anzuzweifeln:  onomatopoetische  und  eponymische.  Mag  J'öff-töfp 
für  ^ Automobil  auch  wegen  seiner  Geschmacklosigkeit  zur  Unfruchtbarkeit 
verurteilt  sein  —  Worte  wie  ^piepen'"  und  „piepsen"  dringen  unaufhörlich 
selbst  in  die  Schriftsprache  und  bringen  Weiterbildungen  wie  ^piepsig' 
(kränklich,  schwächlich)  mit.  Aus  Eigennamen  bildet  man  besonders 
Verba,  die  zuweilen  mit  der  Erinnerung  an  den  Eponymus  absterben  (wie 
das  1848  beliebte  „abwrangeln" ,  still  machen,  vom  General  Wrangel),  ihn 
aber  auch  übedeben  können,  wie  das  etwa  beim  „Boykottieren"  (aller  Hilf- 
leistung berauben,  wie  es  dem  von  den  Iren  geächteten  englischen  Guts- 
verwalter Oberst  Boykott  geschah)  oder  ^Zillmem'^  (einer  nach  Dr.  Zillmer 
benannten  Art  der  Lebensversicherung)  der  Fall  sein  mag.  Doch  auch 
Substantiva  (wie  das  lateinische  „Patavinitas":  die  Art  der  Stadt  Padua, 
der  Heimat  des  Livius)  kommen  vor.  —  Mit  seltenerem  Suffix  ist  z.  B. 
das  gute  „Überlebsel"  (Wiedergabe  vom  englischen  „sur\'ival",  Überrest 
früherer  Kulturstufen)  gebildet,  oder  schon  jenes  „empfindsam'" . 

Die  Anwendung  von  Neologismen  wird  tatsächlich  zum  Fehler,  so- 
bald sie  der  Verständlichkeit  Eintrag  tut  —  wie  z.  B.  bei  den  zahllosen 
Kunstwörtern  des  Philosophen  Krause  („Orwesen,  Malwesen,  Omwesen, 
Satzheit,  Nichtheit,  Vereinselbstganzweseninnesein":  Pr.\ntl,  .allgemeine 
deutsche  Biographie  17,  79)  oder  selbst  den  wohlüberiegten  Terminis  tech- 
nicis  des  Philosophen  Avenarius  —  oder  sobald  sie  durch  Häufung  stört, 
wie  besonders  bei  übertreibenden  Puristen. 

§  21.  Modewörter.  Neologismen  gehören  aber  nicht  immer  dem  ein- 
zelnen an:  sie  kommen  zuweilen  in  engeren  Kreisen  auf  und  werden  von 
diesen  mit  einem  gewissen  Stolz  als  eigene  Schöpfung  und  eigener  Besitz 
gepflegt.  Das  sind  dann  die  Modewörter,  —  neben  den  Nachlässig- 
keiten der  Schriftsprache  der  zweite  Lieblingsgegenstand  der  .Angriffe  Wust- 
manns. *)  Sie  tauchen  in  irgend  einer  Gruppe  von  Personen,  die  ein  ge- 
meinschaftliches Interesse  verbindet,  plötzlich  auf,  werden  gleichsam  zum 
Schibboleth  des  Kreises  und  gehen  dann  in  weitere  Bezirke  über.  Dahin 
gehören  insbesondere  Urteils w orte  wie  „anregend",  „tiefgründig', 
„neuartig",  „einzigartig",  „großzügig"  oder  gar  das  furchtbare  „erst- 
klassig"   —   großenteils   unerfreuliche   Bildungen,   aber   doch    einem    be- 


')  Vgl.  aber  Pall,  Prinzipien  der  Sprach-  *)  \'gl.  R.\LEIGH,  On  snle  S.  29  f.,  doch 

geschichte.    2.  Aufl.    S.  141.  auch  S.  27  f.  on  good  slang. 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht.  13 

rechtigten  Gefühl  entsprungen.')  Unsere  Kritik  besaß  nur  dürftige  Aus- 
drucksmittel; sie  erfuhr  einige  Bereicherung  in  kennzeichnenden  Urteils- 
worten erst  dann,  als  eine  lebhaftere  und  verständnisvollere  Kritik  der  bil- 
denden Kunst  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts erwachte.  Freilich  führte  auch  dort  das  Bestreben,  sich  die  Technik 
des  Urteilens  schnell  anzueignen,  zu  dilettantischem  Mißbrauch. 2)  Gerade 
wie  heut  waren  deshalb  auch  damals  aus  der  Kritik  von  tjemälden  und 
Skulpturen  entlehnte  Urteilsworte  für  die  Literatur  besonders  beliebt:  ein 
Dichter  „malt  mit  glühenden  Farben"  u.  dgl.  —  Wenn  man  in  unseren 
Tagen  von  neuem  das  Bedürfnis  nach  bezeichnenderen  Adjektiven  (denn 
um  diese  handelt  es  sich  hier  ganz  vorzugsweise)  empfindet,  so  verrät  das 
wieder  zunächst  nur  ein  erfreuliches  Streben  nach  tiefergehender  und  in- 
dividuellerer Erfassung.  Schlimm  ist  es  nur,  daß  auch  die  bezeichnendsten 
Worte  bald  ohne  anschauliches  Verständnis  nachgesprochen  werden,  was 
aber  das  Los  aller  sprachlichen  Neuschöpfungen  ist  —  man  denke  nur 
an  den  greulichen  Mißbrauch  gewisser  Schillerzitate!  Wie  viel  aber  ein 
glückHch  gefundenes  Urteilswort  bedeuten  kann,  hat  Goethe  mit  freudiger 
Dankbarkeit  bezeugt,  s) 

Aus  Kennerkreisen  geht  auch  eine  zweite  Gruppe  von  Modewörtern 
hervor:  wissenschaftliche  Kunstausdrücke,  die  von  der  „allgemeinen 
Bildung"  aufgenommen  werden.  Sie  sind  gefährlich,  weil  der  nur  allgemein 
Gebildete  mit  „Kampf  ums  Dasein'',  „Suggestion",  „Immunität"  nicht 
immer  eine  deutliche  Vorstellung  verbindet;  und  sie  sind  bedenklich,  weil 
gerade  der  oberflächlich  Gebildete  sich  unermüdlich  dadurch,  daß  er  „Mi- 
lieu" und  „Bacillus"  im  Munde  führt,  den  Anschein,  auf  der  Höhe  zu  stehen, 
gibt.  Dennoch  wird  man  natürlich  auch  die  wissenschaftlichen  Modewörter 
nicht  einfach  in  Acht  und  Bann  tun  dürfen.  Oft  leihen  sie  ja  bestimmten 
Tendenzen  der  Zeit  Ausdruck  und  oft  veranschaulichen  sie  die  Anschauungs- 
oder Erklärungsweise,  die  nun  einmal  gestern  oder  heute  überall  als  die 
allein  berechtigte  gilt,  am  knappsten.  (Dies  gilt  z.  B.  von  dem  Wort 
„physiologisch",  das  W.  Scherer  ebensosehr  liebte,  als  R.  Hildebrand  es 
bekämpfte.) 

Kenner  anderer  Art  spritzen  sozusagen  die  Sportwörter  aus,  die 
in  unserer  sportfreudigen  Zeit  besondern  Anklang  finden.  Es  sind,  dem 
Ursprung  der  meisten  Sports  entsprechend,  zumeist  englische  Kunstausdrücke: 
„Rekord"  (mit  der  jetzt  leider  schon  völlig  eingebürgerten  Wendung:  „den 
Rekord  schlagen"),  „Match"  \iAg\.m.   Doch  sind  auch  einheimische  Sport- 

')   Über  die  Armut   unserer   kritischen  Kunst,  in  drei  Stunden  ein  Kenner  zu  wer- 

Charakteristiken  klagten  schon  Goetlie  (vgl.  den",  1839. 

seine   „Urteilswortc   französischer  Kritiker";  ')     „Bedeutende    Fordernis    durch    ein 

Hempels  Ausgabe  29,736)  und  Jean  Paul  einziges  geistreiches  Wort"    Hempcl  XXVII 

(Vorschule  der  Ästhetik  §  37).  ;    1,  351 :  der  Anthropolog  Heinroth  hatte  das 

ä)  Detmold  geißelte  ihn  in  seiner  lusti-  i   Denken  unseres  größten  Dichters  als  „gegan- 
gen „Anleitung  zur  Kunstkennerschaft  oder  '   ständlich"  bezeichnet. 


14  Stilistik. 


Wörter  nicht  selten;  sie  entstehen  meist,  indem  die  natürlichen  Ausdrücke 
eines  Sports  auf  den  andern  übertragen  werden:  „ein  Pferd  steuern".^) 
Auch  hier  liegt  eine  nicht  zu  tadelnde  Tendenz  zu  Grunde:  eine  Neigung, 
der  Schulstube  zu  entrinnen  (welche  Losung  Thomas  Abbt  zuerst  mit 
Energie  bei  uns  vertrat),  eine  Freude  am  Mitedeben  modemer  Wettkämpfe, 
die  man  mit  vorschneller  Übertreibung  „olympisch"  genannt  hat.  Maß 
wird  doch  zu  empfehlen  sein,  damit  unsere  Literatur,  lange  allzu  schul- 
fuchsig, nicht  mit  einem  Mal  zu  jockeimäßig  auftrete  (D.  von  Liliencron, 
H.  von  Ompteda). 

Zwischen  den  wissenschaftlichen  und  den  sportmäßigen  Modeworten 
stehen  die  Lieblingsausdrücke  des  öffentlichen  Lebens.  Den  ersten 
Rang  nehmen  die  politischen  ein  und  hier  vor  allem  empfindet  man  es, 
wie  rasch  gute  Worte  totgehetzt  werden.  Kein  Minister  hält  mehr  eine 
Schutzrede  für  angegriffene  Beamte,  ohne  die  „ Beruf sfreudigkeit"  an- 
zubringen, kein  liberaler  Redner  spricht,  ohne  ^Ostelbier"  und  „Scharf- 
macher'' zu  rügen,  kein  Konservativer,  ohne  irgend  welche  „Verwcihr- 
losung''  aufzudecken.  Diese  Redewendungen  werden  dann  vollends  in 
den  Zeitungen  breitgetreten  und  bilden  in  Gemeinschaft  mit  trivialen 
Metaphern  {„in  Angriff  nehmen,''  „eine  Lanze  einlegen"  oder  gar  „in 
die  Wege  leiten")  die  charakteristische  Blüte  des  sogenannten  Zeitungs- 
stils. 2) 

Darauf  folgen  die  Leitworte  aus  Handel  und  Verkehr:  „Trust', 
„Kartell",  „Ring"  (mit  „Ringbildung"),  oder  „Streik"  bezw.  „Ausstand", 
„Aussperrung"  u.  s.  w.  Im  eigentlichen  Sinn  unentbehrlich,  werden  sie  gern 
auch  metaphorisch  gebraucht.  Gegenwärtig  henschen  die  elektrischen 
Termini:  „ausschalten"  ist  schon  gar  nicht  mehr  zu  entbehren.  —  Eine 
besondere  Gruppe  bilden,  den  Kreis  abschließend,  die  geschäftlichen 
Urteilsworte:  Reklameworte  wie  „tadellos"  oder  das  schon  angeführte 
„erstklassig" ,  Wendungen  wie  „ausgeschlossen!"  („Wenn  die  Handschuhe 
aber  nicht  halten?"  „„Ausgeschlossen!"")  dringen  in  den  Roman  und  die 
wissenschaftliche  Darstellung. 

Allgemein  ist  zu  den  Modewörtern  also  zu  bemerken,  daß  man  sich 
vor  ihrem  Mißbrauch  hüten  muß.  Wie  ein  geschmackvoller  Mensch  nicht 
gern  auffällig  neumodische  Krawatten  und  Kragen  trägt,  wird  er  auch  hier 
sich  vor  der  Livree  des  Tages  hüten.  Ein  Wort  aber  zu  verfluchen,  nur 
weil  es  Mode  ist,  scheint  so  töricht,  wie  wenn  man  Böcklin  nicht  mehr 
loben  will,  weil  jetzt  hohe  Preise  für  seine  Bilder  bezahlt  werden.  Ein  gutes 
Wort  behält  immer  ein  Restchen  seiner  ursprünglichen  Trefflichkeit.  Hegel 
brachte  die  Wendung  „von  Haus  aus"  in  Mode  und  Fr.  Th.  Vischer  hatte 

')  Vgl.  WiLKE,  Schriftdeutsch  und  Volks-  K.  F.  Becker,  Der  Stil  S.  83:  F.  KCrnberger, 

spräche,  Leipzig  1903,  S.  88  f.  Literarische  Herzenssachen,  Wien  1877,  S.  1  f.; 

')  Über  ihn  klagen  schon  unsere  Klassiker  R.  Hildebrand  in  all  seinen  Schriften. 
und  die  Romantiker;  ferner  z.  B.  mit  Belegen 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht.  15 

es  schon  zu  beklagen,  wie  gefühllos  sie  verallgemeinert  werde;  aber  sie  ist 
„von  Haus  aus"  schön  und  auch  heut  noch  besser  als  das  kalte  „von 
vornherein'' ,  das  überdies  zu  berühmten  Mißverständnissen  (über  Goethes 
Faustplan)  1)  Anlaß  gibt.  Wustmann  ereifert  sich  gegen  das  beliebte 
„einsetzen'':  „die  Feindseligkeiten  setzten  damit  ein  .  .  .";  aber  diese  vom 
Spielen  der  Instrumente  im  Konzert  hergenommene  Metapher  hat  genau 
dieselbe  Berechtigung  wie  die  hunderttausend  andern,  durch  die  sich  die 
Sprache  unaufhörHch  selbst  auffrischt:  der  Verfasser  der  „Sprachdummheiten" 
hätte  dann  auch  nicht  erlauben  dürfen,  daß  „Spannung"  anders  als  vom 
Bogen  gebraucht  würde! 

Es  gibt  aber  neben  den  positiven  auch  sozusagen  negative  Mode- 
wörter: Ausdrücke,  die  von  einem  bestimmten  Mittelpunkt  aus  bekämpft 
und  dann  von  allen,  die  modern  oder  doch  wenigstens  zeitgemäß  sein 
wollen,  geächtet  und  geflohen  werden.  Otto  Schroeder  hat  in  seinem 
prächtigen  Buch  „Vom  papiernen  Stil",  das  so  viel  zur  Wiederbelebung  des 
Sprachgefühls  beigetragen  hat,  den  steifleinenen  Rückverweiser  „derselbe" 
aufs  Korn  genommen;  Wustmann  ist  ihm  mit  wahrem  Fanatismus  gefolgt  und 
hat  ohne  jede  Unterscheidung  das  Wort  in  den  Bann  getan,  das  doch  auch 
(z.B.  in  der  Tiroler  Mundart:  „seil  is  wohr!")  volkstümlich  und  manchmal 
der  bezeichnendste  Ausdruck  ist.  Nun  gibt  es  aber  jetzt  schon  Leute,  die 
den  Stil  eines  Buches  lediglich  danach  beurteilen,  ob  „derselbe"  vorkommt. 
Freilich  ist  es  leichter,  sich  unter  dies  Joch  zu  beugen,  als  mit  sorgfältiger 
Überlegung  jedesmal  zu  prüfen;  wie  es  leichter  ist,  alle  vorgeschriebenen  Riten 
einer  Religion  gehorsam  zu  befolgen,  als  den  sittlichen  Wandel  zu  führen,  den 
sie  vorschreibt.  So  hat  denn  J.  Minor  („Allerhand  Sprachgrobheiten")  mit 
Recht  bezweifelt,  ob  in  den  Wustmannischen  „Grenzboten"  jetzt  ein  besserer 
Stil  geschrieben  werde,  als  zur  Zeit,  da  noch  G.  Freytag  dort  „welcherte"; 
denn  das  Relativpronomen  „welcher"  ist  ein  zweiter  Stein  des  Anstoßes. 
Ich  denke,  ein  selbständiger  Schriftsteller  wird  der  verbietenden  Mode  ebenso 
unabhängig  gegenüberstehen  wie  der  befehlenden;  und  scheint  ihm  das 
Wort,  welches  die  Sprachinquisitoren  gerade  am  heftigsten  verketzern,  an- 
gebracht, so  schreibt  er  dasselbe.  Natürlich  wird  er  aber  schauderhafte, 
eben  glücklich  überwundene  Bildungen  wie  das  berüchtigte  „-Jetztzeit"  nicht 
aus  bloßem  Eigensinn,  weils  verboten  ist,  gebrauchen! 

§  22.  Idiotismus.  Modewörter  gehen  aus  engeren  Kreisen  hervor  und 
nach  deren  Art  sind  sie  selbst  geartet;  weshalb  solche  aus  den  Gruppen 
künstlerischer  oder  wissenschaftlicher  oder  selbst  politischer  Kenner  von 
vornherein  größeres  Zutrauen  verdienen  als  die  der  Sportleute.  Verengt  sich 
der  Kreis  noch  weiter,  so  kommen  wir  zu  den  Idiotismen  oder  Lieblings- 
ausdrücken einzelner   oder  engster  Bezirke.     In   vielen  Familien   herrscht 

')  Vgl.  Fresenius,  Goethe-Jahrbuch  15,  ersten  Teilen  deutlich;  es  wurde  dann  zeit- 
251  f.  Goethe  hatte  das  Wort  räumlich  ver-  lieh  verstanden:  „von  allem  Anfang  an  deut- 
sfanden:    „von  vornherein  klar",   in   seinen      Meli". 


15  Stilistik. 


eine  Art  Geheimsprache,')  wie  sie  z.B.  Helene  Böhlau  („Verspielte  Leute") 
oder  Berta  von  Suttner  („Es  Löwos")  lustig  geschildert  haben;  die  ge- 
hört aber  nur  in  die  Familie  und  es  ist  anspruchsvoll,  von  Ferneren  für 
sie  Verständnis  zu  verlangen.  Noch  weniger  darf  der  einzelne  seine  Lieb- 
habereien durchsetzen  wollen,  Bürger  den  Barbarismus  „or"  für  die  ihm 
zu  lange  Konjunktion  „oder"".  Lessing  sein  „betauern''  (statt  „bedauern"), 
Schopenhauer  sein  „ahnden"  für  „ahnen''. 

Es  gibt  aber  doch  auch  berechtigtere  Idiotismen.  Wenn  ein  Mann 
in  langer  Hebevoller  Beschäftigung  allbekannten  Dingen  eine  neue  Seite 
abgewonnen  hat,  mag  er  bei  persönlichster  Benennung  verharren  in  der 
Erwartung,  daß  sein  Idiotismus  sich  zum  allgemeiner  angewandten  Neo- 
logismus und  schließlich  zur  üblichen  Ausdrucksweise  auswächst  wie  jenes 
Hegelische  „von  Haus  aus".  Gewisse  immer  wiederkehrende  Lieblings- 
wendungen wie  Rankes  Einführung  allgemeiner  Betrachtungen:  „denn 
anders  ist  es  nicht  — "  oder  Nietzsches  Einleitung  ironischer  Abwehr 
„wie  als  ob  — "  erhöhen  das  Gefühl  einer  vertraulichen  Bekanntschaft  zwischen 
Autor  und  Leser,  so  lange  sie  nicht  durch  übermäßige  Häufigkeit  veriet^en. 

§  23.  Provinzialismus.  Idiotismen,  Ausdrücke,  die  engeren  Kreisen  ge- 
mein bleiben,  sind  auch  die  Provinzialismen  (vgl.  Wackernagel  S. 331); 
bloß  ist  hier  der  Kreis  nicht  beruflich  oder  kulturell,  sondern  landschaftlich 
begrenzt.  Provinzielle  Ausdrücke  sind  an  sich  meist  entweder  Archaismen 
oder  (seltener)  Neologismen,  können  aber  auch  ganz  isoliert  dastehen,  sei 
es  daß  es  nur  an  einzelnen  Plätzen  aufgenommene  Fremdwörter  (wie 
frankfurtisch  „Schawell"  Fußbank,  gern  bei  Bettine)  oder  nur  dort  auf- 
gekommene Neubildungen  sind.  (Dies  gilt  insbesondere  von  Bezeichnungen 
lokaler  Festlichkeiten,  Kleidungsstücke,   Gerichte,  Getränke   und   Gebäck.*) 

Provinzialismen  sind  also  landschaftliche  Idiotismen  und  ein  Stamm, 
eine  Stadt,  ein  Dialekt  hat  gewiß  ein  größeres  Recht  auf  Festhalten  seiner 
sprachlichen  Eigenheiten  als  ein  beliebiger  einzelner.  Die  lebende  Volkssprache 
bewahrt  oft  köstliches  Gut,  das  dann  aus  den  Dialekten  und  den  lokalen 
Redegewohnheiten  der  Gesamtsprache  zugeführt  werden  kann.  Ursprünglich 
besteht  ja  die  Rede  sozusagen  nur  aus  Provinzialismen,  bis  eine  Schrift- 
sprache sich  durchsetzt  und  überall  (zumal  an  Orten,  die  von  ihrem  Herd 
weit  abliegen)  Ausdrücke  als  „nicht  schriftgemäß "  ausmerzt.  (Worauf  diese 
Auswahl  etwa  beruht,  wird  bald  zu  erörtern  sein.)  Je  stärker  eine  Sprache 
zentralisiert  ist,  desto  strenger  ist  sie  gegen  Provinzialismen.  Die  .Academie 
frangaise"  betrachtet  sich  in  erster  Linie  als  Hort  der  Pariser  Wohlredenheit 
gegen  die  „Provinz";  und  nach  ihrem  Vorbild  haben  Gottsched  und 
Adelung   zum   letztenmal    in   Deutschland   die   despotische   Vorherrschaft 


')  Vgl.  Indogermanische  Forscliungen  12,  :   ein    Buch,    das   die    .Bubenschenliel*    und 

42  f.  I    .Bauerhasen'  Deutschlands  in  leckerer  Fülle 

')  Vgl.  für  die  letzteren  Kleinpaul,  Qa-  aufzählt, 
stronomische   Märchen,   Leipzig   ohne  Jahr, 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht.  17 

einer  Mundart,  der  „Meissenischen"  oder  obersächsischen  (die  jetzt  wieder 
Wustmann  zum  Postament  seines  Idealbildes  von  der  reinen  deutschen 
Sprache  macht),  aufgerichtet.  Dann  erschütterten  zuerst  die  Schweizer  durch 
Hallers  Erfolge  das  Leipziger  Sprachmonopol,  obwohl  der  Dichter  selbst 
seine  Helvetismen  ängstlich  entschuldigt  und  gebessert  hat.  Später  hat 
noch  über  des  jungen  Goethe  ^Klatscherei"  u.  dgl.  Lichtenberg  ge- 
spottet: „Selbst  draußen  in  Böotien  [der  Göttinger  vergaß,  daß  er  selbst 
in  Darmstadt  geboren  war!]  stand  ein  Shakespeare  auf,  der  wie  Nebukad- 
nezar  Gras  statt  Frank-furter  Milchbrot  aß  und  durch  Prunkschnitzer  die 
Sprache  originell  machte.  "•)  Aber  es  war  nicht  mehr  zu  verhindern,  daß 
der  Ostpreuße  Herder,  der  Franke  Goethe,  der  Schwabe  Schiller  Eigen- 
heiten ihrer  angestammten  Redeweise  in  ihre  Schriften  aufnahmen.^) 

Aber  nicht  nur  aus  der  Literatur,  sondern  auch  aus  der  mündlichen 
Rede  werden  vielfach  Provinzialismen  übernommen.  So  sind  in  neuerer 
Zeit  viele  niederdeutsche  Worte  hochdeutsch  geworden,  z.  B.  „albern", 
„Deich",  „dreist",  „fett",  „Kahn",  „Klepper",  „plump",  „sacht",  „Teer"  und 
gar  so  unentbehriiche  wie  „fühlen"  und  „Lippe".^)  Neuerdings  hat  noch 
Fritz  Reuter  einigen  plattdeutschen  Wendungen  zu  weiter  Gastfreund- 
schaft verholfen. 

Zweifelhaft  bleibt  es  doch,  wie  weit  eine  Bereicherung  der  Schrift- 
sprache aus  den  Dialekten  systematisch  anzustreben  ist.  Dafür  trat  jeder- 
zeit R.  HiLDEBR.\ND  mit  Feuereifer  ein,*)  und  als  sein  Schüler  hat  Edwin 
WiLKE  in  seinem  guten  Buch^)  den  Mundarten  im  deutschen  Sprachunter- 
richt breiten  Raum  gewähren  wollen,  was  naturgemäß  zu  einer  Ausdehnung 
der  Provinzialismen  in  der  Schriftsprache  führen  muß.")  Aber  die  berech- 
tigten Wünsche  für  eine  Auffrischung  der  Sprache  haben  ihre  Grenze  an 
jener  Grundforderung  der  Gemeinverständlichkeit.  Bürger  hat  sein  nieder- 
deutsches „Lork"  (in  dem  Epigramm  „Adler  und  Lork",  Kröte)  so  wenig 
durchsetzen  können  wie  sein  „or"  für  „oder",  obwohl  sonst  gerade  Schelt- 
worte gern  von  allen  Seiten  empfangen  werden  („Cujon",  „Philister",  jetzt 
„Snob"  u.  V.  a.);  und  die  Überfüllung  mit  landschaftlichen  Eigenheiten 
(„vergessen  auf",  „über  Vorschlag")  hat  manchem  österreichischen  Autor 
das  Publikum  unnötig  verengt. 

§  24.  Kunstwörter.  Wie  die  Provinzialismen  sind  auch  die  Kunst- 
wörter (Fachausdrücke,  Termini  technici)  in  einen  engem  Kreis  ge- 

')    Vgl.    Erich    SchjVUDT,    Richardson,  buch,  5.  Aufl.,  S.  440. 

Rousseau  und  Goethe  S.  278.  ■")   Vgl.   R.  Laube,  R.  Hildebrand   und 

*)  Beispiele  für  die  Bereicherung  der  j  seine  Schule,  Leipzig  1903,  besonders  S.  80  f. 
Schriftsprache  aus  den  Mundarten  bei  Wilke,  i  ')  Edwtn  Wike,  Schriftdeutsch  und 
Schriftdeutsch  und  Volkssprache  S.  63.  Da-  Volkssprache,  Leipzig  1903. 
hin  gehören  z.  B.  oberdeutsch  Firn,  Lawine,  *)  Über  beider  Verhältnis  in  historischer 
Heimu'eh,niedtrdtntsch  Bord,  Wrack,  Moor;  Hinsicht  A.  SociN,  Schriftsprache  und  Dia- 
oder Odem  neben  oberdeutsch  Atem.  lekte  im  Deutschen,  Heilbronn  1888. 

')  Vgl.  Kluges  Etymologisches  Wörter-  , 

Handbuch  des  deutscben  Unterrichts.    Bd.  m,  Teil  1.  2 


18  Stilistik. 


bannt;  überschreiten  sie  ihn,  so  werden  sie  (wie  wir  gesehen  haben)  Mode- 
wörter oder  gehen  als  Metaphern  in  die  allgemeine  Rede  über,  wie  etwa 
aus  der  Schiffersprache  y^olldarnpf"  oder  schon  „Anker  werfen",  „Segel 
reffen".  Solang  sie  aber  als  spezifische  Fachausdrücke  empfunden  werden, 
vereinen  sie  die  Gefahren  der  Modewörter,  anspruchsvoll  und  heraus- 
fordernd zu  wirken,  mit  denen  der  Archaismen  und  Provinzialismen,  das 
Verständnis  zu  beeinträchtigen.  In  gehobener  Sprache  verderben  sie  voll- 
ends durch  ihren  Stubengeruch  die  Atmosphäre.') 

„Wenn  man  in  dem  zwar  talentverworrenen,  doch  talentreichen  Trauerspiele  Cadutti 
aus  der  höheren  Region  des  Allgemeinen  plötzlich  durch  die  Worte:  ,Und  was  sich  mildem 
läßt,  soll  in  der  Appellationsinstanz  gemildert  werden'  in  die  juristische  Region  herab- 
stürzt, so  ist  die  ganze  Szene  getötet;  denn  man  lacht  bis  zur  nächsten'  (J.  Paul,  Ästhetik  §  18). 
„Geistreiche  Gedanken  eines  Schulpedanten.'  Idee  1.  Er  hat  sich  die  Lehre  gemerkt, 
dafi  ein  Dichter  alles  individualisieren  muß.  Schlägt  daher  vor,  eine  Stelle  in  Schillers 
„Wilhelm  Teil'  zu  verbessern  oder  eigentlich  zu  bereichern.  Monolog  in  der  hohlen 
Gasse.    Stelle: 

.Sonst  wenn  der  Vater  auszog,  liebe  Kinder, 

Da  war's  ein  Freuen,  wenn  er  wieder  kam. 

Denn  niemals  kehrt'  er  heim,  er  bracht'  euch  etwas. 

War's  eine  selt'ne  Alpenblume,  war's 

Ein  seltner  Vogel  oder  Ammonshorn  — ' 

Hier  einzufügen: 

.War's  Terebratel  oder  Belemnit.' 

(Fr.  Th.  Vischer,  Auch  Einer,  Tagebuch.) 

§  25.  Fremdwörter.  Kunstwörter  sind  dem  Ursprung  nach  diejenigen 
Worte,  über  deren  Zulässigkeit  am  heftigsten  gestritten  wird:  die  Fremd- 
wörter. Mit  ihnen  rundet  sich  der  Kreis;  wir  kehren  zu  den  Barbarismen 
zurück. 

Und  doch  steht  die  Sache  hier  ganz  anders.  Wer  die  deutsche  Sprache 
radebrecht,  ist  uns  ein  „Barbar",  ein  „Stummer",  „Redeunfähiger";  Fremd- 
wörter werden  aber  nach  historischer  Erfahrung  gerade  vorzugsweise  von  den 
kulturell  höher  stehenden  Nationen  entlehnt:  in  der  germanischen  Urzeit 
von  den  Kelten  (während  die  Slaven  bei  uns  borgten),  dann  von  den 
Römern  (und  mittelbar  den  Griechen);  im  17.  Jahrhundert  von  den  da- 
mals unzweifelhaft  „an  der  Spitze  der  Zivilisation  marschierenden"  Fran- 
zosen.*)  Oder  mindestens  deutet  die  Einführung  fremder  Termini  auf  eine 
Überlegenheit  des  Fremden  auf  bestimmten  Gebieten:  von  den  Engländern 
(und  Amerikanern)  entlehnen  wir  vorzugsweise  einerseits  Ausdrücke  für 
Handel  und  Gewerbe  {Jrust",  „strike";  Benennungen  von  Maschinen 
u.  dgl.),  andererseits  solche  aus  dem  geselligen  Leben  der  „oberen  Stände" 
und  dem  Sport  {„comfort",  „gentleman" ,  dazu  auch  .'\usdrucke  wie  Jair", 


')  Über  die  wissenschaftliche  und  stili-  Einleitung  zu  seinem  Etymologischen  Wörter- 

stische  Bedeutung  des  Kunstwortes  handelt  buch;   Fr.  Seiler,   Die  deutsche  Kultur  im 

geistreich  Bernhardi,  Sprachlehre  2,  212.  Spiegel  des  Lehnworts,  Halle  1895  und  1900. 

')  Vgl.  über  diese  Entwickelung  Kluges 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht.  19 

anständig  im  gesellschaftlichen  Sinn;  „lawn  tennis",  „skip"  u.  s.  w.')  So 
wären  denn  wir  hier  die  Barbaren,  die  die  Sprache  überlegener  Nationen 
stammeln. 

Für  die  bösen  Zeiten  eigentlicher  „Fremdwörterei"  trifft  dies  Urteil 
unzweifelhaft  zu.  Die  Deutschen  nach  dem  dreißigjährigen  Kriege  waren 
wirklich  Barbaren,  deren  alamodischer  Prunkmantel  von  französischen,  ita- 
lienischen, lateinischen,  ja  spanischen  Fetzen  doch  nur  die^  eigene  Armut 
verdecken  sollte.  Man  hat  die  Lächerlichkeit  dieses  hilflosen  Zustandes 
oft  an  Beispielen  aufgezeigt,  ohne  dem  tieftraurigen  Untergrund  gerecht 
zu  werden. 

Da  wir  von  den  melancholisch-lustigen  Sünden  der  „alamodischen"  Sprachmengerei 
im  17.  und  18.  Jahrhundert  wohl  doch  geheilt  sind,  verweise  ich  für  die  moderne  Form 
der  Fremdwörterei  nur  auf  den  „Anhang"  in  R.  Hildebrands  „Deutschem  Sprachunterricht". 
Die  gegenwärtige  Schwäche  besteht  einerseits  in  der  Beibehaltung  solcher  .SpezialWörter", 
die  leicht  zu  ersetzen  sind,  wie  „Streik'  (Ausstand),  „Verdikt'  (Urteil),  teils  in  der  Neu- 
einführung von  „Gefühls-  und  Stimmungsworten"  besonders  aus  dem  Umkreis  der  wirk- 
lichen oder  vermeintlichen  Bildungsaristokratie;  so  las  ich  neulich  bei  einem  Kunsthistori- 
ker, dem  „Verkäufe"  nicht  fein  genug  war,  das  Wort  „Venten",  das  ihm  vermutlich  den 
Dunstkreis  der  Pariser  Versteigerungshäuser  zutrug.  Bei  den  Mindergebildeten  wird  die 
Lächerlichkeit  überflüssiger  Fremdwörter  durch  falsche  Verdoppelung  {„Morgenserenade' , 
„Unantastbarkeit  der  Integrität')  oft  gesteigert.  Im  ganzen  ist  eine  Besserung,  an  der 
der  „Sprachverein"  einen  schönen  Anteil  des  Verdienstes  hat,  nicht  zu  bezweifeln. 

Daß  also  ein  solches  Häufen  fremdsprachlicher  Ausdrücke  barbarisch 
ist  wie  die  Tracht  eines  mit  Zylinder,  Kotillonorden  und  Sporenstiefeln  aus- 
gestatteten nackten  Negers,  darüber  kann  kein  Zweifel  herrschen,  und  also 
auch  nicht,  daß  wir  den  patriotischen  Männern  Dank  schulden,  die  sich 
dagegen  erhoben,  den  Moscherosch,  den  Christian  Weise,  den  Campe, 
Jahn,  Sanders,  neuerdings  den  Führern  des  Deutschen  Sprachvereins. 

Die  Frage  ist  nur,  ob  ein  fanatisches  Ausrotten  nicht  auch  barbarisch 
ist.  Diesen  Standpunkt  vertritt  z.  B.  Rümelin,^)  der  die  Vorteile  einer  ge- 
mäßigten Einschmelzung  fremder  Ausdrücke  am  umsichtigsten  vertritt;  oder 
die  bekannte  Berliner  Erklärung  gegen  den  Sprachverein  vom  28.  Februar 
1889,^)  die  vor  allem  die  individuelle  Sprachfreiheit  betont.*)  Neuerdings  hat 
H.  Wernike  in  einem  kurzen  wirksamen  Schriftchen^)  gerade  vom  deutsch- 
sprachlichen Standpunkte  aus  das  Recht  auf  Lehnwörter  hervorgehoben,  die 
den  lautlichen  und  syntaktischen  Mängeln  unserer  Muttersprache  teilweise 
abhelfen;  besonders  (was  schon  V.  Hehn  betonte)  jenem  Überschuß  schwer- 
fälliger  Zusammensetzungen    statt   einfacher  Worte   {„Handschuh"    gegen 


1)  Vgl.  Dunger,  Wider  die  Engländerei 
in  der  deutschen  Sprache.    1899. 

'-)  RüMELiN,  Die  Berechtigung  der  Fremd- 


lin  1892,  S.  303,    und,    den    Puristen   weiter 
entgegenkommend,  O.  Gildemeister,  Essays 

1,211. 


Wörter.    Freiburg  i.  Br.  1887.  .  ^)  H.  Wernike,  Versuch  einer  formalen 

')   Wider  sie  R.  Hildebrand,  Beiträge      Kritik   des   deutschen  Wortschatzes.    Essen 


zum  deutschen  Unterricht.    S.  59.  1903. 

*)  Ebenso  H.  Homberger,  Essays,  Ber-  j 


2* 


20  Stilistik. 


„ganf"  französisch  und  „glove"  englisch)  und  der  Armut  an  vollen  Vo- 
kalen (die  auch  für  H.  Grimm  ein  Hauptgrund  gegen  die  Abschaffung  der 
Fremdwörter  war). 

Es  wird  doch  zugestanden  werden  müssen,  daß  einem  Jahrhundert 
eifriger  Sprachreinigung  nicht  nur  die  Ausmerzung,  sondern  auch  die  Er- 
setzung zahlreicher  Lehnworte  mißlungen  ist.  Die  mühsamen  Übersetzungen 
sind  im  Grund  schlimmer  als  die  fremden  Worte:  sie  verbinden  entlehnte 
Anschauung  mit  unbequemer  Aussprache.  Man  muß  da  immer  wieder 
sich  auf  den  König  unserer  Sprachmeister  berufen,  auf  J.  Grlm.m:') 

Deutschland  pflegt  einen  Schwärm  von  Puristen  zu  erzeugen,  die  sich  gleich 
Fliegen  an  den  Rand  unserer  Sprache  setzen  und  mit  dünnen  Fühlhörnern  sie  betasten. 
Ginge  es  ihnen  nach,  die  nichts  von  der  Sprache  gelernt  haben  und  am  wenigsten  die 
Kraft  und  Keuschheit  ihrer  alten  Ableitungen  kennen,  so  würde  unsere  Rede  bald  von 
schauderhaften  Zusammensetzungen  für  einfache  und  natürliche  fremde  Wörter  wimmeln; 
das  wohllautende  Omnibus  muß  ihnen  jetzt  unerträglich  scheinen,  und  statt  auf  die  nah- 
liegende Verdeutschung  durch  den  Dativ  Pluralis  .allen'  zu  geraten,  wird  ein  steifstelliges 
allwagen,  gemeinwagen,  allheitfuhrwerk  oder  was  weiß  ich  sonst  für  ein  geradbrechtes 
Wort  vorgefahren  werden. 

Selbst  der  Ausdruck,  dessen  ich  hier  nicht  entraten  kann,  ich  meine  das  Wort  Zu- 
sammensetzung, ist  schlecht  geschmiedet  und  aus  dem  losen  zi  samana  sezzunga  ent- 
sprungen. Welcher  Franzose  würde  ensembleposition  dem  natürlichen  composition  vor- 
ziehen? Genug  hiervon  ist  gesagt,  um  allen,  die  meines  Glaubens  sind,  Enthaltsamkeit 
im  Anwenden  der  Zusammensetzungen  (durch  welche  Campe  sein  Wörterbuch  ohne  tiefere 
Sprachkenntnis  anschwellte)  und  Eifer  für  den  erneuten  Gebrauch  guter  und  alter  Derivative 
anzuempfehlen.  -) 

Am  meisten  scheint  die  erbarmungslose  Ausrottung  der  Fremdwörter 
in  wissenschaftlichen  Werken  zu  widerraten.  Ein  so  vortreffliches  Buch 
wie  L.  SüTTERLiNS  Deutsche  Sprache  der  Gegenwart  (Leipzig  1900)  erschwert 
uns  das  Verständnis  und  sich  die  Verbreitung,  wenn  wir  uns  „Wessen/all" 
und  „Wenfall"  immer  erst  wieder  in  die  besser  gebildeten,  leichter  ver- 
wendbaren (denn  wir  können  auch  „genetivische  Konstruktion"  sagen, 
aber  nicht  „wessenfällige  Verbindung")  und  weniger  leicht  mißzuverstehenden 
(„Wemfall"  und  „Wenfall"!)  Lehnwörter  „Genetiv"  und  „Dativ"  übersetzen 
müssen.  So  hat  der  Engländer  Wells  geradezu  in  gewissen  Triumphen 
unseres  sprachlichen  Chauvinismus  frohlockend  eine  Besserung  der  Aus- 
sichten für  Englisch  als  Weltsprache  erblickt!  Und  haben  diese  Fremd- 
linge in  zwei  Jahrtausenden  wirklich  nicht  so  viel  Bürgerrecht  erworben 
als  die  neueste  Erfindung  eines  Grammatikers  („Nichtzeitwort"  für  „Nomen"!) 
beanspruchen  kann? 

Man  wird  sich  auf  der  „mittleren  Linie"  des  Sprachvereins  verstän- 
digen können:  kein  Fremdwort,  wo  ebensogut  (und  deshalb  besser)  ein 
deutsches  Wort  stehen  könnte,  aber  freies  Recht  des  Abwägens  und  Ent- 
scheidung für  das  Fremdwort,  wo  es  (inhaltlich  oder  formell)  besser  paßt. 


■)  J.  Grimm,   Über  das  Pedantische  in  ■)  Vgl.  auch  Jean  Paul,  Vorschule  der 

der  deutschen  Sprache.    Kl.  Sehr.  1,348.  Ästhetik  §83. 


Zweites  Kapitel.    Die  Worte  in  formeller  Hinsicht.  21 

Auch  die  Wohltat  der  Abwechselung  im  Ausdruck  darf  nicht  ganz  ver- 
kümmert werden. 

§  26.  Niedere  Worte.  Und  über  einen  so  allgemeinen  Rat  kommen 
wir  auch  bei  der  letzten  formellen  Kategorie  der  stilistisch  besonders  zu 
beachtenden  Wörter  nicht  heraus:  bei  den  sogenannten  „niederen  Worten" 
(Becker  S.  148  f.,  mit  guten  Beispielen).  Sie  können  oft  der  Anschau- 
lichkeit hervorragend  nützlich  sein,  öfter  noch  der  Charakteristik  dienen; 
dennoch  besteht  die  allgemeine  Überzeugung,  daß  gewisse  Worte  schlecht- 
weg nicht  schriftgemäß  sind.  Es  brauchen  gar  nicht  Ausdrücke  zu  sein, 
deren  Bedeutung  zu  euphemistischer  Umschreibung  zwingt,  wie  die  für 
die  niedersten  körperlichen  Verrichtungen  (die  aber  z.  B.  Sterne  in  der 
Empfindsamen  Reise,  Schiller  in  der  Anthologie,  in  Zusammensetzung 
Goethe  im  „Götz"  anwendet).  Es  genügt  schon,  daß  die  Worte  allzu 
„vulgär"  sind.  Oft  vereinigt  sich  das  mit  dem  Gepräge  eines  auffälligen 
Provinzialismus,  z.  B.  bei  unsern  norddeutschen  „quasseln"  (Unsinn  reden) 
und  „Strippe''  (Schnur)  oder  dem  häßlichen  sächsischen  „feichsen"  (grin- 
send lächeln).  Hierher  gehört  ein  stattlicher  Teil  der  im  Deutschen  nicht 
eben  kümmerlichen  Flora  und  Fauna  der  Schimpfworte;  ferner  aber  auch 
lässige  Umgestaltungen  üblicher  Worte:  „Abitur"  für  „Abiturientenexamen", 
„Direx"  für  „Direktor"  u.  dgi.,  was  sich  wieder  den  Idiotismen  nähert. 

Die  verschiedenen  Literaturen  sind  bekanntlich  in  der  Verschanzung 
gegen  die  „mots  vilains  et  bas"  (wie  sie  in  Molieres  „Precieuses  ridicules" 
ironisch  benannt  werden)  von  sehr  ungleicher  Strenge.  Die  französische 
duldete  früher  kaum  eine  irgendwie  über  das  „Allgemeine"  herausgehende 
Wendung,  so  daß  Boileau  sich  schon  rühmen  durfte,  wenn  er  ein  einziges 
Mal  eine  Katze  eine  Katze  nannte  und  Victor  Hugo  von  neuem  mit  ein- 
fachen Worten  statt  hochtrabender  Umschreibungen  revolutionär  wirkte. 
Zu  genaue  Bezeichnungen  fallen  aber  unter  unsere  Bemerkungen  über  die 
Fachausdrücke.  Jean  Paul  geht  wohl  etwas  zu  weit,  aber  doch  gewiß  in 
der  rechten  Richtung  (Vorschule  der  Ästhetik  §  18): 

Die  Poesie  fordert  überall  (ausgenommen  die  komische  aus  künftigen  Gründen) 
das  Allgemeinste  der  Menschheit;  das  Ackergerät  z.  B.  ist  edel,  aber  nicht  das  Backgerät, 
die  ewigen  Teile  der  Natur  sind  edler  als  die  des  Zufalls  und  des  bürgerlichen  Verhält- 
nisses, z.  B.  Tigerflecke  sind  edel,  Fettflecke  nicht;  —  der  Teil  wieder  in  Unterteile  zerlegt, 
ist  weniger  edel,  z.  B.  Kniescheibe  statt  Knie;  —  so  sind  die  ausländischen  Wörter,  als 
mehr  eingeschränkt,  nicht  so  edel  als  das  inländische  Wort,  das  für  uns  als  solches  alle 
Fremde  der  Menschheit  umschließt  und  darbietet;  z.  B.  das  Epos  kann  sagen:  „die  Befehle 
des  Gewissens",  aber  nicht  die  Dekrete,  Ukasen  u.  s.  w.  desselben. 

Wir  können  also  nur  sagen:  Ausdrücke,  die  durch  ihren  vulgären 
Beigeschmack  verletzen,  sind  zu  vermeiden;  ob  sie  aber  verletzen,  hängt 
von  der  Natur  der  Stelle  ab,  an  der  sie  stehen.  Man  kann  den  radikalen 
Naturalismus  der  Ausdrucksweise  in  G.  Büchners  Drama  „Wozzeck"  ver- 
werfen; gibt  man  ihn  aber  überhaupt  zu,  so  fällt  eben  auch  das  niedrigste 
Wort,  das  der  unglückliche  Füsilier  anwendet,  nicht  aus  der  Stimmung. 


22  Stu,istik. 


§  27.  Rekapitulation.  Daraus  geht  denn  schon  hervor,  daß  die  ver- 
schiedenen Epochen  ebenfalls  in  ihrem  Urteil  weit  auseinander  gehen.  Die 
mittelhochdeutsche  Poesie  scheidet  „höfische"  und  „unhöfische"  Worte  zum 
Teil  so  streng,  daß  gute  Worte  wie  „recke"  oder  „degen"  lediglich  des- 
halb, weil  das  Volksepos  sie  liebt,  von  der  Poesie  der  Bildungsaristokratie 
verschmäht  werden;  Sturm  und  Drang  macht  sich  umgekehrt  eine  Freude 
daraus,  möglichst  oft  „Kerl"  und  „Maul"  zu  sagen,  was  zuweilen  geradezu 
lächerlich  wirkt. 

So  heißt  es  in  einem  jugendlichen  Romanversuch  Jean  Pauls  (J.  Schneider,  Jean 
Pauls  Jugend  S.  208)  in  der  Schilderung  verhebter  Stimmung:  .Dies  Weib  raubt  mir  alle 
Besonnenheit  —  fesselt  alle  meine  Tätigkeit,  entnervt  meinen  Geist!  Ich  mag  kaum  's 
Maul  auftun,  ich  mag  nichts  reden,  als  von  ihr  und  da  möcht'  ich  nie  aufhören"  .... 

Damit  haben  wir  aber  schon  die  Grenze  erreicht,  wo  die  formellen 
Momente  den  inhaltlichen  weichen. 

Drittes  Kapitel. 
Die  Worte  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

§  28.  Wortwahl.  In  der  Wahl  der  Worte  zum  genauen  Ausdruck  der 
Gedanken  ist  man  nirgends  weniger  sorgfältig  als  in  Deutschland.')  Gerade 
hier  können  wir  außerordentlich  viel  von  den  Franzosen  lernen;  heut  auch  von 
den  Engländern,  die  vor  hundert  Jahren  hierin  am  weitesten  zurück  waren.*) 

Die  Franzosen  behaupten,  es  gebe  für  jeden  Gedanken  nur  einen 
vollkommen  zutreffenden  Ausdruck,  —  und  man  müsse  also  so  lange 
suchen,  bis  man  „le  mot  propre"  gefunden  habe.')  Gegen  diese  Lehre 
hat  der  Engländer  R.a.leigh  (On  style  S.  61)  sich  mit  geistreichen  Argu- 
menten gewandt,  und  doch,  wie  ich  glaube,  den  Kernpunkt  verfehlt.  Frei- 
lich ist  es  nicht  so  einfach,  wie  Albalat  („L'art  d'ecrire  enseignee  en  vingt 
leQons"  S.  65)  es  darstellt:  „Die  wahren  Worte,  das  sind  die  richtigen,  die 
natürlichen,  die  unersetzlichen  Worte".  Aber  die  höchst  lehrreichen  Bei- 
spiele, die  er  (S.  66  f.;  vgl.  S.  40  f.)  gibt,  beweisen  doch,  daß  oft  wirklich 
statt  eines  banalen  oder  unbestimmten  Ausdrucks  ein  bestimmter,  kräftiger 
als  geboten,  fast  als  selbstverständlich  erscheint.  Jeder  wird  schon  die 
Erfahrung  gemacht  haben,  daß  er  für  einen  einzelnen  Satz  ein  Wort  lange 
suchte  und  das  von  einem  Freund  ihm  vorgeschlagene  sofort  als  das  ver- 
mißte empfand.  Oder  man  sehe  die  Verbesserungen  großer  Autoren 
durch. ^)  L.  Uhland,  der  freilich  auch  den  kleinsten  Brief  erst  entwarf,  ehe 
er  ihn  ins  reine  schrieb,  hat  die  berühmte  Einleitung  zu  seiner  Abhand- 
lung über  die  Volkslieder  (Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage 

»)  Vgl.  Phiuppi  a.  a.  O.  S.  200.  Le  travail  du  stjle,  z.  B.  S.  95  ein  Manuskript 

2)  DE  QuiNCEY,  Stjle,  Writings  ed.  by  von  H.Heine.    Allgemeineres  bei  G.  .\BEL, 

D.  Masson  10, 136  f.  Le  labeur  de  la  prose,  Paris  1902,  z.  B.  für 

»)   Vgl.  z.  B.  Catulle  Mendes,  La  \i-  Flaubert,  den  Fanatiker  des  , mot  propre*, 

gende  du  Parnasse  contemporain  S.  116.  S.  23  f.,  für  Alph.  Daudet  S.  65. 

*)  Vorzügliche  Beispiele  bei  A.  Albaiat,  i 


Drittes  Kapitel.    Die  Worte  in  inhaltlicher  Hinsicht.  23 

Bd.  III)  mehr  als  viermal  angegriffen  und  umgearbeitet,  bis  „ein  kleines 
Meisterwerk  nach  Inhalt  und  Form"  (Fr.  Pfeiffer  in  der  Vorrede  zu 
Uhlands  Abhandlung  S.  X)  zustande  kam.  Unaufhörlich  hat  z.  B.  auch 
Schopenhauer  an  seinen  Aufsätzen  gefeilt.  Von  Dichtern  nenne  ich 
neben  Uhland  und  Heine  (dessen  Varianten,  in  Elsters  Ausgabe  bequem 
ersichtlich,  vielleicht  die  lehrreichsten  sind)  besonders  Wieland  und  Platen 
und  vor  allem  C.  F.  Meyer. ')  Als  ein  kleineres  Beispiel,  wie  ein  immer- 
hin berühmter  Ausspruch  in  langsamer  Arbeit  herausgefeilt  wurde,  verweise 
ich  auf  Eberhards  Bericht  über  die  Entstehung  von  Tiedges  Spruch: 

Geteilte  Freud'  ist  doppelt  Freude, 
Geteilter  Setimerz  ist  halber  Setimerz 

(vgl.  Büchmann,    Geflügelte  Worte   21.  Aufl.  S.  200)   —    der    doch   beim 
Zitieren  immer  noch  verbessert  wird  („doppelte  Freude").    Überhaupt  lehren 
die  „falschen  Zitate"  manchmal,  was  der  Verfasser  hätte  sagen  sollen.    Min- 
destens für  den  allgemeinen  Gebrauch  ist  es  wirklich  besser,  zu  sagen: 
Man  merltt  die  Absicht  und  man  wird  verstimmt, 

als 

So  fühlt  man  Absicht,  und  man  ist  verstimmt, 

(Tasso  2,  1  Vers  969), 

denn  die  prosaische  zweite  Hälfte  des  Goethischen  Verses  fordert  zur  Pro- 
saisierung  des  ersten  fast  heraus. 

Es  gibt  also  Fälle,  wo  „das  eigentliche  Wort"  sich  fast  unvermeidlich 
bietet;  aber  oft  ist  das  doch  nicht  so  einfach,  wie  man  nach  Theorie  und 
Kritik  der  Franzosen  meinen  sollte.  Denn  diese  schalten,  nach  ihrer  Ge- 
wohnheit, den  subjektiven  Faktor  ganz  aus.  Rechnen  wir  den  aber,  wie 
billig,  ein,  so  dürfen  wir  sagen:  es  gibt  nicht  überall  einen  allein 
richtigen  Ausdruck;  aber  es  gibt  überall  für  jeden  Schriftsteller 
nur  Einen  ganz  richtigen  Ausdruck.  Um  ein  Beispiel  großen  Stils 
zu  nehmen:  in  der  Lehre  vom  Abendmahl  konnte  natürlich  nicht  das  gleiche 
Wort  für  Luther  und  für  Zwingli  in  Frage  kommen;  aber  für  jenen  war 
„das  ist"  ebenso  unersetzlich  wie  für  diesen:  „das  bedeutet". 

Eine  gute  Übung  im  genauen  Ausdrucl<  gibt  das  Übersetzen,  besonders  auch  von 
kurzen  Sätzen  (Epigrammen,  Sentenzen),  ja  Büchertiteln,  wo  besondere  Prägnanz  gefordert 
wird.  ,Les  femmes  celebres  dans  la  revotution"  heißt  natürhch  nicht  (wie  man  es  übersetzt 
hat):  „Die  berühmten  Frauen  in  der  Revolution",  sondern:  „Berühmte  Frauen  der  Re- 
volutionszeit". „Josephine  repudiee'  heißt  nicht  ,Die  verstoßene  Josephine "  (was  wie 
ein  Operettentitel  klingt),  sondern:  „Josephine"  (oder,  für  uns,  noch  besser:  „Kaiserin 
Josephine",  „Josephine  Beauharnais")  „nach  ihrer  Verstoßung".  Sudermanns  „Heimat"  er- 
hielt im  Italienischen  sehr  gut  den  engeren  Namen  ,Casa  paterna' ,  das  bei  einer  Rücküber- 
setzung wieder  nicht  genau  ebenso,  sondern  „Im  Vaterhause'  lauten  müßte.  Oder  des  be- 
rühmten amerikanischen  „Milliardärs"  Carnegie  Ausspruch:  ,Who  dies  rieh,  dies  dishonoured', 
heißt  nicht  mit  sklavisch  treuer  Wiedergabe:  „Wer  reich  stirbt,  stirbt  entehrt",  sondern:  „Im 
Reichtum  sterben   ist  eine  Schande"    (die  alten  Deutschen   hätten  etwa  gesagt:    „Wer  auf 


')   Vgl.   Moser,   Wandlungen    der  Ge-   I   Quellen  und  Wandlungen  der  Gedichte  C.  F. 
dichte  C.  F.  Meyers,  Leipzig  1900;  KräGER,   |   Meyers,  Berlin  1901. 


24  Stilistik. 


dem  Qeldsack  stirbt,  den  soll  man  in  der  Schinderkarre  zu  Grabe  fahren").')  Über  die 
Übersetzung  des  Titels  von  Molieres  .Malade  imaginaire'  hat  L.  Fulda  (Aus  der  Werk- 
statt, Stuttgart  und  Berlin  1904,  S.  184)  eine  ganze  Abhandlung  geschrieben.  „Der  ein- 
gebildete Kranke?"  „Der  Kranke  in  der  Einbildung?'  .Der  Hypochonder?"  .Krankheit 
und  Einbildung?"  Man  suche  das  Wort,  das  den  Nagel  auf  den  Kopf  trifft;  ich  meiner- 
seits würde  für  .Herrn  Argans  Krankheiten"  stimmen. 

Diese  Übung  am  Übersetzen  fremder  Gedanken,  die  an  andern  leicht  nachgeprüft 
werden  kann,  ist  eine  gute  Gymnastik  für  die  Übersetzung  unserer  eigenen  Gedanken  in 
gemeinverständliche  und  doch  individuelle  Sprache. 

Es  fragt  sich  nun,  unter  welchen  Gesichtspunkten  die  Wahl  des  jedes- 
mal allein  berechtigten  Wortes  zu  vollziehen  ist. 

§  29.  Genauigkeit.  Die  Franzosen  haben  bei  ihrer  Betonung  des  „mot 
propre"  fast  ausschließhch  die  Genauigkeit  im  Auge,  die  ja  auch  in  den 
meisten  Fällen,  vor  allem  für  die  Prosa,  die  wichtigste  Seite  der  Wortwahl 
darstellt. 

Nach  der  herkömmlichen  Meinung  —  deren  Richtigkeit  übrigens 
keineswegs  selbstverständlich  oder  zweifellos  ist  —  gab  es  in  der  Urzeit 
Synonyma,  d.  h.  für  denselben  Begriff  oder  dieselbe  Anschauung  mehrere 
Ausdrücke.  Im  Lauf  der  sprachlichen  Entwickelung  differenzierten  sich 
diese  immer  mehr,  so  daß  es  heut  eigentliche  Synonyma  oder  Worte  mit 
völlig  gleicher  Bedeutung  nicht  mehr  gibt;  es  gih  also,  jedesmal  die  Nuance 
zu  treffen,  die  dem  Sinn  der  einzelnen  Stelle  am  genauesten  entspricht.  — 
Jene  Meinung  ist  weder  für  den  Anfang  noch  für  das  Ende  unbedenklich. 
Die  schärfere  Anschauung  der  Naturvölker  unterscheidet  das,  was  sie  über- 
haupt bemerkt,  vielleicht  genauer  als  unsere  abgestumpfteren  Sinne;  und 
ich  z.  B.  glaube  nicht  daran,  daß  es  in  der  indogermanischen  Ursprache 
eine  größere  Zahl  von  „Wurzeln"  mit  der  gemeinsamen  Bedeutung 
„tragen"  gab.  Vielmehr  wird  ein  Verb  „auf  der  Schulter  tragen",  eines 
„tragen,  wie  der  Baum  seine  Früchte  trägt",  ein  drittes  etu-a  „zu  einem 
Ziel  schleppen"  bedeutet  haben.  Sicher  aber  gibt  es  auf  der  andern  Seite 
heute  noch  wirkliche  Synonyma,  wenigstens  im  lebendigen  Sprachgebrauch, 
mag  auch  eine  tüftelnde  Synonymik  überall  Verschiedenheiten  aufspüren 
wollen.  „Laufen''  und  „rennen"  sind  nur  mit  dem  Mikroskop  zu  unter- 
scheiden, „Straße"  und  „Gasse"  sind  erst  durch  die  Grammatiker  aus- 
einandergeschoben, „Junge"  und  „Bube"  nur  dialektisch  verschieden, 
„Backe"  und  „Wange"  nur  nach  der  Anwendung  in  alltäglicher  oder  ge- 
hobener Sprache,  „Speer"  und  „Lanze"  sind  es  überhaupt  nicht.  Wieviel 
vergebüche  Mühe  verwendet  man  auf  die  Zirkelquadratur,  „Romanze"  und 
„Ballade"  genau  zu  unterscheiden!  —  Worauf  es  aber  eigentlich  ankommt, 
ist  dies,  daß  auch  wirklich  vorhandene  Unterschiede  keineswegs  immer  be- 
tont  oder   auch   nur   empfunden  werden.     Zwei  Worte  sind  also  vielleicht 


')  Vgl.  allgemein  U.  von  Wilamowitz-      nik  des  Übersetzens  lateinischer  Prosa,  Berlin 
.MöLLENDORFF,  Was  ist  übersetzen?  (in  seinen       1904,  Teubner. 
„Reden  und  Vorträgen"),  C.  Bardt,  Zur  Tech- 


Drittes  Kapitel.    Die  Worte  in  inhaltlicher  Hinsicht.  25 

nicht  völlig  synonym;  aber  an  der  betreffenden  Stelle  kommt  derjenige 
Teil  ihrer  Gebrauchsphäre  in  Betracht,  den  sie  gemein  haben.  Es  gibt 
also  mindestens  relative  Synonyma,  zwischen  denen  metrische,  eupho- 
nische, stilistische  Rücksichten  entscheiden  können;  wie  das  oft  die  Varianten 
auch  solcher  Schriftsteller  zeigen,  die  im  Ausdruck  sorgfältig  sind.i) 

Aber  mögen  die  Unterscheidungen  oft  auch  künstlich  und  gemacht 
sein  —  wie  die  von  R.  Hildebrand  verspottete  orthographische  von 
„wider"  und  „wieder''  — ,  in  der  ungeheuren  Überzahl  der  Fälle  ist  aller- 
dings eine  wirkliche,  dem  lebendigen  Sprachgefühl  unbedingt  verständliche 
Verschiedenheit  vorhanden,  und  es  geht  nicht  an,  „Meer"  und  „See",  „Fluß" 
und  „Strom",  „schlagen"  und  „hauen",  „bedeutsam"  und  „wichtig"  unter- 
schiedslos zu  gebrauchen.  Hier  helfen  die  synonymischen  Wörterbücher, 
von  denen  die  bekannten  von  Eberhard  und  Sanders  am  häufigsten  nach- 
geschlagen werden.  Zur  Schulung  des  Sprachgefühls  ist  gerade  die  Selbst- 
befragung über  den  Unterschied  sogenannter  Synonyma  besonders  zu  em- 
pfehlen: man  frage  sich,  weshalb  Goethe  schrieb  „der  König  in  Thule" 
und  nicht  „der  König  von  Thule",  weshalb  er  (in  den  „Wahlverwandt- 
schaften" I  15)  gerade  folgende  Ausdrücke  bei  der  Beschreibung  eines 
Feuerwerks  anwendet:  „Raketen  rauschten  auf,  Kanonenschläge  donnerten, 
Leuchtkugeln  stiegen,  Schwärmer  schlängelten  und  platzten,  Räder  gischten". 
Jedenfalls  halte  man  sich  mehr  an  Belegstellen  (wie  sie  auch  die  besseren 
deutschen  Wörterbücher  bieten)  als  an  theoretische  Künsteleien;  und  natür- 
lich vor  allem  an  die  Prosa,  da  in  der  Poesie  der  Rhythmus,  der  Vers, 
namentlich  aber  der  Reim  gar  zu  oft  der  Genauigkeit  in  den  Weg  tritt. 
Der  französische  Schriftsteller  Stendhal  (Henri  Beyle)  pflegte  sich  deshalb 
auf  sein  Schreiben  dadurch  vorzubereiten,  daß  er  ein  paar  Seiten  des  „Code 
Napoleon",  des  berühmten  französischen  Gesetzbuchs,  las,  um  sich  in 
nüchterner  Klarheit  und  sorgfältiger  Unterscheidung  der  Ausdrücke  zu 
erhalten. 

§  30.  Amphibolie.  Gebraucht  man  lässig  statt  des  eigentlichen  Aus- 
drucks den  uneigentlichen  (vgl.  Wackernaqel  S.  341)  —  der  natürlich  oft 
selbst  gefordert  sein  kann:  wo  unbestimmt  musikalische  Stimmung,  Stili- 
sierung, selbst  schon  Variation  nach  ihm  rufen  — ,  so  entsteht  der  Kunst- 
fehler der  Amphibolie  (vgl.  ebd.  S.  343).  Sie  führt  entweder  zu  breiter 
Allgemeinheit,  wie  Wielands  unbestimmtes  Reden  von  „Tugend",  über 
das  der  junge  Goethe  in  „Götter,  Helden  und  Wieland"  lacht  —  „Hast 
du  die  Tugend  gesehen?  Wieland!  Ich  bin  doch  auch  in  der  Welt  herum- 
gekommen, und  ist  mir  nichts  so  begegnet!"  —  oder  zur  Zweideutigkeit, 
wie  in  dem  von  Wackernaqel  beigebrachten  Beispiel:  „Du  sollst  die  Wahr- 
heit stets  verfolgen  [im  Sinn  von:  angelegentlich  betreiben:  eine  Sache  mit 
Eifer  verfolgen]  und  auch  bei  der  Verwaltung  mannigfaltiger  Berufsgeschäfte 


')  Vgl.  allgemein  K.  F.  Becker,  Der  deutsche  Stil  S.  95  f.,  Raleigh,  On  Style  S.  47  f. 


26  Stilistik. 


alles  zu  übersehen  [im  Sinn  von:  überblicken,  nicht  von:  über  etwas  hin- 
wegsehen] suchen".  Als  absichtliche  Doppelrede  wird  natürlich  die  Am- 
phibolie  zum  Kunstmittel,  wie  etwa  in  Goethes  „Iphigenie"  das  „Bild  der 
Schwester".  Die  Inder  haben  es  bekanntlich  in  der  Kunst,  durch  Anwen- 
dung mehrdeutiger  Ausdrücke  lange  Perioden  zu  bauen,  bei  denen  zwei 
völlig  auseinandergehende  Deutungen  möglich  sind,  zu  einer  wahren  Vir- 
tuosität gebracht. 

Zu  besonderer  Aufmerksamkeit  beim  Gebrauch  der  oft  mehrdeutigen 
Zusammensetzungen  (Genetivus  obiectivus  und  subiectivus  können  leicht 
verwechselt  werden  u.  dgl.)  ermahnt  Becker  (S.  445).  Bei  häufigerer  Ver- 
wendung pflegt  übrigens  die  eine  Bedeutung  ganz  auszuscheiden:  „Liebe 
des  Vaterlands''  mit  Vaterland  als  Subjekt,  „Vaterlandsliebe"  mit  Vater- 
land als  Objekt. 

Zuweilen  erhält  auch  eine  undeutliche  Bildung  nachträglich  einen  bestimmten  ihr 
ursprünglich  fremden  Sinn:  so  scheint  .Wechselwirkung'  ursprünglich  .Bewirkung  von 
Wechsel'  und  erst  später  .gegenseitige  Beeinflussuung'  bedeutet  zu  haben.  Ist  .himmel- 
anstrebend' mit  .himmelan'  oder  mit  .anstreben'  gebildet?   U.  dgL  m. 

§31.  Anschaulichkeit  Aber  schon  jenes  Beispiel  des  Stendhal  beweist, 
daß  Genauigkeit  nicht  alles  tut.  Man  kann  sehr  sorgfältig  das  zutreffende 
Wort  wählen  —  und  eben  deshalb  den  richtigen  Ausdruck  verfehlen.  Ge- 
rade die  Pedanterie,  die  jedes  Mißverständnis  ausschließen  will,  hat  uns  in 
neuester  Zeit  mit  unbrauchbaren  Neologismen  —  unbrauchbar,  wenn  sie  auch 
alle  Welt  gebraucht  —  beschenkt.  Die  berüchtigte  „Kleinkinderbewahr- 
anstalt"  ist  ein  abschreckendes  Muster.  Und  wenn  man  nun  wirkUch  dächte, 
große  Kinder  kämen  auch  noch  herein?  Und  wenn  man  nun  (wie  vor- 
geschlagen wurde)  einfach  „Kinderhaus"  sagte,  und  das  „Bewahren"  nicht 
gleich  ausdrückte,  das  ja  in  „Kinderstube"  auch  nicht  sozusagen  in  bar  auf 
den  Tisch  gezähU  wird?  Oder:  „rauchschwaches  Pulver";  verlangt  man 
denn  von  „rauchlosem  Pulver"  mehr  destillierte  Reinheit  als  von  „staub- 
freier Luft"?  Oder  von  „Minderbemittelten",  „Minderbegabten"  zu  sprechen, 
mag  human  sein;  ästhetisch  ist  es  nicht.  Nun  gar  „Hoch-  und  Unter- 
grundbahn" —  das  bringe  mal  einer  in  einen  guten  Satz!  Ein  Wunder, 
daß  unsere  Schulweisheit  beim  Kaiser  Wilhelmskanal  uns  die  Benennung 
„Nordsee-Ostsee-Kanal"  statt  „Nordostseekanal"  erlassen  hat.') 

Was  diesen  mühsam  tappenden  Worten  (und  so  auch  besonders 
vielen  juristischen  Neubildungen)  fehlt,  ist  die  Anschaulichkeit.  ^Da- 
tivus"  ist  der  Fall,  der  eintritt,  wenn  ich  jemandem  etwas  gebe  —  freilich 
nicht  nur  dann,  aber  nach  diesem  bezeichnenden  Hauptbeispiel  kann  ich 
nun  andere  konstruieren.  „Wemfall"  ist  der  Kasus,  der  auf  die  Frage 
„wem?"  antwortet;  womit  wir  gar  nicht  gefördert  sind,  denn  nun  heißt  es 
wieder:  wann  wird  mit  „wem?"  gefragt?  nun,  z.  B.  bei  „geben"! 

Gegen  die  kahle  „Richtigkeit"  ohne  Anschauung,  ohne  Sinnlichkeit 
hat  sich  gerade  neuerdings  eine  höchst  dankenswerte  Opposition  erhoben. 

')  Vgl.  allgemein  Lazarus,  Leben  der  Seele,  2.  Aufl.,  2,  207  f. 


Drittes  Kapitel.    Die  Worte  in  inhaltlicher  Hinsicht.  27 

Zwar  schon  K.  F.  Becker  (S.  74  f.)  warnte  vor  einer  „unnatürlichen  Ver- 
geistigung des  Stiles";  er  stellte  die  abstrakten  Wendungen  der  Mystiker 
(„Schauung",  „Darbung",  „Anderheit",  „Geschaffenheit"  und  gar  der  Philo- 
sophen aus  Hegels  Schule  („Ganzheit",  „Selbheit",  „das  Bei-sich-sein") 
kräftig  sinnlichen  Ausdrücken  der  Volkssprache  gegenüber;  wie  denn  auch 
Herbert  Spencer  in  seinem  berühmten  Essay  „The  Philosophy  of  Style" 
(Essays  2,  40  f.)  die  kräftig  anschaulichen  „angelsächsischen"  Worte  den 
abstrakten  Lehnworten  vorzieht.  Ebensowenig  fehlt  der  Hinweis  auf  die  Sinn- 
lichkeit der  Worte  etwa  bei  Wackernagel  (S.  371),  und  gar  Fr.  Th.  Vischer 
(Ästhetik  6,  1221  f.)  hat  mit  aller  Energie  seiner  daseinsfreudigen  Seele  die 
Anschaulichkeit  des  Ausdruckes  gepredigt.  Aber  in  breitere  Kreise  drang 
diese  Forderung  doch  erst  durch  R.  Hildebrands  unvergleichliche  Lehr- 
tätigkeit und  die  seiner  Schüler  Otto  Schroeder  („Vom  papiernen  Stil") 
und  Wustmann  („Sprachdummheiten");  im  allgemeinen  mag  auch  an  „Rem- 
brandt  als  Erzieher"  erinnert  werden.  Als  1873  Fr.  Nietzsche  seine  Streit- 
schrift „David  Strauss,  der  Bekenner  und  der  Schriftsteller"  ganz  ausdrück- 
lich auch  gegen  die  „austrocknende  Öde  und  Verstaubtheit"  seines  Buches 
„Der  alte  und  der  neue  Glaube"  richtete  (Werke  I  257,  vgl.  259  f.),  verstand 
man  noch  kaum,  was  er  wollte;  aber  sechs  Jahre  später  schlug  die  grund- 
legende zweite  Auflage  von  Hildebrands  prächtiger  Schrift  „Vom  deutschen 
Sprachunterricht  in  der  Schule"  durch. 

§  32.  Mittel  der  Wortwahl.  Über  die  allgemeinen  Mittel,  eine  größere 
Anschaulichkeit  zu  erreichen,  ist  an  anderer  Stelle  zu  handeln.  Hier  ist 
nur  zu  fragen,  welche  Worte  oder  Wortklassen  besonders  geeignet  sind, 
die  Vorstellungskraft  anzuregen.    Da  läßt  sich  zunächst  allgemein  sagen:') 

1.  Verba  wirken  anschaulicher  als  Substantiva,  weil  sie  die  Bewegung 
lebendig  vorführen,  die  im  Nomen  erstarrt  ist.  Als  Goethes  „Mann  von 
fünfzig  Jahren"  (Wilhelm  Meisters  Wanderjahre  IL  Buch  4.  Kap.,  Hempel 
15,  204)  den  Ovid  übersetzt  hat,  ist  er  mit  der  Übertragung  („mit  diesem 
Übertragenen",  sagt  der  Dichter)  nicht  („nur  wenige  Zeit")  zufrieden;  „er 
tadelte,  daß  er  das  schönflektierte  Verbum  fierent  in  ein  traurig  abstraktes 
Substantivum  („das  Machen")  verändert  habe".  —  Die  Übermasse  der  No- 
mina gibt  auch  der  altgermanischen  Poesie  ihren  starren  Charakter  (vgl. 
meine  Altgermanische  Poesie  S.  17). 

2.  Simplicia  wirken  anschaulicher  als  Komposita,  weil  sie  den  Be- 
wegungsinhalt einfacher,  ursprünglicher  hervortreten  lassen.  „Ich  steige  auf 
den  Berg"  läßt  die  Handlung  deutlicher  empfinden  als  „ich  ersteige  den 
Berg". 

3.  Konkreta  wirken  natürlich  anschaulicher  als  Abstrakta: 

„Und  drinnen  waltet  die  züchtige  Hausfrau" 

ist  ein  nachzuschaffendes  Bild; 


1)  Vgl.  Jean  Paul,  Vorschule  der  Ästhetik  §  78;  Scherer,  Poetik  S.  269. 


28  Stilistik. 


Denn  wo  das  Strenge  mit  dem  Zarten, 
Wo  Starkes  sich  und  Mildes  paarten  — 

das  ist  abstrakt,  unanschaulich,  fast  der  Phrase  benachbart. 

4.  Worte,  deren  Ursprung  noch  deutlich  empfunden  wird,  wirken  an- 
schaulicher als  solche  mit  verdunkelter  Etymologie;  weshalb  auch  das  Volk 
gern  etymologische  Zusammenhänge  herstellt,  wo  sie  verloren  sind.  „5/«^- 
flut"  (von  der  gleichen  Wurzel  wie  „Sinngrün'' ,  Immergrün:  die  große 
Flut)  ist  ein  unanschauliches,  „Sündflut",  Flut  zur  Strafe  der  Sünden,  ein 
anschauliches  Wort.') 

Deshalb  sind  einheimische  Worte  auch  meist  anschaulicher  als  Fremd- 
worte; nur  werden  Archaismen  und  Provinzialismen  sowie  Neubildungen 
von  undurchsichtiger  Art  auch  leicht  als  fremde  Worte  empfunden. 

5.  Der  Singular  wirkt  anschaulicher  als  der  immer  schon  etwas  ab- 
strakte Plural: 

Was  ist  des  Deutschen  Vaterland?  — 

6.  Pronomina,  weil  sie  jede  charakterisierende  Benennung  ablehnen, 
wirken  unanschaulich  und  werden  deshalb  gern  durch  variierte  Nomina 
ersetzt;  wie  undeutlich  der  Anfang  der  „Nadowessischen  Totenklage ": 

Seht,  da  sitzt  er  auf  der  Matte, 
Aufrecht  sitzt  er  da  — 


oder  gar: 


wie  anschaulich: 


Er  stand  auf  seines  Daches  Zinnen, 
Er  schaute  mit  vergnügten  Sinnen 
Auf  das  beherrschte  Samos  hin  — 


Normannenherzog  Wilhelm  rief  einmal 

(Uhland,  .Taillefer*). 
Wie  denn  überhaupt 

7.  Eigennamen  rasch  in  die  Nähe  der  Person  bringen: 
Lenore  fuhr  ums  Morgenrot 
Empor  aus  wilden  Träumen. 

Doch  leitet  dies  schon  zu  den  andern  „Werten"  des  Wortes  über: 
-zu  denen,  die  durch  Assoziation  vermittelt  werden.  Das  gilt  auch  für  fast 
alle  einzelnen  Worte,  die  als  besonders  anschaulich  (z.  B.  von  R.  Hilde- 
brand) empfohlen  werden.  „Sie  ist  die  Güte  selbst"  ist  freilich  anschau- 
licher als  „sie  ist  die  verkörperte  Güte"  oder  gar  „die  personifizierte  Güte", 
weil  der  an  sich  abstrakte  Ausdruck  unmittelbarer  mit  der  lebendigen  Person 
verbunden  wird,  und  weil  der  Beiklang  gelehrter  Kälte  in  den  beiden  wissen- 
schaftlichen Ausdrücken  aus  dem  Spiel  bleibt. 

§  33.  Assoziationen.  Die  Worte  wirken  nämlich  nicht  bloß  unmittel- 
bar, sondern  auch  durch  Nebeneindrücke,  die  sie  erwecken,  durch  Asso- 
ziationen. Hierüber  ist  nur  das  Allgemeinste  festgestellt,  zuerst  von 
Fechner  in  seiner  Vorschule  der  Ästhetik  (S.  86  f.,  136  f.).-) 

')   Zahlreiche  Beispiele  bei  Andresen,   ;  -)  Einige  \'ersuche  genauerer  Ermittelung 

Deutsche  Volksetymologie.  |  bei  Thü.mb  und  AUrbe,  Experimentelle  Unter- 


Drittes  Kapitel.    Die  Worte  in  inhaltlicher  Hinsicht.  29 

Hauptsächlich  sind  dreierlei  Assoziationen  zu  unterscheiden,  je  nach- 
dem ob  die  Worte  rein  lautlich,  durch  den  herrschenden  Sprachgebrauch, 
oder  historisch  wirken. 

A.  Die  lautsymbolische  Wirkung  der  Worte  ist  in  neueren  Zeiten 
besonders  eifrig  gepflegt  worden.  Theoretisch  wissen  wir  über  ihre  Be- 
dingungen auch  nur  das  Allgemeinste:')  helle  Vokale  wirken  in  Häufung 
oder  geschickter  Anordnung  eben  „hell",  d.  h.  angenehme,  freudige  Ge- 
fühle erweckend;  dunkele  rufen  leicht  Grauen  oder  doch  die  Vorstellung 
trüber  Stimmung  her\'or.  ^)  —  Die  kunstvolle  Venvendung  des  Lautwerts 
der  Silben  und  Worte  ist  an  anderm  Ort  (als  Lautmalerei  und  Onoma- 
topoeie)  zu  besprechen;  hier  ist  nur  zu  erwähnen,  daß  ihre  feine  Aus- 
bildung bei  den  neueren  Franzosen  (Mallarme,  Verlaine,  Rimbaud)  und 
ihren  deutschen  Schülern,  besonders  Stephan  George^)  zu  einer  Wieder- 
aufnahme der  Untersuchungen  geführt  hat,  die  aus  gleichem  Anlaß  gerade 
ein  Jahrhundert  früher  in  der  Zeit  der  Romantik  zuerst  gepflegt  wurden.^) 

Man  wird  in  Bezug  auf  den  Lautwert  der  Worte  sich  noch  immer 
am  besten  dem  eigenen  Gefühl  anvertrauen.  Zur  Beurteilung  der  laut- 
symbolischen Feinheit  von  Schriftstellern  dient  besonders  deren  Namen- 
wahl, d.  h.  die  Wahl  von  Eigennamen  für  ihre  Personen  und  Orte,  und 
noch  mehr  ihre  Namengebung,  d.  h.  die  Erfindung  weiterer  Namen  in 
gleicher  Absicht.  Die  treffliche  Namengebung  des  Popularphilosophen 
J.  J.  Engel  (z.  B.  in  „Lorenz  Stark")  rühmte  schon  der  Turnvater  Jahn; 
andere  Virtuosen  der  Kunst,  durch  frei  gewählte  Namen  die  Atmosphäre, 
die  ihren  Helden  umgibt,  zu  bestimmen,  sind  z.  B.  G.  Freytag,  Fritz 
Reuter,  Th.  Storm,  neuerdings  Ricarda  Huch. 

B.  Die  sprachliche  Wirkung  der  Worte  hängt  an  bestimmten  festen 
Formeln  und  Verbindungen. s)  Die  sogenannten  „Zwillingsformeln"  der 
deutschen  Sprache«)  sind  wie  zwei  Guerickesche  Halbkugeln  aneinander 
geschmiedet:  wir  verbinden  so  oft  „Feuer  und  Wasser",  daß  bei  der  Nen- 
nung des  einen  Elements   sich   leicht  das  andere   in  der  Vorstellung  ein- 


suchungen  über  die  psychologischen  Grund-  Poetik  S.  275.  —  Vorzugsweise  hierher  ge- 

lagen  der  sprachhchen  Analogiebildung,  Leip-  hört,  was  Sherman,  Analjiics  of  Literature 

zig  1901,  vgl.  meine  Besprechung,  Anzeiger  S.  12f.,  unter  .Suggestive-words"  anführt, 
für  deutsches  Altertum  28  (1902)  S.  279.  —  ')  Vgl.  Zw\-.m.\nn,  Das  Georgesche  Ge- 

Zahlreiche  Beispiele  für   das  Englische  bei  dicht,  Berlin  1902. 

Bain  a.a.O.  2,  70:  „Vocabularj-  of  Strenghl",  *)  A.  F.  Ber.\'H.\RDI,  Sprachlehre,  Berlin 

Aufzählung  von  Worten,   die  den  Eindruck  1803,  2,  260  f.  Von  der  romantischen  Willkür 

der  Stärke  erwecken;  2,  127:  „Vocabularj'  of  noch   gänzlich    abhängig   G.   Gerber,    Die 

Feeling",   von  Worten,   die  das   Gefühl   er-  Sprache  als  Kunst,  Bromberg  1871,  2,  214  f. 
regen.     Vgl.   auch   Sher>un,   Analjlics   of  ')  Vgl.  Thu.mb  und  Marbe  a.  a.  O.,  auch 

Literature  S.  30  f.,  69.  Merixger  und  Mayer,  Vorsprechen  und  Vor- 

')    Vgl.    meinen    Aufsatz    .Künstliche  lesen,  Stuttgart  1895. 
Sprachen",  Indogermanische  Forschungen  12,  *)   Vgl.   meine  Altgermanische  Poesie 

243  f.  S.  240  f. 

-)  Eine  künstliche  Tabelle  bei  Viehoff,   i 


30  Stilistik. 


findet.  Das  Wort  „Pflicht"  ruft  „Recht"  herbei  und  umgekehrt,  nicht  bloß 
aus  begrifflicher  Assoziation,  sondern  vorzugsweise,  weil  diese  zu  typischer 
Verkuppelung  von  „Recht"  und  „Pflicht"  im  Sprachgebrauch  geführt  hat 
Viele  Chiasmen,  zahllose  Antithesen  rollen  in  solchen  Wortgeleisen.  Daher 
erklingt  leicht  das  eine,  wo  nur  das  andere  genannt  ist,  leise  mit  und  kann 
durch  diesen  Oberton  die  Wirkung  des  ausgesprochenen  Zwillings  fördern 
oder  —  häufiger  —  stören. 

Ebendahin  gehören  typische  Reime,  selbst  aus  solcher  Gewohnheit 
der  Wortgesellschaftung  entsprungen.')  Die  gewohnten  Reime  stellen  sich 
ein,  auch  wo  der  Dichter  sie  vermied  —  eine  häufige  Fehlerquelle  in  Hand- 
schriften und  Drucken.  Oder  umgekehrt  ein  gewohntes  Wort  verdirbt  den 
Reim.     Fontanes  Puritanerlied  „Die  Stuarts"  schließt: 

Es  kommt  ein  Wetter,  es  braust  ein  Strom, 

Die  Lüge  muß  verderben , 

Die  Stuarts  stehen  all  zu  Rom 

Und  müssen  alle  sterben. 
Mir  geriet  beim  Rezitieren  statt  „Strom''  fast  immer  „Sturm"  auf  die  Zunge, 
weil  es  zu  „Wetter''  in  typischer  Verbindung  steht. 

C.  Aus  beiden  Elementen  setzt  sich  die  historische  Wirkung  der 
Worte  zusammen.  Ausdrücke,  die  die  Poesie  oft  und  mit  Emphase  an- 
wendet oder  die  bei  wichtiger  Gelegenheit  gebraucht  werden,  erhalten  einen 
besondern  Glanz;  sie  nehmen  auch  in  späterer  Verwendung  an  dem  Ein- 
druck teil,  den  sie  früher  in  glücklicher  Anwendung  erweckten.  Überhaupt 
aber  trägt  die  ganze  Vorgeschichte  eines  Wortes  zu  seiner  gegenwärtigen 
Wirkung  bei.  Darauf  hat  Hildebrand  oft  und  mit  prächtigen  Beispielen 
hingewiesen.-) 

All  diese  Assoziationen  also,  rein  lautlicher,  sprachlicher,  historischer 
Art  wirken  auf  die  Brauchbarkeit  von  Worten  überhaupt  und  insbesondere 
die  für  bestimmte  Zwecke  ein.s)  Ein  allzu  feiediches  Wort  paßt  nicht  für 
die  leichte  Erzählung.  Den  ernsten  tiefen  Klang  des  schönen  Wortes 
„Vatertand",  bei  dem  wir  E.  M.  Arndts  Lied  hineintönen  hören,  wird  man 
an  vielen  Stellen  vermeiden,  wo  das  gemütlichere  „Heimat"  noch  paßt; 
und  umgekehrt  bei  pathetischer  Beschwörung  ist  jenes  nicht  zu  umgehen: 

Ans  Vaterland,  ans  teure,  schließ  dich  an. 
Vernachlässigung  der  Assoziationen  ist  es  vorzugsweise,  die  die  Gedichte 
unlyrischer  Lynker  wie  Immermann  und  Grillparzer  so  oft  ihre  Wirkung 
verfehlen  läßt;  um  so  mehr,  als  das  unglücklich  gewählte  Wort  leicht  auch 
einen  nicht  passenden  Rhythmus  nach  sich  zieht  und  selbst  das  Metrum 
bestimmen  kann.  —  Doch  auch  die  „niederen  Worte"  (s.  o.  §  26)  sind 
großenteils  um  ihrer  Assoziationen  willen  (besonders  auch  der  lautlichen;  so 


')  Vgl.  Erich  Schmidt,  Deutsche  Reim-  künde,  2.  Aufl.,  Leipzig  1899,  S.  209  f. 

Studien,   Sitzungsberichte  der  Berliner  Aka-  i  ')  Über  die  Vermeidung  störender  Asso- 

demie  3.  Mai  1900.  ;  ziationen    Ratzel,    Über    Naturschilderung, 

'-)  Weiteres  bei  E.  Wilke,  Deutsche  Wort-  '  München  i.  B.  1904  S.  372. 


Viertes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  formeller  Hinsicht.  31 

bei  „schmeißen'',  „packen'')  verurteilt;   und   eben   davon   hängt  es  oft  ab, 
ob  Idiotismen,  Archaismen  u.  s.  w.  uns  erträglich  scheinen  oder  nicht. 

Wo  man  dem  durch  „niedere  Worte"  vermittelten  Inhalt  nicht  aus- 
weichen kann,  hilft  man  sich  durch  den  Euphemismus  (Wackernagel 
S.  404),  d.  h.  eine  andeutende  Umschreibung  mittelst  erlaubter  Worte,  indem 
man  etwa  aus  Prüderie  „die  Unaussprechlichen"  sagt  statt  „die  Hosen" 
oder  mit  berechtigterer  Scheu  die  mehr  animalischen  Funktionen  des 
Menschen  nicht  mit  ihren  volkstümlichen  Namen  benennt.  Wie  weit  man 
hier  zu  gehen  hat,  hängt  von  Ton  und  Gelegenheit  der  ganzen  Schrift  ab. 

Viertes  Kapitel. 
Die  Wortverbindung  in  formeller  Hinsicht. 

§  34.  Wortverbindung.  Die  Bedeutung  der  Wortwahl  ist  groß;  hat  doch 
die  Assoziation  so  große  Gewalt,  daß  nur  um  des  dumpfen  Tons  willen 
die  arme  unschuldige  Unke  zu  einem  bösen  Ungeheuer  der  Dichtung  wurde. 
Dennoch  fängt  die  eigentliche  Pflege  des  Stils  erst  mit  der  Wortverbindung 
an:  mit  der  sorgfältigen  Anpassung  eines  Wortes  an  das  andere,  die  erst 
jenem  Wortgefüge,  das  wir  menschliche  Rede  nennen,  ihr  eigentliches  Ge- 
präge gibt.  Und  diese  fällt,  weil  unmittelbarer  vernehmlich,  sogar  mehr  in 
das  Ohr  als  der  Satzbau.  Mindestens  für  den  weniger  geschulten  Hörer 
und  Leser  ist  sie  daher  von  den  äußeren  Mitteln  des  Stils  vielleicht  die 
wichtigste  und  in  der  Tat  auch  die,  der  die  meisten  Schriftsteller  die  größte 
Sorgfalt  zuwenden.  Daß  dies  freilich  gerade  bei  uns  noch  keineswegs  in 
genügendem  Maß  geschieht,  hat  der  letzte  große  Meister  deutscher  Prosa, 
Fr.  Nietzsche,  in  bewegten  Worten  beklagt,  die  von  den  vielseitigen  Auf- 
gaben virtuoser  Wortverbindung  ein  anschauliches  Bild  geben  (Werke  VII 
S.  214  N.  246): 

Welche  Marter  sind  deutsch  geschriebene  Bücher  für  ,'den,  der  das  dritte  Ohr  hat: 
wie  unwillig  steht  er  neben  dem  langsam  sich  drehenden  Sumpfe  von  Klängen  ohne  Klang, 
von  Rhythmen  ohne  Tanz,  welcher  bei  Deutschen  ein  Buch  genannt  wird!  Und  gar  der 
Deutsche,  der  Bücher  liest!  Wie  faul,  wie  widerwillig,  wie  schlecht  liest  er!  Wie  viele 
Deutsche  wissen  es  und  fordern  es  von  sich  zu  wissen,  daß  Kunst  in  jedem  guten  Satz 
steckt,  —  Kunst,  die  erraten  sein  will,  sofern  der  Satz  verstanden  sein  will!  Ein  Miß- 
verständnis über  sein  Tempo  zum  Beispiel:  und  der  Satz  selbst  ist  mißverstanden!  Daß 
man  über  die  rhythmisch  entscheidenden  Silben  nicht  in  Zweifel  sein  darf,  daß  man  die 
Brechung  der  allzustrengen  Symmetrie  als  gewollt  und  als  Reiz  fühlt,  daß  man  jedem 
staccato,  jedem  rubato  ein  feines  geduldiges  Ohr  hinhält,  daß  man  den  Sinn  in  der  Folge 
der  Vokale  und  Diphthonge  rät,  und  wie  zart  und  weich  sie  in  ihrem  Hintereinander  sich 
färben  und  umfärben  können:  wer  unter  bücherlesenden  Deutschen  ist  gutwillig  genug, 
solchergestalt  Pflichten  und  Forderungen  anzuerkennen  und  auf  so  viel  Kunst  und  Absicht 
in  der  Sprache  hinzuhorchen?  Man  hat  zuletzt  eben  „das  Ohr  nicht  dafür":  und  so  werden 
die  stärksten  Gegensätze  des  Stils  nicht  gehört  und  die  feinste  Künstlerschaft  ist  wie  vor 
Tauben  verschwendet.  —  Dies  waren  meine  Gedanken,  als  ich  merkte,  wie  man  plump 
und  ahnungslos  zwei  Meister  in  der  Kunst  der  Prosa  miteinander  verwechselte,  einen, 
dem  die  Worte  zögernd  und  kalt  herabtropfen,  wie  von  der  Decke  einer  feuchten  Höhle  — 
er  rechnet  auf  ihren  dumpfen  Klang  und  Widerklang  —  und  einen  anderen,  der  seine  Sprache 


32  Stilistik. 


wie  einen  biegsamen  Degen  handhabt  und  vom  Arme  bis  zur  Zehe  hinab  das  gefährliche 
Glück  der  zitternden  überscharfen  Klinge  fühlt,  welche  beißen,  zischen,  schneiden  will. 

Über  die  Grenzen  der  Euphonie  vgl.  z.  B.  Raleigh,  Style  S.  16. 

§  35.  Satzteile.  Unter  „Wortverbindung"  haben  wir  hier  nur  diejenigen 
Punkte  zu  behandeln,  die  sich  auf  die  Verbindung  einzelner  Worte  be- 
ziehen; die  Anordnung  der  sämtlichen  zusammengehörigen  Worte  gehört 
in  das  folgende  Kapitel,  da  eben  der  Satz  die  höhere  Einheit  aller  zu- 
sammengehörigen Worte  bildet.  Dorthin  haben  wir  also  auch  schon  Wort- 
stellung und  Rhythmus  zu  verweisen.  Doch  muß  auch  an  dieser  Stelle 
auf  sie  hingewiesen  werden,  weil  es  Schriftsteller  gibt,  die  zwar  den  Satz 
als  Ganzes  nicht  beherrschen,  in  seinen  einzelnen  Teilen  aber  Wortstellung 
und  Rhythmus  künstlich  zu  verwenden  wissen. 

So  setzt  E.  Th.  A.  Hoffmann  in  die  Mitte  schlecht  gebauter  Perioden  musikalisch 
wirksame  Klauseln,  so  daß  rhythmisch  und  unrhythmisch  geordnete  Rede  durcheinander 
fließt  wie  die  Erzählungen  vom  Kapellmeister  Kreisler  und  vom  Kater  Murr:  .Zuweilen 
ließ  sich  Viktorins  Jäger,  als  Bauer  verkleidet,  am  Ende  des  Parks  sehen,  und  ich 
versäumte  nicht,  insgeheim  mit  ihm  zu  sprechen,  und  ihn  zu  ermahnen,  sich  bereit 
zu  halten,  um  mit  mir  fliehen  zu  können,  wenn  vielleicht  ein  böser  Zufall  mich  in  Ge- 
fahr bringen  sollte."    („Elixiere  des  Teufels',  Grisebachs  Ausgabe  2,60.) 

Natürlich  beruht  aber  dann  die  Wirksamkeit  dieser  Satzstücke  —  .Satzglieder'  im 
syntaktischen  Sinn  werden  es  selten  sein  —  auf  den  gleichen  Regeln,  die  auch  für  den 
ganzen  Satz  Wohlklang  und  Übersichtlichkeit  der  sich  folgenden  Worte  bestimmen.  Man 
beachte  etwa,  wie  die  zuerst  unterstrichenen  Worte  erst  eilen,  wie  unser  Blick  durch  die 
lange  Allee  des  Gartens,  um  dann  plötzlich  mittelst  der  Konsonantenhäufung  am  Ende 
zum  Verweilen  gezwungen  zu  werden;  , Parks  sehen"  schiebt  sich  vor  wie  das  Gitter, 
hinter  dem  wir  den  Jäger  erblicken.  Und  am  Schluß  des  ganzen  Satzes  stehen  Worte, 
deren  Bau  (Liquidalverbindung  vor  kurzem  Vokal)  ein  nachklingendes  Aushalten  der  angst- 
vollen Vorstellung  erleichtert. 

§  36.  Sandhi  oder  Satzphonetik.  Der  formellen  Wortverbindung  im  engeren 
Sinn  fällt  zunächst  die  Sorge  für  die  lautliche  Verträglichkeit  zweier  be- 
nachbarter Worte  zu. 

Diese  Kunst  wurde  viel  sorgfältiger  als  heut  in  Zeiten  gepflegt,  die 
das  einzelne  Wort  noch  mit  einem  gewissen  feierlichen  Respekt  umgaben, 
sobald  sie  es  in  gepflegter  Rede  verwandten.  Die  Indogermanen  besaßen 
ausgedehnte  Vorschriften  hierüber,  die  wir  nach  dem  Kunstausdruck  der 
indischen  Grammatiker  —  in  deren  Sprache  sie  am  eifrigsten  gepflegt  und 
weitergeführt  werden  —  Sandhi-Regeln  nennen.')  Innerhalb  der  deutschen 
Sprachgeschichte  lassen  sich  Perioden  unterscheiden,  in  denen  das  isolierte 
Wort,  und  solche,  in  denen  der  Satz  doininiert;  die  letzteren  zeigen 
Sandhi,  die  ersteren  fast  gar  nicht.  Wir  treffen  daher  Regeln  der  „Satz- 
phonetik" im  Althochdeutschen^)  und  zwar  besonders  am  Ende  dieser 
Periode,  und  fortdauernd  durch  die  ganze  mittelhochdeutsche  Zeit;  Ver- 
fall des  Sandhi  und  Isolierung  des  Wortes   in  der  neuhochdeutschen  Zeit, 

')  Vgl.   darüber  Brugmann,    Grundriß   i  =)   Vgl.   Brugavann  a.  a.  O.   S.  514  f., 

der  vergleichenden  Grammatik  der  indo-  Paul,  Grundriß  der  germanischen  Philologie, 
germanischen  Sprachen  I  S.  485  f.  |  2.  Aufl.,  I  677,  714  f. 


Viertes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  formeller  Hinsicht.  33 

besonders  stark  an  ihrem  Anfang  und  in  der  nachklassischen  Epoche; 
endlich  gegenwärtig  neue  Ansätze  der  Satzphonetik.  Wenn  z.  B.  mittel- 
hochdeutsch zwar  gesagt  wird  „der  tac  ist  — ",  aber  „des  tages",  so 
entspricht  diese  Unterscheidung  von  k  (geschrieben  c)  und  g  dem  Be- 
dürfnis, das  Wort  dem  Satzgefüge  einzuordnen,  wogegen  in  unserm  gleich- 
mäßigen „der  Tag  ist  — "  und  „des  Tages"  die  Wortform  als  allein  maß- 
gebend festgehalten  wird.  Wenn  die  frühneuhochdeutsche  Zeit  Worte,  die 
mit  leicht  zu  assimilierenden  Konsonanten  schlössen,  mit  solchen  Lauten 
abriegelt,  die  eine  Pause  fordern,  insbesondere  dem  dafür  schon  in  ur- 
germanischer Zeit  beliebten  t,  so  ist  das  ein  Triumph  des  Wortpartikularis- 
mus; mittelhochdeutsch  „obez,  wilen"  fügt  sich  leicht  an  das  folgende  Wort, 
neuhochdeutsch  „  Obst,  weiland"  steht  in  seiner  Selbstherrlichkeit  gepanzert 
da  wie  ein  Reichsritter  des  17.  Jahrhunderts.  —  Doch  ist  zu  beachten,  daß 
die  Schriftsprache  die  Tendenzen  der  lebenden  Rede  noch  übertreibt  und 
die  Schreibung  gern  noch  die  der  Schriftsprache.  So  unterscheiden  wir 
Norddeutsche  in  der  Aussprache  tatsächlich  den  Auslaut  von  „Tag"  von  dem 
Inlaut  in  „Tages"  und  die  Mundarten  haben  noch  mehr  Anpassungen;')  so 
gewaltsame  Absperrungen  eines  Wortes,  wie  sie  das  17.  und  18.  Jahrhundert 
besonders  in  Eigennamen  und  Titeln  liebte  {„Bismarck"  statt  „Bismark", 
„Wurmb"  statt  „Wurm",  „Königinn"  statt  „Königin")  haben  immer  nur 
auf  dem  Papier  gestanden. 

§  37.  Hiatus  und  Euphonie.  Gegenwärtig  zeigen  sich,  wie  bemerkt,  An- 
fänge einer  neuen  Sorgfalt  in  Bezug  auf  die  Wortnachbarschaft;  zu  Regeln 
haben  sie  sich  aber  in  wenigen  Fällen  verdichtet.  Augenfällig  ist  besonders 
eine  zunehmende  Abneigung  gegen  den  Hiatus,  d.h.  den  Zusammenstoß 
eines  auslautenden  mit  einem  anlautenden  Vokal.-)  Als  vorzugsweise 
störend  wird  das  so  häufige  stumpfe  kurze  e  vor  andern  Vokalen  empfunden, 
auf  das  viele  überhaupt  den  Begriff  des  Hiatus  im  Deutschen  einschränken. 
Ihm  kann  öfters  durch  die  Wortstellung  abgeholfen  werden  oder  auch  durch 
die  Wortwahl:  „erwiderte  Franz"  statt  „erwiderte  er".  Vielfach  ist  doch 
das  herbere  Mittel  der  Wortverkürzung  nötig, 3)  insbesondere  der  Elision, 
d.  h.  des  Abfalls  eines  Endvokals  vor  vokalischem  Anlaut.  So  wird  in  der 
„Zeitschrift  für  deutsches  Altertum"  grundsätzlich:  „meint  ich".,  nie  „meinte 
ich"  gesetzt.  Doch  läßt  der  Sprachgebrauch  der  Gegenwart  die  Elision 
nur  bei  Flexionssilben  zu  und  auch  hier  nur  beim  Dat.  Sing,  der  Maskulina 
und  Neutra,  wo  die  Form  „dem  Freund"  sogar  allgemein  auch  außerhalb 
der  Hiatusfälle  vor  „dem  Freunde"  bevorzugt  wird,  und  bei  der  1.  Sing. 
Praes.  und  2.  Sing.  Imper.:  „ich  seh'  es  kommen",  „vertrau  auf  Gott". 
Auch  wird  hier  die  Verkürzung  oft  auf  Fälle  vor  Konsonanten   und   im 

')  Vgl.  z.  B.  Behaghel  in  Pauls  Grund-  2,  375  f.,  für  Schiller  Bellermann,  Sciiillers 

riß  I  732.                                              '  Dramen  2,  246. 

2)  Vgl.  W.  Scherer,  Über  den  Hiatus  ;  ')  Vgl.  J.  Minor,  Neuhochdeutsche  Me- 
in der  neueren  deutschen  Metrik,  Kl.  Sehr.  |  trik  S.  173  f.,  Wackernagel  S.  433. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  l.  3 


34  Stilistik. 


Satzschluß  erstreckt.  Eingebüßt  haben  wir  leider  die  Möglichkeit  der  Krasis,») 
d.  h.  der  Verschmelzung  von  aus-  und  anlautendem  Vokal  zum  Diphthong 
(wie  in  mittelhochdeutsch  „deist"  für  „daz  ist"  beziehungsweise  „da'  ist"). 
Ein  absolutes  Verbot  auch  nur  des  Hiatus  mit  e  scheint  dem  Geist  der 
deutschen  Sprache  nicht  zu  entsprechen:  „da  schlage  ich  ihn"  läßt  die 
entscheidende  Handlung  nachdrücklicher  hervortreten  als  das  glattere  „da 
schlag  ich  ihn".  Wo  aber  nicht  besondere  Gründe  dagegen  sind,  wird 
man  durch  Vermeidung  des  Hiatus  dem  Wohlklang  dienen  und  den  gegen- 
wärtigen Sprachtendenzen  entgegenkommen. 

Konsonantische  Zusammenstöße  erträgt  unsere  Sprache  mit  wenig  be- 
neidenswerter Gelassenheit.  Früher  gab  es  auch  hier  Verschmelzungen: 
„bist  du"  verband  man  ruhig  zu  „bistu";  da  wir  aber  nicht  schreiben,  wie 
wir  sprechen,  sondern  sprechen,  wie  wir  schreiben,  bemühen  wir  uns  auch, 
das  unmögliche  „bist  du"  (in  dem  übrigens  das  Personalpronomen  eigent- 
lich doppelt  steht,  da  „bist"  schon  das  enklitische  „du"  enthält)  korrekt 
auszusprechen.  „Hastu"  für  „hast  du"  käme  uns  chinesisch  vor.  Aber 
auch  andere  Mittel,  den  Zusammenstoß  unverträglicher  Konsonanten  zu 
meiden,  hat  man  verlernt.  In  mittelhochdeutscher  Zeit  trennte  man  sie  im 
Verse  durch  die  Cäsur;-)  im  19.  Jahrhundert  beginnt  ein  Dichter  vom  Rang 
Grillparzers  ein  Bekenntnisgedicht  („An  Bauernfeld")  gleich  mit  der  Kako- 
phonie:  „Was  schiltst  du  mich"  —  in  der  Aussprache  freilich  zu  „Was 
schilstu  mich"  zu  vereinfachen.  —  Sorgfalt  in  diesen  Dingen  trägt  besonders 
zu  dem  leichten  Fluß  der  Rede  bei,  der  berühmte  Meister  auch  des  Prosa- 
stils auszeichnet;  vor  allem  aber  Dichter:  Wieland,  Hölderlin,  Heine. 
Doch  fehlt  es  im  einzelnen  noch  ganz  an  Beobachtungen.  Im  wesentlichen 
wird  im  Inlaut  des  Satzes  für  erlaubt  gelten  dürfen,  was  im  Inlaut  des 
Wortes  geduldet  wird.  Insbesondere  mildern  5  (beziehungsweise  seh)  und  t 
als  Vermittler  Konflikte,  die  sonst  unerträglich  wären. s)  So  ward  urgerma- 
nisch sr  zu  str  (z.  B.  in  Strom),  so  wird  frühneuhochdeutsch  eigenlich  zu 
eigentlich;  so  wird  eine  auf  dem  Papier  schlimme  Konsonantenhäufung  wie 
„sich  an  den  Pult  stellte"  (am  Ende  von  „Werthers  Leiden")  glatter  ge- 
lesen als  manche  Verbindung,  die  sich  dem  Auge  harmloser  darstellt.  — 
Als  Mittel,  schwer  zu  vermeidende  Konsonantenhaufen  zugänglicher  zu 
machen,  dient  auch  die  Interpunktion,  die  aber  nur  selten  in  dieser  be- 
stimmten Absicht  gehandhabt  wird. 

Die  beste  Prüfung  für  die  Lesbarkeit  bildet  das  von  R.  Hildebrand 
mit  Nachdruck  immer  wieder  empfohlene  laute  Lesen;  freilich  werden 
kleinere  Anstöße  von  unserer  nur  allzu  gut  geübten  Zunge  unmerklich 
überwunden. 

')  Doch  vgl.  Minor  a.  a.  O.  S.  182.  »)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Zeitschrift  für 

-1   Vgl.  meine  Grundlagen  des  mittel-      d.  Altertum  38,53. 


hochdeutschen  Strophenbaus  S.  38  f. 


Viertes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  formeller  Hinsicht.  35 

§  38.  Störende  Lautähnlichkeit.  Schwierigkeiten  der  Aussprache  und 
Mißkiang  können  aber  nicht  nur  auf  zu  großer  Verschiedenheit,  sondern 
auch  auf  zu  großer  Ähnlichkeit  der  sich  folgenden  Laute  beruhen.  Sie 
werden  dann  im  sprachlichen  Leben  durch  Dissimilation,  d.  h.  Änderung 
des  einen  von  zwei  gleichen  Lauten  beseitigt,  indem  z.  B.  „Adjutant" 
allgemein  „Aäjudant"  ausgesprochen  wird.  Erstreckt  sich  eine  solche  un- 
bequeme Lautähnlichkeit  auf  mehrere  Silben,  so  entstehen  Wortbildungen 
wie  der  von  Platen  verspottete  (und  wohl  auch  erfundene)  „Holzklotz- 
pflock", bei  dem  Konsonantenhäufung  schlimmster  Art  und  Assonanz  zu  ab- 
scheulicher Wirkung  zusammenarbeiten.  Geht  das  noch  weiter  auf  ganze 
Worte,  so  erhalten  wir  jene  scherzhaften  Sprachübungen,  wie  z.  B.  das  von 
MöRiKE  im  „Stuttgarter  Hutzelmännlein"  angebrachte  „Es  Zeit  ein  Klotzte 
Blei  glei  bei  Blaubeure".  Solche  Stückchen ')  kommen  aber  auch  ohne 
scherzhafte  Absicht  bei  nachlässigen  Stilisten  vor.  Natürlich  ist  aber  auch 
eine  allzu  glatte  „singende"  Wendung  vom  Übel,  wie  des  Parlamentariers 
Beckerath  berühmtes  Bekenntnis:  „Meine  Wiege  stand  am  Webstuhl  meines 
Vaters  ..." 

§  39.  Formelbruch.  Eine  Unbequemlichkeit,  die  man  nicht  zu  scheuen 
braucht,  wird  dem  Leser  zugemutet,  wenn  herkömmliche  Wortgruppen  durch 
neue  ersetzt  werden;  der  nachlässige  Leser  kommt  dann  unwillkürlich  in 
die  gebräuchliche  Formel  hinein  (vgl.  o.  S.  14  f.),  gerade  wie  in  solchen 
Fällen  die  alten  Schreiber  den  Text  mittelhochdeutscher  Dichter  zu  verball- 
hornen pflegten.  Solche  Störung  der  Leserbequemlichkeit  werden  erzählende 
Schriftsteller  nicht  ohne  Not  wagen;  in  wissenschaftlichen  oder  didaktischen 
Arbeiten  dagegen  wirken  sie  oft  gerade  anregend  und  der  zum  Nachdenken 
bereite  Leser  fühh  sich  angenehm  geweckt.  Es  liegt  hier  ein  Einzelfall 
jener  Figur  vor,  die  wir  als  Aprosdokese  (Täuschung  der  Erwartung) 
später  zu  behandeln  haben  und  wie  diese  überhaupt  kann  auch  der  Formel- 
bruch zu  komischer  Wirkung  verwandt  werden.  So  war  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  die  Formel  „wie  es  ist"  oder  „wie  es  wirklich  ist" 
eine  beliebte  Art  der  Bücherankündigung:  Görres  schrieb  (1826)  „Rom, 
wie  es  in  Wahrheit  ist",  um  Rom  und  den  Kirchenstaat  den  herrschenden 
Angriffen  gegenüber  zu  verherrlichen,  der  preußische  Auditeur  G.  Nicolai 
(1835)  „Italien,  wie  es  wirklich  ist",  um  die  deutsche  Begeisterung  für  Italien 
abzukühlen.  Diese  Redewendung  parodiert  nun  Glassbrenner  in  den  Titeln 
seiner  humoristischen  Hefte  „Berlin,  wie  es  ißt  —  und  trinkt"  (1832 — 50). 
Mit  pathetischer  Wirkung  verwendet  dagegen  die  aprosdoketische  Formel 
z.  B.  Nietzsche  oft;  so  wenn  er  etwa  die  herkömmliche  Wendung:  „sie 
liebten  sich  wie  Brüder"  auf  zwei  Philosophen  anwendet  in  der  Variation: 
„sie  hassen  sich,  wie  sich  nur  Brüder  hassen!",  oder  wenn  er  den  Schluß 
des  „Faust"  kühnlich  parodiert:  „Alles  Unvergängliche,  das  ist  uns  nur  ein 
Gleichnis". 

')  Über  ihre  psychologische  Grundlage  Groos,  Spiele  der  Menschen,  Jena  1899,  S.  45. 

3* 


36  Stilistik. 


§  40.  Polyptoton.  Zwischen  diesen  beiden  Erscheinungsgruppen,  daß 
die  aufeinanderfolgenden  Worte  allzu  ähnlich  oder  auffallend  verschieden 
sind  —  denn  in  dem  Fall  der  gebrochenen  Formel  hört  man  das  erwartete, 
aber  nicht  gesprochene  zweite  Wort  mit  dem  geistigen  Ohr  und  empfindet 
eben  deshalb  die  Abweichung  des  tatsächlich  gesprochenen:  „hassen"  statt 
des  vorklingenden  „lieben"  —  steht  eine  spezielle  Figur  der  Wortverbin- 
dung, das  sogenannte  Polyptoton  (Wackernagel  S.  428).  Es  besteht  in 
der  gedrängten  Anwendung  mehrerer  Formen  desselben  Wortstammes. 
„Eigentlich  paßt  der  Name  nur,  wo  vielerlei  verschiedene  Deklinations- 
formen vorkommen,  da  ptosis  Fall,  Kasus  bedeutet;  aber  die  Benennung 
gilt  auch,  wo  es  die  wechselnde  Konjugationsweise  betrifft.  Ein  rechtes 
Beispiel  bietet  Homers  Odyssee  19,  204  f."  (a.  a.  O.);  ein  anderes  in  der 
Edda  Hävamäl  57  (vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  235): 

Von  einem  Scheit  wird  das  andere  entzündet. 

Vom  Feuer  wird  Feuer  erzeugt: 

Durch  den  Mund  macht  der  Mann  sich  dem  Manne  bekannt  — 

Bedingung  ist,  daß  die  formelle  Ähnlichkeit  durch  eine  inhaltliche 
Verschiedenheit  aufgehoben  wird  —  wie  beim  „rührenden  Reim";  psycho- 
logische Ursache,  daß  der  Dichter  sich  von  einem  einzelnen  Begriff  gleich- 
sam hypnotisiert  fühlt,  so  daß  er  von  allen  Seiten  auf  ihn  hinstarrt  und 
unter  immer  verändertem  Winkel  immer  nur  ihn  erblickt.  Berechtigt  ist 
daher  diese  Art  des  Spielens  mit  dem  Wort  (die  aber  doch  nicht  zu  den 
Formen  des  eigentlichen  Wortspiels  gehört,  bei  dem  verschiedene  Wort- 
inhalte tauschen  und  nicht  bloß,  wie  beim  Polyptoton,  flexivische  Nuancen) 
nur  da,  wo  es  sich  um  wirklich  entscheidende  Begriffe  handelt.  Nicolais 
flache  Geschwätzigkeit  soll  in  einem  Xenion  verspottet  werden: 

Seine  Meinung  sagt  er  von  seinem  Jahrhundert,  er  sagt  sie. 

Nochmals  sagt  er  sie  laut,  hat  sie  gesagt  und  geht  ab. 

§  41.  Annominatio.  Eine  Erweiterung  dieser  Figur  über  die  Grenzen 
des  einzelnen  Wortstammes  hinaus  bildet  die  Annominatio  (a.a.O.  S.  428). 
Der  Wortkreis,  d.  h.  die  Summe  der  Ableitungen  von  einer  Wurzel  tritt  hier 
an  die  Stelle  des  Wortstamms,  d.  h.  der  Ableitungen  von  einem  aus  Wurzel 
und  stammbildenden  Suffi.x  bestehenden  Gebilde.  Für  diese  Figur  gilt  das 
Gleiche  wie  für  das  Polyptoton,  von  dem  sie  in  der  Tat  nur  in  gramma- 
tischer Hinsicht  unterschieden  ist.  Hierher  gehören  also  die  im  Minnesang  so 
beliebten  Spiele  mit  dem  Wort,  nach  dem  auch  wir  diese  Dichtung  benennen, 
z.B.  bei  Heinrich  von  Ruqoe  (Minnesangs  Frühling  100, 34 f.:  minne  minnet 
staeten  man.  ob  er  üf  minne  minnen  wil,  so  so!  im  minnen  lön  geschehen  u.  s.  w.; 
andere  Beispiele  bei  Wackernagel  a.  a.  O.);  oder  das  in  der  politischen  (und 
überhaupt  der  polemischen)  Auseinandersetzung  beliebte  Hinwerfen  und  Auf- 
fangen der  Schlagworte.  So  ruft  Robert  Blum  in  der  Paulskirche:  „Diese 
Partei  läßt  sich  den  Vorwurf  der  Wühlerei  gern  gefallen ;  sie  hat  gewühlt  ein 
Menschenalter  lang  . . .  und  Sie  säßen  nicht  hier,  wenn  nicht  gewühlt  worden 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  37 

wäre."  Schon  zwei  stammverwandte  Worte  können  eine  packende  An- 
nominatio  geben:  „Was  er  webt,  das  weiß  kein  Weber'';  oder,  was  König 
Ludwig  I.  von  Cornelius  sagte:  „Ist  das  ein  Maler,  der  nicht  malen 
kann?"  Schwächer  als  solche  antithetische  Annomination  ist  die  bekräfti- 
gende oder  steigernde:  die  Stille  ward  stiller''  (Klopstock)  oder  gar  ge- 
waltsames Breittreten  des  in  dem  einen  Wort  schon  liegenden  Begriffs; 
wie  bei  J.  H.  Voss: 

Was,  ob  fern  ein  Blaffer  blafft. 

Ob  ein  Flunkrer  flunkert? 

Was,  ob  fern  ein  Pfaffe  pfafft. 

Und  ein  Junker  Junkert? 

(Der  gute  Wirt,  Werke  4,  321.) 

Fünftes   Kapitel. 
Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

§  42.  Allgemeine  Wortbeziehungen.  Damit  sind  wir  schon  den  Grenzen 
der  formellen  Wortverbindung  nahe  gekommen  und  bei  der  inhaltlichen 
Seite  angelangt,  die,  wie  wir  gesehen  haben,  immerhin  auch  schon  bei  der 
Nuancierung  desselben  Begriffs  im  Polyptoton  und  der  Annominatio  eine 
Rolle  spielt.  Es  kommt  jetzt  aber  darauf  an,  das  inhaltliche  Verhältnis  der 
sich  folgenden  Worte  zu  betrachten  —  natürlich  zunächst  nur  soweit,  als 
sie  noch  nicht  einen  abgeschlossenen  Sinn,  einen  Satz  ergeben. 

Selbstverständlich  ist  die  erste  Bedingung,  daß  die  inhaltliche  Wort- 
verbindung richtig  sei,  d.  h.  daß  die  Beziehungen  zwischen  Subjekt  und 
Prädikat,  Prädikat  und  Objekt,  Substantiv  und  Adjektiv,  Verb  und  Adverb, 
Konjunktion  und  Satz  den  Vorschriften  der  Syntax  entsprechen.  Auch  hier 
können  sich  Schwierigkeiten  ergeben,  über  die  dann  Sanders'  „Haupt- 
schwierigkeiten", Wustmanns  „Sprachdummheiten",  Wunderlichs  „Um- 
gangssprache" und  „Satzbau"  forthelfen  mögen.') 

§  43.  Anteil  am  Satz.  Die  Worte  haben  die  Aufgabe,  sich  zu  einem 
gemeinschaftlichen,  in  sich  verständlichen  Stück  menschlicher  Rede  zu  ver- 
einigen. Darin  liegt  schon,  daß  jedes  nur  einen  bestimmten  Anteil  an  dem 
Gesamtinhalt  ausdrücken  und  mithin  jedes  nur  einfach  zu  fungieren  hat.  Nicht 
also  der  Verständlichkeit,  sondern  psychologischen  Ursachen  und  rhetori- 
schen Zwecken  dient  es,  wenn  ausnahmsweise  ein  Wort  mehrmals  gesetzt 
wird  —  nicht  bloß,  wie  in  den  zuletzt  besprochenen  Figuren,  ein  Wort- 
stamm. 

§  44.  Wortwiederholung.  Dies  kann  in  mehrfachem  Sinn  geschehen. 
Zunächst  kann   das  Wort  ganz  genau,   ohne   jede  Veränderung  der  Form 

■)   Lehrreiche  Analogien,   wie  auch  für  Schönheit  des  Stils  liegen  kann,  führt  Herb, 

die  Synonymik,  bei  W.  Hodgson,  Errors  in  Spencer  (The  Philosophy  of  Style,  Essays 

the  Use  ofEnglish,  Edinburgh,  7.  Ausg.  1896.  2,  16  f.)  aus;   vgl.   allgemein  Becker,   Der 

Daß  in  dieser  Richtigkeit  schon  viel  von  der  Stil  S.  157  f. 


38  Stilistik. 


oder  des  Sinnes,  mehrfach  auftreten:  die  Figur  der  Wiederholung.')  Es 
gibt  allerdings  auch  Wiederholungen,  auf  die  unsere  Definition  nicht  zu- 
trifft.    Wenn  es  in  Schillers  Taucher  heißt: 

Und  heller  und  heller,  wie  Sturmes  Sausen, 
Hört  man's  näher  und  immer  näher  brausen  — 

SO  bedeutet  das  zweite  „näher''  eine  Steigerung,  die  das  immer  bedroh- 
lichere Heranrücken  ausdrückt,  und  ebenso  (obwohl  hier  sogar  das  ver- 
deutlichende „immer''  fehlt)  das  zweite  „heller"  einen  höheren  Grad  des 
lauten  Geräusches.  —  Das  sind  aber  Ausnahmen;  zumeist  wirkt  in  der 
Wiederholung  das  zweite  Wort  nur  eben  deshalb  stärker,  weil  es  nochmals 
dasselbe  sagt.  Diese  Verdoppelung,  besonders  von  Vokativen,  Epithetis, 
aber  auch  ganzen  Sätzen  nennt  man  Epizeuxis  (Wackernagel  S.  427): 
„Gehet  hin,  gehet  hin  durch  die  Tore  — ":  ein  wiederholter  Anruf. 

Besonders  beliebt   ist  die  Wiederholung  in   der  pathetischen  Lyrik, 
z.  B.  bei  Brentano  (Euphorion  5,  4);   namentlich  am  Anfang  oder  Schluß 

des  Verses: 

Treulieb,  Treulieb  ist  verloren! 


Ich  sehnte  mich  nach  dir,  nach  dir! 

Ebenso  aber  auch  in  der  pathetischen  Prosa,  von  dem  unendlich  oft 
angewandten  „Nein!  nein!"  angefangen  bis  zu  einem  fast  lautmalenden 
„langsam,  langsam  verging  die  Zeit".  Es  ist  ebenso  auch  eine  dreimalige 
und  noch  häufigere  Wiederholung  möglich,  aber  doch  fast  nur  bei  Aus- 
rufen zulässig,  wo  die  psychologische  Ursache  dieser  Figur,  der  über- 
wältigende Eindruck,  oder  ihr  rhetorischer  Zweck,  nachdrücklichst  hinzu- 
weisen, unmittelbar  hervortritt:  „du,  du,  du  bist  der  Schuldige". 

Zumal  bei  häufigerer  Wiederholung  wird  die  einfache  Wiederholung 
gern  durch  die  intermittierende  abgelöst:  „du,  du,  und  nur  du",  oder 
ähnlich,  aber  mit  nachgesetzter  Variation  des  dritten  Gliedes:  „du,  du,  du 
allein".  Doch  ist,  schon  aus  der  liedmäßigen  Wiederholung  {„Du,  du. 
liegst  mir  am  Herzen")  die  Häufung  auch  ohne  Variation  in  Lyrik  und 
Beredsamkeit  nicht  ganz  selten. 

§  45.  Flektierte  Wortwiederholung.  Von  der  einfachen  Wortwieder- 
holung unterscheidet  sich  die  uralte,  altgermanisch  -)  ungemein  beliebte 
Form  der  flektierten  Wortwiederholung  dadurch,  daß  erstens  das  Wort 
(wie  beim  Polyptoton  und  der  Annominatio)  in  verschiedenen  Formen 
auftritt,  zweitens  aber  auch  mit  verschiedener  Bedeutung,  indem  zwei  ver- 
schiedene Exemplare  derselben  Gattung  gemeint  sind.  So  in  der  bekannten 
Vorschrift:  „Aug  um  Aug,  Zahn  um  Zahn"  —  nämlich  für  das  von  dir 
verletzte  Auge  sollst  du  eins  deiner  Augen  hergeben. 

')  Vgl.  über  ihre  Bedeutung   schon   in  Literatur  30,  431  f. 
alter   Kunst   meine  Altgermanische  Poesie  ')   Vgl.   meine  Altgermanische  Poesie 

S.  227  f.  und  besonders  Behaghel,  Beiträge  S.  230  f. 
zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  und 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  39 

Die  ehrwürdige  Formel  reicht  in  Zeiten  zurück,  die  die  Stellung  der 
Worte  noch  unmittelbar  als  symbolischen  Akt  empfinden  konnten  und  hat 
deshalb  ihren  Sitz  vor  allem  in  Zauber-  und  Rechtsformeln:  der  Medizin- 
mann legt  die  gebrochenen  Knochen  aneinander  und  bildet  diese  Hand- 
lung mit  der  (schon  indogermanischen  und  vielleicht  noch  älteren)  Heil- 
formel nach:  „Bein  an  Beine".  Die  Figur  ist  daher  auch  in  neuerer  Zeit 
verhältnismäßig  selten.  Wir  variieren  lieber;  wo  die  Edda  sagt:  „Bein 
zeugte  mit  Beine  einen  Riesen",  übersetzen  wir:  „ein  Bein  mit  dem  andern". 
Ebenso  in  Walthers  von  der  Vogelweide  berühmtestem  Spruch:  „Ich 
schlug  ein  Bein  über  das  andere  — "  (zeremonielle,  gleichsam  hieratische 
Pose  des  Meditierenden). 

Formell  ist  anzumerken,  daß  bei  der  flektierten  Wortwiederholung  das 
Substantiv  (um  dies  allein  handelt  es  sich)  das  erste  Mal  fast  stets  im 
Nominativ  (selten  im  Akkusativ,  wie  bei  Walther),  das  zweite  Mal  im  Casus 
obliquus  mit  Präposition  steht.  Ohne  Präposition  wird  nur  der  Genetiv 
Pluralis  so  angewandt.  (In  älterer  Zeit  genügte  auch  der  bloße  Dativ  oder 
Akkusativ,  der  heut  flexivisch  zu  undeutlich  ist.)  Doch  ist  diese  letztere 
Konstruktion  in  der  neueren  deutschen  Dichtung  selten  und  dann  meist 
orientalischen  Beispielen  („der  Fürst  der  Fürsten")  oder  romanischen  (Mar- 
schall Ney,  Je  brave  des  braves")  nachgebildet.  Auch  mit  Präposition 
verwenden  wir  die  Figur  heut  fast  nur  in  Sätzen  allgemeinen  Inhalts:  „Opfer 
für  Opfer",  „Wo  sich  Herz  zu  Herzen  find't". 

§  46.  Häufung.  Wird  das  Wort  seinem  Inhalt  nach,  aber  nicht  seiner 
Form  nach  wiederholt,  so  entsteht  die  germanische  Lieblingsfigur  der  Häu- 
fung,') die  zumal  in  der  maßlosen  Kraftfülle  der  vorreformatorischen  und 
reformatorischen  Periode  (Fischart)  sich  bis  zur  Unerträglichkeit  auswuchs 
und  eigene  Dichtformen  (Priamel)  zur  Blüte  brachte.  Es  kommt  darauf 
an,  einen  Begriff  durch  möglichst  viele  Vertreter  anschaulich  zu  machen; 
von  vornherein  also  eine  gesunde  Tendenz,  deren  Übertreibung  aber  gerade 
die  Anschaulichkeit  zerstört.  Eine  uralte  Priamel  z.  B.-')  betrachtet  den  Be- 
griff: „unzuverlässige  Dinge"  von  allen  Seiten:  ein  Bogen  darf  nicht  zer- 
brechlich sein;  eine  Krähe  ist  gefährlich,  wenn  sie  schreit,  ein  Pfeil,  wenn 
er  fliegt;  ein  selbstwilliger  Knecht  oder  eine  schmeichelnde , Hexe  können 
uns  Verderben  bringen.  Dieser  Aufzählung  —  die  beliebig  verkürzt  oder 
ausgedehnt  werden  kann  —  folgt  dann  die  zusammenfassende  Klausel:  „dem 
allen  zu  trauen,  wäre  eitel  Torheit" ;  und  somit  sagt  das  Ganze  nur  in 
belebter  Form  die  Binsenwahrheit:  „gefährliche  Dinge  soll  man  vorsichtig 
behandeln". 

Die  Häufung  ist  nur  scheinbar,  wenn  sie  eine  vollständige  Aufzählung 
bezweckt  und  also  wirklich  die  verschiedenen  Punkte  sich  ergänzen,  wie  in 

')   Vgl.   meine  Altgermanische  Poesie      Edda,   Str.  84  f.,    in    Gerings   Übersetzung 
S.  433  f.  S.  97. 

-)  HävamAl,  Das  große  Lehrgedicht  der  | 


40  Stilistik. 


der  berühmten  Lobrede  auf  Hamlet  oder  ihrer  Nachahmnng  in  Goethes 

„Iphigenie"  (Vers  1384  f.): 

Er  ist  der  Arm  des  Jünglings  in  der  Schlacht, 
Des  Greises  leuchtend  Aiig'  in  der  Versammlung, 

wie  denn  gerade  der  Panegyrikus  diese  Form  liebt  i)  und  ebenso  natürlich 
das  Scheltgedicht  oder  die  Satire.  Aber  unsere  Zeit  liebt  selbst  bei  dieser 
entwickelnden  Häufung  durch  Verteilung  auf  verschiedene  Sätze  die 
Überlastung  unserer  Anschauung  zu  verhindern,  ist  aber  der  ruhenden 
Häufung  (wie  in  den  Priameln)  ganz  feind  und  duldet  sie  fast  nur  noch 
beim  tobenden  oder  scheltenden  Ausruf: 

Der  Schelm!  der  Dieb  an  seinen  Kindern!     (Faust  Vers  2985). 

Und  selbst  da  teilen  wir  gern  auf,  formell  durch  die  Interpunktion,  inhalt- 
lich, indem  wir  etwa  in  diesem  Beispiel  die  zweite  Schelte  als  eine  Be- 
gründung der  allgemeineren  ersten  auffassen. 

§  47.  Oxymoron.  Die  vorhandenen  Worte  können  aber,  wie  nach  der 
Seite  der  Identität,  so  auch  umgekehrt  nach  der  des  Widerspruchs  vom 
gewöhnlichen  Wege  abweichen.  Die  eigentümliche  Verkoppelung  zweier 
scheinbar  sich  aufhebender  Worte  ergibt  das  Oxymoron,  wovon  die 
contradictio  in  adiecto  ein  Spezialfall  ist  (Wackernagel  S.  404). 

„Oxymoron"  heißt  wörtlich  „spitzige  Torheit":  ein  aufregender,  schein- 
bar ganz  törichter  Widersinn  ist  in  dieser  Figur  enthalten.  Wieder  ist  aber 
zweierlei  zu  scheiden. 

I.  Was  ein  Zusammenpassen  widersprechender  Begriffe  zu  sein  scheint, 
kann  zuweilen  einfach  eine  seltene  Tatsache  ausdrücken.  Ein  „König"  ist 
der  Herrscher  über  ein  Land:  aber  „Könige  ohne  Land"  hat  es  zu  allen 
Zeiten  gegeben.  Ebenso  kommen  weiße  Neger  (Albinos)  und  weiße  Raben 
wirklich  als  „Naturspiele"  vor,  obgleich  es  uns  geläufig  ist,  zu  sagen: 
„schwarz  wie  ein  Mohr",  „rabenschwarz".  In  solchen  Fällen  also  liegt  nur 
das  tatsächliche  Fehlen  eines  Attributs  vor,  das  in  der  ungeheuem  Mehr- 
zahl der  Fälle  (bei  fast  allen  Negern  oder  Raben)  nicht  nur  selbstverständ- 
lich vorhanden,  sondern  in  typischer  Stärke  ausgeprägt  ist.  Immerhin  ist 
schon  dies  Fehlen  der  typischen  Attribute  auffallend  genug,  um  pointiert 
vorgetragen  werden  zu  können.  Solche  materiellen  Oxymora  bringt 
z.  B.  in  den  Eschatologien  aller  Völker  die  Aufzählung  der  dem  „jüngsten 
Tage"  voraufgehenden  Zeichen.  So  in  unserer  altnordischen  Voluspä 
(Gering,  Edda  S.  11,  45): 

Es  befehden  sich  Brüder  und  fällen  einander. 
Die  Bande  des  Bluts  brechen  Schwestersöhne. 

Das  feste  Zusammenhalten  der  Gruppen  erscheint  als  selbst\'erständlich ; 
deshalb  ist  „feindliche  Brüder"  für  die  Urzeit  ein  aufregend  unglaublicher 
Begriff.  Es  wird  aber  doch  oft  Wahrheit  und  es  bleibt  dann  in  dem  Unter- 
titel von  Schillers  „Braut  von  Messina"  nur  das  zugespitzte  Aussprechen 

')  Z.B.  Hartmann  von  Aue,  Der  arme  Heinrich,  Vers  60  f. 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  41 

einer  unheimlichen  Tatsache.  Ebenso  beruht  das  wilde  Spiel,  das  in  den 
Verfluchungen  des  Sophokleischen  „Ödipus"  mit  den  Verwandtschafts- 
begriffen getrieben  wird  —  der  Unglückliche  ist  der  Gatte  seiner  Mutter, 
der  Vater  seiner  Brüder  —  auf  dem  pointierten  Aussprechen  wirklicher, 
wenn  auch  unerhörter  Dinge.  Eine  Häufung  solcher  tatsächlicher  Oxymora 
bringt  z.  B.  das  bekannte,  auf  Jahns  Veranlassung  von  August  gedichtete 
Lied  auf  die  Rückkehr  des  napoleonischen  Heeres  aus  Rußland,  das  den 
Zustand  eines  vernichteten  Heeres  schildert,  in  dem  die  Soldaten  keine 
Waffen  und  die  Wagen  keine  Räder  mehr  haben. 

II.  Das  eigentliche  begriffliche  Oxymoron  dagegen  setzt  eine  wirk- 
liche Unvereinbarkeit  der  verkoppelten  Begriffe  voraus.  Ein  „weiser  Narr", 
ein  „heroischer  Feigling"  —  das  scheint  ein  vollkommener  Widerspruch 
und  deshalb  gleich  geheimnisvoll  für  Weise  wie  für  Toren.  Wo  es  sich 
aber  wirklich  nur  darum  handelt,  wie  in  den  Kinderverschen  vom  kleinen 
Riesen  und  vom  großen  Zwerg,  da  ist  eben  allerdings  eine  pathologische, 
uns  deshalb  nicht  berührende  Erscheinung  vorhanden.  Sonst  aber  enthält 
das  Oxymoron 

a)  entweder  den  Kontrast  von  Namen  und  Sache,  oder 

b)  das  Zusammendrängen  wechselnder  Zustände. 

In  beiden  Fällen  also  ist  es  auf  die  Relativität  unserer  Begriffe  aufgebaut. 
Lessings  „Rafael  ohne  Hände"  spielt  mit  dem  Begriff  des  großen  Malers : 
einmal  wird  so  der  wirkliche  Meister  bedeutender  Gemälde  genannt,  das 
andere  Mal  der  nur  in  großen  Entwürfen  schwelgende  Nichtmaler.  — 
Häufiger  und  psychologisch  interessanter  ist  der  andere  Fall.  Die  zwei 
Seelen,  von  denen  Goethes  Faust  spricht,  wohnen  in  jeder  Brust  und 
auch  der  tapfere  Held  mag  seine  Furcht  hegen,  wie  Wallenstein  vor  dem 
krähenden  Hahn;  auch  der  reichste  Krösus  ist  in  mancher  Hinsicht  zu  arm: 
Der  Reichste  muß  sich  arm  fühlen  vor  dieser  Unersättlichkeit  der  Zeit 

(Hebbel,  Briefwechsel  1,90). 

Besonders  beliebt  ist  das  Oxymoron  deshalb  in  Perioden  und  bei 
Dichtern,  denen  die  inneren  Konflikte  und  Gegensätze  der  Zeiten  und  Seelen 
lebhaft  aufgegangen  sind,  wie  in  der  älteren  Patristik  und  der  Romantik, 
bei  dem  Dichter  Seneca  oder  bei  Hebbel.  Ein  zu  starkes  Betonen  kann  zur 
Manier  werden,  wie  bei  Victor  Hugo  —  dessen  Figuren  alle  leibhafte 
Oxymora  sind:  edle  Verbrecher,  fürstliche  Lakaien,  reine  Dirnen  —  oder 
bei  Bret  Harte.  Sehr  wirksam  kann  dagegen  ein  einzelnes  Oxymoron 
eine  ganze  Reihe  wunderbarer  psychologischer  Gegensätze  zusammenfassen,') 
oder  ihre  Häufung  die  Fülle  innerer  Widersprüche  illustrieren,  wie  Fr.  Th. 
ViscHERS  Gedicht  auf  Jean  Paul: 

Du  Kind,  du  Greis,  du  Kauz,  Hanswurst  und  Engel! 

Durchsicht' ger  Seraph,  breiter  Erdenbengel, 

Im  Himmel  Bürger  und  im  Bayerland! 

')  Lat.  Beispiele  bei  Landgraf,  Figura   j  wendung  stammverwandter  Worte  den  Wider- 
etymologica  50  f. :  Fälle,   in  denen   die  An-   '   sprach  unterstreicht  wie  concordia  discors. 


42  Stilistik. 


(Lyrische  Gänge  S.  124)  —  wo  allerdings  der  eigentlichen  Figur  des  Oxy- 
morons formell  ausgewichen  ist. 

§  48.  Spezielle  Wortbeziehungen.  Am  prägnantesten  kommt  der  Wider- 
spruch zweier  verbundener,  im  gleichen  Satz  stehender  Worte  in  der  Form 
der  contradictio  in  adiecto  zur  Geltung,  d.  h.  desjenigen  Oxymorons,  das 
aus  Substantiv  und  Adjektiv  zusammengesetzt  ist,  wie  schon  oben  unsere 
meisten  Beispiele:  ^ein  armer  Krösus".  Dies  beruht  darauf,  daß  zwischen 
Haupt-  und  Eigenschaftswort  an  sich  besonders  enge  Beziehungen  bestehen, 
deren  scheinbare  Auflösung  daher  ungewöhnlich  aufreizend  wirkt.  Wir 
kommen  damit  zu  gewissen  Figuren,  die  überhaupt  in  der  Auflösung  enger 
Wortbeziehungen  ihre  Eigenart  haben. 

Besonders  eng  sind  im  Satze  verbunden  1.  Subjekt  und  Prädikat, 
2.  Prädikat  und  Objekt,  3.  Substantiv  und  Adjektiv,  4.  Verb  und  Adverb. 
Die  letzten  beiden  Fälle  sind  in  stilistischer  Hinsicht  identisch;  das  Adverb 
ist  das  Adjektiv  des  Verbums:  „die  Sonne  scheint  hell"  gibt  dem  Adverb 
„hell"  ganz  dieselbe  Funktion  wie  „dies  Licht  ist  hell"  dem  Adjektiv  „hell". 
Wir  behandein  deshalb  die  seltenere  und  weniger  wichtige  Verwendung  des 
Adverbs  nicht  besonders;  für  sie  gilt,  was  für  die  des  Adjektivs.  Diese 
besprechen  wir  zuerst,  weil  sie  einen  aligemeineren  Charakter  hat  als  die 
Verbindung  von  Subjekt  oder  Objekt  mit  dem  Prädikat. 

§49.  Eigenart  des  Adjektivs.  Das  Ad  jektivum  oder  Eigenschaftswort  ver- 
dankt seine  flexivische  Eigenart  lediglich  seiner  Dienstbarkeit  dem  Substantivum 
oder  Hauptwort  gegenüber.  Es  hat  grundsätzlich  drei  Genera,  damit  es  dem 
Substantivum,  ob  dies  nun  Maskulinum,  Femininum  oder  Neutrum  sei,  zur 
Verfügung  stehen  und  dies  Verhältnis  markieren  kann.  Seiner  syntaktischen 
Natur  nach  gehört  es  mit  dem  Verb  fast  so  eng  zusammen  wie  mit  dem 
Nomen :  denn  während  dies  das  Subjekt  zu  stellen  hat,  ist  es  die  Aufgabe 
von  Verb  und  Adj.,  das  Prädikat  herzugeben,  nur  daß  das  Verb  dies  allein, 
das  Adj.  in  Gemeinschaft  mit  der  „Kopula"  tut.  Es  ist  inhaltlich  gleich, 
ob  ich  sage:  „der  Baum  wird  grün"  (denn  „werden"  kann  so  gut  wie 
„sein"  die  Kopula  bilden)  oder  „der  Baum  grünt".  Andererseits  ist  es 
aber  auch  inhaltlich  gleich,  ob  ich  sage:  „Cato  ist  ein  Greis"  oder  „Cato 
ist  alt".  Das  Adjektiv  steht  somit  zwischen  Substantivum  und  Verbum  und 
ist  historisch  so  zu  erklären:  es  ist  ein  zum  Prädizieren  bestimmtes  Nomen 
und  also  für  die  Flexionslehre  ein  Nomen,  für  die  Syntax  ein  Prädikatswort. 

Deshalb  teilt  es  mit  dem  Verbum  die  Notwendigkeit  der  Kongruenz, 
die  nur  bei  ihm  noch  weiter  geht.  Das  Verbum  muß  mit  seinem  Subjekt 
nur  im  Numerus,  das  geschmeidige  Adjektiv  aber  in  Numerus,  Genus  und 
Kasus  mit  seinem  Substantiv  übereinstimmen.  Auch  läßt  die  verbale  Kon- 
gruenz Ausnahmen  zu  (siehe  unten  über  die  sogenannte  constructio  kata 
synesin),  die  adjektivische  nicht;  denn  in  unserm  „unflektierten  Adjekti\-um' 
{„dein  Freund  ist  tot"  gegen  „amicus  tuus  mortuus  est")  liegt  nur  eine 
eigentümliche  Umbiegung  ursprünglich  rein  flexivischer  Eigenheiten  vor. 


FüNFTFs  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  43 

§  50.  Prädikativer  und  attributiver  Gebrauch.  Diese  äußere  Dienstbar- 
keit des  Eigenschaftswortes  —  deren  speziellere  Formen  die  Syntax  zu 
lehren  hat  —  spiegelt  nun  bloß  die  innere  wieder.  Sie  ist,  da  sich  das 
Adjektiv  zwischen  Verb  und  Substantiv  bewegt,  am  schwächsten,  wo  die 
prädikative  Natur  am  deutlichsten  hervortritt,  am  stärksten,  wo  die  nomi- 
nale Natur  betont  wird.  Mit  andern  Worten:  beim  prädikativen  Gebrauch 
ist  das  Adjektiv  unabhängiger  als  beim  attributiven. 

Attributiv  wird  das  Adjektiv  da  gebraucht,  wo  es  sich  völlig  um 
das  Hauptwort  schlingt.  Historisch  ist  dieser  Gebrauch  wahrscheinlich  als 
sekundäre  Verkürzung  des  prädikativen  aufzufassen.  Die  beiden  Sätze  „da 
steht  ein  Weib""  und  „dies  Weib  ist  schön''  werden  verschlungen:  „da 
steht  ein  —  schönes  —  Weib";  das  Attribut  ist  eigentlich  eine  Art  Paren- 
these. „Der  König  war  alt;  er  ist  gestorben" ;  kürzer:  „der  alte  König 
ist  gestorben". 

Diese  Ausführungen  über  die  syntaktische  Natur  des  Adjektivs  gehen 
eigentlich  über  die  Stilistik  heraus.  Sie  sind  aber  zum  Verständnis  auch 
der  stilistischen  Bedeutung  des  Adjektivs  unentbehrlich  und  mußten  etwas 
breiter  gegeben  werden,  weil  —  meinem  Urteil  nach  —  die  in  der  Syntax 
herkömmliche  Auffassung  des  Adjektivs  unzureichend  und  besonders  auch 
gerade  für  jene  Frage  unzulänglich  ist. 

§  51.  Das  Attribut.  Das  Attribut  hat  die  allgemeine  Aufgabe,  von  im 
allgemeinen  unveränderlich  gedachten  Personen  oder  Gegenständen  (die 
syntaktisch  „Hauptworte"  sind)  wechselnde,  in  dem  Begriff  jener  Personen 
oder  Gegenstände  nicht  enthaltene  Eigenschaften  oder  Zustände  auszusagen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  ein  Mann  zwei  Beine  hat;  ist  das 
einmal  nicht  der  Fall,  so  sagen  wir:  „der  einbeinige  Mann" .  Andererseits: 
nicht  jedes  Geschöpf  hat  zwei  Beine;  der  Mensch  ist  daher  nach  jener 
Definition  Piatons  „ein  zweibeiniges  Geschöpf".  Es  ist  dem  Zucker 
wesentlich,  daß  er  süß  ist,  nicht,  daß  er  fest  oder  flüssig  ist;  wir  betonen 
deshalb:  „flüssiger  Zucker",  „würfelförmiger  Zucker". 

§  52.  Tautologie.  Ausnahmsweise  kann  aber  das  Attribut  doch  wieder- 
holen, was  eigentlich  schon  in  dem  Begriff  des  Substantivs  steckt.  Nur 
scheinbar  ist  dies  der  Fall,  wo  dieser  Begriff  so  abgeschwächt  ist,  daß  er 
der  Auffrischung  bedarf.  Ein  Berg  ist  an  sich  etwas  Hohes;  aber  unsere 
erweiterte  Kenntnis  lehrt  uns  Berge  so  verschiedener  Höhe  kennen,  daß 
„ein  hoher  Berg"  keine  Tautologie  und  „ein  niedriger  Berg"  kein  Oxymoron 
mehr  ist. 

Wirkliche  Tautologie  aber  kommt  lediglich  dadurch  zustande,  daß 
ein  nicht  bezeichnendes  Adjektiv  zu  einem  Substantiv  tritt.  Was  etwa 
Wackernagel  (S.  415)  unter  diese  Rubrik  faßt,  Substantivgruppen  wie  „Art 
and  Weise",  „nackt  und  bloß"  ist  vielmehr  der  Häufung  zuzurechnen: 
dasselbe  wird  zweimal  gesagt  oder  noch  öfter;  Tautologie  aber  haben  wir 
nur  dann,  wenn  zu  dieser  Wiederholung  noch  der  Schein  einer  neuen  Aus- 


44  Stilistik. 


sage  tritt.  Tautologisch  (von  griechisch  to  auto  legein,  dasselbe  sagen)  ist 
also  eine  Verbindung  wie  „der  weiße  Schimmel" :  ein  Schimmel  kann  nur 
weiß  sein,  das  Attribut  maßt  sich  also  ein  überflüssiges  Amt  an;  oder: 
„süßer  Zucker" ,  ferner  auch  Adverb-Verdoppelung  wie  das  beHebte  „schon 
bereits"  u.  dergl.  Unter  Umständen  kann  aber  selbst  die  Tautologie  logisch 
berechtigt  sein;  wenn  ich  z.  B.  den  falschen  Berlinern  den  „Beriiner  aus 
Beriin"  („aus  Beriin"  hier  Stellvertretung  für  ein  Adjektiv  „echtberlinisch") 
gegenüberstelle. 

§  53.  Figura  etymologica.  Zur  unmittelbaren  Vermeidung  der  Tautologie 
dient  das  Adjektiv  bei  der  sogenannten  figura  etymologica. *)  So  heißen 
spezielle  Fälle  der  Annominatio:  diejenigen  nämhch,  in  denen  das  mit 
einem  stammverwandten  Verb  verbundene  Nomen  von  einem  Adjektiv  be- 
gleitet ist.  In  den  klassischen  Sprachen  wird  auch  die  flektierte  Wiederholung 
(s.  0.  §  45)  hierher  gerechnet,  sogar  wenn  das  Substantiv  ohne  adjektivische 
Begleitung  erscheint;  dies  gilt  aber  nur  für  feste  Formeln  wie  amicus 
amico  (Landgraf  S.  43);  doctor  doctori,  wie  der  damalige  Kronprinz 
Friedrich  Wilhelm  als  Dr.  phil.  von  Königsberg  an  L.  v.  Ranke  telegraphierte. 
Aber  besser  beschränken  wir  die  Bezeichnung  1.  auf  die  Verbindung  eines 
Nomens  mit  dem  stammverwandten  Verbum,  2.  auf  die  Fälle,  in  denen 
dies  Nomen  noch  ein  unterscheidendes  Adjektiv  mit  sich  bringt*) 

Daß  bei  dieser  Figur  ein  Epitheton  erfordert  wird,  scheint  zunächst 
bare  Willkür.  Aber  wir  werden  gerade  hier  die  Bedeutung  des  attributiven 
Adjektivs  erkennen.  Die  menschlichen  Handlungen  und  Zustände  sind 
unendlicher  Verschiedenheiten  fähig,  und  diese  Nuancen  werden  von  uns  aus 
unserer  eigenen  Erfahrung  heraus  noch  stärker  empfunden  als  die  vielleicht 
nicht  minder  große  Verschiedenheit  der  Gegenstände.  Auf  die  Frage:  „was 
hast  du  gesehen?"  kann  die  Antwort:  „ein  Haus"  sehr  oft  genügen,  ob- 
wohl über  Größe  oder  Kleinheit,  Alter,  Zweck,  Aussehen  des  Hauses  dabei 
unserer  Vorstellung  noch  weiterer  Spielraum  bleibt.  .Aber  auf  die  Frage: 
„was  hast  du  getan?"  genügt  selten  eine  Antwort  wie:  „ich  habe  gekämpft". 
Das  ist  leer;  vollends  leer  ist  ein  Intransitivum  ohne  Objekt:  „ich  habe 
geschlagen"  —  unvollziehbare  Vorstellung:  ein  Kind?  ein  Heer?  den  Takt? 

Nun  gibt  es  aber  doch  Fälle,  in  denen  man  auf  dem  allgemeinen 
Inhalt  eines  Verbalbegriffs  so  nachdrücklich  verweilt,  daß  man  ihn  durch 
ein  Objekt  oder  Adverb  nicht  einschränken  will.  Dann  ver\'ollständigt  man 
ihn  durch  das  sogenannte  „innere  Objekt",  d.  h.  aus  dem  Verbalbegriff 
zieht  man  seinen  Inhalt  zum  zweiten  Mal  heraus,  formt  ihn  zum  Nomen 


')  Vgl.  G.  Landgraf,   De  figuris  et\'-  noch  weiter  auf  die  Fälle  ein,  in  denen  das 

mologicis  linguae  latinae.  Acta  sem.  Erl.  II,  Nomen  im  Objektsakkusativ  steht.    Sie  sind 

46  f.  die  häufigsten,   doch   ist  für  uns  auch  der 

-)  Für  die  romanischen  Sprachen  schränkt  sogenannte  Dativ  des   entfernteren  Objekts 

Leiffholdt,  EtT,mologische  Figuren  im  Ro-  ,  zulässig, 

manischen,    Erlangen    1884,   den  Ausdruck  , 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  45 

actionis  und  gibt  ihn  so  dem  Zeitwort  bei,  auch  wenn  es  intransitiv  ist: 
ein  Leben  leben,  einen  Kampf  kämpfen.  Das  ist  mehr  als  bloß  „leben", 
„kämpfen"  —  und  eigentlich  doch  nicht  mehr;  ja  es  ist  eine  Tautologie, 
denn  wenn  ich  kämpfe,  ist  es  eben  ein  Kampf.  Um  also  die  Nachdrück- 
lichkeit des  vollen  Verbalinhalts  —  den  jedes  spezielle  Objekt  oder  Adverb 
einengt  —  zu  wahren  und  dennoch  die  Leere  der  Tautologie  zu  vermeiden, 
wird  ein  Epitheton  nötig:  nomine  insueto  nominare,  ein  glückliches  Leben 
leben,  einen  wackern  Kampf  kämpfen. 

„Ein  glückliches  Leben  leben"  ist  also  etwas  anders  als  „glücklich 
leben".  Wenn  ich  das  Adverb  gebrauche,  sehe  ich  von  allen  Seiten  des 
Lebens  ab,  zu  denen  es  nicht  paßt.  Wenn  ich  die  figura  etymologica  an- 
wende, nehme  ich  diese  alle  mit  und  schließe  sie,  wie  harmonisch  aufgelöste 
Disharmonie,  in  den  Gesamtbegriff  ein. 

Die  Eigenheit  dieser  Figur  besteht  also  darin,  daß  das  Epitheton  zu 
dem  sich  voll  auslebenden  Verbalbegriff  tritt.  Es  ist  die  vollste  Anwen- 
dung, die  uns  überhaupt  gegönnt  ist,  und  deshalb  sehen  wir  hier  am  deut- 
lichsten die  Aufgabe  des  attributiven  Adjektivs  überhaupt:  es  hat  den  leeren 
Raum,  der  durch  die  unentbehrliche  Allgemeinheit  der  Verba  und  Nomina 
bleibt,  auszufüllen  (den  der  Nomina  unmittelbar,  den  der  Verba  in  seiner 
Anpassung  als  Adverb\  ') 

§  54.  Epitheton:  Definition.  Wir  kommen  damit  zu  der  Lehre  vom 
Epitheton  überhaupt. *)  Nirgends  empfinden  wir  den  Mangel  brauchbarer 
Vorarbeiten  störender  als  hier.  Die  Stilistik  unserer  Lehrbücher  hält  sich 
an  die  alten  Muster;  und  da  die  Wichtigkeit  des  Epithetons  den  Alten 
noch  nicht  aufgegangen  war,  noch  nicht  aufgegangen  sein  konnte,  wird 
dieser  licht-  und  lebensprühende  Begriff  in  ein  paar  toten  Zeilen  (etwa 
W.-\CKERN.\GEL  S.  385)  abgefertigt.  Fleißige  Arbeiten  stellen  die  Epitheta 
unserer  Minnesänger  mechanisch  zusammen  und  wissen  sie  im  besten 
Fall  literarhistorisch,  nie  ästhetisch  auszunutzen.  Und  dennoch  ist  es 
kaum  übertrieben,  wenn  ich  sage,  eine  wirklich  moderne,  praktische 
Stilistik  müßte  vor  allem  eine  Technik  des  Epithetons  geben.  (Und 
daneben  einer  zweiten  nicht  minder  vernachlässigten  Seite:,  der  Prosa- 
Rhythmik.)  Die  Individualität  unserer  heutigen  Stilisten  zeigt  sich  tatsäch- 
lich nirgends  handgreiflicher  als  in  der  Behandlung  des  Epithetons;  die 
Charakteristik  der  Figuren  so  gut  wie  der  ganze  Ton  sind  hiervon  in  erster 
Linie  bedingt.  Und  die  Entwicklung,  die  dahin  geführt  hat,  ist  so  lehr- 
reich, so  interessant!  Aber  wir  müssen  uns  hier  an  die  Umrisse  halten, 
teils,  weil  nicht  viel  mehr  bekannt  ist,  teils,  weil  der  Raum  nicht  viel  mehr 
gestattet. 


•)  Über  witzige  Verwendungen  der  Fig.  -)  Mundt,  Prosa  S.  135,  Vischer,  Ästhe- 

etymol.  Jean  Paul,  Vorschule  der  Ästhetik      tik  6,  122  f.,  Albalat,  Formation  du  style 
§  46.  S.  250  f. 


46  Stilistik. 


Schon  darüber  herrscht,  wie  bei  vielen  stilistischen  Terminis  (z.  B. 
Figura  etymologica,  Tautologie)  Unsicherheit,  was  eigentlich  ein  Epitheton 
sei.  Was  wir  in  der  alten  und  mittelalterlichen  Philologie  so  nennen:  das 
ständige  Begleitwort  einer  Personenbezeichnung  oder  sonst  eines  Namens, 
liegt  von  dem  berühmten  „epithete  rare",  dem  gerade  durch  seine  Selten- 
heit gekennzeichneten  Beiwort  der  Neuesten,  weit  ab.  Sie  gehören  den- 
noch zusammen. 

Am  besten  sagen  wir:  das  Epitheton  ist  dasjenige  attributive  Ad- 
jektiv, das  besonders  nachdrücklich  gebraucht  wird.  Der  Nachdruck  kann 
auf  zweierlei  Weise  erreicht  werden:  entweder  durch  Häufigkeit,  oder  ge- 
rade umgekehrt  durch  auffällige  Seltenheit.  Wird  in  dem  Refrain  eines 
eddischen  Gedichts,  des  Hyndla- Liedes,  jedesmal  wiederholt:  „dies  alles  ist 
dein  Geschlecht,  Ottar  du  törichter!",  so  prägen  die  Hammerschläge  uns  die 
Charakteristik  ein;  wird  ein  rückgratloser  Politiker  plötzlich  „der  windel- 
weiche Herr  Bürgermeister"  genannt,  so  bringt  dies  unerwartete  Signale- 
ment eine  um  so  intensivere  Wirkung  hervor. 

§  55.  Epitheton:  Eigenart.  Charakterisieren  soll  ja  eigentlich  jedes 
Eigenschaftswort.  Darin  liegt,  wie  wir  sahen,  die  ganze  Aufgabe  des  Ad- 
jektivs. Der  unendlichen  Fülle  wirklicher  Erscheinungen  steht  nur  eine 
begrenzte  Zahl  von  Appellativen  und  Verben  gegenüber.  Um  der  Wirk- 
lichkeit ein  wenig  nahe  zu  kommen,  sind  charakterisierende  Hilfsworte  da, 
die  neben  der  (im  Hauptwort  gegebenen)  dauernden  Eigenart  die  wech- 
selnde angeben.  „Was  für  ein  Mann  ist  es?"  „Ein  tapferer  Mann!"  oder  „ein 
schlauer  Mann".  Nun  etwa  weiter:  „ein  tapferer,  aber  auch  ein  schlauer  Mann". 
Die  psychologische  Annäherungsmethode  geht  noch  weiter:  „ein  tapferer, 
schlauer,  aber  abergläubischer  Mann".  Zwei  gefährliche  Eigenschaften  be- 
sitzt er,  doch  eine  dritte,  eine  Schwäche,  gibt  ihn  mir  vielleicht  in  die  Hand. 
Mehr  brauchte  Napoleon  von  keinem  feindlichen  General  zu  wissen. 

Das  Epitheton  ist  also  das  Adjektiv  in  seiner  eigentlichsten  Funktion. 
Denn  nicht  jede  Verwendung  eines  Eigenschaftswortes  genügt  jener  Auf- 
gabe: zu  charakterisieren.  Vielmehr  gehen  mit  der  Zeit  alle  Adjektive  feste 
Verbindungen  ein,  so  daß  sie  dann  zur  individualisierenden  Charakteristik 
nicht  mehr  genügen.  Sie  erschaffen  neue  Nomina,  die  dann  an  der  All- 
gemeinheit der  Appellativa  teilhaben.  „Der  alte  Mann"  ist  zunächst  ein 
ganz  bestimmter:  unter  den  vier  Gesandten  des  Nachbarstamms  ist  er  durch 
sein  Alter  gekennzeichnet,  wie  ein  anderer  durch  seine  Körpergröße,  der 
dritte  durch  das  rote  Haar,  der  vierte  durch  das  Wolfsfell,  das  er  trägt 
Nun  aber  wird  „alter  Mann"  nach  und  nach  ein  fester  Begriff,  wie  „Greis"; 
und  der  einzelne  „alte  Mann"  wird  also  nur  in  eine  etwas  engere  Kategorie 
einbegriffen,  als  wenn  er  einfach  „der  Mann"  hieße. 

Das  Epitheton  ist  demnach  das  Adjektiv,  das  zu  einem  be- 
stimmten und  individuellen  Wesen  oder  Gegenstand  in  feste  Be- 
ziehung tritt. 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  47 

„Fest"  muß  die  Beziehung  in  dem  Sinn  sein,  daß  sie  sich  für  uns  mit 
dem  Begriff  des  betreffenden  Wesens  oder  Gegenstandes  unauflöslich  verbindet. 
R.  Wagner  sagt  von  Robert  Schumann,  aus  dem  seine  eigene  bewegliche 
Redelust  in  stundenlangem  Zusammensein  kein  Wort  herauslocken  kann: 
„ein  unmöglicher  Mensch!''  Damit  ist  er  für  ihn  in  seiner  eigentüm- 
lichen Ungeselligkeit  dauernd  gekennzeichnet.  Dagegen  ist  ein  attributives 
Adjektiv,  das  nicht  den  Menschen,  sondern  lediglich  einen  Zustand  des- 
selben kennzeichnet,  noch  kein  Epitheton.  „Du  bist  heute  unausstehlich": 
das  charakterisiert  eben  nur  den  Freund  Franz  in  seiner  momentanen  Stim- 
mung; er  soll  deshalb  noch  nicht  „der  unausstehliche  Franz"  sein. 

Hiermit  glauben  wir  die  Eigenart  des  Epithetons,  die,  wie  man  sieht, 
nicht  ganz  auf  der  Oberfläche  liegt,  ausreichend  erfaßt  zu  haben. 

§  56.  Entwickelung  des  Epithetons.  Unsere  Ausführungen  zeigen  nun 
schon  den  allgemeinen  Entwickelungsgang  des  Epithetons.  Er  führt  zu 
immer  größerer  Annäherung  an  das  Individuelle,  Einmalige,  zu  immer  ge- 
nauerer Herausarbeitung  des  Charakteristischen.  Dieser  Gang  führt  in  regel- 
rechter Evolution  vom  „Epitheton  ornans"  zum  „epithete  rare". 

Das  sogenannte  „schmückende  Beiwort",  uns  vor  allem  aus  dem 
Homer  geläufig,  ist  von  vornherein  natürlich  auch  zum  Charakterisieren 
bestimmt.  Der  listenreiche  oder  vielgewandte  Odysseus,  die  rosenfingerige 
Eos  werden  in  ihrer  Eigenart  erfaßt;  uns  aber  ist  nun  längst  bekannt,  worin 
diese  besteht,  und  so  erscheint  uns  die  Angabe  der  Schlauheit  bei  dem 
sprichwörtlich  schlauen  Helden,  die  der  rosenfarbenen  Wölkchen  bei  der 
eben  hieran  zu  erkennenden  Morgenröte  fast  tautologisch.  Es  ist  aber 
nicht  zu  verkennen,  daß  die  epischen  Epitheten  oft  auch  von  vornherein 
nur  schwach  charakterisieren.  Jeder  König  ist  für  die  idealisierende  Poesie 
„edel";  „der  edle  König"  heißt  kaum  mehr  als  bei  uns  „Seine  Majestät": 
es  ist  Titel  geworden. ')  Etwas  sollte  es  ja  immerhin  aussagen :  daß  dieser 
König  seiner  Aufgabe  entsprach;  aber  das  ist  eben  typisierende  Charakte- 
ristik, nicht  individualisierende. 

Je  stärker  die  Poesie  diesen  idealistischen  Charakter  trägt,  desto  all- 
gemeiner hält  sie  die  Epitheta.  Das  ist  ja  im  Leben  nicht  anders.  Die 
alte  stilisierende  Geschichtschreibung  operierte  fast  nur  mit  typischen  Bei- 
worten: „der  Große"  vor  allem;  und  dies  Epitheton  sinkt  so  sehr  zum 
bloßen  Schmuckwort  herab,  daß  z.  B.  im  10.  und  11.  Jahrhundert  vier  ver- 
schiedene Fürsten  desselben  französischen  Dynastengeschlechts  so  heißen: 
wer  „Hugo"  getauft  ist,  wird  auch  „der  Große"  genannt.'')  „Magnus"  ist, 
wie  in  Dänemark,  einfach  Name  geworden.  Und  sogar  die  Römer,  die 
im  täglichen  Leben  so  realistisch  individuelle  Beinamen  geben  —  Cicero, 
Nasica  —  haben  im  Staatsleben  nur  einerseits  jenes  typische  „der  Große" 
—  schon  für  Pompeius  — ,  andererseits  die  Betitelung  nach  einem  einzelnen 


')   Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie 
S.  491  f. 


-)   R.  Holtzmann,   Deutsche  Literatur- 
zeitung 1904  S.  2484. 


48  Stilistik. 


historischen  Moment:  Sctpio  Africanus.  Aber  beide  Epitheta  sind  idea- 
listisch, nicht  individualisierend.  Später  dagegen  dringen  die  realistischen 
Epitheta  auch  in  die  Weltgeschichte:  auf  „Augustus"  folgt  „Caligula",  wie 
auf  „Karl  den  Großen"  „Karl  der  Kahle".  (Genau  ebenso  dringt  ja  auch 
die  individualisierende  Psychologie  erst  spät  in  die  zunächst  nur  mit  all- 
gemeinen Eigenschaftsworten  arbeitende  Historie.) 

Dies  also  ist  der  Weg.  „Ce  qui  differencie  le  plus  radkalement  la 
Utterature  moderne  de  la  litterature  ancienne,  c'est  le  remplacement  de  la 
generalite  par  la  particularite" ,  sagen  die  Goncourt  (Journal  des  Gon- 
court  2,  261). 

Vielleicht  zum  erstenmal  ward  von  der  französischen  „Plejade" 
systematisch  auf  die  Notwendigkeit  der  „epithetes  signiflcatifs  et  non 
oisifs",  der  bezeichnenden  und  nicht  nur  müßig  dastehenden  Beiworte, 
hingewiesen ')  und  zwar  —  charakteristisch  genug  —  gerade  mit  Be- 
rufung auf  die  hellenische  Poesie,  die  diesen  patriotischen  Humanisten  des 
16.  Jahrhunderts  das  ewige  Muster  war.  Aber  sie  übersetzen  eigentlich 
nur  epltheta  ornantia  wie  etwa  „das  schnellfüßige  Pferd":  sie  bleiben  in 
der  typischen  Charakteristik  stecken,  kennzeichnen  nur  das  ideale,  nicht 
das  einzelne,  reale  Roß. 

Das  wiederholen  die  Deutschen  noch  im  17.  Jahrhundert.  Sie  for- 
dern, wie  Ronsard  und  seine  Genossen,  wirksame  Epitheta,  bevor- 
zugen, wie  jene,  die  zusammengesetzten  und  bleiben  doch  in  dem 
vagen  Idealismus  der  „galanten  Beiwörter"  (wie  „sanft",  „feurig",  „stolz") 
stecken.2)  Genies  freilich  kommen  doch  zu  individueller  Ausdrucksweise. 
Wie  Larroumet  von  Racine »)  rühmt,  er  tue  es  in  „seltenen",  indi- 
vidualisierenden Epithetis  den  Neuesten  zuvor,  so  hat  für  Andreas 
Gryphius  V.  Manheimer  (Die  Lyrik  des  Andreas  Gryphius  S.  99)  sehr 
lehrreich  den  Fortschritten  von  matten  zu  stärkeren  Beiworten  nachgewiesen: 
„den  tollen  Lauf"  statt  „den  starken  Lauf".  Doch  ist  auch  eine  allgemeine 
Tendenz  auf  genauere  adjektivische  Erfassung  nicht  zu  verkennen.  So  hat 
ViLMAR  in  seiner  Literaturgeschichte  über  die  „braune  Nacht"  gespottet, 
die  allerdings  bei  uns  nur  eine  Reminiszenz  aus  dem  Italienischen  ist.*) 
an  sich  aber  gewisse  Goldtöne  einer  herbstlichen  Mondnacht  poetisch 
wiedergibt. 

Sobald  das  18.  Jahrhundert  sich  zu  seinem  großen  Flug  rüstet,  werden 
wieder  die  gewählten  Epitheta  eine  „ästhetische  Forderung". s)  Während 
bei  den  zurückbleibenden  Italienern  schon  die  Häufung  der  Beiworte  deren 
bloßen  Ziercharakter  beweist,^)  wissen  die  Deutschen  hier  mit  individueller 

')  MORF,  Geschichte  der  neueren  fran-  =•)  C.  Leptzmann  in  seiner  Ausgabe  von 

zösischen  Literatur  1,  149.  LICHTENBERGS  Aphorismen  1,220,  der  auch 

-)M.v.Wai.dberg,  Die  galante  LyrikS.  85.  i  auf  Wenick,  Gottsched  S.  142  verweist. 

•■"J  Larroumet,  Racine  S.  192.  «)  Landau,  Geschichte  der  italienischen 

*)Lemcke,  Von  Opitz  bis  KlopstockS.  225.  Literatur  im  18.  Jahrhundert  S.  627. 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  49 

Kunst  einzusetzen.  Wieland  gibt  das  französische  „charmant''  und  „ai- 
mable"  je  nach  der  Situation  mit  sieben  deutschen  Worten  wie  „artig", 
„reizend",  „hold"  wieder;')  Lavater  wendet  in  seiner  Physiognomik  ganz 
modern  anmutende  Adjektiva  an :  „wahre,  echte,  genießende  Aufmerksam- 
keit mit  prüfender,  sondernder  Überlegung"  (Physiognomische  Fragmente, 
Verkürzte  Ausgabe,  Winterthur  1783;  1,  240).  Goethe  folgt  beiden  und 
bildet  neue  bezeichnende  Epitheta  von  seltener  Schönheit:  „liebwirkende 
Seele"  (Weimar.  Ausgabe  37,  224),  „unverwelkliche  Bäume"  (ebendaselbst 
256).  Glückliche  Neologismen  wie  „empfindsam"  für  englisch  „sentimen- 
tal", oder  das  neu  eingeführte  „schöne  Seele"-)  werden  Staatsangelegen- 
heiten in  der  „Gelehrtenrepublik".  Natürlich  fehlt  auch  nicht  die  Oppo- 
sition: wie  Schönaich  in  seinem  Neologischen  Wörterbuchs)  sich  über 
Klopstocks  und  seiner  Freunde  „hungrige  Jahre"  (a.  a.  O.  S.  199)  und 
„schwindlige  Tiefe"  (S.  328)  lustig  macht,  so  schreibt  Lichtenberg  in  dem 
berühmten  „Fragment  von  Schwänzen"  (Werke  4,  113)  lavaterisierend : 
„kraftherbergendes  Hinstarren" ,  „unschlüssige  Horizontalität" . 

Bei  den  Romantikern  geht  das  Epitheton  wieder,  wie  schon  bei  den 
Klassikern  in  ihrer  Reifezeit,  zurück.  Fr.  Schlegel  oder  Novalis  suchen 
allerdings  sehr  stark  durch  unerwartete  Epitheta  zu  wirken;  aber  nicht  so, 
daß  sie  zu  einem  Nomen  ein  ganz  neues  Adjektiv  setzen,  sondern  in  der 
Weise,  daß  sie  übliche  Termini  an  allen  Appellativen  und  Abstrakten  durch- 
probieren. So  sagt  Novalis  etwa:  „Jede  Krankheit  ist  ein  musikalisches 
Problem." ■*)  Die  Romantik  als  fortschreitende  Universalpoesie  geht  eben, 
trotz  allen  kritischen  „Charakteristiken"  mehr  auf  Stilisierung  des  Ganzen 
als  auf  Erfassung  des  einzelnen  aus.  Wie  Goethe  in  der  „Iphigenie" 
„ehern"  schon  fast  zum  bloßen  Epitheton  ornans  macht,  so  müssen  auch 
z.  B.  bei  Novalis  die  Beiwörter  mehr  die  allgemeine  Stimmung  als  den 
spezifischen  Charakter  wiedergeben.^) 

Und  wieder  mit  dem  neuen  Jahrhundert  setzt  ein  neuer  Kultus  des 
Epithetons  ein.  Vor  allem  von  Byron  beeinflußt,  doch  auch  von  Jean 
Paul  bedingt,  macht  Heinrich  Heine  Schule  mit  dem  „unerwarteten 
Beiwort"."^)  Nun  kommen  seine  scheinbar  unsinnigen,  aber  auf  lebhaftester 
Beobachtung  beruhenden  Epitheta  zu  allgemeiner  Geltung.  •  „Der  Wirt 
trug  einen  hastig  grünen  Leibrock".  Ich  habe  das  schon  früher')  kom- 
mentiert: „Die  auffallende  Farbe  läßt  die  raschen  eiligen  Bewegungen  des 

')  F.  Pomezny,  Grazie  und  Grazien  in  ■*)  A.  W.  Schlegel  nannte  dergleiciien 


der  deutschen  Literatur  des  18.  Jatirhunderts, 
Hamburg   1900,  S.  190. 

=)  Vgl.  Erich  Schmidt,  Richardson, 
Rousseau  und  Goethe  S.  318  f.,  Ladendorf, 
Historisches  Schlagwörterbuch  S.  280. . 

')  Lehrreiche  Ausgabe  von  Köster,  Leip- 
zig 1899 — 1900   in  den   literarischen  Denk- 


.ein  Würfelspiel,  ein  Kartenlegen  mit  hypo- 
stasierten  Begriffen,  die  in  allen  möglichen 
Anordnungen  wiederkehren",  Werke  8,  287. 

*)  Heilborn,  Novalis  der  Romantiker 
S.  194. 

')  Ebert,  Heines  Jugendprosa  S.  33. 

')    In    meiner   Deutschen   Literaturge- 


mälern  N.  70  f.  schichte  des  19.  Jahrhunderts,  3.  Aufl.  S.  144. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  111,  Teil  1.  4 


50  Stilistik. 


hin-  und  herspringenden  Wirtes  doppelt  auffallen;  das  ,hastig'  gehört 
wirklich  nicht  bloß  zum  , Leibrock',  sondern  zur  Farbe."  (Wir  erinnern  noch- 
mals daran,  daß  für  das  Adverb,  nur  in  geringerem  Grade,  alles  gilt,  was 
wir  hier  für  das  Adjektiv  ausführen.)  Ihm  folgt  z.  B.  Wienbarg  mit  seinen 
„leibgrimmigen  Gesichtern""^)  oder  selbst  Strachwitz  mit  seinem  „grünen 
Einerlei".'^)  Unter  seinem  Einfluß  steht  noch  Bismarck,  wenn  er  schreibt: 
„die  Idee,  daß  ich  an  einem  Hoffest  ebensoviel  kühle  Rücken  um  mich 
her  sehe,  als  jetzt  freundliche  Gesichter";^)  diese  Art  bildet  Nietzsche 
noch  höher  und  poetischer  aus:  „Ein  Pfad,  der  trotzig  durchs  Geröll 
stieg,  ein  boshafter,  einsamer  Pfad".*) 

Aber  Nietzsche  war  auch  durch  die  Franzosen  beeinflußt.  Denn 
auf  die  jungdeutsche  Freude  am  verblüffenden  Epitheton  war  wiederum 
eine  Erstarrung  gefolgt,  die  G.  Freytags  mühsame  Verwendung  oder 
Bildung  neuer  Beiwörter^)  oder  gar  Fr.  Th.  Vischers  Häufung  der  Ad- 
jektiva«)  nicht  lösen  konnten.  Auch  Mörikes  an  sich  schöne  Neubildungen 
wie  „zauberbang",  „weihrauchblumig" '')  blieben  romantisch,  dienten  der 
Stimmung  mehr  als  der  Charakteristik.  In  Frankreich  aber  war  die 
Sorge  für  das  Epitheton  nie  ausgestorben  und  gerade  in  den  achtziger 
Jahren  zu  einem  neuen  Kultus  erwachsen.  Man  lese  nur  das  Journal  des 
Goncourt  oder  Daudets  „Notes  sur  la  vie";  etwa  wie  Edmond  de  Gon- 
court  (Journal  6,  289)  einzelne  Epitheta  als  wahre  Meisterstücke  preist  und 
erklärt,  vor  allem  am  Epitheton  erkenne  man  den  großen  Schriftsteller! 
Auch  in  England  ward  damals  der  berühmte  Staatsmann  und  Redner  D Is- 
raeli als  „the  master  of  the  adjective"  gefeiert.  Gewiß  hat  auf  ihn  auch 
die  Tradition  Byrons,  sicherer  noch  auf  Flaubert  und  die  Goncourt  das 
Beispiel  Heines  gewirkt;  im  wesentlichen  war  es  aber  doch  eine  ein- 
heimische und  den  Zeittendenzen  entspringende  Bewegung,  eine  Reaktion 
gegen  die  auch  hier  eingetretene  Häufung  der  Adjektiva,*>)  die  in  den  vier- 
ziger Jahren  auch  bei  den  Franzosen  Intensität  durch  Masse  hatte  ersetzen 
wollen.  —  Jetzt  ist  auch  die  Jagd  auf  das  „epithete  rare"  eine  Mode  ge- 
worden, deren  Übertreibung  selbst  in  den  Zeitungsstil  eingedrungen  ist*i 
Aber  es  war  einmal  eine  gesunde  und  starke  Richtung,  die  denn  auch  auf 


')  V.  Schweizer,   L.  Wienbarg  S.  98,      Dutzend  Adjektivtrabanten',  VnXERS,  Briefe 
S.  38.  eines  Unbel^annten  1,  300;  vgl.  oben  Landau, 


')  TiELO,  Die  Gedictite  des  Gr.  Strach- 
witz S.  63. 

')  Th.  Matthias,  Bismarck  als  Künstler, 


Zur  italienischen  Literaturgeschichte  des  18. 
Jahrhunderts. 

')    Maync,   Ed.   Mörike,   Stuttgart   und 


Leipzig  1902,  S.  73.  Leipzig  1902.  S.  257. 

*)  H.  Landsberg,  Fr.  Nietzsche  und  die  *)  Vgl.  Hillebrand,  Geschichte  Frank- 
deutsche  Literatur,  Leipzig  1902,  S.  111.  reichs  2,70. 

^)  A.  ScHÖNBACH,  Gesammelte  Aufsätze,  ')  Witzige  Parodie,  die  auch  auf  deutsche 

Graz  1900,  S.  65.  I   Verhältnisse  paßt,  bei  Loyson-Bridel,  Moeurs 

«)  .Kein  Substantiv  getraut  sich  auf  die  j   des  Diumales,  Paris  1903,  Mercure  de  France 

Straße  ohne  die  Begleitung  von  einem  halben  S.  99  f. 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  51 

das  so  gern  von  Frankreich  lernende  Deutschland,  nicht  etwa  nur  bei  und 
durch  Nietzsche,  übergriff. 

Diese  summarische  Geschichte  des  Epithetons  —  von  der  ich  nur 
wünschen  kann,  daß  sie  möglichst  bald  durch  eingehende  Sprachstudien 
unbrauchbar  gemacht  wird  —  zeigt  jedenfalls  dies  mit  voller  Deutlichkeit: 
jede  neuere  literarische  Richtung  setzt  mit  einer  frischen  Pflege  des  Epi- 
thetons ein,  die  nach  einiger  Zeit  wieder  einem  gewissen  Erstarren  weichen 
muß.  Denn  jede  neue  Richtung  beginnt  individualistisch,  weil  sie  von 
selbstbewußten  Männern  gemacht  wird,  und  realistisch,  weil  die  neue  Er- 
fassung der  Wirklichkeit  eine  neue  Freude  an  der  bunten  Fülle  der  Dinge 
bringt;  deshalb  treffen  wir  als  Exponenten  dieser  Richtungen  das  gewählte 
Epitheton  bei  Gryphius  wie  bei  Klopstock,  bei  Stürmern  und  Drängern 
wie  bei  Jungdeutschen,  im  Naturalismus  und  der  Neuromantik. 

Gleichzeitig  aber  sehen  wir  auch  die  vielberufene  „Spirale  der  Ent- 
wickelung".  Jede  folgende  Epitheton-Periode  bringt  das  charakterisierende 
Beiwort  weiter.  Im  17.  Jahrhundert  nur  Steigerung  der  herkömmlichen 
Attribute;  im  18.  Suchen  nach  neuen,  die  zugleich  stilisieren  und  charak- 
terisieren sollen;  um  1820  subjektiv  ganz  individuelle  Worte,  die  aber  dem 
bezeichneten  Gegenstand  gerade  wegen  zu  starker  Subjektivität  des  Be- 
obachters noch  nicht  gerecht  werden;  neuerdings  Epitheta,  die  für  den  Be- 
obachter und  seinen  Gegenstand  und  somit  für  sein  Verhältnis  zu  diesem 
bezeichnend  sind. 

§  57.  Aufgabe  des  Epithetons.  Damit  ist  denn  zugleich  schon  angedeutet, 
was  sich  über  den  Gebrauch  des  Epithetons  etwa  lehren  läßt.  Die  Epitheta 
sollen  charakterisieren,  sie  drücken  aber  selbst,  „wie  alle  Worte  überhaupt, 
Begriffe  aus,  welche  feste  und  bestimmte  Grenzen  haben,  da  ihre  Objekte, 
vermöge  der  unauflöslichen  Verbindung,  in  welcher  alle  Teile  der  mora- 
lischen Welt  untereinanderstehen,  ohne  alle  eigentlich  bemerklichen  Grenzen 
ineinander  überfheßen".i)  Deshalb  kann  auch  das  am  besten  gewählte  Ad- 
jektiv an  sich  nicht  genügen,  wenn  ihm  nicht  aus  der  speziellen  Verbin- 
dung mit  gerade  diesem  Nomen  eine  spezifische  Nuance  der  Bedeutung 
zufließt.  Um  es  paradox  auszudrücken:  ein  „P/arf"  kann  nicht  „boshaft" 
sein  —  denn  die  eigentümlichen  Bestandteile  der  Bosheit  setzen  ja  be- 
wußten Willen  voraus  —  aber  „ein  boshafter  Pfad''  kann  er  trotzdem  sein. 
Substantiv  und  Adjektiv  bildet  einen  bestimmten  Winkel  und  auf  diesen 
kommt  es  an;  nicht  auf  die  Länge  der  ihn  bildenden  Linien.  A.  W.  Schlegel 
rühmt  von  Goethes  „Hermann  und  Dorothea"  (Werke  11,  213):  „die  Bei- 
wörter sind  bei  ihm  nicht  allgemeine  Erweiterung,  sondern  an  ihrem  be- 
stimmten Platze  bedeutend".  „An  ihrem  bestimmten  Platze  bedeu- 
tend" —  darauf  kommt  es  an.  Man  muß  das  Gefühl  haben,  daß  hierher 
nur  dies  Wort  paßt.     Das  wird  man  aber  um  so  eher  haben,   je  einfacher 

')  W.  VON  Humboldt,  Schriften,  herausgegeben  von  der  preußischen  Akademie,  2,  73. 

4* 


52  Stilistik. 


und  anschaulicher  das  Beiwort  an  sich  ist;  weshalb  denn  auch  der  be- 
rühmte Kritiker  gleich  fortfährt:  „er  hat  sich  weit  häufiger  der  einfachen  als 
der  zusammengesetzten  bedient".  Ein  einfaches  Adjektiv  in  blitzartig  neuer 
Verwendung  setzt  sein  Hauptwort  in  viel  helleres  Licht  als  jene  mühsamen 
Komposita  der  Ronsard,  Hoffmannswaldau,  J.  H.  Voss,  Mörike,  die 
schon  durch  ihre  Schwere  stilisierend  wirken  und  deshalb  die  Eigenart 
haben,  bald  zu  reinen  Schmuckworten  zu  werden. 

Das  Höchste  wird  freilich  bei  den  Beiwörtern  erreicht,  „die  zugleich 
Neuheit  und  Schönheit  auszeichnet",  wie  W.  v.  Humboldt')  an  Schillers 
„Elegie"  rühmt.  In  ihr  begegnen  auch  wirklich  so  modern  klingende 
Epitheta  wie  „das  energische  Lichi".  Ebenso  rühmt  z.  B.  K.  O.  Örtel^) 
an  Alexander  v.  Humboldt:  „Er  griff  oft  zu  Eigenschaftswörtern,  aber  fast 
nie  waren  sie  ein  leerer  Schmuck  der  Rede;  er  wollte  wesenthche  Merk- 
male bezeichnen,  und  seine  glückliche  Hand  gab  ihm  oft  den  schönsten 
und  klarsten  Ausdruck  zugleich."  Doch  schien  seinen  Zeitgenossen  Hum- 
boldts Rede  schon  zu  blumig  und  gerade  seine  Adjektiva  hat  Immermann 
in  der  Prärieschilderung  am  Eingang  des  „Münchhausen"  parodiert. 

§  58.  Anwendung  des  Epithetons.  Diesen  allgemeinen  Empfehlungen  läßt 
sich  schwer  ein  knapperer  Ausdruck  geben  als  im  Sinn  der  berühmten 
Formel  des  französischen  Philosophen  Taine:  bezeichne  durch  das  gewählte 
Epitheton  so  kurz  und  schlagend  als  möglich  ein  Stückchen  Wirklichkeit 
im  Licht  deines  Temperaments.  Alles  Charakterisieren  ist  ein  Abmessen 
von  einem  bestimmten  Standpunkt  aus;  er  darf  aber  nur  als  Fußpunkt 
dienen.  Zu  vermeiden  ist  natürlich  jedes  trübe,  nichtssagend  gewordene 
Beiwort;  zu  vermeiden  ist  aber  auch  das  Schwelgen  in  Lieblingsausdrücken, 
weil  es  die  Individualität  des  Angeschauten  in  der  Stimmung  des  Betrach- 
ters ertränkt.  Das  ist  z.  B.  bei  dem  „heiter"  des  alten  Goethe  der 
Fall.  3)  —  Man  soll  aber  auch  drittens  nicht  allzu  fürwitzig  in  die  fremde 
Eigenart  eintauchen  wollen.  Dahin  neigen  die  Neuesten  z.  B.  in  der  allzu 
genauen  Nuancierung  der  Farbworte.  Der  immer  genauere  Gebrauch 
wirklicher  Farbworte  ist  übrigens  für  den  zunehmenden  Realismus  der  Be- 
obachtung bezeichnend:  die  alten  Lieblingsfarben  grün,  weiß,  rot,  schwarz 
werden  schon  am  Ende  der  altgermanischen  Zeit'')  und  ebenso  wieder  am 
Ende  des  Minnesangs  gern  durch  realistische  Angaben  seltener  Farben  be- 
einträchtigt. Aber  diese  Farbenspezifikation  hat  doch  ihre  Grenzen  an 
unserer  Aufnahmefähigkeit.  Vollends  bei  der  jetzt  beliebten  symbolischen 
Verwendung  der  Farbenadjektiva   sollte   man  Maß   halten.     Wenn   Heine 

')   Briefwechsel   zwischen  Schiller  und  1899  S.  73. 

W.  von  Humboldt,   herausgegeben  von  A.  ')  Einige  andere  Beispiele  bei  Balden- 

Leitzmann,  Stuttgart  1900,  S.  173.  j  sperger,  Gottfried  Keller,  Paris  1899,  S.  473. 

=)  K.  O.  Oertel,  Die  Naturschilderung  '           ■•)   V'gl.   meine  Altgermanische  Poesie 

bei   dem   deutschen   geographischen  Reise-  S.  201  f. 
beschreiben    des    18.  Jahrhunderts,    Leipzig 


Fünftes  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  53 

„ein  Meer  von  blauen  Gedanken"  sein  Herz  überfluten  läßt,  verstehen  wir 
noch  die  subjektive  Assoziation;  aber  die  berühmte  „blaue  Stunde"  der 
neueren  Franzosen  und  Stefan  Georges  appelliert  schon  an  ein  sehr 
williges  und  vorgebildetes  Aufnahmevermögen! 

Im  übrigen  gilt  hier  mehr  als  irgendwo,  daß  Vorschriften  dem  Genius 
wenig  helfen!  Das  betont  auch  Jean  Paul  in  einer  schönen  und  lehr- 
reichen Stelle  (Vorschule  der  Ästhetik  §  78): 

.Die  Beiwörter,  die  rechten  und  sinnlictien,  sind  Gaben  des  Genius;  nur  in  dessen 
Geisterstunde  und  Geistertage  fället  ihre  Säe-  und  Blütezeit.  Wer  ein  solches  Wort  erst 
sucht,  findet  es  schwerlich.  Hier  stehen  Goethe  und  Herder  voran,  auch  den  Deutschen, 
nicht  nur  den  Engländern,  welche  jede  Sonne  mit  einem  Umhange  von  beiwörtlichen 
Nebensonnen  und  Sonnenhöfen  verstärken.  Herder  sagt:  das  dicke  Theben  —  der  gebückte 
Sklave  —  das  dunkle  Getümmel  ziehender  Barbaren  u.  s.  w.  Goethe  sagt;  die  Liebesaugen 
der  Blumen  —  der  silberprangende  Fluß  —  der  Liebe  stockende  Schmerzen  zu  Tränen 
lösen  —  vom  Morgenwind  umflügelt  u.  s.  w.  Besonders  winden  die  Goethischen  (auch 
seine  unbildlichen)  gleichsam  die  tiefste  Welt  der  Gefühle  aus  dem  Herzen  empor;  z.  B. 
,wie  greift's  auf  einmal  durch  die  Freuden,  durch  diese  offne  Wonne  mit  entsetzlichen 
Schmerzen,  mit  eisernen  Händen  der  Hölle  durch.'  Wie  wird  man  dadurch  dem  gemeinen 
Gepränge  britischer  Dicht- Vornlinge  noch  mehr  gram!  —  So  ergrauen  auch  Gesners  ver- 
wässerte Farben  gegen  die  festern  heilern  im  Frühling  von  Kleist.  —  Manchem  Kose- 
gartischen  Gemälde  geht  oft  zu  einem  dichterischen  nichts  ab  als  ein  langer  Strich  durch 
alle  Beiwörter.' 

Lehrreiche  Beispiele  für  die  Wahl  der  Epitheta  gibt  Albalat,  Formation  du  style 
S.  280  f. 

§  59.  Steigerung.  Wir  sahen  die  Bestimmung  des  Adjektivs  vor  allem 
in  seiner  Anpassungsfähigkeit  vorgezeichnet;  der  Gebrauch  des  Epithetons 
—  freilich  auch  die  Sinecure  des  müssig  „schmückenden"  Beiworts  —  fließt 
aus  seiner  Dreigeschlechtigkeit.  Das  Adjektiv  hat  aber  noch  eine  andere 
Form  der  Veränderhchkeit  vor  dem  Substantiv  voraus:  die  Steigerung. 
Zwar  kann  die  Zusammensetzung  etwas  Ähnliches  beim  Appellativum  geben: 
Herrscher  —  Oberherrscher;  Verbrecher  —  Hauptverbrecher;  und  gar  in 
der  Hierarchie  der  Titel  haben  wir  Deutschen  es  ja  zu  einer  unvergleich- 
lichen Steigerungsfähigkeit  gebracht:  Unterarzt  —  Arzt  —  Oberarzt  — 
Generaloberarzt  —  Generalarzt.  —  Indessen  wird  hierbei  doch  nur  eine 
äußerliche  Überordnung  gemeint,  während  die  adjektivische  Komparation 
eine  Steigerung  im  Wesen  selbst  ausdrückt.  (Ausnahmsweise'  kommt  zwar 
auch  das  bei  Appellativen  vor:  ein  „Erzhallunke"  ist  noch  mehr  Hallunke 
als  ein  einfacher;  aber  Substantiv  und  Adjektiv  berühren  sich  eben  überall.) 

Das  Wesen  der  Steigerung  beruht  also,  wie  auch  der  lateinische  Aus- 
druck sagt,  auf  der  Vergleichung.  Es  soll  behauptet  werden,  daß  eine 
bestimmte  „Eigenschaft"  einem  Gegenstand  mehr  als  einem  einzelnen 
andern  (Komparativ)  oder  mehr  als  irgend  einem  andern  (Superlativ)  zu- 
komme. Gewissermaßen  ist  also  jeder  Positiv  an  sich  schon  ein  Steige- 
rungsgrad: ich  spreche  heut  vom  „blauen  Himmel",  weil  er  bisher  nicht 
so  blau  war;  ich  nenne  einen  Soldaten  „tapfer",  weil  er  das  mehr  ist  als 
alle  die  andern,  von  denen  ich  doch  immerhin  schon  Tapferkeit  voraussetze. 


54  Stilistik. 


Daraus  folgt  das  stilistische  Gebot,  die  Steigerungsgrade  nicht  ohne 
Not  anzuwenden,  weil  wir  sonst  den  Positiv,  der  viel  unentbehrlicher  ist, 
entwerten.  Dies  gilt  vor  allem  von  dem  Superlativ.  Er  war  bei  uns  teils 
durch  Nachahmung  des  lateinischen  (lediglich  verstärkenden;  „Elativus" 
{„dux  optimus",  ein  sehr  guter  Feldherr),  teils  aus  dem  gegenseitigen 
Überbieten  in  der  politischen  und  wissenschaftlichen  Polemik  sehr  häufig 
geworden.  Goethe  hat  sogar  den  Elativ  mit  dem  unbestimmten  Pro- 
nomen im  Alter  besonders  geliebt:  ^eine  schönste  Gabe",  was  das  ein- 
zelne Geschenk  sofort  in  das  Reich  der  Ideale  heraufstilisiert.  Aber  gegen 
diese  Neigung  zum  Superlativ  —  die  bei  den  rhetorischen  Romanen  wirk- 
lich viele  Positive  nahezu  wertlos  gemacht  hat  —  ist  eine  berechtigte  Re- 
aktion eingetreten.  Es  kommt  noch  ein  praktisch-psychologisches  Moment 
hinzu,  das  Bismarck  einmal  dem  Historiker  H.  v.  Sybel  gegenüber  be- 
tonte: der  Superlativ  reizt  zum  Widerspruch.  Treitschke  hat  Mettemich 
„den  Eitelsten  der  Sterblichen"  genannt,  den  gleichen  Superiativ  aber, 
wenn  ich  nicht  irre,  auch  auf  Heine  angewandt;  das  bewiese  denn  an  sich 
schon,  wie  berechtigt  ein  Protest  gegen  solche  Superiative  sein  kann. 

Der  Komparativ  wird  naturgemäß  seltener  gemißbraucht.  Bekanntlich 
besitzen  wir  auch  einen  „abschwächenden  Komparativ":  ein  ^älterer  Mann" 
ist  noch  kein  „alter  Mann",  nur  etwas  älter  als  der  Durchschnitt;  „eine 
Frau  aus  den  besseren  Ständen"  gehört  nur  gerade  eben  noch  dem  An- 
fang der  „guten"  an.  Mißverständnisse  werden  daraus  selten  entstehen; 
doch  ist  auch  hier  ein  positiver  Ausdruck  vorzuziehen:  „ein  nicht  mehr 
junger  Mann",  „ein  Mann  von  gewissem  Alter". ^) 

§  60.  Subjekt  und  Prädikat.  Wir  kommen  zu  den  speziellen  Bezie- 
hungen von  Verb  und  Nomen;  und  zwar  zunächst  derjenigen  zwischen 
Subjekt  und  Prädikat. 

Hier  herrscht  wieder  das  Gesetz  der  Kongruenz;  doch  nicht  so 
streng  wie  beim  Adjektiv. 

§  61.  Constructio  kata  synesin.  Ein  Verstoß  im  Numerus  (oder  seltener 
Genus)  ergibt  die  sog.  Constructio  kata  synesin;  schön  erklärt  von  M.  Haupt:  *) 
„die  Begriffssphäre  bleibt,  aber  die  Wortform  ändert  sich".  So  siegt  oft 
das  „natüriiche  Geschlecht"  über  das  „grammatische",  in  der  naiveren 
Sprache  früherer  Zeiten  3)  häufiger  als  in  modemer  Pedanterie.  Beim  Nu- 
merus gelten  noch  Speziairegeln.*)  Eigentliches  Veriassen  der  Kongruenz 
zu  Gunsten  einer  sinnlicheren  Auffassung  begegnet  heut  kaum  noch  und 
schon  bei  den  Klassikern  nur,  wenn  mancherlei  zusammentrifft,  wie  im 
„Faust"  Vers  214  (Vorspiel  auf  dem  Theater): 

')   Klopstock   bevorzugte   den   Kom-  Lehrer,  Berlin  1879,  S.  152. 
parativ  gerade  wegen  seiner  idealisierenden  1  Z.B.  mittelhochdeutsch:  Paul,  Mittel- 
Gestaltlosigkeit,  vgl.  Jean  Palx,  Vorschule  hochdeutsche  Grammatik,  2.  Aufl.,  §  2^. 
der  Ästhetik  §  78.                                                     *)  \'gl.  Me.\sing-Erd.mann,  Grundzüge 

«)  Belger,  M.  Haupt  als  akademischer  der  deutschen  S>Titax  2,  39  f. 


FÜNFTES  Kapitel.    Die  Wortverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  55 

Der  Worte  sind  genug  gewechselt  — 
WO  die  Constructio  kata  synesin  —  Plur.  bei  dem  koilektivischen  „genug" 

—  noch  durch  die  Wortstellung  erleichtert  wird. 

§  62.  Eigentliches  Zeugma.  Ein  Verstoß  in  den  begrifflichen  Be- 
ziehungen —  sonach  ein  Gegenstück  zu  dieser  formellen  Lizenz  —  bildet 
das  Zeugma,  wobei  innerhalb  der  festgehaltenen  Begriffssphäre  leise  Ver- 
schiebungen eintreten.')  Ein  Zeugma  ist  nach  der  herkömmlichen  Definition 
„die  Verbindung  oder  Vereinigung  zweier  Sätze  oder  auch  Hauptwörter 
durch  ein  Zeitwort,  das  sich  nur  zu  einem  schickt".  So  bei  Goethe: 
„Entzahnte  Kiefern  schnattern  und  das  schlotternde  Gebein  (bebt)".  Doch 
ebenso  auch  bei  der  Verbindung  mehrerer  Hauptwörter  durch  ein  anderes, 
das  nur  zu  dem  einen  paßt:  „Mitten  im  Getümmel  mancher  Freuden, 
mancher  Sorgen,  mancher  Herzensnot"  (Goethe). 2) 

§  63.  Uneigentliches  Zeugma.  Findet  bei  dem  gewöhnlichen  Zeugma 
die  ungenaue  Bezeichnung  des  Inhalts  zumeist  noch  einen  formellen  Aus- 
druck, so  daß  eine  Verletzung  der  Konstruktion  eintritt,  so  gibt  es  doch 
auch  eine  Figur,  die  man  „inhaltliches  Zeugma''  oder  auf  deutsch  Miß- 
verbindung nennen  könnte.  Sie  ist  als  beabsichtigter  Witz  bei  den  älteren 
Humoristen  sehr  beliebt,  z.  B.  bei  dem  Engländer  Sterne:  „Er  hob  seine 
Augen  und  ein  Bein  gegen  Himmet'.  J.  Czerny^)  bezeichnet  dies  als 
„syntaktische  Zusammenstellungen  abstrakter  Begriffe  und  real-konkreter 
Dinge",  und  namentlich  im  letztern  Sinn  ist  die  Mißverbindung  zweier 
Nomina  bei  Lichtenberg,  Heine  und  dessen  Nachahmern  sehr  beliebt. 
Heines  oft  zitierter  Anfang  der  „Harzreise"  {„die  Stadt  Göttingen,  berühmt 
durch  ihre  Würste  und  Universität")  hat  seine  eigene  Geschichte.*)  Natür- 
lich begegnen  solche  Verkoppelungen  aber  auch  ohne  spassige  Absicht  und 
wirken  dann  verletzend:  man  hat  das  (formell  zu  beiden  Teilen  passende) 
Prädikat  in  einer  gewissen  geistigen  Höhe  eingestellt  und  plumpt  nun  un- 
sanft herab. 

Als  Zeugma  empfindet  ein  feineres  Ohr  auch  schon  die  Verbindung 
desselben  Verbs  einmal  als  Hilfsverbum  und  einmal  in  eigentlicher  Be- 
deutung:'') „Er  hat  kein  Geld  und  doch  ein  Haus  kaufen  wollen";  ja 
selbst  die  Verbindung  des  Hilfsverbs  mit  Intransitiv  und  Transitiv:  „Die 
Nacht  ist  gekommen  und  der  Himmel  mit  Sternen  besäet".  Die  unsinnliche, 
die  Anschauung  verletzende  Bequemlichkeit  ist  es,   die  hier  störend  wirkt. 

§  64.  Prädiliat  und  Objel<t.  Weitergehende  Störungen  in  den  Bezie- 
hungen zwischen  Subjekt  und  Prädikat  —  Ellipse,  Anakoluth,  Aposiopese 

—  gehören  schon  dem  Satz  an.     Für  die  Verbindung  aber  zwischen  Ver- 
bum  und  Objekt  ist  nur  nochmals  an  die  figura  etymologica  zu  erinnern : 

1)  Vgl.  M.  Haupt  a.  a.  O.  S.  151.  '   Paul,  Berlin  1904,  S.  73. 


-)  Vgl.  Gerber,  Die  Sprache  als  Kunst 
1,  507. 

^)  J.  Czerny,  Sterne,  Hippel  und  Jean 


<)  Vgl.  Euphorion  8,  706. 

5)  Vgl.  Kiesel,  Deutsche  Stilistik  S.  163. 


56  Stilistik. 


das  Verbot,  durch  die  unausgestattete  Verbindung  eines  Verbs  mit  seinem 
„innern  Objekt"  eine  anspruchsvolle  und  doch  leere  Wortverbindung  vor- 
zuführen. 

§  65.  Röckblick.  Zusammenfassend  können  wir  über  die  Wortver- 
bindung bemerken:  die  Anordnung  der  zusammengehörigen  Worte  ist  bei 
uns  fast  überall  syntaktisch  festgelegt;  insbesondere  können  wir  nicht  wie 
die  Franzosen  durch  die  Umstellung  des  Attributs  Eindruck  machen:  „un 
necessalre  travail"  (M.  Breal)  statt  „un  travail  necessaire" .  Da  bei  uns 
somit  die  Sorge  für  die  Wortverbindung  beinah  ausschließlich  durch  die 
Wahl  der  Worte  geleistet  wird,  kann  diese  nicht  sorgfältig  genug  sein. 

Sechstes  Kapitel. 
Der  Satz  in  formeller  Hinsicht. 

§  66.  Definition  des  Satzes.  Unter  Satz  verstehen  wir  ein  an  sich  (d.  h. 
ohne  alle  weitere  Beihilfe  verdeutlichender  Mittel)  vollkommen  verständ- 
liches Stück  menschlicher  Rede.  Wir  stellen  an  den  Satz  keinerlei  spezielle 
syntaktische  Forderungen:  ein  bloßer  Ausruf  wie  „Feuer!",  ein  eingliedriger 
Fragesatz  wie  „tot?",  eine  „unvollständige"  oder  „verstümmelte"  Androhung 
wie  „Euch  werde  ich  — "  genügt  vollkommen  den  Ansprüchen  an  Gemein- 
verständlichkeit. Wir  gehen  deshalb  auf  die  Diskussionen  und  Definitionen 
der  Synta.x  und  der  Logik ')  nicht  erst  ein. 

§  67.  Syntax  und  Stilistik.  Der  Syntax  fällt  auch  die  Belehrung  über 
die  verschiedenen  Satzformen,  ihre  Ausdrucks-  und  Verbindungsmittel  zu, 
wie  sie  z.  B.  Kiesel  in  seiner  sehr  brauchbaren  „Stilistik",  auf  höherer 
Stufe  Wunderlich  in  seinen  beiden  Büchern  („Satzbau"  und  „Umgangs- 
sprache") gibt.  Die  richtige  Verwendung  der  syntaktischen  Mittel  ist  für 
die  Stilistik  so  gut  wie  die  richtige  Verwendung  der  flexivischen  Mittel  be- 
reits Voraussetzung:  weder  über  Deklination  und  Konjugation  noch  über 
Konjunktionen  und  Modi  oder  Tempora  im  allgemeinen  hat  die  Stilistik 
zu  unterrichten.  Nur  über  die  kunstmäßige  Verwendung  dieser  Dinge 
ist  hier  zu  sprechen.*) 

§  68.  Wortstellung.  Allerdings  aber  kann  gerade  eine  Abweichung 
von  der  normalen  Wortstellung  kunstmäßig  gerechtfertigt  sein.'^  Eine  un- 
gewöhnliche Anordnung  kann  die  Aufmerksamkeit  auf  ein  sonst  nicht  be- 

')  Vgl.  WuNDT,  Völkerpsychologie  I,  2,  Schiebungen  überhaupt  findet  man  bei  Kiesel 

222  f.  a.  a.  O.  S.  164  f.,  vortreffliche  Studien  beson- 

'-)  Über  die  geschichtliche  Entwick-  ders  zu  H.  von  Kleists  Wortstellung  bei  A. 

hing  und  normale  Handhabung  dagegen  haben  Fries  in  den  .Studien  zur  vergleichenden  Lite- 

Lelirbücher  der  Syntax  wie  besonders   das-  raturgeschichte"  4,  440  f.:  englische  Beispiele 

jenige  von  Erd.mann-Mensing  (Qrundzüge  mit  Kommentar  bei  Herbert  Spe.\cer,  StT,le 

der  deutschen   Syntax,   Stuttgart,  I  1887,  11  S.  20  f.  und  bei   Bain,  Rhetoric  and  Com- 

1898)  zu  belehren.  Position  1,  19  f. 

')  Eine  lehrreiche  Übersicht  solcher  \'er- 


Sechstes  Kapitel.    Der  Satz  in  formeller  Hinsicht.  57 

tontes  Wort  lenken  und  überhaupt  —  namentlich  mit  Hilfe  des  Rhythmus 
—  eine  ganz  individuelle  Abstufung  der  Akzente  ermöglichen: 

Das  eben  ist  der  Fluch  der  bösen  Tat, 

Daß  sie  fortzeugend  Böses  muß  gebären. 

Prosaisch,  etwa  im  Stil  der  Düntzerschen  Umschreibungen  klassi- 
scher Verse,  würden  eben  diese  Worte  etwa  so  zu  ordnen  sein:  „Das  ist 
eben  der  Fluch  der  bösen  Tat  — ".  Man  sieht,  wie  die  kleine  Umstellung 
wirkt.  Bei  der  zweiten  Stellung  betonen  wir  „ist";  bei  der  Schillers 
wird  der  Akzent,  der  sonst  auf  die  zweite  Stelle  fiele,  erspart,  an  dritter 
geht  nun  auch  „ist"  seiner  verlustig  und  diese  ganze  Akzentersparnis 
kommt  dem  Hauptwort  „Fluch"  zugute. 

Jeder  Satz  enthält  nämlich  nur  ein  bestimmtes  Quantum  von  Akzenten 
und  jede  Verstärkung  oder  Abschwächung  an  einer  Stelle  führt  zur  Aus- 
gleichung an  der  anderen.  Dies  ist  besonders  für  den  Gebrauch  der  kon- 
trahierten Adjekte  am,  beim,  im,  vom,  zum  (für  an  dem,  bei  dem,  in  dem, 
von  dem,  zu  dem)  zu  beachten.  Nur  für  die  grobe  Vernachlässigung 
feinerer  sprachlicher  Nuancen  sind  die  kontrahierte  und  die  ursprüngliche 
Form  gleichwertig,  so  daß  man  zur  Abkürzung  und  Bequemlichkeit  überall 
„im"  oder  „vom"  setzen  dürfte.')  In  Wirklichkeit  wächst  der  unterdrückte, 
wenn  auch  an  sich  geringe  Ton  des  Artikels  dem  unmittelbar  folgenden 
betonten  Worte  zu.  Also:  „das  habe  ich  von  dem  guten  Väter";  aber 
„vom  guten  Sohn"  (im  Gegensatz  zum  schlechten)  „erhielt  er  andere 
Nachricht".  Nur  bei  geographischen  Namen  ist  die  kontrahierte  Form  fast 
allein  üblich,  weil  sie  eben  gewöhnlich  betont  werden:  „Bonn  am  Rhein", 
aber  auch:  „wir  gehen  am  schönen  Rhein  spazieren".  —  In  dieser  Akzent- 
übertragung liegt  das  Hauptgeheimnis  der  Wirkung  veränderter  Wortstellung. 

Es  versteht  sich  aber  von  selbst,  daß  der  rhetorischen  oder  rhyth- 
mischen Wirkung  niemals  die  Deutlichkeit  geopfert  werden  darf.  Ist 
diese  doch  schon  durch  die  normale  Wortstellung  in  längeren  Perioden 
gefährdet,  und  nicht  mit  Unrecht  hat  der  Amerikaner  Mark  Twain  jene 
deutschen  Satzungeheuer  verspottet,  bei  denen  man  lange  Zeit  mit  dem 
Verständnis  in  der  Luft  schwebt,  bis  endlich  das  erlösende  Wort  ankommt 
(Beispiele  von  Übersichtlichkeit  und  Unübersichtlichkeit  bei  Kiesel  S.  192  f.; 

z.  B.: 

Es  ist  bekannt,  daß  Gott,  sobald  er  die  Welt  erschaffen  hatte,  so  daß  das  Erd- 
reich trocken  war  und  das  Gebirge  mächtig  und  herrlich  dastand,  die  Pflanzen  aus  der 
Erde  sprießen  ließ.) 

Auch  darf  die  Absicht  der  Rhythmisierung  (eher  schon  die  der  rheto- 
rischen Wirkung)  nicht  zu  stark  hervortreten,  weil  sonst  der  Stilfehler  einer 
zwischen  poetischem  und  prosaischem  „Numerus"  (s.  u.)  schwankenden 
Rede  eintritt.  Es  ist  wohl  gestattet,  daß  die  Prosa  eines  Dramas  in  pathe- 
tischen Momenten  in  wirkliche  Verse  übergehe  —  wie  in  den  letzten  Worten 


')  Vgl.  meine  Grundlagen  des  mittelliochdeutschen  Strophenbaus  S.  34  f. 


58  Stilistik. 


Clavigos  — ,  nicht  aber,  daß  in  wissenschaftlich  berichtende  Prosa  sich 
plötzlich  regelmäßige  fünfhebige  Jamben  mischen.  Selbst  die  rhythmische 
Anordnung  sentenziöser  Elemente  in  dichterischer  Prosa,  wie  sie  der  alte 
Goethe  liebt,  ist  schwerlich  nachzuahmen,  ob  nun  die  Auffassung,  daß 
hier  eingearbeitete  Verse  voriiegen,  richtig  sei  oder  nicht.  Anders  steht  es 
natürlich  bei  selbständigen,  als  Prosa  geschriebenen  Sprüchen: 
Der  Schmutz  ist  glänzend,  wenn  die  Sonne  scheinen  mag 

(Sprüche  in  Prosa  Nr.  13).') 

Für  die  Grenzen  zwischen  prosaischer  und  poetischer  Rhythmisierung 
findet  man  einige  Winke  bei  Holz,   „Revolution  der  Lyrik"  (Beriin  1899). 

Ausnahmsweise  fügen  wir  noch  eine  syntaktische  Bemerkung  bei. 
Eine  einzelne  Form  der  Wortumstellung,  die  speziell  sogenannte  Inver- 
sion, ist  von  Wustmann  (Allerhand  Sprachdummheiten  S.  294  f.)  leiden- 
schaftlich angegriffen  worden.  Es  ist  die  Stellung  des  Prädikats  vor  dem 
Subjekt  in  Hauptsätzen  mit  „und'':  „Der  Austernfang  ist  in  letzter  Zeit 
sehr  ergiebig  gewesen  und  werden  am  Dienstag  wieder  10000  Stück  in 
die  Stadt  gebracht".  An  sich  ist  die  Inversion  nichts  Uneriaubtes  und 
Herder  ist  gegenüber  der  trockenen  Korrektheit  seiner  Zeit  sogar  lebhaft 
für  sie  eingetreten.  Diese  Anwendung  aber,  die  sich  besonders  auch  in 
die  weibliche  Briefstellerei  eingefressen  hat,  ist  häßlich,  weil  sie  geschäfts- 
mäßigen Anstrich  hat  und  weil  sie  grundlos  den  Parallelismus  beigeord- 
neter Sätze  (und  damit  die  Einheit  der  ganzen  Periode)  zeneißt.  Wust- 
mann führt  noch  weiter  aus: 

.Das  Widerwärtige  der  Inversion  liegt  nicht  bloß  in  dem  grammatischen  \'ersto8, 
sondern  vor  allem  auch  in  der  logischen  Lüge:  Die  Inversion  sucht  den  Schein  engerer, 
ja  engster  Gedankenverbindung  zu  erwecken,  und  doch  haben  gewöhnlich  die  beiden 
Sätze,  die  so  verbunden  werden,  inhaltlich  nicht  das  mindeste  miteinander  zu  tun!  Darum 
ist  auch  die  Inversion  nur  selten  dadurch  zu  verbessern,  daß  man  die  beiden  Hauptsätze 
in  Haupt-  und  Nebensatz  verwandelt,  noch  seltener  dadurch,  daß  man  Subjekt  und  Prädikat 
hinter  und  in  die  richtige  Stellung  bringt,  sondern  meist  dadurch,  daß  man  den  Rat  befolgt, 
den  schon  der  junge  Leipziger  Student  Goethe  seiner  Schwester  Cornelia  gab,  wenn  sie  in 
ihren  Briefen  Inversionen  geschrieben  hatte:  einen  Punkt  zu  setzen,  das  ,und'  zu  streichen 
und  mit  einem  großen  Anfangsbuchstaben  fortzufahren.' 

In  der  Poesie  beruht  übrigens  die  Inversion  zumeist  (z.B.  bei  Martin  Greif  un- 
endlich oft)  einfach  auf  der  Reimnot: 

Der  lichte  Hirt  am  Stabe 
Voran  der  Herde  zieht .  . . 

§69.  Allgemeines  zur  Prosarhythmik.  Über  die  Rhythmen  der  Prosa 
überhaupt  fehlt  es  noch  völlig  an  zuveriässigen  Arbeiten.  Mehr  als  die 
allgemeinsten  Wendungen  etwa  über  das  zerhackle  Taciteische  Deutsch  des 
Johannes  von  Müller,  die  prachtvolle  faltenreiche  Diktion  Schillers,  das 
leidenschaftliche  Pathos  Treitschkes  u.  dgl.  findet  man  über  diese  Frage 
selbst  nicht  in  eingehenden  Würdigungen  großer  Stilisten.  Hat  man  sich 
doch  auch  in  der  so  viel  älteren  und  im  Formellen  unendlich  sorgfältigeren 


M  Vgl.  BODE,  Stunden  mit  Goethe  2,  73. 


Sechstes  Kapitel.    Der  Satz  in  formeller  Hinsicht.  59 

klassischen  Philologie  erst  neuerdings  der  wirklichen  Feststellung  des  Prosa- 
rhythmus genähert.  Schon  Böckh  (Encyklopädie  und  Methodologie  der 
philologischen  Wissenschaften  S.  247)  verlangt  eine  historische  Stilistik; 
aber  er  ruft  dann  selbst:  „Dabei  wird  nun  die  Beobachtung  des  Numerus 
ein  Hauptmoment  sein.  Aber  wer  hat  davon  einen  wahren  Begriff?  Wer 
ist  imstande  zu  bestimmen,  welchen  Eindruck  dieser  oder  jener  Rhythmus 
in  der  Prosa  hervorbringt?  Die  ganze  auf  den  Numerus  bezügliche  Gat- 
tungskritik liegt  in  den  ersten  Anfängen."  Aber  erst  ein  Menschenalter 
später  kam  sie  durch  zwei  große  Werke  darüber  heraus:  E.  Norden,  Die 
antike  Kunstprosa  vom  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  bis  in  die  Zeit  der  Renais- 
sance (Leipzig  1898)  und  Fr.  Blass,  Die  Rhythmen  der  attischen  Kunstprosa 
(ebendaselbst  1901).  Für  die  neueren  Literaturen  aber  haben  wir  nur  ganz 
fragmentarische  Ansätze.  Aus  der  normalen  Wortstellung  suchten  Pierson, 
Metrique  naturelle  du  langage  (Paris  1883,  Bibliotheque  de  l'ecole  des 
hautes  etudes)  und  ich  (Grundlagen  des  mittelhochdeutschen  Strophenbaus 
S.  22  f.)  die  Grundzüge  der  nationalen  Prosarhythmik  zu  gewinnen.  Von 
noch  allgemeineren  Gesichtspunkten  geht  Wundt  (Völkerpsychologie  II  2, 
375  f.)  aus;  vgl.  auch  Vischer,  Ästhetik  5,  1235  f.  Eine  größere  Fülle  indi- 
vidueller Beobachtungen  brachte  für  die  mittelhochdeutsche  Umgangsprache 
Reichel  in  mehreren  Schriften,  besonders  seinen  Sprachpsychologischen 
Studien  (Halle  1897,  Niemeyer),  während  K.  Marbe,  Über  den  Rhythmus 
der  Prosa  (Gießen  1904)  nur  schematisch-statistische  Feststellungen  zu 
Goethe  und  Heine  gab.  Für  Goethe  hat  auch  Henkel  (Goethe-Jahr- 
buch 21,  265)  wenigstens  rhythmisch   besonders  klare  Stellen  gesammelt. 

Aber  überall  fehlt  es,  selbst  wo  für  den  Autor  ein  Anfang  indivi- 
dualisierender Betrachtung  gemacht  wird,  an  eindringender  Individuali- 
sierung des  Numerus  selbst.  Nur  A.  Fries,  Stilistische  und  vergleichende 
Forschungen  zu  H.  von  Kleist,  Berlin  1906,  S.  44  f.  bietet  auch  hierfür 
wichtige  Ansätze.  Und  doch  wissen  wir,  daß  Schleiermacher  seine  „Mono- 
logen" rhythmisch  individuell  komponierte  (Henkel  a.  a.  O.  S.  266  Anm.: 
„Ich  wollte  ein  bestimmtes  Silbenmaß  überall  durchkUngen  lassen,  im  2. 
und  4.  Monolog  den  lamben  allein,  im  5.  den  Daktylus  und  Anapäst,  im 
1.  und  3.  hatte  ich  mir  etwas  Zusammengesetztes  gedacht);  daß  Fr. 
v.  Gentz  an  einzelnen  seiner  eigenen  Arbeiten  die  innere  Gliederung  als 
besonders  gelungen  empfand  (Guqlia,  Fr.  Gentz  S.  191:  „Gedanken,  Nu- 
merus, Cadence  —  alles  fließt  von  selbst").  Von  solchen  Selbstzeugnissen 
(und  von  den  wenigen  eingehenden  Untersuchungen  wie  der  von  Pailhes, 
Du  Nouveau  sur  Joubert,  Paris  1900,  Garnier,  oder  denen  von  Fries)  wäre 
einerseits  auszugehen,  andererseits  von  allgemeinen  Erörterungen  über  rhyth- 
mische Gebilde  der  Sprache  (wie  bei  R.  Hildebrand,  Rhythmische  Bewegung 
in  der  Prosa,  in  seinen  „Beiträgen"  S.  386  f.;  J.  Minor,  Metrik  S.  103  f.). 

Schönheit  der  Prosa  beruht  so  gut  auf  rhythmischen  Gesetzen,  wie  die  Schönheit 
des  Versbaues.     Können   wir   über  eine  prosaische  Rede,   um   die  Länge  und  Kürze  der 


60  Stilistik. 


darin  gebrauchten  Worte  zu  bezeichnen,  häufige  lambenzeichen  (  -  -  ),  Tribrachyszeichen 
( -j  w  ^ ),  Päonquartuszeichen  ( w  >j  v.  _  )  und  wohl  gar  das  Zeichen  des  Proceleus- 
maticus  ( ^  ^  ^  ^)  setzen,  so  fehh  jede  schöne  Kontinuität,  die  Sätze  zerbröckeln  in 
ein  loses  Geröll  und  von  angenehmer  Klangwirkung  ist  nicht  die  Rede.  Die  Schönheit 
der  Prosa  beruht  auf  einer  durchgehend  anapästischen  Bewegung,  zwei  Kürzen  als  Auftakt, 
dann  eine  Länge  ( w  w  _  )  zwischendurch  wenig  lamben  und  viel  Choriamben  (  -  ^  w  _  ). 
Man  vergleiche  nur  den  Rhj-thmus  der  Prosa,  die  man  schreibt,  mit  dem  Rhj-thmus  der- 
jenigen, die  man  diktiert.  In  letzterer  zeigt  sich,  daß  wir,  wenn  wir  sprechen,  von  selbst 
dem  Genius  der  Sprache  huldigen,  der  für  ein  wohllautendes  Abwechseln  zwischen  langen 
und  kurzen  Silben  einen  uns  ganz  unbewußten  Trieb  hat  (Gutzkow,  Vom  Baum  der  Er- 
kenntnis, Jena  1892,  S.  201). 

Setzt  man  so  die  Zange  kräftig  in  Bewegung,  so  gelingt  es  vielleicht, 
den  rätselhaften  , Numerus'  zu  packen  und  durch  seine  proteusartigen 
Wandlungen  und  Verwandlungen  zu  verfolgen.  Ob  das  von  Sievers  neu 
entdeckte  Hilfsmittel  der  „Sprachmelodie"  dabei  große  Dienste  leisten 
wird,  muß  der  Erfahrung  vorbehalten  bleiben. 

§  70.  Numerus  und  Rhythmus.  Der  Numerus  ^  entspricht  in  der  Prosa 
dem  Metrum  und  hängt  in  der  Poesie,  wie  die  gesamte  äußere  Form,  von  der 
inneren  Form  und  der  Gedankenverknüpfung  ab  (Böckh  a.  a.  O.  S.  244)  —  viel- 
mehr er  ist  selbst  schon  „innere  Form",  geheimes  Gesetz  der  Regelung.  Wie 
er  sich  zum  Rhythmus  verhalte,  wird  aus  den  Erklärungen  der  älteren  und 
neueren  Theoretiker  nicht  völlig  klar.^)  Wir  glauben  die  beiden  Begriffe  so 
scheiden  zu  sollen,  daß  wir  unter  „Rhythmus"  die  Verteilung  der  Akzente  im 
einzelnen  Satz,  unter  „Numerus"  dagegen  den  durchgehenden  Charakter  der 
Struktur  verstehen.  Der  Rhythmus  ist  also  der  Poesie  und  Prosa  gemein, 
und  „rhythmische  Stellen"  im  engem  Sinne  sind  diejenigen,  in  denen  die 
regelmäßige  AkzenU'erteilung  Abschnitte  der  Prosarede  Versen  (etwa  iam- 
bischen  oder  daktylischen)  annähert;  so  die  von  Henkel  a.  a.  O.  zusammen- 
gestellten. Der  Numerus  dagegen  ist  der  Prosa  so  eigentümlich  wie  das 
Metrum  der  Poesie,  weil  für  seine  Bestimmung  die  Sätze  dieselbe  Rolle 
spielen  wie  für  die  gebundene  Rede  die  Verse.  Dabei  ist  jedoch  noch 
das  Tempo  der  Rede  abzutrennen,  das  durch  die  vorzugsweise  kurzen 
oder  langen  Sätze  wenigstens  hauptsächlich  bestimmt  wird.  Demnach  bleibt 
für  den  Numerus  im  engeren  Sinne  übrig:  die  Gliederung  der  Sätze  (ein- 
fach oder  verwickelt,  gleichmäßig  oder  unsymmetrisch  und  im  zweiten  Fall 
steigend  oder  fallend),  das  Wortmaterial  (lange  oder  kurze  Worte,  regel- 
mäßige oder  unregelmäßige  Verteilung  der  schweren  und  leichten  Worte, 
vorzugsweise  trochäischer  oder  iambischer  Bau  der  betonteren  Worte)  und 
die  Pausen  (Zahl,  Länge,  Verteilung  der  durch  Interpunktionszeichen  mar- 
kierten lautleeren  Abschnitte),  s) 

')  Börne  (Briefwechsel  des  jungen  Börne  dell,  Introduction  to  the  scientific  study  of 

und  der  Henriette  Herz,  Oldenburg  und  Leip-  English  Poetr)-  S.  223  ff. 
zig  1905,  S.  169)   hat  dafür   den   hübschen  ')  \"gl.  über  die  Bedeutung  der  Pausen 

empfehlenswerten  Ausdruck   , Silbenfall".  — allerdings  im  Vers  —  z.  B.  Bain,  Rhetoric 


)  Interessante  Untersuchungen  bei  Lid-      1,300. 


Sechstes  Kapitel.    Der  Satz  in  formeller  Hinsicht. 


61 


Prägnanter  gefaßt:  der  Rhythmus  beruht  auf  der  Verteilung  der  Ak- 
zente, der  Numerus  auf  Wahl  und  Verteilung  des  gesamten  Sprachstoffs 
im  Satze  und  vor  allem  der  betonten  Worte. 

§  71.  Rhythmus.  Über  den  Rhythmus  also  in  diesem  Sinn')  ist  all- 
gemein nur  zu  bemerken,  daß  es  sich  selbstverständlich  um  losere  Fügung 
handelt  als  in  gebundener  Rede;  denn  läge  ein  fester  Rhythmus  vor,  so 
hätten  wir  eben  Verse  oder  mindestens  jene  allerdings  schwer  zu  fassenden 
Gebilde,  die  wir  „freie  Rhythmen"  nennen. 2) 

Diese  größere  Unbestimmtheit  wird  schon  durch  das  Fehlen  regel- 
mäßiger Absätze  gegeben:  auf  Verse  müssen  eben  so  und  so  viel  Akzente 
gelegt  werden,  auf  Sätze  nicht.  Dennoch  ist  Liddell»)  zuzugeben,  daß  in 
normalen  Fällen  jeder,  der  der  betreffenden  Sprache  mächtig  ist,  ungefähr 
gleich  betonen  wird. 

Eine  zu  große  Verschiedenheit  des  rhythmischen  Flusses  im  Satz  (wie 
etwa  bei  E.  Th.  A.  Hoff  mann,  s.  0.  §  35)  zerstört  die  Einheitlichkeit;  eine 
zu  große  Gleichartigkeit  nähert  den  Satzbau  den  Versen  in  einer  Weise,  die 
nur  an  pathetischen  Stellen  erlaubt  ist.  Die  Prosa  darf  sich  dem  Vers  da 
nähern,  wo  der  reimlose  Vers  in  Reime,  wo  die  gesprochene  Poesie  in 
Musik  aufzugehen  liebt;  besonders  also  auch  an  Szenen-  oder  Aktschlüssen 
und  ähnlichen  „Abgängen";  in  kleineren  Stücken  auch  sonst.*) 

§  72.  Klausel.  Der  Rhythmus  darf  und  soll  also  vorzugsweise  am 
Satzschluß  —  der  ja  immer  ein  ;, Abgang"  ist  —  bemerkbar  werden;  ge- 
rade wie  auch  für  den  Versschluß  im  Hexameter  oder  bei  den  mittelhoch- 
deutschen Epikern  besonders  strenge  Gesetze  gelten.  Daraus  entwickelt 
sich  das  erst  in  neuester  Zeit  sorgfältig  studierte  Gesetz  der  Klausel. s) 
Die  individuelle  Eigenart  des  Satzbaus  verrät  sich  nämlich  in  gewissen 
austönenden  Rhythmen,  wie  denn  Ciceros  „esse  videatar"  durch  alle  Zeiten 
berühmt  blieb.  Die  Franzosen  haben  den  Kadenzen  ebenfalls  stets  Auf- 
merksamkeit zugewandt;  so  findet  man  wieder  im  Journal  des  Goncourt 
Ausrufe  des  Entzückens,  die  lediglich  durch  die  Schlußrhythmen  einzelner 
Sätze  Chateaubriands  veranlaßt  sind.  Aber  bei  uns  hat  fast  einzig  Jean 
Paul  (Vorschule  der  Ästhetik,  §  86)  wirkliche  Beobachtungen  gesammelt. 
Er  spricht  allgemeiner  vom  Rhythmus  der  Prosa:  „Der  große -Haller  ent- 


')  Vgl.  allgemein  Vischer,  Ästhetik  6 
S.  1238  f.,  Minor,  Metrik  S.  1  f. 

2)  Vgl.  darüber  Goldbeck-Löwe,  Zur 
Geschichte  der  freien  Verse  in  der  deutschen 
Dichtung  von  Klopstock  bis  Goethe,  Kiel 
1891 ,  und  besonders  Benoist-Hanappier,  Die 
freien  Rhythmen  in  der  deutschen  Lyrik,  Halle 
1905,  Minor,  Metrik  S.  315  f. 

')  Liddell,  An  Indroduction  to  the  scien- 
tific study  of  English  Poetry,  New-York  1902 
S.  223,  vgl.  S.  185. 


')  Gute  Beispiele  bei  Gerber,  Die  Sprache 
als  Kunst  2,  1,  165,  R.  Hildebrand,  Rhyth- 
mische Bewegung  in  der  Prosa,  Beiträge  zum 
deutschen  Unterricht  S.  386;  parodistische 
Beispiele  bei  Knigge,  Über  Schriftsteller  und 
Schriftsteller,  Hannover  1793  S.  195  f. 

^)  Für  die  lateinische  Prosa:  J.  Wolfe, 
De  Clausulis  Ciceronianis,  Th.  Zielinski, 
Das  Klauselgesetz  bei  Cicero,  Qrundzüge 
einer  oratorischen  Rhythmik,  Leipzig  1904. 


62  Stilistik. 


zückt  in  seinen  Romanen  durch  den  häufigen  Gebrauch  des  Daktylus', 
während  Klinger  oder  Goethe  im  „Egmont"  (wenn  ich  Jean  Pauls  etwas 
dunkelen  Ausdruck  richtig  verstehe:  „läßt  immer  mit  langer  und  kurzer 
Silbe  tönen")  Trochäen  bevorzugen.     Hier  fügt  er  nun  bei: 

Lessings  Prosa  tönt  uns  mit  eigentümlichen  Reizen  an,  zumal  in  den  Schlußfällen. 
Wieland  befriedigt  meist  durch  schönen  Schlußaushalt 

Er  gibt  aber  auch  allgemeine  Regeln  über  die  Klausel: 

Wenige  haben  so  wie  Lessing  die  Tonfälle  der  Periodenschlüsse  berechnet  und 
gesucht.  So  will  das  Ohr  gern  auf  einer  langen  Endsilbe  ruhen  und  wie  in  einem  Hafen 
ankommen.  Ferner  hat  das  Ohr  nicht  sowohl  Einen  Schluß-Trochäus  als  mehre  einander 
entsprechende  Trochäen  lieb.  Erfreulich  sind  die  Trochäen,  durch  welche  die  fünf  Sinne 
das  .zu"  verwerfen  in  .kommen  sehen,  kommen  hören,  kommen  fühlen'.  Kommen 
schmecken  und  kommen  riechen  sagt  man  wenigstens  richtiger  als  kommen  zu  schmecken 
etc.  .Dürfen,  sollen,  lassen,  mögen,  können,  lernen,  lehren,  heißen,  bleiben'  beschließen 
den  zu  kurzen  Zug.  Noch  könnte  man  .gehen,  führen,  laufen,  legen,  finden,  haben,  spüren* 
gelten  lassen  (z.  B.  betteln  gehen  oder  laufen,  spazieren  führen,  schlafen  legen,  einen  essen 
finden,  auf  Zinsen  stehen  haben,  es  kommen  spüren). 

Gruber  findet  den  ersten  und  zweiten  Päon  (-www,  w_v^v^),  den  Kretikus 
(  _  ^  _  ),  den  Anapäst  {  ^  ^  -  )  und  den  lambus  für  die  Prosa  am  schönsten.  Longin 
verwirft  häufige  Pyrrhichien  ( ^-'  >-/ ),  aber  mit  weniger  Recht  auch  viele  Daktjien  und 
Diachoreen  (-  ^  -  -^  ).  Die  letzteren  gebrauchte  Lessing  am  Schlüsse  mit  Reiz:  z.B. 
,die  Goldkörner  bleiben  dir  unverloren';  so  das  Tonwort  , auserkoren'. 

\m  Schlüsse  hört  man,  ist  sonst  alles  gleich,  gern  die  lange  Silbe,  also  den  Ana- 
päst, Spondeus,  lambus,  Diiambus  ( ^>  -  v,  _  ),  den  Choriambus  (  -  ^  ^  -  ).  Dem 
bösen  ,zu  sein  scheint"  —  gerade  kein  Nach-,  sondern  ein  AUßhall  des  esse  \ideatur  — 
sollte  man  wenigstens  das  .sein'  grammatisch  oder  sonst  beschneiden. 

Mehre  Spondeen,  welche  in  der  Prosa  reiner  auftreten  als  in  der  Poesie,  femer 
mehre  Molossen  im  Wechsel  hintereinander  sind  dem  Ohr  ein  schwerer  Steig  bergauf. 
Um  so  schöner  wird  es  gehoben  und  wie  ein  Auge  gefüllt,  wenn  es  nach  einem  dunkeln 
Ahnungschluß  aus  einer  schweren  hartsilbigen  Konstruktion  auf  ein  mühsames  Fort-  und 
Durchwinden  —  und  das  Ohr  ahnet  immer  fort  —  sich  auf  einmal  wie  von  Lüften  leicht 
hinuntergewehet  empfindet,  wenn  z.  B.  nach  einsilbigen  Längen  der  lambe  des  Zeir*'orts, 
oder  der  Bacchius,  oder  auch  der  Amphibrachys  beschließen. 

Ich  füge  einige  Beobachtungen  über  vier  große  Meister  deutscher 
Prosa  hinzu.') 

Lessing  schließt  gern  mit  zwei  starken  Worten  ohne  Pause.  So  in 
der  „Erziehung  des  Menschengeschlechts",  der  höchsten  Blüte  seiner  nach 
Luther  und  vor  Nietzsche  von  keinem  Deutschen  sonst  erreichten  Prosa: 

,!{>  53.  Ein  besserer  Pädagog  muß  kommen  und  dem  Kinde  das  erschöpfte  Elementar- 
buch aus  den  Händen  reißen.  —  Christus  kam. 

iV  100.  Oder,  weil  so  zu  viel  Zeit  für  mich  verloren  gehen  würde?  —  Verloren?  — 
Und  was  habe  ich  denn  zu  versäumen?    /st  nicht  die  ganze  Ewigkeit  mein? 

Goethe  dagegen  läßt  gern  dem  letzten  betonten  Wort  ein  melo- 
disches, aber  tonschwaches  Wort  folgen,  das  den  Nachhall  trägt.  So  in 
den  „Wahlverwandtschaften"  (Weimarer  Ausgabe  20,305):  .einen  Sternen- 
himmel iUfer  die  Erde  bilden";  (ebenda  S.  367,  eine  Kardinalstelle  Goethe- 

')   Gute  Studien  zu   H.  von   Kleists      den  Literaturgeschichte  4,  458. 
Klausel  bei  Fries,  Studien  zur  vergleichen- 


Sechstes  Kapitel.    Der  Satz  in  formeller  Hinsicht.  63 


scher  Prosa  überhaupt):  „An  mich  darf  in  diesem  Augenblicke  nicht  ge- 
dacht werden",  (S.  380):  sie  gab  Charlotten  das  Wort,  das  sie  sich  schon 
selbst  gegeben  hatte",  (S.  382):  „es  war  nichts  zu  besorgen". 

Schiller  stellt  das  höchstbetoiite  Wort  gern  nach  längerer  Vorberei- 
tung allein  auf  den  Gipfel.  Beispiele  aus  „Anmut  und  Würde"  (Goedekes 
Ausgabe  S.  10):  „die  schöne  Seele  geht  ins  Heroische  über  und  erhebt 
sich  zur  reinen  Intelligenz"  (S.  110),  „angezogen  als  Geister,  zurück- 
gelassen als  sinnliche  Naturen  (S.  118),  „und  empfinden  nichts  als  die 
schwere  Bürde  unsers  eignen  Daseins"  (S.  122). 

Nietzsche  schließt  am  liebsten,  wie  Lessing,  mit  zwei  hochbetonten 
Worten,  die  er  aber  im  Gegensatz  zu  diesem  gern  durch  ein  tonloses  trennt. 
(„Also  sprach  Zarathustra",  Werke  6,  259): 

Ungeduldig  warte  ich  da,  daß  mir  endlich  der  lichte  Himmel  aufgehe,  der  schnee- 
bärtige Winter-Himmel,  der  Greis  und  Weißkopf. 

(S.  286)  aber  doch  ein  großer  Trost  für  verschlagene  Seh  iffe  rund  Seh  iffb  riich  ige. 

Häufig  daher  satzschließende  Formeln  wie:  „der  Ring  der  Wieder- 
kunft" (S.  337),  „die  Rache  am  Zeugen". 

Die  Unterschiede  sind  wohl  charakteristisch  für  den  Syllogisten,  der 
sein  Gewölbe  mit  zusammengeschobenen  Schlußsteinen  deckt;  den  Lyriker, 
der  auch  seine  Dramen  gern  harmonisch  austönen  läßt  (der  Schluß  des 
„Egmont"  ist  nur  Eine  große  „Klausel"  dieser  Art);  den  pathetischen  Drama- 
tiker, den  ein  wohl  vorbereiteter  Effekt  beglückt;  den  philosophischen 
Künstler,  der  sich  im  Abwägen  gefällt.  Aber  wie  so  ganz  stehen  wir  noch 
in  den  Anfängen  einer  Kenntnis  der  Kunstmittel  unserer  Prosa! 

§73.  Melodie.  Am  Satzende  kommt  ebenfalls  die  Melodie  des  Satzes 
vorzugsweise  zur  Geltung.  Sie  wird  vor  allem  durch  die  Vokale  der  letzten 
Silben  bedingt;  so  gibt  es  schon  im  Minnesang  Dichter,  die  helle,  und 
andere,  die  dunkle  Endvokale  im  Reim  begünstigen.  Von  hier  ist  dann 
Sievers  zu  seinen  aufregenden  Beobachtungen  und  Behauptungen  über 
Sprachmelodie  überhaupt  aufgestiegen,  i)  deren  weitere  Bewährung  zu  er- 
warten ist.  Im  allgemeinen  Sinne  übrigens  fällt  die  Melodie  mit  dem  Rhyth- 
mus für  die  Prosa  nahezu  zusammen. 

§74.  Tempo.  Über  das  Tempo  hat  am  besten  Mündt  („Kunstjder 
deutschen  Prosa",  S.  105)  gehandelt: 

.Die  innere  Tonart  einer  jeden  Darstellung,  die  aus  der  melodiegebenden  Seele  des 
Inhaltes  entspringt,  muß  vornehmlich  die  Satzbildung  als  das  Notwendige  bedingen.  Es 
gibt  langsame  und  schnelle  Tonarten  des  Gedankens.  Im  ersteren  Falle  finden  sich  ge- 
haltene, künstlichere  und  verschlungene  Periodenreihen  ein,  das  Epische  und  Pathetische 
herrscht  vor;  im  anderen  kürzere,  gedrängte,  schlagfertige  mit  wenigstem  Zwischensatz, 
ein  drastischer  Effekt  wird  erstrebt.  Beiderlei  Tonarten  werden  sich  fast  in  jeder  Dar- 
stellung nebeneinander  geltend  machen,  obwohl  von  der  organischen  Verschiedenheit  der 
Sprachen  abhängig  und  bedingt.    Der  gesellschaftliche  Charakter  der  französischen  Sprache, 

')  Sievers,  Über  Sprachmelodisches  in      über  Melodie  in  gefügter  Sprache  z.  B.  bei 
der  deutschen  Dichtung,  Rektoratsprogramm,      Raleigh,  Style  S.  14. 
Leipzig  1901. —  Allgemeinere  Betrachtungen 


64  Stilistik. 


ihre  praktische  Lebendigkeit  haben  darin  vornehmlich  die  kürzere,  im  raschen  Moment 
wirkende  Satzbildung  begünstigt,  weitumsehende  Periodenverwickelung  duldet  der  ge- 
sprochene Ausdruck  der  ganzen  Darstellung  nicht.  Die  deutsche  Sprache,  weil  sie  mehr 
eine  geschriebene  ist,  neigt  schon  dadurch  zu  einer  größeren  Verschlungenheit,  einer  über- 
legten und  planmäßigen  Periodisierung  hin.  Ist  der  französische  Satz  ein  leichtgebildeter 
Weltmann,  so  ist  der  deutsche  Periodenbau  ein  geistreicher  Sonderling,  dem  auf  seinem 
Gesicht  ein  einsames  und  vielfältiges  Brüten  steht.  In  demjenigen  Stil  aber,  der  nur  vom 
Gedanken  beherrscht  wird,  kann  die  allzu  komplizierte  und  gelehrte  Periodenlagerung,  der 
auch  auf  der  gegenwärtigen  Stufe  der  deutschen  Sprache  viel  organisch  Hinderliches 
entgegensteht,  fortan  kein  gültiger  Schematismus  mehr  sein,  eben  weil  sie  nichts  ist  als 
ein  Schematismus.  Einige  Worte  des  Grafen  Schlabrendorf,  in  seinen  Bemerkungen  über 
die  Sprache,  bezeichnen  den  allgemeinen  Unterschied  zwischen  französischer  und  deutscher 
Satzbildung  sehr  treffend  auf  folgende  Weise:  .Die  Kürze  der  französischen  Perioden  hat 
den  Vorteil,  daß  sie  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  oder  Hörers,  ohne  ihn  lange  warten 
zu  lassen,  fast  ebenso  schnell  befriedigt  als  erregt.  Der  Franzose  fordert  Klarheit.  Da 
sich  ihm  ein  größeres  Ganzes  nicht  überschaulich  darbietet,  ein  zu  mächtiger  Bissen  seine 
Ungeduld  reizt,  hilft  ihm  die  Sprache  und  gibt  ihm  die  Sache  teelöffelweis.  Die  längeren 
deutschen  Perioden  fügen  sich  der  Wißbegier  des  Hörers  nicht  so  gefällig;  aber  sie  haben 
den  Vorteil,  indem  sie  die  Aufmerksamkeit  festhalten,  das  Nachdenken  zu  vergrößern,  und 
im  gleichzeitigen  Zusammenfall  mehrerer  Gedanken  einen  Gesamtgedanken  zu  erzeugen, 
dessen  der  Franzose  entbehrt.  Ich  möchte  sagen,  im  Genius  der  deutschen  Sprache  waltet, 
um  ein  Bild  von  der  Musik  zu  entlehnen,  mehr  die  Harmonie  vorwaltend;  im  Genius  der 
französischen  die  Melodie.' 

§  75.  Ausdehnung.  Das  Tempo  verrät  sich  äußerlich  in  der  Länge 
der  Sätze.  Freilich  nicht  allein;  die  schweren,  gedankenvollen  kurzen  Sätze 
eines  Tacitus  sind  sicherlich  langsam  zu  lesen,  die  hastig  hervorgespru- 
delten Perioden  etwa  des  Riccaut  de  la  Marliniere  in  Lessings  „Minna" 
wollen  rasch  vorgetragen  sein.  Immerhin  werden  aber  im  allgemeinen 
kürzere  Sätze  rascher  gelesen  werden  als  verwickelte  Perioden. 

In  der  Ausdehnung  der  Sätze  (B.mn,  Rhetoric  I,  84)  wechseln  die 
Moden.  Nachdem  Lessing  die  kurzen,  prägnanten  Sätze  französischer  Art 
an  Stelle  der  labyrinthischen  Gebäude  deutscher  Gelehrter  gesetzt  hat,  bil- 
deten unsere  Klassiker  ein  schönes  Gleichmaß  aus.  Je.\.\  Paul  (Vorschule 
§  85)  empfahl  wieder  die  Ausdehnung: 

„Zur  Achtung  gegen  den  Leser  gehört  ferner  weit  mehr  Ein  langer  Periode  als 
zwanzig  kurze.  Den  letztern  muß  er  zuletzt  doch  selber  zu  Einem  umschaffen  durch 
Wiederlesen  und  Wiederholen.  Der  Schreiber  ist  kein  Sprecher,  und  der  Leser  kein  Zu- 
hörer; und  deshalb  darf  der  langsame  Schreiber  schon  dem  langsamen  Leser  so  aus- 
gedehnte Perioden  vorgeben  als  Cicero  der  Feuerredner  einem  Feuer\'olke:  und  ich  führe 
von  ihm  nur  den  seitenlangen  und  doch  lichtvollen  Perioden  aus  der  Rede  für  den  Archias 
von  sed  ne  cui  vestnim  bis  genere  dicendi  an,  dessen  auch  im  Ramlerschen  Batteux  ge- 
dacht wird.  Die  Alten,  die  Engländer,  die  früheren  Deutschen  ließen  großgebaute  Perioden 
wachsen,  nur  die  Zeiten  fallenden  Geschmacks  (z.  B.  unter  den  Römern)  und  die  des 
kleinlichen  unter  den  Franzosen  und  den  Gellerte-Rabenern  verästelten  den  erhabenen 
Stamm  in  Weidenrütchen.  Was  ist  ein  Rabenersches  Perioden-hach6  gegen  einen  Liskov- 
schen  roast-beef?" 

Aber  Jean  Paul  kämpfte  bereits  gegen  seine  Zeit.  In  der  Idee  der 
„Behaglichkeit"  sah  Wienbarq  (Ästhetische  Feldzüge  S.  297)  das  Merk- 
mal, das  die  neuere  deutsche  Prosa  seit  Heine  von  der  älteren  unterscheide; 


Sechstes  Kapitel.   Der  Satz  in  formeller  Hinsicht.  65 

und  erst  seit  mit  Heine  sich  „die  neueste  Lyrik  dem  Numerus  der  Prosa 
angenähert  habe",  schien  seinem  jungdeutschen  Genossen  Th.  Mundt 
(Kunst  der  deutschen  Prosa  S.  49  f.)  die  Emanzipation  der  deutschen  Prosa 
im  Durchbrechen  begriffen.  Denn  die  Annäherung  der  Lyrii<  und  der  Prosa 
an  die  ]<urzatmige  Alitagrede  hat  wirklich  als  ein  Mittel  zu  gelten,  durch 
das  beide  sich  verjüngt  haben:  von  hier  aus  fand  das  Gedicht  einen  neuen 
Anschluß  an  die  Musik,  die  Prosa  an  die  mündliche  Beredsamkeit.  Der 
Einfluß  der  nach  den  Freiheitskriegen  wieder  neu  erwachenden,  durch 
Schleiermacher,  Fichte,  Arndt  in  die  Prosa  eingeführten  Beredsamkeit 
hat  zur  Verkürzung  der  Sätze  vielleicht  noch  mehr  beigetragen  als  das  Feuille- 
ton, das  man  dafür  allein  verantwortlich  zu  machen  pflegt.  Rasch  sprechen, 
rasch  lesen  ward  die  Losung.    Daher  die  neue  Vorliebe  für  kurze  Sätze. 

Doch  ist  das  zugleich  ein  typisches  Zeichen  der  Entwicklung.  Der 
Amerikaner  Sherman  (Analytics  of  Literature,  Boston  1901)  hat  mit  unglaub- 
lichem Fleiß  eine  Statistik  über  englische  Satzlängen  aufgemacht.  Er  stellt 
(S.  263  f.)  eine  bedeutende  Abnahme  derselben  fest.  In  der  englischen 
Renaissance  stehen  60 — 70  Worte  in  einem  Satz,  dagegen  bei  Macaulay 
20,  bei  Emerson  11  (S.  259).  Durchschnittlich  enthält  die  „History  of 
England",  Macaulays  berühmtes  Hauptwerk,  23,43  (also  zwischen  23  und 
24)  Worte  in  einem  Satz  (S.  261  Anm.).  Sätze,  die  im  16.  oder  17.  Jahr- 
hundert durch  „und"  verknüpft  werden  (S.  269  L),  werden  später  neben- 
einandergestellt (S.  279);  ganze  Sätze,  wie  „nachdem  ich  zurückgekehrt 
war*",  zu  den  Worten  „nach  meiner  Rückkehr"  verdichtet  (S.  299).  Natür- 
lich bleiben  Unterschiede,  selbst  bei  demselben  Autor,  z.  B.  zwischen  ver- 
schiedenen Essays  Macaulays  (S.  298,  anschauliche  graphische  Tabellen 
S.  284,  285,  288);  aber  die  Tendenz  zur  Satzverkürzung  bleibt  unzweifelhaft 
bestehen. 

Fraglich  ist  nur,  ob  diese  Tendenz  bei  uns  nicht  schon  ihren  Höhe- 
punkt überschritten  hat.  Um  sich  von  den  starken  Tradition  des  „Buches" 
zu  befreien,  mußte  die  Prosa,  wie  die  Lyrik,  sich  wieder  der  mündlichen 
Rede  nähern;  nun  aber,  befreit,  darf  sie  sich  wieder  freierer  Entfaltung  ihrer 
eignen  Art  freuen.  Wilhelm  Scherer  schulte  seinen  Stil  an  Macaulays 
kurzen  Sätzen,  die  Historiker  seiner  Zeit  an  Rankes  einfachem  Satzbau; 
heut  wird  aber  Nietzsche  mit  seinen  oft  weiträumigen,  aber  hellen  Perioden, 
und  daneben  auch  wieder  die  etwas  kunstvolle  Technik  Goethes  als  Muster 
dienen.  In  den  affektierten  Extraktsätzchen  eines  Peter  Altenberg  hat 
die  übertriebene  Satzverengung  sich  ad  absurdum  getrieben;  und  Redner 
von  rascher  Schlagkraft  wie  Fürst  Bismarck  haben  wir  nicht  mehr:  die 
Prosa  ist  „emanzipiert"  und  kann  einer  großen  Entwicklung  entgegen- 
hoffen. (Über  den  Wert  der  Perioden  lateinischen  Stils  spricht  geistreich 
Th.  Zielinski,  Die  Antike  und  "wir,  Leipzig  1905  S.  41.) 

§  76.  Numerus  im  engern  Sinn.  Wir  kommen  endlich  zu  dem  Numerus 
selbst.     Ausführlicher  hat  ihn  —  unter  der  Benennung  „Rhythmus"  freilich 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  1.  5 


66  Stilistik. 


—  der  Romantiker  Bernhardi  am  Schluß  seiner  „Sprachlehre"  (2,  438)  er- 
örtert. Sehr  treffend  hebt  er  hervor,  daß  der  „Rhythmus  der  Periode" 
nicht,  wie  der  der  Verse,  die  einzelnen  Worte  zerstören,  den  Abschnitt 
hinter  jedem  von  ihnen  aufheben  dürfe;  „sondern  ein  jedes  einzelne  Wort 
muß,  als  den  Satz  bildend,  als  wesentlicher  Teil  der  Verstandesdarstellung 
rein  und  klar  hervortreten".  Das  Element  der  Periode  „ist  nicht  die  Silbe, 
sondern  das  einzelne  Wort".  Wenn  aber  Bernhardi  nun  mit  der  unter 
den  Romantikern  herrschenden  Analogiespielerei  das  Subjekt  für  die  Arsis, 
seinen  Artikel  für  den  Auftakt,  das  Prädikat  für  die  Thesis  und  die  Kopula 
für  die  —  Cäsur  der  Periode  erklärt  (S.  439,  vgl.  442;  besser  Wackernagel 
S.  366:  Vordersatz  Hebung,  Nachsatz  Senkung,  was  doch  aber  auch  nicht 
immer  stimmt),  so  ist  mit  diesen  Tüfteleien  wenig  anzufangen.  Das  Er- 
gebnis aber,  das  er  daraus  zieht,  ist  an  sich  nicht  unrichtig:  die  Hauptteile 
des  Satzes  müssen  in  einem  ungefähren  Gleichgewicht  stehen. 

Das  ist  die  allgemeine  Forderung.  Für  ihre  spezielle  Durchführung 
bleiben  hundert  Möglichkeiten.  Die  Amerikaner  sind  uns  hier  wieder  in 
dem  Studium  der  Morphologie  voraus.  Ewald  A.  Boucke  hat')  inter- 
essante „types  of  sentence  structure"  gegeben  und  diese  Typen  des  Satz- 
baus durch  Satzbilder  (S.  393  f.)  illustriert,  die  die  Verteilung  des  Gedanken- 
inhalts auf  die  Periode  andeuten;  doch  sind  auch  die  viel  einfacheren  Satz- 
bilder in  Kerns  Grundriß  der  deutschen  Satzlehre  (2.  Aufl.  Berlin  1885,  S.  30  f.) 
geeignet,  von  der  Verschiedenheit  des  Numerus  selbst  im  einfachen  Satz 
eine  Anschauung  zu  geben.  —  Die  genauen  Analysen  englischer  Rhythmen 
bei  LiDDEL  (a.  a.  O.  S.  239  f. )  können  auch  für  die  Anatomie  des  Numerus 
propädeutisch  benutzt  werden. 

Allgemeine  Charakteristiken,  wie  sie  etwa  Philippi  (Kunst  der  Rede 
S.  215  f.)  von  der  lateinischen,  französischen  und  deutschen  Satzbildung, 
Wienbaro  (Ästhetische  Feldzüge  S.  292  f.)  von  dem  Satzbau  Goethes,  Jean 
Pauls,  Börnes,  Heines  bietet,  geben  doch  immer  mehr  von  dem  gesamten 
Eindruck  des  Stils  jener  Sprachen  und  Schriftsteller  als  speziell  von  ihrem 
Numerus  eine  Vorstellung.  Eher  führen  schon  die  Betrachtungen  über  die 
Klausel  dahin:  wir  deuteten  es  schon  an,  daß  an  dieser  empfindlichsten 
Stelle  die  Eigenheit  des  Satzbaues  überhaupt  sich  gleichsam  konzentriert 
zeigen  wird. 

So  ist  es  denn  wohl  auch.  Gliederung  der  Sätze,  Wortmaterial  und 
Pausen  erklärten  wir  für  die  Fakioren  des  Numerus.  Wir  fanden  bei 
den  vier  Schriftstellern,  deren  Kadenzen  wir  —  freihch  nicht  auf  Grund 
statistischer  Prüfung,  sondern  lediglich  nach  subjektivem  Ermessen  —  heraus- 
griffen und  analysierten,  verschiedene  Behandlung  der  Pause:  Lessing 
stellt  die  Schlußworte  gern  unmittelbar  nebeneinander,  Nietzsche  trennt 
sie  durch  ein  schwaches  Glied.    Wir  finden  verschiedene  Handhabung  des 


')  Journal  of  Germanic  Philology  4,  389  f. 


Sechstes  Kapitel.   Der  Satz  in  formeller  Hinsicht.  67 

Wortvorrats:  Schiller  schließt  gern  mit  abstrai<ten  Substantiven,  Goethe 
mit  konkreten  Verben,  Nietzsche  mit  symbolischen,  aber  konkreten  Sub- 
stantiven. Wir  sehen  schon  damit  die  Klausel  individuell  gegliedert  —  was 
hier  eng  mit  der  Behandlung  der  Pause  zusammenhängt:  bei  Lessing 
Gleichgewicht,  bei  G o e t h e  Aufsteigen  mit  schwächerem  Abstieg,  bei  S c h ill e r 
steiler  Aufstieg,  bei  Nietzsche  wieder  Gleichgewicht,  doch  so,  daß  sich 
die  Klausel  selbst  bei  Lessing  stärker  als  bei  ihm  abhebt.  Also:  alle  Fak- 
toren des  Numerus  sind  bei  der  Klausel  am  Werk.  Mit  geringem  Fehler 
können  wir  diese  als  das  verkleinerte  Abbild  und  Modell  der  ganzen 
Periode,  als  den  Schlüssel  des  Numerus  ansehen.  Wie  die  Klausel,  so 
der  Satz. 

Und  so  verhält  es  sich  im  wesentlichen.  Bei  Lessing  leichte  Vor- 
bereitung auf  eine  blitzartig  hervorschießende,  in  schöner,  gleichmäßig  auf- 
geteilter Kurve  abrollende  Kadenz.  Leichte  Vorbereitung:  kurze  Sätze; 
einfache  Worte;  übersichtlich  gliedernde,  nicht  sparsam  verteilte  Inter- 
punktion; die  einzelnen  Satzteile  in  wohlberechnetem  Gleichgewicht,  damit 
keiner  die  Wirkung  voraus  nimmt,  alle  sie  tragen.  Blitzartig  hervor- 
schießende Kadenz  —  deshalb  der  Schluß  nie  schwer,  aber  gern  mit  einem 
auffallenden,  sich  einprägenden,  sich  abhebenden,  aufleuchtenden  Wort. 
Gleichmäßig  aufgeteilte  Kadenz:  deshalb  immer  mit  zwei  hochbetonten 
Worten  in  naher  Gesellschaft. 

Fünfter  Anti-Goeze,  Anfang  (Ausgabe  von  Fr.  Muncker  18,  167):  „O  glückliche 
Zeiten,  da  die  Geistlichkeit  noch  alles  in  allem  war,  —  für  uns  dachte  und  für  uns  aß! 
Wie  gern  brächte  euch  der  Herr  Hauptpastor  im  Triumphe  wieder  zurück!  Wie  gern 
möchte  er.  daß  sich  Deutschlands  Regenten  zu  dieser  heilsamen  Absicht  mit  ihm  ver- 
einigten! Er  predigt  ihnen  süß  und  sauer,  er  stellt  ihnen  Himmel  und  Hölle  vor.  Nun, 
wenn  sie  nicht  hören  wollen:  so  mögen  sie  fühlen.  Witz  und  Landessprache  sind  die 
Mistbeete,  in  welchen  der  Same  der  Rebellion  so  gern  und  so  geschwind  reiffet.  Heute 
ein  Dichter:  morgen  ein  Königsmörder.  Clement,  Ravaillac,  Damiens  sind  nicht  in  den 
Beichtstühlen,  sind  auf  dem  Parnasse  gebildet." 

Ähnlich,  wenn  auch  nicht  ganz  so  ausgeprägt,  in  mehr  lehrhafter 
Prosa: 

Von  dem  Zwecke  Jesu  und  seiner  Jünger  (ebenda  S.  255).  Nun  wird  nicht  schwer 
sein,  den  wahren  Verstand  der  Taufformel  einzusehen,  wenn  ja  die  Proselyti  des  Messias 
der  Juden  auf  den  Namen  des  Vaters,  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  haben  sollen 
getauft  werden. 

Bei  Goethe  der  ganze  Satz  durchkomponiert  zu  schönem  Gleichmaß, 
jeder  Teil  mit  seiner  ausgebildeten  Klausel,  in  der  Mitte  des  Satzes  eine 
sanfte  Anhöhe.  Durchkomponiert:  deshalb  verschlungenere  Perioden  mit 
sorgfältiger  Verteilung  der  Worte.  In  schönem  Gleichmaß  gebildet:  deshalb 
gleichmäßige  Wahl  der  Worte  durch  den  ganzen  Satz,  alle  in  mittlerer 
Entfernung  von  dem  Trivialen  und  von  dem  Gesuchten.  In  der  Mitte  eine 
sanfte  Anhöhe:  der  Klausel  selbst  also  nicht,  wie  bei  Lessing  und  Schiller, 
das  eigentliche  Kleinod  anvertraut,  sondern  nur  die  Wiederordnung  des 
erregten  Gemüts. 

5* 


68  Stilistik. 


Leiden    des   jungen   Werthers    (Weimar.  Ausgabe  19,  121):    .Man   möchte  rasend 
werden.  Wilhelm,  daß  es  Menschen  geben  soll  ohne  Sinn  und  Gefühl  an  dem  wenigen, 
was  auf  Erden  noch  einen  Wert  hat.    Du  kennst  die  Nußbäume,   unter  denen  ich  bei 
dem  ehrlichen  Pfarrer  zu  St.  mit  Lotten  gesessen,  die  herrlichen  Nußbäume!  die  mich 
Gott  weiß,  immer  mit  dem  größten  Seelenvergnügen  füllten.' 

Ähnlich,  nur  weniger  ausgeprägt,  in  lehrhafter  Prosa: 

Zur  Farbenlehre.  Historischer  Teil  (ebenda  II.  Abt.,  3,  141):  .Plato  verhält  sich  zu 
der  Welt,  wie  ein  seliger  Geist,  dem  es  beliebt,  einige  Zeit  auf  ihr  zu  herbergen.  Es 
ist  ihm  nicht  sowohl  darum  zu  tun,  sie  kennen  zu  lernen,  weil  er  sie  schon  voraussetzt 
als  ihr  dasjenige,  was  er  mitbringt  und  was  ihr  so  not  tut,  freundlich  mitzuteilen.  Er 
dringt  in  die  Tiefen,  mehr  um  sie  mit  seinem  Wesen  auszufüllen,  als  um  sie  zu  er- 
forschen. Er  bewegt  sich  nach  der  Höhe,  mit  Sehnsucht,  seines  Ursprungs  wieder  teil- 
haft zu  werden.  Alles  was  er  äußert,  bezieht  sich  auf  ein  ewig  Ganzes,  Gutes,  Wahres, 
Schönes,  dessen  Forderung  er  in  jedem  Busen  aufzuregen  strebt.  Was  er  sich  im  ein- 
zelnen von  irdischem  Wissen  zueignet,  schmilzt,  ja  man  kann  sagen  verdampft  in 
seiner  Methode,  in  seinem  Vortrag." 

Bei  Schiller  dramatisch  bewegte  Vorbereitung  auf  einen  starken 
Schluß;  Aufsteigen,  das  kurz  vor  dem  Gipfel  durch  eine  Retardation  noch 
in  seiner  Wirksamkeit  gesteigert  wird.  Dramatisch  bewegt:  deshalb  jeder 
Satzteil  aufsteigend.  Vorbereitung  auf  den  Schluß:  gleichmäßige  Haltung 
des  Wortvorrats,  die  aber  doch  das  dem  Sinn  oder  Laut  nach  stärkste  Wort 
aufspart.  Aufsteigen:  lange  Sätze  wie  große  Schritte,  nicht  allzu  viel  Inter- 
punktion, gleichsam  nur  eben  zum  Atemholen. 

Kabale  und  Liebe  2.  Akt  2.  Szene  (Qoedekes  Ausgabe  3,  393) :  .Es  traten  wohl  so 
etliche  vorlaute  Bursch  vor  die  Front  heraus,  und  fragten  den  Obersten,  wie  teuer  der 
Fürst  das  Joch  Menschen  verkaufe?  —  aber  unser  gnädigster  Landesherr  ließ  alle  Re- 
gimenter auf  dem  Paradeplatz  aufmarschieren,  und  die  Maulaffen  niederschießen.  Wir 
hörten  die  Büchsen  knallen,  sahen  ihr  Gehirn  auf  das  Pflaster  spritzen,  und  die  ganze 
Armee  schrie:  Juchhe  nach  Amerika!' 

Bei  mehr  lehrhafter  Prosa  ähnlich,  nur  der  Schluß  leichter  abgehoben. 
In  rhetorisch  bewegten  Partien  die  kühnsten  Verschlingungen  zu  einem 
dramatisch  wirkenden  Aufstieg: 

Antrittsrede  in  Jena  (ebenda  9,  88):  .Wie  viele  Schöpfungen  der  Kunst,  wie  viele 
Wunder  des  Fleißes,  welches  Licht  in  allen  Feldern  des  Wissens,  seitdem  der  Mensch  in 
der  traurigen  Selbstverteidigung  seine  Kräfte  nicht  mehr  unnütz  verzehrt,  seitdem  es 
in  seine  Willkür  gestellt  worden,  sich  mit  der  Not  abzufinden,  der  er  nie  ganz  entfliehen 
soll,  seitdem  er  das  kostbare  Vorrecht  errungen  hat,  über  seine  Fähigkeit  frei  zu  ge- 
bieten, und  dem  Ruf  seines  Genius  zu  folgen!' 


Satzbild: 


Die  drei  ersten  Sätzchen  gleichsam  E.xposition;  dann  durch  zwei  Ak-te 
vorbereitet  ein  starkes  Aufsteigen:  „der  er  nie  ganz  entfliehen  soll'  — 
Abstrakta  am  Schluß;  nochmals  ein  vierter  Akt  vorbereitend  und  ein  letztes 
höheres  Steigen  zum  Gipfel:  „dem  Ruf  seines  Genius  zu  folgen"  (ab- 
straktes Substantiv  mit  Schleppe). 


Sechstes  Kapitel.   Der  Satz  in  formeller  Hinsicht.  69 

Bei  Nietzsche  die  harmonische  Durchbildung  Goethes  mit  dem 
starken  Schluß  Lessings  vereint:  kunstvolle  Perioden,  jeder  Satzteil  mit 
Abklang;  Interpunktion  nicht  so  häufig  wie  bei  Lessing,  nicht  so  sparsam 
wie  bei  Schiller;  unmerklicher  Aufstieg  zu  einem  breiten  Aussichtsplateau. 

. Morgenröte ■  (Werke  4,  245):  .Es  waren  Fremde,  aber  sie  haben  aufgehört,  es  zu 
sein,  und  sie  knüpften  von  beiden  Seiten  zugleich  ihre  Freundschaft  an,  der  eine,  weil  er 
sich  zu  sehr  verkannt  glaubte,  der  andere,  weil  er  sich  zu  sehr  erkannt  glaubte  —  und 
beide  haben  sich  dabei  getäuscht  —  denn  jeder  von  ihnen  kannte  sich  selber  nicht  genug.' 


Satzbild: 


Exposition  —  erster  Akt  in  zwei  Satzteilchen,  zweiter  etwas  größer,  zwei 
parallele  aufsteigende  Sätzchen,  Abklang,  neuer  stärker  aufsteigender  Satz 
mit  Pause  zwischen  den  Gipfelworten;  ziemhch  gleichmäßiges  Niveau:  der 
Aufstieg  nicht  steil  wie  bei  Schiller. 

In  mehr  lyrischer  Prosa  ähnlich,  aber  in  kürzeren,  vers-ähnlicheren 
Gebilden: 

Zarathustia  (Werke  6,  255):  .Daß  mir  niemand  in  meinen  Grund  und  letzten  Willen 
hinabsehe  —  dazu  erfand  ich  mir  das  lange  lichte  Schweigen.' 

Besonders  bezeichnend  also  für  Nietzsches  Numerus:  erstens  Inder 
Periode  zwei  Höhepunkte:  der  erste  in  der  Mitte,  der  andere  am  Schluß; 
zweitens  die  breite  ausladende  Kadenz  mit  zwei  (oder  wie  im  obigen  Bei- 
spiel gar  drei)  Hochtonworten. 

Dies  sind  freilich  zunächst  nur  Winke,  Andeutungen  für  genaueres 
Studium.!) 

§  77.  Regeln.  Da  wir  über  den  Numerus,  die  eigentliche  Kernfrage 
der  Stillehre,  noch  so  wenig  wissen,  lassen  sich  Regeln  über  den  Satzbau 
kaum  geben.  Versucht  hat  es  der  geschickte  Empiriker  Albalat  (L'art 
d'ecrire  S.  139  f.)  und  ein  Jahrhundert  vor  ihm  in  einer  Fülle  einzelner 
Vorschriften  (z.  B.  über  die  Behandlung  der  Relativpronomina  u.  dgl.)  der 
geistreiche  Schotte  Blair  (Lectures  on  rhetoric  and  belles  lettres;  London, 
8  ed.,  1801,  Bl.  237  f.);  aber  schließlich  wird  jede  Stilistik  wie  Raleiohs 
anregendes  Buch  (Style  S.  124  f.)  in  das  Bekenntnis  auslaufen:  „Stil  kann 
nicht  gelehrt  werden.  Nachahmung  der  Meister,  oder  eines  erwählten  Meisters, 
und  das  beständige  Durchsieben  der  Sprache  in  strenger  Selbstkritik  leisten 
Dienste,  und  nicht  gering  zu  schätzende;  aber  Gefahren  hat  das  auch.  Der 
zweite  Teil   von    allem,   was    „stilistischer  Unterricht"    heißt,   muß   immer 

M  Für  solche  Analysen  findet  man  wieder  Bain,   Rhetoric   and   Composition    1,   55  f. 

die  beste  Anleitung  in  englisch  geschriebenen  Weniger  geben  gerade  hierfür  deutsche  Lehr- 

Büchem,  vor  allem  bei  Brewster,   Studies  bücher;   zu   empfehlen   ist  noch  am  ersten 

instructureandstjle(New-Yorkl903,S.  188f.l,  V'OCKERADT,   Das   Studium    des    deutschen 

und  in  den  .Suggestion  to  the  teacher'  der  Stils  an  stilistischen  Musterstücken,  Pader- 

Anmerkungen   bei  Sher.>\an.    Allgemeiner,  born  1899. 
aber  wertvoll  sind  die  Untersuchungen  von  j 


70  Stilistik. 


negativ  sein;  schlechte  Gewohnheiten  kann  man  ablegen  und  schlechte 
Künste  sich  verbieten."  Mehr  läßt  sich  auch  für  diese  formale  Seite  des 
Satzbaus  kaum  sagen.  Man  beobachte  seine  eigene  Art  und  bilde  sie  aus. 
Man  suche  ein  gewisses  Gleichgewicht  der  Periodenteile,  der  „Kommata", 
zu  erreichen,  zunächst  durch  das  mehr  äußerliche  Mittel  der  Wort-  und 
Silbenzählung,  dann  durch  das  feinere  des  Abwägens  der  Tonworte.  Man 
lerne  an  den  Meistern  das  Verhältnis  der  Klausel  zur  Periode,  den  Unter- 
schied der  Gattungen  (rein  lehrhafte,  erzählende,  dichterische  Prosa  u.  dgl.). 
Vor  allem:  man  lese  laut,  lese  sich  vor,  lese  andern  vor;  und  man  erfrische 
an  dem  Beispiel  großer  unermüdlicher  Arbeiten  (wie  es  für  Frankreich  Abel, 
Le  labeur  de  la  prose,  Paris  1903,  vortrefflich  illustriert  hat)  die  versagende 
Ausdauer  zu  immer  reinerer  Ausarbeitung  der  Struktur.  Denn  wir  leben 
in  einer  Zeit,  in  der  es  auch  kleineren  Talenten  gegönnt  sein  kann,  auf 
die  Entwicklung  einer  neuen  Kunst  der  Prosa  durch  gutes  Beispiel  Einfluß 
zu  gewinnen! 

Allgemeine  Vorschriften  über  die  „Überschaulichkeit"  gibt  Wacker- 
nagel (S.  346  f.),  wobei  er  als  äußere  Hilfen  1.  die  Hervorhebung  eines 
einzelnen  Gliedes  (S.  346),  2.  das  Ebenmaß  des  Gliedes  (S.  530)  hervorhebt. 

Siebentes   Kapitel. 
Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht. 

§  78.  Forderungen  an  den  Satz.  Der  Satz  ist,  wie  SChon  ausgeführt, 
für  die  Stilistik  nichts  anderes  als:  ein  an  sich  vollkommen  verständliches 
Stück  menschlicher  Rede  (vgl.  oben  §  66).  Hieraus  lassen  sich  alle  For- 
derungen für  seine  inhaltliche  Gestaltung  ableiten. 

Der  Satz  ist  ein  an  sich  verständliches  Stück  menschlicher  Rede: 
daraus  folgt  der  Begriff  der  Einheitlichkeit;  er  wäre  kein  abgeschlossenes 
Stück,  wenn  er  nicht  eben  eins  wäre.  Ein  vollkommen  verständliches 
Stück:  daraus  folgt  der  Begriff  der  Vollständigkeit;  er  wäre  nicht  an  sich 
verständlich,  wenn  außer  ihm  liegende  Hilfen  erforderiich  wären. 

Die  erste  Forderung  bezieht  sich  auf  das  Innere  des  Satzes,  auf  das 
Verhältnis  seiner  Teile;  die  zweite  auf  das  Äußere,  auf  sein  Verhältnis  zu 
der  übrigen  Rede.  Weitere  Forderungen  sind  an  den  Satz  in  inhaltlicher 
Hinsicht  nicht  zu  stellen. 

§  79.  Einheit.  Die  Forderung  der  Einheit  wird  von  Baix  (1,85,  vgl. 
112)  wie  folgt  definiert:  „Unter  Einheit  verstehen  wir,  daß  jeder  Teil  des 
Satzes  einer  hauptsächlichen  Aussage  dienen  soll."  Diese  Forderung  ist 
vorzugsweise  auch  von  den  Engländern  begründet  und  ausgeführt  worden 
und  Blair  (a.a.O.  1,  252)  hat  den  hübschen  Ausdruck  dafür  gefunden:  „Im 
Lauf  eines  Satzes  sollte  die  Szene  so  wenig  als  möglich  verändert  werden" 
—  ein  Gedanke,  den  Mundt  (Kunst  der  Prosa  S.  112  f.)  mit  Geschick  be- 
nutzt hat. 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht.  71 

In  diesem  bildlichen  Ausdrack  ist  bereits  angedeutet,  daß  eine  ab- 
solute Einheitlichkeit  im  Satz  selten  vorhanden  ist.  Wie  weit  sie  mög- 
lich ist,  haben  Logik  und  Völkerpsychologie  zu  entscheiden.')  Für  uns 
genügt  etwa  dies.  Der  Satz  enthält  stets,  wenn  auch  in  sehr  verschiedener 
Ausprägung,  zwei  Elemente:  eine  Wahrnehmung  (Anschauung,  Gefühl 
u.  s.  w.)  und  einen  Wahrnehmenden,  ein  Prädikat  und  ein  Subjekt.  Die 
Einheit  des  Satzes  besteht  darin,  daß  zwischen  diesen  beiden  eine  unmittel- 
bare Beziehung  hergestellt  wird.  Der  eingliedrige  Ausruf  „Feuer!"  be- 
deutet: „da  ist  ein  Feuer  vorhanden,  wie  ich  eben  bemerke";  der  viel- 
gliedrige  Satz,  mit  dem  Goethe  „Dichtung  und  Wahrheit"  einleitet,  besagt: 
„folgender  Brief  veranlaßte  dies  Buch".  Der  kürzeste  Satz  läßt  sich  zu 
einem  vielgegliederten  ausspinnen  —  wenn  er  vollständig  ist;  der  längste 
sich  zu  einem  kurzen  verdichten  —  wenn  er  einheitlich  ist. 

Die  Ausdehnung  geschieht  in  der  Weise,  daß  erstens  das  Subjekt, 
zweitens  das  Prädikat,  drittens  aber  auch  die  Beziehungen  zwischen  beiden 
näher  beschrieben  werden.  Wir  haben  den  einfachen  Satz:  „Teil  traf 
Geßler",  Subjekt:  „Teil".  Wer  ist  das?  „Teil,  ein  Schweizer  Landmann" 
—  allgemeine  Bestimmung;  „den  der  Landvogt  Geßler  schwer  gereizt 
hatte"  —  spezielle  Bestimmung.  Was  ist  Prädikat?  traf  Geßler,  Verb  mit 
Objekt.  „Traf"  —  wo?  „auf  einem  einsamen  höchst  gefährlichen  Alpen- 
wege". Geßler  —  wie  haben  wir  uns  ihn  in  dieser  Situation  vorzustellen? 
„Geßler,  der  sein  ganzes  Gefolge  verloren  hatte".  Nun  aber  noch  —  in 
welchen  Beziehungen  stand  Teil  zu  Geßler?  „Teil,  ein  Schweizer  Land- 
mann, den  der  Landvogt  Geßler  schwer  gereizt  hatte,  indem  er  seine  Will- 
kürherrschaft weitum  fühlbar  machte,  traf  auf  einem  höchst  gefährlichen 
Alpenwege  den  gefürchteten  Tyrannen,  der  sein  ganzes  Gefolge  verloren 
hatte,  und  der  nicht  ohne  Schrecken  den  wegen  seiner  Kraft  und  Tapfer- 
keit berühmten  Bauern  auf  sich  zukommen  sah."  Ich  gebe  das  nicht  etwa 
als  einen  Mustersatz  —  im  Gegenteil!  — ,  sondern  nur  als  Beispiel,  wie  in 
einem  an  Aussagen  reichen  Satz  immer  noch  die  Einheit  gewahrt  sein  kann. 

Die  Einheit  hört  aber  auf,  sobald  Aussagen  eintreten,  die  weder  auf 
das  Subjekt  in  seiner  Beziehung  zu  diesem  Prädikat  noch  auf  das 
Prädikat  in  seiner  Beziehung  zu  diesem  Subjekt  noch. auf  beider  Be- 
ziehung selbst  gehen. 

Nehmen  wir  bloß  an,  es  trete  ein  überflüssiges  Adjektiv  hinzu.  „Teil, 
ein  auffallend  schöner  Schweizer  — ".  Was  aber  hat  die  Schönheit  mit 
der  Situation  zu  schaffen?  Immerhin  —  sie  mag  der  Anschaulichkeit  der 
Begegnung  dienen;  zumal  wenn  die  abschreckende  Physiognomie  des  Land- 
vogts ebenfalls  geschildert  wird.  Aber  „Teil,  ein  in  häuslicher  Arbeit  ge- 
wandter Mann,  dem  die  Axt  im  Haus  den  Zimmermann  ersparte  — "  was 
hat  das  mit  dieser  Szene  zu  schaffen?    Nichts:  es  zerstört  die  Einheit,  wie 


')  Vgl.  WUNDT,  Völkerpsychologie  I,  2,  309  f. 


72  Stujstik. 

wenn  plötzlich  bei  dem  Apfelschuß  Attinghausen  über  die  Bühne  schritte. 
Ebenso  beim  Prädikat;  etwa  „a/z  einem  heißen  Tage",  wenn  die  Jahreszeit 
mit  der  Sachlage  gar  nichts  zu  tun  hat. 

Ein  Beispiel  unglücklicher  Zerstörung  der  Einheit  gibt  ein  berüch- 
tigter Satz  DüNTZERS  („Lessings  Leben"  S.  644): 

Es  war  am  15.  Februar  abends  um  9  Uhr,  als  der  große  Geist  in  dem  westlichen 
Eckzimmer  des  ersten  Stockes  des  Hauses  am  Agidienmarkt  12  (die  beiden  von  Lessing 
bewohnten  Zimmer  sind  jetzt  zu  einem  vereinigt)  aus  der  zerrütteten  Hülle  schied. 

Die  Parenthese  dient  nicht  etwa  der  Anschaulichkeit  —  wie  eine  An- 
gabe z.  B.  der  Beleuchtung,  des  Umfanges,  der  Ausstattung  jenes  Zimmers 
hätte  tun  können  —  sondern  zerstört  sie.  Die  späteren,  an  sich  höchst 
gleichgültigen  Schicksale  des  Zimmers,  noch  dazu  nicht  von  diesem  allein, 
sondern  von  ihm  und  einem  andern  Zimmer  ausgesagt,  gehören  in  die 
Mitteilung  von  Lessings  Tod  weder  in  rein  historischer  Hinsicht  noch  (dies 
vor  allem!)  in  Hinsicht  auf  die  Stimmung.  Dagegen  könnte  man  wohl 
sagen:  „in  dem  Zimmer,  das  seitdem  unserm  Volke  ein  Wallfahrtsort  ge- 
worden ist" ;  wenn  nämlich  dies  wahr  wäre. 

§  80.  Parataxe  und  Hypotaxe.  Die  Syntax  unterscheidet  einfache  und 
zusammengesetzte  Sätze;  kunstvollere  Verbindungen  mehrerer  Sätze 
nennen  wir  Perioden.  Über  die  vielfältige  Art  dieser  Gebilde  hat  wieder 
die  Syntax  zu  unterrichten.  Vom  stilistischen  Standpunkt  aus  ist  nur  zu 
sagen,  daß  die  sprachliche  Entwicklung  selbst  Zeugnis  ablegt  gegen  die 
puristische  Forderung  absoluter  Einheitlichkeit  im  Satz. 

An  sich  ist  eine  Notwendigkeit  für  die  Zusammenlegung  mehrerer 
Sätze  nicht  zuzugeben.  Es  ist  durchaus  möglich,  den  gesamten  Inhalt 
von  Dantes  Göttlicher  Komödie  oder  von  Rankes  Weltgeschichte  in  lauter 
einfachen  Sätzen  zu  geben;  und  die  einfachste  älteste  Erzählung  schreitet 
auch  wirklich  so  fort.*) 

Wenn  aber  jede  wirkliche  Literatur  von  der  einfachen  Koordination  der 
Aussagen  zur  Subordination,  von  der  Parataxe  zur  Hypotaxe,  von  der  An- 
häufung einfacher  Sätze  zur  Bildung  kunstvoller  Perioden  fortsch reitet, *)  so 
ist  das  mit  der  (allerdings  bedeutenden)  Zeitersparnis  allein  nicht  erklärt 
Die  künstlerische  Freude  an  der  Beherrschung  des  Sprachstoffs  tut  sich 
kund,  dieselbe  Lust  am  Bezwingen,  Ordnen,  Aufbauen,  die  aus  vielen  ein- 
räumigen Hütten  große  zimmerreiche  Paläste  schuf  und  aus  kleinen  Formel- 
verschen  dogmatischen  oder  liturgischen  Inhalts  umfangreiche  Religions- 
und Weltweisheitssysteme.  Daß  diese  durchaus  berechtigte  Lust  gerade 
jetzt  wieder  in  vollerer  Entwicklung  begriffen  ist,  hoben  wir  schon  hervor. 
Ein  Satz,   der  auf  einmal   eine  Fülle  an  Anschauung  in  strenger  Konzen- 


')  Vgl.  \'0N'  DEN  Steinen,   Unter  den  =)  \'gl.  Delbrück,  X'ergleichende  Sj-ntax 

Naturvölkern  Zentral-Brasiliens,  Berlin  1894,  der  indogermanischen  Sprachen,   Straßburg 

S.  62  f.,  Jacobowski,  Primitive  Erzählungs-  1900,  3,  416  f. 
kunst,  .Gesellschaft"  XV  (1899),  erstes  Juliheft. 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht.  73 

tration  auf  zwei  Punkte  und  die  sie  verbindende  Linie  bringt,  ist  aber  nicht 
nur  eine  ästhetische,  sondern  zugleich  auch  eine  logische  Freude.  Beides 
hat  vor  allem  bei  den  Franzosen,  neuerdings  aber  auch  bei  uns  die  Blüte 
des  Aphorismus  verursacht.  Mit  inniger  „Spieifreude"  schreibt  Goethe 
(Mai  1796)  an  Schiller:  „die  schöne  Übung  in  Distichen  wird  uns,  wie 
ich  hoffe,  endlich  dahin  führen,  daß  wir  uns  in  einzelnen  Hexametern 
bedeutend  ausdrückend  Die  Konzentration  eines  bewegten  Inhalts  in 
einen  Satz,  einen  Vers  ist  an  sich  ein  Vergnügen.  Aber  freilich  —  der 
Charakter  der  Einheitlichkeit,  der  zwingenden  Herrschaft  über  den  Stoff 
muß  gewahrt  bleiben. 

§  81.  Störungen  der  Einheitlichkeit.  Die  Einheitlichkeit  kann  nun  in 
mehrfacher  Weise  verletzt  werden.  Wie  wir  sahen,  genügt  dazu  ein  über- 
flüssiges Epitheton.  Aber  aus  solchen  Störungen  der  Einheit  entstehen  auch 
drei  Figuren,  die  unter  Umständen  gerechtfertigt  sind.  Liegt  die  Verletzung 
im  Innern,  so  haben  wir  die  Parenthese;  am  Schluß:  die  Ellipse;  Inder 
Verbindung  des  Rumpfes  mit  dem  Schluß:  das  Anakoluth. 

§82.  Parenthese.  Die  Parenthese  (Wackernagel S. 348,  Gerber  1,595) 
ist  ein  natürliches  Überbleibsel  aus  der  ältesten  Zeit  eigentlicher  Satzbil- 
dung. Jeder  Satz  ist  ja  an  sich  etwas  Zusammengesetztes,  jene  wenigen 
streng  eingliedrigen  Ausrufe  wie  „Feuer!''  „Hilfe!''  „Wer?"  ausgenommen; 
und  diese  Zusammensetzung  ist  zunächst  noch  locker.  Die  homerische 
Sprache  (und  ebenso  die  unseres  Ulfila)  kennt  noch  die  sogenannte  Tmesis, 
d.  h.  die  Trennung  der  „unlösbaren"  Verbalpräfixe  von  ihrem  Verb:  zu 
galaubjan  (unserm  „glauben")  wird  die  Frage  „ga-u-laubfats?"  „glaubt 
ihr  nicht?"  gebildet,  indem  zwischen  das  Präfix  ga-  und  das  Verb  die  Frage- 
partikel tritt.  Ebenso  sprengt  die  Parenthese  die  Satzeinheit;  nur  daß  sie 
für  die  natürliche  Rede  bis  auf  den  heutigen  Tag  erlaubt  bleibt.  Ich  gehe 
mit  meinem  Freund  spazieren  und  beginne,  ihm  von  einem  Dritten  zu  er- 
zählen: „Karl  — "  Da  fällt  mir  ein:  er  weiß  gar  nicht,  wer  das  ist;  und 
unbedenklich  schiebe  ich  das  ein:  „Karl  —  ja  so!  du  kennst  ihn  ja  gar 
nicht!  also:  unser  neuer  Stubenbursche  —  brachte  neulich  einen  Neufund- 
länder ins  Haus." 

Immer  also  setzt  die  Klammer  eine  gewisse  Lässigkeit  des  Ausdrucks 
voraus.  Soll  die  Einheit  des  Satzes  streng  gewahrt  bleiben,  so  wandelt 
man  sie  irgendwie  um.  Wir  sahen  schon,  daß  jedes  Attribut  eigentlich 
eine  verkleidete  Parenthese  ist.  „Es  ist  eine  alte  Geschichte" ,  d.  h.  „es 
ist  eine  —  schon  oft  beobachtete  — ".  Stilistisch  berechtigt  bleibt  die 
Parenthese  in  drei  Fällen: 

1 .  wo  eine  gewisse  Ungelenkheit  des  Sprechenden  geschildert  werden  soll , 
wie  in  dem  ständigen  „sagt  der  Patriarch"  des  Bruders  Bonafides  dersich  immer 
wieder  auf  die  höhere  Autontät'für  seinen  ungern  geleisteten  Dienst  beruft; 

2.  wo  umgekehrt  in  besonders  gewandter  Weise  die  eigentliche  Haupt- 
sache so  recht  unmerklich  vorgebracht  werden  soll;   etwa  in  der  Polemik: 


74  Stilistik. 


„mein  Gegner  behauptet  —  was,  nebenbei  gesagt,  eine  kecke  Erfindung 
ist  — ,  ich  hätte  — "; 

3.  wo  die  Rede  gewissermaßen  einen  Dialog  darstellt.  Das  gilt  be- 
sonders für  die  wichtigste  Form  der  Parenthese:  die  wissenschaftliche.  Sie 
ist  eine  in  den  Satz  gezogene  Anmerkung  und  über  ihren  Ursprung  wird 
deshalb  gleich  noch  zu  sprechen  sein.  Der  Vortragende  nun,  der  etwa 
ein  Zitat  diktiert,  gibt  für  einen  Augenblick  seine  Rolle  auf:  er  ist  jetzt 
nicht  mehr  der  Ludwig  Uhland,  der  ein  großes  Bild  der  Geschichte  der 
deutschen  Poesie  im  Mittelalter  vorführt,  sondern  (Schriften  1,  29)  dessen 
Famulus,  der  auf  die  Frage,  wo  denn  diese  Stelle  in  W.  Grimms  „Helden- 
sage" stehe,  antwortet:  „S.  336".  Oder  er  wird  sein  eigner  Interpret,  der 
zu  einem  auffallenden  Ausdruck  einen  Kommentar  gibt.  Diese  Ablösung, 
die  freilich  als  solche  gar  nicht  empfunden  wird,  kann  der  Darstellung  sogar 
einen  eigenen  Reiz  geben.  So  in  dem  berühmten  ersten  Satz  der  „Wahl- 
verwandtschaften" : 

Eduard  —  so  nennen  wir  einen  reichen  Baron  im  besten  Mannesalter  —  Eduard 
hatte 

Der  Erzähler  trennt  sich  von  einem  Berichterstatter.  Eduard  —  aber 
Ihr  wißt  ja  gar  nicht,  wer  das  ist!  nun,  so  will  ich  euch  gestehen:  ich  nenne 
den  Mann  so,  von  dem  ich  die  folgenden  Erlebnisse  zu  berichten  habe. 

Eine  zu  häufige  Anwendung  der  Parenthese  zeneißt  aber  wirklich  die 
Einheit.  Nur  die  gänzlich  formelhaften  Einschübe  —  „sprach  er",  „wie  man 
weiß'',  „wie  man  wohl  wird  annehmen  müssen"  —  sind  unbegrenzt  zulässig. 
Sie  wiegen  einfach  nur  als  Partikeln:  „wie  man  weiß"  =  „bekanntlich". 

§  83.  Ellipse.  „Bei  der  Ellipse  läßt  man  der  Kürze  wegen  das  minder 
Wichtige  und  Unbedeutende  fort,  weil  es  sich  von  selbst  versteht,  und  weil 
man  vielleicht  sogar  im  Augenblicke  deutlicher  spricht,  wenn  man  unter- 
drückt, was  nichts  zur  Sache  tut;  oder  man  läßt  es  fort  aus  leidenschaft- 
licher Bewegung  des  Gemütes,  in  der  man  es  übersieht:  die  Ellipse  läßt 
also  den  bedeutsamen  Vorstellungen  zuliebe  die  unbedeutenden  fort  und 
spricht  nur  jene  aus"  (Wackernagel  S.  412).  Der  erste  Teil  dieser  Erklä- 
rung begeht  den  gewöhnlichen  Fehler  der  älteren  Stilistiken,  eine  unwill- 
kürliche Erscheinung  als  beabsichtigte  Kunst  aufzufassen.  Lebhaftigkeit, 
die  bei  Nebensachen  nicht  verweilen  will,  ist  vielmehr  die  Ursache  der 
„Kürze"  in  beiden  von  Wackcrnagel  getrennten  Fällen. 

Die  neuere  Syntax  hat  treffend  festgestellt,  daß  in  den  meisten  „ellip- 
tischen Sätzen"  überhaupt  keine  „Ellipse",  kein  Weglassen  vorhegt.')  „Zu 
den  Waffen!"  ist  nicht  durch  ein  „laßt  uns  eilen"  u.dgl.  zu  ergänzen:  der 
Rufende  sieht  eben  im  Augenblick  nichts  vor  sich  als  den  Weg,  den  er 
zu  den  Waffen  zurücklegen  muß;  „eilen",  „stürzen",  „laufen"  —  das  ist 
alles  nicht  zu  ergänzen,  weil  eben  all  das  in  seiner  Vorstellung  fehlt,  die 
nur  ein  Ziel  sieht  und  die  Art  der  Erreichung  ganz  außer  acht  läßt. 

»)  Vgl.  Delbrück,  Vergleichende  Synta.x,  a.  a.  O.  S.  73  f..  Wunderlich,  Satzbau  S.  2f. 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltucher  Hinsicht.  75 

Wo  aber  nun  solche  Sätze  inmitten  „vollständiger"  Satzgefüge  stehen, 
da  wirken  sie  allerdings  unvollständig.  So  in  Schillers  „Räubern"  (IV  5; 
Wackernaqel  a.  a.  O.):  „Wer  mir  Bürge  wäre?  —  es  ist  alles  so  finster 
—  verworrene  Labyrinthe  —  kein  Ausgang  —  kein  leitendes  Gestirn  — 
wenn's  aus  wäre  mit  diesem  letzten  Odemzug — ".  Unter  den  fertig  aus- 
gedrückten Sätzen  stechen  die  Ausrufe  „verworrene  Labyrinthe" ,  „kein  Aus- 
gang" durch  die  größere  Lebhaftigkeit  hervor,  wie  an  Skulpturen  Rodins 
noch  der  unbehauene  Stein  zu  sehen  ist.  Wo  nun,  wie  hier,  das  ganze 
Gefüge  einen  leidenschaftlichen  Charakter  trägt,  ist  diese  Steigerung  berech- 
tigt, diese  Formlosigkeit  so  entschuldigt  wie  das  andere  Extrem :  die  streng 
rhythmische  Wortordnung.  In  andern  Fällen  liegt  eine  Lässigkeit  vor,  die 
Skizzen  und  Vorarbeiten  wohl,  nicht  aber  ausgearbeiteten  Prosastücken 
zusteht. 

§84.  Aposiopese.  Die  Aposiopese  sucht  Wackernagel  (a.a. O.  S. 412) 
der  Ellipse  als  etwas  „ganz  anderes"  gegenüberzustellen:  sie  verschweige 
gerade  das  Wichtige  und  spreche  nur  das  Untergeordnete  aus:  sie  breche 
den  Satz  gerade  da  ab,  wo  erst  die  Hauptsache  kommen  soll.  Ist  das 
richtig?  Der  berühmteste  Fall  ist  Poseidons  „Quos  egol"  (Virgil,  Aeneis 
1,  139):  „Wartet  —  ich  will  euch!"  Die  angedrohte  Bestrafung  ist  doch 
wohl  die  Hauptsache?  Nein;  die  Hauptsache  ist  auch  hier  das  Ausgespro- 
chene. Poseidon  will  den  Unruhstiftern  etwas  antun  —  darauf  allein  kommt 
es  an;  was,  wird  sich  finden.  Daß  die  Aposiopese  die  Einbildungskraft 
mehr  beschäftigt,  als  jede  Ellipse,  kann  ich  nicht  zugeben.  Wenn  der 
Handwerksbursch  im  17.  Jahrhundert  den  Notruf  ausstößt:  „Auf  ihn!  er  ist 
von  Ulm:",  so  kann  ich  mir  ebenso  viel  Bewegungen  des  Losstürzens, 
Zuspringens,  Anpackens  vorstellen,  wie  bei  Poseidons  Drohung  des  Schia- 
gens, Werfens,  Fesseins  u.  s.  w.  Der  wirkliche  Unterschied  ist  vielmehr 
ein  rein  formaler:  die  Aposiopese  ist  diejenige  Form  der  Ellipse,  bei  der 
eine  absolute  syntaktische  Unvollständigkeit  vorhanden  ist,  während  bei 
andern  Ellipsen  eine  solche  nur  relativ  im  Vergleich  mit  ausgebildeteren 
Satzgefügen  besteht.  Man  scheint  einen  „vollständigen  Satz"  aussprechen 
zu  wollen,  findet  aber  schon  auf  halbem  Wege  den  eigentlichen  Inhalt 
genügend  ausgedrückt.  Zu  „ergänzen"  ist  auch  hier  nur  für  die  Pedanterie 
Raum,  die  ja  auch  Vergils  Halbverse  zu  ganzen  Hexametern  ausdichtete. 

Der  Unterschied  beider  Formen  ist  ein  sprachhistorischer.  Die  gewöhn- 
liche Ellipse  ist  ein  „Überlebsel"  aus  der  ältesten  unmittelbarsten  Art  des 
Ausdrucks;  die  Aposiopese  setzt  abgerundete  Verbindungen  von  Subjekt 
und  Prädikat  voraus.  Jene  wird  oft  berechtigt  sein,  wo  ein  starker  Ein- 
druck unvermittelte  Wiedergabe  fordert;  diese  wirkt  leicht  gezwungen  und 
beruht  sehr  oft  bei  unsern  altern  Dichtern  auch  wirklich  nur  auf  Nach- 
ahmung eines  bei  Vergil  in  der  Situation  begründeten  Eftekls. 

Eine  nur  scheinbare  Aposiopese  entsteht,  wenn  aus  Gründen  des 
Anstands   oder  der  politischen  Vorsicht  ein  Satz   nicht  zu  Ende  gedruckt. 


76  Stilistik. 


oder  auch  wirklich  nicht  zu  Ende  gesprochen  wird,  wie  etwa  bei  Goethe 
in  Götzens  Antwort  an  den  l<aiserlichen  Parlamentär.  Hier  soll  ein  ganz 
bestimmtes  Wort  wirklich  „ergänzt",  d.  h.  von  dem  Hörer  innerlich  ge- 
sprochen werden;  es  handelt  sich  also  nicht  um  das  Überwiegen  allgemei- 
nerer Vorstellungen  über  spezielle,  sondern  lediglich  um  Ersetzung  eines 
Wortes  durch  eine  Chiffre. 

§  85.  Anakoluth.  Eine  gewisse  Enttäuschung  oder  doch  Täuschung 
des  Hörers  haben  die  echte  und  die  scheinbare  Aposiopese  gemein.  Immer- 
hin fehlt  nur  etwas,  worauf  wir  uns  schon  eingerichtet  haben;  insofern 
fallen  beide,  wie  der  „  Formelbruch ",  unter  die  allgemeinere  Rubrik  der 
Aprosdokese,  der  Täuschung  unserer  Erwartung.  Eine  solche  findet  aber 
auch  statt,  wenn  statt  der  erwarteten  Konstruktion  eine  andere  eintritt.  Diese 
grammatische,  formelle  Aprosdokese  nennen  wir  Anakoluthie,  ihr  Produkt 
ein  Anakoluth  (Wackernagel  S.  420).  Solcher  Konstruktionswechsel  ist 
lebhaften  Naturen  wie  Goethe')  sehr  häufig.  Eigentlich  gehören  auch 
schon  solche  Kongruenzstörungen  wie  die  Constructio  kata  synesin  (siehe 
oben  §  61)  hierher;  doch  pflegt  man  nur  solche  Fälle  so  zu  nennen,  in 
denen  ein  ganzer  Satzteil  eine  unerwartete  Wendung  nimmt,  besonders 
etwa  ein  Hauptsatz  als  Nebensatz  konstruiert  wird  oder  umgekehrt.  Wo 
von  zwei  möglichen  Konstruktionen  eine  nur  ungewöhnlich  ist,  sprechen 
wir  noch  nicht  von  Anakoluthie,  z.  B.  in  Schillers  „Braut  von  Messina": 

Hält'  ich  dich  früher  so  gerecht  erkannt  — 
Es  wäre  vieles  ungeschehn  geblieben. 

(Erdmann,  Syntax  I  §  207).  Die  eigentlichen  Anakoluthe  haben  wieder  ein 
begrenztes  Recht  in  lebhafter  Rede,  wo  Eindrücke  und  Ausdrucksformen 
sich  drängen  und  verdrängen.*) 

Die  Menschen,  die  das  Licht  nicht  sehn  in  meinem  Herzen  — 
Der  Ernst  im  Angesicht  war  Störung  ihren  Scherzen. 

(Rückert,  Weisheit  des  Brahmanen.) 

Wie  Gerber  treffend  bemerkt,  gebraucht  Goethe  die  Anakoluthie  gern, 
„um  sich  aus  schleppender  Konstruktion  zu  befreien",  z.  B.: 

Ich  habe  gefunden,  sagte  Serlo,  daß,  so  leicht  man  der  Menschen  Imagination 
in  Bewegung  setzen  kann,  so  gerne  sie  sich  Märchen  erzählen  lassen,  eben  so  selten 
ist  eine  Art  von  produktiver  Einbildungskraft  bei  ihnen  zu  finden. 

Rein  formell  betrachtet,  setzt  sich  ein  Anakoluth  aus  einer  Ellipse 
(„Ich  habe  gefunden,  daß  — ")  und  einem  selbständigen  Satz  {^eben  so 
selten  ist")  oder  wenigstens  einem  vollständigen  Nebensatz  zusammen. 

Man  muß  aber  in  der  Anwendung  vorsichtig  sein,  da  unser  pedantisch 
erzogenes  Sprachgefühl  schon  die  Ellipse,  viel  mehr  aber  noch  diese  Stei- 
gerung der  Ellipse  mit  Unbehagen  bemerkt.  Etwas  anderes  ist  es  natür- 
lich, wenn  dadurch,   daß  der  Sprechende  beständig  „aus  der  Konstruktion 

')  J.  Minor,  Goethes  Fragmente  vom      als  akademischer  Lehrer  S.  96;  Beispiele  bei 
ewigen  Juden  S.  162.  GERBER,  Sprache  als  Kunst,  581  f. 

-)  Vgl.  M.  Haupt  bei  Belger,   Haupt 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht.  77 

fällt",  seine  unlogisch-gemütvolle  Art  gekennzeichnet  werden  soll,  wie  etwa 

bei  der  Mutter  in  „Hermann  und  Dorothea".') 

Eine  gelehrte  Spielerei  ist  dagegen  das  intermittierende  Anakoluth, 

bei  dem  die  anders  fortgebildete  Periode  am  Schluß  wieder  aufgenommen 

wird  (vgl.  Wackernagel  a.  a.  O.  S.  421). 

Wie  der  wandernde  Mann,  der  vor  dem  Sinken  der  Sonne 
Sie  noch  einmal  ins  Auge,  die  schnell  verschwindende,  faßte. 
Dann  im  dunkeln  Gebüsch  und  an  der  Seite  des  Felsens 
Schweben  sieliet  ihr  Bild:  wohin  er  die  Blicke  nur  wendet. 
Eilet  es  vor  und  glänzt  und  schwankt  in  herrlichen  Farben: 
So  bewegte  vor  Hermann  die  liebliche  Bildung  des  Mädchens 
Sanft  sich  vorbei  und  schien  dem  Pfad  ins  Getreide  zu  folgen. 

(„Hermann  und  Dorothea"  7,  1  f.) 

Hier  liegt,  wie  oft  bei  der  Aposiopese,  eine  Nachahmung  der  Antike, 
nämlich  der  Homerischen  Gleichnisse  vor,  bei  denen  die  Einführungspartikel 
„wie  wenn"  über  der  Lebhaftigkeit  des  angeschauten  Gleichnisses  vergessen 
wird:  es  stehen  dann  Hauptsätze  statt  der  Nebensätze  (Ilias  11,  113  f.  Voß): 
So  wie  ein  Leu  der  Hündin  noch  unbehilfliche  Kinder 
Leicht  nacheinander  zermalmt,  mit  mächtigen  Zähnen  sie  fassend. 
Wann  er  im  Lager  sie  traf,  und  ihr  blühendes  Leben  entreißet, 
m.        Jene,  wie  nahe  sie  ist,  vermag  nicht  ihnen  zu  helfen. 

Denn  ihr  selbst  erbeben  vor  schrecklicher  Angst  die  Gebeine: 
Eilenden  Laufs  fortstürmt  sie,  durch  dichtes  Geländ'  und  durch  Waldung, 
Rastlos,  triefend  von  Schweiß,  vor  der  Wut  des  mächtigen  Raubtiers: 
Also  könnt'  itzt  keiner  des  troischen  Volks  vom  Verderben 
Jene  befrein. 

Mit  „jene,  wie  nahe  sie  ist"  tritt  Hauptsatz  an  Stelle  des  von  dem 
ersten  „wie"  abhängigen  Nebensatzes,  gerade  wie  wenn  in  lebhafter  Er- 
zählung indirekte  Rede  durch  direkte  verdrängt  wird. 

§  86.  Störungen  der  Vollständigkeit.  Die  Störungen  der  Einheit  werden 
im  allgemeinen  nur  von  dem  schärfer  Zublickenden  peinlich  empfunden. 
Viel  allgemeiner  verletzen  die  Störungen  der  Vollständigkeit. 

Der  schlimmste  Fall  ist  der  der  Undeutlichkeit:  daß  nämlich  der 
Satz  ohne  verdeutlichende  Zusätze  nicht  vollkommen  verständlich  oder  aber 
zu  verständlich,  nämlich  mehrdeutig  ist. 

§  87.  Mehrdeutigkeit.  Mehrdeutigkeit  kann  auf  nicTit  genügend 
gewählter  Wortwahl  beruhen;  dann  haben  wir  Amphibolie  (siehe  oben 
§  31);  oder  auf  unglücklicher  Satzfügung.  Wenn  Faust  in  der  „Hexen- 
küche" beim  Anblick  des  Zauberbildes  im  Spiegel  ruft: 

Beim  Himmel!  ist  das  Weib  so  schön? 
so  ist  nicht  ohne  weiteres  verständlich,  wie  das  gemeint  ist:  ob  „das  Weib,  das 
ich  im  Spiegel  erschaue"  oder  (wie  hier  wirklich  zu  verstehen  ist)  „das  Weib 
überhaupt":  ist  es  möglich,  daß. das  Weib  so  schön  sein  kann.  Oder  Uhland 
sagt  in  der  „Bidassoabrücke"  von  dem  spanischen  Freiheitsmann  Mina: 


>)  Gerber  S.  581. 


78  Stilistik. 


Seine  Hand,  zur  Brust  gehalten. 
Hemmt  nicht  mehr  des  Blutes  Lauf: 
Auf  der  Bidassoabrücke 
Brachen  alte  Wunden  auf. 

Die  beiden  ersten  Verse  lassen  zweierlei  Auslegung  zu.  Entweder: 
Mina  hält  die  Hand  zur  Brust,  kann  aber  das  Blut  nicht  mehr  zurück- 
halten; oder  aber:  seine  Hand  hält  das  Blut  nicht  mehr  zurück,  weil  er  sie 
nicht  mehr  zur  Brust  hält.  Überhaupt  entstehen  durch  die  Negation  be- 
sonders leicht  Zweideutigkeiten.  So  auch  bei  einzelnen  Worten  von  ganz 
oder  teilweise  negierendem  Charakter:  „er  erhielt  selten  gute  Zeugnisse'" 
kann  heißen :  selten  ereignete  es  sich,  daß  er  gute  Zeugnisse  erhielt,  oder 
auch  (weniger  gut)  er  erhielt  (immer)  Zeugnisse  von  ungewöhnlicher  Güte.  — 
So  bei  Negation  selbst  bei  Goethe,  der  besonders  beim  Infinitiv  gern  die 
Satznegation  zu  einem  einzelnen  Wort  so  zieht,  daß  der  Sinn  entstellt  wird:') 

Ich  ging  im  Walde 

So  für  mich  hin. 

Und  nichts  zu  suchen 

War  mein  Sinn  — 

Wo  natürlich  nicht  gemeint  ist:  ich  gab  mir  alle  Mühe,  um  nichts  zu 
suchen,  sondern:  mein  Sinn  war  nicht  darauf  gerichtet,  etwas  zu  suchen. 
Oder  wir  stoßen  in  einer  gelehrten  Abhandlung  auf  den  Satz:  „ja  der 
Inhalt  der  Sage  ist  eigentlich  überhaupt  nie  berechtigte  Gegenwart'.'^) 
Heißt  das:  er  ist  nie  —  berechtigte  Gegenwart,  oder  aber  (was  nahezu  das 
Gegenteil  wäre)  er  ist  —  nie  berechtigte  Gegenwart?  (Es  ist  ein  ähnlicher 
Fall  wie  bei  den  etymologisch  zweideutigen  Kompositionen:  „himmelan- 
strebend" u.  dgl.)  Besonders  häufig  ist  die  Mehrdeutigkeit  in  lässiger  All- 
tagsrede: „Er  zog  dem  Schneider  seinen  Rock  an"  bedeutet  schriftsprachlich 
nur  die  Bekleidung  des  Schneiders,  vulgär  aber  auch  die  Bekleidung  mit 
einem  dem  Schneider  gehörenden  Rock. 

§  88.  Undeutlichkeit.  In  solchen  Fällen  also  muß  immer  eine  außer- 
halb des  Satzes  stehende  Verdeutlichung,  Erwägung,  Vergleichung  zu  Hilfe 
genommen  werden,  ehe  man  sich  über  die  beabsichtigte  Meinung  klar  wird. 
In  andern  Beispielen  ist  dies  nötig,  um  überhaupt  ein  Verständnis  zu  er- 
möglichen. 

Undeutlichkeit^)  wird  in  neueren  Sprachen  oft  durch  die  Zerstörung 
der  Flexion  hervorgerufen.  So  hat  sich  Nietzsche  über  den  Vers  Arndts 
lustig  gemacht: 

So  weit  die  deutsche  Zunge  klingt 
Und  Gott  im  Himmel  Lieder  singt, 

weil  er  sich  unter  dem  singenden  Himmelsgott  nichts  vorstellen  konnte  — 
während  doch  „Gott"  hier  als  Dativ  gemeint  ist  (vgl.  R.  Hildebr.a.nd,  Ges. 


')  BOHNER,  Zeitschrift  für  deutsche  Wort-      München  1906,  Beck,  S.  18. 
forschung,  Beiheft  zu  Bd.  VI  S.  191.  ')  Vgl.  Bain  1,  242  f. 

■-)  Panzer,  Märchen,  Sage  und  Dichtung, 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht.  79 

Aufsätze  und  Vorträge  S.  153).  —  Übrigens  schließt  auch  die  vollste  Entwick- 
lung der  flexivischen  Formen  Undeutlichkeit  oder  Mehrdeutigkeit  nicht  aus. 
So  hat  der  französische  Komponist  Berlioz  sich  den  Spaß  gemacht,  die 
berühmte  Inschrift  des  Leipziger  Gewandhauses  Res  severa  est  verum 
gaiidium  („wahre  Freude  ist  ein  ernstes  Ding")  zu  übersetzen:  „C'est  uti 
vrai  plaisir  qu'une  chose  serieuse!"  ') 

§  89.  Anmerkung.  Der  Mehrdeutigkeit  oder  Undeutlichkeit  kann  nun 
durch  ein  Mittel  abgeholfen  werden,  das  allerdings  über  die  Einheit  des 
Satzes  schon  herausgreift,  scheinbar  sie  aber  doch  noch  respektiert:  die 
Anmerkung.  Die  Anmerkung  ist  ein  selbständiger  Satz,  der  aber  an 
einem  andern  Satze  dergestalt  befestigt  ist,  daß  er  diesem  einverleibt  scheint. 
Daß  diese  Einverleibung  eben  nur  eine  äußerliche  ist,  geht  schon  aus  der 
Notwendigkeit  äußerer,  typographischer  Befestigungsmittel  hervor:  an  einem 
einzelnen  Worte  des  Textsatzes  oder  an  seinem  Schluß  (je  nachdem,  ob 
sich  die  Anmerkung  auf  einen  Teil  des  Satzes  oder  den  ganzen  Satz  be- 
ziehen soll)  wird  eine  Zahl,  ein  Sternchen  oder  dergleichen  angebracht  und 
auf  dies  Symbol  antwortet  das  gleiche  Zeichen  unter  oder  hinter  dem  Text. 
Bei  den  Alten  vertrat  die  Randnotiz  die  Stelle  der  Anmerkung.^) 

Die  Anmerkung  ist  in  ihrer  rechten  Ausbildung  eine  spezifische 
Eigentümlichkeit  der  wissenschaftlichen  Prosa.  Für  ihren  historischen 
und  psychologischen  Ursprung  erinnern  wir  zunächst  an  das  eben  über  die 
Parenthese  Bemerkte.  Die  Parenthese  ist  die  Verdichtung  und  wirkliche 
Einverleibung  einer  kurzen  Anmerkung;  aber  „kurz"  und  „lang"  sind  für 
das  Wesen  der  Anmerkung  sehr  wesentliche  Verschiedenheiten. 

Die  wissenschaftliche  Anmerkung  entspringt  aus  der  eigentümlichen 
Form  des  (besonders  „akademischen")  Unterrichts,  die  im  Altertum  und 
Mittelalter  herrschte.  Zugrunde  gelegt  ward  ein  kanonisches  Lehrbuch, 
etwa  die  Poetik  des  Aristoteles  oder  die  Summa  theologiae  des  Thomas 
von  Aquino.  Nun  liest  der  Professor  Satz  für  Satz  vor,  und  die  Zuhörer 
—  die  ja  noch  keine  vervielfältigten  Exemplare  in  Händen  haben  — 
schreiben  nach.  Sodann  gibt  er  seine  eigenen  Erläuterungen,  die  bald 
den  ganzen  Satz  besprechen,  Einwendungen  erheben  oder  abwehren  u.  s.  w., 
bald  ein  einzelnes  Kunstwort  erklären.  Dies  schreiben  die  Zuhörer  eben- 
falls nach,  heben  aber  durch  irgend  ein  Zeichen  die  feste  Masse  der  un- 
beweglichen Autorität  und  die  beweglich  sie  umspielenden  der  wechselnden 

')  Auch  die  berühmte  „logische  Schärfe"  i  gesprochenen  Sätze:  heißt  es  in  der  Bibel: 

der   lat.  Sprache   (vgl.   überhaupt  Skutsch,  , Widersteht  nicht  dem  Bösen"  oder  „durch 

DieKullur  der  Gegenwart,  Leipzig  1906, 1,  VIII  Böses?"  (ebenda  S.  69);  heißt  es:  „Selig  sind 

S.  425)  schließt  also  Zweideutigkeiten  nicht  1  die  Armen  im  Geiste"  oder  „Selig  im  Geiste 

aus.    Ist  in   ,Scribendi  rede  sapere  est  et  I  sind  die  Armen?" 

principium  est  fons'  rede  aui  scribendi  oder  1  -)  Vgl.  U.  VON  Wilamowitz,  Die  grie- 

aufsfl/Jt'rt' zu  beziehen?  (Zielinski,  Die  An-  i  chische  Literatur  des  Altertums,  in  der  „Kultur 

tike  und  wir  S.  50.)    Ebenso  unsicher  ist  das  der  Gegenwart"  I,  VIII  S.  34. 

Verständnis  der  wichtigsten  griechisch  aus-  | 


80  Stilistik. 


Auslegungen  voneinander  ab  (wobei  freilich  oft  genug  Verschiebungen  im 
Text  eintreten).     So  entsteht  die  Anmerkung. 

Sie  ist  also  vor  allem  erklärender  Natur.  Sie  muß  deshalb  zu 
dem  Text  in  engster  Beziehung  stehen;  nachträgliche  Einfälle  unter  der 
Maske  von  Anmerkungen  einzuschmuggeln,  ist  ein  Mißbrauch.  Sie  darf 
ferner  nicht  solche  Ausdehnung  gewinnen,  daß  der  Zusammenhang  des 
Textes  —  der  immer  die  Hauptsache  bleibt  —  verloren  geht.  Überschreitet 
sie  dies  Maß  —  das  man  rein  äußerlich  dahin  normieren  kann,  daß  die 
Anmerkung  über  die  Textseite  nicht  herausgehen  soll  — ,  so  tut  man  besser, 
die  Anmerkung  in  einen  Exkurs  zu  verwandeln. 

§  90.  Exkurs.  Ein  Exkurs  ist  eine  selbständig  gewordene  Anmerkung, 
eine  von  dem  Mutterland  ausgeschickte  Kolonie.  Eine  engere  Beziehung 
zu  bestimmten  Partien  des  Textes  pflegt  man  (mit  Recht)  auch  dem  Ex- 
kurs noch  durch  eine  Verweisung  zu  wahren:  „siehe  den  Exkurs  S ", 

„vgl.  S /.".     Der  Exkurs   läßt   den  Text   in   seinem   Zusammenhang, 

erschwert  dafür  aber  freilich  auch  das  Verständnis  seiner  eigenen  Aus- 
führungen, die  ja  doch  auf  dem  speziellen  Mutterboden  gerade  eben  dieser 
im  Zusammenhang  stehenden  Textpartie  erwachsen  sind. 

Für  Anmerkung  und  Exkurs  hat  insbesondere  die  klassische  Philologie 
eine  feste  Tradition  geschaffen,  deren  Beispiel  besonders  seit  Carl  Lach- 
mann und  Moriz  Haupt  (die  klassische  und  deutsche  Philologen  zugleich 
waren)  die  deutsche  Philologie  (wie  andere  Nachbarwissenschaften)  gefolgt 
sind.  Die  Hauptsache  liegt  im  Begriff  dieser  Formen  selbst:  die  Anmerkung 
muß  unbedingt,  der  Exkurs  bis  zu  einem  gewissen  Grad  dienend  ver- 
bleiben. (Ob  der  Exkurs  zu  einem  einzelnen  Satz  oder  zu  einem  größeren 
Abschnitt,  etwa  einem  ganzen  Kapitel  gehört,  macht  keinen  Unterschied.) 
Es  sollen  also  hier  weder  neue  Begriffe  und  Gedanken  noch  neue  Tat- 
sachen eingeführt  werden;  lediglich  eine  Erläuterung  oder  (höchstens!) 
Vertiefung  des  im  Text  Gegebenen  ist  gestattet.  Was  darüber  heraus- 
geht, ist  vom  Standpunkte  der  Anmerkung  „Untreue  wider  den  eignen 
Herrn". 

Eine  Häufung  dieser  wissenschaftlichen  Zutaten  ist  nur  bei  Disser- 
tationen, wo  möglichst  viel  Kenntnisse  vorgebracht  werden  sollen,  berech- 
tigt. Die  üble  Angewohnheit,  den  Text  ganz  unter  Anmerkungen  zu  er- 
drücken, war  bei  früheren  Gelehrten  historisch  aus  der  Art  ihres  wissen- 
schaftlichen Betriebs,  psychologisch  aus  eben  dieser  Sucht,  mit  einer  von 
allen  Seiten  herbeigeholten  Belesenheit  zu  prunken,  entschuldigt;  heut  ist 
sie  es  nicht  mehr.  Wenn  man  etwa  mit  den  Anmerkungen  und  After- 
anmerkungen in  Bayles  großem,  höchst  verdienstlichen  „Dictionnaire 
historique  et  critiqiie"  (Anmerkungen  am  Rande;  Anmerkungen  unter  dem 
Text,  die  wieder  ihre  Anmerkungen  am  Rande  haben)  die  Kunst  vergleicht, 
mit  der  ein  so  unendlich  gelehrtes  und  erschöpfend  eindringendes  Werk 
wie  Justis  „Winckelinann"  fast  alle  Anmerkungen  zu  „vertilgen",  im  Te.xt 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht.  81 

aufzuzehren  versteht,  so  übersieht  man  ein  gut  Stück  Evolution  der  wissen- 
schaftlichen Darstellungstechnik  mit  einem   Blick. 

Aus  den  gelehrten  Werken  ist  die  Anmerkung  auch  in  die  „schön- 
wissenschaftlichen" gedrungen.  Oft  hat  sie  da  noch  ihren  ursprünglichen 
Charakter,  wie  in  den  Belegen  historischer  Romane;  heut  empfinden  wir  in 
diesen  Nachweisen  zu  Scheffels  „Ekkehard"  eine  störende  Pedanterie,  in  den 
Zwischenrufen  „Historisch l''  u.  dgl.  bei  den  Romanen  Gregor  Samarows 
eine  häßliche  Reklame.  —  Andere  Anmerkungen  sind  ebenfalls  den  ge- 
lehrten nachgebildet,  haben  es  aber  doch  zu  einem  eigenen  Stil  gebracht: 
so  die  humoristischen  Anmerkungen  und  Exkurse  bei  Sterne,  Jean  Paul 
und  ihren  Nachfolgern,  die  ebenfalls  als  ein  fortlaufender  Kommentar  zum 
Text  aufzufassen  sind;  oder  die  kritischen  in  den  Dichtungen  einiger  Ro- 
mantiker, die  eine  Mittelstellung  zwischen  gelehrter  und  humoristischer  An- 
merkung einnehmen.  Dem  Auge  der  Modernen  erscheint  schon  rein  äußerlich 
die  typographische  Verletzung  der  Seitenränder  als  ein  Schönheitsfehler. ') 

§  91.  Nachtrag.  Eine  Anmerkung  zu  dem  ganzen  Text  nennen  wir 
bei  Briefen  Postskriptum,  sonst  Nachtrag.  Solche  Nachreden  sind 
nicht  immer  zu  vermeiden,  weil  sich  im  Lauf  einer  größeren  Untersuchung 
neue  Tatsachen  einstellen,  oder  wenigstens  Tatsachen  neu  zu  unserer 
Kenntnis  kommen  mögen;  was  sich  auch  schon  bei  einem  längeren  Brief 
ereignen  kann.  Wo  es  angeht,  ist  ein  solcher  nachschleppender  Anhang 
bei  Abhandlung  und  Buch  zu  vermeiden,  wogegen  das  weibliche  Post- 
skriptum einen  gewissen  psychologischen  Reiz  hat,  wie  ein  Abschiedskuß 
vor  der  Haustür.  Hier  gilt  fast  allein,  was  die  Stilistik  von  der  Aposiopese 
mit  Unrecht  behauptet,  daß  im  Text  die  Hauptsache  fehlt,  die  sich  aber 
dann  nachträglich  doch  noch  zudrängt! 

Der  Nachtrag  kann  sich  natürlich  auch  auf  einen  einzelnen  Satz  be- 
ziehen, den  er  etwa  zurücknimmt,  weil  er  inzwischen  widerlegt  sei.  Jeden- 
falls hat  er  seine  Wurzel  in  der  Forderung  der  Vollständigkeit  und  wir 
haben  ihn  deshalb  der  Anmerkung  und  dem  Exkurs  gleich  angeschlossen, 
obwohl  sein  eigentlicher  Platz  in  der  Lehre  von  der  Disposition  ist. 

§  92.  Interpunktion.  Anmerkung,  Exkurs,  Nachtrag  opfern  der  Voll- 
ständigkeit die  Einheit,  wie  die  Ellipse  der  Einheit  die  Vollständigkeit 
opfert.  In  all  diesen  Fällen  finden  wir  typographische  Hilfsmittel  im 
Gebrauch:  Verweise,  Gedankenstriche  sollen  die  Einheit  oder  die  Vollstän- 
digkeit herstellen. 

Solche  Zeichen  zur  Veranschaulichung  der  Satzverhältnisse  gibt  es  aber 
auch  im  normalen  Satz:  es  sind  die  Interpunktionszeichen. 2)    Von  den 


')  Ausführlich  über  die  Lehre  von  den  1           ^)  Vgl.  allgemein  A.  Bieling,  Das  Prinzip 

Zitaten  und  Noten  J.  Bernays,  Kleine  Schrif-  I   der  deutschen  Interpunktion  nebst  einer  über- 

ten  4,  322  f.,  vgl.  De  Quincey,  Writings  ed.  sichtlichen  Darstellung  ihrer  Geschichte,  S.  80, 

by  D.  Massen,  Edinburgh  1890,  S.  165  f.,  ^   P.  Cauer,  Von  deutscher  Spracherziehung, 

Philippi,  Kunst  der  Rede  S.  158.  Berlin  1906,  S.  162  f. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  I.  6 


82  Stilistik. 


ältesten  Zeiten  her  hat  man  das  Bedürfnis  gefühlt,  mindestens  die  Einheit 
des  Satzes  durch  eine  Grenzmarke  abzustecken :  der  Keil  der  danach  benannten 
„Keilschrift",  der  Punkt,  den  wir  von  der  klassischen  Antike  übernahmen, 
bedeutet  das  Ende  eines  Satzes,  so  daß  zwischen  zwei  solchen  Grenzpfählen 
immer  ein  einheitliches  Ganzes  steht.  Weitere  Zeichen  pflegen  weder  die 
Inschriften  noch  die  Inkunabeln,  wohl  aber  fast  stets  die  Handschriften  an- 
zuwenden. Zuerst  kommt  (bei  Ulfila)  der  Doppelpunkt,  das  Kolon,  um 
größere  Abschnitte  herauszuheben;  seit  Alcuin  unter  Karl  dem  Großen 
eine  einheitliche  Reichsgrammatik  anstrebt,  kommt  das  Ausrufungszeichen 
hinzu.  Sehr  alt,  aber  vereinzelt  sind  die  Anführungszeichen.  Seit  der 
Humanismus  eine  neue  Technik  des  Lesens  ausbildete,  besitzen  wir  unsere 
drei  Gliederungszeichen:  Komma,  Kolon,  Punkt  (Bieling  a.  a.  O.  S.  16  f.). 
Der  Grammatiker  Valentin  Ickelsamer  setzt  1531  fest:  der  Periodus 
(vollständige  Satz),  die  Kola  (Satzglieder)  und  die  Kommata  (deren  Teile) 
sind  zu  scheiden.  Dem  entsprechend  setzt  sich  allmählich  der  Gebrauch 
fest:  nach  Periodus  Punkt;  nach  Kolon  Doppelpunkt;  nach  Komma  „vir- 
gula":  die  beiden  letzten  Zeichen  werden  dann  nach  den  Abschnitten  be- 
nannt, deren  Fahne  sie  tragen. 

Neben  diesen  Pausenzeichen  stehen  zwei  Tonzeichen,  die  aber 
nur  an  Stellen  möglich  sind,  wo  auch  Pausenzeichen  (vorzugsweise  der 
Punkt)  stehen  könnten:  das  Frage-  und  das  Ausrufungszeichen  (vgl.  Bieling 
a.  a.  O.  S.  59).  Die  gute  Einrichtung,  beide  schon  vor  dem  Satz  zu 
zeichnen,  der  die  Intonation  der  Frage  oder  des  Ausrufs  erhalten  soll, 
haben  wir  leider  nicht  (wie  allein  die  Spanier)  von  der  alten  longobardischen 
Interpunktion  übernommen. 

Außerdem  hat  sich  in  neuerer  Zeit  eine  feinere  Architektonik  des  Satzes 
die  Doppelung  des  mittelstarken  Pausenzeichen  zunutze  gemacht.  Wir 
pflegen  Kolon  und  Semikolon  dadurch  zu  scheiden,  daß  wir  das  letztere 
Zeichen  lediglich  zur  Andeutung  einer  mittleren  Pause,  das  erste  dagegen 
gleichzeitig  mit  einer  gewissen  Toneigenheit  verwenden:  der  Doppelpunkt, 
der  sonst  zur  Ankündigung  direkter  Rede  benutzt  wird,  erhäh  die  Stimme 
in  einer  gewissen  Höhe,  während  sie  sonst  am  Schluß  des  Satzgliedes 
sinkt.  Lessing  interpungiert  eine  schon  einmal  angezogene  Stelle  (Anti- 
Goeze  V;  Schriften  13, 107):  ,,Nun,  wenn  sie  nicht  hören  wollen:  so  mögen 
sie  fühlen".  Der  Doppelpunkt  erregt  Erw-artung;  das  folgende  Sätzchen 
wirkt  nun  wie  eine  unmittelbare  Eröffnung.  Ein  Komma  würde  die  Ab- 
hängigkeit des  Nachsatzes  schärfer  hervorheben;  ein  Semikolon  wäre  hier 
freilich  nicht  zulässig. 

Schon  dies  Beispiel  zeigt,  daß  die  Interpunktion  in  weiten  Grenzen 
subjektivem  Ermessen  überlassen  bleibt.  Sie  hat  viele  Moden  durch- 
gemacht, unter  anderm  bei  jeder  jungen,  sich  genialisch  fühlenden  Gene- 
ration das  Hinsäen  von  Gedankenstrichen  für  oft  nicht  völlig  ausgegorene 
Gedanken;   oder  im  Kreise  Stephan  Georges  die  Rückkehr  zu   monu- 


Siebentes  Kapitel.    Der  Satz  in  inhaltlicher  Hinsicht.  83 

mentaler  Unterdrückung  aller  kleineren  Zeichen,  wodurch  immerhin  auf 
übersichtliche  Gliederung  ein  wohltätiger  Zwang  ausgeübt  wird.  Goethe, 
der  seine  Gedichte  immer  gesprochen  im  Ohr  hatte,  kümmerte  sich  wenig 
um  die  Interpunktion  der  geschriebenen  und  gedruckten  Werke;  Lessing 
dagegen  hat  eine  sehr  persönliche  Interpunktion.')  Für  die  Romantiker  ist 
die  Häufung  der  Kommata  so  bezeichnend-)  wie  für  ihre  Vorgänger  in 
Stimmungsschwelgerei,  die  Mystiker  und  Pietisten;  Nietzsche  dagegen 
liebt  das  Kolon. 

Diese  individuelle  Bedeutung  der  Interpunktion  ist  die  wichtigste; 
denn  fast  allein  ist  dies  Gebiet  noch  frei  vom  Zwang  pedantisch  uniformie- 
render Vorschriften.  Unter  Umständen  kann  aber  die  Wahl  der  Zeichen 
für  das  Verständnis  von  größter  Wichtigkeit  sein.  Goethe  dichtet  einen 
tiefsinnigen  Spruch: 

Willst  du  ins  Unendliche  schreiten. 

Geh  nur  im  Endlichen  nach  allen  Seiten. 

Der  Philosoph  Lotze  bemerkt,  auf  diese  Weise  komme  man  nie  ins 
Unendliche,  und  macht  allen  Ernstes  die  Konjektur: 
Willst  du  ins  Unendliche  schreiten? 
Geh  nur  im  Endlichen  nach  allen  Seiten! 

Womit  der  Sinn  glücklich  ins  Gegenteil  verkehrt  ist. 3)  Andere  hübsche 
Beispiele  von  Umkehr  des  Sinns  durch  „Verbesserung"  der  Interpunktion 
gibt  Wackernagel  (Kl.  Sehr.  1,  407),  z.  B.  folgendes: 

Paul  Gerhardt  selber  sagt:  .Menschliches  Wesen,  was  ist's  gewesen?'  Aber 
Knapp  interpungiert:  „Menschliches  Wesen,  was  ist's?  —  gewesen!" 

§  93.  Typographische  Hilfsmittel.  Die  Interpunktionszeichen  dienen  aber 
auch  der  Vollständigkeit.  Denn  der  auf  dem  Papier  stehende  Satz  ist 
erst  ein  Buchdrama,  ein  Libretto;  zu  seinem  vollen  Wesen  gehört  die 
Gliederung,  die  Tonverteilung,  das  Heben  und  Senken  der  Stimme  —  alles 
Dinge,  die  durch  Punkt  und  Komma,  Frage-  und  Ausrufungszeichen,  Klam- 
mer und  Anführungszeichen,  Gedankenstrich  und  Gedankenpunkte  ange- 
deutet werden.  In  diesem  Sinn  vervollständigen  auch  andere  typo- 
graphische Mittel  den  Satz:  der  Sperrdruck  oder  als  sein  unerfreulicher 
Komparativ  der  Fettdruck  lenken  den  Blick  auf  die  wichtigsten  Worte  oder 
Satzteile  (oder  Sätze);  das  Absetzen  nach  einem  Satzende  vergrößert  die 
Pause.  —  Man  wird  gut  tun,  diese  Mittel  sparsam  anzuwenden,  nicht  bloß, 
weil  ihre  Verschwendung  (wie  etwa  in  den  Briefen  König  Friedrich  Wil- 
helms IV.  das  Unterstreichen)  den  Eindruck  abstumpft,  auch  nicht  bloß, 
weil  es  häßlich  aussieht,  sondern  vor  allem,  weil  es  von  Mißtrauen  in  die 
eigene  Technik  zeugt,  sobald  man  (wie  z.  B.  Robert  Hamerling  in 
seinen  philosophischen  Epen)  fortwährend  zu  diesen  äußeren  Hilfen  seine 
Zuflucht  nehmen  muß. 

>)   D.  F.  Strauss,  Der  Papierreisende,      Berlin  1905,  S.  358  u.  f. 
Gesammelte  Schriften  2,  367.  ')  Zur  Sache  vgl.  von  Loeper  in  seiner 

^)   Vgl.  Fehlke,   Bettinas   Briefromane,   |   Ausgabe  von  Goethes  Gedichten  3,  7. 

6* 


84  Stiustik. 


Achtes  Kapitel. 
Arten  des  Satzes. 

§  94.  Arten  des  Satzes.  Was  wir  in  den  beiden  vorigen  Kapiteln  aus- 
geführt haben,  gilt  für  den  abstrakten  „Satz",  für  jede  Art  des  Satzes.  Für 
die  Stilistik  hat  natürlich  aber  auch  die  Satzart  eine  große  Bedeutung.  An 
diese  wurden  wir  schon  herangeführt,  als  wir  Tonzeichen  wie  ?  und  !  zu 
erwähnen  hatten:  daß  sie  für  .  oder  ;  oder  :  eintreten,  beweist  schon  für 
spezifische  Arten  des  Satzes. 

Die  Sprache  ist  nach  ihrem  Ursprung  und  Zweck  1.  unwillkürlicher 
Reflex  auf  eine  erregende  Erscheinung,  2.  willkürliche  Mitteilung.  Es  er- 
geben sich,  je  nachdem  ob  diese  Arten  rein  oder  vermischt  vorliegen,  drei 
Formen:  a)  rein  monologisch,  b)  Übersetzung  aus  der  Reflexbewegung  in 
die  Mitteilung,  c)  von  vornherein  für  die  Mitteilung  bestimmt.  Wir  haben 
hiernach  folgende  Satzarten : 

a)  rein  monologische  Reflexionsäußerungen:  Ausrufe  im  weitesten 
Sinn  des  Wortes. 

b)  Übersetzung  aus  der  Reflexbewegung  in  die  Mitteilung:  eigent- 
liche Aussage,  d.  h.  Übermittlung  einer  erregenden  Tatsache  an  einen 
Zweiten. 

c)  Von  vornherein  beabsichtigte  Mitteilung,  Anrede: 
a)  Aufforderung  zu  einer  Aussage:  Frage, 

ß)  Aufforderung  zu  einer  Handlung:  Heischesatz. 

Im  ganzen  entsprechen  diese  vier  Typen  den  vier  indogermanischen 
„Modis":  dem  Ausruf  der  Optativ,  dem  Aussagesatz  der  Indikativ,  der 
Aufforderung  der  Imperativ;  doch  nimmt  die  Frage  sowohl  den  Indikativ 
als  den  Konjunktiv,  und  der  Konjunktiv  hat  auch  an  der  -Aufforderung  teil. 

§  95.  Satz-  und  Stilarten.  Jede  dieser  Satzarten  hat  nun  bestimmte, 
in  ihrem  Wesen  begründete  Eigenheiten.  Die  äußeren,  über  die  wieder 
die  Syntax  zu  unterrichten  hat,  sind  nur  das  Abbild  der  inneren. 

Jede  von  ihnen  vertritt  auch  eine  eigene  Form  der  Prosa:  dem  Aus- 
ruf erwuchs,  wie  die  lyrische  Poesie,  so  auch  die  lyrisch  bewegte,  poetische 
Prosa  der  Meditationen,  Gebete  (so  weit  sie  nicht  aus  Heischesätzen  be- 
stehen) u.  s.  w.;  der  Aussage  die  berichtende,  der  Frage  die  untersuchende 
Prosa  (Erzählung  —  wissenschaftliche  Prosa);  dem  Imperativ  die  gesamte 
Beredsamkeit. 

§  96.  Ausruf.  Formale  Eigenheiten  der  Ausrufsätze  sind:  die  Nei- 
gung zur  „Formlosigkeit",  zum  möglichsten  Erschöpfen  des  gesamten  Wort- 
oder Vorstellungsinhalts;  aufsteigender  und  danach  absinkender  Rhjihmus, 
gern  durch  einen  (aus  einer  Interjektion  u.  dgl.  bestehenden)  Auftakt  eröffnet. 

Dem  entsprechen  die  inhaltlichen  Eigenheiten.  Ausrufsätze  begegnen 
in  zwei  Haupttypen: 


Achtes  Kapitel.   Arten  des  Satzes.  85 

1.  innerhalb  des  Textes  als  wirklicher  Ausruf  erregter  Personen:  „O 
Himmel!'"     „Was  seh  ich!"     „Schon  sieben  und  mein  Karl  nicht  da!" 

2.  außerhalb  des  Textes  als  Überschrift  und  Ankündigung,  Buch-  oder 
Kapiteltitel. 

Jene  eingliedrigen  Ausrufe,  die  erst  von  der  neueren  Syntax  als  voll- 
ständige Sätze  anerkannt  worden  sind,  haben  wir  schon  als  Überbleibsel 
urältesten  Sprachgebrauchs  angesprochen.  Es  drängt  sich  dem  Redenden 
eine  Vorstellung  in  ihrer  ganzen  Fülle  auf;  er  will  den  gesamten  Inhalt 
des  Wortes  „Feuer!"  nicht  durch  eine  nähere  Begrenzung  einengen.  Das 
Wort,  das  sonst  durch  das  Verb  auf  einen  bestimmten  Gesichtswinkel  fest- 
gelegt wird,  soll  mit  seiner  gesamten  Körperlichkeit  (wenn  man  so  sagen 
darf)  wirken.  Unpassend  ist  es  daher,  in  unmittelbare  Nähe  eines  solchen 
vollen  Ausrufs  eine  steif  gedrechselte  Periode  zu  bringen,  wie  z.  B.  der 
Rationalist  Paulus  in  seiner  Anzeige  von  J.  H.  Voss'  Tod: 

Voß  ist  nicht  mehr  unter  uns,  er  kann  die  frohen  Stunden  nicht  mehr  wieder- 
holen, wo  er.  seinem  höchst  verehrten  Fürsten  und  Wohltäter  Glück  und  Heil  anzu- 
wünschen,  jene  durch  das  Gemüt  gestärkte  Kraft  in  sich  gefühlt. 

(Görres,  \'oß'  Totenfeier  S.  18.) 

Hier  steht  der  Ausruf  immerhin  in  runder  Satzform:  „Voss  ist  nicht 
mehr  unter  uns!";  denken  wir  uns  dafür  den  Schreckensruf:  „Voss  tot!", 
so  würde  die  Abgeschmacktheit  der  darauf  folgenden  steifen  Wendung  noch 
unerträglicher.     (Näheres  über  den  Ausruf  bei  Bain,  Stilistik  1,  220  f.) 

Die  Überschriften  und  Titel  sind  nichts  anders  als  solche  Ausrufe  in 
erstarrter  Form.  Der  Zeitungsverkäufer,  der  ausschreit:  „Neuestes  Extra- 
blatt!" oder  „Großer  Sieg  der  Japaner!"  gibt  eine  Überschrift;  der  Ver- 
fasser eines  höchst  gelehrten  Werkes  „Phänomenologie  des  sittlichen  Be- 
wußtseins" oder  Leopold  v.  Ranke  mit  irgend  einer  Kapitelüberschrift 
ruft  den  Inhalt  eines  Buches  oder  Abschnitts  aus.  Diese  Natur  des  Aus- 
rufs muß  respektiert  werden.  Titel  und  Ankündigungen  müssen  „gerufen" 
werden  können,  müssen  sich  bequem  zitieren  lassen.  Je  wirksamer,  desto 
besser.  Daher  sind  reimende  oder  alliterierende  Titel  mit  Recht  beliebt, 
wie  etwa  der  geistreiche  Name  eines  Buches  über  das  heutige  Rom:  „Torso 
und  Corso"  —  der  Torso  des  Herkules  vertritt  die  Kunstsammlungen,  der 
Corso,  die  Hauptstraße  Roms,  das  öffentliche  Leben,  und  so  gibt  dieser 
Titel  in  eindringlicher  Form  Einheit  und  Vollständigkeit  zugleich.  Nur 
darf  freilich  der  Ehrenhold  auch  nicht  gar  zu  laut  schreien:  wir  wollen  für 
das  Stück  noch  etwas  Spannung  behalten;  also  nicht  zu  pedantisch  genaue 
Titel;  und  Reklame  schreckt  ab,  also  nicht  zu  „schreiende"  Ankündigungen: 
„Ganz  neue,  auf  die  besten  Quellen  gestützte  Anleitung  — ".  —  Aber 
ebensowenig  dürfen  die  Ankündiger  stottern  und  lispeln  wie  jene  unmög- 
lichen Buchtitel:  „Warum  geht  dieser  Mißklang  durch  die  Welt?"  (Roman 
von  Ossip  Schubin;  vgl.  meine  Deutsche  Literaturgeschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts S.  729)   oder  gar  bei  einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  der 


86  Stilistik. 


Titel  einer  Schrift  von  Daumer:  „Kaspar  Hauser.  sein  Wesen,  seine  Un- 
schuld, seine  Erduldungen  und  sein  Ursprung  in  neuer  gründlicher  Er- 
örterung und  Nachweisung.''  Dergleichen  erweckt  gleich  Verdacht,  wie  man 
denn  jenes  Buch  „verworren  und  verwaschen  wie  sein  Titel"  (Allgemeine 
Deutsche  Biographie  11,91)  genannt  hat. 

§  97.  Aussage.  Die  Aussagesätze  bilden  bei  weitem  die  größte 
Masse  wie  der  menschlichen  Rede  so  auch  der  in  Schrift  und  Druck  fixierten 
Prosa.  Die  Novelle  und  der  Roman,  das  Märchen  und  der  Schwank,  die 
Geschichtsdarstellung  und  die  Naturbeschreibung  bewegen  sich  so  gut  wie 
ausschließlich  in  solchen  Mitteilungssätzen.  Sie  können  natürlich  bei  leb- 
hafterer Färbung  in  den  Ausruf  wieder  zurückfallen,  aus  dem  sie  erwachsen 
sind;  ein  Geschichtschreiber  Roms  mag,  wie  die  Römer  selbst  nach  Cannae, 
rufen:  „Hannibal  ad  portas!""  „Hannibal  vor  den  Toren'';  aber  das  bleibt 
Ausnahme  wie  die  Einmischung  von  Frage  und  Befehl. 

Die  formalen  Eigenheiten  des  Aussagesatzes  fließen  aus  seiner  Haupt- 
pflicht: möglichste  Klarheit  ist  für  eine  zureichende  Übermittlung  erregender 
Tatsachen  erste  Bedingung.  Einfachheit  und  Genauigkeit  kommen  ihr  zu 
Hilfe.  Der  Aussagesatz  hält  sich  daher  gern  ruhig;  wie  der  Ausruf  dem 
Numerus  Schillers,  liegt  die  Aussage  dem  Goethes  zugrunde.  Grund- 
form: Allmähliches  Aufsteigen  und  Absinken;  Mittelstellung  des  beim  Aus- 
ruf (wenn  es  dort  überhaupt  angewandt  wird)  vorangestellten  Verbums. 
Satzbild  ^- — ^  gegen  Ausruf  —"^x  ,  Frage  ""~~-~.. 

Was  über  den  Satz  im  allgemeinen  zu  sagen  ist,  gilt  vorzugsweise 
für  den  normalen  Satz:  den  Aussagesatz.  Bei  ihm  vor  allem  tut  die  Voll- 
ständigkeit Not,  die  beim  Ausruf  durch  Intensität  eines  Eindrucks  ersetzt 
werden  kann,  und  bei  der  Frage  zuweilen  fehlt,  weil  eine  Antwort  voraus- 
gesetzt wird.  (Ebenso  aber  auch  bei  der  Antwort,  weil  die  Frage  seine 
Bedingung  ist:  der  Antwortsatz  ist  freilich  ein  Aussagesatz,  aber  durch  die 
Frage  in  seiner  Eigenheit  beeinflußt.) 

§  98.  Zusammengesetzter  Satz.  Der  Aussagesatz  ist  auch  der  Hauptfall 
des  zusammengesetzten  Satzes.  Dieser  kommt  zustande,  indem  die 
Frage  oder  der  Einwurf  des  Zweiten  vorausgenommen  und  der  hierauf 
antwortende  Satz  mit  der  Aussage  verschmolzen  wird: 

a)  proleptische  Antwort  auf  eine  Frage 

u)  sie  richtet  sich  auf  den  ganzen  Satz: 

aa)  wann?  temporale  Nebensätze.  Jch  werde  —  sobald  ich",  — 
oder  „nachdem  ich  — "  oder  „noch  ehe  ich  — ". 

(iß)  wie?  allerlei  Konjunktionalsätze.  „Ich  will  —  indem  ich''  —  oder 
„dadurch  daß  ich"  u.  s.  w. 

}'}')  warum?  kausale  Nebensätze.  „Ich  muß  — ,  weil  ich  .  .",  oder 
„da  ich"  — . 

(5(5)  wozu?  finale  Nebensätze.  „Ich  soll. —  damit  ich"  — oder  „um 
zu  — " 


Achtes  Kapitel.   Arten  des  Satzes.  87 


ß)  sie  richtet  sich  auf  einen  einzelnen  Satzteil: 

ee)  Relativsatz  mit  demonstrativem  Korrelat: 

.Der  König  will  diesen  Becher  einem  seiner  Mannen  schenken?"  Welchem?  .Er 
will  ihn  demjenigen  schenken,  der  ihn  aus  dem  Strudel  heraufbringt.' 

b)  proleptische  Antwort  auf  einen  Einwurf: 

a)  auf  Zweifel  an  der  Möglichkeit,  an  der  Ausführbarlieit:  konditional. 
„Ich  tue  dies  unter  der  Voraussetzung,  daß'',  oder:  „wenn  — ". 

(i)  auf  Bedenken  an  der  Zulässigkeit,  der  Rätlichkeit,  konzessiv.  „Ich 
lasse  dies,  obwohl''  —  oder  „wenn  ich  auch". 

Die  Nuancen  der  zusammengesetzten  Aussagesätze  werden  noch  deut- 
licher durch  hinzutretende  Adverbia  ausgearbeitet:  „weil  ich  leider"  —  oder 
„erfreulicherweise";  „wenn  ich  dennoch  — ". 

§  99.  Frage.  Anredesätze  fordern  zu  einer  JVlitteilung  oder  einer 
Handlung,  einer  verbalen  oder  realen  „Tat"  auf. 

Die  Fragesätze  wollen  eine  Mitteilung  hervorrufen.  Ihre  formale 
Eigenheit  liegt  in  der  eigentümlichen  Tonlage,  dem  starken  Abfall  des  Tons 
von  oben  her.  Anfangstellung  des  Verbs;  Vermeidung  des  Auftakts.  (Wir 
sprechen  immer  nur  von  den  normalen  Formen.) 

Der  Fragesatz  muß  scharf  und  bestimmt  wie  ein  Pfeil  auf  ein  be- 
stimmtes Ziel  losgehen.  Er  berührt  sich  deshalb  mit  dem  Ausruf:  auch 
bei  ihm  kann  von  der  Vollständigkeit  dispensiert  werden.  „Wer  da?", 
eine  gerufene  Frage:  das  Bedürfnis  nach  Auskunft  drängt  sich  gebieterisch 
auf  die  Lippen.     (Näheres  über  das  Wesen  der  Frage  bei  Bain  1,  215  f.) 

Der  Fragesatz  wird  oft  durch  den  (vorhergehenden  oder)  folgenden 
Satz  vervollständigt.  „Du  hast  mich  beleidigt!"  „Wodurch?"  Die  Frage 
schließt  jene  Aussage  ein:  „Wodurch  habe  ich  dich  beleidigt?"  Oder  es 
geschehen  ganz  allgemein  gehaltene  Fragen:  „Was  ist  geschehen?",  eine 
Anfrage,  deren  scheinbar  bodenlose  Allgemeinheit  erst  durch  die  Antwort 
eingeschränkt  wird:  „Die  Mohikaner  haben  unsere  Hütten  verbrannt". 

Der  Fragesatz  gehört  also  besonders  eng  in  die  Struktur  des  ganzen 
Abschnitts  herein  und  muß  sorgfältig  eingefügt  und  klar  formuliert  werden, 
damit  eine  genaue  Antwort  möglich  ist. 

§  100.  Symbolische  Sätze.  Der  Dialog  mit  Frage  und-  Antwort  gibt 
auch  den  Hauptfall  der  bloß  symbolischen  Sätze.  Diese  sind  nicht  mit 
den  sogenannten  elliptischen  Sätzen  zu  verwechseln,  die  (s.  o.  §  83 — 84)  an 
sich  vollständig,  nur  formell  nicht  abgerundet  sind.  Die  symbolischen  Sätze 
dagegen  sind  der  einzige  Fall,  in  dem  unsere  Definition  versagt,  daß  der 
Satz  ein  an  sich  vollkohimen  verständliches  Stück  menschlicher  Rede  sei. 
Zwar  trifft  dies  auch  bei  ihnen  zu,  wenn  man  sie  im  Zusammenhang  be- 
trachtet, nicht  aber,  wenn  man  sie  herauslöst.  „Oh!"  oder  „ah!"  haben 
an  sich  einen  verständlichen  Inhalt,  „ja",  „nein",  „keineswegs",  „aller- 
dings" sind  leer.  Wir  müssen  sie  symbolisch  deuten,  um  diesen  Partikeln 
Inhalt  zu  geben.  ** 


88  Stilistik. 


Die  Konjunktionen  dienen  der  Satzverbindung  (s.  u.  Kap.  IX).  Unter 
ihnen  kann  man  zwei  Gruppen  unterscheiden:  1.  solche,  die  die  Sätze 
zweier  Sprecher,  2.  solche,  die  die  Sätze  eines  Redners  verbinden.  Zur 
Überleitung  aus  der  Rede  des  einen  in  die  des  andern  dienen  die  Be- 
jahungs-  und  Verneinungspartikeln,  ferner  die  (im  Germanischen 
fehlenden)  Fragepartikeln.  Natürlich  können  diese  Konjunktionen  auch  da 
angewandt  werden,  wo  der  eine  Redner  sich  gleichsam  in  zwei  Personen 
spaltet,  sich  selbst  befragt  und  antwortet.  (Vgl.  allgemein  Wunderlich, 
Satzbau,  1.  Aufl.,  S.  201  f.) 

Die  Bejahungs-  und  Verneinungspartikeln  sind  in  allen  neueren  Spra- 
chen zur  Abkürzung  des  Dialogs  geschaffen,  während  z.  B.  lateinisch  noch 
der  ganze  Satz  oder  sein  Hauptwort  wiederholt  werden  muß.  (Allenfalls 
dient  ita  zur  alleinigen  Bejahung,  non  ita  zur  Verneinung.) 

„Ja"  dient  zur  anerkennenden  Aufnahme  eines  Satzes;  es  ist  gleich- 
sam das  Signum,  durch  das  der  Angesprochene  den  Vorschlag,  den  Be- 
richt, die  Meinung  des  Erstredenden  ratifiziert.  Es  wird  deshalb  auch  gern 
verstärkt:  „Ja  gewiß",  „ja  freilich",  oder  auch  durch  diese  Verstärksparti- 
keln  ersetzt:  „Freilich!"   „allerdings!". 

„Nein"  dient  zur  Verweigerung  der  Anerkennung:  der  Inhalt  der 
Frage,  die  Forderung,  die  Bitte  werden  abgelehnt.  Auch  „nein"  wird  gern 
verstärkt,  namentlich  in  der  Volksrede  durch  substantivische  Ausdrücke 
(Paul,  Mittelhochdeutsche  Grammatik  §  313),  oder  höflich  umkleidet  und 
mit  Stimmungsworten  umgeben:  „leider  nein".  —  Über  die  Negation  als 
solche  hat  wieder  die  Syntax  zu  handeln  (Delbrück  a.  a.  O.  2,  519  f.). 
Anzumerken  ist  nur,  daß  die  früher  gestattete  mehrfache  Negation  (mittel- 
hochdeutsch: Paul  §  312;  volkstümlich:  BiNZ,  Zur  Syntax  der  Baselstädter 
Mundart,  Stuttgart  1858,  S.  26  f.)  durch  die  schulmeisterliche  Pedanterie  des 
Sprachunterrichts  seit  dem  17.  Jahrhundert  verboten  ist:  „da  beißt  keine 
Maus  keinen  Faden  ab";  vgl.  R.  Hildebrand,  Gesammelte  Aufsätze  und 
Vorträge  S.  214  f.). 

„Ja"  und  „nein"  und  ihre  Äquivalente  sind  also  symbolische 
Sätze:  sie  deuten  den  gesamten  Inhalt  des  von  einem  anderen  gesprochenen 
Satzes  etwa  unverändert  oder  in  Umkehr  an.  Immerhin  bleibt  eine  gewisse 
Leerheit  in  diesen  Worten  und  sie  sollen  deshalb  nicht  zu  oft  verwandt 
werden,  oder  aber  mit  großem  Nachdruck. 

Auch  dadurch  können  symbolische  Sätze  zustande  kommen,  daß  ein 
Teil  der  Rede  aufgenommen  wird,  wie  so  oft  im  Dialog.    Etwa  in  Geibels 

hübschem  Schulgedicht: 

.Doch  der  andern 
Etwelche  könnten  — ".    .Könnten?'  fiel  er  ein. 
Gleich  sehr  empört  als  Rektor  und  Grammatikus, 

wo  wir  den  symbolischen  Satz  neben  dem  abgebrochenen  haben.  „Könnten' 
vertritt  hier  den  Satz,  an  dessen  Verbalform  der  Schulmann  Anstoß  nimmt. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  89 

Solche  symbolischen  Sätze  und  Sätzchen,  verkürzte  Wiederholungen  eines 
Redestückes,  an  das  man  anknüpft,  sind  in  der  lebhaften  Wechselrede  un- 
gemein häufig;  sie  greifen  natürlich  dasjenige  Wort  auf,  das  näher  be- 
handelt werden  soll,  und  die  Rede  des  andern  wird  gleichsam  eine  an 
diesem  Worte  befestigte  Anmerkung. 

§  101.  Heischesätze.  Die  Aufforderung  zu  einer  Handlung,  der  Heische- 
satz, besitzt  die  formale  Eigenheit  der  Kürze,  hat  eine  starke  Tendenz, 
zum  Schluß  aufzusteigen,  und  liebt  die  Anfangs-  oder  Mittelstellung  des 
Verbs.  Der  Heischesatz  wird  von  Europens  übertünchter  Höflichkeit  gern 
durch  Umschreibungen  gemildert,  aber  auch  besonders  im  Drama  oft  in 
seiner  ganzen  Strenge  herausgekehrt;  übrigens  nimmt  er  immer  nur  einen 
geringen  Raum  des  Textes  ein. 

Neuntes  Kapitel. 

Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht. 

§  102.  Arten  der  Satzverbindung.  Ein  isolierter  Satz  kommt  fast  nur  in 
der  Theorie  vor.  In  Wirklichkeit  steht  so  gut  wie  ausnahmslos  jeder  Satz 
in  Verbindung  mit  andern.    Diese  Verbindung  hat  drei  Stufen  der  Intimität: 

1.  die  Sätze  sind  auf  zwei  Redner  verteilt  (oder  beliebig  viel  Redner: 
es  kommt  ja  nur  darauf  an,  daß  nach  A  irgend  ein  B  spricht), 

2.  die  Sätze  folgen  sich  in  der  Rede  einer  Person, 

3.  die  Sätze  sind  zu  einem  zusammengesetzten  Satz  verschlungen. 

Zwischen  den  Sätzen  zweier  Unterredner  ist  die  Verbindung  am  lose- 
sten; sie  kann  auch  durch  bloße  Kontinuität  ersetzt  werden.  Wenn  z.  B. 
mehrere  Boten  hintereinander  je  einen  Bericht  überbringen,  können  diese 
Rapporte  ohne  jeden  Bezug  nebeneinander  stehen.  Im  allgemeinen  liebt 
es  jedoch  jede  kunstvollere  Prosa,  irgend  eine  Beziehung  herzustellen;  der 
zweite  sagt  etwa:  „Mehr  Glück  hatte  ich",  der  dritte:  „auch  ich  traf  den 
Feldherrn  nicht  mehr  an"  u.  dgl.  —  Am  engsten  ist  die  Verbindung  der- 
jenigen Sätze,  die  in  ein  einheitliches  System  verschlungen  sind.  Ihre 
Zusammengehörigkeit  wird  schon  dadurch  gekennzeichnet,  daß  der  eine  — 
der  „Hauptsatz"  —  regiert,  wie  im  zusammengesetzten  Wort  ein  Teil  den 
Hauptton  hat.  Es  gibt  also  immer  nur  einen  Hauptsatz,  dagegen  theo- 
retisch eine  unbegrenzte  Zahl  von  Nebensätzen. 

Eine  prinzipielle  Verschiedenheit  zwischen  der  Verbindung  im  Satze 
oder  in  der  längeren  Rede  ist  nicht  vorhanden.  (Kiesel,  Stilistik  S.  152  f. 
gebraucht  den  Ausdruck  „Satzverbindung"  lediglich  für  die  Satzzusammen- 
setzung.) Zuweilen  steht  es  auch  in  der  Willkür  des  Hörers,  ob  er  die 
Sätze  in  eine  oder  mehrere  Perioden  ordnen  will.     Uhlands  Verse 

Wir  sind  nicht  mehr  beim  ersten  Glas, 

Drum  denken  wir  gern  an  dies  und  das. 

Was  rauschet  und  was  brauset 
lassen  sich  auch  mit  einem  Punkt  nach  dem  ersten  Vers  lesen. 


90  Stilistik. 


§  103.  Normale  Satzverbindung.  Das  Hauptmittel  nun,  um  Sätze  zu 
verbinden,  sind,  wie  schon  bemerkt,  die  (eben  danach  benannten)  Kon- 
junktionen. Sie  dienen  zur  Verdeutlichung  der  von  den  Sätzen  gebildeten 
Linien  und  Winkel:  eine  kopulative  Konjunktion  (wie  „und",  „auch") 
deutet  an,  daß  die  verbundenen  Sätze  parallel  laufen,  eine  adversative 
{„aber",  „doch"),  daß  sie  nach  entgegengesetzter  Richtung  streben  u.  s.  w. 
Über  die  Anwendung  im  einzelnen  unterrichtet  wieder  die  Syntax. 

§  104.  Asyndeton.  Stilistisch  zu  bemerken  sind  jedoch  die  Fälle, 
in  denen  Konjunktionen  gespart  oder  verschwendet  werden.  Den  ersten 
Fall  nennt  man  Asyndeton  (Bernhardi,  Sprachlehre  S.  112;  Wackernagel 
S.  409).  Vorzugsweise  bezeichnet  man  mit  diesem  Ausdruck  das  Fehlen 
des  kopulativen  „und",  doch  dehnt  man  (Wackernagel  S.  411)  ihn  mit 
Recht  auf  alle  Fälle  aus,  in  denen  in  auffälliger  Weise  ein  oder  (in  der 
Regel)  mehrere  Bindeworte  fehlen. 

Die  psychologische  Wurzel  der  Asyndeta  liegt  in  der  Hast,  die  un- 
verbunden  hervorsprudelt,  was  wir  uns  sonst  die  Zeit  nehmen  aneinander- 
zubinden.  So  bei  Klopstock  (Messias  10,  1048)  in  freilich  schon  zu  ab- 
sichtlicher Häufung: 

Er  rufte  mit  lechzender  Zunge:  Mich  dürstet! 

Ruft's,  trank,  darstete,  bebte,  ward  bleicher,  betete,  rufte: 

Vater,  in  deine  Hände  befehl  ich  meine  Seele  — 

Kein  Asyndeton  liegt  vor,  wenn  die  gewöhnlichen  Bindemittel  durch 
andere  ersetzt  werden,  z.  B.  durch  den  Parallelismus  (s.  u.  §  127),  wie  in 
dem    ebenfalls   von    Wackernagel    angeführten    „Abschied    vom    Leser" 

Schillers: 

Der  Lenz  erwacht:  auf  den  erwärmten  Triften 
Schießt  frohes  Leben  fugendlich  empor  .  .  . 
Der  Lenz  entflieht:  die  Blume  schießt  in  Samen 
Und  keine  bleibt  von  allen,  welche  kamen. 

„Die  gewöhnliche  Ausdrucksweise",  sagt  er,  „würde  hier  einen  kon- 
ditionalen Nebensatz  gebildet  haben:  ,Wenn  der  Lenz'  u.  s.  w."  Es  kommt 
aber  nicht  darauf  an,  was  die  gewöhnliche  Ausdrucksweise  tun  würde,  son- 
dern lediglich  darauf,  welchen  Eindruck  wir  von  der  gewählten  Form  em- 
pfangen. Nun  bindet  der  Parallelismus  die  zwei  ersten  und  die  zwei 
zweiten  Sätze  augenfällig  aneinander:  das  post  hoc  wird  als  propter  hoc 
empfunden  und  also  keine  Lücke  gefühlt. 

§  105.  Polysyndeton.  Das  Gegenstück  zum  Asyndeton,  der  im  eigent- 
lichsten Sinn  „ungebundenen  Rede"  bildet  das  Polysyndeton,  das  „Viel- 
verbundene" (Bernhardi  S.  113).  Die  merkbare  Häufung  der  Bindeworte 
macht  hier  auf  die  Häufung  der  parallelen  Sätze  oder  sinnverwandten  Worte 
aufmerksam.  Im  übrigen  ist  die  Verschiedenheit  der  beiden  Figuren  keines- 
wegs so  groß,  wie  die  der  Symmetrie  frohe  Stilistik  meint.  „Das  Asyn- 
deton", sagt  Wackernagel  (S.  413)  „gibt  eine  progressive  Folge  von  Mo- 
menten; das  Polysyndeton  macht  die  einzelnen  Momente  einander  gleich- 


Neuntes  Kapitel.   Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  91 

zeitig".     Das   trifft    manchmal   zu,    ebenso    oft    aber   aucfi    nicht.     Nathan 

erzähh: 

Geweint?    Beiher  mit  Gott  wohl  auch  gerechtet, 

Gezürnt,  getobt,  mich  und  die  Welt  verwünscht : 

Der  Christenheit  den  unversöhnlichsten 

Haß  zugeschworen  —  (Vers  670  f.,  Akt  IV,  7.) 

Sollen  nicht  all  diese  asyndetischen  Zustände  als  gleichzeitig,  als  un- 
entwirrbar verbunden  dargestellt  werden?  Und  wenn  das  Märchen  vom 
Krautesel  (Brüder  Grimm  2,  180)  schließt:  „Da  ward  er  anderes  Sinnes 
und  sprach  „ — ".  Und  da  ward  Hochzeit  gehalten,  und  sie  lebten  ver- 
gnügt miteinander  — ".  Leitet  da  nicht  jedes  „Und"  einen  zeitlich  fol- 
genden Moment  ein? 

Das  Wesentliche  ist  eben  in  beiden  Figuren:  1.  die  Häufung,  2.  der 
Mangel  einer  durchgreifenden  Verbindung.  Weniger  auffällig  würde  die 
rasche  Folge  der  Zustände  oder  Handlungen  —  deren  Schnelligkeit  zu 
einem  unentwirrbaren  Neben-  und  Durcheinander  führen  kann,  wie  bei 
Nathans  Bericht  — ,  wenn  eine  regelrechte  Verbindung  einträte:  „Da  ward 
er  andern  Sinnes  und  sprach  —  So  konnten  sie  nun  Hochzeit  halten"  — . 
Ob  die  rasch  hintereinander  auf  den  Tisch  gezählten  Worte  und  Hand- 
lungen durch  Pausen  getrennt  sind,  oder  ob  ein  immer  wiederholtes  „und" 
zwischen  ihnen  steht,  das  hier  doch  eigentlich  nur  eine  artikulierte  Pause 
ist  —  in  der  symbolischen  Nachbildung  einer  schnellen  Folge  der  Wirk- 
lichkeit durch  eine  schnelle  Folge  der  Erzählung  macht  das  gar  keinen 
Unterschied. 

Im  übrigen  sind  beide  Figuren  beliebte  Begleiterscheinungen  der 
Häufung  (vgl.  §  46)  und  haben  oft  einen  künstlichen  Charakter  wie  bei 
Klopstock.  Weil  sie  aber  leicht  zu  erkennen  sind,  spielen  sie  in  den 
Lehrbüchern  eine  weit  größere  Rolle  als  viel  wichtigere  und  interessantere 
Figuren.') 

§  106.  Bindung  durch  betonte  Worte.  Anaphora.  Konjunktionen  sind  aber 
nicht  die  einzigen  Worte,  durch  die  Sätze  verbunden  werden  können.  Viel- 
mehr kann  durch  die  Art  der  Behandlung  ein  jedes  an  bevorzugter  Stelle 
stehendes  Wort  zum  Bindewort  werden.  Es  entsteht  so  eine  ganze  Reihe 
von  Figuren,  die  alle  mit  antiken  Kunstworten  gesegnet,  aber  von  sehr 
ungleicher  Bedeutung  sind.^) 

Die  bei  weitem  wichtigste  dieser  Figuren  ist  die  Anaphora  oder 
Anapher:  dasselbe  Wort  oder  dieselbe  Wortgruppe  kehrt  am  Anfang  meh- 
rerer aufeinander  folgender  Sätze  oder  Satzglieder  wieder  (Wackernagel 
S.  429).  Daher  der  Name  „Anaphora''  „Ziirückführiing":  das  Wort,  das 
enteilen  will,  weil  es  seine  Schuldigkeit  bereits  getan  hat,  wird  nochmals 
an  dieselbe  Stelle  zurückgeführt. 


')  Vgl.  Bain  1,  231.  I   Kunst  11,  1,  195  f.  mit  vielen  Beispielen. 

'■')  Allgemein  vgl.  Gerber,  Sprache  als 


92  Stilistik. 


Die  Anapher  ist  ein  uraltes  Bindemittel  besonders  auch  der  altgerma- 
nischen  Dichtung, ')  die  sogar,  vielleicht  schon  in  urgermanischer  Zeit,  eine 
feste  strophische  Form,  den  „anaphorischen  Dreizeiler"  ^)  entwickelt  hat: 

Es  stirbt  das  Vieh,  es  stirbt  der  Freund,  es  stirbt  auch  selbst  der  Mensch. 

(Hävamäl  Str.  75.  76.) 

Kleine  Variationen  im  Wortlaut  (wie  in  diesem  uralten  Vers,  wo  die 
Singular-  und  Pluralform  wechselt)  sind  gestattet,  solange  die  wesentliche 
Gleichheit  der  Anlautworte  merkbar  bleibt. 

Man  kann  die  Anapher  als  eine  Form  der  Häufung  auffassen,  indem 
z.B.  zu  demselben  Prädikat  die  Subjekte  gehäuft  werden:  es  stirbt  —  Ver- 
mögen, Freund,  der  Mensch  selbst.  So  ist  der  anaphorische  Dreizeiler  ja 
auch  wirklich  ein  Gegenbild  zur  Priamel.  Indessen  liegt  doch  bei  der  Häu- 
fung auf  dem  Verschiedenartigen,  bei  der  Anapher  (und  den  verwandten 
Figuren)  auf  dem  Gleichbleibenden  der  Ton.  Ein  bestimmter  Eindruck 
erfaßt  mich  so  mächtig,  daß  ich  ihn  auf  verschiedene  Träger  zu  verteilen 
suche;  er  kehrt  immer  wieder  wie  ein  Echo.  Oft  hat  die  Anapher  auch 
eine  ganz  bestimmte  kulturhistorische  Grundlage.  Es  ist  kein  Zufall,  daß 
besonders  häufig  Gruß-  und  Abschiedsformeln  anaphorisch  auftreten,  in 
der  Edda,  bei  den  Minnesängern,  in  Schillers  Spaziergang. 

Sei  mir  gegrüßt,  mein  Berg,  mit  dem  rötlich  strahlenden  Gipfel! 
Sei  mir,  Sonne,  gegrüßt,  die  ihn  so  lieblich  bescheint! 

Das  hat,  genau  wie  die  sogenannte  epische  Wiederholung  (die  wört- 
liche Wiederkehr  von  Botschaften  u.  dgl.),  seinen  Grund  in  den  historischen 
Verhältnissen :  der  Heimkehrende  hat  jeden  Bewohner  des  Hauses,  der  Ab- 
reisende jeden  Begleiter  besonders  zu  grüßen  und  wer  keinen  vollen  Gruß 
erhält,  ist  schwer  gekränkt.  Noch  wichtiger  ist  die  gleiche  Anrede  bei 
dem  Gebet  zu  mehreren  Göttern  oder  bei  der  Bitte  an  mehrere  versam- 
melte Fürsten  u.  dgl. 

Die  Anapher  ist  eine  sehr  wirksame  Figur  und  wird  von  Schrift- 
stellern, die  ein  lebhaftes  Temperament  mit  einer  logischen  Disposition 
vereinigen,  wie  Kleist  oder  Grillparzer,  bevorzugt.  Sie  wird  in  der 
Poesie  durch  gleichlautende  Verse,  in  der  Prosa  durch  die  Ansprache  an 
verschiedene  gefördert.  Sie  verbindet  sich  gern  (s.  u.)  mit  andern  Figuren, 
so  auch  mit  der  Gradation  oder  Steigerung  wie  in  dem  zitierten  Spruch 
der  Edda. 

Zu  fordern  ist,  daß  die  Anapher  auf  einem  betonten  Wort  ruhe.  Wenn 
verschiedene  Sätze  oder  Sätzchen  mit  einem  tonlosen  Personalpronomen 
oder  einer  proklitischen  Konjunktion  beginnen,  so  hat  das  ganz  andere 
Wirkung;  sonst  wäre  ja  jedes  Polysyndeton  zugleich  eine  Anaphora.  Natür- 
lich aber  kann  jedes  Wort  unter  Umständen  taugen:  „Wir  haben  es  ge- 
plant, wir  haben  es  eingeleitet,  wir  wollen  es  vollbringen!" 

')  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  1  *)  Ebendaselbst  S.  316. 

S.  315  f.,  506. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  for^'^ieller  Hinsicht.  93 

Die  Anaphora  ist  ein  Lieblingsmittel  insbesondere  auch  der  Be- 
redsamkeit, weil  sie  aufstachelnd  wirkt  wie  ein  Alarmsignal.  Ein  Wort 
kann  genügen:  „Das  ist  kein  Machtspruch  von  der  Gewalt  diktiert,  kein 
Schibboleth  der  Parteien,  keine  Phrase  politischer  Kannegießer"  (K.  Braun 
in  Flathes  Deutschen  Reden  1,  208).  Noch  häufiger  aber  wird  in  einem 
ganzen  Sätzchen  auf  eine  Hauptsache  hingewiesen: 

Sie  sind  hierher  gekommen,  um  dieses  zerstückelte  Deutschland  in  ein  Ganzes  zu 
verwandeln;  Sie  sind  hierher  gekommen,  um  den  durchlöcherten  Rechtsboden  in  einen 
wirklichen,  in  einen  starken  zu  verwandeln  [zugleich  Epiphora  s.  u.J;  Sie  sind  hierher 
gekommen,  bekleidet  mit  der  Allmacht  des  Vertrauens  der  Nation,  um  das  .einzig  und 
allein-  zu  tun.    (Robert  Blum,  20.  Juni  1848,  a.  a.  O.  S.  312.) 

Die  gewöhnliche  Zahl  der  anaphorisch  verbundenen  Glieder  ist  überall 
die  Dreizahl:  groß  genug,  um  empfunden  zu  werden,  nicht  groß  genug, 
um  zu  ermüden.  Gelegentlich  natürlich  kann  eine  größere  Zahl  wirksam 
eintreten,  doch  bedarf  es  dann  weiterer  Hilfsmittel. 

Je  näher  die  gleichen  Anlaute  aneinander  rücken,  desto  mehr  fallen 
sie  ins  Ohr;  unmittelbar  natürlich  können  sie  sich  nicht  folgen,  da  sie  dann 
aufhören  würden,  Anlaute  ganzer  Sätze  oder  Sätzchen  zu  sein.  Bei  Versen 
ist  wohl  nur  dann  eine  Anapher  wirksam,  wenn  sie  spätestens  beim  dritten 
Verse  eintritt.  Allerdings  beginnt  z.  B.  Walt  her  von  der  Vogelweide 
(Wackernagel  a.  a.  O.)  in  einem  Lied  (Lachaunn  124,  1)  jede  Strophe  mit 
,owe';  aber  das  wirkt  bloß  noch  als  Responsion,  nicht  mehr  als  Anapher. 
Immerhin  kann  solche  Strophen-Anaphora  beim  Gesang  durch  besondere 
Hilfsmittel  der  Modulation  zu  stärkerem  Eindruck  gefördert  werden ;  in  der 
Prosa  gehen  die  weit  voneinander  abstehenden  Signalstangen  dem  Blick 
verloren. 

§  107.  Epiphora.  Steht  das  betonte  Wort  umgekehrt  am  Ende  des 
Satzes  oder  Satzgliedes,  so  erhalten  wir  die  Epiphora,  die  „Zugabe",  bei 
der  nachträglich  immer  das  Gleiche  herbeigebracht  wird.  Sie  ist  jünger, 
kunstmäßiger  und  weniger  wirkungsvoll  als  die  Anapher  (weshalb  auch 
die  Abkürzung  „Epipher"  nicht  zulässig  ist).  Aber  in  feierlich  symboli- 
sierender Rede  begegnet  sie  überall. ')  Das  allgemeine  Verhältnis  zwischen 
Anaphora  und  Epiphora  ist  das  zwischen  Stabreim  und  Endreim. 

Rein  äußerlich  könnte  man  die  Entstehung  der  Epiphora  zu  der  der 
Anaphora  in  Gegensatz  bringen:  dort  würde  ein  starker  Eindruck  auf  ver- 
schiedene Faktoren  verteilt,  hier  brächten  verschiedene  Faktoren  immer 
wieder  denselben  Eindruck.  In  Wirklichkeit  liegt  doch  wohl  hier  ganz 
dieselbe  Erscheinung  vor  wie  dort  und  nur  die  Anordnung  ist  aus  rheto- 
risch-psychologischen Gründen  geändert.  Wackernagel  führt  das  be- 
rühmte Beispiel  aus  dem  „Don  Carlos"  an  (I  2): 

Ich  sah  auf  dich  und  weinte  nicht.    Der  Schmerz 
Schlug  meine  Zähne  knirschend  aneinander: 
Ich  weinte  nicht.    Mein  königliches  Blut 

')  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  S.  323. 


94  Stilistik. 


Floß  schändlich  unter  unbarmherz'gen  Streichen: 
Ich  sah  auf  dich  und  weinte  nicht. 

Was  den  Infanten  hier  erfüllt,  ist  docli  auch  die  eine  Vorstellung, 
wie  er  die  Tränen  bezwang;  er  setzt  das  ans  Ende,  um  den  wirksamen 
Effekt  aufzusparen. 

So  ist  denn  die  alte  Epiphora  wieder  vorzugsweise  in  rituellen  oder 
sonst  zeremoniell  geregelten  Beschwörungsformeln,  Betformeln  u.  dgl.  zu 
treffen:  „wenn  wir  dir  je  gehorsam  waren  —  so  erhöre  uns!  wenn  wir  dir 
je  fette  Kühe  geopfert  —  so  erhöre  uns!  wenn  wir  dich  je  vor  allen  Göttern 
geehrt  —  so  erhöre  uns!"  Freilich  ist  hier  die  Epiphora  kaum  noch  vom 
Refrain  (s.  u.)  zu  unterscheiden. 

Ein  Sonderfall  der  Epiphora  ist  der  „rührende  Reim":  die  Wiederkehr 
des  gleichen  Reimworts. 

Für  die  Anwendung  der  Epiphora  gelten  die  Regeln  der  Anaphora, 
nur  ist  sie  eben  weniger  wirksam,  weil  die  Anapher  dem  aufsteigenden 
Rhythmus  der  indogermanischen  Sätze  kräftig  entgegenstrebt,  die  Epiphora 
von  ihm  leicht  verschlungen  wird. 

§  108.  Symploke.  Schon  bei  Erwähnung  der  alten  Ritualformeln  sahen 
wir,  dal5  Anaphora  und  Epiphora  sich  leicht  in  demselben  Satz  begegnen 
können.  Dann  entsteht  die  Symploke  (Wackernagel  S.  42  f.),  die  „Ver- 
flechtung", wie  man  jede  Verbindung  mehrerer  Wiederholungsfiguren  in 
einem  Satz  oder  einem  System  von  Sätzen  nennt.  Treffen  Anaphora 
und  Epiphora  zusammen,  so  entsteht  eine  Satzwiederholung  mit  Variation, 
bei  der  aber  immer  noch  das  Gleichartige  mehr  als  das  Verschiedenartige 
betont  wird.  Die  lateinische  Wortstellung  erleichtert  solche  Künste  bis  zu 
dem  Raffinement  des  Refrains  im  „Peroigilium  Veneris": 

Cras  aniet,  qui  nunquam  amavit,  quique  amavit,  cras  amet  — 
WO  obendrein   Anapher   und   Epiphora   identisch   sind    (ähnlich  wie  in  der 
Epanodos  s.  u.)  und  die  dazwischen  stehenden  Worte  auch  noch  rührende 
Reime  bilden,  und  überdies  mit  den  unveränderten  Worten  ein  Polyptoton 
herstellen! 

Oder  wir  haben  die  Verbindung  von  Anaphora  und  Parallelismus 
(s.  u.)  wie  in  dem  berühmten  angeblich  Vergilischen  „Sic  vos  non  vobis  — ° 
(Büchmann,  Geflügelte  Worte,  21.  Aufl.  S.  435): 

Sic  vos  non  vobis  nidificatis  aves, 

Sic  vos  non  vobis  vellera  fertis  oves, 

Sic  vos  non  vobis  mellificatis  apes, 

Sic  iios  non  vobis  fertis  aratra  boves. 

Auch  im  Deutschen  lassen  sich  mancherlei  Wiederholungen  häufen 
wie  in  der  von  Wackernagel  zitierten  Stelle  wieder  im  „Don  Carlos': 

Laß  mich  weinen. 
An  deinem  Herzen  heiße  Tränen  weinen  (Epiphora), 
Du  einz'ger  Freund.    Ich  habe  niemand,  niemand  (Epizeuxis) 
Auf  dieser  großen  weiten  Erde  (Pleonasmus)  niemand  (Epiphora). 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  95 

Soweit  das  Szepter  meines  Vaters  reicht. 

Soweit  (Anaphora)  die  Schiffahrt  unsre  Flaggen  sendet, 

Ist  keine  Stelle,  keine,  keine  (Epizeuxis),  wo 

Ich  meiner  Tränen  mich  entladen  darf. 

Als  diese.    O  bei  allem,  Rodrigo, 

Was  du  und  ich  dereinst  im  Himmel  hoffe. 

Von  dieser  Stelle,  Rodrigo,  verjage. 

Verjage  (Epanodos)  mich  von  dieser  Stelle  nicht! 

Diese  Figur  wird  selten  aus  natürlicher  Erregung  stammen,  zumeist 
mehr  künstlicher  Anlage  ihre  Entstehung  verdanken.  Sie  hat  ihre  poetische 
Entsprechung  in  der  Form  des  Trioletts  (Minor,  Mittelhochdeutsche  Metrik 
S.  456),  bei  dem  derselbe  Vers  in  kunstvollen  Verschlingungen  immer 
wiederkehrt. 

§  109.  Epanodos.  Bestehen  Sätze  lediglich  aus  den  anaphorischen 
und  epiphorischen  Elementen,  so  entsteht  die  künstliche  Figur  der  Epa- 
nodos (Wackernagel  S.  426).  Der  Satzteil,  dessen  mehrmalige  Wieder- 
holung eine  Anapher  ausmachen  würde,  bildet  in  umgekehrter  Folge  (des- 
halb „Epanodos",  Rückweg)  den  Schluß  des  Satzes:  also  eine  angefangene 
Anapher  mit  einer  angefangenen  Epiphora  kombiniert.  Es  ist  ein  Spiel, 
das  zu  den  vielen  Mitteln  gehört,  mit  denen  Ermahnungen  nachdrücklicher 
gemacht  werden  sollen;  so  schon  bei  Walther,  ja  schon  in  der  Bibel: 
„Das  Ende  kommt,  es  kommt  das  Ende"  (Hesekiel  7,  6).  Ausgedehnt 
erhalten  wir  wieder  eine  metrische  Form,  den  Canon  (fehU  bei  Minor); 
z.  B.  in  dem  bekannten  Beispiel  Chamissos: 

Das  ist  die  Not  der  schweren  Zeit! 
Das  ist  die  schwere  Zeit  der  Not! 
Das  ist  die  schwere  Not  der  Zeit! 
Das  ist  die  Zeit  der  schweren  Not! 
wo  ein  wirbliges  Mittelding  von  Symploke  und  Epanodos  hergestellt  wird.^) 

§  110.  Epanalepsis.  Eine  andere  Art  der  Kombination  von  Anaphora 
und  Epiphora  bildet  die  Epanalepsis,  Wiederaufnahme  oder  Anadi- 
plosis,  Verdoppelung  (Wackernagel  S.  420).  Hier  wird  der  Anfang  eines 
Satzes  am  Ende  des  andern  wiederholt,  also  die  Epanodos  auf  zwei  sich 
folgende  Sätze  verteilt.     Klopstock  (Messias  2,  763): 

Weinet  um  mich,  ihr  Kinder  des  Lichts!  er  liebt  mich  nicht  wieder. 
Ewig  nicht  wieder:  ach,  weinet  um  mich! 

Eine  besondere  Bedeutung  kommt  dieser  Art  der  Wiederholung 
nicht  zu. 

§  111.  Wortaufnahme.  Wichtiger,  obwohl  durch  kein  Kunstwort  der 
Stilistik  geehrt,  ist  die  umgekehrte  Form:  die  Wortaufnahme  (vgl.  §  41), 
bei  der  das  Ende  eines  Satzes  am  Anfang  des  nächsten  wiederholt  wird: 
ein  uraltes,  aus  dem  wirklichen  Redewechsel  stammendes  Mittel,  zwei  Rede- 
stücke zu  verbinden.  -)    Ein  mittelhochdeutscher  Spruchdichter  schließt  z.  B. 

')  Verwickeitere  Spiele   dieser  Art  bei  ■)   Vgl.   meine  Altgermanische  Poesie 

Gerber,  Sprache  als  Kunst  2,  2,  1,  21.  S.  324. 


96  Stilistik. 


seine  Ermahnung  (Minnesangs  Frühling  20,  15)  mit  den  Worten:  „sucht 
bei  einem  erfahrenen  Mann  um  Rat  an  und  befolgt  dann  auch  seine 
Belehrung";  und  er  (oder  ein  anderer)  beginnt  darauf  eine  andere  Strophe: 
„Wenn  einer  sich  um  Rat  umtut  und  ihn  befolgt,  verdient  er  Dank'' . 
Das  Wort  oder  die  Wendung,  an  die  angeknüpft  wird,  muß  natürlich  stark 
genug  sein,  um  einen  ganzen  Satz,  eine  vollständige  Strophe  tragen  zu 
können. 

§  112.  Refrain.  Mit  Epanodos,  Epanalepsis,  Wortaufnahme  sind  wir 
schon  zu  Figuren  gekommen,  zu  deren  Wesen  es  gehört,  daß  ein  stärkerer 
Abschnitt,  eine  größere  Pause  die  Wiederholungen  trennt.  In  noch  höherem 
Grade  ist  das  bei  der  nächst  der  Anapher  wichtigsten  Figur  der  Wieder- 
holung der  Fall:  bei  dem  Refrain  und  seinem  Gegenbild:  dem  Gegen- 
refrain. 

Unter  Refrain  oder  Kehrreim  (eine  wenig  glückliche  Bezeichnung) 
versteht  man  die  Wiederkehr  derselben  Lautverbindungen  am  Schluß  jeder 
Strophe  oder  jedes  strophenähnlichen  Abschnitts  („Lautverbindungen":  es 
brauchen  nicht  einmal  wirkliche  Worte  zu  sein;  der  sogenannte  „sinnlose 
Refrain"  mit  seinen  „Eia!",  „tralala .'" ,  „hurra!"  ist  sogar  besonders  alt 
und  beliebt).  Der  Refrain  ist  ursprünglich  wohl  nicht  ein  Anhang  zum 
Text,  sondern  im  Gegenteil  die  eigentliche  Hauptsache:  der  Ruf,  in  dem 
die  versammelte  Gemeinde  ihrem  gemeinschaftlichen  Empfinden  Ausdruck 
gibt  und  den  der  wechselnde  Text  eigentlich  nur  interpretiert  und  illustriert. ') 
Später  hat  er  sich  aber  allerdings  immer  mehr  dem  „Körper"  der  Gedichte 
angepaßt  und  vielerlei  Formen  angenommen  (Minor,  Metrik  S.  392  f.);  von 
allen  Arten  der  Wiederholung  sind  Refraintypen  ausgegangen.  *) 

Der  Refrain  (Wackernagel  S.  422)  gehört  also  zunächst  durchaus, 
der  Form  und  dem  Inhalt  nach,  der  Poesie  an.  Aber  seit  sich  eine  streng 
gegliederte  Prosa  entwickelte,  durfte  man  auch  hier  von  Refrain  sprechen, 
sobald  mit  merkbarer  Deutlichkeit  am  Schluß  des  Abschnitts  dieselbe  Wen- 
dung wiederkehrt.  Wenn  etwa  Fr.  J.  Stahl  in  einer  großen  Rede  im 
Erfurter  Unionspariament  (Flathe,  Deutsche  Reden  1,  376  f.)  erklärt:  „Wir 
wollen  nicht  den  Bundesstaat  um  jeden  Preis  — "  (S.  377),  dann  wieder- 
holt: „Warum  also  Annahme  um  Jeden  Preis?"  (S.  378)  und  nochmals: 
„Darum  ist  unsere  Losung  nicht:  ßundesstaat  um  jeden  Preis',  sondern 
^Unversehrtheit  der  preußischen  Krone  um  jeden  Preis!""  (S.  386)  —  so 
ist  das  gewiß  ein  oratorischer  Refrain.  Und  wenn  der  alte  Cato  jede 
Rede  mit  den  Worten  schloß:  „Ceterum  censeo  Carthaginem  esse  delen- 
dam",  so  faßte  er  damit  eben  alle  seine  Reden  in  ein  System  zusammen 
und   deshalb   dürfen   wir  sogar  hier  von  seinem  ewigen  Refrain  sprechen. 

')  Vgl.  meinen  Aufsatz,  Zeitschrift  für  |   und  Rhjlhmus. 

vergleichende    Literaturgeschichte    1,  34  f.,  °)   R.  M.  Meyer,   Die  Formen  des  Re- 

Gamaiere,  The  beginnings  of  poetrj',  New-  frains,  Euphorion  5,  1  f. 
York  1901,  S.  314  f.,  auch  Bücher,  Arbeit 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  97 

Aus  dem  Ursprung  dieser  Form  erhellt  ihre  Eigenart.  Die  Stimmung, 
aus  der  die  ganze  Äußerung,  Lied,  Gedicht,  Rede,  erwuchs,  soll  in  ihm 
seinen  unmittelbaren  Ausdruck  finden:  von  den  einzelnen  Interpretationen 
und  Illustrationen  kehrt  der  Vortragende  zu  der  Gesamtempfindung  zurück 
und  läßt  am  liebsten  eine  solche,  die  ihm  mit  vielen  gemein  ist,  in  ihrer 
elementaren  Fülle  auftauchen.  Der  Refrain  ist  also  „chorisch",  d.  h.  er  setzt 
eine  größere  Zuhörerschaft,  einen  Chor,  wenigstens  ursprünglich  voraus,  und 
er  ist  wesentlich  lyrisch,  indem  er  Stimmungen  zum  Ausdruck  bringt.  Bei 
rein  wissenschaftlichen  Voraussetzungen  wirkt  er  daher  leicht  unangenehm 
und  erweckt  die  Vorstellung  eines  trotzigen  Eigensinns;  wo  dagegen  an- 
gerufen, beschworen,  gefeiert  wird,  da  ist  er  recht  am  Orte. 

Der  Refrain  darf  nicht  zu  lang  sein,  vor  allem  in  der  Prosa:  dem 
strophischen  Refrain  kommt  die  Melodie  zu  Hilfe,  der  prosaische  verliert 
sich,  wenn  nicht  starke  Emphase  ein  paar  Worte  hervorheben  kann.  Ein 
einzelnes  Wort  kann  genügen,  ein  starkes  „Niemals!''  etwa.  Immer  aber 
muß  er  einigermaßen  lyrisch  bleiben;  eine  trockene  Feststellung  in  dieser 
Form  ärgert,  weil  sie  allzu  schulmeisterlich,  rechthaberisch  klingt. 

§  113.  Gegenrefrain.  Es  ist  für  den  mechanischen  Betrieb  der  alten 
Stilistik  bezeichnend,  daß  zwar  der  Refrain  seit  urältester  Zeit  seine  ebenso 
berechtigte  wie  unvermeidliche  Beaciitung  fand,  der  Gegenrefrain  aber 
keines  Blickes  wert  schien,  weil  er  in  der  Antike  nicht  beachtet  wurde. 
Allerdings  ist  das  Übergewicht  des  Refrains  über  den  Gegenrefrain  fast  so 
stark  wie  umgekehrt  das  der  Anaphora  über  die  Epiphora:  bei  größerer 
Entfernung  der  wiederkehrenden  Glieder  wirkt  die  Wiederholung  am  Schluß 
stärker  als  die  am  Anfang,  weil  sie  sich  von  dem  natürlichen  Sinken  der 
Stimme  am  Periodenschluß  abhebt.  Wäre  dies  nicht,  so  hätte  der  urzeit- 
liche Ruf  sich  ebenso  häufig  zum  Gegenrefrain  wie  tatsächlich  zum  Refrain 
entwickeln  können. 

Aber  das  barytonische  Prinzip  der  altgermanischen  Sprache  fördert, 
wie  den  Stabreim,  so  auch  den  Gegenrefrain ')  und  hilft  ihm  in  der  Edda 
zu  starker  Ausbildung.  2)  Natürlich  kann  eine  solche  Wiederkehr  derselben 
Lautverbindungen  am  Beginn  mehrerer  sich  folgender  Abschnitte  auch  in 
der  Prosa  eintreten;  ausgedehnte  Beispiele  der  Anaphora  (.wie  das  von 
Robert  Blum  §  106  zitierte)  kann  man  ebensogut  hierherstellen.  Auch 
ständige  Überschriften  („Wie  der  Held  — ",  „wie  der  böse  König  — ") 
tragen  diesen  Charakter  und  etwas  davon  steckt  am  Ende  in  den  typischen 
Anfängen  aller  Kapitel  und  Abschnitte,  wie  sie  jeder  traditionellen  Er- 
zählungskunst eignen. 

§  114.  Responsionen.  Schließlich  kann  aber  die  Satzbindung  durch 
betonte  Worte  von  jedem  beliebigen,  an  irgendwelcher  Stelle  stehenden 
Wort  bewirkt  werden;  wir  nennen  dies  allgemein  Responsionen,   Ent- 


•)  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie 
S.  323. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  1. 


»)  Ebendaselbst  S.  347. 


98  Stilistik. 


sprechungen.  Es  kann  also  gerade  auch  das  in  der  Mitte  stehende  Wort  in 
auffälliger  Weise  wiederholt  werden,  wie  etwa  in  der  Unterredung  Wallensteins 
mit  Wrangel  (Wallensteins  Tod  1,  5,  Vers  345  f.)  der  Name  der  Stadt  Prag: 

Viel  gefordert.' 
Prag!   Sei's  um  Eger!    Aber  Prag?    Geht  nicht. 


Prag  aber  —  Böhmen  —  kann  ich  selbst  beschützen. 
oder  wie  in  der  Figur  des  Parallelismus  (s.  u.  §  127).     Doch  bedürfen 
alle  Responsionen,   wenn  ihnen  nicht  schon  ihr  Platz  Nachdruck  verleiht, 
einer  starken  Betonung,  die  leicht  verzerrend  wirken  kann. 

§  115.  Kontinuität.  In  der  ungezwungensten  Weise  aber  werden  Sätze, 
die  ineinander  verschlungen  sind  oder  sich  folgen,  durch  die  Kontinuität 
verbunden,  d.  h.  dadurch,  daß  ein  in  dem  ersten  angedeuteter  Gedanke 
im  zweiten  verdeutlicht,  ein  erst  ausgesprochener  Gedanke  eingeschränkt 
wird  oder  irgendwie  sonst  ein  gedanklicher  Zusammenhang  zwischen  beiden 
besteht.  Dieser  Zusammenhang  wird  sich  unwillkürlich  durch  die  Fort- 
führung des  gleichen  Subjekts  oder  (seltener)  Prädikats  ausdrücken.  Wenn 
also  etwa  Falstaff  von  seinen  Heldentaten  erzählt:  „So  lag  ich  aus,  so 
führt'  ich  meine  Klinge!",  so  liegt  gar  kein  Nachdruck  auf  dem  „ich";  es 
ist  eben  nur  dieselbe  Person,  von  der  verschiedene  eng  benachbarte  Hand- 
lungen erzählt  werden.  Oder  die  naturwissenschaftliche  Beschreibung  wird 
in  einer  Reihe  von  Sätzen  ihre  Aussagen  so  ordnen,  daß  das  Subjekt  bleibt: 
„Der  Bär  ist  — .  Seine  Farbe  — .  Er  lebt  — .  Das  Lebensalter  des 
Bären  ..." 

§116.  Variation  des  Subjekts.  Merkwürdigerweise  ist  nun  aber  für 
diese  Kontinuität  die  Hervorhebung  der  Identität  nicht  beliebt.  Doch  er- 
klärt sich  auch  das  einfach:  da  sie  nahezu  selbstverständlich,  hebt  man 
sich  ihre  Akzentuierung  für  bedeutungsvolle  Einzelfälle  auf.  Es  klingt  un- 
gelenk, wenn  wir  etwa  Satz  für  Satz  mit  „Er — "  beginnen;  wie  das  denn 
wirklich  primitive  Art  ist,  einen  Satz  der  Erzählung  wie  den  andern  zu 
bauen. 

Nun  hat  schon  die  indogermanische  Ursprache  ein  Mittel  ausgeprägt, 
dieser  Gleichmäßigkeit  einigermaßen  auszuweichen.  Schon  aus  der  Urzeit 
her  gibt  es  nämlich  zwei  verschiedene  Arten,  eine  Person  oder  einen  Gegen- 
stand „anzusprechen":  man  kann  sie  entweder  mit  einem  ihnen  allein  ver- 
liehenen Namen  anrufen  oder  ausdrücklich  jede  Benennung  ablehnen.  Im 
ersten  Fall  wendet  man  das  „Nomen"  an,  im  zweiten  das  „Pronomen" . 
Der  Wolf  heult  im  Walde;  nun  aber  scheut  sich  der  geängstigte  Höhlen- 
bewohner, ihn  auch  nur  zu  nennen  (denn  „wenn  man  den  Wolf  nennt, 
kommt  er  gerennt")  und  flüstert  nur:  „Hört  ihr  ihn  heulen?"  Oder  man 
verschmäht  die  Nennung  des  Feindes,  wie  noch  Fritz  Reuters  mecklen- 
burgische Montecchi  und  Capuletti  es  tun  und  ersetzt  sie  durch  eine  ver- 
ächtliche Gebärde;  oder  endlich:  man  kennt  das  Subjekt  eines  wohlbekannten 
Prädikats  nicht,  wie  wir  noch  heut,  wenn  wir  sagen:  es  blitzt,  es  donnert. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  99 

Das  Pronomen  also  ist  von  vornherein  keineswegs  „statt  des  Nomens" 
da,  sondern  steht  gleichberechtigt  neben  Appellativum  oder  Eigennamen. 
Aber  sehr  früh  hat  man  diese  doppelte  Möglichkeit  systematisch  ausgenutzt 
und  das  nicht  benennende  Wort  mit  dem  benennenden  wechseln  lassen: 
in  den  meisten  Sprachen  derart,  daß  das  Nomen  voransteht  und  durch  das 
Pronomen  „aufgenommen"  wird,  althochdeutsch  und  altsächsisch  nicht  selten 
auch  umgekehrt. 

Die  Variation  des  Subjekts  ist  demnach  eine  uralte  Einrichtung  und 
zwar  so,  daß  gerade  sie,  wie  sonst  die  Wiederholung  des  gleichen  Wortes, 
der  Satzverbindung  dient.  Denn  das  bloße  Pronomen  ist  verständlich  nur 
mit  Hilfe  einer  Geste,  und  das  war  sein  ursprünglicher  Gebrauch:  „dieser 
hat  es  getan!  wer  es  ist,  weiß  ich  nicht".  Wo  der  zeigende  Finger  fehlt, 
bedarf  es  also  der  Ergänzung;  und  so  wächst  der  (unvollständig  gewordene) 
Satz  mit  pronominalem  Subjekt  mit  dem  Satze,  der  dies  Subjekt  nennt, 
eng  zusammen:  „Es  war  einmal  ein  Mann,  der  hieß""  oder  auch  (Don 
Carlos  I  9):  „Der  Traum  ist  göttlich.    Doch  wird  er  nie  verfliegen?" 

§  117.  Tropen.  Diese  Variation  nun  (wie  schon  erwähnt,  auch  beim 
Prädikat,  doch  seltener,  möglich;  hier  spielt  dann  ein  Hilfsverb  wie  „tun" 
die  Rolle  des  Pronomens)  ist  deshalb  die  allerwichtigste  Form  der  Satz- 
verbindung, weil  sie  sich  jeder  Entwicklung  des  Gedankens  oder  der  An- 
schauung anpassen  kann.  Und  hier  liegt  wohl  die  Entstehung  jener  be- 
rühmten „Tropen",  die  das  liebste  Steckenpferd  der  Rhetoriker  und  Sti- 
listiker sind.  Sie  werden  von  ihnen  so  aufgefaßt,  wie  die  Epigonen  der 
Antike  sie  benutzt  haben:  als  kunstmäßige  Umschreibungen  oder  Über- 
setzungen; es  sind  aber  von  vornherein  einfach  diejenigen  Benennungen, 
die  der  jeweilige  Stand  des  Gedankens  anbot  oder  verlangte,  und  die  später 
die  Neigung  zur  Variation  kunstmäßig  erzeugen  ließ. 

Man  betrachte  die  große  Rede  der  Penthesilea  im  5.  Auftritt  (Erich 
Schmidts  Ausgabe  von  Kleists  Werken  2,  51,  Vers  689  f.).  Die  Königin 
zieht  auf  das  Schlachtfeld  und  gedenkt  der  „vollbrachten  Arbeit": 

Gemäht  liegt  nun,  zu  Garben  eingebunden. 
Der  Ernte  üpp'ger  Schatz,  in  Scheuern  hoch. 
Die  in  den  Himmel  ragen,  aufgetürmt. 

Das  Wort  „Schlachtfeld"  gibt  das  Bild  ein,  wie  denn  etymologische  Gleich- 
nisse und  Metaphern,  d.  h.  solche,  die  auf  den  Pfaden  des  Sprachgeistes 
weiterschreiten, ')  in  aller  echten  Poesie  besonders  beliebt  sind.  Die  auf- 
getürmten Leichenhaufen  sind  die  Garben  dieses  Schlachtfeldes;  deshalb 
die  Metapher: 

Aus  jedem  tück' sehen  Hinterhalt  hervor. 
Der  sich  ihm  beut,  seh  ich  den  Peleiden 
Auf  euren  frohen  Jubelzug  sich  stürzen. 

Gewiß,  „Peleide"  steht  der  Variation  wegen  und  auch  aus  metrischem 
Bedürfnis;  aber  auch  ungezwungene  Rede  hätte  hier  statt  der  direkten  Be- 

')  Vgl.  Gerber,  Sprache  als  Kunst  1,237;  meine  Altgermanische  Poesie  S.  486. 

7* 


100  Stiustik. 


nennung  „Achilles"  die  feierlichere  gewählt,  die  ihn  ferner  hält;  „Achilles" 
ist,  den  sie  liebt,  der  Sohn  des  Peleus  ist  der  feindliche  Heerführer.  Und 
nur  diesen  sieht  ihr  Auge,  nicht  die  Schar,  die  er  führt;  deshalb  die  „Me- 
tonymie". 

Oder  in  Prothoes  Antwort: 

Die  Schar,  die  deine  Seele  seltsam  fürchtet. 
Entfloh  rings  vor  dir  her,  wie  Spreu  vor  Winden; 
Kaum  daß  ein  Speer  sich  noch  erblicken  läßt. 

„Wie  Spreu  vor  Winden."  Ist  das  ein  erjagtes  Gleichnis,  wie  Heinrich 
von  Kleists  dichterischer  Vorfahr  Ewald  sie  auf  der  „Bilderjagd"  auftrieb? 
Nein:  die  Griechen  flogen,  von  einem  starken,  aus  einem  Punkt  kommen- 
den Anstoß  gehetzt,  nach  allen  Richtungen  auseinander;  man  sah  gar  keine 
Krieger  mehr,  nur,  wie  wir  volkstümlich  sagen,  „ein  Häufchen  Unglück", 
verwehte  Stücke.  —  „Kaum,  daß  ein  Speer  sich  noch  erblicken  läßt." 
Synekdoche!  pars  pro  toto!  „Speer"  für  „Mann"!  Keineswegs.  Man  sieht 
noch  eine  Speerspitze  blinken;  von  dem  Mann  ist  nichts  mehr  zu  sehen. 
—  Es  sind  allemal  die  Hellenen:  diese  gemähten  Garben,  diese  Spreu,  ihr 
Führer  der  Peleide;  und  Kleist  hätte  ja  wohl  sagen  mögen:  die  Griechen 
Hegen  in  hellen  Haufen  auf  dem  Schlachtfeld;  aber  ich  fürchte  ihren  Führer 
noch;  und  Prothoe:  die  Griechen  sind  eilig  geflohen,  kaum  einer  ist  noch 
zu  sehen.  Der  Dichter  der  „Penthesilea"  (Metonymie!)  ist  aber  eben  ein 
Dichter,  und  deshalb  variiert  er  den  Ausdruck  mit  der  Bewegung  seiner 
Anschauung  und  seines  Gedankens. 

Und  so  werden  die  Tropen  ein  Mittel  der  Satzverbindung. 

§  118.  Einteilung  der  Tropen.  Man  unterscheidet  deren  drei:  die  Meto- 
nymie, die  Synekdoche,  die  Metapher  (Wackern.\gel  S.  390  f.).  Doch 
gehört  ihre  Einteilung  wie  ihre  Abgrenzung  gegen  die  sogenannten  „Fi- 
guren" zu  den  umstrittensten  Teilen  der  Stilistik  (vgl.  Gerber,  Sprache  als 
Kunst  2,  24  f.;  für  die  Figuren  noch  S.  14  f.).  So  sagt  W.A.CKERX.aiGEL 
(S.  385):  „Die  Figuren  stehen  auf  der  niederen  Stufe  der  Versinnlichung, 
insofern  sie  nicht  die  gewöhnliche  Vorstellung  selbst,  sondern  nur  deren 
gewöhnlichen  und  gleich  bei  der  Hand  liegenden  Ausdruck  gegen  einen 
entfernteren,  minder  gewöhnlichen  vertauschen;  die  Vorstellung  bleibt  die 
gleiche,  der  gewählte  Ausdruck  gibt  ihr  nur  ein  größeres  Maß  von  sinn- 
licher Anschaulichkeit".  Gegenüber  diesen  „Figuren"  (wohin  er  Epitheton 
ornans,  Umschreibung,  Vergleichung,  Gleichnis,  Anspielung  —  fünf  grund- 
verschiedene Dinge  —  rechnet i  würden  also  die  „Tropen"  eine  wirkliche 
„Vertauschung  der  Begriffe"  (K.  F.  Becker,  Der  deutsche  Stil  S.  96 1  dar- 
stellen. —  Aber  Wackernagels  Definition  paßt  auf  den  „Tropus"  der 
Metonymie  viel  besser  als  auf  die  „Figur"  des  Epithetons,  und  wir  werden 
noch  näher  sehen,  daß  besonders  bei  der  Synekdoche,  eigentlich  aber  bei 
allen  „Tropen"  der  Begriff  bleibt,  die  Vorstellung  allerdings  wechseln  kann, 
aber  nicht  zu  wechseln  braucht. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  101 

So  ist  denn  auch  die  Zahl  der  Tropen  unsicher.  Jene  drei  gelten  allge- 
mein; aber  z.  B.  Becker  gesellt  ihnen  (S.  lOlj  die  Prosopopöie  bei.  Oder 
ViscHER  stellt  als  „Mittel  der  Veranschaulichung"  oder  „Tropen"  (S.  1219 
bis  1232)  Epitheton,  Personifikation  und  Metapher  (im  weiteren  Sinne),  als 
„Mittel  der  Stimmung"  oder  „Figuren"  (S.  1232—1239)  aber  die  zahllosen 
Dinge  zusammen,  die  die  Antike  so  benannte.  Es  bleibt  bei  Quintilians 
Wort  (vgl.  Gerber  2,24):  „tropus,  circa  quem  inexplicabllls  et  grammaticis 
inter  ipsos  et  philosophis  pugna  est,  quae  sint  genera,  qiiae  species,  qui 
numerus,  quis  cuique  subiciatur" .^) 

Wir  glauben  für  den  praktischen  Gebrauch  so  etwas  wie  eine  „rettende 
Tat"  zu  vollbringen,  wenn  wir  empirisch-historisch  jene  drei  unzweifelhaft 
enger  zusammengehörigen  „Tropen"  als  Formen  der  (durch  die  wechselnde 
Anschauung  bedingten)  Variation  (vorzugsweise)  des  Subjekts,  die  eigent- 
lichen, zusammengehörigen  „Figuren"  (wie  Umschreibung,  Gleichnis,  An- 
spielung) als  (durch  die  wechselnde  Stimmung  bedingte)  Variation  (vor- 
zugsweise) des  Prädikats  auffassen.  Diese  Definitionen  sind  nicht  elegant, 
aber  vielleicht  berechtigt  und  hoffentlich  brauchbar. 

Die  drei  Tropen  nun  unterscheidet  Bernhardi  i  Sprachlehre  2,  90) 
nach  der  Art  des  Zusammenhangs  zwischen  der  eigentlichen  und  der  un- 
eigentlichen Sphäre:  bei  Subordination  Synekdoche,  bei  Sukzession  Meto- 
nymie, bei  Gleichheit  Metapher.  Gerber  (2,  25)  führt  den  Zusammenhang 
zurück  auf  Anschauung:  Synekdoche;  Reflexion:  Metonymie;  Phantasie: 
Metapher  (ganz  unbestimmt  Becker  S.  97).  Aber  wo  steckt  bei  den  meisten 
Metonymien  eine  Sukzession?  ist  Achilles  eher  da  als  eine  Heerschar,  statt 
derer  der  Sohn  des  Peleus  genannt  wird?  Oder  wo  steckt  bei  vielen  die 
Reflexion?  z.  B.  eben  bei  diesem  Beispiel? 

Weiter  kommen  wir,  wenn  wir  auf  die  allgemeine  sprachliche  Grund- 
lage der  Tropen  zurückgehen.  Denn  nicht  auf  ein  künstliches  Bedürfnis 
nach  „Abwechslung"  oder  „Belehrung"  gehen  sie  zurück,  sondern  auf 
die  Fortdauer  eben  jenes  Prozesses,  durch  den  die  Sprache  selbst  erschaffen 
wird  (vgl.  z.  B.  Gerber  2,  250  f.).  Wie  die  Sprachentwicklung  selbst, 
namentlich  im  Bedeutungswandel,  von  der  Metonymie,  von  der  pars  pro 
toto  Gebrauch  macht,  hat  neuerdings  wieder  Wundt  (Völkerpsychologie 
I  2,  438  f.)  schön  gezeigt;  wie  eigentlich  alle  Sprachbewegung  auf  Meta- 
phern geht,  hat  Mauthner  (Beiträge  zur  Kritik  der  Sprache;  mit  wahrer 
Leidenschaft  betont. 

Von  vornherein  sind  überall  verschiedene  Ausdrucksmöglichkeiten  da. 
Wählt  man  von  ihnen  statt  derjenigen,  die  sich  durchgesetzt  hat,  eine 
andere,  so  erhält  man  die  Metonymie,  die  also  (wie  Gerber  treffend  her- 
vorhebt) nur  im  Vergleich  mit  der  gewöhnlichen  Benennung,  nur  relativ 
ein  „Tropus"  ist.     „Metonymie"    ist  nicht  nur  (wie  Vischer  S.  1223  sagt) 

')  Vgl.  die  trefflichen  Ausführungen  von       S.  374  f. 
Elster,  Prinzipien  der  Literaturwissenschaft 


102  Stilistik. 


„eine  geistlose  Bezeichnung,  als  gälte  es  bloß  Namensverwechslung",  son- 
dern auch  eine  irreführende:  die  eine  Benennung  steht  von  vornherein  so 
wenig  „statt  einer  andern"  wie  das  Pronomen  „statt  des  Nomens". 

Wird  dagegen  aus  der  momentanen  Anschauung  heraus  eine  neue 
Bezeichnung  gegeben,  die  aber  in  ihrer  Art  den  früheren  gleich  steht,  so 
erhalten  wir  die  Synekdoche.  „Die  Sprache  drückt  niemals  etwas  voll- 
ständig aus,  sondern  hebt  überall  nur  das  am  meisten  hervorstechende  oder 
ihr  so  erscheinende  Merkmal  hervor";  deshalb  liegt  die  Synekdoche  im 
Wesen  der  Sprache  (Gerber  1,363).  „Der  Dänen  Schwerter  drängen 
Schwedens  Heer";  hier  steht  nicht  Schwert  als  „pars  pro  toto"  für  „Waffen" 
(so  Becker  S.  92j,  sondern  „Schwerter"  bedeutet  hier  Waffen,  wie  im 
Orient  „Franke"  den  Deutschen  bedeutet  oder  in  Ungarn  „Schwabe"  oder 
in  Frankreich  „Alemanne''  zur  Bezeichnung  der  Deutschen  überhaupt  ge- 
wählt ist. 

Wird  aber,  wieder  aus  der  momentanen  Anschauung  heraus,  eine 
neue  Bezeichnung  gewählt,  die  als  der  früheren  ungleichartig  empfunden 
wird,  so  entsteht  eine  Metapher.  Solange  diese  neue  Bezeichnung  als 
„Übertragung",  d.  h.  als  für  diesen  Einzelfall  gemünzte  neue  Benennung 
gefühlt  wird,  bleibt  sie  eine  Metapher;  sobald  diese  Empfindung  schwindet, 
geht  sie  in  den  gewöhnlichen  Sprachschatz  ein,  gerade  wie  das  Fremdwort 
durch  seinen  merkbar  ausländischen  Typus  sich  von  dem  eingedeut^hten 
Lehnwort  unterscheidet.  Bismarcks  „Klinke  zur  Gesetzgebung'  ivgl. 
BüCHAVANN,  Geflügelte  Worte  S.  620)  empfinden  wir  noch  als  eine  kühne 
Neubenennung  der  „Initiative  zur  Gesetzgebung";  aber  bei  dem  herkömm- 
lichen Zitieren  seiner  nicht  minder  kühnen  Wendung  „der  Tabak  muß  mehr 
bluten"  empfinden  die  meisten  „bluten'  nicht  mehr  in  seiner  anschaulichen 
Bedeutung,  sondern  als  Synonym  von  „hergeben". 

So  vertreten  also  die  drei  Tropen  drei  Stufen  der  variierenden  Be- 
nennung: Metonymie  Wahl  einer  selteneren  Bezeichnung;  SjTiekdoche  Prä- 
gung einer  neuen,  gleichartigen,  gemeingültigen;  Metapher  einer  neuen, 
andersartigen,  spezifischen.  Ganz  besonders  hier  sind  aber  die  Grenzen 
fließend  und  häufig  tauschen  die  Begriffe.  Der  Ausdruck,  der  auf  dem 
einen  Gebiet  häufig  ist,  ist  auf  dem  andern  selten  und  wirkt  dort  als  Meto- 
nymie; und  gar  die  Metaphern  können  immer  übers  Kreuz  vertauscht 
werden.  In  der  Sportsprache  sagt  man:  „ein  Roß  steuern",  allgemein  aber 
auch:  „ein  Schiff  laufen  lassen"  (vgl.  oben  S.  14). 

§  119.  Metonymie.  Die  Metonymie')  ist  eine  Wiederholung  der  ur- 
sprünglichen sprachlichen  Wortwahl.  Von  vornherein  sind  Synonyma  vor- 
handen   oder   mindestens  Gebrauchsphären,   innerhalb  deren  verschiedene 

')   Vgl.   Becker,   Stil  S.  99,   Vischer.  Metapiier  Bumr.  Rhetorik  1,  344.  Berührun- 

Asthetilv   S.  1223.   Wackernagel,   Stilistiii  genmitderSynekdodieGERBER2,51,\isCHER 

S.  390,  Bain,  Rlietorik  1,186,  Sher.man,  a.  a.  O.,  Arten  der  Metonjinie  Gerber  2, 60  f. 
Analjlics  of  literature  S.  73  f.    Verliältnis  zur 


Neuntes  Kapitel.   Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  103 

Wortkreise  sich  schneiden  (vgl.  oben  §  28j.  Von  diesen  nun  kommt  ein 
Ausdruck  zur  Herrschaft:  er  wird,  wie  wir  zu  sagen  pflegen,  der  „eigent- 
liche Ausdruck".  Nun  aber  geht  unter  dem  Zwang  einer  bestimmten  An- 
schauung oder  Gedankenbiegung  der  Sprechende  gleichsam  in  die  Zeit 
zurück,  wo  ein  „eigentlicher  Ausdruck"  noch  nicht  bestand:  er  beschaut 
die  noch  wogende  Vorstellungsmasse  und  konzentriert  sie  unter  einem  — 
relativ  —  neuen  Gesichtspunkt. 

Wackernaqel  (S.  390)  führt  z.  B.  die  beiden  biblischen  Belege  an: 
„Alle  Lande  kamen  in  Ägypten  zu  kaufen  bei  Joseph  — "  (1  Mos.  41,  57); 
„da  ging  hinaus  zu  ihm  die  Stadt  Jerusalem  und  das  ganze  jüdische 
Land  und  alle  Länder  an  dem  Jordan""  (Matth.  3,  5).  Wie  kommt  diese 
Ausdrucksweise  zustande?  Der  Sprechende  sieht  im  Geist  eine  unend- 
liche Menge  Volkes  vor  sich.  Der  Ausdruck  „viele  Bewohner  aller  Nach- 
barländer" oder:  „alle  Einwohner  Jerusalems"  ist  ihm  nicht  bezeichnend 
genug:  er  will  ausdrücken,  wie  die  ganze  Stadt,  wie  ganze  Länder  sich 
zu  Joseph  oder  dem  Täufer  hin  entleerten.  Diese  kompakte  Menschen- 
masse konzentriert  er  in  der  geographischen  Bezeichnung;  wie  es  auch 
sonst  heißt  „Roma  locuta  est"  oder  „Preußen  wich  bei  Ol  mutz  vor  dem 
drohenden  Österreich  zurück  und  opferte  Kurhessen".  Die  Metonymie 
steht  also  hier  der  Personifikation  sehr  nahe,  ist  aber  durch  den  abstrak- 
teren Gebrauch  von  ihr  geschieden:  wir  sollen  uns  nicht  etwa  eine  sym- 
bolische Jerusalem  auf  ihren  Füssen  wandelnd  denken,  wie  in  jenem 
„Roma  locuta  est"  allerdings  die  leibhafte  Stadt  Rom  mit  ihrem  Munde 
spricht. 

Oder:  „Jahrhunderte  harrten  vergebens" :  Jahrhunderte,  sagt  Wacker- 
nagel, steht  als  Zeitraum  statt  derer,  die  darin  leben.  Eigentlich  harren 
ja  die  Menschen;  man  sollte  also  sagen:  Jahrhunderte  durch  harrten  die 
Menschen.  Aber  der  Zeitraum  steht  nicht  statt  ihrer,  sondern  er  bedeutet 
sie.  Der  Sprechende  hat  für  die  Masse  der  Harrenden  kein  „eigentliches" 
Wort;  sie  stehen  hintereinander  in  ungeheuren  Reihen  von  Generation  zu 
Generation.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  faßt  er  sie  zusammen,  wie  unsere 
Aushebungskommissionen  von  „Jahrgängen"  sprechen,  was  ihr  „eigentlicher 
Ausdruck"  geworden  ist,  wie  unser  Wort  „Welt"  eigentlich  „'Zeitalter"  be- 
deutet und  also  die  Wendung:  „die  Welt  schaute  auf  ihn"  eigentlich:  sein 
Zeitalter  schaute  auf  ihn. 

Die  Metonymie  besteht  also  nicht  etwa  in  dem  Zurückschieben  des 
nächstliegenden  Ausdrucks  und  der  Wahl  eines  gesuchten  Wortes,  das  ihn 
auffällig  ersetzen  mag;  oder  vielmehr:  sie  besteht  ursprünglich  nicht  in 
diesen  beiden  Akten,  ist  aber  allerdings  in  schulmäßiger  Anwendung  stili- 
stischer Vorschriften  oft  zu  diesem  mechanischen  Maskierungsprozeß  ent- 
artet. Von  vornherein  aber  besteht  sie  in  zwei  ganz  andern  Akten:  der 
Inhalt  des  herkömmlichen  Wortes  wird  in  seinen  ursprünglichen  Inhalt  auf- 
gelöst und  neu  verdichtet.    Oder  aber  das  „eigentliche  Wort"  tritt  gar  nicht 


104  Stilistik. 


erst  ins  Bewußtsein,  sondern  der  Sprechende  hält  sich  in  der  Anschauung 
auf,  ohne  nach  deren  übHchen  Ausdruck  zu  suchen,  und  gibt  unmittelbar 
von  da  eine  Benennung.  Diese  ist  daher  von  derselben  Art,  die  die  Spre- 
chenden seines  Kultur-  und  Sprachgebietes  auch  selbst  zur  Benennung 
hätten  wählen  können  und  oft  auch  (neben  dem  „eigentlichen  Ausdruck") 
wirklich  gewählt  haben. 

Diese  etwas  umständliche  Auseinandersetzung  war  nötig,  weil  1.  die 
stilistische,  sprachliche  Bedeutung  der  Metonymie  meist  verkannt  wird; 
2.  die  psychologischen  Bedingungen  und  damit  auch  die  stilistischen 
Normen  so  gut  wie  überall  übersehen  worden  sind;  3.  das  Verhältnis  der 
Metonymie  zum  „eigentlichen  Ausdruck"  verschoben  wird  und  damit  auch 
die  Beurteilung  der  einzelnen  Fälle  eine  andere  Grundlage  erhält. 

1.  Die  stilistische  und  sprachliche  Bedeutung  der  Metonymie  besteht 
darin,  daß  sie  das  Monopol  der  „eigentlichen  Worte"  bricht  und  die  sprach- 
liche Namengebung  im  Fluß  erhält,  indem  sie  die  Anschauung  auf  solche 
Momente  lenkt,  die  in  der  herkömmlichen  Benennung  nicht  zu  ihrem  Recht 
gekommen  sind.  Wir  benennen  z.  B.  die  Flintenkugel  nach  ihrer  Form. 
Nun  kommt  aber  einem  Dichter  zur  Anschauung,  wie  sich  die  Kugel  in 
den  verwundeten  Leib  einbohrt.  Die  runde  Form  —  die  ja  auch  selten 
bewahrt  bleibt  —  würde  eine  Milderung  mit  sich  zu  bringen  scheinen,  aber 
die  Stücke  des  gleichsam  höhnisch  glänzenden  Metalls  steigern  den  Ein- 
druck: „und  ihn  traf  das  kalte  Blei".  So  wird  die  Aufmerksamkeit  auf 
das  Material  gelenkt. 

Unter  Umständen  kann  eine  Metonymie,  die  zum  allgemeinen  Ge- 
brauch gelangt,  sogar  eine  Erneuerung  der  „eigentlichen  Benennung"  her- 
beiführen. 

2.  Unsere  Beispiele  haben  schon  angedeutet,  daß  Metonymie  vorzugs- 
weise eintritt,  wo  einer  erregten  Anschauung  der  herkömmliche  Ausdruck 
nicht  genügt.  Wenn  „Schweiß''  für  „Arbeit''  steht  (um  uns  der  üblichen 
Ausdrucksweise  zu  bedienen),  so  ist  eben  „angestrengte  Arbeit"  gemeint; 
wenn  die  Bibel  nicht  einfach  sagt:  von  überall  her  kam  man  zu  Joseph, 
sondern  „alle  Lande  kamen",  so  soll  eben  ein  mächtiger  Zufluß  gezeichnet 
werden.  Es  genügt  also  nicht,  wenn  Wackern.^gel  (S.  391)  wohlmeinend 
rät:  „Die  Metonymie  ist  gut  und  recht,  wenn  man  sie  nicht  häuft,  und 
wenn  die  Vertauschung  so  natürlich  ist,  daß  die  Möglichkeit  derselben  nahe 
an  die  Notwendigkeit  grenzt.  Aber  namentlich  beim  Symboherhältnis  und 
beim  Gebrauch  der  Beinamen  wird  oft  gefehlt  und  die  Anschaulichkeit  der 
Gelehrsamkeit  geopfert."  Sondern  darauf  kommt  es  an,  ob  die  Metonymie 
an  sich  gerechtfertigt  ist;  auch  eine  kann  zuviel  sein,  wenn  sie  gesucht 
erscheint.  Vor  allem  gilt  das  von  den  affektierten  Ersetzungen  der  „Gelehr- 
samkeit", die  allerdings  vorzugsweise  mit  dem  Symbol  operieren  und  wie 
gedankenarme  Tapezierer  jede  Festrede  mit  „Lorbeer",  ^Fahnen"  und 
„Palmen"  dekorieren. 


Neuntes  Kapitel.   Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  105 


3.  Damit  sind  wir  auch  beim  dritten  Puntct:  dem  Verhältnis  der  Meto- 
nymie zum  „eigentlichen  Ausdruck". 

Die  Stilistik  beging  hier  den  naheliegenden  Fehler,  eine  Form  als 
die  allein  ursprüngliche  anzusehen  und  die  andern  von  ihr  abzuleiten;  ge- 
rade so  wie  etwa  früher  die  Grammatik  alle  Tempora  vom  Präsens,  alle 
Kasus  vom  Nominativ  ableitete,  weil  allerdings  dies  das  häufigste  und 
wichtigste  Tempus,  dieser  der  häufigste  und  wichtigste  Kasus  ist  (deshalb 
hat  auch  Bernhard!  —  siehe  §  118  —  die  Metonymie  für  den  Tropus 
der  Sukzession  erklärt).  Aber  dem  gegenüber  hat  schon  Gerber  mit  Recht 
die  Relativität  der  Metonymie  betont.  Man  darf  nur  bei  der  künstlichen 
Metonymie  der  gelehrten  Dichter  —  die  freilich  leider  die  meisten  Beispiele 
liefert!  — ,  nicht  aber  etwa  bei  der  naiven  ursprünglichen  Dichtung  sich  den 
Vorgang  als  ein  Ersetzen  des  eigentlichen  durch  den  uneigentlichen  Aus- 
druck vorstellen.  Vielmehr  tritt,  wie  wir  schon  ausführten,  der  eigentliche 
Ausdruck  gar  nicht  ins  Bewußtsein:  direkt  aus  der  Anschauung  wird  ein 
neuer  (oder  ungewöhnlicher)  gewählt. 

Schief  ist  es  also,  die  Metonymie  nach  ihrem  Verhältnis  zu  dem  eigent- 
lichen Ausdruck  zu  klassifizieren,  wie  es  Wackernagel  (S.  390)  tut:  Raum- 
verhältnis {„der  Wald  besingt  des  Schöpfers  Lob"  statt  „die  Vögel  im 
Wald");  Zeitverhältnis  {„Jahrhunderte  harrten  vergebens");  Stoffverhältnis 
{„Stahl"  statt  „Schwert");  Kausalitätsverhältnis  (Ursache  statt  der  Wirkung: 
„die  Wolken  träufeln  Segen";  Wirkung  statt  Ursache:  „Hütten,  um  die  der 
Landmann  stille  Schatten  pflanzt"  —  übrigens  eine  recht  unglückliche 
Kunstmetonymie!;  Symbolverhältnis:  „Lorbeer"  statt  „Ruhm").  Denn  man 
ist  ja  nicht  einmal  immer  sicher,  welches  das  ersetzte  Wort  sei:  „Jahr- 
hunderte harrten  vergebens"  meint  vielleicht  gar  nicht  die  darin  lebenden 
Menschen,  sondern  die  verkörperten  harrenden  Zeiträume  selbst:  „Lorbeer" 
ist  ebensowohl  „Wirkung  statt  Ursache"  als  Symbol,  wenn  es  für  „Ruhm" 
steht.  Noch  schlimmer  ist  es,  mit  Bain  (S.  186)  für  das  Verhältnis  der 
Metonymie  zum  eigentlichen  Ausdruck  ein  allgemeines  Wort  finden  zu 
wollen:  sie  gebe  einen  Begleitumstand  (Symbol;  Werkzeug;  Gefäß,  wie 
z.  B.  „Stadt"  für  Inhalt;  Wirkung  für  Ursache;  der  Schöpfer  für  sein  Werk; 
eine  Leidenschaft  für  ihren  Gegenstand:  „mein  Entzücken"'  für:  du,  der 
du  mir  Entzücken  bereitest!).  Nicht  nur  ist  es  doch  etwas  kühn,  die  Wir- 
kung als  eine  bloße  „Begleitung"  der  Ursache,  den  Verfertiger  für  eine 
solche  des  Werkes  {„Euclid"  für  Geometrie!)  zu  bezeichnen;  vor  allem  ist 
eben  oft  das  der  Fall,  daß  der  „uneigentliche"  Ausdruck  viel  tiefer  in  die 
Sache  hineintrifft  als  der  herkömmliche.  Wenn  man  für  die  im  Himmel 
wohnenden  Götter  „der  Himmel"  sagte  (vgl.  Bain  S.  189),  so  griff  man 
auf  einen  ursprünglicheren,  schärferen  Ausdruck  zurück. 

§  120.  Umschreibung.  Lediglich  eine  spezielle  Form  der  Metonymie 
ist  die  Umschreibung  (Wackernagel  S.386,  Gerber  2,  1,  49  ft.,  2,  2,  20  f.). 
Es  ist  eine  vermehrende  Metonymie:   ein  Ausdruck  wird  gewählt,   der 


106  Stilistik. 


außer  dem,  was  eigentlich  ausgedrüci<t  werden  soll,  noch  etwas  anderes 
beiläufig  oder  ausmalend  ausdrückt.  So  bei  der  beliebten  Ersetzung  des 
Beinamens  statt  der  Person  oder  Sache  (die  auch  Wackernagel  S.  391  zur 
Metonymie  zieht):  Stagirit  statt  Aristoteles,  Pelide  statt  Achilles,  Sieger 
von  Marengo  statt  Napoleon.  Die  ursprüngliche  Anwendung  war  sicherlich 
auch  hier  motiviert:  man  sprach  von  dem  Stagiriten,  wo  man  etwa  die 
Einflüsse  seiner  Heimatstadt  betonen  wollte,  von  dem  Sieger  von  Marengo, 
wenn  gerade  die  Epoche  dieses  Erfolgs  gemeint  war.  Immerhin  aber 
brachten  diese  Bezeichnungen  einen  Nebenumstand  mit,  denn  daß  Aristoteles 
aus  Stagira  stammte,  bezeichnet  ihn  nicht  so  wesentlich,  wie  etwa  daß  er 
Piatons  Antipode  war.  Gerade  aber  diese  bequemen  Titel  dienen  der 
Variation.  Wer  will  immer  „Goethe"  wiederholen?  man  muß  doch  einmal 
sagen:  „der  Olympier''! 

Eine  ausgedehntere  Form  nun  dieser  vermehrenden  Metonymie  ist 
die  eigentliche  Periphrasis  oder  Umschreibung,  die  statt  einer  einfachen 
Benennung  eine  kombinierte  setzt.  Denn  dies  ist  das  Wesentliche,  nicht 
daß  man  die  Person  oder  Sache  „weitläuftiger  durch  eine  oder  mehrere 
charakteristische  Eigenschaften  oder  Wirkungen  oder  dergleichen  bezeichnet" 
(Wackernaqel  S.  386).  Die  einfache  Benennung  kann  weitläufiger  sein 
als  die  kombinierte:  „Heeresfürst''  ist  einfacher  als  „Oberbefehlshaber". 
Die  „direkte  Bezeichnung"  kann  schon  eine  Eigenschaft  oder  Wirkung 
ausdrücken:  „Führer",  „Zerstörer".  Vielmehr  ist  eben  das  Wesentliche, 
daß  die  Umschreibung  mehr  geben  will  als  eine  einfache  Bezeichnung: 
daß  sie  die  Anschauung  bereichern  will.  Wenn  ich  statt  „Wein"  sage: 
„das  schäumende  Blut  des  Weinstockes" ,  so  soll  das  Schäumen,  die  rote 
Farbe,  der  Ursprung  auf  einmal  ausgedrückt  werden.  Auf  solchem  Wunsch 
nach  Vermehrung  der  Anschauung  beruht  sogar  die  berüchtigte  Umschrei- 
bungswut der  altnordischen  Skalden.')  Nur  ist  dann  dies  Mittel  zu  einem 
künstlichen  Unterscheidungsmittel  der  Poesie  entartet,  nicht  nur  in  der  all- 
gemeinen Poesie,  sondern  ebenso  bei  gleichen  Anfängen  auch  im  17.  Jahr- 
hundert. -')  Man  nennt  in  der  altgermanischen  Poesie  die  Umschreibung 
eines  Appellativums  durch  zwei  kombinierte  Nomina  „kenning"  und  unter- 
scheidet sie  von  der  einfachen  Benennung,  dem  „heiti"J)  Beide  Klassen 
werden  im  Interesse  der  Variation  besonders  des  Subjekts  gepflegt,')  aber 
ihren  Ursprung  haben  sie  nicht  in  der  Technik,  sondern  im  Leben.  „Ken- 
ningar"  sind  daher  auch  die  meisten  Worte  der  volkstümlichen  Gauner- 
sprache {„Windfang"  für  „Mantel"),  freilich  auch  des  gelehrten  Purismus. 

Natürlich  kann  aber  der  Umfang  einer  Periphrasis  weit  über  den 
eines  zusammengesetzten  Substantivs  herausgehen:  „Kennst  du  das  Land, 
wo  die  Zitronen  blühn  — "  (Gerber  2,  1,  50)  oder  im  Prolog  der  „Jung- 

')  Vgl.  R.  Meissner,  Skaldenpoesie,  Halle      S.  1 63. 
1904  S.  6  f.  »)  Vgl.  ebenda  S.  1 16  f. 

-)   Vgl.   meine  Altgermanische  Poesie  *)  Vgl.  ebenda  S.  148  f. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  107 

frau  von  Orleans"  die  feierliche  Umschreibung  für  „Gott" :  „Der  zu  Mosen 
auf  des  Horebs  Höhen  Im  feur' gen  Busch  sich  flammend  niederließ"  — .  Eine 
erregte  Stimmung  ist  hier  aber  erst  recht  Bedingung;  daher  werden  gerade 
Worte  wie  „Gott",  „Teufel""  u.  dgl.  gern  umschrieben. 

§  121.  Euphemismus.  Ein  Einzelfall  wiederum  der  Umschreibung  ist 
der  Euphemismus  (Gerber  II  2,  79).  Er  tritt  ursprünglich  ein,  wenn  die 
erregte  Stimmung,  die  den  gewöhnlichen  Ausdruck  vermeiden  läßt,  speziell 
die  der  Furcht  oder  Ehrfurcht  ist.  Gefährhche,  unheilbringende  Namen 
werden  vermieden  (das  berühmteste  Beispiel  die  obligatorischen  Umschrei- 
bungen des  hebräischen  Gottesnamens)  und  ersetzt  („Pontus  euxinus", 
fremdenfreundliches  Meer,  für  ein  gefährliches  Meer;  viele  Göttemamen). 

Allmählich  tritt  denn  auch  hier  die  Konvention  an  Stelle  des  Gefühls 
und  immer  mehr  Ausdrücke  werden  als  der  erregten  Stimmung  des  Dichters 
schon  an  sich  feindlich  vermieden,  zumal  in  der  klassischen  Dichtung  der 
Franzosen  (reiche  Beispiele  bei  G  e  rb  e  r  a.  a.  O.).  Während  es  ursprünglich  heißt : 
naturalia  non  sunt  turpia,  erscheint  nun  der  Dichter  im  Feiergewande 
als  ein  halbgöttliches  Wesen,  dem  alles  menschliche  Allzumenschliche  fremd 
ist,  und  die  Rücksicht  auf  diese  Fiktion  erzwingt  lächerliche  Umschreibungen 
der  Prüderie  {„Beinkleid""  für  „Hose"",  was  uns  freilich  schon  geläufig  ist 
—  und  neue  Euphemismen  fordert!).  Die  Übertreibungen  sind  besonders 
von  den  Romantikern  oft  verspottet  worden.  Als  Klassiker  der  Umschreibung 
erscheint  bei  uns  Ramler  (vgl.  Wackernagel  S.  386);  so  drückt  er  „Schlitt- 
schuh" aus:  „Schuhe  von  Stahl,  worin  der  Mann  der  freundlichen  Venus 
(Umschreibung  für  Vulkan)  der  Blitze  Geschwindigkeit  barg". 

Eine  Art  von  zeremoniellem  Euphemismus  sind  die  offiziellen  An- 
reden: „Ew.  Majestät"",  „Ew.  Exzellenz"",  „Ew.  Magnifizenz"":  der  einfache 
Titel  genügt  dem  erregten  Subordinationsgefühl  nicht  und  wo  der  Franzose 
zu  seinem  Befehlshaber  sagt:  „mon  general"",  da  sind  wir  klassizistisch-steifer 
als  er  und  dürfen  (vom  Generalleutnant  aufwärts!)  nur  „Exzellenz"  sagen. 
Der  Glanz,  den  die  erhabene  Person  verbreitet,  verdrängt  die  wesenhafte 
Existenz.')  Hier  hat  Baix  wirklich  recht:  Metonymie  ist  hier  Ersetzung 
des  richtigen  Ausdrucks  durch  den  eines  Begleitumstandes. 

§  122.  Grenzfälle  der  Umschreibung.  Alle  Arten  der  Umschreibung 
stehen  zur  Anspielung  (siehe  unten  §  156)  in  Beziehung  und  nähern  sich 
bei  der  Steigerung  in  der  Form  dem  Rätsel  (Wackernagel  S.  387),  im 
Ton  leicht  der  Ironie,  wie  denn  auch  die  Hyperbel  und  die  Litotes,  zwei 
Lieblingsmittel  der  Ironie,  sich  zumeist  der  Umschreibung  bedienen.  Übri- 
gens aber  gibt  es  Fälle,  wo  ohne  jede  psychologische  Ursache  und  auch 
ohne  jede  stilistische  Absicht  die  Umschreibung  lediglich  aus  syntaktischen 
oder  flexivischen  Gründen  sich  einstellt.    „Ich  bin  gegangen""  ist  eine  Um- 


')    Über  Entstehung    und   Verbreitung      .-Xlbr.  Heller,  Zeitschrift  für  deutsche  Wort- 
dieser   Anredeformen    in    Deutschland   vgl.      forschung  6,  157  f. 


108  Stilistik. 


Schreibung  für  „ich  ging":  ich  befinde  mich  hier  als  einer,  der  einen  Weg 
hinter  sich  hat. 

Umgekehrt  werden  Umschreibungen  leicht  aus  dem  Sprachvorrat  durch 
Auflösung  komponierter  Nomina  hergestellt:  „Herr  des  Hauses"  für  „Haus- 
herr" (doch  mit  nuancierter  Bedeutung),  „Verräter  des  Vaterlandes"  für 
„Vaterlandsverräter" ,  in  welchen  Fällen  die  ältere  Umschreibung  eigent- 
lich nur  erneut  wird  (wie  eine  aus  einem  Gleichnis  erstarrte  Metapher 
wieder  in  ein  Gleichnis  aufgelöst  werden  kann). 

Vor  allem  aber  steht  der  metonymische  Gebrauch  der  Umschreibung 
dem  Tropus  der  Synekdoche  nahe. 

§  1 23.  Synekdoche.  Die  Synekdoche')^  Mitaufnahme  —  steht  der  Me- 
tonymie praktisch  sehr  nah  (vgl.  Gerber  2,  51),  hat  aber  psychologisch  einen 
andern  Ursprung.  Bei  der  Metonymie  sahen  wir  die  durch  einen  Eindruck  ver- 
ursachte Erregung  nach  einem  neuen  Ausdruck  suchen  und  fanden  gerade 
die  Kraft  des  Gesamteindrucks  bezeichnend.  Bei  der  Synekdoche  dagegen 
drängt  sich  von  dem  sonst  als  ein  Ganzes  wahrgenommenen  Gegenstand 
ein  einzelner  Teil  so  stark  in  die  Wahrnehmung,  daß  zunächst  nur  er  be- 
merkt und  benannt  wird.  Alles  übrige  wird  „mit  aufgenommen",  „mit 
verstanden"  —  aber  von  dem  Zuhörer;  für  den  Sprechenden  ist  es  gar 
nicht  da. 

Es  steht  also  nicht  „pars  pro  toto",  ein  Teil  für  das  Ganze,  son- 
dern es  steht  eben  einfach  nur  der  Teil  da.  Daß  das  ein  uralter  sprach- 
schöpfender Vorgang  ist,  wurde  bereits  hervorgehoben.  Das  Nashorn  ist 
ein  dickes  schweres  Tier,  das  keineswegs  nur  aus  dem  Hom  auf  seiner 
eigenen  Nase  bestehen  kann;  aber  der  erstaunte  Wanderer  sieht  nichts  als 
diese  wundersame  Bildung  und  sagt  einfach,  er  habe  ein  Nashorn  erblickt, 
wenn  er  einen  Dickhäuter  mit  einer  Aufstülpung  auf  der  Nase  gesehen  hat 
Und  wer  einen  Mann  mit  auffallend  langen  Beinen  „Langbein"  nennt, 
macht  nicht  das  Bein  zum  Vertreter  auch  von  Kopf  und  Rumpf,  sondern 
denkt  eben  nur  an  dies  Merkmal;  erst  später  wird  das  als  „ein  langes  Bein 
habend"  (sog.  possessive  Komposita  oder  indisch  Bahuvrihi)  aufgefaßt.  =) 

Die  Synekdoche  kommt  aber  in  der  Wirkung  allerdings  der  Metonymie 
sehr  nahe.  Wenn  ich  sage  „Cäsar  landete  in  Britannien" ,  so  liegt  Synek- 
doche vor:  das  ganze  Heer  verschwindet  mir  vor  dem  Anblick  des  Führers. 
Wenn  aber  Carlyle  (vgl.  Gerber  2,  1,  63)  diese  Figur  in  ungewöhnlicher, 
auffallender  Weise  steigert  und  von  dem  Heer  des  Feldmarschalls  Keith 
sagt:  „da  liegt  Keith,  15  Meilen  lang",  oder  von  seinem  östeneichischen 
Ranggenossen:   „Browne  dehnt  sich  durch  Lobositz  hin  aus,  und  darüber 


')    Bernhardi   S.  90,    Becker   S.  96,  ,   derNominaindenindogermanischenSprachen 

Wackernagel    S.  393,    Vischer    S.  1223,  S.  117  f.,  Tobler,  Über  die  Wortzusammen- 

Gerber   1,  363;  2,37,   Bain  S.  182,   Sher-  setzung  S.  74  f.,   Brugman.n,  Grundriß  der 

MAN  S.  72.  vergleichenden  Grammatik   der   indogerma- 

°)  Vgl.  JusTi,  Über  die  Zusammensetzung  nischen  Sprachen  2,  87  f. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  109 

hinaus  in  krummer  Linie  bis  Welholin"  —  so  sieht  der  fortwährend  auf- 
geregte, exzentrische  Schotte  die  ganze  Soldatenmasse  vor  sich,  die  in 
ihrem  Umfang  doch  einen  beseelten  Organismus  ausmacht,  und  verdichtet 
sich  ihr  Bild  in  der  Metonymie:  diese  ganze  Armee  ist  „Keith"  wie  ein 
ganzes  Land  „Preußen"  ist. 

Hauptformen  der  Synekdoche  sind  (wenn  wir  uns  der  läßlichen  Aus- 
drucksweise bedienen  dürfen): 

1.  das  Ganze  wird  durch  einen  Teil  ausgedrückt: 

Nicht  betritt  sein  Fuß  die  Hallen  — 

wenn  der  Fuß  die  Schwelle  betritt,  so  betritt  eben  der  Mann  das  Haus; 
aber  ich  sehe  spezieller  auf  sein  Schreiten  hin. 

2.  Die  Art  durch  eine  Unterart: 

Der  Dänen  Schwerter  drängen  Schwedens  Heer  — 
natürlich  wirken  ihre  Lanzen  mit;  aber  die  Schwerter  sind  ihre  Siegeswaffe. 

3.  Die  Vielheit  durch  einen  einzelnen: 

Kein  Feind  bedrängte  Engelland,  dem  nicht 
Der  Schotte  sich  zum  Helfer  zugesellte : 
Kein  Bürgerkrieg  entzündet  Schottlands  Städte, 
Zu  dem  der  Brite  nicht  den  Zunder  trug. 

(.Maria  Stuart"  I,  7,  Vers  820  f.) 

Das  Auge  sieht  tausend  Schotten  oder  Briten,  einer  dem  andern  gleich, 
und  bleibt  gleich  bei  dem  ersten  haften.  So  auch  bei  jenen  häufigen  Er- 
setzungen des  Heers  durch  den  Anführer. 

4.  Die  unbestimmte  Zahl  durch  die  bestimmte:  hier  hat  die  Poesie 
ein  für  allemal  bestimmte  runde  Zahlen  erwählt,  Grenzzahlen,  bei  deren 
erster  sie  stehen  bleibt.  So  zählt  die  griechische  Poesie  das  Unendliche 
nach  Myriaden,  die  deutsche  nach  Tausenden  oder  (bei  erweiterter  Raum- 
und  Zahlanschauung)  nach  Millionen.  Nur  scheinbar  steht  so  auch  die 
unbestimmte  Zahl  für  die  bestimmte:  die  „heiligen  Zahlen",  z.  B.  die  überall 
volkstümliche  3  und  9,  die  heilige  12  der  Christen  i)  sind  eben  zunächst 
bestimmt  gemeint  und  werden  erst  durch  den  Gebrauch  symbolische,  an- 
deutende Zahlen.  Freilich  darf  die  Poesie  zu  bestimmte  Zahlenangaben 
selten  verwenden: 

Mad.  de  Necker  bemerkt,  bestiminte  Ausdrücke,  wie  21,  22  if.  s.w.,  seien  der 
französischen  Poesie  verboten.  Auch  unsere  erlaubt  solche  Bestimmungen  nicht;  das 
Epos  kann  wohl  1000  Millionen  sagen,  aber  nicht  41,  17  u.  s.  w.  (vgl.  Gerber  S.  39;  über 
„künstliche  Zahlen"  meinen  Aufsatz  Indogermanische  Forschungen  S.  12,  261  f.). 

Das  Verhältnis  liegt  aber  so,  daß  es  für  die  Poesie  diese  eckigen  Einzel- 
zahlen überhaupt  gar  nicht  gibt;  daß  in  dem  idealen  Reich  besonders  der 
alten  Epik  eben  nur  harmonische  Zahlenverhältnisse  existieren.  Für  das  Epos 
oder  die  Lyrik  sind  also  41  oder  17  unbestimmte,  weil  unfaßbare  Begriffe 
—  man  könnte  sonst  schließlich  mit  Logarithmen  kommen  —  und  sie 
werden  durch  40  oder  20  ersetzt,  weil  das  poetisch  bestimmte,  gleichsam 

')  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  S.  83  f. 


110  Stilistik. 


der  Anschauung  zugängliche  Zahlen  sind.  Mit  den  genannten  40  werden 
also  die  etwa  überschüssigen,  oder  auch  die  mangelnden  Werte  (heißt  doch 
18  im  Lateinischen:  „zwei  von  zwanzig  abl")  „ mitverstanden ",  oder  viel- 
mehr sie  werden  eben  über  der  Schätzungszahl  übersehen. 

§  124.  Metapher.  Die  bei  weitem  wichtigste  Form  der  Variation  ist 
die  Metapher.  Dieser  Tropus  erfreut  sich  der  allgemeinsten  Anwendung 
und  erstreckt  sich  viel  mehr  als  Metonymie  und  Synekdoche  auch  auf  das 
Prädikat  (und  das  Objekt,  das  wir  immer  als  Teil  des  Prädikats  auffassen). 
Vor  allem  hat  freilich  auch  die  Metapher  ihren  Platz  im  Subjekt. 

Über  keinen  Tropus  existiert  eine  so  ausgedehnte  Literatur  wie  über 
die  Metapher.') 

Die  Metapher  setzt  an  Stelle  des  gewöhnlichen  Ausdrucks  einen  bild- 
Hchen;  richtiger  gesagt:  sie  benennt  einen  Gegenstand  oder  eine  Handlung 
aus  einer  andern  Anschauungssphäre  heraus,  als  aus  der  er  mit  seinem 
herkömmlichen  Ausdruck  benannt  ist.  (Freilich  kann  auch  einfach  der  ur- 
sprüngliche Benennungsprozeß  wiederholt  werden:  Strahl  der  Sonne,  Sonnen- 
strahl heißt  dasselbe  wie  Pfeil  der  Sonne,  dies  aber  empfinden  wir  als  Meta- 
pher, jenes  nicht  mehr:  Gerber  S.  79.)  Das  metallische  Geld  ist  kein  beseeltes 
Wesen;  sagen  wir  „Bargeld  lacht",  so  verwandeln  wir  den  Glanz  des  Metalls 
metaphorisch  aus  einer  physikalischen  in  eine  psychologische  Erscheinung. 

Früher  nun  faßte  man  die  Metapher  schlechtweg  als  verkürztes 
Gleichnis 2)  auf.  Im  vorliegenden  Falle  also:  das  Bargeld  glänzt  wie  ein 
vergnügter  Mann.  Unendlich  oft  trifft  das  zu;  so  steht  fast  die  ganze 
angelsächsische  Dichtung  zu  der  älteren  altnordischen  in  diesem  Verhältnis, 
daß  dort  Metapher  geworden  ist,  was  hier  noch  frisch  als  Gleichnis  em- 
pfunden wird.  3)  Aber  gegen  die  Allgemeingültigkeit  des  Satzes  hat  schon 
Gerber  (2,  1,  80)  Bedenken  geäußert.  Scherer  (Poetik  S.  267)  sprach  dann 
zuerst  aus,  die  Metaphern  entständen  in  der  Regel  durch  Hervorhebung 
einer  einzelnen  Eigenschaft  oder  Personifikation,  ohne  den  „Umweg  über 
das  Bild".  Dies  hat  denn  auch  Biese  lebhaft  ausgeführt  und  Gu.m.mere 
(Beginnings  of  poetry  S.  446)  brauchte  es  also  nicht  —  noch  dazu  unter 
Widerspruch  gegen  Scherer!  —  als  neue  Erkenntnis  zu  proklamieren. 

Elster  (Prinzipien  der  Literaturgeschichte  1 ,  374)  schritt  dann  zu  einer 
weiteren  Vertiefung,   indem   er  allgemein   vier   „ästhetische  Apperzeptions- 

')  Ich  nenne  außer  den  Stellen  bei  un-  ist  die  Anschauung    über  das  Wesen    der 

seren   Gewährsmännern:   Bernhardi  2,  93,  Metapher  erst  neuerdings    vertieft   worden. 

Becker  S.  103  f.,  Wackernagel  S.  394,  Noch  Herbert  Spencer  (Philosophy  of  st>-Ie 

VischerS.  1226,  Gerber  2, 1,83,  BainS.  158,  S.  811  sah  ihren  Hauptvorzug  in  der  .öko- 

besonders  A.  Biese,  Die  Philosophie  des  Me-  nomischen    Wirkung",    die    den   Inhalt   des 

taphorischen,  Hamburg  und  Leipzig  1893,  Fr.  Gleichnisses  in  wenige  Worte  komprimiert 
Brinkmann,  Die  Metaphern,  I.  Bd.,  Die  Tier-  ')  So  noch  Wackernaüel  S.  305,  anders 

bilder  in  der  Sprache,  Bonn  1878  (mehr  ist  Sherman,  Analj-tics  of  literature  S.  61  f. 
nicht  erschienen).    Auch  verweise  ich  noch-  •)   \'gl.   meine  .■Mtgermanische  Poesie 

mals  auf  Wundt  und  Mauthner.    Dennoch  S.  432. 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  1 1 1 

formen"  (ebenda  S.  359)  unterscheidet:  die  personifizierende  —  metapho- 
rische —  antithetische  —  symbolische.  Alle  vier  haben  das  gemein,  „daß  der 
Auffassende  sein  Denken  in  die  Dinge  der  Außenwelt  hineinprojiziert"  und 
sie  dadurch  seinem  eigenen  Anschauungsvorrecht  assimiliert.  Dies  geschieht 
speziell  bei  der  Metapher  durch  Hinzufügen  eines  vergleichbaren  Gedankens 
B  zu  einem  Gedanken  A  oder  direkt  durch  deren  Vertauschung.  Sie  hängt 
—  wie  ja  auch  Scherer  betont  —  mit  der  Personifikation  eng  zusammen. 
„Auch  in  ihr  ist  jener  Grundtrieb  der  menschlichen  Seele  wieder  zu  er- 
kennen, der  darin  besteht,  auf  die  Dinge  und  Vorgänge  der  Welt  ihr  eignes 
geistiges  Leben  zu  übertragen  .  .  .  Auch  hier  projiziert  der  Mensch  sein 
eignes  Selbst  nach  außen;  indessen  nicht  so,  daß  er  die  Umwelt  beseelt, 
sondern  so,  daß  er  zu  Vorstellungen,  die  in  sein  Bewußtsein  treten,  andere 
Vorstellungen  aus  dem  Schatz  seiner  Erfahrung  in  Parallele  setzt."  Gewisser- 
maßen ist  also  die  Personifikation  nur  ein  Einzelfall  der  Metapher:  wie  bei 
ihr  etwa  ein  „dräuender  Fels"  aus  dem  Unorganischen  ins  Menschliche 
übersetzt  wird,  so  übersetzt  die  Metapher  „Pfeil  der  Sonne"  den  Sonnen- 
strahl aus  dem  Kosmischen  ins  Militärische.  „Jede  gesunde  Metapher  geht 
aus  dem  Gedankenkreis  hervor,  in  dem  ein  Mensch  vornehmlich  zu  Hause 
ist:  der  Landmann  verknüpft  die  Dinge  vornehmlich  mit  dem  Landleben, 
der  Soldat  mit  dem  seines  militärischen  Berufs  u.  s.  w."  —  was  denn 
freilich  auch  in  der  pedantisch  durchgeführten  Berufsmetaphersprache  unserer 
Lustspiel-Seebären  und  Roman-Eisenfresser  übertrieben  wird.  Im  ganzen 
aber  kann  Elster  (a.  a.  O.  S.  375)  mit  vollem  Recht  den  Maßstab  für  die 
Beurteilung  der  einzelnen  Fälle  dieser  psychologischen  Begründung  ent- 
nehmen. Je  lebhafter  ein  Schriftsteller  eine  eigenartige  Auffassung  der 
Dinge  ausgebildet  hat,  desto  ungezwungener  werden  ihm  die  Metaphern 
fließen.  So  hat  Goethe  von  dem  alemannischen  Dichter  Hebel  gesagt, 
daß  er  das  Universum  „anmutig  verbauert":  Sonne,  Fluß,  Stadt  werden 
ihm  Bauernmädchen  und  Bauern.  Und  dies  Urteil  hat  L.  Bock  auf  Wol- 
fram v.  Eschenbach  variiert:  der  „verrittert"  das  Universum. 

Mehr  ist  gerade  über  diese  berühmteste  aller  Figuren,  diesen  König 
der  Tropen  kaum  zu  sagen.  Die  „Metaphora",  die  Übertragung  {\aiQ\n\sch 
translatiö)  dient  dem  persönlichen  Anschauungsbedürfnis,  das  aus  der  weniger 
anschaulichen  oder  weniger  bekannten  Sphäre  in  die  bekanntere  überträgt. 
Wenn  die  Strahlen,  die  die  Sonne  „ausschickt",  mit  den  uns  wohlbekannten 
Pfeilen  verglichen  werden,  so  tut  die  naive  Anschauung,  was  in  der  Wissen- 
schaft die  (von  Scherer  so  benannte)  „Methode  der  wechselseitigen  Er- 
hellung" tut:  sie  setzt  auf  Grund  eines  Vergleiches,  der  aber  ganz  im 
Untergrund  des  Bewußtseins  bleiben  kann,  ein  unbekanntes  Glied  einem 
bekannten  gleich.  Gerber  (S.  80)  betont  daher  mit  Recht,  daß  immer  eine 
Proportion  vorliegt,  eine  Art  mathematischer  Gleichung  einfachster  Art.  Die 
Strahlen  sind  von  irgendwo  her  entsandt  (was  ja  noch  modernen  physi- 
kalischen Theorien  entspricht);  die  Pfeile  werden  von  einem  Schützen  ent- 


1 1 2  Stilistik. 


sandt;  also  mag  (x  in  der  Regeldetri-Aufgabe)  die  Sonne  eine  Art  Schütze 
sein,  der  diese  Pfeile  abschießt: 

Schütze:  Pfeil, 
x:  Strahl. 

Deshalb  ist  hier  auch  immer  die  Möglichkeit  wechselseitiger  Vertau- 
schung gegeben  (Gerber  S.  28):  der  Pfeil  der  Sonne  —  der  Strahl  des 
Bogens.  Besonders  in  feuilletonistisch  gesuchtem  Stil  ist  diese  Vertauschung 
oft  zu  vollziehen,  weil  eben  hier  selten  eine  individuelle  Notwendigkeit 
gerade  dieser  Apperzeption  oder  Akkumulation  besteht.  Deshalb  (vgl. 
oben  §  21):  „ein  Pferd  steuern",  aber  vielleicht  auch:  „das  Boot  siegte 
bei  der  letzten  Regatta  um  eine  Nasenlänge"  .... 

(Ordnet  man  die  beiden  Metaphern  zusammen,  so  erhält  man  die 
Figur  des  Chiasmus,  siehe  unten  §  142.) 

So  ist  denn  auch  die  Metapher  oft  ein  Kunstgewächs  und  kann 
schließlich  sogar  die  Aufgabe  haben,  eine  angenehme  Überraschung  zu 
bereiten,  wie  Bain  (S.  161)  im  schönsten  Nürnberger  Trichter-Stil  sagt.  Von 
der  Fülle  des  Lebens  aber,  die  die  ungezwungene  Naturmetapher  entwickelt, 
kann  etwa  ein  Buch  wie  die  (dilettantische)  Sammlung  von  Wigand,  Der 
menschliche  Körper  im  Munde  des  deutschen  Volkes,  Frankfurt  a.  M.  1899 
(deren  Titel  durch  eine  böse  Metapher  entstellt  wird!)  mit  ihren  70  Meta- 
phern mit  „Hand"  und  112  mit  „Herz"  anschaulich  machen. 

Eine  Einteilung  der  Metaphern  versucht  z.  B.  Gerber  (S.  83);  sehr 
fruchtbar  kann  ich  diese  Versuche  nicht  finden.  Wichtiger  ist  der  Hinweis 
auf  die  mit  der  Metapher  verwandten  Figuren  (ebenda  S.  98  f.):  die  Alle- 
gorie, die  Parabel,  das  Gleichnis.  Eine  durchgeführte  Allegorie  wie 
etwa  Fontenelles  geistreiche  Geographie  des  ^Pays  du  Tendre"  ist  eine 
gedehnte  Metapher:  eine  Parabel  ist  eine  Art  lehrhafter  Allegorie,  ein  Gleich- 
nis, ist  auch  schon  eine  gedehntere  Metapher.  Nur  darf  man  das  nicht  als 
die  notwendigen  Ursprungsformen  dieser  Gattungen  ansehen. 

§  125.  Variation  und  Wiederholung.  Alle  diese  Tropen  nun:  die  Meto- 
nymie mit  Umschreibung  und  Euphemismus,  die  Synekdoche,  die  Metapher 
entspringen,  wie  wir  sahen,  dem  natüdichen  Drang,  einer  lebhaften  An- 
schauung unmittelbaren  Ausdruck  zu  verleihen;  zu  stilistischen  Zwecken 
erfunden  sind  sie  gewiß  nicht.  Alle  drei  haben  aber  das  gemein,  daß  sie 
tatsächlich  eine  Variation  des  nächstliegenden  Ausdrucks  bewirken  und 
zwar  zumeist  für  das  Subjeki,  da  dies  eben  der  erregende  Gegenstand  ist. 
Wie  nun  überall  im  Lauf  der  Entwickelung  ursprüngliche  Nebenwirkungen 
in  Hauptwirkungen  umgewandelt  werden,  so  ist  auch  diese  Nebeneigen- 
schaft der  Tropen  zu  ihrem  Hauptzweck  gemacht  worden:  sie  wurden 
stilistische  Mittel  zur  „Belebung"  und  „Abwechslung"  bei  der  Aussage. 

Hiergegen  ist  nun,  solange  besonders  die  Metapher  nicht  zu  gewalt- 
sam erzwungen  ist,  im  Prinzip  nichts  zu  sagen,  da  eine  beständige  Wieder- 
holung der  gleichen  Appellativa,  Namen  oder  Verba  entweder  eintönig  oder 


Neuntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  formeller  Hinsicht.  113 

aufreizend  wirkt.  Vor  überflüssiger  Variation  aber  ist  zu  warnen,  da  sie 
leicht  vom  richtigen  Ausdruck  abführt.  Scherer  pflegte  seinen  Schülern 
zu  empfehlen,  lieber  zehnmal  das  gleiche  passende  Wort  anzuwenden,  als 
einmal  ein  ungenaues. 

Am  besten  ist  es  doch  wohl,  von  all  diesen  Hilfsmitteln  nur  dann 
Gebrauch  zu  machen,  wenn  sie  an  sich  motiviert  sind.  Wo  kein  Anlaß 
vorliegt,  Metonymie  oder  Metapher  anzuwenden,  kann  man  sich  ja  mit 
dem  einfacheren,  anspruchslosen  Wechsel  von  Benennung  und  Pronomen  be- 
helfen.  Wo  dagegen  wirklich  Stimmung  oder  Anschauung  einen  solchen 
Wechsel  des  Ausdrucks  und  der  Anschauung  an  die  Hand  geben,  dient 
die  Durchführung  der  Tropen  vortrefflich  dazu,  die  Entwicklung  des  Ge- 
dankens schon  äußerlich  zur  vollen  Geltung  gelangen  zu  lassen.  Die  Rede 
wird  bewegter  —  und  Tropen  stellen  sich  ein;  sie  glättet  sich  wieder  zu 
einfacherem  Ausdruck  —  wie  viel  besser  ist  das  als  die  gewaltsame  Über- 
setzung aller  Appellativa  in  „tropische"  Benennungen! 

§  126.  Andere  Satzbindemittel.  Wir  sind  damit  wieder  bei  unserm 
Ausgangspunkt  angelangt:  der  Satzverbindung  durch  bestimmte,  betonte 
Worte  (§  106)  —  wiederkehrende  (§§  106 — 113),  unmerklich  variierte 
(§§  114 — 115),  auffällig  variierte  (§§  116 — 125).  Indes  gibt  es  noch  weitere 
Mittel,  die  Sätze  zu  verbinden.  Es  kann  noch  geschehen  1.  durch  die 
Anlage  der  Sätze  selbst,  2.  durch  Kombination  dieses  Mittels  mit  der  An- 
wendung bestimmter  betonter  Worte. 

§  127.  Parallelismus.  Die  einfachste  und  ursprünglichste  Art,  zwei 
Sätze  durch  ihren  Bau  zu  verbinden,  ist  der  Parallelismus  (Wackernaqel 
S.  416,  Bain  1,  105  f.).  Von  vornherein  sind  die  zusammengehörigen  Sätze 
meist  übereinstimmend  gebaut:  mehrere  Aussagesätze,  auch  wohl  mehrere 
Frage-  oder  Ausrufsätze  pflegen  sich  zu  folgen,  zumal  solange  einfache 
Parataxe  herrscht;  und  sie  ruhen  dann  wie  die  Steine  einer  zyklopischen 
Mauer  ohne  Mörtel  durch  ihr  Gewicht  aufeinander. 

Der  Parallelismus  kann  aber  auch  zu  bewußter  Kunst  umgebildet  und 
ausgebildet  werden.  Dies  war  bekanntlich  in  der  hebräischen  Poesie  der 
Fall  und  ist  von  der  Bibel  aus  z.  B.  auch  in  Goethes  dramatischen  Prosa- 
stil i)  eingedrungen:  „So  kniete  die  arme  Frau  wie  du  kniest,  und  so  stand 
der  Wütrich,  wie  ich  stehe  l""  (Götz  von  Berlichingen).  Oder  auch  drei- 
gliedrig: „Eure  Schlösser  verheert,  euer  Geschlecht  vertrieben,  eure  Besitz- 
tümer öde!" 

Auch  diese  Figur  beruht  auf  Stimmung,  die  eben  nur  auf  verschiedene 
erregende  Momente  verteilt  wird;  sie  stellt  die  äußerste  Steigerung  sowohl 
der  Anaphora  als  auch  der  Epiphora  dar.  Übermäßig  angewandt,  zerstört 
sie  jene  den  Bewegungen  des  Gedankens  oder  der  Anschauung  sich  an- 
schmiegende Veränderlichkeit  der  Ausdrucksformen,  die  die  Seele  kunst- 
mäßiger Rede  ist. 

•)  Tippmann,  Goethe-Jahrbuch  24,  224. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  1.  8 


114  Stilistik. 


§  128.  Inversion.  Wie  die  Variation  zur  Wiederholung,  verhält  sich 
zum  Parallelismus  die  Inversion:  eine  absichtlich  entgegengesetzte  Wort- 
ordnung. Im  kleinen  geschieht  das  in  der  Figur  der  Epanodos  (siehe 
oben  §  109),  im  großen  kann  es  durch  lange  Redesysteme  durchgeführt 
werden:  „Ich  preise  den  Herrn  — ;  den  Herrn  preise  ich  ..."*) 

Und  diese  Figur  beruht  auf  dem  Sprachgebrauch  selbst,  der  ja  für 
bestimmte  Satzformen  eine  Umkehr  der  gewöhnlichen  Wortstellung  fordert. 
Neuerdings  wird  sie  auch  mit  Unrecht  gern  verwandt,  um  die  Symmetrie 
größerer  Satzhälften  nach  „und"  aufzuheben  (vgl.  oben  S.  58):  hier  ist 
die  schlichte  Gleichmäßigkeit  der  Aussage,  der  Gleichmäßigkeit  des  Inhalts 
entsprechend,  vorzuziehen. 

Eine  Kombination  von  Parallelismus  und  Umstellung  ergibt  den  Chias- 
mus, den  wir  an  anderer  Stelle  (siehe  unten  §  142)  zu  besprechen  haben.*) 

§  129.  Reim.  Endlich  sind  noch  zwei  Mittel  der  Satzverbindung  vor- 
handen, die  den  Parallelismus  mit  dem  Bindemittel  korrespondierender  Ton- 
worte verbinden.     Beide  sind  uralt  und  über  die  ganze  Welt  verbreitet. 

Das  erste  ist  der  Reim  (Wackernagel  S.  438),  vorzugsweise  als  End- 
reim, doch  auch  als  Stabreim,  oder  in  der  Abschwächung  des  Endreims 
zur  Assonanz,  die  aber  nur  bei  größerer  Häufung  wirkt. 

Der  Reims)  hat  sich  ja  nur  in  der  Poesie  zu  einem  regelmäßigen 
Bindemittel  entwickelt,  so  daß  er  der  volkstümlichen  Meinung  einfach 
geradezu  als  Kennzeichen  der  Dichtung  gilt.  Er  ist  aber  in  der  Sprache 
selbst  begründet  (vgl.  Gerber  2,  1,  162  f.)  und  stellt  sich  mit  dem  natür- 
lichen Parallelismus  einfacher  Sätze  unvermeidlich  ein,  da  Worte  von  gleichem 
Bau  am  Anfang  und  Ende  stehen,  so  daß  bei  verschiedenem  Wortstamm 
und  gleichem  Suffix  eben  die  korrespondierenden  Worte  reimen.*)  Dies 
begegnet  also  in  der  Prosa  ebensogut  wie  z.  B.  in  der  alliterierenden  Dich- 
tung Endreim  vorkommt,^)  wird  aber  am  ehesten  da  begegnen,  wo  eine 
feierliche  Formel  besonders  genau  auf  den  gleichen  Bau  der  Sätze,  auch 
in  bezug  auf  die  Länge  u.  s.  w.,  achtet. 

Mehr  als  eine  gelegentliche  Anwendung  des  Reims  (etwa  in  Namen- 
gruppen wie  Eisete  und  Beisele)  widerspricht  dem  Geist  der  Prosa,  die 
eben  die  äußediche  Gleichheit  der  Sätze  nicht  dem  anschmiegenden  Wechsel 
der  Ausdrucksformen  opfern  darf.  Die  widrige  Mischform  der  sogenannten 
„Reimprosa"   (Wackernagel  S.  441;    z.  B.    oft    bei   Abraham  a  Sancta 


Clara)  kann  nur  buriesk  wirken. 


')  Gute  Beispiele  psycliologischi  gedeutet  nisclien  Minor,  Metrik  S.  339  f. 
bei  Becker,  Stil  S.  48.  *)   Vgl.   Liddell,    Introduction   to  the 

')  Über  die  verschiedene  Wirkung  von  scientific  study  of  English  Poetry  S.  99. 
Parallelismus   und   Inversion   vgl.  Spencer,  •')   Vgl.   meine   Altgermanische  Poesie 

On  Style  S.  20.  S.  302  f. 

ä)  Viehoff,  Poetik  S.  280  f.;  zum  Tech- 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  115 

Die  geistreichen  psychologischen  Deutungen,  die  gerade  der  Reim 
besonders  seit  den  Romantil<ern ')  gefunden  hat,  2)  scheiden  also  aus  dem 
Kreis  unserer  Betrachtungen  aus.  Trifft  die  Stilistik  einmal  auf  psycho- 
logische Fundamentierung,  so  muß  sie  sie  beinah  immer  der  Poetik  über- 
lassen. 

§  130.  Zählung.  Wesentlich  der  Prosa  gehört  dagegen  die  Zählung 
an  (Wackernagel  S.  422).  Als  ein  einfaches  Mittel,  nicht  nur  das  Ge- 
dächtnis zu  unterstützen,  sondern  auch  die  Feierlichkeit  zu  erhöhen,  wird 
sie  bei  parallelen  oder  doch  konvergenten  Sätzen  gern  verwandt,  vorzugs- 
weise also  bei  Lehren  und  Zaubersprüchen.  Alle  Völker  der  Welt  lieben 
sie  so,  etwa  die  drei  höchsten  Güter,  oder  die  vier  schwersten  Dinge  u.  dgl. 
mehr  zu  sammeln;  wobei  die  hebräische  Poesie  (Wackernaqel  S.  416)  — 
doch  nicht  sie  allein  —  noch  gern  ein  überschüssiges  Glied  mitgibt:  „Drei 
Dinge  sind  mir  zu  wunderlich,  und  das  vierte  weiß  ich  nicht''  (Sprüche 
Sal.  30,  18). 

Die  Zählung  kann  auch  über  größere  Systeme  fortgeführt  werden: 
über  Strophen  wie  in  Uhlands  Gedicht  „Es  zogen  drei  Reiter  wohl  über 
den  Rhein",  über  Prosa-Abschnitte  wie  sehr  häufig  z.  B.  in  der  Beredsam- 
keit, wo  sie  Gründe  aufsammelt  oder  Personen  vorführt. 

§  131.  Rückblick.  Wir  haben  diesem  Kapitel,  das  in  den  meisten 
Stilistiken  kaum  einen  Platz  findet,  eine  ausführliche  Besprechung  ge- 
widmet, weil  eben  gerade  die  Satzverbindung  das  Wesen  der  Prosa  als 
kunstmäßig  angeordneter  Rede  zu  kennzeichnen  scheint.  Ein  einzelner 
Satz,  auch  in  wirksamster  Ausprägung,  begegnet  auch  in  kunstlosem,  ja 
ungeschicktem  Munde  alle  Augenblicke  in  einwandfreier  Form:  erst  mit 
der  Architektonik  größerer  Gebäude  beginnt  die  Kunst  der  Rede.  Nur 
praktische  Engländer  wie  Bain  (Rhetoric  and  composition  1,  91  f.)  haben 
diese  Grundlage  der  kunstgerechten  Prosa  und  Poesie  ausführlicher  be- 
handelt, doch  auch  vorzugsweise  vom  rein  syntaktischen  Standpunkt;  für 
genauere  Analyse  ist  nochmals  auf  des  Amerikaners  Brewster  Studies  in 
structure  and  style  und  auf  seines  Landsmanns  Sherman  Analjrtics  of  Lite- 
rature  zu  verweisen.  Außerhalb  des  englischen  Sprachbereichs  hat  man  ein- 
gehende Sorgfalt  auch  vom  stilistischen  Standpunkt  nur  den  inhaltlichen 
Satzbindemitteln  zugewandt. 

Zehntes  Kapitel. 

Die  Satzverbindung  in  inhaltliclier  Hinsicht. 

§  132.  Einheit  der  Rede.  Die  inhaltliche  Verbindung  der  Sätze  be- 
ruht,  wie  schon   ausgeführt,    auf   der  Kontinuität,   d.  h.   auf  dem   Um- 

')  Z.  B.  Bernhardi,  Sprachlehre  2,  380  f.,      FELD,  Studien  zur  Theorie  des  Reims,  Zürich 
399  f.  1  1897,  II  1904. 


'•')  Übersicht  und  Würdigung  bei  Ehren- 


8* 


116  Stilistik. 

stand,  daß  zwischen  dem  Inhalt  zweier  Sätze  eine  gedankliche  Verbindung 
existiert.  Diese  Kontinuität  kann  in  Augenblicken  der  höchsten  Erregung 
zwar  nicht  völlig  aufgehoben,  aber  doch  gelockert  werden.  Jene  wilden 
Visionen,  die  die  Dichter  mit  einem  ^Wo  bin  ich?"  einzuleiten  lieben, 
können  eine  Jagd  von  Bildern  ergeben,  die  nicht  unmittelbar  zusammen- 
hängen; mittelbar  tun  sie  es  doch,  indem  sie  demselben  Boden,  einer  be- 
stimmten Persönlichkeit  und  einer  gewissen  Stimmung  entsprechen.  Eine 
wirkliche  Aufhebung  der  Kontinuität  ist  pathologisch,  und  selbst  im  Wahn- 
sinn werden  irgend  welche,  nur  uns  nicht  faßbare  Verbindungsglieder  die 
disparatesten  Glieder  der  Rede  heimhch  verketten. 

Pathologisch  ist  es  aber  auch,  wenn  zwar  die  sich  folgenden  Glieder 
begrifflich  verbunden  sind,  diese  Verbindung  aber  nicht  zu  einem  bestimmten 
gedanklichen  Ziel  führt.  Dies  ist  die  Erscheinung  der  sogenannten  Ge- 
dankenflucht (LiEP.Ni-WN,  Die  Ideenilucht,  Halle  1904),  die  der  berühmte 
Naturforscher  und  Philosoph  Rechner  an  sich  selbst  eingehend  studiert 
hat. ')  Bei  ihr  bemächtigt  sich  ein  Zwischenglied  selbst  der  Führung  und 
lenkt  den  Gedanken  ab,  etft'a  wie  wenn  wir  von  einem  am  Wege  hegenden 
Aussichtspunkte  nach  rechts  oder  links  weiter  schreiten,  statt  gerade  aus. 
Auch  dies  Phänomen  ist  in  der  Darstellung  krankhafter  Erregung  von  den 
Dichtem  benutzt  worden,  fäUt  aber  als  anormal  aus  dem  Kreis  unserer  Be- 
trachtungen heraus. 

Eine  Art  Pathologie  der  Unterhaltung  endlich  stellt  jenes  zusammen- 
hanglose Gerede  da,  das  zwischen  zwei  sich  zufällig  treffenden  Personen 
beim  Mangel  gemeinschaftlicher  Interessen  oft  geführt  wird:  .Schönes 
Wetter  heut!"  —  „„Ja."  —  „Die  Russen  sollen  ja  wieder  eine  Schlacht  ver- 
loren haben?"  —  „„Möglich."  —  „Haben  Sie  den  Geheimrat  in  letzter  Zeit 
gesehen?"  u.  s.  w.  Auch  solches  Redemosaik  kann  in  realistischer  Dich- 
tung —  z.  B.  in  Ibsenschen  Dialogen  — wiedergegeben  werden;  aber  es 
steht  unterhalb  der  eigentlich  kunstmäßigen  Anwendung  der  Rede. 

Diese  also  setzt  zweieriei  voraus:  1.  die  einzelnen  Redestücke  stehen 
miteinander  in  Verbindung,  2.  die  ganze  Rede  (das  Wort  natüriich  in  all- 
gemeiner Bedeutung  genommeni  hat  eine  Einheit  —  freilich  in  weiterem 
Sinn  als  der  einzelne  Satz  (vgl.  oben  §  79  f.).  B.\in  (Rhetoric  1,  91) 
definiert  eine  solche  .Rede"  (die  er  ^Paragraph'"  nennt)  glücklich  als: 
„eine  Zusammenstellung  von  Sätzen  in  einheitlicher  Absicht". 

§  133.  Analysen.  Diese  „Absicht"  ist  natürlich  nicht  immer  iwie  bei 
der  Beredsamkeit  oder  dem  Befehl)  eine  bewußte,  sondern  oft  lediglich  in 
dem  Mitteilungsbedürfnis  enthalten.  Dann  bildet  eben  die  bestimmte  Tat- 
sache oder  Empfindung,  die  übermittelt  werden  soll,  die  Einheit  und  den 
Kern  der  Rede.  Auf  dieser  Einheit  beruht  die  Möglichkeit  der  sogenannten 
Analyse:  sie  hebt  den  Kern  heraus  und  läßt  von  der  Schale  nur  so  viel 


>)  Vgl.  LASSwrrz,  G.  Th.  Fechner,  Stuttgart  1896,  S.  43  f. 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  117 

sehen,  als  für  die  Entwicklung  gerade  dieses  Kerns  charakteristisch  ist.  \n 
solchen  Analysen  sind  die  französischen  Kritiker  Meister,  von  den  unsern 
fast  nur  Lessing;  dagegen  verstehen  die  Philologen  recht  oft  auch  bei 
uns  die  keineswegs  selbstverständliche  Kunst  der  Analyse  gut. 

Größere  Redestücke  zu  analysieren  ist  eine  treffliche  Übung  zur  prak- 
tischen Stilistik  und  eine  unentbehrliche  Vorübung  zur  Kritik.') 

§  134.  Entwicklung  der  Rede.  Fassen  wir  nun  beides  zusammen:  die 
Verbindung  von  einem  Zwischenglied  zum  andern,  und  die  in  einem  ge- 
wissen Ziel  (einer  „Absicht")  gegebene  Einheit,  so  erhalten  wir  als  eigent- 
liches Problem  der  inhaltlichen  Satzverbindung  die  Bewegung  des  Ge- 
dankens oder  die  Entwicklung  der  Anschauung  —  welche  beiden 
Dinge  für  uns  hier  gleichwertig  sind,  da  es  stilistisch  gleichgültig  ist,  ob 
das  Objekt  mit  geistigen   oder  körperlichen  Augen   wahrgenommen  wird. 

Diese  Entwicklung  vollzieht  sich  psychologisch  dergestalt,  daß  ein 
bestimmter,  weckender,  erregender  Eindruck  vorausgeht  und  zu  einer  ge- 
naueren Prüfung  führt.  Ob  ich  diesen  Eindruck  habe  und  mir  seine  Ur- 
sache (z.  B.  den  Vogel,  von  dem  der  Ton  ausging,  der  mich  erregte)  näher 
klar  machte,  oder  ob  ich  ihn  einem  andern  übermittle  und  „expliziere", 
das  macht  wiederum  keinen  prinzipiellen  Unterschied. 

Die  Entwicklung  kann  sich  nun  vollziehen  entweder  in  gerader  Linie 
oder  in  Windungen.  Eine  geradlinige  Bewegung  des  Gedankens  gehört 
vorzugsweise  der  Erzählung  und  Darstellung;  sie  entspricht  dem  Typus 
des  Aussagesatzes,  aber  auch  dem  des  Ausrufs.  Eine  gewundene  Bewegung 
des  Gedankens  gehört  vorzugsweise  der  Untersuchung;  sie  entspricht  dem 
Typus  der  Frage  (vgl.  oben  §  94).  Die  Beredsamkeit  pflegt  fast  syste- 
matisch zwischen  beiden  Typen  zu  wechseln,  was  gelegentlich  aber  auch 
die  erzählende  und  wissenschaftliche  Prosa  tun. 

Die  geradlinige  Entwicklung  bedient  sich  der  beiden  Formen  der 
Akkumulation  und  Amplifikation,  die  gewundene  der  Antithese  mit  einigen 
Nebenformen. 

Im  übrigen  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  die  Rede  noch  von  zahl- 
reichen Faktoren  mit  bedingt  wird,  insbesondere  von  dem  Unterredner, 
seinem  Gesichtsausdruck,  seinen  Einwürfen;  sehr  hübsch  hat  dies  Hein- 
rich V.  Kleist  in  dem  charakteristischen  Aufsatz  „Über  die  allmähliche 
Verfertigung  der  Gedanken  beim  Reden"  (Erich  Schmidts  Ausgabe  4,  74) 
illustriert.  Die  Grundform  der  Bewegung  bleibt  jedoch  davon  unberührt:  eine 
„Mitteilung"  oder  sonst  ein  in  sich  abgeschlossenes  Stück  Rede  wird  von 
vornherein  in  gerader  oder  krummer  Linie  konzipiert.  Wie,  hängt  natür- 
lich von  der  Stellung  des  Sprechenden  zum  Gegenstand  ab:  was  für  A 
noch  Gegenstand  der  Untersuchung  ist,  kann  für  B  schon  zur  glatten  Aus- 
sage reif  sein. 


')  Außer  den  mehrfach  genannten  Ame- 
rikanern kann  Vockeradt  (Das  Studium  des 


deutschen  Stils  an  stilistischen  Musterstücken) 
als  Führer  dienen. 


118  Stilistik. 


§  135.  Formen  der  Entwicklung.  In  gerader  Linie  schreitet  der  Ge- 
danke da  fort,  wo  der  Kern  bereits  klar  vor  dem  Auge  steht.  Wer 
ein  Märchen  oder  einen  Roman  erzählen,  die  Geschichte  eines  Reiches 
darstellen  oder  die  Vegetation  einer  Insel  beschreiben  will,  geht  von  einem 
deutlichen  Gesamteindruck  aus  und  entwickelt  diesen  nun,  indem  er  ihn 
in  seine  tatsächlichen  Elemente  zerlegt.  Zu  diesem  Zweck  schafft  er  sich 
eine  begriffliche  Einheit  (oder  übernimmt  eine  vorhandene)  und  ordnet  die 
in  jenem  Gesamteindruck  enthaltenen  Einheiten  in  eine  Linie,  weil  die 
schriftstellerische  Darstellung  ein  Nacheinander  erfordert.  Diese  Linie  kann 
der  Anordnung  in  der  Zeit  entsprechen,  wie  zumeist  bei  historischen  Berichten 
und  erfundenen  Erzählungen;  oder  der  Anordnung  im  Raum,  wie  bei  Be- 
schreibungen aller  Art;  oder  der  Anordnung  in  der  dritten  Dimension  des 
Denkens,  wie  bei  systematischen  Darstellungen  wissenschaftlicher  Disziplinen. 
Hierüber  ist  des  näheren  noch  bei  der  Disposition  is.  u.  §  165  f.i  zu 
sprechen.  Hier  kommt  es  nur  darauf  an,  kurz  zu  zeigen,  wie  aus  dem 
klar  erkannten  Kern,  aus  der  „Zelle"  sich  der  ganze  Organismus  entwickelt. 

Sehr  häufig  aber  ist  der  Kern  noch  nicht  klar,  der  Gesamtein- 
druck noch  undeutlich,  und  er  soll  erst  aufgeklärt,  der  Kern  erst  her- 
ausgeschält werden.  Dann  versuchen  wir,  von  allen  Seiten  her  tastend, 
dem  Kern  näher  zu  kommen,  weichen  zurück,  wenn  die  Angriffsstelle  sich 
nicht  bewährte,  gehen  wieder  vorwärts  und  nähern  uns  so  in  Spiralen  immer 
mehr  der  Seele  des  erschauten  Gegenstandes,  bis  sie  uns  endlich  ihr  Ge- 
heimnis ausspricht.  Auch  hier  macht  es  prinzipiell  keinen  Unterschied,  ob 
das  zu  Erkennende  eine  Stecknadel  in  unserm  Rock  oder  die  Frage  des 
Fortschritts  in  der  Weltgeschichte  ist.  Wir  ordnen  den  problematischen 
Gegenstand  zunächst  in  irgend  eine  Kategorie  ein,  der  er  angehören  muß; 
suchen  innerhalb  derselben  genauer  und  immer  genauer  seinen  Platz  zu 
bestimmen,  haben  ihn  endlich.  In  Rostands  „Cyrano"  nähert  sich  eine 
undeutliche  Gestalt;  der  sie  wahrnimmt,  fragt  und  antwortet: 

Est-ce  un  homme'.'  est-ce  iine  femme?    Non  —  c'est  un  capucin! 

Aber  diese  burleske  Bestimmung  ist  doch  wirklich  das  Ergebnis  der 
annähernden  Beobachtung.  Mann  oder  Frau  kann's  eigentlich  nur  sein  — 
aber  gewissermaßen  ist  es  doch  was  drittes:  ein  Kapuzinermönch! 

Die  geradlinige  Entwicklung  besitzt  also  gleichzeitig  eine  verbrei- 
ternde, die  gewundene  eine  verengende  Tendenz.  Denn  jene  will  den 
deutlich  erfaßten  Gesamteindruck  von  seinem  Kern  aus  aufbauen,  diese 
den  undeutlich  erfaßten  von  seinem  Kern  aus  erfassen. 

Eine  dritte  Methode  ist  kaum  denkbar;  wohl  aber  allerdings  unzählige 
Kombinationsformen. 

§  136.  Geradlinige  Entwicklung.  Schreitet  die  Entwicklung  von  dem  in 
seinem  Kern  deutlich  erfaßten  Gesamteindruck  oder  gar  unmittelbar  von 
diesem  selbst  aus  zu  einem  Aufbau  der  Gesamtvorstellung  vor,  so  gibt  es 
zwei  Formen.  Entweder  nämlich  wird  der  Gesamteindruck  selbst  betont,  oder 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  119 

die  ihn  hervorrufenden  Bestandteile.  Im  ersten  Fall  haben  wir  die  Akku- 
mulation, die  rasche  Anhäufung  der  Faktoren:  sie  dient  lediglich  dem 
Zweck,  durch  deren  Versammlung  ihre  Gesamtwirkung  zu  rekonstruieren, 
etwa  wie  in  der  impressionistischen  Malerei  nebeneinandergesetzte  Farben- 
flecke sich  zu  einem  bestimmten  Bilde  summieren.  Im  zweiten  Fall  haben 
wir  die  Amplifikation,  die  breite  Ausmalung  der  Faktoren:  sie  dient  dem 
Zweck,  durch  jeden  einzelnen  einen  bestimmten  einzelnen  Teil  der  Ge- 
samtwirkung zu  rekonstruieren,  etwa  wie  in  der  älteren  Malerei  der  genau 
ausgemalte  Baum,  die  sorgfältig  gezeichnete  Straße,  die  fein  modellierte 
Staffage  jedes  für  sich  ein  unabhängiges  Stück  des  Gesamteindrucks  liefern 
sollen.  Hier  wird  dieser  Gesamteindruck  aufgeteilt,  dort  sind  seine  Faktoren 
gleichsam  mediatisiert  und  keiner  von  ihnen  kann  für  sich  etwas  bedeuten 
wollen. 

Am  deutlichsten  unterscheiden  sich  beide  Methoden  —  die  sich  natür- 
lich wieder  kreuzen  und  ergänzen  —  bei  der  Beschreibung;  man  hat 
sie  deshalb  auch  oft  lediglich  für  Methoden  der  Beschreibung  angesehen.') 
Sie  sind  aber  Methoden  der  direkten  Entwicklung  überhaupt. 

§  137.  Akkumulation.  Die  Akkumulation  oder  Anhäufung  geht 
also  der  Reihe  nach  von  einem  Glied  zum  andern  fort.  So  also  z.  B. 
in  Zolas  Beschreibung  von  Paris  in  Une  page  d'amour:-)  die  Gas- 
flammen —  im  Hintergrund  die  dunkle  Masse  der  Stadt  —  das  Licht 
einer  sich  heranbewegenden  Wagenlaterne  und  in  ihrem  Schein  Häuser- 
fassaden —  die  Helligkeit  der  stärker  beleuchteten  Verkehrspunkte  u.  s.  w. 
Aber  genau  so  auch  bei  irgendeiner  Erzählung,  z.  B.  der  berühmten 
des  Hauptmanns  in  „Wallensteins  Tod"  (4.  Aufzug  10.  Auftritt.  —  Bei 
Goedeke  12,  352).  Erst  allgemeine  Zeichnung  des  Standes  vor  Beginn. 
Nun  eine  Wolke  Staub  —  der  meldende  Vortrab  —  Aufsitzen  —  An- 
griff —  Kampf  —  Ansturm  und  Sturz  Max  Piccolominis.  Alles  in  einer 
langen  schmalen  Linie,  Glied  auf  Glied  aufgereiht;  und  so  ergibt  sich  der 
Gesamteindruck  der  tragischen  Katastrophe,  von  dem  der  Erzähler  ausgeht, 
wie  bei  Zolas  Beschreibung  der  des  dunkeln  Paris  mit  seinen  Lichteffekten, 
die  an  die  Kraft  des  englischen  Malers  Whistler  erinnern. 

§  138.  Amplifikation.  Die  Amplifikation  definiert  -Blair  (1,  418) 
nach  Quintilian  als  eine  kunstvolle  Herausarbeitung  aller  Umstände  des- 
jenigen Gegenstandes  oder  derjenigen  Handlung,  die  wir  in  helles  Licht  — 
günstiges  oder  ungünstiges  —  zu  setzen  wünschen.  Albalat  (a.  a.  O. 
S.  189)  kontrastiert  sie  scharf  mit  der  Akkumulation:  „diese  besteht  in  der 
Überfülle  der  nebeneinander  gesetzten  Einzelheiten.  Man  sagt  zu  viel 
Dinge.  Die  Amplifikation  dagegen  beutet  die  Rhetorik  aus,  vervielfältigt 
die  Gleichnisse,  verdoppelt  die  Metaphern,  verändert  die  Bilder,  erschöpft 
die  Epitheta."     Oder,  wie  er' zum  Schluß  pointiert  sagt:  „bei  der  Akkumu- 

')    So   Albalat,    Formation    du   style   1  -)  Vgl.  Albalat  a.  a.  O.  S.  183. 

S.  182  f. 


1 20  Stilistik. 


lation  setzt  man  das  Gericht  aus  unendlich  viel  Kleinigkeiten  zusammen; 
bei  der  Amplifikation  gießt  man  eine  breite  Sauce  darüber". 

Indes  könnte  diese  Darstellung  dazu  verleiten,  in  der  Akkumulation 
einfach  die  Methode  der  schlichten,  in  der  Amplifikation  die  der  sogenannten 
„blühenden"  Diktion  zu  sehen.  Das  stimmt  doch  nicht  ganz.  Die  Am- 
plifikation bedient  sich  wohl  gern  aller  rhetorischen  Hilfsmittel,  weil  eben 
alle  aus  einer  affektvollen  Betrachtung  der  Gegenstände  hervorgehn;  aber 
sie  kann  auch  selbst  schlicht  sein.  Man  nehme  eine  meisterhafte  Stelle  aus 
G.  Kellers  „Kleider  machen  Leute"  (Die  Leute  von  Seldwyla  2,  38): 

Wenn  ein  Fürst  Land  und  Leute  nimmt,  wenn  ein  Priester  die  Lehre  seiner  Kirche 
ohne  Überzeugung  verkündet,  aber  die  Fülle  seiner  Pfründe  mit  Würde  verzehrt:  wenn 
ein  dünkelvoller  Lehrer  die  Ehren  und  Vorteile  eines  hohen  Lehramtes  inne  hat  und 
genießt,  ohne  von  der  Höhe  seiner  Wissenschaft  den  mindesten  Begriff  zu  haben  und 
derselben  auch  nur  den  kleinsten  Vorschub  zu  leisten:  wenn  ein  Künstler  ohne  Tugend, 
mit  leichtfertigem  Tun  und  leerer  Gaukelei  sich  in  Mode  bringt  und  Brot  und  Ruhm 
der  wahren  Arbeit  wegstiehlt:  oder  wenn  ein  Schwindler,  der  einen  großen  Kaufmanns- 
namen geerbt  oder  erschlichen  hat,  durch  seine  Torheiten  und  Gewissenlosigkeiten 
Tausende  um  ihre  Ersparnisse  und  Notpfennige  bringt,  so  weinen  alle  diese  nicht  über 
sich,  sondern  erfreuen  sich  ihres  Wohlseins  und  bleiben  nicht  einen  Abend  ohne  auf- 
heiternde Gesellschaft  und  gute  Freunde. 

Alle  diese  parallelen  Sätze  verweilen  auf  einem  Punkt,  malen  ein 
Glied  des  Gedankens  aus:  die  Betrachtung,  wie  wenig  Gewissensbisse  der 
Betrüger  in  der  großen  Welt  zu  empfinden  pflegt.  Das  ist  Amplifikation: 
dies  eine  ausgemalte  Glied  soll  sein  Teil  Stimmung  (moralische  Erregung, 
Anklagestimmung  im  allgemeinen,  die  zur  Freisprechung  im  einzelnen  führt) 
selbständig  erwecken. 

Oder  umgekehrt  eine  sogar  in  parodistischer  Übertreibung  mit  malen- 
dem Detail  überladene  Beschreibung,  wie  im  Anfang  von  Immermanns 
„Münchhausen"  die  des  unaussprechlichen  Indianerstammes.  Die  smaragd- 
grünen Abhänge,  die  pfirsichblütenen  Kühe  und  Stiere,  die  feurigen  Kälber 
—  keins  von  diesen  farbenreichen  Details  will  für  sich  wirken,  sie  sollen  sich 
zu  einem  Gesamteindruck  von  barbarischer  Buntheit  summieren.  Schlicht 
ist  das  sicher  nicht;  aber  es  bleibt  Akkumulation. 

Über  die  Anwendung  beider  Formen  läßt  sich  nur  sagen,  daß  sie 
eben  in  ihrem  Wesen  begründet  sein  soll.  Wo  alles  auf  den  Gesamteindruck 
ankommt,  wie  bei  starken  tragischen  oder  komischen  Effekten,  bei  wirkungs- 
vollen Redeschlüssen,  da  stört  jede  Amplifikation;  wo  ein  behagliches  Ver- 
weilen in  der  Situation  angebracht  ist,  wie  in  ruhiger  Erzählung,  da  wirkt 
sie  so  vortrefflich,  wie  wir  es  etwa  in  Mörikes  Novellen  oder  Rankes 
Geschichtsbüchern  oft  zu  bewundern  haben.  Eine  Abwechslung  aber  wird 
sich  überall  empfehlen,  da  eben  überall  Momente  der  gesammelten  Span- 
nung, die  nach  der  Lösung  im  Effekt  verlangt,  ruhigeren  vorbereitenden 
Vortrag  unterbrechen  oder  abschließen. 

§  139.  Gewundene  Entwicklung.  Die  Entwicklung  in  gewundener 
Bewegung  beruht  in  letzter  Linie  auf  der  Zweiteilung,  wie  die  in  gerader 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  121 

Bewegung  auf  einer  unbegrenzt  fortschreitenden  Aufzählung.  Das  noch 
undeuthch  erschaute  Objekt  wird,  wie  schon  angedeutet,  zunächst  auf  eine 
große  Linie  festgelegt,  innerhalb  deren  es  jedenfalls  seinen  Punkt  haben 
muß.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  richten  die  Achäer  Homers  oder  genau 
ebenso  die  Indianer  orientierende  Fragen  an  einen  fremden  Mann:  „Wer 
bist  du  unter  den  Männern?";  ebenso  die  alten  Germanen:  „wer  ist  das 
unter  den  Männern?".')  Damit  ist  die  Beziehung  des  Fragenden  zu  dem 
Erfragten  in  ihren  Grundlagen  gekennzeichnet:  es  ist  das  Verhältnis  eines 
Mannes  zu  einem  Mann,  nicht  zu  einem  Gott,  nicht  zu  einem  Weib. 

Es  gibt  zahllose  derartige  Orientierungsmittel,  die  den  Ausgangs- 
punkt einer  Gedankenbewegung  bilden  können,  indem  sie  die  Beziehungen 
von  Subjekt  oder  Prädikat  aus  der  leeren  Luft  auf  den  festeren  Boden 
allgemeiner  bekannter  Voraussetzungen  tragen.  Über  sie  wie  über  die  Er- 
scheinung im  ganzen  ist  noch  nirgends  gehandelt  worden.  Aber  nur  von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  wird  eine  der  wichtigsten  und  bekanntesten  Fi- 
guren völlig  verständlich:  die  Antithese. 

§140.  Zweiteilung.  Goethe  beschreibt  Schiller  mit  lebhaftester  An- 
schaulichkeit seine  Konzeption  der  „Urpflanze".  Schiller  hört  aufmerksam 
zu;  dann  aber  antwortet  er:  „Das  ist  keine  Erfahrung,  das  ist  eine 
Idee"  (Goethe  „Erste  Bekanntschaft  mit  Schiller",  Biographische  Einzeln- 
heiten 1794;  Hempels  Ausgabe  27,  1,  311.  Zur  Sache  vgl.  v.  Wasiliewski, 
Goethe  und  die  Deszendenzlehre,  Leipzig  1904).  Was  bedeutet  diese 
Antithese?  Pedantisch  umschrieben,  sagt  sie:  „Was  Sie  mir  da  als  tat- 
sächlich vorhanden  beschreiben,  gehört  auf  der  langen  Linie,  die  von 
sicherer  empirischer  Kenntnis  zu  unsicherer  spekulativer  Vermutung  führt, 
an  das  Ende".  Denn  genau  genommen,  gibt  es  ja  keine  „Gegensätze", 
sondern  nur  Gradunterschiede: 2)  wir  nehmen  auf  der  Linie  einen  festen 
Punkt  an  und  bezeichnen  die  am  weitesten  von  ihm  entfernten  Lagen  alr 
„Gegensätze".  „Gut"  und  „schlecht"  sind  an  sich  so  wenig  „Gegensätze" 
wie  12"  Wärme  und  12»  Kälte;  es  sind  nur  gleiche  Entfernungen  von  einem 
Indifferenzpunkt.  Auf  eine  solche  Linie  also  wird  die  einzelne  Erscheinung 
eingetragen,  indem  die  Antithese  die  beiden  Punkte  liefert,  durch  die  die 
Linie  festgelegt  wird. 

Die  Antithese  ist  also  nicht,  wie  irrig  fast  überall  behauptet  wird,  ein 
Kunstmittel  des  stilistischen  Raffinements.  Als  solches  ist  sie  vorzugsweise 
von  den  Franzosen  benutzt  worden  (die  dazu  schon  der  gleichschenklige 
Bau  ihres  Lieblingsverses,  des  Alexandriners,  reizen  mußte),  oft  aber  auch 
unter  ihrem  Einfluß  z.  B.  von  Schiller.  Aber  von  vornherein  ist  sie  volks- 
tümlich (vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  S.  290,  460  f.).  „Himmel  und 
Erde",  „nah  und  fern'',  „fragen  und  antworten"  sind  uraUe  Formeln.  An 
ihnen  allen  wird  jene  Tendenz  deutlich.     „Davon  wird  nah  und  fern  ge- 

1)   Vgl.   meine   Altgermanische  Poesie  -)   Vgl.   z.  B.   Mauthner,   Beiträge  zu 

S.  383.  I   einer  Kritik  der  Sprache. 


1 22  Stilistik. 


sprachen."  Was  heißt  das?  Einfach:  davon  wird  überall  gesprochen.  Aber 
der  abstrakte  Begriff  „überall"  wird  lebendig  durch  die  hineingeschobene 
Aufteilung.  Von  dem  wunderbaren  Kampf  wird  gesprochen.  Aber  wo? 
Strahlen  gehen  von  dem  Kampfort  aus;  natürlich  spricht  man  unmittelbar 
an  seiner  Stätte  davon,  wo  Zeugen  leben,  aber  auch  weiter  läuft  das  Ge- 
rücht jeden  dieser  Strahlen  entlang  —  und  so  ist  rings  umher  ein  Strahlen- 
kranz: überall  spricht  man  davon,  nah  und  fern.  Ebenso  teilt  etwa  eine 
mittelhochdeutsche  Formel  auf:  „Alte  und  Junge"  oder  „Reiche  und  Arme", 
wo  es  sich  eigentlich  weder  um  Lebensalter  noch  um  Vermögen  handelt; 
also  mit  geringerer  logischer  Schärfe  als  in  dem  Beiepiel  „nah  und  fem". 
Immerhin  aber:  die  Antithese  charakterisiert  sich  auch  hier  als  die  Auf- 
teilung einer  unbestimmten  Größe  unter  einem  bestimmten  Ge- 
sichtspunkte. 

Das  Wesentliche  an  der  Antithese  ist  also,  so  paradox  es  auch  klingt, 
zunächst  nicht  der  Gegensatz,  sondern  die  Übereinstimmung  ihrer  Glieder. 
Der  Ethiker  einer  fernen  Vorzeit,  der  zuerst  „gut"  und  „böse"  in  eine 
antithetische  Formel  preßte,  leistete  nicht  dadurch  etwas  Neues,  daß  er  die 
beiden  Begriffe  unterschied  —  sie  waren  längst  unterschieden;  sondern 
dadurch,  daß  er  die  beiden  unterschiedenen  Begriffe  auf  einer  Linie  als 
Grenzpunkte  anordnete.  Ebenso  geschieht  es  noch  heute  in  wissenschaft- 
licher Forschung.  Wer  über  die  innere  Beziehung  von  Licht  und  Elektri- 
zität endlich  das  eriösende  Wort  aussprechen  wird,  hat  nicht  die  Verschieden- 
heit der  beiden  großen  Kräfte  aufzudecken,  sondern  den  Gesichtspunkt, 
unter  dem  sie  als  zwei  verschiedene  Bewegungsformen  oder  Energieformen 
einer  Art  angesehen  werden  können.  Goethe  tat  Linne  Unrecht,  indem 
er  ihn  lediglich  als  einen  „trennenden"  Geist  betrachtete:  die  Anordnung 
aller  bekannten  Organismen  in  eine  fortlaufende  Reihe  betonte  viel  stärker 
ihre  innere  Gemeinschaft  —  dem  Reich  des  Unorganischen  gegenüber  — 
als  die  Scheidung  in  Pflanzen  und  Tiere  ihre  Zweiteilung. 

§  141.  Antithese.  Aus  unserer  Grundauffassung  der  Antithese  ist  alles 
für  diese  Figur  Wesentliche  herzuleiten. 

Vor  allem  sehen  wir:  das  Wichtigste  bleibt  immer  die  Einheit  der 
Grundlage  für  die  antithetischen  Punkte.  Nord-  und  Südpol  müssen  durch 
die  Erdaxe  verbunden  sein.  Freilich  läßt  sich  durch  zwei  mathematische 
Punkte  immer  eine  Linie  legen  und  nur  eine;  aber  Begriffe  sind  eben  keine 
mathematischen  Punkte.  Entsprechen  sie  sich  nicht  genau,  so  wird  die 
Antithese  schief.  Grillparzer  charakterisiert  Mettemich  klar  und  scharf, 
wenn  er  meint,  er  sei  ein  hervorragender  Diplomat,  aber  kein  bedeutender 
Staatsmann  gewesen:  Diplomat  und  Staatsmann  sind  zwei  weit  ausein- 
andediegende  Punkte  auf  der  Linie,  die  vieleriei  Nuancen  in  der  Vertretung 
des  Staatsinteresses  verbindet.  Sagen  wir:  ein  großer  Diplomat,  aber  kein 
großer  Minister,  so  ist  auch  das  noch  zu  halten,  aber  die  Antithese  beginnt 
sich   zu  verwischen.     Sagen  wir  aber:   ein  großer  Diplomat,  aber  unfähig 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  lnhaltucher  Hinsicht.  123 

im  Verhandeln  mit  fremden  Mächten,  so  ist  sie  völlig  schief  geworden, 
denn  diese  Kunst  bildet  einen  wesentlichen  Teil  der  Diplomatie.  Es  ist, 
als  sagten  wir:  er  hat  große  Körperkräfte,  aber  keine  Muskeln. 

Stärker  als  bei  der  Antithese  kommt  die  Frage  der  Schiefe  bei  ihrer 
Steigerung,  dem  Chiasmus  (s.  u.)  zur  Geltung. 

Die  beiden  Begriffe  müssen  aber  nicht  bloß  eine  gemeinschaftliche 
Grundlage  haben,  sondern  auch  durch  weite  Entfernung  von  einander  deren 
Länge  und  Bedeutung  anschaulich  machen.  Die  Antithese  muß  nicht  nur 
richtig  sein,  sondern  auch  scharf.  Zwar  meint  Jean  Paul  (Vorschule 
der  Ästhetik  §  47),  am  schönsten  sei  die  Antithese  und  steige  am  höchsten, 
wenn  sie  beinahe  unsichtbar  sei.  Aber  der  Gebrauch  aller  in  Antithesen 
geübten  Poesien  und  Dichter  beweist  das  Gegenteil:  je  schärfer,  desto 
wirksamer.  Es  kann  sich  einmal  empfehlen,  die  Antithese  umzubiegen: 
„die  Franzosen  müssen  entweder  Robespierres  Richter  oder  seine  Unter- 
tanen sein".  „Denn  den  Richtern  wird  nur  die  gerichtete  Partei,  den  Unter- 
tanen nur  der  Herrscher  entgegengesetzt;  aber  nicht  der  Richter  den  Unter- 
tanen" (Jean  P.a.ul  a.  a.  O.,  Werke  18,  218)  ^  und  gerade  deshalb  kann 
es  Eindruck  machen,  wenn  statt  des  erwarteten  Wortes  ein  noch  stärkeres 
steht.  Erwartet  wird:  seine  Richter  —  oder  die  Opfer  seiner  richteriichen 
Willkür;  aber  nun  steigert  der  Sprechende  das  noch:  —  oder  die  Opfer 
seiner  Willkür  überhaupt.  Die  Antithese  enthält  also  diesmal  eine  \er- 
kleidete  Klima.x  (s.  u.).  In  der  Regel  wird  doch  eine  scharfe  Gegenüber- 
stellung mehr  fruchten;  bei  der  häufigen  Anwendung  der  Zweiteilung  zu 
nähernder  wissenschaftlicher  Untersuchung  ist  sie  vollends  unentbehrlich. 

Die  Schärfe  wird  verstärkt,  wenn  die  entgegengesetzten  Begriffe  jeder 
ein  verdeutlichendes  Gefolge  haben;  darum  verbindet  sich  die  Antithese 
gern  mit  dem  Parallelismus  (s.  o.  §  127).  Man  darf  aber  nicht  mit 
Gerber  (2,2,  11)  die  Gegenüberstellung  entgegenlaufender  Sätze  für  das 
Ursprüngliche  halten.  Sowenig  die  Metapher  notwendig  ein  verkürztes 
Gleichnis  zu  sein  braucht,  so  wenig  muß  eine  antithetische  Formel  (soge- 
nannte „Zwillingsformeln"  wie  „Himmel  und  Erde",  „alt  und  jung",  vgl. 
meine  Altgermanische  Poesie  S.  240  f.,  461)  aus  einem  antithetischen  Satz- 
verhältnis konzentriert  sein :  die  Gegenbegriffe  können  direkt  aufgefaßt  werden. 
Offenbar  ist  das  der  Fall  in  den  unendlich  häufigen  Beispielen,  wo  die 
Sprache  einen  negativen  Gegenbegriff  allgemein  geprägt  hat:  „schön"  und 
„unschön"  —  neben  „häßlichl";  „Mensch"  und  „Unmensch".  — 

Aus  unserer  Herleitung  geht  aber  auch  weiter  her\'or,  was  bei  der 
üblichen  Auffassung  der  Antithesis  unverständlich  bleibt:  daß  die  Antithese 
auch  mehr  als  zwei  Glieder  umfassen  kann.  Zunächst  kann  auf  der  fest- 
gelegten Linie  zwischen  den  beiden  Grenzpunkten  ein  dritter,  etwa  in  gleicher 
Entfernung  von  beiden  liegen;  oder  man  geht  über  einen  oder  über  beide 
hinaus,  wobei  immer  eine  ungefähr  gleiche  Entfernung  eingehalten  werden 
mag.     So  entsteht  die  Klimax   (s.  u.  §  143).     Wesentlich  bleibt  nur,  daß 


124  Stilistik. 


die  Grundlinie  klar  bleibt.  Ich  erinnere  an  das  bekannte  Scherzwort,  wie 
ein  englischer,  ein  französischer  und  ein  deutscher  Maler  sich  der  Aufgabe 
entledigen  würden,  ein  Kamel  zu  malen :  der  Engländer  würde  sofort  nach 
der  Wüste  abreisen,  um  das  Kamel  in  seiner  Heimat  zu  studieren;  der 
Franzose  würde  in  den  zoologischen  Garten  gehen  und  im  Buffon  lesen; 
der  Deutsche  aber  würde  das  Bild  „aus  der  Tiefe  des  Gemüts"  holen.  .  . 
Diese  dreigliedrige  Antithese  setzt  voraus,  daß  alle  drei  eine  Anschauung 
von  der  Erscheinung  des  „Schiffes  der  Wüste"  noch  nicht  besitzen,  und 
zeichnet  die  verschiedene  Energie,  mit  der  sie  sie  zu  erobern  suchen.  Der 
Vergleich  stammt  ja  aus  jener  Zeit,  in  der  der  träumerische  Hang  der 
Deutschen  über  Spekulation  und  Phantastik  alle  reale  Erfassung  der  Welt 
nur  zu  oft  vergaß.  — 

Die  Anwendung  der  Antithese  ist  damit  gegeben.  Sie  ist  nur  be- 
rechtigt, wo  eine  unbestimmte  Größe  unter  einem  bestimmten  Gesichts- 
punkt aufgeteilt  werden  soll.    Das  ist  besonders  in  zwei  Fällen  deutlich: 

1 .  bei  der  wissenschaftlichen  (oder  ihr  verwandten  i  Untersuchung,  wo 
eine  noch  unfaßbare  Menge  von  Möglichkeiten  auf  die  eine  Wirklichkeit 
gebracht  werden  soll.  Es  ist  wie  beim  gesellschaftlichen  Ratespiel:  Ich  sehe 
was,  was  du  nicht  siehst!  Erster  fragt:  Tierreich  oder  Pflanzenreich?  Tier- 
reich. Zweiter  fragt:  Groß  oder  klein?  Klein.  Dritter  fragt:  Fliegt  es  oder 
kriecht  es?  Es  fliegt!  u.  s.  w.,  bis  der  Speriing  geraten  ist.  Die  Klammer 
der  Antithesen  wird  immer  enger  zusammengeschoben,  bis  wir  das  Objekt 
haben.  Hier  handelt  es  sich  also  um  ein  schrittweises  Abschieben  der 
nicht  in  Betracht  kommenden  Fälle  und  der  Erfolg  hängt  vor  allem  von 
der  Schärfe  der  Grundlinie  ab;  sonst  geht  eben  alles  vorbei. 

2.  bei  der  rhetorischen  Darstellung,  wo  zwei  verschiedene  Möglich- 
keiten auf  einen  scharfen  Gegensatz  gebracht  werden  sollen.  Gambetta 
rief  den  französischen  Machthabern,  als  Mac  Mahon  sich  dem  Pariament 
nicht  unterwerfen  wollte,  zu:  „il  faudra  se  soumettre  ou  se  demettre': 
nur  eins  bleibt  euch  übrig:  unterwerft  euch  oder  dankt  ab.  (Die  Anti- 
these ist,  wie  häufig,  durch  ein  W^ortspiel  verstärkt,  s.  u.)  Hier  sind  alle 
andern  Möglichkeiten  auf  einmal  weggeschleudert.  Der  Erfolg  hängt  von 
der  Schärfe  der  Gegenbegriffe  ab;  sonst  fällt  eben  alles  zu  Boden.  — 

Die  Antithese  ist  in  sehr  verschiedenen  Literaturen  und  Epochen  mit 
Eifer  gepflegt  worden:  in  der  hebräischen  und  der  altgermanischen,  der 
spätlateinischen  und  der  französischen  Poesie;  individualisierende  Unter- 
suchungen fehlen  noch  gänzlich.  Bei  uns  ist  Schiller  der  große  Meister 
sowohl  der  wissenschaftlichen  als  auch  besonders  der  rhetorischen  Antithese. 
Der  größte  Virtuos  der  Antithese  überhaupt  aber  ist  Victor  Hugo,  dessen 
unermüdliche  Abnutzung  dieser  Figur  freilich  auch  die  Gefahren  ihrer  Über- 
treibung an  den  Tag  bringt.  Er  hat  sie  aber  auch  großartig  zu  ver^^•enden 
gewußt,  vor  allem  in  symbolischem  Gebrauch.  Das  berühmte  ^ceci  tuera 
celä"  in  „Nötre  Dame  de  Paris",   das  der  Grübler  ausspricht,   indem    er 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  125 

erst  auf  das  Buch,  das  Erzeugnis  und  Zeugnis  der  neuerfundenen  Buch- 
drucl<erkunst,  deutet  und  dann  auf  die  Kathedrale,  faßt  in  einem  knappen 
und  schlichten  Wortpaar  zwei  Weltanschauungen  zusammen:  die  religiöse 
und  die  rationalistische  —  zwei  durch  Welten  selbst  getrennte  Formen  der 
menschlichen  Erbauung,  der  Erhebung  zum  Großen  und  Allgemeinen  und 
faßt  sie  gleichsam  mit  mächtiger  Hand,  um  jedes  auf  eine  Wagschale  zu 
legen.') 

Als  Hilfen  der  Antithese  treffen  wir  also  1.  das  Wortspiel,  das  die 
verglichenen  Begriffe  auch  lautlich  auf  eine  Linie  bringt;  2.  das  Symbol, 
das  in  jedem  von  ihnen  den  ganzen  von  ihm  beherrschten  Abschnitt  der 
Linie  zusammenballt;  3.  den  Parallelismus,  der  umgekehrt  die  Breite  dieser 
Abschnitte  anschaulich  macht.  Die  vollkommenste  Steigerung  der  Antithese 
ist  aber  der  Chiasmus. 

§  142.  Chiasmus.  Der  Chiasmus  (Gerber  1,  590;  von  Wackernagel 
ebenso  wie  die  Antithese  übergangen)  ist  eine  in  Bewegung  gesetzte  Anti- 
these. Äußerlich  kennzeichnet  ihn  die  Kreuzstellung  seiner  Glieder  —  davon 
hat  er  auch  nach  dem  wie  ein  Andreaskreuz  gestalteten  griechischen  Buch- 
staben Chi  seinen  Namen  — ;  innerlich  ist  er  als  die  Verbindung  zweier 
sich  ergänzender  Antithesen  zu  bezeichnen. 

Wir  wollen  auf  jene  Charakteristik  Metternichs  durch  Grillparzer  zu- 
rückgreifen: „Das  Urteil  über  Fürst  Metternich  dürfte  bald  fertig  sein: 
ein  ausgezeichneter  Diplomat  und  ein  schlechter  Politiker''  (Werke,  heraus- 
gegeben von  A.  Sauer  14,  149)  —  Worte,  die  wir  oben  in  die  moderne 
Ausdrucksweise  übersetzt  haben.  Eine  solche  Aussage  läßt  gewissermaßen 
an  zwei  Stellen  Lücken  zurück:  der  Diplomat  ist  nicht  ganz  ein  Staatsmann, 
der  schlechte  Politiker  weniger  als  ein  ganzer.  Unwillkürlich  möchte  man 
die  Lücken  ausfüllen  und  sucht  nach  Ergänzung.  Man  könnte  nun  mit 
gutem  Recht  fortfahren:  „Gerade  im  Gegensatz  dazu  war  der  Minister 
Stein  ein  ausgezeichneter  Politiker  und  ein  schlechter  Diplomat".  Die  beiden 
Figuren  vervollständigen  sich  zu  „zwei  Ganzen",  wie  Tasso  und  Antonio 
nach  des  Dichters  Wort  („Tasso"  III,  2,  Vers  170  f.). 

Oder  nehmen  wir  ein  Beispiel  mit  festbleibendem  Subjekt.  Wenn 
der  heilige  Remigius  bei  der  Taufe  zu  König  Chlodwig  spracTi :  „verbrenne, 
was  du  angebetet  hast",  so  fühlen  wir  eine  Leere:  was  dem  Mann  heilig 
war,  ist  nicht  mehr  da.  Es  beruhigt  uns,  wenn  der  Bischof  die  Antithese 
zu  einem  der  berühmtesten  Beispiele  des  Chiasmus  ausbaut:  „bete  an,  was 
du  verbrannt  hast".     Nun  hält  sich  alles  im  schönsten  Gleichgewicht. 

Der  Chiasmus  ist  also  da  am  glücklichsten,  wo  er  aus  einer  (selbst 
schon  berechtigten)  Antithese  herauswächst.  Wir  sahen  schon  (s.  o.  S.  112), 
daß  jede  Metapher  ein  symmetrisches  Gegenbild  hat;  stellen  wir  dies  ins 
Licht,  so  haben  wir  vollgültigen  Chiasmus:  „Rubens,  der  König  der  Maler 

')  Vortreffliche  Beobachtungen  über  den      Formation  du  style  S.  191  f. 
.Mechanismus"  der  Antithese  bei  Albalat, 


126  Stilistik. 


—  und  der  Maler  der  Könige'';  und  so  bei  jeder  „kenning",  jeder  aus 
Appellativen  gebildeten  Umschreibung,  z.  B.  bei  Bodenstedt: 

Der  Augenblick  der  Seligkeit, 

Die  Seligkeit  des  Augenblicks! 
Wie  geschaffen  ist  daher  der  Chiasmus,  um  jene  zwiespältigen  Naturen 
zu  charakterisieren,  die  zwischen  zwei  großen  Klassen  stehen,  wie  die  Fleder- 
maus der  Fabel,  die  unter  den  Vögeln  die  Maus  und  unter  den  Mäusen 
der  Vogel  scheint;  jene  amphibischen  Talente,  wie  etwa  der  General  v.  Ra- 
dowitz,  über  den  M.  Hartmanns  „Reimchronik"  berichtete: 

Von  ihm  versichern  die  Soldaten: 

Er  sei  ein  trefflicher  Diplomat; 

Und  von  ihm  versichern  die  Diplomaten: 

Er  sei  ein  trefflicher  Soldat: 

also,  chiastisch  konzentriert:  „für  einen  Soldaten  —  ein  guter  Diplomat; 
für  einen  Diplomaten  —  ein  guter  Soldat".  Mit  vielem  Witz  hat  Heine 
zahlreiche  Genossen  seiner  zwiespältigen  Zeit  so  auf  der  Folterbank  des 
Chiasmus  gevierteilt. 

Für  den  Chiasmus,  als  einen  gesteigerten  Grad  der  Antithese,  gelten 
nun  aber  auch  doppelt  streng  deren  Bedingungen. 

Vor  allem   also   müssen   auch   hier,    und    hier  erst  recht  die  Glieder- 
paare  jedesmal   scharf   und   deutlich   auf  einer  begrifflichen  Linie  stehen. 
Es  entsteht  sonst  eine  peinliche  Verschiebung  der  Dinge  vor  unserm  anders 
eingestellten  Auge.    So  in  der  „Jungfrau  von  Orleans"  (IV,  12,  Vers  4075  f.): 
Burgund:  Entsetzlich!  —  Doch  dem  Vater  muß  man  glauben. 

Der  wider  seine  eigne  Tochter  zeugt! 
Dunois:     Nein,  nicht  zu  glauben  ist  dem  Rasenden. 

Der  in  dem  eignen  Kind  sich  selber  schändet! 

Chiastisch:  Er  ist  der  Vater  —  darum  muß  er  Glauben  finden;  er  darf 
keinen  Glauben  finden  —  weil  er  der  Vater  ist.  Aber  nun  wird  aus  dem 
„Vater"  der  „Rasende",  aus  dem  „Zeugnis  ablegen"  ein  „schänden",  und 
die  Fortentwicklung  des  Gedankens  zerstört  die  Selbstentwicklung  der  Anti- 
these. Sonst  ist  gerade  Schiller  oft  ein  Meister  des  Chiasmus,  wie  im 
„Demetrius"  (I,  1,  Vers  25  f.): 

Sapieha:         /hn  hören,  heißt  ihn  anerkennen. 

Odowalsky:  Ihn 

Nicht  hören,  heißt  ihn  angehört  vem<erfen. 

Wir  bemerken  bei  dieser  Gelegenheit,  daß  die  Umordnung  der  chiastischen 

Glieder  in  zwei  Parallelen a-b-a-b  statt  a-b-b-a-  —  nichts  im  Wesen  der 

Figur  ändert,  allerdings  aber  ihre  Wirkung  leicht  schwächen  kann. 

Zweitens  ist  hier  noch  mehr  als  bei  der  einfachen  Antithese  auf  Schärfe 
der  Gegensätze  zu  achten.  Ein  Zeugma  wie  in  Strachwitz'  schönster  Ballade 

Kurz  ist  die  schotfische  Geduld 
Und  lang  ein  schottisches  Schwert 

überhört  man  über  dem  Säbelgerassel  des  Kampfes;  aber  die  Schlußworte 
der   „Braut  von  Messina"  mit   ihrem    Begriffspaar   Lehen  —  Schuld  mag 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  127 

schon  eher  verletzen.  —  Unwichtig  dagegen  scheinen  uns  die  auf  die 
äußere  Anordnung  gehenden  antiken  Unterscheidungen  von  Antimetabole 
(mit  einem  bleibenden  Glied)  und  Antimetathesis  (mit  tauschenden  Glie- 
dern), für  die,  wie  für  die  Figur  überhaupt,  Gerber  (2,  1,  221  f.)  reichliche 
Belege  gibt. 

Antithesis  und  Chiasmus  werden  wegen  ihrer  starken  und  ordnenden 
Kraft  weit  über  den  Satz  hinaus  verwandt.  Ganze  Erzählungen,  zumal 
lehrhafter  Art,  bauen  sich  auf  fortgesetzter  Antithese  auf;  so  die  Parabel 
von  den  klugen  und  törichten  Jungfrauen  und  mancher  didaktische  Roman. 
Den  Chiasmus  hat  besonders  W.  H.  Riehl  gern  zum  Hausplan  seiner  No- 
vellen gemacht.  So  spielt  die  vortreffliche  Geschichte  „Vergelts  Gott!''  ganz 
auf  dem  Schema,  daß  Hans  ein  natürlicher  und  Veit  ein  künstlicher  Krüppel, 
Veit  dagegen  ein  natürlicher  und  Hans  ein  künstlicher  Augsburger  war.i) 

§  143.  Klimax.  Wo  zwei  Antithesen  kombiniert  werden  (mit  einem 
gleichen  und  drei  ungleichen  oder  mit  vier  ungleichen  Gliedern),  entsteht 
Chiasmus;  wo  mehrere  so  geordnet  werden,  daß  die  sich  entsprechenden 
Glieder  eine  fortlaufende  Reihe  bilden,  entsteht  die  Klimax  {„Leiter'')  oder 
Gradation.2) 

Kehren  wir  nochmals  zu  jener  Charakteristik  Metternichs  zurück. 
Dieser  ist  ein  guter  Diplomat,  ein  schlechter  Staatsmann.  Zwei  Glieder 
sind  hier  entgegengesetzt,  zwischen  denen  oder  über  die  heraus  leicht  ein 
drittes  Platz  findet.  Wir  müßten  aber  dann  die  jetzt  auf  die  Zweizahl  ge- 
stellte Adjektivgruppe  ändern.  Etwa  mit  Benutzung  der  adjektivischen 
Komparation:  „nicht  gut  als  Politiker,  besser  als  Diplomat,  am  besten  als 
Hofmann".  Aber  viel  wirksamer  natürlich  mit  lauter  positiven  Gliedern: 
„Goethe,  groß  als  Forscher,  größer  als  Dichter,  am  größten  als  Mensch". 
Wobei  natürlich  das  Mittelstück  so  geordnet  werden  kann,  daß  es  zu  den 
beiden  andern  in  Kreuzform  steht. 

Die  Klimax  hebt  die  gemeinschaftliche  Grundlinie,  die  Skala,  noch 
prägnanter  hervor  als  Antithese  und  Chiasmus,  schwächt  dafür  aber  die 
„Gegensätze"  in  bloße  Entfernungszeichen,  Merksteine  auf  dieser  Linie  ab. 
Sie  ist  selten  mehr  als  ein  rhetorisches  Prunkstück.  Natürlich  kann  sie 
über  die  Zahl  der  grammatischen  Steigerungsgrade  herausgehen,  doch  hört 
die  Überschaulichkeit  bei  vier  Stufen  der  Leiter  auf. 

Erhöht  wird  die  Wirkung  der  Klimax,  wenn  sie  durch  eine  Anti- 
klimax,  eine  Gradation  in  absteigender  Linie,  ergänzt  wird.  An  sich  ist 
zwischen  Klimax  und  Antiklimax  kein  prinzipieller  Unterschied,  da  es  ja 
nur  darauf  ankommt,  daß  ein  bestimmtes  Merkmal  in  mehreren  Stufen 
durchgeführt  wird;    „wenig,  weniger,   am  wenigsten"    ist   eben   auch   eine 

')   Geschichten    aus   aUer  Zeit'  2,  183;  \          ^)  Wackernagel  S.  410,  Bain  1,  225; 

vgl.  ferner  z.  B.   ebendaselbst  1,  1  f.  „Der  psychologische  Erklärung  bei  Herbert  Spen- 

stumine  Ratsherr"    und   besonders  1,  123  f.  cer,  Philosophy  of  style  S.  42. 
.Jörg  Muckenhuber". 


128  Stilistik. 


„Steigerung".  Der  Ausdruck  „Antiklimax"  ist  also  nicht,  wie  gewöhnlich 
geschieht,  absolut,  sondern  lediglich  relativ  zu  fassen. 

Antikhmax  ist  also  diejenige  Klimax,  die  einer  andern  entgegenläuft. 
So  soll  Karl  Friedrich  von  Baden,  als  man  ihm  die  Königskrone  anbot, 
gesagt  haben:  „Ich  war  ein  reicher  Markgraf,  ich  bin  ein  armer  Groß- 
herzog, was  sollte  ich  wohl  für  ein  König  sein?"  Die  Steigerung  der 
Titel  wird  durch  die  Abnahme  der  Mittel  parallesiert. 

Vor  allem  setzt  die  Antiklimax  gern  einer  Steigerung  in  der  Qualität 
eine  Abnahme  in  der  Quantität  entgegen  (oder  umgekehrt):  „Viele  Thyrsus- 
schwinger,  aber  wenige  Bakchen" ;  „Viele  sind  berufen,  aber  wenige  sind 
auserwählt" . 

Die  Klimax  wird  gern  als  Grundschema  von  Erzählungen  gewählt, 
besonders  in  der  einfach  übersichtlichen  Anlage  von  Volksmärchen,  wie  dem 
vom  Fischer  und  seiner  Frau  (Brüder  Grimm,  Haus-  und  Kindermärchen,  Nr.  19). 

§  144.  Kette.  Bleibt  die  Fixierung  von  Punkten  auf  der  Linie  bestehen, 
wird  aber  die  „Gegensätzlichkeit"  derselben  noch  weiter  abgeschwächt,  so 
entsteht  die  Kette.    Bain  (1,231)  rechnet  z.  B.  folgende  Verse  Tennysons 

noch  zur  Klimax: 

Die  Tage  werden  Wochen,  die  zu  Monden, 
Die  Monde  mehren  sich  und  bilden  Jahre, 
Die  Jahre  runden  sich  zu  Jahrhunderten, 
Und  immer  bleibt  mein  Name  in  Verachtung. 

Die  endlose  Linie  der  Zeit  mit  ihren  kleinen,  größeren,  großen  Ab- 
schnitten tritt  in  unsern  Sinn;  auf  die  endlose  Linie  allein  kommt  es  an. 
Das  ist  keine  Klimax  mehr,  denn  in  dieser  ungeheuren  Gleichmäßigkeit 
wird  ja  eben  der  Unterschied  verwischt:  die  Tage  werden  Wochen,  Monate, 
Jahre. 

Eine  solche  Kette,   in   der  die  ersten  Glieder  wie  im  Chiasmus  ver- 
bunden sind,   die  folgenden  aber  diese  Wirkung  aufheben,   bilden  die  er- 
greifenden Worte  der  Prinzessin  im  „Tasso"  (3,  2,  Vers  1912): 
Es  gibt  ein  Glück,  allein  wir  kennen' s  nicht: 
Wir  kennen' s  wohl,  und  Wissens  nicht  zu  schätzen. 

Man  erwartet:  „Wir  kennen's  wohl,  und  dann  ist's  uns  kein  Glück", 
im  Sinne  jenes  berühmten  wirklichen  Goethischen  Chiasmus: 
So  taumf  ich  von  Begierde  zum  Genuß. 
Und  im  Genuß  verschmacht  ich  vor  Begierde. 

Statt  dessen  aber  folgt  ein  viertes  Glied,  das  lediglich  auf  den  Stand 
des  ersten  Verses  zurückführt:  mit  oder  ohne  Glück  —  wir  sind  immer 
unglücklich,  grob  ausgedrückt,  aus  dem  Stil  des  „Tasso"  gleich  in  den  der 
„Zahmen  Xenien"  herunter  übersetzt:  „und  regnet's  Brei  —  uns  fehlt's 
am  Löffel''.  So  zieht  sich  die  Kette  ein  Stück  vor  unsern  Augen  hin,  und 
verschwindet  dann,  und  läßt  uns  die  Ahnung  einer  unendlichen  Fortsetzung. 
Dies  ist  unmittelbar  betont  in  den  berühmten  Schlußworten  von  Lenaus 
„Albigensern": 


Zehntes  Kapitel.   Die  Satzverbindung  in  inhaltucher  Hinsicht.  129 

Den  Albigensern  folgten  die  Hussiten 
Und  zahlten  bliitig  heim,  was  diese  litten  — 
Auf  Huß  und  Ziska  folgten  Luther,  Hütten, 
Die  dreißig  Jahre,  die  Cevennenstreiter, 
Die  Stürmer  der  Bastille  —  und  so  weiter.' 

Freilich  ist  hier  äußerlich  die  Form  der  Kette  ganz  in  die  der  Häu- 
fung aufgegangen;  aber  die  eigentliche  Form  bleibt  doch  kenntlich:  „Auf 
Huß  und  Ziska  folgen  Luther  und  Hütten,  auf  Luther  und  Hütten  — " 
(Über  die  kettenartige  Fortführung  von  Gedichten  und  ihren  Reiz  vgl. 
Groos,  Spiele  der  Menschen,  S.  44.) 

§  145.  Wortspiel.  Wie  oft  das  Wortspiel  (W.\ckernagel  S.  391)  die 
Antithese  begleitet  und  verstärkt,  wurde  schon  (siehe  oben  §  141  S.  124,2) 
angemerkt.  Wiederholt  fanden  wir  das  Wortspiel  schon  auf  unserm  Wege: 
alle  Arten  der  Annominatio  und  besonders  die  figura  etymologica  (siehe 
oben  §53)  gehören  eigentlich  schon  zu  den  „Laut- und  Wortspielen";  das 
Epitheton  in  seiner  Beziehung  zum  Wortsinn  des  Appellativums  (siehe  oben 
§  52  Anfang)  nicht  minder.  Dennoch  ist  hier  der  eigentliche  Platz,  um 
das  Wortspiel  zu  besprechen.  Den  Gegensatz  dadurch  zu  verstärken,  daß 
die  kontrastierenden  Worte  sich  lautlich  angenähert  werden  und  so  ihre 
Beziehung  noch  augenfälliger  hervortritt,  das  ist  die  eigentliche  Haupt- 
aufgabe des  Wortspiels.  Hierin  wandelt  es  wieder  auf  den  allgemeinen 
Wegen  der  Sprache:  sie  liebt  es  auch,  Gegenbegriffe  formell  aneinander 
zu  nähern  und  etwa  zu  dem  flexivisch  berechtigten  Genetiv  ^des  Tags" 
einen  lediglich  analogischen  „des  Nachts"  (statt  „der  Ahickt")  zu  bilden. 
Wie  der  Reim,  mit  dem  es  manche  Beziehungen  aufweist  (auch  besonders 
in  seinem  oft  irrationalen  Charakter;  vgl.  meinen  Aufsatz  Über  den  Wort- 
witz, Neue  Jahrbücher  für  Philologie,  1903  S.  122  f.),  hat  auch  das  Wort- 
spiel „das  Dauernde  im  Wechsel"  die  Übereinstimmung  im  Gegensatz  zu 
symbolisieren. 

Natürlich  ist  es  nicht  aus  dieser  Absicht  entstanden.  Seinem  Ursprung 
nach  ist  es  ein  Lernspiel:  der  Freude  der  Kinder  am  Bewältigen  des 
Sprachstoffs  (vgl.  Groos  a.  a.  O.  S.  41  f.)  verdankt  es  seine  Verbreitung 
schon  in  der  Kinderstube.  Vor  allem  gehört  dahin  auch  die  am  meisten 
angefochtene  Form  des  Wortspiels:  der  Namenwitz  (vgl.  meine  „Apologie 
des  Namenwitzes",  Nation  33,  510  f.);  jedes  geweckte  Kind  wird,  wenn  es 
etwa  den  Namen  „Lachmann"  hört,  fragen,  ob  der  auch  immer  lacht. 
Gerade  der  Namenwitz  ist  deshalb  auch  uralt  volkstümlich, ')  und  die  „Volks- 
etymologie", die  etwa  den  Ortsnamen  Fridislar,  das  heutige  Fritzlar,  in 
pacis  habitaculum,  Friedenshaus  (mit  lär  Haus)  oder  gar  in  pacis  doctrina, 
Friedenslehre,  umdeutet  (J.  Grlmm,  Kleine  Schriften  1,  305)  vollführt  einen 
unwillkürlichen  Namenwitz.  -)  ■ 


')   Vgl.   meine  Altgermanische  Poesie 
S.  301. 

Handbucb  des  deutschen  Untemdits.   Bd.  m,  Teil  1. 


-)   Zahlreiche  Beispiele  bei  Andresen, 
Deutsche  Volksetymologie. 


130  Stilistik. 


Die  breite  Grundlage  des  Wortspiels  im  Wesen  der  Sprache  hebt  denn 
auch  Gerber  (2,  1,  111  f.)  —  in  solchen  Fragen  fast  immer  der  einzige 
Bahnbrecher  moderner  Anschauungen  —  mit  einer  Menge  von  Belegen  her- 
vor. Und  seine  Verwandtschaft  mit  der  Metapher  beleuchten  Bernhardis 
Worte  (Sprachlehre  2,396):  „Die  Verknüpfung  zweier  Sprachsphären,  welche 
gleichtönen,  wobei  aber  eine  bestimmte  Betrachtung  der  Bedeutung  beider 
vorkommt,  heißt  Wortspiel,  und  dieses  ist  die  Fundamentalfigur  aller 
übrigen  musikalisch-poetischen  Sprachfiguren.  Das  Wortspiel  ist  der  Witz 
der  Sprache."  Unter  diesem  Gesichtspunkt  haben  ja  auch  die  romantischen 
Dichter,  vor  allem  Brentano,  das  Wortspiel  geradezu  als  eine  Wünschel- 
rute zum  Auffinden  verborgener  Wahrheiten  benutzt  —  gerade  wie  die 
Metapher  auch.  Das  Wortspiel  bedeutet  eben  für  die  sprachliche  Form 
ganz  dasselbe  wie  die  Metapher  für  den  sprachlichen  Inhalt. 

Indem  also  das  Wortspiel  zwei  Bedeutungssphären  (wie  wir  Bernhardis 
„Sprachsphären"  modernisieren  müssen)  in  Berührung  bringt,  erweitert  es, 
wie  die  Metapher,  die  Anschauung.     Goethes  Verse 

Man  spricht,  wie  man  mir  Nachricht  gab, 
Von  keinem  Graben,  doch  vom  Grab 

(Faust  II,  Vers  11557) 
oder  Schillers 

Nicht  eine  Schlacht  —  ein  Schlachten  war's  zu  nennen 
stellen  neben  das  bereits  gegebene  Bild  wirkungsvoll  ein  zweites.  Un- 
richtig ist  es  also,  das  Wortspiel  nur  der  Reflexion  zuzuweisen;  aber 
allerdings  entstammt  es  nicht,  wie  die  Metapher,  unmittelbar  der  Anschau- 
ung, sondern  mittelbar:  aus  der  sprachlichen  Anschauung  geht  es  her\'or, 
zieht  die  Dinge  durch  das  Medium  der  bereits  geprägten  sprachlichen  Form. 
Das  Wortspiel  eignet  sich  also  nach  seiner  Natur  besonders  dazu, 
kontrastierende  Begriffe  in  engere  Beziehungen  zu  bringen.  So  z.  B.  in 
einem  Epigramm  des  Engländers  Owen: 

Prebyteri  labiis  orant,  laicique  laborant, 
Plebs,  dum  pro  populo  presbyter  orat,  arat. 

Aber  schon  dies  Beispiel  zeigt,  daß  dem  Wortspiel  die  Gefahr  ge- 
künstelter Technik  nahe  liegt.  Sie  feiert  dann  wahre  Triumphe,  wenn  sie 
ganz  disparate  Dinge  zusammenlötet,  wie  etwa  so  viele  Witzeleien  Saphirs, 
oder  wie  selbst  Schleiermachers  bekannte  Definition:  „Eifersucht  ist 
eine  Leidenschaft,  die  mit  Eifer  sucht,  was  Leiden  schafft."^) 

§  146.  Verweisung.  Neben  diesen  mehr  innerlichen  Formen  der  in- 
haltlichen Satzverbindung  finden  wir  wiederum  äußere.  Der  Zählung  (siehe 
oben  §  130)  läßt  sich  die  Verweisung  vergleichen,  das  direkte  Vor- 
und  Rückgreifen  aus  einem  Satz  in  den  andern.  Es  geschieht  meist  in 
Form  der  Parenthese:    „wie  schon  bemerkt",    „wie  wir  gleich  näher  aus- 

')  Allgemeines  zum  Wortspiel  bei  Kuno  |  Material  bei  K.  J.  Weber,  Demokrit  7,  XXI\' 
Fischer,   Über  rten  Witz  S.  79  f.,    reiches      und  ll.W'lIi. 


Zehntes  Kapitel.    Die  Satzverbindung  in  inhaltlicher  Hinsicht.  131 

führen  werden''.  Es  ist  ein  nicht  sehr  kunstvolles,  aber  bequemes  Mittel, 
verschiedene  Sätze  und  Satzgruppen  zu  „verzahnen",  wie  Goethe  es  nennt. 
Brentano  macht  sich  über  die  eigentlich  i<unstIose  Form  lustig,  wenn  er 
seinen  Helden  sagen  läßt:  „Dies  ist  der  Teich,  in  den  ich  S.  266  im 
1.  Bande  falle"  (Kerr,  Godwi  S.  78). 

§  147.  Hysterologie.  Besonders  eng  wird  diese  Verschiebung  der  Sätze, 
wenn  sie  zu  einer  sogenannten  Hysterologie  (Wackernaqel  S.  417)  führt, 
d.  h.  zu  einem  chronologischen  Chiasmus,  wobei  das  Spätere  zum  Früheren 
gemacht  wird.  Das  Hysteron  proteron  (Späteres  zuvörderst)  ist  zwar  zu- 
meist rhetorische  Kunstform,  so  bei  Vergil,  der  das  Schiff  (Georg.  1, 456) 
erst  auf  die  See  fahren  und  dann  von  dem  Strick,  der  es  am  Ufer  festhält, 
lösen  läßt.  Doch  ist  der  Ursprung  der  Figur  ein  ganz  einfacher:  der 
Dichter  sieht  die  ganze  Handlung  auf  einmal  und  erzählt  das  Wesentliche; 
nachträglich  scheint  ihm  doch  auch  noch  eine  vorbereitende  Handlung 
oder  der  Anfang  der  eigentlichen  Handlung  der  Rede  wert.  Doch  begegnet 
unserer  logischen  Schulung  diese  Freiheit  nicht  leicht  mehr  (Gerber  1,594). 
Eine  Ausdehnung  der  Figur,  die  ihren  psychologischen  Ursprung  deutlich 
macht,  ist  die  Anordnung  vieler  Novellen  z.  B.  Th.  Storms:  die  „Erinnerungs- 
technik" läßt  die  der  Gegenwart  am  nächsten  stehenden  Ereignisse  zuerst 
auftauchen  und  schreitet  von  da  zu  den  früheren  zurück.  (Parodistisches 
Zurückschrauben  in  Chamissos  Gedicht  „Das  Dampfroß",  Ausgabe  von 
Walzel  S.  74.) 

§  148.  Periodenbau.  Diese  zahlreichen  Mittel,  selbst  recht  umfängliche 
Satzgebilde  und  Systeme  zusammenzuklammern,  bleiben  doch  eben  bloße 
Hilfe;  die  Hauptsache  ist  immer,  daß  die  innere  Gliederung  und  Anordnung 
der  Sätze  und  Sätzchen  selbst  die  begrifflichen  Beziehungen  zur  Anschauung 
bringt.  Nur  dann  haben  wir  das  Recht,  eine  größere  Satzverbindung  als 
Periode  zu  bezeichnen,  wenn  sie  die  Bedingungen  erfüllt,  die  für  den 
einfachen  Satz  gelten  (vgl.  oben  §  78):  Einheit  und  Vollständigkeit. 
Denn  „Periodos"  bedeutet  „einen  Kreislauf,  eine  Linie,  bei  deren  Zurück- 
legung man  zuletzt  wieder  bei  demselben  Punkte  anlangt,  wovon  man  früher 
ausgegangen  ist"  (Wackernaqel  S.  345)  —  womit  eben  die  geschlossene 
Einheit  eines  abgerundeten  sprachlichen  Kunstwerks  trefflich  ausgedrückt 
wird.  Dieser  Aufgabe  dient  die  Hervorhebung  der  wichtigeren  Glieder  der 
Periode  durch  die  Stellung  (ebenda  S.  340)  und  durch  „Unterstreichen", 
d.  h.  durch  Anwendung  von  Mitteln,  die  zur  Emphase  zwingen:  starke 
Adjektiva  oder  Adverbia,  Pausen  mit  Akzentzuwachs  (vgl.  oben  §  68), 
Wortwiederholung  u.  s.  w.  Diese  Hervorhebung  der  wichtigeren  Glieder 
schließt  die  Unterordnung  der  geringeren  (Bain  1,  121  f.)  in  sich.  Auch 
die  Ausdehnung  dient  diesern  Bestreben:  Nebensächliches  darf  nicht  zu 
breit  vorgetragen  werden;  andererseits  ist  aber  auch  zu  bedenken,  daß  der 
auf  Gipfelpunkten  verweilende  Akzent  die  Hauptglieder  an  sich  dehnt.')    Ein 

')  Vgl.  auch  über  den  Umfang  der  verbundenen  Sätze  Becker,  Stil  S.  399. 

9* 


132  Stilistik. 


ungefähres  Gleichmaß  der  Glieder  (Wackernagel  S.  350)  ist  architektonisch 
wohlgefällig;  doch  darf  ihm  die  Deutlichkeit  niemals  geopfert  werden.  Auch 
wirkt  eine  zu  genaue  Ausmessung  selbst  auch  nur  der  Nebensätze  leicht  zu 
unmittelbar  rhythmisch  und  bringt  ein  störendes  Skandieren  in  den  Vortrag. ') 

Was  für  die  Periode  gilt,  d.  h.  den  kunstvoll  komponierten  Satz,  gilt 
abermals  für  das  System,  d.  h.  eine  kunstvoll  komponierte  Satzgruppe,  und 
gilt  schließlich  ebenso  für  den  ganzen  Abschnitt,  „Rede",  Kapitel,  Buch  und 
was  eben  sonst  einen  einheitlichen  und  abgerundeten  Vortrag  darstellen  soll. 2) 

§  149.  Satzschluß.  Wie  wir  nun  für  den  Numerus  des  Satzes  die 
Klausel  besonders  wichtig  fanden,  so  spielt  für  die  Periode  der  Satzschluß 
eine  ausgezeichnete  Rolle.  Ein  „stumpfer  Schluß"  kann  die  ganze  Wirkung 
verderben,  ein  geschickter  „Abgang"  läßt  viele  Fehler  übersehen.  Damit 
ist  nicht  gesagt,  daß  gerade  das  letzte  Wort  den  Hochton  haben  müsse; 
im  Gegenteil  tut  zumal  der  Redner  gut  daran,  mit  unserer  Neigung,  die 
letzten  zwei  bis  drei  Silben  fallen  zu  lassen  oder  wohl  gar  zu  verschlucken, 
ein  wenig  zu  rechnen.  Aber  Klarheit  ist  nirgends  so  unentbehrlich  als  am 
Satzschluß:  bezeichnende  Worte,  deutliche  Wendungen,  unzweideutige  An- 
ordnung. Ich  gebe  ein  einziges  Beispiel,  da  jeder  hervorragende  Prosaist 
beliebig  viele  liefert: 

Wohl  wußte  der  König,  daß  sowohl  Theologie  als  Rechtswissenschaft  jede  eine 
hohe,  unermeßlich  wichtige  Aufgabe  zu  vollbringen  hätten,  die  Jurisprudenz  nämlich 
die  Herstellung  neuer,  gleichförmiger  Gesetzbücher,  die  Theologie  die  Lösung  des  kon- 
fessionellen Zwiespalts,    (v.  Döllinger,  König  Max  von  Bayern.)^) 

Die  Periode  ist  wie  eine  Strophe  gebaut:  auf  einen  größeren  Satz 
{„Aufgesang'"  in  der  Metrik)  folgen  zwei  kleinere,  etwa  gleich  gebaute 
(„Stollen")  als  Ausklang  („Abgesang").  Der  Aufgesang  bringt  das  wichtige 
Wort  „vollbringen"  seinem  Schluß  nahe,  läßt  aber  noch  zwei  tonlose  Silben 
folgen.  Der  Abgesang  schließt  nicht,  wie  der  Aufgesang,  verbal,  sondern 
mit  schweren  Substantiven,  die  noch  durch  schwere  Adjektiva  belastet 
sind;  daher  ist  er  an  sich  schwerer,  tönender  als  der  Aufgesang  beendet. 
Wiederum  aber  von  den  beiden  Stollen  hat  der  zweite  das  größere  Gewicht 
und  mündet  in  ein  Wort  aus,  das  formell  durch  seine  vollen  Vokale,  in- 
haltlich durch  die  weite  Perspektive,  die  es  eröffnet,  eine  besonders  volle 
Resonanz  hat.  Darauf  kommt  es  an:  der  Schluß  muß  nachklingen,  muß 
innerhalb  des  Systems  die  kleine,  nach  ihm  die  große  Pause  mit  seinem 
Nachhall  füllen.  Dann  wird  er  zum  Siegel,  das  den  ganzen  von  ihm  ab- 
geschlossenen Abschnitt  unlöslich  zusammenhäU. 

Nur  darf  natüriich  auch  diese  Technik  nicht  zu  der  Kulissenreißerei 
beifallhaschender  „Abgänge"  übertrieben  werden. 

•)  Vortreffliche  Beobachtungen  über  die  S.  392  f. 
„Harmonie    der   Sätze"    bei   Albalat,   Art  ')  v.  Döllinger,  Akademische  Vorträge, 

d'^crire  S.  139  f.  Band  II,  München,  C.  H.  Beck,  1888;  abge- 

')  Ausführlicher  über  den  Rhythmus  der  druckt  bei  Flathe,  Deutsche  Reden  1,  583. 
kopulativ  verbundenen  Sätze  Becker,  Stil 


Elftes  Kapitel,   äussere  Hilfen.  133 

Elftes  Kapitel. 
Äußere   Hilfen. 

§  150.  Äußere  Beziehungen.  Unsere  letzten  Betrachtungen  ließen  uns 
schon  auf  die  Hörer  Rücksicht  nehmen.  Überhaupt  aber  ist  nochmals 
daran  zu  erinnern,  daß  ja  nur  in  den  seltensten  Fällen  die  Rede  rein 
monologischer  Natur  ist:  zumeist  wendet  sie  sich  an  bestimmte  Persönlich- 
keiten und  ist  auf  diese  berechnet,  hat  deren  Kenntnisse,  Anschauungen, 
Voraussetzungen  in  Erwägung  zu  ziehen.    (Vgl.  Raleiqh,  On  Style,  S.  65f.) 

Dies  gilt  für  die  verschiedenen  Gattungen  in  verschiedenem  Grade,  am 
stärksten  für  die  Beredsamkeit  (vgl.  oben  §  3),  am  wenigsten  für  die  ein- 
fache Erzählung.  Zur  Erscheinung  kommt  aber  diese  Rücksicht  überall:  im 
Ton,  im  Stil,  im  Tempo  des  Vortrags  u.  s.  w.  Sie  färbt  die  ganze  Rede  und  ist 
deshalb  näher  zu  betrachten,  wenn  wir  vom  Stil  sprechen.  Einige  besondere 
Formen  aber  machen  sich  vereinzelt  geltend  und  sind  deshalb  schon  bei 
den  Elementen  der  Rede  zu  erörtern.  Es  sind  Hilfen,  die  zwischen  dem 
Sprechenden  und  den  Hörern  eine  engere  Beziehung  herstellen  sollen, 
Mittel  also,  die  Rede  mit  der  Aufnahmewilligkeit  und  Stimmung  des  An- 
geredeten in  nähere  Verbindung  zu  bringen. 

Auch  hier  sind  formelle  und  inhaltliche  Mittel  zu  scheiden. 

§  151.  Apostrophe.  Ein  formelles  Zeugnis  der  Beziehungen  zwischen 
Redner  und  Zuhörer  ist  die  Anrede  oder  Apostrophe  (Becker  S.  134, 
Wackernagel  S.  399):  „Apostrophe",  Abwendung,  ursprünglich  wohl  nicht 
genannt  (wie  man  es  zu  erklären  pflegt),  weil  sich  der  Redner  „von  der 
Sache  weg  zur  Person  hin"  wendet,  sondern  weil  er  sich  von  den  an- 
wesenden zu  abwesenden  Personen  wendet.  Die  gewöhnliche  Ansprache 
an  die  Gegenwärtigen  —  die  in  der  wirklichen  Rede  ja  fortwährend  ge- 
braucht wird  —  hat  ihre  Wirkung  nicht  getan;  da  wendet  sich  der  Redner 
zu  solchen,  die  abseits  stehen:  sie  sollen  ihm  helfen,  mit  ihm  auf  die  An- 
wesenden einwirken.  Oder  solche  werden  zu  gleichem  Zweck  angerufen, 
die  nur  im  geistigen  Sinn  zugegen  sind:  die  Götter,  die  toten  Vorfahren, 
Vorbilder  und  Helden;  schließlich  auch  unbeseelte  Dinge:  Fahne,  Waffen, 
das  Haus  der  Ahnen,  das  Schlachtfeld,  das  Vaterland  selbst.- 

Das  sind  die  klassischen  Formen  dieser  schönen  und  wirksamen  Form, 
die  aber  wieder  lebhafte  Erregung  voraussetzt,  damit  die  Fernen  und  Ab- 
wesenden, Leblosen  als  der  wirklichen  Zurede  fähig  erscheinen  (Bain  1,  222). 
So  kann  denn  freilich  auch  Rede  oder  Gedicht  gleich  mit  der  Apostrophe 
beginnen,  wie  Schillers  „Lied  an  die  Freude".  Häufiger  ist  doch,  daß 
ein  merkbarer  Wechsel  stattfindet:  der  Redner  läßt  fühlen,  er  bedürfe  jetzt 
anderer  Zuhörer  als  bisher.  In  der  gerichtlichen  Rede  ist  der  typische  Fall 
die  Wendung  von  den  (normaliter  angeredeten)  Richtern  zum  Angeklagten 
(Gerber  2,  2,  61);  in  Dichtung  und  Erzählung  wird  der  Gegenstand  oder 
Träger  der  Handlung  selbst  apostrophiert  (ebenda  1,  548): 

Drauf  antwortetest  du,  ehrwürdiger  Pfarrer  von  Grünau. 


134  Stilistik. 


Die  Lebhaftigkeit,  auf  der  die  Apostrophe  ruht  und  die  durch  sie  ge- 
steigert wird,  kann  noch  weiter  gehen  bis  zur  Vision  (Bain  a.a.O.  S. 223): 
der  Sprechende  glaubt  den  Angerufenen  vor  sich  zu  sehen.')  Dann  erhebt 
er  sich  zu  anschaulicher  Schilderung  der  unsichtbar  anwesenden  Personen 
oder  Handlungen:  was  die  Alten  als  pliantasia,  visio,  demonstratio 
(Gerber  2,  2,  66)  bezeichnen.  Doch  sehen  wir  hierin  lediglich  eine  Ver- 
stärkung der  Apostrophe:  was  der  Sprechende  mit  dem  geistigen  Auge  er- 
sieht, soll  auch  sein  Publikum  sehen;  die  Apostrophierten  sollen  auch  für 
die  Zuhörer  gleichsam  leibhaftig  gegenwärtig  werden. 

Ist  also  die  Apostrophe  ihrem  Wesen  nach  nur  Anrede  an  nicht  wirk- 
lich Anwesende,  so  hat  man  sich  doch  gewöhnt,  auch  eine  Anrufung  der 
wirklichen  Zuhörer  so  zu  nennen,  falls  sie  uns  durch  besondere  Lebhaftig- 
keit oder  Feierlichkeit  aus  dem  Ton  der  gewöhnlichen  Anrede  herausfällt; 
wie  des  Marc  Anton 

Mitbürger,  Freunde,  Römer,  hört  mich  an! 

in  Shakespeares  „Julius  Caesar". 

Die  Apostrophe  verliert  ihre  Wirkung,  sobald  sie  stereotyp  wird,  wie 
(nach  J.  GRLMAis  Urteil;  vgl.  Gerber  1,  548)  Lucans  beständig  wieder- 
kehrende Anrufung  der  Stadt  Rom.  Und  wo  keine  wahre  Erregung  hinter 
ihr  steht,  klingt  sie  (wie  etwa  die  Anrufung  der  Muse  bei  vielen  Kunst- 
dichtern des  18.  Jahrhunderts)  frostig  und  affektiert.  Veraltet  ist  auch  die 
aus  dem  wirklich  persönlichen  Vortrag  stammende  Anrede  an  den  verehrten 
Leser  und  die  schöne  Leserin.  -) 

§  152.  Inhaltliche  Hilfen  von  außen  her.  Neben  dieser  formellen  Art, 
ein  neues,  ganz  uns  gehöriges  Publikum  als  Unterstützungsmannschaft 
herbeizuschaffen,  gibt  es  eine  ganze  Reihe  mehr  inhaltlicher  Hilfen,  durch 
die  der  Redner  sich  Hilfe  und  Beistand  sichert.  Aber  hier  stehen  die  Un- 
sichtbaren neben  ihm  auf  der  Tribüne,  wie  in  englischen  Versammlungen 
dort  an  einem  langen  Tisch  die  führenden  Gesinnungsgenossen  des  Sprechers 
sitzen;  sie  bilden  den  Chorus,  die  Vertretung  des  Publikums  auf  der  Bühne, 
die  Vermittlung  zwischen  den  Personen  des  Dramas  (dem  Protagonisten 
vor  allem)  und  den  Zuhörern. 

Es  sind  wichtige  Figuren,  die  hierher  gehören,  über  alle  Zeiten  und 
Völker  verbreitet,  einfachsten  Ursprungs  und  deshalb  volkstümlich,  kunst- 
vollster Verwendung  fähig  und  deshalb  von  den  größten  Meistern  gern 
gepflegt.  Gemein  ist  ihnen  allen,  daß  der  Redner  für  einen  Augenblick 
aus  seinem  eigenen  Gedankenkreis  und  Gedankengang  heraustritt,  um  sich 
bei  Autoritäten,  die  seine  Versammlung  anerkennt,  —  oder  bei  ihr  selbst 
Rats  zu  erholen. 

§  153.  Sprichwort.  Das  Sprichwort  wurde  schon  von  alten  Rhetoren 
(Gerber  2,  2,  181)  zu   den  Redefiguren  gezählt  —  eine  gute  Erkenntnis, 

')    Vgl.    allgemein    K.  BORINSKI,   Über  =)  Z.  B.  noch  häufig  bei  Hol tei:  P.  La.\- 

poetische  Vision  und  Imagination,  Halle  1897.   !  DAU,  Holteis  Romane  S.  51. 


Elftes  Kapitel,    äussere  Hilfen.  135 

die  wieder  verloren  ging.  Es  gehört  mit  dem  Gleichnis  und  der  Apostrophe 
nicht  etwa  bloß  deshalb  zusammen,  weil  es  ebenfalls  zu  kunstmäßiger  Aus- 
schmückung verwandt  werden  kann;  in  diesem  Sinn  steht  es  hinter  der 
Sentenz  (siehe  unten)  weit  zurück.  Aber  es  ist  wie  Metapher  und  Gleich- 
nis ein  Abschweifen  auf  ein  anderes  Gebiet,  wie  Apostrophe  und  Allusion 
ein  Anrufen  ferner  Helfer. 

Das  Sprichwort  faßt  die  Erfahrung  vieler  in  einer  gemeingültigen  Form 
zusammen :  ob  es  ein  einzelner  prägte  oder  erst  die  Arbeit  vieler,  ist  gleich- 
gültig (vgl.  allgemein  Gerber  a.a.O.  S.  166 f.).  In  der  anerkannten  Gemein- 
gültigkeit lieg-t  sein  Wert;  deshalb  wurden  solche  Sprüche  als  ein  Kode.x 
der  Lebensweisheit  früh  gesammelt  und  in  volkstümlicher  Dichtung,  wie  in 
volkstümlicher  Rede,  gern  benutzt  (meine  Altgermanische  Poesie  S. 452). 
Der  Sprechende  ruft  die  Autorität  der  ganzen  Volkserfahrung  an,  indem  er 
bemerkt:  „Seinem  Schicksal  kann  niemand  entgehen'',  die  Autorität  der 
ganzen  Volksethik,  indem  er  erklärt:  „lF/>  du  mir,  so  ich  dir''.  Damit 
verleiht  er  seinen  Worten  eine  Sanktion,  die  unwillkürlich  auch  über  weitere 
Strecken  seiner  Rede  herüberglänzt.  Er  befreit  sich  von  der  Isolierung  des 
Sprechenden,  indem  er  spricht  wie  alle  (redet  doch  Sancho  Pansa,  der 
typische  „Mann  aus  dem  Volke",  nur  in  Sprichwörtern);  er  zwingt  die  Hörer, 
wenigstens  einen  Teil  seiner  Rede  unbedingt  anzuerkennen,  und  damit  ist 
schon  etwas  gewonnen. 

Die  Anwendung  des  Sprichworts  ist  mit  diesem  selbst  gegeben:  es 
ist  die  Verdichtung  einer  Erfahrung,  die  der  Spätere  nicht  erst  mehr  selbst 
zu  machen  braucht.  Wie  nach  dem  Wiener  Philosophen  Mach  aller  Fort- 
schritt der  Wissenschaft  auf  „Denkökonomie"  beruht,  auf  der  Ansammlung 
früherer  Beobachtung  in  Form  von  Naturgesetzen,  Zahlenreihen,  Kunst- 
ausdrücken, Methoden,  so  ist  das  Sprichwort  primitive  Ökonomie  der  Lebens- 
erfahrung. Zitiert  wird  es  also  ursprünglich  nicht  als  Schmuck  der  Rede, 
sondern  zur  Ersparnis  eigner  Untersuchung;  wie  ein  Anwalt  einen  Gesetz- 
paragraph nicht  als  Dekoration,  sondern  zur  Ersparnis  weitläufiger  Aus- 
einandersetzungen anführt.  Daraus  erwächst  in  beiden  Fällen  die  zweite 
und  gewöhnliche  Anwendung:  eben  die  Anrufung  der  Volksweisheit  als 
unverbrüchlicher  Autorität. 

Sprichwörter  werden  deshalb  zwar  gelegentlich  überall  passen,  in 
stärkerer  Häufung  aber  nur  in  zwei  Fällen:  wenn  entweder  wirklich  zu 
dem  Volke  gesprochen  wird,  oder  von  einem  Mann  aus  dem  Volke.  Sonst 
trivialisieren  sie  leicht  die  Rede. 

§  154.  Zitat.  Was  das  Sprichwort  für  den  „einfachen  Mann",  ist  für 
den  Gebildeten  das  Zitat:  die  Berufung  auf  eine  anerkannte  Autorität,  die 
einen  Satz  schon  besser  ausgedrückt  habe,  als  wir  es  können.  Die  älteste 
Form  des  Zitats  ist  wohl  die  Wiederholung  eines  prägnanten  Ausspruches, 
den  ein  Vorredner  tat:  sei  es  nun,  daß  er  bekämpft,  sei  es,  daß  er  zur 
Unterstützung  benutzt  werden  soll.     Solche  Zitate  begegnen  schon  in  der 


136  Stilistik. 


Edda  (meine  Altgermanische  Poesie  S.  458)  oder  der  mittelhochdeutschen 
Spruchdichtung  (Spervogel,  Minnesangs  Frühhng  20,  17).  Doch  setzt  die 
kunstmäßige  Ausbildung  des  Zitats  (vgl.  Gerber  2,2, 172)  schon  den  Bestand 
einer  einigermaßen  kanonischen  Literatur  voraus,  d.  h.  einer  Auswahl  von 
Werken,  die  unbestrittenes  Ansehen  genießen.  Es  ist  daher  sehr  bezeichnend, 
welche  Werke  vorzugsweise  zitiert  werden,  und  jede  neue  .'Ausgabe  von  BCch- 
MANNS  Geflügelten  Worten  hat  kulturhistorische  Bedeutung.  Daß  selbst  in  dem 
klassischen  Lande  des  klassischen  Zitats,  in  England,  Cicero  nicht  mehr  ange- 
rufen wird,')  ist  für  unsere  Zeit  so  bezeichnend  wie  für  die  der  französischen 
Revolution  der  starke  Verbrauch  von  Stellen  aus  Livius,  Cicero  -)  und  Tacitus.*) 
—  Aber  auch  die  nationale  Gewohnheit  ist  verschieden:  die  englischen  Parla- 
mentsredner der  großen  Zeit  zitieren  mit  einer  Lust,  die  bei  uns  für  Pedanterie 
erklärt  worden  wäre;  verdenkt  man  doch  dem  jetzigen  Reichskanzler  seine 
Zitatenfreude.  Freilich,  wie  der  Marschall  Lefebvre  meinte,  es  gälte  mehr, 
ein  Ahne  zu  sein,  als  Ahnen  zu  haben,  so  wird  es  auch  mehr  gelten,  mit 
Bismarck  geflügelte  Worte  zu  prägen,  als  mit  Bülow  sie  zu  benutzen. 
Aber  die  geistreiche  Anwendung  einer  allbekannten  Stelle  wird  doch  ihre 
Wirkung  nie  verfehlen.  Nichts  hat  Lord  Palmerston  in  seiner  Heimat 
so  zum  gefeierten  und  volkstümlichen  Mann  gemacht,  wie  das  „civis  Ro- 
manus sunt",  das  er  in  einer  berühmten  Rede  auf  den  englischen  Bürger 
anwandte;  und  noch  heut  glaubt  man  den  Beifallssturm  zu  hören,  der  die 
Preußische  Kammer  durchbrauste,  alsVincke*)  das  „Dank  vom  Haus  Öster- 
reich."' zitierte.  Hat  ja  auch  Bismarck  selbst  gern  und  glücklich  zitiert, 
zumal  aus  populärer  Dichtung,  Bürgers  Wildgrafen  („Laß  nicht  vom  Linken 
dich  umgarnen.'")  oder  den  „Freischütz"  {„Glaubst  du,  dieser  Adler  sei 
dir  geschenkt?"). 

Seinen  Hauptpiatz  hat  das  Zitat  in  mündlicher  oder  pseudomündlicher 
Rede:  zum  Überreden  vorzugsweise  ist  die  Anrufung  von  Autoritäten  ge- 
eignet. Doch  ist  es  natürlich,  daß  auch  in  darstellender  Rede  gern  ein 
schöner  Ausdruck,  eine  glückliche  Stelle  von  Vorgängern  herübergenommen 
wird.  Dabei  ist  ein  zu  großer  Abstand  des  Tons  zu  vermeiden:  ein  allzu 
glückliches  Zitat  kann  deine  eigne  Rede  tot  machen.  Auch  eine  zu  lange 
Ausdehnung  wirkt  ungünstig:  sie  erweckt  Ungeduld,  da  wir  doch  jetzt  eben 
dich  hören  wollten  und  nicht  einen  mittelalterlichen  Autor;  auch  ist  es  er- 
müdend, längere  Zeit  Stücke  mit  verändertem  Sprachklang  vorzutragen.  (Ein 
Beispiel  beider  Fehler  das  lange  Zitat  aus  Augustinus  in  —  M.  Lieber- 
manns Büchlein  über  den  französischen  Maler  Degas.)  Auch  zu  starke 
Häufung  von  Zitaten  stört;  sie  wirkt  als  gesuchter  Prunk  und  macht  die 
Selbständigkeit  des  Sprechenden  verdächtig.*) 

')  Herbert  Paul,  The  decay  of  Classical  hunderte  S.  98  f. 
Quotation,  in  seinen  ,Men  and  Letters",  Lon-  '\  F.  Boissier,  Tacite  S.  ISS  f. 

den  1901,  S.  48  f.  ■•)  Flathe.  Deutsche  Reden  1,  397. 

2)  ZiELiNSKi,  Cicero  im  Wandel  der  Jahr-  ^)  Vgl.  z.  B.  Belger,  M.  Haupt  als  akade- 


Elftes  Kapitel   äussere  Hilfen.  137 

§  155.  Parodie.  Am  häufigsten  werden  natürlich  die  berühmtesten 
Autoren  und  die  wichtigsten  Werke  zitiert:  überall  die  Bibel,  bei  uns  vor 
allem  Schiller,  Goethes  „Faust",  Lessings  „Nathan",  neuerdings  auch 
Bismarcks  Reden  und  Briefe.  Die  besondere  Familiarität,  in  die  man  so 
gerade  zu  diesen  Zitaten  gerät,  entwürdigt  sie  leicht  und  gibt  durch  das 
Mißverhältnis  der  ursprünglich  feierlichen  Rede  zu  der  gemeinplätzlich  ge- 
wordenen Anwendung  den  schönen  Tagen  von  Aranjuez,  den  Spiegelbergen 
und  Pappenheimern  eine  leicht  ironische  Färbung.  Überhaupt  aber  reizen 
dieselben  Stellen,  die  zum  Zitieren  auffordern,  auch  zum  Verändern  und 
Umformen;  auch  das  haben  sie  mit  den  Gesetzen  gemein.  So  entsteht 
früh  die  Parodie,  die  sich  an  eine  bekannte  Stelle  anlehnt,  um  sie  inner- 
lich auf  den  Kopf  zu  stellen  (zu  verkeren,  wie  der  mittelhochdeutsche  Aus- 
druck lautet)  —  wie  die  .■\ntithese  um  so  wirksamer,  je  genauer  der  Wort- 
klang zwischen  den  beiden  Sätzen,  dem  eigentlichen  und  dem  durch  Parodie 
entstandenen,  übereinstimmt.  Die  Parodie  ist  also  eine  Verbindung  der 
Wortaufnahme  (siehe  oben  §  Uli  mit  dem  Zitat  und  besonders  für  die 
Polemik  geeignet.  Sie  kann  freilich  auch  unabsichtlich  durch  Mißverständnis 
entstehen,  und  die  Nachahmung  solcher  parodierender  Mißverständnisse  ist 
eine  unerschöpfliche  Vorratskammer  der  Komödie.  Veraltet  ist  dagegen 
die  ernste  Parodie,  die  „durch  Verwendung  derselben  Wortklänge  einen  ganz 
fremden  Inhalt  darzustellen  sucht"  (Gerber  2,  2,  141),  wie  bei  der  mittel- 
alterlichen Übung  des  Cento,  der  etwa  die  Passion  Christi  in  lauter  antiken 
Versen  erzählt. 

Ob  wirklich  eine  Parodie  vorliegt  oder  nicht,  eine  Anlehnung  oder 
gar  nur  ein  zufälliger  Anklang,  ist  nicht  immer  leicht  zu  entscheiden;  i)  in 
der  Regel  wird  jedoch  die  Art  der  Anwendung  darüber  keinen  Zweifel 
lassen.  Je  feierlicher  das  Original,  desto  eher  wirkt  der  Gebrauch  in  all- 
täglichen Dingen  parodistisch  (gute  Beispiele  bei  Gerber  2,  1,  233).  Be- 
sonders häufig  ist  daher  das  Spiel  mit  frommen  Worten  (reiche  Belege  bei 
K.  J.  Weber,  Demokrit  11,  XI),  keineswegs  immer  in  böser  Absicht,  sondern 
oft  lediglich  im  Geist  jener  gemütlichen  Vertraulichkeit,  aus  der  auch  die 
mittelalterlichen  Scherzlegenden  erwachsen  sind.-) 

§  156.  Anspielung.  Eine  nicht  ganz  durchsichtige  Art,  sich  auf  fremde 
Worte  zu  beziehen,  ist  die  alliisio  oder  Anspielung,  die  keineswegs  (mit 
Wackernagel  S.  389)  nur  verkürzte  Vergleichungen  (oder  Metonymien) 
bringt  und  noch  weniger  immer  auf  historische  Personen  oder  Begebenheiten 
zu  weisen  braucht  (psychologisch  tiefere  Erklärung  bei  Becker  S.  126).  Wenn 

mischerLehrerS.62Anm.2  UberK.Fr.Herr-  by  L.Gates,  Boston  1894,  S.  47,  Raleigh, 
mann.  —  M.  Bernays,  .Zur  Lehre  von  den  On  stjle  S.  116.     Oberflächlich   Leo  Berg, 
Zitaten  und  Noten',  Schriften  4, 255  f.,  handelt  Aus  der  Zeit,  Berlin  1905,  S.  250  f. 
eigentlich  nur  von  der  Kunstformung  der  An-  '■)  Vgl.  Zeitschrift  für  deutsches  Alter- 
merkung,  s.   o.   §  89.     Gute   Bemerkungen  tum  41, 373. 

über  die  Gefahren  des  Zitierens  bei  Jeffrey,  ■')  Allgemein  vgl.  Weber  a.  a.  O.  11,  IX. 
Selections  from  the  Essays  of  Fr.  Jeffrey  ed. 


138  Stilistik. 


der  Minister  v.  Radowitz  Friedrich  Wilhelm  IV.  beschwor,  den  Rubicon 
zu  überschreiten,  so  war  das  freilich  eine  verkürzte  Vergleichung,  ein  zur 
Metapher  gewordenes  Zitat;  aber  wenn  ich  in  verständlicher  Weise  auf 
irgend  ein  Wort  oder  eine  Geste  meines  keineswegs  schon  historischen 
Vorredners  hindeute,  ist  auch  das  eine  Anspielung.  Der  Reiz  liegt  hier 
gerade  in  der  halben  Verhüllung:  der  Redner  wendet  sich  an  die  Ein- 
geweihten, die  das  halbe  Wort  verstehen;  und  dazu  möchten  gern  recht 
viele  gehören.  Doch  kann  die  Anspielung  auch  einfach  eine  leichtere 
Form  des  (nur  andeutenden)  Zitats  werden:  wenn  König  Philipp  sagt: 
„Dies  ist  die  Stelle,  wo  ich  sterblich  bin",  spielt  er  natürlich  gleichnisweise 
auf  die  Legende  von  der  Achilles-Ferse  an. 

Natüriich  wechselt  der  Kreis  bekannter  Beziehungen,  die  Anspielungen 
zulassen,  unaufhörlich.  Schon  deshalb  ist  Vorsicht  nötig.  Die  Überladung 
mit  Anspielungen  hat  den  Stil  Hamanns  unverständUch  gemacht  und  die 
Satiren  der  Romantiker  und  Immermanns  früh  veralten  lassen.') 

Geschickt  angewendet,  kann  die  Anspielung  aber  eine  Kemtruppe 
aus  dem  Publikum  für  den  Redner  gewinnen;  ursprünglich  ist  sie  für  eine 
solche,  die  ihm  schon  nahe  steht,  allein  berechnet. 

§  157.  Reminiszenz.  Das  Gegenteil  der  Anspielung  ist  die  Remi- 
niszenz: eine  ungewollte  Erinnerung,  ein  unabsichtlicher  Anklang  an  irgend 
eine  bekannte  oder  berühmte  Stelle.  Gehäufte  Reminiszenzen  verraten  Un- 
selbständigkeit; man  tut  gut,  sie  beim  Feilen  zu  entfernen.  Es  wirkt  natürlich 
nicht  gut,  wenn  etwa  der  Romantiker  Graf  Loeben  die  Verse  drucken  läßt: 

Nur  wer  die  Qual  der  Liebe  kennt. 
Der  weiß  es,  was  ich  leide 

(R.  Pissin,  O.  H.  Graf  v.  Loeben  S.218) 

und  sich  damit  zu  Boden  drücken  läßt  von  Goethes 

Nur  wer  die  Sehnsucht  kennt. 
Weiß,  was  ich  leide! 

§  158.  Sentenz.  Das  Gegenstück  des  Zitats  ist  die  Sentenz 
(Becker  S.  305):  ein  zitierbarer  Satz  von  persönlicher  Ausprägung.  Die 
Gewalt  der  Sentenz  liegt  in  ihrer  einleuchtenden  Anwendbarkeit:  sie 
„imponiert  durch  ihre  Entfernung  von  den  zufälligen  Einzelheiten,  fordert 
für  sich  Beachtung  und  erscheint  bedeutend,  weil  sie  weiteres  umfaßt,  als 
gerade  voriiegt"  (Gerber  2,  2,  33).  Sie  hebt  also  für  einen  Augenblick  den 
individuellen  Fall  in  die  Höhe  typischer  Bedeutung  und  erfreut,  wie  eine 
leicht  sich  einprägende  Melodie,  durch  die  Möglichkeit  rascher  Aneignung. 
Wer  sie  besonders  liebt,  heißt  „sentenziös" ;  so  Tacitus,  Schiller,  Fon- 
tane, denen  (in  freilich  sehr  verschiedenem  Ton)  jeder  Einzelfall  Gelegen- 
heit gibt,  allgemeine  Beobachtungen  zu  formulieren.-)     Die  Hilfe,  die  der 


')   Geistreich   über   das  .Bedürfnis  des      style  S.  110. 
gelehrten  Witzes"  Jean  Paul,  V'orschule  der  -t   Vgl.  für  Fontane  meine  Deutsche 

Ästhetik  §  55,  doch  vgl.  auch  Raleigh,  On       Literatur  im  19.  Jahrhundert  S.  564. 


Elftes  Kapitel,   äussere  Hilfen.  139 


Sprechende  sich  sichert,  erwächst  ihm  hier,  wie  beim  Sprichwort,  aus  der 
Zustimmung  aller,  die  seine  Erfahrung  durch  eigene  Erfahrungen  bewährt 
finden;  dazu  kommt  aber  noch  der  Dank  für  das  Geschenk  des  neuen 
Rezepts. 

Die  Sentenz  muß  kurz  und  gedrungen  sein.  Zur  Meisterschaft  haben 
die  Römer  und  dann  wieder  die  Wahlspruchdichter  seit  der  Renaissance 
diese  Form  ausgeprägt.  Schillers  Sentenzen,  an  sich  glänzend,  passen 
nicht  immer  an  die  Stelle,  an  der  sie  stehen  (wie  namentlich  O.  Ludwig 
tadelnd  hervorhob): 

sterben  ist  nichts,  doch  leben  und  nicht  sehn  — 
Das  ist  ein  Unglück! 

Der  Wahlspruch  ist  eine  Sentenz  von  ermahnendem  oder  versprechen- 
dem Inhalt,  ursprünglich  an  ein  Wappenbild  oder  Emblem  angeschlossen  (vgl. 
J.  V.  Radowitz,  Die  Devisen  und  Mottos  des  späteren  Mittelalters,  wieder  ab- 
gedruckt in  seinen  Schriften  1,  283;  hübsche  Auswahl  von  L.  Forck:  Wahl- 
und  Wappensprüche,  Berlin  1880).  Diese  Wahlsprüche  sind  freilich  von  weiterer 
Rede  abgelöst  —  wobei  es  keinen  Unterschied  macht,  ob  sie  der  zusammen- 
hängenden Rede  entstammen,  oder  unmittelbar  als  Devisen  erfunden  sind  — 
und  sie  bleiben  das  auch  in  ihrer  häufigen  Verwendung  als  Motto  von  Büchern 
oder  Kapiteln,  als  Aufschriften  an  Häusern  und  beweglichen  Gegenständen. 
(„Deutsche  Inschriften  an  Haus  und  Gerät",  Berlin  1882;  mehrere  Samm- 
lungen der  oft  unfreiwillig  parodistisch  wirkenden  Tiroler  „Marterln",  der 
Inschriften  auf  Erinnerungstafeln  für  Verunglückte).  Aber  Sentenz,  Wahl- 
spruch, Motto,  Devise  kehren  doch  gern  auch  als  Zitat  in  der  Rede  wieder; 
und  all  diese  Formen  vereinigen  sich,  wenn  ein  Redner  eine  wirksame, 
neu  gefundene  Formel  zum  Grundtext  seines  Vortrags  macht,  immer  zu 
ihr  zurückkehrt,  mit  ihr  schließt,  wie  Cato  mit  seinem  Ceterum  censeo  oder 
Herwegh  mit  seinem  Refrain  „Reißt  die  Kreuze  aus  der  Erden!'' 

§  159.  Gleichnis.  Nichts  weiter  als  eine  solche  Verstärkung  der  Be- 
ziehungen zwischen  Redner  und  Publikum  ist  endlich  auch  die  wichtigste 
der  hierher  gehörigen  Formen:  das  Gleichnis.') 

Wenn  Becker  (S.  126)  von  der  Anspielung  fein  bemerkt,  sie 
bringe  einen  Begriff  durch  die  nur  angedeutete  Zusammenstellung  mit 
einem  bekannten  Dinge  oder  einer  bekannten  Begebenheit  zu  einer 
lebendigen  Anschauung,  so  ist  in  diesem  Sinn  jede  Metapher  eine 
Anspielung,  jedes  Gleichnis  aber  davon  nur  durch  Breite  und  Deut- 
lichkeit verschieden.  Und  es  wird  auch  wirklich  daran  nicht  zu  zweifeln 
sein,  daß  ursprünglich  das  Gleichnis  lediglich  der  Anschauung  dienen 
soll.  Der  Hörer  Homers  hat  nie  Gelegenheit  gehabt,  zu  sehen,  wie  ein 
großer   Kriegsheld    sich    unter   das   Heer  der  Feinde  stürzt  und  dort  Ver- 

')  Vgl.  Becker,  Stil  S.  124,  Vischer,  ferner  noch  besonders  Borinski,  Über  poeti- 
Asthetik  S.  1230,  Wackernagel,  Stilistik  sehe  Vision  und  Imagination.  Auch  die  Lite- 
S.  387,  Gerber  2,  107  f.,  Bain  1,  170  u.  s.  w.;      ratur  zur  Metapher  ist  heranzuziehen. 


140  Stilistik. 


wirrung  und  Entsetzen  anrichtet;  aber  wie  ein  Raubtier  in  eine  Hürde  ein- 
dringt, mag  er  wohl  schon  mit  eignen  Augen  gesehen  haben.  Der  kleine 
Bauer,  der  nie  von  seinem  Hof  geht  außer  bei  Krieg  und  Landesnot,  hat 
nie  einen  königlichen  Mann  erblickt,  der  seine  ganze  Schar  um  Hauptes 
Länge  überragt:  eine  riesige  Esche  im  Walde  hat  er  oft  bemerkt  —  daher 
denn  die  älteren  Gleichnisse  vorzugsweise  aus  dem  Tierreich,  daneben  aus 
dem  Pflanzenreich,  während  die  jüngeren  Vergleiche  (wie  die  des  Neuen 
Testaments  im  Gegensatz  zum  Alten)  gern  aus  dem  menschlichen  Leben 
genommen  sind,  mehr  vertiefend  als  illustrierend ')  —  ganz  der  Entwickelung 
der  Ornamentik  und  der  bildenden  Kunst  entsprechend! 

Wir  sehen  hier  wiederum,  daß  Metapher  und  Gleichnis  (gerade  wie 
Novelle  und  Roman)  keineswegs  nur  durch  die  Ausdehnung  von  vornherein 
verschieden  sind.  Beide  dienen  der  Anschauung;  aber  die  Metapher  sucht 
für  einen  angeschauten  Vorgang  nur  einen  deutlicheren  Ausdruck,  das 
Gleichnis  eine  verdeutlichende  Analogie.  Freilich  aber  ist  die  Ähnlichkeit 
groß  genug,  um  jederzeit  die  Möglichkeit  offen  zu  lassen,  daß  das  Gleichnis 
zur  Metapher  konzentriert,  die  Metapher  zum  Gleichnis  ausgedehnt  wird; 
denn  in  jedem  Ausdruck  (wenigstens  soweit  hier  solche  in  Betracht  kommen) 
steckt  ja  eine  Handlung. 

Wenn  aber  das  Gleichnis  zunächst  nur  verdeutlichen,  anschaulich 
machen  soll,  so  erhebt  es  sich  doch  fast  überall  bald  zu  selbständiger  Be- 
deutung. Die  unendliche  Fülle  der  Übereinstimmungen  in  dieser  bunten 
Welt  wird  empfunden.  Die  Isolierung  der  einzelnen  Tatsache  wird  auf- 
gehoben, indem  der  Dichter  sie  in  einen  großen  geheimen  Zusammenhang 

einreiht: 

Du  führst  die  Reihe  der  Lebendigen 

Vor  mir  vorbei,  und  lehrst  mich  meine  Brüder 

Im  stillen  Busch,  in  Luft  und  Wasser  kennen. 

(Faust  I,  Vers  3225.) 
Durchgeführt   erhebt  -sich  diese  Auffassung  dann  zu  der  tiefsinnigen 
Anschauung,  alles  Vergängliche  sei  nur  ein  Gleichnis,  und   erfüllt  uns  so 
bei  den  kleinen  Vorgängen  eines  einsamen  Menschenlebens  mit  den  Schauem 
kosmischer  Gesetzmäßigkeit. 

Eine  Entwürdigung  dieser  hohen,  von  allen  großen  Dichtern  gefühlten 
Aufgabe  des  Gleichnisses  ist  also  die  kleinliche  Manier,  mit  Bildern  und 
Bilderchen  aufzuputzen,  die  die  Poetik  der  Kunstpoeten  seit  der  Renaissance 
lehrte.  Aber  selbst  die  mühsame  „Bilderjagd"  Ewalds  von  Kleist  führte 
doch  einer  in  Buchwendungen  erstarrten  Poesie  neue  Anschauung  zu;  selbst 
Anastasius  Grün,  von  dem  Grillparzer  meinte,  zu  bildem  verstände 
er  trefflich,  aber  nicht  zu  bilden,  gab  mit  seinen  frischen  Gleichnissen  der 
abstrakten  blassen  Dichtung  seiner  Tage  ein  erfreuliches  Gegengewicht 

Ein  Gleichnis  wird  um  so  echter  wirken,  je  unmittelbarer  es  aus  der 
Situation   und  aus  der  Eigenart  des  Sprechenden  her\'Orgeht  (treffliche  Er- 


')  Vgl.  meine  Altgerman.  Poesie  S.  108  f.,  436  f. 


Elftes  Kapitel,   äussere  Hilfen.  141 

läuterungen  bei  Weinel,  Die  Bildersprache  Jesu,  Gießen  1900).  Das  gibt 
z.  B.  den  prachtvollen  Gleichnissen  Lessings  ihre  Schönheit:  die  unmittel- 
bare, elementare  Kraft,  mit  der  ihm  aus  einer  Stellung  etwa  im  Kampfe  mit 
dem  Pastor  Goeze  eine  Vergleichung  hervorwächst,  beweist  schon  allein, 
daß  der  Dichter  des  „Nathan"  wirklich  ein  Dichter  war.  Er  hört  aus  jedem 
Wort  die  innere  Anschauung  heraus  und  macht  die  latente  wieder  lebendig: 
„Ich  stand  eben  am  Markte  und  war  müßig:  niemand  wollte  mich  dingen" 
(Hamburg.  Dramaturgie,  Schluß).  Und  sofort  steht  statt  der  unbestimmten 
Bezeichnung  eines  „Gelehrten  ohne  festen  Beruf"  ein  konkretes  Bild  vor 
uns:  auch  der  große  Forscher  mit  all  seinen  Gaben  steht  am  Markt,  sucht 
vergeblich  nach  einer  Aufgabe,  die  seine  Kräfte  üben  könnte  —  nicht  anders 
als  der  starke  Lastträger,  dessen  Muskeln  wegen  Mangel  an  Übung  ver- 
kümmern. —  Und  mit  solcher  Anschaulichkeit  verbindet  sich  bei  Goethe 
eine  starke  poetische  Stimmung. 

Damit  kommen  wir  zu  der  dritten  Eigenschaft  des  Gleichnisses.  Zu- 
erst nur  verdeutlichend,  dann  den  Einzelfall  in  große  Zusammenhänge  ein- 
ordnend, ist  es  soweit  mehr  noch  der  Reflexion  dienstbar  als  der  Stimmung. 
Nun  aber  bringt  jedes  lebendig  angeschaute  Bild  an  sich  eine  gewisse 
Stimmung  mit  sich:  die  altgermanischen  Gleichnisse  Waldduft,  die  Bilder 
der  Odyssee  einen  gewissen  Seegeruch,  Bismarcks  prachtvoll  individuelle 
Bilder')  einen  starken  heimischen  Erdgeruch.  Und  so  erst  werden  die 
Gleichnisse  poetisch,  ja  durch  ihre  Orchestrierung  des  eigentlichen  Textes 
unentbehrlich  für  die  Dichtung:  die  Obertöne  der  Stimmung  verdichten  sich 
zum  Gleichnis;  eine  dumpfe  unheimliche  Situation  etwa  verdichtet  gleich- 
sam ihre  Wolken  zu  grausigen  Bildern.  Solche  Bedeutung  hat  freilich  nur 
das  poetisch  empfundene  und  aus  der  Situation  erwachsene  Gleichnis,  nicht 
das  trocken  schematisch  erdachte.-)  Aber  eine  wirklich  tiefgreifende  An- 
schaulichkeit verliert  alles  Bleigewicht  verdeutlichender  Reflexion  und  wirkt 
unmittelbar  poetisch  wie  die  Mythen  der  Völker. s) 

Daneben  behält  das  verdeutlichende  Gleichnis  dauernd  sein  Recht,*) 
freilich  auch  seinerseits  von  einem  Bedürfnis  nach  Anschauung  genährt, 
das  der  Abstraktion  sogar  gefährlich  werden  kann:  es  führt  zu  neuer 
Mythologie  in  metaphysischen  und  psychologischen  Untersuchungen. 

§  160.  Katachrese.  Eine  andere  Gefahr  bei  lebhafter  Gleichnisbildung 
ist  die  Katachrese. 5)    J.  Paul  definiert  sie  als  „die  Anwendung  ganz  ver- 

1)  H.  BlOmner,  Der  bildliche  Ausdruck  Leipzig  1904,  vgl.  auch  Weinel,  Die  Gleich- 
in den  Reden  des  Fürsten  Bismarck,  Leipzig  nisse  Jesu,  Leipzig  1904. 
1891,  derselbe,  Der  bildliche  Ausdruck  in  ')  H.  Brunnhofer,  Goethes  Bildkraft 
Bismarcks  Briefen,  Euphorion  1,  590,  G.  El-  im  Lichte  der  ethnologischen  Sprach-  und 
LINOER,  Der  bildliche  Ausdruck  in  den  An-  Mythenvergleichung,  Leipzig  1890,  Hirzel. 
sprachen  Bismarcks,  Zeitschrift  des  Allge-  ■•)  R.  Eucken,  Über  Bilder  und  Gleich- 
meinen Deutschen  Sprachvereins  10,  4.  nisse  in  der  Philosophie,  Leipzig  1880. 

-)  Lehrreich  P.  Fiebig,  Altjüdische  Gleich-  »)  J.  Paul,  Vorschule  der  Ästhetik  §  82, 

nisse  und  die  Gleichnisse  Jesu,  Tübingen  und  Wackernagel  S.  384. 


142  Stojstik. 


schiedener  Bildlichkeiten  innerhalb  eines  und  desselben  Gedankens,  so  daß 
im  ersten  Worte  die  Einbildung  rechts,  im  zweiten  links  hingezogen  wird." 
Z.  B.:  „Laß  nicht  des  Neides  Zügel  umnebeln  deinen  Oeisf.  Die  Katachrese 
(d.  h.  „Mißbrauch" ,  nämlich  des  bildlichen  Ausdrucks)  entsteht  aber  auch 
ohne  bewußte  Bilderhäufung,  sobald  der  ursprüngliche  Anschauungsinhah 
eines  Wortes  von  dem  Redner  weniger  deutlich  empfunden  wird  als  von  dem 
Hörer.  So  selbst  (und  gerade)  bei  dem  trockenen  Adelung  (J.  Paul  a.  a.  O.): 
„wo  ein  Schimmer  des  Verstandes  den  raschen  Gang  der  Ideen  aufhalten 
und  ein  besonderes  Gewicht  auf  diesen  oder  Jenen  legen  K'ill' .  Ob  ein 
solcher  Gebrauch  verletzend  wirkt,  hängt  lediglich  von  der  Empfindung 
des  Publikums  ab;  denn  da  alle  Sprache  sich  in  Metaphern  entwickelt, 
reden  wir  fortwährend  in  Katachresen  und  wenn  wir  auch  nur  sagen:  „seine 
stählerne  Energie  ermattete  schließlich".  • 

Was  aber  eigentlich  an  der  Katachrese  verletzt,  ist  nicht  ohne  weiteres 
klar.  Es  ist  nicht  die  beirrende  Häufung  der  Bilder;  denn  diese  ist  in 
andern  Fällen  anstandslos  gestattet,  gilt  sogar  gelegentlich  als  besondere 
Schönheit.     So  rühmt  man  die  Stelle  im  „Hamlet",  wo  es  von  dem  Helden 

heißt: 

Des  Hofmanns  Auge,  des  Gelehrten  Zunge, 

Des  Kriegers  Arm,  des  Staates  Blum'  und  Hoffrumg, 

Der  Sitte  Spiegel  und  der  Bildung  Muster, 

Das  Merkziel  der  Betrachter  —  (ID,  1) 

und  Goethe  selbst  stand  unter  ihrem  Einfluß,   als  er  Pylades  durch  Iphi- 

genie  preisen  ließ: 

Er  ist  der  Arm  des  Jünglings  in  der  Schlacht, 
Des  Greises  leuchtend  Aug'  in  der  Versammlung. 

(IV,  1,  Vers  1384.) 

Ganz  ähnlich  spricht  auch  schon  Hartmann  von  Aue  von  seinem 
armen  Heinrich.  Rasch  fliegen  hier  die  Gleichnisse  vorüber,  zu  rasch 
selbst,  um  ein  deutliches  Bild  zu  hinterlassen;  dennoch  liegt  hier  nicht 
Katachrese  vor:  ein  Vergleich  greift  nicht  in  den  andern  hinein.  Aber 
warum  ist  denn  eben  dies  sträflich?  Wenn  der  Leichenprediger  (um  ein 
beliebtes  grelles  Beispiel  anzuführen)  sagt:  „Der  Zahn  der  Zeit,  der  schon 
so  manche  Träne  getrocknet,  wird  auch  über  diese  Wunde  Gras  wachsen 
lassen  — ",  warum  macht  diese  Anhäufung  an  sich  üblicher  Metaphern  uns 
lachen?  Gewiß,  ein  Zahn  kann  keine  Träne  trocknen;  aber  die  Zeit  kann 
es  auch  nicht,  und  doch  sagen  wir  ruhig:  „die  Zeit  wird  deine  Tränen 
trocknen",  als  ob  die  Folge  der  Tage  ein  Taschentuch  in  der  Hand  hätte. 
Gewiß,  über  eine  Wunde  wächst  kein  Gras;  aber  über  einen  Prozeß  auch 
nicht,  und  doch  sagen  wir  unbedenklich:  „Nach  Deutschland  kehrte  er  erst 
wieder  zurück,  als  über  seinen  Prozeß  Gras  gewachsen  war."  Es  ist  also 
nicht  die  verunglückte  Anwendung  der  Metaphern  selbst,  die  stört;  sondern 
im  Gegenteil:  gerade  daß  auf  sie  und  ihre  an  sich  berechtigte  Verwendung 
zu  deutlich  hingewiesen  wird,   das  verdirbt  die  Sache.     Indem  die  Gleich- 


Elftes  Kapitel,   äussere  Hilfen.  143 

nisse  sich  stoßen,  empfinden  wir  sie  nicht  mehr  als  bloße  Metaphern,  son- 
dern ihre  eigentliche  Bedeutung  wird  unter  der  figürlichen  aufgeweckt  — 
was  ja  an  sich  erwünscht  ist;  nun  aber  empfinden  wir  dies  Springen  von 
einem  Vergleich  zum  andern,  bei  dem  die  Unruhe  keinen  fertig  werden 
läßt,  als  ein  lächerliches  Überanstrengen  der  Phantasie.  Sind  alle  Gleich- 
nisse an  sich  kräftig  und  deutlich,  so  schadet  auch  die  Häufung  nicht,  die 
ja  schon  bei  Homer  {„oder  wie  — ")  begegnet.') 

§  161.  Parabel.  Das  Gleichnis  hat  eine  natürliche  Tendenz,  sich  aus- 
zudehnen (Bain  1,  170).  Es  wächst  sich  dann  aus  zur  Parabel-')  oder 
Darstellung  einer  gleichnismäßigen  Handlung.  (Die  Parabel  wird 
zuerst  getan,  später  erst  erzählt:  symbolische  Handlungen  sind  älter  als 
parabolische  Erzählungen;  man  denke  noch  an  die  alte  Geschichte  von 
Tarquinius  Superbus  und  den  abgemähten  Mohnköpfen.) 

Die  Parabel  kann  weiter  gedehnt  werden  zur  Allegorie  (J.  Paul, 
Vorschule  der  Ästhetik  §  51,  Vischer,  Ästhetik  S.  1227)  oder  gleichnis- 
mäßigen Beschreibung.  Doch  entsteht  die  Allegorie  auch  direkt,  so  daß 
die  Ausdehnungsverhältnisse  so  wenig  wie  bei  Metapher  und  Gleichnis 
allein  ihr  Verhältnis  bestimmen. 

Parabel-')  und  Allegorie^)  sind  an  sich  als  selbständige  Gattungen 
innerhalb  der  Poetik  zu  behandeln.  Doch  ist  zumal  die  kürzere  Parabel 
als  Einlage  in  (besonders  didaktischer)  Rede  von  altersher  beliebt.  Sie 
vereinigt  dann  den  Vorzug  des  Sprichworts,  indem  sie  durch  Vorführung 
anerkannter  Charakterzüge  etwa  aus  dem  Leben  der  Tiere  an  die  allgemeine 
Beistimmung  appelliert,  mit  dem  des  Gleichnisses,  indem  sie  die  Anschauung 
bereichert.  Eingelegte  Parabeln  also,  wie  die  vom  Dornstrauch  in  der  Bibel 
oder  auch  Parabeln  als  Gipfel  der  Rede  wie  die  berühmte  Fabel  des  Me- 
nenius  Agrippa  sind  wirksame  Hilfen  der  Rede  und  fördern  die  Verbin- 
dung zwischen  Sprecher  und  Publikum.  Ihre  höchste  Blüte  haben  sie  im 
Neuen  Testament  erreicht  (vgl.  oben  §  159);^)  eine  glänzende  Nachfolge 
findet  das  biblische  Gleichnis  in  jener  Parabel,  die  (nach  mittelalterlichen 
Vorbildern)  Lessing  seinen  Nathan  vortragen  läßt. 

§  162.  Beispiel.  Wenn  das  Gleichnis  den  Einzelfall  zur  Allgemeinheit 
erhebt,  so  macht  umgekehrt  das  Beispiel  (Becker  S.  132,  Gerber  2,  1,48) 
das  Allgemeine  an  einem  Einzelfall  deutlich.  Es  unterscheidet  sich  von 
der  Parabel  dadurch,  daß  der  erzählte  Einzelfah  wirklich  nur  ein  solcher 
und  nicht  ein  typischer,  viele  in  sich  fassender  Fall  sein  soll.  (Dagegen 
ist  es  gleichgültig,  ob  das  Beispiel  der  Wirklichkeit  entnommen  oder  — 
wie  die  Parabel  —  erfunden  ist;  die  juristischen  Beispiele  z.  B.  sind  in  der 

')    Vgl.    Elster,    Literaturwissenschaft  *)  Wackernagel  S.  396,  Gerber  2,  1. 

S.  391.                                                •  I   98  f.,  2,  2,  224,  257  f. 

-)  Vgl.  Qoebel,  Darstellung  und  Kritik  5)Weinel,  Die  Bildersprache  Jesu,  Gießen 

von  Lessings  Fabeltheorie,  Jena  1876.  1900. 

»)  Gerber  2,  1,  113  f.,  2,2,248  f. 


144  Stilistik. 


Regel  fingiert.)  Das  Beispiel  ist  gewissermaßen  eine  ausgeführte  Synekdoche 
(vgl.  oben  §  123):  das  einzelne  Glied  einer  großen  Reihe  steht  für  diese 
selbst.     Wenn  der  Wachtmeister  in  „Wallensteins  Lager"  sagt: 

Zum  Exempel  —  da  hack  mir  einer 

Von  den  zehn  Fingern,  die  ich  da  hab' 

Einmal  den  kleinen  Finger  ab  — 

SO  steht  diese  Verstümmelung  als  beliebiges  Beispiel  für  die  große  Wirkung 
kleiner  Kraftverminderungen.  Durch  seine  Anschaulichkeit  wirkt  es  aber 
fast  wie  ein  Gleichnis;  wie  denn  auch  „Beispiel"  im  Altdeutschen  oft  diese 
Bedeutung  hat  und  Goethe  beides  als  für  Christi  Redeweise  bezeichnend 

vereinigt: 

Besonders  durch  Gleichnis  und  Exempel 
Macht'  er  einen  jeden  Markt  zum  Tempel 

(Legende  vom  Hufeisen). 

Vorzugsweise  dient  indessen  das  Beispiel  wirklich  der  verstandes- 
mäßigen Auseinandersetzung.  Man  entnimmt  gleichsam  einer  großen,  mit 
Einer  Masse  gefüllten  Schachtel  eine  kleine  Dosis  jener  Masse,  um  sie 
genau  prüfen  und  beurteilen  zu  können.  Das  Beispiel  eignet  sich  also 
wenig  für  lyrische  oder  pathetische  Stellen  —  oder  vielmehr  es  wandelt 
sich  hier  zur  Synekdoche:  der  beliebige  Fall  wird  zum  typischen  gemacht, 
Cäsar,  für  die,  Geschichtsdarstellung  oder  die  Psychologie,  ein  Usurpator 
wird  für  Wallenstein  der  Usurpator,  der  glückliche  Empörer.  Dagegen 
in  der  wissenschaftlichen  Untersuchung  soll  ein  Beispiel  wirklich  als  Einzel- 
fall dienen,  muß  freilich  auch  durch  seine  reinliche  Art  zum  genaueren 
Studium  geeignet  sein.') 

§  163.  Anekdote.  Das  Beispiel  einer  interessanten  Handlung,  mit 
selbständigem  Interesse  vorgetragen,  wird  zur  Anekdote  (über  die  Anek- 
dote als  eigene  Gattung  vgl.  §  177).  Der  Ausdruck  bezeichnet  eigent- 
lich nur  ein  ineditum,  eine  noch  nicht  allgemein  bekannte  Tatsache 
(also  reizt  hier  wie  bei  der  Anspielung  gerade,  daß  nur  wenige  eingeweiht 
sind,  nicht  wie  bei  Sprichwort  und  Zitat  alle  oder  die  meisten).  Er  stammt 
von  einem  Geschichtswerk  des  Byzantiners  Prokop,  der  die  „unveröffent- 
lichte Geschichte"  von  Justinian  und  Theodora  nach  deren  Tod  ans  Licht 
brachte,  voll  anstößiger  Geschichten;  und  ein  kleiner  Beigeschmack  davon 
haftet  dem  Wort  noch  heut  an.  Aber  die  Anekdote  braucht  nicht  nur  nicht 
„pikant"  zu  sein,  sie  braucht  nicht  einmal  notwendig  zugespitzt  zu  sein. 
Wäre  z.  B.  die  Geschichtsanekdote  von  dem  Glas  Wasser  der  Königin  Anna 
von  England,  die  Scribe  dramatisiert  hat,  wahr,  so  könnte  sie  ein  gutes 
anekdotisches  Beispiel  für  den  Satz  „kleine  Ursachen,  große  Wirkungen' 
geben,  obwohl  sie  keine  eigentliche  Pointe  hat.  Indessen  strebt  die  Anek- 
dote unzweifelhaft  nach  Zuspitzung,  um  in  der  Pointe  ihre  ganze  Wirkung 
zu  sammeln. 


*)  Vgl.  Bernheim,  Handbuch  der  historischen  Methode  S.  517  f. 


Zwölftes  Kapitel.    Innere  Hilfen.  145 

Eine  gut  vorgetragene  Anekdote  wirkt  auf  den  modernen  gebildeten 
Hörer  fast  so  sicher  wie  auf  den  naiveren  eine  gut  geformte  Parabel;  und 
sie  bringt  den  Reiz  eines  heitern  Moments  als  Nebenwirkung,  wofür  nament- 
lich in  anstrengenden  Darstellungen  der  Zuhörer  dankbar  ist.  Nirgends 
steht  die  Anekdote  höher  im  Kurse  als  in  England,  wo  sie  ebensosehr 
blüht  wie  die  kurze  gesellschaftliche  Erzählung  in  Frankreich  —  der  „ra- 
conteur"  trägt  ein  Erlebnis,  der  Jalker''  eine  Anekdote  vor.  i)  In  England 
ist  sie  auch  im  „großen  Stil"  der  Parlamentsrede  beliebt,  wo  sie  bei  uns 
fast  nur  (mehr  nach  französischem  als  englischem  Muster)  L.  Bamberger 
kultivierte.  In  der  Erzählung  dagegen  flickt  man  auch  bei  uns  gern  Anek- 
doten ein;  Fontane  tut  es  mit  wahrer  Leidenschaft.  Ihr  Hauptplatz  bleibt 
freilich  die  mündliche  Unterhaltung.  Goethes  Tagebücher  zeigen,  wie  hoch 
er  solche  Würze  der  Konversation  schätzte. 

Einenkunstvollgeordneten  Anekdotenschatz  besitzen  wir  in  K.J.  Webers 
„Demokritos";  gute  Beispiele  z.B.  in  Kuno  Fischers  Schriftchen  „Über  den 
Witz".  Doch  soll  man  natürlich  —  mündlich  und  schriftlich!  —  Anekdoten 
nur  erzählen,  wenn  sie  sich  ungezwungen  im  Lauf  der  Rede  einstellen!  Sie 
gehören,  wie  die  Parabel,  dem  Boden,  von  dem  entfernt  sie  verdorren.  Der 
Abgeordnete  Otto  v.  Bismarck-Schönhausen  hat  an  der  Tafel  Friedrich  Wil- 
helms IV.  so  merkwürdige  Ansichten  vorgetragen,  daß  der  König  —  dessen 
starke  Seite  die  Menschenkenntnis  eben  nicht  war  —  an  seiner  intellektuellen 
Begabung  zu  zweifeln  beginnt.  Bismarck  merkt  es  —  und  erzählt  die  Ge- 
schichte von  jenem  alten  Mann,  der  den  ersten  Napoleon  noch  selbst  ge- 
sehen haben  wollte.  Man  fragt  den:  „Wie  war  denn  der  Napoleon?''  „O  — 
ein  langer  dürrer  Mensch  mit  gelben  Haaren  —  guter  Kerl,  aber  dumm! 
dumm!" 

Zwölftes  Kapitel. 

Innere  Hilfen. 

§  164.  Beste  Hilfe.  Hiermit  dürfte  etwa  die  Summe  derjenigen  Hilfs- 
mittel erschöpft  sein,  die  die  „Redeverbindung"  fördern,  d.  h.  die  Ver- 
bindung zwischen  der  Rede  des  einzelnen  und  der  des  andern,  die  ja  aus 
ihrer  Aufnahme  seiner  Rede  sich  ergibt.  Wir  sind  uns"  wohl  bewußt, 
manches  hier  (wie  übrigens  auch  sonst)  ganz  anders  eingeordnet  zu  haben, 
als  es  üblich  ist,  glauben  aber  eben,  daß  nur  hier  in  unserer  systematisch 
aufsteigenden  Anordnung  der  richtige  Platz  für  Sprichwort  und  Sentenz  ist 
und  daß  ihr  psychologischer  Ursprung  sie  allerdings  von  der  Antithese 
oder  der  Personifikation  seh  weitr  abtrennt.  Es  sind  lauter  Versuche,  den 
Hörer  gleichsam  dem  Sprecher  einzuverleiben,  ihn  zu  zwingen,  mit  unsern 
Augen  zu  sehn,  indem  scheinbar  umgekehrt  wir  in  seine  Seele  steigen  und 
mit  seinen  Augen  das  gewahren,  was  längst  anerkannt  ist  oder  sich  unbe- 
dingte Anerkennung  erzwingt.     Die  letzte  und   beste  Art,   den   Hörer  zu 

')  Vgl.  de  Quincey,  Works  11,283. 
Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  UI,  Teil  L  10 


146  Stilistik. 


bezwingen,  bleibt  freilich  immer  die  Vortrefflichkeit  unserer  Rede  selbst 
und  die  besten  Mittel  also  die,  durch  die  wir  unser  Werk  der  Vollendung 
möglichst  nahe  bringen. 

Dreierlei  Hilfen  beziehen  sich  nun  auf  das  gesamte  Werk,  wie  die 
bisher  angegebenen  auf  einzelne  Teile:   Disposition  —  Lektüre  —  Feilen. 

§  165.  Disposition.  Die  Disposition  kann  dem  Aufbau  vorausgehen; 
muß  aber  nach  seiner  Vollendung  hergestellt  werden.  Daß  die  altmodische 
Regel,  man  müsse  sich  zuvörderst  einen  genauen  Abriß  machen,  keines- 
wegs unfehlbar  ist,   hat  Philippi  (Kunst  der  Rede  S.  185)  hübsch  gezeigt: 

Wie  verhält  sich  die  Erfindung  zur  Disposition?  Man  sollte  meinen,  sie  sei  ohne 
diese  gar  nicht  möglich  und  diese  müsse  ihr  vorhergehen.  Tatsächlich  aber  ist  das  nicht 
der  Fall  oder  doch  nur,  wo  ein  bestimmter  Satz  als  Thema  zu  einem  Aufsatze  oder  zu 
einer  Rede  von  vornherein  gegeben  ist,  der  dann  zu  einer  Disposition  analj-tisch  zergliedert 
wird.  Sonst  lehrt  die  Erfahrung,  daß  wir  uns  in  unsern  Gedanken  ohne  Rücksicht  auf  die 
Reihenfolge  der  Teile  mit  einem  Stoffe  beschäftigen,  uns  in  ihn  einleben,  ihn  für  den 
Zweck  unsrer  Mitteilungen  durchsuchen,  ausgestalten  und  oft  gerade  bei  diesem  ungeord- 
neten Wandern  einzelne  unsrer  brauchbarsten  Gedanken  bekommen.  In  diesem  Falle  be- 
drängt uns  gewissermaßen  der  Stoff  in  seiner  Fülle,  und  unsere  Gedanken  sollen  daraus 
erst  den  ,Satz*  des  Themas  machen.  Das  ist  doch  auch  das  Naturgemäßere,  daß  uns 
ungeordneter  Stoff  zuströmt  und  wir  ihn  gestalten,  und  nicht,  daß  uns  ein  Satz  von 
außen  gegeben  wird,  wie  eine  Schulaufgabe.  Der  fertige  Mensch  sollte  nur  von  Sachen 
schreiben  und  reden,  die  ihn  angehen,  und  die  ihn  wirklich  erfüllen  können.  Aber  manch- 
mal freilich  muß  es  ja  auch  anders  sein. 

Wenn  wir  mit  unseren  Gedanken  länger  bei  dem  Stoffe  verweilen,  so  sondert  sich 
die  große  und  ängstlich  wirkende  Masse  allmählich  ab  in  übersichtliche  Gruppen.  Un- 
verwendbares wird  ausgeschieden.  Das  Bleibende  tritt  um  so  klarer  her\'or.  An  Stoff  wird 
ein  Schriftsteller  oder  ein  Redner,  wie  er  sein  soll,  immer  noch  eher  zu  viel  haben  als  zu 
wenig,  und  er  wird  später  noch  Gelegenheit  genug  finden,  wegzuschneiden,  wenn  er  sieht, 
daß  die  Ausführung  auch  ihr  Recht  haben  will.  Darum  ist  schon  auf  der  Stufe  der  Er- 
findung zu  warnen:  man  muß  nicht  alles  sagen  wollen,  auch  wenn  es  an  sich  gut  ist. 
Man  muß  die  Entsagung  üben  können,  manches  vielleicht  sehr  Gute  schonungslos  auf- 
zugeben, weil  es  hier  nicht  paßt,  oder  weil  es  andres  beeinträchtigt,  endlich  weil  es,  wo 
nicht  alles  gesagt  werden  kann,  eher  als  etwas  andres  entbehrt  werden  könnte.  Über- 
füllung mit  Stoff,  der  nicht  verarbeitet  werden  konnte,  macht  eine  Darstellung  gerade  so 
unbeholfen,  wie  wenn  ein  lebendiges  Wesen  sich  unter  ungesunder  Körperfülle  mühsam 
hinschleppt.  Es  macht  kaum  irgend  etwas  einen  so  unvorteilhaften  Eindruck,  wie  solche 
Unbehilflichkeit.  Der  Gelehrte  nennt  das  zu  seinem  Tröste  oft  Gründlichkeit,  wenn 
er  alles  gesagt  hat,  was  etwa  zu  sagen  war.  Ob  es  auch  aufgefaßt  wurde,  und  wie  es 
wirkte,  ist  ihm  vielleicht  ganz  einerlei.  Aber  man  erkennt  daran  nicht  nur  den  Anfänger 
in  der  Kunst  sich  auszudrücken,  sondern  man  hat  auch  vor  allem  die  für  den  andern 
unvorteilhafte  Empfindung,  daß  es  ihm  an  geistiger  Durchbildung  fehle.  Er  hat  sich  eben 
wenigstens  in  dem  einen  Falle  sicher  seinen  Stoff  nicht  hinreichend  geistig  zu  eigen  ge- 
macht. Will  man  das  an  einem  ja  freilich  an  sich  nicht  wünschenswerten  Gegensatze 
verstehen,  so  denke  man  daran,  wie  leicht  manchmal  ein  von  Gedanken  nicht  beschwerter 
Mensch  in  Schrift  oder  Rede  umherplätschert.  Höflicher  sagt  Goethe:  .Ein  guter  Kopf 
wendet  desto  mehr  Kunst  an,  je  weniger  Data  ihm  vorliegen.  Er  wählt  gleichsam,  seine 
Herrschaft  zu  zeigen,  sich  aus  den  vorliegenden  Datis  wenige  Günstlinge  aus,  die  ihm 
schmeicheln,  er  versteht  die  übrigen  so  zu  ordnen,  wie  sie  ihm  nicht  widersprechen." 

Also  wir  sollen  immerhin  den  Stoff  soweit  bewältigt  haben,  daß  er  nicht  zu  schwer 
mehr  ist.     Ob  sich  jemand  das   schriftlich   machen  soll?  —  Es  kommt  wohl  etwas  auf 


Zwölftes  Kapitel.   Innere  Hilfen.  147 

Anlage  und  Gewohnheit  an.  Ich  würde  sagen:  möglichst  nicht,  außer  wo  man  einzelnes 
festhalten  möchte  und  es  sich  darum  in  kurzen  Merkworten  aufzeichnet.  Das  Durchdenken 
muß  erst  seine  volle  Arbeit  getan  haben,  und  mit  der  Disposition  tritt  ohnehin  das  Nieder- 
schreiben hinzu.  Hat  aber  jemand  die  Eigenschaft,  daß  seine  Gedanken  leicht  zwecklos 
spazieren  gehen,  so  mag  er  sie  auch  durch  Federzüge  am  Stoffe  festhalten. 

Diese  vortrefflichen  Ausführungen  wüßte  ich  nur  noch  etwa  durch 
den  Hinweis  zu  ergänzen,  daß  die  Disposition  so  individuell  wie  möglich 
sein  muß,  d.  h.  ganz  aus  dem  Stoff  erwachsen  und  daß  deshalb  Albalat 
(Art  d'ecrire  S.  171  f.),  der  nach  französischer  Art  allgemeine  Schemata, 
das  Muster  der  vorbildlichen  Einteilungen,  strenges  Festhalten  am  Plan 
anrät,  hier  ein  gefährlicher  Lehrer  ist. 

Vor  allem  muß  die  Disposition  der  Art  des  Werkes  angemessen  sein. 
Wie  ein  Drama  nach  der  Gliederung  der  Handlung  und  ein  Roman  nach 
den  Etappen  der  Entwicklung  geordnet  ist,  soll  man  ein  philosophisches 
Werk  womöglich  unter  systematischem  Gesichtspunkt,  ein  historisches') 
möglichst  nach  chronologischer  Folge  eingeteilt  werden.  Diese  Disposition 
wird  sich  meist  ungezwungen  ergeben;  stellt  man  nach  Vollendung  der 
Arbeit  einen  eingehenden  Grundriß  auf,  der  dem  nun  erst  genau  abge- 
grenzten Stoff  gerecht  wird,  und  mißt  man  die  fertige  Arbeit  an  diesem  Plan, 
so  wird  durch  Verschiebung  und  Einschiebung  noch  mancher  Schönheits- 
fehler zu  beseitigen,  selten  aber  bei  einem  gelungenen  Werk  Wesentliches 
zu  ändern  sein.  Freilich  bleibt  auch  das  individuell;  wem  es  an  Umsicht 
fehlt,  wer  sich  von  großen  Stoffmassen  leicht  beängstigen  läßt,  der  wird 
gut  tun,  den  Plan  vorher  bis  ins  einzelne  auszuarbeiten.  Soweit  ich  raten 
kann,  bleibt  doch  das  beste: 

1.  man  beginnt  mit  dem  Entwurf  eines  ganz  allgemein  gehaltenen, 
womöglich  auf  übersichtHcher  Zweiteilung  beruhenden  Skeletts; 

2.  man  prägt  sich  dies  ein  und  arbeitet  frisch  darauf  los  —  wobei 
es  wieder  Klassen  von  wissenschaftlichen  Arbeitern  scheidet,  ob  sie  stetig 
vorwärtsgehen  oder  einen  besonders  interessanten  Abschnitt  zuerst  heraus- 
greifen u.  dgl.    Beides  hat  Licht-  und  Schattenseiten; 

3.  man  liest  das  fertige  Werk  durch,  präpariert  es,  wie  ein  Natur- 
forscher ein  Tier  präpariert,  indem  man  seine  Anatomie  genau  ausschält 
und  über  alles  Wesentliche  Notizen  macht,  und  prüft  den  so  erhaltenen 
Grundriß; 

4.  man  revidiert  die  Anordnung  auf  Grund  der  so  erhaltenen  orga- 
nischen Disposition. 

Über  die  Art,  wie  die  Meister  arbeiteten,  fehlt  es  uns  nicht  an  Nach- 
richten; helfen  werden  uns  nur  die,  denen  wir  irgendwie  verwandt  sind; 
andere  beirren  leicht. 

Die  Disposition  soll  den  Körper  leicht  und  sicher  tragen  wie  uns 
unser  Knochenbau;  aber  schön  ist  es  nicht,  wenn  die  Rippen  herausstehen. 

*)  Vgl.  Bernheim,  Lehrbuch  der  histo-      Aufsatz    „Prinzipien  der  wissenschaftlichen 
fischen  Methode  S.  515  f.;  allgemein  meinen      Periodenbildung",  Euphorien  8,  1  f. 

10* 


1 48  Stilistik. 


Eine  allen  deutliche  Anordnung  kann  wissenschaftlichen  Werken  zur  Em- 
pfehlung dienen;  künstlerische  Darstellung  schädigt  sie  und  gibt  etwa  der 
eddischen  Rigsthula*)  oder  E.  M.  Arndts  Formelgedichten  {„Wer  ist  ein 
Held?  wer  —  kann")  eine  trockene  Regelmäßigkeit.  Auch  in  dieser  Hin- 
sicht wird  Vertiefung  in  große  Beispiele,  das  Studium  selbstgefertigter  Ana- 
lysen verwandter  Werke,  endlich  die  Lektüre  einsichtiger  Kritiken  über  deren 
Anlage  uns  eine  gute  Vorschule  sein,  von  der  wir  aber  Selbständigkeit, 
nicht  etwa  Nachahmung  lernen  sollen. 

§  166.  Lektüre.  Die  Lektüre  überhaupt  ist  die  richtige  Hilfe  zur 
Vollendung.  Über  ihre  erziehliche  Bedeutung  handelt  eingehend  das  ge- 
scheite Buch  von  Albalat,  Lxi  formation  du  style  par  i Assimilation  des 
auteurs  (über  die  Kunst  des  Lesens  überhaupt  vgl.  meinen  Grundriß  der 
neueren  deutschen  Literaturgeschichte  S.  36  f.).  Freilich  rät  der  Franzose 
auch  hier  zu  engerem  Anschluß  an  die  Vorbilder,  als  wir  raten  möchten. 
Die  Lektüre,  als  stilistische  Schulung  betrachtet,  ist  eben  eine  Art  Erziehung, 
und  bei  aller  Erziehung  ist  die  Atmosphäre  von  Haus  oder  Schule  wichtiger 
als  die  Hausordnung  und  die  einzelnen  Vorschriften.  Früher  riet  man,  be- 
stimmte Stilmuster  zu  lesen: 

vos  exemplaria  Graeca 
Nocturna  versate  manu,  versate  diurna, 

man  empfahl  einem  jungen  Historiker  Tacitus  oder  Macaulay  oder  Ranke 
als  Vorbild.  Ich  halte  das  für  gefährlich.  Nicht  zwar,  daß  jeder  junge 
Mann  schon  für  seine  „Individualität"  zu  fürchten  hätte;  die  Persönlich- 
keiten sind  rar,  und  wer  eine  ist,  wird  das  mächtigste  Muster  überwinden. 
Aber  man  gewöhnt  sich  leicht  an  die  Affektation  fremder  Redeweise,  wie 
uns  denn  das  „Goethische  Deutsch"  Varnhagens  kaum  besser  mundet  als 
die  Tieckisierende  Poesie  Immermanns. 

Deshalb  ist  es  am  besten,  wenn  wir  unsere  Lehrer  sich  gegenseitig 
belehren  lassen.  Man  lese  vor  allem  so  wenig  schlechte  Bücher 
wie  möglich,  und  wenn  sie  noch  so  viel  Lärm  machen,  und  wenn  man 
noch  so  oft  gefragt  wird:  „Haben  Sie  —  schon  gelesen?"  Jede  schlechte 
Gesellschaft  verdirbt  gute  Sitten,  stumpft  unser  Urteil  ab  und  also  auch 
unsere  Selbstkritik.  Man  lese  so  viel  gute  Bücher,  als  man  mit 
Sammlung  und  Lust  lesen  kann.  Ein  Durchpeitschen  der  Weltliteratur 
verwirrt  und  betäubt;  eine  Überanstrengung  in  aufmerksamer  Lektüre  ermüdet 
und  enttäuscht.  Man  gehe  von  unsern  Klassikern  aus,  lese  unbedingt  alle 
Hauptwerke  (das  können  auch  kleine  Gedichte  sein)  von  Lessing,  Goethe 
und  Schiller;  aber  auch  von  der  Lektüre  der  besten  Werke  unserer  Ro- 
mantiker, Hölderlins,  Kleists,  der  wichtigsten  Dramen  Grillparzers  und 
Hebbels,  der  schönsten  Gedichte  Heines  und  Mörikes,  der  besten 
Romane  und  Novellen  von  G.  Keller,  Th.  Storm,  O.  Ludwig,  Paul 
Heyse,  C.  F.  Meyer,  M.  v.  Ebner,  endlich  eines  oder  des  andern  Bandes 


')  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  S.  471  f. 


Zwölftes  Kapitel.   Innere  Hilfen.  149 

von  Schopenhauer  und  Nietzsche  wiri?  man   sich  nicht  dispensieren 

dürfen.   —    Für    wissenschaftliche    Prosa   bieten   gute  Anthologien   (mein 

Grundriß  S.  387  f.)  die  Hand  und  führq^  hoffentlich  zur  vollständigen  Lek- 

.    türe  bedeutender  Schriften  von  Ranke.^ommsen,  Freytag,  Treitschke, 

/von  Uhland,  J.  Grimm,  Lehrs,  Burckhardt,  von  Humboldt,  Brehm, 

'  Steub,  Ratzel,  von  Hettner,  Scherer,  Gomperz  u.  s.  w.    (Es  versteht 

sich,/daß  diese  Liste  nicht  vollständig  sein   soll  und  daß  eine  Auslassung 

niflii  auf  den  Index  librorum  probihitomm  setzen  will!) 

Im  Anfang  nun  ist  es  vielleicht  ganz  heilsam,  sich  beim  Lesen  sozu- 
sagen die  Hände  führen  zu  lassen.')  Dann  gehe  man  dazu  über,  von 
feinsinnigen  Ästhetikern  und  Kritikern  sich  die  Augen  schärfen  zu  lassen: 
die  Rezensionen  von  Lessing,  Goethe,  Schiller,  von  G.  Freytag,  Ferd. 
Kürnberger,  zum  Teil  auch  A.  W.  Schlegel  lehren  uns  sehen,  die  Ästhe- 
tiken, Poetiken,  Literaturgeschichten  von  Vischer,  Viehoff,  Hettner, 
Brandes,  Scherer  lehren  uns  urteilen.  Auch  englische  und  französische 
Meister  der  Kritik  bieten  manches,  was  bei  uns  vernachlässigt  wird.  Und 
man  hüte  sich  dabei,  lector  unliis  libri  zu  werden:  Vergleichung  befreit, 
Kampf  zwischen  zwei  Auffassungen  stählt,  Zweifel  macht  zum  Mann. 

Wie  aber  soll  diese  Lektüre  auf  die  eigene  Produktion  einwirken? 

Vor  allem  indirekt.  Sie  soll  unsern  Ehrgeiz  anspornen.  Wir  sollen 
uns  unter  den  Augen  ernster  Meister  schämen  lernen  vor  bequemem  Gehen- 
lassen, halbem  Fertigmachen,  unwahrem  Aufputz.  Wir  dürfen  uns  freilich 
nicht  mit  ihnen  vergleichen;  aber  des  Umgangs  mit  ihnen  wollen  wir  doch 
wert  sein.  Und  im  einzelnen  gedenke  man  bei  jedem  Tadelwort,  das  die 
Autoritäten  fallen  lassen,  an  das  gute  alte  Sprüchlein: 

Freund,  sieh  auf  dich 
Und  nicht  auf  mich. 
Und  mach  ich's  falsch. 
So  bessere  dich. 

Was  Goethe  an  den  Dilettanten  seiner  Zeit  tadelt,  das  kann  auch 
uns  treffen;  was  wir  an  Gutzkow  oder  schwachen  Schillernachahmern 
mißbilligen  lernen,  prüfen  wir  an  uns  nach. 

§  167.  Feilen.  Die  Wirkung  dieser  unaufhörlichen  Erziehung  zeige  sich 
dann  beim  Feilen.  Solang  wir  im  Fluß  des  Vollbringens  schwimmen,  tun 
wir  gut,  auf  das  Einzelne  und  Kleinste  nicht  allzuviel  zu  achten;  das  bringt 
aus  dem  Zusammenhang,  zerstört  den  unersetzlichen  Moment.  Nun  aber 
ist  der  Guß  gelungen   und   die  Form  erkaltet;  da  gilt's  nachprüfen,  nach- 

')  Hierzu  dienen  Büctier  wie  O.  Weise,  i   die  Ameriicaner;  W.  T.  Brewster,  Studies  in 

Deutsche  Spracli-  und  Stillehre,  Leipzig  und  Structure  and  Style,  NewYorl<  1903,  und  die 

Berlin  1901;  desselben  Musterstücke  deut-  Franzosen:  Laharpes  berühmtes  altes  Buch 

scher  Prosa  zur  Stilbildung  und  Belehrung,  .Lycee  ou  cours  de  litterature",  Paris  1818, 

ebenda  1903;  H.  Vockeradt,  Das  Studium  bildet  noch  heut  eine  unerschöpfliche  Fund- 

des  deutschen  Stils  an  stilistischen  Muster-  grübe  für  stilistische  Einzelbeobachtungen, 

stücken,  Paderborn  1899.    Noch  eingehender  | 


150  Stilistik. 

feilen,  wieder  nachprüfen  und  nachfeilen.  Gerade  die  Besten  waren  darin 
am  sorgfältigsten.!) 

Hier  nun  ist  auch  der  Augenblick,  den  Rat  der  Poetiken  und  Dra- 
maturgien, Sprachlehren  und  Stilistiken  im  einzelnen  zu  befragen,  Eber- 
hards „Synonymik",  Sanders'  „Hauptschwierigkeiten  der  deutschen  Sprache", 
WusTAtANNS  „  Sprachdummheiten "  zu  befragen  —  auch  dies  ohne  sklavische 
Unterwürfigkeit,  erst  recht  aber  ohne  vorgefaßten  Eigenwillen.  Dann  habe 
man  den  Mut,  auch  das  zu  ändern,  was  uns  besonders  entzückt,  und  vor 
allem  —  zu  streichen,  worauf  wir  besonders  stolz  sind.  Ein  wohlwollend 
nüchterner  erster  Leser  oder  Hörer  kann  uns  diese  Arbeit  erleichtem;  wie 
viel  verdankt  selbst  Wielands  „Oberon"  Goethes  Vorschlägen  oder  gar 
Immermanns  „Tulifäntchen"  Heines  Besserungen! 

Zwei  Hauptpunkte  werden  bei  dieser  Nacharbeit  besonders  zu  be- 
achten sein:  die  Wiederholungen    und  die  Übergänge. 

Es  ist  kaum  zu  vermeiden,  daß  im  Lauf  einer  längeren  Arbeit  sich 
Wiederholungen  einstellen:  man  kommt  mehrmals  an  denselben  Punkt  der 
Betrachtung,  man  wird  öfters  an  denselben  Einwand  erinnert,  oder  noch 
gröber:  die  gleiche  Notiz,  dasselbe  Zitat  wird  mehrfach  verwandt.  Von 
absichtlichen  Wiederholungen  (vgl.  oben  §  44  f.)  sind  diese  lässigen  natür- 
lich sehr  verschieden,  und  es  bringt  keine  rhetorische  Wirkung  hervor,  wenn 
Zola  im  „Debäcle"  zweimal  wörtlich  gleichlautend  schildert,  wie  am  Hori- 
zont sich  die  Silhouette  eines  Ulanen  wie  ein  Zinnsoldat  abhebt  Solche 
Übereinstimmungen  sind  also  zu  tilgen  oder  durch  Variation  zu  ersetzen. 
So  auch  schon  im  kleinen  die  allzu  häufige  Anwendung  derselben  Worte 
oder  selbst  der  gleichen  Konstruktionen,  z.  B.  der  rhetorischen  Frage,  die 
Überiadung  mit  Bildern  u.  dgl.  m.-)  Dabei  treten  dann  die  allgemeinen 
Regeln  über  die  Grenzen  der  Synonymik  und  die  Prüfung  der  Gleich- 
wertigkeit verschiedener  Ausdrucksmittel  überhaupt  in  Kraft. 

Die  Übergänge,  d.  h.  die  Verbindungen  gedanklicher  Abschnitte  sind 
natürlich  am  besten,  wenn  sie  sich  ungezw'ungen  aus  der  Entwicklung  des  Ge- 
dankens selbst  ergeben  (vgl.  Albalat  ebenda  S.  118).  Doch  ist  diese  nicht 
immer  unmittelbar  zum  Ausdruck  zu  bringen;  auch  werden  Auslassungen, 
Einschübe,  Versetzungen  nötig,  die  den  Zusammenhang  zweier  benachbarter 
Stücke  auflösen.  Dieser  ist  dann  mit  irgend  einer  nicht  allzu  auffallenden 
Brücke  herzustellen  und  die  kunstlose  Eselsbrücke  eines  gar  zu  bequemen 
„Auch"  und  „Andrerseits"  ist  tunlichst  zu  vermeiden.  Übrigens  soll  wieder  der 
Kritiker  nicht  vergessen,  daß  diese  Übergänge  schließlich  nur  eine  symbolische 
Bedeutung  haben:  es  genügt,  wenn  sie  den  Leser  ohne  zu  große  Erschütterung 
fortleiten.    „Alles  ist  nur  ein  Übergang",  sagt  eine  alte  Brückeninschrift 

')   Für  Frankreich  wird  dies  durch  die  Abel,  Le  labeur  de  la  prose,  Paris  1902,  ein- 
lehrreichen Bücher  von  Albalat,  Le  travail  gehend  bewiesen. 

du  style  enseigne  par  les  corrections  manu-  ')  \'gl.  Albalat,  Art  d'ecrire  S.  106,  mit 

scrites  des  grands  eciivains,  Paris  1903,  und  guten  Beispielen. 


Zwölftes  Kapitel.    Innere  Hilfen.  151 

Wichtiger  ist  es,  die  innere  Verkettung  der  einzelnen  Abschnitte 
anschaulich  zu  machen.  Dem  dienen  jene  Mittel,  die  Goethe  als  „Ver- 
zahnungen" bezeichnete:  Vor-  und  Rückverweisungen  an  geeignetem  Ort, 
doch  mit  Maß  zu  verwenden  (vgl.  oben  §  146);  geschickte  Vorbereitung 
wichtiger  Momente;  Auflösung  zurückgeschobener  Bedenken,  Ausführung 
früherer  Andeutungen.  Für  die  Erzählungstechnik  gilt  noch  insbesondere 
die  Regel,  daß  ein  deus  ex  machina  so  wenig  wie  im  Drama  erlaubt  ist: 
jede  Figur,  die  lediglich  zu  einem  besonderen  Zweck  eingeführt  wird,  er- 
scheint als  kunstloser  Behelf.  Deshalb  bringt  Goethe  in  den  „Wahl- 
verwandtschaften" Mittler  lange,  eh  er  ihn  braucht,  auf  die  Bühne.  Ebenso- 
wenig läßt  er  ihn  dann  gleich  verschwinden.  Moderne  Erzähler  sind  gerade 
hierin  oft  sehr  sorglos. 

Endlich  stellen  sich  leicht  überall  kleine  innere  Widersprüche  ein, 
aus  dem  Einfluß  verschiedener  Momente  entstanden;  sie  sind  natürlich  zu 
beseitigen.!)  So  schildert  Auerbach  in  seinem  Roman  „Spinoza"  denselben 
Rabbi  Isaak  Aboab  zweimal.  Einmal  (Kap.  4)  heißt  es:  „Es  war  ein  schmäch- 
tiges blatternarbiges  Männchen  mit  hoher  Stirne  und  weit  herausliegenden 
grauen  Augen;  ein  roter  Bart  umgab  Wangen  und  Kinn";  bald  darauf  aber 
(Kap.  8):  „Es  war  ein  Mann  in  den  sogenannten  besten  Jahren,  von  hoher 
und  umfangreicher  Gestalt.  Das  viele  Fasten  hatte  ihm  wenig  zugesetzt, 
denn  er  sah  wohlgenährt  aus;  das  runde  Gesicht  mit  den  vollen  roten 
Wangen  und  dem  schwarzen  bis  auf  die  Brust  herabfallenden  Bart  war 
schön  zu  nennen"  .  .  .  Daß  der  Leser  über  solche  Dinge  wegliest,  wie  über 
die  berühmten  Widersprüche  im  „Don  Carlos"  (der  Brief!),  ist  keine  Ent- 
schuldigung für  den  Dichter;  im  Gegenteil! 

§  168.  Abschluß.  Schließlich  muß  doch  auch  diese  Nacharbeit  ab- 
geschlossen werden;  nicht  eher  freilich,  eh  wir  nicht  selbst  fühlen,  das  Werk 
sei  reif  zum  Abschluß.  Aber  wie  es  Maler  gibt,  denen  man  in  einem 
bestimmten  Stadium  der  Arbeit  das  Bild  von  der  Staffelei  nehmen  muß, 
damit  sie  es  nicht  durch  zu  viel  Überarbeiten  verderben,  so  gibt  es  auch 
bei  Büchern  eine  Grenze  des  Feilens.  Von  Jakob  Bernays',  des  be- 
rühmten Philologen,  Aufsätzen  hat  Gomperz  gesagt,  sie  wären  vollkommen, 
wenn  nicht  jeder  Satz  darin  es  sein  wollte;  und  an  Matthew  Arnold,  dem 
feinen  englischen  Kritiker,  tadelt  Hunt  (Studies  in  Literature  and  Style, 
S.  224)  die  „Übervollendung"  (pver  finlsh),  bei  der  das  Zurichten  und 
Zuspitzen  Selbstzweck  wird. 

Es  gibt  Autoren,  für  die  das  fertige  Werk  ein  für  allemal  erledigt  ist, 
und  solche,  die  es  immer  wieder  umwandeln,  wie  Herder  und  Wieland. 
Jedenfalls  wird  man  gut  daran  tun,  mit  der  Möglichkeit  einer  späteren  Um- 
gestaltung nicht  zu  rechnen,  sondern  das  Buch  sofort  nach  Kräften  „end- 
gültig" zu  formen.    „Die  Freude  an  vollendender  Arbeit",  die  der  berühmte 

')   Beispiele   bei   Kraus  und  Jellinek,   I   für  österreichische  Gymnasien  1893  S.  673  f., 
Widersprüche  in  Kunstdichtimgen,  Zeitschrift  !   vgl.  Euphorion  4,  691  f. 


1 52  Stilistik. 


Romanist  Tobler  z.  B.  seinem  Fachgenossen  Karl  Bartsch  abgesprochen 
hat,  ist  von  wesentlicher  Bedeutung.  Ein  halber  Abschied  verstimmt;  der 
Leser  fragt  sich  mit  Recht,  warum  denn  nicht  noch  bis  zum  wirklichen 
Fertigwerden  gewartet  wurde,  und  nimmt  nur  sehr  triftige  Gründe  (die  es 
ja  geben  kann)  als  Entschuldigungen  an. 

Ist  dann  das  Kind  aus  dem  Hause,  und  die  letzte  Arbeit  auch  beim 
Druck  noch  getan,  so  wird  man  fühlen,  wie  viel  Besseres  man  hätte 
schaffen  wollen,  vielleicht  auch  können.  Man  habe  die  Kraft,  von  diesem 
Augenblick  an  auch  von  den  eignen  Mängeln  zu  lernen,  indem  man  nicht 
bei  der  Stimmung  des  „Autorenkaters"  sich  beruhigt,  sondern  Fehler  und 
Fehlerquellen  zu  ergründen  sucht;  dazu  ist  dies  vielleicht  der  geeignetste 
Augenblick  in  unserem  Leben. 

Dreizehntes  Kapitel. 
Arten  der  Prosa. 

§  169.  Recht  der  Einteilung.  Die  Beurteilung  eines  Kunstwerks  und  so 
auch  die  Selbstkritik  nach  der  Vollendung  kann  nicht  allein  nach  allgemeinen 
Gesichtspunkten  vollzogen  werden,  sondern  das  einzelne  Werk  muß  auch 
noch  spezieller  darauf  geprüft  werden,  wie  weit  es  den  Anforderungen  ge- 
nügt, die  seine  Gattung  und  seine  Entstehung  stellen.  Mit  den  ersteren 
haben  wir  uns  in  diesem,  mit  den  letzteren  im  nächsten  Kapitel  zu  be- 
fassen. 

Zwar  ist  es  überhaupt  bestritten  worden,  daß  es  „Gattungen"  gebe. 
Man  hat  darzutun  versucht,  daß  keine  Einteilung  der  Menge  individueller- 
Gestaltungen  genüge,  und  man  kann  beweisen,  daß  besonders  in  literarisch 
revolutionären  Epochen  eine  Vermischung  der  hergebrachten  Gattungen 
sogar  bewußt  erstrebt  worden  ist.  Beides  ist  richtig;  und  beides  ändert 
nichts  an  der  Tatsache,  daß  die  ungeheure  Mehrzahl  der  literarischen  Pro- 
dukte sich  in  die  überiieferten  Gattungen  leicht  und  zweckmäßig  einordnen 
läßt  und  daß  gerade  die  Meisterwerke  über  ihre  Zugehörigkeit  zu  Epos, 
Lyrik  oder  Drama  keinen  Zweifel  lassen.  Der  periodische  Ansturm  gegen 
die  praktische  Einteilung  der  Alten  wird  deshalb  vermutlich  immer  wieder 
abgeschlagen  werden,  gerade  wie  die  oft  geistreich  begründete  Ablehnung 
der  zweckmäßigen  historischen  Unterscheidung  von  Altertum,  Mittelalter  und 
Neuzeit. 

§  170.  Einteilung  der  Prosa.  Allerdings  ist  aber  zuzugeben,  daß  dies 
vorzugsweise  nur  für  die  Einteilung  der  Poesie  gilt.  Für  die  Prosa  be- 
steht eine  einheitliche  Gliederung  nur,  soweit  es  sich  um  die  Scheidung 
von  „wissenschaftlicher"  und  „schönwissenschaftlicher"  Prosa  handelt,  wozu 
als  eine  Art  Nebenform  noch  die  mündliche  Rede  kommt.  Die  weitere 
Einteilung  ist  aber  freilich  fast  ganz  dem  Belieben  des  einzelnen  übedassen. 
Bernhard]  (Sprachlehre  2,  186  f.)  unterscheidet  philosophische  (S.  188  f.), 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  153 

historische  (S.  223)  und  rhetorische  (S.  225)  als  Gattungen  der  reinen  Prosa 
und  daneben  (S.  237)  die  haibpoetische  Form  des  Romans.  K.  F.  Becker 
(S.  426  f.)  teilt  ein:  I.  Verstandesstil  (S.  444):  A.  Berichtender  Stil  (S.  444): 
a)  Geschäfts-  oder  Kanzleistil,  b)  erzählender,  c)  historischer  Stil;  B.  Di- 
daktischer Stil  (S.  469):  a)  Lehrstil,  b)  abhandelnder  Stil.  II.  Gemütsstil 
(S.  483):  A.  Rührender  Stil  (S.  483):  pathetischer  Stil;  B.  Rednerstil  (S.  497): 
a)  Rednerstil,  b)  Briefstil.  Man  sieht,  wie  diese  Gliederung  inhaltliche  und 
psychologische  Einteilungsmomente  vermischt.  —  Wackernagel  (S.  237) 
gliedert  in  erzählende  (S.  240)  und  lehrende  (S.  264)  Prosa,  eine  Verein- 
fachung der  älteren  Einteilung,  bei  der  die  Rede  (als  Gegenstand  der  Rhe- 
torik) einfach  unter  die  Didaktik  subsumiert  wird.  —  Vischer  hat  gar  keine 
feste  Einteilung  der  Prosa,  die  er  überhaupt  nur  als  Nebenform  behandelt. 
—  Von  fremden  Stilistikern  nenne  ich  nur  Hunt  (Studies  in  Literature  and 
Style),  der  oberhalb  der  Scheidung  von  Poesie  und  Prosa  scheidet:  den 
intellektuellen  (S.  26),  literarischen  (S.  46),  leidenschaftlichen  (S.  70),  volks- 
tümlichen (S.  92),  kritischen  (S.  117),  poetischen  (S.  148),  satirischen  (S.  174), 
humoristischen  (S.  193)  Stil,  also  wieder  mit  Mischung  von  Zweck-  und 
Temperamentsmomenten  fast  für  jede  irgendwo  angenommene  „Gattung" 
einen  besonderen  Stil  konstruiert.  Auch  dies  ist  nicht  ohne  Wert,  denn 
jegliche  Eigenart  sei  es  inhaltlicher,  sei  es  psychologischer  Art  bringt  For- 
derungen an  den  Stil  mit  sich.  Deshalb  kann  jeder  Versuch,  festzustellen, 
was  sich  etwa  aus  dem  Wesen  des  Humors  ergibt,  dankbar  benutzt  werden ; 
und  besonders  Jean  Paul  und  Vischer  haben  für  solche  Feststellungen 
Großes  geleistet.  Eine  übersichtliche  Einteilung  läßt  sich  aber  auf  diesem 
Wege  nicht  gewinnen  und  keine  von  den  mitgeteilten  scheint  uns  einwand- 
frei; und  ebensowenig  manche,  die  wir  hier  nicht  erwähnen. 

Erinnern  wir  uns  nun  aber,  daß  wir  die  Stilistik  überhaupt  als  ver- 
gleichende Satzlehre  auffaßten,  so  ergibt  sich,  daß  wir  auf  die  Arten  des 
Satzes  (Kap.  VIII)  zurückgehen  müssen.    Dort  unterschieden  wir: 

a)  rein  monologische  Sätze:  Ausrufe, 

b)  Übersetzung  aus  der  Reflexionsbewegung  in  die  Mitteilung: 
Aussage. 

c)  von  vornherein  beabsichtigte  Mitteilung  und  zwar 

1.  Aufforderung  zu  einer  Aussage:  Frage, 

2.  Aufforderung  zu  einer  Handlung:  Heischesatz. 

In  dieser  primitiven,  syntaktisch  erhärteten  Gliederung  finden  wir  die 
Arten  der  Prosa  präformiert.  Auch  das  größte  Stück  menschlicher  Rede, 
auch  das  umfangreichste  Buch  ist  schließlich,  wenn  es  nur  einheitlich  ist, 
nichts  anderes  als  ein  unendlich  ausgedehnter  Satz.  Auch  der  ausgedehn- 
teste Satz  trägt  die  Eigenart  eines  der  kürzesten  Sätze  an  sich;  nur  natür- 
lich selten  in  chemischer  Reinheit,  meist  mit  Beimischungen,  die  ja  schon 
in  einem  kurzen  zusammengesetzten  Satz  (z.  B.  durch  eine  Parenthese  in 
Frageform)  möglich  sind. 


254  Stilistik. 


Danach  teilen  wir  ein: 

a)  rein  monologische  Prosa:  Meditation: 

a)  einfache  Betrachtung:  Sentenz  und  Sprichwort,  Aphorismus, 
ß)  in  Zusammensetzung:  Tagebuch, 

b)  Übersetzung  in  die  Mitteilung  (Aussage):  Erzählung: 

1.  ohne  Betonung  des  Mitteilungscharakters: 

a)  einfache    Erzählung:    Anekdote,   Schwank,   Rätsel,  Märchen, 

Novelle, 
ß)  in  Zusammensetzung:  Roman,  wissenschaftliche  Darstellung, 

2.  mit  Betonung  des  Mitteilungscharakters: 
a)  einfacher  Bericht:  Meldung,  Inschrift, 

ß)  in  Zusammensetzung:  Brief,  Zeichnung, 

c)  von  vornherein  beabsichtigte  Mitteilung: 

1.  Aufforderung  zu  einer  Aussage,  Frage:  Untersuchung, 

2.  Aufforderung  zu  einer  Handlung,  Heischesatz:  Rede. 

Unsere  Haupteinteilung  ist  also  in  Meditation  —  Erzählung  — 
Untersuchung  —  Rede.  Wir  erhalten  damit  erstens  Raum  für  eine  zumeist 
übersehene  Gattung,  die  aber  bei  der  steigenden  Bedeutung  des  Apho- 
rismus nicht  länger  übersehen  werden  darf;  zweitens  eine  einfache  Gliede- 
rung aus  syntaktischen  Gesichtspunkten,  die  also  jede  Beimischung  von 
psychologischen  Momenten  („humoristisch",  „satirisch"  u.dgl.)  oder  Begleit- 
umständen („volkstümlich"  u.  dgl.)  ausschließt;  drittens  ein  bequemes  Gitter- 
werk zur  weiteren  Aufteilung  der  Unterarten  auch  wieder  nach  syntaktischen 
Gesichtspunkten. 

Denn  für  die  Untereinteilung  schließen  wir  uns  wiederum  der 
syntaktischen  Ordnung  an.  Sie  unterscheidet  einfache  und  zusammen- 
gesetzte Sätze;  und  dem  entsprechend  scheiden  wir  solche  Äußerungs- 
formen, bei  denen  ein  einfacher  Eindruck  die  sprachliche  Reflexbewegung 
auslöst,  und  solche,  bei  denen  er  bereits  auf  dem  Hintergrund  anderer 
Eindrücke  aufgenommen  und  mit  ihnen  konstruiert  wird.  Doch  gilt  dies 
eben  nur  da,  wo  die  Äußerung  wirklich  noch  ganz  oder  teilweise  eine 
Reflexbewegung  ist;  wo  dagegen  von  vornherein  eine  bestimmte  Mitteilung 
beabsichtigt  wird,  hat  sie  auch  einen  einheitlichen  Kern. 

Nur  also  für  Meditation  und  Erzählung  scheiden  wir  die  Formen,  in 
denen  ein  einzelner  erregender  Eindruck  sich  Geltung  verschafft  —  Apho- 
rismus, Erzählung  im  engeren  Sinn,  einfacher  Bericht  —  und  solche,  bei 
denen  es  von  vornherein  als  Glied  einer  größeren  Kette  apperzipiert  wird 
—  Tagebuch,  Roman  und  Darstellung,  Brief. 

Nur  für  die  Übergangsform  zwischen  Monolog  und  Anrede  kommt 
noch  hinzu  eine  Unterscheidung  danach,  ob  mehr  der  monologische  Cha- 
rakter, oder  mehr  der  der  Anrede  hervortritt. 

Unsere  systematische  Anordnung  ist  natüriich  weit  davon  entfernt, 
eine  chronologische  sein  zu  wollen.    Fast  müßte  man  sie  zu  dieser  um- 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  155 


kehren.  Denn  es  ist  ja  natürlich,  daß  die  bewußten,  absichtlichen  Formen 
sich  zuerst  kunstmäßig  gestalten;  und  insbesondere  dürfte  die  Rede  um 
eines  praktischen  Zweckes  willen  die  älteste  Form  der  Kunstprosa  über- 
haupt sein.  Als  solche  finden  wir  sie  ja  auch  bei  den  verschiedensten 
„wilden  Völkern"  schon  entwickelt.  An  Alter  zunächst  wird  wohl  die  Er- 
zählung folgen,  die  als  Märchen,  Anekdote,  Novelle  ja  ebenfalls  eine  von 
aller  Ethnologie  bezeugte  Urgattung  ist,  aber  mit  weniger  entwickelter 
Technik.  Früh  setzt  auch  die  Untersuchung  schon  ein;  philosophische 
und  religiöse  Prosa  stellt  sich  auf  frühen  Kulturstufen  ein.  Ganz  spät 
aber  wird  auch  die  monologische  Rede  kunstmäßig  ausgebildet  und  von 
der  poetisch  geformten  Urgattung  des  Gebetes,  Segens,  Fluchs  löst  sich  fast 
erst  vor  unsern  Augen  die  kunstmäßig  geformte  Meditation,  deren  Vorstufe 
in  Sprichwort  und  Sentenz  freilich  uralt  ist. 

Über  die  Beziehungen  dieser  Prosagattungen  werden  wir  noch  weiteres 
anzumerken  haben. 

§  171.  Monologische  Prosa.  Die  ursprünglichste  und  einfachste  Form 
der  Rede  wird  wohl  die  sein,  die  der  Mensch  mit  den  Tieren  teilt:  un- 
willkürliche Begleitung  unwillkürlicher  Reflexbewegungen  durch  Laute. 
Etwas  anderes  ist  der  Zuruf  nicht,  nur  daß  die  Laute  sich  zu  bestimmten 
Worten  verdeutlichen.  Hier  liegt  nun  die  Wurzel  zu  der  gesamten  lyrischen 
Poesie,  zum  Fest-  und  Trauerlied,  Liebes-  und  Spottlied,  Stimmungs-  und 
Reflexionsdichtung  lyrischer  Natur.  Wo  aber  die  Entwicklung  nicht  zu 
dieser  festen  Formung  unter  dem  Einfluß  von  Rhythmus  und  Musik  führt, 
bleibt  der  erregte  Ausdruck  einer  momentanen  Empfindung  lange,  lange 
auf  seinen  Moment  beschränkt:  die  Erregung  hat  sich  in  einem  —  kürzeren 
oder  längeren  —  Ausruf  ausgelöst  und  damit  ist  die  Sache  abgetan.  Hier- 
auf beruht  es  denn  auch,  daß  die  wichtigsten  Ausdrucksmittel  der  Erregung, 
die  Interjektionen,  eine  (freilich  nur  relative!)  „Geschichtslosigkeit"  zeigen: 
sie  sind  von  dem  allgemeinen  Gang  der  sprachlichen  Entwicklung  bei- 
nah unabhängig,  weil  sie  fortwährend  neu  erzeugt  werden.  Deshalb 
isoliert  schon  ihre  lautliche  Einfachheit  diese  o!  und  ah!  von  den  kom- 
plizierten Gebilden,  die  kultivierte  Sprachen  sonst  aufweisen. 

§  172.  Aphorismus.  Allmählich  entstehen  nun  aber  'Gelegenheiten, 
auch  hier  (um  einen  Lieblingsausdruck  Goethes  zu  verwenden)  „dem 
Moment  Dauer  zu  verleihen". 

Die  erste  ist  die,  daß  ganze  Reihen  analoger  Einzelbeobachtungen  in 
einen  Ausspruch  konzentriert  werden.  So  entsteht  die  Sentenz  (vgl.  oben 
§  158),  die  bei  volkstümlicher  Adoption  zum  Sprichwort  (s.  oben  §  153) 
wird.  Wie  wir  aber  sehen,  hat  diese  Form  keine  selbständige  Bedeutung:  sie 
ist  zur  Einfassung  in  fortlaufender  Rede  bestimmt.  Dadurch  scheidet  sich  das 
Sprichwort  von  dem  Aphorismus,  der  allein  stehen  oder  seinerseits  den  Kern 
bilden  soll,  an  den  eine  eingehende  Betrachtung  ankristallisieren  mag,  wie 
an   eine  herausgehobene  biblische   Perikope.     Entscheidend   ist  aber  vor 


156  Stilistik. 


allem  ein  anderes:  die  Sentenz,  aus  der  das  Sprichwort  erwächst,  gibt  sich 
nicht  als  persönlicher  Erwerb,  sondern  gerade  im  Gegenteil  als  ein  Stück 
Gemeinbesitz.  Oder  mindestens  wird  die  im  Zusammenhang  vielleicht 
subjektiver  gefärbte  Sentenz  so  lange  von  vielen  Händen  umgeformt,  bis 
sie  einen  objektiven  Charakter  erhalten  hat. 

Daraus  folgt  der  Charakter  des  Sprichworts.  Es  muß  knapp  formu- 
liert sein,  damit  es  bequem  zitiert  werden  kann.  Es  muß  gemeinverständ- 
lich sein,  damit  es  auch  von  Minderbegabten  leicht  aufgefaßt  werden  kann. 
Es  muß  im  Ausdruck  etwas  Auffallendes  haben,  eine  scharfe  Silhouette, 
damit  es  bemerkt  wird  und  sich  einprägt.  (Über  die  Anwendung  des 
Sprichworts  vgl.  wiederum  oben  §  153.) 

Das  Sprichwort  hat  daher  sehr  oft  bei  weit  voneinander  abstehenden 
Völkern  eine  bis  ins  einzelne  übereinstimmende  Form.')  Die  Sphäre  unserer 
Erfahrungen  ist  eben  eingeengt,  sobald  von  spezialisierenden  Nuancen  ab- 
gesehen werden  muß. 

Weil  das  Sprichwort  knapp  sein  muß,  besteht  es  meist  aus  einem 
einfachen  Satz  oder  doch  den  einfachsten  Arten  des  zusammengesetzten. 
Weil  es  gemeinverständlich  sein  soll,  operiert  es  gern  mit  anschaulichen 
Metaphern: 2)  „Wenn  Gott  nicht  will,  hat  der  Heilige  keine  Hände." 
„Gebrannt  Kind  scheut  das  Feuer."  Weil  es  auffallend  wirken  soll,  muß 
es  allerlei  Hilfen  gebrauchen:  den  Reim  {„Einmal  ist  keinmal"),  die  Anti- 
these {„Junge  Dirne,  alte  Betsdizcester"),  Verbindung  mehrerer  solcher  Mittel 
{„Wie  du  mir,  so  ich  dir")  oder,  am  liebsten,  eine  überraschende  Wahl  des 
Bildes  in  der  Metapher:  „Von  kleinen  Fischen  werden  die  Hechte  groß." 

Mit  diesen  Bedingungen  bildet  das  Sprichwort  die  eine  Vorschule  des 
Aphorismus. 

Die  zweite  ist  das  Zitat  (vgl.  oben  §  154).  An  ihm  wird  die  Selbständig- 
keit eines  einzelnen  Ausspruchs  gelernt,  der  zwar  auch  auf  Gemeingültigkeit 
Anspruch  macht,  aber  (im  Gegensatz  zum  Sprichwort)  als  subjektiver  Erwerb 
gefühlt  wird.  Zu  allgemeinerer  Verwendung  kommt  das  Zitat  in  doppelter  Art: 
in  mythologisch-rituellem  und  in  juristisch-feierlichem  Gewand.  Der  angeblich 
wirksame  Ausspruch  eines  Gottes  wird  zitiert,  indem  durch  eine  epische 
Einleitung  die  Gelegenheit,  ihn  selbst  sprechen  zu  lassen,  geschaffen  wird; 
so  in  der  ganzen  Welt  und  also  auch  in  altgermanischer  Poesie,  wie  bei 
dem  zweiten  Merseburger  Segen.  Oder  eine  glückliche  Formulierung  wird 
vor  dem  Thing,  der  Volksgemeinde,  wiederhoh.  Allmählich  geht  freilich 
beidemal  der  Charakter  des  Zitats  verloren:  dort  entsteht  eine  Zauberformel, 
hier  ein  Rechtssprichwort. »)    Aber  die  Gelegenheit  erneuert  sich  fortwährend, 

')  Vgl.  Wander,  Deutsches  Sprichwörter-  als  Kosmopolit,  1863. 
lexikon,  5  Bände,  1862—80,  und  besonders  =1  Eine  hübsche  Sammlung  ,  Altdeutscher 
O.  V.  Reinsberg,  Internationale  Titulaturen,  Witz  und  Verstand*.  Bielefeld  u.  Leipzig  1877. 
1863,  iDA  V.  Reinsberg-DOringsfeld,  Sprich-  ')  Graf  und  Dietherr,  Deutsche  Rechts- 
wörter der  germanischen  und  romanischen  Sprichwörter,  Nördlingen  (München),  C.  H. 
Sprachen,  1872,  dieselbe,  Das  Sprichwort  Beck,  1862. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  157 

und  dauert  in  den  Bibelzitaten  der  Theologen,  den  Belegstellen  der  Philo- 
logen und  Juristen  fort. 

Immer  haben  wir  hier  noch  aus  dem  Zusammenhang  gerissene  Sprüche; 
und  immer  die  Betonung  der  Gemeingültigkeit.  Eine  stärkere  Ausprägung 
des  subjektiven  Elements  geben  aber  die  sogenannten  „Apophthegmata" , 
überraschende,  witzige  oder  tiefsinnige  Aussprüche  berühmter  Personen, 
früh  gesammelt  und  aus  dem  .'Altertum  durch  Schulbücher  und  Anwendungen 
überHefert;  typisch  sind  die  dem  Diogenes  zugeschriebenen  {„Geh  mir 
nur  aus  der  Sonne !•").  Daß  auch  solche  Apophthegmata  zu  Sprichwörtern 
abgeschliffen  werden,  zeigen  die  sogenannten  Sprüche  der  sieben  Weisen: 
„Man  soll  den  Tag  nicht  vor  dem  Abend  loben!'' 

Das  Zitat  und  seine  spezifische  Gestaltung  als  „Apophthegma" 
bildet  die  zweite  Vorschule  des  Aphorismus.  Dieses  entsteht  aber  erst 
sehr  spät.  Wie  und  wann,  haben  wir  hier  nicht  weiter  zu  behandeln; 
überhaupt  war  diese  Skizze  einer  Vorgeschichte  der  von  Literaturgeschichte, 
Kritik  und  Stilistik  meist  stiefmüttedich  behandelten  Gattung  nur  nötig,  um 
die  Eigenart  des  Aphorismus  historisch  zu  eriäutern. 

Der  Aphorismus  trat  als  voll  entwickelte  Gattung  in  die  Weltliteratur 
erst  mit  den  großen  Franzosen  im  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  ein.  Am  stärksten 
haben  die  „Maximes'"  des  La  Rochefoucauld  form  gebend  gewirkt;  da- 
neben die  „Pensees"  Pascals;  La  Bruyeres  glänzende  „Characteres" 
vollzogen  dagegen  noch  nicht  die  völlige  Lostrennung  des  einzelnen  Aus- 
spruchs von  seiner  gedanklichen  Umgebung.  Der  einst  einflußreiche  spa- 
nische Jesuit  Baltasar  Gracian  (1590 — 1658)  hat  auf  den  deutschen 
Aphorismus  nur  auf  dem  Umweg  über  seinen  Bewunderer  und  Übersetzer 
Schopenhauer  gewirkt. 

Der  Aphorismus  ist  bei  La  Rochefoucauld  (und  ähnlich  auch  bei 
Gracian)  ein  Text,  über  den  sich  geistreiche  Leute  unterhalten  sollen, 
eine  Anregung  zum  Nachdenken.  Er  ist  bei  Pascal,  der  ein  Einsamer 
war,  mehr  ein  Te.xt,  über  den  dieser  tiefsinnige  Mann  sich  mit  sich  selbst 
unterhalten  hat,  eine  Quintessenz  seines  Nachdenkens.  Diese  beiden  Typen 
dauern  fort:  der  aufregende  und  der  abschließende  Aphorismus;  doch  ist 
der  erste  nicht  nur  viel  verbreiteter,  sondern  gewiß  auch  als  dem  Wesen 
der  Art  mehr  entsprechend  anzusehen. 

Wir  finden  daher  im  Aphorismus  den  ursprünglichen  Charak-ter  von 
Sentenz  und  Sprichwort  wesentlich  verändert  wieder. 

Die  Formulierung  braucht  nicht  die  schlagende  Knappheit  jener  Gattun- 
gen zu  haben;  nur  muß  der  Aphorismus  seinen  Kern  deutlich  genug  heraus- 
heben, daß  über  diesen  und  nicht  über  Nebenpunkte  (laut  oder  leisel  disputiert 
werden  kann.  Manche  Aphorismen  z.  B.  von  Pascal  oder  Nietzsche  haben 
den  Umfang  kleiner  Essais;  aber  ihr  Kern  scheint  durch.  Am  wirksamsten  wird 
aber  auch  hier  die  Knappheit  sein,  mit  der  z.  B.  Fontane  seine  Sentenzen 
zu  Aphorismen  prägt:  ^Geschwister  kennen  sich  eigentlich  überhaupt  nicht.'' 


1 58  Stilistik. 


Die  Gemeinverständlichkeit  ist  hier  eine  exklusive,  d.  h.  sie  gih  nur 
für  einen  bestimmten,  meist  hochgebildeten  Kreis;  und  sie  braucht  nicht 
unmittelbar  zutage  zu  liegen,  weil  diese  Hörer  gern  zu  einer  Gedanken- 
übung schon  vor  dem  eigentlichen  Turnier  aufgefordert  werden. 

Die  Prägnanz  des  Ausdrucks  ist  unentbehrlich,  weil  sie  den  Stempel 
der  individuellen  Anschauung  gibt  und  weil  sie  herausfordernd  wirken 
soll.  Der  Aphorismus  ist  daher  gern  paradox  und  Banalität  ist  sein  un- 
verzeihlicher Fehler. 

Die  hübscheste  Charakteristik  der  Gattung  gibt  P.  N.  Coss.mann. 
Beispiel:  „Ein  Aphorismus  ist  ein  kleines  Haus  mit  weitem  Fernblick". 

Den  äußern  Abschluß,  durch  den  der  Aphorismus  in  seiner  Selbst- 
herriichkeit  von  der  Sentenz  —  die  immer  für  die  Anwendung  bestimmt 
bleibt  —  und  vom  Zitat  —  das  immer  mit  dem  übrigen  Text  verbunden 
bleibt  —  abgehoben  wird,  gibt  die  Überschrift.  Durch  geistreich  ge- 
wählte Überschriften,  die  nicht  den  Inhalt  summieren,  sondern  die  durch 
ihn  erregten  Gedanken  und  Stimmungen  anklingen  lassen,  hat  (unter  dem 
Einfluß  des  Schopenhauerischen  Gracian)  besonders  Nietzsche  dieser 
jungen  Gattung  ihr  endgültiges  Sonderrecht  gesichert. 

Scylla  und  Charybdis  des  Redners.  —  Wie  schwer  war  es  in  Athen,  so  zu 
sprechen,  daß  man  die  Zuhörer  für  die  Sache  gewann,  ohne  sie  durch  die  Form  ab- 
zustoßen oder  von  der  Sache  mit  ihr  abzuziehen!  Wie  schwer  ist  es  noch  in  Frankreich, 
so  zu  schreiben!    (Nietzsche,  Morgenröte  Nr.  268.) 

Übrigens  ist  nicht  jeder  „Gedankensplitter",  der  eine  befremdende 
Meinung  ausspricht,  ein  Kunstwerk,  das  zum  geistigen  Weiterformen  an- 
regt. Unsern  Dichtem  gelingt  meist  die  volkstümliche  Form  der  gereimten 
Gnoiue  (bei  Goethe,  Geibel,  Heyse  und  zahllosen  andern)  besser  als 
die  des  prosaischen  Aphorismus. 

^  173.  Essay.  Ein  Aphorismus  in  größerem  Maßstab  ist  der  Essay 
—  ebenfalls  eine  Gattung,  in  der  Franzosen  (Montaigne:  zuerst  1580) 
und  Engländer  (Macaulay,  der  Amerikaner  Emerson)  uns  übertreffen, 
und  in  der  wir  erst  neuerdings  einige  wenige  Meister  (H.  Grimm,  K.  Hille- 
brand,  O.  Gildemeister)  zählen. 

Der  Essay  ist  so  wenig  einfach  eine  kurze  Abhandlung  wie  die  Novelle 
einfach  ein  kurzer  Roman:  er  ist  im  Kern  von  ihr  verschieden  (vgl.  meine 
Deutsche  Literatur  des  19.  Jahrhunderts  S.  586  f.).  Mit  dem  Aphorismus  teilt 
er  immer  noch  den  sentenziösen  Charakter;  aber  wenn  dieser  wirklich  eine 
einzelne  „seritentia"  ist,  bildet  der  Essay  ein  abgerundetes  System  von 
Sätzen.  Von  seinem  Ursprung  her  hat  er  das  Monologische,  das  ihn  von 
der  viel  stärker  dem  Mitteilungsbedürfnis  angepassten  Abhandlung  unter- 
scheidet: auch  er  will  nur  anregen,  nicht  wirkliche  Anschauungen  oder 
Kenntnisse  fertig  mitteilen;  auch  er  will  ein  Kern  sein  mit  möglichst  wenig 
Schale.  Auch  er  neigt  deshalb  zur  Paradoxie,  zum  pointierten  Ausdruck, 
und  liebt  anderer  Paradoxien  und  Pointen  anzurufen  —  daher  die  Häufig- 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  159 

keit  des  Zitats  im  Essay  — .  Auch  er  hat,  wie  Aphorismus,  Tagebuch, 
Brief,  sein  Dilemma:  daß  er  nämlich  bei  künstlerischer  Abrundung  doch 
„unfertig"  sein  soll,  insofern  als  er  erst  in  dem  an  ihn  geknüpften  weiter- 
führenden Nachdenken  seinen  wahren  Abschluß  erreicht.  Er  muß  ge- 
dankenreich sein,  darf  aber  keinen  Gedanken  bis  in  die  letzten  Kon- 
sequenzen verfolgen.  Dafür  soll  er  eben  jeden  Gedanken,  der  sich  an  das 
angeschlagene  Thema  ungezwungen  anschließen  könnte,  vorgedacht  haben. 
Er  ist  die  Art  eines  Mannes,  der  um  ein  Kunstwerk  herumgeht,  es  von 
allen  Seiten  betrachtet,  und  diese  Eindrücke  mitteilt,  und  nun  die  andern 
Beschauer  zum  Sprechen  auffordert;  so  besonders  bei  H.  Grimm. 

Eine  stark  subjektive  Färbung  ist,  wie  bei  allen  monologischen  Gat- 
tungen, das  gute  Recht  des  Essays;  doch  soll  die  Individualität  nicht 
—  wie  öfter  bei  Macaulay,  immer  bei  Carlyle  —  so  herrisch  auftreten, 
daß  der  Zuhörer  gleichsam  eingeschüchtert  wird.  Wer  aber  nur  sagt,  was 
jeder  Beschauer  auch  sagen  könnte,  hat  keinen  Essay  gegeben. 

§  174.  Tagebuch.  Noch  weniger  als  der  einzelne  Ausspruch  gehört 
ursprünglich  das  Tagebuch  der  kunstmäßigen  Prosa  an.')  Auch  bleibt 
bei  dieser  Form  ein  eigentümliches  Dilemma:  ihr  eigentlicher  Reiz  besteht 
in  der  Unmittelbarkeit  des  Ausdrucks,  in  der  unlöslichen  Verbindung  ihrer 
einzelnen  Glieder  mit  unzähligen  kleinen  oder  großen  tatsächlichen  An- 
lässen, in  der  davon  abhängigen  Ungleichheit.  Alle  diese  Eigenschaften 
des  echten  Tagebuchs  sollen  sich  nun  aber  mit  durchgebildeter  Form,  mit 
einer  gewissen  Selbständigkeit  der  einzelnen  Notate,  mit  einer  gewissen 
Ausgeglichenheit  vertragen ! 

Das  „künstliche  Tagebuch",  d.  h.  das  fingierte,  von  dem  Dichter  seinen 
Figuren  diktierte,  wird  diese  Schwierigkeiten  selten  überwinden.  Auch 
Ottiliens  Tagebuch  in  den  „Wahlverwandtschaften"  ist  nur  eine  unglaub- 
hafte Erfindung,  um  schöne  Aphorismen  unterzubringen.  Im  wesenttichen 
liegt  das  Verdienst  des  „künstlichen  Tagebuchs"  nur  darin,  daß  es  als  ein 
unentbehrliches  Übergangsglied  zwischen  dem  wild  gewachsenen  unlitera- 
rischen und  dem  kunstvoll  gezogenen  literarischen  Tagebuch  diente. 

Das  „echte  Tagebuch"  in  dieser  jüngsten  Form  kann,  jene  inneren 
Widersprüche  nur  durch  die  Persönlichkeit  seines  Verfassers  überwinden. 
Eine  Natur,  die  starke  Unmittelbarkeit  des  Empfindens  mit  durchgebildeter 
Ausdrucksform  vereint,  wie  Hebbel;  eine  Persönlichkeit,  die  allen  inter- 
essanten Einzelheiten  des  Lebens  Bedeutung  abzugewinnen  versteht,  ohne 
eine  kräftige  Eigenart  zu  verleugnen,  wie  Edmond  de  Goncourt;  eine 
Individualität,  die  von  Stimmungen  abhängig  doch  eine  künstlerische  Ein- 
heit jederzeit  zu  behaupten  weiß,  wie  der  Genfer  Am iel  —  das  sind  Mög- 
lichkeiten literarisch  bedeutsamer  Tagebücher.  Andere  müssen  sich  mit 
kulturhistorischer  oder  historischer  Bedeutung  begnügen. 


')  Über  seine  Entwicklung  vgl.  meine  .Gestalten  und  Probleme'  S.  281  f. 


1 50  Stilistik. 


Die  Bedeutung  der  drei  oder  vier  großen  Kunstwerke  dieser  Gattung 
liegt  darin,  daß  sie  iiir  Wesen  rein  zum  Ausdruck  bringen:  den  mono- 
logischen Charakter  der  Meditation  in  der  innerlichen  Einsamkeit  und  Frei- 
heit der  Gedanken,  den  Hinblick  auf  größere  Zusammenhänge  in  der  Er- 
fassung des  Lebens  als  einer  künstlerischen  Einheit.  Man  wird  auf  neuere 
Meisterwerke  der  Gattung  schwerlich  hoffen  dürfen,  weil  die  berühmten 
Vorbilder  die  freie  Bildung  späterer  Tagebücher  verkümmern  lassen. 

§  175.  Erzählende  Prosa.  Die  Erzählung  gilt  mit  unbestreitbarem 
Recht  als  die  Hauptform  der  Kunstprosa. 

Die  einfache  Mitteilung  erhält  eine  kunstvolle  Ausprägung  auf  ver- 
schiedenem Wege: 

1.  durch  die  Tradition.  Sie  geht  von  Hand  zu  Hand;  das  Wirksame 
wird  betont,  das  Unwirksame  ausgeschieden;  Zeitgemäßes  aufgenommen, 
Veraltetes  beseitigt.  So  erhält  die  kunstlose  Nachricht  von  irgend  einem 
auffallenden  Abenteuer  die  Kunstform  der  Novelle  oder  des  Schwanks; 

2.  durch  die  Gelegenheit.  Es  gibt  bestimmte  Anlässe,  sich  im  guten 
Vortrag  zu  üben.  Um  die  Wette  zu  erzählen  ist  vielfach  im  Volke  üblich; 
oder  ein  hoher  Herr  und  Gönner  will  unterhalten  sein;  eine  unbehagUche 
Stimmung  ist  zu  überwinden.  So  wird  die  Anekdote  zugespitzt,  das  Mär- 
chen erhält  seine  eigene  Technik.') 

Hauptbedingungen  der  Wirksamkeit  bei  der  Erzählung  sind  zunächst  die 
beiden  Punkte,  die  schon  für  den  einfachen  Satz  entscheidend  sind:  Einheit- 
lichkeit und  Vollständigkeit.  Der  Aphorismus  und  die  Rede  dürfen  nicht 
ganz  „vollständig"  sein:  sie  müssen  eine  Auswahl  des  Wichtigsten  geben. 
Das  Tagebuch  und  die  Untersuchung  können  nicht  streng  „einheitlich" 
sein:  sie  müssen  mehrere  Punkte  unter  einem  ent^^ickelnden  Gesichtspunkt 
zusammenfassen.  Die  Erzählung  muß  vollständig  sein,  d.  h.  dem  Hörer 
keine  berechtigte  Frage  übrig  lassen;  sie  muß  einheitlich  sein,  d.  h.  durch 
ein  erregendes  Faktum  oder  Problem  bestimmt  werden.  Freilich  hängt  es 
von  den  Zeiten  ab,  welche  Fragen  noch  als  berechtigt  gelten.  Der  alte 
Roman,  besonders  der  der  Engländer,  mußte  mit  einer  vollständigen  Rechen- 
schaft über  die  späteren  Schicksale  aller  Figuren  enden;  uns  scheint  das 
kunstwidrig,  weil  eben  das  Problem,  um  dessenUvillen  allein  sie  da  sind, 
erschöpft  ist.  Ebenso  hängt  es  von  den  Epochen  ab,  wie  weit  ein  ein- 
heitliches Problem  bei  innerer  Zusammengesetztheit  anerkannt  wird.  „Wil- 
helm Meister"  führt  einen  t>^pischen  Jüngling  vom  Dilettantismus  zur  Ein- 
ordnung in  die  Gesellschaft:  was  für  komplizierte  Begriffe  sind  aber  „Dilet- 
tantismus" und  „Gesellschaft"! 

In  diesen  beiden  Hauptbedingungen  tritt  die  Erzählung  einfach  als 
typische  Kunstprosa  auf.  Sie  ist  aber  ferner  noch  speziell  Übermittlung 
einer  (wirklichen   oder  fingierten)   erregenden  Tatsache.     Daraus  er\\-ächst 


')  Unbrauchbar  J.  Wassermann,  Die  Kunst  der  Erzählung,  Berhn  1904. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  161 

ihr  eine  dritte  spezifische  Hauptpflicht:  die  der  Anschaulichkeit.  Zwar 
gilt  auch  diese  allgemein  (s.  oben  §  31);  aber  vor  allem  doch  hier,  wo  der 
Anblick,  die  Empfindung,  das  Erlebnis,  die  zum  Reden  zwangen,  reprodu- 
ziert werden  müssen. 

Neuerdings  hat  sich  zwar  gegen  die  besonders  seit  Vischer  stark 
betonte  Forderung  der  Anschaulichkeit  eine  Gegenbewegung  geregt.  In 
einer  ungemein  scharfsinnigen  und  tapfer  unabhängigen  Schrift  „Das 
Stilgesetz  der  Poesie"  hat  Theodor  A.  JVVeyer  den  Begriff  der  „An- 
schauung" einer  neuen  Prüfung  unterworfen  und  bestreitet,  daß  die  „an- 
schaulich" geschilderten  Kunstwerke  oder  Gestalten  der  Dichtung  vom  gei- 
stigen Auge  wirklich  gesehen,  wirklich  reproduziert  werden.  Er  setzt  des- 
halb die  Bedeutung  der  Anschauung  hinter  der  der  Nachempfindung  weit 
zurück.  Den  gleichen  Gegensatz  hat  eben  jetzt  auch  Fr.  Lienhard  („Ober- 
flächenkultur", Stuttgart  1904)  in  populärer  Weise  gegen  die  „Anschauungs- 
ästhetik" des  „Kunstwarts"  (der  bekannten  mit  glücklichem  Erfolg  für  die 
Rechte  der  Sinne  wirkenden  Zeitschrift)  geltend  gemacht. 

Wir  mögen  zugeben,  daß  jene  unmittelbare  Übersetzung  vom  Lesen  ins 
Sehen  (oder  Hören),  die  Rudolf  Hildebrand  erhoffte,  nur  ausnahmsweise  von 
selbst  produktiv  angelegten  Lesern  vollbracht  wird.  Ist  ja  doch  schon  die 
körperliche  Anschauungskraft  des  Durchschnittsmenschen  (zumal  des  ge- 
bildeten!) so  beschränkt!  Was  haben  wir  denn  gesehen,  wenn  wir  einen 
Baum,  ein  Gemälde,  eine  Gruppe  aufmerksam  betrachtet  haben?  Nur  der 
geistige  Ausdruck  einer  Physiognomie  pflegt  sich  dem  Beschauer  tief  ein- 
zuprägen. —  Aber  wir  müssen  deshalb  doch  bei  jener  Losung  beharren, 
die  der  junge  Goethe  ausgab:  „Gott  erhalt  unsere  Sinne!"  Denn  eben 
auch  die  Nachempfindung  wird  durch  kräftigere,  individueller  malende  Worte 
ganz  anders  angeregt.  Wenn  die  alte  Parabel  anfängt: 
Ein  Knabe  hatt',  wie  viele  Knaben, 
Die  Datteln  für  sein  Leben  gern  — 

so  ist  uns  dieser  Normalknabe  sofort  ein  gleichgültiger  Begriff.  Auch  Goethe 
in  dem  kleinen  (übrigens  keineswegs  besonders  gelungenen)  Gedicht  „Dilet- 
tant und  Kritiker"  erzählt  von  einem  Knaben,  der  „nach  Knabenart"  sich 
benimmt,  aber  er  schreibt  uns  zuerst  eine  anschauliche  Situation  vor: 

Es  hatt'  ein  Knab'  eine  Taube  zart. 
Gar  schön  von  Farben  und  bunt  — 
Ich  sehe  ein  bestimmtes  Kind   und  interessiere  mich  für  den  kleinen 
Taubenfreund.    Die  bloße  Anordnung  der  Sätze  genügt  hier,  um  Goethen 
die  Wirkung  erreichen  zu  lassen,  die  der  andere  Poet  verfehlt. 

Über  die  Mittel,  die  Phantasietätigkeit  anzuregen,  hat  H.  Viehoff  in 
seiner  Poetik  (Trier  1888)  S.  105  f.  vortrefflich  mit  reichlichen  Belegen  aus 
der  deutschen  Dichtung  gehandelt.»)  Ich  hebe  unter  den  von  Viehoff 
erörterten  Kunstmitteln  hervor: 

')  Für  die  englische  Bain,  Rhetoric  and  Composition  1,  263  f. 

'Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  I.  H 


162  Stilistik. 


1.  die  Benutzung  leicht  vorzustellender  Gegenstände:  „Um 
einen  schwer  vorzustellenden  Gegenstand  vor  das  innere  Auge  zu  rufen, 
bringe  der  Dichter  einen  damit  in  der  Vorstellung  räumlich  verknüpften, 
leicht  zu  erzeugenden  vor  die  Phantasie;  so  wird  sich  des  letztem  größere 
Klarheit  über  den    schwer   vorzustellenden  ausbreiten"    (a.  a.  O.   S.  112). 

So  bei  Goethe: 

Da  droben  auf  jenem  Berge, 

Da  steh'  ich  wohl  hundertmal. 

An  meinen  Stab  gebogen. 

Und  schau  hinab  ins  Tal: 
der  Stab  bildet  gleichsam  den  ersten  deutlichen  Streifen,  von  dem  aus  sich 
unsere  Vorstellung  orientiert. 

2.  Ortsangabe  und  Einrahmung  des  Bildes  (S.  115): 
Und  Pontonoos  stellt  ihm  den  silbergebuckelten  Sessel 

Mitten  im  Kreise  der  Gäste,  gelehnt  an  die  ragende  Säule 
und   besonders  haben  Türen  und  Tore    „eine  große  Kraft  zur  Aufstellung 
der  Menschengestalt": 

Wenn  er  doch  jetzt  ankam'  und  vorn  in  der  Pforte  des  Saales 
Stande  mit  Helm  und  Schild  und  zwo  erzblinkenden  Lanzen 

(Odyssee  1,  256). 

Wie  man  sieht,  steht  dies  Kunstmittel  dem  vorigen  nach.     Beide  werden 
in  den  typischen  „Natureingängen"  unserer  Volkslieder  gepflegt: 

Es  steht  eine  Lind  in  jenem  Tal, 

Ist  unten  breit  und  oben  schmal. 

Eng  hängt  damit  auch  zusammen 

3.  einfache  Umgebung  (S.  118)  „In  Goethes  „Geistesgruß": 

Hoch  auf  dem  alten  Turme  steht 

Des  Ritters  edler  Geist 
trägt  zur  Verdeutlichung  des  Heldenbildes  für  das  geistige  Auge  der  Um- 
stand bei,  daß  die  Gestalt  auf  dem  Hintergrund  des  blauen  Himmels  er- 
scheint .  .  .  Kräftiger  wirkt  dies  Kunstmittel,  wenn  man  den  vorzustellenden 
Gegenstand  in  die  einfache  Umgebung  erst  eintreten  läßt",  wie  öfters  in 
Schillers  Balladen,  z.  B.  dem  „Mädchen  aus  der  Fremde". 

4.  Schilderung  durch  Hervorbringung  des  Bildes  (S.  121)  — 
allgemein  bekannt  aus  Lessings  „Laokoon". 

Ein  glänzendes  Beispiel  la.  a.  O.  S.  123)  „Amor  als  Landschaftsmaler' 
von  Goethe. 

5.  Schilderung  durch  sukzessives  Erscheinen  iS.  126)  —  eng 
mit  dem  vorigen  Kunstmittel  verwandt:  es  handelt  sich  gleichsam  um  die 
Selbsthervorbringung  des  Bildes.  Kleist  in  der  „Penthesilea'  ich  entnehme 
auch  die  Beispiele  fast  durchweg  Viehoffs  viel  zu  wenig  benutztem  Buch): 

Seht!  steigt  dort  über  jenes  Berges  Racken 
Ein  Haupt  nicht,  ein  bewaffenetes.  hervor? 
Ein  Helm,  von  Federbüschen  überschattet? 
Der  Nacken  schon,  der  mächt'ge.  der  es  trägt? 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  163 

Die  Schultern  auch,  die  Arme,  stahlumglänzt? 
Das  ganze  Brustgebild  —  o  seht  doch  Freunde? 
Bis  wo  den  Leib  der  gold'ne  Gurt  umschließt! 

Hauptmann. 
Ha!  wessen? 

Myrmidonier. 
Wessen?    Träum'  ich,  ihr  Argiver? 
Die  Häupter  sieht  man  schon,  geschmückt  mit  Blessen, 
Des  Roßgespanns!    Nur  noch  die  Schenkel  sind. 
Die  Hufe  von  der  Höhe  Rand  bedeckt! 
Jetzt  auf  dem  Horizonte  steht  das  ganze 
Kriegsfahrzeug  da!  —  So  geht  die  Sonne  prachtvoll 
An  einem  heitern  Frühlingsmorgen  auf. 

Griechen. 
Triumph!   Achilleus  ist's,  der  Göttersohn! 
Selbst  die  Quadriga  führet  er  heran  — 

Er  ist  gerettet. 

(Erich  Schmidt,  Ausgabe  2,  35.) 

6.  Eine  interessante  Varietät  dieses  Kunstmittels  ist  die  Metamor- 
phose, d.  h.  Umwandlung  einer  Gestalt  in  die  andere  (a.  a.  O.  S.  125). 
Viele  Belege  bei  Ovid;  oder  in  Märchen,  wie  Hauffs  „Kalif  Storch";  sehr 
verfeinert  am  Schluß  der  „Helena"  im  zweiten  Teil  des  „Faust"  (Vers  9991  f.). 

7.  „Bewegung  und  Handlung"  (a.  a.  O.  S.  131):  wieder  ein  von 
Lessing  in  die  allgemeine  Kenntnis  und  Anschauung  übergeführter  Satz. 
Doch  wirkt  zuweilen  auch  Bewegungslosigkeit  malerisch  (S.  135),  indem  sie 
als  steigernder,  die  Erwartung  reizender  Gegensatz  wirkt;  man  denke  an 
den  Anfang  von  Herders  „Cid",  wo  wir  auch  den  Gegensatz  von  ge- 
räuschvollem und  stummem  Handeln  (S.  136)  haben.  —  Spezialfälle  sind 
die  Verhüllung  und  Enthüllung  (S.  139),  wie  in  der  llias  (20,  446  f.) 
oder  bei  dem  Herausschweben  der  erst  vom  Nebel  verhüllten  Gestalt  in 
Goethes  Zueignung  (vgl.  wieder  Lessing  im  „Laokoon").  Dann  die  Gra- 
dation, d.h.  „ein  stufenförmiges  Schaffen  der  Phantasie,  ein  schrittweises 
Erhöhen  der  Klarheit  ihrer  Bilder";  z.  B.  wenn  „erst  beschrieben  und  dann 
gezeigt  wird",  wie  Hermann  Dorotheen  erst  den  Freunden  beschreibt  und 
sie  sie  dann  finden;  das  Traumbild,  wie  in  den  wundervjDllen  Versen  der 
Goethischen  „Pandora";  das  Spiegelbild;  die  Symmetrie  (S.  147), 
überhaupt  das  bildmäßige  Arrangement  in  geistiger  Zubereitung  vom  Un- 
bestimmten zum  Wirklichen,  vom  Geahnten  zum  Erschauten;  so  oft  im 
Volksepos. 

Viehoff  hat  (S.  180)  auch  besonders  untersucht,  welcherlei  Hand- 
lungen am  kräftigsten  malen.     Er  antwortet: 

a)  Langsame  Bewegungen  stellen  sich  der  Phantasie  deutlicher  als 
rasche  dar,  weil  das  Geistesauge  besser  folgen  kann.  Schiller  in  den 
„Kranichen  des  Ibykus": 

Und  feierlich  nach  alter  Sitte 
Umwandelnd  des  Theaters  Rund, 

11* 


;[54  Stilistik. 


Mit  langsam  abgemess'nem  Schritte 
Verschwinden  sie  im  Hintergrund. 

bj  Geräuschvolle  Bewegungen  stellen  sich  der  Phantasie  lebhafter  dar 
als  geräuschlose  und  leichte,  weil  sie  die  Gesichts-  und  Gehörphantasie 
gleichzeitig  zur  Tätigkeit  aufrufen.  Diese  Unterstützung  mehrerer  Sinne 
weist  z.  B.  Schillers  „Schlacht"  wirksam  auf. 

c)  Charakteristische  Bewegungen,  d.  h.  dem  Gegenstand  gattungs- 
mäßig zukommende  und  ihn  kennzeichnende  rücken  nun  das  Bild  beson- 
ders klar  vor  Augen.  Wir  haben  sie  eben  schon  unzähligemal  beobachtet, 
sehen  sie  vor  uns,  wenn  wir  den  einherstelzenden  Hahn,  die  schulternde 
Schildwache,  die  dahindampfende  Lokomotive  nur  nennen  hören.  —  Das 
Gleiche  gilt  allgemeiner  von  allen  alltäglichen  und  deshalb  leicht  vorzu- 
stellenden Handlungen. 

d)  Daneben  regen  aber  auch  unbestimmte,  seltsamere,  rätselhafte  Be- 
wegungen die  Einbildungskraft  zu  höchst  lebendiger  Tätigkeit  an.    Schiller 

im  „Taucher": 

Und  schaudernd  dacht'  ich's,  da  kroch's  heran. 
Regte  hundert  Gelenke  zugleich  — . 

e)  Daß  sich  steigernde  Bewegungen  sich  in  erhöhter  Klarheit  dar- 
stellen, folgt  aus  dem  Kunstmittel  der  Steigerung  der  Bewegung  überhaupt. 
Wieder  im  „Taucher": 

Und  sieh!  aus  dem  finster  flutenden  Schoß 

Da  hebet  sich's  schwanenweiß, 

Und  ein  Arm  und  ein  glänzender  Nacken  wird  bloß. 

Und  es  rudert  mit  Kraft  und  mit  emsigem  Fleiß, 

Und  er  ist's,  und  hoch  in  seiner  Linken 

Schwingt  er  den  Becher  mit  freudigem  Winken  — 

ein  Beispiel,  das  zugleich  unter  die  Rubrik  „Verhüllung  und  Enthüllung"  fällt. 

f)  Besonders  wichtig:  „intermittierende  (aussetzende)  durch  Pausen 
unterbrochene,  sich  regelmäßig  wiederholende  Bewegungen  werden  von 
der  Phantasie  mit  steigender  Lebhaftigkeit  reproduziert".  Glänzendes  Bei- 
spiel wieder  Schillers  „Taucher":  „In  Strophe  5  und  6  schildert  er  die 
Charybdis  mit  einer  Virtuosität,  die  Humboldts  und  Goethes  Erstaunen  um 
so  mehr  erregen  mußte,  als  diesen  wohl  bekannt  war,  daß  der  Schilderung 
keine  Anschauung  eines  wirklichen  Phänomens  solcher  Art  zugrunde  liegen 
konnte.  Der  Phantasie  des  Lesers  prägt  sich  das  furchtbare  Bild  doppelt 
stark  ein,  weil  er  mit  dem  Auge  und  dem  Gefühle  des  kühnen  Jünglings 
schaut,  der  im  Begriff  steht,  sich  in  den  kochenden  Wogenschlund  hinab- 
zustürzen. In  Strophe  8  verschlingt  der  Strudel  den  Hineingesprungenen; 
in  Strophe  9  wird  es  stille  über  dem  Wasserschlund;  nur  das  hohle  Brausen 
in  der  Tiefe,  das  sich  allmählich  steigert,  bereitet  auf  die  Wiederkehr  des 
Wogenschwalls  vor.  Aber  der  Dichter  hütet  sich  wohl,  die  Wiederkehr 
sofort  zu  schildern;  durch  zwei  Strophen  hindurch,  die  er  im  Geiste  der 
Chorgesänge  der  antiken  Tragödien  mit  Reflexionen  eines  Zuschauers  über 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  165 

das  Geschehene  ausfüllt,  hält  er  die  Erwartung  der  Augenzeugen  und  der 
Leser  eine  Zeitlang  hin  und  erhöht  die  Besorgnis  um  das  Los  des  Ver- 
schwundenen. Wenn  er  dann  in  Strophe  12  die  von  den  Epikern  ein- 
geführte Weise  adoptiert,  gleiche  oder  nahe  verwandte  Erscheinungen  mit 
denselben  Versen  darzustellen,  so  ist  das  hier  um  so  passender,  als  jenes 
periodische  Wasserphänomen  in  ganz  gleicher  Gestalt  sich  zu  wiederholen 
pflegte. " 

7.  Kräftige  Beleuchtung  des  Gegenstandes  (S.  151)  —  ein  höchst 
wichtiges  Kunstmittel,  besonders  von  Goethe  mit  der  ganzen  Meisterschaft 
eines  Gesundkünstlers  der  Renaissancezeit  gehandhabt.  So  in  der  „Braut 
von  Korinth": 

So  zur  Tür  hinein 

Bei  der  Lampe  Schein 

Sieht  sie  —  Gott!  sie  sieht  ihr  eigen  Kind!^) 

8.  Erhöhte  Stellung  des  Schauenden  (S.  152i:  der  Standpunkt 
der  „Teichoskopien",  der  Übersichten  von  hoher  Warte,  2)  ein  höchst  wirk- 
sames Mittel:  der  Dichter  läßt,  was  vorgeht,  dem  Leser  durch  einen  Ver- 
mittler Vorschauen  und  vorfühlen. 

Andere  Mittel,  wie  der  Kontrast  (a.  a.  O.  S.  156),  gehören  nicht  nur 
hierher.  Auch  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  mit  dieser  Achtzahl  der 
Kreis  der  Kunstmittel,  die  Phantasie  anzuregen,  zu  unterstützen  und  zu 
steigern,  keineswegs  erschöpft  ist. 

§  176.  Arten  der  erzählenden  Prosa.  Die  Arten  der  einfachen,  einzelne 
„Erregungen"  mitteilenden  Erzählung  sind  am  besten  nach  der  Art  dieser 
Erregung  zu  scheiden.  Eine  rein  persönliche  Empfindung  oder  Erfahrung 
führt  zunächst  nur  zu  monologischer  Reflexäußerung  und  erst  weiterhin  zur 
Mitteilung.  Unmittelbar  dagegen  veranlassen  solche  Vorgänge  eine  Mit- 
teilung, die  entweder  selbst  beobachtet  oder  als  beobachtet  überliefert  oder 
endlich  als  beobachtet  vorgestellt  sind.  In  Wirklichkeit  oder  in  der  Vor- 
stellung muß  ein  äußerer  Vorgang  vorhanden  sein,  der  in  dem  An- 
gesprochenen (durch  die  Mitteilung)  reproduziert  werden  soll,  damit  sich 
in  ihm  der  Eindruck  wiederhole,  den  der  Sprechende  zuerst  empfangen  hat. 

Dieser  äußere  Vorgang  kann  erregen 

1.  unsere  Sympathie  (oder  Antipathie  1:  Novelle, 

2.  unser  psychologisches  Interesse:  Anekdote,  literarisches  Porträt, 

3.  unsere  Heiterkeit:  Schwank,  Humoreske, 

4.  unser  Nachdenken:  Rätsel  (Parabel), 

5.  unsere  Phantasie:  Märchen. 

Festzuhalten  ist  jedoch,  daß  bei  diesen  Gattungen  (deren  Wichtigkeit 
eine  sehr  verschiedene  ist),   das  Gemeinschaftliche  überwiegt,   nämlich 


')  Vgl.  Morris'  Goethe-Studien,  2.  Aufl.  "")  Vgl.  Heinze,  Virgils  epische  Technik, 

1,  56  (für  Goethes  bildmäßige  Arrangements      Leipzig  1903. 
in  der  Dichtung  überhaupt  ebendaselbst  1 14  f.). 


166  Stilistik. 


1.  der  Charakter  der  Erzählung  als  solcher.  Alle  besitzen  sie  den 
erzählenden  oder  berichtenden  Stil.'i  Alle  verlangen  also,  wie  ausgeführt, 
Einheitlichkeit  und  Vollständigkeit  in  der  Anlage  und  außerdem  die  An- 
schaulichkeit, die  nur  mit  Hilfe  von  Klarheit  und  Bestimmtheit  erreicht 
werden  kann. 

2.  Ferner  aber  haben  diese  fünf  Gattungen  noch  etwas  gemein,  was 
den  größeren  Formen  der  Erzählung  nicht  oder  doch  nicht  in  gleichem 
Grade  zukommt:  die  Spannung.  Der  Angeredete  muß  in  eine  Stimmung 
gebracht  werden,  die  ihn  zur  vollen  Aufnahme  des  erregenden  Moments 
geneigt  und  fähig  macht.  Von  vornherein  ist  er,  wie  jeder  Mensch,  von 
mancherlei  Interessen  erfüllt,  während  bei  dem  Erzähler  in  diesem  Augen- 
blick das  eine  Interesse  fast  unumschränkt  herrscht,  das  durch  jene  auf- 
fallende Beobachtung  in  ihm  erweckt  wurde.  Damit  der  Hörer  diesen  Ein- 
druck reproduzieren  kann,  soll  sein  Kopf  für  den  Augenblick  von  allen 
andern  Eindrücken  gereinigt,  freier  Raum  für  die  Aufnahme  der  Novelle 
geschaffen  werden.  Dies  allein  ist  die  ursprüngliche  Aufgabe  der  Span- 
nung. Der  Zuhörer  schenkt  uns  erst  nur  ein  halbes  Ohr;  nun  aber  wird 
er  selbst  interessiert,  wird  er  „ganz  Ohr". 

Spannung  müssen  also  die  Gattungen  der  „kleinen  Erzählung"  er- 
regen; und  natürlich  müssen  sie  sie  auch  befriedigen.  Sonst  wird  der 
Hörer  uns  für  unsere  Art,  seine  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  zu  nehmen, 
übel  danken.  Die  Spannung  setzt  also  einen  wirksamen  Abschluß  voraus. 
Dies  ist  keine  neue  Forderung,  sondern  einfach  die  zweite  Hälfte  der  For- 
derung: Spannung! 

Auch  diese  Pflichten  sind  also  den  fünf  Gattungen  gemein,  doch  mit 
Unterschied;  das  Märchen  vedangt  die  geringste,  das  Rätsel  die  stärkste 
Spannung. 

Jede  Erzählung  zerfällt  also  (Albalat  a.  a.  O.  S.  216)  in  drei  Teile: 
Exposition  —  Verwicklung  —  Auflösung. 

Die  Exposition  ermöglicht  die  Spannung  und  bereitet  sie  vor,  die 
Verwicklung  enthält  sie,  die  Auflösung  befriedigt  sie.  Also  darf  die  Ex- 
position nicht  zu  wenig  geben,  damit  die  Aufmerksamkeit,  wenn  sie  ein- 
mal gespannt  ist,  nicht  noch  mit  Nebendingen  aufgehalten  wird;  erst  recht 
aber  nicht  zu  viel,  damit  sie  durch  zu  klare  Andeutungen  nicht  die  Span- 
nung vereitelt.  Rasch  und  knapp  zu  exponieren  ist  eine  Hauptkunst  der 
Erzählung;  dazu  ist  Einfachheit  nötig  (französische  Beispiele,  besonders  aus 
Lafontaine  a.  a.  O.). 

Ph.  O.  Runge,  der  romantische  Maler,  beginnt  die  meisterhafte  Er- 
zählung des  Märchens  vom  Fischer  und  seiner  Frau  (Brüder  Grimm, 
Kinder-  und  Hausmärchen  Nr.  19): 


1)   Becker,   Der  deutsche  Stil  S.  444,  '  d'^crire  S.  215  f. 
Wackernagel   S.   240  f.,   Albalat,    L'art  ; 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  167 

Da  war  mal  ein  Fischer,  und  seine  Frau,  die  wohnten  zusammen  in  einer  elenden 
Hatte,  dicht  an  der  See,  und  der  Fischer  ging  alle  Tage  hin  und  angelte:  und  er  angelte 
und  angelte. 

Sofort  sehen  wir  den  armen  Kerl  in  seiner  täglichen  hoffnungslosen 
Arbeit,  und  das  arme  Hüttchen  an  der  Riesensee,  und  die  Frage  taucht  in 
uns  auf:  was  wird  die  See  seinem  Fleiß  bescheren? 

Aber  die  Exposition  muß  auch  die  Stimmung  vorbereiten.  Wie 
hier  die  kleinen  Sätzchen  und  der  melancholische  Ausklang  ihr  entsprechen, 
so  ein  andermal  heftige  Bewegung  und  lebhafter  Anteil: 

Jn  einem  bei  Jena  liegenden  Dorf,  erzählte  mir,  auf  einer  Reise  nach  Frankfurt, 
der  Gastwirt,  daß  sich  mehrere  Stunden  nach  der  Schlacht,  um  die  Zeit,  da  das  Dorf 
schon  ganz  von  der  Armee  des  Prinzen  von  Hohenlohe  verlassen  und  von  Franzosen, 
die  es  für  besetzt  gehalten,  umringt  gewesen  wäre,  ein  einzelner  preußischer  Reiter  darin 
gezeigt  hatte:  und  versicherte  mir,  daß,  wenn  alle  Soldaten,  die  an  diesem  Tage  mit- 
gefochten,  so  tapfer  gewesen  wären,  wie  dieser,  die  Franzosen  hätten  geschlagen  werden 
müssen,  wären  sie  auch  noch  dreimal  stärker  gewesen,  als  sie  in  der  Tat  waren.'  (H.  v. 
Kleist,  Anekdote  aus  dem  letzten  preußischen  Kriege;  vgl.  R.  Steig,  H.  v.  Kleists  Berliner 
Kämpfe  S.  356  f.) 

Dieser  verwickelte  Riesensatz  wirkt  „einfach"  und  „klar",  weil  er  vom 
ersten  bis  zum  letzten  Wort  von  einer  Stimmung  durchdrungen  ist;  weil 
die  Unruhe,  Verwirrung,  Unsicherheit  nach  der  Schlacht  bei  Jena  jedesmal 
einer  blitzartigen  Klarheit  Raum  macht,  sobald  der  Reiter  auftaucht. 

Die  Verwicklung  muß  keinen  Zweifel  darüber  lassen,  wo  die  Auf- 
lösung zu  suchen  ist,  damit  die  Spannung  nicht  irregeführt  wird;  dagegen 
darf  sie  nicht  die  Richtung  der  Auflösung  verraten,  weil  dann  sofort  die 
Spannung  aufhört.  In  Kleists  Anekdote  ist  die  Spannung,  die  sich  zu 
physischer  Beängstigung  steigert,  in  die  Frage  zusammenzufassen:  wird 
der  Reiter  entkommen?  Bei  dem  Märchen:  was  wird  noch  alles  aus  dem 
Fischerpaar  werden? 

Die  Spannung  kann  durch  Abschweifungen  (vgl.  Albalat  S.  221) 
erhöht  werden,  wie  wir  ein  ungeduldiges  Kind  am  Weihnachtsabend  hin- 
halten. Aber  eine  zu  lange  Verzögerung  der  Auflösung  ermüdet,  zumal 
wenn  diese  nichts  sehr  Ungewöhnliches  bietet. 

Die  Auflösung  muß  natürlich  „loyal"  sein,  außer  wo  eine  Irreführung 
des  Hörers  (wie  in  humoristischen  Rätseln  u.  dgl.)  beabsichfigt  ist:  sie  muß 
der  Exposition  und  Spannung  entsprechen.  Sie  darf  keinen  weitern  Zweifel 
über  die  Entwicklung  Raum  lassen,  sondern  muß  durchaus  abschheßend 
sein  wie  in  jenem  Märchen: 

.Geh  nur  hin  —  sie  sitzt  schon  wieder  in  ihrer  Bude."  Da  sitzen  sie  noch  bis 
heutigen  Tag. 

Und  der  Abschluß  muß  in  sich  einheitlich  sein:  er  darf  keine  neue 
Spannung  erregen,  soll  aber  die  erregte  Stimmung  ausklingen  lassen.  So 
Kleists  Schlußworte,  mit  denen  der  Wirt  dem  glücklich  entkommenden 
Reiter  nachzublicken  scheint: 

So  einen  Kerl,  sprach  der  Wirt,  habe  ich  Zeit  meines  Lebens  nicht  gesehn. 


1 68  Stilistik. 


§  177.  Novelle.  Diese  allgemeinen  Regeln  für  den  erzählenden  Stil 
modifizieren  sich  nun  einigermaßen  bei  den  einzelnen  Gattungen. 

Die  einfachste,  reinste  Form  der  isolierten  Erzählung  bezeichnen  wir 
als  Novelle  (W.^ckerxaqel  S.  256).  Es  ist  eine  uralte  Gattung,  die  unter 
redenden  Menschen  nirgends  fehlt  und  bereits  auf  die  älteste  Formung  der 
Mythen  eingewirkt  hat  (Scherer,  Poetikj.  Von  der  viel  jüngeren  Gattung 
des  Romans  ist  sie  nicht  durch  die  Ausdehnung,  sondern  durch  die  Art 
getrennt:  die  Novelle  erzählt  ein  Abenteuer,  der  Roman  eine  Entwicklung, 
womit  freilich  zumeist  eine  größere  Länge  gegeben  ist.  Historisch  entsteht 
der  Roman  aus  der  biographischen  Verbindung  verschiedener  Novellen,  die 
zur  Abenteuergeschichte  einer  Person  (oder  eines  Paares)  geformt  werden. 

Vom  Standpunkt  der  Ästhetik  und  Poetik  handeh  über  die  Novelle 
z.  B.  ViscHER  (Ästhetik  6,  1318  f.).  Vom  Standpunkt  der  Stilistik  ist  anzu- 
merken: die  Novelle  setzt  ursprünglich  ein  sympathisches  Interesse  an  den 
handelnden  (oder  leidenden)  Personen  voraus,  das  erst  in  neuester  Zeit, 
und  keineswegs  auch  nur  da  völlig,  durch  eine  gewisse  scheinwissenschaft- 
liche Objektivität  abgelöst  wird.  Die  großen  Meister  der  Novelle  —  Boc- 
caccio und  seine  Nachfolger;  bei  den  Deutschen,  wo  Goethe  und  Tieck 
die  Novelle  neu  begründet  haben,  Eichendorff,  Mörike,  Storm,  Heyse, 
G.  Keller,  C.  F.  Meyer,  M.  v.  Ebner  —  haben  sich  den  gemütlichen 
Anteil  an  ihren  Figuren  niemals  rauben  lassen. 

Deshalb  spielt  in  der  Novelle  die  Charakterzeichnung  eine  größere 
Rolle  als  etwa  in  Schwank  oder  Märchen.  Über  ihre  Mittel')  hat  wieder 
die  Poetik  zu  handeln.  Wir  haben  nur  zu  bemerken,  daß  die  Novelle  in 
ihrem  Vortrag  nicht  schlicht  genug  sein  kann,  um  ihre  doppelte  Aufgabe 
zu  erfüllen:  für  die  Charaktere  und  für  die  Handlung  Interesse  zu  erregen. 
In  dieser  doppelten  Aufgabe  besteht  Schwierigkeit  und  Reiz  der  Novelle: 
sie  ist  ihrem  Ursprung  nach  das  interessante  Erlebnis  einer  sympathischen 
Persönlichkeit. 

Aus  dem  gemütlichen  Anteil  erwächst  der  Novelle  leicht  eine  lyrische 
Färbung  (Eichendorff,  Mörike,  Storm),  aus  der  Spannung  auf  die  Ent- 
wicklung ein  dramatischer  Aufbau  (Kleist,  Halm,  Heyse'.  Beides  ver- 
trägt sich  also  mit  dem  Stil  der  Novelle  besser  als  die  epische  Breite  des 
Ausmalens,  auf  die  der  Roman  allerdings  ein  gutes  Recht  hat,  und  der 
z.  B.  G.  Keller  manchmal  bedenklich  nah  kommt. 

§  178.  Literarisches  Porträt.  Die  Anekdote  ist  eigentlich  so  wenig  wie 
die  Sentenz  oder  Fabel  eine  selbständige  Gattung,  vielmehr  zum  Einflechten 
ins  Gespräch  bestimmt.  Immerhin  sind  bei  ihr  Zweifel  möglich,  ob  die 
isolierte  Form  oder  die  gelegentliche  Verwendung  (vgl.  oben  §  163'  älter  ist. 
Die  Anekdote  teilt  mit  der  Novelle  die  Verteilung  des  Interesses  auf 
Person  und  Handlung;  doch  ist  die  Aufgabe  hier  dadurch  erieichtert,  daß 

')  Jean  Paul,   Vorschule  der  Ästhetik      Art  S.  239  f.  über  die  Ver\k'endung  der  Be- 
§  56  f.,  Viehoff,  Poetik  S.  535  f.,  Albal.\t.      obachtungen. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  169 

1.  kein  Gemütsanteil  an  der  Person  erfordert  wird,  sondern  nur  ein  psycho- 
iogisches  Interesse,  2.  dies  Interesse  durch  die  Handlung  selbst  befriedigt 
wird.  Die  Anekdote  illustriert  einen  Charakter  durch  einen  kennzeichnenden 
Einzelzug;  ihre  Handlung  ist  also  mit  dem  Wesen  der  Figur  unlösbar  ver- 
bunden. In  der  Novelle  kann  etwa  ein  fröhlicher  Mensch  das  traurigste 
Schicksal  erleiden;  in  der  Anekdote  kann  aus  seiner  Natur  nur  ein  fröh- 
licher Ausgang  fließen. 

Historisch  ist  ein  wichtiger  Entwicklungszug  der,  daß  die  alte  Anek- 
dote typische  Charaktere  vorführt:  den  Dummkopf,  den  Geizhals,  den 
betrogenen  Ehemann,  gerade  wie  die  Psychologie  des  Theophrast  nur 
solche  „Eigenschaften"  und  „Charakterbilder"  kennt;  während  die  neuere 
individuelle  Charaktere  veranschaulicht,  Ludwig  XIV.  vor  dem  Parlament, 
Friedrich  den  Großen  angesichts  seiner  Karikatur  („Niedriger  /längen!"),  Bis- 
marck  bei  dem  österreichischen  Gesandten,  der  ihm  keine  Zigarre  anbietet. 

In  beiden  Fällen  aber  bleibt  das  Wesentliche  die  unlösbare  Verschmel- 
zung der  Handlung  (die  sehr  oft,  ja  meist,  nur  in  einem  Wort,  besonders 
einer  Antwort  besteht)  mit  gerade  diesem  Charakter.  Das  ursprüngliche 
und  unerschöpfliche  Interesse  der  Menschen  am  Menschen  hat  vor  allem 
praktische  Ursachen:  horno  homini  liipus.  Es  gilt,  den  Nebenmenschen 
auf  seine  Brauchbarkeit  und  Gefährlichkeit  zu  prüfen:  ist  er  als  Freund, 
Diener,  Ratgeber  zu  brauchen?  als  Feind,  Nebenbuhler  gefährlich?  Des- 
halb wird  eine  praktische  Psychologie  notwendig;  und  jede  Anekdote  liefert 
dazu  einen  Baustein,  wie  jedes  Sprichwort  zur  Erkenntnis  typischer  Ver- 
hältnisse. An  typischen  Beispielen  will  man  sich  die  Art  des  Schlaukopfs 
oder  Dummkopfs  vergegenwärtigen.  Wertlos  wäre  also  jeder  Zug,  der 
nicht  wirklich  auf  einen  typischen  Charakter  schließen  ließe. 

Ferner:  der  Charakterzug  muß  auch  sonst  gewisse  aus  der  Sache 
folgende  Eigenheiten  mit  dem  Sprichwort  teilen,  wie  dies  knapp,  gemein- 
verständlich, packend  sein.  Oft  gehen  wirklich  beide  Gattungen  ineinander 
über  wie  in  jenen  Wendungen  „wie  das  Volk  spricht"  (re'iche  Sammlung 
von  E.  HoEFER,  zuerst  1855):  „Nur  nicht  ängstlich,  sprach  der  Storch  zum 
Regenwurm,  und  fraß  ihn  auf":  die  höhnische  Kälte,  in  einem  (hier  er- 
fundenen) Charakterzug  symbolisiert,  erhält  sprichwörtliche  "Geltung. 

Aus  unserer  historischen  Erklärung  folgt,  daß  gern  Anekdoten  ge- 
sammelt werden  —  wieder  wie  Sprichwörter.  Hier  aber  kann  der  zu  be- 
leuchtende Charakter  Einheit  geben.  So  entsteht  früh  die  Charakteristik 
(Wackernagel  S.  262)  oder  das  literarische  Porträt  —  wieder  eine  erst 
neuerdings  recht  gewürdigte  Gattung,  i)  Es  wächst  aus  der  Vereinigung 
verschiedener  auf  den  Geizhals,  den  Ehrgeizigen  u.  s.  w.  gestellter  Anek- 
doten zusammen.     Sogar  völlig  parallele  Charakterzüge  können  wirkungs- 

')   Grundlegend:  Ivo  Bruns,   Das  lite-      Literatur-Porträts  in  Deutschland,  1,  Leipzig 
rarische  Porträt   der  Griechen,   Berlin  1896,       1904,  fast  wertlos, 
neuerdings:  Fr.  Kircheisen,  Geschichte  des 


]  70  Stilistik. 


voll  summiert  werden  wie  in  Hebels  unübertrefflichem  „Kannitverstan", 
freilich  einem  Charakterbild  mit  erbaulicher  Absicht.  Seine  klassische  Aus- 
prägung erhält  es  zuerst  im  Altertum  in  den  „Charakteren"  des  Theo- 
phrast  (lehrreiche  Ausgabe  von  der  Leipziger  Philologischen  Gesellschaft, 
Leipzig).  Es  blüht  dann  wieder  in  der  Zeit  Ludwigs  XIV.  (mit  dem  Apho- 
rismus, vgl.  oben  §  172)  und  von  neuem  um  1800;  nun  aber  mit  ganz 
individueller  Ausprägung.  Solch  ein  Porträt  hat  z.  B.  Goethe  'an  Auguste 
von  Stolberg,  Briefe,  Weimar.  Ausgabe  IV  2,  233;  vom  13.  Februar  1775) 
von  sich  und  Schiller  in  seinem  berühmten  großen  Werbebrief  (vom 
23.  August  1794;  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  Nr.  4)  von 
Goethe  entworfen. 

Das  literarische  Porträt,  eine  Liebhaberei  der  Psychologen,  ist  natür- 
lich oft  auch  in  größere  Zusammenhänge  eingearbeitet;  so  bekunden  Rankes 
Geschichtswerke  in  derartigen  „Charakteristiken"  eine  vielgefeierte  Meister- 
schaft, die  von  den  schärferen  Umrissen  in  Mommsens  Römischer  Ge- 
schichte vielleicht  noch  übertroffen  wird.  Bei  breiterer  Ausführung  wächst 
sich  das  „Charakterbild"  zur  Biographie  aus,  deren  Gestaltung  aber  von 
den  allgemeinen  Regeln  der  historischen  Darstellung  mitbedingt  ist.')  Da- 
gegen verleugnet  das  literarische  Porträt,  ob  nun  selbständig  oder  ver- 
arbeitet, niemals  die  Grundzüge  der  Anekdote:  engen  Zusammenhang  zwi- 
schen dem  Wesen  und  den  Lebensäußerungen  herauszuarbeiten,  die  „Werke" 
aus  dem  Charakter  abzuleiten  und  den  Charakter  an  den  Taten  zu  illu- 
strieren bleibt  fortdauernd  die  Hauptaufgabe  dieser  Gattung.  Wie  die  Me- 
daille hat  sie  auf  scharfes  Herausbilden  der  Umrisse  alle  Sorge  zu  ver- 
wenden: aus  der  scheinbar  kleinlichen  Anekdote  erwächst  der  monumentale 
Stil  der  Charakteristik  bei  Tacitus  und  Gibbon. 

§  179.  Schwank.  Auch  bei  der  heitern  Erzählung  ist  die  Verbindung 
von  Charakter  und  Handlung  enger  als  bei  der  Novelle,  doch  loser  als  bei 
der  Anekdote.  Auch  der  Schwank ^i  arbeitet  mit  typischer  Charakteristik; 
doch  seine  oft  satirische  Tendenz  bevorzugt  unbeliebte  Typen  wie  die 
Novelle  beliebte.  Deshalb  werden  also  verliebte  Pfaffen,  habgierige  Richter, 
unwissende  Ärzte  gern  Träger  der  Handlung. 

Die  Exposition  ist  hier  weniger  wichtig,  weil  zum  Lachen  jeder  Durch- 
schnittsleser leicht  vorzubereiten  ist.  Dagegen  muß  die  Stimmung  beson- 
ders sorgfältig  geschont  werden;  humoristische  Lichter  werden  schon  unter- 
wegs aufgesetzt,  komische  Namen,  derbe  Anreden  an  das  Publikum  erhöhen 
die  Lustigkeit.  Oder  es  wird  auch  umgekehrt  —  wie  gern  bei  Hebel  — 
durch  einen  schalkhaft  ernsten,  ja  feierlichen  Ton  die  Vergnüglichkeit  der 
Eingeweihten  erhöht.     So  wächst  sich  der  Schwank  denn  gern  zum  humo- 

')   Doch   vgl.  D.  Jenisch,  Theorie  der  in  meinem    .Grundriß   der   neueren   deut- 

Lebensbeschreibung,  Berlin  1802;  L.«Stein,  sehen  Literaturgeschichte'. 
Zur   Methodenlchre    der   Biographie,    .Bio-  »)  L.  F.  Weber,  Märchen  und  Schwank, 

graphische   Blätter"  1,  22;   andere   Literatur  Eine  stilkritische  Studie.    Kiel  1904. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  171 

ristischen  Charakterbild,  der  Humoreske,  aus.  Unsere  Nachbarn  jenseits 
des  Rheins  sind  in  beiden  Meister,  allerdings  gern  unter  Anwendung  be- 
denklicher Mittel  (die  sogenannte  „gauloiserie").  Bei  uns  ist  dagegen  die 
gute  Technik  der  alten  (in  Versen  abgefaßten)  mittelalterlichen  Schwanke 
durch  den  schweren  Ernst  seit  Reformation  und  dreißigjährigem  Krieg  zer- 
drückt worden.  Gute  Schwanke  finden  sich  fast  nur  noch  bei  echt  volks- 
tümlichen Autoren  wie  J.  P.  Hebel  und  Rosegger;  gute  Humoresken  in 
deutscher  Sprache  kann  man  an  den  Fingern  abzählen  (vortrefflich  Det- 
molds „Randzeichnungen",  glänzend  G.  Kellers  „Gerechte  Kammacher" 
und  „Der  Schmied  seines  Glückes").  Zu  den  Zügen,  die  der  Schwank  mit 
der  —  sehr  nahestehenden  —  Anekdote  teilt,  kommt  als  neues  die  For- 
derung der  Überraschung  hinzu.  Eine  völlig  unerwartete  Wendung  läuft 
dem  Wesen  der  Novelle  und  der  Anekdote  eigentlich  zuwider,  während  im 
Schwank  der  tolle  Einfall  von  Hebels  Zundelfrieder,  der  Schiidwache  aus- 
einanderzusetzen, sie  könnten  sich  nur  verständigen,  wenn  der  Soldat  pol- 
nisch könne,  nicht  direkt  aus  der  Schlauheit  des  verschlagenen  Diebes  ab- 
zuleiten ist:  das  Fundament,  seine  erfinderische  Schlauheit,  findet  vielmehr 
einen  völlig  überraschenden  Ausbau. 

§  180.  Rätsel.  Das  Überraschende  ist  ein  Hauptelement  auch  des 
Rätsels.  Es  wird  ursprünglich  nicht  aufgegeben,  sondern  gibt  sich  selbst 
auf:  jemand  trifft  eine  seltsame  Erscheinung,  deren  Paradoxie  ihn  ergötzt, 
wie  das  an  Simsons  Rätseln  in  der  Bibel  noch  vortrefflich  dargestellt  ist. 
Erst  allmählich  erwächst  aus  dem  gefundenen  Rätsel  das  erfundene;  und 
das  Volksrätsel,  viel  interessanter  und  künstlerischer  als  die  mühsamen 
Spiele  gelehrter  Rätseldichter  (bis  zu  Schillers  „Turandot"  herauf),  be- 
wahrt immer  etwas  von  der  Frische  des  Erlebten,  Gefundenen.  Gerade 
aus  der  Anschauung  heraus  bedient  sich  das  Rätsel  so  gern  der  Metapher. 
„Es  flog  ein  Vogel  Federlos  auf  den  Baum  Blattlos,  da  kam  der  Mann 
Handlos  und  stieg  herauf  fußlos"  beginnt  ein  uraltes,  auch  althochdeut- 
sches Rätsel.  Daß  der  Schnee  fliegen  kann,  der  doch  keine  Flügel  hat, 
ist  das  „Apergu",  von  dem  das  Rätsel  ausgeht;  und  nun  scheint  der  kahle 
Baum  und  die  Sonne,  die  den  Schnee  schmilzt,  kaum  minder  wunderbar. 
Für  die  Technik  des  Volksrätsels  besitzen  wir  gute  Untersuchungen.') 
Die  Hauptsache  ist,  möglichst  nah  an  die  Lösung  heranzustreifen,  ohne 
sie  doch  selbst  zu  verraten:  je  lebensvoller  das  Gegenbild  des  versteckten 
Bildes  ausgeführt  ist,  desto  schöner  ist  das  Rätel: 

Ich  rede  ohne  Zunge,  und  schreie  ohne  Lunge, 
Und  nehme  teil  an  Freud  und  Schmerz, 
Und  habe  doch  kein  Herz  (Wossidlo  Nr.  91). 

Lebendig  steht  eine  doch  unmögliche  Figur  vor  uns,  und  hören  wir  nun 
die  Auflösung:  „die  Glocke",  so  erfreut  uns  der  Reichtum  der  Züge.    Das 

')  R.  Petsch,  Neue  Beiträge  zur  Kennt-  lin  1900;  vortrefflich  geordnete  Sammlung 
nis  des  Volksrätsels,  Berlin  1899,  derselbe,  von  R.  Wossidlo,  Mecklenburgische  Volks- 
Formeihafte  Schlüsse  im  Volksmärchen,  Ber-      Überlieferungen. 


1 72  Stilistik. 


Rätsel  gibt  gleichsam  ein  „Porträt"  eines  zu  erratenden  Urbildes.  Außer 
der  Metaptier  ist  noch  die  Umschreibung  (s.  oben  §  120)  ihr  nahe  ver- 
wandt. Eine  gesuchte  „kenning"  wirkt  wie  ein  Rätsel  und  wird  so  be- 
nutzt: man  könnte  die  Glocke  nun  „den  zungenlosen  Sprecher"  nennen, 
wie  der  Schnee  der  ^Vogel  Federlos"  heißt.  Und  wie  die  altgermanische 
Poesie  sich  in  poetischen  Umkleidungen  etwa  von  „Pferd"  und  „Krieger" 
nicht  genug  tun  kann,  so  ist  das  Volksrätsel  unerschöpflich  in  Verhüllungen 
etwa  von  Krebs  (Wossidlo  S.  86  f.)  und  Regenwurm  (S.  97  f./. 

Nichts  entspricht  dem  echten  Rätselstil  weniger  als  mystisches  Dunkel; 
wie  einfach  und  konkret  ist  sogar  das  Rätsel  der  Sphinx! 

Eine  Ausdehnung  des  Rätsels  führt  zur  Parabel. i)  Auch  hier  wird 
ein  verborgenes  Urbild  durch  seine  künstüch  angeordneten  Gegenbilder 
zuerst  verdeckt,  dann  um  so  heller  beleuchtet.  Nur  ist  hier  eine  symbo- 
lische Handlung  oder  Lehre  der  Kern,  wie  beim  Rätsel  ein  Gegenstand. 
Die  Eigenart  des  Rätsels  dauert  aber  hier  fort;  und  sie  geht  noch  weiter, 
bis  in  das  symbolische  Märchenspiel  herein:  auch  in  Grillparzers  „Traum 
ein  Leben"  liegt  ein  guter  Teil  der  Wirkung  in  der  überraschenden  An- 
näherung des  Traumbildes  an  die  durch  den  Traum  verdeckte  Wirklichkeit. 

§  181.  Märchen.  Symbolische  Märchen  aber  sind  eine  junge  Ent- 
wickelung,  und  wenn  Vischer  (Ästhetik  6,  1296)  als  das  eigentliche  Wesen 
des  Märchens  angibt,  daß  es  „in  der  Weise  der  traumhaften  Einbildungs- 
kraft dichtend  dem  Menschen  das  Gefühl  der  Lösung  seiner  Naturschranken 
bereitet",  so  urteilt  er  allzusehr  vom  modernen  Standpunkt;  denn  die  alten 
Völker  kennen  jene  trennenden  Naturschranken  überhaupt  nicht.  Der  Über- 
gang von  Mensch  in  Tier,  von  leblosem  Schwert  zu  warnendem  Freund 
ist  ihnen  wunderbar,  aber  nur  in  dem  Sinne,  wie  uns  etwa  die  E.xperi- 
mente  mit  flüssiger  Luft:  wir  verstehen  sie  nicht,  bezweifeln  aber  nicht, 
daß  alles  gesetzmäßig  verläuft. 

Als  die  eigentliche  Aufgabe  des  echten  Märchens  wird  man  vielmehr 
die  Übung  der  Phantasie  anzusehen  haben.  Das  Märchen  entsteht  aus 
einer  Anregung  der  Phantasie,  die  allerdings  wohl  durch  die  „traumhafte 
Einbildungskraft"  gegeben  wird  —  nicht  durch  den  Traum  selbst,  dessen 
Inhalt  ja  von  jedem  naiven  Menschen  für  wirklich  gehalten  wird.  Dem 
erregten  Gemüt  vergrößert  sich  etwa  ein  im  Abendlicht  dahingleitender 
riesenhafter  Schatten  zu  einem  schwarzen  Riesen,  ein  Berghaupt  scheint  zu 
sprechen;  und,  der  Selbsttäuschung  sich  halbbewußt,  dichtet  er  die  Er- 
scheinung weiter,  bis  er  an  die  Grenzen  seiner  Erfindung  gelangt. 

Das  Märchen  ist  also  eigentlich  die  einzige  Gattung,  bei  der  von 
vornherein  die  sogenannte  „Erfindung"  eine  Rolle  spielt,-)  obwohl  uns 
Modernen  für  alle  Literatur  die  Erfindung  ein  selbstverständliches  Problem 
geworden  ist  (dessen  Erörterung  aber  wieder  der  Poetik  zufällt).     Damit 

■  ')  Vgl.  §  161.  Handlung  bei  Albalat,  Art  decrire  S.  159  f. 

")   Regeln   zu   ihrer  Anregung  und  Be- 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  173 

ist  keineswegs  gemeint,  daß  die  Überlieferung  hier  eine  geringere  Rolle 
spiele;  im  Gegenteil  ist  der  typisierende  Charakter  gerade  des  Märchens 
allgemein  anerkannt.')  Aber  innerhalb  der  gegebenen,  keineswegs  über- 
mäßig zahlreichen  Schemata  gilt  es,  die  Erfindungskraft  anzustrengen,  um 
die  Phantasie  der  Hörer  zu  immer  neuer  Anstrengung  zu  reizen,  in  diesem 
Sinn  geben  die  modernen  „naturwissenschaftlichen  Märchen"  von  Jules 
Verne,  Kurd  Laßwitz  u.a.  wahrscheinlich  ein  besseres  Bild  von  der  Art 
des  echten  alten  Märchens  als  die  neuere  Märchendichtung,  die  besonders 
von  Musäus  und  Andersen  beeinflußt  ist. 

Fremd  ist  dem  echten  Märchenstil  vor  allem  jene  ironische  Tendenz, 
die  der  Rationalist  Musäus  mit  dem  Romantiker  Brentano  teilt;  denn 
sie  würde  die  Phantasie  ja  lähmen,  den  Seiltänzer  vom  Strick  fallen  lassen. 
Aber  auch  die  elegische  Stimmung,  die  Andersen  dem  Märchen  leiht 
und  Vi  sc  her  zum  Symbol  der  Auflösung  ins  All  macht,  liegt  dem  scharfen, 
klaren  Ton  des  echten  Märchens  bei  den  Germanen  wie  im  Orient  fern; 
es  bietet  einfach  gesteigerte  Wirklichkeit.  Auch  die  optimistische  Tendenz, 
die  Vischer  (S.  1299)  im  Märchen  findet,  ist  nur  da  vorhanden,  wo  der 
Erzähler  sie  an  sich  besitzt;  wenn  ein  ruppiger  Schweinehirt  die  Königs- 
tochter ins  Elend  bringt,  kann  nur  ästhetische  Spekulation  darin  Erfüllung 
des  Erwünschten  sehen,  selbst  vom  Standpunkt  des  Schweinehirten  aus.-) 

Aber  gerade  weil  der  Schein  der  Möglichkeit  gewahrt  werden  soll, 
bedarf  das  Märchen  einer  strengen  Technik:  eines  kunstvollen,  gern  in 
einer  dreistufigen  Klimax  sich  erhebenden  Aufbaus.s)  einer  konsequenten 
Innehaltung  der  einmal  gegebenen  Voraussetzungen,*)  einer  restlosen  Auf- 
lösung des  einmal  gestellten  Problems.  Keine  Feengabe  darf  zwecklos 
erteilt,  kein  Vorzeichen  überflüssig,  keine  Warnung  umsonst  gegeben  sein. 
Das  Märchen  ist  die  Kunstgattung,  in  der  die  Logik  am  strengsten  waltet, 
freilich  nur  eine  aus  unglaublichen  Prämissen  folgernde  poetische  Logik. 
Glauben  wir  einmal  an  Zauber  —  was  kann  folgerechter  sein  als  das 
Märchen  von  Aschenbrödel? 

Das  Märchen  nähert  sich  aber  der  Novelle  wieder  in  dem  Bedürfnis 
einer  scharfen  Silhouette.  Beide  teilen  merkwürdige  Erlebnisse  aus  einer 
bestimmt  geregelten  Welt  mit,  die  Novelle  aus  der  von  der  Erfahrung  ge- 
gebenen, das  Märchen  aus  ihrer  phantasiemäßigen  (nicht  immer:  phan- 
tastischen) Fortsetzung.  Deshalb  erhält  die  Einzelerzählung  Bedeutung  nur 
durch  einen  völlig  individuellen  Einzelzug:  Aschenbrödels  gläserner  Pan- 
toffel, der  erstarrte  Moment  im  Dornröschen  mit  der  gefrorenen  Ohrfeige, 
die  Blutstropfen  in  Schneewittchen. 

')  Vgl.  z.  B.  Thimme,   Lied   und  Märe,  S.  49. 
Gütersloh  1896,  S.  551,  U.PROBST,.Über  den  =)   Schön   beleuchtet  in  MOllenhoffs 

deutschen  Märchenstil,  Bamberg  1901,  L  F.  Einleitung  zu  seinen  Schleswig-Holsteinischen 

Weber  siehe  oben.  Sagen. 

•)  Vgl.  W.  Grim.m,   Kleine  Schriften  1,  ■•)  Vgl.  Brandes  in  seinem  Essay  über 

350  f.,  F.  L.  Weber,  Märchen  und  Schwank  Andersen:  .Moderne  Geister",  S.  65  f. 


1 74  Stiustik. 

Für  das  deutsche  Märchen  besitzen  wir  durch  die  unschätzbare  Samm- 
lung der  Brüder  Grimm  einen  Schatz,  der  dem  orientalischen  der  „Tau- 
send und  eine  Nacht"  gleichwertig  gegenübersteht.  Moderne  Märchen  haben 
oft  ihren  eigenen  Reiz  (eine  Sammlung  „Neue  Märchen",  herausgeg.  von 
E.  Weber,  Göttingen  o.  J.);  im  Grund  sind  es  aber  selten  Märchen  im  Sinn 
der  Volksmärchen  und  für  echte  Märchenleser,  Kinder  und  primitive  Men- 
schen, ungenießbarer  als  Kurd  Laßwitz'  philosophische  Märchen.  Es 
sind  phantastische  Erzählungen,  die  die  Wirklichkeit  umzubilden,  eine  traum- 
hafte Verwischung  der  Eindrücke  zu  erzielen,  eine  „höhere  Wahrheit"  zu 
erreichen  suchen;  so  etwa  die  effektvollen  Märchen  von  Tieck,  die  reiz- 
vollen von  Andersen,  die  humoristischen  mancher  Romantiker.  Unsere 
Phantasie  aber  üben  sie  nicht,  weil  sie  ja  von  vornherein  die  Analogie 
mit  der  Erfahrung  aufheben.  Heyses  „Letzter  Centaur"  ist  ein  echtes 
Märchen;  seine  „Märchen"  sind  phantastische  Novellen. i) 

§  182.  Roman.  Wir  sahen  bei  allen  Gattungen  der  „kleinen  Erzäh- 
lung" die  Tendenz  auf  Erweiterung.  Der  Aphorismus  bildet  ganze  Ko- 
ralleninseln von  Einzelaussprüchen  oder  dehnt  sich  auch  zum  Essay  aus; 
die  Anekdote  erwächst  zum  Charakterbild,  der  Schwank  verlängert  sich 
zur  Humoreske,  das  Rätsel  wird  Parabel,  das  Märchen  Erfindung  einer 
ganzen  phantastischen  Welt  iz.  B.  in  den  politischen  Utopien  der  Piaton, 
Thomas  Morus,  Campanella,  vgl.  die  sammelnde  Darstellung  „Schlaraffia 
politica",  Leipzig,  Grunow).  Die  wichtigste  Dehnform  aber  ist  die  der  Novelle: 
sie  bildet  als  Roman  die  berühmteste  aller  Gattungen  der  Kunstprosa.*) 

Unsere  Auffassung  über  die  historische  Entwicklung  des  Romans  aus 
der  Novelle  (vgl.  oben  S.  168)  läßt  ohne  weiteres  die  wichtigste  Forderung 
an  diese  Gattung  ableiten.  Für  die  Novelle  ist  die  Auflösung  der  Span- 
nung in  einer  scharf  markierten  Handlung  erste,  eine  sympathische  Zeich- 
nung der  Charaktere  i^mindestens  ursprünglich)  zweite  Hauptbedingung; 
für  den  Roman  tritt  beides  zurück  hinter  dem  Bedürfnis  einer  interessanten 
Entwicklung,  d.  h.  einer  fesselnden  Überleitung  aus  einem  früheren  zu 
einem  späteren  Zustand. 

Diese  Überführung  bildet  die  eigentliche  ratio  des  Romans.  Nicht 
wesentlich  ist,  daß  der  Träger  der  Handlung  ein  besonderes  Interesse  er- 
regt. Im  Gegenteil  ist  die  Übertragung  der  s\'mpathischen  Teilnahme  auf 
den  „Helden"  des  Romans  diesem  oft  verhängnisvoll  geworden:  in  einer 
ausgedehnten  Erzählung  mußte  er  sich  so  oft  von  der  besten  Seite  zeigen, 
daß  zuletzt  der  überirdisch  vollkommene  sprichwörtliche  „Romanheld"  \z.  B. 
oft   bei  Spielhagen)    entstand.    Nicht  einmal  „bedeutend"  braucht  er  zu 


•)  Vgl.  R.  Hagen,  Romantische  Schule  S.  84.  des  Romans,  2.  Aufl.  bearbeitet  von  T.  Kellen, 

-)  Vgl.  Jean  Paul,  X'orschule  der  .^sthe-  Essen  1904.  —  Die  Literatur  über  das  \'er- 

tik  §  69  f.,  MuNDT,  Kunst  der  deutschen  Prosa  hältnis  des  Romans  zum  Epos  —  besonders 

S.  353  f.,   Wackernagel   S.  250,  Vischer  N'ischer  —  und  zur  Novelle  müssen  wir 

S.  1303  f.,  recht  brauchbar  H.  Keiber,  Theorie  wieder  der  Poetik  zuweisen. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  175 

sein:  Wilhelm  Meister  ist  das  in  keinem  Sinne.  Freilich  litt  darunter  dieser 
Hauptroman;  und  ein  gewisses  Maß  gemütlicher  Teilnahme  wird  schließ- 
lich der  Träger  der  Handlung  von  dem,  der  ihn  längere  Zeit  durchs  Leben 
begleiten  soll,  fordern  dürfen. 

Der  abschließende  Zustand  braucht  nicht,  wie  bei  der  Novelle,  das 
Ergebnis  einer  an  sich  interessanten  Fügung  oder  Wandlung  zu  sein  (und 
der  eröffnende  oder  die  Zwischenzustände  natürlich  erst  recht  nicht).  Ty- 
pische Zustände,  typische  Abenteuer  erfüllen  oft  gerade  die  besten  Romane, 
während  eine  Überfüllung  mit  interessanten  Erlebnissen  ganz  rohe  Produkte 
wie  die  Romane  von  Alexander  Dumas  und  Eugene  Sue  fördern  kann. 
Aber  wie  der  Parteigänger  Luthers  zu  weit  ging,  der  die  „guten  Werke" 
an  sich  für  schädlich  erklärte,  so  werden  wir  auch  sagen:  die  Abenteuer 
dürfen  der  Hauptsache  nicht  im  Wege  stehen;  bleibt  diese  aber  gewahrt, 
so  sind  interessante  Erlebnisse  lediglich  typischen  sicherlich  vorzuziehen. 
Machen  sie  doch  neben  der  Hauptsache  den  König  der  Romane,  den 
„Don  Quijote",  machen  sie  doch  die  alten  englischen  Romane  der  Smollet 
und  Fielding  so  reich  und  unveraltbar.') 

Die  Hauptsache  also  bleibt  für  den  Roman  durchaus  die  Entwick- 
lung selbst.  Dem  Romanstil  entspricht  also  alles,  was  diese  zur  An- 
schauung bringt,  widerspricht  alles,  was  sie  undeutlich  macht.  Künstlerisch 
am  höchsten  steht  der  Roman,  bei  dem  nichts  geschieht  und  nichts  gesagt 
wird,  was  nicht  mit  der  „Grundidee",  mit  der  von  ihm  zu  schildernden 
Entwicklung  unmittelbar  in  Zusammenhang  stände;  vielleicht  kann  man  das 
nur  von  drei  oder  vier  Romanen  der  Weltliteratur  behaupten,  etwa  dem 
„Don  Quijote",  „Manen  Lescaut"  vom  Abbe  Prevost,  Goethes  „Wahl- 
verwandtschaften'' und  etwa  noch  Flauberts  „Madame  Bovary''. 

Diese  Hauptforderung  schließt  aber  eine  gewisse  Breite  so  wenig  aus, 
daß  sie  sie  sogar  fordert.  Denken  wir  uns  die  schmälste  Entwicklungs- 
linie, das  normale  Heranreifen  etwa  einer  Durchschnittsnatur,  so  kann  selbst 
dies  nicht  ohne  eine  breitere  Verzweigung  und  Verästelung  anschaulich  ge- 
macht werden.  Denn  der  einzelne  ist  von  seiner  Umgebung  unter  allen 
Umständen  abhängig,  wenn  auch  der  Spielraum  des  Begriffs  „Umgebung" 
ein  weiter  ist.  Für  Anzengrubers  bäurische  Helena  im  „Sternsteinhof" 
kommt  wirklich  nichts  in  Betracht,  was  ein  paar  Meilen  von  ihrem  Heimats- 
dorf abliegt;  Grimmeishausens  „Simplicissimus"  aber  hat  ein  großes 
Stück  Weltgeschichte  zum  unentbehdichen  Hintergrund.  Die  gewaltsame 
Verengung  des  Romans  auf  individuelle  „Seelenzustände",  die  die  Fran- 
zosen aufgebracht  haben,  ist  eine  Nebenwirkung  der  Tendenz  auf  psycho- 
logische Mikroskopie  und  darf  keineswegs  als  ein  absoluter  Fortschritt 
gelten.  Ebensowenig  ist  aber  die  früher,  ebenfalls  unter  französischem 
Einfluß,  erhobene  Forderung  allgemein  gültig,  daß  jeder  Roman  die  ganze 

»)  Vgl.  HiLLEBRAND,    ,Vom  alten  und      sehen',  7,  168  f. 
neuen  Roman"  in  „Zeiten,  Völker  und  Men- 


1 76  Stilistik. 


Zeit  darzustellen  habe.  Wilhelm  Meisters  Entwicklung  hat  nun  einmal  mit 
den  „untern  Klassen"  nichts  zu  schaffen;  warum  sollten  die  also  vorgeführt 
werden?  Nur  erweckte  Goethe  selbst  unberechtigte  Erwartungen,  indem 
er  den  Roman  mit  den  Ansprüchen  eines  „Zeitromans"  ausstattete.  Was 
Goethe  selbst  im  Sinn  seiner  Romantechnik  unter  dem  allerdings  höchst 
bedeutsamen  Schlagwort  ^Totalität"  oder  „Totalität  der  Zustände"  ver- 
stand, war  natürlich  nicht  eine  absolute  Vollständigkeit  (wie  sie  etwa  Gutz- 
kow im  einzelnen  Roman,  Balzac  wenigstens  in  der  ganzen  Romanreihe  zu 
geben  suchte),  sondern  eine  relative:  die  Gesamtheit  der  Zustände,  von  denen 
die  Entwicklung  des  Romanhelden  bedingt  ist.  Der  Begriff  der  Totalität 
ist  hier  eben  schlechterdings  nur  von  der  Entwicklung  selbst  aus  zu  be- 
messen. Man  darf  nicht  einmal  behaupten,  ein  Roman  sei  um  so  bedeu- 
tender, je  breiteren  Raum  diese  Entwicklung  innerhalb  ihrer  Welt  be- 
ansprucht. „Werther"  bleibt  in  einer  engen  Sphäre,  die  aber  die  Entwick- 
lung von  sentimentaler  Weichheit  bis  zur  Unfähigkeit,  fortzuexistieren,  er- 
schöpfend darstellen  läßt;  wogegen  in  den  breiteren,  an  sich  sehr  inter- 
essanten Zustandsschilderungen  etwa  der  Zeitromane  Immermanns,  Gutz- 
kows, Spielhagens,  Heyses  die  zwingende  Verbindung  dieser  Zustände 
mit  der  eigentlichen  Entwicklung  nur  zu  oft  fehlt. 

Diese  „Entwicklung''  selbst  ist  nun  historischer  Evolution  unter- 
worfen. Der  Roman  kristallisiert  ursprünglich  aus  Einzelerzählungen  zu- 
sammen (vgl.  E.  RoHDE,  Der  griechische  Roman  und  seine  Vorläufer, 
Leipzig  1876);  zunächst  ist  daher  sein  Rückgrat  einfach  die  Geschichte 
einer  Figur  oder  eines  Paars,  denen  die  Abenteuer  aufgeladen  werden. 
Allmählich  erwächst  der  Begriff  der  inneren  Einheit  und  die  echte  Roman- 
form ist  erreicht,  sobald  eben  jene  innere  Verbindung  von  Charakter  und 
Erlebnis  erreicht  ist,  auf  die  die  Novelle  verzichten  kann,  nicht  aber  das 
Charakterbild.  Vorzugsweise  wird  seitdem  die  Entwicklung  als  eine  psycho- 
logische verstanden  und  die  größten  Romane  der  Weltliteratur  benutzen 
die  „Eriebnisse"  nur,  um  ein  abgegrenztes  Stück  seelischen  Lebens  an- 
schaulich zu  machen.  Doch  ist  auch  eine  Entwicklung  im  äußeriichen 
Sinne  nicht  gegen  den  Begriff  des  Romans  und  die  spanischen,  französi- 
schen, englischen  Abenteuenomane,  die  einen  in  die  Mitte  bewegter  Ver- 
hältnisse gestellten  „Helden"  zu  einem  bestimmten  Abschluß  seiner  sozialen 
Laufbahn  gelangen  lassen,  vermögen  durch  die  lebendige  Vorführung  der 
„Psychologie  der  Verhältnisse"  für  die  oberflächlichere  Behandlung  der 
individuellen  Psychologie  wohl  zu  entschädigen. 

Wir  haben  also  seit  dem  Heranreifen  einer  —  im  wesentlichen  inter- 
nationalen —  Romanform  folgende  Hauptformen: 

1.  Darstellung  einer  individuellen  Entwicklung 

a)  mit  möglichster  Isolierung:  sogenannter  Roman  der  Mats  d'äme", 
psychologischer  Roman  im  engsten  Sinn; 

b)  mit  breiterer  Schilderung  der  „Totalität":  Individuairoman; 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  177 

2.  Darstellung  einer  allgemeineren  Entwicklung  (am  Bilde  einer  in- 
dividuellen Entwicklung): 

a)  mit  Beschränkung  auf  die  typischen  Züge:  Sozialroman; 

b)  mit  breiterer  Schilderung  der  „Totalität":  historischer  Roman  mit 
dem  Sonderfall  des  „Zeitromans",  der  eben  ein  historischer  Roman  aus 
der  Gegenwart  ist. 

Auf  die  Differenzierung  des  allgemeinen  Romanstils  durch  diese  Gat- 
tungsformen brauchen  wir  hier  nicht  näher  einzugehen;  nur  ein  Punkt  be- 
trifft unmittelbar  die  Lehre  vom  Romanstil:  die  Frage  der  sogenannten 
Episoden. 

Historisch  genommen  sind  die  Episoden  nichts  weiter  als  unverarbei- 
tete, ursprünglich  selbständige  Abenteuer  innerhalb  der  zum  Roman  ein- 
heitlich verarbeiteten  Abenteuerreihe.  Technisch  stellen  sie  sich  dar  als 
Erzählungen,  die  mit  dem  Hauptthema  in  nur  zufälliger  Verbindung  stehen. 
Praktisch  machen  sie  bei  allem  Zorn  theoretischer  Puristen  einen  Hauptreiz 
in  Meisterwerken  wie  G.  Kellers  „Grünem  Heinrich",  den  fast  einzigen  Reiz 
in  einem  so  bedeutenden  Werk  wie  „Wilhelm  Meisters  Wanderjahre"  aus. 

Es  ist  zuzugeben,  daß  die  Episoden  oft  nur  liebenswürdige  Kunst- 
fehler sind,  wie  die  angenehm  störenden  Zwischenreden  einer  heitern  Frau 
bei  einer  ernsten  Auseinandersetzung.  Sehr  oft  sind  sie  aber  in  dem  Wesen 
des  Romanstils,  dem  sie  zuwiderzulaufen  scheinen,  sachlich  begründet. 
Denn  damit  die  Entwicklung  dem  Leser  anschaulich  werde,  muß  er  frisch 
und  aufmerksam  erhahen  werden.  Nun  ist  aber  das  bei  den  kleineren 
Arten  der  Erzählung  unentbehriiche  Mittel  der  Spannung  bei  der  großen 
Erzählung  nur  mit  Vorsicht  anzuwenden.  Denn  da  hier  nicht  die  Ergeb- 
nisse, sondern  der  Weg  zu  ihnen  die  Hauptsache  ist,  läßt  die  auf  bestimmte 
Veränderungen  und  Überraschungen  gerichtete  Spannung  leicht  die  zarten, 
feinen  Momente  überhören  und  übersehen,  die  das  eigentliche  Element 
des  Romans  sind.  Eine  Überladung  mit  spannenden  Effekten  —  wie  etwa 
bei  Dumas  und  Sue  —  löst  also  die  Entwicklung  in  eine  Gruppierung 
interessanter  Momente  auf;  sie  ist  ein  Atavismus,  ein  Rückschlag  in  die 
Novellensammlung.  Womit  natüriich  wieder  nicht  gesagt  ist,  daß  eine 
geschickte  Vorbereitung  wichtiger  Entwicklungsmomente  nicht  immer  höchst 
wichtig  und  eine  überraschende  Veränderung  nicht  zuweilen  sehr  wohl 
angebracht  wäre. 

Statt  der  Spannung  muß  also  eine  andere  Hilfe  gewählt  werden.  Hier 
treten  die  Episoden  ein,  indem  sie  dem  Auge  des  Beschauers  eine  wohl- 
tätige Abwechslung  gewähren;  soll  er  immer  auf  denselben  Streifen  starren 
(wie  oft  in  den  allzu  geradlinigen  Tendenzromanen,  z.  B.  „Aus  guter 
Familie"  von  Gabriele  Reuter),  so  flimmert  es  ihm  schließlich  vor  den 
Augen.  So  dienen  also  wohlberechnete  Abschweifungen  der  Anschauung; 
aber  nur,  wenn  sie  diese  wach  erhalten,  ohne  sie  selbst  anzustrengen.  — 
Falls  aber  Nebenabenteuer  eingefügt  werden,  um  an  analogen  Schicksalen 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  I.  12 


178  Stilistik. 


die  Hauptentwicklung  selbst  zu  erläutern  (wie  etwa  im  „Werther"  die  Schick- 
sale des  aus  Liebe  wahnsinnig  gewordenen  Burschen),  so  sollte  man  diese 
Hilfsmittel  der  Haupthandlung  überhaupt  nicht  als  Episoden  bezeichnen. 

Es  steht  bei  dem  Dichter,  ob  er  die  Entwicklung  zu  einem  vorbestimmten 
Ziel  zu  führen  sich  berechtigt  glaubt  (Tendenzroman),  ob  er  es  versucht,  die 
Figuren  gemäß  den  einmal  gegebenen  Voraussetzungen  sich  ausleben  zu 
lassen  (Experimentairoman)  oder  ob  er,  wie  es  meist  der  Fall  ist,  zwischen 
der  Subjektivität  etwa  des  religiösen  oder  politischen  Bekehrungsromans  und 
der  Objektivität  eines  halbwissenschaftlichen  Beobachtungsromans  die  Mitte 
halten  will.  Das  Günstigste  ist  wohl  hier,  den  Mittelweg  zu  wählen.  Die 
Forderung  absoluter  Objektivität,  wie  sie  von  verschiedenen  Ausgangs- 
punkten her  Spielhagen  und  Zola  erhoben  haben,  wird  jedenfalls  durch 
das  Beispiel  der  größten  Meister  nicht  bestätigt.  Berechtigt  war  es,  die 
Oberflächlichkeit  abzuwehren,  die  bequeme  Epitheta  oder  direkte  Charakte- 
ristiken an  Stelle  anschaulicher  Schilderung  setzte:  wir  wollen  nicht  hören, 
daß  der  Held  edel  sei,  sondern  es  sehen.  Wenn  aber  sein  Tun  den  Er- 
zähler in  eine  Stimmung  bringt,  in  der  ihm  ein  Wort  des  Urteils  unwill- 
kürlich entschlüpft,  so  kann  dies  der  Anschaulichkeit  nur  dienen.  Ebenso- 
wenig widerspricht  es  dem  Romanstil,  wenn  Situationen  durch  allgemeine 
Betrachtungen  herausgehoben,  durch  den  Hinweis  auf  allgemeiner  zugäng- 
liche Erfahrungen  verdeutlicht  werden,  wie  es  Goethe  liebt. 

Eine  besondere  Eigenheit  des  Romanstils  bilden  die  häufigen  Ge- 
spräche. Scheinbar  geben  sie  ihm  Ähnlichkeit  mit  dem  Drama,  und  sind 
auch  oft  als  quasi  dramatische  Einlagen  aufgefaßt  worden.  Wenn  aber 
der  Dialog  im  Drama  das  eigentliche  Mittel  ist,  den  Fortschritt  der  Hand- 
lung zu  fördern,  ist  das  Gespräch  im  Roman  viel  mehr  den  Zwecken  der 
psychologischen  Zustandsschilderung  dienstbar.  Soweit  es  dies  leistet,  ist 
es  durchaus  berechtigt  und  vielfach  unentbehrlich.  Es  darf  auch  allgemeinen 
Inhalts  sein,  wo  die  Grundlinie  dies  motiviert:  im  Künstlerroman  sind  Ge- 
spräche über  die  Kunst  wohl  angebracht,  weil  sie  nicht  nur  dem  typischen 
Verlauf  eines  Künstlerlebens  eigentümlich  sind,  sondern  auch  den  spezi- 
fischen Stand  des  Helden  zu  seiner  Umgebung  beleuchten;  so  oft  (nicht 
immer)  im  „Grünen  Heinrich".  Im  „Wilhelm  Meister"  sind  die  Diskus- 
sionen über  das  Theater,  in  Ricarda  Huchs  Romanen  ist  der  Austausch 
der  Weltanschauungen,  in  Th.  Manns  „Buddenbrooks"  das  Gespräch  über 
Gesellschaftsfragen  am  Ort.  Wenn  dagegen  die  Figuren  gemißbraucht 
werden,  um  über  Dinge  zu  reden,  die  ihnen  so  gleichgültig  sein  müssen, 
wie  sie  dem  Verfasser  interessant  sein  mögen,  wenn  plötzlich  „Arien" 
über  Frauenrecht,  Zensur  oder  Rassenfragen  eingelegt  werden  (wie  mit 
der  ärgsten  Kunstlosigkeit  in  W.  Jordans  beiden  Romanen),  so  ist  das 
sicher  ein  ebenso  großer  Kunstfehler,  wie  wenn  der  Autor  in  eigener  Person 
durch  solche  Indiskretionen  unsere  Aufmerksamkeit  von  der  Entwicklung 
ablenkt. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  179 

Doch  muß  man  nicht  vergessen,  daß  der  Roman  sich  nun  einmal 
tatsächlich  zu  der  Hauptgattung  moderner  Literatur  ausgebildet  hat,  und 
daß  ihm  deshalb  gewisse  Kompetenzüberschreitungen  zugut  gehalten  werden 
müssen.  Schließlich  sind  geistreiche  Gedanken,  originelle  Anschauungen, 
interessante  Abenteuer  an  sich  wertvoll  genug,  um  sie  als  Geschenk  zu 
dulden,  wo  wir  sie  als  Leistung  nicht  beanspruchen  dürften.  Und  eine 
stark  und  klar  angelegte  Entwicklung  verträgt  eine  erstaunliche  Menge  von 
Ballast  und  Nebenwerk:  Zeugen  der  „Don  Quijote",  der  „Grüne  Heinrich" 
und  alle  englischen  Romane  der  SmoUet,  Fielding,  Dickens,  George 
Eliot.  Denn  von  den  Engländern  hält  einzig  Thackeray  die  strenge 
Entwicklung  fest,  die  dagegen  kaum  je  bei  den  Franzosen  fehlt. 

§  183.  Wissenschaftliche  Darstellung.  Zola  und  eigentlich  schon  Goethe 
in  den  „Wahlverwandtschaften"  haben  dem  Roman  eine  wissenschaftliche 
Form  und  Färbung  geben  wollen  —  für  die  Nachbarschaft  dieser  Gattung 
mit  der  wissenschaftlichen  Darstellung  jedenfalls  ein  wichtiges  Zeugnis. 

Die  wissenschaftliche  Darstellung  hat  ihre  historische  Wurzel  in  dem 
Interesse  an  merkwürdigen  (wirklichen  oder  vermeintlichen)  Tatsachen  des 
allgemeinen  Lebens.  Sie  ist  also  dem  Ursprung  nach  universell,  tatsächlich 
aber  nur  bei  den  Kulturvölkern  zur  Kunst  entwickelt;  und  selbst  hier  haben 
es  z.  B.  die  Inder  nie  zu  einer  eigentlichen  Geschichtsschreibung  gebracht. 

Die  wissenschaftliche  Darstellung  ist  also  von  vornherein  von  andern 
Formen  der  Erzählung  dadurch  unterschieden,  daß  sie  nicht  (wie  Märchen, 
Anekdote,  Schwank,  Novelle,  Roman)  eine  Handlung  reproduzieren  will, 
sondern  einen  Gegenstand.  Dies  giU  zunächst  auch  von  der  histo- 
rischen Darstellung:  alle  alte  Geschichtsschreibung  in  Vers  und  Prosa  ist 
beschreibend.  Sie  faßt  eine  Schlacht  als  ein  großes  Ungeheuer  auf,  das  sich 
freilich  bewegt,  aber  doch  immer  eine  organische  Einheit  bleibt;  und  sie  sucht 
diesen  Drachen  wiederzugeben,  wie  die  Zoologie  einen  Walfisch  reprodu- 
ziert. Mit  andern  Worten:  die  Keime  der  wissenschaftlichen  Darstellung 
sind  durchaus  beschreibender  Art,  und  mit  seiner  berühmten  Formel, 
die  Physik  habe  mechanische  Vorgänge  auf  die  einfachste  Weise  zu  be- 
schreiben, ist  Kirch  hoff  zu  der  urältesten  Art  wissenschaftlicher  Darstellung 
zurückgekehrt. 

Die  Beschreibung  (Wackernaqel  S.  259  f.,  Albalat,  Art  d'ecrire 
S.  225  f.)  setzt  eine  deutliche  Anschauung  voraus,  die  denn  auch  dem 
„Lehrstil"  (Becker  S.  472  f.)  dauernd  eigen  bleibt.  Sie  setzt  ferner  die 
Kunst  voraus,  den  Kern  des  zu  beschreibenden  Dinges  zu  erfassen  und 
überhaupt  die  wesentlichen  Eigenschaften  von  den  zufälligen  abzuheben. 
Alle  Kunst  der  Beschreibung  ist  an  konkreten  Dingen  gelernt  worden  und 
kann  nur  dort  gelernt  werden.  Das  große  Geheimnis  lebendiger  Beschrei- 
bung aber  hat  Lessing  im  „Laokooti"  enthüllt:  Nachschaffen  heißt  es. 
Und  zwar  hat  dies  zwei  Methoden.  Entweder  —  was  Lessing  fast  allein 
im  Auge  hatte  —  man  schafft  das  Ding  selbst  nach,  läßt  es  vor  unsern 

12* 


1 80  Stilistik. 


Augen  entstehen,  wie  in  der  Ilias  den  Schild  des  Achilleus;  oder  aber, 
was  unserer  modernen  psychologischen  Art  mehr  entspricht,  man  schafft 
das  Bild  des  Dings  nach,  läßt  es  nach  und  nach,  wie  unsere  Augen  sich 
einstellen,  immer  deulicher  werden. ^) 

Solang  es  sich  indes  um  Beschreibung  eines  einzelnen  Gegenstandes 
handelt,  kann  von  wissenschaftlicher  Darstellung  noch  nicht  eigentlich  die 
Rede  sein.  Diese  beginnt  erst,  wenn  das  einzelne  Objekt  in  einem  größeren 
Zusammenhang  angeschaut  wird.  Sobald  aber  dies  geschieht,  spaltet  sich 
die  wissenschaftliche  Darstellung  nach  den  uns  angeborenen  Anschauungs- 
formen in  zwei  Gattungen.  Wird  das  einzelne  Objekt  in  einem  räumlichen 
Zusammenhang  erfaßt,  so  entsteht  die  Naturbeschreibung  (und  weiterhin, 
an  sie  angelehnt,  andere  Formen  der  Nebeneinanderschilderung,  z.  B.  die 
literarhistorische  Beschreibung  in  Uhlands  „Minnesang");  wird  es  in  einen 
zeitlichen  Zusammenhang  gestellt,  so  bildet  sich  die  Geschichtserzählung 
(und  weiterhin,  an  sie  angelehnt,  andere  Formen  der  Nacheinanderschilde- 
rung,  z.B.  die  im  eigentlichen  Sinne  naturhistorische  Darstellung  in  Haeckels 
„Natürlicher  Schöpfungsgeschichte"). 

Der  wissenschaftliche  Stil  ist  im  übrigen  von  den  gleichzeitigen  Formen 
der  Kunstprosa,  besonders  der  Literatur  stark  abhängig  (vgl.  für  die  neuere 
gelehrte  Prosa  in  Deutschland  Mundt  S.  373  f.).  Aber  es  bleibt  doch  der 
Grundzug  der  Beschreibung,  d.  h.  der  verweilenden  Darstellung  der 
Objekte  in  ihren  Beziehungen.  Dadurch  ist  er  vom  Romanstil  geschieden: 
wie  dort  alles  auf  die  Entwicklung  geht,  so  hier  alles  auf  die  Gegenstände 
selbst,  denn  auch  die  historisch  entwickelnde  Darstellung  hat  doch  die  Re- 
produktion der  Tatsachen  selbst  zum  eigentlichen  Zweck;  wie  oft  auch 
durch  die  Einwirkung  des  Romans  zumal  auf  die  Geschichtsschreibung 
dieser  Gesichtspunkt  vermischt  sein  mag.  Die  sogenannten  „Gesetzes- 
wissenschaften" haben  eben  ein  „Gesetz",  die  historischen  Wissenschaften 
eine  zeitliche  Tatsachenreihe  zu  behandeln  —  das  sind  andere  Objekte  als 
ein  Stein  oder  ein  Metall,  aber  immer  Objekte. 

Darin  liegt  denn  ohne  weiteres,  daß  die  wissenschaftliche  Darstellung 
sich  durchaus  objektiv  zu  halten  hat.  Jedes  Hervordrängen  der  Subjekti- 
vität, jede  voreilige  Konstruktion,  jedes  Prunken  mit  Stilmitteln  schädigt 
die  Reproduktion  der  Dinge.  Zuzugeben  ist  aber,  daß  dies  für  den  unmittel- 
bar konkreten  Einzeldingen  geltenden  naturwissenschaftlichen  Stil  noch 
stärker  gilt  als  für  den  historischen.  Eine  berechtigte  Geltung  der  Person 
ist  damit  aber  auch  für  jenen  nicht  ausgeschlossen:  da  jeder  die  Dinge 
anders  sieht,  wird  er  sie  anders  beschreiben,  und  wer  sie  etwa  nicht  bloß 
als  Forscher,  sondern  gleichzeitig  als  Künstler  betrachtet,  hat  das  gute  Recht, 
sie   auch    ästhetisch   zu   würdigen.     Das    Höchste   hat   hierin    Goethe   in 


')  Praktische  Hilfsmittel  bei  Albalat,  |  lagen  Dessoir,  Anschauung  und  Beschrei- 
Art  d'^crire  S.  225  f.;  vgl.  Viehoff,  oben  bung,  Archiv  für  systematische  Philosophie 
§  174,  4  f.;  über  die  psychologischen  Grund-      (1904)  10,  20  f. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  181 

seinen  mineralogischen  und  botanischen  Schilderungen  geleistet.  Über  die 
Kunst  der  Naturschilderung  überhaupt  besitzen  wir  jetzt  das  schöne  Werlc 
eines  Meisters:  Ratzel,  Über  Naturschilderung,  München  1904. 

Der  historische  Stil  (Becker  S.  457  f.)  hat  es  mit  lebenden  Menschen 
zu  tun  und  kann  sich  deshalb  der  Beeinflussung  durch  den  Roman  jetzt, 
durch  das  Epos  früher  selten  völlig  entziehen;  wirkt  dieser  doch  bis  in  die 
Auffassung  der  Autobiographien  hinein  (H.  Glagau,  Die  moderne  Selbstbio- 
graphie als  historische  Quelle,  Marburg  1903).  Deshalb  hat  der  ältere  Dumas 
von  Macaulay  witzig  gesagt,  er  erhebe  die  Geschichte  zum  Rang  des 
Romans.  Der  historische  Stil  erträgt  ein  gutes  Maß  von  Subjektivität,  über 
Ranke  zu  Mommsen,  ja  zu  Treitschke  hin;  selbst  von  einer  weitgehen- 
den Parteinahme  hat  der  wissenschaftliche  Gehalt  mehr  zu  befürchten  als  der 
literarische  Wert.  Was  er  dagegen  durchaus  nicht  verträgt,  das  ist  die 
Entfernung  vom  Gegenstand,  das  Operieren  mit  Abstraktionen,  das  Ver- 
zetteln der  Individualitäten,  das  Auflösen  in  Moralpredigten. ') 

Übrigens  folgt  aus  der  Nähe  zum  Objekt,  daß  jede  wissenschaftliche 
Darstellung,  je  mehr  sie  ihrer  Aufgabe  entspricht,  desto  mehr  von  ihrem 
Gegenstand  Duft  und  Farbe  annimmt,  hi  diesem  Sinn  mag  man  denn 
auch  (z.  B.  mit  Bernhardi  2,  289,  Hunt  S.  31)  von  einem  besondern  philo- 
sophischen Stil  sprechen,  ebensowohl  aber  auch  von  dem  botanischen 
Humboldts,  dem  zoologischen  Brehms,  von  Helmholtz'  physikalischer 
und  Liebigs  chemischer  Prosa  reden.  Viel  wichtiger  ist  es  jedoch,  die 
große  stilistische  Verschiedenheit  der  Darstellung  von  der  Untersuchung 
(siehe  unten)  festzuhalten. 

Äußerlich  stellt  sich  die  wissenschaftliche  Darstellung  in  drei  Stufen 
dar:  als  Abhandlung  (Wackernagel  S.  267),  Monographie  und  Lehr- 
buch (ebenda  S.  268).  Die  Abhandlung  behandelt  eine  einzelne  Seite 
eines  Gegenstandes,  die  Monographie  sucht  einen  Gegenstand  erschöpfend 
zu  behandeln,  das  Lehrbuch  die  Totalität  zu  geben.  Natürlich  sind,  zumal 
zwischen  Abhandlung  und  Monographie,  die  Grenzen  fließend.  Übrigens 
gilt  diese  Dreiteilung  für  die  wissenschaftliche  Untersuchung  genau  so  wie 
für  die  wissenschaftliche  Darstellung. 

Die  stilistischen  Regeln  ergeben  sich  für  diese  drei  Stufen  aus  ihrer 
Grundanlage.  Die  Abhandlung,  die  nur  ein  Problem  behandelt,  besitzt  in 
diesem  das  Objekt,  auf  das  jeder  Satz  sich  unmittelbar  oder  mittelbar  be- 
ziehen muß.  Für  das  Lehrbuch  ist  ein  größerer  Zusammenhang,  ein  Ge- 
samtgebiet  dieser  Gegenstand  und  somit  muß  jede  in  ihm  enthaltene  Dar- 
stellung eines  einzelnen  Objekts  der  Gesamtdarstellung  dienen.  Hauptsächlich 
wird  alles  durch  eine  systematisch  gut  berechnete  Disposition  (vgl.  §  165) 
geleistet,  die  jedem  Einzelfall  seine  Stellung  im  Ganzen  anweist;  natürlich 
helfen  aber  auch  direkte  Hinweise  diesem  Zweck.     Namentlich   hat  auch 

•)  Vgl.  über  die  historische  Darstellung  |   thode,  und  seine  kleinere  Einleitung  in  die 
Bernheim,  Lehrbuch  der  historischen  Me-      Geschichtswissenschaft,  Stuttgart  1905. 


182  Stilistik. 


hier  das  Herausarbeiten  der  typischen  Fälle  große  Bedeutung;  sie  spielen 
im  Lehrbuch  dieselbe  Rolle  wie  die  Tonstellen  im  Satz.  —  Als  äußere 
Unterstützung  der  Anschaulichkeit  ist  bei  einer  Gesamtdarstellung  eine  über- 
sichtliche Inhaltsangabe  unentbehrlich;  damit  man  umgekehrt  von  der 
Gesamtdarstellung  jederzeit  zu  jedem  wichtigen  Einzelfalle  zurückkehren 
kann,  muß  zweitens  ein  ausreichendes  alphabetisches  Register  als  un- 
entbehrlich angesehen  werden.  Diese  beiden  Reflexe  der  Gründlichkeit 
(Register)  und  Übersichtlichkeit  (Inhaltsangabe)  eines  wissenschaftlichen 
Werkes  sind  ebenfalls  bei  Darstellung  und  Untersuchung  gleich  selbst- 
verständlich. 

§  184.  Bericht.  Nur  scheinbar  sind  die  letztgenannten  Hilfen  ledig- 
lich für  den  Benutzer  da:  ihm  dienen  sie  freilich  in  erster  Linie,  erwachsen 
sind  sie  aber  dem  Ordnungsbedürfnis  und  der  Selbstkritik  des  Forschers. 
Selbst  hier  also  bleibt  noch  immer  der  monologische  Charakter  im  Über- 
gewicht über  den  der  Mitteilung.  Wir  kommen  nun  zu  den  Gattungen, 
bei  denen  umgekehrt  der  Anredecharakter,  das  Mitteilungsbedürfnis  leb- 
hafter als  die  monologische  Reflexbewegung  bestimmend  wirkt. 

Die  einfachste  Form  ist  der  einfache  Bericht.  Die  Meldung,  die 
etwa  der  Späher  dem  Heerführer  abstattet,  der  heimgekehrte  Gesandte 
seinem  König,  oder  die  Nachricht,  die  der  Opferpriester  der  Gemeinde 
über  das  Ergebnis  von  Losung  oder  Vogelflug,  der  Richter  dem  „Umstand" 
von  der  Beratung  der  Geschworenen  abstattet  —  all  das  sind  einfache  Mit- 
teilungen bestimmter,  in  der  Regel  ziemlich  einfacher  Tatsachen.  Aber  in 
all  den  angegebenen  Fällen  liegen  Keime  zu  einer  kunstmäßigen  Gestal- 
tung des  Berichts  vor.  Denn  1.  handelt  es  sich  um  t)-pische  Vorgänge, 
für  die  sich  schon  deshalb  leicht  eine  tj-pische  Form  herausbildet;  2.  um 
Vorgänge  von  Wichtigkeit,  bei  denen  deshalb  auch  die  meldenden  Worte 
und  Wendungen  beachtet  werden;  3.  um  Nachrichten,  die  vorzugsweise 
von  bestimmten,  geschulten  oder  doch  vorbereiteten  Persönlichkeiten  und 
vor  ebensolchen  abgestattet  werden,  so  daß  etwa  eine  Ungenauigkeit  des 
Ausdrucks  nicht  durchgeht;  4.  was  die  Hauptsache  ist,  um  Meldungen  bei 
erregter  Stimmung  vor  der  Schlacht,  in  feierlicher  Vorführung,  im  geord- 
neten „Thing",  was  auch  dem  Bericht  einen  feierlichen  Ton  gibt. 

Es  bilden  sich  deshalb  früh  feste  Formeln  für  solche  und  ähnliche 
Fälle  (feierliche  Begrüßung  von  Fremden,  Verabschiedung  von  Gästen 
u.  dgl.)  heraus,  die  ich  als  „zeremonielle  Satzformeln"  bezeichnet  und  für 
unsere  älteste  Dichtung')  gesammelt  habe;  sie  werden  in  den  „technischen 
Satzformeln"  der  Dichter-)  nachgebildet.  Indessen  formulieren  diese  Regeln 
doch  erst  das  Äußerliche;  der  Inhalt  selbst  der  Meldung  bleibt  von  den 
feierlichen  Formeln,  mit  denen  sie  etwa  beginnt  und  schließt,  zunächst 
noch  unabhängig. 


•)  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  *)   Formeln  für   Einleitung,  Übergang, 

S  381  f.  .  Schluß:  ebenda  S.  555  f. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  183 


Aber  auch  nur  zunächst:  bald  wird  auch  er  sich  der  festgefügten 
Umrahmung  anpassen.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die  Meldung  nicht 
immer  von  dem  erstattet  werden  kann,  der  selbst  die  Wahrnehmung  machte: 
die  Vorposten  schicken  einen  Boten  ab,  der  Gesandte  einen  Vertrauens- 
mann; oder  der  König  sendet  an  seinen  Nachbarfürsten  einen  Botschafter 
mit  einer  bestimmten  Nachricht,  z.  B.  einer  Kriegsdrohung.  Diese  Meldung 
muß  dann  genau  so,  wie  sie  aufgetragen  wurde,  abgestattet  werden.  Ledig- 
lich eine  Anerkennung  dieser  Tatsache  ist  die  sogenannte  epische 
Wiederholung  (Wackernagel  S.  63),  d.  h.  die  wörtliche  Wiederkehr  be- 
stimmter Nachrichten  an  mehreren  Stellen  des  Gedichts,  die  nur  in  der 
altgermanischen  Dichtung')  aus  Lust  an  der  Variation  zuweilen  verletzt,  im 
volkstümlichen  Märchen  dagegen  bis  zur  Pedanterie-)  getrieben  wird. 

§  185.  Inschrift.  Der  Stil  der  Meldung  kann  zweierlei  Ton  haben: 
entweder  „militärisch",  knapp,  auf  das  Wesentlichste  beschränkt;  oder  aber 
„höfisch",  zeremoniell,  mit  breiten  Prunkfalten  das  Wesentliche  fast  über- 
deckend. Beide  sind  uralt,  wie  ihre  Gelegenheiten;  beide  haben  ihre  feste 
Tradition.  Beide  entwickeln  sich  fort  und  werden  jede  in  ihrem  eigenen 
Stil  noch  weiter  ausgebildet,  sobald  sie  aus  der  mündlichen  Tradition  in 
die  schriftliche  gelangen.  Die  höchste  Stufe  dieser  Stilisierung  —  die 
durch  den  meldenden  Brief  hindurchgeht  —  ist  die  Inschrift. 

Die  Inschrift  ist  eine  uralte  und  großartige  Gattung  der  Kunstprosa; 
trotzdem  haben  die  Lehrbücher  der  Stilistik  für  sie  kaum  je  Raum  ge- 
funden. Die  ältesten  Sprachdenkmäler  fast  aller  Völker  sind  epigraphisch: 
so  auch  unsere  frühesten  Runendenkmäler.  Ein  fester  Stil  verleugnet  sich 
nirgends. 

A.  Die  knappe  Inschrift  ist  —  schon  wegen  der  anfänglichen  Schwie- 
rigkeit des  Eingrabens  —  so  viel  häufiger,  daß  wir  den  Ausdruck  „lapidare 
Kürze''  geradezu  für  lakonische  Zusammenfassung  brauchen,  obwohl  es 
(z.  B.  bei  den  Assyrern  und  Ägyptern)  Steininschriften  von  breitester  Ge- 
schwätzigkeit gibt. 

Ihr  Platz  ist  vorzugsweise  eine  historisch  ausgezeichnete  Stelle:  ein 
Grabmal  (Grabinschriften  sind  die  häufigste  und  wichtigste  Form),  ein  Stein 
auf  einem  Schlachtfeld  u.  dgl.  Ihre  Form  ist  die  der  knapp  und  klar  regu- 
lierten Aussage,  die  vor  allem  die  Namen  an  eine  auffallende  Satzstelle  zu 
bringen  hat.  Übergang  in  rhythmische  Form  oder  Ausstattung  mit  Reim  ist 
(der  Feierlichkeit  wegen)  beliebt;  Runenverse  finden  sich  früh  im  Norden. 
So  bildet  sich  allmählich  die  poetische  Kunstform  des  Epigramms  (Wacker- 
nagel S.  138:  „Epigramm  der  Empfindung'' ;  S.  159:  „Epigramm  der  Lehre 
und  des  Spottes",  Gerber  2,  2,  182  f.  u.  s.  w.)  heraus,  besonders  auch  die 
Volksepigrammatik  feierlich  gehaltener,  didaktischer  oder  lyrischer  In- 
schriften (vgl.  oben  §  158:  „Deutsche  Inschriften  an  Haus  und  Gerät"): 


')  Vgl.  a.  a.  O.  S.  118. 

2)  Weber,  Märchen  und  Schwank  S.  12  Anm. 


1 84  Stilistik. 


Bauen  war  eine  Lust, 
Aber  was  es  gekost't. 
Hab  ich  vorher  nicht  gewußt   (a.  a.  O.  S.  45). 

Für  die  edle  alte  Inschrift  wird  die  schlagende  Kürze  des  Latein  (auf 
ein  Invalidenhaus:  „Laeso  sed  invicto  militi")  kaum  je  zu  überbieten  sein; 
obwohl  auch  die  griechische  Grabschrift  von  Thermopylae  mit  Recht  be- 
rühmt ist.  Ein  großartiger  Zug  fehlt  auch  französischen  Inschriften  nicht, 
wie  der  an  dem  Historischen  Museum  von  Versailles:  „A  toutes  les  gloires 
de  la  France".  Die  deutsche  Inschrift  hat  sich  selten  über  das  Notwendigste 
erhoben,  und  dann  meist  den  lateinischen  Stil  mit  geringerem  Glück  nach- 
geahmt. 

Eine  Ausdehnung  der  einzelnen  Meldung  führt  zu  dem  längeren 
Bericht,  amtlicher  oder  geschäftlicher  Art,  der  im  wesentlichen  die  gleichen 
Eigenschaften  beibehält,  aber  etwas  von  dem  Zeremoniell  der  höfischen 
Meldung  annimmt.  Dieser  sogenannte  Geschäftsstil  (Becker  S.  444  f.) 
wahrt  die  Nüchternheit  und  Sachlichkeit  der  kurzen  Meldung,  muß  natür- 
lich überdies  die  Pflicht  der  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  auch  in  der  An- 
ordnung der  Einzelnachrichten  erfüllen.  Nimmt  das  zeremonielle  Element 
einen  breiten  Raum  ein,  so  spricht  man  vom  Kanzleistil  (a.  a.  O.  S.  448 f.), 
der  aber  (wie  übrigens  meist  auch  der  Geschäftsstil)  selten  noch  literarische 
Geltung  zu  beanspruchen  hat. 

Entfernt  sich  dagegen  der  Bericht  unter  dem  Druck  erregender  Mo- 
mente oder  bestimmter  Absichten  von  jener  ursprünglichen  Sachlichkeit,  so 
gleitet  die  Werbeschrift  und  Staatsschrift  in  das  Gebiet  der  Beredsam- 
keit über.  Die  politische  Prosa  (Mundt  S.  411  f.)  legt  auf  die  Aus- 
nutzung der  Tatsachen  größeres  Gewicht  als  auf  ihre  Mitteilung  und  ist 
deshalb  aus  dieser  Verbindung  zu  lösen. 

B.  Die  breitere  Inschrift,  die  höfische  Prunk-  und  Ruhmesmeldung 
hat  ihren  Platz  vorzugsweise  auf  eigens  für  sie  hergerichteten  oder  ge- 
schaffenen Natur-  oder  Kunstdenkmälern,  Felsen,  Pyramiden,  Säulen.  Ihre 
Form  ist  die  der  pathetischen  Verkündigung,  bei  der  vor  allem  auch  die 
Titel  an  eine  auffallende  Stelle  gebracht  werden  müssen.  —  Übrigens  hat 
diese  im  Orient  und  zum  Teil  auch  bei  den  Romanen  gepflegte  Gattung 
für  uns  geringe  Bedeutung,  außer  insofern  sie  die  kurze  Inschrift  durch 
ihren  Stil  beeinflußt  hat.  Dies  ist  namentlich  bei  Grabschriften  häufig 
der  Fall. 

§  186.  Brief.  Als  eine  Zwischenstufe  in  der  Entwicklung  des  Berichts 
hatten  wir  bereits  den  Brief  zu  erwähnen,  indem  er  ursprünglich  einfach 
ein  Mittel  der  Meldung  ist,  eine  bestimmte  Form  der  Übermittlung  von 
Nachrichten.  Solang  er  dies  bleibt,  entwickelt  er  keinen  eigenen  Stil; 
vielmehr  wird  der  Brief  zu  einer  literarischen  Gattung  erst,  wenn  eine  Reihe 
von  Mitteilungen  im  Zusammenhang  einem  bestimmten  Adressaten  über- 
mittelt werden.     Natüdich  kann,  nachdem  sich  einmal  ein  Briefstil  gebildet 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  185 

hat,  auch  einmal  ein  Brief  eine  isolierte  Meidung  enthalten;  aber  sie  setzt 
immer  einen  größeren  Zusammenhang  voraus,  denn  (was  wohl  zu  beachten 
ist)  der  Brief  als  Kunstgattung  ist  nicht  eine  einzelne  Nachricht,  sondern 
er  ist  der  integrierende  Bestandteil  eines  Briefwechsels.  Der  einzelne  „Brief" 
ist  eine  Abstraktion  wie  der  einzelne  „Vers":  er  setzt  seinesgleichen  voraus 
und  ist  nur  mit  ihnen  verständlich.  Der  gesamte  Briefwechsel  zwischen 
Schiller  und  Goethe  ist  erst  das  fertige  Kunstwerk.  Kommt  es  zwischen 
zwei  Personen  über  einen  einmaligen  Austausch  von  Briefen  oder  gar  über 
einen  einzigen  unbeantworteten  Brief  nicht  hinaus,  so  ist  dieses  Briefpaar 
oder  dieser  Brief  nichts  Ganzes,  sondern  eben  nur  das  Fragment  eines 
Briefwechsels;  wie  eine  einzelne  Notiz  über  meine  heutigen  Eriebnisse 
noch  kein  Tagebuch  ist.  Natüriich  kann  und  wird  aber  der  ausgebildete 
Briefstil  auch  in  solchem  Torso  schon  erkennbar  sein  können. 

Über  den  Briefstil  ist  vielfältig  gehandelt  worden.')  Doch  finde 
ich  jenen  Gesichtspunkt,  der  mir  wesentlich  scheint,  nirgends  verwertet, 
obwohl  Wackernaqel,  Mundt  u.  s.  w.  die  Verwandtschaft  des  Briefes  mit 
dem  Dialog  betonen.  Übrigens  kann  gerade  dieser  Vergleich  irreführen; 
denn  beim  Dialog  ist  ein  einheitlicher  Kern  Voraussetzung,  dem  sich  die 
Sprechenden  in  rascher  Ablösung  nähern,  beim  Brief  dagegen  besteht  die 
Einheit  lediglich  in  den  gegenseitigen  Beziehungen  der  Korrespondenten, 
die  an  hundert  Einzelfällen  sich  selbst  illustrieren. 

Der  echte  freie  Brief  hat  ähnliche  Schwierigkeiten  zu  überwinden 
wie  das  Tagebuch  (vgl.  oben  §  174):  er  ist  eigentlich  unliterarisch, 
fast  antiliterarisch,  und  seine  Unmittelbarkeit  ist  sein  Hauptreiz;  trotzdem 
soll  er  nun  Kunstform  erhalten!  Er  erhält  diese  aber  viel  leichter  und  in 
viel  unbedenklicherer  Weise  als  das  Tagebuch.  Die  Bedingungen  liegen 
wieder  in  der  Persönlichkeit  des  Briefschreibers  und  decken  sich  zum  Teil 
mit  denen  für  das  Tagebuch.  Auch  hier  wird  eine  Natur  vorausgesetzt, 
die  mit  einer  starken  oder  doch  nicht  allzu  schwachen  Unmittelbarkeit  des 
Empfindens  eine  durchgebildete,  d.  h.  individuell  gefärbte  Ausdrucksweise 
vereint.  Auch  hier  wird  eine  Fülle  von  Interesse  für  Einzelheiten  des 
Lebens  günstig  wirken;  doch  kann  sie  durch  die  Lebhaftigkeit  eines  einzelnen 
Interesses  —  z.  B.  des  religiösen  in  den  Briefen  vieler  Theologen,  des 
literarischen  beim  Briefwechsel  G.  Kellers  mit  Th.  Storm  —  aufgewogen 
werden.  Ähnliches  gilt  für  die  Stimmung:  die  schönsten  Briefe  verdanken 
wir  stimmungsreichen  Naturen  (wie  Goethe  und  seiner  Mutter,  Rahel, 
Bismarck);  doch  kann  die  Beweghchkeit  des  Witzes  dafür  eintreten  (wie 
bei  den  meisten  Romantikern  oder  in  den  glänzenden  „Briefen  eines  Un- 
bekannten", Wien,  2  Bde.,  1887:  Alexanders  von  Villers,  wohl  unseres 
größten  Virtuosen  in  der  Briefschreibung). 

')  Beckers. 517 f.,  Wackernagel S.  269.  S.  313  f.,  Broc,  Le  style  epistolaire,  Paris 
—  Mundt  S.  389  f.  Über  den  französischen  1901.  Weitere  Literatur  in  meinem  Grund- 
Briefstil  insbesondere  Albalat,  Art  d'ecrire      riß  der  n.  d.  Literaturgeschichte  S.  14. 


1 86  Stilistik. 


Natürlich  wechseln  die  Anforderungen  an  den  Brief.  Es  gab  Zeiten, 
wo  der  breite  Meinungsaustausch  die  Unmittelbarkeit  so  völlig  ausschloß, 
daß  man  sich  wohlvorbereitete  Abhandlungen  zuschickte;  wie  denn  die 
Humanistenbriefe  überwiegend  rhetorische  Prunkstücke  sind,  die  nur 
scheinbar  unter  „Brief",  eigentlich  aber  wieder  unter  „Rede"  zu  rubrizieren 
sind.  Es  gibt  Epochen,  in  denen  der  individuelle  Ausdruck  sich  noch 
nicht  hervorwagt  oder  einem  offiziellen  Briefstil  (wie  in  Gellerts  Zeit) 
weichen  muß.  Schließlich  gibt  es,  wie  es  scheint,  jetzt  wieder  eine  Epoche, 
in  der  der  Brief  auf  die  Stufe  summarischer  Benachrichtigung  zurückgeht; 
Postkarte  (und  gar  Ansichtspostkarte!)  und  Telegramm  können  treffliche 
Meldungen,  Berichte,  Epigramme,  aber  nur  selten  Proben  des  rechten  Brief- 
stils liefern.  1)  Und  selbst  wo  solche  gesammelt  werden,  führt  die  Auswahl 
leicht  dazu,  jenes  Moment  übersehen  zu  lassen,  das  eine  vollständige  Kor- 
respondenz wie  die  zwischen  Lessing  und  seiner  Frau,  Schiller  und 
Goethe,  Storm  und  Keller,  oder  selbst  schon  die  vollständige  Reihe 
der  an  eine  Adresse  gerichteten  Briefe,  wie  diejenigen  Goethes  an  Frau 
von  Stein,  Bismarcks  an  seine  Frau  lebhaft  empfinden  läßt. 

Der  Brief  leidet,  wie  das  Tagebuch,  unter  berühmten  Mustern,  wozu 
beidemal  nicht  nur  veröffentlichte  wirkliche  Tagebücher  und  Briefe,  sondern 
in  höherem  Grade  noch  fingierte  gehören.  Der  Roman  in  Briefform  hat 
ja  besonders  durch  den  Engländer  Richardson,  den  Franzosen  (denn  das 
ist  er  doch  als  Schriftsteller!)  Rousseau  und  den  Deutschen  Goethe 
(„Werther")  größte  Bedeutung  eriangt.  Aber  auch  im  erzählenden  Roman 
ist  der  Brief  als  Einlage  ein  sehr  beliebtes  Kunstmitte!  von  den  steifen 
Berichtbriefen  altmodischer  Prosa-Epen  bis  zu  den  munteren  Reisebriefen 
Th.  Fontanes.  Der  Brief  im  Roman  ist  aber  natüdich  nur  ein  stilisiertes 
Abbild  des  wirklichen  Briefes  und  kann  diesen  zumal  im  Reiz  der  Unmittel- 
barkeit kaum  je  erreichen.  Die  Geheimnisse  des  echten  Briefstils  sind  also 
an  den  wirklich  geschriebenen  und  ausgetauschten  Briefen  zu  beobachten. 
Und  erinnern  wir  uns,  welch  Unwesen  mit  „Briefstellern  für  Liebende" 
und  ähnlichen  Anleitungen,  das  natüriiche  Gefühl  aus  dem  Schreiben  zu 
verbannen,  noch  heut  getrieben  wird,  so  werden  wir  uns  der  Bedenklich- 
keit aller  stilistischen  Vorschriften  wieder  einmal  besonders  lebhaft  bewußt. 

Ein  echter  und  rechter  Brief  also  entsteht,  wo  zwei  Personen  (seltener, 
und  weniger  glücklich,  ein  ganzer  Kreis)  das  Bedürfnis  eines  fortgesetzten 
Austausches  von  Mitteilungen  fühlen.  Nachrichten  konkreter  Art  sind  dabei 
weniger  wichtig  als  die  Übermittelung  von  Stimmungen,  Gefühlen  und  Ge- 
danken, durch  die  die  Korrespondenten  ihr  gegenseitiges  Verhältnis  im 
Gleichgewicht  zu  halten  und  ihre  Gefühlslage  in  Übereinstimmung  zu  be- 
wahren versuchen,   wie  in   zwei   verbundenen  Glasröhren   das  Wasser  ein 

')  Entwicklung:  Q.  Steinhausen,  Ge-  deutscher  Männer  und  Frauen,  Berlin  o.  J., 
schichte  des  deutschen  Briefes  1, 1889,  II,  1891.  Klaiber  und  Lyon,  Die.Meister  des  deutschen 
.Anthologien:  H.  Kletke,  Ausgewählte  Briefe      Briefes,  Bielefeld  und  Leipzig  1901. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  187 

gleiches  Niveau  anstrebt.  Was  sich  also  auf  diesen  Hauptpunkt  bezieht: 
auf  das  gemütliche  und  geistige  Verhältnis,  dem  der  Briefwechsel  entsprungen 
ist,  das  und  das  allein  ist  hier  wesentlich.  Wie  Staaten  werden  Brief- 
wechsel nur  mit  den  Mitteln  erhalten,  mit  denen  sie  begründet  wurden. 

Selbstverständlich  kann  diesem  Zweck  auch  die  polemische  Ausein- 
andersetzung dienen,  und  Streit-  und  Neckbriefe  bilden  eine  interessante 
Spezies.  Jedoch  wird  der  Brief  an  Unmittelbarkeit  und  individuellem  Reiz 
um  so  mehr  gewinnen,  je  intimer  das  Verhältnis  der  Schreibenden  ist;  und 
mit  vollem  Recht  gelten  deshalb  Liebesbriefe  (wie  die  von  Abälard  und 
Heloise,  von  Diderot  und  Frl.  Voland,  von  Mirabeau,  Goethe,  Char- 
lotte Stieglitz)  für  die  höchste  Blüte  der  Brief kultur;!)  danach  Freundes- 
briefe (wie  der  Briefwechsel  Goethes  mit  Fr.  H.  Jacobi  und  mit  Zelter, 
Arnims  mit  Brentano,  oder  die  Briefe  von  Fr.  D.  Strauß,  von  Mörike) 
und  Familienbriefe  (wie  die  der  Frau  Rat,  die  der  Brüder  Grimm,  der 
Familie  Mendelssohn,  Moltkes).  Erst  danach  kommen  die  Briefwechsel, 
die  einen  ganzen  Kreis  zusammengehöriger  Personen  voraussetzen  oder 
umfassen,  wie  vor  allem  die  der  älteren  Romantiker  (mit  der  Briefkünstlerin 
Caroline  als  Mittelpunkt).  Im  übrigen  bleibt  für  Nuancen  nirgends  so 
viel  Raum  wie  hier,  denn  was  kann  mannigfaltiger  sein  als  die  VerhäUnisse 
zweier  sich  unentbehrHch  gewordener  Persönlichkeiten?  Nur  etwa  einiges 
Negative  kann  über  den  Briefstil  ausgesagt  werden: 

1.  Weil  die  Beziehungen  der  beiden  Persönlichkeiten  der  Punkt  sind, 
in  dem  alle  Strahlen  zusammentreffen  müssen,  darf  der  Brief  nicht  sein, 
was  die  wissenschaftliche  Darstellung  sein  soll:  objektiv.  Je  enger  er  an 
den  Dingen  haftet,  desto  mehr  nähert  er  sich  der  Abhandlung;  deshalb 
können  die  philosophischen  Erörterungen  mit  persönlicher  Beimischung, 
die  etwa  in  Spinozas  oder  Schopenhauers  Kreis  gewechselt  werden, 
kaum  noch  zu  der  Kunstgattung  des  Briefes  gerechnet  werden.  —  Natürlich 
ist  damit  aber  keineswegs  gemeint,  daß  die  Briefe  fern  von  allem  Gegen- 
ständhchen  über  den  Dingen  zu  schweben  hätten!  Die  berühmtesten  Briefe, 
die  die  Weltliteratur  kennt,  die  der  Mme.  de  Sevigne,  enthalten  vor  allem 
in  ungezwungenstem  Plauderton  vorgebrachte  Anekdoten,  Klatschgeschichten, 
Medisance  und  Pikanterien.  Und  wenn  sogar  der  Künstlerfoman  Künstler- 
gespräche duldet,  ja  fast  fordert,  so  werden  Robert  Schumann  und 
Richard  Wagner  gewiß  in  ihren  Briefen  über  ihre  heißgeliebte  Musik 
sprechen  dürfen,  Anselm  Feuerbach  über  Malerei  —  und  Villers  oder 
sein  graziöser  französischer  Nebenbuhler  Doud an  über  Lebenskunst.  Auch 
die  ernsthafte  wissenschaftliche  Auseinandersetzung  geht  in  der  persönlichen 
Handhabung  des  Briefwechsels  zwischen  den  bedeutenden  Philologen  Lehrs 
und  Lobeck  in  den  Briefstil  ein,  und  die  Diskussion  politischer  Tages- 
fragen bei  dem  zwischen  Bismarck  und  Gerlach  —  nichts  Menschliches 
ist  dem  echten  Briefwechsel  fremd. 

')  J.  Zeitler,  Deutsche  Liebesbriefe  aus  neun  Jahrhunderten,  Leipzig  1905. 


1 88  Stilistik. 


2.  Aus  jener  Grundbedingung  folgt  aber  auch,  daß  der  Brief  so  wenig 
am  Subjekt  haften  darf  wie  am  Objekt.  Wer  von  sich  selbst,  seinen  Em- 
pfindungen, seinen  Problemen  nicht  loskommt,  ist  ein  Monologist.  Hebbels 
Briefe  sind  Monologe,  wie  seine  Gespräche  —  und  wie  so  oft  seine  dra- 
matischen Dialoge;  er  konnte  sie  ja  auch  einfach  in  seine  Tagebücher  ein- 
legen. —  Andererseits  ist  natürlich  eine  intensive  Beschäftigung  mit  dem 
eigenen  Wesen  gerade  intimen  Korrespondenzen  gemäß.  Die  psychologische 
Selbstzergliederung  vor  den  Augen  des  Freundes  bietet  einen  Hauptreiz 
besonders  der  jugendlichen  Briefwechsel;  Selbstporträts  fehlen  ihr  fast  nie, 
und  schließlich  soll  die  ganze  Briefreihe  ein  großes  Selbstporträt  darstellen. 

3.  Auf  der  Auswahl  beruht  also  vor  allem  der  Briefstil.  Was  an 
sich  das  Wichtigste  ist,  kann  für  Mörikes  spielende  Plauderbriefe  Neben- 
sache sein,  und  umgekehrt.  Die  ersten  Gehversuche  meines  Kindes  werde 
ich  sicher  meiner  Frau  melden;  ob  meinem  intimsten  Freunde,  steht  dahin. 
Der  Brief  bedeutet  den  höchsten  Triumph  des  literarischen  Relativismus; 
fühlt  man  an  jedem  Wort,  weshalb  es  hier  steht,  oder  weshalb  an  dieser 
Stelle  anderes  fehlt,  so  strahlt  der  persönliche  Charakter  des  Briefes  im 
höchsten  Glanz. 

Die  größten  Meister  des  Briefes  waren  selten  zünftige  Schriftsteller;  doch 
sind  Voltaire  und  Diderot,  Lessing,  Goethe  und  Schiller,  G.  Keller,  Ed. 
Mörike.Th.  Fontane,  Elisabeth  Browning,  Flaubert  und  manche  andere 
große  Ausnahme  zu  nennen.  Künstler,  Männer  von  starkem  Temperament, 
künstlerischem,  aber  literarisch  ungeschultem  Ausdruck,  leidenschaftlichen  In- 
teressen und  fester  Ehrlichkeit  sind  vor  allem  zum  Briefschreiben  geboren.») 
Neben  den  Männern  der  bildenden  Künste  und  besonders  der  Musik  sind 
die  „Dilettanten"  berufen:  Männer,  die  viel  Zeit  und  Mühe  auf  das  ver- 
wenden, was  sie  unmittelbar  interessiert,  ungern  aber  für  das  „Nebenwerk" 
der  Fertigung  und  Formung,  Lebenskünstler  wie  Doudan,  Villers;  im 
Grund  gehören  auch  die  meisten  Romantiker  dazu.  Gelehrte  sind  meist 
zu  gründlich,  Männer  der  „besten  Gesellschaft"  in  der  Regel  zu  ober- 
flächlich zu  guten  Briefschreibern. 

§  187.  Zeitung.  Briefe  waren  die  ersten  Zeitungen,  und  aus  Briefen, 
die  zu  weiterer  Veröffentlichung  gebracht  wurden,  hat  sich  die  Zeitung 
entwickelt.  Dennoch  geht  es  nicht  an,  wie  es  oft  geschieht,  den  Zeitungs- 
stil unmittelbar  aus  dem  Briefstil  abzuleiten.  Denn  zunächst  gehören  jene 
öffentlichen  Briefe  selbst  dem  durchgebildeten  Briefstil  nicht  an,  der  erst 
viel  später  mit  der  Einführung  regelmäßiger  Korrespondenten  in  die  Zei- 
tungen übernommen  wurde.  (Für  Deutschland  haben  die  alte  Augsburger 
Allgemeine  Zeitung  und  insbesondere  Heines  Briefe  aus  Paris  neben  denen  von 
Börne  Epoche  gemacht.)  Und  zweitens  liegt  zwischen  jenen  dem  Publikum 
zugänglich   gemachten   Briefen    (besonders    politischen   Inhalts,    aus    dem 

')  Schöne  Sammlung  von  Quhl,  Kunst-      genwart  fortgeführt  zu  werden, 
lerbriefe;  sie  verdiente  es  wolil,  auf  die  Ge- 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  189 


dreißigjährigen  Krieg  und  früher)  und  der  Entstehung  der  ersten  regel- 
mäßigen Zeitung  (Renaudots  „Gazette"",  zuerst  erschienen  30.  Mai  1631, 
vgl.  Hatin,  Le  Journal  S.  27  f.)  eine  lange  Entwicklung,  während  derer 
die  Vorstufen  des  Zeitungswesens  vielerlei  Einflüsse  erfuhren. i) 

Die  Franzosen,  das  eigentliche  Journalistenvolk,  die  auch  in  ihrem 
„Figaro"'  sozusagen  die  „Zeitung  an  sich"  hervorgebracht  haben,  benennen 
diese  Gattung  mit  demselben  Wort  wie  das  „Tagebuch":  „Journal"  womit 
allerdings  zunächst  mehr  die  periodische  Erscheinung  als  eine  gewisse 
Intimität  hervorgehoben  werden  soll.  Immerhin  bringt  dieser  Name  ein 
charakteristisches  jüngeres  Merkmal  zur  Anschauung,  während  die  wiß- 
begierigen Deutschen  die  „Nachricht",  die  geschäftseifrigen  Engländer  die 
„Neuigkeit"  zum  namenschaffenden  Element  gemacht  haben.  Aber  Nach- 
richten und  Neuigkeiten  bringt  schon  der  Brief  als  schriftlicher  Meldereiter. 
Die  Zeitung  dagegen  ist,  wie  der  Briefwechsel,  eine  feste  Einrichtung;  sie 
ist  eben  ein  einseitiger  Briefwechsel.  Hierin  liegt  das  Wesen  auch  des 
Zeitungsstils.  Wie  der  Briefwechsel,  hat  die  Zeitung  zwischen  zwei  Fak- 
toren ein  bestimmtes  Verhältnis  aufrecht  zu  erhalten;  aber  die  Sorge  hierfür 
ist  ausschheßlich  einem  Teil  übertragen.  Wie  der  Briefwechsel  beruht 
die  Zeitung  auf  einem  Bedürfnis  fortgesetzter  Mitteilungen;  aber  diese  gehen 
nur  von  der  einen  Seite  aus.  —  Zwar  ist  diese  Einseitigkeit  nur  bei  den 
berufstrengen  Deutschen  konsequent  durchgeführt:  bei  der  mächtigen 
englischen  Presse  spielt  das  „Eingesandt",  die  „Stimme  aus  dem  Publikum" 
eine  ganz  andere  Rolle  als  bei  uns,  und  m.anche  „Letter  to  the  Times" 
hat  die  Haltung  des  Weltblattes  mitbestimmt;  und  in  Frankreich  (wie  ähnlich 
nur  in  Nordamerika)  steht  der  Journalist  mehr  als  anderswo  in  der  „Gesell- 
schaft" und  empfängt  von  ihr  unmittelbar  Nachrichten,  Eindrücke,  Aufträge. 
Aber  das  sind  Nuancen;  wesentlich  bleibt  doch,  daß  der  Journalist  an  ein 
bestimmt-unbestimmtes  Gegenüber  schreibt,  ohne  Antwort  zu  erhalten. 

Mit  dem  Briefwechsel  teilt  also  die  Zeitung  1.  die  Periodizität,  die 
aber  hier  zu  naturgesetzlicher  Strenge  gesteigert  ist;  2.  die  Rücksicht  auf 
den  Adressaten  in  Auswahl,  Ton  und  Tendenz;  3.  die  Unmittelbarkeit  der 
momentanen  Anregungen,  die  aber  durch  die  Strenge  der  Tendenz  ein- 
geschränkt wird.  Dagegen  unterscheidet  sie  sich  von  dem  Briefwechsel 
1.  durch  die  Annäherung  an  bewußt  literarische  Formgebung;  2.  durch  die 
Unbestimmtheit  des  Adressaten:  er  ist  nicht  eine  wohlbekannte  Person, 
sondern  eine  Partei,  eine  Interessengemeinschaft,  eine  Stadt,  eine  Gemeinde, 
3.  durch  das  materielle,  politische,  psychologische  Interesse  des  Brief- 
schreibers an  seinem  Erfolg. 

Die  Zeitung  setzt  zweierlei  voraus:  die  Ausbildung  bestimmter  Lese- 
kreise, die  je  durch  ein  gemeinschaftliches  religiöses,  politisches,  soziales, 
wirtschaftliches,  literarisches  Interesse  zusammengehalten  werden;   und   die 


')  Vgl.  allgemein  L  Salomon,  Geschichte 
des   deutschen   Zeilungswesens,   Oldenburg 


und  Leipzig  1900,  V.  E.  Zenker,  Geschichte 
der  Wiener  Journalistili,  2  Bände,  Wien  1 892  f. 


1 90  Stilistik. 


Ausbildung   bestimmter   berufsmäßiger   Journalisten,    die    durch   Neigung, 
Talent  oder  Rücksichten   diese   literarische  Form   allein  oder  vorzugsweise 
pflegen.     Beides  hat  jene  sechs  Punkte  zur  Folge,   die  die  Zeitung  von 
dem  immerhin  ihr  am  nächsten  stehenden  Brief  unterscheiden.    Die  Regel- 
mäßigkeit des  Erscheinens   zwingt,  bei   dem  Fehlen   an  sich   genügender 
Nachrichten  doch  das  Blatt  zu  füllen.  —  Die  Rücksicht  auf  das  Publikum 
ergibt  eine  starke  Einseitigkeit  der  Färbung,   die  leicht  bis  zur  Selbst\'er- 
blendung  oder  gar  zur  absichtlichen  Täuschung  gehen  kann;  wo  sich  dem- 
gegenüber sogenannte  „unparteiische  Zeitungen"  aufgetan  haben,  vertraten 
sie  tatsächlich   immer   entweder  die  Partei  der  Regierung,   oder  sonst  der 
literarischen,  wirtschaftlichen,   religiösen  Mehrheit.  —  Die  Annäherung  an 
literarische  Formgebung  läßt  dem  Zeitungsstil  sehr  weiten  Spielraum,  von 
dem   mündlichen   Stil   des  alten  ^Bayerischen  Vaterlandes''  von  Sigl  bis 
zu  der  rein  akademischen  Haltung  des  früheren  Pariser  Journal  des  Debats" ; 
hier  vor  allem   ist  die  literarische  Individualität  der  Zeitungen  zu  suchen. 
Doch  versteht  es  sich  von  selbst,   daß   keine  Zeitung  hierin  gleichmäßig 
sein  kann:  1.  sind  die  Mitarbeiter  verschieden  literarisch  beanlagt  und  ge- 
schult,  2.  veriangt  der  ^Leitartikel",   der  eigentlich   literarische  Teil   (der 
sich  erst  langsam  entwickelt  hat)  mehr  Form  als  die  Tagesneuigkeiten  u.  s.  w. 
Daher  enthält  eine  größere  Zeitung  Proben  aller  Art  literarischer  Gattungen: 
Berichte   im    knappen   Meldeton,    wissenschaftliche   Darstellungen,   Reden, 
daneben   oft  noch   Erzählungen,   eigentliche  Briefe  u.  s.  w.     Auf  den  Ton 
übt  insbesondere  die  Rede  einen  starken  Einfluß.  —  Die  Unmittelbarkeit 
der   Anregungen    durch   Tagesneuigkeiten,    brennende   Fragen,   politische 
Situationen  wirkt  dieser  literarischen  Tendenz  entgegen.     Man  tut  deshalb 
unrecht,  der  Zeitung  unaufhöriich  eine  gewisse  Lässigkeit  der  Rede  vorzu- 
werfen: man  darf  nicht  veriangen,  daß,  wer  für  den  Tag  schreibt,  so  formt 
und  feilt,   wie  wer  mit  einem  Buch  zu  Generationen  reden  möchte.     Der 
Zeitungsstil   hält  zwischen   mündlicher  Rede  und  literarischer  Form,  dieser 
letzten  näher,  die  Mitte,  darf  sich  aber  freilich  nicht  in  vulgäre  Formlosig- 
keit veriieren.  —  Die  Unbestimmtheit  des  Adressaten  läßt  die  Zeitung  jenes 
persönlichen  Elements  entbehren,   das  sonst  jede  literarische  Kundgebung 
leicht  aufu'eist:  der  Journalist  vedeugnet  bis  zu  einem  gewissen  Grad  seine 
Individualität,  um  sich  bewußt  dem  Publikum  so  anzupassen,  wie  der  wirk- 
liche Briefschreiber  sich  seinem  Gegenüber  unwillküriich  anpaßt.  —  Diese 
bedenkliche  Anpassungsform  wird  durch  das  Berufsinteresse  noch  gesteigert. 
Man  sieht  also,  daß  die  Zeitung  allerdings  eine  halbschlächtige  Gattung 
ist,  wie  die  beiden,  die  ihr  zunächst  stehen :  der  Brief  und  das  Tagebuch.  Mit 
dem  bloßen  Schelten  über  Journalistik  und  Zeitungsdeutsch  ist  es  deshalb 
doch  nicht  getan.  Vor  fast  100  Jahren  klagte  de  Quincey,  daß  die  Zeitungen 
den  englischen  Stil  zugrunde  richteten;»)  vor  etu'a  50  Jahren  wiederholten 

')  De  Quincey,  Essays  on  style,  ed.  by  |  deutscher  Zeitungsstil,  ebenda  S.  25  f. 
Scott,  S.  18  f.;  französischer,  englischer  und 


Dreizehntes  K.\pitel.    Arten  der  Prosa.  191 

Schopenhauer,  R.  Hildebrand,  Lassalle,  Kürnberger,  weiterhin  dann 
Wustmann  und  Otto  Schroeder  diese  Anklagen  noch  heftiger  gegen  die 
deutsche  Journalistik;  gegenwärtig  erhebt  man  sogar  in  Frankreich  dieselben 
Vorwürfe  gegen  die  Presse.  Trotzdem  hat  in  diesem  Zeitraum  England 
Journalisten  wie  Carlyle  und  Ruskin,  Deutschland  solche  wie  G.  Freytag, 
H.  von  Treitschke,  Ferd.  Kürnberger,  Otto  von  Bismarck,  Frankreich 
solche  wie  Veuillot,  Sainte  Beuve,  Rochefort  gehabt;  mit  andern  Worten : 
zwischen  Literatur  und  Presse  hat  sich  eine  großartige  Annäherung  voll- 
zogen. Die  Jahre  des  Konflikts  haben  die  politische  Zeitung,  die  Jahre  der 
neuen  Literarbewegung  die  kritischen  Organe  auf  eine  neue  Höhe  ge- 
hoben. Als  Vermittlung  zwischen  „Literatur"  im  engern  und  „Zeitungs- 
wesen" im  weitem  Sinne  sind  von  England  {„Edinburgh  Rez'iezi'")  und 
Frankreich  {„Journal  des  deux  mondes")  her  die  Zeitschriften  zu  einem 
unentbehrlichen  Mittel  und  Bestandteil  der  „allgemeinen  Bildung"  aufge- 
stiegen.') Man  wird  gut  tun,  unsere  Tages-  und  Vierteljahrsliteratur  zu 
studieren,  statt  einfach  von  der  Tageszeitung  den  Stil  der  Goethischen 
Iphigenie  zu  fordern. 

Als  berechtigte  Anforderungen  an  den  Zeitungsstil  können  nur  die 
gelten,  die  sich  unmittelbar  aus  dem  Wesen  der  modernen  Zeitung  ableiten 
lassen.  Hier  ist  nun  noch  ein  Punkt  zu  erwähnen,  den  wir  bisher  über- 
gangen haben.  Auf  das  Verhältnis  des  Journalisten  zum  Publikum  fanden 
wir  dies  eigentümliche  Wesen  begründet.  Wenn  nun  aber  der  Verfasser 
eines  wirklichen  Briefes  seinen  Adressaten  bereits  vorfindet,  hat  der  der 
Zeitung  ihn  sich  erst  zu  schaffen.  Zwar  kommt  es  nicht  selten  vor,  daß 
er  für  ein  bereits  vorhandenes  Publikum  schreibt:  eine  Gemeinschaft  irgend 
welcher  .Art  bestellt  sich  einen  Vertreter  ihrer  Anschauungen.  Aber  zunächst 
sind  die  offiziellen  Parteiorgane  keineswegs  immer  die  Blätter,  welche  die 
Parteigenossen  lesen;  und  wenn  sie  es  zu  einem  festen  Kreis  von  Lesern 
bringen,  dürfen  sie  es  doch  ihrer  eigenen  Kraft  so  viel  wie  ihrem  offiziellen 
Mandat  zuschreiben. 

Hier  zeigt  sich  wiederum  eine  Verwandtschaft  zwischen  Zeitung  und 
Rede.  Beide  verfolgen  einen  unmittelbaren  Zweck,  streben  eine  direkte 
Einwirkung  auf  das  Publikum  an;  doch  handelt  es  sich  bei"  der  Rede  um 
eine  einmalige  praktische  Aufgabe,  bei  der  Zeitung  mehr  um  eine  dauernde 
ideale.  (Zeitungen,  die  lediglich  Geschäftsuntemehmungen  sind  und  sein 
wollen,  gehen  uns  so  wenig  an  als  unterliterarische  Hintertreppenromane 
und  Bettelbriefe  oder  Gymnasiastentagebücher;  glücklicherweise  ist  aber  trotz 
allem,  was  man  sagt,  Maupassants  „Bel-Ami"  noch  nicht  der  alleinige 
Vertreter  des  modernen  Journalistentums!)  Dieser  werbende  Charakter  ist 
aber  für  jede  echte  Zeitung  wesentlich;  und  wir  wiederholen  unser  Wort, 
daß  Korrespondenzen  nur  mit  den  Mitteln  erhalten  werden,   durch  die  sie 

')  H.  WuTTKE,  Die  deutschen  Zeitschrif-      nung,  Leipzig  1875. 
ten  und  die  Entstehung  der  öffentlichen  Mei- 


1 92  Stilistik. 


begründet  werden.  Deshalb  können  wir  nunmehr  sagen:  die  Zeitung  stellt 
einen  einseitigen  Briefwechsel  dar,  dessen  Aufgabe  es  ist,  zwischen  dem 
Verfasser  und  einem  möglichst  großen  Kreis  ein  fortgesetztes  Mitteilungs- 
bedürfnis zu  unterhalten  und  eine  sich  steigernde  Gemeinschaft  der  An- 
schauungen herauszubilden.  (Daß  diese  „Gemeinschaft  der  Anschauungen" 
fast  stets  eine  nur  partielle  ist  und  sich  bald  nur  auf  politisch-religiöse, 
bald  auf  ästhetische  oder  wissenschaftliche  oder  soziale  Anschauungen  be- 
zieht, ändert  nichts  in  der  Sache.) 

Die  Zeitung  hat  also  praktisch  zweierlei  Hauptaufgaben:  1.  Interesse 
zu  erregen,  2.  Stimmung  zu  machen.  Was  der  wirkliche  Briefwechsel 
voraussetzt,  steht  hier  als  Postulat  am  Ende  der  Laufbahn.  Eine  gute 
Zeitung  steht  zu  ihren  Lesern  in  einem  solchen  Verhältnis,  daß  sie  wirklich 
wie  der  Brief  eines  Nahestehenden  aufgenommen  wird. 

Die  moralischen  Forderungen,  die  hieraus  abzuleiten  sind,  berühren 
uns  hier  nicht;  wohl  aber  die  stilistischen. 

Um  fortwährend  Interesse  zu  erregen,  muß  die  Zeitung  unaufhörlich 
Neues  bringen.  Damit  ist  keineswegs  gesagt,  daß  sie  immer  neuen  Stoff 
zu  bringen  habe:  das  gilt  ja  nur  für  den  Nachrichtendienst,  der  z.  B.  bei 
religiösen  Zeitungen  nebensächlich  ist;  vielmehr  liegt  es  ihr  ob,  den 
Stoff  so  zu  formen,  daß  er  unter  neuen  Gesichtspunkten  erscheint.  Jede 
rechte  Zeitung  hat,  wie  jede  rechte  Partei,  eine  universalistische  Tendenz 
und  hat  eigentlich  keine  Ruhe,  bis  sie  all  und  jedes  im  Licht  der  agra- 
rischen hiteressen  oder  der  Homöopathie  oder  der  Leichenverbrennung 
betrachtet  hat.  Diese  Tendenz  nun,  alle  Dinge  in  bestimmtem  Sinn  zu 
„bearbeiten"  (wie  die  deutschen  Naturphilosophen  es  nannten),  kommt  am 
deutlichsten  zum  Ausdruck  in  jenem  Teil  der  Zeitung,  der  um  1830  in 
Frankreich  aufkam  (Jules  Janin  1804 — 1874)  und  der  besonders  durch 
Heine  und  Börne  nach  französischem  Muster  bei  uns  ausgebildet  wurde: 
dem  Feuilleton.  Mit  Recht  gih  dies  als  der  spezifisch  journalistische  Teil 
der  Zeitung  und  der  Pariser  „Figaro'"  ist  eben  deshalb  die  typische  Zeitung, 
weil  bei  ihm  auch  Leitartikel,  Nachrichtenteil,  Kritik,  Erzählung  feuilleto- 
iiistische  Form  haben.')  Das  Feuilleton  sucht  bereits  bekannten  oder  doch 
nicht  mehr  durch  ihre  Neuheit  wirkenden  Gegenständen  lediglich  durch  die 
Form  der  Behandlung  ein  neues  Interesse  abzugewinnen.-  Vor  allem  dient 
der  Witz  durch  überraschende  Vergleichungen,  originelle  Umschreibungen 
und  zugespitzte  Pointen  dieser  Aufgabe.-)  Doch  kann  auch  eine  lyrisch 
sentimentale  Stimmung^)  dahin  wirken,  wie  überhaupt  jede  Betrachtungsart, 
die  wir  an  gerade  diesem  Stoff  nicht  gewohnt  sind. 

Das  eigentliche  Feuilleton  ist  gewissermaßen  das  journalistische  Gegen- 
stück des  buchmäßigen  Essays  (vgl.  oben  §  1 73  f.),  und  die  Grenzen  sind 

»)  E.  Eckstein,  Beiträge  zur  Geschichte      SprrzER,  .Wiener Spaziergänge',  Wien  1869  f. 
des  Feuilletons,  Leipzig  1876;  unbedeutend.  ')Th.  Herzl,  .Wiener  Feuilletons',  Wien 


-)  Beispiele  z.  B.  aus  neuerer  Zeit  D.       1904. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  193 

bei  ernsteren  Feuilletonisten,  wie  Ferd.  Kürnberger,  und  leichteren 
Essayisten,  wie  zuweilen  selbst  H.  Grimm,  schwer  zu  ziehen.  Vor  allem 
ist  bei  beiden  Gattungen  eine  größere  Kürze  (für  den  Gesamtumfang  wie 
nicht  minder  für  die  einzelnen  Abschnitte  und  Sätze)  Bedingung.  Aber 
die  feuilletonistische  Manier  kann,  wie  schon  erwähnt,  auf  alle  Teile  der 
Zeitungen  übertragen  werden.  So  sind  G.  Freytags  glänzende  politische 
und  kritische  Aufsätze  vielfach  in  diesem  Stil  gehalten;  und  als  klassisch 
kann  die  Art  gelten,  wie  Rostand  seinen  Cyrano  der  geliebten  Roxane  ein 
Feuilleton  aus  Tagesneuigkeiten  vortragen  läßt. 

Die  große  Gefahr  dieser  an  sich  durchaus  berechtigten  Gattung  liegt 
natürlich  in  der  Oberflächlichkeit,  die  über  der  Form  die  Sache  ganz  ver- 
nachlässigt. Diese  Oberflächlichkeit  kann  aber  auch  der  Form  —  die  uns 
hier  allein  angeht  —  gefährlich  werden,  indem  eine  von  irgendwoher  auf- 
gegriffene Manier  einem  beliebigen  Gegenstand  aufgeklatscht  wird.  Dies 
vorzugsweise  ergibt  jenen  mit  Recht  von  Kürnberger,  Wustmann  und 
anderen  gerügten  Zeitungsstil.  Ihm  ist  besonders  die  häßliche  Gewohn- 
heit eigen,  frisch  aufgetauchte  Worte  oder  Wendungen  totzuhetzen,  nur 
noch  mit  „großzügig''  und  „erstklassig"  (vgl.  oben  §  21  S.  12)  zu  charak- 
terisieren, und  jede  Banalität  sich  „voll  und  ganz"  zu  eigen  zu  machen. 
Die  besten  Bilder  werden  auf  diesem  Wege  bald  so  verschlissen  wie  die 
von  Haus  aus  mattesten.  Bismarcks  „Klinke  zur  Gesetzgebung"  ist  durch 
allzu  häufiges  Ergreifen  heut  ebenso  abgenutzt  wie  die  beständig  hochgehal- 
tene „Fahne  der  Gesinnung" .  Vor  dieser  Entartung  sind  die  Engländer 
durch  ihren  geschäftsmäßigeren  Ton  und  die  Franzosen  durch  ihre  bessere 
literarische  Schulung  immer  noch  eher  geschützt  als  wir.  Dafür  ist  der 
Mißbrauch  des  Zitats,  zumal  der  „paroles  historiques" ,  jenseits  des  Rheins 
vielleicht  noch  ärger. ') 

Immerhin  hat  dieser  Zeitungsstil  in  seinem  großen  Einfluß  auf  die 
Literatur  nicht  nur  schädlich  gewirkt:  der  Fortschritt  zu  leichter,  gemein- 
verständlicher Darstellung,  den  niemand  bei  unsern  Historikern,  Natur- 
forschern, Nationalökonomen  verkennen  wird,  ist  sicher  dieser  Erziehung 
mit  zu  verdanken.  — 

Wenn  der  Feuilletonstil  aus  der  Forderung,  Interesse  zu  erregen,  er- 
wächst, so  beherrscht  dagegen  die  Tendenz,  Stimmung  zu  machen,  vor- 
zugsweise die  substanzielleren  Teile  der  Zeitung;  und  für  sie  ist  vor  allem 
der  Leitartikel  da.  Er  ist,  ebenso  wie  das  Feuilleton,  eine  journa- 
listische Neuschöpfung,  obwohl  er  sich  an  die  Rede  anschließt,  wie  jenes 
an  den  Essay.  Wie  der  einzelne  Brief  Fragment  ist  und  erst  der  voll- 
ständige Briefwechsel  ein  Ganzes,  so  ist  auch  der  einzelne  Leitartikel  nur 
ein  einzelner  Satz  und  alle  zusammen  bilden  die  große  Ansprache  der 
Zeitung  an  ihre  Leser.     Hieraus  ergeben  sich  die  stilistischen  Eigenheiten 


•)  Flauberts  Spott  in  Bouvard  et  Pecuchet. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  1.  13 


1 94  Stilistik. 


des  Leitartikels:  stillscliweigende,  seltener  auch  ausgesprochene  Bezugnahme 
auf  andere  Leitartikel  oder  auf  andere  Teile  der  Zeitung,  vor  allem  aber  eine 
gewisse  Einheit  des  Tons  bei  naturgemäßer  Abwechslung  der  Gegenstände. 

Im  ganzen  werden  wir  wohl  annehmen  müssen,  daß  ein  eigenartiger 
Zeitungsstil  sich  erst  dann  entwickeln  wird,  wenn  unsere  Zeitungen  eben 
mehr  Stil  haben.  Noch  spielt  bei  uns  die  Presse  eine  zu  geringe  Rolle, 
noch  ist  der  literarische  Ehrgeiz  zu  schwach;  nur  einige  große  Organe  von 
führender  Bedeutung  oder  historischem  Ruf,  wie  Münchener  Allgemeine 
Zeitung,  Schwäbischer  Merkur,  Kölnische  Zeitung,  Neue  Freie  Presse, 
Frankfurter  Zeitung,  halten  auf  eine  gewisse  Durchschnittshöhe  ihrer  Bei- 
träge in  stilistischer  Hinsicht.  Radikale  Organe,  wie  „Vorwärts'"  und 
„Kreuzzeitung'' ,  pflegen  besser  zu  schreiben  als  gemäßigte,  frisch  ins  Feld 
tretende  kräftiger  als  solche,  die  nur  ihren  Platz  behaupten  wollen.  Ferner 
macht  natürlich  das  Arbeitsgebiet  einen  großen  Unterschied:  für  eine  lite- 
rarische Werbezeitung  (wie  etwa  früher  die  „Freie  Bühne'')  ist  der  Stil 
wichtiger  als  für  das  Organ  einer  Wohltätigkeitsbestrebung  u.  s.  w.  Be- 
sondere Stilregeln  hat  natürlich  das  Witzblatt,  obwohl  der  „Kladderadatsch" 
in  seiner  größten  Zeit  sich  der  Form  einer  politischen  Wochenschrift  viel- 
fach angepaßt  und  sogar  den  Leitartikel  in  den  berühmten  Frontgedichten 
von  R.  Löwenstein,  Ernst  Dohm,  J.  Trojan  nachgebildet  hat.  Die 
Zeichnung  tritt  hier  wie  bei  den  illustrierten  Organen  in  den  Aufbau  als 
etwas  Wesentliches  hinein  und  ihre  Unterschrift  verstärkt  den  aphoristischen 
Charakter  vieler  Zeitungspartien.  Aber  die  ästhetische  Seite  unseres  Zei- 
tungswesens ist  über  der  kulturhistorischen  und  politischen  auch  in  den 
besseren  Monographien  durchweg  zu  kurz  gekommen. 

§  188.  Mitteilende  Prosa.  Als  dritte  Kauptform  der  Prosa  sprachen 
wir  die  von  vornherein  als  Mitteilung  angelegte  Prosa  an.  Sie  setzt  eine 
vorhergehende  innere  Verarbeitung  voraus,  während  die  monologische  Prosa 
auf  eine  solche  verzichtet,  die  erzählende  sie  großenteils  erst  während  der 
Aussprache  vornimmt.  Sie  führt  eben  deshalb  an  die  Grenzen  der  kunst- 
mäßigen Prosa,  weil  in  jener  Formung  des  fließenden  Stoffes  recht  eigent- 
lich der  künstlerische  Prozeß  der  Rede  beschlossen  liegt.  Auch  bleibt 
diese  fortgesetzte  Umbildung  natürlich  bei  der  rein  mitteilenden  Prosa 
nicht  ausgeschlossen,  nur  liegt  ein  verhältnismäßig  großer  Teil  dem  Beginn 
der  Aussprache  voraus.  Dies  gilt  auch  für  die  Rede.  Herder  betonte 
sicher  mit  großem  Recht,  daß  wie  jede  ursprüngliche  Kunstleistung  so  be- 
sonders auch  die  Rede  in  der  Gelegenheit,  dem  bestimmenden  Anlaß 
wurzeh;  aber  mit  diesem  kasuellen  Charakter  darf  man  den  improvisatorischen 
nicht  verwechseln,  den  man  der  primitiven  Beredsamkeit  gewiß  in  zu 
hohem  Grade  zuerkannt  hat. 

Wesentlich  für  die  hierher  gehörigen  Gattungen  ist  femer,  daß  sie  einen 
gewissen  auffordernden  Charakter  tragen.  Sie  wollen  in  dem  Angeredeten 
nicht,   wie   die  Erzählung,  eine  gewisse  Stimmung,   eine  Anschauung,   ein 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  195 


Bild  hervorrufen,  sondern  ihn  zu  einer  bestimmten  Tätigkeit  und  Mitarbeit 
anregen.  Und  zwar  leitet  die  Untersuchung  zu  einer  ebensolchen  geistigen 
Arbeit  des  andern,  die  Rede  dagegen  zu  einer  anders  gearteten  geistigen 
oder  sonstigen  Tätigkeit  an.  Die  Rede  führt  dann  über  die  Grenzen  der 
an  feste  Formulierung  und  Tradition  gebundenen  Kunstprosa  zu  dem 
Sondergebiet  der  mündlichen  Prosa  herüber. 

§  189.  Dialog.  Die  Natur  der  Untersuchung  —  als  literarischer 
Gattung  —  wäre  vielleicht  nicht  so  klar,  wenn  nicht  auch  historisch  der 
Weg  zu  dieser  Kunstform  offen  läge.  Die  Vorstufe  der  wissenschaftlichen 
Untersuchung  als  einer  literarischen  Gattung  ist  nämlich  der  Dialog  und 
dieser  wieder  ist  in  seinem  Ursprung  nichts  anderes  als  die  durch  den 
einen  geführte  Anleitung  des  andern  zur  systematischen  Fragestellung. 
Darin  Hegt  eben  die  welthistorische  Bedeutung  des  platonischen  Dialogs: 
er  wird  durch  den  Geist  des  Sokrates  getragen,  und  dessen  Bedeutung 
wiederum  ist,  daß  er  der  erste  große  Meister  des  Fragens  war.  Auf  seinen 
Schultern  steht  die  Untersuchungskunst,  die  dann  in  der  modernen  Technik 
des  Experiments  gipfelt. 

Der  wissenschaftliche  Dialog')  ist  also  von  dem  Dialog  auf  der  Bühne 
wohl  zu  scheiden:  dieser  hat  einen  fortschreitenden,  der  wissenschaftliche 
Dialog  einen  stationären  Charakter.  Der  dramatisc^he  Dialog  steigt  auf,  der 
untersuchende  kehrt  zu  seinem  Ausgangspunkt  zurück  und  bildet  so  ein 
abgerundetes  Kunstwerk,  während  sein  Bruder  auf  der  Bühne  nur  als  Glied 
eines  größeren  Ganzen  zu  verstehen  ist.  Diesen  Unterschied  hat  die  Sti- 
listik zu  wenig  beachtet,  wo  sie  über  die  Technik  des  Dialogs  handelt. 2) 
Übrigens  hat  der  wissenschaftliche  Dialog  —  dessen  Hauptform  der  philo- 
sophische war —  schwerlich  für  die  Gegenwart  noch  Bedeutung;  Solger, 
der  ihn  zuletzt  zu  erneuern  suchte,  hat,  „was  die  Form  anlangt,  nur  totes 
Maschinenwerk  geliefert"  (Mundt,  Deutsche  Prosa  S.  391).  Der  ursprüng- 
liche Untersuchungsdialog  entstand  aus  der  Zwangslage  einer  Periode,  in 
der  erst  das  Fragen  gelernt  werden  mußte,  und  der  Hauptreiz  des  unter- 
suchenden Zwiegesprächs  ist  eben  die  Entwicklung  der  Frage  selbst,  das 
Herausschälen  des  Problems.  Der  Dialog  ist  ein  wissenschaftlicher  Roman: 
auf  die  Entwicklung  kommt  alles  an,  der  Ausgang  ist  eigentlich  Nebensache. 
Nun  aber  haben  wir  die  Kunst  der  wissenschaftlichen  Frage  (W.  Wundt, 
Logik  II:  Methodenlehre)  so  weit  vervollkommnet,  daß  diese  Spannung  für 
uns  fortfällt  und  nur  noch  die  Freude  an  der  Kunst  bleibt,  mit  der  Piaton 
und  seine  Nachahmer  aus  der  Not  eine  Tugend  zu  machen  verstanden. 

Natürlich  fehlt  es  dennoch  nicht  an  Berührungen  zwischen  dem  drama- 
tischen und  dem  untersuchenden  Dialog.  Der  letztere  dringt  etwa  bei  Ibsen 
wie  schon  längst  bei  dem  moralisierenden  Drama  früherer  Epochen  in  das 


')  Wir  besitzen  über  ilin  ein  umfassen- 
des Werk;  R.  Hirzel,  Der  Dialog,  2  Bände, 
Leipzig  1897. 


^)  Wackernagel  S.  258,  269,  Albalat, 
Art  d'ecrirc  S.  301  f. 

13* 


195  Stilistik. 


Drama  ein;  der  erste  belebt  den  Untersuchungsdialog  durch  stärkere  Lust 
an  der  Charakterisierung  der  Unterredner  (schon  bei  Pia  ton  selbst).') 
Neuerdings  bildeten  sich  zwei  Mischformen:  der  zustandschildernde  Dialog, 
stationär  wie  der  der  Untersuchung,  dramatisch  gefärbt  und  zugespitzt  wie 
der  der  Bühne;  seit  Henri  Monnier  („Scenes populaires"  1835)  bei  den 
Franzosen  beliebt,  neuerdings  durch  die  Wiener  (Schnitzler,  Altenberg) 
gepflegt;  und  der  aphoristische  Dialog,  besonders  von  dem  (von  A.  W. 
Schlegel  bewunderten)  Franzosen  Chamfort  ausgebildet,  der  wissenschaft- 
liches Interesse  mit  dramatischer  Formgebung  vereint,  obendrein  (wie  die 
späteren  Aphorismen  und  die  alten  Epigramme)  durch  eine  Überschrift  ab- 
gerundet: 

Auf  einen  charakterlosen  Menschen.  Dorant:  Er  liebt  Herrn  B.  lebhaft.  —  Philint: 
Woher  weiß  er  das?  wer  hat's  ihm  gesagt? 

Dieser  aphoristische  Dialog  hat  als  Unterschrift  unter  den  Karikaturen 
der  Witzblätter  eine  breite  Entfaltung;  selbständig  spielt  er  keine  Rolle. 

§  190.  Wissenschaftliche  Untersuchung.  Allmählich  also  erwächst  aus 
dieser  schönen  Vorstufe  die  Kunstform  der  wissenschaftlichen  Untersuchung. 
Deren  eigene  Stufen  decken  sich  mit  denen  der  wissenschaftlichen  Darstel- 
lung (vgl.  oben  §  183).  Deren  Stil  ist  aber  von  dem  ihrigen  unterschieden, 
wie  Frage  von  Erzählung.  Die  Erzählung  beginnt  an  irgend  einem  Punkte 
und  rollt  in  fortschreitender  Erweiterung  ein  Gemälde  auf;  die  Unter- 
suchung beginnt  mit  dem  Gesamteindruck  und  kommt  in  fortschreitender 
Verengung  auf  einen  einzelnen  Punkt.  Und  in  diesem  Kesseltreiben  liegt 
ihr  ästhetischer  Reiz: 

Eine  Lustjagd,  wie  wenn  Schützen 
Auf  der  Spur  dem  Wolfe  sitzen  — 

Diese  Lust  empfinden  wir,  wenn  wir  in  Lessings  „Wie  die  Alten 
den  Tod  gebildet"  oder  neuerdings  etwa  in  Kösters  Untersuchung  über 
den  Dichter  der  „Geharnischten  Venus''  die  Frage  aus  unbestimmten 
Weiten  immer  enger  ins  Netz  gehetzt  sehen,  bis  zuletzt  die  Gabel  der 
letzten  Alternative  das  erschöpfte  Wild  aufhängt  und  der  Jagdspieß  der 
letzten  Antwort  zum  Hallali  auffordert. 

Alles  muß  also  hier  auf  diese  beständige  Verengung  der  Möglich- 
keiten Bezug  haben.  Im  übrigen  gelten  auch  hier  die  Regeln,  die  aus 
der  wissenschaftlichen  Tendenz  stammen.  Klarheit,  Objektivität,  Übersicht- 
lichkeit; was  alles  im  einzelnen  mehr  durch  die  Methodologie  der  einzelnen 
Wissenschaft  als  durch  die  Stilistik  an  die  Hand  gegeben  wird.  Nur  muß 
noch  auf  eine  Hauptwaffe  der  Untersuchung  verwiesen  werden:  auf  die 
Definition.*)  Sie  dient  nicht  bloß  der  Deutlichkeit,  indem  sie  der  Mehr- 
deutigkeit unserer  Ausdrücke  einen  Damm  entgegensetzt  (vgl.  B.\in,  St>ie 
1,  242),  sondern  sie  bildet  auch  einen  nicht  unwesentlichen  Teil  der  Unter- 

')  Vgl.  GoMPERZ,  Griechische  Deniter  •)  Vgl.  Bernhardi,  Sprachlehre  S.  207. 

Bd.  II,  HiRZEL  a.  a.  O.  Gerber,  Sprache  als  Kunst  II  2,  95. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  197 

suchung  selbst,  indem  sie  von  vornherein  gewisse  Standpunkte  als  zur 
Jagd  untauglich  ablehnt.  Schillers  Antrittsrede  strebt  in  ihrer  ersten 
Hälfte  überhaupt  nur  einer  Definition  zu:  „was  heißt  Universalgeschichte ?"; 
und  insofern  steht  die  Untersuchung  etwa  zur  Darstellung  wie  die  Zeitung 
zum  Briefwechsel:  sie  hat  erst  zu  schaffen,  was  jene  schon  voraussetzt. 
Gerade  in  der  Vorbereitung  der  Definitionen,  der  ganzen  Anlage  steckt  hier 
großenteils  die  formende  Arbeit,  die  dem  an  den  Tag  tretenden  Werk  voran- 
liegt. Für  die  Definition  selbst  ist  das  stilistische  Haupterfordernis  die 
sogenannte  „Eleganz",  d.  h.  die  Kunst,  sie  mit  wenig  Worten  vor  vielen 
Nebeneinwänden  sicher  zu  stellen. 

§  191.  Rede.  Der  Dialog  stellt  sich  äußedich  dar  als  die  Verflechtung 
zweier  Reden;  die  Untersuchung  hat  in  ihrem  unmittelbaren  Bezug  auf  den 
Leser,  dem  die  Freude  an  der  Jagd  übermittelt  werden  soll,  einen  der 
Rede  verwandten  Charakter;  die  Rede  selbst  (Becker,  Stil  S.  497  f.; 
W.-\CKERNAQEL  S.  271  f.;  HuM,  Studics  S.  70  f.)  bringt  den  Charakter  der 
Mitteilung  am  deutlichsten  zum  Ausdruck.  Wie  keine  andere  Gattung  ist 
sie  an  die  wirkliche  Anwesenheit  von  Zuhörern  gebunden:  man  kann  sich 
selbst  in  zwei  Personen  spalten  und  mit  sich  einen  Dialog  halten  (in  dra- 
matischen Monologen  häufig,  und  in  Untersuchungen  eigentlich  stets),  aber 
Reden  an  sich  selbst  zu  halten  bezeichnet  schon  das  Äußerste  von  fingie- 
render Analogiebildung.  (Trotzdem  geschieht  es  besonders  bei  Humoristen 
nicht  selten.) 

Eben  dadurch  aber  wächst  die  Rede  über  die  Kunstprosa  eigentlich 
heraus.  Deren  Gesetz  ist  die  kunstmäßige  Verwendung  der  Sprache  zum 
Ausdruck  meiner  Eindrücke,  Gedanken,  Anschauungen;  sobald  ein  anderer 
daran  teilhat,  kommt  ein  fremdes  Element  hinein  —  dasselbe,  das  auch 
schon  den  Brief  und  die  Zeitung  an  die  Grenze  der  Kunstprosa  lagert. 
Und  diese  Entfernung  von  dem  einfachen  Ausdruck  meiner  Erregung  wird 
jetzt  verstärkt  durch  etwas  Neues,  nämlich  die  Richtung  auf  einen  be- 
stimmten Zweck. 

Immerhin  würde  selbst  dies  einen  entscheidenden  Unterschied  noch 
nicht  begründen;  denn  schon  mit  dem  bloßen  Bericht,  aber  auch  mit  dem 
Roman  kann  eine  bestimmte  Tendenz  unlösbar  verbunden  sein,  und  der 
Parabel  kann  sie  kaum  fehlen.  Wohl  liegt  hier  überall  die  Absicht  nicht 
so  unmittelbar  im  Kern  der  Sache,  wie  bei  der  Rede;  aber  schließlich  mag 
es  eine  Verschiedenheit  des  Grades  scheinen.  Sie  wird  nun  aber  dadurch 
zu  einer  qualitativen  Verschiedenheit,  daß  es  sich  bei  der  Rede  um  einen 
einmaligen,  sofortigen  Zweck  handelt.  Auch  die  Parabel  erstrebt,  wenn  sie 
angewandt  wird,  einen  sofortigen  Zweck  (Menenius  Agrippa!);  aber  sie 
kann  beliebig  oft  angewandt  werden.  Die  Reden  kann  man  nur  einmal 
hören;  und  hielte  sie  der  Redner  selbst  zweimal  —  so  etwas  soll  ja  vor- 
kommen — ,  so  wäre  es  eben  das  zweite  Mal  nicht  mehr  dieselbe.  Also: 
alle  andern  Kunstgattungen  sind  in  erster  Linie  kausal  begründet,  die  Rede 


1 98  Stilistik. 


teleologisch.  Und  dies  ändert  ihren  ganzen  Stil.  Die  unterirdische  Arbeit, 
die  Vorformung  hat  bei  ihr  eine  noch  viel  größere  Bedeutung  als  bei 
Dialog  und  Untersuchung.  Die  ganze  Aufnahme  der  gegnerischen  Reden, 
und  schon  bei  der  Eröffnungsrede  —  ihre  eigene  voraussichtliche  Auf- 
nahme sind  mitwirkende  Faktoren.  Der  Stoff  wird  deshalb  nicht  aus  sich 
heraus,  sondern  aus  der  praktischen  Sachlage,  der  Psychologie  der  Zu- 
hörer, der  Rücksicht  auf  den  Moment  gestaltet  (vgl.  oben  §  3).  All  dies 
findet  seinen  Ausdruck  in  jener  Verankerung  in  den  einmaligen  Augen- 
blick, den  individuellen  Zeitpunkt,  deren  äußeres  Abbild  der  mündliche 
persönliche  Vortrag  ist. 

Was  sich  hieraus  ergibt,  werden  wir  als  „Rhetorik"  zu  behandeln 
haben.  An  dieser  Stelle  kommt  die  wirkliche  Rede  wieder  nur  in  ihrer  im 
eigentlichen  Sinn  literarischen  Umgestaltung  in  Betracht. 

Die  Rede  als  literarische  Prunkgattung  ist  entweder  unmittelbar  oder 
mittelbar  den  eigentümlichen  Bedingungen  der  antiken  Beredsamkeit  ent- 
sprossen, über  deren  fundamentale  Verschiedenheit  von  der  modernen  Rede- 
kunst später  zu  handeln  sein  wird.  Diese  antike  oder  antikisierende  Rede  gibt 
sich  als  ein  isolierter  Vortrag,  der  aber  der  Anwesenheit  von  unmittelbar  zu 
beeinflussenden  Hörern  besonders  am  Anfang  und  Schluß  Rechnung  trägt. 
Die  alte  Rhetorik  hat  für  sie  besonders  eingehend  ein  festes  Dispositions- 
schema (Wackernaoel  S.  279  f.)  geschaffen,  das  sich  an  die  zeremoniellen 
Vorschriften  für  Brief  und  Urkunde  i)  anlehnt.  Das  exordiuni  hat  den  Zuhörer 
wohlwollend  zu  stimmen  und  seine  Aufmerksamkeit  zu  erregen  („captatio  bene- 
volentiae").  Der  Redner  kommt  dann  mit  der  narratio  facti,  dem  Bericht, 
zum  Ausgangspunkt  seiner  eigenen  Handlung  und  kündigt  mit  der  expositio, 
der  Auseinanderlegung,  seine  Absicht  des  nähern  an.  —  Auf  diese  drei- 
teilige Einleitung  folgt  die  disputatio.  die  eigentliche  Behandlung  des 
Themas.  Wird  ein  Teil  der  disputatio  schon  in  die  expositio  hinein- 
gezogen, so  nennt  man  deren  ersten  Teil  propositio,  gleichsam  das  An- 
richten des  Mahls,  und  partitio,  das  Zurichten  und  Vorschneiden  (a.  a.  O. 
283,  289).  —  Die  disputatio  hat  wesentlich  den  Vorschriften  der  Abhand- 
lung zu  genügen,  wenn  auch  auf  lebhafterer  Stufe  (vgl.  Wackernwgel 
S.  294  f.).  Dabei  unterscheidet  man  öfters  noch  die  ratiocinatio  und  in- 
diictio  (S.  297),  den  mehr  fragenden  und  ausführlicher  antwortenden  Teil. 
—  Endlich  schließt  die  conclusio,  das  Zuschließen  des  Tors  im  geöffneten 
Gang,  die  Rode  ab.  Sie  wird  wieder  in  drei  Teile  (a.  a.  O.  S.  300  f.)  zer- 
legt: die  Rekapitulation,  eine  konzentrierte  Wiederholung,  in  die  die  im 
Lauf  der  Rede  gewonnenen  Ergebnisse  eingewebt  werden,  womöglich  in 
der  Folge  der  einzelnen  capitula  oder  Abschnitte;  die  pathetische  An- 
sprache, die  den  Zweck  des  ganzen  Vortrags  in  derselben  Weise  einschärft; 
und  der  wirkliche  Abgang. 


•)  Vgl.  z.  B.  Leist,  Urkundenlelire  S.  3  f. 


Dreizehntes  Kapitel.    Arten  der  Prosa.  199 

In  dieser  Anlage  ist  das  meiste  selbstverständlich,  aber  durch  theore- 
tische Künstelei  wird  es  auch  da  verlangt,  wo  es  durch  die  Lage  der  Sache 
sich  eigentlich  verbietet. 

Wie  bei  Tagebuch  und  Brief  gehen  zwar  wirkHche  und  fingierte  Rede 
so  eng  nebeneinander  her,  daß  sie  stilistisch  oft  kaum  zu  scheiden  sind. 
Auch  werden  diejenigen  Nachbildungen  der  mündlichen  Rede,  die  in  Drama 
oder  Roman,  in  Bericht  oder  Zeitung  unmittelbar  eingehen,  eben  nur  als 
rhetorische  Partien  dieser  Gattungen  zu  beurteilen  sein.  Wirkliche  litera- 
rische Umformung  aber,  die  aus  der  Rede  eine  eigene  Art  der  Prosa  macht, 
erfährt  sie  in  der  Gestalt  der  Flugschrift. 

§  192.  Flugschrift.  Die  Flugschrift  wird  nach  ihrer  wichtigsten  Einzel- 
erscheinung gewöhnlich  als  politische  Prosa  (Mundt  S.  41 1  f.)  oder  Staats- 
sdirift  bezeichnet.  Ihr  Wesen  liegt  aber  nicht  in  der  allerdings  häufigsten 
Anwendung  für  politische  Agitation  (berühmte  Meister  Arndt,  Görres, 
Gentz,  Lassalle),  sondern  eben  in  der  Verankerung  auf  einem  individuellen 
Moment,  in  dem  die  Wirkung  erfolgen  soll.  Dies  Imperativische  aber  teilt 
mit  der  Staatsschrift  die  religiöse  Flugschrift  (Luther,  Lessings  „Anti- 
Goeze")  oder  die  wissenschaftliche  (Carl  Vogt  „Köhlerglaube  und  Wissen- 
schaft"; Fr.  D.  Strauß;  die  Schriften  von  Müllenhoff,  Holtzmann  u.  a.  im 
Nibelungenstreit),  die  ästhetische  (Richard  Wagner  und  seine  Gegner) 
oder  die  rein  kasuelle,  persönliche  (z.  B.  die  Streitschriften  über  Kaspar 
Hauser).  Haben  sie,  was  die  Regel  ist,  einen  stark  angreifenden  und  per- 
sönlichen Ton,  so  nennt  man  sie  Pamphlete.»)  Mit  dieser  Benennung  wird 
meist  ein  tadelnder  Nebensinn  verbunden,  wozu  eine  prinzipielle  Berechti- 
gung nicht  vodiegt,  wohl  aber  durch  den  sehr  naheliegenden  und  sehr 
häufigen  Mißbrauch  der  Form  eine  historische. 

Die  Flugschrift  könnte  man  als  die  in  eine  Rede  verdichtete  Zeitung 
definieren.  Mit  der  Rede  hat  sie,  wie  ausgeführt,  das  Moment  der  un- 
mittelbaren Zweckerstrebung  und  dadurch  den  aktuellen,  persönlichen  Cha- 
rakter gemein;  mit  der  Zeitung  die  Unbestimmtheit  des  erst  zu  schaffenden 
Publikums  und  die  Notwendigkeit,  ein  Interesse  erst  zu  erregen,  das  die 
Rede  schon  voraussetzen  darf.  Aber  es  fehlt  ihr  auch  nicht  an  Berührungen 
mit  dem  Brief,  der  wissenschaftlichen  Darstellung  und.  Untersuchung. 
Mit  all  diesen  Gattungen  (wenn  wir  wenigstens  für  die  Zeitung  den 
Zeitungsartikel  einsetzen)  teilt  sie  die  Forderung  der  relativen  Kürze. 

Die  Flugschrift  gehört  zu  den  Stiefkindern  unserer  Literaturgeschichte 
und  den  verstoßenen  Kindern  der  Stilistik,  trotzdem  sie  sich  auf  die  größten 
Namen  berufen  kann,  trotzdem  kein  Ton  von  der  leidenschaftlich  bebenden 
Entrüstung  Luthers,  Lessings,  der  Freiheitskriege  bis  zu  dem  kalt  be- 
rechnenden  Hohn  etwa  der  Streitschriften   Lassalles  ihr  fehlt.     Freilich 


•)  Vgl.  über  ihre  Blütezeit  in  Deutsch-  englischer  Meisterstücke:  famoiKPa/npÄfe^s. 
land  meine  Deutsche  Literatur  des  19.  Jahr-  London  1884,  u.  a.  von  Milton  und  Defoe. 
hunderts,  3.  Aufl.,  S.  305  f.    Eine  Sammlung 


200  Stilistik. 


läßt  sich  auch  über  ihren  Stil  nur  eben  das  sagen,  was  aus  jener  Zwischen- 
stellung zwischen  Rede  und  Zeitung  folgt.  Sie  muß  vor  allem  wirksam 
sein  und  also  mit  allen  Mitteln  auf  die  Erzielung  einer  bestimmten  Ge- 
mütslage hinarbeiten.  Die  religiöse  Flugschrift  wird  gern  pathetisch,  die 
wissenschaftliche  gern  witzig-überlegen  sein,  die  politische  mit  beiden 
Stimmungen  wirken  wollen.  Die  Stimmung  jedenfalls,  aus  der  eine  er- 
strebte Handlungsweise  hervorgehen  würde,  ist  es,  worauf  hier  alles  und 
jedes  Bezug  haben  muß.  Verliert  sich  etwa  der  Verfasser,  der  seine  Leser 
zur  ironischen  Ablehnung  eines  bestimmten  Vorschlags  veranlassen  will,  in 
doktrinären  Auseinandersetzungen,  so  verdirbt  er  dem  Leser  den  Eindruck, 
daß  dieser  Vorschlag  leicht  abzutun  sei.  Damit  ist  wieder  keine  pedantische 
Gleichmäßigkeit  des  Tons  gefordert  —  Episoden  können  im  Gegenteil  so 
glücklich  wirken  wie  im  Roman;  nur  muß  das  Ganze  einen  bestimmten 
einheitlichen  Eindruck  hinterlassen.  Daher  ist  hier,  wie  bei  der  Rede  — 
oder  dem  lyrischen  Gedicht,  der  Schluß  von  besonderer  Wichtigkeit. 

§  193.  Rückblick.  Blicken  wir  auf  dies  wichtigste  Kapitel  der  Stilistik 
zurück,  so  sehen  wir,  daß  eigentliche  Vorschriften  hier  noch  am  ehesten 
möglich  sind.  Jede  Art  der  Prosa  hat  ein  anderes  Zentrum,  einen  andern 
Aufbau,  eine  andere  ratio;  für  jedes  gelten  deshalb  spezifische  Modi- 
fikationen der  allgemeinen  Regeln.  Sie  sind  bei  rein  ausgebildeten  Kunst- 
gattungen, wie  Novelle,  Roman,  wissenschaftliche  Darstellung,  Dialog, 
strenger  als  bei  den  Grenzgattungen,  die  der  Alltagsrede  benachbart  sind, 
wie  Tagebuch,  Brief,  Bericht,  Zeitung;  aber  sie  fehlen  nirgends.  Diese 
Tatsache,  daß  jede  anerkannte  Form  der  kunstmäßig  angewandten  Prosa 
ihren  eigenen  Stil  hat,  gibt  die  beste  Rechtfertigung  ihrer  Einteilung  nach 
Gattungen;  sie  bietet  auch  die  beste  Handhabe  für  die  Kritik.  Denn  ob 
ein  Märchen,  ein  Roman,  ein  Feuilleton  als  soldies  kunstgerecht  ist,  darauf 
kommt  es  zuerst  an.  Ist  das  der  Fall,  so  muß  die  untere  Technik  des 
Satzes  und  der  Satzverbindung  in  Ordnung  sein;  ist  das  nicht  der  Fall, 
so  hilft  der  vortrefflichste  Periodenbau  und  der  größte  Aufwand  an  Phan- 
tasie und  Pathos,  Witz  und  Scharfsinn  nichts. 

Ob  aber  ein  einzelnes  literarisches  Produkt  dem  Stil  seiner  Gattung 
entspricht,  das  liegt  in  jenen  Hauptforderungen  begründet,  die  historisch 
und  psychologisch  eben  die  einzelne  Art  der  Prosa  geschaffen  haben.  Be- 
stimmte Hilfsmittel,  etwa  aus  dem  Gebiet  der  Figuren  oder  Tropen,  für  jede 
anzuraten,  scheint  uns  verfehlt.  Das  Märchen  liebt  freilich  die  Hyperbel, 
und  die  Parabel  die  Personifikation;  das  aber  liegt  nicht  in  der  Gattung, 
sondern  in  der  Stimmung,  aus  der  Märchen  oder  Parabel  zumeist  er- 
wachsen. Und  wo  Hyperbel  oder  Personifikation  aus  dieser  Stimmung 
nicht  spontan  entspringen,  da  soll  man  sie  eben  auch  nicht  hineinzwängen; 
es  gibt  gute  Märchen  ohne  jede  Hyperbel  —  z.  B.  Rotkäppdien  — ,  aber 
alle  Hyperbeln  der  Welt  machen  ein  schlecht  angelegtes  Märchen  nicht 
besser. 


Vierzehntes  Kapitel.   Umgestaltende  Faktoren.  201 

Vierzehntes  Kapitel. 
Umgestaltende  Faktoren. 

§  194.  Norm  und  Umgestaltung.  Die  „Gattungen"  heben  sich  mit  festeren 
Umrissen  aus  dem  Meer  der  literarischen  Produktion;  aber  auch  „der 
Roman",  „das  Märchen",  „die  Untersuchung"  sind  doch  noch  reichlich 
abstrakte  Begriffe.  Was  als  lebendige  Fülle  der  Kunst  uns  entgegentritt, 
das  ist  die  Schaffung  des  einzelnen,  im  einzelnen  Moment  unter  bestimmten 
Bedingungen  hervorgebracht.  Wie  Goethe  es  in  den  „Sprüchen  in  Prosa" 
(Nr.  898)  ausdrückt: 

Was  ist  das  Allgemeine?  Der  einzelne  Fall.  Was  ist  das  Besondere?  Millionen 
Fälle. 

Aus  diesen  Millionen  von  Einzelfällen  ist  eben  der  Typus  erst  ab- 
strahiert, durch  Vergleichung  gewonnen.  Systematisch  betrachtet  erscheint 
aber  umgekehrt  der  Einzelfall  als  Modifikation  des  Typus:  die  Norm  wird 
durch  ihn  immer  irgendwie,  oft  in  vielen  Punkten  durchbrochen.  Freilich 
kommen  wir  damit  wieder  an  eine  Grenze  der  Stilistik:  als  allgemeine 
Stillehre  hat  sie  diese  individuellen  Gestaltungen  eben  wieder  nur  auf  ihre 
typische  Bedeutung  hin  zu  prüfen.  Jene  empirische  Stilistik,  die  von  der 
tatsächlichen  Anwendung  aller  Kunstformen  und  Kunstmittel  durch  die 
einzelnen  Zeiten  und  Dichter  Bericht  ablegen  würde,  ist  hier  am  aller- 
wenigsten zu  geben.  Nur  wieder  Kategorien  der  Umgestaltung  durch  indi- 
viduelle Faktoren  sind  aufzuzählen. 

§  195.  Moment.  Die  geringste  Bedeutung  hat  der  Moment  der  Ver- 
öffentlichung; ja  er  spielt  eigentlich  nur  da  eine  Rolle,  wo  er  mit  dem 
Moment  der  Produktion  nahezu  zusammenfällt,  nämlich  bei  der  Rede. 
Aber  auch  von  einem  Moment  der  Produktion  ist  fast  nur  bei  solchen 
kurzen  Gattungen,  wie  eben  Rede  und  ferner  Anekdote,  Parabel,  Schwank 
u.  dgl.,  zu  sprechen:  wo  längere  Arbeit  erfordert  wird  (wie  beim  Roman, 
der  wissenschaftlichen  Darstellung  und  Untersuchung),  wird  eine  gewisse 
Ausgleichung  der  Momente,  der  guten  und  schlechten  Stimmungen,  der 
günstigen  und  ungünstigen  Arbeitsbedingungen  u.  s.  w.  eintreten.  Immer- 
hin kann  ein  Werk  oft  genug  die  Spur  seiner  Entstehung  deutlich  in  sich 
tragen.  Eine  plötzliche,  blitzartige  Konzeption  kann  die  hinreißende  Wir- 
kung von  Goethes  (freilich  fragmentarischem!)  „Ewigen  Juden"  oder 
Grillparzers  „Ahnfrau"  bewirken,  wenn  der  Impuls  fortdauert,  kann  aber 
auch  eine  besonders  schwere,  nicht  zur  Gleichmäßigkeit  durchdringende 
Technik  verschulden,  wenn  Ermattung  eintritt,  wie  bei  Otto  Ludwigs 
Entwürfen.  Eine  zu  lang  ausgetragene  Arbeit  kann  ungelenkig  werden 
wie  die  „Wanderjahre".  Und  stilistisch  im  engeren  Sinne  des  Wortes  wird 
sich  eine  mehr  improvisatorische  Schöpfung  durch  große  Lebhaftigkeit  der 
Sprache  mit  ihren  Begleiterscheinungen  (Ellipsen,  Aposiopesen,  Ana- 
koluthien  u.  dgl.)  auszeichnen,  durch  kühne,  weil  rasch  gewählte  Metaphern, 


202  Stilistik. 


durch  den  Zusammenschluß  der  erschauten  Vergangenheit  und  der  Gegen- 
wart des  Sprechenden  (Praesens  historicum).i) 

So  setzt  sich  die  Frage  des  Moments  oft  in  die  andere:  ununter- 
brochenes und  unterbrochenes  Arbeiten  (vgl.  Scherer,  Poetik  S.  157  f.)  um. 
Für  große  Werke  vom  äußern  Umfang  des  „Messias",  des  „Faust",  der 
„Wanderjahre"  ist  die  Unterbrechung  beinah  unvermeidlich,  freilich  aber 
auch  ihre  Folgen:  Ungleichheiten  der  verschiedensten  Art.  Das  Werk 
macht  die  EnUvickelung  des  Dichters  mit,  erlebt  mit  ihm  allerlei  Phasen 
der  Weltanschauung,  des  Stils,  der  Technik.  Die  Figuren  beginnen  sich 
mit  einer  gewissen  Notwendigkeit,  wie  von  der  Phantasie  des  Verfassers  los- 
gebunden, zu  entwickeln,  so  daß  man  etwa  den  Friedrich  der  „Lehrjahre" 
in  dem  Friedrich  der  „Wanderjahre"  kaum  wiedererkennt.  Am  augen- 
fälligsten aber  pflegen  jene  sachlichen  Widersprüche  (vgl.  oben  S.  151)  zu 
sein,  die  freilich  auch  schon  bei  konstanter  Arbeit  eintreten  können:  einer 
der  berühmtesten  Fälle,  daß  Sancho  Pansa  nämlich  auf  einem  Esel  sitzt, 
den  er  verioren  und  nicht  wiedergefunden  hat,  dürfte  schweriich  eine  Arbeits- 
pause zwischen  den  beiden  sich  unmittelbar  folgenden  Kapiteln  zur  Voraus- 
setzung haben. 

Mit  diesen  Wirkungen  der  Arbeitsart  hat  sich  wieder  vorzugsweise  die 
Poetik  zu  beschäftigen.  Indessen  ist  das  Thema  doch  auch  für  die  Stili- 
stik von  unmittelbarer  Wichtigkeit. 

Ein  ästhetischer  Purismus,  dem  z.  B.  Herder  oft  nahe  kam,  könnte 
einfach  erklären  wollen:  alle  Kunst  müsse  unmittelbar  aus  dem  einen 
Moment  erfließen;  alle  Arbeit,  die  sein  unmittelbares  Nachwirken  durch 
Rekonstruktion  zu  ersetzen  versuche  (wie  das  z.  B.  Goethe  mit  seinen 
Schematen  anstrebt),  ergebe  nur  Flickwerk.  Tatsächlich  hieße  das,  alle  aus- 
gedehnteren Werke  verbieten  (was  ja  auch  die  neuere  Schule  Stefan 
Georges,  trotz  ihrer  Verehrung  für  Dante,  gern  täte);  und  wir  wollen 
doch  lieber  den  „Faust"  mit  hundert  Lücken  haben  als  hundert  Faust- 
fragmente. Es  gilt  also,  aus  der  Not  eine  Tugend  zu  machen  und  gerade 
die  unterbrochene  Arbeit  stilistisch  zur  Geltung  zu  bringen. 

Dies  geschieht  vor  allem  durch  die  Betonung  der  Entwicklung  selbst 
Die  Evolution,  die  der  Dichter  durchgemacht  hat,  dient  ihm  nun  auch  als 
Mittel,  diejenige,  welche  seine  Figuren  erieben,  zu  verdeutlichen:  aus  der 
unwillküriichen  Übertragung  autobiographischer  Erfahrungen  wird  eine 
kunstvoll  geregelte.  Gerade  dies  dient  dem  modernen  Roman,  aber  auch 
breiter  angelegten  Dramen,  wie  Björnsons  „Über  unsere  Kraft",  zum 
entscheidenden  Vorteil.  Der  Verfasser  steht  hinter  seinen  Figuren  nicht 
mehr  wie  der  hastig  umkleidende  Regisseur  der  „Nouvelle  Heloise", 
Rousseau,  sondern  wie  der  Geschichtschreiber  Ludolf  Ursleu  bei  Ri- 
carda   Huch,    der  die    Wandlungen   seines   Hauses   mit  anteilvoller  Re- 

')  Becker,  Stil  S.  134,  Wackernagel      deruch,  Satzbau  1,  157  f. 
S.  400,  vgl.  ERDiNUNN,  Syntax  I  §  140,  WuN- 


Vierzehntes  Kapitel.   Umgestaltende  Faktoren.  203 

signation  überdenkt,  oder  wie  der  automatische  Selbstregistrierapparat 
aller  Erlebnisse  bei  „Buddenbrooks"  (Thomas  Mann).  Und  diese  psy- 
chologische Durcharbeitung  wird  durch  rein  stilistische  Mittel  unterstützt. 
Zunächst  durch  solche,  die  eben  auch  der  Individualisierung  der  Phasen 
dienen:  lebhaftere  Stilmittel,  Metaphern,  Apostrophen,  Anaphern  u.  dgl. 
werden  durch  ernstere  Sachlichkeit,  nüchternem  Ausdruck  abgelöst.  Dann 
aber  gilt  es  auch  umgekehrt,  durch  Aufrufen  früherer  Zustände  die  Ver- 
änderung anschaulich  zu  machen;  daher  haben  (z.  B.  bei  Th.  Mann)  die 
stehenden  Redensarten,  typischen  Gesten  und  andern  Formen  der  „epischen 
Wiederholung"  eine  neue  Wichtigkeit  gewonnen,  nicht  minder  aber  auch 
die  Anspielung  auf  schon  erzählte  Szenen,  die  Durchführung  bestimmter  ge- 
danklicher oder  stimmungsmäßiger  „Leitmotive"  (z.  B.  bei  RicardaHuch 
oder  Helene  Böhlau). 

Die  Länge  der  Arbeit  bedingt  aber  auch  unmittelbar  Veränderungen 
in  der  Stellung  des  Dichters  zu  seinem  Werk  und  seinen  Figuren.  Der 
junge  Goethe  verliebt  sich  in  Adelheid  von  Walldorf;  Kleist  weint  über 
Penthesileas  Tod.  Solche  Intensität  der  Anteilnahme  kann  man  beim  Ab- 
schluß des  „Faust"  nicht  mehr  voraussetzen.  Diese  eigene  Abkühlung 
wird  dem  Dichter  als  Mittel  dienen,  diejenige  seiner  Leser  zu  bemessen. 
Es  wird  ihr  entweder  dadurch  entgegenwirken,  daß  er  mit  neuen  Mitteln 
ein  frisches  Interesse  erregt  für  Faust  den  Kolonisator;  oder  er  wird  ihr 
durch  eine  geschickte  Behandlung  der  Stimmung,  leicht  ironische  Epitheta 
u.  dgl.  entgegenkommen,  statt  durch  fortwährende  Verherrlichung  des  Helden 
den  ihm  etwas  entfremdeten  Leser  zu  reizen. 

§  196.  Zeit.  Wichtiger  als  der  individuelle  Moment  ist  natürlich  für 
die  Entstehung  und  Förderung  des  Werkes  der  allgemeine:  die  Zeit  seines 
Dichters  überhaupt. 

Die  Wandlungen  in  Geschmack  und  Ansprüchen  des  Publikums  (s. 
unten)  kommen  hier  keineswegs  allein  in  Betracht.  Vielmehr  ist  vor 
allem  für  die  Kritik  namentlich  auch  der  Stilmittel  an  die  vollständig  ver- 
änderten Anschauungen  zu  denken,  die  die  Zeit  den  Künstlern  selbst  auf- 
zwingt. Entscheidend  ist  vor  allem  ein  Punkt.  Lange,  große  Kunst- 
perioden haben  in  dem  Kunstwerk  vor  allem  eben  ein  Werk  der  Kunst 
sehen  wollen:  sie  verlangten,  daß  dem  Beschauer  unmittelbar  der  Eindruck 
einer  bewußten  Erhebung  über  die  Wirklichkeit  vermittelt  werde.  Dies  gilt 
von  fast  allen  „idealistischen"  Epochen;  insbesondere  auch  von  der  klas- 
sischen Antike  und  von  der  „Goethe-Schiller-Kultur".  Im  Gegensatz  dazu 
haben  andere  Zeiten  und  so  besonders  auch  wieder  die  unsere  in  dem 
Kunstwerk  vor  allem  ein  Stück  Natur,  einen  Ausschnitt  der  Wirklichkeit 
sehen  wollen;  Natur  und  Wirklichkeit  mögen  durch  ein  Temperament  be- 
schaut werden,  wer  aber  das  Kunstwerk  betrachtet,  soll  lediglich  den  Ein- 
druck der  Realität  haben.  Zwischen  diesem  Illusionismus  und  jenem  Idea- 
lismus herrscht  die  denkbar  größte  Stilverschiedenheit;  man  denke  sich  nur 


204  Stilistik. 


einen  Satz  aus  Goethes  „Iphigenie"  in  Ibsens  „Wildente"  versetzt  oder 
umgekehrt! 

Handelt  es  sich  um  die  Beurteilung,  wie  weit  ein  Stilmittel  an  einer 
bestimmten  Stelle  angebracht  und  wirksam  sei,  so  darf  natürlich  nicht 
Schiller  vom  illusionistischen  oder  Gerhart  Hauptmann  vom  idea- 
listischen Standpunkt  aus  gerichtet  werden.  Schon  Otto  Ludwig  ging 
viel  zu  weit,  wenn  er  in  Schillers  Sentenzen  nur  goldene  Nüsse,  an  den 
Weihnachtsbaum  gehängt,  sehen  wollte.  Denn  das  Drama,  das  mit  einer 
gewissen  Feierlichkeit,  seines  religiösen  Ursprungs  eingedenk,  vor  das  Volk 
tritt,  hat  ein  gutes  Recht  auf  ein  gewisses  Maß  von  äußerem  Schmuck, 
und  Schillers  Wallenstein  hat  eben  nicht  zu  sprechen  wie  Hauptmanns 
Florian  Geyer  oder  gar  wie  Grabbes  Hannibal.  Doch  ist  gewiß  zuzugeben, 
daß  schon  bei  Schiller  —  und  noch  mehr  bei  seinen  Epigonen  —  ein 
Übermaß  von  sprachlicher  Dekoration  den  höheren  Aufgaben  der  Charakter- 
zeichnung manchmal  schädlich  wird.  —  Und  die  Liebesszene  in  „Vor  Sonnen- 
aufgang" mit  ihrer  ganz  schlichten  Rede  darf  nicht  einfach  an  den  poetisie- 
renden  Stilmitteln  von  „Romeo  und  Julia"  gemessen  werden,  weil  Gleichnis, 
Metapher,  lyrische  Einlage  hier  die  beabsichtigte  Illusion  verletzen  müßten. 

Als  wirklich  falsch  und  ungesund  aber  wird  die  Kritik  eins  immer 
zu  rügen  haben:  die  gewaltsame  Übersetzung  aus  einem  Stil  in  den  andern. 
Oder,  mit  andern  Worten:  den  praktischen  Mißbrauch  der  stilistischen  Lehr- 
bücher. Fast  die  gesamte  „höhere  Poesie"  des  17.  und  früheren  18.  Jahr- 
hunderts ist  uns  ungenießbar  geworden  durch  jene  gewaltsame  Übertragung 
ins  Poetische.  Es  wird  ein  Stoff  genommen,  der  eine  bestimmte  einfache 
Form  mit  sich  bringt:  ein  Glückwunsch,  eine  Klage.  Nun  wird  Stück  für 
Stück  in  die  fremde  Sprache  übersetzt;  wofür  wir  in  den  poetischen  Trich- 
tern, und  genau  so  schon  in  der  Skaldenpoetik  des  nordischen  Altertums, 
und  ganz  so  in  der  Praxis  der  klassizistischen  Franzosen  und  Engländer  die 
ergötzlichsten  Beispiele  haben.  Jener  ungebildete  Großvater  fragte  den  Enkel, 
der  erzählt  hatte:  „Heut  haben  wir  in  der  Schule  Geographie  gehabt":  „Wie 
heißt  denn  ,Tisch'  auf  Geographie?"  Unsere  alten  Stilistiken  wissen  genau, 
wie  ,Tisch'  auf  Episch  oder  Lyrisch  heißt,  etu-a:  ^der  Träger  süßer  Lasten' 
oder  „der  Atlas,  der  unter  der  Last  gelehrter  Bücher  keucht".  Es  wird 
gefragt,  wo  Gleichnisse  anzubringen  sind,  woher  man  Metaphern  nehmen 
soll;  Swift  schlug  ein  Bureau  zur  Lieferung  von  Tropen  und  Figuren  an 
schlechte  Skribenten  vor. ')  Die  sehr  feine  und  wertvolle  Empirie  der  Alten,  die 
an  neuem  Material  und  unter  neuen  Gesichtspunkien  wird  frisch  aufgenommen 
werden  müssen,  ward  immer  mehr  in  eine  lächerliche  Apothekerbüchse 
gewandelt,  der  man  für  bestimmte  Zwecke  Proanaphonema.  Proanapho- 
nesis.  Proapantesis,  Proasma  entnahm  oder  mittelst  deren  man  sonst  pro- 
saisch Erz  in  hochpoetisch  Gold  wandelte.    Die  ^Enallage"  (vgl.  Gerber, 


»)  Philippi,  Kunst  der  Rede  S.  225. 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.  205 

Kunst  der  Rede  1,  509  f.)  ward  zum  alchemistischen  Zaubermittel:  der  Er- 
satz des  gewöhnlichen  durch  das  ungewöhnliche  Ausdrucksmittel. 

Haben  wir  etwa  über  die  Schlesische  Schule  zu  urteilen,  so  dürfen 
wir  diese  gelehrte  Krankheit  (es  ist  eine  Art  Sprachstörung,  eine  Unfähig- 
keit das  rechte  Wort  auszusprechen)  zur  Würdigung  des  einzelnen  nicht 
vergessen.  Der  Fehler  bestand  eben  darin,  daß  die  Stilmittel  völlig  von 
der  psychologischen  Basis  entfernt  oder  bestenfalls  diese  erheuchelt  wurde: 
man  stellte  sich  erhitzt,  um  beim  Geburtstag  des  Großonkels  Visionen 
haben  zu  können.  Indes  wird  bis  zu  einem  gewissen  Grad  jede  Zeit 
solche  Übersetzungen  begünstigen.  Die  poetische  Sprache  ist  wirklich  nur 
eine  kunstmäßige  Fortbildung  der  Alltagsrede  (vgl.  meine  Altgermanische 
Poesie  S.  483  f.)  und  die  Alltagsrede  wird  jederzeit  eine  bestimmte  Tendenz 
haben,  die  dann  in  der  poetischen  Sprache  leicht  übertrieben  wird.  Die 
Schriftsteller  des  Jungen  Deutschlands  (und  schon  die  meisten  Romantiker) 
mußten  überall  Witz  zeigen,  der  Münchener  Dichterkreis  alles  „in  Harmonie 
auflösen",  auch  die  Nibelungenfabel  in  Geibels  Drama;  heute  hat  die 
kritische  Stilistik  zu  beachten,  daß  auch  mit  Schlichtheit  geprunkt  und  mit 
Einfachheit  geprotzt  werden  kann.  Denn  es  gibt  nun  einmal  „feierliche 
Momente",  ob  man  sie  liebt  oder  nicht;  und  der  Feldherr,  der  vor  der 
Schlacht  nur  sagen  kann:  „Nu  los!'\  hat  die  Beredsamkeit  Napoleons 
{„Von  den  Höhen  dieser  Pyramiden  sehen  vierzig  Jahrhunderte  auf  Euch 
herab!")  nicht  übertroffen. 

§  197.  Umgebung.  Der  Dichter  wirkt  ja  doch  tatsächlich  nicht  allein,  und 
auch  der  Einsame  Chamissos  auf  Salas  y  Gomez  denkt  an  Leser.  Die  Um- 
gebung ist  ein  umgestaltender  Faktor,  dessen  Bedeutung  man  selten  ver- 
kannt, oft  sogar  überschätzt  hat.  Zum  Teil  ist  ihre  Verschiedenheit  ja  in 
der  der  Zeit  schon  mitenthalten;  zum  Teil  wird  die  Gestaltung  des  Publi- 
kums von  der  Wahl  des  Themas  (s.  unten)  abhängig  sein.  Es  bleibt  aber 
doch  noch  die  individuelle  Mannigfaltigkeit  der  Umgebung.  Hat  der  Dichter 
eine  feste,  ihm  fast  persönlich  bekannte  Gemeinde  wie  etwa  Robert  Brow- 
ning? oder  —  der  günstigste  Fall!  —  eine  ebensolche  als  Kern  einer 
großen  und  unbekannten  Gemeinde  wie  Goethe  seit  Weimar?  Schreibt 
er  für  bestimmte  Kreise?  für  das  „Volk"  wie  J.  P.  Hebel?  für  die  wenigen 
wie  Nietzsche?  Besteht  eine  merkbare  Wechselwirkung  zwischen  ihm 
und  dem  Publikum  wie  bei  Jean  Paul?  oder  fühlt  er  sich  lediglich  als 
Erzieher  der  Menge  wie  Schiller?  Rechnet  der  Dramatiker  mit  den  Be- 
suchern eines  bestimmten  Theaters  wie  Grillparzer,  der  kein  Drama  mehr 
veröffentlichte,  als  die  Hörer  der  „Burg"  ihm  untreu  geworden  waren? 
oder  mit  einer  Bühne  der  Zukunft  wie  (nach  Goethes  Vorwurf)  Kleist? 
Endlich:  wird  der  allgemeine  Zusammenhang  durch  bestimmte  Momente 
verstärkt:  durch  eine  nationale  Feier,  die  Dichter  und  Hörer  erregt  („Des 
Epimenides  Erwachen"),  durch  ein  persönliches  Erlebnis,  für  das  er  Teil- 
nahme voraussetzen   kann  („Nathan  der  Weise"  i?  —  Von  der  unmittelbar 


206  Stojstik. 


beim  Moment  der  Produktion  anwesenden  Korona  ist  nur  bei  der  münd- 
lichen Rede  zu  handeln. 

Jedes  Publii<um  nun  stellt  wie  inhaltliche  (von  der  Poetik  zu  erör- 
ternde) so  auch  stilistische  Anforderungen.  Der  einfache  Leser  will  unter- 
halten sein  und  will  gemütlich  Anteil  nehmen;  daß  ihm  der  Dichter  ent- 
gegenkommt, spürt  man  bis  in  die  Epitheta  hinab:  „unser  trefflicher  Fer- 
dinand". Der  aristokratische  Leser  begehrt  einen  etwas  schwierigen  Stil, 
freut  sich  an  Anspielungen,  wünscht  einige  Sportausdrücke  (z.  B.  der  neue- 
sten Kunstkritik).  Es  handelt  sich  nicht  darum,  dem  V'erfasser  ein  Ent- 
gegenkommen anzuraten,  sondern  ihn  zu  verstehen,  wo  er  absichtlich  oder 
unabsichtlich  entgegengekommen  ist.  In  Jean  Pauls  Umgebung  forderte 
man  Sentimentalität  und  Witz,  eine  gewisse  Hypertrophie  des  Gleichnisses, 
einige  Gelehrsamkeit;  aber  er  gehörte  eben  selbst  den  Kreisen  an,  die  das 
wünschten,  war  ihre  lautgewordene  Stimme.  (Über  die  Einschränkung  der 
stilistischen  Individualität  durch  die  Rücksicht  auf  die  Umgebung  vgl.  Sher- 
Ai-w,  Analytics  of  literature  S.  326  f.,  R\leigh,  On  st>-le  S.  65). 

§  198.  Thema.  Wie  all  diese  Dinge  nur  der  Vollständigkeit  wegen 
ausgesprochen  werden  müssen,  obwohl  sie  sich  eigentlich  von  selbst  ver- 
stehen, so  besonders  auch,  daß  jedes  Thema  seinen  eigenen  Stil  hat.  Be- 
handeln wir  den  Raub  einer  Haariocke  im  vergilischen  Stil,  so  wird  es  eben 
ein  „komisches  Epos",  d.  h.  eine  Travestie. 

Stoffwahl  und  Anpassung  ans  Publikum  hängen  nun  besonders  eng 
zusammen;  wobei  beidemal  weder  alle  Nuancen  von  der  ganz  unbewußten 
bis  zu  der  höchst  berechneten  Wahl  und  Anpassung  möglich  sind.  Wie 
weit  nun  durch  die  Gattung  ein  bestimmter  Stil  gefordert  wird,  ist  in 
Kapitel  Xlll  eingehend  erörtert  worden.  Von  der  epischen,  dramatischen, 
lyrischen  Behandlungsart  aber  abgesehen,  bildet  eben  jeder  Stoff  eine  be- 
stimmte Atmosphäre  um  sich,  die  gewisse  Stilmittel  fordert,  andere  aus- 
schließt. Es  gibt  nicht  nur  tragische  und  humoristische,  philosophische 
und  feuilletonistische  Themata,  sondern  auch  rhetorische  und  im  engem 
Sinne  poetische.  Es  gibt  Stoffe,  deren  gewaltige  märchenhafte  Art  (der 
Sieg  von  Sedan!)  große  epische  Mittel  verlangt,  ja  die  Hyperbel  heranruft; 
und  verzwickte  kleine  Themata,  die  der  Ironie  bedürfen.  Hier  ist  bei  der 
unendlichen  Fülle  der  Themata  eben  einfach  von  den  Meistern  zu  lernen 
—  und  negativ  von  den  Dilettanten.  Wenn  Robert  Hamerling  dasselbe 
Thema  in  drei  verschiedene  metrische  Kleider  einhüllt,  so  zeigt  das  eine 
Unsicherheit  des  Stilgefühls,  wie  wenn  ein  Prosaiker  denselben  Stoff  ein- 
mal schlicht,  das  andere  Mal  (ohne  parodistische  Absicht)  pomphaft  be- 
handeln würde. ') 

Ein  jedes  Thema  bringt  auch  etwas  mit  sich  von  der  Zeit  und  der 
Umgebung,   in    der   es   erwuchs.     Wir   wissen    wohl,    was   Goethe   aus- 


')  Ein  Lehrbeispiel  der  Art  bei  Kmgge,      nover  1792,  S.  102  f. 
Über  Schriftsteller  und  Schriftstellerei,  Han- 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.  207 

gesprochen  hat,  daß  alle  Poesie  in  Anachronismen  verkehrt;  nicht  nur  der 
freier  behandelte  Götz  von  Berlichingen,  auch  der  so  streng  historisch  auf- 
gefaßte Florian  Geyer  sind  schließlich  doch  in  Goethes  und  Haupt- 
manns Drama  Kinder  auch  unserer  Zeit.  Aber  der  Anachronismus  darf 
nicht  stillos  werden  —  es  sei  denn  wieder  in  parodistischer  Absicht  wie  in 
Holbergs  lustigem  „Ulysses  von  Ithacia".  Ein  einziges  Wort  kann  den 
Stil  verderben,  den  der  Stoff  fordert.  D.  v.  Liliencron  erzählt  —  in  einer 
auch  sonst  mißlungenen,  schleppenden  Ballade  —  jene  bekannte  grausige 
Anekdote  von  dem  Vogt,  der  dem  Bauern  in  den  Kohl  spuckt  und  den 
dieser  dafür  in  dem  heißen  Kohl  erstickt.  Nach  der  Herausforderung  ent- 
steht „ein  peinliches  Schweigen"" .  Das  eine  Wort  „peinlich"  mit  seinem 
Dunstkreis  von  moderner  Etikette,  Empfindlichkeit,  Nervosität  fällt  aus  dem 
Stil  so  völlig  heraus,  daß  wir  hinter  den  Dithmarschen  des  Mittelalters  nur 
noch  kränkliche  Großstädter  von  heut  sehen.  Oder  Freiligrath  beginnt 
sein  leidenschaftliches  Gedicht  „Wann?"  (Werke  3,  63): 

Die  Zeitung  schreibt  von  braven  Henkern. 

Die  Schwert  und  Augentuch 

Voll  Zorns  in  einen  Winkel  schlenkern  — 

Wie  gräßlich  fällt  das  nonchalante  Verb  aus  dem  Ton!    Ebenso  auch 
häufig  gerade  bei  ihm  die  Wortspiele  mitten  in  pathetischer  Rede: 
Das  Antlitz  fleckig,  halbverwest  —  die  rechten  Reichsverweser! 

Aber  auch  der  „stilistischen  Treue"  sind  Grenzen  gesetzt.  Wie  die 
Anpassung  an  das  Publikum  nicht  so  weit  gehen  darf,  daß  man  wirklich 
wie  der  erste  Beste  redet,  so  ist  allgemein  für  die  Provinzialismen,  Ar- 
chaismen, Kunstwörter  u.  s.  w.,  die  eine  Dorfgeschichte,  eine  historische 
Novelle,  ein  Künstlerroman  leicht  mit  sich  führen,  auf  unsere  allgemeinen 
Erörterungen  (Kapitel  II)  zu  verweisen. 

§  199.  Temperament.  Wie  weit  in  der  ganzen  künstlerischen  Gestal- 
tung der  Moment  nachwirkt;  wie  weit  der  Dichter  von  seiner  Zeit  und 
seiner  Umgebung  sich  frei  machen  kann  und  will;  welche  Stoffe  er  wählt 
oder  sich  aufdrängen  läßt  —  alles  das  hängt  schließlich  von  seiner  eigenen 
allgemeinen  Anlage  ab;  die  Behandlung  im  einzelnen  mehr  von  seiner 
spezifischen  Begabung.  Nach  jener  allgemeinen  Anlage  nun  lassen  sich 
bestimmte  Gruppen  und  Typen  der  Schriftsteller  scheiden.  Vom  Stand- 
punkt der  Poetik  mag  ihre  Weltanschauung,  von  dem  der  Psychologie  ihre 
sinnliche  Organisation  zur  Unterscheidung  besonders  geeignet  sein;  für  die 
Stilistik  grenzen  wir  am  besten  nach  Temperamenten  ab. 

Unter  „Temperament""  verstehen  wir  hier  im  Sinn  der  alten  typisie- 
renden Psychologie  große  Grundformen  der  Stellung  des  einzelnen  zu  Welt 
und  Leben,  gewisse  Dispositionen  zur  Beurteilung  der  Dinge,  gewisse  Nei- 
gungen, die  Gegenstände  anzufassen  und  zu  behandeln.  Mit  den  vier 
Seelenstimmungen  der  alten  Temperamentenlehre  kommen  wir  freilich  nicht 
aus.     Doch  können  wir  sie  immerhin  zum  Ausgangspunkt  nehmen. 


208  Stilistik. 


I.  Verstehen  wir  unter  „Phlegma"  nicht  gerade  die  philiströse  Un- 
bewegüchkeit,  die  den  Dingen  ohne  inneren  Anteil  zusieht,  sondern  nur 
eben  dasjenige  Mindestmaß  dieses  Anteils,  ohne  das  ein  literarisches  Werk 
von  irgend  welcher  Bedeutung  überhaupt  nicht  zustande  käme,  so  wird 
hierher  jene  einfache  ruhige  Sachlichkeit  zu  rechnen  sein,  die  vor  allem 
in  der  wissenschaftlichen  Darstellung  und  Untersuchung  ihren  Boden  hat, 
aber  auch  in  der  objektiv  gehaltenen  Epik,  in  Bericht,  Märchen,  Novelle, 
Brief ')  wohl  angebracht  ist.  Man  nennt  dies  wohl  auch  den  „Stil  des  Ver- 
standes" 2)  in  dem  Sinne,  daß  die  abwägende  Ausgleichung  der  einzelnen 
Werte  innerhalb  des  Vortrags  von  dem  Hervortreten  gemütlicher  Momente 
wenig  beeinflußt  wird.  Dieser  Stil  sucht  möglichst  ausschließlich  durch 
die  Sachen  selbst  zu  wirken  und  strebt  auch  für  ihre  Anordnung  eine  mög- 
lichst weitgehende  Ausschließung  jedes  subjektiven  Elements  an:  eine  rein 
chronologische  oder  rein  systematische  Anordnung  wird  erstrebt.  Deut- 
lichkeit in  der  Wahl  der  Worte,  Reinheit  und  Richtigkeit  im  Gebrauch, 
Übersichtlichkeit  im  Periodenbau  (vgl.  Wackernagel  S.  324  f.i  sind  fast  die 
einzigen  Kunstmittel.  Metaphern  werden  oft  geradezu  als  beirrend  ge- 
mieden. 3)  Fortwährend  ist  zu  fragen,  ob  das  Verständnis  gewahrt  bleibt, 
ob  gerade  diejenige  Vorstellung  oder  Empfindung  erweckt  wird,  die  erweckt 
werden  soll.  Gewiß  gibt  es  für  jeden  Stil  intellektuelle  Faktoren:  Ver- 
ständlichkeit, Eindrucksfähigkeit,  Klarheit  lassen  sich  vom  Verstand  am 
besten  beurteilen  (vgl.  Bain  S.  234);  von  einem  Stil  des  Verstandes  aber 
läßt  sich  nur  reden,  wo  die  Phantasie,  die  subjektive  Teilnahme,  die  sym- 
bolisierende Andeutung  ganz  zurücktreten. 

Epochen  und  Muster  der  Sachlichkeit  stellt  Hunt  Ca.  a.  O.),  freilich 
oft  recht  wenig  gegen  Einwände  gesichert,  zusammen  und  gibt  (S.  43  f. ) 
einige  mit  mäßigem  Geschick  gewählte  englische  Beispiele.  Man  könnte 
bei  Vockeradt  (Das  Studium  des  deutschen  Stils)  die  Proben  aus  Giese- 
brecht,  Ranke,  Lessing,  zum  Teil  auch  G.  Freytag,  aus  Weises  Sprach- 
und  Stillehre  die  von  Masius  und  Geliert,  aus  Marg.  Henschkes  vortreff- 
licher „Deutscher  Prosa"  Trendelenburg,  Zeller,  Röscher,  Paulsen, 
besonders  aber  Helmholtz  hierher  ziehen.  Im  allgemeinen  wird  besonders 
auf  Goethes  wissenschaftliche  und  historische  Darstellungen,  auf  Ranke 
und  Helmholtz  zu  verweisen  sein. 

Hält  sich  die  Sachlichkeit  zu  ängstlich  von  jeder  Erhebung  fem,  wird 
wirklich  das  Phlegma  Herr  über  den  ganzen  Ton,  so  tadeln  wir  eine  zu 
weit  gehende  Nüchternheit.  Sie  entartet  zu  einem  leeren  Dienst  der 
einmal  gegebenen  Formel  in  dem  Kanzleistil  (Becker  S.  448  f.)  mit  seiner 
zeremoniellen  Weitschweifigkeit,  und  zu  einer  Mißachtung  der  „Form"  über- 

')    Albalat,  Art  d'ecrire  S.  316  f.  'i  VgL  Elxken,  Über  den  Gebrauch  von 

^)    Becker    S.   444   f.,    Wackernagel  Bildern  und  Gleichnissen  in  der  Philosophie. 

S.  324  f.,  Bain  1,  233,  Hunt,  Studies  in  lite-  Fr.  Mauthner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der 

rature  and  style  S.  26  f.  Sprache. 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.  209 

haupt  in  dem  Geschäftsstil  (ebendaselbst  S.  444  f.;  Wustmann,  Sprach- 
dummheiten)  mit  seiner  gewaltsamen  Kürze.  Beide  Übertreibungen  zerstören 
das  literarische  Element  zu  Gunsten  einer  einzelnen  Seite.  Auf  der  andern 
Seite  zerstört  das  Phlegma  das  literarische  Element,  wenn  es  alle  Akzente 
verwischt  und  in  der  trostlosen  Öde  der  Weitschweifigkeit  ertränkt: 

Beispiele  dieses  Fehlers  finden  sich  überall.  Ich  will  nur  ein  sehr  auffallendes  an- 
führen, welches  bereits  in  den  Literaturbriefen  ist  aufgestellt  worden.  Wenn  Pauli  in 
seinen  Leben  großer  Helden  von  dem  damaligen  Obersten  Keith  erzählt,  der  König  von 
Spanien,  in  dessen  Diensten  er  sich  befand,  habe  gewünscht,  der  Oberste  möchte  katholisch 
werden,  damit  er  ihm  seine  Achtung  desto  tätiger  beweisen  könnte,  so  fährt  er  so  fort: 
.Der  Hof  gestand,  er  habe  Achtung  für  ihn.  Ein  Lobspruch,  der  seine  bisherigen  Ver- 
dienste und  Aufführung  in  Spanien  vollkommen  zu  verstehen  gibt.  Der  Hof  gestehet,  er 
erkenne,  wie  würdig  er  sei,  daß  man  durch  fernere  Beförderung  seinen  Verdiensten  Ge- 
rechtigkeit widerfahren  lasse,  daß  man  diese  Achtung  werktätig  beweise.  Der  Hof  be- 
zeigte, wie  er  auch  den  Willen  habe,  solches  zu  tun,  er  wünsche  es  ungemein,  es  tun  zu 
können.  Aber  es  sei  dem  Hofe  nicht  möglich.  Warum  nicht?  Er  verdiente  es  zwar;  bei 
diesem  allen  war  es  dem  Regenten  nicht  möglich.  Er  wollte  gern,  aber  es  war  ihm  nicht 
möglich.  Beweist  dieses  nicht"  u.  s.  f.  O,  den  magern  Hasen  so  lange  herumzujagen!  — 
J.  Ch.  Adelung,  Von  der  Präzision  des  Stiles  (Magazin  für  die  deutsche  Sprache,  Leipzig 
1783,  n,  2,  85  f.  über  die  Weitschweifigkeit;  unser  Beispiel  S.  99). 

II.  Das  rechte  Temperament  des  Künstlers  aber  ist  das  sanguinische: 
das  Temperament,  das  sich  zu  Personen  und  Dingen  sofort  in  lebhafte  Be- 
ziehungen setzt,  die  Erlebnisse  wieder  erlebt  und  alles  mit  seinem  eigenen 
Wesen  durchdringt  und  tränkt.  Dies  Temperament  stellt  sich  also  der  Welt 
mit  eigenen  Organen  entgegen,  die  Elster  (Literaturwissenschaft  S.  359  f.) 
als  „die  ästhetischen  Apperzeptionsformen"  unterschieden  hat.  Er  nimmt 
deren  vier  an:  die  personifizierende  (S.  363  f.),  metaphorische  (S.  374  f.), 
antithetische  (S.  395  f.j  und  symbolische  (S.  400  f.i.  Ich  möchte  lieber  nach 
der  spezifischen  Energie  der  künstlerischen  Sinnlichkeit  einteilen.  Dem 
einen  wandelt  sich  alles  in  Klänge,  dem  andern  in  Bilder  —  künstlerische 
Naturen  mehr  im  äußern,  antiken  Sinn;  wieder  andern  alles  in  Empfindung  — 
oder  Begriff  —  künstlerische  Naturen  mehr  im  Innern,  romantischen  Sinn. 

Der  Stil  eines  in  Klängen  sich  berauschenden  Temperaments  ist  der 
spezifisch  rhetorische  (Becker  S.  697  f.,  Wackernagel  S.  271  f.).  Sein 
vollkommenster  neuerer  Vertreter  ist  der  Franzose  Bossuef;  gelegentlich 
nähert  sich  ihm  Herder  unter  den  Deutschen.  Was  man  sonst  bei  uns 
„rhetorische  Prosa"  nennt  (z.  B.  der  Stil  Treitschkes),  ist  viel  mehr  „pa- 
thetisch": nicht  der  Klangschönheit  als  solcher,  sondern  vielmehr  den  Ge- 
fühlswerten großer  Worte  gilt  ihre  Sorge.  Die  eigentlich  rhetorische  Prosa 
dagegen  ist  durchaus  mündlicher,  musikalischer  Natur.  Sie  geht  vom  Bau 
großartiger  Perioden  aus,  beachtet  den  Klang  der  meistbetonten  Worte, 
wägt  alle  Klangwirkungen  ab.  und  wählt  selbst  Metaphern  und  Gleichnisse 
mehr  unter  dem  Gesichtspunkt  des  rauschenden  Wortprunks  als  der  Be- 
reicherung unserer  Anschauung.  Dieser  Stil,  von  einer  Persönlichkeit  folge- 
recht durchgebildet,  wird  seinen  Reiz  nicht  verfehlen;  Chateaubriand  ver- 
Handbuch des  deutschen  umerrichts.  Bd.  III,  Teil  I.  14 


210  Stilistik. 


dankt  ihm  viel,  Victor  Hugo  beinah  alles.  In  der  deutschen  Stilistik  hat 
er  kaum  einen  Platz  zu  beanspruchen  fein  Beispiel  etwa  aus  Jahn  bei 
Weise,  Sprach-  und  Stillehre). 

III.  Sehr  viel  wichtiger  ist  überall,  vor  allem  aber  auch  bei  uns,  das 
Temperament,  dem  sich  jeder  Eindruck  in  ein  angeschautes  Bild  wandelt; 
sein  Name  ist  Goethe.  Dies  ergibt  den  malerischen  Stil,')  den  man  wohl 
auch  schlechtweg  „poetischen  Stil"  ^Becker  S.  527  f.)  nennt.  Seine  beiden 
großen  Werkzeuge  sind  das  Bild,'-)  vom  ausgeführten  Gleichnis  bis  zur 
Metapher, 3)  und  die  Personifikation.'')  Beiden  ist  es  eben  gemein,  daß  sie 
die  unbelebten  Dinge  mit  neuem  Leben  bekleiden,  indem  sie  sie  „organi- 
sieren"; sei  es  nun,  daß  sie  sie  den  handelnden  Personen,  sei  es,  daß  sie 
sie  den  in  lebendiger  Anschauung  schon  erfaßten  Dingen  annähern. s)  Nicht 
um  ein  künstliches  „Übersetzen"  handelt  es  sich  hier,  wie  bei  den  mühsam 
gelehrten  Dichtern  nach  der  Poetik,  sondern  um  ein  unwillkürliches,  unver- 
meidliches Überströmen  der  eigenen  Lebensfülle  in  alles,  was  erschaut  wird. 
Brennst  du  nicht  und  fühlest  mich  entbrannt? 

(.Braut  von  Korinth',  Vers  119), 
eine    einfache  Metapher,    kaum    noch   als  bildlich   empfunden,   aber  doch 
bildmäßig:  dem  „kalt  wie  Eis"  (Vers  Uli  wird  das  „brennen"  als  Gegenpol 
gegenübergestellt;  ist  doch  das  ganze  Gedicht  von  der  Flamme,  der  meta- 
phorischen, die  sich  am  Ende  in  die  wirkliche  wandelt,  erfüllt. 

Ich  singe,  wie  der  Vogel  singt. 

Der  in  den  Zweigen  wohnet  — 

(".Der  Sänger",  Vers  29), 
ein  einfaches,  uraltes  Gleichnis  (so  nennt  ja  auch  Gottfried  von  Straß- 
burg in  der  berühmten  literarischen  Teichoskopie  die  Lyriker  seiner  Zeit 
Vögel);  aber  eben  hervorgegangen  aus  jenem  dichterischen  Alleinsgefühl, 
dem  ein  Leben  in  allen  Dingen  lebt,  dem  der  Gesang,  der  aus  der  eignen 
Kehle  dringt,  verwandt  ist  mit  dem  der  Nachtigall,  wie  die  sinnliche  Glut 
des  eignen  Herzens  mit  der  brennenden  Flamme  des  Scheiterhaufens. 

Der  Strauß,  den  ich  gepflücket. 

Grüße  dich  viel  tausendmal  — 

(.Blumengruß".  Vers  1). 
Der  Strauß  als  lebendiger  Bote  und  Spruchsprecher  —  Personifikation  ein- 
fachster Art,  aber  doch  eben  Belebung,  Transfusion   des  warmen  Dichter- 
blutes in  jeden  Stengel  jeder  Blume  im  Strauß. 

Und  so  denn  weiter  auf  bis  zu  den  kühnsten  Verkörperungen  der 
Mythologie  und  der  Dichtung  (vgl.  Elster  a.  a.  O.  S.  363  f.)  und  bis  zu 
der  breitesten  Fülle  der  Metaphern  (ebendaselbst  S.  374  f.). 

')  Spencer,  Philosophy  of  style  S.  28,  ')  Vgl.  oben  §  124,  Albalat,  Art  d'ecrire 

vgl.  36  f.,  Bain  1,  263  f.,  .figurative  style*,  j  S.  272  f. 

Raleigh,  On  style  S.  98,  den  .Stil  der  Ein-  *)  Wackernagel  S.  396,  VischerS.  1225. 

bildung",  Wackernagel  S.  368  f.  ;          '-)  Vgl.  allgemein  Biese,  Philosophie  des 


'1  ViscHER,  Ästhetik  5, 1230  f.,  Raleigh,   ]  Metaphorischen. 
On  style  S.  55. 


Vierzehntes  Kapitel.   Umgestaltende  Faktoren.  211 

Auch  dies  Temperament  kann  sich  überschreien.  Dann  kommt  der 
Schwulst,  die  Überladung,  die  kein  einfaches  Wort  mehr  sprechen  kann 
—  Hterarhistorisch  als  Eaphuismus,  Gongorismus,  Marinismus  nach  Haupt- 
vertretern in  England,  Spanien,  Deutschland  benannt.  Doch  ist  die  eigent- 
liche Sünde  nicht  die  Überfülle  —  die  freilich  auch  schon  bei  Jean  Paul, 
selbst  zuweilen  bei  H.  v.  Kleist  geschmacklos  werden  kann  — ,  sondern 
die  Künstlichkeit,  die  sich  zumeist  schon  in  der  Trivialität  der  gehäuften 
„Korallenlippen"  und  „Marmorhügel''  verrät  (vgl.  Elster  S.  391).  Die 
gleiche  Künstlichkeit  liegt  in  dem  pedantischen  Ausspinnen  eines  einzelnen 
Vergleichs,  zu  dem  die  Allegorie  (vgl.  ebendaselbst  S.  369)  so  leicht  führt. 

Vor  allem  findet  dies  „bildliche  Temperament"  Raum  zur  Betätigung 
in  der  Beseelung  der  „Natur",  in  der  „Einfühlung"  in  Berge,  Ströme, 
Bäume,  durch  die  (nach  Amieis  Worti  eine  Landschaft  zu  einem  seelischen 
Zustand  umgeschaffen  wird  (Beispiele  aus  Goethe  und  Heine  bei  Elster 
S.  360);  ich  nenne  nur  Goethes  „Willkommen  und  Abschied",  wo  jeder 
Vers  von  „Naturgefühl"  durchtränkt  ist.  —  Gattungen,  die  diesem  Tempe- 
rament besonders  nahe  liegen  —  wie  dem  rhetorischen  natürlich  die  Rede 
— ,  sind:  das  lyrische  Gedicht,  das  Drama,  Erzählung  und  Roman,  Brief, 
alles  Formen,  die  dem  Ausströmen  der  Empfindung  Raum  lassen.  Stil- 
mittel, die  es  bevorzugt,  sind  die  Häufung,  die  Apostrophe,  doch  auch  die 
Sentenz  als  lebensvolle  Konzentration  einer  Erfahrung. 

Beispiele  wähle  man  sich  lieber  aus  Goethe,  Heine,  Mörike  als 
aus  den  Sammlungen  von  Vockeradt  (etwa  die  Probe  aus  Alexander 
von  Humboldt)  und  Weise  (etwa  Scheffel)  oder  selbst  Marg.  Henschke 
(H.  Grimm,  Riehl). 

IV.  Das  sanguinische  Temperament  mag  nun  aber  auch  schon  an 
jener  Empfindung  Genüge  haben,  die  das  Herz  erfüllt,  eh  es  sich  noch 
zu  voller  Klarheit  künstlerischer  Anschauung  durcharbeitet;  es  mag  diese 
Stimmung  sogar  als  die  eigentlich  „poetische"  über  die  „kalte  Arbeit"  des 
Plastikers  erheben.  Das  war  der  Kultus  unserer  Romantik  für  den  „er- 
hebenden Moment",  der  sie  feste,  bildmäßige  Gestaltung  so  oft  über  nur 
stimmungsmäßigem  Ausdruck  versäumen  ließ. ')  Diese  Neigung,  in  der 
Stimmung  selbst  zu  verweilen,  oder  auch  das  Unvermögen,  über  sie  her- 
auszugehen, führt  zum  pathetischen  Stil.  Er  ähnelt  (s.  oben)  dem  rheto- 
rischen durch  seine  Freude  an  berauschenden  Worten,  doch  eben  mit  dem 
Unterschied,  daß  diese  nicht  unmittelbar  als  Klänge,  sondern  ihres  Stim- 
mungswertes wegen  gelten. 

Dieser  „Stil  der  Empfindung"  herrscht  vor  allem  (Bain  2,  119  f.)  in 
der  erotischen  (ebendaselbst  S.  132),  religiösen  (S.  191),  patriotischen  (S.  184) 
und  familienhaften  (S.  163)  Dichtung.  Große  Augenblicke  wie  der  Verlust 
des  Geliebten  (S.  211),   nationale  Katastrophen  (S.  223),  Tod  (S.  223,  vgl. 

')  Sehr  lehrreicli  Petrich,  Drei  Kapitel      Le  style  poetique   et   la   revolution   roman- 
vom  Romanischen  Stil,  Leipzig  1878;  Barat,  |  tique,  Paris  1904. 

14* 


212  SnusTiK. 


217)  und  schmerzlicher  Anblick  i'S.  221)  sind  geeignet,  dies  Pathos  zu  er- 
wecken; Aufgabe  ist  nun,  es  zu  übertragen  (Becker,  Stil  S.  496).  Als  Stil- 
mittel dient  besonders  die  Hyperbel  (Bain  2,  221),  d.  h.  die  Übertreibung, 
der  Wurf  übers  Ziel  hinaus  CWackernaqel  S.  401,  Gerber  2,  2,  24  f.).  Der 
enegten  Empfindung  verschwinden  die  Grenzen,  sie  sieht  nur  eins,  und 
in  leidenschaftlicher  Aufregung  ruft  General  Kleber  Napoleon  die  unge- 
heuerste der  Hyperbeln  zu:  „General  —  Sie  sind  groß  wie  die  Welt!" 
Die  rhetorische  Frage  (Gerber  2,  2,  51  f.),  die  sich  von  der  selbstverständ- 
lichen Zustimmung  des  Angeredeten  in  der  eigenen  Stimmung  befestigen 
lassen  will  —  „War  er  nicht  ein  edler  Mann?"  — ,  oder  die  vielmehr  die 
Gemeinschaft  der  Empfindung  auszukosten  verlangt;  auch  die  Apostrophe 
sind  andere  Lieblingsmittel.  Aber  auch  die  Antithese  'vgl.  oben  §  141; 
Elster  S.  395  f.j  dient  dem  Pathos,  indem  sie  die  Gegensätze  aneinander 
reiht  und  Feuer  schlagen  läßt:  „eine  Maus  soll  Leben  haben  und  Cordelia 
nicht!" 

Als  klassischer  Vertreter  des  pathetischen  Stils  gilt  bei  uns  mit  Recht 
Schiller;  von  neueren  Autoren  hat  ihn  besonders  H.  v.  Treitschke  aus- 
geprägt.«) 

V.  Endlich  kann  aber  dies  sanguinische  Temperament,  das  die  Dinge 
dem  eigenen  Wesen  anzunähern  strebt,  sie  nicht  in  Klänge,  Bilder,  Em- 
pfindungen wandeln  wollen,  sondern  in  Begriffe,  d.  h.  in  konzentrierte 
geistige  Anschauungsformen.  So  entsteht  der  „philosophische  Stil"  im 
eigentlichen  Sinn  (vgl.  oben  S.  181  >  oder  besser  der  symbolisierende 
Stil  (vgl.  Elster  S.  400  f.).  Das  Durcharbeiten  oder  „Bearbeiten"  einer 
bunten  Fülle  von  Erscheinungen,  bis  sie  unter  einem  Gesichtspunkt  ge- 
ordnet scheint,  ist  nicht  nur  von  Schelling  als  die  eigenthche  Aufgabe 
des  Philosophen  angesehen  worden;  was  sich  dann  aber  als  bezeichnendes 
Wort  ergibt,  kann  immer  doch  nur  symbolische,  stellvertretende  Bedeutung 
haben.  Daher  kann  dieser  Stil  leicht  zu  der  völligen  Dunkelheit  des  Ha- 
mannschen  Mystizismus  abirren,  aber  auch  in  der  gedankenschweren  Sprache 
von  Novalis  und  Nietzsche  sich  auf  die  höchsten  Gipfel  schwingen.  Alle 
Formen  der  Gleichnisrede  von  der  Metapher  bis  zur  Parabel,  kunstvoll 
wirksame  Wahl  der  Epitheta,  gern  auch  ein  kühn  verschlungener  Perioden- 
bau werden  sie  auszeichnen;  und  in  den  Sammlungen  musterhafter  Prosa- 
stücke wird  man  diesen  Stil  vergeblich  suchen. 

VI.  Das  sanguinische  Temperament  wendet  sich  zur  Kunst  um  seinet- 
willen, um  eigene  überströmende  Kraft  umzusetzen;  das  cholerische  um 
der  andern  willen,  die  es  reizen  und  aufregen.  Es  ist  ein  Temperament 
der  Abwehr,  oft  der  Notwehr;  ein  Temperament,  dessen  Ergüsse  zumeist 
in  dem  erregenden  Moment  fest  verankert  sind. 

')  Proben  bei  VOCKERADT  aus  Schiller      Treitschke.   Schmoller.    Englische  Bei- 
und  Winckelmann,   bei  Weise   auch   aus      spiele  mit  Einleitung  bei  Hunt  S.  70  f. 
Arndt;  bei  Marc.  Henschke  aus  Curtius,  i 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren. 


213 


Vom  literarischen  Standpunkt  aus  könnte  man  es  allgemein  das  kriti- 
sche Temperament  nennen.  Doch  ist  dabei  noch  eine  Stufe  ruhiger  sach- 
licher „Abwehr"  möglich,  die  sich  der  „phlegmatischen"  Sachlichkeit  stark 
nähert.  Eine  Verbindung  mit  dem  „sanguinischen"  Wesen  bringt  dagegen 
den  Witz  und  den  Humor  zustande;  eine  stärkere  Betonung  des  „chole- 
rischen" Elements  die  Satire  und  die  Ironie.  Wir  scheiden  auch  hier  von 
unserem  spezifischen  Standpunkt,  ohne  auf  die  philosophischen  Scheidungen 
und  Definitionen  eingehen  zu  können. 

Der  kritische  Stil  (Hunt  S.  11 7  f.)  ist  die  Reaktion  einer  in  bestimmten 
Anschauungen  gefestigten  Persönlichkeit  auf  alles,  was  diesen  Anschauungen 
zuwiderläuft,  doch  so,  daß  in  ruhiger  Weise  das  durch  fremde  Störung  ver- 
letzte Welt-  oder  Einzelbild  wieder  hergestellt  werden  soll.  Sein  Werkzeug 
ist  vor  allem  der  Tadel  (Bain  2,  233),  d.  h.  eben  der  Versuch,  die  Störung 
zu  beseitigen.  Die  Stilmittel  werden  im  wesentlichen  die  der  wissenschaft- 
lichen Untersuchung  sein,  die  auch  selbst  die  wichtigste  Anwendung  des 
kritischen  Stils  darstellt.  Sein  klassischer  Vertreter  ist  bei  uns  Lessing, 
bei  dem  freilich  gern  das  Kritische  in  das  Satirisch-Polemische  übergeht; 
von  neueren  Schriftstellern  vor  allem  Mommsen.') 

Vll.  Alle  Kritik  setzt  ein  Vergleichen  voraus,  ein  Messen  des  Ge- 
gebenen an  irgend  welchen  Maßstäben,  ein  Zusammenbringen  oft  entfernter 
Gegenbilder.  Wird  dies  Vergleichen  an  sich  zu  einem  selbständigen  Spiel, 
erfreut  die  unerwartet  plötzliche  Zusammenstellung  solcher  Dinge,  die  sonst 
nicht  zusammengesehen  werden,  so  entsteht  der  Stil  des  Witzes.-')  Haupt- 
waffen des  Witzes  sind  das  Wortspiel  (Bain  a.  a.  O.;  vgl.  oben  §  145)  oder 
die  unerwartete  Zusammenstellung  zweier  nur  dem  Klang  nach  verwandter 
Worte  (mit  der  Spezialform  des  Namenswitzes);  das  Epigramm  (Bain  S.  202; 
vgl.  Wackernaqel  S.  138,  159)  oder  die  unerwartete  Anwendung  einer  Vor- 
stellung auf  einen  bekannten  Fall  (ungemein  häufig  besonders  im  „poin- 
tierten" Dialog);  die  Parodie  (Bain  2,  242  f.)  oder  die  unerwartete  Um- 
kleidung bekannter  Personen,  Gegenstände,  Verse;  überhaupt  alle  Arten 
der  Aprosdokese,  der  absichtlichen  Täuschung  erregter  Erwartung  (Gerber 
2,  2,  74),  wie  so  oft  bei  Heine: 

Noch  einmal  möclit'  ich  dich  sehen 

Und  sinken  auf  die  Knie. 

Um  sterbend  noch  zu  rufen: 

.Madame,  ich  liehe  Sie!' 

Lichtenberg  und  Heine  sind  die  Klassiker  des  eigentlichen  Witzes 
in  der  deutschen  Literatur,   wie  Swift  in  der  englischen,  Voltaire  in  der 


')  Proben  bei  Vockeradt  etwa  G.  Frey- 
tag, Vilmar,  Lessing,  bei  Weise:  Les- 
sing, Kant;  beiMARG.HENSCHKE:  Seh  er  er, 
Hettner,  besonders  Zelier. 

■-)  Über  den  Witz:  Vischer,  Ästhetik  4, 
416f.,  Kund  Fischer,  Heidelberg  1889,  mein 


Aufsatz  über  den  Namenwitz,  Neue  Jahr- 
bücher für  klassisches  Ahertum  1903  S.  122  f. 
Vom  Standpunkt  der  Ästhetik  J.  Paul,  Vor- 
schule §§  42—55,  ViscHER  S.  1441  f.,  Bain 
2,  268  f." " 


214  Stilistik. 


französischen.  Pamphlet,  Brief,  Humoresi<e,  Feuilleton,  Schwank  sind  Gat- 
tungen, die  etwa  in  dieser  Folge  dem  Stil  des  Witzes  einen  besonders 
günstigen  Nährboden  bieten.  Der  „Kladderadatsch"  ist  in  der  Konfliktszeit 
beinahe  ein  anonymer  Klassiker  geworden.  Jean  Pauls  Witz  dagegen  in 
seiner  breiten  sentimentalen  Art  ist  uns  ziemlich  entfremdet,  der  der  Ro- 
mantiker und  gar  der  Jungdeutschen  zu  gesucht. 

VIII.  Klassisch  bleibt  dagegen  Jean  Paul  für  den  Humor,  und  für 
den  humoristischen  Stil  (Hunt  S.  193  f.)  ist  er  uns  fast  zu  ausschheß- 
hch  maßgebend  gebheben  (Über  den  Humor  unendlich  viel  philosophische 
Erörterungen;  über  die  humoristische  Dichtkunst  Jean  P.a.ul,  Vorschule 
§§  31—35,  ViscHER,  Ästhetik  4,  444  f.,  Elster,  Literaturwissenschaft  S.  319  f., 
Bain  2,  236).  Von  unserm  Standpunkt  aus  ist  wohl  der  Humor  dem  Witz 
gegenüber  als  die  unerwartete  Zusammenstellung  der  Stimmungen  statt  der- 
jenigen der  einzelnen  Dinge,  Gegenstände,  Personen  aufzufassen.  So  also  bei 
Jean  Paul  so  oft  das  unvermittelte  Aufeinanderplatzen  idealistischer  und 
realistischer  Stimmungen;  oder  bei  W.  Raab e  die  Auflösung  pessimistischer 
Weltanklage  durch  reine  Heiterkeit.  Die  kleinere  Erzählung,  die  Novelle, 
der  Brief,  die  Humoreske  eignen  sich  für  diesen  Stil  vorzugsweise.') 

IX.  Witz  in  spezifisch  kritischer  Handhabung,  in  Abwehr  bestimmter 
für  den  Schriftsteller  verietzender  Erscheinungen  ergibt  die  Satire  *j  und 
diese  bestimmte  Tendenz  charakterisiert  daher  vorzugsweise  den  satirischen 
Stil  (Hunt  S.  174  f.i.  Er  vereint  die  praktische  Absicht  der  eigentlichen 
Rede  mit  dem  freien  Spiel  des  Witzes  und  nimmt  gern  auch  die  Form  der 
Rede,  daneben  alle  dem  Witz  und  Humor  offenstehenden  Formen  an; 
seine  eigentliche  Form  bleibt  freilich  die  Flugschrift  ivgl.  oben  S.  184). 
Der  größte  Satiriker  der  Weltliteratur  bleibt  wohl  trotz  dem  großen  Epiker 
Cervantes  und  dem  unvergleichlichen  Virtuosen  Voltaire  der  Engländer 
Swift,  der  allein  fast  die  Härte  besaß,  ohne  Abschweifen  immer  auf  das 
Herz  des  Gegners  zu  zielen.  Seine  Satire  bedient  sich  gern  der  Hyperbel, 
der  Metapher,  der  parodistischen  Apostrophe  und  weiß  durch  die  große 
Kunst,  mit  der  ein  unerschöpflicher  Reichtum  von  Einfällen  aus  einer  Grund- 
idee gezogen  wird,   die  phantasieübende  Kraft  des  Märchens  zu  erneuern. 

X.  Eine  Lieblingsform  für  alle  kritischen  Temperamente,  zumeist  aber 
das  satirische,  ist  die  Ironie, »)  ein  Lieblingsbegriff  der  Romantiker.  Ein 
durchgeführter  ironischer  Stil  findet  sich  in  Sokratischen  Dialogen,  bei 
Swift,  in  romantischen  Satiren:  sein  Wesen  ist  durch  den  Gegensatz  schein- 
barer Zustimmung  und  wirklichen  Widerspruchs  zu  wirken  so  daß  hier  die 
unerwartete  Zusammenstellung  zweier  Weltanschauungen  (z.  B.  der  künst- 
lerischen mit  der  philiströsen )  wirkt,  wie  beim  Witz  diejenige  einzelner  Dinge, 


')  Auswahl  z.B.  .Deutsche  Humoristen',  rische  Poesie  Vischer  S.  1458  f. 
Hamburg  1904—1905,  8  Bände,  Verlag  der  ')  Wackernagel  S.  402;  bei  Vischer 

Deutschen  Dichter-Gedächtnis-Stiftung.  und  Fischer  mit  dem  Witz  besprochen. 

-)  Wackernagel  S.  158;  über  die  sati- 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.  215 

beim  Humor  diejenige  gewisser  Stimmungen.  Die  Ironie  besitzt  sogar  ein 
ihr  eigentümliches  Stiimittel:  die  Litotes  oder  Verkleinerung  (Wackernagel 
S.  402;  Gerber  2,  2,  46  f.).  Ihre  gewöhnliche  Art  ist,  durch  kontradikto- 
rische Form  leiser  zu  sagen,  was  positiv  bestimmter  gesagt  werden  könnte: 
„da  freut  er  sich  nicht  wenig"  statt:  „viel'';  so  besonders  gern  in  mittel- 
hochdeutscher Poesie.  Ihr  Gegensatz  zur  Hyperbel  oder  Übertreibung  (vgl. 
Wackernagel  a.  a.  O. )  ist  nur  äußerlich ;  denn  der  Hyperboliker  glaubt  an 
seine  „uferlose"  Aussage,  der  Ironiker  dagegen  will  mehr,  als  er  sagt,  ver- 
standen wissen,  und  nähert  sich  der  Aussage:  „er  freute  sich  wenig''  for- 
mell, um  die  gegenteilige  Meinung  stärker  herausholen  zu  lassen.  Übrigens 
ist  die  Litotes  wieder  eine  sehr  nebensächliche  Figur,  die  aber  wegen  ihrer 
bequemen  Faßlichkeit  gern  als  eine  Perle  der  Stilistiken  gefaßt  wird.  — 

Dies  etwa  dürften  die  Stilarten  sein,  die  sich  aus  den  „Tempera- 
menten" ergeben;  denn  dem  „melancholischen"  wüßten  wir  einen  eigenen 
Stil  nicht  zuzuschreiben,  da  der  „elegische  Stil"  in  der  Prosa  eine  be- 
sondere Bedeutung  nicht  hat,  vielmehr  unmittelbar  zu  poetischer  Formu- 
lierung (seit  den  urältesten  Totenklagen)  überführt. 

Man  sieht  wohl,  daß  diese  zehn  Stile  nicht  mit  gleich  scharfen  Zäunen 
umdrahtet  sind.  Die  fünf  „cholerischen"  mag  man  als  den  einen  kritischen 
oder  satirischen  Stil  zusammenfassen,  und  ebenso  einerseits  den  rhetorischen 
und  den  bildlichen,  andererseits  den  pathetischen  und  den  symbolistischen 
Stil  näher  zusammendrängen.  Schließlich  kommt  es  ja  nur  darauf  an,  eine 
bestimmte  Anzahl  durchschnittlicher  Neigungen  zu  gewissen  Gattungen  und 
Stilmitteln  andeutend  zu  charakterisieren.  In  derselben  Richtung  wirken 
noch  andere  umgestaltende  Faktoren. 

§  200.  Bildungsstufe.  Eine  wesentliche  Verschiedenheit  in  der  Auswahl 
der  Stilmittel  sahen  wir  durch  die  Umgebung  (s.  oben  §  197)  bedingt;  und 
zwar  deshalb,  weil  jedes  Publikum  einen  andern  Bildungsgrad  vertritt.  Wir 
sahen  aber  auch  schon,  daß  in  der  Regel  diese  Verschiedenheit  den  Bildungs- 
stufen der  Schriftsteller  selbst  ungefähr  entsprechen  wird. 

Abgesehen  jedoch  von  diesen  vielen  Nuancen  der  Bildung,  d.  h.  des 
geistigen  Besitzes  an  Anschauungen  und  Begriffen,  ist  unter  Umständen  die 
ganze  Haltung  des  Schriftstellers,  der  ganze  Stil  sehr  stark"  von  Bildungs- 
rücksichten bedingt.  Man  kann  in  dieser  Hinsicht  nur  drei  Stuten  unter- 
scheiden. Der  häufigste  Fall  ist  der  schlechtweg  „literarische  Stil" 
(Hunt  S.  46).  Er  entspricht  in  der  Anwendung  von  Stilmitteln  aller  Art,  in 
der  Wortwahl,  dem  Satzbau  u.  s.  w.  den  durchschnittlichen  Anforderungen, 
die  die  Zeit  an  den  Schriftsteller  erhebt,  und  die  natürlich  sehr  weiten  Spiel- 
raum haben:  wie  wenig  verlangten  die  Deutschen  in  Gutzkows  Epoche 
von  einem  „führenden  Schriftsteller",  wie  viel  haben  die  Franzosen  stets, 
was  Pflege  des  Stils  anging,  gefordert!  Auch  ist  natürlich  das  Maß  der 
Forderungen  nach  der  Gattung  zu  bemessen:  Zeitung,  Brief,  Bericht,  Tage- 
buch brauchen  Ansprüchen  nicht  zu  genügen,  die  für  Novelle  und  Roman 


2 1 6  Stilistik. 


selbstverständlich  sind.  Daß  die  wissenschaftliche  Prosa  Kunstprosa  sein 
soll  und  nicht  Alltagsrede,  ist  erst  seit  unsern  Klassikern  (seit  Lessing  für 
die  philologischen,  seit  Goethe  für  die  naturwissenschaftlichen,  seit  Schiller 
für  die  historischen  und  philosophischen  Disziplinen)  wieder  langsam  durch- 
gedrungen. 

Nun  kann  sich  aber  der  Stil  unterhalb  dieser  „literarischen"  Schnee- 
grenze halten.  Wenn  ein  Mann  von  geringer  Schulbildung  Bücher  ver- 
öffentlicht, wie  neuerdings  der  Maurer  Fischer  seine  „Denkwürdigkeiten 
eines  Arbeiters",  so  macht  gerade  die  Nähe,  in  der  er  sich  zu  einfacher 
Alltagsrede  hält,  einen  Hauptteil  des  Reizes  aus.  Es  kann  aber  auch  ein 
Angehöriger  der  literarisch  gebildeten  Kreise  bewußt  einen  „volkstüm- 
lichen Stil"  (Hunt  S.  92  f.)  anstreben  und  absichtlich  von  allen  Stil- 
mitteln Abstand  nehmen,  die  der  Kunstprosa  als  solcher  eigen  sind,  z.  B. 
dem  Chiasmus  (wogegen  die  Antithese  ja  auch  volkstümlich  ist)  oder 
der  künstlichen  Apostrophe  und  Personifikation.  Doch  wird  der  wirklich 
volkstümliche  Schriftsteller  immer  wie  einen  Schritt  oberhalb  des  Dialekts, 
so  auch  einen  Schritt  oberhalb  der  Alltagsrede  bleiben;  wofür  wir  in  J.  P. 
Hebel  („Kannitverstan!")  ein  unvergleichliches  Muster  besitzen. 

Der  Stil  kann  aber  auch  umgekehrt  bewußt  über  jede  Berührung  mit  der 
Alltagsrede  zu  einem  völlig  künstlich  durchgebildeten  System  rein  literarischer 
Ausdrucksmittel  aufzusteigen  suchen.  Wir  erhalten  dann  einen  esoteri- 
schen Stil,  der  freilich  in  der  Poesie  (z.  B.  der  letzten  Troubadours  als 
„dunkler  Stil";  manchmal  auch  bei  R.  Dehmel  und  im  Kreise  der  „Blätter 
für  die  Kunst")  häufiger  als  in  der  Prosa  auftritt.  Nicht  selten  ist  dagegen 
auch  in  der  Prosa  die  Verständlichkeit  der  Rede  von  einem  höheren  Maße 
spezifischer  Vorkenntnisse  abhängig  gemacht  worden,  als  dem  literarischen 
Publikum  zugemutet  werden  durfte.  Ein  Übermaß  von  Kunst-  und  Cliquen- 
worten, von  Anspielungen,  von  gesuchten  Metaphern  u.  dgl.  macht  den 
Stil  Hamanns,  mancher  romantischer  Ergüsse,  unserer  älteren  Philosophen 
zu  einem  Geheimbesitz  enger  oder  engster  Kreise.  Freilich  hört  damit 
eine  solche  Leistung  eigentlich  schon  auf,  ein  literarisches  Kunstwerk  im 
Sinn  der  Ästhetik  und  Stilistik  darzustellen. 

§  201.  Weltanschauung.  Die  Weltanschauung  endlich  bestimmt  in 
letzter  Hinsicht  den  großen  und  dauernden  Unterschied  des  idealistischen, 
klassizistischen,  typisierenden  und  des  realistischen,  naturalistischen  und 
individualisierenden  Stils  (vgl.  besonders  Vischer,  Ästhetik  S.  1234  f.).  Ob 
unsere  Art,  die  Welt  aufzufassen,  mehr  das  Bleibende  oder  das  Wechselnde 
betont;  ob  wir  mehr  Freude  an  den  großen  Gesetzen  haben  oder  der 
bunten  Fülle  der  Einzelerscheinungen;  ob  uns  die  Antike,  Raffael,  Goethe 
oder  aber  Shakespeare,  Rembrandt,  die  Moderne  ein  größeres  Genüge 
tun  —  das  bestimmt  auch  die  Wahl  unserer  Epitheta,  die  Formulierung 
unserer  Sentenzen,  die  Anlage  unserer  Perioden.  Der  klassische  Detailstil 
eines  Fontane,  der  bewußt  an  allem  „Feieriichen"  vorbeigeht,  um  sich  in 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.  217 

der  unerschöpflichen  Menge  naiver  Nuancen  zu  ergötzen,  und  der  mit 
Typen  von  fast  mythologischer  Größe  wirkende  Freskostil  eines  Victor 
Hugo  mögen  die  äußersten  literarischen  Extreme  darstellen,  zwischen  denen 
zahlreiche  Spielarten  doch  immer  leidlich  deutlich  die  eine  oder  die  andere 
Hauptform  der  Anschauung  vertreten. 

Eine  hübsche  und  belehrende  „Stilstudie"  stellt  in  der  Zeitschrift  „Die  Schaubühne" 
(I,  3,  21.  September  1905,  S.  66)  vierzehn  Dichterstellen  zusammen,  die  den  Typus  eines 
Schwätzers  von  „des  Sophokles  marmorschöner  Sachlichkeit"  bis  zu  Ibsens  Detailpsycho- 
logie fortführen.    Z.  B.: 

Sophokles: 

Nicht  einem  weisen  Manne  gleicht  er  mir  fürwahr. 
Obschon  viel  redend  scheint  er  immer  stumm  zu  sein; 
dem  ungezähmten  Rosse  gleich,  voll  Übermut, 
eilt  stets  im  Kreis  und  nie  zum  rechten  Ziel  sein  Wort. 

Sturm  und  Drang: 

Wenn  Du  ihn  so  reden  hörst,  Bruder  —  das  geht  Dir  von  seinem  Maule  ab,  so 
glatt  wie  ein  blinkiges  Wässerlein.    Ist  aber  hernach  nichts  gewesen  an  all  dem  unend- 
lichen Zeuge  als  keckliche  Metaphern  und  eitel  Fürwitz. 
Grillparzer: 

Die  Menschen  bleiben  Kinder,  und  es  freut  sie, 

wenn  einer  helle  Worte  laut  verschüttet. 

Doch  ob  gleich  Tönen  edelster  Musik 

geheimer  Sinn  sich  ihrem  Klang  verbindet  — 

ob  etwa  nur  ein  Narrenstab  geschüttelt, 

des  ungefüger  Schall  den  Lärm  erregt  — 

sie  kümmert's  nicht. 

Hauptmann : 

Wenn  der  Kerl  's  Maul  uftut,  da  wees  ma  scho  nie  nischte  nich,  wos  er  geredt 
hat.  Dos  is  reenweg,  als  wenn  de  eenen  mit  a  Geigenboden  uffm  Kuppe  schlägst  — 
nacha  summen  dr  ooch  alle  Teene  um  de  Ohren,  aberst  a  Lied  gibt's  daderwege  noch 
lange  nich  —  nu  ja,  ja  —  nu  nee,  nee! 

Parodistische  Zusammenstellungen  dieser  Art  sind  nicht  selten  und  ganz  lehrreich; 
z.  B.  K.  Karlshoff,  Variationen  über  das  Thema  „Laura  am  Klavier".  In  zwölf  Dichter- 
Charakteren  (Berlin  1883,  Ulrich  Klein).  —  Hierin  liegt  überhaupt  der  wissenschaftliche  Wert 
der  Parodie:  sie  arbeitet  die  auffallenden  Eigenheiten  des  individuellen  Stils  noch  schärfer 
heraus. 

§  202.  Individualität.  Suchen  wir  endlich  diese  Spietarten  selbst  zu 
erfassen,  so  kommen  wir  zu  dem  letzten,  freilich  aber  auch  wichtigsten 
aller  „umgestaltenden  Faktoren"  im  Sinne  unserer  Definition:  zu  der  In- 
dividualität selbst. 

Was  wir  im  prägnanten  Sinne  Stil  nennen,  ist  eben  nur  der  Ausdruck 
einer  Persönlichkeit.  In  diesem  Sinn  gilt  Buffons  Satz  Je  style,  c'est 
ihomme  meme",  wie  der  Stil,  so  der  Mensch;  wie  der  allgemeinere  des  Lust- 
spieldichters Marivaux,  der  Stil  habe  ein  Geschlecht,  und  die  Frau  sei 
immer  an  einer  Redewendung  zu  erkennen  (Oeuvres  de  Chamfort,  Paris 
1857,  S.  134).  Was  nun  aber  dieser  geheimnisvolle,  leichter  mit  dem  Takt 
herauszufühlende   als  empirisch  festzustellende  individuelle  Stil  sei,   das  zu 


218  Stilistik. 


sagen  bleibt  freilich  Verlegenheit.')  Früher  verstand  man  oft  unter  „Stil" 
nur  eben  kunstgerechte  Sprachbehandlung  überhaupt  (z.  B.  de  Quincey, 
Works  11,  259  f.).  Aber  selbst  Haym  bekennt  schUeßlich  in  dem  unten 
zitierten  Werke  (S.  247),  daß  das  Individuelle  sich  jeder  Berechnung  ent- 
ziehe und  überläßt  sein  Studium  der  Empirie,  um  sich  wieder  allgemeineren 
Betrachtungen  zuzuwenden.  Albalat  (Art  d'ecrire  S.  38)  sagt  mit  seiner 
gewöhnlichen  praktischen  Keckheit:  „Der  Stil  ist  die  jedem  eigene  Art, 
seinen  Gedanken  schriftlich  oder  mündlich  auszudrücken."  Aber  er  unter- 
scheidet dann  (S.  54  f.)  selbst  den  originellen  Stil  von  dem  banalen  und 
braucht  das  Wort  also  schließlich  doch  auch  im  prägnanten  Sinne.  (Vgl. 
auch  Sherman,  Analytics  of  literature  S.  332  f.)  So  sagen  wir  allgemein: 
ein  Kunstwerk,  ein  Autor  habe  keinen  Stil,  um  eben  auszudrücken,  er  habe 
keinerlei  individuelle  Art  zu  schreiben.  Dabei  ist  natürlich  von  den  seltenen 
Fällen  abzusehen,  in  denen  ein  Autor  bewußt  die  Art  eines  andern  nach- 
ahmt, wie  Varnhagen  mit  seinem  „Goethischen  Deutsch"  oder  Joh. 
von  Müller  als  Schüler  des  Tacitus^)  oder  wie  bei  Haym  „die  be- 
rechnete Architektur  der  Satzglieder  den  Einfluß  Macaulays  venät"  '^)  — 
was  übrigens  vorübergehend  eine  gute  Übung  sein  kann.  Woran  merken 
wir  es  denn  aber,  wenn  jemand  einen  eignen  Stil  besitzt?  Es  braucht 
doch  einer  dieselben  Worte  wie  der  andere,  und  meidet  er  einige,  braucht 
er  ein  paar  seltene  Ausdrücke,  gibt  er  einigen  besondere  Bedeutung  — 
das  tut's  doch  noch  nicht;  die  Syntax  und  die  Stillehre  ist  doch  dieselbe 
für  Goethe  und  den  letzten  Lieferanten  schlechter  Hintertreppenromane, 
für  Nietzsche  und  den  farblosesten  Reporter? 

Natürlich  kann  eine  eingehende  Würdigung  individueller  Stile  nur  auf 
Grund  eingehender  Beschreibung  stattfinden.  Für  diese  Stilaufnahmen  fehlt 
es  nicht  an  brauchbaren  Vorschriften.  Am  ausführlichsten  hat  der  jung- 
verstorbene Emile  Hennequln  (La  critique  scientifique,  Paris  1888)  An- 
weisungen zum  Erfassen  der  künstlerischen  Individualität  gegeben;  kaum 
minder  eingehend,  von  ganz  anderen  Gesichtspunkten  aus,  Elster  (Literatur- 
wissenschaft S.  75  f.:  Goethes,  Schillers,  Lessings  Phantasie-  und  Ver- 
standesbegabung S.  108  f.,  118  f.,  133  f.).  Auch  Scherers  Poetik  ist  eine 
Topik  zum  Erfassen  dichterischer  Eigenart.  John  M.  Robertson  (Essays 
towards  a  critical  method,  London  1889,  S.  105  f.)  gibt  kürzere  Winke.  Die 
wichtigste  Anleitung  bleibt  schließlich  doch  in  dem  Vorbild  unserer  großen 
literarischen  Charakteristiker  beschlossen,  Lessings,  Goethes,  Schillers, 


1)  Berühmt  sind  neben  der  grundlegen-  style   (Essays  2,  1  f.)   und  R.  Hayjnvs   Erst- 

den  Abhandlung  von  Semper,  die  von  den  lingsschrift  Über  die  Bedeutung  des  Stils, 
bildenden  Künsten  ausgeht  (.Entwurf  eines  ')  Vgl.   allgemein  Albalat,  Formation 

Systems  der  vergleichenden  Stillehre",  Kleine  du  st>-le  S.  57  f. 

Schriften  S.  259  f.,   vgl.  Raleigh,  On  style  ')  Literaturblatt  für  germanische  und  ro- 

S.  3),  namentlich  zwei  Aufsätze  großer  Ge-  manische  Philologie,  1906,  S.  54. 
lehrten  Herbert  Spencer,  Philosophy  of 


Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren.  219 

der  Brüder  Schlegel,  Heines,  Freytags,  Hayms,  Hillebrands,  Kürn- 
bergers,  Erich  Schmidts  in  ihren  Dichterporträts.') 

Freilich  umfassen  diese  Versuche  zumeist  den  ganzen  Dichter:  Stoff- 
wahl, Technik,  Tendenz  spielen  mit  Recht  eine  Hauptrolle.  Eben  aber: 
wie  kann  aus  all  dem  der  Stil  zu  erkennen  sein? 

Jeder  Mensch  ist  aus  mannigfachen  Dispositionen,  Eigenschaften,  Nei- 
gungen, Tendenzen  zusammengesetzt;  und  eben  diese  bei  jedem  neuen 
Menschen  immer  neue  Mischung  macht  das  Wesen  der  Individualität  aus. 
Doch  gibt  es  typische  Mischungen,  deren  geringfügige  Nuancen  ein  be- 
sonderes Interesse  nicht  erwecken.  „Persönlichkeit"  hat  nur  der,  der  eine 
originelle  Mischung  darstellt.  Ist  diese  nun  stark  genug,  daß  sie  sich  in 
allem  abspiegelt,  was  er  tut,  sagt,  ja  denkt,  daß  sie  in  jeder  Aufnahme 
und  Verarbeitung  eines  Eindrucks  tätig  ist  —  dann  hat  er  Stil.  Dann 
eben  wird  die  originelle  Mischung  seines  Wesens  auch  in  einer  originellen 
Mischung  seiner  Ausdrucksmittel  zutage  treten.  Und  so  ist  also  der  Stil 
der  Mensch. 

Vom  Sprachgebrauch  ein  genaues  Bild  zu  geben,  ist  also  höchst 
wichtig;  so  haben  wir  für  Lessing  die  mustergültige  Darstellung  Erich 
Schmidts  („Lessing"  2^,  560 f.),  für  Goethe  das  lehrreiche  Buch  von  Ewald 
A.  BoucKE  (Wort  und  Bedeutung  in  Goethes  Sprache,  Berlin  1901).  Eine 
allgemeine  Anweisung  zu  Beobachtungen  des  Sprachstils  gibt  Elster,  Lite- 
raturwissenschaft S.  424  f.,  mit  Literaturangaben. ^) 

Schließlich  ist  nochmals  auf  unser  großes  Desideratum  zu  verweisen: 
eine  umfassende  empirische  Stilistik,  die  den  Gebrauch  aller  Stilformen  und 
Mittel  nach  Gattungen,  Zeiten  und  Persönlichkeiten  darstellt,  ein  indivi- 
dueller Sprachatlas  zur  deutschen  Literaturgeschichte!  Aber  ist  daran  zu 
denken,  solange  sich  kaum  die  Wörterbücher  über  die  gröbsten  Auffällig- 
keiten des  „Sprachgebrauchs"  herauswagen? 

§  203.  Rückblick.  Mit  der  Persönlichkeit,  mit  dem  Stil  im  prägnanten 
Sinne  des  Wortes   hat  die  Stilistik  ihre  letzte  Verengung  und  ihre  höchste 


')  Versuche,  spezieller  vom  stilistischen  teaubriand,  Flaubert,  Bossuet  u.a. 
Standpunl<t  aus  die  Eigenart  zu  erfassen,  Zahlreiche  Bemerkungen  zur  individuellen 
machten  z.  B.  Wienbarg  (in  seinen  „Asthe-  Stilistik  bringt  endlich  Wunderlichs  Deut- 
tischen Feldzügen"  S.  297  f.)  und  Mundt  scher  Satzbau  (vgl.  das  Register  und  „Indi- 
(Deutsche  Prosa,  besonders  S.  1  f.,  49  f.,  vidueller  Stil",  2'',  435  f.).  Überschätzt  ist 
353  f.).  Eingehender  sind  diese  Versuche  von  |  die  Wichtigkeit  der  Wortstatistik  (C.  Ritter, 
den  Engländern  und  Amerikanern  in  neuerer  !  Die  Sprachstatistik  in  Anwendung  auf  Goethes 
Zeit  ausgeführt  worden:  von  Bain  (1,  278  f.),  .  Prosa,  Euphorien  10,  558,  vgl.  Qoethe-Jahr- 
HuNT   (Matthew  Arnolds  Style  S.  217  f.,  buch  24,  185  f.). 

Emersons  Style  S.  246  f.),  besonders  aber  -)  Anleitungen  zur  eigenen  Beobachtung 

Brewster  (Fronde,  Stevenson, Morley,  bei    Brewster,    Studies    in    Structurc   and 

Matthew  Arnold,  Bryce,  Ruskin,  New-  '   style  S.  279  f.,  vgl.  auch  Hunt,  Studies  in 

man).  Albalats  „Travail  du  Style'  erläutert  Literature  and  style  S.  17  f. 
wenigstens  die  stilistische  Arbeit  von  Cha- 


220  Stilistik.    Vierzehntes  Kapitel.    Umgestaltende  Faktoren. 

Aufgabe  erreicht.  Die  Eigenart  der  großen  einzelnen  auf  der  Grundlage 
der  Vergleichung  zu  fühlen  und  festzustellen,  das  ist  das  reizvolle  Ziel,  zu 
dem  schließlich  alle  typische  Beobachtung  von  Worten  und  Sätzen,  Ver- 
bindungsmitteln  und  Hilfsmitteln  führen  muß.  Natürlich  ist  jede  Erfassung 
einer  starken  Persönlichkeit  lehrreich  auch  wieder  zur  Beurteilung  des  All- 
gemeinen. Gelingt  es  diesem  Versuche,  an  Stelle  der  rezeptmäßigen  Ver- 
wendung stilistischer  Termine  (vgl.  Raleigh,  On  style  S.  124)  der  Stilistik 
als  Wissenschaft  zu  dienen,  leitet  sie  sorgfähige  Beobachter  an,  aus  der 
syntaktischen  Vergleichung  die  sprachliche  Eigenart  zu  gewinnen,  so  hoffe 
ich  der  in  einigen  Mißkredit  gelangten  Disziplin  einen  unverächtlichen 
Dienst  geleistet  zu  haben! 


Anhang. 
Rhetorik. 

§  204.  Definition.  Soweit  es  die  Rhetorik  einfach  mit  der  kunstvollen 
Behandlung  der  Prosa  zu  tun  hat,  fällt  sie  mit  unter  das  Herrschaftsgebiet 
der  Stilistik;  und  soweit  sie  rein  praktisch  eine  Einschulung  zum  wirksamen 
Vortrag  ist,  fällt  sie  rein  praktischem.  Unterricht  in  der  Körperhaltung,  den 
Gesten,  der  Atemökonomie,  der  reinen  Aussprache  u.  s.  w.  zu.  Wir  haben 
hier  ausschließlich  die  Frage  zu  erörtern,  wie  weit  der  Vortrag  einer  münd- 
lichen Rede  auch  seinerseits  zu  den  „umgestaltenden  Faktoren"  gehöre, 
d.  h.  inwiefern  aus  der  Natur  der  gesprochenen  „Rede"  eigentümliche 
Sondereigenschaften  an  dem  vorgetragenen  Sprachstoff  hervortreten. 

Unter  „Rede"  verstehen  wir  also  hier  lediglich  die  wirklich  mündlich 
vor  Zuhörern  vorgetragene,  in  sich  abgeschlossene  Ansprache.  Die  ihrem 
Muster  nachgebildete,  freilich  auch  wieder  auf  sie  stark  einwirkende  un- 
eigentliche Rede  in  Erzählung  und  Drama  ist  bereits  (§  191)  behandelt 
worden.  Auf  die  Fiktion  eines  absoluten  Monologs  brauchen  wir  uns 
nicht  einzulassen,  da  er  eine  kunstmäßige  Redebehandlung  schwerlich  dar- 
stellen würde;  hätte  er  es  aber,  so  läge  eben  einfach  eine  in  der  Einsam- 
keit vorgenommene  Nachahmung  der  wirklichen  Redeübung  vor. 

§  205.  Literatur.  Über  die  Rede  im  angegebenen  Sinn  besitzen  wir 
seit  der  Antike  eine  bedeutende  Literatur.  Sie  läßt  sich  ip  zwei  Haupt- 
gruppen teilen:  Rhetoriken,  die  die  Rede  vorzugsweise  als  kunstmäßige 
Prosa  behandeln,  und  sich  somit  völlig  der  Stilistik  eingliedern  (so  Wacker- 
nagel S.  276  f.)  und  solche,  die  sie  vorzugsweise  als  mündlichen  Vortrag  be- 
handeln und  somit  mehr  oder  minder  sich  dem  rein  praktischen  Unterricht 
nähern  (so  das  viel  gerühmte  Buch  des  Belgiers  Laveleye,  des  Franzosen  La- 
BOULAYE  „Rhetorique  populaire"  [in  seinen  Discours  populaires,  Paris  1869, 
S.  329  f.],  oder  das  recht  brauchbare  von  Hilty,  Lesen  und  Reden,  Frauenfeld 
und  Leipzig  1895).  Die  meisten  Darstellungen  halten  sich  mehr  auf  der  ersten 
Seite,  fügen  jedoch  einige  praktische  Winke  bei;  so  F.  Theremin,  Die  Bered- 
samkeit eine  Tugend,  neu  herausgegeben  Gotha  1888;  A.  Philippi,  Die  Kunst 
der  Rede,  Leipzig  1896.    (Andere  Literatur  z.  B.  bei  Hilty  a.  a.  O.  S.  112 


222  Anhang. 


Anm.)  Bains  von  uns  bisher  oft  dankbar  benutztes  Buch  versteht  unter 
„Rhetoric"  einfach  die  „Redekunst",  nämlich  die  Kunst,  mit  sprachHchen 
Ausdrucksmitteln  eine  möglichst  große  Wirkung  zu  erzielen,  so  daß  er 
eine  ausgedehntere  Stilistik,  aber  keine  eigentliche  Rhetorik  gibt.  —  Eine 
empirische  Rhetorik  auf  Grundlage  der  modernen  Beredsamkeit  besitzen 
wir  nicht,  der  einzige  Versuch  in  dieser  Richtung  ist  die  Schrift  von  H. 
Wunderlich,  Die  Kunst  der  Rede  in  ihren  Hauptzügen  an  den  Reden 
Bismarcks  dargestellt,  Leipzig  1898  —  insofern  nicht  glücklich,  als  Bis- 
marck,  ein  großer  „Naturredner",  sich  als  Paradigma  weniger  eignete  als 
mancher  an  Bedeutung  weit  hinter  ihnen  zurückbleibende,  aber  kunstmäßiger 
ausgebildete  Redner. 

Dagegen  fehlt  es  nicht  an  Sammlungen,  aus  denen  man  sich  einiger- 
maßen wenigstens  über  die  neuere  Beredsamkeit  unterrichten  kann;  denn 
Philippi  betont  mit  Recht,  daß  diese  von  der  der  Alten  so  gründlich  ver- 
schieden ist,  daß  weder  aus  den  Mustern  noch  aus  den  Vorschriften  der 
antiken  Rhetoren  ein  Nutzen  für  die  moderne  Praxis  oder  auch  nur  für 
deren  Kritik  gezogen  werden  kann.  Die  „ciceronische  Affektation  der 
deutschen  Kanzelredner"  hat  Herder  endgültig  vernichtet  (vgl.  Mundt, 
Prosa  S.  392).  Es  wäre,  als  wenn  die  heutige  Malerei  vom  Standpunkt  der 
alten  Vierfarbenmalerei  aus  beurteilt  werden  sollte;  obwohl  es  sich  mit  Zu- 
und  .Abnahme  der  Palette  hier  gerade  umgekehrt  verhalten  dürfte.  —  Von 
solchen  Sammlungen  ist  die  vielseitigste  die  von  Th.  Flathe,  Deutsche 
Reden,  Leipzig  1893 — 94,  die  aber  (wie  auch  die  von  Moll.m)  mehr  unter 
dem  Gesichtspunkt  der  Innern,  besonders  politischen,  Bedeutsamkeit,  als 
der  ästhetischen  Vollendung  ausgewählt  ist.  Das  gilt  auch  von  der 
übrigens  nicht  sehr  glücklichen  Sammlung  von  H.  Windel,  Deutsche 
Prosa,  2.  Teil:  Patriotische  Prosa,  Bielefeld  1899.  Politische  Reden  bringt 
Mollat,  Reden  und  Redner  des  ersten  deutschen  Parlaments,  Osterwieck 
a.  H.  1895,  allgemeiner  vgl.  Th.  Mundt,  Die  Staatsberedsamkeit  der  neueren 
Völker,  Berlin,  2.  Aufl.,  1850;  ferner  die  Bibliothek  politischer  Reden  aus 
dem  18.  und  19.  Jahrhundert,  6  Bändchen,  Berlin  1845.  Für  die  geistliche 
Beredsamkeit  haben  wir  die  treffliche  „Predigt  der  Kirche",  Auswahl  mit 
Einleitungen,  Leipzig  1889  f.,  ferner  O.  L.  B.  Wolff,  Handbuch  der  geist- 
lichen Beredsamkeit,  Leipzig  1849.  Dazu  für  die  neueste  Zeit  L.  Brastow, 
Representative  modern  Readers,  New-York  1904  (mehr  Charakteristik  als 
Proben).  Für  die  akademisdte  und  forensisdie  Eloquenz  fehlt  es  an  An- 
thologien; doch  vgl.  J.  Wychgr.\.m,  Deutsche  Prosa,  1.  Teil:  Rednerische 
Prosa,  Bielefeld  1890. 

Von  unsern  beredteren  Nachbarvölkern  nenne  ich  zur  Vergleichung: 

A.  Chabrier,  Les  orateurs  politiques  de  la  France  (1302—1830),  Paris 

1888.    J.  Rein.-\ch,  L'eloquence  fran(;aise,  Paris,  2.  Aufl.  1894.  —  L'homme, 

Les  chefs-d'oeuvre  de  la  chaire,  Paris  o.  J.  —  Witz,  L'eloquence  scientifique, 

Lille,  1887. 


Rhetorik.  223 


The  Treasury  of  British  Eloquence  arranged  by  R.  Cochrane,  Edin- 
burgh 1890.  —  R.  C.  RiNQWALT,  Modern  American  Oratory,  New-York  1898. 
(Weitere  Literatur  in  meinem  „Grundriß  der  neueren  deutschen  Literatur- 
geschichte", siehe  Register  unter  „Beredsamkeit".) 

Dazu  kommen  natürHch  überall  als  Hauptquelle  die  Sammlungen  der 
Reden  der  einzelnen  Meister;  so  für  uns  die  Ausgaben  der  Reden  Bis- 
marcks  (herausgegeben  von  Horst  Kohl;  kleinere  Ausgaben  in  der  Spe- 
mannschen  Hausbibliothek  und  der  Reclamschen  Universaibibliothek), 
Moltkes,  Roons,  Treitschkes  u.  a. 

§  206.  Geschichte  der  deutschen  Beredsamkeit.  Eine  Geschichte  der 
deutschen  Beredsamkeit  —  die  ich  einmal  zu  schreiben  hoffe  —  kann  an 
dieser  Stelle  natürlich  nicht  gegeben  werden.  Es  genüge,  darauf  hin- 
zuweisen, daß  wir  drei  Blütezeiten  unterscheiden  können.  Das  erste  Mal 
hob  sich  unter  dem  Einfluß  der  Bettelorden  und  der  Mystik  die  deutsche 
Rede,  ausschließlich  als  Predigt,  bis  zu  der  erstaunlichen  Höhe,  die  sie 
im  13.  Jahrhundert  mit  dem  Bruder  Berthold  von  Regensburg  er- 
reichte. Das  zweite  Mal  verband  sich  in  den  Jugendtagen  der  Reformation 
bei  Luther  und  einigen  Zeitgenossen  die  halbpolitische  Rede  mit  der 
religiösen  zu  gewaltiger  Wirkung.  Nachdem  dann  endlich  Herder  und 
Lavater  zwei  Jahrhunderten  tiefen  Schweigens  ein  Ende  gemacht  hatten, 
verband  in  Fichte  und  Schleiermacher  das  religiöse  Element  sich  un- 
trennbar mit  dem  politischen.  Doch  sind  diese  vier  Männer  nur  die  Vor- 
klassiker jener  dritten  Glanzperiode,  die  mit  der  Paulskirche  im  Jahr  1848 
gipfelt  und  dann  über  die  noch  immer  an  bedeutenden  Rednern  reichen 
Epochen  des  Konflikts  und  des  Kulturkampfs  zu  der  Bedeutungslosigkeit 
unserer  Gegenwart  herabsank.  Auch  politisch  hat  man  das  erste  deutsche 
Parlament  weit  unterschätzt;  oratorisch  aber  hat  es  Leistungen  hervorgebracht, 
auf  die  jede  andere  Nation  stolz  wäre:  wir  ziehen  es  vor,  uns  ihrer  zu 
schämen.  .  .  . 

Diese  dritte  Epoche  ist  auch  inhaltlich  die  reichste.  Zu  der  Predigt, 
die  wenigstens  nie  ausgestorben  war,  und  vorübergehend  sogar  einen  ge- 
wissen Aufschwung  im  17.  Jahrhundert  (Abraham  a  Sta  Clara,  Schuppius, 
Sackmann)  erlebt  hatte,  und  zu  der  politischen  Rede,  die  mit  den  Parla- 
menten (MuNDT,  Staatsberedsamkeit  S.  376  f. ;  lehrreich  Leonhard  Müller, 
Badische  Landtagsgeschichte,  Berlin  1900  f.,  2  Bde.)  und  Volksfesten  (Wart- 
burg, Hambach) ')  erwacht  war,  trat  nun  in  zunehmender  Loslösung  von  rein 
buchmäßiger  Haltung  auch  der  akademische  Vortrag.  Er  fand  in  den  öffent- 
lichen Sitzungen  besonders  der  Berliner  (Böckh,  J.  Grimm,  Trendelen- 
burg, Curtius,  Mommsen,  du  Bois  Reymond)  und  der  Münchner 
(Döllinger,  Sybel)  Akademie  einen  glücklichen  Boden,  von  dem  aus 
allmählich  auch  der  tägliche  Kathedervortrag  für  eine  feierlichere  Gestaltung 

')    G.  Kieser,   Das   Wartburgsfest   am      Wirth,   Das  Nationalfest  der  Deutschen  zu 
18.  Oktober  1817,   Jena  1818.   —  J.  Q.  A.   '   Hambach.    Neustadt  a.  H.  1832. 


224  Anhang. 


(Kuno  Fischer  in  Heidelberg,  H.  v.  Treitschke  dort  und  in  Berlin)  ge- 
wonnen wurde.  Als  eine  Nebenform  des  akademischen  Vortrags  bildete 
sich,  namentlich  von  französischen  Mustern  stark  beeinflußt,  die  öffentliche 
Festrede  heraus  (Friedrich  Wilhelm  IV.  am  Kölner  Dom;  Denkmalsent- 
hüllungen u.  dgl.),  für  die  die  deutsche  Schillerfeier  von  1859  vielleicht  ähnlich, 
wie  die  Paulskirche  für  die  politische  Tribüne,  den  Höhepunkt  bezeichnete. ') 

Y>\e  militänsdie  ¥Aoqvitnz  hat  es  bei  uns  nur  vorübergehend  (Blücher), 
die  sogenannte  kurze  Beredsamkeit  der  Toaste  und  Festsprüche  ebenfalls 
nur  um  das  Jahr  1848,  die  gerichtiidie  aber  überhaupt  zu  bedeutenderen 
Leistungen  nicht  gebracht. 

An  die  fortwährende  Wechselwirkung  zwischen  der  wirklichen  und  der 
uneigentlichen  Rede,  besonders  auf  der  Bühne  (Nathan  vor  Saladin;  Posa 
vor  König  Philipp,  Schillers  Demetrius;  verhaltene  Parlamentsreden  der 
Jungdeutschen  z.  B.  in  Gutzkows  „Uriel  Acosta";  Wildenbruch),  doch 
auch  im  Roman  (Auerbachs  „Landhaus  am  Rhein")  muß  nochmals  zur 
Ergänzung  dieser  Skizze  erinnert  werden.  Auch  der  zunehmend  „populäre", 
manchmal  fast  agitatorische  Ton  wissenschaftlicher  Darstellungen  (C.  Vogt, 
H.  V.  Treitschke,  Ernst  Haeckel)  bewies  die  zunehmende  Macht  der 
eigentlichen  Beredsamkeit,  und  sein  jetziges  Abnehmen  deren  Erblassen. 

§  207.  Art  der  deutschen  Beredsamkeit.  Durchaus  ist  die  deutsche 
Beredsamkeit  zumal  der  neueren  Periode  mehr  historisch  bedingt  als 
national.  Diejenigen  Punkte,  in  denen  die  neuere  Rede  (etwa  seit  dem 
englischen  Parlament  in  Cromwells  Zeit-)  sich  fundamental  von  der  an- 
tiken abhebt,  sind  natürlich  gerade  auch  für  die  deutsche  Rede  ent- 
scheidend. Das  Wichtigste  ist,  daß  der  einzelne  Vortrag  aufgehört  hat, 
als  abgeschlossene  kunstvolle  Handlung  zu  gelten.  Die  oratio  der  Alten 
ist  —  wie  noch  heut  die  Staatsrede  der  Indianer  oder  die  Palavers  der 
Kolonien  —  untrennbar  verbunden  mit  einer  gewissen  Haltung,  einer  ge- 
wissen Feierlichkeit  der  Bewegung,  einer  gewissen  fast  pomphaften  In- 
szenierung. Sie  ist  nur  der  Mittelpunkt,  oder  ein  Mittelpunkt  eines  fort- 
dauernden Redefestes,  wie  der  dramatische  Dialog  des  Sophokles  nur 
ein  Hauptgericht  innerhalb  einer  durchkomponierten  Festhandlung  ist.  Diese 
Form  wurde  von  den  Oratoren  der  Renaissance  erneuert  und  dauerte  in 
antikisierenden  Spuren  auf  der  französischen  Tribüne  der  Revolutionszeit 
noch  lange  fort.')  Zu  ihren  Kennzeichen  gehört  insbesondere,  daß  eine 
Art  Chor  gebildet  wird:  eine  Anzahl  von  Parteigenossen  umstehen  die 
Tribüne,  um  die  Apostrophen  des  Redners  aufzufangen,  seinen  Rufen  Re- 
sonanz und  seinen  Gesten  Ausdruck  zu  geben. 

»)  Schiller-Denkmal.  Festausgabe  (große  Scott  S.  152  f.;   doch   vgl.  Mundt,  Staats- 

Sammhing   von   Festreden   und  Cicdichten),  beredsamkeit  S.  198  f. 
Berlin  1860, 2  Bände.  — Schiller-Reden  (kleine  ')    Zielinski,    Cicero    im    Wandel    der 

Auswahl),  Ulm  1905.  Jahrhunderte. 


')  De  Quincey,  Essay  on  Rhetoric,  ed. 


Rhetorik.  225 


Hiermit  kann  der  heutige  „Umstand"  beifallsbereiter  Anhänger,  immer 
noch  im  Land  der  Claque  mächtiger  als  sonst,  nicht  verglichen  werden. 
Er  dient  nicht  der  ästhetischen,  sondern  lediglich  der  sachlichen  Wirkung. 
Die  überzeugende  Kraft  der  Argumente  soll  durch  ihr  „Sehr  richtig'' ,  „sehr 
gut'',  ihr  Lachen  und  ihren  Beifall  unterstrichen  werden.  Immerhin  hat 
die  politische  Rede,  zumal  in  der  Volksversammlung,  auch  heut  noch  mehr 
von  der  alten  Aktion,  als  die  immer  isolierte  Predigt  oder  die  gleichsam 
herabsteigende  akademische  Rede.  Sie  ist  auch  heut  noch  unzweifelhaft 
die  wirksamste;  unmittelbare  Wirkungen,  wie  Fichte,  Jahn  und,  in  noch 
stärkerem  Maße,  Lassalle  sie  erzielt  haben,  werden  wohl  aus  früherer  Zeit 
von  den  Savonarola  und  Capistrano  berichtet,  sind  heute  aber  auch 
nicht  einmal  da  bezeugt,  wo  die  religiöse  Rede  die  alte  pompa  fast  völlig 
wieder  aufgenommen  hat:  bei  den  großen  Redewirkungen  der  Heilsarmee. 

Die  moderne  Rede  geht  also  noch  viel  unmittelbarer  auf  das  prak- 
tische Ziel  los  als  die  antike.  Was  nicht  direkt  logisch  in  der  Sache, 
psychologisch  in  den  Personen  motiviert  ist,  erkältet  den  heutigen  Hörer 
eher  als  es  ihn  erwärmt;  wobei  natürlich  jene  Psychologie  des  Publikums 
zwischen  der  „vormärzlichen"  Freude  am  hohen  Schwung  und  der  heutigen 
Trockenheit  noch  vielen  Spielraum  übrig  läßt. 

Insbesondere  ist  für  die  moderne  Rede  die  zunehmende  Neigung 
zum  Schlagwort  bezeichnend.  Ein  starker,  leicht  zu  zitierender  Satz, 
der  die  Tendenz  der  ganzen  Rede  konzentriert  enthält,  tut  unschätzbare 
Dienste.  So  in  der  Reaktionszeit  Fr.  J.  Stahls  „Autorität,  niclit  Majorität", 
so  Bismarcks  „Blut  und  Eisen"  oder  „Nacli  Canossa  gehn  wir  nicht". 
Es  dürfte  unmöglich  sein,  aus  Demosthenes  viele  solche  Schlagworte 
herauszuholen;  der  praktische  Römer  Cato  aber  mit  seinem  „Ceterum 
censeo"  gab  damit  den  Extrakt  aller  seiner  Reden. 

Ist  also  die  neuere  deutsche  Beredsamkeit  —  in  der  die  politische 
Rede  unbedingt,  wie  jetzt  überall,  die  zentrale  Stellung  einnimmt  —  vor 
allem  „modern",  so  fehlt  es  doch  auch  nicht  ganz  an  nationalen  Momenten. 
Pointiert  könnte  man  sagen,  die  Beredsamkeit  der  Engländer  sei  die  von 
Geschäftsleuten,  die  der  Franzosen  die  von  Advokaten,  die  deutsche  —  die 
von  Professoren.  Nicht  zufällig  war  die  Paulskirche  ein  Pnafessorenparla- 
ment,  in  dem  verhältnismäßig  wenige  Nichtakademiker  (wie  Blum,  Rado- 
witz,  Riesser,  Gagern)  neben  den  Dahlmann,  Gervinus,  Uhland, 
J.  Grimm,  Arndt  glänzten.  Eine  Neigung  zu  breiter  wissenschaftlicher 
Fundamentierung,  zu  entlegenen  historischen  Parallelen,  zu  allzu  gründ- 
lichem Durcharbeiten  des  Stoffes  ist  die  stilistische  Seite  dieser  professoralen 
Art,  wie  ein  gutgläubiges  Vertrauen  auf  den  Sieg  der  bessern  Sache  die 
inhaltliche.  In  beiden  Hinsichten  ist  die  professorale  Beredsamkeit  mit 
den  letzten  Rednern  des  alten  Liberalismus  im  Aussterben  begriffen.  Da- 
für ist  das  demagogische  Element  bei  den  Radikalen  aller  Richtungen  in 
gefährlichem  Zuwachs  begriffen. 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts.    Bd.  III,  Teil  1.  15 


226  Anhang. 


§  208.  Eigentümliche  Momente  der  Rede.  Wir  legen  uns  nunmehr  die 
Frage  vor,  in  welcher  Hinsicht  diese  Beredsamkeit  die  bisher  entwickelten 
stilistischen  Regeln  etwa  modifizieren  dürfte. 

Zweierlei  kommt  da  in  Betracht:  1.  die  Absicht  unmittelbarer  Wir- 
kung, 2.  der  mündliche  Vortrag  —  ein  psychologisches  und  ein  technisches 
Moment. 

Das  Zweite  gilt  allgemein  und  unbedingt.  Das  Erste  gilt  nicht  so 
ganz  unbeschränkt,  wie  Theremin  meinte,  als  er  die  Beredsamkeit  für 
eine  „Tugend",  eine  Ausübung  edler  Tätigkeit  mit  guter  Wirkung,  er- 
klärte. Bei  der  politischen  und  forensischen  Rede  wird  ja  allerdings  stets 
ein  direktes  Ergebnis  angestrebt;  bei  der  Predigt  wird  schon  die  an- 
gestrebte „Erbauung"  mehr  als  allgemeine  Gemütsstimmung  denn  als 
greifbare  Bekehrung  oder  Umwandlung  gedacht;  bei  der  Festrede  aber 
bleibt  eigentlich  nur  übrig,  daß  eine  gehobene  Stimmung  erreicht  werden 
soll,  was  doch  schließlich  von  aller  Kunst  gilt.  Nur  wird  hier  dies  Ziel 
unmittelbar  ins  Auge  gefaßt. 

§  209.  Wirkung  der  unmittelbaren  Absicht.  Worin  zeigen  sich  nun  die 
Wirkungen  der  unmittelbaren  Absicht? 

Für  die  antike  Rede,  die  vor  allem  ein  abgeschlossenes  Kunstwerk 
sein  sollte,  ist  die  Einteilung  in  drei  Glieder  wichtig:  Eingang,  Ausführung, 
Beschluß  (exordium  oder  expositio,  disputatio,  conclusiö).  Heut  ist  das 
exordium  in  der  Regel  zu  der  Anrede  „Meine  Herren"  zusammen- 
geschrumpft, worauf  etwa  noch  eine  ganz  kurze  Skizze  der  Streitfrage  und 
der  von  den  Vorrednern  entwickelten  Argumente  folgt;  die  conclusiö,  deren 
Wichtigkeit  nicht  aufgehoben  werden  kann,  pflegt  eine  wirksame  Zusammen- 
fassung des  gesamten  Redeinhalts  zu  erstreben.  Man  darf  sagen:  für  die 
moderne  Rede  ist  die  Freiheit  der  Anordnung  charakteristisch.  Und  dies 
aus  guten  Gründen. 

Theremin  streitet  noch  wider  Fenelon,  der  die  freie  Rede  als 
die  einzig  berechtigte  Form  der  Beredsamkeit  ansah.  Heut  wird  kein 
Zweifel  mehr  sein,  daß  als  wirkliche  Rede  mindestens  nur  diejenige 
noch  empfunden  wird,  die  sich  im  wesentlichen  als  frei  gibt,  d.  h.  als 
Kind  des  Moments.  Damit  ist  keineswegs  ausgeschlossen,  daß  der  Red- 
ner sich  vorbereitet  —  ganz  im  Gegenteil;  „vorbereitet  sein  ist  alles". 
Aber  wie  der  ideale  Gelehrte  derjenige  wäre,  der  gar  keine  Bücher  mehr 
brauchte  (weil  er  sie  alle  ,intus  hätte'),  so  ist  der  ideale  Redner  derjenige, 
der  gar  keine  spezielle  Vorbereitung  mehr  nötig  hätte,  weil  er  den  Stoff 
(wozu  auch  das  Publikum,  die  Einwendungen  der  Gegner,  die  Zwischen- 
rufe gehören!)  vollkommen  beherrschte.  Diese  Sicherheit  machte  die 
rednerische  Bedeutung  neuerer  pariamentarischer  Größen  wie  Eugen 
Richter  und  besonders  Windthorst  aus. 

Es  sei  wenigstens  ein  oder  das  andere  Beispiel  angeführt.  —  Ein  Abgeordneter  der 
.Sezession'  hatte  sich  beklagt,  daß  durch  die  Eisenbahntarife  die  .Agrarier  bevorzugt  würden. 


Rhetorik.  227 


Der  Minister  v.  Maybach  antwortete  ungefähr,  dem  Staat  sei  es  ganz  gleich,  ob  für  den- 
selben Betrag  „agrarische  Milch  oder  sezessionistisches  Öl'  befördert  würde.  Darauf  nahm 
der  gleichfalls  sezessionistische  Abgeordnete  Alexander  Meyer  das  Wort:  .Ich  danke 
dem  Herrn  Minister,  daß  er  meiner  Fraktion  gerade  das  Öl  zugewiesen  hat.  Das  Öl  hat 
die  doppelte  Aufgabe,  Licht  zu  verbreiten  und  Reibungen  zu  verhindern  —  und  in  beider 
Hinsicht  wird  das  Streben  unserer  Gruppe  vortrefflich  gekennzeichnet!"  —  Oder  der  Fall 
des  sozialdemokratischen  Abgeordneten  Re Inders,  den  Zwischenrufe  wegen  eines  gram- 
matischen Schnitzers  verhöhnten,  und  der  schlagfertig  antwortete:  „Warum  lassen  Sie  das 
Volk  nicht  besser  unterrichten?" 

Darauf  also  kommt  es  an,  daß  der  Redner  von  jedem  Punkt  aus 
an  sein  Ziel  zu  gelangen  verstehe.  Der  Prediger  hat  ja  den  Vorteil, 
genau  zu  wissen,  wann  er  zu  Worte  kommt.  Aber  schon  der  Festredner 
kann  nicht  genau  berechnen,  in  welche  Stimmung  die  Einleitung  der  Feier, 
die  größere  oder  geringere  Beteiligung,  die  Musik,  ja  das  Wetter  seine 
Zuhörer  gebracht  haben.  Eine  Nachricht  kann  eingetroffen  sein,  auf 
die  jeder  eine  Anspielung  erwartet.  So  wurde  die  Enthüllung  des  Berliner 
Bismarckdenkmals  verschoben,  weil  gerade  der  zweite  Sohn  des  Kanzlers 
gestorben  war;  hätte  man  sie  nicht  mehr  aufschieben  können,  so  wäre 
eine  Erwähnung  jenes  Zusammentreffens  unvermeidlich  gewesen.  —  Der 
Gerichtsredner  kennt  die  Plaidoyers,  auf  die  er  zu  antworten  hat,  nicht 
vorher.  Der  Abgeordnete  endlich  ist  von  seinem  Vorredner,  von  der  Auf- 
merksamkeit oder  Abspannung  des  Hauses,  von  Zwischenrufen  und  Stö- 
rungen abhängig.  Je  mehr  sie  alle  aus  der  Not  eine  Tugend  zu  machen 
wissen,  je  mehr  sie  fähig  sind,  sich  von  allem  helfen  zu  lassen,  um  ihre 
Absicht  zu  erreichen,  desto  gewisser  wird  ihr  Erfolg  sein. 

Psychologisch  ausgedrückt  heißt  dies:  der  Redner  muß  sich  mit 
großer  Intensität  in  den  Gegenstand  eingelebt  haben,  die  Materialien  (die 
er  natürlich  nicht  im  Kopf  zu  haben  braucht,  sondern  schriftlich  zur  Hand 
haben  kann)  beherrschen,  die  Stellung  der  wichtigeren  Persönlichkeiten  zu 
der  Frage  studiert  haben.  Alle  Strategie,  wie  vor  allen  Napoleon  wußte, 
ist  zu  drei  Vierteln  Menschenkenntnis.  Stilistisch  ausgedrückt  aber  heißt 
es:  der  Redner  muß  eine  feste,  aber  elastische  Disposition  besitzen.  Fest 
muß  sie  sein,  damit  er  seinen  ganzen  Stoff  beisammen  hält  und  die  als 
wirksam  erkannte  Anordnung  nicht  ganz  dem  Augenblick  "opfert;  elastisch 
muß  sie  sein,  damit  sie  den  wechselnden  Stimmungen  des  Hauses,  der 
Gunst  des  Moments,  auch  der  eigenen  Inspiration  Spielraum  läßt. 

Die  unmittelbare  Absicht  also  kommt  stilistisch  vor  allem  in  der  Dis- 
position der  Rede  zum  Ausdruck. 

Die  steife  Anordnung  einer  vorbedachten  Rede  entfremdet  sofort  den 
Vortrag  der  Gegenwart;  und  jeder  Eingriff  des  Hörers  (vgl.  Wunderlich 
S.  65  f.)  kann  sie  über  den  Haufen  werfen,  so  daß  der  Redner  sich  plötz- 
lich einem  Chaos  gegenüber  sieht.  Die  Rücksicht  auf  die  Elastizität  drängt 
daher  in  der  Regel  den  Redner  bei  einem  größeren  Vortrag  zu  einem 
Konzept.     Ein  Konzept  ist  der  Entwurf  einer  Rede,  so  angelegt,   daß  er 

15* 


228  Anhang. 


alle  wichtigen  Punkte  (und  wohl  auch  diejenigen  Pointen,  Bilder  u.  s.  w., 
von  denen  der  Sprechende  sich  viel  verspricht)  enthält,  aber  zugleich  so, 
daß  die  Anordnung  einer  leichten  Änderung  fähig  bleibt.  P.  Lindau  hat 
einmal  einen  solchen  Entwurf  Lassalles  in  sehr  lehrreicher  Weise  mit- 
geteilt und  erläutert;  es  ist  leider  ein  seltener  Glücksfall,  da  diese  Notizen 
fast  stets  nach  dem  Gebrauch  vernichtet  werden.  Tritt  dagegen  an  Stelle 
des  Konzepts  ein  bis  zum  Wortlaut  ausgearbeitetes  Manuskript,  das  „me- 
moriert" (vgl.  Philippi  S.  237  f.)  oder  gar  verlesen  (vgl.  ebd.  S.  232)  wird, 
so  ist  eben  die  uneigentliche  Rede  an  die  Stelle  der  wirklichen  getreten 
und  ein  Stück  Literatur  wird  in  den  Wechsel  der  Reden  hineingebrockt. 

Das  Konzept  aber  wird  sehr  sorgfältig  durchgearbeitet  sein  müssen 
(vgl.  Theremin  S.  96  f.),  weil  jede  Auslassung,  jedes  Zurückdrängen  wich- 
tiger Punkte  dem  Gegner  Waffen  an  die  Hand  gibt  und  das  hilflose  Nach- 
holen übersehener  Momente  höchst  unglücklich  wirkt.  Nur  ist  eine  rein 
systematische  Disposition  nicht  zu  empfehlen,  denn  die  Rede  soll  eben 
nicht,  wie  irgend  eine  Abhandlung,  im  luftleeren  Raum  schweben,  sondern 
in  unlösbarem  Zusammenhang  mit  der  ganzen  Verhandlung  oder  Feier 
bleiben.  Am  besten  wird  deshalb  der  Redner  eine  psychologische  Ent- 
wicklung (vgl.  Thereahn  S.  160  f.)  zu  Grunde  legen.  Er  geht  von  einem 
Punkt  aus,  der  das  besondere  Interesse  seiner  Hörer  erregen  muß,  und 
weiß  ihre  eigene  Gedankenentwicklung  zu  leiten,  indem  er  sich  ihr  vor- 
sichtig anschmiegt.  Er  hütet  sich  vor  Sprüngen,  die  seine  Hörer  aus  dem 
Zusammenhang  bringen.  „Das  Gesetz  des  Fortschreitens  bestimmt  aber 
auch  den  Umfang  der  Entwicklung  eines  jeden  einzelnen  Gedankens,  der 
in  der  rhetorischen  Reihe  vorkommt.  Man  darf  nämlich  keinen  auf  Un- 
kosten der  andern  so  ausdehnen  und  heraustreten  lassen,  daß  dadurch  ein 
Stillstand  verursacht  werde.  Die  Schwierigkeit  mancher  Gedanken,  welche 
Entwicklungen,  Erklärungen,  Beweise  erfordern,  kann  oft  zu  diesem  Fehler 
verleiten"  (ebd.  S.  165).  Der  rechte  Redner  wird  dann  lieber  kühn  und 
knapp  den  Satz  aussprechen,  als  sich  durch  Anstrengungen  seiner  Zuhörer 
die  zweifelhafte  Freude  einer  „lückenlosen  Beweisführung"  bereiten. 

Was  Theremin  einzeln  über  die  Angemessenheit  (S.  139  f.),  den  Ge- 
schmack (S.  158  f.),  die  Lebendigkeit  (S.  171  f.)  ausführt,  das  sind  alles  eigent- 
lich nur  speziellere  Anwendungen  der  Grundregel:  habe  deine  Zuhörer  im 
Auge  und  betrachte  sie  als  Stoff,  den  du  zu  formen  hast.  Diese  Regel  wird 
natürlich  durch  Moment  und  Zeit,  Thema  und  Umgebung,  durch  Tempe- 
rament und  Individualität  des  Redners  unendlich  variiert  (vgl.  oben  Kap.  XIV); 
und  die  eingehenden  Fingerzeige  z.  B.  über  die  Kunst,  Fühlung  mit  den 
Hörern  zu  gewinnen  (Wunderlich  S.  70),  und  über  Kunstgriffe  im  Wort- 
gefecht (S.  97)  gehen  über  unsere  Aufgabe  heraus.  Nur  daran  ist  noch  zu 
erinnern,  daß  eine  hierdurch  bedingte  wesentliche  Verschiedenheit  der  Rede 
von  andern  Literaturgattungen  in  der  Beweglichkeit  des  Tons  besteht.  Ela- 
stisch den  Empfindungen  nachgebend   bildet  sie  aus  den  Obertönen  neue 


Rhetorik.  229 


Melodien  und  weiß  mit  tiefernster  Haltung,  wo  es  Not  tut,  den  Scherz 
(vgl.  aber  Theremix  S.  132  f.)  zu  verknüpfen,  wie  Luther  und  Bismarck 
es  gern  getan  haben.  Jedes  an  sich  erlaubte  Mittel  muß  ihr  dienen,  um 
den  Affekt  zu  enegen  (vgl.  ebd.  S.  134  f.)  und,  wie  im  Roman  die  Episoden, 
sind  in  der  Rede  die  Anekdoten  als  Ausruhestellen  für  die  Spannung 
wichtig.  Ein  Meister  im  parlamentarischen  Vortrag  von  Anekdoten  war 
L.  Bamberger,  der  seinerseits  (in  seinen  „Erinnerungen")  mehrfach  betont, 
wie  wirksam  etwa  der  sozialistische  Reichstagsabgeordnete  Schwartz  durch 
sachliche  Erzählungen  aus  seinem  Leben  (er  war  Schiffskoch  gewesen)  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  zu  fesseln  verstand.  Ebenso  berichtet  Schmoller, 
wie  Bismarck  in  den  Sitzungen  des  Staatsrats  bei  theoretischen  Er- 
örterungen gelangweilt  aussah,  aber  bei  jedem  praktischen  Einzelbeispiel 
aufmerksam  zuhörte.  Das  sicherste  Mitte!  aber,  Interesse  zu  erregen,  wird 
immer  das  sein,  daß  man  es  selbst  besitzt,  und  Affekt  wird  durch  Affekt 
erweckt  (vgl.  There.min  S.  120  f.).  Natüdich  darf  der  Redner  sich  aber 
auch  nicht  überschreien  —  weder  im  eigentlichen  noch  im  übertragenen 
Sinn.  Auch  sind  gerade  hier  die  Unterschiede  der  Gattungen  (Thereavin 
S.  72  f.,  Phil[PPi  S.  233  f.)  zu  beachten.  Die  Volksversammlung  verträgt 
ziemlich  viel  Pathos,  mehr  als  das  moderne  Parlament  (Philippi  S.  241), 
viel  mehr  als  eine  Jury-  oder  ein  Richterkollegium.  Eine  Festversammlung 
ist  selbst  schon  in  erregter  Stimmung,  eine  Kirchengemeinde  sollte  es 
wenigstens  sein,  eine  gelehrte  Körperschaft  ist  es  selten.  Deshalb  ist  ein 
guter  Advokat  oft  ein  schlechter  Parlamentsredner  (wie  de  Quincev  be- 
merkt). 

§  210.  Wirkung  des  mündlichen  Vortrags.  Zeigt  sich  also  die  Wirkung 
der  teleologischen  Anlage  jeder  echten  Rede  vor  allem  in  der  Elastizität 
der  Disposition,  nächstdem  in  der  Veränderiichkeit  des  Tons,  so  prägt  die 
Wirkung  des  mündlichen  Vortrags  sich  mittelbar  in  der  Behandlung 
des  Sprachstoffs  aus.  Die  „Rede"  im  weitem  Sinn  des  Wortes  muß  hier 
fast  so  elastisch  und  abwechselungsfähig  sein  wie  der  „Text". 

„Das  Hauptkennzeichen  der  gesprochenen  Rede  liegt  in  der  Satz- 
bildung" (Philippi  S.  230).  Eine  positive  Annäherung  an  die  Alltagsrede 
genügt  nicht;  es  muß  direkt  auch  das  Biidiartige  vermieden  werden  (ebd. 
S.  231).  Die  Wahl  der  Worte  schließt  sich  an  den  Gesprächston,  die  Stel- 
lung der  Worte  an  die  ungezwungene  Redeweise  zwischen  guten  Bekannten; 
Anakoluthe,  Einschiebsel,  Selbstverbesserung  (Wunderlich  S.  52  f.,  vgl.  allg. 
S.  48  L,  146  f.)  wirken  sympathisch,  weil  sie  den  Redner  näher  bringen. 
Die  Hauptsache  bleibt  die  Schlag-  und  Leuchtkraft  der  einzelnen  Ausdrücke 
(ebd.  S.  60)  „Ich  halte  es  für  notwendig,  die  Ausdrücke  so  scharf  und 
prägnant  zu  gebrauchen,  daß  sie  auch  im  Publikum  einen  Eindruck  machen", 
sagt  Bismarck,  und  führt  dementsprechend  einmal  aus:  „Ein  Zustand 
muß  aufhören,  in  welchem  über  jeden  Zaun,  über  jede  Brückenbohle  durch 
fünf  Instanzen  bis  nach  Berlin  gegangen  wird". 


230  Anhang. 


Dementsprechend  ist  auch  der  sogenannte  Schmuck  der  Rede  (ebd. 
S.  103  f.)  zu  behandeln:  Keineswegs  als  ästhetischer  Zierrat,  wie  in  der 
Antike,  sondern  als  Hilfe  der  Anschaulichkeit.  Deshalb  sind  Bismarcks 
Bilder  und  Metaphern  (vgl.  oben  S.  141  Anm.  1)  so  wirkungsvoll,  weil  sie 
immer  aus  dem  Anschauungsbereich  des  Publikums  genommen  sind;  des- 
halb sind  Zitate  (Wunderlich  S.  119),  Anspielungen  (S.  124),  Anekdoten 
(S.  129)  so  packend,  wenn  sie  aus  dem  Gefüge  der  Rede,  aus  dem  Moment 
herfließen. 

Nicht  ganz  gering  zu  schätzen  sind  auch  die  Klangwirkungen  (Wunder- 
lich S.  106  f.),  die  auf  Wortwahl,  Wortstellung  und  Rhythmus  (S.  110)  be- 
ruhen. Doch  spielen  sie  bei  uns  nicht  entfernt  die  Rolle  wie  in  England 
(Gladstone!)  und  Frankreich  und  kein  Publikum  wird  sich  in  unsere  Säle 
drängen,  um  sich  an  der  „goldenen  Stimme"  des  nordamerikanischen  Se- 
nators Sumner  oder  den  Kadenzen  des  Spaniers  Castelar  zu  berauschen. 

Dagegen  ist  es  natürlich,  daß  in  der  Rede  diejenigen  Figuren  die 
größte  Wichtigkeit  haben,  die  inhaltlich  und  dem  Klang  nach  wirken.  Vor 
allem  ist  die  Anaphora  die  eigentliche  rhetorische  Figur:  der  wiederkehrende 
Gleichklang  fällt  wirksam  ins  Ohr,  gliedert  die  Periode  übersichtlich  und 
hebt  zugleich  einen  Begriff  wie  mit  ausgestreckten  Händen  in  die  Höhe 
(vgl.  R ob.  Blum  0.  S.  93).  Ahnliche  Dienste  leistet  die  Antithese,  indem  sie 
ein  lautliches  Gleichgewicht  zweier  Sätze  herstellt,  und,  in  nicht  allzu  künst- 
licher Fügung,  der  Chiasmus.  Rhetorisch  ist  auch  die  Häufung,  die 
Hyperbel;  gefährlich  nah  an  die  Unnatur  streift  dagegen  für  moderne 
Empfindung  leicht  die  Apostrophe  und  Vision  heran.  Für  Sentenz  und 
Schlagwort  endlich,  in  denen  die  rednerische  Kunst  gipfelt,  ist  es  Be- 
dingung, daß  sie  auch  lautlich  dem  Wiederholen  und  Zitieren  keine  großen 
Schwierigkeiten  bieten  dürfen.  Einfache  Worte  in  einschmeichelndem  Rh>lhmus 
wird  man  bei  jeder  Durchsicht  von  Büchmanns  „Geflügelten  Worten" 
bevorzugt  finden. 

§211.  Wert  der  Redekunst.  Finden  sich  SO  mehrere  Redner,  die  das  Wort 
—  und  die  Situation  beherrschen,  so  darf  man  wohl  mit  Mundt  (Staatsbered- 
samkeit S.  19)  von  einer  ästhetischen  Kunst  der  Debatte,  von  einem  ästhetischen 
Vergnügen  am  vollendeten  Kunstwerk  reden.  Solche  Begegnungen  sind  selten; 
berühmt  sind  einige  Redekämpfe  im  englischen  Pariament,  im  französischen 
Konvent,  im  preußischen  Abgeordnetenhause  0  geblieben.  Ein  bedeutender 
Präsident—  wie  bei  uns  vor  allem  Simson  —  schheßt  dann  durch  würdiges, 
aber  seltenes  Eingreifen  den  künstlerischen  Eindruck  der  ganzen  Aktion 
ab.  Ob  sie  politisch  ebenso  erfreulich  wirke,  ist  natüriich  eine  andere 
Frage;  die  politische  Beredsamkeit  hat  im  Durchschnitt  wohl  nie  höher  ge- 
standen als  in  der  französischen  Deputiertenkammer  unter  Ludwig  Philipp,-) 
während    einzelne  Musterieistungen    der   Paulskirche    und   die   oratorische 

')  Z.  B.  Flathe  1,  569  f. 

-)  W.  A.  CORMENIN,  Das  Buch  der  Redner,  Leipzig  1843,  Weber. 


Rhetorik.  231 


Gesamtleistung  einzelner  in  der  Epoche  der  Pitt,  Fox,  Burke,  Sheridan 
sie  übertrafen  — ,  und  doch  war  dies  schwerlich  eine  Periode  besonderen 
politischen  Glanzes.  Die  leidenschaftliche  Verbitterung,  die  unsere  Kon- 
fliktszeit in  ihren  Nachwirkungen  noch  heut  Schaden  stiften  läßt,  rief  große 
Reden  und  große  Redner  hervor:  keine  Kunst  kommt  der  Nation  teurer 
zu  stehen  als  die  der  parlamentarischen  Beredsamkeit.  Und  ebensowenig 
bedeutet  die  einzig  dastehende  Blüte  der  Kanzelrede  Bossuets,  Fenelons, 
Massillons,  Bourdaloues,  Flechiers  einen  Höhestand  der  Frömmigkeit 
oder  Tugend  im  Frankreich  Ludwig  XIV;  und  Fontenelle  verstand  un- 
bedeutende wissenschaftliche  Berühmtheiten  und  Großtaten  so  wirksam  zu 
preisen  wie  nur  irgend  Böckh,  J.  Grimm,  Mommsen,  A.  W.  Hof- 
mann die  bedeutendsten.  Aber  ist  es  nicht  überall  so?  und  sollen  wir 
eine  von  allen  Völkern  gepriesene  Kunst  deshalb  schelten,  weil  die  Rhe- 
torik genau  wie  die  Dichtung  oder  die  Malerei  unmittelbar  durch  ihre  Blüte 
weder  eine  Blüte  des  politischen  noch  des  moraHschen  Lebens  der  Nation 
bezeugt? 

§  212.  Gesellige  Unterhaltung.  Als  eine  Vorübung  für  die  Rhetorik  hat 
die  gesellige  Unterhaltung  Bedeutung,  über  deren  Entwicklung  bei  den 
Deutschen  unter  diesem  Gesichtspunkt  Mundt  (Prosa  S.  372  f.)  mit  ge- 
wohnter Klugheit  gehandeh  hat.  Der  gesellige  Dialog  mit  seinen  witzigen 
Pointen  hilft  der  Vorbereitung  auf  Unterbrechungen;  ein  kürzerer  oder 
längerer  Vortrag  von  Anekdoten,  Eriebnissen,  Referaten,  der  leicht  im 
kleinen  Kreise  nötig  wird,  dient  als  Schulung  für  den  wichtigeren  Vortrag 
auf  der  Kanzel  oder  Tribüne.  Nur  ist  hier  fast  ganz  die  Kunst  fern  zu 
halten,  die  die  rechte  „Rede"  noch  duldet:  sie  wird  als  Affektation  em- 
pfunden. Die  Sprache  ist  einfach  die  zum  Konversationston  erhobene  All- 
tagsrede; durch  Euphemismen,  Anspielungen,  Zitate  zollt  sie  den  Lebens- 
gewohnheiten der  Gesellschaft  ihren  Tribut,  in  Wortwahl  und  Satzbildung 
hält  sie,  wie  eine  geschmackvolle  Gesellschaftstoilette,  zwischen  Putz  und 
Neglige  die  Mitte. 

Auch  die  Konversation  kann  sich  zur  Kunst  steigern  wie  in  den 
Pariser  Salons  des  18.  Jahrhunderts,  den  Bediner  Salons  der  romantischen 
Periode.  Sie  entwickeh  ihren  eigenen  Stil,  den  man  kurz" als  mündlichen 
Briefstil  bezeichnen  könnte,  weil  die  Voraussetzungen  des  Briefstils  durch 
die  Wirkung  der  mündlichen  Improvisation  modifiziert  werden.  Die  münd- 
liche Rede  einer  angeregten  Gesellschaft  ist  wieder,  wie  beim  Briefwechsel, 
und  wie  in  glücklichen  Fällen  bei  der  Debatte,  als  Ganzes  zu  fassen.  Der 
vordringliche  Salonton  zerstört  die  Einheit,  eine  Anzahl  gut  aufeinander  ein- 
gearbeiteter Plauderer  —  und  Hörer  macht  den  Abend  zu  einem  Triumph 
menschlichen  Redevermögens.  In  Deutschland  ist  die  Kunst  des  Plauderns 
selten,  und  die  des  Zuhörens  seltener;  jeder  ist  auf  seine  Individualität  so 
stolz,  daß  er  es  nur  als  provisorisch  erteilte  Gnade  ansieht,  einen  andern 
sprechen  zu  lassen.    Die  Damen  pflegen  in  der  Kunst  des  Anhörens  trotz 


232  Anhang.    Rhetorik. 


dem  Rufe  der  „Geschwätzigkeit"  immer  noch  die  Herren  zu  übertreffen. 
Wir  könnten  gerade  hier  noch  recht  viel  lernen;  aber  natürlich  nicht  gerade 
aus  Lehrbüchemi 

Indes  sind  wir  hier  ja  schon  an  dem  äußersten  Grenzrain  von  Stili- 
stik und  Rhetorik.  Die  Unterhaltung  entspringt  nicht  nur  —  wie  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  auch  die  Rede  —  dem  Moment,  sondern  soll  auch 
in  ihm  gefangen  bleiben.  Wie  ein  Musikstück  soll  sie  vorüberrauschen, 
Stimmung  hinterlassen,  Reminiszenzen,  aber  keinen  greifbaren  Niederschlag. 
Und  deshalb  scheidet  sie  aus  der  kunstmäßigen  Behandlung  der  Prosa 
schließlich  doch  aus,  schon  weil  sie  sich  jeder  nicht  momentanen  Kritik 
entzieht. 

.^uf  der  andern  Seite  stellt  sie  den  äußersten  Gegenpol  dar  zu  dem 
einzelnen  Wort,  mit  dessen  Würdigung  wir  begannen.  Dem  isolierten  ein- 
zelnen Stückchen  menschlicher  Rede  steht  die  gemeinsame  Arbeit  Vieler 
zu  einem  gemeinschaftlichen  sprachlichen  Kunstwerk  als  Triumph  der 
kollektiven  Sprachbetätigung  gegenüber.  Deshalb  wird  die  angeregte  Unter- 
haltung auch  alles  umfassen,  alle  Stile  und  alle  Gattungen  der  Prosa,  alle 
Temperamente  und  alle  Figuren;  und  zur  täglichen  Beobachtung  aller  der 
Dinge,  deren  Beobachtung  dies  Buch  lehren  und  verfeinem  möchte,  bietet 
ihre  stilvolle  Buntheit  neben  der  stilvollen  Einheitlichkeit  des  einzelnen 
Prosawerks  die  schönste  Gelegenheit. 

Und  so  hat  sich  der  Kreis  gemndet.  Wohin  wir  blickten,  fanden  wir 
Probleme,  fanden  wir  Auffordemng  zu  neuen  Beobachtungen  und  Ver- 
gleichungen.  Die  Stilistik  als  Lehrbuch  zum  guten  Schreiben  ist  durch  die 
guten  Schriftsteller,  die  nichts  von  ihr  wissen  wollten,  und  die  schlechten, 
die  sich  an  sie  hielten,  gleichmäßig  um  ihren  Ruf  gekommen.  Die  Stilistik 
als  wissenschaftliche  Disziplin,  als  vergleichende  Syntax,  als  empirische 
Gmndlage  der  Kritik  am  sprachlichen  Ausdruck  —  diese  Stilistik  hat  ihre 
Laufbahn  erst  begonnen.  Möge  jeder  Fehler  und  jede  Lücke  unserer  Dar- 
stellung zur  Verbessemng  und  Ausfüllung  aufreizen;  und  möge  dies  Buch 
dazu  helfen,  das  andächtige  Lesen  in  den  besten  Werken  unserer  reichen 
Prosa  zu  fördem,  und  mit  der  Andacht  des  Lesens  die  Liebe  zu  unsem 
großen  Meistern! 


Register. 


Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  die  Seiten.    Die  S.  148  f.,  168,  185  f.,  199  f.,  208  f.,  218  f.  angeführten  Naitien 
sind  in  das  Register  nur  zum  kleineren  Teil  aufgenommen. 


Abbt  14. 
Abhandlung  181. 
Ableitung  11. 
Abschluß  151. 
Abschweifung  167. 
Adelung  16. 
Adjeiitiv  42  f. 
Al<kumulation  117.  119. 
Akzentverschiebung  57. 
Albalat  69.  147  f. 
Allegorie  112.  143. 
allusio  siehe  Anspielung. 
Altenberg  65.  196. 
Amiel  154. 
Amphibolie  25.  77. 
Amplifikation  117.  119. 
Anachronismen  207. 
Anadiplosis  15. 
Anakoluth  55.  76.  201. 
Analyse  116. 

Anaphora  91.  97.  203.  230. 
Andersen  174. 

Anekdote  144.  168.  171.  174. 
Anhäufung  119. 
Anmerkung  79. 
Annominatio  36.  38.  44.  129. 
Anreden  107. 
Anschaulichkeit  26.  161. 
Anspielung  107.135. 137  f.216. 
Antiklimax  127. 
Antimetabole  127. 
Antimetathesis  127. 
Antithese  121  f.  212.  216.  230. 
Anzengruber  175. 
Aphorismus  73.  155.  174. 
Apophthegma  57. 
Aposiopese  55.  75.  201. 


Apostrophe  133. 135. 203. 212. 

230. 
Apperzeptionsformen  209. 
Aprosdokese  35.  76.  213. 
Arndt  30.  65.  78.  148. 
Assonanz  35. 
Assoziationen  28. 
Asyndeton  90. 
Attribut  43. 
Auerbacli  151. 
Aufklärung  10. 
Ausdehnung  64.  131. 
Ausruf  84  f. 
Aussage  84.  86  f. 
Austriacismen  17. 
Autobiographie  181. 
Avenarius  12. 

Bain  105.  112.  115.  222. 

Balzac  176. 

Bamberger  145. 

Barbarismus  6. 

Bayle  80. 

Becker  K.  F.  3.  27.  139.  153. 

Beckerath  35. 

Bejahung  88. 

Beispiel  144. 

Beredsamkeit  65.  93.  115. 133. 

136.  223  f. 
Bericht  182.  184.  208.  215. 
Berlioz  79. 
Bernays  J.  151. 
Bernhardi  66.  101.  130. 
Berufssprache  111. 
Beschreibung  119.  179. 
Bettine  16. 
Biese  110. 


Bild  210. 

Bildungsstufe  215. 

Biographie  170. 

Björnson  202. 

Bismarck  50.  54.  65.  102. 136. 

137.  141.145.193.222.225. 

230. 
Blaß  54. 

Blätter  für  die  Kunst  216. 
Blum  R.  36.  93.  97. 
Böckh  59. 
Bodenstedt  126. 
Böhlau  16.  203. 
Börne  60.  66.  188.  192. 
Bossuet  209. 
Boucke  66. 
Braun  93. 
Brehm  181. 
Brentano  38.  130.  131. 
Bret  Harte  41. 

Brief  183  f.  190.  208.  214.  215. 
Browning  El.  205. 
Büchmann  136. 
Buchtitel  85. 
Bülow  136. 
Bürger  16.  17. 
Byron  49. 

Campe  10. 
Canon  95. 
Carlyle  108.  159. 
Cato  96.  139.  225. 
Cento  137. 

Cervantes  175.  179.  214. 
Chamfort  196. 
Chamisso  95.  130. 
Charakteristik  169. 


234 


Register. 


Charakterzeictjpung  165. 
Chateaubriand  61.  209. 
Cicero  61.  136. 
Citat  13.  135.  137.  156. 
constructio  kata   synesin  42. 

54   76. 
contradictio  in  adiecto  40.  42. 

Dante  202. 

Daudet  50. 

Daumer  85. 

Definition  196. 

Dehmel  216. 

Demosthenes  225. 

Detmold  171. 

Dialekte  17. 

Disposition  81.  146.  181.  198. 

226.  227. 
Disraeli  50. 
Dissimilation  35. 
Dohm  194. 
Doppelsinn  26. 
Dorfgeschichte  204. 
Dumas  175.  177. 
Düntzer  72. 

Einheitlichkeit  70  f.  82. 130. 160. 

Elativus  54. 

Eleganter  Stil  215. 

Elemente  der  Rede  5. 

Elision  33. 

Ellipse  55.  74.  75.  201. 

Elster  110. 

Emerson  158. 

Enallage  204. 

Engel  J.  J.  29. 

Englische  Literatur  136.  160. 

175.  179.  189. 
Entwicklung  der  Rede  117. 
Epanalepsis  95. 
Epanodos  94.  95. 
Epigramm  183.  213. 
Epiphora  93. 
Episode  177. 
Epitheton  44  f.  129.  178. 
Epitheton  ornans  47. 
Epizeuxis  38. 
Erzählung  160  f.  166  f. 
Esoterischer  Stil  216. 
Essay  157  f.  192. 
Euphemismus  31.  107. 
Euphonie  33. 


Euphuisraus  211. 
Exkurs  80. 

Experimentairoman  178. 
Exposition  160. 

Fachausdrücke  17. 

Familiensprache  16. 

Farbworte  52. 

Fechner  28. 

Feilen  23.  149. 

Feuilleton  192.  214. 

Fichte  65. 

Fielding  175. 

.Figaro"  189.  192. 

figura  etymologica  44. 55. 129. 

Fischart  39. 

Flaubert  50.  175. 

Flugschrift  199. 

Fontane  30.  138. 145. 157. 186. 

216. 
Fontenelle  112. 
Formel  182. 
Formelbruch  35.  76. 
Frage  84.  87. 
Französische  Literatur  48.  50. 

61.  73.  107.  117.  121.  157. 

170.  171.  189.  209. 
Freiligrath  207. 
Fremdwörter  18. 
Frejiag  8.  15.  29.  50. 
Friedrich  Wilhelm  IV.  83. 
Fries  59. 

Gambetta  124. 

Gattungen  152. 

Geflügelte  Worte  13.  23.  193. 

225. 
Gegenrefrsin  97. 
Gegensau  121.  129. 
Geibel  88.  158.  208. 
Gemeinverständlichkeit  15. 
Genauigkeit  24. 
Gentz  59. 

George  St.  29.  82.  202. 
Gerber76. 105. 111.  112.  130. 
Gespräche  178. 
Gibbon  170. 
Gildemeister  158. 
Glasbrenner  35. 
Gleichnis  110.  112.  135.  139. 

210.  212. 
Goncourt  48.  50.  61.  159. 


Goethe  9.  10.  15.  17.  21.  25. 

26.  27.  40.  41.  49.  51.  52. 

54.  55.  57.  59.  62.  65  f.  71. 

73.  74.  76f.  83.  86. 111.113. 

121.128.130.137.141.142. 

144.145.150. 151. 158. 161f. 

170. 175f.  178. 180.184.186. 

201  f.  210. 
Gottsched  16. 
Grabbe  204. 
Grabschrift  184. 
Gracian  157. 
Gradation  127. 
Grammatik  3. 
Greif  58. 
Grillparzer  30.  34.  92.   122. 

130.  201.  205. 
Grimm  Br.  91.  128.  166.  174. 
Grimm  H.  20.  158. 
Grimm  J.  11.  20. 
Grimmeishausen  175. 
Grün  An.  140. 
Grj'phius  52. 
Gummere  110. 
Gutzkow  59.  176. 

Haeckel  180. 

Haller  A.  v.  17.  61. 

Hamann  138.  212. 

Hameriing  83.  206. 

Harimann  M.  126. 

Hauff  163. 

Häufung39. 43.91. 92.129.230. 

Haupt  M.  54.  80. 

Hauptmann  204.  207. 

Haym  218. 

Hebbel  41.  159.  188. 

Hebel  111.  170  f.  205. 

Hegel  14. 

Hehn  11.  19. 

Heine  9.  34.  49.  50.  53.  55. 

59.  64.  66.  126.  150.  188. 

192.  211.  213. 
Heischesatz  84.  89. 
hcili  106. 
Helmholtz  181. 
Hennequin  218. 
Herder  10.  17.  58.  151.  163. 

194.  202.  209.  222. 
Herwegh  139. 
Heyse  158.  174.  176. 
Hiatus  33. 


Register. 


235 


Hildebrand  R.  13.  17.  19.  25. 

27.  28.  30.  34.54.  78.  161. 
Hillebrand  158. 
Historischer  Stil  181. 
Hoffmann  E.  Th.  A.  32.  61. 
Hoffmannswaldau  52. 
Holberg  207.  ' 

Hölderlin  34. 
Holtei   134. 
Holz  Arno  56. 
Homer  47.  77.  139.  141.  162. 
Huch  Ric.  29.  178.  202.  203. 
Hugo  V.  21.  41.  124.  210. 
Humanistenbriefe  186. 
Humboldt  A.  v.  52.  181. 
Humboldt  W.  v.  52.  181. 
Humor  213  f. 
Humoreske  171.  214. 
Humoristen  81. 
Hunt  153. 
Hyperbel  107.  200.  212.  215. 

230. 
Hypotaxe  72. 
Hysteron  proteron  131. 

Jahn  10.  29.  41. 
Janin  192. 
Ibsen  195.  204. 
Ickelsamer  82. 
Idealismus  203. 
Idealistischer  Stil  206. 
Idiotismus  15. 

Jean  Paul  21. 49. 53. 61. 64. 66. 
81.123.141.153.205.206.211. 
Illusionismus  203. 
Immermann  30.  52.  138.  148. 

150.  176. 
Individualisierender  Stil  216. 
Individualität  217. 
Inhaltsangabe  182. 
Inschrift  139.  183. 
Interjektion  5.  155. 
Interpunktion  81. 
Ironie  107.  213.  214. 
Italienische  Literatur  48. 
Jordan  W.  178. 
Junges  Deutschland  50.  205. 
Justi  80. 

Kadenz  59.  61. 
Kanon  95. 
Kanzleistil  184.  208. 


Katachrese  141. 
Kehrreim  96. 

Keller  G.  120.  171.  IV  7.  178. 
kenning  106. 
Kette  128. 
Kiesel  56. 
Kirchhoff  179. 
Klangwirkungen  230. 
Klassizistischer  Stil  216. 
Klausel  61.  66. 
Kleist  Ew.  V.  99.  140. 
Kleist  H.  V.  92.  99.  117.  162. 

167.  203.  205.  211. 
Klimax  123.  127. 
Klinger  62. 
Klopstock  37.  49.  90. 
Komparativ  54. 
Konflikt  223. 
Kongruenz  42.  54. 
Konjunktionen  90. 
Konsonantenhäufung  34.  35. 
Kontinuität  98.   115. 
Kontrast  165. 
Konversation  231. 
Konzept  227. 
Köster  196. 
Krasis  34. 
Krause  12. 
Kuhurkampf  223. 
Kunstausdrücke  13. 
Künstlerroman  178.  207. 
Kunstwörter  17. 

La  Bruyere  157. 

Lachmann  80. 

La  Rochefoucauld  157. 

Laßwitz  174. 

Lateinische  Literatur  124. 

Lateinische  Sprache  61 .  65. 79. 

Lateinischer  Stil  215. 

Lautsymbolik  29. 

Lavater  49. 

Lehrbuch  181. 

Lehrstil  179. 

Leipzig  17. 

Leitartikel  193. 

Lektüre  34,  148. 

Lenau  128. 

Lesen  34.  148. 

Lessing  10.  16.  41.  62.64.  66  f. 

82.  91.  117.   137.  141.  143. 

162  f.  179.  196.  199.  213. 


Lichtenberg   17.  49.  55.  213. 

Lienhard  161. 

Liliencron  14.  207. 

Litotes  107.  215. 

Lotze  83. 

Löwenstein  194. 

Lucan  134. 

Ludwig  I.  von  Bayern  37. 

Ludwig  O.  139.  201. 

Luther  62.  199. 

Lyrik  65. 

Macaulay  65.  148.  158.   181. 
Malerischer  Stil  210. 
Mann  Th.  178.  203. 
Märchen  166.  200.  208. 
Mark  Twain  57. 
Marinismus  211. 
Maupassant  191. 
Mauthner  101. 
Mehrdeutigkeit  77. 
Melodie  63. 
Metamorphose  163. 
Metapher  18.  102.  110  f.  142. 

171.  203.  208.  210. 
Metonymie  100  f.  108. 
Meyer  C.  F.  23. 
Meyer  R.  M.  50.  96. 
Meyer  Theodor  A.  161. 
Militärische  Beredsamkeit  224. 
Minnesang  36. 
Minor  15. 

Modewörter  12.  193. 
Moment  201. 
Mommsen  170.  181.  213. 
Monnier  196. 
Monographie  181. 
Monologische  Prosa  155. 
Montaigne  158. 
Mörike  35.  50.  52.   120. 
,mot  propre'  22.  51. 
Müller  J.  V.  58.  218. 
Münchener  Dichterkreis  205. 
Mündlicher  Vortrag  229. 
Mundt  65.  70.  185. 
Mythologie  210. 

Nachtrag  81. 
Namengebung  29. 
Napoleon  205. 
Naturalistischer  Stil  216. 
Naturbeschreibung  181. 


236 


Register. 


Negation  88. 
Neologismus  9. 
Niedere  Worte  21. 
Nietzsche  10.  16.  27.  31.  35. 

50.  51.62.  66  f.  78.  83.  157. 

158.  205.  212. 
Norden  59. 
Novalis  49.  212. 
Novelle  140.  168  f.  171.  174. 

208. 
Nüchternheit  208. 
Numerus  57.  60  f.  65  f. 

Objekt,  inneres  44. 
Objektivität  178.  180. 
Ompteda  14. 
Onomatopöie  29. 
Owen  130. 
Oxymoron  40. 

Palmerston  136. 
Pamphlet  199.  214. 
Panegyrikus  40. 
Parabel  112.  143.  197.  200. 
Parallelismus  98. 1 1 3. 1 23. 1 25. 
Parataxe  72. 
Parenthese  73.  79. 
Parlament  226. 
Parodie  137.  213.  217. 
pars  pro  toto  100.  102.  108  f. 
Pascal  157. 
Pathetischer  Stil  211. 
Pathos  38. 

Paulskirche  223.  225. 
Periodenbau  65.  72.  131.  208. 
Periphrasis  106. 
Personifikation  103.  200.  210. 
Philippi  2.  66. 

Philosophischer  Stil  181.  212. 
Pierson  59. 
Platen  23.  35.  195. 
Poesie  und  Prosa  5.  152. 
Poetik  1. 

Poetische  Sprache  204  f.  210. 
Politische  Ausdrücke  14. 
Politische  Prosa  184.  199. 
Polyptoton  36.  38. 
Polysyndeton  90. 
Porträt,  literarisches  168. 
Postscriptum  81. 
Prevost  175. 
Priamel  39.  92. 


Proanaphonema  204. 
Proanaphonesis  204. 
Proapantesis  204. 
Proasma  204. 
Pronomen  98. 
Prosarhjlhmus  58. 
Provinzialismus  16.  207. 
Publikum  203.  206. 
Purismus  10.  19.  106. 

Racine  18. 

Radowitz  138. 

Ramler  107. 

Randnotiz  79. 

Ranke  16.  65.  120.  148.  170 

181. 
Rätsel  107.  171.  174. 
Ratzel  181. 
Realistischer  Stil  216. 
Rede  136.  190.  197  f.  224  f. 
Refrain  94.  96. 
Register  182. 
Reichel  59. 
Reim  114. 
Reimnot  58. 
Reimprosa  114. 
Rekapitulation  198. 
Reklamewörter  14. 
Reminiszenz  138. 
Responsien  97. 
Reuter  Fr.  8.  17.  29.  98. 
Reuter  Gabr.  177. 
Rhetortk  1.  42.  198.  221  f. 
Rhetorische  Frage  212. 
Rhetorischer  Stil  124.  209. 
Rh.vthmus  57  f.  61  f.  94.  97. 
Richardson  186. 
Riehl  127. 

Roman  140.  174  f.  186. 
Romantik  10.  41.  49.  83.  107. 

115.  138.  174.  211. 
Ronsard  48.  52. 
Rosegger  171. 
Rousseau  186.  202. 
Rückert  76. 

Rührender  Reim  36.  94. 
Rümelin  19. 
Runge  166. 

Sachlichkeit  208. 
Sanders  7. 
Sandhi  32. 


Saphir  130. 
Satire  213  f. 
Satz  56  f.  70  f. 
Satzarten  84  f.  153. 
Satzbilder  66. 
Satzbildung  229. 
Satzmelodie  63. 
Satzphonetik  32. 
Satzschluß  132. 
Satzteile  32. 

Satzverbindung  89  f.  1 15. 
Scheffel  81. 

Scherer  13.  65.  110.  111.  218. 
Scherr  10. 

SchiUer  17.  21.  38.  40.  52.  58. 
63.  67  f.  75.  76.  86.  90.  92  f. 
98.  119.  121.  124.  126.  130. 
133. 137. 138. 144. 151. 162f. 
170.  171.  184.  197.  204  f. 
SchlagTi'orte  36.  225. 
Schlegel  A.  W.  51.  196. 
Schlegel  Fr.  49. 
Schleiermacher  59.  65.  130. 
Schlesische  Schule  205. 
Schmuck  der  Rede  230. 
Schnitzler  1%. 
Schönaich  49. 
Schopenhauer  16.  23.  158. 
Schroeder  O.  15.  27. 
Schubin  85. 
Schwank  170.  171. 
Schwulst  211. 
Seneca  41. 

Sentenz  135.  138.  155. 
Shakespeare  134.  142.  204. 
Sherman  65. 
Sievers  60. 
Silbenfall  60. 
Simrock  8. 
Skalden  106. 
SmoUet  175. 
Sokrates  195.  214. 
Solger  195. 
Soloecismus  6. 
Sophokles  41. 
Spannung  166.  177. 
Spencer  27. 

Spielhagen  174.  176.  178. 
Sportwörter  13.  102.  112. 
Sprachgebrauch  219. 
Sprachmelodie  60. 
Sprachverein  19. 


Register. 


237 


Sprichwort  135.  155.  169. 
Staatsschrift  184. 
Stahl  Fr.  J.  96.  225. 
Steigerung  53. 
Stendhal  Beyle  25. 
Sterne  55.  81. 
Stil  66.  217. 
Stilgefühl  206. 
Stilistik  1.  3  f.  201. 
Stimmung  101.  167. 
Stoffwahl  206. 
Storm  29.  130. 
Strachwitz  Gr.  50.  126. 
Strauß  Fr.  D.  83. 
Sturm  und  Drang  9.  48. 
Sue  175.  177. 
Sütterlin  20. 
Suttner  B.  v.  16. 
Swift  204.  213.  214. 
Symbol  125. 
Symbolische  Sätze  87. 
Symbolisierender  Stil  212. 
Symmetrie  163. 
Symplolie  94. 
Synel<doche  100.  102.  108  f. 

144. 
Synonyma  24.  102. 
Syntax  und  Stilistil<  56. 

Tacitus  58. 136. 138. 148. 170. 
Tagebuch  159.  185.  186.  189. 

190.  215. 
Taine  52. 
Tautologie  43. 
Teichoskopie  165. 
Telegramm  186. 
Temperament  207. 
Tempo  60.  63.  130. 
Tendenzroman  178. 
Tennyson  128. 
termini  technici  17. 
Thema  206. 
Theophrast  169.  170. 
Theremin  226.  228. 
Tieck  174. 
Tiedge  23. 
Totalität  176. 
Traumbild  163. 
Treitschke54.58. 181.209.212. 
Triolett  95. 


Trojan  194. 
Tropen  99  f. 
Typisierender  Stil  216. 
Typographische  Hilfsmittel81 . 
83. 

Obergänge  150. 
Überraschung  171. 
Überschaulichkeit  70. 
Überschriften  85.  158. 
Übersetzen  23. 
Uhland  8.  22.  77.  89.  115. 
Umgebung  205. 
Umschreibung  105. 
Undeutlichkeit  77  f. 
Unterhaltung  231. 
Unterstreichen  83.  130. 
Untersuchung  195. 
Urteilsworte  12.  14.  193. 
Utopien  174. 

Variation  112. 

Variation  des  Subjekts  98. 

Varnhagen  v.  Ense  148.  218. 

Vergleichung  53. 

Verneinung  88. 

Verweisung  130. 

Verwicklung  167. 

Verzahnung  130.  151. 

Viehoff  161  f. 

Villers  186.  188. 

Vilmar  48. 

Vincke  136. 

Virgil  75.  131. 

Vischer  10.  14.  27.  41.  50.  59. 

153.  161.  168. 
Vision  134.  230. 
Volksepos  163. 
Volksetymologie  28.  129. 
Volkslied  162. 
Volksrätsel  171. 
Volkstümlicher  Stil  216. 
Vollständigkeit  70.  77. 83. 130. 

160. 
Voltaire  213.  214. 
Voß  J.  H.  37.  52. 
Vulgäre  Ausdrücke  21. 

Wackernagel  2.  74.  75.  83.  90. 
93.  100.  103.  105.  153.  185. 
221. 


Wagner  R.  47. 

Wahlspruch  139. 

Walther  v.  d.  Vogelweide  39. 

93. 
Weber  K.  J.   145. 
Weimar  205. 
Weitschweifigkeit  205. 
Weltanschauung  216. 
Wernike  19. 
Widersprüche  151.  202. 
Wiederholungen  150. 
Wiederholung,epische92. 183. 
Wieland  23.  25.  34,  49.  150. 

151. 
Wienbarg  50.  64.  66. 
Wilke  17. 
Wissenschaftliche    Prosa    79. 

118.  124.  179.  224. 
Witz  205.  206.  213  f. 
Witzblätter  194. 
Wolfram  v.  Eschenbach  111. 
Wortautnahme  95.  137. 
Wortklassen  27. 
Wortspiel  36  f.  125.  129.  213. 
Wortstellung  56  f. 
Wortverbindung  31  f.  37  f. 
Wortwahl  22.  102.  208.  215. 
Wortwiederholung  37. 
Wunderlich  3.  56. 
Wundt  59.  195. 
Wurzelschöpfung  12. 
Wustmann  7.  15.  27.  58. 

Xenien  36. 

Zahlen  109. 
Zählung  115. 
Zauberformeln  39. 
Zeit  203.  - 
Zeitroman  176. 
Zeitschriften  191. 
Zeitung  188  f.  215. 
Zeitungsstil  191  f. 
Zeugma  55. 
Zitat  135.  137.  156. 
Zola  119.  150.  178.  179. 
Zusammengesetzter  Satz  86. 
Zusammensetzung  1 1 .  26. 108. 
Zweiteilung  121. 
Zwillingsformeln  29.  123. 


/t^  ^  ^IX^  ^        Sein  t'ebcn  unb  leine  äüerte 

3n3rocisöuben     Dr.  ^Tlbctt  iSielfi^otDSfi) 

Sanb  1  mit  Kraoürc:  3:tid)betns  (5oetf)e  in  3tnlten.     10.  u.  11.  'ütufl.  30.— 36.  Iniij. 
3n  Seinen  geb.  TOf.  6.—  (3n  feinitem  Satbtalbleberbanb  Wf.  8.50.) 

<8anb  II  mit  ©raoüre:  Sticlers  ©oetfje^^Porträt.    0.  u.  10.  9111?!.  27.-33.  2quI. 
3n  Seinen  geb.  Ilif.  8.-    (3n  fctnftem  §nlb!nlblebcrbnnb  9JH.  lO.fiO.) 

S8iclfd)owätt)S  ®Detljc  flcfiört,  mie  bet  Sunftwart  fagt,  in  icbeä  2cutt(^fn  ^ouä,  bct  ü6et^oupt  befähigt  ift, 
(»oet^e  geiftig  mitauberi^eii. 


Sotben    ift    fcrnet    eti(!öienen    unb    loitb   oUcn    Sefitjftn   bon    Siet((^DtB?fl)ö    6iiJctt)e-- 


Siograptiif  empfotilcn : 


5rtet)eri!cunt)£Ui 


günf(5odf)e»9rufiäl^e 

üon  Dr.  Gilbert 
'Sielf^oiDsti) 


OTit  einem  9Jn(f)ruf  unb  bem  «ilbnis  bes  ikrfajjers.    13 '/a  Sogen.  8°,  fein  geb.  aiJf.  4.—. 

3nf)Qlt :  9Jacf)nif  Don  05ottF)olb  ftlee.  —  grieberife  Srion.  —  Über  (£(i)tl)eit  unb 

(£t)VonoIogic   ber   Sejenfjeimer   fiieber.  —  ©oet^es  £ili.  —  Die  Urbilber 

3U  öermann  unb  Dorotf)ea.  —  ßili  unb  Dorotl^ea. 


Schiller 

3n  jtDei  *5nnben 


Sein  ßeben  unb  feine  3ßerle 


Don 


5^avl  33erger 


Sanb  I  mit   Wrauüre:   £cf)illcr   im   27.  Scbensjn^re   dou   Slnton   ©raff.     3.   burd)  = 
gelegene    'Auflage    (foeben    erfii)ienen!).     7. — 10.  Tauf.     3n  Seinen  geb. 
9J?f.  6.—     (3n  feinjt.  öalbtalbleberbanb  Oüf.  8.50.) 
Sanb  II  foll  im  §erbft  190fi  erfcfjeinen. 

„Xaä  neue  Sci)incrbucf)  teilt  in  ber  lat  bie  Sigenatt  ber  !BieI|c4on)S(t;fc^en  (SoetficciBiogtab^ie :  mir  fommen 
bem  ®e(cl)ilberten  ganj  nafje  unb  empfinben  bod;  in  jebera  Slugenblict  feine  ^öbcrc  5Iatur." 

(®cf)fimrat  »Järof.  Dr.    aBilberm  5J!ündi  in  ber  iKot.=Stg.) 
„Socfi  man  würbe  niijt  bie  rccfite  SteHung  ju  bem  Sudie  befonimen,   roenn  man  ti  nur  nlä  Seitenftücf  ju 
8ieIt(i)on)ätl)S  (Soetbe  auffalten  moHte."  (9fid)arb  SBcitbrecfit  in  ber  Sieiitfi^cn  3eitung.) 

„Sie  SRcfuItate  ber  neucfteu  gorjtfjung  in  einer  gemanbten,  äroi[(i)en  ber  Sreite  SBeltridiä  unb  bem  2aIoniä= 
inu§  SeHermannä  gefd)ictt  bie  Mitte  ^altenben  SarfteHnng." 

(Dr.  Solob  SMinor  in  ber  SReuefl  freien  9Sre({c.) 


Si^tller 


^rof.  Dr.  (gugcn  5^ii:^nemann 


1.  u.  2.  9lufl.     1905.    614  Seiten  mit  «Porträt.    Sein  gebunbcn  iUif.  6.50. 

%ai  Sucf)  lebt  wir[li(^!    Muäblide  »on  fiofter  SBarte  oetbinbcn  überatt  Sergangenfteit,  ®egenroart  unb 

Sutunft  beä   fortfcfireitenben  8ebenä.    ftüftnemannä  Sud)   büft   jur  2eben«!(t)öBun3   in   bSfierem  Sinne  er= 
jiefecn  .  .  ."  (tn  .ilunftraart,  erftcä  TOaibeft  1905  lädjiHerbeft].) 

„.  .  .  9lm   meiftcn  aber  ftnb  roir  .(iüljnemann  bafür  bantbar,  bafi  er  SdiiOer  nnjerer  (Äcgenwort,  mit  ibren 
moberncn  Semegungcn  unb  Sebiirfniffcn  gegenübcrgcftent  Ijat:  'Bai  ScfiiHer  uns  fein  tann  nnb  fein  foII!  .  .  ." 

(S)ie  dtiriftlidie  aSelt  bora  -t.  Mai  11105.) 
„£er  groBe  @ett>inn   unter   ben   ja^IIcifen  TOeten   ber  jur  ^abrbunbertfeier  oeranftalteten  Südierlotterie  ift 
gugcn  SfübnenmnnS  Sdiillct  .  .  ."      (Dr.  Ernft  Xraunmnn  in  ber  Sranffurtcr  fleitung  com  19.  CIt.  1905.) 


3o^annc5  33oIfeIt 

otb.  "Profcllor  bcr  'Pi)ilo|op[)ie  an  ber  Unioerlität  ju  2cip3tg 


Soeben  erf(f)icnen : 


5rüF)er  erj(f)ien: 


^ft^ett!  bee  Xragifi^en.  Softem  ber  ^Ift^etü. 

3tDeite  umgearbeitete  unb  |tarf  Derme{)rte  »  3n  5roei  Sänben  » 

Sluflogc.  (grftcr  Sanb. 

1906.488  S.  gr.S».  ©et).  aKf.O,  geb.  SRI.  10.  1905.  38Sog.  gr.8».  3n  £etni0.gcb.anf.  12. 


©oet^e*  u.  6(^illcr[tut)ien 

fjeraiisgegebctt  uon 

Dr.  Kobcrt  ißctfi^. 

Criter  Sanb: 

(5rrei^eit  unb  91ota)cnbigfett 
in  Scf)iUer5  X)ramcn 

von 

Dr.  Kobcrt  ißctfdj, 

il5i:iDatb03cnten  an  bet  Unioetiität  fecibclberg. 

1905.    19  58ogen.    8°.    9Jtt.  6.—. 


^oeti! 


Hubert  Kocttcteit, 

«Ptofcüor  011  bct  UniDcriität  SBfirjburg. 

Crltct  leil:  Sorbemertungcn.  ?nigc= 
meine  *!lnalt)ie  ber  p(i)d)i(ci)en  t^ov 
gänge  beim  ©enujj  einer  Sid)tung. 

1902. 20  Sogen.  8 ".  Kel).  DH .  7 ;  geb.  «if .  8. 


$ert)er. 


Sein  Seben  unb  feine  2ßer!e 

uon 

Dr.  ^ugen  Äüljnctnonn. 

aiüt  -;?orträt.     Sein  geb.  9)».  7.50. 

„SBer   iicrbor   luirtlid)    fiict)t,    ti'itb   mit  SiT£|iiiiacn 
nad)  .«üf)ucniann8  Scbenä»  unb  i«fifte«bilb  greifen." 
'iiational^^eitiing.) 

granj  C^rillparser. 

Sein  iicbcn  unb  jcinc  "inerte 

^profciior  nn  bct  Unioetiität  ju  ifkrmont.gfrronb. 

T)eut)d)c  5lusgabe 

uon 

aJlortft  9iedcr. 

9JJit  12  ''l.lorträts  unb  2  gatfimiles. 

1902.  34  2?ogcn.  8».  ©et),  l'if.  0.50; 

eleg.  geb.  9.>if.  7.50. 


Die  3bee   im  Drama 

bei    ©oet^e,    Si^iller, 

(Srillpaqer,  RIeift. 

»011 

Dr.  ani^ael  Sex. 

1904.    IV,  314  e.    8°.    ©el).  OTf.  4.—  ; 
geb.  aJH.  5.—. 

9JMr(^en,  Sage  unb 
Dii^tung. 

Son 

Dr.  5rtcbri(^  ^onjcr, 

^tofetiot  on  bei  aiobemic  für  Sojiol.   unb 
Sanbelsn)iücni(I)Qftcn  in  gtonffurt  a.  3J!. 

1905.    4  Sog.    II.  8».    ©el).  SDlf.  1.— . 


5lant. 

Sein  Seben  unb  feine  SBerte 

uon 

Dr.  ÜR.  Äroncnbcrg. 

Dritte  Sluflagc.    1905.    aJüt  '•:j.<ortTät. 
gein  gebunben  5011.4.80. 

.^ciii  SBort  bes  Sobe*  ii't  su  oiel  für  bic  Srt,  nie 
ber  Sicrfailer  bic  (ciiroicngftfn  Bbilciorbi(*cn  '3ro. 
bleme  bem  Üaicnccrftänbnii  nabf  bringt  unb  ^nterelie 
für  bie  innere  Sntmidlung  Ront«  ju  errejen  roeife." 
(.granlfurter  Seitung.) 


genri!  3b[en. 

9?on 

*Romon  SBoentcr. 

0.  'iUofcüor  on  bcr  Uniocriitöt  gtciburg  i.  S. 

Crjtcr   Sanb.     1828—1873.    1901.    VH, 

404  <B.    S".    ©et).  9)t{.  8.  — ;  in  Semen. 

banb  H».  9.—. 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  (Oskar  Beck)  in  München. 

Handbuch 

der 

klassischen  Altertums  -Wissenschaft 

in  systematischer  Darstellung 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  Geschichte  und  Methodik  der  einzelnen 

Disziplinen. 

Herausgegaben  Gcheimrat  Df.  Iwafl  von  Müller,  °'Vt^°oS'j:  itmnc^iT"" 

Inhalt  der  einzelnen  Bände: 

*I.  Band:  Einleitende  und  Hilfsdisziplinen.  Zweite  sehr  vermehrte,  teilweise  völlig 
neubearbeitete  Auflage.  Mit  alphab.  Register.  57  Bog.  Lex.-S».  Preis  geh. 
\5J/:,  geb.  \1  J(. 

A.  Grundlegung  und  Geschichte  der  Philologie,  von  Geheimrat  Dr.  v.  Urlichs  (Würzburg). 

B.  Hermeneutik  und  Kritik,  von  Professor  Dr.  Blass  (Halle). 

C.  Paläographle  (mit  6  lithographierten  Schrifttafeln),  Buchwesen  und  Handschriftenkunde,  von 

demselben. 

D.  Griechische  Eplgraphik  (mit  einer  Schrifttafel),  von  Prof.  Dr.  1,'arfeld  (Remscheid). 

E.  Römische  Eplgraphik,  von  Professor  Dr.  E.  Hübner  (Berlin). 

F.  Chronologie,  von  Professor  Dr.  Unger  (Würzburg). 
O.    Metrologie,  von  Professor  Dr.  Nissen  (Bonn). 

*II.  Band,  1.  Abtlg.:  Griechische  Grammatik  (Lautlehre,  Stammbildungs-  und  Flexions- 
lehre und  Syntax)  von  Prof.  Dr.  Karl  Brugmann  (Leipzig).  Dritte  Auflage.  Mit 
einem  Anhang  über  Griechische  Lexikographie  von  Prof.  Dr.  Leopold  Cohn 
(Breslau).    Mit  Wort-  und  Sachregister.    41  Bog.    Lex.-8».    Geh.  12  JL;  geb.  14^« 

*II.  Band,  2.  Abtlg.;  Lateinische  Grammatik  (Laut-  und  Formenlehre,  Syntax  und 
Stilistik)  von  Prof.  Dr.  Friedrich  Stolz  (Innsbruck)  und  Qymnasialdirektor  J.  H. 
Schmalz  (Rastatt).  Dritte  Auflage.  Mit  einem  Anhang  über  Lateinische  Lexiko- 
graphie von  Prof.  Dr.  Ferdinand  Heerdegen  (Erlangen).  37  Bog.  Lex.-S». 
Geh.  11  J/.;  geb.  13. J' 

*1I.  Band,  3.  Abtlg.;  Rhetoril<  von  Dr.  Richard  Volkmann,  weil.  Qymn.-Dir.  in  Jauer. 
Neubearbeitet  von  Gymn. -Rektor  K.  Hammer  (Würzburg)  und  Metrik  nebst  einem 
Anhang  über  die  Musik  der  Griechen  von  Prof.  Hugo  Qleditsch  (Berlin).  Dritte 
Auflage.    22  Bog.     Lex.-S».     Geh.  8  .'«  80  .j,;  geb.  10  .«  60  c3. 

III.  Band,  1.  Abtlg.,  I.Hälfte,,  Grundriß   der  Geographie  und  Geschichte   des  alten 

Orients,  von  Prof.  Dr.  Hommel  (München).  1.  Hälfte  Bog.  1 — 25  nebst  provisor. 
Register.    Geh.  .//.  7.50.    (Die  2.  Hälfte  erscheint  Ende  1906.) 

III.  Band,  2.  Abtlg.,  1.  Teil;  Geographie  von  Griechenland  und  den  griechischen 
Kolonien,  von  Prof.  Dr.  Eugen  Oberhummer  (Wien).     [In  Vorbereitung.] 

IlLBand,  2.  Abtlg.,  2.  Teil:  Topographie  von  Athen,  von  Prof.  Dr.  Walter  Judeich 
(Erlangen).  26'/i  Bog.  mit  48  Textabbildungen,  einem  Stadtplan  im  Maßstab  von 
1 :  5000,  einem  Plan  der  Akropolis  im  Maßstab  von  1 :  1000  und  einem  Plan  des  Peiraieus 
im  Maßstab  von  1  ;  15000.    Geh.  18  Jf.    In  Halbfranz  geb.  20  J(- 

*III.  Band,  3.  Abtlg.,  1.  Hälfte:  Grundriß  der  Geographie  von  Italien  und  dem  Orbis 
Romanus,  von  Prof.  Dr.  Jul.  Jung  (Prag).  Zweite  umgearbeitete  u.  vermehrte 
Auflage.    Mit  alphab.  Register.     12  Bog.     Geh.  3  c.«  50  A 

*in.  Band,  3.  Abtlg.,  2.  Hälfte;  Topographie  der  Stadt  Rom,  von  Gymn.-Dir.  Prof.  Dr. 
Otto  Richter  (Berlin).  Zweite  vermehrte  u.  verbesserte  Auflage.  26  Bog.  Lex.-8". 
Mit  32  Abbildungen,  18  Tafeln  u.  2  Plänen  des  antiken  und  des  modernen  Rom. 
Geh.  15  Jf.  V^  In  Halbfranz  gebundene  Exemplare  der  vollständigen  111.  Abtei- 
lung des  III.  Bandes  —  Geographie  von  Italien  und  Topographie  der  Stadt  Rom  — 
sind  zum  Preise  von  20  Jf.  50  J).  zu  beziehen. 


*III.  Band,  4.  Abt  lg.:  Grundriß  der  griechischen  Geschichte  nebst  Quellenltunde,  von 
Prof.  Dr.  Robert  Pöhlmann  (München).  Dritte  neu  bearbeitete  Auflage.  1906. 
20  Bog.      Geh.   b  Ji.  50  rj.     In   Halbfranz   geb.   7,//   20  c)     (Soeben  erschienen!) 

*III.  Band,  5.  Abtlg.:  Grundriß  der  römischen  Geschichte  nebst  Quellenkunde,  von 
Prof.  Dr.  Benedictus  Niese  (Marburg).  Dritte  umgearbeitete  u.  vermehrte  Auf- 
lage.    1906.     26  Bog.   Geh.  7  ^  20  4   In   Halbfranz  geb.   9  ^     (Soeben  erschienen!) 

*IV.  Band,  1.  Abtlg.,  1.  Hälfte;  Die  Griechischen  Staats-  und  Rechtsaltertflmer,  von 
Prof.  Dr.  G.  Busolt  (Kiel).  Zweite  umgearbeitete  Auflage.  Mit  Register.  24  Bog. 
Geh.  6  .^  50  ,J)     In  Halbfranz  geb.  8  J(. 

*IV.  Band,  1.  Abtlg.,  2.  Hälfte:  Die  Griechischen  Privataltertümer  von  Prof.  Dr.  Iwan 
V.  Müller  (München).  Die  Griechischen  Kriegsaltertümer  von  Prof.  Dr.  Ad. 
Bauer  (Graz).  Mit  11  Tafeln.  Mit  Register.  Zweite  umgearbeitete  Auflage. 
32'/2  Bog.     Geh.  ^  M  bd  S}     In  Halbfranz  geb.  10  J(.  30  * 

*IV.  Band,  2.  Abtlg.:  Die  Römischen  Staats-,  Rechts-  und  Kriegsaltertümer  von  Prof. 
Dr.  Schiller  (Leipzig).  Mit  3  Tafeln.  Die  Römischen  Privataltertümer  und 
römische  Kulturgeschichte  von  Prof.  Dr.  Mor.  Voigt  (Leipzig).  Zweite  umge- 
arbeitete Auflage.  Mit  Registern.  30'/^  Bog.  Lex.-8».  Geh.  8.-«  In  Halbfranz  geb.  9.«  80^. 

*V.  Band,  1.  Abtlg. :  Geschichte  der  alten  Philosophie,  von  Prof.  Dr.  Windelband 
(Straßburg)  nebst  einem  Anhang  über  die  Geschichte  der  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaften im  Altertum,  von  Prof.  Dr.  Siegmund  Günther  (München).  Zweite 
sorgfältig  durdigesehene  Auflage.     20  Bog.     Geh.  5  .^  50  A ;  geb.  7  .ä  20  A 

V.Band,  2.  Abtlg.:  Griechische  Mythologie  und  Religionsgeschichte.  Von  Dr.  O. 
Gruppe,  Prof.  in  Berlin.  Erste  Hälfte.  24  Bog.  Geh.  1  J/.  Zweite  Hälfte.  1.  u. 
2.  Lieferung  (Bog.  25—72).  Geh.  ä  7  Jf.  3.  Lieferung  (Bog.  73—121,  nebst  Titelbogen 
zu  Band  I  u.  II).  Geh.  \b  Jf.  (Soeben  [Frühjahr  1906]  erschienen!  Gruppe's 
Griechische  Mythologie  liegt  nunmehr  in  2  Bänden  geh.  36  t/*!,  geb.  AO  JL 
abgeschlossen  vor.) 

*V.  Band,  3.  Abtlg.:  Griechische  Kultusaltertümer.  Von  Prof.  Dr.  Paul  Stengel 
(Berlin).  Zweite  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Mit  5  Tafeln.  15  Bog.  Geh. 
5Jf:,  geb.  &  J(,  50^, 

V.  Band,  4.  Abtlg.:   Religion   und   Kultus   der   Römer.    Von   Prof.   Dr.  G.  Wissowa 

(Halle).    35  Bog.     Geh.  10  ,ä;  geb.  12  .« 

VI.  Band:  Archäologie  der  Kunst,  mit  einem  Anhang  über  Numismatik  von  Prof.  Dr. 

Sittl  (Würzburg).  Geh.  \%  J/  50  A  ;  geb.  18  .>S  50  cj.  [Der  zur  Archäologie  der 
Kunst  gehörige  Atlas,  über  1000  Abbild,  auf  65  Tafeln  enthaltend,  kostet  kart. 
13  .<«  50  f3.;  in  Halbfranzband  17  ./<  50  rJ] 

*Vn.  Band:  Griechische  Literaturgeschichte,  von  Prof.  Dr.  v.  Christ  (München).  Vierte 
Auflage.  Mit  Register.  Nebst  Anhang  von  43  Porträtdarstellungen  aus  der  griechi- 
schen Literatur  nach  Auswahl  von  A.  Furtwängler  und  J.  Sieveking.  Text  von 
J.  Sieveking.    63  Bog.     Geh.  17  J/.  50  !>;  geb.  19  .«  50  A 

*VIII.  Band:  Geschichte  der  römischen  Litteratur,  von  Prof.  Dr.  M.  Schanz  (Würzburg). 

♦/.  Teil:  DU  römische  Litteratur  in  der  Zelt  der  Republik.  3.  Auflage  im  Druck.  —  '2.  Teil, 
erste  Hälfte:  Die  aug^ustlsche  Zelt.  jMit  alphab.  Register.  2.  .Auflage.  24  Bog.  Lex.-8".  Geh.  7,4(: 
in  Halbfranz  geb.  8  .«  50  ^  —  *2.  Teil,  zweite  Hälfte:  Vom  Tode  des  Augiistus  bis  zur  Re- 
gierung Hadrlans.  Mit  alphab.  Register.  2.  Auflage.  27  Bog.  Lex.-8  .  Geh.  7  ,«  50  ^  ;  in  Halb- 
franzband 9,«—  *3.  Teil:  Die  römische  Litteratur  von  Hadrian  bis  auf  Constantln  (324  n.  Ch.) 
2.  Auflage.  33  Bog.  Lex. -8".  Geh.  9,«;  geb.  \ü  Jt  HO  4.  —  4.  Teil,  erste  Hälfte;  Die  Litteratur  des 
4.  Jahrhunderts.  32  Bog.  Lex.-8".  Mit  Register.  Geh.  8  .*  50  ej  ;  geb.  10 .«  (Die  zweite  Hälfte  des 
4.  Teils  erscheint  baldmöglichst.) 

*IX.  Band,  1.  Abtlg.:  Geschichte  der  byzantinischen  Litteratur  von  Justinian  bis  zum 
Ende  des  oströmischen  Reiches  (527—1453)  von  Prof.  Dr.  Karl  Krumbacher 
(München).  Zweite  Auflage  bearbeitet  unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  A.  Ehr- 
hardt  (Würzburg)  und  Prof.  Dr.  H.  Geizer  (Jena).  75^/4  Bog.  Lex.-S».  Geh.  24^; 
in  Halbfranzband  geb.  26,*:  50  A 

IX.  Band,  2.  Abtlg.:  Geschichte  der  römischen  Litteratur  im  Mittelalter  von  Dr.  M. 

Manitius.     [Erscheint  baldmöglichst.) 

In  2.  bezw.  3.  Auflage   erschienen    sind   die    mit   *  bezeichneten  Bände    und  Abteilungen,   nimllch: 
Band  1.  II. III,  1, 1. 111,2,2.111, 3.  III,  4. 111,5.  IV,  1,  i.  IV,  1, ;.  IV,  2.  V,  1.  V,3.  VII.  VIII,  1.  VIII,  2.  i.i.  VIII, 3. IX,  1. 

Jeder  Band  ist  auch  einzeln  zu  haben.    ^^^^— ^— 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  (Oskar  Beck)  in  München. 

Handbuch 


der 


Erziehungs-  und  Unterrichtslehre 

für  höhere  Schulen. 

In  Verbindung  mit  den  Herren  Arendt  (Leipzig),  Brunner  (München), 
Dettweiler  (Darmstadt),  Fries  (Halle),  Glauning  (Nürnberg),  Günther 
(München),  Jaeger  (Bonn),  Kießling  (Hamburg),  Kirchhoff  (Halle), 
Kotelmann  (Hamburg),  Loew  (Berlin),  Matthaei  (Kiel),  Matthias  (Berlin), 
Münch  (Berlin),  Plew  (Straßburg),  Schimmelpfeng  (Ilfeld),  Simon  (Straß- 
burg), Toischer  (Prag),  Wendt  (Karlsruhe),  Wickenhagen  (Rendsburg), 
Zange  (Erfurt),  Ziegler  (Straßburg)  u.  a. 

herausgegeben  von 

Dr.  A.  Baumeister. 


Erster  Band,  1.  Abteilung: 

A.  Geschichte  der  Pädagogik  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  höheren 
Unterrichtswesens  von  Dr.  Theobald  Ziegler,  ord.  Professor  an  der 
Universität  Straßburg.  2.  neubearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 
1904.  25  Bog.  Geh.  7  Jk  In  Leinen  geb.  %-jfi  In  Halbfranz  geb.  8^7(^504 

Erster  Band,   2.  Abteilung: 

B.  Die  Einrichtung  und  Verwaltung  des  höheren  Schulwesens  in  den 
Kulturländern  von  Europa  und  in  Nordamerika,  in  Verbindung  mit 
zahlreichen  Mitarbeitern  unter  Redaktion  des  Herausgebers.  57  Bog. 
Geh.  \^  JL    In  Halbfranz  geb.  18  .Ä 

Zweiter  Band,  L  Abteilung: 

A.  Theoretische  Pädagogik  und  allgemeine  Didaktik  von  Dr.  Wendelin 
Toischer,  Professor  am  I.  deutschen  Gymnasium  in  Prag. 

B.  Die  Vorbildung  der  Lehrer  für  das  Lehramt  von  Dr.  Wilhelm  Fries, 
Geh.  Reg.-Rat,  Direktor  der  Francke'schen  Stiftungen  in  Halle.  Geheftet 
7  JL  50  cj.    In  Halbfranz  geb.  9  .A 

IW  Die  beiden  Unterabteilungen  A  und  B:  Toischer,  Theoretische  Pädagogik 
und  allgemeine  Didaktik,  und  Fries,  Die  Vorbildung  der  Lehrer  für  das 
Lehramt,  sind  auch  gesondert  zu  haben  ä  \JI.  geheftet. 

Zweiter  Band,  2.  Abteilung,   1.  Hälfte: 

Praktische  Pädagogik  für  höhere  Lehranstalten.  Von  Dr.  Adolf 
Matthias,  Geh.  Ob. -Reg.-Rat  u.  vortragendem  Rat  im  k.  preuß.  Kultus- 
ministerium. 2.  neubearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  1903. 
17  Bog.     Geh.  5  .lk.\  in  Leinen  geb.  6  Jk 

Zweiter  Band,  2.  Abteilung,  2.  Hälfte: 

Schulgesundheitspflege.  Von  Dr.  phil.  et  med.  Ludwig  Kotelmann 
in  Hamburg.  2.  neubearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  1904. 
14  Bog.     Geh.  5/6;  in  Leinen  geb.  6  Ji 

wm-  Bd.  II,  2.  Abteilung  —  Dr.  A.  Matthias,  Praktische  Pädagogik.  2.  Aufl. 
und  Dr.  L.  Kotelmann,  Schulgesundheitspflege.  2.  Aufl.  —  in  Halbfranz  ge- 
bunden Jt  12. — . 


Dritter  Band. 
Didaktik  und  Methodik  der  einzelnen  Lehrfächer.    Erste  Hälfte.*) 

1.   Protestantische  Religionslehre  von  Dr.  Friedrich  Zange,  j    Band  III,  4.  Abtlg. 
Direl<tor  des  Realg^■mnasiums  in  Erfurt  jlSBog.  Qth.ö-JCöO^ 

II.  Katholische  Religionslehre  von  Joh.  Nep.  Brunner,  Reli-  j    Band  III,  5.  Abtlg. 

,  gionslehrer  an  der  kgl.  Luitpold-Kreisrealschule  in  München.  i4'8Bog.  Geh.  1-^20^ 

III.  LateinischvonGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler.  I 

•2.  neubearbeitete  Auflage  1906.  I    Band  ID.  1.  Abtlg. 

VIII.   Geschichte  von  Dr.  Oskar  Jäger,  Gyranas.-Direktor  a.D.;  [      '•  """^  ^-  ^^^^ 
o.  Honorarprofessor  an  der  Universität  Bonn.     2.  Aufl.  1904.  I 

IV.  GriechischvcnGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler.  (  g  B^"g    Geh^'l'!#'^'A 

V.  Französisch  von  Dr.  Wilhelm  Münch,  Geh.  Regierungsrat  |    r,     j  m   9    »htio 
und  L'niversitätsprofessor   in   Berlin,    i.  umgearbeitete  und     ,   „.°,f/"'  r^uAjf 
vermehrte  Auflage  1902.  *  1-  "^^^^  °^^  *  "* 

VI.  Englisch    von    Dr.   Friedrich   Glauning,    Professor   und  |    p     .  jj.   ^  AhtlEr 
Stadtschulrat  in  Nürnberg.    2.  umgearbeitete  und  vermehrte    o  H?if.=  r-«u  o^&i 
Auflage  1903.  )  2.  Haltte.  Geh.  2-.^ 50^ 

VII.  Deutsch  von  Dr.  Gustav  Wendt,  Geheimrat  und  Direktor  /    Band  III,  3.  Abtlg. 
des  Gymnasiums  in  Karlsruhe.    2.  Aufl.  1904.  >  lOBog.  Geh.  3ukS)^ 

Band  III  komplett.    Preis  geh.  24  ^  50  c* ;  in  Halbfranz  geb.  27  Jl. 

Vierter  Band. 
Didaktik  und  .Methodik  der  einzelnen  Lehrfächer.    Zweite  Hälfte.*) 

IX.  Rechnen   und   iMathematik    von   Dr.   iMax   Simon,    Pro-  / 

fessor  am  Lyceum  in  Straßburg.  (    Band  IV,  1.  Abtlg. 

X.  Physik  von   Dr.   Kießling,  Professor  an   der  Gelehrten- 1  12' 1  Bog.    Geh.  4  .4: 

schule  des  Johanneums  in  Hamburg.  ' 

XI.  Mathematische  Geographie  von  Dr.  Sigmund  Günther,  .    Rand  IV  '>  Abtlg 

Professor  am  Polvtechnikum  in  .München.  L  ,  «-„- ';  ~"  c„_,2,'„ 

Xn.  Erdkunde  von  Dr.  Alfred  Kirchhoff,  ord.  Professor  der  . -•  Auiiage  un  aommer 

Erdkunde  an  der  Universität  Halle.  ' 

XIII.  Naturbeschreibung  von  Dr.  E.  Loew,  Professor  am  k.  Real-  ■ 

gjmnasium  in  Berlin.  (    Band  FV,  3.  Abtlg. 

XrV.  Chemie  von  Dr.  Rudolf  Arendt,  Professor  an  der  öffent-  1  11  Bog.  Geh.3^4:50A. 

liehen  Handelslehranstalt  in  Leipzig.  ' 

XV.  Zeichnen  von  Dr.  Adelbert  Matthaei,   Professor  an  der  1 

Universität  Kiel.  (    Band  I\',  4.  AbÜg. 

X\l.  Gesang  von  Dr.  Johannes  Plew,  Oberlehrer  am  Lyceum  i  9Vt  Bog.    Geh.  3€ 
in  Straßburg.  ' 

XVn.  Turnen     und     Jugendspiele     von     Professor    Hermann  (    Band  IV,  5.  Abtlg. 

Wickenhagen  in  Rendsburg.  »6Bog.  Geh.  1=^80A 

Band  IV  komplett.    Preis  geh.  14  .A  80  .^;  in  Halbfranz  geb.  16  .^  80  A 

*)  B^  Außer  der  Band-  und  Abteilungsausgabe  der  .Didaktik  und  .Methodik  der  einzelnen 
Lehrfächer"  stehen  von  den  einzelnen  Fächern  auch  folgende  Sonderausgaben  zjr  Veifügung: 
Zange,  Didaktik  and  Methodik  des  evangelischen  Retigionsanterrithts.  Geh.  5jk  30^. :  geb.  Sjl  50^ 
Brunner,  Didaktik  und  Methodik  der  katholisdien  Religionslehre.     Geh.  I  .A  20  A:  geb.  2  Jl  20  4. 
DetticeiUr,  Didaktik  and  Methodik  des  lateinisdien   L'nterridits.    Zweite    An/tage  erscheint  im 

.April  1906. 
Dettweiler,  Didaktik  and  Methodik  des  griediisdien  Unterrithts.    Geh.  t  Jl  904.:  geb.  2jk  90^ 
Oskar  Jäger,  Didaktik  and  Methodik  des  Gesdiiditsanterridits.  S.  Auflage  1905.  Geh.  2 .»  53  ^j  geb.S.A  S04. 
Mänth.  Didaktik  and  Methodik  des  fraazösisdien   L'nterridits.    3.  umgearbeitete  and  vermehrte  Auf- 
lage 1902.    Geh.  4  ,M.:  geb.  5  .* 
Glauning,  Didaktik  and  Methodik  des  engUsdien  Unterrithts.    S.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auf- 
lage 1903.    Geh.  2  .IL  50  ^  :  geb.  J .«  5J  a 
Wendt,  Didaktik  und  Methodik  des  deutschen  Unterrichts.  S.  Auflage  1905.  Geh.  3  MÖO  J^:  geb.  4  Jl  50  ^ 
Simon  u.  Kießling,  Didaktik  and  .Methodik  des  Unterrichts  in  Rechnen.  .Mathematik  and  Physik.  Geh.4Jl30^ 
Günther  u.  Kirchhoff,  Didaktik  und  Methodik  des  Unterrithts    in  der  mathematischen  Geographie  aitd 

in  der  Erdkunde.    (Ztreite  .Auflage  ersehet  nt  im  Sommer  I906.'i 
Loea,  Didaktik  und  .Methodik  des  Unterrichts  in  der  Saturbeschreibung.    Geh.  2  JL  20  ^:  geb.  3  Jl  20  ^ 
Arendt,  Didaktik  und  Methodik  des  Unterrichts  in  der  Chemie.    Geh.  1  Ji  SO  4.:  geb.  2JI  »4. 
Matthaei.  Didaktik  und  Methodik  des  Zeichenunterrichts.     Geh.  2  Jl :  geb.  3  Jl 
Pletv,  Didaktik  and  Methodik  des  Gesangunterrichts.     Geh.  1  ji  20  A:  geb.  2  JL  20  4. 
Wickenhagen,  Didaktik  und  Methodik  des  Turnunterrichts.    Geh.  2  Jl:  geb.  3  Jl 


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