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DIAGNOSTIK /LA
DER
NERVENKRANKHEITEN
VON
PAUL JULIUS MOBIUS.
Zweite veränderte und vermehrte Auflage.
Mit 104 Abbildungen im Text.
LEIPZIG,
VERLAG VON F.C.W.VOGEL.
1894.
Das Uebersetzungsrecht ist vorbehalten.
VORWORT.
Vor 8 Jahren erschien die „Allgemeine Diagnostik der Nerven-
krankheiten". Natürlich hat sich in dieser Zeit Manches geändert
und bei der neuen Auflage musste Manches anders gefasst werden.
Doch habe ich, soweit es möglich war, die alte Darstellung unange-
tastet gelassen. Dagegen schien es wünschenswerth zu sein, den
Plan des Buches etwas zu erweitern, ein Unternehmen, das durch
die Aenderung des Titels kundgegeben wird. In seiner neuen Ge-
stalt zerfällt das Buch in 3 Theile. Der erste enthält die Methoden
der Untersuchung und die allgemeine Symptomatologie, geht also
vom einzelnen Symptome aus ; der zweite enthält die Lehre von der
Localisation, geht also vom Orte der Läsion aus; der dritte sucht
die ätiologisch -klinischen Krankheitseinheiten zu fassen, ist eine
Skizze der speciellen Diagnostik. Manche Wiederholungen waren
dabei nicht zu vermeiden. Eine andere Schwierigkeit lag darin, dass
die Grenze zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig oft schwer ein-
zuhalten war. Wollte man Alles sagen, was für den Neurologen in
Betracht kommt, so würde es ein unbändig dickes Buch geben. Mir
schien es wichtig, nicht allzu weit in diagnostische Feinheiten ein-
zugehen, anatomisch-physiologische Erörterungen aber ganz zu ver-
meiden. Manche neuere Diagnostik ist ein Lehrbuch, dem man blos
die Therapie abgeschnitten hat. Damit ist aber dem Lernenden
IV Vorwort.
kaum gedient. Für ihn dürfte es am besten sein, wenn das practisch
Brauchbare hervorgehoben wird und die Eichtung auf klinische
Zwecke maassgebend ist. Die Auffassung, dass der Kliniker nicht
des Anatomen oder des Physiologen preiswerthe Aufgaben zu lösen,
sondern Krankheiten zu erkennen habe, liegt auch der Darstellung
in diesem Buche zu Grunde.
Leipzig, im April 1S94.
P. J. MöMus.
IHHALTSVERZEICHNISS.
EESTER THEIL. Soito
A. Die Anamnese.
1. Geschichte der Familie 3
2. Geschichte des Kranken selbst 4
An hang-. Uebersicht der die Gewinnung- (Herstellung) und Ver-
arbeitung' gesundheitgefährlicher (giftiger) Stoffe um-
fassenden Gewerbe und Fabrikbetriebe nach dem Grade
ihrer gefahrbringenden Einwirkung auf die Arbeiter 10
B. Status praesens.
Die Beschwerden des Kranken 15
Erstes Hauptstück. Untersuchung des seelischen Zustandes 17
Zweites Haupt stück. Untersuchung der Sprache 32
Die Aphasie 34
Verschiedene dyslogische Sprachstörungen 46
Stottern und Aphtongie 48
Die Anarthrie 48
Drittes Hauptstück. Untersuchung des Bewegungsapparates
Vorbemerkungen 53
I. Der Ernährungzustand der Muskeln 54
II. Der Spannungzustand der Muskeln 60
III. Die Motilität 65
a. Lähmung 65
b. Abnorme Bewegungen . 99
a. Die Ataxie 100
ß. Zittern 108
;/. Die fibrillären Zuckungen 116
5. Klonische und tonische Krämpfe 116
a. Zwangsbewegungen 128
£. Mitbewegungen 129
rj. Choreatische Bewegungen 129
6. Athetosis 130
VI Inbaltsverzeiekniss.
Seite
IV. Die reflectorische Erregbarkeit 132
V. Die mechanische Erregbarkeit der Neiveu und Muskeln . . . 149
VI. Die elektrische Erregbarkeit 150
a. Methode der Untersuchung 150
b. Pathologische Veränderungen der Erregbarkeit 157
V i e r te s H aup tst ü c k. Untersuchung des Empfindungsapparates u.s.w.
Vorbemerkungen 166
I. Das Gesicht 167
II. Das Gehör 175
III. Der Geruch 180
IV. Der Geschmack 182
V. Das Gefühl 185
VI. Untersuchung des Schädels und der Wirbelsäule 226
VII. Die Prüfung der vegetativen Functionen 228
VIII. Die Diagnose e juvantibus et nocentibus 246
ZWEITEE THEIL.
Erstes Haupt stück. Die Function der einzelnen Muskeln und
deren Störungen 249
a. Die Muskeln des Auges 249
«. Die äusseren Augenmuskeln 249
ß. Die inneren Augenmuskeln 253
b. Die Muskeln des (mittleren) Ohres 257
c. Die mimischen Muskeln des Gesichtes 259
d. Die Kaumuskeln 263
e. Die Muskeln der Zunge 264
f. Die Muskeln des weichen Gaumens 267
g. Die Muskeln des Rachens 269
h. Die Muskeln, die den Kiefer herabziehen und das Zungenbein
bewegen 270
i. Die Muskeln des Kehlkopfes 272
k. Die Muskeln, die den Kopf und die Halswirbel bewegen . . . 273
1. Die Muskeln, die die "Wirbelsäule bewegen 276
m. Die Muskeln, die die Athembewegungen ausführen 279
n. Die Muskeln des Beckenbodens 285
o. Die Muskeln der Eingeweide 287
«. Herz- und Gefässmuskeln 287
ß. Magen- und Darmmuskeln 288
y. Blasenmuskeln 289
Inkaltsverzeichniss. VII
Soito
Die Muskeln des Armes 290
p. Die Muskeln, die die Schulter und den Oberann bewegen . . . 290
q. Muskeln, die den Vorderarm bewegen 304
r. Die Muskeln, die die Hand und die Finger bewegen 308
Die Muskeln des Beines 316
s. Die Muskeln, die Bewegungen im Hüftgelenke verursachen . . 316
t. Die Muskeln, die Bewegungen im Kniegelenke verursachen . . 321
u. Die Muskeln, die den Fuss bewegen 323
v. Die Muskeln, die die Zehen bewegen 330
Zweites Hauptstück. Die Functionstörung , die bei Läsion der
einzelnen Nerven eintritt 332
I. Hirnnerven 332
II. Rückenmarksnerven 340
III. N. sympathicus 348
Ueber Neuritis 349
Drittes Hauptstück. Loealisation im Rückenmarke 357
Viertes Hauptstück. Loealisation in der Oblongata und im Gehirn 363
DKITTEK THEIL.
I. Exogene Nervenkrankheiten.
1. Metallvergiftungen 378
2. Alkoholismus 379
3. Nervenkrankheiten nach acuten Infectionskrankheiten .... 380
4. Nervenkrankheiten durch primäre Erkrankung der Blutgefässe 381
5. Erkrankungen des Nervensystems bei chronischen Infectionskrank-
heiten 382
6. Der metasyphilitische Nervenschwund (Tabes dorsalis und De-
mentia paralytica) 383
7. Selbständige infectiöse Nervenkrankheiten 392
a. Die primäre infectiöse Neuritis 392
b. Poliomyelitis acuta • 393
c. Encephalitis acuta 393
d. Chorea Sydenhamii 394
e. Tetanie '. . 394
f. Tetanus 395
g. Lyssa 395
h. Epidemische Cerebrospinalmeningitis 395
8. Die multiple Sklerose des Gehirns und Rückenmarkes .... 396
9. Paralysis agitans (Schüttellähmung, Parkinson's Krankheit) . . 398
VIII Inhaltsverzeichniss.
Seite
10. Die primären Degenerationen der motorischen Bahn 398
11. Gliosis spinalis (Gliomatosis, Syringom yelie) 400
12. Acute und chronische Myelitis 401
II. Endogene Nervenkrankheiten.
1. Nervosität (Neurasthenie) 401
2. Hysterie 404
3. Die Epilepsie (Fallsucht, haut mal, morbus sacer) 409
4. Migräne 412
5. Chorea chronica (Chorea hereditaria, Chorea Huntington's) . . 412
6. Die Thomsen'sche Krankheit oder Myotonia congenita . . . . 413
7. Die Dystrophia musculorum progressiva 413
S. Die Friedreich'sche Krankheit oder hereditäre Ataxie .... 414
Register 415
ERSTER THEIL.
Mob ins, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl.
A. DIE ANAMNESE.
Die ananmestisclien Fragen werden entweder an den Kranken
selbst gerichtet oder, wenn dieser zur Beantwortung- aus irgend einem
Grunde nicht fällig ist, an Angehörige, anderweite dem Kranken nahe-
stehende Personen, frühere Aerzte des Kranken. Hat man Grund, an-
zunehmen oder zu vermuthen, dass die Angaben des Kranken nicht
richtig seien, sei es dass er geistig nicht normal ist, oder ein Inter-
esse hat, die Wahrheit nicht zu sagen, oder dergl., so empfiehlt es
sich bei zweifelhaften Zuständen, die Berichte dritter Personen ein-
zuholen, auch diese unter einander zu vergleichen. Besonders die
Frage nach der Heredität lässt sich oft nur durch ein derartiges um-
ständliches Verfahren befriedigend lösen, da gerade hier die Angaben
der Kranken erstaunlich mangelhaft zu sein pflegen.
1. Geschichte der Familie.
Man frage, ob die Eltern noch leben und gesund sind, oder woran
sie leiden, woran sie gestorben sind, ob sie früher Krankheiten, be-
sonders Nervenkrankheiten (Gemüthskrankheiten, Krämpfe, Schlag-
lluss, Lähmung, Nervenschmerzen u. s. w.), oder Constitutionskrank-
heiten (Tuberkulose, Syphilis u. s. w.) durchgemacht haben, wie alt
sie damals waren, wie ihr Zustand, beziehungsweise der der Mutter,
bei der Zeugung (Rausch), während des Fötallebens und der Geburt
(Krankheit, Kummer, Verletzungen, Erschrecken u. s. w. während der
Schwangerschaft, frühzeitige oder schwere Geburt) war, ob die Eltern
blutsverwandt waren, wie ihr Altersverhältniss war.
Man frage ferner nach den Verhältnissen der Geschwister, Gross-
eltern und anderer Verwandten, ob Nervenkrankheiten in der Familie
vorgekommen sind, ob Selbstmord, Trunksucht, bizarres "Wesen, Ver-
brechen, Taubstummheit, Bildungsfehler sich gezeigt haben.
Man spricht von directer Erblichkeit, wenn die Eltern an
gleichen oder verwandten Krankheiten litten, von in directer, wenn die
Eltern frei waren, aber Geschwister oder andere Verwandte krank waren
1*
4 Geschichte der Familie und des Kranken selbst.
(atavistische Erblichkeit = Krankheit der Grosseltern u. s. w., col-
laterale = Krankheit von Verwandten einer Seitenlinie (Oheim, Muhme
u. s. w.), von cumulativer Erblichkeit, wenn beide Eltern krank waren,
von gl ei cli artiger Erblichkeit, wenn dieselbe Krankheit vererbt wird,
von ungleichartiger (Transformation, Polymorphismus der Vererbung),
wenn es sich um eine verwandte Krankheit handelt. Neuropathisch
belastet nennt man den, in dessen Familie Nervenkrankheiten oder
gleichwertige Abnormitäten vorgekommen sind, die Schwere der Belastung
richtet sich sowohl nach Schwere als Häufi°'keit der erblichen Krankheiten.
2. Geschichte des Kranken seihst.
War der Kranke bei der Geburt voll entwickelt und gesund?
Ist er bei der Geburt am Kopfe verletzt worden? Zeigten sich bei
ihm Ausschläge, Nasenfluss oder andere Symptome hereditärer Sy-
philis? Litt er als Kind an Krämpfen oder an Bettnässen, nächt-
lichem Aufschrecken, Veitstanz u. s. w. ? Welche anderweiten Kinder-
krankheiten traten auf? Wann lernte er gehen und sprechen, wie
war die Entwicklung der Zähne?
Wie waren Betragen und Fortschritte in der Schule? Wann
zeigten sich die Symptome der Mannbarkeit, traten dabei krankhafte
Erscheinungen auf? Ist Onanie getrieben worden?
Welche Beschäftigung hatte oder hat der Kranke ? Brachte sie
ihn mit giftigen Stoffen in Berührung '), setzte sie ihn besonderen
Entbehrungen, Strapazen, Erkältungen oder Erhitzungen aus? Wie
war seine Lebensweise, war die Ernährung ungenügend oder zu
reichlich, hat der Kranke sich dem übermässigen Genüsse von Spi-
rituosen, Tabak hingegeben ? Hat Missbrauch von Opium oder ähn-
lichen Mitteln stattgefunden? Wie war die geschlechtliche Thätigkeit,
sind darin Excesse vorgekommen? Hat der Kranke Kummer, Sorgen.
Aerger im Geschäft, in der Familie oder sonstwie erduldet? Wie
waren das Temperament, die geistige und körperliche Leistungs-
fähigkeit?
Wie war bei Frauen die Menstruation (wie oft, wie lange, wie
viel, mit Beschwerden ?), wann und wie oft trat Schwangerschaft ein.
wie verlief sie (Abort, Frühgeburt, leichte oder schwere Geburt.
Wochenbett, Lactation)?
Welche Erkrankungen kamen vor (Typhus, Intermittens. Rheu-
matismus, Chlorose, Magendarmaffectionen, Krankheiten der Harn-
und Geschlechtsorgane, Syphilis), sind insbesondere früher nervöse
1 1 Tm Anhang findet man eine Uebersicht über die hauptsächlicbsten gesund-
heitschädlicben Gewerbebetriebe.
.Aetkflogische Bemerkungen. 5
Störungen vorgekommen (Nervenkrankheiten, Neigung- zum Deliriren,
Idiosynkrasien, Intoleranz gegen Alkohol, Zwangsvorstellungen, grosse
Reizbarkeit u. s. w.)? Welche sind die vermuthlichen Ursachen der
gegenwärtigen Krankheit? Welche waren ihre ersten Zeichen? Be-
gann sie plützlich oder allmählich ? Wie war der weitere Verlauf?
Schwierigkeiten findet, abgesehen von der Frage nach der Erblich-
keit, die Anamnese nur an den Punkten, wo viele Kranken eine gewisse
Scheu hindert die Wahrheit zu sagen, d. h. bei dem Potatorium und den
geschlechtlichen Angelegenheiten, Es ist Sache des ärztlichen Tactes, jene
Scheu in geschickter Weise zu beseitigen. Z. B. wird es oft, wo Ver-
dachtsgründe vorhegen, gerathen sein, dem Kranken die Sache auf den
Kopf zuzusagen, „wie lange haben Sie onanirt?", „wann haben Sie sich
einen Schanker zugezogen?" u. s. w. Am schwersten ist das Eingeständniss
der Syphilis zu erlangen, oft muss man sich mit indirecten Angaben be-
gnügen, besonders sind bei Frauen wiederholte Aborte in dieser Hinsicht
bedeutungsvoll.
Bei der Aetiologie muss man wie bei der Therapie stets des Satzes
eingedenk sein: post hoc non est propter hoc. Zwei aufeinanderfolgende
Veränderungen können Ursache und Wirkung sein, ob sie es sind, ist oft
nur mit einem grösseren oder geringeren Grade von Wahrscheinlichkeit zu
sagen. Wenn regelmässig eine Veränderung auf eine andere folgt, die
nach den Axiomen der Erfahrung jener als Ursache dienen kann, so pflegen
wir einen causalen Zusammenhang anzunehmen. Es ist also wesentlich
die statistische Methode Führerin bei ätiologischen Untersuchungen. Ver-
hältnissmässig selten sind wir in der Lage, das Ergebniss durch den Ver-
such zu controliren. Wenn dies aber der Fall ist, wenn wir jederzeit
willkürlich die zweite Veränderung hervorrufen können, indem wir die erste
bewirken, dann erst gewinnen wir volle Gewissheit. Da gerade bei den
Nervenkrankheiten der Versuch nur ausnahmeweise ausführbar ist, sind hier
unsere ätiologischen Kenntnisse vielfach besonders unsicher und beschränken
sich oft auf Vermuthungen. Die Grundzüge dessen, was wir bisher wissen,
sind etwa folgende.
Wir sehen, dass den Angriffen des Lebens gegenüber die Menschen
sich verschieden verhalten, eine Schädlichkeit, die dem Einen nichts anhat,
macht den Anderen krank. Es besteht demnach eine verschiedene Fähigkeit
oder Disposition zur Erkrankung, die angeboren oder erworben sein kann.
Die angeborene Disposition zu Nervenkrankheiten, die neuro-
pathische Anlage, muss bei einigen Krankheiten nothwendig vorhanden
sein: die hereditären Nervenkrankheiten im engeren Sinne, die nur bei
schwer Belasteten vorkommen. Zu diesen gehören, soviel wir bis jetzt
wissen, die Friedreich'sche Krankheit und verwandte Formen, die Myotonia
congenita, die Dystrophia muscul. progressiva, die bald als Pseudohyper-
trophia muscul., bald als juvenile Muskelatrophie auftritt, die Idiotie und
die verschiedenen psychischen degenerativen Erkrankungen, als das cir-
culäre Irresein, das sogenannte moralische Irresein u. s. w. Andere Krank-
heiten setzen auch eine ererbte Anlage voraus, jedoch braucht es sich bei
H Aetiologische Bemerkungen.
ihnen nicht um eine schwere Belastung zu handeln und möglicherweise
können sie ausnahmeweise auf erworbener Disposition beruhen. Hierher
gehören die meisten Formen sog. functioneller Nervenkrankheit, Migräne,
Epilepsie, Nervosität, Hysterie, Hypochondrie, Melancholie, Manie, Verrückt-
heit u. s. w. Bei den bisher genannten Krankheiten kann der Nachweis
erblicher Belastung auch von diagnostischer Bedeutung werden. Wenn
z. B. diese in einem Falle von Migräne oder Epilepsie in keiner Weise sich
nachweisen lässt, müssen Zweifel auftauchen, ob es sich um idiopathische
Migräne u. s. w. handelt, ob nicht eine reflectorische Form (durch Nasen-
erkrankung, Bandwurm, Narben u. s. w. veranlasst) oder eine sympto-
matische Form (auf Alkoholvergiftung, auf Tabes, Herderkrankungen des
Gehirns u. s. w. beruhend) vorliegt.
Bei anderen Nervenkrankheiten, bei den spinalen Muskelatrophien,
der Tabes und der progressiven Paralyse, den Herderkrankungen des Ge-
hirns und Rückenmarks, den Meningitiden u. s. w., spielt die Heredität
offenbar keine weseutliche Rolle und ist ihr Nachweis nicht von besonderer
Bedeutung. Doch scheint auch hier sie nicht ganz ohne Einfluss zu sein,
insofern sie sozusagen der von aussen kommenden Schädlichkeit den Weg
zum Nervensystem, das bei erblich Belasteten ein locus minoris resistentiae
ist, zeigt.
Das krankhaft veranlagte Nervensystem wird um so leichter erkranken,
je stärker es in Anspruch genommen wird. Die Steigerung der physio-
logischen Reize kann sich als körperliche oder intellectuelle oder mo-
ralische Ueberanstrengung darstellen, deren eine immer mehr oder
weniger von den anderen begleitet ist. Theils körperlicher, theils geistiger
Art ist die geschlechtliche Ueberanstrengung (übertriebener, unnatürlicher
Beischlaf, Onanie). Zur moralischen Ueberanstrengung gehören die heftigen
oder andauernden Gemüthsbewegungen. Als Ueberreizung ist auch der
Mangel des Schlafes zu betrachten. Ob durch Ueberanstrengung andere
als sog. functionelle Störungen verursacht werden kömien, ist zweifelhaft.
Auf jeden Fall sind die dahin lautenden Berichte (Entstehung von Myelitis
durch Schreck u. s. w.) mit grosser Vorsicht aufzunehmen.
Die Rolle des Trauma ist eine doppelte. Entweder kann es direct
Veränderungen im Nervensystem veranlassen, die theoretisch der Be-
urtheilung keine Schwierigkeit machen: Quetschung, Dehnung, Dureh-
schneidung, Stich-, Hieb-, Schussverletzung, Zertrümmerung u. s. w., oder
es kann bei Disponirten nach Art der Affecte wirken und die Symptome
der Hysterie oder anderer Neurosen hervorrufen (sog. traumatische Neurose).
Dieser Punkt ist von besonderer diagnostischer Bedeutung. Nach den
verschiedensten Verletzungen, besonders nach allgemeinen Erschütterungen,
wie sie bei Eisenbahnunfällen vorkommen, und auch dann, wenn stärkere
directe Verletzungen fehlen, können anscheinend die schwersten Symptome
von Seiten des Nervensystems auftreten, ohne dass doch die Untersuchung
Zeichen organischer Läsion ergäbe. Ist die Verletzung umschrieben, so
treten häufig die Symptome in deren Nähe auf, nach einer leichten Ver-
letzung einer Kopf hälfte z. B. kann Hemianästhesie der gleichen Seite sich
entwickeln u. s. w.
Dem Trauma analog Avirken Krankheiten nichtnervöser Or-
gane. Die nervösen Theile können lädirt werden durch den Druck eines
Aetiologische Bemerkungen. 7
von der Umgebung ausgehenden Tumor, einer Knochengeschwulst, eines
Abscesses, eines Aneurysma, sie können durch eine Blutung zerstört werden-,
durch Abschneiden des Blutzuflusses (Embolie, Thrombose) absterben, Ent-
zündungen benachbarter Theile können auf sie übergreifen u. B. w. Es kann
aber auch bei Disponirten eine beliebige Organkrankheit Ursache funetio-
neller Störungen werden. Am häufigsten scheint dies der Fall zu sein,
wenn es sich um krankhafte Reizung bestimmter Schleimhäute (Nase, Darm,
Genitalien) handelt.
Zweifellos den ersten Rang nehmen unter den auf das Nervensystem
wirkenden Krankheitsursachen die Gifte ein. Je nachdem es sich um
Einführung todter chemischer Stoffe handelt oder um die von Mikro-
organismen, unterscheiden wir Intoxicationen im engeren Sinne und
Infectionen. Unter den eigentlichen Giften steht nach der Häufigkeit
in erster Reihe der Alkohol, dann folgen die Gifte des gewerblichen Lebens,
besonders Blei, Quecksilber, Arsen, selten scheinen Vergiftungen durch
Tabak vorzukommen. Die übrigen Vergiftungen haben, etwa abgesehen
von der durch Opium, beziehungsweise Morphium, wegen ihrer Seltenheit
mehr casuistisches Interesse. Die meisten Gifte scheinen insofern ähnlich
zu wirken, als sie zunächst Functionstörungen, bei längerer Einwirkung
aber objeetiv nachweisbaren Zerfall der nervösen Theile verursachen. Von
Alkohol, Blei, Arsen und einigen anderen Giften wissen wir, dass sie Ur-
sache multipler Degeneration peripherischer Nerven sowohl, als degenera-
tiver Veränderungen des Centralnervensystems sein können.
Infectiöse Einflüsse können sich in zweierlei Art geltend machen.
Eine Reihe von Nervenkrankheiten sind eigentliche Infectionskrank-
heiten, so die tuberkulöse und die eitrige Meningitis, die in verschiedenen
Formen auftretende Malaria larvata, die Kakke, die Syphilis des Nerven-
systems. Mit Wahrscheinlichkeit rechnen wir hierher den Tetanus, die
Lyssa, die Poliomyelitis und acute Encephalitis, manche Formen diffuser
Myelitis, die sogenannte multiple Neuritis, die Chorea u. a. Sodann aber
stellen Nervenkrankheiten sich dar als Nachkrankheiten, die den Infections-
krankheiten mit kürzerem oder längerem Intervall folgen, so die Lähmungen
u. s. w. nach Diphtherie, die Ataxie nach verschiedenen acuten Krankheiten.
Ziemlich sicher sind sowohl die Tabes als die progressive Paralyse Nach-
krankheiten der Syphilis. Vielleicht ist auch die Ursache der multiplen
Sklerose in vorausgehender Infection zu suchen.
Besonders in früherer Zeit legte man der sogenannten Erkältung
eine grosse Wichtigkeit bei und sah in ihr die Ursache vieler Nervenkrank-
heiten. Zweifellos sieht man oft nach einer Erkältung die ersten Symptome
der Krankheit auftreten, z. B. am Tage nach einer solchen die tabischen
Schmerzen beginnen. Hier verschlimmert die Erkältung offenbar einen
schon vorhandenen Krankheitzustand. Bei einer ganzen Reihe der sogenann-
ten rheumatischen oder Erkältungskrankheiten sind wir schon über ihre
anderweite Ursache klar geworden: die scheinbar rheumatische Radialis-
lähmung entsteht gewöhnlich durch Druck, die rheumatischen Augenmuskel-
lähmungen beruhen fast ausnahmelos auf Syphilis oder anderer Infection,
die vielfach für rheumatisch erklärte Poliomyelitis trägt alle Charaktere
einer Infection skrankheit an sich u. s. w. Es ist zu vermuthen, dass auch
bei anderen Affectionen die Annahme des rheumatischen Ursprungs sich
8 Aetiologische Bemerkungen.
als irrig erweisen werde, dass z. B. die rheumatische Facialislähmung
einen infectiösen Ursprung erkennen lassen werde.
Ueber die Ursache mancher Nervenkrankheiten wissen wir noch gar
nichts, z. B. über die der primären Erkrankungen der directen motorischen
Bahn, der amyotrophischen Lateralsklerose, der Bulbärparalyse und der
spinalen progressiven Muskelatrophie. Zwar dürfte man auch hier am
ehesten eine Giftwirkung vermuthen, doch ist bis jetzt kein bestimmter An-
haltepunkt gegeben.
Ueber die Bedeutung der einzelnen anamnestischen Feststellungen ist
etwa folgendes im Allgemeinen zu sagen.
An den meisten Krankheiten des Nervensystems nehmen beide Ge-
schlechter in etwa gleichem Maasse theil. Es giebt keine Nervenkrank-
heit, die nur bei Männern oder nur bei Weibern vorkäme. Früher hielt
man die Hysterie für eine nur den Weibern eigene Krankheit, jetzt weiss
man, dass die Hysterie auch bei Männern sehr häufig ist. Immerhin dürfte
die Zahl der weiblichen Hysterischen grösser sein, was offenbar mit den
Eigentümlichkeiten des weiblichen Geisteslebens zusammenhängt. Auch
die Migräne, die Basedow'sche Krankheit, das Myxödem sind bei Weibern
häufiger als bei Männern; warum, weiss man nicht. Endlich sind natür-
lich die als Folge puerperaler Erkrankung vorkommenden Nervenkrank-
heiten (puerperale Geistesstörung, puerperale Neuritis) hier zu nennen, doch
handelt es sich dabei streng genommen wohl nicht um besondere Krank-
heiten, sondern nur um Intoxicationen unter besonderen Umständen.
Als Männerkrankheiten sind einige auf ererbter Anlage beruhende
(endogene) Krankheiten zu nennen, bei denen die Muskeln primär erkranken:
die Dystrophia musc. progressiva und die Myotonia congenita. Zwar wer-
den die Weiber nicht ganz verschont, aber sie erkranken viel seltener und
übertragen oft den Keim auf ihre Nachkommenschaft ohne selbst zu er-
kranken. Auch Friedreich' s Krankheit und die ihr verwandten Formen schei-
nen häufiger bei den männlichen Familiengliedern beobachtet zu werden.
Dass eine grosse Keihe anderer Krankheiten häufiger bei Männern
als bei Weibern ist, hängt von äusseren Umständen ab. Syphilis ist bei
Männern viel häufiger als bei Weibern (nach Fournier etwa 8 mal; die
Zahl schwankt nach dem „ Milieu", während bei den Frauen der sogenannten
oberen Stände die Syphilis sehr selten ist, dürfte für die unteren Classen
Fournier's 8 zu gross sein). Daher ist auch die Metasyphilis (Tabes und
progressive Paralyse) bei Weibern viel seltener; je nach Ort und Zeit zählt
man auf 10, 8, 6 tabeskranke Männer ein Weib. In ähnlicher Weise über-
wiegen die Männer bei dem Alkoholismus und anderen Genussvergiftungen,
bei den meisten Gewerbevergiftungen.
Eine wichtige- Rolle spielt das Alter. Begreiflicherweise beginnen
die endogenen Krankheiten in der Regel früh im Leben, im Allgemeinen
um so früher, je schwerer sie sind. Die Idiotie, die sonstigen geistigen
Abweichungen, die Myotonia congenita geben sich schon in den ersten
Lebensjahren kund, die Pseudohypertrophie, die Krankheit Friedreich's und
verwandte Formen, die Epilepsie und die Migräne beginnen in der Kind-
heit. Ferner kommen verschiedene Erkrankungen des Gehirns vor, die
Aetiologische Bemerkungen. y
bald vor der Geburt, bald in den ersten Lebensjahren entstehen und sich
als Porencephalie oder als mehr oder weniger ausgebreitete Sklerose dar-
stellen. Ein Theil der auf diese Weise entstehenden cerebralen Lähmungen
ist wohl als Wirkung der ererbten Syphilis anzusehen und diese kann auch
in den späteren Kinderjahren theils cerebrale (Herderkrankuugen , pro-
gressive Paralyse), theils spinale (Tabes) Störungen hervorrufen. Endlich
schädigt eine Reihe infectiöser Nervenkrankheiten vorzugsweise das Kindes-
alter: die Poliomyelitis und die Encephalitis acuta, die Chorea, die Tuber-
kulose des Nervensystems, denen sich die nervösen Nachkrankheiten nach
Diphtherie, Masern, Scharlach, Keuchhusten anschliessen.
Im Jugendalter entwickeln sich ausser den schon genannten Krank-
heiten in der Regel die multiple Sklerose, die Gliomatosis spinalis, die juve-
nile Muskelatrophie, die Akromegalie. Die leichteren ererbten Störungen
werden oft jetzt erst deutlich: die geistige Instabilität, die Hysterie, die
Migräne u. s. w.
Im Mannesalter finden wir die Folgen der Syphilis (cerebrale und spi-
nale Herderkrankungen , Tabes und progressive Paralyse) und des Alko-
holismus, die Gewerbevergiftungen, die Wirkungen der Ueberanstrengung
(Neurasthenie u. s. w.). Manche Krankheiten, über deren Ursache nichts
bekannt ist, pflegen um die Mitte des Lebens zu beginnen, die spinalen
Amyotrophien, der Diabetes u. A. m. Etwas früher pflegt der Morbus
Basedowii aufzutreten.
Dem Greisenalter (im weiteren Sinne) eigenthümlich sind die Paralysis
agitans, der Tremor essentialis, die Chorea chronica (die freilich auch schon
früher beginnen kann). Mit dem Nachlassen der Lebenskraft kommt es
leicht zu melancholischer oder hypochondrischer Verstimmung. Unmerkliche
Uebergänge führen von der Melancholie und dem melancholischen Wahn-
sinne zu dem Altersschwachsinne. Ferner herrschen im Alter alle die Stö-
rungen vor, die von der eigentlichen Alterskrankheit, dem Atherom der
Arterien, abhängen, besonders also die Hirnkrankheiten, die durch Gefäss-
zerreissung oder Gefässverschluss verursacht sind. Man nimmt an, dass
die miliaren Aneurysmen der Hirngefässe, die Ursache der Hirnblutungen,
etwa vom 40. Jahre an häufiger vorkommen, während die thrombotischen
Vorgänge, sofern nicht Syphilis oder Alkohol die Arterien früher erkranken
liess, erst nach dem 50. Jahre in den Vordergrund treten.
Der Stand ist insofern von Bedeutung, als manche Gewerbe den
Arbeiter der Wirkung von Giften aussetzen, als andere Berufsarten theils
direct, theils indirect zu Schädigung verschiedener Art Anlass geben. Eine
Uebersicht über die gewerblichen Vergiftungen enthält der Anhang. Weiter-
hin ist als Berufsschädlichkeit besonders die Ueberanstrengung zu nennen.
Sie kommt besonders da in Betracht, wo körperliche oder geistige Stra-
patzen der Natur der Sache nach mit gemüthlicher Erregung verknüpft
sind. Dies ist der Fall bei gefährlichen und verantwortlichen Beschäf-
tigungen. Eisenbahndienst, Kriegsdienst, Unternehmungen mit grossem
Eisico, ärztlicher Beruf sind Beispiele. Die Gefahr steigt noch, wenn der
Beruf oft den Schlaf kürzt.
Der Wohnort ist von Bedeutung bei endemischen Krankheiten:
Malaria, Lyssa, Beriberi, Cretinismus u. s.w. Auch die Tetanie kommt
nur in bestimmten Gegenden vor. Myxödem und Morbus Basedowii scheinen
10 Aetiologische Bemerkungen. Anhang.
in England häufiger zu sein als auf dem Festlande. Ferner zeigen Land-
und Stadtbevölkerung manche Unterschiede. In der Regel ist die Syphilis-
gefahr in der Stadt grösser und auch die neurasthenischen Erkrankungen
mehren sich mit der Grösse der Städte.
Rasse unterschiede spielen bei uns keine wesentliche Rolle. Die
grosse Hysterie scheint bei den romanischen Völkern häufiger vorzukommen
als bei den germanischen. Nervenkrankheiten , die auf angeborener An-
lage beruhen, werden besonders oft bei Juden beobachtet.
ANHANG.
Uebersicht der die Gewinnung (Herstellung) und Verarbeitung gesundheitgefähr-
licher (giftiger) Stoffe umfassenden Gewerbe- und Fabrikbetriebe nach dem Grade
ihrer gefahrbringenden Einwirkung auf die Arbeiter.
(Nach Hirt, Krankheiten der Arbeiter. III. S. 268 ff. 1S75.)
KLASSE I.
Höchst gesundheitgefährliche Beschäftigungen.
(Auf 100 Arbeiter kommen durchschnittlich 65 — 80 an gewerblichen Vergiftungen
Leidende trotz Einhaltung aller Vorsichtmaassregeln.)
Hierher gehören:
1. Die Gewerbebetriebe
der Feuervergolder, der Gürtler,
* Feuerversilberer, = Spiegelbeleger.
2. Das Arbeiten
in Arsenikhütten, das Einstäuben Brüsseler Spitzen
* Bleihütten, mit Bleiweiss,
* Quecksilberhütten, das Einstäuben weisser Glacehand-
mit bleihaltiger Nähseide, schuhe mit Bleiweiss,
das Auftragen bleihaltiger Glasuren das Entsilbern des Werkbleies,
mittelst Einstäuben, die Herstellung der Zündmasse für
das Auspressen der zum Versenden Phosphorzündhölzchen,
des Quecksilbers gebrauchten das Pattinsoniren,
Beutel, das Verpacken der farbigen Chroni-
die Contreoxydation des Eisens, färben.
3. Die Fabrikation
von arsenhaltigen Anilinfarben, von Blumenblättern (mit Cyanka-
* 5 Buntpapieren, liumlösung bespritzt),
= * künstl. Blumen, von Kupferarsenfarben,
; * Baumwollenstof- - Phosphorzündhölzchen,
fen, Tapeten, * Schweinfurtergrün,
= Bleiweiss, * Zündhütchen.
Anhang.
11
KLASSE IL
Minder gesundheitgefährliche Beschäftigungen.
(Auf 100 Arbeiter kommen durchschnittlich 25 — 30 an gewerblichen Vergiftungen
Leidende trotz Einhaltung- aller Vorsichtmaassregeln.)
Hierher gehören:
1. Die Gewerbebetriebe
der Anstreicher,
-- Buchdrucker,
* Färber,
= Maler,
2. Die Arbeiten
in Blei-, Arsen-, Quecksilbergruben,
* Antimon-Gruben und -Hütten,
mit Quecksilbermethyl,
in Feilenhauerwerkstätten,
das Auftragen bleihaltiger Glasuren
mittelst Eintauchen,
3. Die Fabrikation
von Alkaloiden,
= arsenfreien Anilinfarben,
* arseniger Säure,
* Bleichromat,
= Bleizucker,
= bleiernen Spiegelrahmen,
Jodmethyl,
* Kerzen (giftgrünen),
* Knallquecksilber,
* Mennige,
= Metachromatypien,
= Mussivgold,
* Musselinglas,
der Lackirer,
* Photographen,
* Zinngiesser.
das Bürsten der Strohhüte mit Blei-
weiss,
das Beizen der Felle mit Arsenik,
resp. mit Quecksilber,
das Destilliren des Phosphors,
* Verzinnen und Verzinken.
von Chlorzink,
* Droguen und chemischen Prä-
paraten,
= Firniss,
* physikalischen Instrumenten
(Baro- und Thermometer),
- optischen Gläsern,
* Rauch- und Schnupftabak,
Telegraphenglocken,
= Verbandstoffen (Carbolsäure
u. s. w.),
s Zinnober,
* Zinnsalz.
KLASSE III.
Relativ gefahrlose Beschäftigungen.
(Bei strenger Durchführung der speciellen Vorsichtmaassregeln kommen auf 100
Arbeiter durchschnittlich 5— S gewerblich Vergiftete, wenn nirr den Ansprüchen
der allgemeinen Prophylaxis genügt wird. 15 — 20.)
Hierher gehören:
1. Die Gewerbebetriebe
der Glaser,
- Klempner,
-■ Kupferschmiede,
2. Das Arbeiten
in Blaufarbenwerken,
* Kupferhämmern,
s Kupferwalzwerken,
der Seiler,
* Weissgiesser.
mit Bleisuperoxyd in der Zünd-
waar e nin dustrie ,
in galvanoplastischen Anstalten,
12
Anhang:.
mit arseniger Säure in der Glasfabri-
kation,
mit Oxalsäure (Cattundruek),
in Zinkhütten,
das Ausstopfen der Thiere,
* Conserviren des Holzes mit Car-
bolsäure und mit Sublimat,
das Färben der Stanniole,
* Kupferdrabtziehen,
3. Die Fabrikation
von Bleisoldaten,
* Bleischrot,
* Bleisuperoxyd,
= bleihaltiger Cosmetica, Spiel-
karten,
= Carbolsäure und Carbolsäure-
farben,
* Essig,
die Spiegelindustrie (ausgenommen
das „Belegen"),
die Verglasung der Emailetiquetten,
* Verarbeitung d. Zinkes zu Blech,
* Verarbeitung des reinen, metalli-
schen Zinnes,
das Weissbrennen der Knochen (in
der Phosphorfabrikation).
von Folien zum Einwickeln des Ta-
baks,
* Grünspan,
- Kupfervitriol,
* Oelkitten,
des Phosphors,
der Sicherheitzündhölzchen (soge-
nannten schwedischen),
von Weisskupfer.
A. Industrien, in denen Phosphor verarbeitet wird.
KLASSE I.
Die Herstellung der Zündmasse für Phosphorzündhölzchen, überhaupt (mit
Ausnahme weniger Manipulationen) die ganze Fabrikation derselben.
KLASSE II.
Das Destilliren des Phosphors.
KLASSE IH.
Das Weissbrennen der Knochen und überhaupt die Darstellung des Phos-
phors, die Fabrikation der schwedischen Zündhölzer.
B. Industrien, in denen Blei verarbeitet wird.
KLASSE I.
Das Arbeiten das Einstäuben Brüsseler Spitzen
in Bleihütten, und weisser Handschuhe mit Blei-
mit bleihaltiger Nähseide, weiss,
das Auftragen bleihaltiger Glasuren das Entsilbern des Werkbleies (Pat-
mittelst Einstäuben, tinsoniren),
die Contreoxydation des Eisens, das Verpacken der Chromfarben.
die Fabrikation von Bleiweiss,
KLASSE IL
Die Gewerbebetriebe
der Anstreicher,
- Buchdrucker,
* Färber,
der Maler,
* Lackirer,
= Zinngiesser.
Anhangs 13
Das Arbeiten von bleiernen Spiegelrahmen,
in Bleigruben, - Firniss,
in Feilenhauerwerkstätten, * Mennige,
das Auftragen ])leihaltiger Glasuren = Metachromatypien,
mittelst Eintauchen, « optischen Gläsern und Musselin-
das Bürsten der Strohhüte mit Blei- glas,
weiss, * emaillirten Telegraphen-
die Fabrikation glocken.
von Bleichrom at und Bleizucker,
KLASSE III.
Die Gewerbebetriebe Die Fabrikation
der Glaser, Klempner, Weiss- von Bleisoldaten,
giesser. - Bleischrot,
Das Arbeiten * Bleisuperoxyd,
mit Bleisuperoxyd in der Zünd- = bleihaltigen Cosmetica und
waarenindustrie, Spielkarten,
das Färben der Stanniole, = Folien zum Einwickeln des
das Verglasen der Emailetiquetten, Schnupftabaks u. s. w.,
= Oelkitt.
C. Industrien, in denen Quecksilber verarbeitet wird.
KLASSE I.
Die Gewerbebetriebe
der Feuervergolder und Neusilber er, der Gürtler, der Spiegelbeleger.
Die Arbeiten
in Quecksilberhütten, das Auspressen der Quecksilberbeutel.
Die Fabrikation von Zündhütchen.
KLASSE II.
Das Arbeiten Die Fabrikation
in Quecksilbergruben, von physikalischen Instrumenten,
mit Quecksilbermethyl, = Jodmethyl,
das Beizen der Felle mit Queck- = Knallquecksilber,
silber. - Zinnober.
KLASSE III.
Die Spiegelindustrie (mit Ausnahme des Belegensj.
D. Industrien, in denen Arsenik verarbeitet wird.
KLASSE I.
Das Arbeiten in Arsenikhütten, die Gewinnung der Arsensäure.
Die Fabrikation von arsenhaltig. Baumwollenstoffen,
von arsenhaltigen Anilinfarben, * == Tapeten,
* * Buntpapier, = Kupferarsenfarben, besonders
= * künstl. Blumen, Schweinfurtergrün.
14
Aiüiaiiff.
KLASSE II.
Das Arbeiten
in Arsengruben,
das Beizen der Felle mit Arsenik,
Die Fabrikation
von arsenfreien Anilinfarben,
* arseniger Säure.
KLASSE III.
Das Arbeiten
in Blaufarbenwerken,
mit arseniger Säure in der Glasfabrik,
das Ausstopfen der Thiere.
Ausserdem wären (in Beziehung auf Nervenkrankheiten) als mehr oder minder
gesundheitschädliche Arbeiten etwa zu nennen:
das Arbeiten in Kautschukfabriken
(Schwefelkohlenstoff),
die Fabrikation von Leucht-
gas,
das Arbeiten in Kloaken (Schwefel-
wasserstoff),
die Herstellung von Jod und Brom.
(Kohlen-
oxyd)
das Arbeiten in Eisenhütten,
Coaksöfen,
die Minenarbeiten,
Endlich gehören in gewissem Sinne hierher: die Thätigkeit der Caisson-
arbeiter und Taucher (Gefahr der Luftdruckschwankungen), die durch
häufige Unfälle gefährlichen Betriebe, z. B. Dynamitfabrikation, Eisen-
bahndienst, Arbeiten auf Hochbauten u. s. w., Brauer, Gastwirthe, Wein-
händler u. s. w. (Alkoholmissbrauch) u. A. m.
B. STATUS PRAESENS.
Die Beschwerden des Kranken.
Um alle Beschwerden des Kranken kennen zu lernen, ist es
zweckmässig, methodisch nach allen Functionen zu fragen.
Wie ist das Allgemeinbefinden , die Stimmimg, die Leistungs-
fähigkeit, das Gedächtniss (periodischer Wechsel)? Ist der Schlaf
unruhig oder abnorm tief? Besteht Schwindel, Kopfschmerz, Kopf-
druck? Bestellt Angst, Präcordialdruck, wann, bei welchen Anlässen
u. s. w. ? Kommen Ohnmacht-, Krampfanfälle oder sonstige Bewusst-
seinsstörimgen vor ? Bestehen Gesichts- oder Gehörsstörungen (Ohren-
sausen), Geruchs-, Geschmacksstörungen?
Wenn Schmerzen bestehen, welche Theile sind schmerzhaft,
welchen Charakter hat der Schmerz (stark, schwach, brennend, boh-
rend, stechend, ziehend, reissend, schnürend u. s. w.), besteht er
immer oder nur zeitweise (etwa Nachts), tritt er in Anfällen auf, in
kurzen, langen, regelmässigen, unregelmässigen, wechselt er den Ort
oder ist er stetig, welche Umstände verschlimmern ihn (Bewegungen,
Berührungen, Temperaturveränderungen , gemüthliche Erregungen,
Verdauungsvorgänge u. s. w.)? Bestehen Parästhesien (Kriebeln,
Prickeln, Kälte-, Hitze-, Schweregefühl u. s. w.), wo, wann u. s. w. ?
Besteht Empfindungslosigkeit, Taubheitsgefühl, wo u. s. w.? Besteht
Schwäche oder Lähmung, Steifheit oder Krampf, wo, wann u. s. w.?
Bestehen Appetit- oder Yerdauungstörungen (Appetitlosigkeit,
vermehrter Appetit, Heisshunger, Geschmack im Munde, Uebelkeit,
saures, fades Aufstossen, Sodbrennen, Erbrechen, Magendruck, Be-
schwerden während der Verdauung, Verstopfung, Durchfall, ver-
mehrter Stuhlgang)? Bestellt Herzklopfen, Schlagen der Adern,
Kurzathmigkeit ?
Bestehen Störungen des Wasserlassens (Pressen, Nachträufeln,
Harndrang, tropfenweiser, stossweiser Abgang beim Husten, Lachen,
Springen, nächtliches Bettnässen u. s. w.)?
1 6 Beschwerden des Kranken.
Bestehen Störungen der geschlechtlichen Thätigkeit (vermehrte
Pollutionen, nur bei Xacht oder am Tage, beim Stuhlgang, bei Be-
rührung eines Weibes, mit oder ohne Steifigkeit, mit oder ohne
Wollust, mit nachfolgender Mattigkeit. Kopf-. Rückenschmerzen :
starker, schwacher, fehlender Geschlechtstrieb . abnorme Richtung
desselben, gegen Männer. Kinder. Ekel vor Weibern; mangelhafte
Potenz. Fehlen der Erection, vorzeitige Erschlaffung, vorzeitige Eja-
culation. Mangel der Wollust, nachfolgende Beschwerden, Fähigkeit
der Wiederholung)? Ist die Menstruation unregermässig, schmerz-
haft, zu reichlich, bestehen während derselben sensorische oder vaso-
motorische Störungen ?
Selbstverständlich sind hier, wie bei der Anamnese, nur die
Hauptfragen angedeutet, je nach der Art des Leidens wird das Aus-
fragen mehr oder weniger vollständig sein müssen, bald nach dieser,
bald nach jener Richtung hin sich zu vertiefen haben.
ERSTES HAUPTSTÜCK.
Untersuchung des seelischen Zustandes.
Unter der Bezeichnung- Seele und verwandten Ausdrücken fassen
wir die nur der Selbstbeobachtung zugänglichen Veränderungen zu-
sammen. Wir schliessen auf sie und ihre Beschaffenheit bei Ande-
ren nach der Körperform, besonders der Beschaffenheit des Kopfes,
und dem Gesichtsausdrucke, aus Handlungen und deren Folgen, aus
Inhalt und Form der Ausdrucksbewegungen im engeren Sinne (Mimik,
Sprechen, Schreiben), Aus verschiedenen Gründen finden die Em-
pfindungen eine gesonderte Besprechung, unter seelischen Thätig-
keiten im eigentlichen Sinne verstehen wir Erkennen und Wollen.
Die Untersuchung des Kopfes und die sogenannten Degenera-
tionzeichen werden weiter unter besprochen.
Der Gesicht sausdruck kann bei abnormen seelischen Zu-
ständen unverändert sein, oft aber unterstützt die Beobachtung des-
selben, sowie der Körperhaltung die Untersuchung und bei gröbe-
ren Störungen genügt dem Geübten oft ein Blick auf den Kranken,
um die Diagnose zu machen. Der Ausdruck des Gesichtes hängt ab
von der Spannung der Gesichtsmuskeln, der Beschaffenheit der Ge-
sichtshaut, der Feuchtigkeit des Auges u. s. w. Unwillkürlich pflegen
wir aus den Veränderungen dieser Factoren auf solche psychischer
Zustände zu schliessen. Es ist nicht möglich, hier ausführliche phy-
siognomische Darlegungen zu geben, nur an einige Punkte sei erinnert.
Besonders charakteristisch ist das Verhalten des Auges. Enge der
Lidspalte, Zurücksinken des Bulbus deuten auf Depressionzustände.
Vortreten des Bulbus, Erweiterung der Lidspalte und der Pupille
auf Erregungzustände. Bleibt zwischen der Cornea und dem oberen
Lide ein Streifen der Sklera sichtbar, so schliessen wir auf eine inten-
sive Erregung. Ist nur unterhalb der Cornea ein Sklerastreifen sicht-
bar, so handelt es sich gewöhnlich um Muskelschlaffheit, wie sie bei
Zuständen der Erschöpfung und bei Schwachsinn sich an den Ge-
31 ö Mus, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 2
18 Untersuchung des seelischen Zustandes.
sichtsmuskeln zeigt. Der feuchte Glanz, das „Schwimmen" des Auges
lässt oft ohne Weiteres die sexuelle Erregung erkennen. Die Un-
stätigkeit des Blickes deutet auf seelische Unruhe, Personen mit reiz-
barer Schwäche des Nervensystems pflegen dem Arzte nicht ruhig
ins Auge sehen zu können. Starrheit des Blickes finden wir bei
denjenigen, deren Seele ganz von einem Gegenstande in Anspruch
genommen ist, so bei den Geängstigten, Verzweifelnden.
Mit dem traurigen Gesichtsausdrucke stimmt zusammen die ge-
drückte, zusammengesunkene Haltung des Melancholischen, mit der
mimischen Erregtheit die Unruhe der Glieder bei dem aufgeregten
Kranken. Der sich Ueberhebende drückt seinen Wahn mit Gran-
dezza in Miene und Haltung aus. Der Hallucinirende sieht aufmerk-
sam nach einer Richtung, seine ganze Haltung ist die eines Hor-
chenden u. s. w.
Mit der Haltung' im engsten Zusammenhange steht die Bewe-
gungsweise. Besonders der Gang ist zu beachten, bald ist er
schleppend, bald stürmisch und stampfend, bald trippelnd, bald töl-
pisch tappend, bald rasch und unsicher, bald gespreizt wie Pfauentritt.
Ferner deuten zuweilen Umgebung und Kleidung auf ge-
wisse seelische Veränderungen, Unordnunng oder Pedanterie, Neigung
zu Tand und Flitterwerk, Neigung zur Kleidung des anderen Ge-
schlechts sind nicht selten charakteristisch. Es kann daher von
Werth sein, den Kranken in seinen gewohnten Lebensverhältnissen
zu beobachten.
Die wichtigsten Aufschlüsse gewährt das Gespräch mit dem
Kranken. In der natürlichsten Weise bietet die Anamnese Gelegen-
heit zur Beurtheilung des psychischen Zustandes. Auch bei solchen,
die körperlich nicht krank sind, geht die Prüfung zweckmässig von
dem körperlichen Befinden aus. In anderen Fällen können der Be-
ruf, die früheren Erlebnisse des Kranken, die Angelegenheiten des
Tages zum Ausgangspunkte dienen. Der Kranke soll nicht merken,
dass er psychisch untersucht wird. Der Arzt darf daher nicht wie
ein Inquisitor auftreten, er muss vor Allem das Zutrauen des Kran-
ken zu gewinnen suchen, muss daher Interesse am Gegenstande des
Gespräches zeigen, muss den Erlebnissen des Kranken freundliche
Theilnahme entgegenbringen, ohne doch zuviel Wissbegier zu ver-
rathen. Sodann gilt es, das Gespräch so zu führen, dass möglichst
viele Tasten auf der seelischen Claviatur angeschlagen werden. Die
familiären, gesellschaftlichen, politischen, religiösen Beziehungen des
Kranken müssen berührt werden, dabei werden die Stimmung des
Kranken und der Grad seiner Reizbarkeit, seine intellectuelle und
Untersuchung- des seelischen Zustande*. 19
moralische Urteilsfähigkeit wenigstens in groben Zügen kenntlich
werden. Die Erörterung vergangener Dinge, die auch dem Arzte
bekannt sind, lässt den Zustand des Gedächtnisses erkennen. Aus
der Auffassung des Zukünftigen werden sich die Pläne und Bestre-
bungen tles Kranken weiterhin ergeben. Während der Arzt, indem
er alle Beziehungen des Kranken ins Gespräch zieht, ein Bild von
dessen Persönlichkeit gewinnt, gelingt es meist auch, den wunden
Punkt, den Wahn, sofern ein solcher vorhanden, zu entdecken. So-
bald der Gegenstand des Wahnes berührt wird, geräth in der Regel
der Kranke, der denselben bisher verheimlicht hat, in Erregung und
ist nicht mehr im Stande, seine Ideen zurückzuhalten.
Ueber die Frage, ob der Kranke besonnen ist, seine Umgebung
erkennt, das zu ihm Gesprochene versteht, geben schon die ersten
Fragen Aufsclüuss. Ueber den Grad einer etwaigen psychischen
.schwäche kann man sich durch vielfältige einfache Proben Aufschluss
zu verschaffen suchen. Das Aufgeben leichterer Begriffscombinationen
nach Art der Kinderräthsel , verschiedener Arten von Rechnungen
ist in Gebrauch. Die Fähigkeit, mündliche, schriftliche, mimische,
bildliche Darstellungen zu verstehen, wird durch Aufforderung zu
bestimmten Aeusserungen mittelst der Rede oder Geberde, durch
Vorlegen von Buchstaben, einzelnen Wörtern, Sätzen, die gelesen
werden müssen, durch Vorlegen von Bildern, die erklärt werden
müssen, geprüft.
Das Gedächtniss muss nach verschiedenen Richtungen hin unter-
sucht werden, ob die Erinnerungen aus ferner Vergangenheit, aus.
den letzten Wochen und Monaten, aus der jüngsten Vergangenheit
gut erhalten sind. Um die gegenwärtige Erinnerungsfähigkeit zu prü-
fen, kann man mehrstellige Zahlen oder Zahlenreihen, Sätze oder
sinnlose Lautreihen vom Kranken nachsprechen lassen. Ausser dem In-
halte des Gespräches ist die Sprechweise zu beachten, ob laut
oder leise, stockend oder fliessend, unbeholfen oder gewandt, mit oder
ohne Betonung gesprochen wird, ob Stottern. Lallen, Silbenstolpern,
echoartige Wiederholungen vorkommen u. s. w.
Auch empfiehlt es sich, den Kranken laut vorlesen zu lassen,
da sich dabei zuweilen Störungen verrathen, die im Gespräche nicht
bemerkt werden.
Von Werth ist die Prüfung der von dem Kranken gelieferten
Schriftstücke. Zu beachten sind der Inhalt, der Stil und die Hand-
schrift. Die Kranken lassen sich zuweilen beim Schreiben, wo sie
sich unbeachtet glauben, mehr gehen als im Gespräche. Solche, die
allen Fragen mit Stillschweigen antworten, ergehen sich schriftlich
20 Untersuchung des seelischen Zustandes.
oft in ihren Wahnvorstellungen. Manche, die ganz verständig reden,
schreiben lauter dummes Zeug. Der Stil gibt ein Bild sowohl des
Bildungsgrades als der Stimmung. „Da das Schreiben überhaupt
grössere Klarheit der Gedanken erfordert als das Sprechen, so ist
die Schrift ein besonders feines Eeagens für psychische Schwäche-
zustände" (G-üntz). Der Deprimirte schreibt in kurzen, unschönen
Sätzen, seiner Diction fehlen die Geläufigkeit und der Schwung. Der
Erregte sehreibt einen überladenen Stil, er kann die Fülle der Ge-
danken nicht bewältigen und mit der Feder dem Laufe der Vor-
stellungen nicht folgen, seine Perioden verlaufen sich, Worte und
Sätze werden ausgelassen. Die Handschrift kann steif oder flüchtig,
zitternd oder atactisch sein, zuweilen ist sie verschnörkelt, mit selt-
samen Verzierungen versehen. (Weiteres über Sprache und Schrift
siehe im nächsten Abschnitt.)
Die Untersuchung der seelischen Thätigkeiten hat zunächst fest-
zustellen, ob überhaupt krankhafte Störungen derselben bestehen.
Die Entscheidung kann in zwei Fällen schwierig sein, nämlich da,
wo die Störungen so gering sind, dass sie möglicher Weise noch in
die Breite des Normalen fallen, und da, wo möglicherweise psychische
•Störungen von einem Gesunden vorgetäuscht werden.
Die Grenze zwischen krankhafter Seelenthätigkeit einerseits und
Dummheit, Sonderbarkeit, Bosheit andererseits existirt in Wirklich-
keit nicht. Es ist daher willkürlich und nur Sache des Ueberein-
kommens, wenn sie da oder dort gezogen wird. Gewöhnlich spricht
man dann von Krankkeit, wenn die seelischen Abnormitäten die
Stellung ihres Besitzers in der Gesellschaft schwierig oder unmöglich
machen. Leichter wird die Entscheidung, wenn es sich nicht um an-
geborene abnorme Zustände, sondern um Veränderungen der Person
handelt, Gegebenen Falles wird man folgende Umstände für die
krankhafte Natur der Störung in Anschlag bringen: neuropathische
Belastung, Nachweis früherer psychischer Gesundheit, Nachweis
pathologischer Ursachen der Störung (körperliche Krankheit, Ver-
letzung u. s. w.j. Aeluilichkeit der vorhandenen Störung mit einem
allgemein anerkannten Bilde psychischer Krankheit, Nachweis ander-
weiter Krankheitserscheinungen (Degenerationzeichen, Störungen der
Empfindlichkeit. Beweglichkeit u. s. w.). Immer dürfte es rathsam
sein, recht vorsichtig zu urt heilen. Nur eine sorgfältige Anamnese
und genügend lange eingehende Beobachtung vermögen den Beob-
achter, auch den geübten Beobachter, vor Irrthümern zu schützen.
Dies gilt auch für den Fall, wenn sich die Frage erhebt, ob eine
Untersuchung' des seelischen Zustandes. 21
psychische Störung echt oder simulirt sei. Die Entscheidung wird
nieist davon abhängen, ob die Erscheinungen dauernd dieselben wie
bei wirklicher Krankheit sind, ob das Bild dem irgend einer be-
kannten Krankheitsform vollständig gleicht. Die »Schwierigkeit,
dauernd die Maske einer psychischen Krankheit zu tragen, ein
Krankheitsbild in allen Zügen nachzuahmen und trotz aller Prüfungen
nicht aus der Rolle zu fallen, ist überaus gross. Es pflegt daher, wenn
die Beobachtungzeit nicht zu kurz ist, die Entlarvung des Simulan-
ten fast immer zu gelingen. Doch ist mit dem Nachweise der Simu-
lation der der psychischen Gesundheit nicht gegeben. Vielmehr zeigt
die Erfahrung, dass Simulation häufiger von psychisch Gestörten als
von Gesunden geübt wird. Die meisten Irrenärzte nehmen an, dass
reine Simulation sehr selten sei. Ist daher der Untersucher seiner
Sache nicht vollständig sicher, so möge er sich, wenn er keine psy-
chische Störung findet, damit begnügen, dies zu bekunden, nicht aber
versichern, der Untersuchte sei psychisch gesund.
Auf die Unterscheidung der psychischen Störungen des Genaueren
einzugehen, > ist an dieser Stelle nicht gerathen. Der Rathsuchende
sei hiermit auf die Lehrbücher der Psychiatrie (besonders Schule,
Klinische Psychiatrie. Leipzig, F. C.W. Vogel 1886; Krafft-Ebing,
Lehrb. d. Psychiatrie. 5. Aufl. 1893; Kraepelin, Lehrbuch d. Psy-
chiatrie. 4. Aufl. 1893) verwiesen.
Zunächst soll hier eine kurze Uebersicht über die am häufig-
sten für psychische Störungen gebrauchten Termini gegeben werden.
Von Aufhebung des Bewusstseins muss man dann sprechen,
wenn zu vermuthen ist, dass überhaupt keine psychischen Processe
vor sich gehen. Da das Fehlen der psychischen Vorgänge jedoch
nicht zu beweisen ist, nimmt man auch daBewusstlosigkeit an,
wo keine Beziehungen des Bewusstseins zur Aussenwelt nachweisbar
sind. Die Zwischenstufen zwischen Bewusstlosigkeit und Klarheit
des Bewusstseins, d. h. ungestörter Wahrnehmungsfähigkeit, bezeich-
net man als Trübungen des Bewusstseins (Dämmerzustände).
Bewusstlosigkeit und Bewusstseinstrübungen nennt man wohl auch
Störungen des Sensorium. Das Paradigma dieser Störungen ist der
Schlaf. Einen Schlaf, aus dem man den Kranken auf keine Weise
erwecken kann, nennt man Koma (Karus, Lethargus). Gelingt
es nur durch starke Eeize, den Kranken vorübergehend zu erwecken,
so spricht man von Sopor, dessen leichtere Form die Somno-
lenz. die krankhafte Schläfrio-keit, ist.
22 Untersuchung des seelischen Zustandes.
Jactation nennt man das Sichliin- und Herwerfen, die Unruhe
der Glieder eines soporösen Kranken. Sie deutet gewöhnlich auf Angst.
Einen stärkeren Grad von Trübung- des Bewusstseins im wachen
Zustande, von Benommenheit, nennt man S t u p o r. Insbesondere spricht
man dann von Stupor, wenn die Beziehungen zur Aussenwelt dadurch
gehemmt sind, dass krankhafte Vorstellungen und Stimmungen das
Innere ganz erfüllen. Sind die die Wahrnehmung und Bewegung
hemmenden Erregungen melancholischer Art, so entstellt die Me-
1 a n c h o 1 i a c u m s t u p o r e s. a 1 1 o n i t a , sind aber die Wahngebilde
erfreulicher Art, so entsteht die Ekstase. Geben bei Kranken trotz
mehr oder weniger tiefer Bewusstseinsstörung Eeden und Handlungen
von Wahnvorstellungen Kunde, so haben wir es mit D eliri en zu tlnm,
die im gesunden Leben ihr Analogon durch die Reden und Handlungen
Träumender finden. Dementsprechend nehmen eine Mittelstellung
zwischen normalen und krankhaften Zuständen ein das Schlaf-
wandeln oder Somnambulismus und die Hypnose, bei denen
es sich um durch bestimmte Reize hervorgerufene Bewußtseins-
trübungen mit Delirien handelt, die Wahrnehmungsfähigkeit theils
aufgehoben, theils irregeführt ist. Neben dem Schlafwandeln ist die
Schlaftrunkenheit zu erwähnen, d. h. der Dämmerzustand,
der zwischen tiefem Schlafe und Erwachen sich einschieben kann.
Von mussitirenden Delirien spricht man, wenn soporöse Kranke vor
sich hin murmeln. Je nach der Ursache nennt man Dämmerzustände,
Stupor, Delirien epileptisch, hysterisch, alkoholisch u. s. w.
Unter Schwindel versteht man zweierlei, nämlich einmal eine
vorübergehende Bewusstseinstrübung („Schwarzwerden vor den
Augen", Ohnmachtanwandlung, etourdissement) , und zum andern
eine Sinnestäuschung, als ob entweder der ruhende Körper sich be-
wegte, oder die ruhende Umgebung sich um den Patienten bewegte.
Handelt es sich um drehende Bewegungen, so spricht man von Dreh-
schwindel.
Gefälschte Wahrnehmungen nennt man Sinnestäuschungen.
Handelt es sich um Wahrnehmungen wirklicher Dinge, die ver-
unstaltet zum Bewusstsein kommen, so spricht man von Illusionen,
handelt es sich um Wahrnehmungen, denen kein Object entspricht,
die durch nicht adäquate Reize der der Wahrnehmung dienenden
Theile des Nervensystems hervorgerufen werden, von Hailucina -
tionen. Wenn z. B. Jemand einen vorüberhuschenden Schatten für
ein Thier hält, oder im Rauschen der Bäume klagende, spottende
Stimmen hört, hat er Illusionen, wenn er in stiller Nacht Schimpf-
rufe vernimmt, im leeren Zimmer Gestalten erblickt, hallucinirt er.
Untersuchung des seelischen Zustand.es. 23
Gesichtshallueinationen heissen auch Visionen, besonders bei Eksta-
tischen.
Verminderte psychische Leistungsfähigkeit wird in geringerem
Grade als Schwachsinn, in höherem als Blödsinn bezeichnet.
Lücken in der Erinnerung, die meist auf vergangene Bewusst-
seinsstörungen zu beziehen sind, nennt man amnestische Defecte
oder Amnesie. Vorstellungen, die sich gegen den Willen des Vor-
stellenden in das Bewusstsein drängen und von diesem peinlich
als Eindringlinge empfunden werden, sind Zwangsvorstellungen.
Wenn sich z. B. einem Kassirer nach jeder Rechnung der Gedanke
aufdrängt, er habe sich verzählt, obwohl der Mann überzeugt ist, dass
er richtig gerechnet habe, so nennt man dies eine Zwangsvorstellung.
Irrthümer der Kranken, die trotz Widerlegung festgehalten wer-
den, sind Wahnideen. Bei ihnen handelt es sich theils um Er-
klärungsversuche oder Allegorien krankhafter Zustände (z. B. der
an neuralgischen Schmerzen Leidende behauptet, seine Feinde elektri-
sirten ihn), theils um Sinnestäuschungen und daran geknüpfte Urtheile,
(z. B. der an Geruchshallucinationen Leidende glaubt unter Leichen
zu sein), theils um Phantasievorstellungen ohne ersichtliche andere
Veranlassung als die cerebrale Erkrankung überhaupt. Eine dauernd
festgehaltene Wahnidee wird fix genannt.
Krankhafte Zu- und Abneigungen gegen bestimmte Dinge oder
Personen bezeichnet man als Idiosynkrasien. Zu den krankhaften
Trieben zählen die abnormen Nahrungsbedürfnisse (Heisshunger =
Bulimie), Geschlechtsbedürfnisse (Satyriasis, Nymphomanie,
c out rare, d. h. auf das eigene Geschlecht gerichtete, Sexual-
empfindung und dergl.), die früher als Monomanien bezeichneten
Triebe (Kleptomanie, Pyromanie, Dipsomanie u. s. w.). Ferner sind
hier zu nennen die impulsiven oder Zwangshandlungen, die
unmotivirt und oft gegen den Willen des Kranken eintreten.
Findet man Aufhebung oder Trübung des Bewusstseins, so wird
zunächst zu entscheiden sein, ob es sich um eine primäre Erkrankung
des Gehirns oder um eine secundäre, eine Folge von allgemeiner
Krankheit handelt.
Bewusstseinsstörungen, die bei erschöpfenden Krankheiten, bei
Hunger, Erfrierung u. s. w. das Erlöschen des Lebens, den Tod ein-
leiten, werden zu Verwechselungen kaum Anlass bieten.
Eher können diejenigen, die in Folge von Intoxicationen
auftreten, eine örtliche Gehiriikrankheit vortäuschen. Es kommen
hier zunächst in Betracht die fieberhaften Krankheiten, bei denen,
24 Untersuchung des seelischen Zustandes.
sei es in Folge der Temperatursteigerung, sei es durch directe Gift-
wirkung, Benommenheit. Sopor, Delirien bekanntlich oft genug' sich
zeigen. Eine genaue körperliche Untersuchung, besonders die Be-
obachtung der Körpertemperatur, wird meist zur Diagnose führen.
Am häufigsten werden das Initialstadium des Typhus und die
croup ose Pneumonie mit Meningitis oder mit Geisteskrankheit
verwechselt. Beim Typhus müssen die Kopfschmerzen und die kör-
perliche Schwäche, auch wenn das Fieber noch fehlt, vor der An-
nahme einer Psychose warnen. Ferner sind zu nennen das urämi-
sche Koma (Oedeme, Cyanose, gespannter Puls, hypertrophisches
Herz, Eetinitis albuminurica, eiweisshaltiger Urin mit Cylindern), das
diabetische Koma (Obstgeruch aus dem Munde, zuckerhaltiger
Urin), das carcinomatöse Koma (Nachweis des Carcinoms). Bei
Vergiftungen im engeren Sinne muss theils die Anamnese auf
den rechten Weg führen, theils dienen einzelne Symptome als Weg-
weiser, z. B. der Geruch des Athems bei Alkoholvergiftung, die in-
tensive Myosis bei Morphiunivergiftung u. s. w. In manchen Fällen
wird nur der Nachweis des Giftes entscheiden, z. B. wenn bei Koma mit
Myosis die Diagnose zwischen Morphiumvergiftung und acuter Pons-
läsion schwankt. Das Delirium tremens po tat omni ist meist
durch das Zittern, den Wechsel zwischen heiterer Stimmung und Angst,
die vollständige Schlaflosigkeit und die Ruhelosigkeit bei starker Benom-
menheit, die eigenthümlichen Sinnestäuschungen (zahlreiche kleine
Thiere u. s. w.) hinreichend charakterisirt. Doch kommen auch bei Menin-
gitis und bei fieberhaften Allgemeinkrankheiten recht ähnliche Zu-
stände vor. die sorgsame körperliche Untersuchung und die Beob-
achtung der Temperatur sind daher nicht zu vernachlässigen.
Sind die genannten Fälle auszuschliessen, so kann entweder eine
Functionstörung der Hirnrinde in Folge einer Psychose oder eine
organische Gehirnaffection vorliegen.
Für epileptische Bewusstseinsstörung sind die voraus-
gegangenen epileptischen Krämpfe, der Zungenbiss, der unfreiwillige
Absang von Urin charakteristisch, sobald es sich um sogenannte
postepileptische Erscheinungen handelt. Treten die epileptischen
Delirien oder das Koma selbständig, an Stelle von Krampfanfällen
auf und fehlen die genannten Zeichen, so ist man auf längere Be-
obachtung und die Anamnese angewiesen. Der geübte Beobachter
kann zuweilen das epileptische Delirium aus dem Vorwiegen schreck-
hafter Hallucinationen. die die heftigste Angst der Kranken erregen,
zu Handlungen der Verzweiflung (Selbstmord, Mord) zwingen,
erkennen, den epileptischen Stupor aus der Verbindung tiefer
Untersuchung' des seelischen Znstandes. 25
Benommenheit mit läppischen Handlungen und Neigung zum Um-
herlaufen.
Die hysterischen Bewusstseinsstörungen sind den epi-
leptischen äusserlich vielfach ähnlich, das Vorhandensein hysterischer
Krämpfe und anderer hysterischer Symptome (Hemianästhesie, Ovarie
u. s. w.) wird meist über die Natur der Störung aufklären. Doch
darf man auch hier nicht vergessen, dass das Vorhandensein hyste-
rischer Symptome anderweitige Störungen nicht ausschliesst , dass
auch Hysterische epileptische Anfälle u. s. w. bekommen können.
Bei genauerer Beobachtung ergiebt sich überdem, dass der
hysterische Geisteszustand ein ganz eigenthümlicher ist. Es handelt
sich bei ihm nicht um eine einfache Einschränkung des Bewusst-
seins, wie wir sie wahrscheinlich beim Epileptischen und in anderen
Fällen anzunehmen haben, sondern die Einschränkung ist nur schein-
bar, weil deutliche Zeichen darauf hinweisen, dass nicht die Wahr-
nehmung überhaupt, sondern nur ihre bewusste Verknüpfung mit den
schon vorhandenen Vorstellungen und ihre willkürliche Keproduction
unausführbar sind. Man spricht gewöhnlich von einer Spaltung des
Bewusstseins und man kann sich die Sache bildlich so vorstellen, als
ob ein Schirm das geistige Auge des Kranken hinderte, einen Theil
seines Besitzes an Vorstellungen zu sehen. Ein Hysterischer z. B.,
der im Somnambulismus von vielen vorhandenen Personen nur Eine
wahrnimmt, weicht doch beim Gehen einer jeden aus. Die Spaltung
des Bewusstseins liegt nicht nur den offenbaren Bewusstseinsstörun-
gen der Hysterischen und allen hypnotischen Erscheinungen zu Grunde,
sondern auch der Amnesie, der Anästhesie, der Lähmung bei Hysterie,
worauf später zurückzukommen ist.
Bei Gehirnkrankheiten im engeren Sinne sind Bewusstseins-
störungen theils in der Form des apoplektischen Anfalles, theils als
allmählich entstanden und subacut oder chronisch verlaufend zu be-
obachten.
Der apoplektische xlnfall tritt ein, wenn durch plötzliche
Läsion die Gehirnfunctionen gehemmt werden. Er begleitet- daher
am häufigsten die Hirnblutung und den Gefässverschluss (Embolie
und Thrombose) im Gehirn. Bei dem eigentlichen Schlaganfalle stürzt
der Kranke, gewöhnlich nachdem kürzere oder längere Zeit Schwin-
del, Kopfdruck, Augenflimmern u. s. w. bestanden hatten, ,,Avie vom
Schlage getroffen" zu Boden. Die Bewusstlosigkeit kann verschieden
lange dauern, von wenigen Minuten bis zu mehreren Tagen. Sie kann
direct in den Tod überführen oder nach einem Stadium der Benom-
menheit dem wiederkehrenden Bewusstsein weichen. Meist ist von
26 Untersuchung des seelischen Zustandes.
vornherein die Lähmung einer Körperhälfte ' erkennbar. Die Form
und die Schwere des Anfalles hängen von der Geschwindigkeit, mit
der die Läsion sich entwickelt, und von ihrer Grösse ab. Kleine
Blutungen z. B. brauchen nur vorübergehenden Schwindel, eine leichte
Ohnmacht zu verursachen, erfolgt die Blutung aber unter starkem
Drucke, ist in Folge dessen die traumatische Wirkung auf das Ge-
hirn gross, so wird doch ein heftiger Schlaganfäll entstehen. Tritt
die Blutung unter geringem Drucke ein, sickert sozusagen das Blut
aus, so kann der Insult ganz fehlen, die Hemiplegie ohne ihn ein-
treten, oder, wenn es sich um eine grosse Blutung handelt, kann
das Bewusstsein sich langsam trüben, die Benommenheit erst all-
mählich zu Sopor und dann zu Koma werden. Im letzteren Falle
spricht man auch von einem langsamen Insult.
Auf den Ort der Läsion kann man nur selten aus der Art des
Insultes schliessen. Enge der Pupillen deutet auf die Gegend der
Brücke. Easch eintretende Störungen der Athmung und der Herz-
thätigkeit werden für Betheiligung der Oblongata sprechen. Das
Gleiche gilt vom Auftreten von Eiweiss oder Zucker im Urin. Starre
der Glieder im Anfäll wird gewöhnlich auf Durchbrach der Blutung
(beziehungsweise des Eiters bei Hiraabscessen) in die Seitenventri-
kel bezogen. Epileptiforme Krämpfe entsprechen einer Reizung der
Hirnrinde, diese hängt aber weniger vom Orte der Läsion als
von der Grösse des Reizes, den der Eintritt der Läsion bewirkt,
ab. Besteht Hemiplegie, so ist natürlich die Läsion in der gegen-
überliegenden Hirnhälfte zu suchen. Ein ziemlich häufiges Symptom
im Anfall ist die Deviation conjuguee, die Ablenkung des Kopfes
und der Augen nach einer Seite. Die Läsion befindet sich in der Hirn-
hälfte. nach der der Kranke blickt (le malade regarde sa lesion), nur
bei halbseitigen Krämpfen ist der Blick von der kranken Hemisphäre
abgewandt (le malade regarde ses membres convulsees, Prevost).
Die Art der Läsion ist nicht immer zu diagnosticiren, insbeson-
dere ist die Unterscheidung zwischen Hämorrhagie und Gefässver-
schluss oft unmöglich. Ein schwerer Insult, an den sich lange dauern-
des Koma anschliesst, deutet auf Blutung. Der Insult fehlt bei
letzterer nur, wenn sie sehr klein ist. Tritt complete Hemiplegie
ohne Insult ein. so kann es sich nicht um eine Blutung handeln.
Langsamer Insult entsteht meist, wenn auch nicht immer, durch all-
mählich zunehmende Blutung.
Vorläufersymptome fehlen natürlich beiEmbolie ganz, bei Blutung
fast immer. Dagegen sind sie oft bei Thrombose vorhanden. Aus ihrem
Fehlen ist nicht viel zu schliessen. Ihre Gegenwart aber (längerer
Untersuchung des seelischen Zustandes. 2<
heftiger Kopfschmerz, halbseitige Parästhesien) lässt auf Gefässver-
schluss durch atheromatöse (bez. syphilitische) Gefässerkrankung
schliesseu. Relativ leicht ist die Diagnose bei jüngeren Leuten.
Hier sind Hämorrhagien eine grosse Seltenheit ; besteht keine Herz-
krankheit, keine sonstige Quelle für Emboli (z. B. puerperale Throm-
bose!, so ist zuerst an eine syphilitische Gefässerkrankung zu denken.
Die meisten Apoplexien bei jüngeren Leuten beruhen auf S}Tphilis.
Schwieriger ist die Diagnose im höheren Alter, da hier die frühe-
ren Ursachen fortwirken, die Athermatose aber hinzutritt. Man
giebt gewöhnlich an. dass Röthung oder Gedunsensein des Gesichtes.
Klopfen der Carotiden. gespannter, voller, etwas verlangsamter Puls
für Blutimg sprechen. Blässe des Gesichtes, Schwäche des Pulses
und der Athmung für Thrombose. Nicht unwichtig ist der Ort des
Herdes. Blutungen kommen am häufigsten im Gebiete der Gross-
nirnganglien vor. Herde in der Hirnrinde entstehen fast nur durch
Gefässverschluss. Blutungen in der Brückengegend sind fast immer
tödtlich. Herde der Brücke und der Oblongata, die nicht rasch
tödten. entstehen daher gewöhnlich durch Erweichung. Die Art. basi-
laris erkrankt besonders oft durch Syphilis.
Auch Tumoren des Gehirns können apoplektische Anfälle
verursachen. Man wird einen Tumor annehmen, wenn sich deutliche
Stauungspapille findet und anderweite Sjmiptome von Hirndruck,
heftiger Kopfschmerz, Pulsveiiangsamuug, vorausgegangen waren.
Auch Hirnabscesse. die bis dahin latent geblieben waren,
können, wenn sie in einen Ventrikel durchbrechen, einen Insult bewirken.
Endlich kommen bei Kindern unter Fieber eintretende Insulte,
gewöhnlich mit Krämpfen und nachbleibender Hemiplegie, die viel-
leicht auf eine entzündliche Erkrankimg bestimmter Hirntheile zu
beziehen sind (Encephalitis acuta), vor.
Abgesehen von den eigentlichen Herdläsionen des Gehirns spielen
apoplektische Anfälle eine Rolle bei der multiplen Sklerose
und der progressiven Paralyse. Oft rasch vorübergehend und
ohne Folgen, oft für einige Zeit halbseitige Lähmung oder Aphasie
hinterlassend, zeigen sie sich im Verlaufe beider Krankheiten. Be-
sonders bei der progressiven Paralyse sind die Schlaganfälle nebst
den etwas selteneren epileptischen Anfällen von Bedeutung, die „para-
lytischen Anfälle" kennzeichnen nicht selten die Stationen des Krank-
heitsverlaufes. denn nach jedem Anfälle pflegt der Kranke auf eine
tiefere Stufe des intellectuellen Verfalles zu sinken. Auch bei Tabes
sind die paralytischen Anfälle ebenso wie andere Symptome der
Paralyse beobachtet worden.
28 Untersuchung des seelischen Zustaudes.
Ob die Anfälle, die während der senilen Gehirnatrophie
vorkommen, den paralytischen gleichzustellen sind, steht dahin. In
vielen Fällen entsprechen sie wohl wirklichen kleineren Blutungen
oder Thrombosen.
Eine mehr allmählich eintretende Trübung des Be-
wusstseins findet man bei der Meningitis; im Verlaufe einiger
Tage werden die Kranken benommen, Delirien treten auf, Sopor,
gewöhnlich mit Jactation, später Koma schliessen sich an. Die Be-
wusstseinsstörungeii bei der Meningitis haben an sich nichts Charak-
teristisches. Da sie ein schweres fieberhaftes Allgemeinleiden begleiten,
kann von Gehirnkrankheiten neben der Meningitis in der Hauptsache
nur der Hirnabscess, an den jene sich nicht selten anschliesst, sobald
er die Rinde erreicht, in Frage kommen. Der langsamere Verlauf
beim Abscess, die Constanz der Herdsymptome, die auf eine um-
schriebene Krankheit hindeuten, werden in der Eegel beide Affec-
tionen unterscheiden lassen. Zwischen Meningitis und acutem Abscess
kann die Unterscheidung zuweilen nicht gemacht werden. Häufiger
kommen Fälle vor, wo die Diagnose zwischen Meningitis und Typhus
oder Septhämie, beziehungsweise Pyämie, oder croupöser Pneumonie
schwankt, Fehlt die Stauungspapille, fehlen deutliche Hirnnerven-,
besonders Augenmuskellähmungen, so kann diese Differentialdiagnose
zu den schwierigsten Aufgaben des Klinikers gehören. Berücksich-
tigung der ätiologischen Momente, der Temperaturcurve, der positiven
Typhussymptome (stärkere Milzschwellung, Roseola, Typhusstühle
u. s. w.) sind das Wichtigste. Näher auf diese Dinge einzugehen, ist
hier nicht der Ort,
Chronische Bewusstseinsstörungen, allmählich zuneh-
mende Benommenheit mit oder ohne Delirien, kommen am ehesten
bei Hirntumoren und bei Ab sc es seil vor. Die Symptome eines
raumbeschränkenden Processes im Schädel (Stauungspapille, heftiger
Kopfschmerz, Puls verlangsamung) und die, wenigstens in der Regel
vorhandenen, Herdsymptome leiten zur Diagnose. Die psychischen
Erscheinungen können natürlich beim Tumor und beim Abscess die-
selben sein, nur das fieberhafte Leiden im letzteren Falle giebt ein
ziemlich sicheres Unterscheidungsmerkmal. Der sehr seltene chro-
nische idiopathische Hydro cephalus der Erwachsenen wird sich
kaum von den genannten Leiden unterscheiden lassen.
Schwindel ist im Allgemeinen ein vieldeutiges Symptom. Der
Schwindel im engeren Sinne, d.h. subjective Gleichgewichts-
störung, kommt vor bei Augenmuskellähmungen, er ver-
schwindet dann bei Verschluss eines Auges und macht keine dia-
Untersuchung des seelischen Zustandes. 29
gnostisehen Schwierigkeiten. Er kommt in sehr intensiver Weise
vor bei Ohrenkrankheiten, ist hier meist mit subjectiven Gehörs-
empfindungen, zuweilen mit Erbrechen verbunden. Treten Schwindel
und Ohrensausen in Anfällen auf, so spricht mau von dem Meniere-
schen S y m p t o m enco m p 1 e x. Der Schwindel kommt ferner vor bei
Erkrankungen des Kleinhirns und dessen Umgebung, ist dann oft
mit cerebellarer Ataxie (s. diese), zuweilen mit Erbrechen, auch mit
heftigen Kopfschmerzen verbunden, hört in der Eegel auf, sobald
der Kranke liegt. Als relativ selbständiges Symptom zeigt sich Dreh-
schwindel im Verlaufe der multiplen Sklerose (oft sehr früh-
zeitig), der Tabes (hier ziemlich selten), der allgemeinen Anämie
(Chlorose, perniciöse Anämie) u. s. w. Er kommt endlich vor bei
nervösen Personen ohne organische Läsion, schliesst sich hier oft
an Störungen des Magens (Vertigo a stomacho laeso), seltener
des Darms an.
Viel häufiger als der eigentliche Schwindel sind die Ohnmacht-
an Wandlungen (etourdissement, Schwarzwerden vor den Augen),
die von den Kranken mit dem Schwindel zusammengeworfen werden.
Oft ist nicht zu entscheiden, ob es sich nur um eine kurze Betäubung
oder um subjective Gleichgewichtsstörung gehandelt hat. Bei den
vorhin aufgeführten Zuständen, der Tabes, der Anämie, den sog.
fünctionellen Neurosen kommt beides vor, entschieden häufiger aber
als der Drehschwindel das etourdissement, das bei der Mehrzahl der
centralen Nervenkrankheiten sich zeigen kann. Treten Ohnmacht-
anwandlungen bei bis dahin gesunden Personen auf, so wird man
bei älteren Personen an die Möglichkeit eines apoplektischen
Insultes oder bei jüngeren an Epilepsie denken. Jenem gehen
nicht selten leichtere Attaquen voraus, die sich als ,, Schwindelanfalle "
darstellen. Bei Epileptischen können sowohl zwischen den Krampf-
anfällen als ohne diese kurze Bewusstseinspausen auftreten, bald als
plötzliches Einschlafen, bald als Dämmerzustände, während deren
der Kranke wie ein Automat im Sprechen und Handeln fortfährt
und die eine Lücke in der Erinnerung hinterlassen. Man bezeichnet
diese vielfach variirenden Formen als petit mal oder auch als
epileptischen Schwindel.
Den abnormen psychischen Zuständen bei intactem Bewusstsein
gegenüber ist eine wichtige Aufgabe der Diagnose die, zu entscheiden,
ob die progressive Paralyse besteht oder nicht.
Die Diagnose der progressiven Paralyse hat hauptsächlich
folgeude Punkte wahrzunehmen. Die progressive Paralyse ist eine
Krankheit, die fast stets im Alter zwischen 25 und 45 Jahren be-
30 Untersuchung des seelischen Znstandes.
ginnt. Sie ist eine fortschreitende Degeneration nervöser Bestand-
tlieile der Hirnrinde, die sich klinisch als allmähliche Vernichtung
des seelischen Lebens darstellt. Ihr Hanptsymptom ist von vorn-
herein die psychische Schwäche. Diejenigen geistigen Fähigkeiten,
die am spätesten entwickelt sind, werden zuerst aufgehoben. Der
erworbene Charakter, das Handeln nach Maximen geht verloren. Der
Kranke wirft die Zügel der Bildung ab, denkt und handelt kindisch,
dem sinnlichen Antriebe nachgebend. Das Interesse für Staat und
Kirche. Gemeinde und Familie ist erstorben, nur das Nächstliegende
und die eigene Person Betreffende wirkt als Motiv. Bei erhaltener
Wahrnehmungsfähigkeit und trotz eines reichen Schatzes von Vor-
stellungen in logischen Formen wird fehlerhaft combinirt : die Urtheils-
kraft ist mehr oder minder erloschen und die Kritiklosigkeit prägt
ihr Siegel auf alle Aeusserungen des Paralytischen. Erst weiterhin
wird die Abnahme des Gedächtnisses deutlich; häufig, aber nicht
immer, treten neben dem Schwachsinn Wahnvorst eilungen auf. die
sich bald als Grössenwalm. bald als hypochondrische Ideen darstellen.
Sie bewegen sich meist in Superlativen und sind durch ihre gänz-
liche Absurdität sowohl, als durch ihre Unbeständigkeit charakterisirt.
Der ausgebildete paralytische Blödsinn ist kaum zu verkennen, um
so öfter bleiben seine Anfange unerkannt, oder werden mit Nerven-
schwäche, mit sittlichen Fehlern verwechselt. Wenn ein bis dahin
normaler Mensch im mittleren Lebensalter seinen Charakter ändert,
der Fleissige faul, der Höfliche grob, der Anständige in Worten und
Werken liederlich, der Sparsame verschwenderisch wird, wenn sich
deutliche Zeichen geistiger Schwäche (Kechenfehler . Vergessen der
Termine u. s. w.) einstellen, dann muss man zuerst an progressive
Paralyse denken. Als fast pathognostische Symptome begleiten den
paralytischen Blödsinn gewöhnlich schon im ersten Anfange die para-
lytische Sprach-. Schreibe-, Lesestörung, von denen bald die eine,
bald die andere deutlich ist (vergi. S. 43 ff.). Ferner kommt eine Reihe
körperlicher Symptome hinzu : Zittern der Mundmuskeln beim Spre-
chen, der Zunge, Schwäche einer Gesichtshälfte, Ungleichheit der
Pupillen, Zittern und Ungeschicklichkeit der Hände, später Plump-
heit und Unsicherheit aller Bewegungen. Daneben können sich die
obenerwähnten paralytischen Anfälle zeigen. Bei jeder vorübergehen-
den Hemiplegie oder Aphasie, bei jedem epileptischen Airfälle im
reifen Alter ist an progressive Paralyse zu denken. Endlich combi-
niren sich häufig mit den Symptomen der progressiven Paralyse die
einer Rückenmarkskrankheit, gewöhnlieh die der Tabes: Pupillen-
starre. Augenmuskellälmiuugeii. Verlust des Kniephänomens, reissende
Untersuchung des seelischen Zustandes. 31
Schmerzen, Ataxie u. s. w., seltener die der Degeneration der Pyra-
midenbahnen: Steigerung der Sehnenreflexe, spastische Parese. (Ge-
naueres über die progressive Paralyse s. im III. Theile.)
Besteht progressive Paralyse nicht und ist, was kaum Schwie-
rigkeiten macht, die Idiotie (beziehungsweise Cretinismus, Imbecillität)
auszuschliessen, so ist „einfache Seelenstörung" anzunehmen.
Auf deren Unterscheidung in Manie, Melancholie, Verrücktheit u. s. w.
einzugehen, muss den Lehrbüchern der Psychiatrie überlassen bleiben.
Hier möge nur noch die Classification der Psychosen Platz finden,
die für die preussische Statistik maassgebend ist.
a) Einfache Seelenstörung'.
b) Paralytische Seelenstörung.
c) Seelenstörung mit Epilepsie, mit Hysteroepilepsie.
d) Idiotie, Cretinismus, angeborene Imbecillität.
e) Delirium potatorum.
ZWEITES HAUPTSTUCK.
Untersuchung der Sprache.
Sprache wird hier im weitesten Sinne verstanden, als gleich-
bedeutend mit Ausdrucksbewegungen. Man muss unterscheiden die
Fähigkeit, den seelischen Veränderungen Ausdruck zu geben, die
für sie gebräuchlichen Zeichen anzuwenden, von der Fähigkeit, diese
Zeichen zu verstehen.
Die Sprechfähigkeit nun muss nach verschiedenen Eich-
tungen hin geprüft werden.
Man untersucht, ob die einzelnen Laute richtig gebildet werden.
Zu dem Zwecke lässt man das Alphabet hersagen und prüft, ob die
einzelnen Laute gehörig verbunden werden können (Vocale mit Con-
sonanten, Labiales mit Linguales u. s. w.). Entsprechend ist bei der
Handschrift darauf zu achten, ob die Buchstaben richtig gebildet
oder etwa durch Zitterbewegungen oder durch ausfahrende Striche
oder sonstwie entstellt sind.
Bei den Worten kommt es darauf an, ob die Diction formal
richtig ist, d. h. die Wörter correct lautirt, nach den Kegeln der Gram-
matik gebeugt und syntactisch richtig gestellt werden, und ob sie
den G-edanken des Sprechenden wirklich wiedergeben.
Die freie oder willkürliche Sprache prüft man im Ge-
spräche (fliessendes Sprechen) und indem man den Kranken auffordert,
vorgelegte Gegenstände zu benennen. Findet er die Namen nicht, so
ist zu untersuchen, ob er noch die inneren Wörter besitzt, die Wörter
innerlich erklingen lassen, „die Klangbilder der Wörter innerviren"
kann. Dies kann dadurch geschehen, dass man den Kranken auf-
fordert, anzugeben, wie viel Buchstaben oder Silben der Name des
Gegenstandes hat, dass man z. B. sich die Hand bei jeder Silbe
drücken lässt (Li cht heim). Ist der Kranke mehrsprachig, so fragt
es sich, ob sich die vorhandenen Störungen in den verschiedenen Idi-
omen in gleicher Weise zeigen.
Untersuchung' der Sprache. 33
Weiter ist das Nachsprechen zu prüfen, oh der Kranke alle
vorgesprochenen Wörter nachsprechen kann, ob er nur einzelne
Wörter oder auch längere Sätze wiederholen kann. Beachtenswerth
ist hier wie beim freien Sprechen der Einfluss der Association, z. B.
bringt der Kranke vielleicht ein Zahlwort nicht heraus, spricht es
aber ohne Anstoss, wenn die Zahlenreihe hergesagt wird.
Beün lauten Lesen ist darauf zu achten, ob es fliessend ge-
schieht oder buchstabirend.
Auch die musikalische Ausdrucksfähigkeit kann unter-
sucht werden, ob der Kranke eine Melodie angeben kann, ob er eine
vorgesungene nachsingen kann.
Beim Schreiben hat man zu unterscheiden das freie oder will-
kürliche Schreiben, das Dictatschreiben und das Copiren,
das Abschreiben von Vorlagen.
Ist die Hand gelähmt, so lässt man Worte aus Buchstabentäfel-
chen zusammensetzen. Beim Dictatschreiben hat man darauf zu achten,
ob nur ganze dictirte Sätze oder einzelne vorgesprochene Wörter
nicht nachgeschrieben werden können. Nur im letzteren Falle handelt
es sich um eine Störung des eigentlichen Dictatschreibens. Beim
Nachschreiben ganzer clictirter Sätze werden die Sätze ins Gedächt-
niss aufgenommen und dann frei niedergeschrieben. Unter Umstän-
den empfiehlt es sich, auch die Schreibfähigkeit der linken Hand zu
prüfen. Diese hat auch beim Gesunden die Neigung Spiegel-
schrift zu schreiben, d. h. Abductionschrift, die im Spiegel wie nor-
male Schrift erscheint. Doch kann der Gesunde, wenn auch ungeschickt,
mit der Linken gewöhnliche Schrift von links nach rechts schreiben.
Die Fähigkeit des bildlichen Ausdrucks kann dadurch ge-
prüft werden, dass man den Kranken einfache Zeichnungen frei oder
nach Vorbildern entwerfen lässt, die der Geberdensprache da-
durch, dass man den Kranken auffordert, durch Geberden zu bejahen,
zu verneinen u. s. w.
Das Sp r ac h ve r stand n iss wird am einfachsten so untersucht,
dass ohne Gesten der Kranke aufgefordert wird, dies oder das zu
thun, z. B. einen seiner Körpertheile zu berühren, einen Gegenstand
herbeizuholen u. s. w. Bald wird gar nichts verstanden, bald ein-
zelne alltägliche Worte, bald einfache Fragen oder Aufträge, bald
complicirtere Aufträge u. s. w. Es ist zu beachten, ob der Kranke
sich bemüht das Gesprochene zu verstehen, oder ob er gar nicht
darauf achtet. Selbstverständlich ist Sprachtaubheit nicht mit all-
gemeiner Taubheit zu verwechseln, die Unterscheidung wird kaum
Schwierigkeiten machen.
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Anfl. 3
34 Untersuclunig der Sprache.
Das Schrif tver s tändniss wird durch Vorlegen kurzer schrift-
licher Fragen und Aufträge geprüft. In zweifelhaften Fällen kann
man nur auf diese Weise sich Aufklärung verschaffen, da manche
Kranken eifrig lesen, ohne eine Spur von dem Gelesenen zu verstehen.
Zu beachten ist besonders, ob der Kranke das. was er selbst schreibt
oder vorliest, versteht. Wenn die Wörter nicht verstanden werden,
so erkennen doch die Kranken oft noch die einzelnen Buchstaben.
Ferner ist zu untersuchen, ob Zahlen und Zahlencombinationen.
ob Bilder, ob G-eb erden verstanden werden. Das musikalische
Yerständniss kann durch Torlegen von Noten und Vorsingen bekannter
Melodien (Choräle. Volkslieder) untersucht werden.
Bei all diesen Prüfungen ist es zweckmässig, immer in gleicher
Weise vorzugehen, sich bestimmter Leseproben. Copirvorlagen u. s. w.
zu bedienen.
Störungen der Sprache oder der Ausdrucksfähigkeit überhaupt
können, soweit sie von Störungen im Nervensystem abhängen, ent-
weder durch Lähmung. Krampf der Sprechmuskeln. beziehungsweise
Läsion der den Ausdrucksbewegungen dienenden Theile des will-
kürlichen Bewegungsapparates, oder durch Läsionen der cerebralen
Bahnen, die ausschliesslich der Sprache (im weitesten Sinne) dienen,
des centralen Sprechapparates, entstehen.
Die erste Klasse von Sprachstörungen bilden Störungen der Laut-
bildung oder der Articulation: Alalie oder Anarthrie. Ihnen zur
Seite stehen die Störungen der Buchstabenbildnng, wie sie durch
Lähmung. Ataxie. Zittern. Krampf der Hände verursacht werden.
Die zweite Klasse bilden Störungen der Wortbildung und der Dic-
tum: Aphasie. Dieser entspricht die Agraphie. Bei der An-
arthrie sind die Wortbildung und die Diction jederzeit intact. bei der
Aphasie kann aber auch die Lautbildung leiden, eine Anarthria
aphatica ist eine solche, bei der der willkürliche Bewegungsapparat
intact ist.
Untrennbar mit der Aphasie verbunden sind die Störungen der
Perception, des Wort-, beziehungsweise Zeichenverständnisses, die nicht
durch Läsionen der Sinnesorgane, sondern durch Lasionen der centri-
petalen Bahnen des cerebralen Sprechapparates verursacht werden.
Anarthrie und Aphasie bilden (nach Kussmaul) zusammen die
Lalopathien. Es können Sprachstörungen aber auch durch pri-
märe Störungen der seelischen Thätigkeiten zu Stande kommen.
solche bezeichnet Kussmaul als dyslogische oder logopa-
thische, als Dysphrasien.
Untersuchung' der »Sprache.
35
Im Folgenden werden zunächst die einzelnen Formen der Aphasie
im Anschlnss an die Darstellung- Li cht heim 's kurz besprochen.
Daran schliesst sich eine Uebersicht über die dyslogis.ch.en und dys-
arthrischen Sprachstörungen.
Das Kind lernt sprechen, indem es, zunächst verständnisslos, die
Worte der Erwachsenen nachahmt. Es prägt
die Lautbilder der Worte seinem Gedächtniss
ein und lernt unter Controle des Gehörs dann
bestimmte Muskeln so coordiniren, wie es
zum Sprechen nöthig ist. Das von Licht-
heim gegebene Schema (Fig. 1) baut sich
nun auf dem zum Nachsprechen erforderlichen
Keflexbogen auf, der ausser dem Centrum
für die Klangbilder der Worte (A) und dem
('entrinn für die Bewegungsbilder derselben
(M) die zuführende Bahn vom Acusticus (a),
die austretende motorische Sprachbahn (m)
und die Verbindungsbahn zwischen A und M enthält. Werden die
Worte verstanden und mit Verständniss gesprochen, so müssen A
und M mit dem Centrum der Begriffe (B) verbunden sein. Lernt
das Kind später lesen, so muss die Stätte, wo die Erinnerungen an
Fig. 2.
die optischen Schriftzeichen niedergelegt werden (0), mit dem Centrum
der Klangbilder (A) verbunden werden (vgl. Fig. 2), verstellt es das
Gelesene, so wird die Bahn OAB eingeschlagen, liest es laut, so
benutzt es den Weg OAMm, liest es mit Verständniss laut, den Weg
OABMm. Beim Schreibenlernen endlich muss der Ort, wo die
Bewegungen der Hand zum Schreiben coordinirt werden, die Inner-
3*
36
Untersuchung' der Sprache.
vationstätte der Schreibbewegungen (E), sowolü mit 0 als mit A
und M verbunden werden, beim verständnisslosen Copiren geht der
Weg direct von 0 nach E, beim Dictatschreiben von a über A
nach E, beim freien Schreiben
längs der Bahn BME. Da
wir mit beiden Händen
schreiben können, istE wahr-
scheinlich nicht nur in der
linken, sondern auch in der
rechten Hemisphäre des Ge-
hirns vorhanden (E' in Fig. 3).
Je nachdem nun an dieser
oder jener Stelle der im
Schema dargestellten Bahnen
eine Unterbrechung eintritt,
muss sich eine besondere
Form der Aphasie ergeben
(vgl. Fig. 1).
Wird die Bahn BMm in 1, in 4 oder 5 unterbrochen, so entstellt
die eigentliche Aphasie, d. h. es besteht trotz klaren Verstandes
und guter Beweglichkeit der Zunge u. s. w. Sprachlosigkeit. Die
Kranken bewegen Lippen und Zunge, schneiden Gesichter, bringen
aber nur unbestimmte Laute hervor. Zuweilen sind dem Kranken
einige Wörter geblieben, in anderen Fällen nur ein einziges Wort, in
wieder anderen Fällen nur eine oder einige sinnlose Wortbildungen.
Diese Sprachreste bringen die Kranken bei allen Gelegenheiten an,
sie antworten auf alle Fragen mit demselben Worte oder Lautgebilde,
obwohl sie in der Eegel wissen, dass dies nicht richtig ist. Gewöhn-
lich lernen die Kranken mit der Zeit wieder sprechen. Wie die
Kinder lernen sie es zum Theil stammelnd, so dass dann anarthrisch-
aphatische Störungen bestehen.
1. Die Unterbrechung in M giebt folgendes Symptomenbild, es
besteht Verlust:
a) der willkürlichen Sprache,
b) des Nachsprechens,
c) des Lautlesens,
d) des willkürlichen Schreibens,
e) des Schreibens auf Dictat.
Erhalten sind:
f) das Verständniss der Sprache,
g) das Verständniss der Schrift,
h) die Fähigkeit, Vorlagen abzuschreiben.
Untersuchung der Sprache, 87
Dies ist die sogenannte Broca'sche Aphasie (motorische A.,
atactische A.). Die Agraphie ist meist eine absolute, die Kranken
bringen nur ein Gekritzel zu Stande, zuweilen können sie einzelne
Buchstaben oder ihren eigenen Namen schreiben. Auch die inneren
Worte sind verloren. Von dieser Form, die Li cht heim als
Kernaphasie bezeichnet, sind nur in Nebenpunkten verschieden die
beiden Formen, welche durch Unterbrechung in 4 oder 5 entstehen.
Auch diese, die Lichtheim centrale und peripherische Leitungs-
aphasie nennt, rechnet man gewöhnlich zur Broca'schen oder moto-
rischen Aphasie.
Fig. 4.
Schreibversuclie eines Agraphischen.
2. Die Unterbrechung von BM nämlich bewirkt:
Verlust :
a) der willkürlichen Sprache,
b) der willkürlichen Schrift.
Erhalten sind:
c) das Verständniss der Sprache,
d) das Verständniss der Schrift,
e) die Fähigkeit zu copiren,
f) das Nachsprechen,
g) das Dictatschreiben,
h) das Lautlesen.
38 Untersuchung der Sprache.
Da die Kranken die Worte nicht finden, wohl aber sie nach-
sprechen können, wird von Manchen diese Form auch als amnestische
Aphasie bezeichnet. •
3. Durch Unterbrechung von Mm (in 5) gehen verloren:
a) die willkürliche Sprache,
b) das Nachsprechen,
c) das Lautlesen.
Erhalten sind:
d) das Verständniss der Sprache,
e) das Verständniss der Schrift,
f) die Fähigkeit zu copiren,
g) das willkürliche Schreiben,
h) das Dictatschreiben.
Hier also besteht Aphasie ohne Agraphie. Die Kranken erinnern
sich der Worte, sie vermögen sie in sich erklingen zu lassen, sind
aber unfähig, sie auszusprechen.
Als Nebenform ist die Unterbrechung von ME anzusehen: die
isolirte Agraphie. Da diese Bahn (vgl. Fig. 3) sich theilt, kann
sie vor der Theilung oder nach ihr lädirt werden: im ersteren
Falle können beide Hände nicht frei schreiben, im letzteren (Unter-
brechung der zum Schreibcentrum der rechten Hand gehenden Bahn)
kann nur die Rechte nicht schreiben, während die Linke correct
schreibt und die Rechte das von der Linken Geschriebene copiren kann.
4. Durch Unterbrechung von AM entstellt Paraphasie, aber
es wird keine Function ganz aufgehoben, denn es fällt nur die Mög-
lichkeit verständnisslosen Nachsprechens, Lautlesens, Dictatschreibens
weg. Diese Thätigkeiten werden jetzt ausschliesslich mit Benutzung
des Weges über B ausgeführt. Die Folge davon ist, dass auch sie
in derselben Weise wie die willkürliche Sprache und Schrift gestört
werden, dass auch sie die Erscheinungen, der Paraphasie zeigen.
Man versteht unter Paraphasie den Zustand, avo die Worte theils
falsch ausgesprochen, theils falsch gebraucht werden. Das „Sich ver-
sprechen" des Gesunden ist physiologische Paraphasie, die durch
Mangel an Aufmerksamkeit, Ermüdung, Affecte verursacht ist. Wie
der Gesunde entweder gelegentlich ein Wort verunstaltet, die Laute
durcheinanderwirft, oder ein ganz falsches Wort braucht, so können
bei pathologischen Zuständen sowohl die Worte durch Verschiebung
der Laute und Silben entstellt (literale Paraphasie), als durch
unrichtige Worte ersetzt werden (v e r b a 1 e P a r a p h a s i e). Meist fin-
den sich literale und verbale Paraphasie gleichzeitig, die Worte, die
sich dem Paraphatischen beim Sprechen unterschieben, sind theils
richtig gebildete, klang- oder sinnverwandte, nur nicht sinnentspre-
Untersuchung der Sprache. 39
chende, theils ganz verunstaltete Wortgebilde. Fliesst die Rede ge-
wandt dahin, besteht sie aber aus lauter nicht zusammengehörenden
Worten, die keinen »Sinn ergeben, so spricht man von Chorea ti-
sche r Paraphasie. Die Paraphatischen wissen, dass sie falsch
sprechen. Nur, wenn auch die Intelligenz geschwächt ist, glauben
sie zuweilen ganz richtig und schön zu sprechen, während sie ein
tolles Kauderwälsch hervorbringen. Ganz analog der Paraphasie ist
die Paragraphie: die Kranken verschreiben sich, indem sie theils
falsche, sinn- oder schriftverwandte Worte brauchen, theils nur un-
aussprechliche Biichstabeiiconglomerate bilden. Da sie die Nutzlosig-
keit ihrer Bemühungen einsehen, stehen sie oft bald von jedem
Schreiben ab. Beim Lesen verspricht sich der Kranke wie beim
Sprechen : P ar al exi e. Wenn fälsche Geberden angewandt werden, z. B.
beim Verneinen genickt wird, so kann man von Paramimie sprechen.
Zur Paraphasie ist wohl auch der Agrammatismus zu rechnen,
soweit er bei aphatischen Störungen vorkommt, d. h. die Fehler in
der Wortbeugung und Wortstellung.
Wahrscheinlich ist die Entstehung der Paraphasie so zu ver-
stehen: beim willkürlichen Sprechen und Schreiben erklingen fort-
während die gesprochenen und geschriebenen Worte in uns, es kreist
fortwährend ein Innervationstrom in der Bahn BMAB. Nur dieses
innerliche Ertönen der Worte sichert die Correctheit der Sprache,
sobald diese Oontrole aufhört, vergreift sich sozusagen M und wir
versprechen uns. Sobald also der Kreis BMAB unterbrochen wird,
ohne dass doch die Sprache vollkommen gehemmt wird, muss Para-
phasie eintreten.
Diese Bedingung trifft für die Unterbrechung von AM zu, hier
sind intact das Verständniss der Sprache und Schrift, das Copiren
von Vorlagen, alle anderen Functionen zeigen die Erscheinungen der
Paraphasie. Von Manchen wird diese Form, die isolirte Paraphasie,
beziehungsweise Paragraphie, als Leitungsaphasie bezeichnet.
Die Unterbrechungen der Bahn aAB verursachen als Cardinal-
symptom Aufhebung des Sprach Verständnisses, Sprach- oder Wort -
taubheit.
5. Die Unterbrechung in A selbst giebt folgende Symptome.
Verlust :
a) des Sprachverständnisses,
b) des SchriftverständnisseS;
c) der Fähigkeit nachzusprechen,
d) der Fähigkeit auf Dictat zu schreiben,
e) der Fähigkeit laut zu lesen.
40 Untersuchung der Sprache.
Erlialten sind nur:
f) die willkürliche Sprache,
g) die willkürliche Schrift,
h) die Fähigkeit zu copiren.
Willkürliche Sprache und Schrift aber zeigen Paraphasie, be-
ziehungsweise Paragraphie. Dieser Symptomencomplex ist die sen-
sorische Aphasie (Wer nicke). Die Kranken hören die Worte
wie ein verworrenes Geräusch, ihre Muttersprache wie eine fremde
Sprache. Da sie das Gesprochene nicht verstehen, beim Sprechen
aber, obwohl über einen grossen Bedescliatz verfügend, theils falsche,
theils entstellte Worte gebrauchen, erscheinen sie Irren gleich. Die
ausdrucksvollen Geberden, die verständige Handlungsweise der Kran-
ken zeigen, class nicht die Gedanken verwirrt sind, sondern die
Sprache es ist. Wenn die Worttaubheit nicht complet ist, kann sie
neben der Paraphasie leicht übersehen werden. Es empfiehlt sich, bei
jedem P aliphatischen auf sie zu prüfen, indem man an den Kranken
ohne Mimik diese und jene Frage oder Aufforderung richtet, z. B.
ihn auffordert, die Nase zu berühren, die Hand in die Tasche zu
stecken oder dergl. Der Worttaube wird entweder gar nicht reagiren,
oder die Zunge herausstrecken, an das Ohr greifen u. s. w. Die
Worttaubheit pflegt sich ziemlich rasch auszugleichen. Länger be-
steht die Schriftblindheit, die Unfähigkeit, Geschriebenes oder
Gedrucktes zu verstehen, die auch Alexie genannt wird. Sie darf
nicht mit Hemianopsie verwechselt werden. Das ist nicht schwer,
wenn nur die eine oder die andere Störung besteht. Da aber beide
nicht selten zusammen vorkommen, da die Alexie nicht immer com-
plet ist und ausserdem oft Sprachstörungen bestehen, kann die Unter-
suchung auf grosse Schwierigkeiten stossen.
Wie das Yerständniss für Wörter geht zuweilen das für Zahlen
oder Noten verloren.
Tritt zur Läsion von A auch die von OE, so geht die Fähigkeit
zu copiren verloren.
6. Sitzt die Läsion in der Bahn AB, so gehen verloren:
a) das Verständniss der Sprache,
b) das Verständniss der Schrift,
erhalten sind:
c) die willkürliche Sprache;
sie zeigt jedoch aus den oben angegebenen Gründen die Störungen der
Paraphasie.
d) die willkürliche Schrift, die ebenfalls paragraphisch ist.
Soweit deckt sich das Symptomenbild mit der sensorischen
Untersuchung der Sprache. 41
Aphasie Wer nicke's. Es unterscheidet sich von dieser dadurch,
dass erhalten sind:
e) das Nachsprechen,
f) das Lautlesen,
g) das Schreiben auf Dictat, die alle drei ohne jedes Ver-
ständniss des Gesprochenen, Gelesenen, Geschriebenen aus-
geführt werden.
Als Nebenform kann die auf AO beschränkte Läsion betrachtet
werden, die isolirte Schriftblindheit, Die Kranken können
sprechen und schreiben, verstehen das Gesprochene, sind aber un-
fähig-, Gedrucktes oder Geschriebenes zu lesen. Sie wenden, um zu
lesen, zuweilen den Kunstgriff an, dass sie mit dem Finger den
Schriftzügen folgen und so Wort für Wort durch das Gefühl entziffern.
Als Dyslexie (Berlin) ist eine Störung beschrieben worden, die mit
der Aphasie direct nichts zu thun hat und darin besteht, dass der Kranke beim
Lesen nur einige Worte herausbringt, dann ermüdet, ohne Schmerzen oder
eigentliche Sehstörungen, und schliesslich erschöpft das Buch bei Seite legt.
Dagegen ist eine der sensorischen Aphasie analoge Störung der
isolirte Verlust der Erinnerungen an Gesichtswahrneh-
mungen (Charcot). Dabei erscheint dem Kranken alles, was er sieht
als neu und fremd, weil die Erinnerung an das früher Gesehene verloren
gegangen ist. Er vermag zwar zu sagen, aus welchen Theilen dieser
oder jener abwesende Gegenstand zusammengesetzt ist, vermag aber nicht,
sich ihn anschaulich vorzustellen. Er träumt nur noch in Worten, nicht
in Bildern. Als Verlust des optischen Gedächtnisses ist wohl auch die zu-
weilen beobachtete Störung zu betrachten, bei der die Kranken nicht mehr
frei zeichnen, sondern nur noch copiren können.
Unter Apraxie versteht man einen Zustand, wo der Kranke die
Gegenstände nicht nur nicht erkennt, sondern falsch gebraucht, z. B. mit
der Gabel Suppe essen will, in die Seife beisst, ins Waschbecken pisst u. s.w.
Es handelt sich dabei um tiefere Störungen der Intelligenz, die als Com-
plication zur Aphasie hinzutreten können.
7. Endlich kann die Unterbrechung aA treffen. Dann gehen
verloren:
a) das Sprachverständniss,
b) die Fähigkeit nachzusprechen,
c) die Fähigkeit auf Dictat zu schreiben.
Erhalten bleiben:
d) die willkürliche Sprache,
e) die willkürliche Schrift,
f) das Verständniss der Schrift,
g) das Lautlesen,
h) das Copiren.
Es sind dies die seltenen Fälle reiner Worttaubheit ohne Para-
phasie und Paragraphie.
42 Untersuchung der Sprache.
In der Wirklichkeit decken sich die vorhandenen aphatischen
Störungen nicht immer mit einer der sieben ans Li cht hei ins .Schema
abgeleiteten Formen. Dies ist begreiflieh, denn erstens kann bei der
gegenseitigen Nähe der in Frage kommenden Bahnen eine Läsion
die Sprachbahn mehrfach unterbrechen. Die wichtigste der so ent-
stehenden combinirten Formen ist die Totalaphasie. bei der gleich-
zeitig Unfähigkeit zu sprechen und Gesprochenes zu verstehen, moto-
rische Aphasie and Worttaubheit bestehen. Zum andern gleichen
sich die einzelnen Störungen verschieden rasch aus und. je nachdem
der "Kranke früh oder spät in Beobachtung kommt, ist das Bild
seiner Sprachstörung ein verschiedenes. Hier ist besonders hervor-
zuheben, dass die Worttaubheit relativ rasch wieder sich zurück-
bildet, rascher als die Schriftblindheit. Drittens können Schwierig-
keiten für die Auffassung des Symptomencomplexes dadurch entstehen,
dass die einzelnen Störungen nur partiell auftreten, weil die Läsion
die Sprachbahn nirgends vollständig unterbricht. Ist z. B. die Bahn
AM nur theüweise unterbrochen, so findet der Kranke nur in ein-
zelnen Fällen die richtigen Wörter nicht. Er spricht vielleicht in
Messender Eede ganz leidlich, stockt aber, wenn er Gegenstände
benennen soll, findet den Namen nicht oder braucht einen falschen.
Wird ihm der Name genannt oder vorgeschrieben, so ist natürlich
das Nachsprechen möglich und bleibt die Fähigkeit der Benennung
für kürzere oder längere Zeit erhalten. Man pflegt dann nicht von
Paraphasie, sondern von Amnesie zu sprechen. Alle Sprachstörun-
gen können als Störungen des Gedächtnisses bezeichnet werden, die
motorische Aphasie als Verlust der Erinnerung an die zur Bildung
der Worte nöthigen Bewegungen (wie Broca sagte), die sensorische
als Verlust der Erinnerung an die Klangbilder der Worte. Es ist daher
nicht zweckmässig, den übrigen Formen der Aphasie noch eine be-
sondere amnestische Aphasie gegenüber zu stellen. Es ist ersicht-
lich, dass eine Aphasie, die der bei partieller Läsion von AM eben
beschriebenen mehr oder weniger ähnlich ist. auch bei leichteren
Störungen an anderen Orten der Sprachbahn zu Stande kommen
muss. Ist z. B. in M der Widerstand nur massig erhöht, so wird
der Kranke sprechen können, aber einzelne Wörter nicht finden. Bei
verstärkter Innervation aber. imAffect oder beim Vorsagen der Worte
wird der Widerstand überwunden werden. Bei nur leichter Schä-
digung von A wird der Kranke einzelne Wörter nicht verstehen, viel-
leicht aber wird ihm ihre Bedeutung einfallen, wenn er den Gegen-
stand sieht, oder wenn er selbst das Wort ausspricht. Die Amnesie
begleitet demnach alle leichteren im Verlaufe der Sprachbahn ABMA
Untersuchung der Sprache. 43
eintretenden Störungen, sie tritt besonders dann in den Vordergrund,
wenn die Störungen ziemlich ausgeglichen, die Kranken der Heilung-
nahe sind. Am häufigsten werden Eigennamen oder Hauptwörter
überhaupt vergessen, seltener Beiwörter, Zeitwörter u. s. w. Wie
Kussmaul bemerkt, erklärt sich dies dadurch, dass die Vorstellung
von Personen und Sachen loser mit dem Namen verknüpft ist, als
die Abstractionen von ihren Zuständen, Beziehungen, Eigenschaften.
Für jene gewährt die Phantasie ein anschauliches Schema, diese
können ohne sprachlichen Ausdruck im Denken nicht bestehen. In
seltenen Fällen erinnern sich die Kranken nur einzelner Stücke der
Wörter. Ein Kranker z. B. wusste alle Anfangsbuchstaben, schlug,
um das gewünschte Wort zu linden, den ersten Buchstaben im Lexikon
auf und suchte, bis das entsprechende Schriftwort ihm ins Auge fiel.
Ein anderer Kranker Hess alle Anfangsconsonanten weg.
Völlig ungestört kann der Intellect bei Aphasie sein, wenn die
Läsion in niM sitzt, ebensowenig führen Läsionen von aA oder von
OA zu intellectuellen Störungen, dagegen muss nicht nur das Spre-
chen, sondern auch das Denken mehr oder weniger gestört werden,
wenn die Bahn ABMA lädirt wird. Ein Denken ohne Worte ist
nur in geringem Umfange, soweit anschauliche und leicht zu über-
blickende Verhältnisse in Frage kommen, möglich. Ursache und
Wirkung vermögen auch die sprachlosen Tlüere zu erkennen, da-
gegen ist das Denken in Begriffen an Worte gebunden. In der That
zeigen auch die meisten Aphatischen deutliche Abnahme der Intelli-
genz. Freilich ist in vielen Fällen von Aphasie der geistige Defect
nicht durch die Aphasie allein zu erklären, sondern hängt auch von
anderweit en Hirnläsionen ab. Begreiflicherweise leidet die Intelligenz,
sobald die inneren Worte verloren gehen (wie oben bemerkt), d. h.
sobald Amnesie und Paraphasie sich zeigen. Umgekehrt treten von
den Störungen der Sprache am ehesten Amnesie und Paraphasie
auf, wenn der Intellect primär gelitten hat, bei diffusen, über die
ganze Hirnrinde verbreiteten Erkrankungen. Es ist bekannt, dass
das Vergessen der Eigennamen und anderer Hauptworte eines der
ersten Zeichen der senilen Hirnsch wache ist, dass dasselbe ebenso
nach acuten Krankheiten, bei Hirnanämie aus verschiedenen Ursachen
sich zeigt. Ferner sind paraphatische Störungen eines der wichtig-
sten Symptome der diffusen Hirnrindenerkrankung, der progressiven
Paralyse der Irren. Ueber diese Form sind noch einige Worte zu sagen.
Die Paraphasie bei progressiver Paralyse nimmt eine Art
von Mittelstellung zwischen der Aphasie und den dyslogischen Sprach-
störungen ein. Nicht wie bei jener handelt es sich um eine Herd-
44
Untersuchung der Sprache.
läsion des Gehirns und doch hängt die Paraphasie nicht direct von
der geistigen Störung ab. da sie dieser nicht parallel geht, eine ge-
wisse Selbständigkeit besitzt. Es scheint, dass es sich bei der pro-
gressiven Paralyse hauptsächlich nm Zerstörung der Bahnen handelt,
die die einzelnen Centra der Hirnrinde verknüpfen. AVerden auch
^^w^^^
d. h. Eduard Hermann. Klempner aus Roehlitz in Sachsen.
Fig. 5.
Schrift bei beginnender Paralysis progr.
ey
jlZis^ o^S-A'!^>Z ,,
Fig. 6.
Schrift bei progressiver Paralyse (nach Erlenmeye'r, die Schrift).
die Verbindungsbahnen des Sprechapparates, besonders die Bahn AM
lädirt, so treten die paralytischen Sprachstörungen ein. Diese be-
stehen hauptsächlich in literaler Paraphasie, die hier meist als
Silbenstolpern bezeichnet wird, in literaler Paragraphie und
in einer eigenthümlichen Form der Paralexie. Alle erhalten ihre
charakteristische Färbung durch die allgemeine Amnesie der Kranken.
Untersuchung der Sprache. 45
Das Silbenstolpern zeigt sich zuerst beim raschen Sprechen und
beim Aussprechen langer Wörter. Die Laute werden zwar noch rich-
tig gebildet, aber nicht richtig zum Worte geordnet. Um geringere
Grade des Silbenstolperns zu entdecken, lässt man den Kranken com-
plicirte Wortbildungen nachsprechen, z. B. Sechshimdertsechsund-
sechzig, dreiunddreissigste Reiterschwadron, dritte reitende Artillerie-
brigade, konstantinopolitanischer Dudelsackpfeifer, französische Schul i-
zwecken, Messwechsel- Wachsmaske u. s. f. Gelingt das Wort dem
Kranken beim ruhigen und langsamen Sprechen nicht, sagt er z. B.
drittende reitende Rartrilleriegade, so ist dies ein bedenkliches
Zeichen, weil das Silbenstolpern zwar nicht ausschliesslich, aber weit-
aus am häufigsten ein Symptom beginnender progressiver Paralyse ist
Fig. 7.
Schrift bei weitentwickelter progressiver Paralyse (nach Erlenmeyer).
(l'embarras de la parole est un signe mortel, Esquirol). Weiter-
hin werden auch einfache Wörter falsch gesprochen (goten Murgen,
Feilsch und Bort u. s. w.). Oft finden sich bei der progressiven
Paralyse neben der literalen Paraphasie noch andere Sprachstörun-
gen, Stammeln, Stottern, Bradyphasie, zitternde, meckernde Sprache,
tonlose Sprache, selten eigentliche Aphasie.
Die Schrift der Paralytischen ist der Sprache ganz analog.
Es werden einzelne Zeichen, Buchstaben, Silben, Wörter ausgelassen,
andererseits zugesetzt oder verdoppelt, es zeigen sich Agrammatisnnis
und Akataphasie. Diese Fehler treten oft ausserordentlich früh auf,
zu einer Zeit, wann die Sprachstörungen noch nicht deutlich sind.
Später kommen auch mechanische Störungen der Schrift hinzu, diese
wird atactisch-zittrig.
Der Aphatische mit Paragraphie schreibt immer in derselben
Weise falsch und weiss in der Regel, dass er falsch schreibt, der
46 Untersuchung der Sprache.
Paralytische schreibt bald so. bald so und ist überzeugt, dass er
schön und richtig schreibt.
Manche Paralytische, die vielleicht ganz gut sprechen, sind un-
fähig, correct zu lesen: die paralytische Lesestörung (Rieger).
Die Kranken glauben vollständig richtig zu lesen, sie bringen aber
nur einzelne kurze Wörter heraus, an langen Wörtern scheitern sie
und sollen sie zusammenhängend lesen, so produciren sie blühenden
Unsinn, der die Unaufmerksamkeit und Kritiklosigkeit der Para-
lytischen sehr gut illustrirt.
Rieger theilt z. B. folgende Probe mit. Der Kranke, der zwar
auch im Schreiben. Nachsprechen. Rechnen Defecte zeigte, aber im
Gespräche keine Fehler machte und alle Buchstaben rasch und richtig
erkannte, sollte von einer Tafel mit grossem deutschem Drucke Schil-
lert Mädchen aus der Fremde ablesen.
Das Mädchen aus der Fremde. Das Mädchen aus der Tiefe.
In einem Thal bei armen Hirten In einem Tage war eine Hüte
Erschien mit jedem jungen Jahr, Erfreute mit jedem jungen Jahren
Sobald die ersten Lerchen scharrten, Sobald erbiet eine Lehre schwiede
Ein Mädchen schön und wunderbar. Ein Mädchen vont.
Sie war nicht in dem Thal geboren, Es war mit dem Thal geboren
Man wusste nicht, woher sie kam Xacht gutes mit fröhlicher Sichrigkeit
Und bald war ihre Spur verloren, Und empfehle und sprechende
Sobald das Mädchen Abschied nahm. Es bessert das Mädchen absichtlich
machte,
u. s. w.
Diese Lesest örung. die durchaus nicht bei allen Paralytischen
sich zeigt, soll für die progressive Paralyse charakteristisch sein, sich
nicht bei anderen Hirnkrankheiten nachweisen lassen. Man hat sie
in vereinzelten Fällen aber auch bei Demenz nach Herdläsionen des
Gehirns gefunden.
Verschiedene dyslogische Sprachstörungen.
Ausser der richtigen Wortbildung gehören zum Sprechen die gram-
matische Richtigkeit und die richtige Wortfolge. A g r a m m a t i s m u s
und Akataphasie nun kommen zwar auch bei Aphatischen mit
Paraphasie vor, sind aber in der Regel dyslogische Störungen. Gram-
matische Fehler, die bei Kindern häufig sind, machen die Kranken
theils aus psychischer Schwäche, theils aus wahnsinniger Schrullen-
haftigkeit. Sie setzen den Infinitiv statt des conjugirten Zeitwortes,
lassen Artikel weg, sprechen von sich in der dritten Person u. s. w.
(z. B. „Toni Blumen genommen. Wärterin gekommen, Toni gebaut").
Untersuchung der Sprache. 47
Sprachlosigkeit kann durch motorische Aphasie verursacht
sein, sie kommt in ähnlicher Weise vorübergehend bei fimctionellen
Nervenkrankheiten (Hysterie) vor. Von diesen Formen leicht zu
unterscheiden ist die Sprachlosigkeit der Idioten und die durch
Lähmung der Sprechmuskeln bewirkte. Dagegen leicht mit der
Aphasie zu verwechseln ist dieAphrasia paranoica (voluntaria,
superstitiosa), die Stummheit, zu der Irre sich aus verschiedenen
Motiven verurtheilen.
Sonderlinge und Irre verunstalten die Rede dadurch, dass sie
ungehörige Wörter, und zwar oft immer dasselbe Wort, einschieben,
dass sie zwischen die Worte unarticulirte Laute oder gedehnte Yocale
(ae, oe) stellen (Gaxen), dass sie immerfort die Diminutivform
brauchen, dass sie Worte und Satztheile ungehörig wiederholen u. s. w.
Wiederholen sie immer die an sie gerichteten Fragen oder die letzten
Worte des Sprechenden, so redet man von Echo spräche.
Das Tempo der Eede kann verändert sein. Bei trägem oder
gehemmtem Gedankengange ist die Eede langsam, stockend, abge-
brochen (Bradyphrasie). Tritt besonders das Stocken hervor, so
dass grössere Pausen entstehen, so spricht man wohl von Brady-
phrasia interrupta, Die Rede des Erregten kann zum Wortschwall
werden, der stromartig mit Wellen und Wirbeln dahinfliesst (Lo-
gorrhoe). Ueberstürzen sich die Vorstellungen (Ideenflucht), so ist
eine geordnete Satzbildung nicht mehr möglich, abgerissene Satz-
theile, vereinzelte Wörter, Interjectionen drängen sich hervor und die
Rede wird verworren. Davon verschieden ist das Poltern (Batta-
rismus, Tumultus sermonis), das ebenfalls durch Ueberhastung ent-
stellt. Es erinnert mehr an das Stottern, unterscheidet sich aber
von diesem dadurch, dass der Polterer um so besser spricht, je mehr
er auf sich achtet, während der Stotterer durch Aufmerksamkeit und
Spannung das Uebel verschlimmert.
Bei psychischer Schwäche und bei Verrücktheit ist begreiflicher
Weise die Sprache oft verwirrt (Paraphr a sie). Zuweilen wird die
Folge der Wörter nur durch Associationen und Alliterationen be-
herrscht, so dass ein ähnliches Bild entsteht wie bei choreatischer
Paraphasie. Zur Paraphrasie rechnet man bei Irren auch die Neu-
bildung von Worten, die Unteiiegung eines anderen Sinnes (wie in
der Gaunersprache) u. s. w.
Bei Idioten ist die Entwicklung der Sprache ein Maass ihrer
intellectuellen Fähigkeit. Die am tiefsten Stehenden lernen gar nicht
sprechen, weil, wie Griesinger es ausdrückt, sie nichts zu sagen
•48 Untersuchung der Sprache.
haben. Andere lernen unvollkommen einige Worte nachsprechen wie
Papageien. Etwas Befähigtere lernen sprechen, aber ihre Bede ist
lallend und agrammatisch wie die der Kinder.
Stottern und Aphthongie.
Stottern und Aphthongie werden als spasmodische Sprachstörun-
gen bezeichnet. ..Beim Stottern ist die Articulation der Silben und
damit die Bede krampfhaft erschwert, nicht immer, wenn der Kranke
sprechen will, sondern nur zu gewissen Zeiten. und unter gewissen
Umständen. Bei der Aphthongie treten bei jedem Versuche zu spre-
chen Krämpfe im Hypoglossus auf, wodurch die Sprache ganz unmög-
lich gemacht wird." Beim Stottern ist die Bildung der einzelnen
"Laute richtig, aber ihre Verbindung, besonders die Verbindung der
Gonsonanten mit den nachfolgenden Vocalen wird bei geringer ge-
müthlicher Erregung durch krampfhafte Contractionen der Athem-
und Sprechmuskeln gestört.
Es giebt aber auch ein dem Stottern verwandtes Versagen der
Sprache ohne alle krampfhaften Bewegungen. Bei solchen Kranken
bewirkt jede oder eine gewisse geistige Erregung, dass sie keinen
Laut oder nur manche Laute hervorbringen können, ohne dass doch
irgend ein 3Iuskel sich zusammenzöge.
?jmi»f
Carl Ackermann, ca. 25 Jahre, Hautboist, zugleich Schreiber bei einem Rechtsann-alt, spielt Cello
und Bassgeise, leidet seit 6 Monaten beim Schreiben an Zittern und Unbehülflichkeit. Es tritt beim
Versuch in der sonst normalen Hand Tremor auf und krampfhafte Flexion, erst nach vielen Ansätzen
gelingt es, in einzelnen Absätzen zu schreiben.
Fig. 8.
Schrift bei Mogigraphie.
Analog den spasmodischen Sprachstörungen ist der Sc h reibe -
krampf (G-raphospasmus, Alogigraphia). bei dem die Hand sonst frei
beweglich ist. beim Versuche zu schreiben aber Krämpfe der Hand-
und Armmuskeln die Schrift zittrig, atactisch oder ganz unmöglich
machen (Fig. S).
Die Anarthrie.
Als Anart hrie. Stammeln oder Lallen bezeichnet man die
Unfähigkeit, die einzelnen Laute richtig zu bilden. Sprechen lernende
Kinder lallen, ebenso kranke Personen, die auf der Stufe des Kindes
Untersuchung der Sprache. 49
stehen geblieben oder auf sie herabgesunken sind. Unter Alalia
versteht man das Unvermögen, articulirte Laute zu bilden, während
bei Mogilalia die Bildung dieses oder jenes Lautes unmöglich ist.
bei Paralalia bestimmte Laute falsch gebildet werden. Die Dj's-
lalien beruhen entweder auf mangelnder Uebung, angeborener Un-
geschicklichkeit (Provinzialismen, Lispeln u. s. w.), oder auf fehler-
hafter Bildung der Articulationsorgane : mechanische Dyslalien, oder
auf Lähmung. Im engeren Sinne nennt man die Störungen anar-
thrische, die durch Lähmung der bei der Sprache betheiligten Mus-
keln entstellen. Die Anarthrie, die durch Lähmung der Zungen-
oder der Gesichts- oder der Gaumenmuskeln entsteht, ist im II. Theile
berücksichtigt.
Bei centralen Leiden sind oft alle in Frage kommenden Muskeln
mehr oder weniger betroffen, so dass die meisten Laute, wenn auch
in verschiedenem Grade, verstümmelt werden. Dabei leidet die
Fügung der Laute zu Silben und Wörtern nicht Noth, vielmehr er-
kennt man an Accent und Rhythmus des Nachsprechenden, dass die
Wortbildung nicht gestört ist. Die Kranken können jederzeit die
richtige Zahl der Buchstaben und Silben angeben, aus denen das
Wort, um das man sie fragt, besteht, ein Beweis, dass auch bei voll-
ständiger Sprachlosigkeit die inneren Worte erhalten sind. Ist die
Lähmung fortgeschritten, so werden überhaupt articulirte Laute nicht
mehr gebildet, die Sprache wird ein unverständliches Lallen und
schliesslich bleiben nur grunzende Töne übrig. Die Sprachstörung
kann schon beträchtlich sein, während die groben Bewegungen der
Zunge, der Lippen u. s. w. noch ganz gut von Statten gehen. Dies
ist begreiflich, weil bei der Bildung der Laute nicht die Bewegungs-
fähigkeit überhaupt ausreicht, sondern diese in der feinsten Weise
abstufbar sein muss. Auch gelingen die einzelnen Laute bei lang-
samem Hersagen des Alphabets oft noch ganz leidlich, wenn schon
die Umgangsprache sehr schwer verständlich ist, wie wohl Einer
mit steifen Fingern noch die einzelnen Buchstaben malen kann, beim
raschen Schreiben aber nur eine unleserliche Schrift zu Stande bringt.
Ist die Bildung der Laute nicht eigentlich gestört, sondern nur
erschwert, wie etwa bei grosser Ermüdung der Sprachorgane, so
wird die Sprache eintönig und kraftlos. Alle nöthigen Bewegungen
werden auf das geringste Maass beschränkt und trotz vermehrter An-
strengung vermögen die Kranken nur langsam ein Wort nach dem
anderen hervorzubringen (Bradylalia).
Werden die einzelnen Silben durch Pausen getrennt, die Worte
gleichsam zerhackt, so spricht man von scandir ender Sprache.
M ö b i u s , Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 4
50 Untersuchung- der Sprache.
Dabei werden oft einzelne Silben mit angespannter Kraft explosions-
artig hervorgestossen , während die folgenden wieder kraftlos und
eintönig nachschleppen (explosive Sprache).
Den Störungen der Lautbildung analog sind die der Schrift, bei
der durch Lähmung oder abnorme Contractionen der Muskeln
die Buchstaben verunstaltet werden. Man kann unterscheiden die
Zitterschrift, wo der Strich in eine Wellenlinie mit kleineren oder
Fig. 9.
Schrift eines 81jähr. Greises, der nur beini Schreiben zitterte.
grösseren Oscillationen verwandelt ist (vgl. Fig. 9), und die atactische
Schrift, wo durch Ausfahren der Hand die Buchstaben in unregel-
mässiger Weise verunstaltet werden. Beide Formen können combinirt
vorkommen.
Dauernde motorische Aphasie ist auf eine Erkran-
kung des Fusses der dritten (unteren) linken Stirnwin-
dung zu beziehen Es ist dies die sogenannte Broca'sche Stelle
oder Broca'sche Windung. Bei Linkshändern und bei Personen, deren
linke Hemisphäre durch angeborene oder früh erworbene Defecte
geschädigt ist, scheint das ..Sprachcentrum" an der entsprechenden
Stelle der rechten Hemisphäre sich zu finden, kann daher durch
reehtseitige Herde Aphasie bewirkt werden. Es ist bemerkenswerte,
dass bei Kindern auch Läsionen der linken Hemisphäre, die das
Sprachcentrum treffen, nur rasch vorübergehende Aphasie bewirken.
Bei der Zerstörung der Broca'schen Windung selbst entsteht die
oben unter 1 beschriebene Form der motorischen Aphasie, die Kern-
aphasie Lichtheim's. Den unter 2 und 3 beschriebenen Formen,
der motorischen Theilaphasie Lichtheim's. liegen wahrscheinlich
Läsionen der weissen Substanz in der Nähe der Broca'schen Stelle,
möglicherweise partielle Läsionen dieser selbst zu Grunde.
Die Worttaubheit ist nach Wer nicke's Vorgang auf eine
Läsion der ersten linken Schläfen wind Uns: zurückzuführen.
Untersuchung der Sprache. 51
Bei Linkshändern scheint die rechte erste Sehläfenwindimg dem AVort-
verständnisse zu dienen. Analog' den Verhältnissen bei der motori-
schen Aphasie wird man die den seltenen Formen ü und 7 entspre-
chenden Läsionen in nächster Nähe der ersten Schläfenwindung suchen.
Bei der Paraphasie müssen die Verbindungen zwischen dem
motorischen Sprachcentrum in der dritten Stirnwindung und dem
sensorischen in der ersten Schläfenwindung lädirt sein. Dieser For-
derung- würde eine Erkrankung der Insula Reilii genügen. Hier
sucht in der That Wer nicke den Herd hei der von ihm sogenannten
Leitungsaphasie. Genaueres weiss man nicht, doch ist es höchst
wahrscheinlich, dass die Insel einen wichtigen Theil der Sprachbahnen
umschliesst.
lieber die Localisation der übrigen selteneren Aphasieformen
ist nichts Sicheres bekannt. Bei der Totalaphasie muss eine
ausgebreitete Läsion der linken Hemisphäre angenommen werden,
die sowohl die Broca'sche als die Wernicke'sche Stelle schädigt.
Bei Wortblindheit hat man mehrmals das untere Scheitel-
1 ä p p c h e n erkrankt gefunden. Es ist ersichtlich, dass es sich dabei
um Zerstörung einer Bahn handeln muss, die die Occipitallappen mit
den Sprachcentra verbindet.
Von den Stellen der Hirnrinde, wo die Wortbildung stattfindet,
müssen Bahnen zu den Articulationsnieclianisnien führen, die moto-
rischen Sprachbahnen. Aller Wahrscheinlichkeit nach verbinden diese
Bahnen die dritte linke Stirnwindung mit den unteren Dritteln beider
ersten Centralwindungen, wo die zu den Sprachmuskeln führenden
Willensbahnen beginnen. Die Annahme, nach der eine motorische
Sprachhahn von der Broca'schen Stelle direct zu den Kernen der
Oblongata zieht, wird dadurch widerlegt, dass Herde in der linken
Capsula int. motorische Aphasie nicht bewirken.
Bei der progressiven Paralyse scheint das Wesentliche die De-
generation der die einzelnen Hirnwindungen verbindenden (Asso-
ciations-)Fasern zu sein. Dem entspricht, dass die Sprachstörungen
hier hauptsächlich paraphatische sind. Von einer eigentlichen Loca-
lisation kann, da es sich um eine diffuse Erkrankung der Rinde handelt,
nicht wohl die Bede sein. Die paralytische Sprech-, Schreibe-, Lese-
störuiig ist vom grössten diagnostischen Werthe deshalb, weil sie nahezu
ausschliesslich eben bei der progressiven Paralyse vorkommt. Wenige
Symptome kommen dem Ideal eines pathognostischen Symptoms, aus
dem allein die Diagnose einer Krankheit gemacht werden kann, so nahe.
Die sonstigen dyslogischen Sprachstörungen beweisen nur Krank-
sein der den seelischen Vorgängen dienenden Theile der Hirnrinde,
52 Untersuchung der Sprache.
haben dieselbe diagnostische Bedeutung wie psychische Störungen
überhaupt.
Anarthrie beruht, abgesehen von den congenitalen uud mechani-
schen Dyslalien, auf Lähmung der Sprechniuskeln. sie tritt daher
auf bei allen Läsionen, die die letzteren selbst oder ihre Nerven-
bahnen treffen. Läsioneu einer Hemisphäre bewirken keine Anar-
thrie, weil die Innervation, die die Sprechmuskeln von einer Hemi-
sphäre erhalten, ausreicht zur Lautbildung. Bestehen dagegen in
beiden Hemisphären Läsionen, die die Facialis-Hypoglossusbahn
treffen, so tritt complete Lähmung der Lippen, Zunge u. s. w. ein
und damit Anarthrie (Pseudobulbärparalyse, vgl. Abschnitt Lähmung).
Herde iu der Brücke bewirken oft Anarthrie, weil liier die rechte
und die linke Sprechmuskelbahn so nahe bei einander liegen, dass
sie leicht durch einen Herd geschädigt werden können.
Erkrankungen der Oblong ata sind die wichtigste Ursache
anarthrischer- Störungen. Insbesondere bei der progressiven Bulbär-
paralyse, die die Kerne des H3Tpoglossus, Facialis. Vago-Accessorius
allmählich zerstört, ist Anarthrie gewöhnlich das erste Symptom;
die Sprachstörung pflegt schon sehr stark zu sein, wenn die groben
Bewegungen der Zunge uud der Lippen noch leidlich erhalten siud.
Auch peripherische doppelseitige Läsionen des Hypo-
glossus müssen die Lautbildung beträchtlich stören, während peri-
pherische doppelseitige Facialislähmung die Bildung nur einiger
Laute erschwert. Einseitige Hypoglossuslähmung lässt nur die Zun-
genlaute (1, r, g, k) undeutlich erscheinen (auch dies nur. weun die
Lähmung plötzlich eintritt, bei langsam sich entwickelnder Lähmung
vermag die gesunde Zungenhälfte sich den veränderten Verhält-
nissen anzupassen und den Bewegungsausfall zu ersetzen), einseitige
Facialislähmung macht in der Begel keine merklichen Lautirungs-
beschwerden.
Primäre Atrophie der Sprechmuskeln ist sehr selten.
Es ist zu erwarten, dass diese im Gegensatze zu der bulbären Atro-
phie nur bei sehr weit vorgeschrittener Entwicklung Anarthrie be-
wirken wird, weil, so lange die Innervation intact ist, auch der
in seinem Volumen reducirte Muskel alle feinen Bewegungen aus-
führen kann.
Die 3 can dir e n d e S p r a c h e ist fast ausschliesslich bei der m u 1 -
t ip 1 en S kl er o s e beobachtet worden. Auch die explosive Sprache
scheint auf sklerotische Heide der Oblongata zu beziehen zu sein.
DRITTES HAUPTSTÜCK.
Untersuchung des Bewegungsapparates.
Vorbemerkungen.
Der active Bewegungsapparat besteht aus den Muskeln und den
mit ihnen zusammenhängenden centrifügalen Bahnen des Nerven-
systems. Der willkürliche active Bewegungsapparat besteht aus
den willkürlichen (quergestreiften) Muskeln und folgenden nervösen
Theilen: 1. den peripherischen motorischen Nervenfasern, die die
willkürlichen Muskeln mit dem Bückenmark verbinden und, nach-
dem sie zum Theil mit centripetalen Fasern in den sogenannten ge-
mischten Nerven vereinigt waren, durch die vorderen Wurzeln in
das Bückenmark eintreten, 2. den grossen Zellen der Yorderhörner
der grauen Bückenmarkssubstanz, deren jede wahrscheinlich eine
Faser der vorderen Wurzeln als Fortsatz entsendet, 3. aus den Bahnen,
die die Yorderhornzellen mit der Grosshirnrinde verbinden, deren
weitaus wichtigste die sogenannte Pyramidenbahn (directes motori-
sches Leitungsystem) ist. Letztere setzt sich zusammen aus den in
den Seiten- und Vordersträngen verlaufenden spinalen Pyramiden-
bahnen, den Pyramiden der Oblongata und den intracerebralen
Pyramidenbahnen, die sich durch die vordere Brückenabtheilung,
den Hirnschenkelfuss, die innere Kapsel und den Stabkranz zu den
Centralwindungen des Gehirns begeben, in ihnen, als ihrer Kopf-
station, endigen.
Für die Hirnnerven treten an die Stelle der Vorderhornzellen die
Zellen der Nervenkerne im Hirnstainme.
Die cerebralen sowohl, wie die spinalen Abschnitte des Be-
wegungsapparates entziehen sich der directen Untersuchung gänzlich.
Auch die peripherischen Nerven können nicht direct untersucht wer-
den, ausgenommen die Fälle, wo Verdickungen der Nerven sich
durch Palpation nachweisen lassen. Die Untersuchung des Bewe-
54 Untersuchung- des Bewegungsapparates.
gungsapparates ist dalier identisch mit der der Muskeln. Wir be-
dienen uns bei dieser:
1. der Inspection,
2. der Palpation,
3. der Functionsprüfuiig, die bestellt aus
a) Prüfung der Motilität, d. li. der willkürlichen Con-
tractionen,
b) Prüfung der reflektorischen Contractionen,
die durch Eeizung der Haut oder tieferer empfindlicher
Theile bewirkt werden.
c) dir ect er Reizung durch elektrische oder mechanische
Eeize, die sowohl auf die Muskeln selbst, als auf den
motorischen Xerven gerichtet werden können.
Abgesehen wird hier, wie bei den nervösen Theilen, von chirurgischen
Eingriffen, besonders von der Ausschneidung kleiner Muskelstückchen be-
hufs mikroskopischer oder chemischer Untersuchung. Ueber diese Dinge
ist a. a. 0. nachzulesen.
Die Untersuchung hat ins Auge zu fassen: den Ernährung-
zustand und den Spannungzustand der Muskeln, das Vorhandensein
von Lähmung oder von abnormen Bewegungen, die reflectorische,
elektrische und mechanische Erregbarkeit,
I. Der Ernährungzustand.
Ueber den Ernährungzustand der Muskeln verschaffen uns
zunächst Inspection und Palpation Aufschluss. Im Allgemeinen kann
man ihn als dem Volumen und der Härte der nicht contra hir-
ten Muskeln proportional betrachten.
Besteht Hypertrophie, so ist das Volumen des Muskels ver-
meint, er bildet einen stärkeren Vorsprung als im normalen Zu-
stande und die fühlende Hand findet an ihm vermehrten "Wider-
stand. Dass die Hypertrophie eine wahre im klinischen Sinne ist,
erkennt man an der vermehrten Kraft, während Abnahme von Kraft
trotz Zunahme des Volumen und der Härte auf eine nur im anato-
mischen .Sinne wahre H3Tpertrophie (d. h. das erste Stadium der Dystro-
phie) oder auf Pseudolrypertrophie (durch Bindegewebewucherung)
schliessen lässt. Ist nur das Volumen vermehrt, Härte und Kraft
vermindert, so kann man annehmen, dass Fettwucherung die Hyper-
trophie vortäusche (Pseudolrypertrophia lipomatosa).
Besteht Atrophie, so sind Volumen und Härte vermindert.
Je nach dem Grade des Schwundes ist hier nur das Eelief des Mus-
Ernährangzustand der Muskeln. 55
kels verjüngt, tritt dort an Stelle des normalen Vorsprunges eine
Vertiefung, gelingt es dort überhaupt nicht mehr, die Existenz des
Muskels nachzuweisen. Ist nur das Volumen vermindert, die Härte
des nichtcontrahirten Muskels aber vermehrt, so kann man anneh-
men, dass neben dem Schwunde Hypertrophie oder Bindegewebe-
wucherung bestehe. Bei jedwedem Muskelschwunde ist die Kraft
vermindert, bei einfachem Schwunde sind beide Veränderungen ein-
ander proportional. Ist die Schwäche grösser, als es der Atrophie
zu entsprechen scheint, so ist entweder der Schwund zum Theil
durch Wucherung interstitiellen Gewebes verdeckt, oder die Mus-
kelsubstanz ist nicht nur geschwunden, sondern auch degenerirt, oder
es besteht ausser der Muskelerkrankung eine lähmende Ursache.
Magerkeit begünstigt diese Prüfung, reichliches Unterhautfett oder
Anasarka kann sie sehr erschweren.
Ausser Volumen und Härte giebt über den Ernährungzustand
der Muskeln die elektrische Untersuchung Aufschluss. Ob
aussei- quantitativen Veränderungen auch die sog. degenerative Atro-
phie des Muskels vorhanden ist, ob da, wo Härte und Volumen nicht
wesentlich verändert sind, nicht doch Entartung besteht, dies kann
oft die elektrische Untersuchung lehren. Finden sich keine wesent-
lichen oder nur quantitative Veränderungen der elektrischen Erreg-
barkeit, so ist die Atrophie eine einfache, besteht nicht oder wenig-
stens zur Zeit nicht Entartung des Muskels. Findet sich dagegen
die Entartungsreaction in einer ihrer Formen, so bestellt die dege-
nerative Atrophie, die contractile Substanz ist nicht nur ver-
mindert, sondern auch (warscheinlich nebst ihren Nervenfasern) ent-
artet. Die Stärke der Degeneration kann im Allgemeinen als dem
Grade oder der Schwere der Entartungsreaction proportional be-
trachtet werden. Wir wissen ferner, dass gewissen Stadien der
Degeneration gewisse Stadien der Entartungsreaction entsprechen.
Vgl. hierzu Abschnitt: Elektrische Erregbarkeit.
Ueber gewisse Ernährungstörungen des Muskels belehrt auch
das Beklopfen (vgl. mechanische Erregbarkeit), es kann dasselbe,
wo die elektrische Untersuchung nicht ausführbar ist, diese in un-
vollkommener Weise ersetzen. Erhält man nämlich bei leichtem
Klopfen auf den Muskelbauch eine träge Zuckung, so besteht Ent-
artungsreaction, d. h. degenerative Atrophie (sofern, was leicht ist,
die Myotonia congenita ausgeschlossen werden kann). Die Form der
Zuckung ist in diesem Falle ganz gleich der durch galvanische Bei-
zung des Muskels erhaltenen. Nur aus dem positiven Ergebnisse
darf ein Schluss gezogen werden.
ob
Untersuchung des Bewegungsapparates.
Neben der Atrophie einzelner Muskeln (circumscripta, in-
dividuelle Atrophie) unterscheidet man über grössere Muskel-
Gebiete verbreitete Atrophie (diffuse Atrophie. A. en masse).
Handelt es sich um Atrophie der Giiederniuskeln. so giebt der Um-
fang des Gliedes ein Maass des Schwundes. Die Messung- wird mit
dem in Centimeter getheilten Bandmaasse ausgeführt und jederzeit
ist anzugeben, an welcher Stelle des Gliedes das Band umgelegt
worden ist. Bei Torderarm und Unterschenkel giebt man zweck-
mässig den grössten Umfang an beim Oberarm
kann die Mitte gewählt werden, beim Ober-
schenkel giebt man an „15 Cm. oberhalb des
oberen Eandes der Patella" oder dergl. Ferner
ist die Lage des Gliedes während der Messung
zu notiren. am besten ordnet man Streckung
im Ellenbogen-. Hand-. Kniegelenke an. stellt den
Fnss rechtwinklig zum Unterschenkel.
Ueber individuelle Atrophie kann man nur
bei oberflächlichen Muskeln urtheilen. Die Atro-
phie solcher Muskeln, die sich der Palpation und
elektrischen Untersuchung entziehen, kann man
nur aus dem Functionsdefect erschliessen.
Wahre Muskelhypertrophie im kli-
nischen Sinne, d. h. vermehrtes Volumen mit
gest eigener Kraft, findet sich als angeborene,
zuweilen ererbte Eigenthümlichkeit. <ei
es fast aller willkürlichen Muskeln ('manche
AthleteD . sei es nur eines Theiles davon.
Sie kommt ferner vor bei angeborener Hyper-
trophie einer Körperhälfte, bei Thom-
'seber Krankheit und zeigt sich zu-
weilen im Beginne der Pseudohyper-
trophia musc. progr.. liier besonders an den
"Wadenmuskeln. Häufiger findet man bei dieser
Krankkeit und bei der Thomsen'schen Krank-
heit die wahre Muskelhypertrophie nur im ana-
- -lieii Sinne, d. h. vermeintes Volumen durch Dickenzunahme
einzelnen Muskelfasern ohne Steigerung der Kraft. Im letzt
Sinne ist Mnskelhypertrophie in seltenen Fällen auch als selb-
ständige Erkrankung, zumeist auf eine Gliedmaasse beschränkt,
beobachtet worden.
10.
: . : :.
-J=endo-
hypertrophia musc. progr.
eh Ducken:
Ernährungzustaud der Muskeln. 5 <
Pseudohypertrophie der Muskeln, d. h. Zunahme des
Volumen durch Bindegewebe- oder Fettwucherimg mit Verminderung
der Kraft durch Schwund der Muskelfasern ist das Hauptsymptom
der als Pseudohypertrophia musc. progressiva bekannten
Form der Dystrophia musc. progressiva.
In ganz vereinzelten Fällen ist sie bei chronischer dege-
nerativer Muskelatrophie (amyotrophische Lateralsklerose,
Bulbärparalyse) an einzelnen erkrankten Muskeln (besonders der
Zunge) gesehen worden.
Diagnostisch werden die verschiedenen Formen der Muskelhypertrophie
kaum Schwierigkeiten machen. Die wahre Hypertrophie der Athleten ist
charakterisirt durch das Fehlen aller Functionstörungen, durch die durch-
aus normale elektrische und mechanische Reaction. Die Hypertrophie bei
Thomsen'scher Krankheit oder Myotonia congenita bildet nur einen Zug
in einem kaum verkennbaren Krankheitsbilde: Die seit Kindheit bestehende
myotonische Störung, d. h. die Hemmung willkürlicher Bewegung durch
tonischen Krampf, der bei fortgesetzter Bewegung schwindet, die bezeich-
nenden Abnormitäten der elektrischen und mechanischen Erregbarkeit
(s. „myotonische Reaction" im Abschnitt: Elektrische Erregbarkeit), das
Fehlen aller Störungen der Sensibilität und Reflexerregbarkeit machen die
Diagnose leicht. Die Hypertrophie bei Dystrophia musc. progr. (bezw.
Pseudohypertrophia muscul.) ist ebenfalls leicht erkennbar. Hier findet
sich eine bestimmte Localisation der Hypertrophie, neben ihr besteht Atrophie
(s. unten), die Function der erkrankten Muskeln ist einfach herabgesetzt,
ebenso die elektrische und mechanische Erregbarkeit einfach vermindert.
Am ehesten könnte man im Beginne der Pseudohypertrophia musc, wo
vielleicht nur Hypertrophie der Waden, kein deutlicher Functionsdefect
besteht, zweifelhaft sein- Oft weist hier die Erkrankung anderer Familien-
glieder auf die Diagnose hin. Auf jeden Fall wird der weitere Verlauf,
während dessen die übrigen Symptome der Krankheit auftreten, den Zweifel
verscheuchen.
E i n f a c h e M u s k e 1 a t r o p h i e , d. h. Ahnahme des Volumen ohne
qualitative Veränderung der elektrischen Erregbarkeit, findet sich
in diffuser Form bei allgemeiner Abmagerung (z.B. bei Phthisis
pulm), ferner in diffuser, aber meist auf einzelne Körpertheile be-
schränkter Form bei langdauernder Bewegungslosigkeit (z. B.
Abmagerung der Beine bei jahrelangem Bettliegen). Diese sogenannte
Inactivitätsatrophie, deren Bedeutung noch jetzt vielfach über-
schätzt wird, tritt sehr spät ein und erreicht selten hohe Grade.
Ziemlich rasch eintretende einfache Muskelatrophie in verschiedener
Ausdehnung findet man in manchen Fällen bei Erkrankungen
des centralen Nervensystems, ohne sie bisher genügend er-
klären zu können. Ebenfalls schwer verständlich, aber häufig und
praktisch wichtig ist die einfache Muskelatrophie, die bei vielen
58
Untersuchung des Bewegnngsapparates.
Gelenkerkrankungen die um das Gelenk gelegenen Muskeln,
besonders die Streckmuskeln (Schulter: Deltoideus. Knie: Quadriceps.
Hüfte: Glutäen). oft sehr bald befällt und mit starker Herabsetzung
der elektrischen Erregbarkeit verbunden ist.
In etwas anderer Weise stellt sich der Muskelschwund dar, der
durch zu feste Verbände, besonders Gipsverbände, entsteht. Hier
handelt es sich nach v. Volkniann um Absperrung des arteriellen
Blutes: ,.ischä mische Lähmung". Nachdem der Verband einige
Zeit gelegen hat, schwellen unter heftigen Schmerzen die gedrückten
Muskeln an und gerathen in Contractur. Später tritt eine narbige
Schrumpfung des Muskels ein.
die Contractur bleibt bestehen.
Charakteristisch ist die bis zum
Erlöschen gehende Herabsetzung
der elektrischen Erregbarkeit
ohne Entartungsreaction.
Endlich ist individuelle ein-
fache Muskelatrophie charak-
teristisch für die Dystrophia
musc. progressiva.
Während demnach die ein-
fache Muskelatrophie keinen
Schluss auf eine Läsion des
Nervensystems gestattet, deutet
die Existenz degenerativer
Muskelatrophie, d. h. Atro-
phie mit Entartungsreaction. auf
eine Läsion des peripherischen
motorischen Xervens3Tstems. Soviel vir bis jetzt wissen, entsteht
degenerative Muskelatrophie nur durch Läsion der Strecke vm (Fig. 11).
weder durch centrale, noch durch rein musculäre Erkrankungen.
Diese Eegel gilt wenigstens für die ganz überwältigende Mehrzahl
der Fälle, nur in ganz wenigen Fällen primären Muskelschwundes
sind neuerdings Andeutungen der EaE gesehen worden. Das Vor-
kommen der degenerativen Atrophie wird bei Schilderung der EaE
(vgl. unten) und bei der Localisation der Lähmungen nochmals zu
erwähnen sein.
Diagnostisch werden die verschiedenen Arten nichtnenrotischen Muskel-
schwundes sich leicht trennen lassen. Bei articulärer Atrophie sind das
Vorhandensein oder Vorausgehen einer Gelenkerkranknng, die Beschränkung
der mit Schlaffheit verbundenen Atrophie auf die Streckmuskeln, der elek-
Fig. 11.
Schema des Reflexbogens, -welcher zwischen senso-
rischem und motorischem Muskelnerven "besteht.
M = 'willkürl. iluskel. m = motorischer, s = sen-
sorischer lluskelnerr. R = Rückenmark, a — Py-
ramidenbahn. p = Hinterstrangbahn, v = Vordere
graue Substanz, h = Hintere graue Substanz.
Emährungzustancl der Muskeln. 59
trische Befund, das Fehlen anderweiter Störungen bezeichnend. Leicht
wird trotz des gleichen elektrischen Befundes von der articulären die
Atrophie durch ischämische Lähmung unterschieden: Vorausgehen eines
festen Verbandes wegen Knochenbruches oder dergl., Oedem der Haut,
passive Contractur der Beugemuskeln, deren Ueberwindung heftige Schmerzen
erregt. Inactivitätsatrophie darf man nur annehmen, wenn lange Inactivität
nachgewiesen ist, der einfache Muskelschwund gering ist und sonstig«;
Störungen fehlen.
Diesen Formen, bei denen es sicli um seeundäre Erkrankung des
Muskels handelt, wo der Sitz der primären Erkrankung für den der Atrophie
maassgebend ist, steht als systematische Erkrankung des willkürlichen
Muskelgewebes die Dystrophia musc. progr. mit ihren Unterarten gegen-
über. Hier beginnt die Erkrankung fast immer im jugendlichen Alter,
um so früher, je schwerer die Form, und befällt in annähernd symmetrischer
Weise bestimmte Muskeln. Tritt sie als Pseudohypertrophie auf, so gesellt
sich zur Hypertrophie der Wadenmuskeln die Atrophie der Glutaei, der
Lendenstrecker, später erst werden die Schultermuskeln befallen. Bei der
leichteren Form, der sog. juvenilen Muskelatrophie, erkranken die letzteren
zuerst und zwar findet man fast immer Atrophie der Pectorales, der Cu-
cullares, der Latissimi, der Serrati ant., der Ehomboidei, der Bicip. und
Supin. longi, gewöhnlich Hypertrophie der Deltoidei, der Supra- und Infra-
spinati, der Tricipites, Hypertrophie, die später auch zu Atrophie wird.
An zweiter Stelle erkranken die Rücken- und Beinmuskeln. In seltenen
Fällen beginnt der Schwund in den Gesichtsmuskeln.
Die Dystrophia mnsc. progr. von den neurotischen Formen der Muskel-
atrophie zu unterscheiden, ist gewöhnlich leicht, kann aber auch sehr schwer
sein. Für jene ist entscheidend der Nachweis deutlicher Hypertrophie,
sprechen mit Wahrscheinlichkeit die beschriebene Localisation, Fehlen
fibrillärer Zuckungen und der EaR, Fehlen aller eigentlichen Nerven-
symptome, sehr jugendliches Alter, familiäres Auftreten der Krankheit,
langsamer Verlauf. Für spinale Amyotrophie sprechen mit Sicherheit früh-
zeitige und deutliche EaR, ausgebreitete und andauernde fibrilläre Zuckungen,
Zeichen von Buibärparalyse, mit Wahrscheinlichkeit Beginn in den kleinen
Handmuskeln, Steigerung der Sehnenreflexe, rascher Verlauf. Bei Berück-
sichtigung aller Merkmale wird nur in einer geringen Anzahl von Fällen
ohne deutliche nervöse Symptome, ohne Buibärparalyse, ohne Heredität, bei
Erwachsenen, beim Fehlen deutlicher Hypertrophie und primärem Ergriffen-
sein der Schultermuskeln eine sichere Entscheidung unmöglich sein.
Man hat zuweilen auch bei Dystrophia musc. progr. eine Erkrankung
des Nervensystems (Schwund der Vorderhornzellen) gefunden. Wahr-
scheinlich sind diese seltenen Fälle, in denen das klinische Bild und der
Muskelbefund ganz denen der übrigen Fälle von Dystrophie entsprachen,
ganz zu trennen von der primären Rückenmarkerkrankung mit degenerativer
Muskelatrophie. —
Anhangsweise möge hier der sogenannten Hypertrophie der Ner-
ven, die theils als gleichmässige, theils als knotige Verdickung der ober-
flächlichen Nervenstämme sich zuweilen nachweisen lässt, gedacht werden.
Diese, meist verbunden mit Druckempfindlichkeit, ist fast ausnahmelos
ein Symptom entzündlicher Veränderungen, der Neuritis, beziehungsweise
60 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Perineuritis. Sie ist begreiflicher Weise von grossem diagnostischen
Werfhe. Eigentliche Hypertrophie der Nerven und liponiatöse Pseudo-
hypertrophie entziehen sich wohl der Untersuchung und sind nur bei der
Section als Curiosität hier und da gefunden worden. Geschwülste der
Nerven, die die Palpation nachweist, sind theils echte Neurerne, theils
Fibrome, in seltenen Fällen andere Geschwulstarten (Myxome, Sarkome,
Carcinome, Syphilome, Lepraknoten). Sie können Ursache heftiger Schmerzen
oder echter Neuralgien werden. Als Tubercula dolorosa werden kleine,
gewöhnlich harte Nervengeschwülste bezeichnet, die bald dieser, bald
jener Geschwulstform angehören.
II. Der Spannungzustand.
Lieber den Spannungzustand der Muskeln belehren die Palpation,
die Ausführung- passiver Bewegungen und die Prüfung der Sehnen-
reflexe. Je stärker der Muskel gespannt ist, um so härter fühlt er
sich an, der Widerstand, den passive Bewegungen finden, ist pro-
portional dem Grade der Spannung und mit dem Grade der reflek-
torischen Spannung (des Tonus ') steht das Verhalten der Sehnen-
reflexe gewöhnlich in naher Beziehung. Die Glieder eines Gesunden
leisten, sofern er gelernt hat, jede willkürliche Spannung auszu-
schliessen, keinen nennenswerthen Widerstand. Doch ist dies nur
der Fall, wenn die Aufmerksamkeit auf den Zustand des Gliedes ge-
richtet ist. Lenkt man sie ab, so findet man eine gewisse leichte
Spannung, die fehlt, wenn der Muskel abnorm geringe Spannung be-
sitzt. Immerhin kann man durch passive Bewegungen über Ver-
minderung der normalen Muskelspannung keinen sicheren
Aufschluss erlangen. Dagegen macht sich diese in der Regel be-
merklich durch Verminderung oder Aufhebung der Seimenreflexe.
Besteht die Verminderung der Muskelspannung längere Zeit, so ent-
wickelt sich eine Schlaffheit oder Relaxation der Muskeln,
die die letzteren wie überdehnte elastische Stränge erscheinen lässt.
Sie fühlen sich abnorm weich an, die tastende Hand findet nicht
1) Man hat guten Grund, anzunehmen, dass ein sogenannter reflectori-
scher Tonus besteht, d. h. dass die durch die Dehnung der Muskeln bewirkte
Erregung der sensorischen Muskelnerven direct eine gewisse Erregung der mo-
torischen Nerven und damit eine gewisse Contraction des Muskels bewirkt. (Vgl.
Fig. 11.) — Die Stärke des Tonus ist wechselnd, sie nimmt im Laufe des Lebens
ab, sie kann unter pathologischen Verhältnissen vermehrt oder vermindert sein,
und ob dies der Fall ist. hat die Untersuchung zu prüfen. Verminderung des
Tonus nmss Erschlaffung, Steigerung muss vermehrte Spannung des Muskels be-
wirken. Die Erfahrung hat ergeben, dass das Verhalten der Sehnenreflexe im
Allgemeinen parallel geht dem des Tonus, dass in der Regel die Lebhaftigkeit
jener direct proportional ist dem Grade dieses.
Spannung'zustaud der Muskeln. 61
mehr den elastischen Widerstand des gesunden Muskels, die normale
Haltung- der Glieder fehlt.
Finden passive Bewegungen erhöhten Widerstand und ist die
Resistenz des Muskels vermehrt, so spricht man von erhöhter
S p a n n u n g oder Spannung schlechtweg, Starrheit oder Rigidität
der Muskeln. Meist macht sich die Spannung dem Kranken selbst
als ein Gefühl der Steifheit geltend. Nimmt die Spannung zu, so
geht sie allmählich in Conti' actur über. Diese ist charakterisirt
durch Aufhebung der passiven Beweglichkeit, Vorspringen des ver-
kürzten Muskels und die durch Annäherung der Ansatzpunkte be-
wirkte Deformität.
Rigidität und Contractur können bewirkt sein entweder durch
Contraction oder durch Schrumpfung des Muskels. Im ersteren Falle
spricht man von Krampf, Spasmus, spastischer Rigidität,
spastischer oder activer Contractur, im letzteren von pas-
siver Rigidität, beziehungsweise Contract u r. Die letztere
wieder wird als p a r a 1 y t i s c h e C o n t r a c t u r bezeichnet, wenn durch
dauernd eingehaltene Stellungen in Folge von Lähmung, von Er-
krankung der Gelenke u. s. w. die Muskeln, deren Ansatzpunkte da-
bei genähert worden waren, sich verkürzt haben, als myopathische
Contractur, wenn es sich um primäre Schrumpfung des Muskels
durch entzündliche Veränderungen oder im Verlaufe degenerativer, bez.
primärer Atrophie handelt. Da in allen Muskeln, deren Ansatzpunkte
einander dauernd genähert sind, peripherische Veränderungen eintreten,
die passive Verkürzung bewirken, muss zu jeder activen Contractur
mit der Zeit die passive hinzukommen. In praxi stellt sich daher
Contracturen gegenüber die Frage oft dahin, ob nur passive Con-
tractur besteht, oder ob ausser dieser auch spastische Phänomene
sich finden. Die Unterscheidung beider Formen von Contractur kann
schwierig sein. Im Allgemeinen findet man bei spastischen Phäno-
menen einen elastischen, bei passiver Verkürzung des Muskels einen
todten Widerstand. Wird die active Contractur durch passive Be-
wegungen, die hier nicht schmerzlich zu sein brauchen, überwunden,
so schnellt das Glied, sobald der Zwang nachlässt, wie eine Stahl-
feder in die frühere Lage zurück. Die passive Contractur überwinden
passive Bewegungen, die zuweilen sehr heftigen Schmerz verursachen
und dann, wenn sie sonst nöthig sind, in der Narkose ausgeführt
werden müssen, natürlich auch bei entsprechender Kraft, der Unter-
sucher aber hat dabei das Gefühl, als ob er einen Stab aus Blei oder
Kupfer böge, und die Wirkung ist eine mehr oder weniger dauernde.
Die active Contractur ist variabel, die passive nicht. Reizungen
62
Untersuchung des Bewegungsapparates.
der Muskeln, Seimen, wohl auch der Haut, (Drücken, Zerren, Fara-
disiren. rasche Abkühlung u. s. w.) steigern den Spasmus. Dieser
ist daher abends stärker als früh. Er wird nicht selten von Zuckungen
unterbrochen, die bei plötzlichen Dehnungen der Muskeln u. s. w.
eintreten. Besonders brüske Bewegungsversuche steigern die Span-
nung, während sanfte Bewegungen sie nicht selten überwinden. Im
warmen Bade, wo das verminderte specifische Gewicht Zerrungen
der Muskeln erschwert, nimmt die Starre ab und die vorher unbe-
Aveglichen Glieder geben oft vorsichtigen Bewegungsversuchen nach.
Im Schlafe nimmt ebenfalls die active Contractur ab, in tiefer Chloro-
formnarkose endlich verschwindet sie ganz. Die passive Contractur
dagegen ist von äusseren
Umständen unabhängig,
sie ändert sich nur inso-
fern, als sie entsprechend
den Schrumpfungsvor-
gängen im Muskel lang-
sam zu- oder abnimmt.
Die activen. durch
Contraction verursachten
Spannungen und Con-
tracturen zerfallen wieder
in 2 Klassen. Die einen
stellen die Steigerung des
reflectorischen Muskel-
tonus dar, nur für sie be-
nutzt man am besten die
Ausdrücke Spasmus, spa-
stische Phänomene u. s. w.
Bei den anderen handelt es sich entweder um vermehrte willkürliche
Spannung, oder um directe Reizung motorischer Fasern, oder um
einen reflectorischen Krampf mit Benutzung des weiteren Reflex-
bogens. Letzteres ist so zu verstehen: der kürzeste oder engste
Reflexbogen (vgl. Fig. 11) verbindet die empfindlichen Theile des
Muskels, beziehungsweise der Fascie und Sehne mit der motorischen
Bahn. Handelt es sich um Reizung anderer empfindlicher Theile,
besonders der Haut, so muss eine andere Bahn HhvM (vgl. Fig. 12)
oder die Bahn HhpavM, bei welch letzterer die Verbindung zwischen
p und a im Gehirn stattfindet, eintreten. Bei willkürlichen Bewe-
gungen liegt das Yerbindungstück zwischen p und a wahrscheinlich
in der Hirnrinde, bei unwillkürlichen Bewegungen, die auf Hautreize
Fis-, 12.
Schema des Keflexbogens von Haut zu Muskel. H = Haut,
ss = sensorischer Hautnerv. Die übrigen Bezeichnungen
■wie bei Fig. 11.
» Spannungzustand der Muskeln. 63
antworten, in tieferen Hirntheilen. Man beobachtet nun nicht selten
Mnskelspannungen bei schmerzhaften Erkrankungen der Haut u. s.w.,
die bald willkürlich, bald unwillkürlich oder reflectorisch sind und
bei denen wahrscheinlich die Bahn HhpavM benutzt wird.
Auf welche Weise eine active Spannung* oder Contractur ent-
standen ist. lässt sich ihr schwer ansehen. In der Prüfung* der
s.dmenrehVxe aber besitzen wir ein überaus wichtiges Mittel, um den
( iharakter erhöhter Muskelspannung zu beurtheilen. Deren Steigerung
nämlich begleitet die Spannung nur dann, wenn der Muskeltonus ge-
steigert ist. wenn spastische Phänomene im engeren Sinne vorliegen.
Die Steigerung der Sehnenreflexe macht schon die geringsten
Grade spastischer Eigidität kenntlich, lässt, wo passive Bewegungen
noch keinen deutlichen Widerstand finden, das Eintreten der Eigidität
voraussehen und wird endlich von besonderem Nutzen in den Fällen,
wo die oben erwähnte Combination activer und passiver Contractur
besteht, wo die Schrumpfung des Muskels durch dauernde refiecto-
rische Contraction verursacht worden ist. Zeigt eine Contractur Eigen-
schaften der passiven und sind doch die Sehnenreflexe gesteigert,
so ist zu schliessen, dass es sich ursprünglich um active Contractur
handelte und dass erst secundär zu dieser sich peripherische Ver-
änderungen gesellt haben. Sind die Sehnenreflexe nicht gesteigert,
vielmehr vermindert oder aufgehoben, so kann (abgesehen von den
seltenen Fällen, in denen die Sehnenreflexe durch centrale Verände-
rungen aufgehoben sind) entweder passive Contractur bestehen oder
Contraction. die durch Reizung von m, von H, ss, p verursacht
ist (vgl. Fig. 12). Denn auch bei der willkürlichen oder bei der
durch Hautreize verursachten unwillkürlichen Spannung sind die
Sehnenreflexe nicht gesteigert. Zu bemerken ist noch, dass man sich
durch ein scheinbares Fehlen der Sehnenreflexe nicht täuschen lassen
darf. Wenn nämlich beim Spasmus die Muskeln ad maximum con-
trahirt sind, kann natürlich das Beklopfen der Sehnen keine weitere
Contraction verursachen..
Die Untersuchung hat weiter zu prüfen, welche Muskeln sich
in erhöhter Spannung befinden, und auch aus der Verbreitung der
Eigidität lässt sich ein Schluss auf ihre Natur ziehen. Die passive
Contractur beschränkt sich entsprechend den Bedingungen ihrer Ent-
stehung meist auf einzelne Muskeln oder Muskelgruppen. Die active
dagegen pflegt sich bei allen Muskeln eines G-liedes geltend zu machen,
ergreift auch die Antagonisten, so dass die Beweglichkeit sowohl
nach der einen als nach der anderen Richtung gehemmt ist. Frei-
lich pflegt auch die active Contractur in der einen Muskelgruppe
64
Untersuchung des Bewegungsapparates.
stärker zu sein als in der anderen, liier in den Beugern, dort in den
Streckern, und demgemäss finden wir das Glied bald in Beugestellung,
bald in Streckstellung fixirt. Immer aber findet auch bei Streck-
contractur die passive Beugung Widerstand, und umgekehrt sind die
Sehnenreflexe in den Beugern gesteigert wie in den Streckern.
Sind die Muskeln einer
Körperhälfte contracturirt, so
spricht man wohl von Hern i-
eon.trac.tur, sind nur die
Muskeln eines Gliedes befallen,
von Monocontractur.
Fig. 13.
Da Verminderung der nor-
malen Muskelspannung wesent-
lich nur durch Herabsetzung,
beziehungsweise Erlöschen der
Sehnenreflexe zu erkennen ist,
wird ihr Torkommen und ihre
Bedeutung im Abschnitt Eeflex-
erregbarkeit besprochen. Das
Gleiche gilt von den Zuständen
vermehrter activer Muskel-
spannung, die mit Steigerung
der Sehnenreflexe verbunden
Linksseitige Hemiplegie mit Contractur (nach der Icono- . -,~..
graphie de la Salpetriere von Bourneville und ISt. Die paSSIVe C/OUtraCtlir
ist stets eine secundäre Er-
scheinung und bietet keinen Anhalt zu diagnostischen Schlüssen auf
den Sitz der primären Läsion.
Besondere Erwähnung verdienen noch zwei Formen vermehrter
Muskelspannung. Den spastischen Erscheinungen ist wahrscheinlich
die katalep tische Starre zur Seite zu stellen. Man versteht
darunter einen Zustand, wo alle Muskeln eines Gliedes passiven Be-
wegungen einen gleichmässigen, geringen Widerstand entgegensetzen
und die Glieder jede ihnen ertheilte Stellung durch längere Zeit be-
wahren. Man nennt diesen Zustand auch ..wächserne Biegsamkeit
(Flexibilitas eerea)". Das Wesentliche dabei scheint zu sein, dass
der Contractionzustand der rigiden Muskeln kein gleichbleibender
ist. sondern je nach der verschiedenen Stellung des Gliedes derart
wechselt, dass der Einfluss der Schwere eben überwunden wird. Offen-
bar handelt es sich dabei um den Ausdruck seelischer Zustände.
Motilität. Lähmung.
65
Anders stellt sich die Rigidität bei Paraljrsis agitans dar.
Hier entwickelt sich ganz allmählich an der Mehrzahl der Muskeln
eine gewisse Starrheit, die die einzelnen Theile in bestimmten
Stellungen fixirt. ziemlich leicht durch passive Bewegungen über-
wunden werden kann, aber immer in der-
selben Weise wiederkehrt. Diese Rigidität
verursacht eine charakteristische Körper-
haltung (vgl. Fig. 14). Die Sehnenreflexe
sind nicht gesteigert,
III. Die Motilität.
a. Lähmung.
Unter Lähmung verstehen wir das
Unvermögen eines oder mehrerer
Muskeln, sich auf den ihnen ad-
äquaten Reiz hin in normaler
Weise zu verkürzen. Lähmung
w i 1 1 k ü r 1 i c h e r M u s k e 1 n bedeutet dem-
nach Unfähigkeit, durch den Willen
contrahirt zu werden, oder Auf-
hebung der willkürlichen Beweg-
lichkeit durch eine Erkrankung
des activen Bewegungsapparates.
Nicht zur Lähmung rechnen wir die Stö-
rungen der Beweglichkeit, die durch Er-
krankung der Gelenke, Bänder u. s. w.
verursacht werden. Von Lähmung eines
Nerven kann man nur in dem Sinne reden,
dass die von ihm versorgten Muskeln ge-
lähmt seien, will man Störung oder Auf-
hebung der Function eines Nerven be-
zeichnen, so bedient man sich besser des Ausdrucks Läsion oder
eines ähnlichen. Setzt man zu dem Worte Lähmung ein zweites, so
will man damit den Sitz oder die Ursache der Erkrankung bezeichnen,
so heisst Muskellähmung Lähmung durch Erkrankung des Muskels.
Nerven-, Rückenmark-, Gehirnlähmung Lähmung durch
Erkrankung des Nerven, Rückenmarks, Gehirns, so spricht man von
Bleilähmung u. s. w.
Im weitesten Sinne bezeichnet man als Lähmung jede Vermin-
derung der Beweglichkeit im oben erläuterten Sinne, demnach alle
Mö Mus, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 5
Fig. 14.
Charakteristische Haltung des
Körpers bei Paralysis agitans (nach
Strümpell).
66 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Stufen zwischen Schwäche und Bewegungsunfähigkeit. Letztere, die
Aufhebung der willkürlichen Beweglichkeit oder Motilität, ist die
Lähmung im engeren Sinne. Paralysis, Akinesis, die ver-
schiedenen Grade der Schwäche nennt man Paresis, Hypoki-
nesis, oder man unterscheidet auch vollständige und unvoll-
ständige Lähmung, Paralysis completa. incompleta. In
anderem Sinne gebraucht man das Wort total, z. B. heisst eine
Facialislähmung total, wenn alle Gesichtsmuskeln gelähmt sind, com-
plet aber, wenn die gelähmten Gesichtsmuskeln ganz bewegungs-
unfähig sind.
Der Paralysis totalis s. universalis steht die Paralysis
partialis s. circumscripta gegenüber. Ist die Lähmung auf
rechte oder linke Körperhälfte beschränkt, so spricht man von Hemi-
plegie, die total ist, wenn die ganze Körperhälfte gelähmt ist, par-
tiell, wenn etwa nur Gesicht und Arm oder Arm und Bein gelähmt
sind. Im Gegensätze zur totalen Hemiplegie spricht man auch von
Monoplegie, damit nicht Lähmung eines Muskels, sondern eines
Gliedes meinend. Hat die Lähmung beide Körperhälften ergriffen,
so heisst sie Paraplegia (oder Dipl egia) und zwar Paraplegia
c r u r a 1 i s oder P a r a p 1 e g i e schlechtweg, wenn beide Beine.
Paraplegia brachialis, wenn beide Arme gelähmt sind. Dem-
nach sind auch die Ausdrücke Hemiparesis, Paraparesis ver-
ständlich. Hemiplegia cruciata s. altern ans bedeutet, dass
bestimmte Theile links und andere Theile rechts gelähmt sind, z. B.
die Glieder links, das Gesicht rechts oder Glieder und Gesicht links.
Augenmuskeln rechts. Der Ausdruck Hemiplegia cruciata wird im
engeren Sinne für den Fall gebraucht, dass der Arm der einen, das
Bein der anderen Seite gelähmt ist.
Weiter giebt man der Lähmung Beiworte je nach dem Zustande
der gelähmten Muskeln. Man spricht von atrophischer oder von
pseudohypertrophischer Lähmung. Man nennt eine Lähmung
spastisch, wenn der Tonus der Muskeln gesteigert ist, Rigidität
oder active Contractur besteht; man nennt sie schlaff, wenn die
Muskehl nicht gespannt oder relaxirt sind.
Die Untersuchung auf Lähmung besteht wesentlich darin, dass
man den Kranken auffordert, bestimmte Bewegungen zu machen,
und aus dem Functionsdefect. wo ein solcher sich findet, auf die
Ausbreitung der Lähmung schliesst. Dazu muss man wissen, welche
Function die einzelnen Muskeln haben und welche Störung durch
ihren Ausfall, beziehungsweise ihre Schwächung entsteht. Im II. Theile
findet man hierüber Ausschluss. Ausser der mangelnden Beweg-
Motilität. Lähmung. 67
liclikeit belehrt oft Lage oder Haltung der Theile über Lähmung.
Auf diese Kennzeichen ist man zum Theil bei bewusstlosen Kranken
und in gewissem Grade auch bei kleinen Kindern angewiesen. Bei
Kranken z. B., die in Folge eines apoplektischen Insultes be-
wusstlos sind, pflegen, wenn Hemiplegie besteht, die gelähmten Glieder
schlaffer zu sein als die gesunden, in die Höhe gehoben und losge-
lassen fallen sie wie todt herab, während die gesunden Glieder lang-
samer herabsinken und ihre natürliche Lage mehr oder weniger be-
wahren. Die gelähmte Wange pflegt bei der Einathmung einge-
sunken zu sein und durch die Ausathmung wie ein Segel aufgeblasen
zu werden, der gelähmte Mundwinkel steht tiefer, oft fliesst der
Speichel aus ihm. In selteneren Fällen sind die Muskeln der ge-
lähmten Seite gespannt, wie bei der späten Contractur der Hemi-
plegischen, und man erkennt an dem krankhaften Widerstände, den
passive Bewegungen finden, die Hemiplegie. Nach den weiter unten
zu besprechenden Regeln kann auch das Verhalten der Reflexe bei be-
wusstlosen Kranken zum Nachweis von Lähmung verwerthet werden.
Handelt es sich nur um Parese, so ist ihr Grad annähernd zu
bestimmen. Es ist anzugeben, ob die zu prüfende Bewegung bis zu
ihrem Ende geführt werden kann, z. B. ob der Rectus ext. das Auge
bis in den äusseren Lidwinkel bewegt, ob die Bewegung rasch oder
nur langsam möglich ist, ob sie stetig oder unter Zittern zu Stande
kommt, welchen Widerstand sie überwinden kann. Von besonderer
Wichtigkeit ist der letztere Punkt. Man stellt dem zu untersuchen-
den Muskel einen veränderlichen Widerstand entgegen und hat in
der Grösse des überwundenen Widerstandes ein Maass der Kraft.
Der beste Kraftmesser ist die Hand des Untersuchers,
wenn sie die nöthige Uebung besitzt. Zwar ist das Resultat nicht
in Zahlen auszudrücken, aber dieser Nachtheil ist gering, da gerade
hier Zahlen nur einen beschränkten Werth haben. Durch wiederholte
Prüfung der Verhältnisse bei Gesunden und Kranken gelingt es ziem-
lich bald, sich ein Urtheil zu verschaffen über die Kraftleistung, die
man von den verschiedenen Muskeln zu erwarten hat. Bei keiner
Untersuchung der Motilität sollte die Kraftprüfung versäumt werden,
denn diese dient nicht nur zur Beurtheilung des Grades der Schwäche,
sondern oft entdeckt man durch sie Paresen, die sonst unbemerkt
bleiben. Zur Messung des Händedruckes dient das als Dynamo-
meter bezeichnete Instrument (vgl. Fig. 15, S. 68). Der Zeiger giebt
die Zahl der Kilogramme an, die dem Drucke entspricht. Man fordert
den Kranken auf, das Instrument in die Hand zu nehmen, so dass
die Finger es bequem und sicher umfassen, und bei gestrecktem
68 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Arme, ohne Stossbewegung des Armes, es rasch und kräftig* zu-
sammenzudrücken. Ist die Haut der Hohlhand sehr empfindlich, so
kann man den Metallbogen mit Gummi oder Zeugstoffen umwickeln.
Man beobachtet den Zeiger während des Drückens und hat nicht
nur darauf zu achten, wie weit der Zeiger vorrückt, sondern auch
darauf, wie lange der Kranke im Stande ist, den maximalen Druck
auszuüben. Dabei muss man wissen, dass erst nach Ueberwindung
der anfänglichen Ungeschicklichkeit die höchste Zahl erreicht wird,
dass bei rasch hintereinander folgenden Prüfungen auch bei Gesunden
ziemlich bald Ermüdung eintritt, dass an den verschiedenen Tages-
zeiten die Kraftleistung nicht ganz dieselbe ist (nach Buch ist sie
früh am geringsten, steigt nach dem Frühstück, erreicht nach dem
Mittagessen das Maximum, sinkt dann etwas, steigt gegen Abend
an, nimmt während der Nacht ab).
Fig. 15.
Dynamometer.
Das Dynamometer ist besonders bei einseitigen Erkrankungen
und dann brauchbar, wenn es gilt, bei wiederholten Untersuchungen
sich über Zu- oder Abnahme der Schwäche zu unterrichten.
Um die Kraft der Beine zu messen, kann man verschiedene Vor-
richtungen anwenden. Pitr es legte Duchenne's Dynamometer in die
Kniekehle und liess den Unterschenkel kräftig beugen. E. Fried-
länder wandte die in Fig. 16 und 17 abgebildeten Apparate an.
Keiner von ihnen hat weitere Verbreitung gefunden.
Pitr es fand als Durchschnittswerthe bei Männern für die rechte Hand
49 Kgr., für die linke 44 Kgr., bei Frauen 29, beziehungsweise 26 Kgr.
Demange nennt als Durchschnittszahl bei Siebzigjährigen 40 Kgr. Fried-
länder fand (an älteren, schwächlichen Individuen) bei Männern für das
rechte Bein 35 Kgr. (Streckung) und 39 Kgr. (Beugung), für das linke
Bein 37 Kgr. (Streckung) und 41 Kgr. (Beugung), bei Frauen entsprechend
25 und 29, 26 und 30 Kgr.
Ich fand bei der Untersuchung von 30 annähernd gesunden Männern
im Alter von 25 — 55 Jahren als Durchschnittszahl für die rechte Hand
63 Kgr., für die linke Hand 74 Kgr. Das üeberwiegen der linken Hand
Motilität. Lähmung.
69
war bei der ersten Prüfung nahezu constant, glich sich aus bei fort-
gesetzter Uebung. An 15 über 80 Jahre alten gesunden Männern erhielt
ich für die rechte Hand 42 Kgr., für die linke 38 Kgr.
Zu unterscheiden ist die durch Lähmung- verursachte Verminde-
rung- der Motilität von der durch Krämpfe oder Contracturen oder
Ankylosen u. s. w. verursachten. Das Verhalten gegen passive Be-
wegungen entscheidet. Nur wo Lähmung' neben den eben genannten
anderen Zuständen besteht, kann die Diagnose schwer sein. Der
Ernährungzustand der Muskeln, das Verhalten gegen elektrische und
mechanische Reize können dann zuweilen auf den rechten Weg leiten.
Hier und da wird die Entscheidung unmöglich sein.
Fig. 16.
Fig. 17.
Parese ist ferner zu unterscheiden von Ataxie, worauf unten
eingegangen wird.
Gelegentlich kann auch die durch Anästhesie verursachte Stö-
rung der Beweglichkeit Lähmung vortäuschen. Bewegungstörungen
durch Anästhesie treten nicht ein, so lange das Auge die Bewegungen
überwacht. Erst nach Ausschluss des Auges wird die Motilität ge-
stört. Dies Verhalten wird Verwechselung mit Lähmung verhindern
(vgl. Abschnitt: Anästhesie).
Endlich kann Bewegungslosigkeit entstehen, wenn die Bewe-
gungen heftigen Schmerz verursachen, die Kranken halten dann un-
willkürlich still und folgen der Aufforderung zu Bewegungen nicht.
Unter Umständen kann dann die Untersuchung nur in der Narkose
ausgeführt werden.
Lähmung entsteht, wenn an irgend einer Stelle die motorische
Bahn ganz oder theüweise unterbrochen ist. Die Läsion muss dann
einen bestimmten Sitz haben und man spricht von organischer
70
Untersuchung des Bewegungsapparates.
Lähmung. Dieser stellt man gegenüber die functionelle oder
seelische Lähmung, bei der die motorische Bahn unbeschädigt
ist, seelische Zustände aber den Willen hemmen. Wir fassen zu-
nächst die Localisation der organischen Lähmung ins Auge und wer-
den später die Diagnose der functionellen Lähmung besprechen.
Fig. 18.
Schema der Willensbahn zu Gesicht, Arm und Bein.
B = BeinLahn, A = Armbahn, G = Gesichtsbahn, o = Kern, beziehungsweise Vorderhorn.
Die Willensbahn zerfällt in zwei Abschnitte. Der erste beginnt
mit den Ganglienzellen der motorischen Theile der Hirnrinde und
umfässt die cerebralen und spinalen P3Tamidenbahnen , der zAveite
beginnt mit den Ganglienzellen der Yorderhörner (Nervenkerne) und
umfässt den peripherischen Theil der Bahn zu den Muskeln. Eine
Läsion des ersten Abschnittes, gleichgültig wo innerhall) derselben
Motilität. Lähmung. 71
ihr .sitz, bewirkt centrale Lähmung, eine Läsion des zweiten
bewirkt peripherische Lähmung', innerhalb der man herkömm-
licher Weise die Kernlähmung und die im engeren Sinne periphe-
rische Lähmung unterscheidet.
DieUnterscheidun g\d e r p eripherische n (und der Keru-
lähmung) von der centralen Lähmung kann sich gründen auf
die Verbreitung- der Lähmung- oder auf begleitende Symptome. Der
Grad der Lähmung- ist ohne wesentliche Bedeutung-, da
er begreiflicher Weise nicht sowohl von der Localisation als von der
Stärke der Läsion abhängt. Nur für die durch Erkrankung der
Gehirnrinde verursachten, die sogenannten corticalen Lähmungen,
ist es in gewissem Grade charakteristisch, dass sie fast immer nur
Paresen darstellen. Die grossen Bewegungen können mit leidlicher
Kraft ausgeführt werden, dagegen sind alle feineren Bewegungen, bei
denen Präcision und Geschicklichkeit erfordert werden, unmöglich.
Jede individuelle Lähmung, d. h. jede Lähmung, bei
der nur bestimmte Muskeln oder Muskelgruppen ge-
lähmt sind, ist fast immer durch peripherische Läsion
oder durch Läsion der Kerne (Vorderhörner) entstanden.
Centrale Lähmungen sind diffus, es sind alle Muskeln eines
Gliedes oder wenigstens Gliedabschnittes gelähmt, und wenn auch
oft genug die einen Muskeln schwerer betroffen sind als die anderen,
z. B. die Strecker mehr als die Beuger, so kommt doch nie das In-
tactsein einzelner Muskeln innerhalb des Gebietes der Lähmung vor.
Diese Regel ist durch die Erfahrung bewährt für das Gebiet der
Spinalnerven, sie erleidet vielleicht für einige Hirnnerven Einschrän-
kungen, worauf später eingegangen wird. Denkbar wäre es, dass
einzelne centrale Elemente lädirt würden, dass centrale individuelle
Lähmungen vorkämen, die Erfahrung aber weiss von ihnen nichts.
Höchstens sieht man bei kleinen Emden Verletzungen, dass die Beweg-
lichkeit einiger Finger mehr behindert ist, als die der anderen. Die
Eegel darf natürlich nicht umgekehrt werden, denn Lähmung en masse
kann auch durch peripherische Läsion entstehen, wenngleich dies
nicht gerade häufig ist.
Von den diffusen Lähmungen sind sicher centraler Natur die
hemiplegischen , d. h. Lähmung einer Körperhälfte, oder einer Ge-
sichtshälfte und eines Armes, oder eines Armes und eines Beines.
Monoplegien sowohl, als Paraplegien können centraler Natur sein,
brauchen es aber nicht zu sein.
Symmetrie der Lähmung lässt keinen sicheren
Schluss auf die Localisation der Läsion zu, denn begreif-
72 Untersuchung des Bewegungsapparates.
licher Weise können Kernläsionen symmetrische Lähmungen ebenso-
wohl wie centrale Läsionen bewirken und erfahrungsgemäss können
auch Erkrankungen gemischter Nerven symmetrisch auf beide Seiten
vertheilt sein. Immerhin wird Symmetrie der Lähmung ceteris pari-
bus für eine Läsion an der Stelle sprechen, wo die für symmetrische
Theile bestimmten Fasern zusammenliegen, d. h. im G-ehirn oder
Rückenmark, oder auch in den" vorderen Wurzeln.
Vorhandensein der Entartungsreaction ist fast stets
die Wirkung einer peripherischen oder einer Kernläsion.
Man hat zwar neuerdings einigemale partielle Entartungsreaction
bei cerebraler Lähmung gefunden, doch ist ein solches Vorkommen
wohl eine grosse Seltenheit und in praxi kann man sich immerhin
an die Eegel halten. Sie darf nicht umgekehrt werden, denn einmal
kommen leichte Läsionen des Nervenstammes ohne EaR sehr oft vor,
zum andern fehlt die EaR fast stets bei Lähmungen durch einfache
Muskelatrophie, und drittens ist bei gewissen Kernläsionen die EaR
nicht immer nachzuweisen. Bei spinaler progressiver Muskelatrophie,
bei progressiver Bulbärparalyse und bei amyotrophischer Lateral-
sklerose handelt es sich darum, dass die Zellen des Kerns (Vorder-
horns) eine nach der anderen absterben. Es muss demnach eine
Anzahl Nerven- und Muskelfasern in degenerativer Atrophie be-
griifen sein; diese befinden sich aber verstreut zwischen noch
gesunden Fasern. Nur wo gleichzeitig eine grössere Zahl atrophi-
render Fasern sich findet, gelingt es der elektrischen Untersuchung,
die EaR nachzuweisen. In der Regel ist dies schwer, misslingt dem
weniger Geübten fast stets und oft ist es gar nicht möglich. Auch
da, wo EaR sich findet, zeigt die Mehrzahl der kranken Muskeln
nur einfache Verminderung der Erregbarkeit.
Bei diffuser Lähmung lässt diffuse Atrophie nur
dann auf peripherische Läsion schliessen, wenn EaR
besteht. Das Fehlen von Atrophie bei diffuser Lähmung macht
die centrale Natur wahrscheinlich, macht sie nahezu sicher, wenn
die Lähmung schon längere Zeit, etwa einen Monat besteht. Periphe-
rische Lähmungen ohne Atrophie kommen nämlich nur bei leichter
Läsion vor und pflegen nach einigen Wochen wieder verschwunden
zu sein.
Das Vorhandensein individueller Atrophie macht
jederzeit die Existenz einer peripherischen oder einer
K e r n 1 ä s i o n w a h r s c h e i n 1 i c h.
Das Vorhandensein der Sehnenreflexe bei completer
Lähmung beweist die centrale Natur der Läsion. Jede
Motilität. Lähmimg. 73
spastische Lähmung setzt eine centrale Läsion voraus.
Eine scheinbare Ausnahme von dieser Regel könnte beobachtet wer-
den, wenn bei peripherischer Parese die Reflexerregbarkeit, sei es
durch peripherische Reize, sei es nach Art der Strychninvergiftung,
beträchtlich gesteigert wäre. Doch findet sich dann die Steigerung
der Reflexe nicht im Gebiete der Lähmung, ist z. B. nicht, wenn
der Triceps gelähmt ist, der Tricepsreflex gesteigert. Bisher sind nur
einige Fälle verbreiteter peripherischer Neuritis bekannt, wo die Sehnen-
reflexe gesteigert waren, es bestanden in ihnen nur Paresen und die
Muskeln, die durch Beklopfen der Sehnen zu lebhafter Contraction ge-
bracht werden konnten, waren nicht gelähmt. Auch sind derartige
Fälle so selten, dass sie in praxi vernachlässigt werden dürfen.
Das Fehlen der Sehnenreflexe kommt zwar viel häufiger bei
peripherischer Läsion als bei centraler vor, beweist aber an sich
nichts. Die Sehnenreflexe können nämlich auch durch centrale
Läsion aufgehoben werden. Sie fehlen manchmal beim plötzlichen
Eintritte einer Gehirnerkrankimg, nach schweren epileptischen An-
fällen, nach starken Insulten verschiedener Art, unter noch nicht
genügend bekannten Umständen bei Gehirngeschwülsten (besonders
Kleinhirngeschwülsten). Ferner scheinen die Sehnenreflexe bei einer
das Rückenmark ganz vom Gehirn abtrennenden Läsion zu erlöschen.
Endlich hat man in einzelnen Fällen bei Compression des Markes
Erlöschen der Reflexe beobachtet. Bei dem durch Shock erklär-
baren Fehlen der Reflexe kehren diese nach verhältnissmässig kurzer
Zeit zurück. In den anderen Fällen (gewisse Hirntumoren, voll-
ständige Durchtrennung des Markes, Compression) fehlen sie dauernd.
Es ist demnach nicht zulässig, aus dem Fehlen der Sehnenreflexe
allein auf eine Unterbrechung des Reflexbogens und damit auf eine
im weiteren Sinne peripherische Läsion zu schliessen.
Eine Läsion, die den motorischen Nerven oder
ausschliesslich den Kern (nicht zugleich die Pyramiden-
balin) trifft, verursacht jederzeit eine schlaffe Lähmung
und lässt, sobald sie die Leitungsfähigkeit aufhebt, die Sehnen-
reflexe verschwinden. Doch lässt sich das Fehlen der Sehnen-
reflexe für die Diagnose der Lähmung nur dann verwenden, wenn
nachgewiesen ist, dass sie mit dem Eintritte der Lähmung ver-
schwunden sind, oder wenn bei einseitiger Lähmung die Sehnen-
reflexe auf der nicht gelähmten Seite erhalten sind. Fehlen der
Sehnenreflexe kann nämlich auch durch Läsion des aufsteigenden
Schenkels des Reflexbogens oder des Verbindungsstückes zwischen
diesem und der motorischen Ganglienzelle bewirkt werden. Die
74 Untersuchung' des Bewegttngsapparates.
Selmenreflexe können dalier auch vor dem Eintritte der Lähmung
gefehlt haben. Wenn z. B. ein Tabeskranker, bei dem das Knie-
phänomen fehlt, eine Hemiplegie bekommt, besteht centrale Lähmung
mit Fehlen der Sehnenreflexe.
Bei Paresen scheint sich die Sache so zu verhalten: Die Sehnen-
reflexe können erhalten bleiben, so lange eine Anzahl von Muskel-
fasern in normaler Weise iimervirt wird, sie verschwinden aber,
sobald auch nur in der leichtesten Weise die G-esammtheit der moto-
rischen Elemente lädirt ist. Wenn z. B. im M. quadrieeps die Hälfte
Muskelfasern, sei es durch einfache musculäre Atrophie, sei es durch
Erkrankung eines Theiles der Cruralrsfasem, sei es durch Erkrankung
eines Theiles der Yorderhornzellen gelähmt ist, die andere Hälfte aber
gesund ist. wird Parese mit erhaltenem Kniephänomen vorhanden
sein. Wenn aber alle Fasern des X. cruralis einem massigen Drucke
ausgesetzt werden, so wird bei vielleicht ganz geringer Parese das
Kniephänomen fehlen.
So erklärt es sich, dass auch bei Paresen mit partieller Entartungs-
reaction die Selmenreflexe erhalten sein können. Wieviel Nerv-Muskel-
Elemente intact sein müssen, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen.
Das Vorhandensein der Hautreflexe bei completer
Lähmung beweist die centrale Läsion. Im Uebrigen sind
die aus dem Verhalten der Hautreflexe zu ziehenden Schlüsse noch
unsicherer als die auf die Selmenreflexe gegründeten. Das Fehlen
der Hautreflexe ist mit Vorsicht zu deuten, sie fehlen zum Theil
auch bei centraler Läsion vermöge der sogenannten Beflexhemmung.
können natürlich auch durch Läsion der centripetalen Bahn aufge-
hoben sein. Bei peripherischen Paresen pflegen die Hautreflexe dem
Grrade der Schwäche entsprechend herabgesetzt zu sein.
Krämpfe gelähmter Muskeln lassen nur dann auf eine centrale
Läsion schliessen, wenn eine directe Reizung der motorischen Nerven
unterhalb der Läsionstelle ausgeschlossen werden kann. Näheres
wird später bei der Localisation der Krämpfe beigebracht werden.
Fibrilläre Zuckungen begleiten in der Regel die degene-
rative Atrophie, besonders bei Vorderkornerkraiikung. und sind, da
sie bei einfacher Atrophie zu fehlen pflegen, von einer gewissen
diagnostischen Wichtigkeit. Doch darf man nicht vergessen, dass
einmal nicht ausnahmelos bei jeder degenerativen Atrophie die fibril-
lären Zuckungen sich zeigen, dass sie andererseits gelegentlich auch
da vorkommen, wo keine organische Läsion besteht.
Sensorische, vasomotorische Störungen sind für die
Unterscheidung zwischen peripherischer und centraler Lähmung ohne
Motilität. Lähmung. 75
wesentliche Bedeutung, die diagnostische Verwerthung solcher Stö-
rungen wird später besprochen werden.
Nach alledem sind die Hauptkennzeichen der centralen Läh-
mung : diffuse Lähmung', Fehlen der individuellen Atrophie, qualitativ
normale elektrische Erregbarkeit, Erhaltensein oder Steigerung der
Sehnenreflexe, beziehungsweise spastische Phänomene; die der peri-
pherischen und der Kernlähmung: individuelle Lähmung und Atro-
phie, Vorhandensein der Entartungsreaction , Fehlen der Kenexe.
Eigentlich pathognostisch ist kein Zeichen. Immer kommt es auf
die Gruppirung im einzelnen Falle an; die allgemeine Besprechung
bleibt immer ungenügend.
Bestehen gleichzeitig eine peripherische und eine centrale Läsion,
so kann die letztere nur unter bestimmten Umständen erkannt werden.
Besteht z.B. innerhalb des Gebietes centraler Lähmung eine Zone mit
degenerativer Atrophie, zeigen etwa einige Muskeln einer gelähmten
Körperhälfte coniplete Entartungsreaction, wie es bei Neuritis der
Hemiplegischen vorkommt, so wird die Diagnose nicht schwer sein, es
muss ausser der cerebralen Läsion eine peripherische bestehen. Bei Be-
sprechung der Localisation centraler Läsion werden einzelne Combi-
nationen Erwähnung finden. Decken sich aber die Gebiete der Läh-
mung, so wird in der Eegel die peripherische Läsion die centrale
verdecken. Ist z. B. die Cauda equina zerstört, so muss eine etwa
vorhandene Läsion des unteren Kückenmarkendes unerkannt bleiben.
Sind die Vorderhornzellen vollkommen degenerirt, so kann eine Er-
krankung der centralen Pyramidenbahnen keine Symptome machen.
Ist jedoch die peripherische Unterbrechung der motorischen Bahn nur
eine partielle, sind z. B. die Vorderhörner nur zum Theil erkrankt, so
kann die centrale Läsion, die Degeneration der Pyramidenbahn, an
der Steigerung der Sehnenreflexe und der Kigidität erkannt werden.
In den Fällen, wo bei der anatomischen Untersuchung Degeneration
der centralen Pyramidenbahn und der Vorderhörner gefunden wurde,
fehlten neben der atrophischen Lähmung die spastischen Phänomene
bald ganz, bestand bald nur Steigerung der Seimenreflexe, bald
Rigidität oder Contractur. Wie das Krankheitsbild sich gestaltet,
das hängt wohl ab einerseits von dem Stärkeverhältnisse zwischen
Seitenstrang- und Vorderhornerkrankung, andererseits von dem zeit-
lichen Verhältnisse beider, derart, dass bei starker und frühzeitiger
Erkrankung der centralen Bahnen die spastischen Erscheinungen
deutlich sind. Es besteht dann spastische Lähmung mit
Atrophie und in der Kegel mit partieller Entartungs-
reaction.
76 Untersuchung des Bewegnngsäpparates.
Die genauere Legalisation der peripherischen Läh-
mung und besonders die Unterscheidung zwischen Kern-
lähmung und peripherischer Lähmung im engeren Sinne
ist oft sehr leicht, kann aber auch schwer oder unmöglich werden.
Den wichtigsten Fingerzeig entnehmen wir dem Vor-
handensein oder Fehlen sensorischer Störungen. Das
erster e gestattet sowohl ein rein musculäres Leiden als eine iso-
lirte Erkrankung der vorderen grauen Substanz oder der vorderen
Wurzeln endgültig anszuschliessen. Demnach kann besonders eine
sogenannte Poliomyelitis, d. h. eine auf die Yorderhörner beschränkte
Entzündung, oder eine primäre Degeneration der Yorderhornzellen
nicht angenommen werden, sobald stärkere Schmerzen, Hyperästhesie,
Anästhesie nachgewiesen sind. Das Fehlen aber sensorischer Stö-
rungen gestattet einen positiven Schluss auf Yorderhornerkrankung
nicht, denn abgesehen von rein musculären Affectionen und isolirten
Erkrankungen der vorderen Wurzeln kommen wahrscheinlich nicht
allzu selten Fälle vor, wo die motorischen Fasern der gemischten
Nerven primär und isolirt erkranken, Fälle, deren Typus die ge-
wöhnliche Bleilähmung ist. Wir sind demnach bei der Localisation
peripherischer Lähmungen ohne Sensibilitätstörung auf anderweite
Unterscheidungsmerkmale angewiesen.
Aus der Ausbreitung der Lähmung' kann man nur dann
einen sicheren Schluss ziehen, wenn die Lähmung alle von Einem
Nerven versorgten Muskeln trifft. Dann kann man die
Läsion mit Sicherheit in diesen Nerven selbst verlegen,
denn schon im Plexus und in den vorderen Wurzeln ist die Gruppi-
rung der Fasern eine andere. Alle anderen Schlüsse aus der Ver-
theüung der Lähmung sind unsicher. E. Remak hat darauf hinge-
wiesen, dass Lähmung einer Gruppe fimctionell zusammengehörender
Muskehi am leichtesten durch eine Läsion bestimmter Territorien
der Yorderhörner zu Stande kommen könne, da in diesen Avahr-
scheinlich die Ganglienzellen fimctionell verbundener Muskeln bei
einander liegen. Er hat verschiedene Typen spinaler atrophischer
Lähmung aufgestellt. Dem Oberarnitypus , bei dem hauptsächlich
Deltoideus. Biceps, Brach, int., Supin. long, gelähmt sind, soll eine
Vorderhornläsion im oberen Theile der Halsanschwellung entsprechen.
Dem Yorderarmtypus, bei dem wie bei der Bleilähmung die Strecker
der Hand und der Finger leiden, die Supinatoren verschont werden,
soll eine Läsion im mittleren Theile der Halsanschwellung zu Grunde
liegen. Bei Lähmung der kleinen vom Ulnaris und Med. versorgten
Handmuskeln soll der unterste Theil des Halsmarkes in der Höhe
Motilität. Lähmung:. 77
des achten Hals- und ersten Brustnerven betroffen sein. Bei Läh-
mung- des Cruralisgebietes wird oft der M. sartorius verschont, leidet
dagegen oft der M. tib. ant. mit, bei Lähmung des Unterschenkels
bleibt der Tibialis oft frei, während er andererseits oft allein er-
krankt. I »emeiitsprechend soll der Kern des Tib. ant, in der Nähe
des Cruraliskernes im mittleren Abschnitt des Lendenmarkes liegen,
während in der unteren Hälfte desselben der Sartoriuskern neben
der Kernregion des Ischiadicus zu vermuthen ist. Aber Remak
selbst hat hervorgehoben, dass auch Läsionen der vorderen Wurzeln
und naheliegenden Plexusabsclmitte ähnliche Lähmungen bewirken
(z. B. Läsion des fünften und sechsten Halsnerven am Erb'schen
Punkte den Überarmtypus). Ausserdem ist nachgewiesen, dass die
Bleilähmimg durch Erkrankung der peripherischen Radialiszweige
entstehen kann. Andere Thatsachen machen es wahrscheinlich, dass
auch in anderen Fällen die Lähmung functionell verbundener Muskeln
nicht durch spinale, auch nicht durch Plexusläsionen zu entstehen
braucht, sondern dass die Function selbst, die besondere Anstrengung
gemeinsam arbeitender Muskeln, die individuelle Erkrankung ihrer
Nervenzweige bewirken oder wenigstens vorbereiten kann.
Dass eine rein motorische peripherische Lähmung nicht spinaler
Natur ist. kann unter Umständen der Verlauf beweisen. Wenn
nämlich eine solche Lähmung, die complet und von Entartungsreaction
begleitet war, heilt, so war sie sicher extraspinaler Natur. Es muss
dann die motorische Bahn zerstört gewesen sein, dass aber eine Re-
generation von intraspinalen Fasern und Zellen nicht existirt, ist
hinlänglich festgestellt.
Die Diagnose einer isolirteu Vorderhornerkrankung ist demnach
schwierig. Wir haben bis jetzt nur dann das Recht, sie als sicher hin-
zustellen, wenn das ganze Krankheitsbild einer klinisch und
anatomisch gesicherten Vorderhornerkrankung entspricht, Als
solche kommen hauptsächlich in Betracht: die acute Polionryelitis
uud die spinale progressive Muskelatrophie. Jene ist gekennzeichnet
durch plötzlichen Beginn (mit Fieber, oft mit Krämpfen) einer mehr
oder weniger ausgebreiteten, oft functionell verbundene Muskelgrup-
pen befallenden Lähmung. Die Lähmung nimmt nach Ablauf des
acuten Stadium wieder ab, die dauernd gelähmten Muskeln aber
werden rasch atrophisch und zeigen (meist complete) EaR. Stö-
rungen der Sensibilität oder der Sphincteren fehlen gänzlich. Die
Betroffenen sind meist Kinder, selten Erwachsene.
Der spinalen progressiven Muskelatrophie ist eigentümlich die
schleichende Entwickelung annähernd symmetrischer Atrophie, die
78 Untersuchung des Bewegungsapparates.
fast immer in den kleinen Handmuskeln,, seltener in den Schulter-
mnskeln beginnt, von fibrillären Zuckungen, gewöhnlich von (meist
partieller und nur hier und da nachweisbarer) EaE begleitet ist. Stö-
rungen der Sensibilität und der Sphincteren fehlen gänzlich. Die Be-
troffenen sind Erwachsene. Von der spinalen Muskelatrophie trennen
Manche die chronische Poliomyelitis. Diese soll rascher verlaufen
als jene und es soll bei ihr die Lähmung dem Schwunde vorausgehen.
Können wir nicht eine dieser Krankheiten annehmen, so mag zwar
die Vermuthuiig einer isolirten Vorderhornerkrankung gerechtfertigt
sein, eine bestimmte Diagnose aber ist nicht möglich.
Die Unterscheidung rein musculärer Lähmungen von peripheri-
schen Nervenläsionen kann ebenfalls Schwierigkeiten machen. Bei
jenen entspricht, soviel wir wissen, meist der Grad der Lähmung
dem der Atrophie, sind, so lange eine gewisse Menge gesunder con-
tractiler Substanz vorhanden ist, die Eeflexe erhalten, fehlt die Ent-
artungsreaction ebenso wie die sensorischen Störungen. Bei diesen
wird in der Eegel die Lähmung grösser sein als die Atrophie, wird
Atrophie ohne nachweisbare Entartungsreaction kaum vorkommen,
werden, wenigstens in der Eegel, sensorische Störungen vorhanden
sein, fehlen, sobald die Atrophie irgend erheblich ist, die Eeflexe.
Ausser der einfachen Muskelatrophie, die der Dystrophia muscul.
progr. eigen ist, und deren Diagnose durch die typische Verbreitung
der Atrophie, durch ätiologische Momente, kurz durch den Charakter
des ganzen Krankheitsbildes erleichtert wird, kommen besonders die
Atrophie der Muskeln bei Gelenkkrankheiten, vielleicht auch manche
nach festen Verbänden sich zeigende Lähmungen und Atrophien in
Betracht. Für die articulären Atrophien ist ausser dem Nachweise
der Gelenkerkrankung und der Beschränkung der Atrophie auf peri-
articuläre Muskeln die beträchtliche einfache Herabsetzung der elek-
trischen Erregbarkeit ohne jede Andeutung von EaE charakteristisch.
Dies gilt auch von den nach festen Verbänden beobachteten Läh-
mungen. Die Polymyositis endlich und die Trichinose sind durch
Beginn und Verlauf von den meisten Lähmungsformen getrennt.
Man könnte sie nur mit einer acuten multiplen Neuritis verwechseln :
das Fehlen aller Sensibilitätstörungen, das starke Oedem, der Nach-
weis der Trichinen bei Trichinose werden meist den Irrthum aus-
schliessen.
Die Existenz von sensorischen Störungen neben einer Lähmung
mit den Kennzeichen der peripherischen Läsion wird in weitaus den
meisten Fällen mit Eecht als Beweis für Erkrankung der gemischten
Nerven angesehen werden. Zunächst muss jedoch betont werden,
Motilität. Lähmung. 79
da ss initiale Schmerzen massiger »Stärke, die nur den Eintritt
der Lähmung begleiten, keinerlei loealdiagnostische Bedeutung be-
sitzen. Sie sind auch bei erwiesenen Kernlähmungen beobachtet
worden. Stärkere und andauernde Schmerzen, deutliche Hyper-
ästhesie, deutliche Parästhesien und Anästhesie zwingen, die Läsion
an einen Ort zu verlegen, wo motorische und sensorische Fasern von
ihr getroffen werden. Denkbar sind drei Fälle : Läsion der gemisch-
ten Nerven, Läsion der vorderen und hinteren Wurzeln durch eine
intravertebrale, aber extraspinale Erkrankung, Läsion der vorderen
und hinteren Hörner durch eine auf die graue Substanz des Rücken-
markes beschränkte Erkrankung. Zwischen diesen drei Fällen zu
entscheiden, wird in der Regel möglich sein.
Bei gleichzeitiger Läsion der vorderen und hinteren Wurzeln
werden wir sowohl auf beide Körperhälften vertheilte heftige Schmer-
zen und Parästhesien, Hyperästhesie der Haut und Muskeln und dann
Anästhesie, als motorische Reizerscheinungen und später atrophische
Lähmungen mit EaR zu erwarten haben, wohl nie werden heftiger
Rückenschmerz in der Höhe der Läsion, Empfindlichkeit und Steifig-
keit des betroffenen Abschnittes der Wirbelsäule fehlen. Die Aetio-
logie, der Verlauf, die objectiven Erscheinungen eines Wirbelleidens
u. s. w. werden dann die Diagnose, sei es auf eine Meningitis, eine
Spondylitis, eine Tumorbildung, lenken.
Eine auf die vordere und hintere graue Substanz beschränkte
Läsion, die bei der Syringomyelie oder Gliomatosis spinalis und bei
der seltenen centralen Rückenmarkblutung vorkommt, muss neben
degenerativer Atrophie Parästhesien und Anästhesie bewirken.
Hyperästhesie und Schmerzen sind gewöhnlich nicht vorhanden, sie
sind nur dann zu erwarten, wenn ausnahmeweise der Zerfall
sich bis zu den hinteren Wurzelfasern erstreckt oder Druckwirkungen
bestehen. In der Regel werden beide Körperhälften erkrankt sein
und die motorischen und sensorischen Symptome örtlich nicht zu-
sammenfallen, hier diese, dort jene auftreten, bald diese verbreitet
und jene umschrieben, bald umgekehrt sich zeigen. Der langsame,
schmerzlose Verlauf, die ausgedehnte, meist partielle, aber oft beträcht-
liche Sensibilitätstörung, zu der Ernährungstörungen sich zu gesellen
pflegen, die umschriebene Muskelatrophie, die sich der bei Amyotrophia
spinalis gleich verhält, aber einseitig oder unsymmetrisch ist, geben in
ihrer Gesammtheit ein charakteristisches Bild, dessen am meisten her-
vortretende Züge die eigenthümliche Anästhesie (fast immer Thermo-
analgesie) und die trophischen Störungen sind. Die Symptome der
Leitungsunterbrechung , d. i. spastische Parese am unteren Körper-
80 Untersuchung des Bewegungsapparates.
theile, fehlen oft. können aber doch auftreten, sobald die Neubildung
oder der Zerfall die Pyramidenbahnen schädigt. Am häufigsten findet
sich die Glioniatosis im Halsmarke und bewirkt dann Atrophie der
Arme mit Thermoanalgesie und trophischen Störungen. Es sind aber
auch vielfache andere Combinationen möglich, z. B. totale Anästhesie
eines Armes mit Aufhebung der Eeflexe ohne Lähmung, Anästhesie
des Armes auf der einen Seite, Muskelatrophie auf der anderen u. s. w.
In weitaus den meisten Fällen, in denen eine Lähmung mit dem
Charakter der peripherischen Läsion neben sensorischen Störungen
besteht, wird es sich um eine Erkrankung der gemischten Nerven
handeln. Sicher ist dies natürlich der Fall, wenn die Verbindung
der Lähmung und der Sensibilitätstörungen den Bezirken einzelner
Nerven entspricht. Die Diagnose fordert dann nur die Kenntmss
dieser Bezirke (vgl. den II. Theil). Meist gelingt es auch, zu bestim-
men, an welcher Stelle des Nerven die Läsion zu suchen ist, da
begreiflicher Weise die Bezirke der oberhalb der Läsion abgehenden
Aeste unversehrt sein müssen. Handelt es sich nicht um die Er-
krankung eines oder einiger Nerven, sondern um eine multiple Er-
krankung peripherischer Nerven, die in zerstreuten Herden auftritt,
so geben zuweilen einzelne sensorische Symptome einen Fingerzeig.
Druckempfindlichkeit der Nerven scheint nur bei
Erkrankung der Nerven selbst vorzukommen. Findet
man bei peripherischen Lähmungen die Nervenstämme bei der Pal-
pation schmerzhaft, treten bei Druck auf sie ausstrahlende Empfin-
dungen ein, so darf man eine Neuritis annehmen. Noch sicherer
wird die Diagnose, wenn der empfindliche Nerv sich deutlich ver-
dickt oder höckerig zeigt. Auch Druckempfindlichkeit der
Muskeln kommt am häufigsten bei Läsion gemischter Nerven vor
(ausserdem bei primärer Muskelerkrankimg und bei Wurzelläsion).
Dies Symptom hat deshalb eine besondere Wichtigkeit, weil es zu-
weilen als einzige sensorische Störung bei Erkrankungen gemischter
Nerven aufzutreten scheint und deshalb bei peripherischen Läh-
mungen, die mit Kernlähmungen verwechselt werden könnten, die
Diagnose erleichtert. Es ist eine bekannte Thatsache, dass die sen-
sorischen Störungen oft viel geringer sind, als man nach der Schwere
der motorischen Störungen erwarten sollte. Wie dies zu erklären
sei, weiss man nicht recht. Man sagt gewöhnlich, die sensiblen
Nerven seien widerstandsfälliger gegen manche Schädlichkeiten,
Druck u. s. w., als die motorischen.
Aus der Beschaffenheit der die Lähmung begleitenden Anästhesie
ist ein sicherer Schluss nicht zu ziehen, zwar spricht complete
Motilität. Lähmung-. 81
Anästhesie ceteris paribus für eine periplierische Läsion, doch kommen
bei dieser auch alle möglichen Formen partieller Anästhesie vor
(näheres s. bei Anästhesie).
Eine gewisse diagnostische Bedeutung hat das Oedem, das sich
oft bei Neuritis und multipler Nervendegeneration, besonders auf
Hand- und Fussrücken, zeigt, bei Kernläsionen gewöhnlich fehlt.
Ernährungstörungen der Haut u. s. w., die die Lähmung
begleiten, leisten diagnostisch nicht mehr als die' Anästhesie, da
sie ohne diese sich nicht zeigen und wohl oft direct von ihr ab-
hängig sind.
Bisher ist angenommen worden, dass es sich um eine einheit-
liche Läsion handele, sollte es sich um Läsionen verschiedenen Sitzes
handeln, sollte z. B. neben einer Yorderhornerkrankung eine Degene-
ration peripherischer sensibler Nerven in gleichem Bezirke bestehen,
so wird eine richtige Diagnose nicht möglich sein. Wahrscheinlich
kommt eine Combination derart, dass dieselbe Schädlichkeit die moto-
rische Bahn in verschiedener Höhe lädirt, sowohl die motorischen
Rückenmarkzellen als primär die motorischen Nerven trifft, nicht
allzu selten vor. Auch sie dürfte nicht zu erkennen sein. Wohl
aber muss man an ihre Möglichkeit denken, wenn die Diagnose
zwischen Kern- und peripherischer Läsion schwankt. —
Zur Localisation einer centralen Lähmung werden wir
hauptsächlich benutzen die Ausbreitung der Lähmung, begleitende
peripherische Lähmungen und sensorische Symptome.
Es ist ohne Weiteres ersichtlich (vgl. Schema Fig. 18), dass eine
Lähmung einer Körperhälfte durch eine Läsion nur erfolgen kann,
wenn diese Läsion ihren Sitz in der gegenüberliegenden Hirnhälfte
hat. Die Erfahrung hat ergeben, dass bei Ausschaltung einer Hemi-
sphäre nicht eine totale und complete Lähmung der willkürlich
beweglichen Theile der anderen Körperhälfte eintritt, sondern dass
nur diejenigen Theile wirklich gelähmt werden, die willkürlich ein-
seitig bewegt werden können, dass dagegen diejenigen Theile, die
stets nur in Gemeinschaft mit den symmetrischen Theilen der anderen
Seite bewegt werden, in ihrer Beweglichkeit nicht oder doch nur
wenig gestört werden, und zwar um so weniger, je weniger sie ein-
seitiger Willkürbewegungen fähig sind. Wird also die Willensbahn
einer Hemisphäre lädirt, so finden wir Lähmung des contralateralen
Armes und Beines, dagegen Lähmung, beziehungsweise Parese nur
des unteren Facialisgebietes, schwache Parese' der Zungenhälfte, der
Rumpfhälfte, keine Lähmung der Augen-, Kau- und Sprechmuskeln.
In der Regel ist auch die Lähmung des Armes stärker als die des
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 6
82 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Beines, entsprechend dem Umstände, dass die Beine meist gemeinsam
fchätig sind. Diesen Symptomencomplex : Hemiplegie der Glieder und
der unteren Gesichtshälfte (und der einen Zungenhälfte) bezeichnen
wir als totale Hemiplegie. Ihm entspricht eine Läsion der
anderen Hirnhälfte oberhalb der Stelle in der Brücke, wo die Facialis-
bahn sich von der der Glieder trennt. Wo diese Läsion die Willens-
bahn getroffen hat, ergiebt "sich meist aus den begleitenden Er-
scheinungen und dem Verlaufe. Es kann sich entweder um eine
Läsion der Willensbahn selbst oder um eine Läsion in deren Um-
gebung, die sie durch Druck oder sonstwie schädigt, handeln. Im
ersteren Falle besteht eine directe totale Hemiplegie, im letzteren
eine indirecte. Bei indirecter Hemiplegie werden alle Schlüsse
auf die Localität der Läsion viel unsicherer sein als bei directer.
Man wird aber jene um so eher annehmen können, je stärker die
sog. Allgemeinerscheinungen sind, unter denen die Lähmung eintrat
(Bewusstseinsstörung u. s. w.), oder die neben ihr bestehen (Stauungs-
papille, Pulsverlangsamimg u. s. w.), man wird diese diagnosticiren
dürfen, wenn entweder von vornherein die Hemiplegie ohne stärkere
Allgemeinerscheinungen auftrat, oder seit dem Beginne eine längere
Zeit verflossen ist, und zwar wird die Diagnose um so sicherer sein,
je grösser diese Zeit ist. Eine directe totale Hemiplegie wird
am ehesten von einer Läsion der Willensbahn in der
inneren Kapsel oder nahe über, beziehungsweise unter
dieser Stelle abzuleiten sein (vgl. Fig. 20, A). Indirecte Hemi-
plegie wird am häufigsten durch eine Läsion der der inneren Kapsel
benachbarten Stammganglien bewirkt, Läsionendes Centrum
ovale und der Hirnrinde bewirken seltener totale Hemiplegie,
da, wenigstens zur Entstehung einer directen Hemiplegie, der Herd
eine sehr grosse Ausdehnung besitzen muss (vgl. Fig. 20). Man wird
eine Erkrankung dieser Gegenden annehmen müssen, wenn die Hemi-
plegie allmählich aus Monoplegien entstanden ist, erst das Bein,
dann der Arm, dann das Gesicht gelähmt worden ist, oder umgekehrt.
Eine corticale Läsion wird auch durch das Bestehen partieller
Epilepsie, rhythmischer Zuckungen und anderer Reizerscheinungen
wahrscheinlich gemacht. Hemichorea und Hemiathetose sollen auch
häufig die durch Läsion der inneren Kapsel oder deren Umgebung
entstandenen Hemiplegien begleiten. Diese Symptome finden sich
besonders dann oft, wenn gleichzeitig Hemianästhesie besteht. Die
rechtseitige totale Hemiplegie ist meist mit Aphasie
verbunden. Meist stellt die Aphasie ein indirectes Symptom dar
und verschwindet nach einiarer Zeit. Besteht sie dauernd neben der
Motilität. Lähmung-.
83
Hemiplegie, so ist eine Läsion von beträchtlicher Ausdehnung an-
zunehmen, die sowohl die motorische Bahn als die Gegend des Sprach-
centrum trifft.
Sitzt die Läsion im Hirnschenkel, so kann sie ausser der
Willensbahn der einen Seite auch die Fasern des N. oculomotorius
der anderen Seite treffen (vgl. Fig. 19). Es deutet demnach totale
Hemiplegie mit gekreuzter (peripherischer) Oculomotoriuslähmung
auf einen Herd im Hirnschenkel. Bei Erkrankungen der Schädel-
basis folgt die gekreuzte Lähmung oft der Oculomotoriuslähmung.
Eine Hemiplegie ohne Facialislähmung, aber mit
Parese der Zungenhälfte (Abweichen der herausgestreckten
Zunge nach der Seite der Lähmung,
leichte Articulationstörungen) wird
auf die Strecke der Willensbahn
zu beziehen sein zwischen dem Ab-
gange der Facialisbahn und dem
der Hypoglossusbahn von der Py-
ramidenbahn, d. h. auf eine Läsion
in der Brücke oder der oberen
Hälfte der Oblongata. Ein
Blick auf Fig. 20 lehrt, dass halb-
seitige Herde im oberen Theile
der Brücke totale Hemiplegie ver-
ursachen können (C), Herde im
mittleren und unteren Theile Hemi-
plegie ohne Facialislähmung (zwi-
schen C und B) oder Hemiplegie
mit gekreuzter Facialislähmung (B).
Im letzteren Falle, bei alt er nir ender Hemiplegie, ist die
Facialislähmung eine Kern- oder peripherische Lähmung, hat dem-
nach die Kennzeichen der peripherischen Lähmung. Hemiplegie
mit gekreuzter Facialislähmung beweist eine Läsion
der der letzteren gleichnamigen Brückenhälfte. Jenach
dem Sitze des Herdes in der Brücke kann auch eine gekreuzte
Trigeminus- oder Abducenslähmung die Hemiplegie begleiten.
Die centrale Bahn der Hirnnerven verläuft im Hirnstamme wahr-
scheinlich nach innen von der Bahn der Glieder (vgl. Schema Fig. 18).
Es ist daher begreiflich, dass halbseitige Brückenherde, die die
Mittellinie etwas überschreiten, ausser den von einer Hemisphäre
kommenden motorischen Fasern zunächst auch die Fasern der an-
deren Hemisphäre für Gesicht und Zunge treffen. Es muss dann
6*
Fig. 19.
Querschnitt durch den Hirnschenkel bei secun-
därer Degeneration der rechten Pyramidenbahn
(nach Charcof). sn Substantia nigra, p Die
degenerirte und deshalb durchscheinende Pyra-
midenbahn. III. N. oculomotorius. AS Aquae-
ductus Sylvii.
84
Untersuchung des Bewegungsapparates.
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Jf.spina' y%!' V:M
Füj\ 20.
Schema der motorischen Innervation!) ahn für den Facialis und die Extremitätennerven.
Frontalschnirt durch Grosshirn, Hirnschenkel, Brücke, verlängertes Mark und Rückenmark.
(Nach Edinger. )
Motilität. Lähmung. 85
Hemiplegie mit doppelseitiger Facialis- und Hypoglossuslähmung ent-
stehen. Letztere aber bewirkt, auch wenn sie nur eine Parese ist,
schwere Störungen der Articulation. So erklärt es sich, dass Läsionen
der Brücke häufig' zu Anarthrie führen.
Eine Hemiplegie der Glieder mit gekreuzter Lähmung
des Hypoglossus, bez. des Vagoaccessorius, wird auf eine halb-
seitige Läsion der Oblongata oberhalb der Pyramidenkreuzung zu
beziehen sein.
Eine Hemiplegie der Glieder bei gleichseitiger peri-
pherischer Hirnner venlähmung kann nur durch eine Läsion
entstehen, die einen Pyramidenstrang nach der Kreuzung und die Hirn-
nerven derselben Seite trifft, demnach ihren Sitz ausserhalbderOb-
longata hat (Tumor, bes. Aneurysma der Art. vertebralis). Ist die Läh-
mung- der von den Hirnnerven versorgten Muskeln doppelseitig, so wird
sich die stärkere Lähmung auf der Seite der Gliederlähmung finden.
Hemiplegie der Glieder ohne Hirnnervenlähmung
wird man mit Wahrscheinlichkeit durch eine Läsion erklären, die
entweder die Willensbahn da trifft, wo die Gliederbahnen mit der
Gesichtsbahn noch nicht nahe zusammenliegen, d. h. in der Hirn-
rinde, beziehungsweise im Centrum ovale, oder da, wo die Bahnen
der Hirnnerven sich schon von denen der Glieder getrennt haben, d. h.
unterhalb der Pyramidenkreuzung (Hemipl. spinalis, s. unten). Hemi-
plegie der Glieder kann zwar auch durch eine umschriebene Läsion
der inneren Kapsel, des Hirnschenkels oder der Brücke, die die
Gesichtsbahn verschont, zu Stande kommen, indessen dürfte diese
Kntstehungsweise selten sein; die Symptome würden dieselben sein
wie bei einer Gliederhemiplegie durch Läsion des Stabkranzes. Eine
Hemiplegie der Glieder durch Läsion der Centralwin-
dungen, bei der die letztere selbstverständlich auf der der Lähmung
gegenüberliegenden Seite zu suchen ist, wird entweder nicht von
Sensibilitätstörungen begleitet sein oder, wenn diese vorhanden sind,
finden sie sich auf derselben Seite wie die Lähmung. Epileptische
Anfälle der gelähmten Glieder werden sich häufig zeigen. Die
partielle Epilepsie wird seltener die Läsionen des Centrum ovale
begleiten, auch Sensibilitätstörungen werden sich bei den letzteren
seltener finden als bei der entsprechenden Eindenläsion.
Die Hemipl egia spinalis, eine seltene Erscheinung, wird
wohl immer durch Läsion einer Hälfte des oberen Halsmarkes ent-
stehen. Ihr Characteristicum ist dann, dass sie zugleich mit Anästhesie
der gegenüberliegenden Glieder auftritt: Brown-Sequard'sche Läh-
mung (worüber Näheres bei den Monoplegien).
86
Untersuchung des Beweg-ungsapparates.
AB B'A'
Man spricht auch vou Hemipleg'ia cruciata, d. h. Läh-
mung' eines Armes und des gegenüberliegenden Beines. Diese
äusserst seltene Combination muss durch eine Läsion der Pyramiden-
kreuzung bewirkt werden, die so wirkt, dass sie die Fasern für
das eine Glied vor, die für^ das andere nach der Kreuzung trifft
(vgl. Fig. 21).
Die Form der partiellen Hemiplegie, wo nur Gesicht und
Arm betroffen sind, entsteht wohl nur durch Läsionen des
Centrum ovale oder der Gehirnrinde, es handelt sich dann sozusagen
um Combination zweier Monoplegien.
Bei allen cerebralen Hemiplegien von einer ge-
wissen Stärke ist auch die Kraft der nicht gelähmten
Glieder vermindert, und zwar ist in der Kegel das ge-
sunde Bein mehr geschwächt als der ge-
sund e A r m. Zuweilen sind beide Beine, wenigstens
zum Gehen und Stehen, nahezu gleich unbrauchbar.
so dass der Anschein einer mit Paraplegie ver-
bundenen Hemiplegie entsteht, obwohl nur eine
Gehirnläsion vorhanden ist. Dies merkwürdige Ver-
halten erklärt man gewöhnlich durch Annahme
einer abnormen Anordnung der Pyramidenbannen
mit Beziehung auf die Thatsache, dass zuweilen
bei einseitigen Gehirnherden eine doppelseitige
secundäre Degeneration im Rückenmark gefunden
worden ist, Eichtiger ist wohl die Annahme, dass
immer jede Hemisphäre mit beiden Körperseiten
durch Commissurfasern in Verbindung steht.
Ein mit der Hemiplegie gleichzeitig eintreten-
der tonischer Krampf der dem Willen entzogenen Glieder, die so-
genannte f r ü h z e i t i g e H e m i c o n t r a c t u r , deutet auf eine Reizung
der Willensbahn unterhalb der Stelle der Läsion, ist demnach als
Krampf, nicht als Steigerung des Muskeltonus aufzufassen. Diese
Form der Hemicontractur begleitet fast nur schwere, rasch tödtliche
Formen des apoplektischen Insultes und ist meist auf einen Durch-
brach der Blutung in den Seitenventrikel zu beziehen.
Später auftretende active Gontracturen, die durch abnorme
Steigerung des reflectorischen Tonus zu erklären sein dürften, lassen
ebensowenig wie die neben ihnen meist bestehenden passiven Con-
tracturen auf einen bestimmten Ort der Läsion schliessen, sie können
sich bei jeder centralen Unterbrechung der Willensbahn zeigen und
<js ist nicht bekannt, wovon es abhängt, dass sie in dem einen Falle
Schema der Hemiplegia
cruciata.
A = rechtsseitige Arm-
bahn, B = rechtsseitige
Beinbahn ; A' = links-
seitige Armbahn, B' =
linkss. Beinbahn.
Motilität. Lähmung. 87
stark ausgebildet, in dem anderen nur angedeutet (durch Steigerung
der Selinenreflexe) sind.
Eine cerebrale Monoplegie kommt zu Stande, wenn eine
die motorischen Theile der Hirnrinde oder der Stabkranzfaserung
im Centrum ovale treffende Läsion so geringe Ausdehnung besitzt,
dass sie nur die Gesichtsbahn, die Arm- oder Beinbalm unterbricht.
Da es sich um kleine Herde handelt, ist es begreiflich, dass cerebrale
Monoplegien fast nur durch directe Läsion entstehen. Sie werden
sehr häufig eingeleitet oder während ihres Bestehens unterbrochen
von Anfällen partieller Epilepsie, die auf die gelähmten Theile oder
doch auf die Seite der Lähmung sich beschränken. Ebenfalls häufig
ist ein gewisser Grad von Anästhesie der gelähmten Glieder bei
cerebraler Monoplegie, und zwar wird um so eher die Lähmung von
Sensibilitätstörung begleitet sein, je näher die Läsion der Einde
sitzt. Doch dürfte es sicher sein, dass auch Lähmungen, die durch
Läsionen der Gehirnrinde selbst bewirkt sind, nicht immer von Sen-
sibilitätstörung begleitet werden. Die Art der Anästhesie pflegt
insofern charakteristisch zu sein, als die Schmerzempfindlichkeit wenig-
verringert, dagegen das Vermögen, die Beschaffenheit der Dinge
durch Tasten zu erkennen, stärker beeinträchtigt ist. Insbesondere
leidet bei corticalen Paresen des Armes oft das stereognostische Ver-
mögen und das Vermögen, die Lage des Gliedes und seine passiven
Bewegungen zu beurtheilen.
Die isolirte cerebrale Lähmung der Gesichtsbahn, die Mono-
plegia facialis, zeigt keine von der sonstigen cerebralen Facialis-
lähmung abweichenden Charaktere. Wird auch die Zunge schief,
d. h. mit der Spitze nach der Seite der Lähmung abweichend, heraus-
gestreckt, zeigt sich die Zunge sonst in ihren Bewegungen gehemmt,
so spricht man wohl auch von Monoplegia facio-lingualis. Die Läsion
ist im untersten Drittel der vorderen Centralwindung (oder beider
Centralwindungen) oder in den darunterliegenden Stabkranzbündeln
zu suchen. Aus der Nachbarschaft dieses Ortes mit der Broca'schen
Stelle erklärt es sich, dass rechtzeitige Monoplegia facialis nicht
selten mit motorischer Aphasie verknüpft ist.
Es ist mehrmals beobachtet worden, dass auf beiden Seiten das
untere Drittel der vorderen Centralwindung durch symmetrische
oder nahezu symmetrische Herde lädirt war. Dann bestand complete
Lähmung des unteren Facialisgebietes, des Hypoglossusgebietes, der
Kaumuskeln mit allen den Functionstörungen, die diesen Lähmungen
zukommen. Eine derartige Diplegia facialis (die auch als cerebrale
Bulbärparaljrse oder als Pseudobulbärparalyse bezeichnet
88 Untersuchung des Bewegungsapparates.
worden ist) unterscheidet sich von einer durch Läsion der ent-
sprechenden Nervenkerne entstandenen Lähmung dadurch, dass ihr
die Kennzeichen der centralen Lähmung zukommen: Fehlen der
Atrophie und der Eiitartungsreaction, der fibrillären Zuckungen, Er-
haltenbleiben der Kenexe. Aus diesen Beobachtungen ist der Schluss
zu ziehen, dass in dem unteren Drittel der ersten Centralwindung
nicht nur die Gesichtsmuskeln der anderen Seite, sondern auch die
Zungen- und Kaumuskeln vertreten sind, dass aber eine einseitige
Läsion dieser Centra deshalb so wenig Symptome macht, weil die
betreffenden Muskeln stets auf beiden Seiten in Function treten, auf
sie also die oben (S. 81) angegebene Eegel Anwendung findet.
Eine Monoplegia brachialis, die die Kennzeichen der
centralen Lähmung trägt, ist auf eine Läsion des mittleren Drittels
der ersten Centralwindung (oder auch beider Centralwindungen) zu
beziehen, beziehungsweise auf eine entsprechende Läsion der Stab-
kranzfäserung. Sie kann den ganzen Arm befallen, ist aber oft nur
an einzelnen Abschnitten des Armes stärker ausgeprägt. Am schwer-
sten ist gewöhnlich die Hand geschädigt, während die Bewegungen
im Ellenbogen- und Schultergelenke relativ frei sind, umgekehrt können
auch die oberen Abschnitte mehr leiden als die Hand. Zuweilen
kommt es vor, dass die Streckbewegungen viel mehr beschränkt sind
als die Beugebewegungen. Auch scheint es, dass einzelne Finger
besonders schwer betroffen werden können.
Die cerebrale Monoplegia cruralis, die seltener als die
beiden anderen Formen beobachtet wird, entspricht einer Läsion
der oberen Abschnitte der Centralwindungen, besonders des Lobulus
paracentralis. Auch hier soll gewöhnlich der unterste Theil des
Gliedes, der Fuss, am stärksten gelähmt sein. Die Monoplegie
des Beines scheint ebenso wie die des Armes fast nie eine complete
Paralyse darzustellen, es handelt sich immer um Parese, die groben
Bewegungen kommen noch leidlich zu Stande, die feineren sind un-
möglich. Da die beiden Paracentralläppchen einander gegenüberliegen,
ist es begreiflich, dass gewisse Schädlichkeiten beide treffen und so
eine Paraplegia cerebralis bewirken. Besonders bei Kindern ist die
cerebrale Lähmung beider Beine (mit Starre) oft beobachtet worden.
Von der cerebralen wird die spinale Monoplegia cruralis
leicht zu unterscheiden sein. Freilich wenn der Fall vorkäme, dass
nur ein Seitenstrang im Kückenmark erkrankte, möchte die Unter-
scheidung u. U. schwierig sein und würde weniger aus der Form
der Lähmung als den begleitenden Symptomen, dem Verlaufe u. s. w.
zu entnehmen sein. Thatsächlich kommt aber die spinale Lähmung
Motilität. Lähmung.
89
eines Beines wohl ausschliesslich durch Läsion einer Rückenmarks-
hälfte, sogenannte „Halbseitenläsion", zu Stande und stellt das
dar, was vielfach auch Brown-Sequard'sche Lähmung ge-
nannt wird. Das Oharacteristicum
dieser Form besteht in der Anästhesie
des anderen Beines. Da die senso-
rischen Fasern nach ihrem Eintritte
in das Rückenmark sich mit denen
der anderen Seite kreuzen, um dann
in der anderen Rückenmarkshälfte
aufzusteigen, während die motorische
Bahn schon in der Pyramiden-
kreuzung die Rückenmarkshälfte er-
reicht hat, in der sie bis zu ihrem
Austritte in die vorderen Wurzeln
verbleibt, muss eine halbseitige
Trennung des Rückenmarks gekreuzte
Lähmung und Anästhesie bewirken.
Genauer stellt sich die Sache folgen-
dermaassen dar. Man findet, wenn
etwa die linke Hälfte des mittleren
Brustmarks durchschnitten ist, An-
ästhesie des rechten Beines und der
rechten Rumpf hälfte bis zur Höhe der
Läsion (d), Anästhesie, an die sich
nach oben, ein schmaler Gürtel von
Hyperästhesie anschliesst. Man findet
ferner Lähmung des linken Beines,
das nicht anästhetisch, sondern viel-
mehr hyperästhetisch ist (a). Diese
Hyperästhesie, richtiger Hyperalgesie,
deren Entstehung ebensowenig wie die
des hyperästhetischen Grenzstreifens
recht zu erklären ist, pflegt vorüber-
gehender Natur zu sein, sich nach
einiger Zeit zu verlieren. Nach oben
grenzt an sie eine Zone dauernder
Anästhesie (b), die der durch den Schnitt herbeigeführten Läsion
hinterer Wurzelfasern entspricht. Auf sie folgt zuweilen wieder ein
hyperästhetischer Streifen (c, vgl. Fig. 22). Es wird angegeben, dass
das ..Muskelgefühl" des gelähmten Beines erloschen sei. Brown-
Schematische Darstellung der Haupterschei-
nungen bei Halbseitenläsion des 'Dorsal-
marks (links). (Nach Erb.) Die schräge
Schrafflrung bedeutet motorische und va-
somotorische Lähmung ; die senkrechte
Schraffirung bedeutet Hautanästhesie; die
Punktirung bezeichnet die Hauthyper-
ästhesie.
90 Untersuchung' des Bewegungsapparates.
Sequard meint daher, dass die diesem entsprechenden sensorisclien
Fasern die Kreuzung der anderen nicht mitmachen, sondern die Bahn
der motorischen Fasern einschlagen. An dem gelähmten Beine hat
man die Zeichen der Gefässlähmung beobachtet. Die Sehnenreflexe
sind begreiflicher Weise auf der Seite der Lähmung gesteigert, auf
der der Anästhesie nicht wesentlich verändert.
Da eine genau auf eine Bückenmarkshälfte beschränkte Läsion
nicht oft vorkommt, findet man sehr selten das reine Bild der
Brown-Sequard'schen Lähmung. Eine vorwiegende Erkrankung der
einen Rückenmarkshälfte, z. B. durch Druck eines an der Seite ge-
legenen Tumor, ist nicht allzu selten, es lassen sich dann sozusagen
die Züge jener Lähmung in dem Bilde der spinalen Paraplegie er-
kennen, derart, dass zwar beide Beine paretisch sind, aber das eine
stärker, während das weniger gelähmte deutliche Anästhesie zeigt.
Daneben bestehen Störungen der Blasen- und Darmthätigkeit, die
Sehnenreflexe sind beiderseits gesteigert u. s. w.
Doppelseitige centrale Lähmungen können, von doppelseitigen
Gehirnherden abgesehen, nur durch Läsion solcher Stellen entstehen,
wo die Bahnen beider Körperhälften nahe bei einander liegen, d. h.
durch Läsionen der Brücke und Oblongata einerseits, des Rücken-
marks andererseits.
Die gewöhnliche Form der centralen spinalen Lähmung ist die
Lähmung beider Beine, die Paraplegia oder Paraparesis
spinalis. Die obere Grenze der Lähmung zeigt an, in welcher
Höhe des Rückenmarks die Läsion oder das obere Ende der Läsion
zu suchen ist. Das Verhalten der Sensibilität, der Blase, des Darmes
u. s. w. giebt Aufschluss über die Ausbreitung der Läsion über den
Querschnitt des Rückenmarks. Sind nur die spinalen Pyramiden-
bahiien geschädigt, so entwickelt sich das Bild der sogenannten
spastischen Spinalparalyse, d. h. Lähmung der Beine mit
spastischen Phänomenen. Letztere sind in gewissem Grade bei fast
jeder Schädigung der Pyramidenbahnen vorhanden, doch ist ihre
Stärke verschieden. Bald findet man nur Steigerung der Sehnenreflexe,
bald active Contractur. In der Regel sind bei spinalen Läsionen
die spastischen Phänomene stark entwickelt, ihr Grad aber ist nicht
immer proportional dem der Lähmung. Zuweilen ist bei ziemlich
gut erhaltener Kraft jede Bewegung durch die Spasmen unterbrochen,
sind die Sehnenreflexe im höchsten Grade gesteigert. Immerhin ist
die Regel die, dass Spasmus und Lähmung einander ungefähr ent-
sprechen, zuerst besteht nur leichte Schwäche, rasche Ermüdbarkeit,
dabei finden passive Bewegungen noch kaum einen Widerstand; doch
Motilität. Lähmung-. 91
ist das Kniephänomen gesteigert und lässt sich das Fussphänomen
bewirken, dann wird das Gehen schwer und der Gang- ist deutlich
,. spastisch", d. h. die Kranken gehen in kleinen Schritten mit steifen
Beinen und Knieen, die Fussspitzen schleifen am Boden und bei
jedem Schritte wird durch reflectorische Coiitraction der Wade dem
Körper eine hüpfende Bewegung ertheilt, endlich verharren die dem
Willenseinflusse fast ganz entzogenen Beine in Contractur, gewöhnlich
Streckcontractur. Wie die erwähnte zuweilen vorkommende In-
kongruenz zwischen der Lähmung und den spastischen Phänomenen
zu erklären sei, weiss man nicht. Die Annahme, dass mit den Willens-
fasern besondere reflexhemmende Fasern verlaufen, deren Läsion
Ursache der spastischen Erscheinungen sei. bedarf auf jeden Fall
weiterer Begründung.
Bestehen nun neben der spastischen Paraplegie keinerlei Sen-
sibilität- und Ernährungsstörungen, keine Blasen- und Darmlähmung,
so muss man annehmen, dass die Läsion nur die spinalen Pyramiden-
bahiien schädige; doch darf man nicht ohne Weiteres auf ihre directe
isolirte Läsion schliessen. Die Erfahrung nämlich hat ergeben, dass
auch ein massiger Druck, der auf den ganzen Querschnitt des
Eückenmarks wirkt (Wirbelerkrankung, Tumor) ausschliesslich spas-
tische Paraplegie zur Folge haben, dass ferner eine Allgemein-
erkrankung des Gehirns, der chronische Hydrocephalus, in gleicher
Weise wirken kann. Freilich werden in jenem Falle gewöhnlich
Wurzelsymptome (Gürtelschmerz oder Parästhesien, Anästhesie) der
Diagnose den Weg weisen, werden in diesem Falle auf das Hirn
deutende Symptome (Schädelanomalien, Stauungspapille u. s. w.) selten
ganz fehlen. Lassen sich extraspinale Läsionen ausschliessen, so
wird man annehmen dürfen, dass es sich um eine Läsion der Pyra-
midenbahnen handele, die diese ausschliesslich oder vorwiegend trifft,
sei es, dass sie strangförmig degenerirt sind, eine Erkrankung, die
in Gemeinschaft mit Degeneration der Kleinhirnseitenstrangbahnen
selbständig im Rückenmarke vorkommt, sei es, dass Herde diffuser
Erkrankung vorwiegend im Gebiete der Pyramidenbahnen sich finden
(z. B. bei multipler Sklerose).
Paraplegie mit Anästhesie u. s. w. dagegen werden wir finden,
wenn an irgend einer Stelle des Rückenmarks der ganze oder nahezu
der ganze Querschnitt lädirt ist. Es muss dann ausser der centralen
Lähmung auch an deren oberer Grenze eine Kern-, beziehungsweise
peripherische Lähmung vorhanden sein, da an der betroffenen Stelle
des Rückenmarks auch die vorderen Hörner und Wurzelfasern lädirt
werden: die Ausdehnung dieser Lähmung muss abhängen von der
92 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Längsausdehnung der den Querschnitt einnehmenden (transversalen)
Läsion. Demnach wird sich das Bild folgendermaassen gestalten.
Eine transversale Läsion des Lendenmarks wird Läh-
mung und Anästhesie, die sich nach oben etwa bis zur Beckenapertur
erstrecken, Lähmung der Blase und des Darmes verursachen. Da-
neben wird ein Theil der Beinmuskeln, nämlich die, deren Yorder-
hornzellen lädirt sind, der degenerativen Atrophie anheimfallen. In
den gelähmten Theilen werden möglicherweise Parästhesien auftreten
und die Reflexe werden zum Theil verschwinden, spastische Phä-
nomene werden sich wenig oder gar nicht zeigen. Je nach der Höhe,
in der der Herd im Lendenmarke sitzt, und seiner Ausdehnung
werden die Symptome etwas verschieden sein. Ist das untere Lenden-
mark zerstört, so zeigen sich hauptsächlich im Gebiet des Plexus
sacralis degenerative Atrophie und Anästhesie, treten complete Läh-
mung der Blase und des Darmes (vollständige Incontinenz) und
Aufhebung der geschlechtlichen Thätigkeit ein. Der Achillessehnen-
reflex schwindet, das Kniephänomen kann erhalten sein. Ist nur
der obere Theil des Lendenmarks ergriffen, so beobachten wir ausser
Anästhesie der Beine und der Beckengegend degenerative Atrophie
im Gebiet des Plexus lumbalis, centrale Lähmung des Sacralgebietes.
Blase und Darm sind anästhetisch und dem Einfluss des Willens
entzogen, functioniren aber noch reflectorisch, das Kniephänomen
fehlt, der Achillessehnenreflex kann erhalten sein. Da grössere Herde
meist eine unregelmässige Gestalt haben, so wird häufig die Diagnose
sich mit der Annahme einer transversalen Läsion des Lendenmarks
begnügen müssen. Schon oben ist bemerkt worden, dass es zuweilen
nicht möglich ist, zwischen einer Läsion der Cauda equina und einer
solchen des unteren Markendes zu unterscheiden.
Eine transversale Läsion des Dorsalmarks wird be-
wirken Lähmung und Anästhesie des Unterkörpers bis zu einer
bestimmten Höhe des Rumpfes mit gesteigerten Sehnenreflexen,
oder auch Contractur der Beine, Störungen der Blasen- und Darm-
thätigkeit, der sexuellen Function, degenerative Atrophie einiger
Rücken-, Brust- oder Bauchmuskeln, häufig Gürtelgefühl an der
oberen Grenze der Anästhesie. Sitzt der Herd im unteren Brust-
marke, so werden Lähmung und Anästhesie etwa bis zum Nabel oder
bis zum Processus xiphoideus reichen, d. h. es werden ausser Bein-
uiid Beckenmuskeln auch die des Bauches und der Lendengegend
gelähmt sein. Bei Herden im oberen Dorsalmarke kann die Grenze
der Anästhesie an den obersten Rippen verlaufen, können auch die
Intercostalmuskeln und die tiefen Muskeln der Brustwirbelsäule
Motilität. Lähmung'. 93
gelähmt sein. Wenn der Herd eine geringe Längenausdehnung hat,
werden von ihm nur wenige Vorderhornzellen getroffen werden, die
degenerative Atrophie, die der Höhe des Herdes entspricht, kann
sich daher leicht der Beobachtung- entziehen.
Eine transversale Läsion des Halsmarkes unterscheidet
sich von der des Brustmarkes dadurch, dass ausser den Beinen und
dem Rumpfe auch die Arme von Lähmung, Anästhesie, von Par-
ästhesien ergriffen werden (Paraplegia cervicalis). Ein Herd
in der Halsanschwellung selbst wird Lähmung und Anästhesie der
Arme mit degenerativer Atrophie eines Theiles der Muskeln be-
Avirken, ein Herd in dem oberen Halsmarke Lähmung und Anästhesie
der Arme mit Steigerung der Sehnenreflexe und ohne degenerative
Atrophie, dagegen mit schweren Respirationstörungen (Schädigung
des N. phrenicus). Ausserdem können bei Läsionen des Halsmarkes
einige Symptome am Kopfe auftreten, Anästhesie oder Schmerzen
im Gesicht (aufsteigende Trigeminuswurzel), Zeichen von Lähmung
oder Reizung der im Halssympathicus verlaufenden Fasern. Lähmung
aller vier Glieder begleitet ebenso die Läsionen in der Gegend der
Pyramidenkreuzung, meist werden dann S3anptome von Seiten der
bulbären Nerven vorhanden sein.
Die Hautreflexe sind bei transversaler Rückenmarksläsion im
Gebiete der centralen Lähmung in der Regel erhalten, oft, doch nicht
so regelmässig wie die Sehnenreflexe, erhöht. In der ersten Zeit
nach dem Eintritte der Läsion können sie fehlen ; man nimmt dann
an, dass sie durch einen von der Läsion ausgehenden Reiz gehemmt
werden. Ausserdem scheinen sie dauernd zu erlöschen, wenn der
Herd jede Verbindung zwischen dem Gehirne und dem unteren Mark-
theile unterbricht. Im Gebiete der Kernlähmung fehlen sie selbst-
verständlich, sobald die Lähmung- complet ist. Die vorhandenen
Hautreflexe können zur genaueren Localisation der Querläsion ver-
wendet werden. Ist der Sohlenreflex normal oder gesteigert, so muss
die untere Hälfte des Lendenmarkes erhalten sein, Erhalteiisein des
Cremasterreflexes deutet auf eine Läsion oberhalb des 1. Lenden-
nerven, der Bauchreflex fordert Unversehrtheit des unteren Dorsal-
markes (Höhe des 8. bis 11. Dorsalnerven), der epigastrische Reflex
die des oberen Dorsalmarkes (Höhe des 4. bis 7. Dorsalnerven) u. s. w.
Dass in derselben Richtung die Sehnenreflexe ein jederzeit ver-
wendbares Merkmal abgeben, ist oben schon angedeutet. Hier sei
noch bemerkt, dass der Reflexbogen für das Kniephänomen in der
Höhe des 2. bis 4. Lendennerven, der für den Achillessehnenreflex
in der Höhe des 1. Sacralnerven zu suchen ist.
94 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Gefässlähmung findet sich in der Regel an den unterhalb der
Läsion gelegenen Theilen, doch lassen sich aus ihr ebensowenig wie
aus den die Anästhesie zuweilen begleitenden Ernährlingstörungen
der Haut, der Knochen u. g. w. diagnostische Schlüsse ziehen, die
nicht schon aus dem Verhalten der Lähmung und der Sensibilität-
störung hätten gezogen werden können. 1)
Im Bisherigen ist angenommen worden, dass die transversale
Läsion nahezu den ganzen Querschnitt treffe. Selbstverständlich
handelt es sich aber vielfach nur um unvollständige Unterbrechungen
der einzelnen Bahnen, ein Theil der Fasern ist zerstört, ein Theil
erhalten. Dementsprechend ist die Motilität nicht gänzlich auf-
gehoben, sondern nur vermindert, zuweilen geschehen die Bewegungen
zitternd oder ataktisch, die Blasenstörungen stellen sich in der ver-
schiedensten Form dar; besonders bemerkenswerth ist, dass die
Störungen der Sensibilität oft nicht gleichen Schritt mit denen der
Motilität halten, dass oft bei ziemlich beträchtlicher Lähmung nur
Parästhesien, nicht objectiv nachweisbare Anästhesie beobachtet
werden, ein Missverhältniss, das, wie oben bemerkt, besonders bei
den Drucklähmungen vorkommt.
Nie wird eine vollständige Unterbrechung der spinalen Bahnen
im oberen Cervicalmarke klinisch beobachtet, da sie hier absolut
tödtlich wegen Lähmung der Athmungsmuskeln ist. —
Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes möge es gestattet sein,
das Wichtigste aus der Lehre von der Localisation der organischen
Lähmung in kurzen Sätzen nochmals zusammenzufassen.
Centrale Lähmung ist stets diffus, halbseitig oder doppelseitig,
die Sehnenrefiexe sind bei ihr fast immer erhalten, meist gesteigert,
die Hautreflexe erhalten, zuweilen gesteigert, oder seltener durch
Reflexhemmimg aufgehoben; die elektrische Erregbarkeit ist quali-
tativ nicht verändert, es besteht keine oder (selten) diffuse iUrophie.
Die peripherische (beziehungsweise Kern-) Lähmung ist in der
Regel individuell, nur selten diffus, die Sehnenreflexe und die Haut-
reflexe sind in der Regel vermindert oder aufgehoben; es besteht
Atrophie der gelähmten Muskeln mit Entartungsreaction, welche letz-
tere nur bei rein musculären Erkrankungen fast ausnahmelos fehlt.
Von Läsionen der Gehirnrinde bewirken nur solche Lähmung,
die die Central Windungen mit Einschluss des Lobul. paracentralis
treffen. Alle anderen corticalen Läsionen können nur indirect, indem
1 ) Einige genauere Angaben über die Bestimmung des Ortes einer spinalen
Läsion findet man im IL Theile.
Motilität. Lähmung". 95
sie secundäre Fimctionstörungen der ebengenannten, sog. motorischen
Theile herbeiführen, Lähmung bewirken.
Läsion des gesammten motorischen Gebietes der Rinde bewirkt
totale Hemiplegie, solche des unteren Theiles der Centralwindungen
Monoplegia faciolingualis, solche des mittleren Theiles Monoplegia
bracliialis, solche des Lobul. paracentralis Monoplegia cruralis.
Alle corticalen Lähmungen sind häufig von epileptischen An-
fällen, von Anästhesie, von motorischen Reizerscheinungen (Ataxie,
Chorea, Athetosis, Tremor) an den gelähmten Theilen begleitet.
Läsionen der Pyramidenbahnen im Centrum ovale wirken ähnlich
wie die der Rinde.
Läsion der Pyramidenbahnen in der inneren Kapsel (im hinteren
Schenkel derselben) bewirkt totale Hemiplegie. Diese kann begleitet
sein von totaler Hemianästhesie. Besonders wenn dies der Fall ist,
finden sich oft auch motorische Reizerscheinungen (Hemichorea u. s. w.).
Läsionen der Centralganglien (Streifen- und Sehhügel) können
nur indirect totale Hemiplegie bewirken.
Läsionen des Hirnschenkelfusses bewirken totale Hemiplegie,
oft mit gekreuzter Oculomotoriuslähmung.
Läsionen der vorderen Brückenabtheilung können je nach dem
Sitze des Herdes totale Hemiplegie oder totale Hemiplegie mit ge-
kreuzter Facialislähmung, seltener gekreuzter Trigeminus-, Abducens-
lähmung, oder Hemiplegie der Glieder mit gekreuzter Facialis-
lähmung bewirken. Häufig sind dabei Articulationstörungen.
Läsionen der Pyramidenbahnen in der Oblongata bewirken Hemi-
plegie der Glieder, seltener Lähmung aller vier Glieder oder Hemi-
plegia cruciata, nebst Störungen im Gebiete der drei letzten Hirn-
nerven in wechselnder Combination : gekreuzte Hypoglossuslähmung,
totale Zungenlähmung, Gaumenlähmung, Schlinglähmung, Störungen
der Athmung und der Herzthätigkeit, zuweilen mit Albuminurie,
Glykosurie u. s. w. verbunden.
Läsionen einer Rückenmarkshälfte bewirken die Brown-Sequard-
sche Lähmung, Hemiplegia spinalis bei Sitz der Läsion im Hals-
marke, Monoplegia spinalis bei tieferem Sitze.
Läsionen beider Rückenmarkshälfteil bewirken Paraplegie. Sind
nur die spinalen Pyramidenbahnen getroffen, so besteht spastische
Lähmung ohne weitere Symptome. Ist ein grösserer Theil des Quer-
schnittes betheiligt, so gesellen sich zur spastischen Paraplegie Para-
anästhesie, Störungen der Blasen- und Darmthätigkeit und je nach
der Höhe der Läsion entsteht das Bild der cervicalen, dorsalen,
96
Untersuchung des Bewegungsapparates.
lumbalen Paraplegie. Ist eine vollständige Durclitreniimrg des Markes
vorhanden, so erlöschen die Eeflexe des unteren Theiles.
Läsion der spinalen PjTamidenbahnen und der Yorderhörner kann
spastische Lähmung- mit deg'enerativer Atrophie bewirken.
Läsion der Yorderhörner allein bewirkt schlaffe Lähmung- mit
degenerativer Atrophie, die gewöhnlich functionell verbundene Muskel-
gruppen befallt, ohne jede Sensibilitätstörimg. Ist der Process ein
sehr langsamer, so ist die Läh-
mung der Atrophie proportional;
verläuft er rascher, so ist die
Lähmung grösser als die Atrophie.
Läsion der Yorderhörner und
der Hinterhörner allein bewirkt
atrophische Lähmung mit par-
tieller Anästhesie, cl. h. Thermo-
anästhesie und Analgesie, ohne
Symptome von Leitungsunter-
brechung.
Läsion der peripherischen Ner-
ven bewirkt in der Kegel atro-
phische Lähmung mit Sensibilität-
störung, die den Bezirken be-
stimmter Nerven entspricht. Sie
kann aber auch klinisch der Yor-
derhornlähmung gleichen.
Läsion der Muskeln allein bewirkt Atrophie ohne Entartungs-
reaction, ohne fibrilläre Zuckungen, ohne Sensibilitätstörimg. —
Zu Fig. 23:
1. Reizung bei 1: Schmerz oder Hyperästhesie der Haut, möglicher-
weise Krampf; Läsion bei 1 : Hautanästhesie, Erlöschen der Hautreflexe.
2. Reizung hei 2: Muskelschmerz oder Hyperästhesie, zuweilen
Steigerung der Sehnenreflexe und Spasmus ; Läsion bei 2 : Muskelanästhesie
und Verlust des Tonus, beziehungsweise Relaxation des Muskels, Erlöschen
der Sehnenreflexe.
3. Reizung bei 3 (bez. v): Krampf; Läsion bei 3: Lähmung mit Re-
laxation, Erlöschen der Reflexe und degenerativer Atrophie.
4. Reizung bei 4 : ?, Krampf?, Parästhesien?, Läsion bei 4: Verlust
des Tonus, beziehungsweise Relaxation des Muskels und Aufhören der
Reflexe ohne Anästhesie (ist nur die Verbindung zwischen s und v zer-
stört, so fehlen nur die tiefen Reflexe).
5. Reizung bei 5 : Krampf; Läsion bei 5 : spastische Lähmung.
6. Reizung bei (i : Parästhesien ; Läsion bei 0 : Anästhesie mit Er-
haltung der Reflexe und ohne Relaxation.
Fig. 23.
E = Rücken mark. M == vrillkürl. Muskel. H —
Haut, a = Pyramidenbahn, p = Hinterstrang-
bahn, v = "\ orderhornzelle. h = hintere graue
»Substanz, m = motorischer Nerv, s = sensibler
Muskelnerv, ss = Hautnerv.
Motilitiit. Lähmung. 97
Die Unterscheidung functioneller, d.h. hysterischer
u n d o r g a n i s c h e r L ä h m u ng bietet selten grosse Schwierigkeit dar.
Für hysterische Lähmung ist in erster Linie charakteristisch
das Fehlen aller Symptome, die mit Sicherheit auf eine organische
Läsion schliessen lassen, in zweiter das Vorhandensein solcher Sym-
ptome, die erfahrungsgemäss oft hysterische Lähmung- begleiten.
Es fehlt gewöhnlich die Atrophie der Muskeln, ebenso fehlen
Ernährungstörungen der Haut, der Knochen u. s. w. In seltenen
Fällen begleitet die hysterische Lähmung eine rasch eintretende Ali-
magerung der gelähmten Muskeln.
Die elektrische Erregbarkeit ist vollständig normal.
Die Eeflexe, sowohl die Haut- als die Sehnenreflexe, können
zwar gesteigert sein, fehlen aller nie.
Es fehlen ferner Veränderungen des ophthalmoskopischen Bildes.
nie kommt Hemianopsie vor, nie Augenmuskellähmungen
Andererseits bestehen neben der hysterischen Lähmung oft andere
Symptome der Hysterie (psychische Veränderung, Krämpfe, Herni-
anästhesie, Ovarie u. s. w.), die freilich auch ganz fehlen können.
Jede hysterische Lähmung lässt sich willkürlich
nachahmen, sie ist eine Wülenslähmung. Nie kommt hier etwa
eine Deltoideuslähmung vor oder eine Serratuslähmung oder sonst
eine Lähmung von Muskeln oder Muskelgruppen, deren isolirte will-
kürliche Innervation nicht möglich ist. Immer besteht die hysterische
Lähmung in einem abnormen Zustande des Bewusstseins, der Willkür
ist der Weg versperrt, während im Schlafe, im lrypnotischen Zu-
stande die Beweglichkeit vorhanden ist. In leichteren Fällenbewegt der
Kranke die scheinbar gelähmten Theile, sobald er nicht an sie denkt,
kehrt die Lähmung wieder, sobald die Aufmerksamkeit den Theilen
zugewandt ist. Es bestehen daher Uebergänge zwischen der eigent-
lichen hysterischen Lähmung und der hysterischen Functionlähmimg,
bei der die Theile nur bei bestimmten Bewegungen nicht gehorchen.
Eine der häufigsten Formen ist die hysterische Stimmband-
lälimung, das Unvermögen beim Lautiren die Stimmritze zu schlies-
sen. Oft begleitet Anästhesie die Parese der Stimmbandadductoreu.
Sonst kommen nur functionelle Hemi-, Para-, Monoplegien in Frage.
Bei einer hysterischen Hemiplegie pflegt die Facialislähnnmg
zu fehlen, sind die Hautreflexe erhalten. Am wichtigsten scheint das
Verhalten des Bauchreflexes zu sein (Rosenbach), bei organischer
Hemiplegie fehlt er, oder ist doch herabgesetzt auf der ge-
gelähmten Seite. Ausnahmsweise begleitet die hysterische Hemi-
plegie auch eine Schwäche des unteren Facialisgebietes. Diese ist
H ö b i u s , Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 7
98 Untersuchung des Bewegungsäpparates.
oft nur bei absichtlichen Bewegungen vorhanden, fehlt beim Lachen,
Weinen, kann auch beim Sprechen fehlen. Mit ihr darf der Krampf
der anderen Gesichtshälfte nicht verwechselt werden. Nicht selten
nämlich besteht ein Spasmus, durch den der Mundwinkel empor-
gezogen, die Zunge hakenförmig gekrümmt wird. Dieser Wangen-
Zungen-Kranipf pflegt die der Gliederlähmung gegenüber liegende
Seite zu befallen.
Die Haltung der Glieder ist bei hysterischer Hemiplegie ziemlich
charakteristisch : der Arm hängt schlaff herab, das Bein wird nach-
geschleppt, nicht wie bei der organischen Hemiplegie gestreckt ge-
halten und beim Vorwärtschreiten im Bogen („mähend") nach vorn
geführt.
Bei hysterischer Paraplegie wird das Fehlen der Blasen- und
Darmstörungen eine dorsale Myelitis ausschliessen lassen. Vor Ver-
wechselung mit spastischer Spinalparalyse wird, in der Kegel wenig-
stens, das Vorhandensein anderweiter hysterischer Symptome, der
Ovarialhyperästhesie, der psychischen Veränderungen, der Krampf-
airfalle u. s. w. sowie der günstige Verlauf schützen, d. h. die Dia-
gnose wird auf der Auffassung' des ganzen Krankheitsbildes beruhen.
An sich allerdings kann eine Paraplegie durch isolirte Erkrankung
der spinalen Pyramidenbahnen der hysterischen Paraplegie voll-
ständig gleichen.
Eine fünctionelle Monoplegie unterscheidet sich von einer Mono-
plegie durch organische Läsion peripherischer Theile (etwa des
Plexus) oder der entsprechenden Kernzone durch das Fehlen der
obenerwähnten positiven Symptome genügend, von einer organischen
corticalen Monoplegie dadurch, dass diese gewöhnlich incomplet, jene
complet ist, dass bei dieser geringe Abstumpfung der Sensibilität,
bei jener oft vollständige Unempfindlichkeit sich zeigt, dass bei dieser
anderweite cerebrale Symptome bestehen, bei jener nicht u. s. w.
Die Anästhesie hat bei diesen hysterischen Lähmungen eine charak-
teristische Begrenzung, ihre Ausdehnung stimmt nicht mit anatomi-
schen Anordnungen überein, sondern sie wird durch Linien, die auf
der Längsachse des Gliedes senkrecht stehen, begrenzt, als wäre
das gelähmte Stück in eine anästhetisch machende Flüssigkeit ein-
getaucht worden. Der Verlauf, das Fehlen oder Vorhandensein
notorisch hysterischer Erscheinungen u. s. w. werden auch hier in
den meisten Fällen die Diagnose erleichtern.
Die obenerwähnte Functionlähmung kann sich sehr verschieden
darstellen. Hierher gehören das Unvermögen laut zu sprechen, bei
erhaltener Fähigkeit laut zu husten, die hysterische Schlinglähmung,
Motilität. Lähmung. Abnorme Bewegungen. 99
d. h. Unvermögen zu schlucken bei guter Beweglichkeit aller in
Betracht kommenden Muskeln, die Gehlähmung, d. h. Unfähigkeit
zu gehen bei guter Beweglichkeit der Beine im Bett. Die letztere
Form ist neuerdings als Astasie-Abasie (Blocq) bezeichnet worden.
Man hat unterschieden, je nachdem Gehen und Stehen ganz un-
möglich ist, oder nur das Stehen möglich ist, oder die nicht gehen
könnenden Kranken doch auf allen Vieren laufen, oder wie Vögel
hüpfen, oder strampelnd laufen u. s. w.
Wichtig ist, dass man diese hysterischen Zustände nicht mit
anderen seelischen Bewegungstönmgen verwechsele oder zusammen-
werfe. Für den Hysterischen ist seine Lähmung gerade so wirklich
wie eine organische Lähmung, er weiss von ihrem seelischen Ur-
sprünge nichts. Ganz anders ist es, wenn Kranke aus Angst vor
peinlichen Empfindungen diese oder jene oder alle Bewegungen
meiden ; sie wissen dann ganz gut, dass keine Lähmung besteht und
wie sie zu ihrer Fnbeweglichkeit kommen.
Beachtenswerth ist ferner, dass Combinationen organischer und func-
tioneller Lähmung vorkommen können. Wird z. B. bei einem dis-
ponirten Individuum durch eine Verletzung des Plex. brach, eine
Plexuslähmung hervorgerufen, so kann eine functionelle Lähmung
des Armes hinzutreten. Man findet dann totale Lähmung (und An-
ästhesie) des Armes, nur einzelne Muskeln aber zeigen die Charaktere
der peripherischen Lähmung: Atrophie, Veränderungen der elek-
trischen Erregbarkeit u. s. w.
Es kann die Frage entstehen, ob eine functionelle Lähmung
eine simulirte sei oder nicht. Deutliche Steigerung der Sehnen-
reflexe wird Simulation ausschliessen lassen, anderenfalls werden die
Aetiologie, die Physiognomie des ganzen Falles, der Verlauf u. s. w.
den Beobachter leiten.
h. Abnorme Bewegungen.
Die abnormen Bewegungen oder die Krämpfe im weitesten Sinne
des Wortes bieten sich der Beobachtung entweder ohne Weiteres
dar. oder sie begleiten, stören nur willkürliche Bewegungen, oder sie
treten nur unter anderweiten Bedingungen (psychische Erregung u. s. w.)
ein. Die Untersuchung hat festzustellen, ob abnorme Bewegungen
vorhanden sind, unter welchen Umständen sie auftreten, welche
Muskeln sich an ihnen betheiligen und welcher Art sie sind. Ueber
die Ursachen der Krämpfe wissen wir im Allgemeinen recht wenig,
es ist daher auch schwer, sie in rationeller Weise zu gruppiren.
100 Untersuchung des Bewegnngsapparates.
Die übliche Eintheilung ist eine rein symptomatische, nicht selten
werden Erscheinungen verschiedener Bedeutung unter einer Bezeich-
nung' zusainmengefasst. Auch ist der Sprachgebrauch durchaus nicht
fixirt. so dass u. U. die Benennung mehr oder weniger willkür-
lich ist.
a. Die Ataxie.
Bei jeder willkürlichen Bewegung contrahiren sich mehrere Mus-
keln. Damit die Bewegung richtig ausgeführt werde, muss die
Erregung sich auf die nöthigen Muskeln beschränken, aber jedem
von ihnen muss ein bestimmter Grad der Verkürzung ertheilt werden
und in bestimmter Weise muss der zeitliche Ablauf der Erregung
geregelt sein. Dies versteht man unter Coordination der Bewegung.
Einige Bewegungen, wie Saugen und Zugreifen, führt schon das
neugeborene Kind richtig aus. die meisten aber müssen erst im
Laufe des Lebens erlernt werden. Zunächst fehlt z. B. beim Gehen
die Coordination. die Bewegungen der Beine sind ungeordnet (in-
coordinirt. ataktisch) und erst nach vielen Versuchen lernt das Kind
die richtigen Muskeln in richtiger ^Veise zu brauchen. Aehnlich
ist der Vorgang beim Sprechen. Schreiben. Spielen von Instrumen-
ten u. s. w. Dass nicht nur alle Bewegungen ohne Sehen ausgeübt,
sondern auch von Blinden erlernt werden, lehrt die alltägliche Er-
fahrung. Inwieweit ohne andere Empfindungen als die der Augen
coordinirte Bewegungen erlernt werden können, darüber sagt uns
die Erfahrung nichts. Dass bei der Erlernung irgend complicirterer
Bewegungen die Empfindlichkeit der bewegten Theile entbehrt werden
könnte, erscheint kaum denkbar. Dass aber reichlich geübte Be-
wegungen auch von unempfindlichen Gliedern, sobald die Augen
thätig sind, richtig ausgeführt werden können, ist von vornherein
wahrscheinlich und wird durch die Erfahrung bestätigt. Immerhin
gilt dies nur von relativ einfachen Bewegungen, bei schwierigeren
wird wohl die Orientirung durch die Empfindungen der Glieder nie
ganz zu entbehren sein, da liier die Ueberwachung durch die Augen
nicht ausreicht, um die Bewegungen allen wechselnden äusseren
Umständen entsprechend zu verändern. Den Einfluss der Uebung
muss man sich, bei der Coordination wie überhaupt, wohl so vor-
stellen, dass im Gehirn und Bückenmark, wo alle Theile mit allen
verbunden sind, durch öftere Wiederkehr desselben Erregungs-
vorganges Bahnen mit geringem Widerstände geschaffen, sozusagen
Geleise ausgefahren werden.
• Bei Erkrankungen des Nervensystems kommt es nun nicht selten
vor, dass die Coordination der Bewegungen gestört ist. Ergiebt die
Motilität. Abnorme Bewegungen. Ataxie. 101
Prüfung der einzelnen in Frage kommenden Muskeln, dass jeder
willkürlich mit normaler Kraft contrahirt wird, und ist doch die
beabsichtigte Bewegung nicht richtig ausführbar, so muss die Ko-
ordination gestört sein. Dies ist Ataxie in der weitesten Bedeutung
des Wortes. Der Zustand gleicht etwa dem eines Kindes, das gehen
oder schreiben lernt, und kann dieser physiologischen Ataxie als
pathologische gegenübergestellt werden. Im Einzelnen kann bei der
Ataxie die Zahl der contrahirten Muskeln zu gross oder zu klein
sein, kann ein Theil der Muskeln zu stark oder zu schwach ver-
kürzt werden, können die betheiligten Muskeln zu früh oder zu spät
in Thätigkeit treten. Meist sind wohl alle drei Störungen gleich-
zeitig vorhanden. Die Fälle, wo nur die Ausbreitung der Inner-
vation zu gross ist, wo demnach unbeabsichtigte Bewegungen die
beabsichtigten begleiten, pflegt man nicht zur Ataxie zu rechnen,
sondern man spricht dann von Mitbewegungen. Eigentliche oder
echte Ataxie diagnosticiren wir da, wo der nicht ge-
lähmte Kranke Bewegungen, die er früher geschickt
machte, ungeschickt ausführt trotz Ueberwachung durch
die Augen.
Wenn wir auf Ataxie untersuchen, so prüfen wir zunächst relativ
einfache Bewegungen. Ataxie der Hände erkennt man daran, dass
ein vorgehaltener Gegenstand nicht rasch und sicher ergriffen wird,
sondern dass die Hand an ihm vorbeifährt, dass der Kranke, wenn
er seine Nase ergreifen soll, an die Stirne greift, dass er das Glas
oder den Löffel nicht zum Munde, sondern zur Nase oder zum Kinn
führt. Ist die Ataxie stark, so wird die Hand nicht nur bei diesen
einfachen Bewegungen das Ziel nicht erreichen, sondern planlos in
der Luft herumfahren, den Inhalt des Glases verschütten u. s. w. Ist
die Ataxie schwach, so werden zwar grobe Bewegungen noch ziem-
lich richtig ausgeführt, aber beim Zuknöpfen gerathen die Finger
unter einander, der Finger, der rasch durch ein Loch fahren soll,
stösst daneben, wenn der Kranke die ausgebreiteten Arme einander
rasch nähert und die Spitzen der Zeigefinger sich berühren sollen,
so treffen sich diese nicht. Die Schrift ist unsicher, „ ausfahrend",
das Spielen von Instrumenten wird unmöglich.
An den Beinen zeigt sich schwache Ataxie dadurch, dass es
dem Kranken nicht mehr gelingt, mit dem Fusse einen Kreis zu
beschreiben, ohne auszufahren, dass er mit der Ferse einer Seite
nicht rasch und sicher das Knie der anderen berühren kann, dass
er einen vorgehaltenen Gegenstand mit der grossen Zehe nicht trifft,
dass er beim Uebereinanderlegen der Füsse einen ganz unnöthigen
102 Untersuchung' des Bewegungsapparates.
Bogen beschreibt und etwa doch auf den anderen Fuss auftrifft u. s. w.
Ist die Ataxie stärker, so wird das Bein nicht mehr stetig, sondern
wackelnd erhoben und werden die Störungen besonders beim Stehen
und Gehen deutlich. Fordert man den Kranken auf, vom Stuhle auf-
zustehen, so bemerkt "man ein leichtes Zögern, er giebt sich erst
einen Austoss, steht dann rasch auf. schwankt aber mehrmals, ehe
er feststeht. Er steht nun breitbeinig, drückt die Kniee durch und
richtet den Blick auf die Füsse ; setzt er die Füsse neben einander, so
sehwankt er. auf einem Fusse kann er nicht stehen, oder er schwankt
doch und setzt rasch den anderen Fuss wieder nieder. Ist der Gang
noch sicher, so tritt doch Schwanken beim raschen Halt- oder gar
Kehrtmachen ein. Laufen, Springen, Steigen auf einen Stuhl, Trepp-
abwärtsgehen u. s. w. fallen schwer. Zuweilen geht der Kranke
gut vorwärts, kann aber nur ganz unbeholfen nach rückwärts gehen.
Bei stärkerer Entwicklung der Störung ist der a taktische Gang
auf den ersten Blick zu erkennen. Der Kranke steht mit steifen
und gespreizten Beinen, beginnt er zu gehen, so hebt er das Bein
übermässig hoch, wirft den Unterschenkel nach aussen und vor-
wärts und setzt dann den Fuss mit der Ferse zuerst stampfend zu
Bodeu. Während des „stampfenden", „schleudernden" Ganges heften
die Kranken die Augen auf die Füsse. Weiterhin werden die Be-
wegungen immer unsicherer und stürmischer, die Kranken werfen
ihre Beine nach allen Seiten, taumeln bald, stürzen bald vorwärts,
stossen an Personen und Gegenstände an und sind schliesslich trotz
zweier Stöcke nicht fähig, sich aufrecht zu erhalten. Das Gehen
ist dann unmöglich trotz wohlerhaltener Kraft der Beinmuskeln.
Seltener als an den Gliedern beobachtet man Ataxie an Kopf,
Hals und Rumpf, hier bewirkt sie Grimassiren, Articulationstöruiigen,
wohl auch unregelmässige Bewegungen der Augen (ataktischen Ny-
stagmus), Schwanken des Kopfes und Sumpfes beim Sitzen u. s. w.
Gewöhnlich werden als charakteristisch für die Ataxie besonders die
schroffen Bewegungen, das Schleudern, der ebenso übermässige als
unnütze Kraftaufwand bezeichnet. Es handelt sich da wohl zum Theil
um eine secundäre Störung, die Kranken suchen unwillkürlich ihre
Ungeschicklichkeit dadurch gut zu machen, dass sie sich absonderlich
anstrengen, iln-e Muskeln übermässig stark innerviren. Nicht alle
Ataktischen zeigen das Schleudern, besonders bei Frauen sind die
Bewegungen oft einfach unbeholfen.
Fast stets suchen die Ataktischen ihre Bewegungen mit den Augen
zu überwachen und wenn sie dies nicht können (bei geschlossenen
Augen «Hier im Dunkeln), nimmt gewöhnlich die Ataxie wesentlich
Motilität. Abnorme Bewegungen. Ataxie 103
zu. Bei geringer Ataxie bemerken die Kranken nicht selten deren
Vorhandensein nur daran, dass sie im Dunkeln auffallend ungeschickt
sind. Immerhin vermag* die Ueberwachung der Augen die Ataxie
nicht zu beseitigen. Vielmehr ist für die eigentliche Ataxie charak-
teristisch, dass die Bewegungen trotz der Ueberwachung durch di<^
Augen incoordinirt sind.
Von der bei Bewegungen eintretenden locomotorischen
Ataxie trennt man zuweilen die statische (Friedreich) und
versteht darunter das Schwanken, das eintritt, wenn die Kranken
den Arm ruhig ausgestreckt halten, mit der Hand einen gleichmässigen
Druck ausüben sollen, wenn sie sitzen, aufrecht stehen. Die statische
Ataxie ist ein Ausdruck sehr starker Ataxie.
Von der bisher beschriebenen Ataxie im engeren Sinne
pflegt man die Bewegungstörungen zu unterscheiden, die bei
mehr oder weniger vollständiger Anästhesie auftreten. Es sind
mehrfach Fälle beobachtet worden, wo Kranke mit Anästhesie der
Haut und der tiefen Theile alle Bewegungen richtig ausführten, so
lange sie sie sahen. Dagegen traten bei ihnen Störungen ein, sobald
sie die Augen schlössen oder in's Dunkle kamen. Die Kranken
lassen dann die Dinge, die sie in der Hand hielten, fallen, sie sind
unfähig, eine bestimmte Bewegung auszuführen, weil sie gar nicht
wissen, ob sie ihren Arm bewegen oder nicht, die Bewegung fällt
bald zu gross, bald zu klein aus, zuweilen bleibt das Glied ganz
ruhig, während die Kranken glauben, es bewegt zu haben. Bei
Anästhesie der Füsse können die Kranken ohne Hülfe der Augen
nicht gehen, noch stehen. Die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu
erhalten, ist direct abhängig von der Empfindlichkeit. Nur da-
durch, dass zu dem Gehirn fortwährend durch die centripetalen
Bahnen Nachrichten über die äusseren Verhältnisse gelangen, können
jederzeit den Muskeln beider Körperhälften die zur Erhaltung des
Gleichgewichtes nöthigen Innervationen zugeführt werden. Es kommt
in Betracht die Empfindlichkeit der peripherischen Theile (Haut,
Muskeln u. s. w.), des Auges und wahrscheinlich auch der Bogengänge
des Labyrinthes. Sind die peripherischen Theile unempfindlich, so
reicht die Orientirung durch die Sinnesorgane nothdürftig aus, das
Gleichgewicht zu erhalten. Wird aber auch das Auge ausgeschlossen,
so treten sofort Gleichgewichtstörungen ein. Steht ein Kranker
mit offenen Augen sicher, beginnt er aber zu schwanken, sobald er
die Augen schliesst (Brach-Eomberg'sches Symptom), so ist
dies ein Beweis, dass die Empfindlichkeit seiner Füsse gestört ist.
Sind die Füsse ganz anästhetisch, so stürzt der Kranke beim Augen-
104 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Schlüsse sofort zusammen. Um das Romberg'sche Symptom auch
bei schwacher Anästhesie nachweisen zu können, lässt man den
Kranken mit geschlossenen Füssen stehen, d. h. so, dass die inneren
Fussränder sich berühren. Dann ist die Erhaltung des Gleichgewichtes
begreiflicher Weise besonders schwierig. Noch mehr ist letzteres
beim Stehen auf einem Fusse der Fall; Kranke mit Andeutungen
von Anästhesie der Füsse sind ganz unfähig, bei geschlossenen Augen
auf einem Fusse zu stehen.
Blinde Ataktische schwanken zuweilen beim Stehen stärker,
sobald sie die Augen schliessen. Es handelt sich da wohl um eine
psychische Wirkung.
Eine Art von Pseudoataxie kann dadurch zu Stande kommen,
dass von den zu einer Bewegung nöthigen Muskeln einige mehr oder
minder paretisch sind. Wird die Muskelgruppe dann in der gewohnten
Weise innervirt, so muss die Bewegung ataktisch sein. Ist dabei
die Sensibilität normal, so muss die Störung vorübergehend sein, der
Wille lernt sich den veränderten Verhältnissen anpassen. Besteht
aber auch Anästhesie der betroffenen Theile, so wird die Unsicher-
heit der Bewegung kaum auszugleichen sein. Diese Pseudoataxie
erkennt man eben daran, dass bei der Einzelprüfung der Muskeln
sich da und dort Parese findet. Doch wird die Unterscheidung von
der wirklichen Ataxie nicht selten schwierig sein, da beide Störungen
neben einander bestehen können, besonders im Laufe der Zeit zur
Ataxie oft Parese hinzukommt. Die Pseudoataxie wird um so leichter,
eintreten, je weniger die Coordination durch Uebung gestärkt ist,
leichter bei Kindern als bei Erwachsenen.
Die Ataxie kann verwechselt werden mit den Chorea-
bewegungen. Jene zeigt sich bei willkürlichen Bewegungen, sei
es, dass diese eine locomotorische oder eine statische Wirkung haben,
die Choreabewegungen dauern auch bei vollständiger Kühe des
Körpers fort. Jene zeigt sich bei denselben Bewegungen immer in
nahezu derselben Weise, während diese bald da sind, bald fehlen,
in launischer Weise bald so, bald so auftreten. Jene lässt die ganze
Bewegung uncoordinirt erscheinen, bei dieser ist die Bewegung co-
ordinirt und nur während der Ausführung wird sie von einer anderen
Bewegung durchkreuzt, die oft auch den Charakter der Willkür hat.
Das Intention zittern unterscheidet sich dadurch von der
Ataxie, dass dort auch die Einzelbewegung zitternd ausgeführt wird,
dass dort die Abweichungen von der beabsichtigten Bewegung rhyth-
misch sind, bei der Ataxie unregelmässig. Immerhin kann das In-
tentionzittmi so intensiv werden, dass der rhythmische Charakter
Motilität. Abnorme Bewegungen. Ataxie. 105
undeutlich wird und die Unterscheidung von der Ataxie Schwierig-
keiten macht. Auch können beide Störungen gleichzeitig vorkommen.
Durch welche Läsion die Ataxie zu Stande kommt, wissen wir
nicht mit Bestimmtheit. Man hat früher viel über die Entstehung
der Ataxie gestritten. Neuere Versuche haben es wahrscheinlich
gemacht, dass doch in allen Fällen von Ataxie Störungen der Em-
pfindlichkeit, besonders der Empfindlichkeit der Gelenke bestehen
(G-oldscheider). Ist in diesen die Ursache der Ataxie zu sehen, so
wird ohne Weiteres begreiflich, dass alle Störungen, die die Bahn von
den Gelenkflächen zu den empfindenden Hirntheilen unterbrechen,
Ataxie bewirken können. Ausserdem kommen die vermutheten
„Coordination-Centra" inBetracht, Thatsächlich ist Ataxie beschrieben
worden bei Läsion der Grosshirnrinde (corticale oder Einden-
ataxie), des Kleinhirns (cerebellare Ataxie), der Oblongata
(bulbäre Ataxie), des Eückenmarkes (spinale Ataxie), der
Nerven (peripherische Ataxie). Wir finden echte Ataxie weitaus
am häufigsten bei Tabes. Da nun bei Tabes (und ebenso bei der
hereditären Ataxie oder Friedreichischen Krankheit) regelmässig die
Hinterstränge des Eückenmarkes erkrankt sind, läge es nahe, die
Ataxie von einer Läsion der Hinterstränge abzuleiten. Freilich ist
es bis jetzt nicht möglich zu sagen, welcher Abschnitt der Hinter-
stränge in Frage kommt, ob etwa die Erkrankung der Hinterhörner
von besonderer Bedeutung sei. Man wird, wenn man eine der
tabischen gleichende Ataxie trifft und wenn sonst Gründe vorliegen,
eine spinale Läsion anzunehmen, geneigt sein eine Erkrankung der
Hinterstränge zu vermuthen, z. B. wenn ein Kranker mit multipler
Sklerose ataktisch ist. Immerhin wird man in dieser Hinsicht vor-
sichtig sein müssen, es ist zweifellos, dass auch eine Erkrankung
peripherischer Nerven Ataxie bewirken kann.
Bemerkeiiswerth ist, dass die Diagnose der Tabes sich weit weniger
auf den Nachweis der Ataxie, als auf andere Symptome stützt (reflectorische
Pupillenstarre, Anisocorie, Atrophia n. opt, Fehlen der Sehnenreflexe,
Blasenstörung, lanzinirende Schmerzen, Anästhesie). Die Ataxie fehlt
fast immer während eines Theiles des Tab es Verlaufes, ja sie kann bis zum
Ende des Lebens fehlen und andererseits kommt Ataxie in ähnlicher Weise
wie bei Tabes auch ohne Tabes vor.
Neuerdings hat man darauf aufmerksam gemacht, dass langsam sich
entwickelnde Ataxie der Beine zusammen mit Parese und oft mit erhaltenen
Sehnenreflexen bei der combinirten Degeneration der Hinter- und Seiten-
stränge gefunden wird. An diese Erkrankung, über deren Verhältniss zur
106 Untersuchung des Bewegungsäpparates.
Tabes noch nichts Sicheres bekannt ist, wird daher bei den angegebenen
Erscheinungen zu denken sein.
Besteht Ataxie neben bulbären Symptomen, so wird eine Läsion
der Fortsetzungen der /Hinterstränge im verlängerten Marke wahr-
scheinlich sein.
Der tabischen gleichende Ataxie (der Beine) ist einige Male
auch bei cerebellaren Erkrankungen beobachtet worden. Man wird
die Diagnose nur machen können, wenn neben der Ataxie unzweifel-
hafte Symptome einer KLeinhirnläsion, z. B. die Erscheinungen eines
Kleinliiriitumor, bestehen, Symptome einer spinalen Läsion fehlen.
Die sogenannte „cerebellare Ataxie" hat eigentlich mit dem,
was man sonst Ataxie nennt, nichts zu tliun. Bei cerebellarer Ataxie
besteht Unfähigkeit, sicher zu gehen und zu stehen, die nicht von
Anästhesie der Beine abhängt. Der Kranke mit cerebellarer Ataxie
zeigt im Liegen keine Spur von Ataxie, soll er aber gehen, so
taumelt er wie ein Betrunkener, soll er mit geschlossenen Füssen
stehen, so schwankt er hin und her, fällt möglicherweise zu Boden.
Es handelt sich demnach ausschliesslich um Gleichgewichtstörungen,
die ganz und gar denen gleichen, die eine acute Alkoholvergiftung
hervorbringt. Aus der Existenz der cerebellaren Ataxie kann man
zwar stets eine Functionstörung des Kleinhirns erschliessen, doch
nicht ohne Weiteres eine directe Läsion des Kleinhirns. Seine Function,
das Gleichgewicht zu wahren, ist von der normalen Verbindung des
Centrum mit der Peripherie abhängig. Die durch Sensibilitätstörungen
und durch Augenmuskellähmungen bewirkten Alterationen des Gleich-
gewichtes werden sich leicht ausschliessen lassen. Schwerer ist dies
bei den Erkrankungen der halbzirkelförmigen Kanäle des Ohres,
beziehungsweise des Acusticus, die in ähnlicher Weise von cerebellarer
Ataxie begleitet sein können, wie die des Centrum im Kleinhirn
selbst. Ist die cerebellare Ataxie mit Gehörsstörungen, subjectiven
Geräuschen, objectiv nachweisbaren Erkrankungen des Ohres ver-
bunden, so wird man zunächst an eine Erkrankung der Nerven der
halbzirkelförmigen Kanäle denken, bestehen mit ihr Gehirnsymptome
(Stauungspapille. Hemiplegie, bestimmte Zwangsbewegungen, an-
dauernder heftiger Hinterkopfschmerz u. s. w.), so wird eine Er-
krankung des Kleinhirns selbst wahrscheinlicher sein. Schwindel
kann in beiden Fällen bestehen.
Wenn die Bewegungen paretischer Glieder ataktisch sind, so muss
in der Regel die Diagnose nach den für Lähmungen geltenden Vorschrif-
ten ohne Rücksicht auf die Ataxie gestellt werden. Erfahrunggemäss
können Lähmungen bei sehr verschiedener Localisation der Läsion
Motilität. Abnorme Bewegungen. Ataxie. 107
von Ataxie begleitet sein. Man hat die Ataxie z. B. bei Paraparese
durch spinale Querläsion, bei cerebralen Monoplegien und bei Hemi-
plegien beobachtet. Am häufigsten scheint Ataxie bei den von cor-
ticalen Läsionen abhängigen Paresen zu sein. Man wird berechtigt
sein, sie auf eine Stufe mit den übrigen diese Parese begleitenden
motorischen Reizerscheiiiungen zu stellen, mit dem Tremor, der
Athetose, der Chorea, und in der That finden sich gerade hier Zu-
stände, wo es schwer ist, zu sagen, ob man von Hemiathetosis. von
Hemichorea oder von Hemiataxie reden soll. Wovon es abhängt,
dass bald eine dieser Störungen die Parese begleitet, bald nicht.
dass bald diese Form sich zeigt, bald jene, wissen wir nicht. Neben
der corticalen Ataxie besteht häufig Anästhesie, d. h. Unvermögen,
die Lage des Gliedes und passive Bewegungen zu erkennen. Während
gewöhnlich die Ataxie, ebenso wie die Chorea, nach dem Eintritte
der cerebralen Lähmung sich entwickelt: posthemiplegische Ataxie.
Chorea, geht sie in selteneren Fällen der Lähmung voraus: prähe-
miplegische Ataxie, Chorea, Die Diagnose wird sich im letzteren Falle
auf die Halbseitigkeit des Symptomes, den Beginn an einem Gliede.
die Raschheit der Entwicklung, die etwaige charakteristische Sen-
sibilitätstörung, auf anderweite cerebrale Sjmiptome zu stützen haben.
AVas endlich die Ataxie angeht, die theils allein, theils mit
anderen nervösen Störungen als acute, gewöhnlich früher oder später
vorübergehende Erkrankung nach verschiedenen acuten Infections-
krankheiten (Diphtherie, Typhus, Variola, Morbilli, Scaiiatma, Erysi-
pels, Pneumonie, Malaria, Dj^senterie u.s. w.) auftreten kann, so wissen
wir über Art und Ort der Läsion sehr wenig. Für viele leichtere
Fälle ist es wahrscheinlich, dass so wenig wie bei der nach manchen
Richtungen analogen gewöhnlichen Chorea stärkere organische Ver-
änderungen im Nervensystem bestehen. In anderen Fällen kann
man multiple entzündliche Herde, die die Section einige Male
nachgewiesen hat, vermuthen. Diese mögen bald im ganzen Nerven-
system auftreten, bald auf Gehirn oder Rückenmark, oder periphe-
rische Nerven beschränkt sein. Es ist durchaus nicht nothwendig.
dass die acute Ataxie immer durch Läsion desselben Ortes entsteht.
Vielmehr spricht für das Gegentheil der LTmstand, dass das klinische
Bild der acuten Ataxie in verschiedener Weise sich darstellt; bald
sieht man die schleudernden Bewegungen, die wir am Tabeskraiiken
kennen, bald erinnert der Zustand mehr an die cerebellare Ataxie,
bald werden die Bewegungen denen kleiner Kinder ähnlich, so
dass es den Eindruck macht, als ob die Kranken nur das Gehen.
Essen u. s. w. verlernt hätten.
108 Untersuchung des Bewegiuigsapparates.
ß. Zittern.
Man spricht von Zittern (Tremor), wenn rasch sich folgende,
kleine, hin- und hergehende Bewegungen sich zeigen. Zittern wird
bekanntlich auch am Gesunden beobachtet bei rascher Abkühlung,
bei starker gemüthlicher Erregung, bei intensiver Ermüdung u. s. w.
Krankhaft ist ein Zittern, wenn es entweder ohne wahrnehmbare
Ursache oder auf abnorm schwache Eeize hin entsteht, oder zwar
auf dieselbe Weise zu Stande kommt wie beim Gesunden, aber durch
Stärke und Dauer abnorm ist.
Ist Zittern nicht ohne Weiteres wahrzunehmen, so prüft man,
ob es bei Bewegungen eintritt. Am ehesten zeigt es sich bei Be-
wegungen, die entweder Kraft oder eine gewisse Genauigkeit und
Sicherheit fordern, beim Heben eines schweren Gegenstandes, beim
Ausgestreckthalten der Hand oder des Fusses, beim Einfädeln einer
Nadel, beim Knüpfen eines Knotens, beim Schreiben, Essen, Trinken
u. s. w. Rasche, energische Bewegungen gelingen gewöhnlich ohne
Zittern, vielfach geübte leichter als ungewohnte. Im Allgemeinen
kann Schreiben als das feinste Reagens auf Tremor angesehen werden,
doch ist zu bemerken, dass schriftgewandte Personen oft noch ohne
deutliches Zittern schreiben, während sie z. B. beim Binden einer
Schleife oder dergl. deutlich zittern.
Es ist darauf zu achten, ob Bewegungen, die anfänglich sicher
ausgeführt wurden, nach Wiederholung zitternd geschehen, ob psy-
chische Erregung abnorm leicht Zittern hervorruft, ob schon geringe
Abkühlungen ebenso wirken u. s. w.
Bei jedem Zittern ist zu prüfen, welche Theile zittern, ob bei
Bewegungen nur die bewegten Theile oder auch andere zittern, ob
die einzelnen Oscillationen sich sehr rasch oder relativ langsam
folgen, ob sie streng rhythmisch sind oder nicht, wie gross sie sind,
ob sie unter einander gleich gross sind oder nicht, ob das Zittern
durch den Willen vermindert werden kann, welche Momente es
steigern, ob Pausen eintreten und auf welche Veranlassung.
Ueber die meisten dieser Momente erhält man in der elegan-
testen Weise Aufschluss, wenn man durch einen geeigneten Apparat
die Zitterbewegungen graphisch darstellt, Einige Curven, die bei
Benutzung eines dem Marey'schen Myographen ähnlichen Apparates
erhalten worden sind, stellen die Figg. 24 — 26 dar. Immerhin ist es
nicht wünscheiiswerth, durch derartige complicirte Apparate die kli-
nische Untersuchung zu erschweren. Nur ausnahmeweise werden
sie zu diagnostischen Ergebnissen führen, die nicht auf einfachere
Weise zu erhalten wären. Deshalb möge derjenige, der Laboratorium-
Motilität. Abnorme Bewegungen. Zittern.
109
methoden anzuwenden wünscht, die entsprechenden Specialschriften
einsehen.
Das Zittern des Kopfes stellt sich als Schütteln oder Nicken
dar, häufig" ist Zittern der Kaumuskeln (Zähneklappern), der Zunge.
auch Zittern einzelner Gesichtsmuskeln wird beobachtet. Das Zittern
der Augen wird gewöhnlich zum Nystagmus gerechnet. Tremor der
Kehlkopfmuskeln bewirkt das Zittern der Stimme. Manche Formen
Zittercurven (nach P. Marie).
A
Fig. 24.
Zittern bei Morbus Basedowii. A Zittern. B Chronograph.
A
S=10VD
Fig. 25.
Zittern bei Alkoholismus.
aiiarthrisclier Sprachstörung scheinen durch Tremor der beim Sprechen
bewegten Muskeln verursacht zu werden. An den Gliedern wird
die Art der Zitterbewegung von der Natur des Gelenkes abhängen.
Bekannt ist das „Schlottern der Kniee". Nicht nur am häufigsten,
sondern auch am mannigfaltigsten sind die Zitterbewegungen der
Hand und der Finger.
Bald zittern nur bestimmte Theile, bald zeigt sich, wie im Fieber-
frost, ein allgemeines Schütteln und Beben. Zittert nur ein Theil.
z. B. die Hand, so können doch mechanisch die Erschütterungen
110 Untersuchung des Bewegungsapparates.
sich dem ganzen Arme mittheilen. Das bei Bewegungen eintretende
Zittern beschränkt sich entweder auf den bewegten Theil oder ver-
breitet sich auf benachbarte Theile oder wird ein allgemeines. Bei
Bewegungen der Hantl z. B. kann auch der andere Arm oder der
Kopf oder das Bein zu zittern beginnen oder der ganze Körper in
Beben gerathen. Die Geschwindigkeit des Zitterns ist ebenso va-
riabel wie die Grösse der Oscillationen. Die Grenze nach unten ist
die eben wahrnehmbare Bewegung:, kommt keine Locomotion zu
Stande, so besteht auch kein Zittern. Die Contractionen einzelner
Muskelbündel, besonders die sogenannten fibrillären Zuckungen, haben
mit dem Tremor nichts zu thun. ') Die Grenze nach oben ist nicht
leicht zu bestimmen. Das Zittern geht stetig in den klonischen
Krampf über. Zittern mit grossen Oscillationen nennt man wohl
auch Schutt elkramp f. Es ist dem Tremor wesentlich, dass die
Oscillationen sich rhythmisch folgen : auf die Zeiteinheit kommen un-
gefähr gleich viele, wenn immer auch Schwankungen nicht ausge-
schlossen sind. Verwischt sich der rhythmische Charakter, so kann
es schwer sein, zu sagen, ob Zittern oder choreatische Bewegungen
bestehen, oder die Grenze zwischen Tremor und Ataxie zu ziehen.
Von Bedeutung ist ausserdem besonders die Frequenz der Oscilla-
tionen, über die unten einige Angaben folgen.
Es ist nicht bekannt, ob das Zittern durch abwechselnde Con-
traction und Erschlaffung, beziehungsweise durch Nachlassen der
Contraetion, derselben Muskeln oder durch abwechselnde Contractio-
nen. beziehungsweise wechselndes Nachlassen, antagonistischer Mus-
keln zu Stande kommt, wenngleich für die meisten Fälle das Letztere
wahrscheinlicher ist. Es ist auch im einzelnen Falle schwer, zu
entscheiden, ob das Zittern, das Bomberg die Brücke zwischen
Lähmung und Zuckung nannte, durch ein Zuwenig oder Zuviel der
Innervation zu erklären sei. Im Allgemeinen pflegt man ein para-
lytisches Zittern, dessen Typus bei der Ermüdung zu beobach-
ten ist, und ein Krampf zittern, dessen Typus der Schüttelfrost
ist. zu unterscheiden.
Von Alters her ist es gebräuchlich, zwischen einem Zittern,
das mir die willkürlichen Bewegungen begleitet, dem Intention-
zittern, und einem Zittern, das auch ohne solche besteht, zu unter-
scheide]]. Wenn eine strenge Trennung beider Arten nicht durch-
li Es ist unbegreiflich, dass ein so grober Irrthum wie die Verwechselung
der nach Durchschneidung des Hypoglossus in der Zunge auftretendes filrrillären
Zuckungen mir dem Zittern immer wieder reproducirt wird.
Motilität. Abnorme Bewegungen. Zittern. 111
zuführen ist, die eine in die andere übergehen kann, so ist es doch
zweckmässig- für den klinischen Gebrauch an jener Unterscheidung
festzuhalten.
Doch darf man das Intentionzittern nicht schlechtweg-, wie viel-
fach geschieht, mit dem paralytischen Zittern identificiren. Erstens
kann das letztere auch in der Kühe sich zeigen, wenn die Muskeln,
die zur Bewahrung der Haltung dienen, diesen Dienst nur zitternd
verrichten können, wenn z. B. der Kopf nur zitternd aufrecht er-
halten werden kann. Dann aber giebt es eine Form des Krampf-
zitterns, das spastische Zittern, das nur Bewegungen begleitet
und dessen Typus das Fussphänomen ist. Das spastische Zittern,
das sozusagen zwischen dem paralytischen und convulsivischen Zittern
steht, wird nach Art der übrigen spastischen Phänomene reflectorisch
durch Dehnung der Muskeln und Sehnen hervorgerufen, die entweder
mechanisch oder durch willkürliche Contraction der Antagonisten zu
Stande kommt.
Als Typus des Intentionzitterns wird gewöhnlich das bei m u 1 -
tipler Sklerose bezeichnet. Hier zeigt sich in vollkommener
Ruhe kein Zittern, oft fehlt es auch bei kleinen Bewegungen, so-
bald aber Bewegungen von einer gewissen Ausdehnung gemacht
werden, tritt es auf. Beim Beginne der Bewegung ist es gering,
steigert sich aber allmählich zu heftigem Schütteln, so dass die ge-
rade Linie in eine Zickzacklinie mit wachsenden Schwankungen
verwandelt wird. Die Zitterbewegungen sind annähernd rhythmisch,
aber es finden sich grössere Unregelmässigkeiten als z. B. bei dem
Zittern der Paralysis agitans, sowohl in Beziehung auf die wech-
selnde Grösse der Oscillatioiien als in Beziehung auf die zeitliche
Folge, so dass man nicht selten an die ataktischen Bewegungen er-
innert wird. Immerhin finden sich bei dem Intentionzittern nicht
die ungestümen, regellosen und zweckwidrigen Contractionen, die
bei Ataktischen die Bewegungen durchkreuzen oder vereiteln. Trotz
des Schütteins hält die Bewegung die eingeschlagene Richtung ein
und bleibt der oscillatorische Charakter der Bewegungstörung' ge-
wahrt. In der weitaus grössten Zahl der Fälle wird eine Ver-
wechselung des Intentionzitterns mit anderen Bewegungstörungen
nicht möglich sein. Am schwierigsten zu beurtheilen sind die selte-
nen Fälle, wo Intentionzittern und Ataxie neben einander vorkommen.
Die multiple Sklerose kann auch ohne Zittern vorkommen, aus
seinem Fehlen kann daher kein diagnostischer Schluss gezogen
werden. Das Vorhandensein des Intentionzitterns beweist zwar die
multiple Sklerose nicht schlechthin, macht sie aber immerhin sehr
112 Untersuchung des Bewegttagsapparates.
wahrscheinlich, wenn sonst Symptome einer cerebrospinalen Läsion
vorliegen, besonders kann es wichtig sein, wenn es gilt. Tabes und
multiple Sklerose zu unterscheiden. In diesem Sinne lässt sich be-
sonders auch das eigentümliche, die Bewegungen der Augen be-
gleitende Augenzittern, der Nystagmus, verwerthen. da diese Erschei-
nung wohl nie bei Tabes vorkommt.
Eine Verwechselung zwischen Paralysis agitans und multipler
Sklerose kann nicht leicht vorkommen, wenn man die Verschieden-
heit des Tremor bei beiden beachtet.
Fig. 27.
Schrift bei multipler Sklerose (nach Charcot).
Deutlich sind die Kennzeichen des convulsi vischen Zitterns bei
dem Zittern der Paralysis agitans. Hier handelt es sich um
streng rhythmische Oscillationen. die sich durchschnittlich in der
Secunde 5 — 6 mal wiederholen. Sie zeigen sich gewöhnlich zuerst
an einer Hand, ergreifen dann das gleichseitige Bein, um später
auch an dem anderen Beine und der anderen Hand sich zu zeigen.
Selten betheiligt sich der Kopf am Zittern, doch beobachtet man zu-
weilen auch Schütteln und Nicken desselben. Zittern des Unter-
kiefers und einzelner Gesichtsmuskeln. Eigentümlich sind die Be-
wegungen der Hand und der Finger: die im Metacarpophalangeal-
gelenke gebeugten Finger nähern sich dem Daumen und bewegen
sich mit diesem wie um AVoile zu spinnen, einen Bleistift oder eine
Papierkugel zu rollen, wie beim Zerkrümeln von Brot oder Drehen
von Pillen : gleichzeitig beugt sich das Handgelenk in raschen Stössen
gegen den Vorderarm, dieser gegen den Oberarm. Das Zittern dauert
bei jeder Stellung und Lage fort. Willkürliche Bewegungen ver-
stärken es nicht, im Gegentheile hört es im Beginne solcher auf.
äsl nach beim Drücken mit der Hand, beim Heben schwerer Gegen-
stände u. s. w. Dem entspricht, dass bei nicht zu starkem Tremor
die Schrift ihn oft nicht erkennen lässt (vgl. Fig. 25 a). Ist der
Motilität. Abnorme Bewegungen. Zittern.
11:
Tremor stark, so erscheint die Schrift wie in Fig. 29 b. Das Zittern
ist um so geringer, je ruhiger sich die Kranken verhalten, je weniger
sie irritirt werden; bei der geringsten Aufregung, wenn sie sprechen,
Haltung dor Hand bei Paralysis agitans (nach. Charcot). a Gewöhnliche Haltung bei massiger
Intensität der Krankheit, b Deformität der Hand, ähnlich der Haltung bei Arthritis deform.,
bei weit fortgeschrittener Krankheit.
wenn sie sich beobachtet fühlen, nimmt es beträchtlich zu. Es be-
steht nicht immer in gleicher Stärke, macht zuweilen mehrtägige
Pausen, oder hört wenigstens in einem Gliede auf, kehrt dann aber
(yy^A^- efu«^ c^7^^^*^/- y^&>
^2$^
^-Z^z^
J ff- tshae+nZ' /&?S.
53 jähriger Mann, typische 'rechtseitige) Paralysis agitans seit 1 Jahro. Beim Ergreifen der
Feder hört dor Tremor auf und während des Schreibens ist von ihm nichts zu sehen.
Ltf/pMtAMruS y^PV^jßW
-73
0o£&* m?
b
Fig. 29.
Schrift bei Paralysis agitans (nach Charcot).
oft mit erhöhter Kraft zurück und steigert sich zeitweise paroxys-
menartig.
Das Zittern der Paralysis agitans kommt nicht nur bei dieser
Krankheit, sondern hie und da auch als posthemiplegisches Zittern
M ö b i u s , Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 8
114 Untersuchung des Bewegungsapparates.
oder als vorübergehende hysterische Störung vor. Es ist daher nicht
zulässig, aus der Art des Zitterns allein die Paralysis agitans zu
diagnosticiren.
Dem Zittern bei Paralysis agitans am ähnlichsten ist der Tre-
mor essentialis '), der, wie jene, eine seltene Krankheit darstellt,
auf erblicher Anlage beruht und im höheren Alter auftritt. Auch
hier finden wir rhythmische Oscillationen, die sich 4 — 6 mal in der
Secunde wiederholen (vgl. Fig. 26). Bei geringer Stärke zeigt sich
der Tremor essentialis nur bei Bewegungen und besonders bei Er-
regungen, bei stärkerer hält er auch in der Ruhe an. Willkürliche
Bewegungen steigern ihn im letzteren Falle wenig oder nicht. Zum
Unterschiede von der Paralysis agitans zittert hier fast immer der
Kopf, der zuerst oder doch bald nach den Händen vom Tremor er-
griffen wird. Der Kopf schüttelt oder nickt, meist zittert auch der
Unterkiefer. Das Zittern der Hände besteht aus kleinen Oscillationen,
die Finger sind gewöhnlich nicht selbständig thätig, sondern machen
nur die Bewegungen der Hand mit. Die Beine bleiben oft verschont,
oder sind doch weniger am Zittern betheiligt als Kopf und Hände.
Etwas anders stellt sich das bei M o r b u s B a s e d o w i i häufige
convulsivische Zittern dar. Auch hier handelt es sich um rhyth-
mische Oscillationen, diese sind aber kleiner und folgen sich rascher
als bei Paralysis agitans und Tremor essentialis. Auf die Secunde
kommen 8 — 9 (vgl. Fig. 24). Bald wird der ganze Körper fort-
während von diesem leisen Beben erschüttert, bald zittern nur die
Glieder. Am Arme geschehen die Oscillationen hauptsächlich im
Handgelenke, die Finger werden nur passiv bewegt.
Dieses Zittern gleicht fast vollständig dem, das bei Gesunden
nach heftigen psychischen Erregungen beobachtet wird. Es ist ein
Ausdruck gesteigerter Empfindlichkeit, der sogenannten reizbaren
Schwäche des Nervensystems : Eeize, die beim Gesunden unwirksam
sind, bringen hier Wirkungen hervor, wie sie dort nur excessive
Reize haben. Dementsprechend beobachtet man ein ähnliches Zittern
bei verwandten Zuständen nervöser Schwäche, in der Recon-
valescenz von schweren Krankheiten, bei nervöser Erschöpfung
durch sexuelle Excesse, durch Lactation, durch Hunger,
durch Blutverluste u. s. w.
1) Weil der Tremor essentialis häufiger als in der Jugend im höheren Alter
beginnt, wird er oft auch als Tremor senilis bezeichnet. Er ist jedoch ganz, zu
trennen von dem häufigen Intentionzittern alter Leute. Die meisten über Tremor
senilis verfassten Arbeiten beziehen sich auf den convulsivischen Tremor essentialis.
Motilität. Abnorme Bewegungen. Zittern. 115
Eine diagnostische Bedeutung- kann das Zittern bei gewissen
Vergiftungen haben. Allbekannt ist der Tremor alcoholicus.
Beim chronischen Alkoholismus ist das Zittern eins der gewöhnlich-
sten Symptome: es beginnt meist an den Händen, verbreitet sich
allmählich auf Arme und Beine, selbst auf Lippen und Zunge und
kann endlich bis zu einem förmlichen Beben und Schütteln des Kör-
pers, wodurch Gehen und Stehen behindert wird, anwachsen. Es
ist im nüchternen Zustande, des Morgens, am stärksten, wird ge-
ringer nach dem Genüsse von Spirituosen. Es ist nicht immer mit
Muskelschwäche verbunden, sondern kann auch bei robusten Säufern
vorkommen. Das Delirium tremens hat vom Zittern seinen Namen.
doch ist bemerkenswerth, dass einerseits der Tremor im Delirium
tremens fehlen kann, andererseits bei Meningitis und auch bei febrilen
Delirien ein ganz ähnliches Zittern vorkommt.
't^yull^Ji^
Fig. 30.
Zitterschrift bei Alkoholismus.
Junger Mann, beginnendes Delirium tremens.
Ein dem Tremor der Säufer ähnliches Zittern sieht man oft
bei progressiver Paralyse, bei ab stinir enden Morphiumsüch-
tigen und angeblich auch bei acuter und bei chronischer Tabaks-
vergiftung.
Der Tremor mercurialis soll in der Form dem Zittern bei
Paralysis agitans sehr ähnlich sein. Er beginnt an Armen, Zunge,
Gesicht, verbreitet sich später auf die Beine. Anfangs tritt er als
geringes Zittern beim Sprechen und bei willkürlichen Bewegungen
auf, wird dann stärker und schliesslich zum Schüttelkrampf, der alle
Thätigkeit hemmt. Doch haben neuere Untersuchungen es wahr-
scheinlich gemacht, dass es sich bei dem als Quecksilberzittern be-
schriebenen Zittern um Hysterie gehandelt hat.
Sehr selten scheint Zittern bei Bleivergiftung zu sein. In einigen
von mir beobachteten Fällen glich der Tremor am meisten dem al-
koholischen. Doch lag vielleicht auch hier Hysterie vor.
Auch bei vielfachen anderen Vergiftungen ist gelegentlich Zittern
116 Untersuchung des Bewegungsapparates.
beobachtet worden, so bei chronischer Vergiftung* durch Aether, Jod?
Arsen, Seeale comutum, Copaivabalsani, Chinin, bei Pellagra u. s. w.
Jede rasche und starke Abkühlung der Körperoberfläche giebt
einen Schüttelfrost. Der pathologische Schüttelfrost ist am bekann-
testen als Fieberfrost. Daneben ist zu nennen der Katheter-
frost, der bei manchen Personen durch Application des Katheters
entsteht. Ihm analog sind die fieberlosen SeMttelkrämpfe, die ge-
legentlich starke Schmerzreize und scheinbar geringfügige Ver-
letzungen (z. B. Eindringen eines Domes unter den Fussnagel)
begleiten.
Bei Hysterischen kommen Schüttelfröste bei normaler Körper-
temperatur ohne nachweisbare Veranlassung vor. Ausserdem kann
die Hysterie jedes Zittern nachahmen und es ist in jedem Falle rath-
sam, an die Hysterie zu denken, auf das Vorhandensein anderer lryste-
rischer Erscheinungen, auf den Einfluss suggestiver Mittel zu achten.
y. Die fibrillären Zuckungen.
Als fibrilläre Zuckungen bezeichnet man Zuckungen einzelner
Muskelfaserbündel, die keine Ortsveränderung bewirken und nur bei
oberflächlichen Muskeln durch Gesicht und Gefühl wahrnehmbar sind.
Man sieht über den Muskel eine kleine schmale Welle hinweglaufen,
sind die fibrillären Zuckungen zahlreich, so „wogt" die ganze Ober-
fläche des Muskels. Die fibrillären Zuckungen bieten sich theils
ohne Weiteres der Beobachtung dar, theils treten sie nur zeitweise,
etwa bei Abkühlung der Haut ein. Anblasen, leichtes Klopfen auf
den Muskel kann ihr Eintreten fördern. Ausser auf ihre Stärke
ist auf ihre Ausdehnung zu achten.
Die fibrillären Zuckungen sind fast stets ein Zeichen degenera-
tiver (neurotischer) Atrophie, sie bestehen, so lange Muskelfasern
im Untergänge begrfffen sind. Am deutlichsten und dauerndsten
zeigen sie sich bei der chronischen Vorderhorn- (Kern-) Atrophie.
Bei primärer Läsion peripherischer Nerven sind sie zuweilen vor-
handen, können aber auch gänzlich fehlen, fehlen z. B. bei der ge-
wöhnlichen Bleilähmung. Sie fehlen fast ausnahmelos bei rein mus-
culärer Atrophie, ein diagnostisch sehr wichtiger Punkt,
Hier und da treten die fibrillären Zuckungen bei Gesunden oder
Nervösen auf, sie sind hier aber selten und ganz unbeständig.
d. Klonische und tonische Krämpfe.
Von Alters her theilt man die Krämpfe in klonische und
tonische, versteht unter diesen einen längere Zeit anhaltenden
Motilität. Abnorme Bewegungen. Klonische und tonische Krämpfe. 117
Tetanus (Starrkrampf), unter jenen rasche unwillkürliche Bewegungen.
Ein auf einen oder einige wenige Muskeln (z. B. die Wadenmuskeln)
beschränkter Tetanus, der von Schmerzen begleitet ist, heisst Cram-
pus. Ist der tonische Krampf über den grössten Theil oder die
Gesammtheit der Skeletmuskeln verbreitet, so spricht man oft schlecht-
weg von Tetanus, oder tetanischem Anfall. Die klonischen Krämpfe
können sich als einzelne Zuckungen darstellen, die von Zeit
zu Zeit in demselben Muskel, oder wechselnd bald in diesem, bald
in jenem Muskel auftreten, als rhythmische Zuckungen, die
in gleichen Intervallen sich zeigen, meist von gleicher Grösse sind
und vom Zittern durch das langsamere Tempo sich unterscheiden,
als (Konvulsionen, d. h. rasche, ausgiebige, kräftige und mehr oder
weniger ungeordnete Contractionen („Schlagen der Glieder"). Mit
dem Ausdrucke (Konvulsionen bezeichnet man gewöhnlich über den
ganzen Körper verbreitete Krämpfe, wie man in diesem Sinne auch
von Krämpfen, von einem Krampfanfalle schlechtweg spricht. Häufig
sind gemischte, tonisch -klonische Krampfformen.
Ueber Erscheinung und Bezeichnung der Krämpfe bei den ein-
zelnen Muskeln vgl. den II. Theil.
Ausser auf Form, Stärke, Ausdehnung der Krämpfe ist auf
die Nebenerscheinungen zu achten, ob in den vom Krämpfe befalle-
nen Muskeln Schmerz besteht, ob sonstige sensorische, vasomotorische,
secretorische Störungen bestehen, wie sich die Körpertemperatur
verhält, ob das Bewusstsein getrübt ist oder nicht. Besonders zu
achten ist auf das Vorhandensein von Druckpunkten. Bei manchen
Krampfformen findet man einzelne Stellen (besonders die Stellen,
wo die zu den befallenen Muskeln gehenden Nerven und Arterien
oberflächlich liegen, einzelne Dornfortsätze, aber gelegentlich auch
anscheinend indifferente Punkte), von denen aus man durch Druck
entweder den Krampf hemmen oder hervorrufen kann. Zuweilen
sind diese Druckpunkte zugleich Schmerzpunkte (s. unten). Eine
seltene Erscheinung, die darin besteht, dass kurze, blitzähnliche,
regellose Zuckungen, die während absichtlicher Bewegungen und
während des Schlafes aufhören und durch Hautreize gesteigert
werden, in den verschiedensten Muskeln beider Körperseiten auftreten,
ist von Friedreich als Paramyoclonus multiplex bezeichnet
worden.
Als eine eigenthümliche Art des tonischen Krampfes ist wohl
auch der als Myotonia congenita (Strümpell) bezeichnete
Zustand zu betrachten. Die Myotonie, das einzige Symptom der
Thomsen'schen Krankheit, besteht darin, dass bei Bewegungs-
118 Untersuchung des Bewegungsapparates.
versuchen jeder willkürlich bewegte Muskel von einem leichten
tonischen Krämpfe befallen wird, der die beabsichtigte Bewegung
hemmt und nicht durch den Willen beseitigt werden kann sie macht
sich besonders bemerklich im Beginne willkürlicher Bewegungen.
während sie nach deren mehrmaliger Wiederholung schwindet. Län-
gere Unbeweglichkeit, Ermüdung steigern das Leiden. Dabei sind
die Haut- und Selmeureflexe normal, ebenso bleibt die mechanische
und elektrische Nervenerregbarkeit unverändert, während die me-
chanische und elektrische Muskelerregbarkeit in eigenthümlicher
Weise verändert ist (myotpnische Reaction, s.S. 164), fehlen ander-
weite nervöse Störungen.
In der Theorie können Krämpfe durch Heizung jeder Stelle.
sowohl der motorischen als der sensorischen Bahn, entstehen. In
jenem Falle würde man von directen, in diesem von Reflex-
krämpfen sprechen. Bei directen Krämpfen wäre zu erwarten.
dass die Form des Krampfes der Eeizung proportional wäre. Dem-
nach könnten klonische directe Krämpfe nur durch intermittirende
Reize bewirkt werden. Doch ist es immerhin denkbar, dass patho-
logische Processe eine „krampflge Veränderung* im motorischen
Nerven verursachen können, vermöge deren er Reize nicht nur mit
Zuckung oder Tetanus, sondern auch mit klonischem Krämpfe be-
antwortet. Wahrscheinlich ist allerdings diese Annahme nicht, viel-
mehr wird man geneigt sein, alle klonischen Krämpfe für Reflex-
krämpfe zu erklären mit der Voraussetzung, dass in der grauen
Substanz die Bedingungen liegen, durch die ein Reiz eine Reihe
von Zuckungen bewirkt. Tonische Krämpfe und vereinzelte Zuckun-
gen können sehr wohl durch directe Reizung motorischer Theile
entstehen, doch lehrt die Erfährung. dass auch hier die reflectorische
Entstehung häufiger ist. Demnach stellt die grosse Mehrzahl der
Krämpfe Reflexkrämpfe dar. Der Krampf kann entweder durch
abnorme Reize oder durch abnorme Steigerung der Erregbarkeit
entstehen. Letzteres dürfte der häufigere Fall sein, doch ist im
einzelnen Falle die Entscheidung oft nicht möglich.
Die Diagnose hat den Krämpfen gegenüber einen schweren
Stand. Zwar ist es verhältnissmässig leicht, aus der Ausbreitung
des Krampfes zu erkennen, welche Theile des Bewegungsapparates
betheiligt sind (eine Aufgabe, zu deren Lösung im IL Theile die
Anleitung zu finden ist), doch ist damit der Ausgangspunkt des
Krampfes nicht erkannt, da die Läsion sich ja auch an dieser oder
jener Stelle des Empfindungsapparates befinden kann.
Im Allo-emeinen mögen folgende Bemerkungen als Wegweiser
Motilität. Abnorme Bewegungen. Klonische und tonische Krämpfe. 119
dienen. Bei um schri ebenen Krämpfen hat man zunächst zu
untersuchen, ob nicht im G e b i e t e d e s K r a m p f e s p a t h o 1 o g i s c h e
Veränderungen bestehen, die reflectoriscli den Krampf erregen können.
Denn es ist anzunehmen, dass die reflectorischen Bewegungen von
den Muskeln ausgeführt werden, deren Nerven mit den irritirten
sensiblen Fasern einen kurzen Reflexbogen bilden, in gleicher Höhe
liegen. Z. B. wird Blepharospasmus am häufigsten durch Reizung
der sensiblen Theile des Auges, besonders der Bindehaut, entstehen,
Trismus durch Läsionen in der Gegend des Kiefergelenks, durch
Zalmkrankheiten , Accessoriuskrampf . durch Läsion empfindlicher
Theile des Halses, etwa der oberen Halswirbel, Krämpfe der Glieder-
muskeln durch Gelenkerkrankungen, Periostitis oder dergl., Krämpfe
der Bronchialmuskeln bei Reizung der Bronchialschleimhaut, der
Darmmuskeln bei Reizung der Darmschleimhaut, der Blase bei
Reizung der Blaseuschleimhaut , Vaginismus bei Schleimhautaffec-
tionen des Scheideneinganges u. s. w.
Da es vorzukommen scheint, dass auch entferntere periphe-
rische Veränderungen vermöge eines weiteren, durch das Gehirn
gehenden Reflexbogens umschriebene Krämpfe verursachen können,
wird auch diese Möglichkeit ins Auge zu fassen sein. Es kommen
hier hauptsächlich in Betracht Erkrankungen der Geschlechtsorgane
und Darmreizung durch Eingeweidewürmer. Man betrachtet ge-
wöhnlich den Zusammenhang als bewiesen, wenn die entsprechende
Therapie einen positiven Erfolg hat.
Eine eigenthümliche Stellung nehmen die sogenannten B e -
schäftigungskrämpfe ein, deren Typus der Schreib krampt'
ist. Das Merkmal, dass nur bei einer bestimmten Thätigkeit der
Krampf eintritt, lässt diagnostische Irrungen vermeiden. Wahr-
scheinlich handelt es sich auch hier meist um reflectorische Con-
tractionen, die durch örtliche Reizungen in den überanstrengten
Theilen hervorgerufen werden.
Gelingt es nicht, bei umschriebenen Krämpfen in der Peripherie
eine reflectoriscli wirkende Ursache aufzufinden, so wird man dem-
nächst an eine Läsion der sensiblen Nervenfasern denken,
man wird untersuchen, ob etwa eine Erkrankung der Nervenstämme
des betroffenen Gebietes vorliegt, ob Hyperästhesie, Parästhesien u. s. w.
bestehen, ob Narben da sind, die die Nerven drücken könnten.
An einen durch directe Reizung des motorischen Nerven
bewirkten Krampf wird man nur da denken, wo man tonischen
Krampf der von einem Nerven versorgten Muskeln antrifft. In
einem von Fr. Schnitze beobachteten Falle wurde bei klonischem,
120
Untersuchung des Bewegungsapparates
man sehr vorsichtig sein.
in Anfällen auftretenden Facialiskrampf ein auf den Facialis
drückendes Aneurysma der Art. vertebral. gefunden, nur wenige
analoge Fälle sind bekannt, U. U. wird das reizende Etwas als
Geschwulst, Entzündung u. s. w. sich nachweisen lassen, zuweilen
wird Parese in dem betroffenen Nervengebiete bestehen.
Krämpfe, die durch spinale Läsionen hervorgerufen werden,
sind wohl immer tonisch. Ob sie direct oder reflectorisch entstehen,
ist natürlich schwer zu sagen, wenn auch das Letztere häufiger
der Fall zu sein scheint. Mit der Annahme spinaler Krämpfe muss
Der einzig sichere Fall spinaler Krämpfe
sind die nach gewissen Vergiftungen
(Strychnin, die Krankheit Tetanus)
auftretenden, verbreiteten tonischen
Krämpfe. Bei organischer Rücken-
markserkrankung ist fast nie etwas
von Krämpfen zu sehen. Selbst-
verständlich darf die Steigerung der
Reflexerregbarkeit, die bei Leitungs-
unterbrechung im Rückenmark in
dem unteren Stücke eintritt, nicht
mit Krämpfen verwechselt werden.
Als lebhafte Sehnen- oder Hautreflexe
sind wohl auch die scheinbar spontanen
Zuckungen, die hie und da an den
gelähmten Gliedern bei transversaler
Myelitis beobachtet werden, zu deuten.
* Es bleibt noch das grosse Gebiet
cerebraler Krämpfe. Durch orga-
Balpetriere^n^Boomeviire und „j^^ Läsion des GeMmS Werden,
soviel wir wissen, entweder allgemeine
oder halbseitige Krämpfe verursacht. Ob bei Läsionen der Oblongata
etwa Schling-, Athmungs- u. s. w. Krämpfe vorkommen, ist nicht
mit Bestimmtheit zu sagen.
Alle anderen Krampfformen dürften als hysterische zu betrachten
sein, so der doppelseitige Facialiskrampf ohne peripherische Veran-
lassung, die seltenen isolirten Zungenkrämpfe, die verschiedenen
Respirations-. Schrei-, Lach-, Weinkrämpfe. Als eine Form der
Krämpfe kann man auch die sogenannten Contracturen der
Hysterischen betrachten. Diese treten theils ohne nachweisbare
Veraidassung, theils bei ganz geringfügigen Anlässen ein und sind
durch ihre Stärke und Hartnäckigkeit merkwürdig. Meist zeigen sie
Fig. n
Hysterische Contractur (nach der Iconographie
Motilität. Abnorme Bewegungen. Klonische und tonische Krämpfe. 121
sich an den Gliedern, der Arm wird in Beuge- oder StrecksteUuiig
Hxirt. oder die Hand wird fest geballt, oder ein Bein, zuweilen beide
Beine sind in andauernder Streckung u. s. w. Die Gegenwart anderer
hysterischer Symptome erleichtert gewöhnlich die Diagnose.
Ganz besonders ist darauf zu achten, dass in der Regel das
Gebiet des hysterischen Krampfes anästhetisch oder hyperästhetisch
ist. Die Mehrzahl aller Krämpfe ist hysterischer Art und in den
meisten Fällen der sog. Eeflexkrämpfe ergiebt eine genaue Unter-
suchung das Vorhandensein der Hysterie.
Am wichtigsten sind die allgemeinen Krämpfe, die Co n-
vnlsionen der Hysterischen. Die „grossen Anfälle" der Hyste-
rischen, die mit einem leicht misszuverstehenden Namen auch hystero-
epileptische genannt werden, obgleich sie keine Beziehung zur Epilepsie
haben, bestehen aus mehreren Perioden. Nachdem kürzere oder
längere Zeit Prodrome, Vorläufererscheinungen des Anfalles (seelische
Verstimmung, Hallucinationen, Zusammenschnüren im Halse, Bor-
borygmen, Tympanie, Ptyalismus, Polyurie, Beängstigung, Palpitatio-
nen, Contracturen) sich gezeigt haben, leitet die Aura hysterica den
Anfall ein. Die Aura besteht gewöhnlich in dem Gefühle einer vom
Hypogastrium oder von der Ovarialgegend zum Epigastrium und dann
zum Halse aufsteigenden Kugel. Damit verbinden sich Herzklopfen,
Schlagen der Schläfenarterien, Ohrensausen, Umnebelung des Be-
wusstseins. Die erste Periode des Anfalles wird gewöhnlich epilep-
toide Periode genannt, weil sie in vieler Hinsicht dem epileptischen
Anfalle ähnlich ist. Man bemerkt ein Zittern der Lider, dann sinkt
die Kranke zu Boden (ohne Schrei). Verletzungen treten beim Fallen
fast nie ein. Der Kopf dreht sich langsam nach hinten, das Gesicht
verzerrt sich, die Zunge wird herausgestreckt, die Athmung stockt,
die Arme werden adducirt, nach innen rotirt, die Hände gebeugt
und zur Faust geschlossen, die Beine in allen Gelenken gestreckt.
Nachdem die Kranke eine Zeit lang starr gelegen, beginnen kurze,
rapide Zuckungen, die Cyanose verliert sich und es treten tiefe,
tönende Athemzüge ein. Nach einer kurzen Ruhepause beginnt die
zweite Periode, die der Verdrehungen und grossen Bewegungen
(Clownismus). Die Kranke nimmt die verschiedensten, uner wartesten,
unwahrscheinlichsten Stellungen ein. Unter diesen ist die bekann-
teste und häufigste der Kreisbogen (arc de cercle, vgl. Fig. 32).
Dann bringt die Kranke etwa den Rumpf stark nach vorn und
schleudert ihn kräftig nach hinten auf die Kissen, oder sie führt
stossende Bewegungen mit dem Becken aus, wirft die Beine in die
Luft, schlägt wie in Vvuth um sich. Dabei schreit und heult sie
122 Untersuchung des Bewegimgsapparates.
oft. An die zweite schliesst sich an die dritte Periode oder die der
plastischen Stellungen. Die Kranke nimmt eine ausdrucksvolle Hal-
tung an und verräth durch Delirien, dass sie irgend ein früheres
Erlebniss hallucinirt. 'Die Ereignisse, die die Kranke früher am
tiefsten bewegt haben, werden wieder erlebt und rasch folgen sich
heitere und traurige Scenen. Haltung, Miene und Wort drücken bald
Schrecken, bald Drohung, Lockung, Lüsternheit, Ekstase, Spott,
Klage aus. Allmählich klingt in ruhigeren Delirien der Anfall aus.
Dabei besteht nicht volle Bewusstlosigkeit, die Kranke erinnert sich
später oft zum Tlieil an ihre Hallucinationen, aber das Bewusstsein
ist stark getrübt und die Kranke ist völlig anästhetisch. Nur selten
tritt der Anfall der grossen Hysterie isolirt auf, in der Eegel in
Keinen (etat de mal), die eine beträchtliche Länge erreichen können.
Fig. 32.
Hysterischer Kreisbogen (nach. Bourneville nnd Regnard.).
Im Gegensatze zum epileptischen etat de mal findet sich während
der gehäuften Anfälle nie stärkere Temperatursteigerung, ist nie
das Leben bedroht.
Ein sozusagen verwaschenes Bild des grossen bildet der gewöhn-
liche hysterische Anfall. Die erste Periode kann allein auftreten
und dann ist am ehesten eine Verwechselung mit Epilepsie möglich.
Das normale Verhalten der Pupillen, die Eeichhaltigkeit der Be-
wegungen, die lauten Borboiygmen, der gelegentlich sich einmischende
Kreisbogen, das Herausgestrecktsein der Zunge, besonders aber die
Empfindlichkeit der einen Ovarialgegend und die Möglichkeit, durch
kräftigen Druck auf diese den Anfall zu unterbrechen, sind unter-
scheidende Merkmale. Tritt nur oder hauptsächlich die zweite
Periode auf, so wird kaum die Diagnose schwanken. Das anschei-
nend Absichtliche der excessiven Bewegungen, die zuweilen mit der
G-elenkisrkeit eines Kautschukmannes und der Kraft eines Käsenden
Motilität. Abnorme Bewegungen. Klonische und tonische Krampte. 123
ausgeführt werden, der Ausdruck des Schmerzes, der YVuth oder
anderer Affecte im Gesicht und allerhand kleinere Züge sind überaus
charakteristisch. Bemerkenswertti ist, das hysterische Krämpfe auch
halbseitig auftreten. Die Bewegungen sind auch dann ausgiebiger
und complicirter als beim epileptischen Anfall. Anfälle unwillkür-
licher tactmässiger Bewegungen bei Hysterischen, z. B. Bewegungen
eines Armes wie beim Hämmern, bezeichnet man wohl auch als
rhythmische Chorea.
In der Zeit zwischen den Anfällen findet man oft bestimmte
Punkte am Körper, durch deren Compression unangenehme Sensa-
tionen und schliesslich der Anfall hervorgerufen werden können:
hysterogene Punkte oder Zonen. Diese sind am häufigsten in
der Eierstockgegend vorhanden (Ovarie, s. unten), doch kommen sie
auch über und unter der Mamma, unter den Achseln, in den Weichen,
über und neben der Wirbelsäule, meist symmetrisch, vor. Selbst-
verständlich ist für die Diagnose der hysterischen Krämpfe auch der
Nachweis anderweiter hysterischer Symptome werthvoll, als der
Hemianästhesie, der Lach-, Schrei- u. s. w. Krämpfe, der charakter-
istischen seelischen Verstimmung u. s. w. Immerhin brauchen neben
den Anfällen andere Symptome nicht jederzeit vorhanden zu sein.
Männliches Geschlecht spricht natürlich nicht gegen Hysterie, da bei
Männern hysterische Airfälle durchaus nicht selten sind.
Die epileptischen Convulsionen sind bald totale, bald
partielle. Im Bilde des vollständigen epileptischen Anfalls unter-
scheidet man gewöhnlich drei Perioden. Vorläufererscheinüngen
fehlen oft ganz, nur seelische Verstimmung, Traurigkeit, Angst, be-
stehen oft längere Zeit vor dem Anfalle. Unmittelbar vor dem
Anfalle zeigt sich die epileptische Aura. Diese besteht bald in
prickelnden Empfindungen, die in einer Hand, im Fusse, im Epigas-
trium, gelegentlich auch in der Zunge oder im Gesichte beginnen und
dann zum Kopfe aufsteigen, bald in Hallucinationen der oberen Sinne.
Gesichtswahrnehmungen, besonders Lichterscheinungen, (Bothsehen.
Flimmerscotom), Geruchs-, Gehörs- (Glockenklingen, Bauschen. Pfeifen
u. s. w.), selten Geschmackswahrnehmungen- bald einzelnen Zückungen,
bald in Blass- oder Rothwerden, Frostgefühl, Schweissausbruch
Schwindel, Angst u. s. w. Nach der gewöhnlich kurzen Aura, zu-
weilen ohne jede Aura, beginnt die erste Periode des Anfalls mit
plötzlichem und totalem Bewusstseinsverluste, Der Kranke stürzt
jählings zu Boden, stösst dabei manchmal einen wilden Schrei aus,
verletzt sich nicht selten beim Niederfallen mehr oder weniger schwer.
Nun tritt tonischer Krampf fast der gesammten Musculatur ein. der
124 Untersuchung des Bewegongaapparates.
Kopf dreht sich nach hinten oder nach der Seite, die Augen werden
nach derselben Seite gewandt, der Körper krümmt sich gewöhnlich
schwach opisthotonisch, die Arme sind gestreckt, adducirt, nach innen
rotirt, die Hände gebeugt und die Finger über die Damnen einge-
schlagen, die Beine starr gestreckt. Auch die Athmnngsmnskeln
nehmen an der Starre» Theil und das anfangs bleiche Gesicht wird
dunkel cyanotisch. Die Pupillen sind weit und in der Regel reactions-
los. Die tonische Periode dauert meist nur Bruchtheile einer Minute,
dann beginnt die Periode der klonischen Krämpfe, „die Glieder schlagen"
erst in kleineren, dann in grösseren Zuckungen, die Augen werden
hin- und herbewegt, das Gesicht wird verzerrt, die Zunge im Munde
umhergerollt und dabei meist durch die knirschenden und kauenden
Zähne verletzt. Oft tritt schäumender Speichel vor den Mund und wird
durch den Zungenbiss blutig gefärbt, Es kann zu Knochenbrüchen,
Verrenkungen, zum Abbrechen von Zähnen u. s. w. kommen. Sehr
oft gehen Urin und Flatus ab, zuweilen auch Fäces und Semen.
Nach '/'2 bis 3 Minuten erschlaffen die wild bewegten Glieder und
die dritte Periode beginnt, die des Stertor (tönenden Athmens) oder
des Koma. Sie geht in ruhigen tiefen Schlaf über, oder der Kranke
erwacht nach kürzerer Zeit ermattet, oft mit heftigem dumpfem
Kopfschmerze, fast ausnahmelos ohne Erinnerung an die Ereignisse
des Anfalls. Manchmal wird unmittelbar nach dem Anfall etwas
Eiweiss im Urin gefunden, oft zeigt sich Polyurie, in sehr seltenen
Fällen Glykosurie. Tritt der Anfall Nachts ein, so werden u. U. die
Kranken nur durch Kopf- und Gliederschmerzen, den Zungenbiss und
andere Residua aufmerksam gemacht,
Der Anfall kann incomplet sein, es kann nur die Aura auf-
treten, es können die zweite und die dritte Periode ganz fehlen, oder
die Aura kann sich nur mit Bewusstseinsverlust und vereinzelten
Zuckungen verbinden.
Die Anfälle können in schweren Fällen reihenweise auftreten
(etat de mal, Status epilepticus). Während der Zeit der gehäuften
Anfalle bestellt andauerndes Koma, die Temperatur, die im einzelnen
Anfalle nahezu normal bleibt, kann hoch ansteigen und nicht selten
tritt der Tod im Status epilepticus ein.
Der partielle epileptische Anfall (Jackson'sche Epilepsie) be-
fällt nur eine Körperhälfte und zwar die ganze oder einen Theil,
oder aber er beginnt wenigstens an einer Körperhälfte, ergreift erst
später und in geringerem Maasse auch die andere, Die Aura, die
oft ganz fehlt, besteht meist in Empfindungen (Prickeln, Taubsein,
Brennen) des Tlieils. in dem der Anfall beginnt, Eigentliche Perioden
Motilität. Abnorme Bewegungen. Klonische und tonische Krämpfe. 125
des Anfalls lassen sich kaum unterscheiden. Meist handelt es sich
von vornherein um klonische Krämpfe massiger Excursion. Beginnt
der Anfall im Gesicht (wobei das obere Facialisgebiet mit inbegriffen,
oder vorwiegend ergriffen sein kann), so kann er auf dasselbe be-
schränkt bleiben, häufiger ergreift er auch den Arm, zuweilen dann
das Bein. Beginnt er im Arme und bleibt er nicht auf ihn beschränkt,
so kann er sich gleichzeitig auf Gesicht und Bein verbreiten. Beginnt
er im Beine, so ergreift er an zweiter Stelle den Arm, erst an dritter
das Gesicht, Tritt dann der Krampf auch auf die andere Körper-
hälfte über, so scheint er in manchen Fällen vom Bein aus sich nach
oben zu verbreiten, in anderen Fällen
aber einen anderen Verlauf zu nehmen.
Sicheres ist darüber noch nicht bekannt,
bei der Schnelligkeit der Ausbreitung
derartiger verbreiteter Krämpfe ist die
Beobachtung schwierig. Die Störung
des Bewusstseins ist bei der partiellen
Epilepsie im Allgemeinen proportional
der Ausdehnung des Krampfes. Sind
nur Gesicht und Arm ergriffen, so geht
das Bewusstsein in der Regel nicht
verloren. Manche Kranke folgen auf-
merksam der Entwicklung des Anfalls,
andere empfinden lebhafte Angst und
fürchten, ohnmächtig zu werden. Bei
Convulsionen einer Körperhälfte tritt
oft, beim Uebergreifen auf die andere
fast regelmässig Bewusstlosigkeit ein.
Oft bleibt nach dem Anfall eine Parese
der vom Krämpfe befallenen Glieder
zurück, die sich nach einiger Zeit wieder
verliert.
Auch die partielle Epilepsie kann in gehäuften Anfällen, während
deren meist Sopor oder Koma besteht, auftreten.
Das Symptom des epileptischen ilnfalls nun ist im Allgemeinen
Ausdruck einer Reizung der Hirnrinde. Es kommt zunächst
vor als Haiipterscheinung der Krankheit Epilepsie. Ob im ein-
zelnen Falle diese Krankheit zu diagnosticiren ist, ergiebt sich aus
dem Fehlen anderweiter, nicht epileptischer Hirnsymptome in der
Zwischenzeit zwischen den Anfällen, aus dem jugendlichen Alter,
in dem die Patienten beim ersten Auftreten der Anfälle stehen.
Fig. 33.
Partielle Epilepsie (nach Bourneville
und Regnard).
126 Unter suchimg des Bewegungsapparates.
aus dem Bestehen erblicher Belastung- u. s. w. Anfälle der idio-
pathischen Epilepsie sind überaus selten nur halbseitig. Der epilep-
tische Anfall ist ferner ein Symptom chronischer Vergiftungen, be-
sonders bei Schnapssäufern, und gleicht hier ganz dem Anfalle der
idiopathischen Epilepsie. In seltenen Fällen sollen peripherische
Reizungen (Narben, Xer venia sionen, Eingeweidewürmer, Zahnerkran-
kungen u. s. w.) epileptische Anfälle hervorrufen: Reflexepilepsie
In den genannten Fällen muss man das Bestehen einer sogenannten
epileptischen Veränderung des Gehirns annehmen, vermöge deren
das Wiedereintreten der Anfälle erleichtert wird.
Einzelne epileptische Anfälle treten besonders bei Kindern da
auf, wo der Erwachsene einen Schüttelfrost bekommt, beim B e ginne
infectiöser Krankheit, Sie leiten fast regelmässig die Ence-
phalitis ein. oft auch die acute Poliomyelitis. Von einer acuten In-
toxication hängen in der Regel die epileptischen Anfälle ab, die als
urämische Convulsionen, und die, die als Eclampsia partu-
rientium bezeichnet werden.
Fast alle Gehirnkrankheiten im engeren Sinne können ge-
legentlich epileptische Anfälle bewirken. Bei acut einsetzenden Herd-
läsionen kann der Krampfanfall den apoplektischen Insult vertreten.
Während die eine Seite hemiplegisch wird, kann die andere von
( 'onvulsionen ergriffen sein. Bei allen raumbeschränkenden Processen
im Schädel, Tumoren, Abscessen, Hydrocephalus, können von Zeit
zu Zeit epileptische Anfälle auftreten. Ueberaus häufig sind sie bei
der diffusen Erkrankung der Rinde ; bei der progressiven Para-
lyse und der Meningitis treten besonders oft epileptische Anfälle
auf. Der paralytische Anfair soll sich von dem der idiopathischen
Epilepsie dadurch unterscheiden, dass er mit starken Sclrwankungen
der Körpertemperatur verbunden ist. Der Meningitis und der pro-
gressiven Paralyse analog Avirken alle Processe, die einen grösse-
ren Theil der Hirnrinde schädigen: Pachymeningitis haemorrhagica,
Meningealblutungen, Gysticerken des Gehirns, die multiple Sklerose.
Treten bei der Tabes epileptische Anfälle auf, so sind wahrscheinlich
paralytische Veränderungen der Rinde vorhanden.
Die umschriebenen Erkrankungen der Hirnrinde be-
wirken gewöhnlich locale Epilepsie. Gummata, Tuberkel und andere
Geschwülste, Entzündungen, Erweichungs-, Schrumpfungs-Processe,
die in den Centralwindungen oder in ihrer Nähe sich befinden, rufen
häufig Convulsionen auf der gegenüberliegenden Körperhälfte her-
vor. Je nach der Lage des Herdes wird der Anfall im Gesichte, im
Arme oder im Beine beginnen, und je nach Ausdehnung und Stärke
Motilität. Abnorme Bewegungen. Klonische und tonische Krämpfe. 127
des Reizes wird die Verbreitung- mehr oder weniger gross sein. In
der Zeit zwischen den Anfällen findet man gewöhnlich Symptome
von Lähmung auf der betroffenen Seite, wenigstens Steigerung der
Sehnenreflexe, und oft bestehen noch anderweite Hirnsymptome, die
die Diagnose erleichtern. Besonders diejenigen umschriebenen Er-
krankungen der Hirnrinde, die in früher Jugend beginnen, scheinen
die Entwicklung der epileptischen Veränderung- zu begünstigen. Es
bestehen dann oft totale epileptische Anfälle, aber der Beginn an
einem Gliede, das stärkere Befallenwerden einer »Seite erinnert an
den örtlichen Ursprung- der Krämpfe.
Endlich sind noch die simulirten epileptischen Anfälle zu er-
wähnen. Einen Beweis gegen Simulation liefern das Erblassen des
Gesichtes und die Erweiterung der Pupillen im Beginne des Anfalles,
die Lichtstarrheit der Pupillen während desselben. Freilich können
diese Symptome auch bei echter Epilepsie fehlen. Der Zungenbiss
fehlt gewöhnlich bei Simulanten, ebenso der Abgang von Urin u. s. w.,
selbstverständlich auch das allerdings inconstante Auftreten von
Eiweiss im Urin nach dem Anfalle.
Anfälle von tetanischen Krämpfen, an denen sich der
grössere Theil der Skeletmuskeln betheiligt, kommen am häufigsten
bei der Krankheit Tetanus vor. Hier ist das Bild des Krampfes
ziemlich charakteristisch : eigenthümlicher Gesichtsausdruck durch
Starre der mimischen Muskeln, starker Trismus, Opisthotonus, In-
spirationstellung des Thorax, Starre der Bauchmuskeln, Streck-
krampf der Beine, relatives Verschontbleiben der Arme, von Zeit
zu Zeit Nachlassen, paroxysmenartige Steigerung des Krampfes.
Etwas abweichend ist das Bild des sogenannten Kopftetanus, der
sich nach Verletzungen am Kopfe entwickelt: ausser dem Tetanus
der Skeletmuskeln bestehen starke Krämpfe der Schliessmuskeln und
einseitige Facialislähmung.
Bei der Lyssa fehlt der Trismus, stehen die Schlundkrämpfe
im Vordergründe, bleiben die Gliedermuskeln meist frei. Bei der
Meningitis können tetanische Anfälle auftreten, meist als Steige-
rung des andauernden Krampfes der Nackenmuskeln. Trismus fehlt
gewöhnlich. Die Bewusstseinsstörung , das Fieber, die cerebralen
Herdsymptome der Meningitis sind, wenn es Noth thut, diagnostisch
zu verwerthen. Tetanische Anfälle werden in seltenen Fällen auch
bei Tumoren in der hinteren Schädelgrube, besonders des kleinen
Gehirns beobachtet. Rumpf- und Nackenmuskeln sollen vorwiegend
betroffen sein.
Tetanische Anfälle, die sich fast stets auf die Muskeln der Arme
128 Untersuchung des Beweg'ungsapparates.
und Unterschenkel beschränken, meist Beugestellungen (Schreibhaltung
der Finger) hervorrufen, sind das Hauptsymptom der merkwürdigen
Krankheit Tetanie. Die Steigerung der mechanischen und elek-
trischen Nervenerregbarkeit ausserhalb der Anfälle, die Möglichkeit,
den Anfall durch Druck auf die Arterien hervorzurufen (Trousseau'-
sches Phänomen) machen die Diagnose leicht,
Hie und da sind auch tetanieartige Anfälle bei Her der kr an-
klingen in der hinteren Schädelgrube beobachtet worden.
Verbreitete tetanische Krämpfe ohne Bewusstseinsstörungen mit
Re- und Internüssionen kommen endlich bei kleinen Kindern während
Magen-, Darmkrankheiten, im Beginne der Bhachitis vor und werden
als A r t h rogryposis bezeichnet.
e. Z w a ngs b e wegu ngen.
Bei den Zwangsbewegungen oder den coordinirten
Krämpfen werden ohne oder gegen den Willen complicirte und
zweckmässige Bewegungen ausgeführt, Den Namen „statische
Krämpfe", der auch in diesem Sinne gebraucht wird, lässt man am
besten ganz fallen, da er missverständlich ist, Zu den coordinirten
Krämpfen gehören die Schrei-, Wein-, Lach-, Husten-, Athmungs-
krämpfe bei Hysterie. Ferner gehören hierher das zwangsmässige
im Kreise Gehen (Manegebewegung), das Rollen um die eigene Axe,
das Festhalten einer bestimmten Seitenlage, die Deviation conjuguee.
Bei manchen derartigen Bewegungen kann es zweifelhaft sein, ob
sie primäre Zwangsbewegungen oder gewollte Bewegungen sind, die
zur Wiederherstellung des durch Schwindelempfindimgen scheinbar
gestörten Gleichgewichtes dienen sollen, so bei manchen Drehbewe-
gungen, bei Vor- oder Rückwärtslaufen. Unter Umständen kann
die Grenze zwischen coordinirten Krämpfen und Zwangshandlungen
oder „impulsiven" Handlungen, wie sie bei Geisteskrankheit und bei
vorübergehenden Bewusstseinstrübungen vorkommen , schwer zu
ziehen sein.
Zweifelhaft erscheint es, ob der sogenannte saltatorische
Reflexkrampf, der in dem Auftreten unfreiwilliger Hüpfbewe-
gungen beim Aufsetzen der Füsse auf den Boden besteht, und ver-
wandte Krampferscheinungen hierher gehören. Wahrscheinlich han-
delt es sich um eine hysterische, für Astasie - Abasie zu haltende
Erkrankung.
Ueber die Deviation conjugee lässt sich im Allgemeinen nur
sagen, dass sie die Läsion einer Hemisphäre anzeigt (vergl. S. 26).
Fallen nach Einer Seite, Seitenzwangslage und Rollbewegungen um
Motilität. Abnorme Bewegungen. Ohoreatische Bewegungen. 129
die Körperaxe sind am häufigsten beobachtet bei Läsionen, die direct
oder indirect die mittleren Klei nhirn Schenkel betrafen. Es
scheint sich hier um ein ziemlich zuverlässiges Herdsymptom zu
handeln.
l. Mitbewegungen.
Wenn bei willkürlichen Bewegungen mehrere als die zur beab-
sichtigten Bewegung nöthigen Muskeln contrahirt werden, z. B. wenn
beim Schliessen des Auges der Mund verzogen wird, wenn beim Be-
wegen einer Hand auch die andere Hand oder der Fuss bewegt wird,
spricht man von Mitbewegungen. Auch beim Gesunden kommen
solche vor, z. B. Verzerren des Gesichts bei angestrengter Thätigkeit
der Hand u. s. w. Gewöhnlich beschränkt man den Namen auf Fälle
der genannten Art, doch ist ersichtlich, dass Mitbewegungen auch
bei der Ataxie und der Chorea eine Eolle spielen und dass eine
strenge Grenze nicht gezogen werden kann.
Mitbewegungen treten gewöhnlich neben Lähmungen auf, am
häufigsten bei centralen Lähmungen; diagnostischen Werth aber be-
sitzen sie kaum.
i]. Ohoreatische Bewegungen.
Von Chorea spricht man, wenn sowohl in der Kühe als bei
Bewegungen ungewollte und ungeordnete, rasche und wechselnde
Bewegungen eintreten. Am besten werden diese durch den Ausdruck
Muskeltollheit (folie musculaire) charakterisirt, denn sie sind durchaus
plan- und zwecklos. Im Gesichte zeigt sich zunächst hie und da
ein Zucken (Runzeln der Stirn, Zukneifen des Auges, Verziehen des
Mundes, Vorstrecken der Zunge), später wird es zu einem unsinnigen
Grimmassiren, einem fratzenhaften Mienenspiele, der Kopf wird ge-
dreht und gebeugt, die Zunge wird im Munde hin- und hergewälzt,
die Kiefern werden auf- und zugeklappt. Durch alle diese Bewegungen
und durch die Zuckungen der Bauch- und Glottismuskeln können
die Articulation und die Tonbildung erschwert oder unmöglich werden.
An den Gliedern zeigen sich vorerst auch nur vereinzelte Zuckungen,
die Schulter wird gehoben, der Arm bald gebeugt, bald gestreckt,
die Hand bald geöffnet, bald geschlossen u. s. w. Diese Zuckungen
unterbrechen die willkürlichen Bewegungen, die Kranken lassen daher
Dinge aus der Hand fallen, können nicht mehr correct schreiben,
nähen u. s. w. Weiterhin geräth der ganze Körper in Unruhe, so
dass der Kranke einem Zappelmanne gleicht, die Glieder werden
hin- und hergeschleudert, beim Gehen wird plötzlich ein Bein iu die
Höhe gezogen, der sitzende Kranke wird vom Stuhle geworfen u. s. w.
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 9
130 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Im höchsten Grade der Chorea ist jede absichtliche Thätigkeit un-
möglich, das tolle Muskelspiel erschwert die Ernährung und vertreibt
den Schlaf.
Zeigen sich die choreatischen Bewegungen nur auf einer Körper-
hälfte, so spricht man von Heinich orea,
Choreatische Bewegungen sind am häufigsten das Hauptsymptom
der Chorea (minor) genannten Krankheit. Sie treten hier zuweilen
halbseitig oder doch vorwiegend auf einer Seite auf. Letztere kann
dann paretisch erscheinen, derart, dass an den schlaff herabhängenden
Gliedern nur einzelne Zuckungen bemerkt werden (Chorea mollis).
Ausser der gewöhnlichen Chorea (Ch. Sydenhami), die besonders bei
Kindern vorkommt, heilbar ist und wahrscheinlich eine infectiöse
Krankheit darstellt, giebt es eine Chorea chronica, bei der es sich
um eine gewöhnlich erst in der zweiten Lebenshälfte entstehende,
auf ererbter Auslage beruhende, unheilbare, oft mit geistigen Störungen
verknüpfte Krankheit handelt,
Hemichorea erscheint ferner als Vorläufer (selten) oder im Ge-
folge von Hemiplegien: prähemiplegische, posthemiple-
gische Chorea. Das Vorhandensein von wirklicher Lähmung,
von Contractur, wenigstens von Steigerung der Sehnenreflexe, zuweilen
anderweite Hiimsymptome und die Anamnese werden unschwer die
Verwechselung mit der Krankheit Chorea vermeiden lassen.
Choreabewegungen können sich auch bei Hysterie zeigen,
treten sie hier in den Vordergrund und verbinden sie sich mit zu-
sammengesetzten Bewegungsformen (Springen, Klettern, Clownismus),
so spricht man wohl von Chorea major.
#. Athetosis.
Die als Athetosis (u-frarog, nichtgesetzt, ruhelos) bezeichneten
Bewegungen sind den choreatischen ähnlich, unterscheiden sich aber
von ihnen durch ihr langsames Tempo und ihre Gleichmässigkeit.
Sie werden hauptsächlich an Händen und Füssen, weniger häufig
am Kopfe beobachtet, Die Finger werden langsam, einer nach dem
anderen gestreckt und dann wieder gebeugt, voneinander entfernt
und einander genähert (vergl. Fig. 34). Unaufhörlich wechseln die
Bewegungen mit einander. Ganz ähnlich ist das Spiel der Zehen.
In der Regel sieht man auch im Hand- und Fussgelenke Beuge-,
streck-, Ab- und Adductionsbewegungen. Die oberen Abschnitte der
Glieder aber pflegen sich nicht oder nur sehr wenig zu betheiligen.
Relativ häufig sieht man athetotische Bewegungen des Kopfes, seltener
solche der Gresichtsmuskeln und der Zunge. Auch hier kommt eine
Reflectorische Erregbarkeit.
131
Fig. 34.
Beispiel der Stellung der Finger bei Athetosebewegungen (nach Strümpell).
9*
132 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Herniatlietosis vor. BegTeifliclier Weise giebt es Fälle, wo es
willkürlich ist, ob man von Athetosebewegungen oder von Chorea-
bewegungeii reden will.
Atlietosis, meist doppelseitige, tritt in seltenen Fällen als selb-
ständige, zuweilen angeborene Störung auf. Es ist nicht bekannt,
ob der idiopathischen Athetose organische Läsionen zu Grunde liegen.
Auch bei Epileptischen und Geisteskranken sollen zuweilen Athetose-
bewegungen vorkommen.
Die Hemiathetosis hat dieselben Beziehungen zur Hemiplegie
wie die Hemichorea.
Chorea sowohl wie Atlietosis sind wohl immer cerebrale Sym-
ptome. Sie können natürlich auch reflectorisch bei peripherischen
Läsionen entstehen, werden daher liier und da auch bei Neuritis
und zwar gewöhnlich auf ein Glied beschränkt beobachtet.
t>y
IV. Die reflectorische Erregbarkeit.
Reflectorische Bewegungen können hervorgerufen werden einmal
durch Reizung der Haut oder der Schleimhaut und der anderen
Sinnesorgane, zum andern durch Reizung der Sehnen, der Fa seien,
des Periostes. Die Reflexe zerfallen demnach in zwei Klassen, die
nach ihren Typen genannt werden: die Hautreflexe und die
Sehnen reflexe; gleichsinnig ist die Unterscheidung zwischen
oberflächlichen und tiefen Reflexen. Eine Art selbstän-
diger Stellung nehmen die Pupillenreflexe ein: Verengerung
der Pupillen bei Lichteinfäll, Erweiterung der Pupillen
bei schmerzhaften Hautreizen, plötzlichen starken Gehörsreizen. Vergi.
hierzu die Erörterung im IL Theile.
Unter den durch Reizung der Oberfläche verursachten Reflexen
kommen hauptsächlich folgende in Betracht:
Schlu ss der Lidspalte bei Annäherung von Gegenständen
an das Auge (bei der Prüfung nähert man rasch die Hand dem zu
untersuchenden Auge) und bei Berührung der Conjunctiva (man hält
mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand das Auge offen, be-
rührt man dann mit einem stumpfen Gegenstände die Conjunctiva
bulbi, so erfolgt ein kräftiges Zukneifen des Auges).
Niesen bei Kitzeln der Xaseiischleimhaut mit einer Feder oder
dergleichen, bei Einführung gewisser Stoffe (z. B. Schnupftabak) in
die Xase.
Contr actio n des Gaumens bei Berührung der Uvula (vergl.
den IL Theil).
Reflectorische Erregbarkeit. 133
Schlingbewegung bei Berührung des Zungengrundes.
Würgbewegung bei Berührung der hinteren Rachenwand,
beziehungsweise Erbrechen bei längerem Kitzeln.
Husten bei Berührung des Kehlkopfeinganges, zuweilen auch
bei Kitzeln des äusseren Gehörganges.
Die Hautreflexe im engeren Sinne werden geprüft durch Kitzeln
mit dem Fingernagel, mit einem Federbart u. s. w.: Kitzelreflex,
durch Stechen mit einer Nadel: Stichreflex, durchstreichen mit
einer Spitze (Nadel-, Bleistiftspitze), mit einem stumpfen Gegenstande
(Bleistift, Stiel des Percussionshammers) : Streichreflex, durch
Berühren mit einem kalten Gegenstande, am besten einem Stückchen
Eis: Kältereflex. Je nach der Oertlichkeit und je nach der Art
der vorhandenen Störung ist die eine oder die andere Reizmethode
am zweckmässigsten. Besonders bei Abschwächung der Reflexe hat
man, wenn die eine Methode nicht zum Ziele führt, die andere zu
probiren, kann sich auch des Kneipens, Brennens, der faradischen
Pinselung u. s. w. bedienen.
An Kopf und Armen findet man beim Gesunden wenig Haut-
reflexe, nur Kitzelreflexe lassen sich zuweilen von der Nasolabialfalte
und der Handfläche, in der Regel von der Achselhöhle aus erzielen.
Am Rücken findet man den Scapulareflex, d. h. Bewegung
des Schulterblattes bei Streichen der Haut zwischen innerem Scapula-
rand und Wirbelsäule; er ist unbeständig.
Auf der Vorderfläche des Rumpfes lässt sich durch Streichen
oder Kitzeln der Brustwarze oder auch des WTarzenhofes bei Weibern
Erection der Brustwarze bewirken (Mammareflex).
Von grösserer Bedeutung ist der bei Gesunden ziemlich bestän-
dige Bauchreflex. Sowohl im Epigastrium, als in der Nabel-
gegend und den seitlichen Bauchgegenden bewirkt Streichen mit der
Bleistiftspitze oder dem Fingernagel Contractionen der Bauchmus-
keln auf der gereizten Seite. Der Reflex tritt bei jüngeren Personen
und solchen mit straffen Bauchdecken leichter auf als bei älteren
Personen und solchen mit schlaffen Bauchdecken.
Streicht man die Haut an der Innenseite des Oberschenkels,
oder drückt man die Haut kräftig etwa 12 Cm. oberhalb des Condyl.
int. fem., so zieht der Cremaster der gereizten Seite den Hoden in
die Höhe : C r e m a s t e r r e f 1 e x. Dieser fehlt ziemlich oft bei älteren
Männern.
Bei directer Reizung der Scrotalhaut, besonders beim Berühren mit
einem kalten Gegenstande, schrumpft sie zusammen, contrahiren sich ihre
glatten Muskelbündel : Scrotumreflex.
134 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Die refiectorische Wirkung einer Reizung der Haut des Penis oder
der Clitoris pflegt aus naheliegenden Gründen der Untersuchung nicht unter-
worfen zu werden. Man hat als Reflex des Bulbocavernosus eine Con-
traction dieses Muskels bezeichnet, die eintritt, wenn man rasch über die
Glans wegstreicht oder auf die Wurzel des Plenis klopft.
Sticht oder reizt man sonst den Rand des Anus, so zieht sich der
Sphincter zusammen.
Streichen der Gesässhaut bewirkt bei manchen Menschen Con-
traction des IL glutaeus max.: Glutäusreflex.
Endlich ist der vielgeprüfteste Hautreflex zu nennen, der Sohlen-
reflex. die Bewegung des Fusses, beziehungsweise des Beines bei
Kitzeln. Streichen u. s. w. der Sohlenhaut.
Die Reflexbewegungen treten theils doppelseitig, theils nur auf
der gereizten Seite ein. jenes gilt von den Pupillenreflexen, dem
Lidschluss bei Eeizung des Opticus oder der Conjunctiva, natürlich
auch vom Niesen, Husten u. s. w., dieses gilt besonders vom Bauch-
reflex, in der Regel auch vom Cremaster-, Scapula-, Glutäus-, Solilen-
reflex.
In gewissem Grade ist die Ausdehnung der reflectorischen Be-
wegung abhängig von der Stärke des Eeizes. Bei einfacher Berüh-
rung der Fusssohle z. B. wird nur Dorsalflexion der Zehen eintreten,
bei stärkerer Bewegung des Fusses, weiterhin Beugung im Knie-
und Hüftgelenke. Bei fortgesetztem Kitzeln betheiligen sich auch
der gleichseitige Arm, das andere Bein und schliesslich der ganze
Körper an den zuckenden Fluchtbewegungen.
Die Prüfung hat ausser auf die Stärke und Ausdehnung der
reflectorischen Bewegung darauf zu achten, ob sie normal rasch ein-
tritt, oder ob sie sich erst nach längerer Dauer des Reizes zeigt,
oder ob zwischen Reiz und Bewegung eine Pause zu beobachten ist.
Die Beurtheilung der oberflächlichen Reflexe wird dadurch er-
schwert, dass auch beim Gesunden ihre Stärke und Ausdehnung sehr
wechseln, dass viele von ihnen auch beim Gesunden fehlen, manche
willkürlich unterdrückt werden können.
Beständig und unabhängig vom Willen sind die Pupillenreflexe,
beständig und nahezu unabhängig vom Willen die Lidreflexe, die ver-
schiedenen Schleimhautreflexe, in etwas geringerem Grade der Sohlen-
reflex, ziemlich beständig und unabhängig vom Willen der Bauch-
reflex, der Cremasterreflex, der Scrotumreflex. Im Allgemeinen sind
die Reflexe um so lebhafter und beständiger, je jünger das Individuum
ist. Am sichersten wird man ein pathologisches Verhalten der Re-
flexe bei einseitiger Erkrankung erkennen.
Von Steigerung der Reflexe spricht man, wenn die Bewegung
Refiectoriscke Erregbarkeit. 185
schon bei abnorm geringen Reizen sich zeigt, bei den gewöhnlichen
Reizen rascher und energischer als in der Norm eintritt, wenn sich
an ihr mehr Muskeln als gewöhnlich betheiligen. Den Typus dieser
Störung bildet die Strychninvergiftimg. Die Herabsetzung der Re-
flexe zeigt sich dadurch, dass stärkere Reize zur Hervornifimg der
reflectorischen Bewegung nöthig, oder dass nur bestimmte Reize
wirksam sind, dass die Bewegung schwach und träge ist, oder dass
sie auch beim starken Reize auf die der Reizstelle nächsten Muskeln
beschränkt bleibt. Herabsetzung und Aufhebung der Reflexe beob-
achtet man am Gesunden im Schlafe und in der Narkose. Sehr früh
schwindet der Bauchreflex, dann der Cremasterreflex, spät erst der
Conjunctivareflex. Die Pupillen sind im tiefen Schlafe eng und mehr
oder weniger starr.
Die Sehnenreflexe (Erb) oder Sehnenphänomene (West-
phal) werden hervorgerufen durch Klopfen auf die Sehnen, die Fas-
cien, das Periost oder durch anderweite rasche Dehnung der sehni-
gen Theile. Sie bestehen in einer raschen, blitzähnlichen Contraction
des Muskels, dessen Sehne oder Fascie mechanisch gereizt worden
ist, in seltenen Fällen auch anderer Muskeln; bei den Periostreflexen
wird das Klopfen von der Zuckung eines oder mehrerer benachbarter
Muskeln beantwortet. Damit der Sehnenreflex zu Stande komme.
ist eine gewisse Spannung der Sehne, die theils von dem Contrac-
tionsgrade der Muskeln, theils von der Stellung des Gliedes abhängt,
nöthig.
Der weitaus wichtigste Sehnenreflex ist der P a t e 1 1 a r s e h n e n -
r e f 1 ex oder das K n i e p h ä n o m e n. Man kann die Prüfung auf
verschiedene Weise vornehmen. Der Untersuchte, der sitzt, stellt
entweder den Fuss mit der ganzen Sohle so auf den Boden, dass
Ober- und Unterschenkel einen Winkel von etwa 60° bilden, oder
er legt ein Bein über das andere, so dass der eine Unterschenkel
vom anderen Knie getragen wird und mit seinem Oberschenkel eben-
falls einen Winkel von 60° bildet, oder er lässt, auf dem Rand eines
Tisches sitzend, beide Unterschenkel senkrecht herabhängen. Der
Untersucher legt die linke Hand auf den zu untersuchenden M.
quadriceps (oder er beobachtet den Muskel mit den Augen), führt
mit dem in der rechten Hand gehaltenen Percussionshammer einen
kurzen kräftigen Schlag gegen die Mitte des Ligamentum patellae.
Man kann sich zum Klopfen auch des Ulnarandes der Hand, der
Fingerkuppe oder eines beliebigen Werkzeuges bedienen, doch ist es
rathsam, besonders in zweifelhaften Fällen, den Percussionshammer
zu brauchen. Unmittelbar nach dem Schlage erfolgt eine rasche.
136
Untersuchung des Bewegungsapparates.
kräftige Coiitraction des M. quadriceps, durch die der Unterschenkel,
wenn er frei hängt, gestreckt, vorwärts geworfen wird. Ist die
Keaction deutlieh, so kann man sich mit der Untersuchung des be-
kleideten Beines begnügen, ist sie zweifelhaft, so gelingt es zuweilen
noch am entkleideten Beine eine schwache oder partielle Quadriceps-
znckimg durch Gesicht oder Gefühl wahrzunehmen. Auch muss man
im letzteren Falle das Klopfen variiren, zuweilen ist nur starkes
Percutiren wirksam, zuweilen zeigen sich einzelne Partien des Lig.
pat, z.B. der innere Eand, besonders reizempfänglich.
Von den oben angegebenen Methoden ist vielleicht die in Fig. 35
abgebildete am bequemsten ; führt sie nicht zum Ziele, so kann man
die anderen versuchen, wird aber schwerlich mit ihnen mehr er-
reichen. Liegt der Kranke im Bett, so hebt man am besten mit der
untergeschob enen Linken
das Knie, bis Unter- und
Oberschenkel einen Winkel
von 60 — 70° bilden. Immer
muss der Kranke vermei-
den, seine Muskeln willkür-
lich anzuspannen. Die Ent-
spannung des Quadriceps
kann dadurch erleichtert
werden, dass man den Pa-
tienten anweist, andere Mus-
keln, besonders solche der
Arme kräftig zu innerviren,
z. B. die Fäuste zu ballen,
die Hände gegen einander
zu drücken oder dergl. (Das
sog. Jendrassik 'sehe "Ver-
fahren besteht darin, dass
der Kranke die Finger beider Hände in einander schlägt und dann
kräftig zieht, als ob er die Hände auseinander reissen wollte).
Bei scheinbarem Fehlen des Kniephänomens ist es empfehlens-
werth, erst nach wiederholter Untersuchung ein endgültiges Urtheil
abzugeben. Man hat auch empfohlen, in solchen Fällen eine Strychnin-
injeetion auszuführen: ist das Kniephänomen dauernd aufgehoben, so
bringt es auch die Strychninwirkimg nicht zum Vorschein.
Bei Gesunden ist das Kniephänomen nahezu ausnahmelos vor-
handen, es ist unter Umständen sehr schwach und schwer hervor-
zurufen, z. B. bei grosser Fettleibigkeit, bei sehr kurzer straffer Pa-
Fig. 35.
Herrorrufung des Kniephänomens.
Reflectorische Erregbarkeit. 137
tellarsehne, fehlt jedoch, wenn überhaupt, ausserordentlich selten.
Nur bei Greisen wird es oft schwach und fehlt zuweilen ganz.
Von den übrigen Sehnenreflexen sind nur wenige bei Gesunden
beständig und auch diese fehlen öfter als das Kniephänomen. Fast
immer findet man den Achillessehnenreflex. Man fasst dabei
den Fuss mit der linken Hand, hält ihn etwa im rechten Winkel zum
Unterschenkel und klopft dann auf die leicht gespannte Achilles-
sehne. Die Wirkung ist eine rasche und gewöhnlich schwache
Zuckung der Wadenmuskeln. Ferner ist beständig der Trieeps-
sehnenreflex am Arme. Man hält den Arm im rechten Winkel
und klopft dann auf die Tricepsselme oberhalb des Olecranon. Oft
auch gelingt es durch Percussion der Sehne in der Ellenbogenbeuge,
den Biceps brach, zu einer schwachen Zuckung zu bringen. Ziem-
lich beständig sind auch die von den unteren Enden des Radius
und der U 1 n a aus zu bewirkenden Periostreflexe. Diese stellen
sich gewöhnlich bei Beklopfen des Radiusendes als leichte Beuge-
bewegung des Armes, zuweilen auch als Stipulation dar, während
von der Ulna aus Zuckungen im Triceps und Deltoideus ausgelösst
zu werden pflegen. Durch de Watteville ist auch ein Kau-
muskelreflex bekannt geworden. Drückt man mit einem Papier-
messer oder einem ähnlichen Gegenstande, den man mit seinem Ende
flach auf die Zähne an einer Seite des Unterkiefers auflegt, den
letzteren etwas herab und percutirt das Papiermesser nahe den Zähnen,
so tritt beim Gesunden eine rasche Contraction der Kaumuskeln ein,
die den Unterkiefer hebt.
Durch directes Beklopfen des Muskelbauches erhält man bei
den meisten oberflächlichen grösseren Muskeln des Gesunden eine
blitzartige schwache Zuckung des ganzen Muskels, die wahrschein-
lich meist als Fascienreflex aufzufassen ist. Doch kann im einzelnen
Falle die Beurtheilung der Natur der Zuckung schwierig sein, da es
sich auch um eine directe mechanische Erregung des Muskelnerven
handeln kann. Sicher liegt ein Fascienreflex vor, wenn beim Klopfen
auf einen Muskelbauch ein anderer Muskel zuckt. (Vgl. hierzu den
Abschnitt über mechanische Muskelerregbarkeit.)
Bei pathalogischer Steigerung der Erregbarkeit sind
die Sehnenreflexe lebhafter als im gesunden Zustande, bewirkt die
mechanische Reizung auch an Stellen Zuckung, wo sie bei Gesunden
erfolglos ist, betheiligt sich eine grössere Zahl von Muskeln an der
Zuckung. Eine massige Steigerung ist nur, wenn sie einseitig vor-
kommt, zu erkennen, da auch bei Gesunden die Lebhaftigkeit der
Sehnenreflexe innerhalb ziemlich weiter Grenzen schwankt.
1 38 Untersuchung des Bewegung-sapparates.
Ist das Knie phänonien gesteigert, so bewirkt schon ein
schwaches Klopfen eine starke Quadricepszuckung, weiterhin kann
an die Stelle einer einfachen Zuckung eine Keine solcher treten
(Patellarclonus). Eine klonische Contraction kann man dann auch
erhalten, wenn man die Patella fest zwischen die Finger nimmt und
mit einem Eucke kräftig nach unten zieht, oder mit dem dem oberen
Rande der Patelle angelegten Finger die Patella nach unten drängt
und dann den Finger in der Eichtung von oben nach unten percu-
tirt. Ferner bewirkt dann auch Beklopfen der Tibia die Quadri-
cepszuckung.
Nimmt man bei gesteigerter Reflexerregbarkeit den Fuss des
Kranken in die volle Hand und beugt ihn. während das Bein im
Knie gestreckt ist, kräftig dorsalwärts, so tritt ein klonischer Krampf
der "Wadenmuskeln und unter Umständen ein Schüttelkrampf des
ganzen Beines ein. Man spricht dann vom F u s s c 1 o n u s oder Fuss-
phänomen. Erzittert das ganze Bein heftig, so wird wohl auch
der Name Spinalepilepsie gebraucht.
In Wirklichkeit handelt es sich um eine Steigerung des Achilles-
sehnenreflexes. Durch die Beugung des Fusses wird die Achilles-
sehne gedehnt, darauf antwortet eine Streckung des Fusses, wird
aber durch den Druck der Hand der Fuss dauernd dorsalwärts ge-
drängt, so folgt jeder Streckung eine neue Bewegung, d. h. Dehnung
der Sehne und es entstellt ein Wechsel von Beugung und Streckung,
dessen Dauer beliebig verlängert werden kann. Streckt man mit der
Hand den Fuss kräftig plantarwärts, so hört sofort der Krampf auf,
da dann die Sehne erschlafft wird. Bei Kranken genügt zuweilen
jedes Anstossen des Fusses im Bett, um das Fussphänomen hervor-
zurufen. Die Erhöhung des Achillessehnenreflexes kann sich auch
dadurch kundgeben, dass schon ein Klopfen auf die Torderseite des
Unterschenkels eine Contraction der Wadenmuskeln hervorruft (front -
tap der englischen Autoren). Bei Gesunden ist das Fussphänomen
auf die oben beschriebene Weise fast nie zu erregen. Dagegen ge-
lingt es auf folgende Weise: wenn der Sitzende den Fuss nur mit
dem Ballen den Boden berühren und dann das Bein auf- und nieder-
schwingen lässt. so wird nach kurzer Zeit diese zitternde Bewegung
eine unwillkürliche, wird immer stärker und lässt sich nur durch
eine kräftige Anstrengung des Willens zum Stillstande bringen.
In ähnlicher Weise erhält man statt des einfachen Kaumuskel-
reflexes bei der oben beschriebenen Prüfung ein Unterkiefer-
phänomen, einen Clonus der Kaumuskeln.
Bei Steigerung der Erregbarkeit erhält man beim Beklopfen zahl-
Reflectorische Erregbarkeit. 139
reicher Seimen Reflexe, so an den Addnctoren des Oberschenkels, den
Beugern des Unterschenkels, am Tibialis anticus, den langen Zehen-
streckern und den Peronaealmuskeln, an den Beugern und Streckern
der Hand und der Finger, am Snpinator longns u. s. w. An der Hand
sieht man in seltenen Fällen ein „Handphänomen", Beugeclonus bei
plötzlicher Streckung, Pronationscloniis bei Snpination. Zahlreiche
Periostreflexe treten auf, die zum Theil „entfernte Reflexe" sind,
zeigen sich als Zuckungen im Biceps bei Beklopfen der Clavicula.
des Pectoralis bei Beklopfen des Sternum oder der Rippen, des Del-
toideus bei Beklopfen der Spina scapulae. Ton den unteren Enden
der Vorderarmknochen aus lassen sich kräftige Zuckungen im Su-
pinator und Biceps, im Triceps und Deltoideus bewirken. Percussion
der Dornfortsätze der Halswirbel ruft Contraction der Oberarmnms-
keln hervor, solche der Lendenwirbel Contractionen der Glutäen und
der Addnctoren. Ferner beobachtet man „gekreuzte Periostreflexe"
vom Schlüsselbein aus im contralateralen Biceps, vom Condylus int.
tibiae in den Adductoren des anderen Schenkels, von den Sternal-
enden der oberen Rippen im anderen Pector. major. Die eigentlichen
Sehnenreflexe kommen selten gekreuzt vor, nur sieht man gelegent-
lich bei Beklopfung des einen Lig. patellae auch im anderen Quadri-
ceps eine leichte Zuckung.
Sind die tiefen Reflexe intensiv gesteigert, so führt auch die mit
Avillkürlichen Bewegungen verknüpfte Dehnung der Sehnen u. s. w.
zu reflectorischen Contractionen. Von ihnen wird jede absichtliche
Bewegung durchbrochen und gehemmt. Scheinbar lösen dann auch
Hautreize die Sehnenreflexe aus, denn sie bewirken eine willkürliche
oder unwillkürliche Bewegung. So kann das Fussphänomen durch
Kitzeln der Sohle zu Stande zu kommen scheinen. Bemerkenswerth
ist, dass zuweilen durch starke Reizung der Haut die Sehnenreflexe
gehemmt werden können. So kann das Kniephänomen ausbleiben,
wenn man die Haut des anderen Oberschenkels kräftig kneipt u. s. w.
Fast stets geht mit der Steigerung der Sehnenreflexe die des
Muskeltonus parallel, bei massiger Steigerung besteht erhöhte Muskel-
spannung, bei intensiver Steigerung active Contractur (vergl. S. 60 ff.).
Freilich kommen auch Fälle vor, wo trotz Steigerung der Sehnen-
reflexe die Muskeln auffällig schlaff sind, ein Verhalten, das bis jetzt
nicht recht verständlich ist.
Was unter Herabsetzung und Fehlen der Sehnenreflexe zu
verstehen sei, ergiebt sich von selbst. Zuweilen können lebhafte
Hautreflexe das Fehlen der Sehnenreflexe verhüllen, insbesondere
kann es vorkommen, dass Reizung der Haut über dem Lig. patellae
140 Untersuchung des Bewegungsapparates.
eine Zuckung des Quadriceps bewirkt, während doch das Kniephä-
nomen selbst fehlt (Pseudokniephänomen Westphal's). Man muss
demnach prüfen, ob auch Percussion oder Drücken einer Hautfalte
Quadricepszuckung hervorruft. Der Hautreflex soll immer erst kurze
Zeit nach der Reizung- auftreten.
Fehlen die Sehnenreflexe, so ist, um dies nochmals zu betonen,
durch wiederholte Untersuchung zu prüfen, ob es sich um eine vor-
übergehende Störung oder um ein endgültiges Erloschensein handelt.
Im Schlafe und in der Chloroformnarkose werden die Sehnen-
reflexe schwächer, erlöschen schliesslich. Das Kniephänomen ver-
schwindet eher als der Conjunctivareflex und soll beim Aufhören
der Narkose später als dieser zurückkehren. Bei massiger Ermüdung
durch körperliche Anstrengung oder durch Mangel an Schlaf sind die
Sehnenreflexe lebhaft, bei starker Erschöpfung zuweilen herabgesetzt.
Endlich ist noch eine Erscheinung zu erwähnen, welche viel-
leicht reflectorischer Natur ist, die sogenannte „paradoxe Con-
ti- a c t i o n " (W e s t p h a 1). Diese besteht darin, dass ein Muskel, den
man passiv verkürzt, indem man seine Ansatzpunkte einander nähert,
durch diesen Act in Contraction geräth. Sie bildet demnach eine
Art von Gegenstück zu den Sehnenreflexen, bei denen es sich um
eine plötzliche Dehnung handelt. Das Phänomen ist hauptsächlich
am M. tibialis ant. studirt worden, an dem es am häufigsten vorzu-
kommen scheint. Wenn man den Fuss des liegenden Kranken schnell
und kräftig dorsalflectirt, so sieht man, dass der Fuss, nachdem die
Hand des Untersuchenden ihn losgelassen, in der ihm gegebenen
Stellung verharrt, wobei die Sehne des Tib. ant. vorspringt, und erst
dann gleichmässig oder in Absätzen der Schwere nachgebend herab-
sinkt. Welche Bedeutung dieses pathologische Verhalten hat, das
gelegentlich auch an anderen Muskeln in entsprechender Weise be-
obachtet worden ist, wissen wir nicht.
Von hervorragender diagnostischer Bedeutung sind die Pupillen-
reflexe, deren Prüfung in dem Abschnitte über die Function der
Augenmuskeln ausführlich geschildert werden wird und über die
hier nur das Wichtigste gesagt werden kann.
Auffallend weite und bewegliche Pupillen finden wir
da, wo die reflectorische Erregbarkeit überhaupt gesteigert ist, bei
Kindern und bei nervösen, leicht erregbaren Personen. Auch im
Gebiete des Pathologischen sind sie ein Ausdruck gesteigerter Erreg-
barkeit (Nervosität, Hysterie, Manie u. s. w.). Eigentliche Mydriasis
spastica treffen wir bei directer oder reflectorischer Reizung der Sym-
Reflectoriscke Erregbarkeit. 141
pathicusfasern, durch Läsionen, die das Halsmark oder den Halssym-
pathicus selbst reizen, während lebhafter Schmerzen beliebiger Art.
Weite und starre Pupillen kommen vor:
1. bei Koma (im epileptischen Anfalle, bei Meningitis und sonst
bei sehr starkem Hirndrucke). Hier kann natürlich nur die Licht-
reaction geprüft werden. Eng ist die Pupille bei tiefem Koma nur
dann, wenn es sich um die mit Myosis einhergehenden Vergiftungen
(besonders die durch Morphium) handelt, oder wenn ein apoplectischer
Insult durch eine Brückenläsion (bes. Blutung) hervorgerufen worden
ist, oder wenn schon vor dem Eintritte des Koma Myosis durch or-
ganische Läsion (z. B. durch Tabes) bestand.
2. bei Vermehrung des intraocularen Druckes, besonders bei ent-
wickeltem Glaucom. Hier handelt es sich wohl nicht um nervöse
Einflüsse.
3. bei Läsion des N. oculomotorius. Hier fehlen natürlich die
Lichtreaction und die Mitbewegung bei Convergenz. Bestehen von
Seiten des Oculomotorius anderweite Lähmungserscheinungen, so wird
in den meisten Fällen eine Localisation möglich sein. Besteht die
Mydriasis allein, dann ist über ihre Entstehung schwer zu urtheilen.
so bei Tabes incipiens, bei der mit tabischen Veränderungen ver-
bundenen progressiven Paralyse, bei multipler Sklerose u. s. w.
Mydriasis paralytica mit Accommodationslähmung ist bekanntlich
eine Wirkung des Atropins, das die Nervenendigungen angreifen soll,
und anderer Gifte (Duboisin, Cocain). Sie kommt auch nach Diph-
therie und ziemlich selten bei Tabes vor.
Auffallend enge Pupillen findet man bei der Mehrzahl
der Greise, sehr oft bei Tabes und auch bei progressiver Paralyse,
der Tabes des Gehirns, seltener bei multipler Sklerose, bei manchen
Vergiftungen (Morphium, Tabak u. s. w.), bei manchen Eeizzustäiiden
im Auge (Iritis, Ciliarneuralgie), bei massigem Hirndrucke (Meningitis,
Durhämatom, Hirntumoren) und bei Herdläsionen der Brückengegend.
Stärkere Myosis bei Personen unter 50 Jahren ist stets pathologisch,
wie andererseits weite Pupillen bei alten, nicht an genkranken Leuten
immer auf Störungen des Nervensystems hinweisen dürften.
Bei seniler M}-osis besteht meist nur Pupillenträgheit, selten, voll-
kommene Starre. Die senile Pupillenträgheit ist eine totale, die Mit-
bewegung bei Convergenz ist vermindert und sowohl gegen Lichtreize
als gegen Schmerzreize reagirt die Iris wenig oder gar nicht. Die
Schmerzreaction aber hört früher im Leben auf als die Lichtreaction,
ist oft schon in der Mitte des Lebens kaum mehr nachzuweisen.
Bei tabischer u. s. w. Myosis besteht entweder reflektorische Pu-
142 Untersuchung des Bewegungsapparates.
pillenstarre (s. unten) oder totale Starre. Man muss dann 2 Läsionen
annehmen, deren eine Myosis paralytica, deren andere Starre ver-
ursacht.
Bei Myosis durch Hirndruck und durch Iritis handelt es sich
zweifellos um Sphincterkrampf, bestellt daher complete oder incom-
plete totale Starre,
Massige Verengerung' der Pupille mit vollkommen
e r h a 1 1 e n e r L i c h t r e a c t i o n (sog. Myosis paralytica) entsteht durch
Läsion der von der Oblongata durch das Halsmark und den N. sym-
pathicus zum Diktator iridis ziehenden Fasern. Sie wird daher
beobachtet bei Herderkrankungen der Oblongata, bei Affectionen des
Halsmarkes, besonders Myelitis cervicalis, bei Erkrankung des Hals-
sympathicus selbst (hier wohl immer einseitig). Fehlen der Schmerz-
reaction bei sonstiger guter Beweglichkeit der Pupille ist das Cha-
racteristicum der reinen Myosis paralytica.
Reflectorische Pupillenstarre, d. h. Fehlen der Licht-
reaction bei erhaltener Mitbewegung, scheint immer auf eine organi-
sche centrale Läsion zu deuten, die die Bahn zwischen Opticus und
Oculomotoriuskern unterbricht. Sie kommt vor bei Tabes und bei
progressiver Paralyse und sehr selten bei Blutungen und anderen
Herderkrankungen in der Nähe der Vierhügel. Sieht man von diesen
seltenen Herderkrankungen ab, so ist die reflectorische Pupillenstarre
pathognostisch für Tabes-Paralyse. Sie ist zuweilen mit Mydriasis,
oft mit Myosis verbunden, kann aber auch ohne Aenderung der Pu-
pillenweite bestehen. Gewöhnlich scheint bei ihr auch die Schmerz-
reaetion zu fehlen.
"Wenn auch die Innervation der Iris so verwickelt und die
Untersuchung der Pupille u. U. so schwierig ist, dass wir nicht
immer zur sicheren Unterscheidung zwischen spastischer und para-
lytischer Mydriasis oder Myosis gelangen, den Ort der Läsion genau
zu bestimmen oft ausser Stande sind, so vermindern diese Verhält-
nisse den hohen Werth der Pupillensymptome doch nicht. Dieser
Werth besteht hauptsächlich darin, dass letztere uns oft zwischen
organischer und functioneller Nervenkrankheit unterscheiden lassen,
dass sie bei bestimmten Krankheiten sehr frühzeitig und mit grosser
Eegelmässigkeit auftreten, dass sie schon bei oberflächlicher Unter-
suchung auf den rechten Weg weisen können. Findet man Pupillen-
differenz, ein Symptom, das auch der weniger Geübte leicht und
sicher nachweisen kann, so kann man freilich nur auf eine krank-
hafte Veränderung überhaupt schliessen. Geringe Differenzen in der
Weite der Pupillen sind jedoch nicht zu betonen. Sie sind zwar
Reflectorische Erregbarkeit. 143
immer etwas Krankhaftes, aber oft ohne bestimmte Bedeutung. Ist die
geringe Differenz dauernd vorhanden, so deutet sie oft auf ererbte
Instabilität, Man sieht sie bei erblich Nervösen (einmal fand ich
bei Mutter und Tochter Erweiterung der linken Pupille). Wenn
solche Belastete mit geringer Pupillendifterenz neurasthenische oder
andere Zufälle bekommen, so kann die Differenz vorübergehend zu-
nehmen. Anders ist es mit beträchtlichen Unterschieden. Sie kom-
men hie und da im Migräne-Anfälle vor, sonst selten bei leichteren
Störungen. Bei Gesunden kommt Pupillendifferenz nicht vor. Ab-
gesehen von den Fällen einseitiger Amblyopie oder Amaurose, ein-
seitiger Iriskrankheit und von denen, wo die Pupillenstörung Theil-
erscheinung einer Oculomotorius- oder Sympathicusläsion ist, ist die
beträchtliche Pupillendiiferenz am häufigsten bei Tabes, beziehungs-
weise progressiver Paralyse. Man sieht sie verhältnissmässig oft
bei Personen, die vor einigen Jahren Syphilis gehabt haben und
bei denen noch durchaus keine anderweiten oder nur unbestimmte
Nervensymptome bestehen, und kann dann in ihr den Vorläufer jener
Krankheiten vermuthen. Die reflectorische Pupillenstarre kann, um
ein anderes Beispiel zu wählen, u. U. allein uns in den Stand setzen,
zwischen multipler Neuritis und Tabes zu entscheiden, da sie allein
von den Tabessymptomen nicht durch die Erkrankung peripherischer
Nerven entstehen kann. Sie ist oft von allen Tabessymptomen das
erste und kann dem Verschwinden des Kniephänomens um längere
Zeit vorausgehen. Schwankt die Diagnose zwischen Meningitis und
Typhus oder Pneumonie, so kann eine enge und starre Pupille für
erstere entscheiden. Myosis bei einem Maniacus wird ohne Weiteres
an progressive Paralyse denken lassen. Myosis bei einem Koma-
tösen kann, trotz Fehlens jeder Anamnese, zur Diagnose einer Mor-
phiumvergiftung leiten. Reactionslosigkeit der Pupillen im epilep-
tischen Anfalle lässt am sichersten Simulation ausschliessen u. s. f.
Im Vergleiche zu der der Pupillen- und der Sehnenreflexe ist die
diagnostische Bedeutung der Hautreflexe nicht gross.
Steigerung findet man da, wo eine gesteigerte Erregbarkeit der
reflexvermittelnden grauen Substanz zu vermuthen ist, und da, wo
die vom Gehirn herabkommenden reflexhemmenden Erregungen weg-
gefallen sind. Der Typus der ersten Gruppe ist die Strychninver-
giftung. In ähnlicher Weise sind die Hautreflexe in der Krankheit
Tetanus gesteigert. Hierher gehören vielleicht die lebhaften Reflexe,
die man bei manchen sogen. Neurosen trifft, Steigerung durch Weg-
fallen reflexhemmender Einflüsse sollte man bei allen centralen Läh-
144 Untersuchung des Bewegungsapparates.
mimgen erwarten. Bei den meisten cerebralen Lähmungen aber sind
die Hautreflexe durch die sogenannte „Beflexhenmiung" herabgesetzt
oder aufgehoben (s. unten) . bei spinalen Lähmungen sind die Ver-
hältnisse sein- wechselnd. Bei transversaler Myelitis trifft man zu-
weilen in der That an dem gelähmten Unterkörper sehr lebhafte
Hautreflexe. Doch kommen auch anscheinend ganz ähnliche Fälle
Tor. wo die Hautreflexe nicht gesteigert oder gar herabgesetzt sind.
Scheinbare Steigerung der Hautreflexe kann bei Hyperästhesie der
Haut gefunden werden, sobald nämlich diese durch peripherische
Veränderungen verursacht ist.
Herabsetzung oder Aufhebung der Hautreflexe entsteht
durch unvollständige oder vollständige Unterbrechung des kurzen,
quer durch das Bückeumark führenden Beflexbogens und durch
Steigerung der reflexhemmenden Einflüsse. Demnach sind schwach
oder fehlen die Hautreflexe bei allen peripherischen Lähmungen
und Anästhesien (vergl. S. 74). Sie fehlen ferner bei den centralen
Läsionen, die mit Erregung reflexhemmender Fasern verbunden sind,
besonders bei cerebralen Hemiplegien und -anästhesien. Hier ist
wohl der einzige Bunkt. wo bis jetzt aus der Untersuchung der
Hautreflexe wesentlicher diagnostischer Gewinn gezogen werden kann.
Das Verhalten der Hautreflexe lässt oft leicht und sicher zwischen
organischer und functioneller Hemiplegie, beziehungsweise -anästhesie
entscheiden. Bei jener sind die Hautreflexe auf der Seite der Läh-
mung herabgesetzt oder aufgehoben, bei dieser sind sie auf beiden
Seiten gleich gut erhalten. 0. Bosenbach hat besonders das Ver-
halten des Baiichreflexes untersucht und ist etwa zu folgenden Sätzen
gelangt. Venu der Bauchreflex bei cerebralen Störungen einseitig
fehlt, liegt stets eine organische locale Erkrankung der gegenüber-
liegenden Hirnhälfte vor. TVenn bei einem Hirnleiden die Bauch-
reflexe beiderseitig vermisst werden, bei bestehender oder fehlender
Störung des Bewusstseins, so liegt eine diffuse Erkrankung des Ge-
hirns (Meningitis, Hirndruck u. s. w.) vor. Man kann bei Kindern
und Leuten mit straffen Bauchdecken diesen Schluss mit einiger
Sicherheit, bei Individuen mit schlaffen Bauchdecken nur mit Vor-
behalt machen. Gesichert wird hier die Annahme einer diffusen
Hirnerkrankung erst, wenn die Pupillen eng und die anderen Be-
flexe beeinträchtigt sind. Wenn, nachdem doppelseitiges Fehlen des
Bauchreflexes festgestellt war. dieser sich ein- oder doppelseitig wieder
zeigt, so ist das ein prognostisch günstiges Zeichen, da es eine locale
oder allgemeine Abnahme der cerebralen Störung (Verminderung des
Hirndruckesj anzeigt. Das Verschwinden des einen noch vornan-
Reflectorische Erregbarkeit. 145
denen Bauchreflexes bei komatösen Hemiplegischen ist ein sehr un-
günstiges Symptom, da es eine stärkere Fimctionshemmung auch in
der anderen Hirnhälfte andeutet. Dem Bauchreflex analog verhält
sich der etwas weniger beständige Cremasterreflex. Dagegen ist der
Sohlenreflex als zum Theile vom Willen abhängig nicht nur bei or-
ganischen Hirnlälmmngen, sondern auch bei hysterischen Lähmun-
gen sehr herabgesetzt. Dieses Verhalten kann einen gewissen Werth
haben, wenn die Diagnose zwischen Hysterie und spinaler Lähmung
schwankt, da bei dieser der Sohlenreflex nicht vermindert zu sein
pflegt. —
Von ungleich grösserem diagnostischen Werthe als das Verhalten
der Hautreflexe ist, wie gesagt, das der tiefen oder Sehnen-
reflexe. Lebhaft sind sie bei jugendlichen und oft bei nervösen
reizbaren Personen. Doch zeigt sich hier nie das Fussphänomen und
bleibt überhaupt die Steigerung der reflectorischen Erregbarkeit in-
nerhalb massiger Grenzen, so class eine Verwechselung mit patholo-
gischer Steigerung kaum vorkommen wird. Ganz ausgeschlossen ist
diese Verwechselung, wenn nur auf einer Körperseite oder nur an
der unteren Körperhälfte die Sehnenreflexe erhöht sind.
Steigerung der Sehnenreflexe ist meist verbunden mit
Steigerung der unwillkürlichen Muskelspannung, des Tonus. Verur-
sacht wird die Steigerung der Sehnenreflexe am häufigsten durch
Unterbrechung der Willensbahn. Sobald der Zufluss der willkürlichen
Innervation zu den Muskeln auch nur im mindesten gehemmt ist,
findet man Steigerung der Sehnenreflexe. Diese begleitet nicht nur
die organische centrale Lähmung, sondern in gewissem Grade auch
die hysterische Lähmung, ist mithin zur Unterscheidung beider, wenn
die abnorme Lebhaftigkeit der Eeflexe nicht sehr gross ist, nicht mit
Sicherheit zu verwerthen. Sie begleitet Läsionen der Pyramiden-
bahn, die noch keine wahrnehmbare Lähmung hervorgerufen haben.
Findet man z. B. deutliche Steigerung der Sehnenreflexe an der unte-
ren Körperhälfte als einziges Symptom, so ist die Vermuthung ge-
rechtfertigt, dass die spinalen Pyramidenbahnen krankhaft afficirt
seien, dass etwa ein Druck auf das Brustmark ausgeübt werde. In
ähnlicher Weise kann halbseitige Steigerung der Sehnenreflexe die
spätere Entwicklung einer Hemiplegie ankündigen. Besteht neben
den abnorm lebhaften Sehnenreflexen deutliche Lähmung, so gelten
die für die centrale Lähmung gegebenen Regeln. Nochmals sei die
grosse Bedeutung hervorgehoben, die der Nachweis gesteigerter Seh-
nenreflexe im Gebiete degenerativer Atrophie hat, er ist fast pa-
Möbius, Diagnostik dor Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 10
146 Untersuchung des Bewegungsapparates.
tliognostisch für die combinirte Erkrankung der Vorderliörner und
der Pyramideiibahnen (amyotrophische Lateralsklerose).
Ausser durch Unterbrechung- der Willensbahn kann die Steige-
rung- der Sehnenreflexe verursacht werden durch Gifte, die reizend
auf die graue Substanz des Rückenmarkes wirken. Hier kommen
wahrscheinlich die Strychninvergiftung und die Krankheit Tetanus
in Frage.
Um eine Steigerung der Erregbarkeit der grauen Substanz, die
durch unbekannte Ursachen entsteht, handelt es sich vielleicht auch
in den Fällen, wo bei abgemagerten, schwächlichen Kranken, beson-
ders bei Phthisischen und bei Typhuskraiiken, abnorm starke Sehnen-
reflexe beobachtet werden. Während die bei Strychninvergiftung und
bei Tetanus bestehende allgemeine Steigerung der Reflexe kaum zu
diagnostischen Irrthümern Anlass geben wird, muss man sich hüten,
in den letztgenannten Fällen aus den abnorm lebhaften Sehnen-
reflexen eine organische Läsion des Nervensystems zu diagnosticiren.
In einzelnen Fällen ist auch bei Läsion peripherischer Nerven,
besonders bei multipler Neuritis, das Auftreten abnorm lebhafter
Sehnenreflexe beobachtet worden, die mit Heilung der Neuritis zur
Norm zurückkehrten. Wahrscheinlich entstand hier eine durch die
entzündliche Reizung bewirkte Steigerung der Erregbarkeit im auf-
steigenden (sensorischen) Schenkel des Reflexbogens.
Endlich hat man das Fussphänomen auch bei Erkrankung des
Sprunggelenkes und bei Läsion des Periostes der Unterschenkelknochen,
gesteigerte Sehnenreflexe überhaupt bei chronischen Gelenkerkran-
kungen wiederholt gesehen, ein Befund, der wohl ebenfalls auf Reizung
sensorischer Fasern deutet.
Verminderung oder Aufhebung der Sehnenreflexe ist
gleichbedeutend mit Verminderung oder Aufhebung des Muskeltonus,
man findet daher, wo die Sehnenreflexe fehlen, ausnahmelos Schlaff-
heit der Musculatur. Beide Veränderungen müssen eintreten, sobald
der Reflexbogen shvm M (Fig. 36) an irgend einer Stelle unterbrochen
wird. So hebt sowohl Zerstörung von v (z. B. Poliomyelitis acuta)
den Sehnenreflex auf, als die von m (z. B. peripherische Lähmung
durch Neuritis), als die von M (z. B. fortschreitender Muskelschwund),
als die von h (z. B. Zerfall des Hinterhorns durch Gliomatosis spinalis).
Sitzt die Läsion auf der Strecke v m M, so besteht schlaffe Läh-
mung. Das Nähere ist schon auf S. 73 angegeben. Wiederholt sei
nur, dass der Sehnenreflex bestehen bleiben kann, so lange in dem
Reflexbogen eine grössere Zahl vollkommen gesunder Muskel- und
Nervenelemente vorhanden ist (spinale Muskelatrophie, primäre Mus-
Eteflectorische Erregbarkeit.
147
Schema des Reflexbogens, welcher zwischen senso-
rischem und motorischem Muskolnerven besteht.
M = willkürl. Muskel, m = motorischer, s = sen-
sorischer Muskelnerv. R ■= Rückenmark, a = Py-
ramidenbahn, p = Hinterstrangbahn, v = vordere
graue Substanz, h = hintere graue Substanz.
kelatrophie), dass aber, sobald alle Muskel- oder Nervenfasern auch
nur im geringsten Grade erkrankt sind, der Sehnenreflex zu verschwin-
den scheint. Es ist festgestellt wor-
den, dass z. B. eine leichte Deh-
nung des N. cruralis , die keine
deutliche Lähmung hinterlässt, das
Kniephänomen zum Verschwin-
den bringt. Deshalb darf man in
den Fällen, wo man Fehlen des
Kniephänomens ohne Lähmungs-
erscheinungen findet, z. B. nach
Diphtherie, nicht ohne Weiteres
annehmen, dass die Strecke vmM
iutact sei, dass die Läsion ausser-
halb ihrer sitzen müsse.
Bei Läsion der Strecke sh
muss Muskelanästhesie mit Fehlen
des Sehnenreflexes und Muskel-
schlaifheit entstehen. Möglicher-
weise kommt auch eine auf die
kurze Strecke zwischen h und v beschränkte Läsion vor (bei 4 in Fig. 23),
man würde dann Fehlen des Sehnenreflexes und Muskelschlaffheit
finden, ohne Lähmung und ohne Anästhesie. Da aber, wie eben be-
merkt, eine so leichte Läsion der Nerven, dass sie deren sonstige
Function nicht wahrnehmbar stört, den Sehnenreflex aufhebt, gerin-
gere Grade von Muskelanästhesie überdem schwer nachzuweisen sind,
ist es kaum möglich, im einzelnen Falle die Läsion bei 4 mit Be-
stimmtheit zu diagnosticiren.
In praktischer Hinsicht ist die wichtigste Thatsache die, dass
Verschwinden des Kniephänomens ein überaus frühzeitiges und regel-
mässiges Sjanptom der Tabes darstellt. Fehlen des Kniephänomens
und reflectorische Pupillenstarre sind die beiden objectiven Symptome,
die eine frühzeitige Diagnose der Tabes möglich machen. Sind beide
bei einer Person im mittleren Lebensalter vorhanden, so handelt es
sich höchstwahrscheinlich um Tabes. Zwar giebt es auch Fälle von
Tabes mit erhaltenem Kniephänomen, da der tabische Process die
zum Zustandekommen des Kniephänomens nöthigen Fasern verschonen
oder erst später befallen kann, ja es scheinen die Fälle nicht allzu
selten zu sein, wo das Kniephänomen erst erlischt, nachdem schon
längere Zeit deutliche tabische Symptome bestanden hatten, die Dia-
gnose am Lebenden aber wird dann nur möglich sein, wenn die
in.
148 Untersuchung des Bewegungsapparates.
übrigen Symptome, Aetiologie und Verlauf durchaus eindeutig- sind.
Andererseits darf man aus dem Fehlen des Kniephänomens ohne re-
flectorische Pupillenstarre natürlich nicht mit Sicherheit auf Tabes
sctiliessen, auch wenn sonstige Symptome (Nervenschmerzen, Anästhesie,
Ataxie u. s. w.), die bei Tabes vorkommen, bestehen. Denn es ist er-
sichtlich, dass jedweder Process, der die in den hinteren Wurzeln
vereinigten Fasern da oder dort befällt, alle diese Symptome hervor-
rufen kann. Dies gilt von der multiplen Nervendegeiieration durch
Alkohol und andere Gifte, von den allerdings sehr seltenen Fällen,
wo Neubildungen in der hinteren Hälfte des Wirbelkanals und um
die hinteren Wurzeln sich finden. Dies gilt auch vom Diabetes, wo
nicht selten, und zwar anscheinend in schwereren Fällen, das Ivnie-
phänomen fehlt und wo vielleicht auch peripherische Nervendegene-
ration vorkommt. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, näher auf
die Diagnose der Tabes einzugehen, es sollte nur hervorgehoben
werden, dass, so wichtig für diese das Verschwinden des Kniephä-
nomens ist, doch dieses S3anptom nicht als pathognostisch angesehen
werden darf, dass hier wie anderwärts zur Diagnose Berücksichti-
gung aller Symptome, des Verlaufes und der Aetiologie gehört.
Der diagnostische Werth der Sehnenreflexe, besonders des Knie-
phänomens, kann dadurch nicht vermindert werden, dass in ganz
vereinzelten Fällen das Kniephänomen fehlt, ohne dass eine Unter-
brechung des Reflexbogens anzunehmen wäre. Wie neuere Unter-
suchungen gezeigt haben, erlöschen die Sehnenreflexe des unteren
Körpertheiles dauernd, wenn ein Theil des Markes vollständig vom
Gehirn abgetrennt wird (Zerreissung u. s. w.). Auch hat man bei
einzelnen Gehirnerkrankungen , besonders bei Gehirngeschwülsten,
Abscessen, Kleinhirnerkrankungen dauerndes Fehlen der Sehnenreflexe
beobachtet. Bei starkem Fieber können die Sehnenreflexe vorüber-
gehend fehlen. Abgesehen weiterhin von dem Fehlen aller Eeflexe in
tiefer Narkose und bei schwerem Koma beobachtet man hier und da
ein angeborenes Fehlen des Reflexes bei sonst gesunden Personen.
Es scheint sich dabei vorwiegend um neuropathisch belastete Indivi-
duen zu handeln. Sodann scheint vorübergehend das Kniephänomen
nach grossen Strapazen und allerhand erschöpfenden Eingriffen (auch
unmittelbar nach epileptischen Anfällen) fehlen zu könuen. Wie diese
vorübergehende Herabsetzung des Muskeltonus zu Stande kommt, ist
nicht recht verständlich. Vielleicht kann man sie derjenigen ver-
gleichen, die dauernd bei Greisen vorkommt. Auch bei diesen kann
das Kniephänomen fehlen ohne eigentlich krankhafte Vorgänge. Da
bei ihnen häufig Myosis und Pupillenträgheit zu finden ist, Blasen-
Mechanische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln. 149
Störungen und herumziehende Schmerzen nicht selten sind, kann ein
an Tabes incipiens erinnerndes Bild entstehen.
V. Die mechanische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln.
Klopft man bei Gesunden mit dem Percussionshammer auf die
Stellen, wo motorische oder gemischte Nerven dicht unter der Haut
verlaufen, so bewirkt man in vielen Fällen eine rasche Zuckung in
den von den betroffenen Nerven versorgten Muskeln.
Am geeignetsten zur mechanischen Eeizung sind die Punkte, wo
der Nerv gegen einen Knochen gedrückt werden kann. So lassen
sich in der Eegel mechanisch reizen: der N. radialis an der Umschlag-
stelle, der N. ulnaris zwischen dem Olecranon und dem Condyl. int.,
der N. peronaeus am Capit. fibul.; zuweilen gelingt es auch am N.
facialis unterhalb des Ohres, an verschiedenen Aesten des PI. brach,
in der Supraclaviculargrube, am N. tibial. u. s. w.
Erhält man bei Beklopfen des Muskels eine rasche Zuckung, so
handelt es sich entweder um einen Fascienreflex, oder um eine me-
chanische Eeizung des Muskelnerven. Dass letzteres der Fall ist,
kann man annehmen, wenn die übrigen Sehnenreflexe erloschen sind
(z. B. bei Zuckung des Vastus int. trotz Erloschenseins des Kniephä-
nomens), oder wenn die Zuckung nur von dem motorischen Punkte
des Muskels aus zu erregen ist.
Die Steigerung der mechanischen Nervenerregbar-
keit, die natürlich nicht mit Steigerung der Sehnenreflexe verwech-
selt werden darf, giebt sich dadurch kund, dass die Eeaction auf
schwache Beize hin eintritt, intensiver ist und an Nerven und Mus-
keln sich zeigt, die sonst mechanisch nicht erregbar sind. Im Gesicht
z. B. bewirkt dann ein sagittaler Strich mit dem Hammerstiele Con-
traction aller Gesichtsmuskeln. Eine Ausbreitung der Contraction
über den Bereich des gereizten Nervenastes hinaus kann selbstver-
ständlich nicht vorkommen. Von Hyperästhesie der Haut lässt sich
der Zustand leicht dadurch unterscheiden, dass Eeizung einer Haut-
falte erfolglos bleibt. Die Steigerung oder Herabsetzung der mecha-
nischen Nervenerregbarkeit geht im Allgemeinen der elektrischen Ner-
venerregbarkeit parallel (s. diese). Ein höherer Grad der Steigerung
ist eine seltene Erscheinung, ist eigentlich nur bei Tetanie beobachtet
worden, geringere Grade sieht man gelegentlich bei Schreib krampf
und anderen Zuständen.
Ton der mechanischen Nervenerregbarkeit zu unterscheiden ist
die directe Erregbarkeit der Muskelfaser durch media-
150 Untersuchung des Bewegungsapparates.
nisclie Reize („idiomuseuläre C o n t r a c t i o n " ) . Diese giebt sich
bei Gesunden nur auf sehr starke Beize hin zu erkennen. Nach einem
heftigen Schlage auf den Muskel entsteht an der direct getroffenen
Stelle ein Wulst, der sich nur allmählich wieder ausgleicht. Schlägt
man z. B. mit dem Ulnarrand der Hand kräftig auf den Biceps eines
ausgestreckten Armes, so zeigt sich auf dem Muskel eine quere Leiste
von einigen Mm. Höhe, deren Breite ungefähr der des Handrandes
entspricht, ein Schlag mit dem Percussionshammer bewirkt einen
rundlichen Buckel u. s. w.
Bei krankhaften Zuständen ist nicht selten die idiomuseuläre
Contractilität gesteigert, so das schon leichtes Klopfen, ja ein
Streichen über den Muskel den Muskelwulst hervorruft und dieser
länger besteht als im gesunden Zustande, Immer scheint es sich
dann um pathologische Veränderungen im Muskel selbst zu handeln.
Da derartige Zustände jedoch sich bei den verschiedensten Krank-
heiten (besonders oft bei Phthisis pulm.) vorfinden, ist bis jetzt die
Steigerung der idiomusculären Erregbarkeit für sich allein kaum zu
verwerthen, sie beweist eben nur einen krankhaften Zustand des
Muskels. In den ersten Stunden nach dem Tode findet sich Steige-
rung der idiomusculären Contractilität, dann nimmt die letztere ab,
erhält sich aber 5 — 6 Stunden p. mortem.
Als Theilerscheinung krankhafter Beactionen erscheint die Stei-
gerung der idiomusculären Erregbarkeit in zwei Fällen. Erstens
nämlich findet sie sich in einem gewissen Stadium der Entartungs-
reaction und könnte hier als mechanischeEntartungsreaction
bezeichnet werden. So lange nämlich Uebererregbarkeit gegen den
galvanischen Strom besteht, beantwortet der Muskel auch mechanische
Eeize, besonders Klopfen mit einer trägen Zuckung, die ganz der
durch den galvanischen Strom ausgelösten gleicht.
Zum Anderen zeigt sich Steigerung der mechanischen Muskel-
erregbarkeit als Theilerscheinung der myo tonischen Beaction
bei Thomsen'scher Krankheit (s. unten).
VI. Die elektrische Erregbarkeit.1)
a, Methode der Untersuchung.
Zur Ausführung der elektrischen Untersuchung gehören: 1. ein
Inductionsapparat, am besten ein Dubois'scher Schlittenapparat, der
von einem Grenet'schen Tauchelement oder einigen Leclancheschen
1 1 Näheres siehe in den Lehrbüchern der Elektrotherapie.
Elektrische Erregbarkeit. Methode der Untersuchung. 151
Elementen in Gang- gesetzt wird und bei dem der Abstand beider
Bollen von einer in Millimeter getheüten Scala abgelesen werden
kann; 2. eine kräftige galvanische Batterie, gleichgültig aus welchen
Elementen sie zusammengesetzt ist; 3. ein Apparat, der die Stärke
des galvanischen Stromes zu verändern gestattet und der ein Ele-
mentenzähler oder ein Rheostat sein kann ; 4. ein Stromwender, der
sowohl einlaches Oeffnen und Schliessen, als Wendung des Stromes
gestattet, am besten der von Brenner verbesserte Siemens-Halske'-
sche Stromwender; 5. ein Apparat, mit dem man die Stärke des gal-
vanischen Stromes misst, d. h. ein Galvanometer, am besten ein nach
absoluten Einheiten getheiltes, sei es das von Edelmann, das sich
durch Zuverlässigkeit, grosse Empfindlichkeit und gute Dämpfung
auszeichnet, aber sehr theuer und als Horizontalgalvanometer un-
bequem ist, sei es das von Stöhrer, sei es das von Hirschmann, die
beide zwar dem Edelmann'schen in wissenschaftlicher Hinsicht nach-
stehen, aber beträchtlich billiger, als Verticalgalvanometer handlicher
und für practische Zwecke vollständig ausreichend sind; 6. Lei-
tungschnüre und verschiedene Elektroden, von denen am besten die
Erb'schen Formen zu benutzen sind. Neuerdings hat man empfohlen,
als Eeizelektroden immer solche von gleichem Querschnitte, sog. Nor-
malektroden zu verwenden. E r 1) hat als Normalelektroden eine vier-
eckige Platte von 10 gern Querschnitt, Stintzing eine runde con-
vexe Scheibe von ca. 3 qcm Querschnitt empfohlen.
Nur diese Apparate und die sie verknüpfenden metallischen Ver-
bindungen sind nöthig, alle aber werden bei einer vollständigen
elektrischen Untersuchung gebraucht. Dagegen sind die Apparate
zur Erzeugung statischer Elektricität unnöthig, da diese Form der
elektrischen Untersuchung bisher keine verwendbaren Ergebnisse
geliefert hat,
Man lässt eine „grosse" Elektrode auf dem Sternum oder in
dem Nacken fest aufsetzen und applicirt die andere kleinere Elek-
trode, bez. die Normalelektrode dem zu reizenden Nerven oder Muskel.
Jene heisst die indifferente Elektrode, diese die differente oder
Eeizelektro de (polare Untersuchungsmethode Brenner's).
Beide Elektroden und die Haut unter ihnen müssen mit möglichst
heissem Wasser gut durchfeuchtet sein. Die Elektroden werden fest
angedrückt und während der Reizung unverrückt festgehalten. Die
Untersuchung ist immer in derselben Weise, womöglich immer mit
denselben Apparaten vorzunehmen. Je pedantischer das Verfahren
ist, um so sicherer werden die Resultate sein. Die Prüfung hat
jederzeit an den gesunden Theilen zu beginnen.
152 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Die Prüfung mit dem faradischen Strome geht der mit dem
galvanischen voraus.
Zur Prüfung der faradisehen Erregbarkeit wählt mau, wenn ein
Nerv gereizt werden soll (indirecte Beizung, indirecte oder Nerven-
Erregbarkeit), als Reizelektrode, die mit dem negativen Pole (des
Oeffnungstromes) der secuudären Spirale verbunden wird, die „feine"
oder „kleinste" Elektrode, wenn der Muskel selbst gereizt werden
soll (directe Reizung, directe oder Muskelerregbarkeit), die „kleine"
oder die „mittlere" Elektrode. Nachdem die Electroden an ihrem
genau gewählten Platze sind, wird der Strom eingeleitet und langsam
gesteigert bis eine eben wahrnehmbare, aber deutliche (minimale)
Contraction des Muskels oder der Muskeln eintritt. Der Rollenabstand,
bei dem dieser Erfolg eingetreten ist, wird notirt. Der Vergleich mit
der gesunden Seite lehrt dann, ob die faradische Erregbarkeit normal,
gesteigert oder herabgesetzt ist. Auch kanu man bei einseitigen Er-
krankungen die bei einer beliebigen Stromstärke durch Reizung sym-
metrischer Punkte erzielten Contractionen direct vergleichen. Handelt
es sich um doppelseitige Erkrankungen, so ist die Sache schwieriger.
Um nicht auf den Vergleich mit anderen Individuen angewiesen zu
sein, hat Erb folgende Methode angegeben. Man ermittelt die Er-
regbarkeit der Nerven (und den Leitungswiderstand) an verschiedenen
Stellen des Körpers (Kopf, Rumpf, Arme, Beine), diese Stellen zeigen
constante Beziehungen ihrer Erregbarkeit und Abweichungen von
diesem relativen Verhalten können als pathologisch betrachtet werden.
Folgende 4 Nerven werden j euerseits geprüft: der Stirnast des N.
facialis (N. frontalis), der N. accessorius, der N. ulnaris (3 — 4 Cm.
oberhalb des Conclylus int. humer., bei ganz schwach gebeugtem Arme
zu untersuchen), der N. peronaeus (3 — 4 Cm. oberhalb des Capitul.
fibulae in der Kniekehle, nach innen von der Sehne des Biceps lern. ;
bei gestrecktem Beine zu untersuchen). An diesen Stellen wird so
genau als irgend möglich in der oben beschriebenen Weise der Rollen-
abstand, bei dem die minimale Contraction eintritt, bestimmt. Die
Erfahrung lehrt, dass bei Gesunden die gefundenen Zahlen für beide
Körperhälften fast genau übereinstimmen, dass alle 4 Nerven ziem-
lich bei derselben Stromstärke erregt werden, dass insbesondere die
Xn. ulnaris und peronaeus sich fast ganz gleich erhalten. Findet
sich daher bei einer Erkrankung beider Beine z. B. der Rollenabstand
der minimalen Contraction um 30 oder 40 Mm. kleiner an den Nn.
[K-ronaei als an den Nn. ulnares, während der Leitungswiderstand
derselbe ist, so kann man mit aller Bestimmtheit eine Herabsetzung
der faradischen Erregbarkeit der Nn. peronaei annehmen. Auf kleine
Elektrische Erregbarkeit. Methode der Untersuchung. 153
Differenzen aber, die 10 Min. nicht übersteigen, ist gar kein Gewicht
zu legen. Ist trotz Verminderung des Rollenabstandes der Leitungs-
widerstand vermindert, so wird der Schluss auf Herabsetzung der
Erregbarkeit noch sicherer. Ist aber bei vermindertem Eollenabstande
auch der Leitungswiderstand erhöht, so lässt sich zunächst gar kein
Schluss ziehen.
Die Muskelcontraction bei faradischer Reizung-, sowohl des Nerven
als des Muskels selbst, ist, wenn man einzelne Inductionströme ver-
wendet, eine kurze Zuckung-, kräftiger beim Oeffhungstrom als beim
Schliessungstrom. Wendet man rasch folgende Inductionströme an,
wie es gewöhnlich geschieht, so erhält man eine tetanische Contraction,
die rasch eintritt und aufhört, sobald der Strom unterbrochen wird.
Zur Prüfung der galvanischen Erregbarkeit benutzt man bei
Reizung- der Nerven und der Muskeln die „mittlere" Elektrode oder
die „Normalelektrode". Nachdem die Elektroden ebenso wie bei der
faradischen Prüfung- fixirt sind, leitet man einen schwachen galva-
nischen Strom von der indifferenten zur differenten Elektrode (so
dass die letztere Kathode ist), steigert den Strom langsam, indem
man bei jeder Stromstufe 3 kurze Stromschliessungen mit dem Strom-
wender macht, bis eine schwache, aber deutliche Zuckung bei der
Stromschliessung- eintritt. Dann beobachtet man das Galvanometer
und notirt die Stromstärke (d. h. den Ausschlag- der Galvanometer-
nadel), bei der die erste Zuckung eintrat. In der Regel kann man
sich bei Prüfung der quantitativen Erregbarkeit mit Feststellung der
zur Kathodenschliessung-zuckung (KaSZ) nöthigen Stromstärke be-
gnügen. Man kann aber auch (nach -Erb 's Vorgang) die Stromstärke
weiter steigern und den Nadelausschlag bestimmen, bei dem die KaSZ
tetanisch wird (KaSTe = Kathodenschliessungstetanus , KaDZ =
Kathodendauerzuckung). Man erhält dann 2 Zahlen, deren Verhältniss
einen Maasstab der Erregbarkeit liefert, da es beim Gesunden ziem-
lich constant ist. Soll die Prüfung noch ausführlicher sein, oder handelt
es sich um Feststellung der qualitativen Erregbarkeit (s. unten), so
wird man auch untersuchen, bei welcher Stromstärke die erste
Anodenschliessuiigzuckung (AnSZ), die erste Anodenöffnungzuckung
(AnOZ), die erste Kathodenöffnungzuckung (KaOZ) auftreten. -
Um zu erfahren, ob die erhaltenen Zahlen dem Normalen ent-
sprechen, vergleicht man bei einseitigen Erkrankungen symmetrisch
gelegene Punkte. Bei doppelseitigen Erkrankungen kann man nach
der oben beschriebenen Methode Erb 's verfahren, d. h. man bestimmt
die Erregbarkeit verschiedener Nerven, gewöhnlich der Nn. frontal.,
accessor., uln. und peronaei, deren relatives Verhalten bei Gesunden
154 Untersuchung des Bewegungsapparates.
constant ist, und ermittelt, ob die erhaltenen Zahlen sich wie bei
Gesunden zu einander verhalten. Die Erfahrung lehrt, dass insbe-
sondere die Nn. ulnares und peronaei, deren Vergleichung am wich-
tigsten ist, beim Gesunden ungefähr durch dieselbe Stromstärke (der
N. peron. braucht gewöhnlich eine etwas höhere Stromstärke) erregt
werden, dass demnach eine Abweichung von diesem Verhalten patho-
logisch ist. Auch die gleichen Nerven verschiedener Individuen pflegen
bei ungefähr derselben Stromstärke erregt zu werden. Durch die
Einführung von Galvanometern mit Angabe der absoluten Strom-
stärke ist es möglich geworden, die Resultate verschiedener Beob-
achter direct zu vergleichen, sofern diese sonst identisch verfahren,
sich gleicher Elektroden bedienen u. s. w.
Es genügt nicht, den Ausschlag des Galvanonieters anzugeben, neben
ihm muss auch die Grösse der Elektrode notirt werden, denn für die Reiz-
wirkung ist die Dichtigkeit des Stromes maassgebend und diese hängt ab
von der Grösse der Elektrode. Man fügt dem Galvanometer ausschlag als
Zähler die Grösse der Elektrode (in qcm) als Nenner hinzu. Wenn z. B.
bei Anwendung einer Elektrode von 1 0 qcm die KaSZ bei 1 MilL- Ampere
eintritt, so würde dies durch den Bruch /i0(0,l) ausgedrückt werden. Mau
kann auch sagen, KaSZ tritt ein bei 1 M.-A. (Erb's Normalelektrode),
oder bei 0,1 absoluter Dichtigkeit.
Erb fand, dass die meisten oberflächlich gelegenen Nerven die erste
KaSZ bei 0,5 bis 2,0 M.-A. (Normalelektrode) geben. Er fand z. B. bei
einem gesunden Manne KaSZ am N. front, bei 1,4 M.-A., am N. access.
bei 0,5 M.-A., am N. ulnar, bei 0,4 M.-A., am N. peron. bei 1,5 M.-A.
Stintzing fand bei Anwendung seiner Normalelektrode (ca. 3 qcm) und
des Edelmann1 sehen Galvanometers durchschnittlich KaSZ am N. frontalis
bei 1,45, am N. access. bei 0,27, am N. ulu. bei 0,55, am N. peron. bei
1,1 M.-A. Er giebt als weitere Mittelwerthe N. musculocut. 0,17, N. crur.
1,05, N. üb. 1,45, N. fac. 1,75, N. racl. 1,8.
Je grösser die Reizelektrode ist, um so grösser werden die Zahlen,
da die Dichtigkeit, mit der der Nerv getroffen wird, abnimmt.
Die quantitative Erregbarkeitsprüfung fordert Uebung und ist
auch für den Geübten zeitraubend. Die diagnostische Bedeutung ihrer
Ergebnisse ist sehr gering (s. unten). Dazu kommt, dass wirkliche
Exactheit trotz aller Vervollkommnung der Instrumente und Methoden
nicht erreicht wird. Am meisten kommen hier in Betracht die oft
individuell etwas verschiedene Lage der Nerven und die wechselnde
Dicke des Fettpolsters. Bei einem dicken Beine erhält man immer
andere Zahlen als an einem dünnen.
Die Schwierigkeiten der Methode und die Unmöglichkeit, aus ihren
Ergebnissen bestimmte Schlüsse zu ziehen, entschuldigen vor der
Hand Den genügend, der von der Bestimmung der quantitativen Er-
regbarkeit absieht.
Elektrische Erregbarkeit. Methode der Untersuchung
155
Beim Gesunden reagiren Nerven und Muskeln in gesetzmässiger
Weise verschieden, je nachdem die Reizelektrode Kathode oder
Anode ist, je nachdem der Strom geschlossen oder geöffnet wird:
Zuckungsgesetz der motorischen Nerven und Muskeln.
Bei Reizung- des Nerven erhält man folgende „Stufen" des Zuckungs-
gesetzes :
1. bei schwachem Strome tritt nur KaSZ ein, alle übrigen Reiz-
momente bleiben unbeantwortet,
2. bei mittelstarkem Strome wird die KaSZ stärker (KaSZ'),
es treten jetzt auch bei Reizung mit der Anode Zuckungen ein und
zwar tritt bald zuerst die AnSZ und dann auch die AnOZ ein, bald
erscheint diese häufiger, bald jene.
3. bei starkem Strome wird die KaSZ tetanisch oder tonisch
(KaSTe, KaDZ», AnOZ und AnSZ werden stärker, besonders AnOZ
nimmt zu (AnOZ", AnSZ') und es erscheint auch eine schwache
KaOZ. Nur bei sehr starkem Strome erreicht man schwachen
AnSTe,
1. Stufe
2. Stufe
3. Stufe
KaS
Z
Z'
Te
KaO
—
—
Z
AnS
— .
z
Z'
AnO
—
z
Z"
Dieses Zuckungsgesetz ist an allen motorischen Nerven dasselbe,
nur zeigen sich Verschiedenheiten, die auf der verschiedenen ana-
tomischen Lagerung der Nerven beruhen, insofern als bei dem einen
Nerven (z. B. N. facialis) die AnSZ vor der AnOZ auftritt, bei anderen
(z. B. N. radialis) es sich umgekehrt verhält.
Bei directer Reizung der Muskeln, d. h. wenn die Elektrode auf
den Muskelbauch aufgesetzt wird, treten in der Regel nur Schliessung-
zuckungen ein. Meist erscheint die KaSZ vor der AnSZ, aber jene
ist nicht viel grösser als diese. Ja, in nicht seltenen Fällen über-
wiegt sogar die AnSZ über die KaSZ, man beobachtet dies besonders
am M. quadriceps, deltoideus, biceps hum. und anderen grossen Muskeln.
Die Erklärung des Zuckungsgesetzes ist folgende. Die Reizwirkung
des negativen Poles, der Kathode, ist grösser als die des positiven Poles,
der Anode. Bei der Schliessung des Stromes tritt nur an der Kathode
Erregung ein , bei Oeffnung des Stromes nur an der Anode. Wird beim
lebenden Menschen ein Pol, z. B. die Anode, über einem Nerven auf die
Haut gesetzt, so tritt der Strom in den Nerven ein, da dieser aber von
gut leitendem Gewebe umgeben ist, muss der Strom ihn nicht weit von der
156
Untersuchung des Bewegungsapparates.
Fig. 37.
Grob schematische Darstellung der wirksamen Stromfäden
■bei der gewöhnlichen percutanen Application heider Elek-
troden über einem Nerven (N. ulnaris am Oberarm). Die un-
wirksamen Stromfäden punktirt. Es finden sich vier ver-
schiedene Stromrichtungen im Nerven. (Nach Erb.)
Eintrittsstelle wieder verlassen, d. h. neben der Anode muss die (virtuelle)
Kathode sein. Die Dichtigkeit des Stromes wird direct unter der Elek-
trode grösser sein als in
der Umgebung, die Eeiz-
wirkung der direct appli-
cirten Anode wird daher
stärker sein als die der
virtuellen Kathode. Immer-
hin wird diese zur Geltung
kommen. Es wird neben der
der Anode zukommenden
Oeffnungserregung eine von
der virtuellen Kathode ab-
hängige Schliessungserreg-
ung eintreten.
Setzt man die erregende
Wirkung oderEeizgrösse (R)
der Ka = 1, die der Anode
= 1/2, nimmt an, die Dich-
tigkeit des Stromes (D) di-
rect unter der Elektrode
sei = 1, die Dichtigkeit in
der Zone des virtuellen
Poles = ij-2, so ergiebt sich
folgendes. Die Stärke der
einzelnen Zuckungen entspricht dem Product aus Eeizgrösse des Poles
und Dichtigkeit des Stromes (ED). Ist die Eeizelektrode die Ka, so wirkt
sie bei der Schliessung des Stromes mit der Eeizgrösse 1 und der Dichtigkeit
1 : ED = 1 = KaSZ. Bei der Oefihung findet die Reizwirkung an der
virtuellen Anode mit der Eeizgrösse C/2) und mit der Dichtigkeit lJi statt:
ED = i/i = KaOZ. Ist aber die Eeizelektrode die An, so tritt bei der
Schliessung des Stromes die Eeizwirkung in der Zone der virtuellen Ka-
thode ein, wo die Dichtigkeit V2 ist, aber mit der Eeizgrösse der Ka = 1,
also: ED = xji = AnSZ. Bei der Oeffnung findet jetzt die Beizwirkung
an der Anode selbst (D = 1) statt, aber nur mit der Eeizgrösse der An = 1/-2,
also: ED =V2 = AnOZ.
Xach dieser schematischen Darstellung Erb's ordnen sich die Beiz-
momente, wie es dem Znckungsgesetz entspricht:
KaSZ = 1 oder = 4
AnSZ = V2 * =2
AnOZ = 7-2 * = 2
KaOZ =V4 '- = 1.
Dass beim Muskel nicht selten AnSZ = oder ^> KaSZ, erklärt sich
wohl aus der verwickelten Lagerung der vielfachen anodischen und ka-
thodischen Stellen in den massiven Muskeln. Gegen den kurzdauernden
Oeffnungsreiz scheint der Muskel sehr wenig empfindlich zu sein, daher
fehlen Oefinungzuckungen bei directer Muskelreizung gewöhnlich.
Alle durch galvanische Nerven- oder Muskelreizung bewirkten
Zuckungen sind, sofern sie nicht bei starkem Strome tetanisch werdet],
Elektrische Erregbarkeit. Methode der Untersuchung:.
157
blitzartig- rasch. Unter normaler qualitativer Erregbarkeit verstellt
man, dass die Reactionen dem Zuckungsgesetz gemäss erfolgen und
dass die Zuckungen den blitzartigen Charakter haben.
Dichtigkeit = 'fe"*-
Dichtigkeit = 1
Fig. 38.
Schematische Darstellung der verschiedenen Dichtigkeit an dem differenten (— ) und dem
virtuellen (f) Pol bei unipolarer Application der Ka am Nerven. (Nach Erb.)
b. Pathologische Veränderungen der Erregbarheit.
Die diagnostische Bedeutung von Veränderunge n derquan-
titativen Erregbarkeit ist bis jetzt durchaus nicht gross.
1. Die Steigerung der Erregbarkeit hat bisher nur bei
einer einzigen Krankheit diagnostische Bedeutung gefunden, der
Tetanie. Bei dieser treten die faradischen Contractionen schon bei
grossem Bollenabstande ein, erscheint die KaSZ bei ganz schwachem
Strome und geht sehr rasch in Tetanus über, zeigt sich früh und
lebhaft AnOZ, die bei stärkerem Strome zu dem am Gesunden nicht
beobachteten AnOTe wird.
Im Uebrigen ist die Steigerung der Erregbarkeit selten, man
beobachtet sie gelegentlich bei Hemiplegien, bei Tabes, bei frischen
peripherischen Läsionen.
2. Die einfache Verminderung der E r r e g b a r k e i t ist zwar
viel häufiger als die Steigerung, aber ebenfalls ohne vielseitige dia-
gnostische Bedeutung. Der positive Schluss, den sie ebenso wie die
Steigerung gestattet, ist der, dass in der That eine krankhafte Ver-
änderung der motorischen Bahn vorliegt. Die quantitative Erreg-
barkeitsprüfimg kann daher von Nutzen sein, wenn zwischen orga-
158 Untersuchung des Bewegungsapparates.
nisclier und fimctioneller Erkrankung zu entscheiden, oder wenn
Simulation auszuschliessen ist. Freilich sind die Fälle dieser Art
selten, in denen ohne elektrische Untersuchung ein Urtheil nicht
abgegeben werden kann. Ist überdem die verminderte Erregbarkeit
nicht ganz ausser allem Zweifel, so ist grosse Vorsicht im Schliessen
rathsam. Geringe Veränderungen der Erregbarkeit sollten nur dann
in Betracht gezogen werden, wenn sie von einem geübten Beobachter
bei wiederholter Untersuchung nachgewiesen worden sind.
Natürlich kommen sehr verschiedene Grade der Verminderung
vor. Zur Erzielung der faradischen Contraction müssen die Rollen
immer mehr genähert werden, bis schliesslich der stärkste Strom
keine Wirkung mehr hat. Bei galvanischer Reizung schwindet KaOZ,
dann sind AnOZ, AnSZ und KaSTe nicht mehr zu erzielen, nur
schwache KaSZ bleibt übrig. Wenn auch Stromwendungen (Voltaische
Alternativen), die beträchtlich stärker wirken als einfache Strom-
schliessungen, bei stärkstem Strome keine Zuckung hervorrufen,
spricht man von Erloschensein der galvanischen Erregbarkeit.
Die einfache Verminderung der Erregbarkeit wird beobachtet
bei Muskelatrophie ohne Entartung der Nerven und Muskeln, dem-
nach bei Dystrophie musc. progressiva, bei Muskelschwund nach
Gelenkkrankheiten, bei mannigfachen cerebralen und spinalen Af-
fectionen, die im Laufe der Zeit zu einfacher Muskelatrophie führen.
In manchen Fällen ist ihr Auftreten noch nicht erklärt, so in Fällen
von acuter Myelitis, aufsteigender progressiver Lähmung, periphe-
rischer Lähmung u. s. w.
Die einfache Verminderung der Erregbarkeit kommt neben der
sogleich zu besprechenden Entartungsreaction vor bei amyotrophi-
scher Lateralsklerose, spinaler progressiver Muskelatrophie und pro-
gressiver Bulbäratrophie. Hier zeigt sie die Mehrzahl der kranken
Muskeln, während einzelne Muskeln oder Muskelbündel Entartungs-
reaction erkennen lassen.
Sie kommt nach der letzteren vor, wenn alle degenerirten Nerven-
und Muskelfasern abgestorben sind, ein kleiner Theil aber der Ver-
nichtung entgangen ist, wie man dies gelegentlich nach Poliomyelitis
acuta beobachtet. Erloschen ist die elektrische Erregbarkeit, wenn
der Muskel gänzlich zerstört ist. Scheinbar erloschen ist sie, wenn
bei Läsionen peripherischer Nerven der elektrische Reiz oberhalb
der Läsionstelle einwirkt, während bei leichter Lähmung unterhalb
dieser Stelle der Nerv erregbar ist.
Von ungleich grösserer diagnostischer Bedeutung als die nur
quantitativen Veränderungen sind diejenigen Veränderungen der elek-
Elektrische Erregbarkeit. Pathologische Veränderungen der Erregbarkeit. 159
trischen Erregbarkeit, die auch qualitativer Natur sind und unter
der Bezeichnung- Entartungsreaction (Erb) zusammengefasst
werden. Die Entartungsreaction (EaR) tritt in verschiedener Form
auf, der „completen EaR" steht die „partielle EaR," gegnüber.
Die complete EaR stellt sich folgendermaassen dar. Während
bei den nur quantitativen Veränderungen Reizung des Nerven und
Reizung des Muskels dasselbe Resultat geben, ist hier die Erreg-
barkeitsveränderung des Nerven von der des Muskels ganz verschieden.
Ist ein Nerv durchtrennt oder sonst schwer lädirt, so zeigt zuweilen
das peripherische Stück eine 1 — 2 Tage dauernde Steigerung der
Erregbarkeit, dann aber sinkt die letztere rasch ab, um nach 10 bis
14 Tagen vollständig zu erlöschen. Der Nerv verhält sich gegen den
galvanischen und faradischen Strom ganz gleich, beide vermögen ihn
erst nur schwer, dann gar nicht mehr zu erregen. Die gänzliche
Unerregbarkeit des Nerven dauert je nach der Schwere der Läsion
verschieden lange, ist in unheilbaren Fällen dauernd. Ist aber die
Motilität zurückgekehrt, d. h. ist der Nerv soweit wiederhergestellt,
dass er den Erregungsvorgang zu leiten vermag, so beginnt früher
oder später nach diesem Zeitpunkt auch die elektrische Erregbarkeit
wieder, nimmt aber nur ganz langsam zu und bleibt lange vermindert,
auch dann, wenn schon die willkürliche Beweglichkeit vollständig
wiederhergestellt ist. Bemerkenswerth ist, dass in dem lädirten Nerven
die elektrische Erregbarkeit oft noch lange fehlt trotz wiedererlangter
Leitungsfähigkeit. Nur Reize, die oberhalb der Läsionstelle einwirken,
sowohl der Wille als der elektrische Strom, vermögen dann Con-
traction zu erregen.
Der Muskel verhält sich gegen den faradischen Strom ebenso
wie der Nerv. Die faradische Erregbarkeit sinkt rasch und ist am
Ende der 2. Woche etwa erloschen. Erst nach der Erregbarkeit
des Nerven kehrt die faradische Erregbarkeit des Muskels zurück
und noch etwas länger als jene bleibt sie vermindert. Anders ver-
hält sich die galvanische Erregbarkeit des Muskels, auch sie sinkt
zunächst etwas, aber im Laufe der 2. Woche etwa beginnt sie zu
steigen und wird übernormal. Die Steigerung der Erregbarkeit kann
sehr beträchtlich sein, so dass Stromstärken lebhafte Contraction be-
wirken, die bei dem gesunden symmetrischen Muskel gänzlich wir-
kungslos bleiben. Zugleich verliert die Zuckung ihren blitzartigen
Charakter, sie wird träge, langgezogen und dabei kraftlos und geht
rasch in einen während der Stromdauer anhaltenden Tetanus über.
Neben der Zuckungsträgheit zeigt sich eine Aenderung des Zuckungs-
gesetzes. Die AnSZ tritt gleichzeitig mit der oder früher als die
160
Untersuchung des Bewegungsapparates.
KaSZ auf, ist ebenso gi'oss oder grösser als diese (AnSZ >> KaSZ).
Beispielsweise zeigte sich bei einer Lähmung- des linken Daumenballens
nach Bleivergiftung die AnSZ bei 2 Milli-Daniell, die KaSZ bei 6
Milli-Daniell, jene war ganz träge und etwa um 3 mal grösser als
die etwas weniger träge KaSZ. Ferner zeigen sich Oeifnungzuckungen.
die beim gesunden Muskel fehlen, und zwar ist gewöhnlich KaOZ =
AnOZ. Immerhin sind die OZZ. nur in der ersten Zeit deutlich.
Gurven von Schliessungzuekungen bei directer (unipolarer) Muskelreizung
im Peronaeusgebiet am Unterschenkel. Ka = KaSZ, An = AnSZ.
:fc
X
iL
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A_
jIl
TL
J^-
I
JX_
Ka
An
Ka
An .
Ka
An
Ka
An
Ka
An
Ka
An
1. Curven von einem gesunden Mädchen. 33 El. KaSZ erheblich grösser als AnSZ.
2. Fall von Poliomyelit. anter. chron. — EaR. — Curve vom Peronaeusgebiet.
AnSZ erheblich grösser als KaSZ.
33 Elem. —
Ka
An
KCL
An'
Ka,
An
1
3. Derselbe Fall. — Bei 40 Elem. — TJeberwiegen der AnSZ und träger Charakter der Zuckungen
sehr deutlich.
Fig. 39.
pflegen in späteren Stadien zu verschwinden. Beides, die Trägheit
der Zuckung und das Ueberwiegen der AnSZ über die KaSZ. wird
sehr anschaulich durch graphische Darstellung, wie die von Käst
aufgenommenen Curven der Fig. 39 lehren. Die Steigerung der
galvanischen Erregbarkeit hält etwa 1 — 2 Monate an. dann sinkt
die Erregbarkeit, während die qualitativen Veränderungen bestehen
bleiben. Endlich verlieren sich diese allmählich und nur Abnahme
der galvanischen Erregbarkeit zeigt sich noch lange nach der sonstigen
Wiederherstellung. Die qualitativen Veränderungen der galvanischen
Muskelerregbarkeit bestehen oft noch, wenn schon die Erregbarkeit
Elektrische Erregbarkeit. Pathologische Veiänderungen der Erregbarkeit. 161
des Nerven- zurückgekehrt ist, so dass dann vom Nerven aus zwar
schwache, aber qualitativ normale Zuckungen erreg! werden, während
bei directer Muskelreizung die Zuckung noch trüge ist und AuS
stärker wirkt als KaS. Bei unheilbaren Zuständen sinkt die galva-
nische Erregbarkeit tiefer und tiefer und schiesslich zeigt nur noch
eine schwache träge AnSZ, dass ein Rest des Muskels vorhanden
ist. Oft erst nach Jahren schwindet auch diese AnSZ.
Ueber den Verlauf der completen EaE geben die Schemata
Erb's (Fig. 40) eine Uebersicht. Diese orientiren zugleich über den
Zusammenhang der verschiedenen Symptome der EaE, mit den in
Nerv und Muskel ablaufenden Degenerations-, beziehungsweise Re-
generationsvorgängen. Die erste Ordinate bezeichnet den Eintritt
der Läsion und damit das Aufhören der Motilität (. . .), das Stern-
chen (*) giebt die Rückkehr der Motilität an. die wellenförmige
Führung der die galvanische Muskelerregbarkeit bezeichnenden Linie
deutet auf die qualitativen Aenderungen jener.
Während demnach die complete EaR charakterisirt ist durch
Fehlen der Erregbarkeit des Nerven gegen beide Ströme und der
Erregbarkeit des Muskels gegen den faradischen Strom einerseits,
durch Steigerung der galvanischen Muskelerregbarkeit mit Zuckungs-
trägheit und Umkehrung des Zuckungsgesetzes andererseits, zeigt
sich bei der partiellen EaR dieselbe Veränderung der galvani-
schen Muskelerregbarkeit, aber ohne Verlust der galvanischen Nerven-
erregbarkeit und der faradischen Nerven- und Muskelerregbarkeit.
Obgleich die galvanische Erregbarkeit des Muskels beträchtlich ge-
steigert ist, die Zuckung bei directer Muskelgalvanisirung ausgeprägt
träge und AnSZ >> KaSZ ist, tritt im Nerven nur ein geringes Sinken
der faradischen und galvanischen Erregbarkeit ein, reagirt der Muskel
gegen den faradischen Strom nur um weniges schwächer, sind die vom
Nerven aus erregten Zuckungen nicht träge. Ein Bild dieser Ver-
änderungen giebt Fig. 41.
Zwischen der completen und der eben geschilderten partiellen
EaR steht „die partielle EaR mit indirecter Zuckungsträgheit".
Diese ist bisher nur selten beobachtet worden und besteht entweder
darin, dass nicht nur bei galvanischer Muskelreizung, sondern auch
bei faradischer Reizung des Nerven oder des Muskels die Zuckung
träge ist (faradische EaR R e m a k ' s), während bei indirecter galva-
nischer Reizung rasche Zuckungen auftreten, oder darin, dass sowolü
bei directer als indirecter Reizung mit beiden Stromesarten die
Zuckung träge ist. Im letzteren Falle sind die durch directe Reizung
bewirkten Zuckungen noch etwas träger als die vom Nerven aus er-
M ii b i u s , Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 1 1
162
Untersuchung; des Bewegungsapparates.
regten, erhält man vom Nerven aus KaSZ und AnOZ, vom Muskel
aus nur AnSZ und KaSZ.
Schemata der completen EaR in Beziehung auf Motilität, faradische und galva-
nische Erregbarkeit des Nerven und des Muskels; darüber die Bezeichnung der
gleichzeitigen histologischen Veränderungen.
Degenerat. Atrophie u. Kernwucherung
des Nerven der Muskelfasern Eegenerat.
Cirrhose
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. Woche.
1. Lähmung mit relativ frühzeitiger "Wiederkehr der Motilität.
Atrophie etc.
der Muskeln
Cirrhose
Eegenerat.
des Nerven
1. 2. 5. 6. 10. 15. 20. 25. 30. 35. 40. 45. 50. 55. Woche
2. Lähmung mit später Wiederkehr der Motilität.
erat.
jrven Atrophie. Kernwucherung, Cirrhose
Völlig. Schwund
1. 3. 10. 20. 30. 40. 50. 60. 70.
90. 100. Woche
Motilität
Galv.
3 l Farad.
Galv.
u. far.
O ', LI. iC»
fc I Err
3. Unheilbare Lähmung. Motilität bleibt verschwunden.
Fig. 40.
Zwischen den verschiedenen Formen der EaR finden sich alle
möglichen Abstufungen, ja bei demselben Individuum kann aus der
partiellen EaR die complete hervorgehen. Auch beobachtet man
Elektrische Erregbarkeit. Pathologische Veränderungen der Erregbarkeit. 1&3
Zwischenglieder zwischen dem normalen Verhalten und der partiellen
EaR. Allerlei Abweichungen bezüglich des Verlaufes kommen vor.
wie dies bei der Verwickeltheit der pathologischen Verhältnisse nicht
anders zu erwarten ist. Um die EaR in allen Verhältnissen zu er-
kennen, bedarf es grosser Sachkenntniss und Uebung. Man muss
störende Contractionen anderer Muskeln durch passende Stellung
der Elektroden, oder auch durch Fixirung der nicht untersuchten
Muskeln auszuschalten wissen. In späten »Stadien bereitet oft die
starke Herabsetzung der Erregbarkeit Schwierigkeiten, man bedarf
dann grosser Stromquantitäten. Die Erregbarkeitsteigerimg ist oft
nur kurzdauernd, daher zur Zeit der Untersuchung nicht mehr nach-
zuweisen. Auch das Ueberwiegen der AnSZ ist nicht immer deutlich.
Motilität
Nerv ':
Degenerative Atrophie der
— , Muskelfasern .. —
Kegeneration
9. Woche
Fig. 41.
Schema der partiellen EaE (nach Erb). Die faradische und galvanische Erregbarkeit des Nerven
und die faradische Erregbarkeit des Muskels sinken nur um ein (Geringes. Die Motilität kehrt früh-
zeitig wieder. Ausgleichung rasch und vollständig. Degeneration des Nerven fehlt wahrscheinlich.
besonders in späteren Stadien findet man KaSZ = AnSZ. Dagegen
fehlt die Trägheit der Zuckung nie, sie ist das eigentliche Kenn-
zeichen der EaR: wo Zuckungsträgkeit ist, da ist EaR.
Der letzte Satz bedarf nur insofern einer Einschränkung, als Erb
nachgewiesen hat, dass auch bei Thomsen' scher Krankheit die Muskeln mit
träger Zuckung reagiren können. Hier aber ist die Gesammtheit der
Reaction so charakteristisch, dass eine Verwechselung mit EaR kaum
möglich ist.
Ausserdem kommt EaR nur umschrieben, fast ausschliesslich an mehr
oder weniger gelähmten Muskeln und vorübergehend vor, die Reaction bei
Thomsen' scher Krankheit ist an allen Muskeln vorhanden, die Muskeln
sind nicht gelähmt, der Zustand ist dauernd.
Die pathologische Erfahrung und der Versuch ergeben, dass de-
geiierative Atrophie der unterhalb der Läsion gelegenen motorischen
11*
164 Untersuchung des Bewegungsapparates.
Nervenfasern und der Muskeln eintritt, sobald die Yorderhörner des
Rückenmarks oder die Kerne der Hirnnerven, die vorderen "Wurzeln
oder die Nerven selbst lädirt werden. Der klinische Ausdruck der
degenerativen Atrophie ist die EaE. Aus dem Nachweise der letz-
teren ergiebt sich der Schluss. dass degenerative Atrophie der Nerven
und Muskeln besteht. Läsionen oberhalb der Yorderhörner (der
Nervenkerne des Hirnst anmies), d. h. solche, die auf die weisse Eücken-
marksubstanz oder die centralen Bahnen des Gehirns beschränkt
sind, bewirken in der Kegel degenerative Atrophie ebensowenig wie
rein musculäre Erkrankungen.
Die EaE kommt demnach vor bei Poliomyelitis, primärer De-
generation der Yorderhörner (amyotrophischer Lateralsklerose, pro-
gressiver spinaler Muskelatrophie, Bulbärparalyse) und allen spinalen
Erkrankungen, die sich auf die Yorderhörner erstrecken (diffuser
Myelitis, G-liomatosis spin. u. s. w.). bei sämmtlichen Erkrankungen
peripherischer Nerven, sobald sie stark genug sind, um Unterbrechung
der Faser und damit degenerative Atrophie zu bewirken (Traumata,
Neuritis, primäre Nervendegeneration).
Je vollständiger die EaE ist, um so schwerer ist im Allgemeinen
die Läsion. um so länger die Dauer der Krankkeit, um so fraglicher
die Wiederherstellung; Demnach bieten die verschiedenen Formen
der partiellen EaE eine bessere Prognose als die complete EaE (vergl.
ilie Schemata). Eine Ausnahme machen die primären Erkrankungen
der motorischen Bahn (amyotrophische Lateralsklerose, progressive
spinale Muskelatrophie, Bulbärparalyse). Bei ihnen findet sich meist
nur partielle EaE und zwar nur in dem kleineren Theil der erkrankten
Muskeln, während der grössere Theil einfache Herabsetzung der Er-
regbarkeit zeigt, und trotzdem ist die Prognose ungünstig, weil diese
Krankheiten ihrer Natur nach progressiv sind. Die Muskeln mit
completer EaE sind während längerer Zeit gelähmt, die mit par-
tieller EaE sind meist auch gelähmt oder wenigstens paretisch. In
seltenen Fällen aber hat man EaE. sowohl complete als partielle, in
gar nicht gelähmten Muskeln nachgewiesen, ein schwer zu erklären-
der Befund.
Aus dem Bisherigen ergiebt sich, dass die EaE die Hauptsache
in der Elektrodiagnostik ist. Neuere Untersuchungen haben freilich
auch ihren Werth vermindert, da sie gezeigt haben, dass in seltenen
Fällen nicht nur durch rein muskuläre, sondern auch durch centrale
Erkrankungen EaE entstellt. Dass sie bei primären Muskelkrank-
heiten vorkommen könne, musste man schon nach experimentellen
Ergebnissen vermuthen. Man hat sie tliatsächlich bei Trichinose
Elektrische Erregbarkeit. Pathologische Veränderungen der Erregbarkeit. 165
und hie und da auch bei Dj^strophie gefunden. Man hat sie ferner
einigemale hei centraler Lähmung ohne peripherische Nervenerkran-
kung gefunden.
Immerhin sind die Ausnahmen von den oben gegebenen Regeln
so selten, dass diese für die Praxis auch fernerhin gelten können.
Von anderweiten Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit
der Nerven und Muskeln ist wenig zu berichten.
Diagnostische Bedeutung kann nur der die Thomsen'sche Krank-
heit (Myotonia congenita) begleitenden Reaction zuerkannt werden.
Die Reaction bei Thomsenscher Krankheit ist von Erb als myo-
tonische Reaction (MyR) geschildert worden. Die mechanische
Erregbarkeit der motorischen Nerven ist normal oder herabgesetzt —
die der Muskeln erhöht und verändert (träge, tonische Contraction
mit sehr langer Nachdauer). Die faradische Erregbarkeit der Nerven
ist normal — die Muskeln gerathen durch stärkere faradische Ströme
in eine nachdauernde Contraction. antworten aber auf einzelne, auch
auf stärkste, Oeffnungschläge mit blitzähnlicher Zuckung. Die gal-
vanische Erregbarkeit der Nerven ist normal — die Muskeln da-
gegen zeigen erhöhte galvanische Erregbarkeit mit qualitativer Ver-
änderung, d. h. AnS wirkt annähernd gleich stark ein, zuweilen
stärker als KaS, und alle Contractionen sind träge, tonisch, sehr
lange nachdauernd. Endlich beobachtet man das Phänomen rhyth-
mischer, wellenförmiger Contractionen bei stabiler Stromeinwirkung,
d. h. in der Sekunde laufen etwa 1 — 3 Wellen von der Ka nach der
An hin.
In ganz seltenen Fällen hat man Abweichungen vom Zuckungs-
gesetze bei Reizung des Nerven (AnSZ "> KaSZ) oder verschiedenes
Verhalten des Nerven gegen den faradischen und den galvanischen
Strom gesehen. Doch haben diese Raritäten bis jetzt keine diagno-
stische Bedeutuno-.
VIERTES HAUPTSTÜCK.
Untersuchung des Empfindungsapparates.
Vorbemerkungen.
Der Empfindungsapparat besteht aus den die Reize aufnehmenden
Endapparaten, den centripetal leitenden Bahnen und den centralen.
Apparaten, durch die die Erregung auf motorische Theile übertragen
wird und die beim Empfinden in Thätigkeit sind. Man muss an-
nehmen, dass von jeder empfindlichen Stelle des Körpers eine centri-
petal leitende Bahn sich bis zur Grosshirnrinde erstreckt und dass
das Ende dieser Bahn verknüpft ist mit dem Anfange der Willens-
bahn. Auf diesen Wegen muss sich der Erregungsvorgting fortpflanzen,
wenn auf Eeize hin willkürliche Bewegungen eintreten. Da aber
ohne Empfindung und Willen auf Eeizung empfindlicher Theile hin
Bewegungen erfolgen können und diese auch eintreten, wenn eine
Unterbrechung der centripetalen Bahn im Rückenmark oder Gehirn
stattgefunden hat, müssen im Rückenmark und Gehirnstamm Ver-
bindungen zwischen der centripetalen und der centrifugalen Bahn
bestehen, die die Reflexbogen darstellen.
Eine directe Untersuchung des Empfindungsapparates, d. h. der
centripetal leitenden Apparate ist nur an einer Stelle möglich, die
Netzhaut allein kann durch den Augenspiegel besichtigt werden.
Im Uebrigen sind wir darauf angewiesen die Function zu prüfen,
über die wir durch Aussagen des Untersuchten oder durch Reflex-
bewegungen Aufschluss erhalten. Bewirkt Reizung empfindlicher
Theile eine Reflexbewegung, so ist der Reflexbogen durchgängig.
Fehlt die erwartete Reflexbewegung, so kann die Läsion an ver-
schiedenen Stellen sich befinden. Um auf eine Läsion der centri-
petalen Bahn schliessen zu können, müsste nachgewiesen sein, dass
sowohl die centrifiiü'ale Bahn als das centrale Verbinduno-stück in-
Das Gesicht. 167
tact ist. Da dieser Nachweis nicht immer. zu führen ist, kann die
Prüfung der Reflexbewegungen nur in beschränktem Maasse zur
Untersuchung- des Empfindung-sapparates dienen. Wir werden sie
zu diesem Zwecke nur da anwenden, wo wir über die Empfindun-
gen keine Auskunft erlangen können (Bewusstseinsstörung , Unter-
brechung der centripetalen Bahn im Gehirn oder Rückenmark).
Wie die Reflexe zu prüfen sind, ist früher gesagt.
Man spricht gewöhnlich von 5 Sinnen, dem Gesicht, Gehör,
Geruch, Geschmack und Gefühl, indem man unter der Bezeichnung-
Gefühl alle die verschiedenartigen Empfindungen zusammenfasst, die
durch Reizung der Haut, der Schleimhäute, der Muskeln, der Fascien,
der Bänder, der Knochen und Gelenke u. s. w. bewirkt werden.
I. Das Gesicht.
Ueber die Ausführung der o p h t h a 1 m o s k o p i s c h e n P r ü f u n g
kann hier nichts beigebracht werden. Nur auf ihre überaus grosse
Wichtigkeit sei hingewiesen; auch da, wo keine deutlichen Seh-
störungen bestehen, giebt sie zuweilen wichtige Aufschlüsse. Sie ist
in zweifelhaften Fällen von Nervenkrankheiten nie zu unterlassen.
Auch bezüglich der Funktionsprüfung des Auges muss auf die
Lehrbücher der Ophthalmologie verwiesen werden. Nur wenige
Bemerkungen seien gestattet.
Bei Prüfung der centralen Sehschärfe Averden gewöhnlich
Buchstaben und Zeichen (am häufigsten die von Snellen empfoh-
lenen) benutzt. Jede Probe ist mit einer Zahl bezeichnet, die die
Entfernung in Metern ausdrückt, in der ein normales Auge sie er-
kennt. Man bezeichnet die Sehschärfe (Y) durch einen Bruch, dessen
Nenner die Nummer der Schriftprobe, dessen Zähler die Zahl der
Meter, innerhalb derer die Probe erkannt wurde, ausdrückt. Erkennt
das geprüfte Auge die Probe 5 auf 5 Meter, so ist V = 5/s = 1,
d. h. normal, erkennt es nur Probe 9 auf 5 Meter, so ist V = 5/9.
also ungefähr = xj-i. Fehler der Refraction müssen natürlich be-
rücksichtigt, beziehungsweise corrigirt werden. Bei sehr vermin-
derter Sehschärfe lässt man Finger zählen, oder, wenn dies nicht
möglich, prüft man, ob im dunkeln Räume Lichtschimmer wahr-
genommen wird. Verminderung des Lichtsinns heisst Amblyopie,
Aufhebung Amaurose.
Die Prüfung des Farbensinnes wird gewöhnlich so ausge-
führt, dass der Untersuchte aufgefordert wird, von einer Anzahl
bunter Papiere, Wollenfäden, Pulverproben die ähnlichen zusammen-
168 Untersuchung des Empfindungsapparates.
zulegen oder zu einer bestimmten Probe die entsprechende aus dem
Haufen zu wählen. Aufhebung des Farbensinnes heisst Achromat-
opsie, partielle Störungen heissen Dyschromatopsie.
Das Gesichtsfeld (GF) wird mittelst des sogenannten Peri-
meters geprüft. Zum vorläufigen Nachweise gröberer Störungen,
besonders der Hemianopsie, genügt es, den Kranken etwa die Nase
oder das Auge des Arztes in ca. 50 Cm. Entfernung fixiren zu lassen
und dann zu beobachten, wann der von rechts oder von links ge-
näherte Finger wahrgenommen wird. Zur Prüfung des GF für
Farben benutzt man nicht den Finger, sondern Stücke farbigen
Papier es oder dergi. Man spricht von Gesichtsfeldeinschränkung
(GFE), die concentrisch, sectorenförmig oder halbseitig ist. Ausfall
einer Hälfte des Gesichtsfeldes wird Hemianopsie oder Hemiopie
genannt. Die Hemianopsie ist eine temporale, wenn das Auge die
äussere Hälfte des Gesichtsfeldes nicht sieht, eine nasale, wenn die
innere Hälfte ausfällt, eine homonyme rechtsseitige, wenn auf beiden
Augen die rechte Hälfte des GF fehlt u. s. w.
Die elektrische Untersuchung der Retina, beziehungsweise des
Opticus wird am besten so ausgeführt, dass die kleine differente Elektrode
auf die geschlossenen Lider gesetzt wird; während die grosse indifferente
sich im Nacken, auf dem Brustbein oder sonstwo befindet. Der faradische
Strom bewirkt keine deutlichen Gesichtsempfindungen, beim Schliessen und
Oeffnen des galvanischen Stromes wird das Gesichtsfeld blitzartig erhellt
und im Centrum zeigt sich ein heller Fleck (gewöhnlich eine runde Scheibe).
Bei manchen Personen ist der helle Fleck gefärbt, dann treten bei KaS
und AnO einerseits und bei KaO und AnS andererseits dieselben Färbungen
ein, z. B. dort gelb, liier blau. Ueber krankhafte Reactionen wissen wir
bisher weiter nichts, als dass bei Amblyopie die galvanischen Phosphene
abgeschwächt, bei Amaurose in der Regel verschwunden sind, dass bei
Hemianopsie die Farbenscheibe einen entsprechenden Defect zeigt, dass
demnach die galvanische Reaction dem Sehvermögen ungefähr parallel
geht. Daher ist bis auf Weiteres die elektrische Untersuchung des Auges
entbehrlich.
Bei der ophthalmoskopischen Untersuchung können sich Befunde
ergeben, die indirect auch für den Neurologen von Wichtigkeit sind :
syphilitische Veränderungen im Auge, Tuberkeln der Chorioidea,
Cysticerken , Blutungen im Augenhintergrunde u. s. w. Die Unter-
suchung muss u. U. die Verwechselung des Glaucom mit Trigeminus-
neuralgie oder Migräne verhüten. Als Zeichen organischer Erkran-
kung des Nervensystems selbst sind aber folgende Befunde von
höchster Bedeutung: die Stauungspapille, die Papillitis oder Neu-
ritis N. optici und die Atrophie der Papille.
Das Gesicht. 169
Die Stauungspapille, deren Kennzeichen und deren Unter-
scheidung von verwandten Formen als bekannt vorausgesetzt werden
müssen, ist entweder Ausdruck einer örtlichen Erkrankung des
Nerven oder einer Steigerung1 des Druckes im Schädel. Im letzteren
Falle ist sie stets .doppelseitig, wenn auch zuweilen auf einem Auge
etwas stärker entwickelt als auf dem anderen. Sie bestellt in der
grossen Mehrzahl der Fälle bei Hirntumoren, darf aber nicht schlecht-
weg, als „Symptom eines Hirntumor" bezeichnet werden, da sie eben
nur auftritt, wenn der Tumor den Druck im Schädel merklich steigert,
und andererseits ihr Vorhandensein über die Ursache der Druckstei-
gerung zunächst nichts aussagt, Ihr Nachweis ist ganz besonders in
den Fällen von Werth, wo zunächst nur sog. Allgemeinerscheinungen,
Kopfschmerz, Erbrechen, psychische Veränderungen, von Seiten des
Gehirns bestehen und die Diagnose zwischen einer organischen Gehirn-
läsion und functioneller Erkrankung schwankt. Die Stauungspapille
ist bei Tumoren u. s. w. oft frühzeitig deutlich entwickelt, zu einer
Zeit, wann Sehschärfe und Gesichtsfeld noch ganz oder fast normal
■sind. Es ist im Gegensatze zur primären Sehnervenatrophie, wo
von vornherein die Function des Nerven Noth leidet, für die Stau-
ungspapille charakteristisch, dass bei schon beträchtlicher Schwellung
der Papille das centrale Sehvermögen längere Zeit normal bleiben
■kann. Das Gesichtsfeld ist häufig schon, ehe die Sehschärfe abnimmt,
eingeschränkt, stärkere Störungen des Farbensinnes treten erst spät
•ein. Besonders frühzeitig scheinen raumbeschränkende Processe in
der hinteren Schädelgrube Stauungspapille zu bewirken, vielleicht
dadurch, dass sie den Aquäduct oder die grossen Hirnvenen compri-
•miren und der so entstandene Hydrocephalus internus den Boden
des 3. Ventrikels gegen die Tractus oder das Chiasma opt, drückt,
Unter diesen Umständen kommt es auch vor, dass die mit der Stau-
ungspapille verbundene Amblyopie zur Amaurose wird. Ebenso kann
vollständige Erblindung beobachtet werden, wenn ein Tumor der
■Hypophysis cerebri oder andere basale Tumoren das Chiasma compri-
miren. Die Eegel ist, dass die von der Stauungspapille abhängige
Amblyopie nur einen massigen Grad erreicht, wenn überhaupt, erst
spät zur Amaurose wird. Findet man nun frühzeitige und voll-
ständige Erblindung bei Stauungspapille (der in der Regel bald die
Sehnervenatrophie folgt), so kann man annehmen, dass ausser durch
den allgemeinen Hirndruck die Optici durch eine örtliche Läsion
getroffen werden, sei es durch den Druck einer in der Nähe des
Chiasma befindlichen Neubildung, sei es durch den vorgewölbten
Boden des 3. Ventrikels, sei es auch durch locale meningitische
1 i 0 Untersuchung des Empfindungsapparates.
Veränderungen. In seltenen Fällen kann eine doppelseitige Läsion
der centralen Opticusbalm (in den Occipitalwindungen oder im Marke
der Hennsphären) Amaurose zur Stauungspapille hinzufügen. Wichtig
ist das Verhalten der Pupillen. Bei der einfachen Stauungspapille
pflegt deren Eeaction leidlich erhalten zu sein. Besteht mit der
Stauungspapille complete Amaurose, so sind die Pupillen weit und
starr, wenn der Nervus oder der Tractus opticus erkrankt ist. Findet
man aber trotz completer Amaurose gute Lichtreaction der Pupillen,
so ist jene die "Wirkung einer centralen Läsion (doppelte Hemianopsie).
Ausser bei Tumoren findet sich doppelseitige Stauungspapille
bei dem idiopathischen Hvdrocephalus, oft bei den verschiedenen
Formen der Meningitis, seltener und meist in geringem Grade bei
Hirnabscess.
Die Diagnose wird, wenn eine ausgeprägte Schwellung beider
Papillen vorhanden ist, immer in erster Linie auf einen Tumor zu
lenken sein. Die Meningitis ist in den meisten Fällen eine fieber-
hafte Allgemeinerkrankung, die ihr Verlauf genügend zu charakte-
risiren pflegt. Beim Hvdrocephalus der Kinder leitet die Vergröße-
rung des Schädels auf den rechten Weg. Der primäre Hvdrocephalus
der Erwachsenen kommt seiner Seltenheit wegen kaum in Betracht
und ist einer positiven Diagnose nicht wohl zugänglich. Am ehesten
kann die Unterscheidung zwischen Tumor und Abscess Schwierig-
keiten machen. Beim Hirnabscess besteht selten Stauungspapille,
er ist meist zeitweise mit Fieber verbunden, er zeigt oft, viel deut-
licher als die Tumoren, einen remittirenden Verlauf, in der Eegel ist
ein causales Moment (Schädeltrauma, Ohreiterung, überhaupt Eiterung
am Kopfe, putride Bronchitis) nachzuweisen. Fehlt die Stauungs-
papille, so ist die Diagnose eines Tumor nicht mit voller Sicherheit
möglich. Da jene zuweilen ohne stärkeren Kopfschmerz beobachtet
wird, kann dieser ohne Stauungspapille nicht als Symptom von Druck-
steigerung im Schädel gelten, muss vielmehr, wenn es sich überhaupt
um organische Hirnläsion handelt, als Ausdruck örtlicher Beizung
der Dura oder der intracerebralen Durafasern betrachtet werden.
In entsprechender Weise sind dann die anderen sogenannten Allge-
meinerscheinungen : Convulsionen, psychische Veränderungen u. s. w..
zu deuten. Die allmählich entstandenen Herdsymptome können,
wenn sie auf eine intracerebrale Läsion hinweisen, ebensowohl von
einer Neubildung, als von sklerotischen Vorgängen, als von chroni-
scher Erweichung verursacht sein. Lässt multiple Hirnnervenläsion
einen basalen Process vermuthen. so kann es sich, wenn die Stauungs-
papille fehlt, um eine umschriebene Meningitis der Basis oder um
Das Gesicht. 171
eine in massigen Grenzen bleibende Neubildung, beziehungsweise ein
Aneurysma handeln. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist oft
nicht zu entscheiden. Wenn bei gewissen Vergiftungen (Alkohol,
Blei, Tabak) der Augenspiegel neuritische Veränderungen nachweist,
so verhindert die charakteristische Functionstörung (siehe unten)
eine Verwechselung mit eigentlicher Stauungspapille.
Einseitige Stauungspapille ist immer Symptom einer umschrie-
benen, den Sehnerven betreifenden Läsion. Es kann sich um directe
Wirkung einer cerebralen, beziehungsweise basalen Neubildung, die
den allgemeinen Hirndruck zu steigern nicht im Stande ist, um eine
umschriebene Meningitis u. s. w. handeln, es können aber auch krank-
hafte Processe in der Orbita die Ursache sein. Die Diagnose ist
nur mit Berücksichtigung der begleitenden Erscheinungen möglich.
Die Papillitis kommt, abgesehen von Erkrankungen der Retina,
durch Läsion der Sehnerven zu Stande : bei Meningitis, Periostitis, in
seltenen Fällen bei multipler Sclerose, bei chronischer Myelitis u. s. w.
Die Sehnervenatrophie ist entweder die Folge, das End-
stadium der Neuritis optici, oder sie ist primär. Den Neurologen
interessiren besonders 2 Formen der Atrophie, die bei multipler
Sclerose und die bei Tabes vorkommende.
Bei multipler Sclerose ist der Nachweis atrophischer Verände-
rungen der Papille deshalb von grosser Wichtigkeit, weil bei der
Variabilität dieser Krankheit andere Symptome oft fehlen, die mit
Bestimmtheit zwischen ihr und functioneller Erkrankung entschei-
den Hessen. Insbesondere ist oft beginnende multiple Sclerose für
Hysterie gehalten worden. Diese Verwechselung verhütet die Augen-
spiegeluntersuchung. Ferner kann letztere in den Fällen von dia-
gnostischer Bedeutung sein, wo die Diagnose zwischen transver-
saler Myelitis und multipler Sclerose schwankt, ist sie vorhanden,
so handelt es sich wahrscheinlich um multiple Sklerose. Besonders
ist diese Krankheit zu vermuthen, wenn zu der sogenannten spasti-
schen Spinalparalyse Opticusatrophie tritt. Bemerkenswerth ist, dass
die Atrophie gewöhnlich als Verfärbung besonders der temporalen
Hälften der Papillen sich zeigt, dass complete Atrophie mit Erblin-
dung sehr selten vorkommt, der Process vielmehr gewöhnlich in
mittlerer Stärke sehr lange stationär bleibt. Meist sind beide Augen
ergriffen, das eine aber mehr als das andere.
Um eine primäre Atrophie der Sehnervenfasern handelt es sich
zweifellos, wenn bei Tabes oder bei progressiver Paralyse Opticus-
atrophie gefunden wird. Diese kann zu den frühesten Symptomen
der Tabes gehören und lange Jahre neben den lanzinirenden Schmer-
172 Untersuchung des Empfindungsapparates.
zen die einzige Beschwerde der Kranken bilden. Wahrscheinlich
handelt es sich auch in den meisten Fällen von „einfacher" oder
„idiopathischer" Opticusatrophie um beginnende Tabes. Auf jeden Fall
ist an diese zuerst zu denken.
Die Sehstörung besteht bei Sehnervenatrophie gewöhnlich zu-
nächst in Störungen der Farbenempfindung (centrales Scotom für
Koth und Grün) und Einschränkung des Gesichtsfeldes, das oft eine
zickzackförmige Begrenzung zeigt, während die centrale Sehschärfe
nur wenig herabgesetzt ist. Erst später pflegt die letztere in stär-
kerem Grade zu leiden und mit nicht seltenen Stillständen schreitet
bei der primären Atrophie der Process bis zur vollständigen Blind-
heit fort. Auch hier pflegt die Erkrankung auf beiden Augen nicht
ganz gieichmässig zu sein.
Concentrische Einengung des Gesichtsfeldes beider
Augen ist ein häufiges und wichtiges Symptom der Hysterie. Bezeich-
nend ist, dass trotz der oft beträchtlichen Einschränkung des Gesichts-
feldes, die mit dem Perimeter gefunden wird, die Orientirungsfähig-
keit der Kranken nicht vermindert zu sein pflegt, dass meist im An-
schlüsse an psychische Veränderungen die Störung kommt und ver-
schwindet. Auch kann zuweilen direct nachgewiesen werden, dass
das Nichtsehen der peripherischen Eetinatheile nur scheinbar ist,
durch die hysterische ..Spaltung des Bewusstseins" entstellt. Hat
man z. B. dem Kranken im Schlafe eingegeben, er werde wieder
einschlafen, sobald er ein Kreuz sehe, und bringt man dann ein
Kreuz in den peripherischen Theil des Gesichtsfeldes, so schläft der
Kranke ein, obwohl er scheinbar das Kreuz gar nicht sieht. Ver-
wandt mit dieser Erscheinung ist die sogenannte Anästhesia re-
tinae oder neurasthenische Asthenopie, die wesentlich in einer
raschen Ermüdung des Auges bei angestrengtem Sehen besteht und
besonders der Neurasthenie eigen ist, aber auch bei Hysterie vorkommt.
Nach Wilbrand ist charakteristisch, dass bei der Untersuchung
mit dem Perimeter die Gestalt des Gesichtsfeldes verschieden wird,
je nachdem die Untersuchung von rechts oder links, oben oder unten
ausgeht, da im Beginne nahezu normale Angaben gemacht werden,
bei den späteren Meridianen aber durch die rasch eintretende Er-
müdung die Einschränkung des Gesichtsfeldes mehr und mehr zu-
nimmt. Für diese rein functionellen Sehstörungen ist neben dem
negativen Augenspiegelbefunde die freie Beweglichkeit der Pupillen
von Bedeutung. Dies gilt auch von den anderweiten Sehstörungen
der H3rsterischen. Bei hysterischer Hemianästhesie besteht gewöhn-
lich Amblyopie des Auges der unempfindlichen Seite und in geringerem
Das Gesicht. 173
Grade auch des anderen Auges. Das nähere ist bei Besprechung der
Hemianästhesie angegeben.
Ob centrale Scotome bei sog. fimctionellen Neurosen vor-
kommen, ist zweifelhaft, abgesehen von dem Scotom der Augenmigräne
sind sie in der Mehrzahl der Fälle Symptom gewisser Vergiftungen.
Besonders sind sie der alkoholischen Amblyopie eigen, sollen auch bei
der seltenen Tabak-, bei saturniner Amblyopie und gelegentlich bei
Diabetes auftreten. In diesen Fällen kann anfanglich der Augen-
hintergrund normal sein, später sieht man in der Reg-el neuritische
Veränderungen der Papille, die mit atrophischer Verfärbung, beson-
ders der temporalen Hälfte, enden können.
Rasch entstehende und zur Amaurose führende ein- oder doppel-
seitige Amblyopie pflegt man durch locale Erkrankung der Sehnerven
(„retrobulbäre Neuritis") zu erklären, wenn ophthalmoskopische Ver-
änderungen dabei zunächst ganz fehlen oder so gering sind, dass sie
die Aufhebung des Sehvermögens nicht erklären. Dabei sind die
Pupillen weit und starr. Derartige Fälle sind nach acuten Infections-
krankheiten, bei Wucherungen, die den Nerven am Foramen opticum
oder in dessen Nähe lädiren, beobachtet worden. Anfallsweise auf-
tretende und oft rasch vorübergehende doppelseitige Amaurose ohne
Augenspiegelbefund kommt ausser bei Migräne und bei Hysterie bei
Urämie und bei Epilepsie vor. Mehrfach wird angegeben, dass auch
hier die Pupillen weit und starr seien, daher eine peripherische Läsion
wahrscheinlich sein würde. Doch ist zweifellos in der Mehrzahl der
Fälle die Pupillenbeweglichkeit erhalten, man kann dann eine cen-
trale Störung vermuthen. die überhaupt von vornherein als wahr-
scheinlicher erscheint.
Von grossem diagnostischem Interesse ist die halbseitige Blind-
heit, die Hemianopsie. Findet sich gleichseitige Hemianopsie, so
muss eine Läsion jenseits des Chiasma bestehen. Als Theilerscheinung
sog. function eller Störung wird die Hemianopsie einzig und allein
bei der Migräne beobachtet, hier kann sie als rasch vorübergehender
Vorläufer des Anfalls auftreten. In allen anderen Fällen beweist
sie das Bestehen einer organischen Läsion. Dauernde Hemianopsie
kann zunächst verursacht sein durch eine Läsion der Hirnrinde. Ein
Herd in den rechten Occipitalwiiidungen (nach Hellsehen in der
Fissura calcarina) verursacht linksseitige Hemianopsie und umgekehrt.
Je nach der Lage und Ausdehnung des Herdes wird bald die ganze
Hälfte des Gesichtsfeldes, werden bald auf beiden Augen Theile
davon, wird bald vorwiegend oder ganz die Hälfte des Gesichtsfeldes
eines Auges ausfallen. Die Maculag-eo-end der Retina wird von beiden
174 Untersuchung des Enipfindungsapparates.
Hiriiliälften aus innervirt Kleinere Defecte werden sich nur mit
dem Perimeter auffinden lassen und auch grössere werden leicht über-
sehen, wenn die Aufmerksamkeit des Arztes nicht besonders auf sie
gerichtet ist. Den gleichen Erfolg wie eine Läsion der Binde des
Occipitallappens muss eine Läsion der Markstrahlen haben, die von
den Hinterhaupt Windungen nach aussen, vom Hinterkorn nach dem
Corpus geniculatum externum ziehen, d. h. besonders ein Herd in der
weissen Substanz des Hinterhauptlappens. Entsteht Hemianopsie ohne
anderweite Symptome, so ist eine directe Läsion des Occipitallappens
am wahrscheinlichsten Findet man z. B. neben Stauungspapille und
Hinterkopfschmerzen linksseitige Hemianopsie ohne andere Herder-
scheinungen, so ist ein Tumor im rechten Occipitallappen zu ver-
muthen. Entsteht nach einem apoplektischen Anfälle vorübergehende
Hemiplegie, dauernde Hemianopsie, so ist zunächst an eine Blutung
oder Erweichung im Occipitallappen zu denken. Indirecte Hemianop-
sie wird nur dann beobachtet werden, wenn andere allgemeine Cere-
bralerscheinungen bestehen, wenn z. B. eine dauernde Hemiplegie mit
heftigem Insult beginnt.
Bei Läsion beider Occipitallappen muss natürlich eine doppel-
seitige Hemianopsie zu Stande kommen, d. h. Amaurose. Ein derar-
tiges Vorkommniss ist bei der Neigung der Hirnkerde zu symmetri-
schem Auftreten nichts Unerhörtes. Man wird daran zu denken haben,
wenn unter Insult doppelseitige Amaurose bei guter Beweglichkeit
der Pupillen sich entwickelt. Letztere muss begreiflicher Weise bei
jeder centralen Sehst ürung erhalten bleiben. Wird eine als occipitale
aufgefasste Hemianopsie im weiteren Verlaufe zur Amaurose, so kann
es sich um eine doppelseitige Heniisphärenläsion handeln, es kann
aber auch die zweite Läsion eine andere Strecke, etwa den Tractus
opt. treffen. Zuweilen mag im letzteren Falle die „hemiopische Pu-
pillenreaction" Wer nicke 's (s. LT. Theil) die Diagnose ermöglichen.
Xach den vorliegenden Erfahrungen wird man, wenn Hemianopsie
mit Hemianästhesie besteht, zunächst eine das Pulvinar mitergrei-
fende Läsion ins Auge zu fassen haben. Blutungen und Erweichungen
des Sehhügels, die sich auf das Pulvinar und die anstossende Mark-
masse erstrecken, werden am ehesten in Frage kommen. Auch Blind-
heit durch doppelseitige Erweichung des Pulvinar ist gesehen worden.
Endlich kann gleichseitige Hemianopsie durch Läsion eines Trac-
tus opticus entstehen. Dies geschieht nicht häufig und am ehesten
bei Hirntumoren, die. wenn sie an der Basis sitzen, direct den Trac-
tus treffen können, bei anderweitigem Sitze durch indirecten Druck
erst einen, dann beide Tractus schädigen können. Ferner kann die
Das Gesicht. 175
Meningitis, besonders die chronische umschriebene, durch Uebergreifen
der Entzündung- den oder die Tractus erkranken lassen. Meist wird
Tractus-Hemianopsie mit Hemiplegie und peripherischer Lähmung
von Hirnnerven (Oculomotorius) verbunden sein. Als ihr Kennzeichen
hat W ernicke die hemiopische Pupillenreaction angegeben, doch
wird sich nicht immer bei Prüfung auf diese ein sicheres Resultat
erreichen lassen. Die Läsion beider Tractus hat natürlich dieselbe
Wirkung, wie die beider Nervi optici: doppelseitige Amaurose mit
Pupillenstarre.
Für Läsion des Chiasma endlich ist charakteristisch, dass un-
gleichseitige Hemianopsie auftritt, nämlich temporale Hemianopsie
auf beiden Augen. Trifft ein Druck den Chiasmawinkel von vorn
oder von hinten, so müssen beide inneren Hälften der Retina ausser
Function gesetzt werden, demnach muss doppelseitige temporale He-
mianopsie auftreten. Zuerst werden Defecte in einer oder beiden
temporalen Gesichtsfeldhälften sich zeigen und im weiteren Verlaufe
werden diese sich vergrössern. Eine strenge Begrenzung des De-
fects durch die Mittellinie wird begreiflicher Weise selten vorkom-
men und im weiteren Verlaufe kann sich ein- oder doppelseitige
Amaurose entwickeln. Findet man Amaurose auf einem und tem-
porale Hemianopsie auf dem anderen Auge, so wird man ebenso wie
bei doppelseitiger temporaler Hemianopsie eine Neubildung im vorde-
ren oder im hinteren Chiasmawinkel annehmen können. In späteren
Stadien werden auch ophthalmoskopische Erscheinungen vorhanden
sein. Nasale Hemianopsie eines Auges lässt auf einen den Nerven,
das Chiasma oder den Tractus von aussen treffende Läsion schliessen.
Sie pflegt selten deutlich ausgeprägt zu sein.
Subjective Gesichtserscheinungen können im Verlaufe
degenerativer, zu Amaurose führender Processe auftreten, die Klage
über Funkensehen, mouches volantes u. s. w. ist ferner bei Hysteri-
schen, Hypochondrischen u. s. w. häufig, im Allgemeinen aber spielen
subjective Gesichtserscheinungen bei Nervenkrankheiten keine grosse
Rolle, Bestimmte Gesichtsphantasmen können als Aura eines hyste-
rischen oder epileptischen Anfalles auftreten. Rothsehen (Flammen.
Blut) kommt in diesem Sinne nicht selten bei Epileptischen vor.
Ein Kranker sah stets vor dem Anfalle ein von der rechten Seite
her vorrückendes buntes sich drehendes Rad. Ausserdem ist ein
hierher gehörendes Symptom von diagnostischer Wichtigkeit: das
Flimmer sco tom. Es besteht in Flimmern, das eine Gesichts-
feldhälfte einnimmt und anfallsweise auftritt. Zuerst zeigen sich
Lichterscheinungen. welche von der rechten oder linken Seite her-
1 < 6 Untersuchung des Empnndungsapparates.
kommen, eiuem Funkenregen oder den Feuerrädern ähnliche Fi-
guren, oft leuchtende Zickzack-(Fortincations-)Linien darstellen, all-
mählich sich nach der Mittellinie zu ausbreiten, nicht oft sie über-
schreiten. Torher oder nachher kann sich Nebel in Gestalt hemianop-
tischer Defecte. zuweilen wirkliche Hemianopsie zeigen. Gewöhnlich
handelt es sich bei Migräne nicht um eigentliche Hemianopsie, sondern
die Kranken sehen von allen Gegenständen nur die eine Hälfte, in
anderen Fällen wird die eine Hälfte des Gesichtsfeldes schwarz ge-
sehen, während bei der echten Hemianopsie ein wirkliches Nieht-
sehen besteht. Das Flimmerscotom dauert gewöhnlich xk—xh Stunde,
ist in der Mehrzahl der Fälle Theilerscheinung der Migräne, leitet
deren Anfall ein oder tritt statt dessen auf. Es kann sowohl die
idiopathische als die symptomatische Migräne begleiten. Seltener ist
es ein Vorläufer epileptischer Anfälle oder ein epileptisches Aequivalent.
II. Das Gehör.
Die Untersuchung des äusseren und mittleren Ohres ist nach
den Regeln der Otiatrie auszuführen. Die Functionsprüfung
wird gewöhnlich so angestellt, dass die Entfernung bestimmt wird,
innerhalb deren durch das untersuchte Ohr die Flüstersprache ver-
nommen wird, und die, innerhalb deren das Ticken einer Uhr, die
vorher am Gesunden geprüft worden ist, vernommen wird (Luftlei-
tung), dass ferner eine tönende Stimmgabel auf verschiedene Stellen
des Schädels aufgesetzt und dann bestimmt wird, ob und von wel-
chem Ohre sie besser gehört wird (Kopfknochenleitung).
Störungen des Gehörs können durch krankhafte Vorgänge
im äusseren, mittleren, inneren Ohre, im peripherischen oder cen-
tralen Verlaufe des N. acusticus verursacht sein. Erfahrungsgemäss
handelt es sich in den weitaus meisten Fällen um Läsionen des
mittleren Ohres, deren enorme Häufigkeit contrastirt mit der Selten-
heit von Erkrankungen des nervösen Hörapparates. Der Nachweis
von pathologischen Veränderungen diesseits der Labyrinthfenster
kann für den Neurologen positives diagnostisches Interesse haben,
da u. U. diese Ausgangspunkt reflectorischer Symptome sein können,
da Mittelohrerkrankungen häufig die Ursache von Faciaslähmung
oder Chordalähmung sind, eitrige, beziehungsweise tuberkulöse Ohr-
aifectionen nicht selten Meningitis oder Hirnabscess bewirken. In
keinem Falle von Facialislähmung, von Meningitis, von Hirnabscess,
von Gehirnkrankkeit zweifelhafter Diagnose darf die Untersuchung
des Ohres verabsäumt werden.
Das Gehör. 177
Finden sich bei der Untersuchung- des äusseren und mittleren
Ohres keine zur Erklärung der vorhandenen Gehörstörung ausreichen-
den Veränderungen, so ist noch nicht mit Sicherheit bewiesen, dass
die Läsion jenseits der Paukenhöhle liegt, da auch bei normalem
Spiegelbefunde Veränderungen an den Labyrinthfenstern Ursache der
Schwerhörigkeit u. s. w. sein können. Dass es sich in der That um
„nervöse Taubheit", d. h. um solche, die durch Erkrankung des
Labyrinthes oder des Acusticus verursacht wird, handle, pflegt man
anzunehmen, sobald die Schallwahrnehmung durch die Kopf knochen
vermindert ist. Doch wird auch diesem Zeichen gegenüber zur Vor-
sicht ermahnt und wird vielfach nur der Ausfall gewisse Töne aus
der Perception (partielle Tontaubheit) als beweiskräftig angesehen.
Zweifellos ist die Diagnose, wenn complete Taubheit bei nor-
malem Mittelohrbefunde besteht. Ueberhaupt pflegt die Taubheit nur
dann vollständig zu sein, wenn die schallempfindenden. Organe selbst
erkrankt sind. Doch ist relative Taubheit viel häufiger als absolute.
In den meisten Fällen wird daher die Diagnose „nervöse Taubheit"
nur mit einem mehr oder minder grossen Grade von Wahrschein-
lichkeit gestellt werden können. Aber auch da, wo dies der Fall ist,
ist für den Neurologen noch nicht viel gewonnen, da die nervöse
Taubheit durch eine Erkrankung des Felsenbeins oder des häutigen
Labyrinths ebensowohl als durch die nervöser Theile selbst verursacht
sein kann. In der That ist jenes weitaus häufiger als dieses. Eine
hämorrhagische Entzündung des Labyrinths scheint der meist doppel-
seitigen Taubheit zu Grunde zu liegen, die relativ oft nach Meningitis,
zuweilen nach Eheumatismus, Scharlach und anderen Infectionskrank-
heiten dauernd zurückbleibt. Bei hämorrhagischer Diathese hat man
Blutungen, bei Leukämie leukämische Infiltrationen des Labyrinths
beobachtet u. s. w. Dass eine nervöse Taubheit Wirkung einer Laby-
rintherkrankung sei, wird man besonders dann annehmen, wenn neben
ihr Schwindel und objectiv wahrnehmbare Gleichgewichtstörungen
ohne sonstige Hirnsymptome bestehen. Bekanntlich betrachtet man
mit gutem Grunde die halbzirkelförmigen Kanäle als Organe, von
deren Intactheit die Erhaltung des Gleichgewichtes mit abhängt.
Eine Läsion des Acusticus selbst oder seiner Fortsetzuno-
im Gehirn wird man nur dann diagnosticiren dürfen, wenn andere
Symptome und der Verlauf eine solche Deutung der Gehörstörungen
als wahrscheinlich erscheinen lassen. Eine primäre Degeneration des
Acusticus ist bisher nur bei der Tabes nachgewiesen worden. Wenn
daher im Verlaufe der Tabes progressive nervöse Taubheit auftritt,
ebenso wenn bei Tabes trotz Fehlens einer Mittelohrerkrankung sub-
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 12
178 Untersuchung des Empfindungsapparates.
jective Gehörerscheinungen mit oder ohne Schwindel, besonders wenn
die Anfälle Meniere'scher Krankheit sich zeigen, wird man zunächst
an die Erkrankung der Hörnerven denken. Vielleicht kommt die
letztere auch bei multipler Sklerose vor. Durch Druck, sei es auf
den Nerven, sei es auf seinen Kern, können Neubildungen und andere
raumbeschränkende Erkrankungen in der hinteren Schädelgrube,
Hydrocephalus, der sich auf den 4. Ventrikel erstreckt, erst subjective
Sensationen, dann Taubheit bewirken, Erweichungen der Oblongata,
locale Meningitiden und Exostosen u. s. w. können die Acusticus-
fasern zerstören oder reizen und Gehörstörungen hervorrufen. In
allen diesen Fällen werden gewöhnlich anderweite Symptome vor-
handen sein, werden insbesondere ' die dem Acusticus benachbarten
Nerven in entsprechender Reihenfolge leiden und wird so die Dia-
gnose erleichtert werden. Sollte der Acusticus allein, z. B. durch
gummatöse Entartung, erkranken, so würde man über die Annahme
einer nervösen Taubheit nicht hinauskommen, üeber Gehörstörungen
durch Erkrankung der Hemisphären weiss man bis jetzt sehr wenig.
Bei der capsulären Hemianästhesie soll meist doppelseitige massige
Schwerhörigkeit mit vorwiegender Betheiligung des Ohres der an-
ästhetischen Seite bestehen. Hysterische Taubheit kann ein- oder
doppelseitig, incomplet oder complet sein. Einseitige complete Taub-
heit bei einer Erkrankung der gegenüberliegenden Hemisphäre scheint
bisher nur einmal (Gliom des Scheitellappens, Strümpell) beobachtet
worden zu sein. Ebenso selten dürfte eine Beobachtung "Wernicke's
sein, bei der symmetrische gummatöse Erweichungen des Stabkranzes
beider Schläfelappen doppelseitige Taubheit bewirkt hatten. Im letz-
teren Falle hatte eine Zeit lang sensorische Aphasie bestanden und
auf eine Läsion des Schläfelappens hingewiesen.
Beim Ohre spielen die subjectiven Empfindungen eine
grössere Rolle als bei anderen Sinnesorganen. Sie werden gewöhnlich
unter der Bezeichnung Ohrensausen zusammengefasst und bald als
'Wasserrauschen,, bald als Fliegensummen, Glockenklingen, Wagen-
rollen, Blasen, Pfeifen, Knallen u. s. w. beschrieben. Häufig bestehen
neben ihnen, ausser Schwerhörigkeit, Schwindel und objectiv wahr-
nehmbare Gleichgewichtstörungen. Treten Ohrensausen und Schwindel
heftig und in Anfällen auf, so spricht man von dem Meniere'schen
Symptomencomplex. Dem einfachen Ohrensausen sowohl als der
Meniere'schen Krankheit liegt bald eine Erkrankung des Mittelohres,
bald eine des inneren Ohres, bald eine ,des Nerven zu Grunde. Ist
das Mittelohr gesund, so handelt es sich in den meisten Fällen um
eine Labyrinthaffection. Eine directe Reizung des N. acusticus kann
Das Gehör. 179
auch hier nur aus den begleitenden Erscheinungen erschlossen werden.
Bemerkenswerth ist, dass hei der Tabes und den den Aeusticus treffen-
den Gehirnerkrankungen oft die Reizerscheinungen längere Zeit der
Taubheit vorausgehen und nachlassen, sobald diese complet wird,
dass aber u. IL trotz vollständiger Taubheit die Reizerscheinungen
fortdauern nach Analogie der Anästhesia dolorosa. Nach dem Ein-
tritte des Aeusticus in das Centralorgan trennen sich wahrscheinlich
von den die Schallempfindimg vermittelnden Fasern (Nervus troch-
learis) die der Erhaltung des Gleichgewichtes dienenden (N. vestibu-
laris). Es ist demnach zu erwarten, dass bei centraler Läsion des
Aeusticus zwar Taubheit und Ohrensausen, nicht aber Schwindel und
Taumeln sich zeigen. Letztere Symptome treten in ähnlicher Weise
wie bei Ohrenkrankheiten, aber ohne Gehörstörungen bei Kleinhirn-
erkrankungen auf. Möglicher Weise kommt bei Tabes auch eine auf
den N. vestibularis beschränkte Erkrankung vor, die Ursache der
zuweilen ohne Gehörstörungen auftretenden Schwindelerscheinungen
sein könnte. Ohrensausen begleitet nicht selten Kopfschmerzen ver-
schiedener Art (besonders bei Anämie), tritt mit diesen als Vorläufer
apoplektischer Insulte auf, kann dem epileptischen und dem Migräne-
Anfälle als Aura vorausgehen, ist ein wichtiges Symptom mancher
Vergiftungen (Chinin, Salicylsäure), kann selbständig im Verlaufe sog.
functioneller Neurosen sich zeigen. Beim seelisch Gesunden behalten
die durch pathologische Reizung des Aeusticus entstehenden Sensa-
tionen den Charakter mehr oder weniger unbestimmter Geräusche
und werden richtig als subjeetiver Natur beurtheilt, Irre aber objeeti-
viren sie und formen sie um zu allen möglichen Gehörwahrnehmungen.
Wenn nun auch die meisten Gehörhallucinationen nicht diesen Ur-
sprung haben, vielmehr ausschliesslich auf krankhafte Processe in
der Hirnrinde zu beziehen sind, so ist es doch rathsam, bei Gebör-
liallucinanten das Ohr zu untersuchen, um bei krankhaften Verände-
rungen desselben durch deren Beseitigung eine Quelle der Phantas-
mata zu verstopfen.
Die elektrische Untersuchung des nervösen Gehörapparates
(Brenner) kann zwar verschiedene Anomalien der galvanischen Keaction
des Aeusticus ergehen, doch lassen sich bisher aus ihr bestimmte diagno-
stische Schlüsse nicht ziehen.
Die Untersuchung wird so angestellt, dass die differente Elektrode
auf den Tragus aufgesetzt wird, während sich die indifferente Elektrode im
Nacken befindet. Bei einer gewissen (bei Gesunden gewöhnlich ziemlich
grossen) Stromstärke wird KaS mit einer Gehörsensation beantwortet, die
in der Regel als Klingen, seltener als Pfeifen, Zischen, Brummen u. s. w.
beschrieben wird. Bei noch stärkerem Strome entsteht auch bei AnO ein
12*
180 Untersuchung des Enipfindungsapparates.
leises, rasch vorübergehendes Klingen. AnS und KaO erregen den gesunden
Gehörapparat nicht. Demnach lässt sich die sogenannte Acusticusreaction
in folgender Formel (Normalformel) darstellen:
KaS Kl' (lauter Klang)
KaO —
AnS —
AnO Kl (schwacher Klang).
Bei krankhaften Zuständen findet man am häufigsten die Reaction so
verändert, dass die Gehörsensationen schon bei geringerer, oft sehr geringer
Stromstärke eintreten und weiterhin ungewöhnlich laut und anhaltend werden,
während doch die Normalformel nicht verändert ist („einfache galvanische
Hyperästhesie des Acusticus"). Als hoher Grad der einfachen Hyperästhesie
ist die sogenannte „paradoxe Reaction" zu betrachten, d. h. Reagiren des
nicht untersuchten Ohres im Sinne der indifferenten Elektrode (z. B. Kl
rechts, wenn am linken Ohre AnS ausgeführt wird, u. s. w.).
Die Hyperästhesie wird sowohl bei Erkrankungen diesseits der Laby-
rinthfenster, als bei solchen jenseits derselben gefunden, in der Regel be-
steht sie, wenn Ohrensausen besteht. Manche nehmen an, dass, wenn bei
AnS und AnD (oder bei den anderen Reizmomenten) das Sausen aufhört,
die Ursache des Geräusches im Nerven selbst liege, dass, wenn der galva-
nische Strom das Sausen nicht verändert, die Ursache ausserhalb des Nerven
zu suchen sei. Doch ist dies wohl nicht ganz sicher, wenigstens ist es
sehr leicht möglich, dass Veränderungen des Nerven selbst allen galva-
nischen Reizen gegenüber unverändert bleiben. Seltener als die einfache
Hyperästhesie beobachtet man Hyperästhesie mit Veränderung oder Um-
kehrung der Formel (KaS — KaO Kl, AnS Kl', AnO — ) oder Verände-
rungen der Formel ohne Hyperästhesie.
III. Der Geruch.
Zur Functions prüfung des Olfaktorius verwendet man
riechende Stoffe, die nicht gleichzeitig (wie Ammoniak und dergleichen)
die Gefunlsnerven, d. h. die Trigeminusfasern der Nase reizen. Natür-
lich ist jedes Nasenloch einzeln durch Vorhalten des Fläschchens zu
prüfen. Man benutzt sowohl sogenannte Wohlgerüche (ätherische Oele.
z. B. Ol. Rosmar., Ol. Aurant,, Eau de Cologne, oder Moschus) als
Stinkstoffe (Asa foetida, verbrannte Federn u. s. w. u. s. w.). Auch möge
man darauf achten, ob das Arom der Speisen und Getränke (z. B.
Vanille, Wein), das in Wahrheit eine Geruchsempfmdung ist, wahr-
genommen wird. Besteht trotz Anosmie Wahrnehmung des Aroms,
so ist zu schliessen, dass jene nur durch Verhinderung des Eintritts
der Riechstoffe in den oberen Theil der Nase entsteht, während der
Zugang durch die Choanen frei ist. Ferner ist nach subjectiven
Geruchserscheinungen zu fragen.
Die elektrische Untersuchung des Geruchapparates ist schwer
auszuführen. Nach Einführung der differenten eicheiförmigen Elektrode in
Der Geruch. 181
die mit 38° warmer, 0,73 proe. NaCl-Lösung gefüllte Nase, während die
indifferente Elektrode auf der Stirn steht, soll ein specifischer Geruch bei
KaS und AnO auftreten.
U eb er e m pfindliehkeit (Hyperaesthesia olfact., Hyperosmia)
kommt hier und da bei nervösen Personen, besonders bei hysteri-
schen, vor, derart, dass Gerüche, die der Gesunde nicht wahrnimmt,
wahrgenommen werden. Häufiger ist, dass bestimmte Gerüche bei
Hysterischen abnorm starke Eeaction, Abneigung, Ekel, Kopfschmerz,
Ohnmacht, hervorrufen.
Parästhesien (Parosmia) stellen meist unangenehme Empfin-
dungen dar, Leichen-, Schwefeldampf-, Abtrittsgeruch u. s. w., kommen
zuweilen bei Irren vor, sie sind theils Hallucinationen, theils Illu-
sionen. Zuweilen besteht die epileptische Aura in einer Geruchs-
empfindimg. Subjective Geruchsempfindungen gehen nicht selten der
Anosmie voraus (Phosphorgeruch).
U n empfindlichkeit (Anaesthesia olfact,, Anosmia) kann durch
Veränderungen der Xasensclüeimhaut (Coryza, Polypen u. s. w.), durch
solche des Nerven oder des Gehirns entstehen. Bei Trigeminusläh-
mung ist der Geruch scheinbar vermindert, weil die Nasenschleim-
haut abnorm trocken ist, bei Facialislähmung aus derselben Ursache
und weil das Schnüffeln (Lähmung des M. depressor nar.) erschwert
ist. Centrale Anosmie ist bisher nur als Theilerscheinung der He-
mianästhesie beobachtet worden. Bei functionellen Störungen kann
die Anosmie auch doppelseitig sein. Nicht selten entsteht ein- oder
doppelseitige Anosmie durch Läsion, sei es der Nu. olfact., sei es der
Bulbi und Tractus olfact. an der Schädelbasis. Tritt nach einem
Trauma (besonders Fall auf den Kopf) Anosmie ein, so kann es sich
um eine Fractur des Stirn- oder Siebbeins handeln, vielleicht auch
um ein Losreissen des Bulbus olf. von seinen in die Lamina cribrosa
eintretenden Aesten. Besteht neben Aphasie und rechtseitiger Hemi-
plegie linksseitige Anosmie, so muss man wohl zunächst an eine
Mtbetheiligung der äusseren Wurzel des Tract. olf. durch die links-
seitige Läsion denken. Tritt Anosmie im Verlaufe anderweiter Ge-
hirnkrankheiten ein, so kann es sich entweder um Uebergreifen ent-
zündlicher Veränderungen auf den Olfactorius (Meningitis) oder um
Druckatrophie desselben (Hydrocephalus) handeln. Tumoren des Vor-
derlappens können, indem sie den Nerven gegen das Siebbein drücken,
auch einseitige Druckatrophie und Anosmie bewirken, während na-
türlich beim Hydrocephalus, sei er durch Tumoren bewirkt oder idio-
pathisch, beide Nerven getroffen werden. Caries des Siebbeins, Exo-
stosen, Gummata des Nerven sind als Ursache der Anosmie beobachtet
182 Untersuchung- des Empfindungsapparates.
worden. Primäre Atrophie des Nerven, Anosmie mit oder ohne vor-
ausgehende Parästhesien, kann Theilerscheinung der Tabes, beziehungs-
weise der progressiven Paralyse sein. Senile Anosmie ist selten.
Auf welche Weise eine Störung des Geruches entstanden ist,
lässt sich nur aus der Gesammtheit der Symptome erschliessen.
IV. Der Geschmack.
Die G eschniacksp r ü f u n g beschränkt sich gewöhnlich auf die
Zunge, obwohl auch die Gaumenbögen und ein Theil des Eachens zu
schmecken fähig sein sollen. Man lässt den Untersuchten die Zunge
herausstrecken und bringt dann mit einem Glasstabe oder einem klei-
nen Pinsel die zu schmeckende Flüssigkeit auf die Stelle der Zunge,
die geprüft werden soll. Der Kranke muss durch Nicken oder Schüt-
teln des Kopfes, durch Erheben der Hand oder sonstwie anzeigen,
ob er eine Geschmacksempfindung hat, dann erst darf er die Zunge
zurückziehen und angeben, was er geschmeckt hat. Durch diese Vor-
sichtsmaassregel soll verhütet werden, dassdie zu schmeckende Flüssig-
keit von der geprüften Stelle sich auf die übrige Zunge verbreitet,
ehe der Untersuchte ein Urtheil abgegeben hat. xiuch der Vorschlag,
durch den Finger des Kranken auf einem Täfelchen, das die Worte:
Sauer, Süss, Salzig, Bitter enthält, das richtige Wort bezeichnen zu
lassen, ist zweckmässig. Nach jedem Versuche ist der Mund mit
Wasser auszuspülen. In der Eegel benutzt man zur Prüfung Stoffe,
die die sogenannten Hauptarten des Geschmackes repräsentiren, Bit-
teres (Chininlösung) , Süsses (Zuckerlösimg), Saures (Essig), Salziges
(Kochsalzlösung). Zuerst am besten Zucker und Salz, dann Essig,
zuletzt Chinin, da besonders Chinin störenden Nachgeschmack ver-
ursacht. Es kommt wohl hie und da partielle Ageusis vor, doch
ist ihr Nachweis bisher von untergeordneter Bedeutung, die Haupt-
sache ist die Localisation, die Bestimmung, welche Theile der Zunge
schmecken, welche nicht oder unvollkommen. Insbesondere ist zu
unterscheiden das Gebiet des N. lingualis (beziehungsweise der Chorda
tymp): vordere Zungenhälfte, von dem des N. glossopharyngeus : hintere
Zungenhälfte. Manche nehmen an, dass auch die Geschmacksfasern
des Glossopharyngeus aus dem Trigeminus stammen. Geschmack-
störungen werden von den Kranken leicht übersehen, so lange sie
noch durch den Geruch das Arom der Speisen und Getränke wahr-
nehmen.
Zu fragen ist nach subjectiven Geschmacksempfindungen und nach
deren näheren Umständen.
Der Geschmack. 183
Die elektrische Untersuchung giebt bisher keine xYufschlüsse
über die Geschmacksempfindung, die nicht auf andere Weise zu erhalten
wären. Da jedoch der galvanische Strom mit Leichtigkeit Geschmacks-
empfindungen auslöst (die An stärker als die Iva), so kann er, wenn er
zur Hand ist, als bequemes Prüfungsmittel dienen. Man benutzt am besten
eine Elektrode, die beide Pole als isolirte Drahtenden enthält, steckt
z. B. die Enden der Leitungsschnüre durch ein Stück Kork und setzt beide
der zu prüfenden Zungenstelle auf. Man kann dann die Reizung sehr
gut localisiren und die nicht schmeckenden Stellen von den normalen ab-
grenzen.
Ueberempfindlichkeit (Hyperaesthesia gustatoria, Hyper-
geusis) kommt in ähnlicher Weise wie die Gerachshyperästhesie am
ehesten bei Hysterischen zur Beobachtung.
Parästhesien (Parageusis) sind, abgesehen von denen, die durch
krankhafte Beschaffenheit der Mundschleimhaut verursacht sind, und
denen, die nach einzelnen Vergiftungen (z. B. durch Santonin) auf-
treten, ebenfalls meist psychische Symptome (Hallucinationen oder
Illusionen). Hie und da geben Kranke mit peripherischer Facialis-
lähmung an, subjeetive Geschmacksempfindungen (bald säuerlichen,
bald metallischen, bald faden Geschmack u. s. w.) auf der entsprechen-
den vorderen Zungenhälfte zu haben, die Parästhesie geht dann ge-
wöhnlich der Anästhesie voraus und ist wie diese zu beurtheilen.
Das diagnostische Interesse, das sich an die Störungen des Ge-
schmackes, besonders an die Unempfindlichkeit (Anaesthesia
gustatoria, Ageusis) knüpft, beruht hauptsächlich auf dem Umstände,
dass zwei verschiedene Nerven die Geschmacksempfindungen ver-
mitteln, deren einer einen eigenthümlichen Verlauf hat. Die Fasern
des K lingualis, die den Geschmack der vorderen Zungenhälfte ver-
mitteln, verbleiben bekanntlich (zum grössten Theile wenigstens) nicht
im Lingualis, sondern gelangen als Chorda tympani zum Facialis und
treten aus diesem wieder in den zweiten Ast des Trigeminus über,
mit dem sie in die Brücke gelangen, um wahrscheinlich alsbald eigene,
noch unbekannte Wege einzuschlagen (vergl. den II. Theil). Wenn diese
Fasern an irgend einer Stelle ihres Weges lädirt wrerden, muss Ageusis
einer vorderen Zungenhälfte (Hemiageusis anterior) eintreten. Das Vor-
handensein oder Fehlen dieser Form der Geschmackstörimg muss daher
begreiflicher Weise bei Erkrankungen des Facialis und Trigeminus
von grosser localdiagnostischer Bedeutung sein. Besteht sie zugleich
mit Anästhesie der Zunge gegen tactile Reize u. s. w. ohne ander-
w-eite Trigeminussymptome, so darf man die Läsion im X. lingualis
suchen. Besteht Verlust des Geschmackes auf einer vorderen Zungen-
hälfte allein, so ist wahrscheinlich die Chorda tymp. selbst getroffen.
184 Untersuchung- des Empfindungsapparates..
was bei Mittelolirerkrankimgen nicht selten geschieht. Besteht das
Symptom neben Facialislähmung, so mnss die zwischen dem Gangl.
geniciüi und dem Abgänge der Chorda liegende Strecke des Nerven
erkrankt sein. Doch ist zu bemerken, dass einige Male auch bei
Läsion des Facialis unterhalb des Foramen mastoid. ein gewisser
Grad von Ageusis gefunden worden ist. Man nimmt an, dass in
solchen Fällen rückläufige Fasern der Chorda den Facialis begleiten.
um später zum N. auriculotemporalis überzutreten. Wenn neben den
Symptomen einer Läsion des zweiten Trigeminusastes Ageusis sich
findet, muss die Strecke zwischen dem Gangl. nasale s. sphenopa-
latinum und dem Gangl.- Gasseri erkrankt sein. Wenn endlich totale
Trigeminusanästhesie und Ageusis zusammen vorkommen, ist eine
Läsion des Trigeminusstammes an der Schädelbasis zu diagnosticiren.
Das Fehlen freilich von Geschmackstörimg bei Trigeminusläsion lässt
sich nur dann diagnostisch verwertheil, wenn die Anästhesie complet
ist, da anderenfalls die Läsion gerade die Geschmacksfasern ver-
schont haben kann.
Verlust des Geschmackes nur auf der hinteren Zimgenhälfte muss
auf Läsion des Glossopharyngeus bezogen werden. Derartige Fälle
sind äusserst selten und meist complicirter Natur. Da bei der pro-
gressiven Bulbärparalyse der Glossopharyngeus nicht betheiligt ist,
wird Ageusis im Gebiete dieses Nerven bei bulbären Symptomen
gegen die Diagnose jener Krankheit, für Annahme eines diffusen Pro-
cesses (Compression u. s. w.) zu verwerthen sein.
Ageusis einer ganzen Zimgenhälfte würde nur dann peripheri-
scher Natur sein können, wenn ein einseitiger Process die Nerven-
ursprünge vom Trigeminus bis zum Glossopharyngeus lädirte, es
müssten dann auch Abclucens, Facialis, Acusticus der gleichen Seite
getroffen sein. Factisch ist Hemiageusis totalis wohl nur als Theil-
erscheinung der Hemianästhesie bisher beobachtet worden.
Totale incomplete Ageusis ist häufig Folge von Veränderungen
der Zungenschleimhaut (dickem Belage, abnormer Trockenheit u. s. w.).
In seltenen Fällen trifft man sie bei sonst gesunden Personen, viel-
leicht handelt es sich dann um eine Erkrankung der Nervenenden.
Wie die von einigen Autoren beschriebene Ageusis senilis zu er-
klären sei, ist noch unbekannt. Auf jeden Fall ist diese Form sehr
selten. Vielmehr erhalten sich Geschmack und Geruch bei Greisen
in der Eegel auffallend gut. Im Uebrigen ist totale Ageusis wohl
nur bei Hysterie beobachtet worden.
Auch bei Tabes sollen Geschmackstörungen vorkommen, doch
scheint über ihre Art nichts Genaueres bekannt zu sein.
Das Gefühl. 185
V. Das Gefühl.
a) Die ärztliche Prüfung der Hautempfindlichkeit kann sich ent-
weder beschränken auf die Untersuchung, ob Reize dieser oder jener Art
überhaupt noch empfunden werden, oder aber sie kann darauf ausgehen,
die Empfindlichkeit zu messen, die dann reciprok der Reizgrösse gesetzt
wird. Im ersten Falle wird man z. B. festzustellen suchen, ob Berührungen
mit dem Finger wahrgenommen werden, ob Nadelstiche wehthun, ob kalte
Dinge als kalt, warme als warm empfunden werden. Es ist jedoch ersicht-
lich, dass geringere Störungen leicht dieser Untersuchung entgehen werden,
dass eine Vergleichung der zu verschiedener Zeit erhaltenen Ergebnisse
schwierig ist. Der Wunsch, einen exacten, d. h. zahlenmässigen Ausdruck
für letztere zu erlangen, erscheint demnach als sehr berechtigt. Es bieten sich
dazu zwei Wege. Einmal kann man die absolute Empfindlichkeit messen,
d. h. den kleinsten, noch eben wahrgenommenen Reiz bestimmen, zum andern
kann man zwei Reize feststellen, die einen gegebenen Empfindungsunter-
schied liefern. Das Maass der Unterschiedsempfindlichkeit zu erlangen,
giebt es drei Methoden. Die Methode der eben merklichen Unterschiede
beruht darauf, dass man den Unterschied zweier Reizgrössen, z. B. zweier
Gewichtsgrössen, bestimmt, der noch eben merklich in die Empfindung fällt;
die Methode der richtigen und falschen Fälle darauf, dass man bei einem
so kleinen Unterschiede der Grössen, dass nicht sicher erkannt werden kann,
welche von beiden wirklich die grössere oder kleinere sei, die Zahl der
richtigen und falschen Urtheilsfälle bestimmt, d. h. zählt, wie oft man die
Richtung des Unterschiedes richtig bestimmt, wie oft man sich darüber ge-
täuscht hat; die Methode der mittleren Fehler darauf, dass man sich die
eine Grösse gemessen giebt, die andere nach dem Urtheile der Empfindung
ihr gleich herzustellen sucht und die durch Nachmessen erkannten Fehler,
die man begeht, notirt. Die Grösse der Empfindlichkeit ist bei der ersten
Methode der Grösse des eben merklichen Unterschiedes, bei der zweiten
der Grösse des Unterschiedes, der ein gleich grosses Verhältniss richtiger
zu den falschen Urtheilsfällen liefert, bei der dritten der Grösse des aus
allen einzelnen Fehlern gezogenen mittleren Fehlers umgekehrt proportional.
Ist in theoretischer Beziehung besonders das Maass der Unterschiedsem-
pfindlichkeit wichtig geworden, so musste die ärztliche Untersuchung von
ihm wegen der Schwierigkeit der Methoden im Grossen und Ganzen von
vornherein absehen. Nur die Methode des eben merklichen Unterschiedes
hat auch zu praktischen Zwecken, nämlich bei Bestimmung der Druck- und
Temperaturempfindlichkeit, Anwendung gefunden. Im Uebrigen handelt es
sich um Feststellung der absoluten Empfindlichkeit.
Soll die Empfindlichkeit einer Hautstelle gemessen werden, so wird es
nicht genügen, für eine bestimmte Art von Reizen den noch eben wahr-
nehmbaren zu bestimmen, da die sogenannten Gefühlsqualitäten von ein-
ander relativ unabhängig sind. Man wird verschiedene, den hauptsächlichsten
Qualitäten der Empfindung entsprechende Reize anwenden, es wird sich
demnach darum handeln, das Tast- und Druckgefühl, das Temperaturgefühl
und die Schmerzempfindlichkeit zu messen. Die gewonnenen Werthe haben
nur für eine bestimmte Hautstelle Geltung.
Die bisher dem ärztlichen Gebrauche empfohlenen Methoden sind nun
186 Untersuchung des Empftndungsapparates.
etwa folgende. An erster Stelle verdient ihrer historischen Bedeutung wegen
die Weber'sche Methode genannt zu werden, nach der die eben merkliche
Distanz zweier Zirkelspitzen auf der Haut bestimmt wird. Sie misst die
Fähigkeit der Haut, extensive Grössen abzuschätzen.
Sieveking hat ein Instrument, das sogenannte Aesthesiometer, an-
gegeben, das die Ausführung der Weber'schen Methode erleichtert. Es be-
steht aus einem in Millimeter getheilten Metallbalken, der zwei mit abge-
stumpften Hornspitzen versehene Querbalken trägt. Der eine der letzteren
ist verschiebbar, so dass die beiden Spitzen in einen beliebigen Abstand
gebracht werden können. Beim Gebrauche setzt man beide Spitzen gleich-
zeitig und massig fest auf die zu untersuchende Hautstelle, am besten immer
in sagittaler Richtung, und bestimmt, indem man in wiederholten Versuchen
von kleineren zu grösseren Abständen aufsteigt, den Abstand, bei dem die
Spitzen deutlich als zwei gefühlt werden. Beim Gesunden erhält man für
verschiedene Hautstellen verschiedene Werthe, etwa in folgender Weise:
Zungenspitze 1 Mm.
Fingerspitze 2 =
Lippenroth 3 =
Dorsalfläche der 1. und 2. Phalanx und Innen-
fläche der Finger 6 e
Nasenspitze 7 *
Thenar und Hypothenar 8 =
Kinn 9 *
Spitze der grossen Zehe, Wangen, Augenlider 12 -
Glabella 13 =
Ferse. 22 *
Handrücken 30 -
Hals 35 =
Vorderarm, Unterschenkel, Fussrücken ... 40 *
Eücken 60 — 80 *
Oberarm und Unterschenkel 80 =
Man spricht auch von „Empfindungs-" oder ,, Tastkreisen", indem man
sich vorstellt, dass die ermittelten Distanzen Durchmesser von Kreisen
gleicher Empfindlichkeit darstellen. In Wirklichkeit handelt es sich nicht
um eigentliche Kreise, sondern die noch eben gefühlte Distanz ist etwas
verschieden, je nachdem die Spitzen in sagittaler oder transversaler Richtung
oder sonstwie aufgesetzt werden. Unter Vergrösserung der Tastkreise ver-
steht man Zunahme der noch eben gefühlten Distanz, d. h. Abnahme des
Vermögens, extensive Grössen zu schätzen.
Einen Apparat zur Messung des Tastsinns, des Vermögens, die Ober-
fläche der Körper zu beurtheilen, hat Rumpf empfohlen. Der Apparat,
der von Hering angegeben worden ist, besteht aus einer runden Metall-
platte, auf der eine Anzahl Stäbe im Kreise stehen. Der erste dieser Stäbe
ist ganz glatt, die folgenden sind mit verschieden dicken Drähten um-
wickelt. Der Tastsinn ist proportional der Fähigkeit, die Grade der Rauhig-
keit dieser Stäbe zu unterscheiden. Bei der Prüfung soll es zweckmässig
sein, den Apparat auf 33° zu erwärmen.
E. H. Weber hat ferner die Empfindlichkeit für Druckunterschiede
messen gelehrt durch Aufsetzen von Gewichten auf die Haut. Die Prüfung
Das Gefühl. 187
kann mit verschiedenen Geldmünzen, deren eine verschieden grosse Zahl
aufgelegt wird (Eigenbrodt), oder mit Schachteln, die gleich gross sind,
aber verschiedene Gewichtsmengen von Schrot oder dergl. enthalten, aus-
geführt werden. Dabei muss das Muskelgefühl dadurch ausgeschlossen
werden, dass der untersuchte Theil gut gestützt und unverrückbar gelagert
wird, müssen die Zeiten zwischen dem Auflegen verschiedener Gewichte
gleich gross sein, muss, wenn es sich um Metallgewichte handelt, ein
schlechter Wärmeleiter (Holz, Pappe) untergelegt werden. Nach Webe r
empfinden die Fingerspitzen einen Druckunterschied von 29 : 30 (ähnlich
Lippen, Zunge u. s. w.), die Vorderarme von 18 : 20 (ähnlich Brust, Unter-
schenkel u. s. w.). Eine Modifikation dieser Methode stellt Eulenburg's
Barästhesiometer dar, das nicht durch verschiedene Gewichte, sondern
durch Andrücken eines Knöpfchens an die Haut mittels einer Spiralfeder
wechselnde Druckgrössen erzeugt. Aehnlich war schon D ohrn vorgegangen,
indem er ein Stäbchen durch eine mit verschiedenen Gewichten belastete
Wagschale gegen die Haut andrücken Hess. Das Minimum der Druck-
empfindung bestimmte zuerst Kamm ler dadurch, dass leichte, eventuell
durch Auflage vergrösserte Gewichte aus Hollundermark, Kork, Karten-
papier von 9 Qmm. ganz langsam und möglichst senkrecht auf den zu
prüfenden Theil herabgelassen wurden. Eine zweite Methode gab Goltz
an,, indem er durch einen Apparat, mit dem sich künstliche Pulswellen
hervorbringen Hessen, das Druckminimum in Gestalt der noch eben fühl-
baren Welle aufsuchte; für den praktischen Gebrauch hat Bastelberger
einen Apparat nach Goltz 's Princip construirt. Ein mit Wasser gefüllter
Gummischlauch trägt an seinem vorderen Ende, das dem zu untersuchen-
den Körpertheile angelegt wird, einen fingerförmigen, dehnbaren Aufsatz.
An seinem hinteren Ende befindet sich ein Stempel, der den Druck im
Schlauche regulirt. Die Druckschwankungen werden durch eine mit Ge-
wichten beschwerte Schale einer Wage, vermittels einer Pelotte, ausgeübt.
Die Wage befindet sich in einem Kasten, aus dem nur die beiden Enden
des Schlauches hervorragen. In eigenthümlicher Weise wollte A. Frey die
„Tastempfindlichkeit" messen. Er construirte einen Apparat, in dem durch
eine Feder von veränderlicher Spannung kleine Körperchen von unten an
eine Hautstelle angeschleudert werden. Entweder wird bei gleicher Flug-
bahn das Gewicht des Körperchens verändert, bis das Minimum der Em-
pfindung erreicht ist, oder bei gleichem Gewicht wird die Wurfhöhe ver-
ändert.
Bei Messung des Temperatursinnes kann es sich nur um die Unter-
schiedsempfindlichkeit handeln. Zur Bestimmung des eben merklichen Unter-
schiedes tauchte Weber den Finger schnell hintereinander in Wasser von
verschiedener Temperatur, oder auch er setzte mit Oel gefüllte und in
verschiedenem Grade erwärmte Glasfläschchen auf die zu prüfende Haut-
stelle. Nothnagel nahm an Stelle der Glasflaschen mit Wasser gefüllte
Kupfercylinder, die an den Seiten mit einer schlecht leitenden Schicht
umgeben waren und durch eine Oeffnung im Deckel eingeführte Thermo-
meter enthielten. Eulenburg beschrieb ein Thermästhesiometer, bestehend
aus zwei an einem Stativ befestigten Thermometern mit breiten Endflächen,
die in verschiedener Weise erwärmt und in variablem Abstände an die
Haut angedrückt werden können. Man liest, während die Temperaturen
188 Untersuchung des Empfmdimgsapparates.
beider Thermometer sich ausgleichen, die noch eben merkliche Differenz
ab. Später hat Eulenburg ein complicirteres Instrument empfohlen. Tem-
peraturen zwischen 27 und 33 ° C. werden am feinsten unterschieden. In-
nerhalb dieser Grenzen fand Nothnagel als eben wahrnehmbaren Unter-
schied: an den Armen 0,2U, an der Wange 0,2 — 0,4°, an denSchläfen 0,3 — 0,4°,
am Handrücken 0,3°, in der Hand und auf dem Fussrücken 0,4", am Bein
0,5 — 0,6°, am Rücken 0,9°, also durchschnittlich etwa 0,5°. Man hat auch
die Grenzen des Temperatursinnes zu messen gesucht und sowohl einen
Kälteschmerzmesser (Kryalgimeter), als einen Wärmeschmerzmesser (Therm-
algimeter) consrruirt. Jener besteht aus einem Thermometer mit einem
breiten, der Haut aufzusetzenden Quecksilbergefäss, das beim Versuche
durch einen Aethersprühregen abgekühlt wird, dieses besteht aus einem
Thermometer, dessen Quecksilbergefäss mit einem durch einen galvanischen
Strom zu erhitzenden Platindraht umwickelt ist. Es ergab sich, dass der
Kälteschmerz an manchen Hautstellen leichter eintritt (besonders Ellen-
bogen) als an anderen (besonders Fingerspitzen), er variirte zwischen-}- 2,8°
und — 11,4° C. Der Wärmeschmerz variirte nach den verschiedenen Haut-
steilen zwischen 36,3 und 52,6 C. Golds ch eider hat gezeigt, dass Kälte-
Empfindlichkeit und Wärme-Empfindlichkeit gesondert untersucht werden
müssen. Er hat gefunden, dass derselbe Kälte-, bez. Wärmereiz normaler-
weise an verschiedenen Stellen der Haut Empfindungen von verschiedener
Stärke hervorruft. Die an der Hautob er fläche vorhandenen örtlichen Unter-
schiede werden von ihm in 12 Abstufungen der Kälte- und 8 der Wärme-
Empfindlichkeit gesondert, und von jeder Hautstelle wurde bestimmt, welcher
Abstufung sie normalerweise zugehört. Besteht in einem Gebiete eine
Herabsetzung der Temperaturempfindlichkeit, so entsteht an den zugehörigen
Prüfungstellen bei der Berührung mit einem erwärmten (abgekühlten) Metall-
cylinder eine schwächere Wärme-(Kälte-)Empfindung als an Stellen gleicher
Stufe, die normalen Gebieten angehören, und eine ebenso starke wie an
Stellen niedrigerer Stufen. Man kann sagen: die Wärme- (Kälteempfind-
lichkeit dieses Gebietes ist um so und soviel Stufen herabgesetzt.
Besondere Schwierigkeiten bietet die Messung der Schmerzempfindlich-;
keit. Björnström (Upsala 1877) hat ein Algesimeter angegeben. Es
besteht aus einer Pincette, zwischen deren Arme eine Hautfalte eingeklemmt
und, bis Schmerz entsteht, zusammengedrückt wird. Die an einem Ziffer-
blatte ablesbare Druckgrösse ist das Maass der Schmerzempfindlichkeit.
Buch coustruirte ein „Baralgesimeter" zur Druckschmerzmessung an jedem
beliebigen Körpertheile. Es ist wesentlich eine Wiederholung des Eulenburg'-
schen Instrumentes. Eine brauchbare Methode, die Schmerzempfindlichkeit
der Haut zu messen, besitzen wir nicht. In gewissem Grade aber geht
die Empfindlichkeit gegen inducirte elektrische Ströme der Schmerzempfind-
lichkeit parallel, die von Leyden u. A. empfohlene elektrocutane Sensi-
bilitätsprüfung bietet daher für jenen Maugel einen gewissen Ersatz. Sie
wird am zweckmässigsten derart angestellt, dass, während der eine Pol
als feuchte breite Platte auf einer indifferenten Stelle ruht, der andere als
weicher Pinsel der zu untersuchenden, sorgfältig getrockneten Hautstelle
leise applicirt wird. Man nähert alsdann die secundäre Rolle der primären
des Dubois'schen Schlittens soweit, dass das Minimum der Empfindung er-
reicht wird, und notirt den Rollenabstand als der Empfindlichkeit reciprok.
Das Gefühl. 189
Die Zahlen, die sich bei Prüfung der verschiedenen Bautstellen ergeben,
sind natürlich, je nach den verschiedenen Apparaten, verschiedene. Nur
das Verhältniss zwischen der elektrocutancn Sensibilität verschiedener Kör-
pertheile lässt sich allgemein gültig ausdrücken. Es ergiebt sich etwa
folgende Scala:
Gesichtshaut 1,00 Handrücken 0,80
Zunge 0,S5 Fingerspitzen 0,65
Hals 0,95 Oberschenkel 0,80
Brust 0,85 Unterschenkel und Fussrücken 0,75
Rücken 0,80 Fusssohle 0,50
Arm 0,S5
Die elektrische Prüfung der Hautempfindlichheit hat den grossen Vor-
theil, dass besonders bei einseitigen Störungen man mit ziemlich geringem
Aufwand an Zeit und Mühe ein relativ sicheres zahlenmässiges Ergebniss
erlangt. Sie hat den Nachtheil, dass man eigentlich nicht genau weiss,
welchen „Sinn" der Haut man misst. Die elektrocutane Sensibilität geht
zwar, wie oben bemerkt, in der Regel der Schmerzempfindlichkeit ungefähr
parallel, doch ist dies nicht immer der Fall und dieses Verhältniss muss
daher an jedem Kranken erst geprüft werden. Welche Functionstörung
der Empfindungsapparat bei Veränderungen der elektrocutanen Sensibilität
zeigt, ergiebt sich nicht ohne Weiteres, weder für die „absolute" Empfind-
lichkeit, noch für ein besonderes Vermögen geben jene einen Maassstab..
Die Fähigkeit, den Ort des Reizes anzugeben, das Localisationsver-
mögen, könnte man messen nach Art der Methode des mittleren Fehlers,
wenn man notirte, um wie viel in jedem Falle der Untersuchte sich irrt,
und aus einer Reihe von Versuchen das Mittel zöge.
Messbar endlich ist die Zeit zwischen Reiz und Empfindung. Die be-
treffenden physiologischen Methoden sind wegen der schwierigen und zeit-
raubenden Handhabung von vornherein vom praktischen Gebrauche aus-
geschlossen. Ein Metronom oder eine Secundenuhr dienen am Kranken-
bette zur Messung der hier vorkommenden starken Verzögerungen der
Empfindung.
Alle Maassmethoden stellen Ansprüche an den Untersucher und den
Untersuchten. Die beste Methode führt nicht zum Ziele, wenn der sich
ihrer Bedienende sie nicht beherrscht. Dazu aber gehört Uebung und
Kenntniss aller der grossen und kleinen Schwierigkeiten, die vorkommen.
Bekanntschaft mit der (umfangreichen) Literatur und persönliche Erfahrung
sind unerlässlich. Dem, der diesen Ansprüchen nicht genügt, wird eine
Methode um so weniger nützen, je feiner sie ist, die relativ richtigsten
Resultate wird er mit einer möglichst groben Untersuchung erlangen. Auch
von dem Untersuchten wird mancherlei verlangt. Bei den physiologischen
Untersuchungen hat sich herausgestellt, dass bei jedem Subject eine Zeit
der Uebung vergehen muss, ehe die an ihm erlangten Resultate einstim-
mig werden. Der Untersuchte muss die Fähigkeit besitzen, seine Aufmerk-
samkeit längere Zeit auf schwache Empfindungen concentriren zu können,
eine Fähigkeit, die entsprechend geringer geistiger Entwicklung fehlen
oder durch krankhafte Veränderungen verloren werden kann. Diese Ver-
hältnisse sind eine überaus reichlich fliessende Quelle der Irrthümer, die
bei klinischen Prüfungen in erster Linie zu beachten ist. Zu geringes oder
190 Untersuchung' des Empfindungsapparates.
zu hohes Alter, mangelhafte Bildung, Ablenkung der Aufmerksamkeit durch
Schmerzen, durch aufregende und verwirrende psychische Eindrücke, cere-
brale Erkrankungen u. s. w. kommen in Frage. Nötkig und nicht immer
vorhanden ist endlich der gute Wille. Auch von Seite des Untersuchten
aus werden die Fehler um so grösser und zahlreicher werden, je compli-
cirter die Methode ist. Gerade die Methoden, die bei psychophysischen
Experimenten vermöge ihrer Feinheit die elegantesten Resultate geben,
werden im kleinsten Umfange anwendbar, d. h. für den Arzt am wenigsten
brauchbar sein. Die wahre Exactheit besteht darin, zuverlässige Angaben
zu machen, nicht darin, unter allen Umständen Zahlen zu liefern.
Das Gesagte findet auf die einzelnen Methoden in verschiedenem Grade
Anwendung. Die Weber' sehe Methode zur Bestimmung der extensiven Haut-
empfindlichkeit sollte bei Kranken nur unter besonders günstigen Umständen
zur Anwendung kommen. Ihre Schwierigkeiten sind zahlreich. Sie fordert
von dem Untersucher peinliche Genauigkeit; dahin gehören stets gleich-
massiges Aufsetzen der Zirkelspitzen, Beachtung ihrer Temperatur, Beachtung
der Zeit zwischen den Einzelversuchen u. s. w. Von Seiten des Untersuchten
wird ein nicht geringes Maass der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung ge-
fordert. Der Einfluss der Uebung ist bei dieser Methode gross. Nach ihr
angestellte Versuchsreihen sind nur dann vergleichbar, wenn alle Neben-
umstände auf das Peinlichste gleich gemacht worden waren. Es erscheint
demnach zweckmässig, den Gebrauch dieser Methode zu klinischen Zwecken
mehr einzuschränken, als es bisher vielfach der Fall gewesen ist. Dies
um so mehr, da wir durch sie trotz aller Mühe und Zeitverluste nichts
bestimmen, als die Fähigkeit, extensive Grössen abzuschätzen. Sie bietet
nichts weniger als ein Maass der Hautempfindlichkeit überhaupt. Sie giebt
auch keinen directen Aufschluss über das Localisationsvermögen, wie Ein-
zelne zu glauben scheinen. Bei sehr vielen Autoren findet sich als selbst-
verständlich die Meinung, durch die Weber'sche Zirkelmethode werde das
Tastgefühl gemessen. Dies ist zum Mindesten eine gänzlich unerwiesene
Behauptung. Mag auch in der Mehrzahl der Fälle die Veränderung der
extensiven Hautempfindlichkeit der des Vermögens zu tasten überhaupt
proportional sein, so braucht sie es doch nicht zu sein. Ob z. B. die Fähig-
keit, die Beschaffenheit der Oberflächen durch das Gefühl zu bestimmen,
mit der Vergrösserung der sogenannten Tastkreise immer abnimmt, wäre
auf jeden Fall erst durch besondere Versuche festzustellen. Als Prüfung
des Tastgefühls, bei dem es sich ja wesentlich um kleine Druckschwan-
kungen handelt, könnte auch die Goltz'sche Wellenmethode bezeichnet
werden. Sie scheint sich mittels des Bastelberger'schen Apparates ziemlich
leicht ausführen zu lassen und verspricht zuverlässige Resultate. Ich habe
über sie keine eigene Erfahrung und weiss nicht, ob sie bisher in aus-
gedehnter Weise Anwendung gefunden hat. Kammler 's Verfahren ist
zu praktischen Zwecken ganz ungeeignet, übrigens auch nicht dazu em-
pfohlen. Auch die Methode Frey's kann man kurzer Hand als zu com-
plicirt bei Seite legen. Die Prüfung der Unterschiedsempfindlichkeit, wie
sie bei der Untersuchung des Druckgefühls nach E. H. Weber oder mittels
des Eulenburg'schen Barästhesiometers ausgeführt wird, ist im Allgemeinen
schwieriger als die der absoluten Empfindlichkeit, stellt insbesondere an
die Intelligenz des Untersuchten höhere Ansprüche. Bei den Drucksinn-
Das Gefühl. 191
Prüfungen mittels Gewichten sind viele Cautelen zu berücksichtigen, um
nicht zu sehr fehlerhaften Resultaten zu gelangen. Ein Theil der Schwierig-
keiten ist wohl durch Eulenburg's Instrument gehoben. Doch bemerkt
Erb mit Recht, dass er die damit erlangten Resultate ziemlich unsicher
finde; es komme zu viel darauf an, mit welcher Schnelligkeit man die
verschiedenen Grade des Druckes eintreten lasse. Bemerkenswerth ist,
dass das Resultat der Drucksinnprüfung nicht allein von der Sensibilität
der Haut abhängig ist. Richtet sich schon beim Gesunden die Druck-
empfindlichkeit der verschiedenen Hautstellen zum Theil nach der Be-
schaffenheit der Unterlage (man kann z. B. mit der Zunge den Puls nicht
fühlen), so können auch pathologische Veränderungen der letzteren den
Drucksinn alteriren. Die Messung des Temperaturgefühls bietet ähnliche
Schwierigkeiten wie die anderen Prüfungen der Unterschiedsempfindlich-
keit. Goldscheide r 's Methode hat zweifellos grossen Werth, ist aber
doch nicht leicht anzuwenden. Wenig oder gar nicht geeignet zur Messung
der Schmerzempfindlichkeit ist Björnström 's Verfahren. Es ist nicht
möglich, immer gleich hohe Hautfalten aufzuheben, an vielen Körperstellen
lassen sich überhaupt feine Falten nicht bilden, die Art der Anheftung
und Unterlage der Haut bei den verschiedenen Individuen ist wichtiger für
das Resultat als der Grad der Hautempfindlichkeit selbst, die Schnelligkeit,
mit der der Druck eintritt, ist von grossem Einflüsse auf die Grösse des
Schmerzes. Die Prüfung der elektrocutanen Sensibilität giebt ziemlich zu-
verlässige Resultate, doch fordert sie eine gewisse Vertrautheit mit dem
Gebrauch elektrischer Apparate. Ausserdem liegt in dem wechselnden
Leitungswiderstande der Epidermis eine schwer zu eliminirende Fehler-
quelle. Auch mischen sich leicht Empfindungen tieferer Theile störend
ein, da der Strom durch den Körper hindurch gehen muss. Das Resultat
dieser Prüfung sagt uns eigentlich nur, wie empfindlich die Haut gegen
elektrische Reize ist. Es ist demnach auch bei dieser Untersuchung frag-
lich, ob der Lohn der Mühe werth ist.
Summa summarum, so wünschenswerth es erscheint, die Sensibilität
des Kranken messen zu können, so sehr theoretische Erwägungen zur
Anwendung der Maassmethoden drängen, so ergiebt andererseits die Er-
fahrung, dass die am Krankenbette sich entgegenstellenden Schwierigkeiten
gross, zum Theil unüberwindlich sind. Von den vorgeschlagenen Maass-
methoden sind mehrere unbrauchbar, alle sind mühsam, zeitraubend, liefern
am Krankenbette selten ganz zuverlässige Resultate. Es ist demnach wenig-
stens vor der Hand gerathen, bei klinischen Untersuchungen auf die exaete,
nach Art der Physiologen ausgeführte Messung der Hautempfindlichkeit
nicht zu viel Gewicht zu legen, im Allgemeinen sich auf die Anwendung
einfacherer Prüfungsarten zu beschränken. Diese sind ohne besondere
Apparate überall und jederzeit auszuführen, fordern geringen Zeitaufwand
und können auch von dem weniger Geübten angewandt werden. Irgendwie
stärkere Sensibilitätstörungen entgehen auch ihnen nicht und über den Grad
der Störung gestatten sie immerhin ein annäherndes Urtheil. Diese Vor-
züge würden, wenn die Maassmethoden wirklich genaue Messungen ver-
sprächen, weniger ins Gewicht fallen, zusammen aber mit den gegen jene
geltenden Bedenken sichern sie den einfachen Prüfungsweisen den Vor-
rang. In der Wirklichkeit pflegen sich denn auch die meisten Neurologen
192 Untersuchung des Empfindungsapparates.
mit den einfachen Sensibilitätsprüfungen zu begnügen, nur ausnahnieweise
diese oder jene der Maassniethoden zu benutzen. Letztere scheinen in
den Büchern eine grössere Rolle zu spielen als im Leben.
Wenn in dieser Weise die einfacheren Untersuchungsarten bevorzugt
werden, so soll darum die Untersuchung nicht oberflächlich werden. Viel-
mehr wird es gelten, durch die Anwendung vielfach variirter Reize sich
ein möglichst genaues Bild von der Empfindlichkeit des Kranken zu ver-
schaffen. Alle die Reize, die im gewöhnlichen Leben häufig die Haut
treffen, können angewendet werden, und nach allen Seiten hin kann die
Untersuchung sich "erstrecken.
Die klinische Prüfung- der Hautempfindlichkeit wird zweckmässig'
in folgender Weise angestellt.
Als allgemeine Kegel gilt, dass der G-esichtsinn auszuschliessen
ist. Am einfachsten ist es, die Augen weg wenden, schliessen zu
lassen, doch werden durch letzteres manche Kranke irritirt, man
nrnss dann durch einen Schirm oder dergleichen die operirende Hand
verdecken.
Bei allen Untersuchungen sind Controlversuche angezeigt, die
an der analogen Haut stelle eines Gesunden, am Besten des Unter-
suchers, bei einseitigen Erkrankungen an der symmetrischen Stelle
angestellt werden.
Wichtig ist es auch, zu bemerken, dass, wenn über Sensibilität-
störungen berichtet wird, Angaben, wie „der Tastsinn war erhalten",
relativ wenig Werth haben. Man sollte sagen, der Kranke reagirte
so und so auf die und die Eeize. Handelt es sich um feinere Ver-
hältnisse, so ist die genaue Angabe der Methode unerlässlich, denn
jede Variation der Methode giebt auch eine Variation im Ergebnisse.
1. Es wird die Berührungsempfindlichkeit untersucht.
Der Kranke muss angeben, ob er zarte Berührungen mit der Finger-
spitze empfinde. Er hat jede Berührung mit Ja oder Jetzt zu be-
antworten. Zwischengeschobene „leere" Versuche, wo der Arzt fragt
„Jetzt?", ohne den Kranken zu berühren, verhindern Täuschungen.
Der gesunde Mensch nimmt zarte Berührungen überall deutlich
wahr, fühlt sie der Kranke nicht, oder fühlt er von den Berührungen
eine grössere Zahl nicht, so ist die Berührungsempfindlichkeit herab-
gesetzt. Bei schwacher Anästhesie sagen zuweilen die Kranken : „ich
fühle die Berührung, aber nicht deutlich wie sonst".
Wenn man will, kann man das Tastvermögen weiter da-
durch prüfen, dass man glatte und rauhe Körper unterscheiden lässt.
Empfehlenswerth zu dieser (meist entbehrlichen) Untersuchung sind
gleich grosse Holzcylinder, die mit verschiedenen Stoffen (Leinwand,
Seide, Tuch, Wolle, Pelz) überzogen sind.
Das Gefühl. 193
Weiter kann man Striche auf der Haut machen, deren Grösse
and Richtung beurtheilen lassen. Handelt es sich um Grrössenbeurthei-
lung, so spricht man von „extensiver Empfindlichkeit". Den
Ausdruck „Raum sinn", der gewöhnlich bei der Weber'schen Me-
thode gebraucht wird, vermeidet man am besten ganz.
2. Zur Prüfung des sogenannten „Drucksinnes" ist das ein-
fachste Instrument die Fingerspitze, die in ähnlicher Weise wie der
Apparat von Goltz Druckschwankungen erzeugen kann. Die Druck-
empfindlichkeit ist herabgesetzt, wenn der Kranke den Druck des
Fingers nur als Berührung empfindet. Wie schon bemerkt wurde,
hängt der Drucksinn nicht nur von der Empfindlichkeit der Haut,
sondern auch von der der tiefen Theile und von der Beschaffenheit
der Unterlage ab.
3. Die Schmerzempfindlichkeit wird mit einer spitzen
Xadel (am besten Mikroskopirnadel) untersucht, AVer einigermaassen
auf diese Methode sich eingeübt hat. wird mit ihr rasch und ziem-
lich sicher zum Ziele gelangen. Sie dürfte dem Kneipen, Brennen
u. s. w. weit vorzuziehen sein. Der Gesunde empfindet auch den leich-
testen Stich als Schmerz ; fühlt der Kranke nicht, dass er gestochen
wird, glaubt er etwa mit dem Finger berührt zu werden, so ist die
Schmerzempfindiichkeit herabgesetzt. Werden auch starke, die Haut
durchdringende Stiche nur als Berührungen empfunden, so spricht
mau von Analgesie der Haut,
4. Das Localisationsvermögen (der Ortsinn) wird am
besten auch mit der Nadel geprüft. Man lässt den getroffenen Ort
mit der Fingerspitze bezeichnen, nur wenn dies nicht möglich ist,
mit Worten beschreiben. Der Gesunde trifft ihn gewöhnlich genau,
oder irrt sich doch nur um 1 — 2 Üentiineter. Macht der Kranke Fehler
von 5 Centimeter und mehr, so kann man mit Sicherheit das Locali-
sationsvermögen als vermindert ansehen.
5. Der Temperatur sinn oder die Empfindlichkeit gegen Tem-
peraturunterschiede kann durch Anhauchen, das der Gesunde als
warm, und Anblasen, das er als kalt empfindet, untersucht werden, ein
Verfahren, das schon geringe Störungen erkennen lässt. Ferner lässt
man kühlere (metallene, z. B. den Percussionshammer) und wärmere
(hölzerne u. s. w., z. B. den Stiel des Hammers) Gegenstände der Um-
gebung unterscheiden. Soll die Prüfung aus irgend welchem Grunde
besonders sorgfältig sein, so ist es das Einfachste, Probirgläschen mit
verschieden temperirtem Wasser zu füllen und zu untersuchen, ob
der Kranke die Unterschiede, die der Gesunde fühlt, ebenfalls fühlt.
Beim Temperatursinn trifft man nicht nur einfache Abnahme der
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 13
194 Untersuchung rte* Empfin^ungsappaxates.
Empfindlichkeit, sondern auch nicht selten Anomalien des Gefühls
derart, dass vielleicdit Kältereize sehr lebhafte Kälteempfindung er-
regen, hei warmen Körpern aber mir die Berührung gefühlt wird,
ohne dass ein Unheil über die Temperatur möglieh wäre, dass in
anderen Fällen Kältereize (kaltes Wasser, Eis) als deutlich warm
empfunden werden, ein Symptom, das Strümpell als perverse Tem-
peratnrempnndimg bezeichnet hat.
Bei der Prüfung der Haut empfindliclikeit findet man zuweilen.
das-- zwischen Beiz und Zeichen der Empfindung- sich eine Pause
einschiebt, die mehrere Secunden betragen kann. 3Ian spricht dann
gewöhnlich von verlangsamter Empfindungsleitung. Die verspätete
Empfindung, ein Ausdruck, mit dem nichts präjudicirt ist. wird
am häufio'sten bei Prüfling der Schmerzempfiiidlichkeit gefunden.
Selten ist die Berührungsempfiiidung oder die Temperaturempfindung
verspätet. Wohl aber verursachen zuweilen Stiche eine Doppel-
empfindung (Beniak) derart, dass die Kranken sofort die Berüh-
rung si.o-nalisiren. aber erst nach einigen Secunden den berührten
Theil zurückziehen und Zeichen einer Schmerzempfindung geben. In
seltenen Fällen trat erst eine Schmerz- und danach eine Tastempfin-
dung ein. beide waren verspätet. Gelegentlich beobachtet man ver-
wandte Phänomene, die als X a c h e m p f i n d u n g (X a u n y n) bezeichnet
werden. Der durch den Stich verursachte Schmerz verschwindet
rasch, danach aber tritt an der gestochenen Stelle Schmerz ein. der
absatzweise sich steigert und stundenlang anhalten kann. Zu den
selteneren Erscheinungen gehört auch die P o 1 y ä s t h e s i e (F i s c h e r )..
bei der die Kranken statt einer Spitze 2. statt der beiden Spitzen
des Tasterzirkels 3 — ö zu fühlen behaupten. Das Gleiche gilt von
der Allocheirie (Ober st einen, bei der die Kranken über die
gereizte Körperseite im Unklaren sind. z. B. die rechts applicirten
Stiche links zu fühlen glauben.
Schliesslich sei noch die Prüfung auf Schmerzpunkte er-
wähnt. Man findet zuweilen einzelne Stellen, wo. sei es durch Reizung
der Haut, sei es durch Reizung tieferer Theile. Druck oder Wärme
oder der galvanische Strom einen heftigen, nicht selten ausstrahlen-
den Schmerz und reflectorische Erscheinungen bewirkt. Die Stellen,
ilie in Frage kommen, sind in der Eegel die, wo sensible oder ge-
mischte Nerven ziemlich direct unter der Haut liegen, oder es sind
einzelne Stellen der Haut über oder neben den Dornfortsätzen der
Wirbelsäule. Um die Sehmerzpunkte zu finden, drückt man mit der
Fingerkuppe oder mit dem Knöchel die fraglichen Stellen, klopft
auf sie mit dem Percussionshammer, fährt über sie mit einem in
Das Gefühl. 195
heisses Wasser getauchten Schwämme, mit der Kathode eines kräf-
tigen galvanischen Stromes, während die Anode auf einer indiffe-
renten Stelle Steht.
1). Die Empfindungen, die von den unter der Haut oder Schleim-
liaui gelegenen Theilen ausgehen, fasst man zusammen und spricht
von Empfindlichkeit der tiefen Tlieile. An ihr haben An-
tlieil die Muskeln, die Fascien und Sehnen, die Bänder und Gelenke,
das Periost und die Knochen. Weder ist es möglich diese verschie-
denen Organe einzeln zu prüfen, noch ihre Empfindungen ganz zu
trennen von denen der Haut. Alle jene und die Haut kommen in
Frage bei den Fähigkeiten, deren Prüfung als für die Empfindlich-
keit der tiefen Theile maassgebend angesehen wird.
1. Die Fähigkeit, die Schwere gehobener Körper zu
beur theilen, bezeichnet man gewöhnlich als Kraft sinn. Man
prüft dies an den Armen so, dass man dem Untersuchten verschiedene
Gewichte in die Hand giebt oder diese in eine um den Arm oder
die Hand gelegte Tuchschlinge legt und dann den Untersuchten auf-
fordert, mit Benutzung von Bewegungen abzuwägen, welches Gewicht
das schwerere sei.
Hitzig hat Holzkugeln, die mit verschiedenen Bleimengen gefüllt
sind und trotz verschiedenen Gewichtes gleich aussehen, angewandt. Man
giebt sie den Kranken in die Hand oder legt sie in eine an den Strumpf
augestrickte Seitentasche. E.H.Weber fand, dass Gewichtsunterschiede
von 1/ao vom Gesunden empfunden werden. Andere haben andere Zahlen
gefunden. Am besten vergleicht man das Ergebniss mit den Angaben eines
( lesunden von gleichem Alter u. s. w.
2. Die Fälligkeit, Richtung, Geschwindigkeit und
Excursion der eigenen Bewegungen zu beurtheilen,kann
entweder dadurch geprüft werden, dass man mit dem Untersucliteu
passive Bewegungen vornimmt und ihn dann auffordert, zu sagen,
was geschehen ist, oder dass man ihn bestimmte Bewegungen aus-
führen lässt. Im ersteren Falle hebt man z. B. vorsichtig mit der
unter die Ferse gelegten Hand das Bein des liegenden Untersuchten.
Der Gesunde nimmt die geringste passive Bewegung wahr. Ist die
Empfindlichkeit vermindert, so kann der Winkel, den das Bein
des Untersuchten mit der Horizontalen in dem Augenblicke bildet,
Wann die passive Bewegung wahrgenommen wird, ein Maass der
Störung abgeben. Im anderen Falle bezeichnet man dem sehenden
rntersuchten eine Bewegung, die er dann mit geschlossenen Augen
ausführen soll, man zeigt ihm z. B., wie hoch er das Bein lieben soll,
oder man markirt einen Punkt, den er mit dem Finger berühren
13*
196 Untersuchung des Empfindungsapparates.
soll. Die Gesunden erfüllen alle derartigen Aufgaben mit grosser
Sicherheit und pflegen sich höchstens um wenige Centimeter zu irren.
Zur Prüfung der „Bewegungsempfindung" räth Golds ch eider das
Glied oberhall) und unterhall) des zu bewegenden Gelenkes in die
volle Hand zu nehmen und, indem man einen ziemlich starken Druck
ausübt, ganz kleine Bewegungen mit massiger Geschwindigkeit
auszuführen. Der Kranke muss etwas eingeübt werden.
Mit der besprochenen Fälligkeit hängt eng zusammen das B e -
wusstsein von der Lage der Glieder. Man prüft dies, indem
man dem untersuchten Gliede bestimmte Stellungen ertheilt, die der
natürlich nicht sehende Patient beschreiben muss, oder die er mit
dem symmetrischen Gliede nachahmen muss.
Bei diesen Untersuchungen ist selbstverständlich darauf zu achten,
ob die activen Bewegungen nicht etwa durch motorische Störungen
gehemmt werden. Wenn auch bei offenen Augen die geforderten
Bewegungen nicht richtig sind, so spricht man von Ataxie. Die unter
1 und 2 genannten Vermögen bezeichnet man auch als Leistungen
des „Muskelsinnes". Es ist aber zweckmässig, diesen Namen nicht
zu brauchen, da offenbar ausser den Empfindungen der Muskeln auch
die der Gelenke, die der gespannten Haut u. s. w. eine Bolle spielen.
Ausser von Aufhebung des Muskelsinnes hat man auch von Aufhebung
des Muskelbewusstseins (conscience musculair e — D u c li e n n e)
gesprochen. Man versteht darunter einen bei Hysterischen beobach-
teten Zustand, in dem die unempfindlichen Glieder nur unter Controle
der Augen bewegt werden können, bei Schluss der Augen oder im Dun-
keln jede Bewegung unmöglich ist, die Kranken als gelähmt erscheinen.
3. Die Empfindlichkeit der Muskeln prüft man durch
Druck mit der Hand. Gesunde Muskeln sind sehr wenig druckem-
pfindlich. Findet man Schmerzhaftigkeit der Muskeln bei Druck (wo-
bei durch Drücken leerer Hautfalten Verwechselung mit Hyperäs-
thesie der Haut vermieden wird), so liegt zweifellos ein krankhafter
Zustand vor.
Man kann auch die elektromusculäre Sensibilität durch
directe oder indirecte faradische, oder auch galvanische Beizung prüfen.
Mit jeder künstlichen Oontraction ist ein charakteristisches Spannimg-
gefühl verbunden, das sich bis zu heftigem Schmerze steigern kann,
demselben Schmerze, der auch bei gewissen Krämpfen (Crampi) ein-
tritt. Verlust der elektromusculären Sensibilität ist leicht nachzu-
weisen, geringere Störungen sind nur bei Anästhesie der Haut leicht
zu erkennen, weil es schwierig ist. Haut- und Muskelempfindungen
srenau auseinander zu halten.
Das Gefühl. 197
4. DieFähigkeit, den aufrechten Körper im Gleichgewichte
zu erhalten, miiss als von der Empfindlichkeit abhängig hier mit er-
wähnt werden. Wenn der Untersuchte nur mit sehenden Augen
sicher stehen kann, nach Schluss der Augen oder im Dunkeln schwankt
oder zu Boden fällt, ist bewiesen, dass die Empfindlichkeit der Füsse
herabgesetzt oder aufgehoben ist.
:>. Das Vermögen, die körperliche Gestalt der Dinge
zu erkennen, wird geprüft, indem man den Untersuchten kleinere,
an ihrer Form leicht erkennbare Körper durch das Gefühl bestimmen
lässt. Meist handelt es sich um das Gefühl der Hand, man giebt
also den Patienten verschiedene Geldmünzen, kleine Schlüssel u. s. w.
in die Hand, die durch Umgreifen oder durch Hin- und Herbewegen
erkannt werden.
Zu methodischen Versuchen ist es am zweckmässigsteu geometrische
Körper zu verwenden. Hoffmann, ein Schüler Kussmaul's, hat zu
diesen „stereognostischen Versuchen" ans Holz gearbeitete, 3 — 6 Centi-
meter im Durchmesser grosse Körper benutzt und zwar Kugel, Halbkugel,
Kugelsegment, Kegel, Würfel, dreikantiges Prisma, Octaeder, Dodekaeder.
Der Gesunde erkennt diese Körper, über deren Benennung man sich vor-
her mit ihm vereinigt hat, sofort nach der Umschliessung mit der Hand.
Bei herabgesetztem Gefühle gelingt dies erst nach einiger Zeit und nach
mehrfachem Hin- und Herbewegen, werden nur noch die einfacheren Körper
(Kugel u. s. w.) erkannt, bis schliesslich jede stereognostische Beurtheilung
unmöglich wird.
Die stereognostische Perception ist offenbar eine complicirte Erschei-
nung, bei der verschiedene Empfindungsqualitäten eine Rolle spielen.
Hoff mann hat darüber in der Hauptsache folgendes ermittelt. Die stereo-
gnostische Perception kann aufgehoben sein, wenn die Temperatur-, die
einfache Berührungs-, die Schmerzempfindlichkeit, der Ortsinn, der Kraft-
sinn erhalten sind. Von grösserer Bedeutung scheinen die extensive und
die Druckempfindlichkeit, die Empfindung passiver Bewegungen und das
Gefühl von der Lage der Glieder zu sein. Immerhin kann jedes einzelne
dieser Vermögen in hohem Grade beeinträchtigt sein, ohne dass die stereo-
gnostische Perception in gleichem Grade Noth litte; ist nur eins von ihnen
vollständig erhalten, so ist die letztere immer in gewissem Grade möglich.
Die wichtigste Rolle sollen die extensive Empfindlichkeit (der Raumsinn)
und der Drucksinn spielen. Bestehen neben der Anästhesie Störungen der
Beweglichkeit, so ist das Ergebniss der stereognostischen Prüfung sehr
unsicher.
Eine kurze Besprechung verdienen die excen tri sehen Em-
pfindungen, die durch mechanische oder elektrische Reizung von
Nervenzweigen in deren Gebiete hervorgerufen werden können. Der
Typus dieser Empfindungen ist das „Mäuschen", das wohlbekannte
Kriebeln im Ulnarisgebiet der Hand, bei einem den N. uln. am Ellen-
bogen treffenden Stosse. Beim Gesunden bewirkt ein massiger Druck
198 Untersuchung des Empfindungsapparates.
auf die erreichbaren gemischten oder sensörischen Nerven keine ex-
centrische Empfindung'. Bei Erkrankungen dieser Nerven aber tritt
sie oft sehr leicht ein. Die ausstrahlende Empfindung tritt dann
zuweilen nicht nur im Hautgebiete des Nerven, sondern auch längs
seines Verlaufes auf. so dass die Kranken mit der Fingerspitze dem
Laufe des Nerven folgen können. Man erklärt dieses Phänomen
durch Reizung der Nervi nervorum. Auch soll Druck auf einen er-
krankten Nerven zuweilen eine in centripetaler Richtung ausstrah-
lende Empfindung erregen (Bärwinkel).
Bei galvanischer Reizung sensorischer Nerven findet man beim Ge-
sunden ein Erregung sg es etz, das vollkommen analog ist dem Zuckungs-
gesetze motorischer Nerven. Bei allmählich zunehmender Stromstärke wird
zuerst KaS mit rasch vorübergehender excentrischer Empfindung beant-
wortet (KaSE), dann wird KaSE dauernd, so lange der Strom geschlossen
ist, und es treten vorübergehende excentrische Empfindungen bei AnS und
AnO ein, endlich wird auch AnSE dauernd und es zeigt sich schwache
KaOE. Die Stromstärke, bei der excentrische Empfindung eintritt, ist un-
gefähr dieselbe, bei der Zuckung eintritt, d. h. für KaSE etwa 1 — 2 M.-A.
Analog den motorischen Punkten kann man die Stellen des Körpers,
von den aus am leichtesten excentrische Empfindung durch den elek-
trischen Reiz erregt wird, als sensorische Punkte bezeichnen. Diese
entsprechen den Stellen, wo sensible Nervenzweige nahe unter der Haut
verlaufen, und im Allgemeinen den bei Neuralgien vorkommen den Schmerz-
punkten.
Ueber Abweichungen vom sensorischen Erregungsgesetze ist bisher
noch sehr wenig bekannt. M. Mendelssohn will bei Tabeskranken an
den Nerven der anästhetischen Bezirke eine Art sensorischer Entartungs-
reaction gefunden haben, derart, dass AnSE > KaSE war. Bei einigen
dieser Kranken fehlten AnOE und KaOE ganz, und drei empfanden über-
haupt nur AnSE.
Vielleicht erlangen diese Dinge in Zukunft diagnostische Bedeutung.
»Schliesslich noch einige Worte über die gebräuchlichen Termini.
Steigerung der Empfindlichkeit wird als Hyperästhesie be-
zeichnet. Selten wird darunter der seltene Zustand verstanden, wo
die Reizschwelle abnorm niedrig ist, die Empfindungen durch schwa:
chere Reize als beim Gesunden bewirkt werden. Gewöhnlich ver-
steht man unter Hyperästhesie eine Art Hyperalgesie derart, dass
die meisten Reize unangenehme Empfindungen erwecken: während
die Empfindungen, an die Urtheile geknüpft werden, nicht lebhafter
oder gar schwächer als sonst sind, begleitet das Unlust gefiihl. das
der Gesunde nur bei sehr starken Reizen empfindet, fast alle Reize.
Verminderung der Empfindlichkeit ist Hy päst hesie. Aufhebung
Anästhesie. Gewöhnlich aber nennt man jede Herabsetzung der
Das Gefühl. 199
Empfindlichkeit Anästhesie, spricht demnach von schwacher, starker,
completer Anästhesie. Eine nicht complete Anästhesie ist nur selten
eine gleichmässige in dem Sinne, dass alle Empnndungsquali-
täteu gleichmässig herabgesetzt sind, gewöhnlich ist sie eine par-
tielle, d. h. die eine Art von Reizen wird, weniger deutlich emt
pfänden als die andere. Die „partiellen Empfindüngslähmungen"
stellen sich aber nicht so dar, dass etwa nur Temperaturreize nicht
gefühlt würden, alle sonstigen Empfindungsqualitäten normal wären,
sondern nur ein oder einige Vermögen sind mehr geschädigt als die
anderen. Es ist daher nur in dem Sinne statthaft von Tastsinnläh-
mung (Apselaphesie) zu reden, dass man darunter Verminderung der
der Wahrnehmung dienenden Empfindungen der Haut versteht und
sie unterscheidet von der Analgesie, beziehungsweise Anedonie, d. h.
der Verminderung, des die Empfindungen begleitenden „Gefühlstones".
In gleicher Weise wird zuweilen Anästhesie im engeren Sinne der
Analgesie gegenübergestellt. Es findet sich in der That selbständige
Analgesie, d. i. Aufhebung des Schmerzgefühles ohne Beeinträch-
tigung der Wahrnehmungsfähigkeit.
Unter Anaesthesin dolorosa versteht man den Zustand,
wo Schmerzen in einem gegen äussere Reize unempfindlichen Gebiete
auftreten.
Parästhesien sind im allgemeinsten Sinne Empfindungen, die
ohne äussere Ursache eintreten. Es gehören dahin das Jucken (Pru-
ritus), das Prickeln, Kriebeln, Ameisenlaufen (Formicatio), Hitze- (Ar-
dor) und Frostgefühl (Algo.r) und dergleichen, streng genommen auch
die verschiedenen Formen des krankhaften Schmerzes, die jedoch in
der Regel für sich abgehandelt werden.
Als P e r v e r s i o n der E m p f i n d u n g bezeichnet man die Be-
antwortung eines Reizes mit einer Empfindung, die beim Gesunden
einem anderen Reize zukommt, z. B. das Auftreten von Brennen bei
einem Stiche, das Gefühl des Stiches bei Berührung mit einem kalten
Gegenstände u. s. w., ferner die oben als Polyästhesie, Allocheirie u. s, w.
beschriebenen Zustände.
Man unterscheidet weiter nach dem Sitze cutane, musculäre,
viscerale, sensu ale Anästhesien, Parästhesien u. s, w., nach der
Ausbreitung cir cum Scripte, diffuse Anästhesie, Hemianäs-
thesie, Paraanästhesie. —
Welche Hautbezirke den einzelnen Nerven entsprechen, ist aus
der im IL Theile gegebenen Uebersicht über die Vertheilung der
peripherischen Nerven und den dort befindlichen Abbildungen zu
entnehmen.
200 Untersuchung des Empfindungsapparates.
Aus der Art der Anästhesie kann mau kerne sicheren Schlüsse
auf den Ort der Läsion ziehen, doch deuten bestimmte Formen der
Anästhesie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf.
Complete Anästhesie kann sowohl cerebraler, als spinaler, als
peripherischer Natur sein, doch ist sie weit häufiger durch periphe-
rische als durch centrale Veränderungen verursacht, abgesehen von
der functionellen Anästhesie, die sehr oft complet ist. Umgekehrt
ist die partielle Anästhesie häufiger centraler als peripherischer Natur.
Doch muss mit Nachdruck betont werden, dass partielle Anästhesie
durchaus nicht mit Bestimmtheit gegen peripherische Läsion spricht,
vielmehr können wahrscheinlich die meisten Formen partieller An-
ästhesie durch die letztere entstehen. Auch die Verlangsamung der
Empfindung kommt durch sie, wiewohl selten, zu Stande, nicht nur
durch spinale Läsionen, wie früher angenommen wurde. Analgesie
kommt am häufigsten bei functioneller, sehr häufig bei spinaler, selte-
ner bei peripherischer, wohl nie bei corticaler Anästhesie vor. Da-
gegen wird erhaltene Schmerzempfiudlichkeit bei verlorener oder ver-
minderter Wahrnehmungsfähigkeit fast nur bei cerebralen, besonders
corticalen Läsionen beobachtet. Mit grosser Wahrscheinlichkeit deutet
das Vorhandensein von Analgesie und Thermoanästhesie bei erhaltener
Tastempfindlichkeit auf Erkrankung der Hinterhörner im Rücken-
marke. Da diese Form der partiellen Anästhesie nicht nur bei der glio-
matösen Entartung, sondern auch bei Zerstörung der grauen Substanz
durch Blutungen auftritt, dürfte sie in der That localdiagnostisch
verwerthbar sein. Freilich scheint sie ausnahmeweise auch bei peri-
pherischen Läsionen vorzukommen und ist auch einige Male bei Hys-
terie beobachtet worden. Die meisten Beispiele von Perversion der
Empfindung, von Doppelempfindung u. s. w. hat man bei spinalen
Läsionen beobachtet.
Eine Form der perversen Temperaturempfindung, die in dem
Verluste der Kälteempfindung, vermöge dessen Eis als warm em-
pfunden wird, und in einer andauernden subjectiven Wärmeempfin-
dung besteht, ist meist bei Erkrankungen der Oblongata, beziehungs-
weise der Brücke beobachtet worden.
Gewisse Schlüsse kann man ferner aus den die Anästhesie be-
gleitenden Erscheinungen ziehen.
Die Anaesthesia dolorosa, wenn sie nicht hysterischer Art ist, lässt
mit einiger Sicherheit auf eine peripherische, d. h. unterhalb des Ein-
tritts der sensiblen Faser in die graue Substanz gelegene Läsion
schliessen, da, wie bei Besprechung des Schmerzes erwähnt wird, der
Schmerz in der Regel nur durch Reizung peripherischerBahnen entsteht.
Das Gefühl. Anästhesie. 201
Begleitende Parästhesien haben keine diagnostische Bedeutung.
Wenn Anästhesie mit Lähmung zusammen vorkommt, so ist
immer die Beschaffenheit der Lähmung maassgebend für die Locali-
sation.
Anästhesie ohne Lähmung kann durch Läsionen verschiedensten
Sitzes entstellen. Auch bei Erkrankungen in den gemischten Nerven
kann sie vorkommen, wenn es sich um Processe handelt, die pri-
mär, sozusagen systematisch die sensiblen Fasern zum Absterben
bringen. Immerhin wird eine Läsion der gemischten Nerven selten
in Frage kommen. Die cerebrale Läsion wird sich ausschliessen
lassen, wenn die Anästhesie nicht halbseitig ist. Es bleiben dann die
Endigungen der sensiblen Fasern in der Haut, die Hautnerven, die
hinteren Wurzeln und deren Fortsetzungen im Rückenmarke als mög-
licher Sitz der Läsion.
Die Berücksichtigung der Eeflexe ist bei der Anästhesie von
geringerer Bedeutung als bei der Lähmung. Nur wenn bei completer
Anästhesie die Eeflexe lebhaft sind, kann man mit Bestimmtheit eine
centrale Läsion annehmen. Das Vorhandensein der Sehnenreflexe bei
Hautanästhesie hat natürlich keine Bedeutung, nur bei Anästhesie
der Muskeln spricht ihr Fehlen für peripherische, beziehungsweise
Kern-Läsion, ihr Vorhandensein für centrale Läsion. Die Hautreflexe
fehlen bei completer, sind gewöhnlich schwach bei unvollständiger
peripherischer Anästhesie, sie können aber auch bei centraler Anäs-
thesie fehlen vermöge der sogenannten Reflexhemmung.
Ernährungstöruiigen der Haut, der Knochen u. s. w. kommen in
der Regel nur bei Erkrankung der grauen Rückenmarksubstanz oder
bei peripherischer Anästhesie vor. Da man jedoch über die Ursache
dieser Ernährungstöruiigen nicht recht im Klaren ist, nicht weiss, ob
für sie die Läsion der sensorischen Fasern selbst verantwortlich zu
machen ist, oder ob etwa gar besondere trophische Fasern anzunehmen
sind, oder ob sie nicht zum Theil wenigstens als blosse Complicatio-
nen zu betrachten sind, entstanden durch äussere Schädlichkeiten,
die wegen der Unempfindlichkeit nicht abgewehrt werden, so ist es
nicht wohl möglich, aus ihrem Fehlen oder Vorhandensein bestimmte
Schlüsse auf Ort oder Art der die Anästhesie bewirkenden Verände-
rungen zu machen.
Vasomotorische Störungen neben der Anästhesie sind ebenfalls
diagnostisch nicht wohl zu verwerthen. Auf keinen Fall ist man
berechtigt, einen etwaigen Gefässkrampf ohne Weiteres als Ursache
der Anästhesie anzusehen.
Am wichtigsten ist die Ausdehnung der Anästhesie. Ent-
202 Untersuchung des Empfindungsapparates.
'spricht sie dem Bezirke dieses oder jenes Nerven, so darf man die
Läsioii in diesem suchen.
Besteht P araa nästhesie. so wird man mit grosser Wahr-
scheinlichkeit eine Läsion des Rückenmarkes (u. U. allerdings der
Canda eqninai annehmen dürfen und zwar wird es sich entweder
um eine Qneiiäsion oder um eine Erkrankung der hinteren Rücken-
markshälfte handeln. In jenem Falle fehlt nie die Paraplegie und
es finden dann die für diese geltenden Regeln Anwendung (vergl
S. 90 u. f.). Die obere Grenze der Anästhesie ist gewöhnlich leichter
und sicherer als die der Lähmung zu bestimmen, aus ihr erschliesst
man. bis zu welcher Höhe des Rückenmarkes die Läsioii reicht.
Besteht eine auf die Hinter stränge, beziehungsweise hintere Hälfte
des Markes beschränkte Erkrankung, so findet sich auch Paraanäs-
thesie. doch fehlt natürlich die Lähmung.
Findet man fleck weise, diffuse Anästhesie, so ist zunächst
über deren Ursache nichts Bestimmtes zu sagen, es können die sen-
siblen Endorgane, es können in den peripherischen Nerven einzelne
Fasern in wechselnder Combination erkranken, es können im cen-
tralen Nervensystem unregelmässige Herde von beliebiger Gestalt
und Zahl auftreten. Sie kommt auch bei Hysterie vor. Nur die
Auffassung des ganzen Krankheitsbildes wird die Localisation er-
möglichen.
Jederzeit centraler Natur ist die Hemianästhesie. Die spi-
nale Hemianästhesie ist auf S. 89 als Theilerscheiiiuiig der Brown-
Secpiard"schen Lähmung besprochen worden. Wir haben uns daher
hier nur mit der cerebralen und der hysterischen Hemianästhesie zu
beschäftigen. Die organische Hemianästhesie setzt eine Läsion der
anderen Hirnhälfte voraus: wo in dieser sie zu suchen ist. ergiebt
sich aus der Betheiligung der Hirnnerven. Halbseitige Gefühlstörung
mit Aufhebung aller Specialsinne einer Seite, des Geruchs, Gesichts,
Gehörs. Geschmacks, könnte nur durch eine Läsion der gegenüber-
liegenden Hemisphäre entstehen, denn nur in dieser sind die zu allen
Sinnesgebieten führenden Bahnen vereinigt. 'Man nahm bisher viel-
fach an. dass eine derartige totale Hemianästhesie mit grosser
Wahrscheinlichkeit zu beziehen sei auf eine Läsioii des hintersten
Abschnittes der inneren Kapsel. Eine höher gelegene Läsion werde
schwerlich sämmtliche nach verschiedenen Gegenden der Hirnrinde
ausstrahlenden Gefühlsbahnen treffen. Eine tiefer gelegene Läsioii
werde zum Mindesten »xeruch und Gesicht nicht mehr treffen. Die
Form der halbseitigen Sehstörung bei der Hemianästhesie durch
Läsion der inneren Kapsel sei die der Anästhesie gleichseitige Hemi-
\).\> Gefühl. Anästhesie. 203
anopsie. Gfegen diese Lehre ist freilich zu bemerken, dass nach
neueren Angaben die Sehbahn überhaupt nicht durch die innere Klapse]
zieht, dass die Beobachtungen, auf die die Lehre sich gründet, vielfach
zu Bedenken Anlass geben, da es sich wahrscheinlich in vielen Fällen
um hysterische Hemianästhesie gehandelt hat, die zu den Symptomen
der organischen Läsion hinzutrat.
Hemianästhesie ohne Geruchs- und ohne Sehstörung, aber mit
Anästhesie der Gesichtshaut wird eine Läsion vermuthen lassen, die
unterhalb der inneren Kapsel sitzt, aber oberhalb des Abganges der
Trigeminusbahn, der wohl in einer etwa dem vorderen Rande der
Brücke entsprechenden Höhe statthat. Heber den Verlauf der Acus-
ticusbahn lässt sich bisher nichts Sicheres angeben, man weiss nur.
dass Läsionen des Hirnschenkels, die Hemianästhesie verursachen,
nicht von Gehörstörung begleitet zu sein brauchen. Eine Läsion
der halbseitigen Gefühlsbahn in der Höhe der Brücke und der Ob-
iongata wird Hemianästhesie ohne Betheiligung des Trigeminusgebietes
oder Hemianästhesie mit gekreuzter Trig-eminusanästhesie, die alsdann
peripherischer Natur ist. bewirken. Ueber das Vorkommen halbsei-
tiger Geschmackstörung und über den centralen Verlauf der Ge-
schmacksbalm ist zu wenig bekannt, als dass man aus dem Verhalten
des Geschmackes sichere Schlüsse auf den Ort der Läsion bei Hemi-
anästhesie machen könnte.
Ob eine Hemianästhesie als Folge einer directen oder indirecten
Läsion der Gefühlsbahn zu betrachten ist, ergiebt sich aus ähnlichen
Ueberlegungen wie bei der Hemiplegie. Sicher kommt es schwerer
zu einer indirecten Hemianästhesie als zu einer indirecten Hemiplegie.
Wo dalier die Hemianästhesie ohne Hemiplegie besteht, wird man
sie als direct verursacht betrachten. Dagegen zeigt indirecte Hemi-
anästhesie sich oft in der ersten Zeit nach Eintritt einer Hemiplegie.
Sie ist dann gewöhnlieh weder der Ausdehnung noch dem Grade
nach vollständig und bildet sich ziemlich rasch wieder zurück. Ge-
wöhnlich schwindet die indirecte Hemianopsie, die nicht selten ist.
rasch wieder, Störungen der Empfindlichkeit an der gelähmten Körper-
hälfte können längere Zeit bestehen.
Ueber die die corticalen Monoplegien begleitende Anästhesie ist
schon oben (S. 87) gesprochen worden.
AVenn eine Läsion die hintere Hälfte des Rückenmarkes im
oberen Halsmarke zerstörte, so würde eine nahezu totale An-
ästhesie entstehen, denn da die aufsteigende Trigeminuswurzel. die
einen grossen Theil der sensiblen Trigeminusfasern enthält, mit zer-
stört wäre, so würden ausser den Gliedern und dem Rumpfe auch die
204 Untersuchung des Empfindungsapparates.
Haut und die Schleimhäute des Kopfes unempfindlich sein. Ton einer
totalen Anästhesie, die durch eine doppelseitige Läsion des hinteren
Abschnittes der inneren Kapsel entstanden wäre, würde sich jene
durch die Nichtbetheiligung der Sinnesorgane unterscheiden, auch
würde wahrscheinlich das Auge empfindlich bleiben. Genaueres lässt
sich wegen des Mangels an ausreichenden Beobachtungen nicht sagen.
Doch ist die Möglichkeit einer derartigen Anästhesie deshalb nicht
ausser Acht zu lassen, weil die entsprechende Läsion sehr wohl
durch die Gliomatose des Halsmarkes bewirkt werden kann, dem-
nach die Annahme einer hysterischen Anästhesie bei nahezu totaler
Anästhesie nicht ohne Weiteres gerechtfertigt ist.
Die Unterscheidung zwischen organischer und func-
tio neiler (hysterischer) Anästhesie stützt sich im Allgemei-
nen darauf, dass letztere der anatomischen Regeln zu spotten pflegt,
dass die Reflexe vollständig normal bleiben, dass anderweite Sym-
ptome der Hysterie, Irysterische Lähmung, Ovarie. hysterische Krämpfe
u. s. w. bestehen. Oft werden die aus kleinen Zügen sich zusammen-
setzende Physiognomie des Falles, der Verlauf, die Aetiologie mit
in Betracht gezogen werden müssen. Entsteht z. B. nach einem
leichten Trauma des Arms complete Anästhesie des ganzen Arms,
so wird ihre functionelle Natur ohne TV"eiteres erkannt werden.
Totale Analgesie mit sensorieller Anästhesie (Amblyopie, Gesichts-
feldeinschränkung. Anosmie u. s. w.) ist stets functionell. Das Gleiche
gilt von der (seltenen) perte de la conscience musculaire D u ch enne"s.
Am häufigsten wird die Diagnose zwischen organischer und func-
tioneller Hemianästhesie schwanken. Bei der letzteren sind alle
nach rechts oder nach links von der Mittellinie gelegenen Theile un-
empfindlich, zuweilen nur die Decke, öfter auch die tiefen Theile,
Muskeln, Gelenke u. s. f., meist ist die Anästhesie allgemein, seltener
ist sie partiell, besteht nur Analgesie, oder Analgesie und Therm-
anästhesie u. s. w. Die Schleimhäute des Auges, der Nase, des Mun-
des, der Genitalien sind ebenfalls halbseitig unempfindlich. Das eine
Nasenloch riecht nicht, das eine Ohr hört nicht, die eine Zungen-
hälfte schmeckt nicht. Die Sehstörung besteht in doppelseitiger Ab-
nahme der centralen Sehschärfe , die aber auf dem Auge der un-
empfindlichen Seite viel stärker ist . in beträchtlicher allgemeiner
concentrischer Einschränkung des Gesichtsfeldes, in concentrischer
Einengung des Gesichtsfeldes für Farben. Die Achromatopsie be-
steht bei geringeren Graden in Verlust der Violettempfindung, dann
fallen Grün, Roth, endlich Orange aus, am längsten wird Gelb und
Blau gesehen. Die Angabe, dass auch bei organischer Hemianästhesie
Das Gefühl. Anästhesie. 205
die Sehstörimg in Form der geschilderten Amblyopie auftrete, steht
in Widerspruch mit der gesicherten Thatsache, dass einseitige Lä-
sionen des Oceipitalläppens Hemianopsie bewirken. Man nimmt da-
her jetzt an, dass die Befunde von Hemianästhesie mit Ambtyopie
durch organische Läsion theils auf ungenauer Untersuchung, theils
auf Verwechselung hysterischer Hemianästhesie. die als „traumatische
Neurose" oft bei organischen Hirnläsionen aufzutreten scheint, mit
organischer Hemianästhesie beruhen. Wahrscheinlich verhält sich die
Sache in Wirklichkeit so. dass Herde, die nur die innere Kapsel be-
schädigen, überhaupt keine Sehstörimg machen, dass Herde in der
Hemisphäre, die eine Fernwirkung ausüben, indirecte Hemianopsie
neben der Hemianästhesie bewirken können, dass die bei Kapsel-
herden beobachtete gekreuzte Amblyopie hysterischer Art gewesen
ist. Findet sich Hemianopsie, so ist die organische Läsion überhaupt
zweifellos. Sieht man von der Sehstörung ab. so bleiben als wich-
tigste Symptome, die gegen functionelle Hemianästhesie sprechen:
Bestehen einer Facialislähmung, Verminderung oder Aufhebung des
Bauchreflexes (beziehungsweise der Hautreflexe überhaupt, vgl. S. 144).
Diese Symptome (ebenso Oculomotorius-, Abducens-, Hypoglossus-,
Kaumuskellähmung u. s. w.) beweisen die Existenz einer organischen
Läsion. sie lassen aber die Hemianästhesie nicht mit voller Sicher-
heit als organische erkennen, weil es immer möglich ist, dass an die
Verletzung des Gehirns sich hysterische Hemianästhesie angeschlos-
sen hat, wie sie sich an andere Traumata anschliesst. Für functio-
nelle Hemianästhesie sprechen: das Fehlen aller Zeichen einer orga-
nischen Läsion, besonders die Unversehrtheit der Hautreflexe auf
beiden Seiten, das Vorhandensein der Ovarie und anderer Schmerz-
punkte, die Klage über Schmerzen in den anästhetischen Theilen.
lrysterische Krämpfe und anderweite hysterische Symptome, die Ent-
stehung im Anschluss an eine Gemüt hsbewegung oder ein Trauma,
das die anästhetische Seite betroffen hat, das plötzliche Verschwin-
den der Anästhesie, die Möglichkeit, sie durch metalloskopische Pro-
ceduren und dergl. zu beeinflussen, das U/eberspringen der Anästhesie
auf die andere Seite u. s. w. Das Fehlen psychischer Symptome von
Hysterie will gar nichts besagen. Auch männliches Geschlecht spricht
natürlich nicht gegen functionelle Hemianästhesie, da diese bei Män-
nern besonders nach Traumen ziemlich häufig auftritt. Wichtig ist.
dass die hysterische Anästhesie häufiger links als rechts sich zeigt
und dass sie überhaupt sehr viel häufiger als die organische ist. End-
lich aber ist bei der hysterischen Hemianästhesie wie bei jeder hy-
sterischen Anästhesie die Hauptsache die. dass die Unempfindlichkeit
206 Untersuchung des Empfindungsapparates.
durch die Spaltung des Bewusstseins, nicht durch irgendwelche Lei-
tungshindernisse verursacht ist. Die anästhetischen Hysterischen füh-
len, aber sie wissen es nicht, d. h. sie können sich eines Theiles ihrer
Empfindungen nicht bewusst werden. In "Wahrheit aber verwerthen
sie unbewussterweise die von den scheinbar unempfindlichen Theilen
ausgehenden Wahrnehmungen. Sie wissen gewöhnlich nichts von
ihrer Anästhesie, ehe sie vom Arzte gefunden wird, sie stossen sich
nicht an die anästhetischen Theile. sie gebrauchen diese ebenso ge-
schickt wie die der fühlenden Seite, sie verwerthen die die anästhe-
tischen Theile treffenden Eindrücke zu unbewusst bleibenden Schlüs-
sen, was man durch besondere Versuche nachweisen kann und was
sie Simulanten ähnlich macht.
Die hysterische Heinianästhesie kann nach den verschiedenen
Eichtungen hin unvollständig sein : complete Anästhesie bis zu leich-
ter Hypästhesie. qualitativ allgemeine Anästhesie oder nur Analgesie
(zuweilen nur Thermanästhesie). Yerschonung eines oder einiger, oder
aller oberen Sinnesorgane, Yerschonung einiger oder aller Schleim-
häute. Yerschonung der tiefen Theile. Freibleiben des Kopfes, eines
Gliedes, eines G-liedabschnittes. der Geschlechtstheile. zerstreuter In-
seln u. s. w.
Thatsächlich lassen sich last alle Formen hysterischer Anästhesie
auf die Hemianästhesie zurückführen. Ist mehr als diese vorhanden,
so kann zur vollständigen Hemianästhesie einer Seite unvollständige
der anderen hinzutreten, oder es kann zur doppelseitigen Hemian-
ästhesie. d. h. zur totalen Anästhesie kommen. Ist weniger vorhan-
den, so haben wir Anästhesie einer Kopfhälfte, eines Armes, einer
Hand u. s. w. Die charakteristische Form der örtlichen hysterischen
Anästhesie ist die Anästhesie des Gliedabschnittes : die Grenze bildet
eine zur Längsrichtung senkrechte Linie.
Teherans häufig ist die Anästhesie Begleiterin anderer örtlicher
Hysteriesymptome. Ist irgendwo ein hysterischer Spasmus, ihn deckt
ein anästhetischer Bezirk. Dasselbe gilt von Lähmungen, schmerz-
haften Zuständen (z. B. sogenannte Gelenkneurosen. Neuralgien u.s. w.).
LeberaH. wo hysterische Anästhesie vorkommt, kann sie durch Hy-
perästhesie vertreten werden : Hemihyperästhesie. Hyperästhesie eines
Gliedabschnittes u. s. f.
Am nächsten steht der hysterischen Anästhesie die zuweilen bei
Psychosen vorkommende Anästhesie, bei Melancholie. Paranoia,
besonders bei verschiedenen Formen des Irreseins der Entarteten.
I )as Vorbild ist die Anästhesie des kämpfenden Kriegers. Die Auf-
merksamkeit ist bei den Kranken auf die krankhaften inneren Zu-
Das Gefühl. Anästhesie. 207
stände gerichtet, die äusseren Reize werden nicht wahrgenommen, es
entstellt allgemeine Anästhesie oder Analgesie. Doch können Auto-
suggestionen auch zu örtlicher Anästhesie führen.
Allgemeine Anästhesie oder Analgesie kann auch durch Einwir-
kung im Blut enthaltene]- Gifte auf das Gehirn entstehen: Opium,
Chloroform u. s. w., örtliche durch Cocain, durch Kälte. Diagnostische
Schwierigkeiten kommen hier kaum in Frage.
Fassen wir die Erfahrungen über organische Anästhesie zu-
sammen, so ergiebt sich etwa Folgendes.
Bei Anästhesie durch grobe Gehirnerkrankungen sind
besonders 2 Fälle in Betracht zuziehen: Herde in der Rinde hinter
der Rolando 'sehen Furche und Herde im äusseren Abschnitte der
inneren Kapsel (Carrefour sensitif) oder den tieferen Abschnitten der
Gefühlsbahn. Bei jenen handelt es sich um eine die Hemiparese, be-
ziehungsweise Monoparese begleitende Hypästhesie, bei diesen um
Hemianästliesie, die je nach der Ausdehnung des Herdes mit Hemi-
plegie verbunden ist oder nicht. Werden die in der inneren Kapsel
vereinigten sensorischen Fasern weiter abwärts beschädigt, so sind
die oberen »Sinne nur zum Tlieil betroffen. Eine Läsion der halb-
seitigen Gefühlsbahn in der Höhe der Brücke wird Hemianästliesie
ohne Störung des Gesichtes und des Geruches, ohne Betheiligung des
Trigemmusgebietes oder mit gekreuzter Trigeminusaiiästhesie bewir-
ken. Die cerebrale Hemianästliesie stellt sich meist als Hypästhesie
dar. vorübergehend zeigt sie sich oft nach Eintritt einer Hemiplegie.
Bei Herden in der Oblong ata kann ausgebreitete Anästhesie
vorkommen; sitzt der Herd oberhalb der Pyramidenkreuzung, seist
die Anästhesie auf der Seite der Lähmung, sitzt er unterhalb, so sind
Lähmung' und Anästhesie gekreuzt. Doppelseitige Herde machen na-
türlich auch doppelseitige Erscheinungen.
Von den Krankheiten d e s R ü c k e n m a r k e s führen manche
oft, manche selten oder gar nicht zu Anästhesie. Zuerst sei die me-
chanische Beschädigung genannt. Der ganze Querschnitt des
Rückenmarkes wird am häufigsten durch Druck getroffen: Druck
eines Exsudates im Wirbelcanal, Druck durch Wirbelknochen, Druck
durch Geschwülste. Bei C o m p r e s s i o s p i n al i s , aus der durch den
Hinzutritt von Entzündungserregern eine sogenannte Compressions-
myelitis werden kann, leiden in erster Linie die motorischen Func-
tionen: Motilität, reflectorische Erregbarkeit, Blasenthätigkeit. Es
ist kennzeichnend, dass bei massigem Drucke Anästhesie ganz fehlen
kann. Bei stärkerem Drucke kommt es zuweilen erst zu Dysästhesie,
d.h. zu peinlichen Parästhesien und Hyperästhesie, dann zu Anästhesie.
208 Untersuchung des Empfindungsapparates.
Die letztere ist dann Paraanästliesie ; meist leiden alle Arten der
Empfindlichkeit, zuweilen Schmerz- und Temperaturempfindlichkeit
mehr als die Wahrnehmung. Die obere Grenze der Paraanästhesie
dient zur Bestimmung des Sitzes der Läsion. Da der Druck in der
Regel auch Wurzelfasern trifft, zeigen sich an der oberen Grenze
der Paraanästhesie Wurzelsymptome: Schmerzen, Streifen completer
Anästhesie, trophische Störungen, beziehungsweise peripherische Läh-
mungen.
Ist nur eine Hälfte des Markes beschädigt, so entsteht das Bild
der Brown-Sequard 'sehen Lähm u n g (durch Messerstich, Schuss-
verletzung, einseitige Geschwülste, einseitig wirkende Knochenfrag-
mente u. s. w.). Man findet, wenn etwa die linke Hälfte des mittle-
ren Brustmarkes durchschnitten ist, Anästhesie des rechten Beines
und der rechten Rumpfhälfte bis zur Höhe der Läsion, Anästhesie,
an die sich nach oben hin ein schmaler Gürtel von Hyperästhesie
anschliesst. Man findet ferner Lähmung des linken Beines, das
nicht anästhetisch, sondern vielmehr hyperästhetisch ist. ' Diese Hy-
perästhesie, richtiger Hy peralgesie , deren Entstehung ebensowenig
wie die des hyperästhetischen Grenzstreifens recht zu erklären ist,
pflegt vorübergehender Natur zu sein. Nach oben grenzt an sie eine
Zone dauernder Anästhesie durch Zerstörung hinterer Wurzelfasern.
Auf sie folgt zuweilen wieder ein hyperästhetischer Gürtel. Es wird
angegeben, dass das „Muskelgefühl" des gelähmten Beines erloschen
sei. Da eine genau auf eine Rückenmarkshälfte beschränkte Läsion
nicht oft vorkommt, findet man sehr selten das reine Bild der Brown-
Sequard'schen Lähmung. Bei vorwiegender Beschädigung einer
Hälfte lassen sich in dem Bilde der spinalen Paraplegie die Züge
jener Lähmung halbwegs erkennen, derart, dass zwar beide Beine
paretisch sind, aber das eine stärker, während das weniger gelähmte
deutliche Anästhesie zeigt.
Die sogenannte diffuse Myelitis, d.h. die Entstehung ent-
zündlicher Herde im Rückenmarke, die je nach der Intensität des
Reizes zu acuter Erweichung oder zur Schrumpfung führen, sich
rasch oder langsam entwickeln, ist eine seltene Krankheit, bei ihr
müssen natürlich die Wurzelsymptome zurücktreten und muss das
Bild einer mehr oder weniger grossen Zerstörung des Querschnittes
entsprechen: Paraanästliesie. Das Gleiche gilt von der überaus sel-
t enen Hämatomy elie. Die multiple S c 1 e r o s e ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass bei ihr die Anästhesie eine untergeordnete Rolle spielt.
Doch fehlt sie selten ganz: fleckweise Anästhesie, ausnahmeweise
Paraanästhesie.
Das Gefühl. Anästhesie. 209
Von denjenigen Krankheiten, die nur bestimmte Theile des
Markes befallen, gehen uns besonders zwei an: die vorwiegend die
Hinterhörner zerstörende Gliomatosis spinalis und die .vorwiegend
die Hinterstränge schädigende Tabes. Für die Gliom ato sis spi-
nalis ist das Hauptzeichen die besondere Anästhesie : Analgesie und
Thermanästhesie mit Erhaltung oder mit geringer Verminderung der
Empfindlichkeit gegen Berührungen. Doch kann auch allgemeine
Anästhesie vorkommen und jene besondere Anästhesie kann sich aus-
nahmeweise bei Hysterie und bei peripherischen Erkrankungen zeigen.
In der Regel ist Thermoanalgesie bei Gliomatosis vorhanden, mit ihr
verbunden ist oft eine besondere Parästhesie, d. h. Gefühl des Brennens
auf der Haut, Neben der Anästhesie besteht meist Muskelschwund
spinalen Charakters. Aber die Gebiete des Schwundes und die der
Anästhesie decken sich nicht, da die Gliose in unregelmässiger Weise
bald da die vordere, bald dort die hintere graue Substanz zerstört.
Meist ist die Erkrankung doppelseitig, sie kann aber auch lange ein-
seitig sein. Die Arme sind vorwiegend ergriffen. Im Gebiete der Anäs-
thesie findet man oft trophische Störungen: Erkrankungen der Haut
und der Knochen durch geringfügige äussere Anlässe, Panaritien,
eiternde Schrunden, Phlegmonen, Blasenbildung, Gelenkeiterung, Kno-
chenzerstörung und -Wucherung. Ergreift schliesslich die Glioma-
tosis den ganzen Querschnitt, so tritt zu dem Bilde die spastische
Paraparese hinzu. Hyperästhesie und Schmerzen fehlen in der Regel
während des ganzen Verlaufes.
Die sogenannte Mor van'sche Krankheit oderParesieanalgesique
ist wahrscheinlich mit der Gliomatosis spinalis identisch.
Die Tabes ist die häufigste Rückenmarkskrankheit und ausser
der Hysterie wohl die häufigste Ursache von Anästhesie. Da bei ihr
aber auch selbständige Erkrankungen der peripherischen Nerven fast
regelmässig vorzukommen scheinen, ist es schwer, die tabische An-
ästhesie auf ihre anatomische Ursache zu beziehen. Vieles, was man
früher als spinale Anästhesie ansah, ist wohl peripherischer Art und
damit stimmt, dass die Anästhesie bei Tabes thatsächlich die ver-
schiedensten Formen zeigt, dass alle Arten der Anästhesie, die bei
peripherischen Erkrankungen beobachtet werden, auch bei Tabes
vorkommen. Haut, Schleimhäute und tiefe Theile werden befallen.
Im Allgemeinen erkranken die Beine zuerst: ilnästhesie der Füsse
und wahrscheinlich besonders Anästhesie der Fuss- und Beingelenke,
in der man vermuthlich die nächste Ursache der Ataxie zu erblicken
hat. An den Armen pflegt das Ulnarisgebiet zuerst betroffen zu
werden, oft aber werden auch alle 5 oder etwa 4 Finger gleichzeitig
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 14
210 Untersuchung des Empfindtmgsapparates.
hypästhetisch. Trigeminusanästhesie ist nicht selten. Der Grad der
Anästhesie wechselt von der leichtesten Hypästhesie bis zur com-
pleten Anästhesie. Alle Arten der Anästhesie kommen vor, Analgesie
aber ist (wenigstens auf der Haut) am häufigsten. Der Ausdehnung
nach wiegt die fleckförmige Anästhesie vor. Paraanästhesie gehört
den späteren Stadien der Krankheit an. Bei der Diagnose der Tabes
steht die Anästhesie in zweiter Reihe, sie hat nicht dieselbe Wichtig-
keit wie reflectorische Pupillenstarre, Blitzschmerzen, Blasenstörung
und Fehlen des Kniephänomens.
Was von der Tabes gilt, gilt natürlich auch dann, wenn ausser
tabischen Symptomen progressive Paralyse vorhanden ist. Ferner
sind der Tabes in Beziehung auf die Anästhesie mehr oder weniger
ähnlich die seltenen, noch ungenügend bekannten Fälle, in denen eine
nichttabische Hinterstrangerkrankung besteht.
Einige Rückenmarkskrankkeiten sind nie mit Anästhesie verbun-
den, so dass ihr Fehlen diagnostisch wichtig wird : Poliomyelitis
acuta und amyotrophische Lateralsclerose, zu denen als
seltene Unterformen dort Poliomyelitis chronica, hier einfache spinale
progressive Muskelatrophie hinzutreten. Diesen, auf die motorischen
Theile des Bückenmarkes beschränkten Krankheiten gleichen in Be-
ziehung auf das Fehlen der Anästhesie die primären Muskel-
krankheiten: Dystrophia musc. progressiva, Trichinosis und wohl
auch die primäre acute Polymyositis.
Die durch Erkrankung der peripherischen Nerven her-
vorgerufene Anästhesie ist in der Regel fleckförmig, d. h. entweder
entspricht ihr Bereich dem eines, beziehungsweise mehrerer Nerven,
oder sie stellt sich in unregelmässigen Flecken dar. Paraanästhesie
kann auch durch Erkrankung der Cauda equina bewirkt werden.
Sie kann natürlich auch durch Erkrankung aller Nerven der unteren
Körperhälfte in der Peripherie entstehen, entwickelt sich aber dann
aus einzelnen anästhetischen Bezirken. Peripherische Anästhesie ist
meist mit Lähmung verbunden, diese aber kann fehlen, wenn nur
die hinteren Wurzeln betroffen sind, oder wenn ein Gift, das nur
oder vorzugsweise die empfindenden Fasern in den peripherischen
Nerven schädigt, die Ursache ist. Schmerzen begleiten fast immer
die peripherische Anästhesie, oder gehen ihr voraus. Sie ist am
häufigsten allgemein, umfasst alle Arten der Empfindlichkeit, sie kann
sich aber auch als Analgesie, als Thermanästhesie, als Verbindung
beider u. s. f. darstellen, ebenso wie Verzögerung der Empfindung,
Vervielfachung, Verlegung auf die andere Seite, Nachempfindung der
peripherischen Anästhesie durchaus nicht fremd sind.
Das Gefühl. Anästhesie. 211
Bei mechanischen Einwirkungen (Schnitt, Quetschung,
Zerreissung, Druck durch Geschwülste, Exsudate) handelt es sich na-
türlich immer um Nervenbezirkanästhesie, bezüglich deren der Hin-
weis auf die Anatomie genügt. Hieher gehört eigentlich auch die
Meningitis spinalis, da bei dieser in der Regel der Druck eines (tuber-
culösen, syphilitischen) Exsudates das Wirksame ist. Besonders die
Thatsache verdient hervorgehoben zu werden, dass die Nervenbe-
zirke an den Gliedern Längsstreifen (am Rumpfe Querstreifen) bilden.
Werden z. B. die oberen Zweige des Plexus brachialis betroffen, so
wird die Aussenseite des Armes anästhetisch, während bei Erkran-
kung der unteren Zweige der Anästhesiestreifen die ulnare Seite
einnimmt.
Die Anästhesie bei den verschiedenen Arten der infectiösen
oder toxischen Nervenerkrankung ist zwar durchaus nicht so
charakteristisch wie die Form der Lähmung, hat aber doch zuweilen
etwas Eigentümliches. Bei der Arsenikneuritis z. B. beschränkt sich
in der Regel die Anästhesie, ebenso wie die Lähmung, mehr oder
weniger auf Hände und Füsse und ist mit heftigen Schmerzen ver-
bunden. Bei Alkoholneuritis fehlt sie fast nie, kann sogar über die
Lähmung überwiegen, erstreckt sich auf oberflächliche und tiefe
Theile, ist mit Schmerzen und grosser Druckempfindlichkeit verbun-
den. Bei den gewöhnlichen Formen der Bleineuritis dagegen fehlt
die Anästhesie ganz. Bei der Tuberculoseneuritis liegen die Verhält-
nisse ähnlich wie bei der Alkoholneuritis. Bei der Diphtherieneuritis
tritt die Anästhesie gewöhnlich gegen die Lähmung zurück. Die
Häufigkeit der atactischen Störungen aber deutet hier auf Anästhesie
tiefer Theile. Auch bei der Infectionskrankheit, die man schlechtweg
multiple Neuritis oder rheumatische Neuritis zu nennen pflegt, ist
die Anästhesie der Lähmung untergeordnet, meist findet man nur
Schmerzen, Parästhesien, verhältnissmässig geringe Hypästhesie. Bei
manchen Formen greift sich das Gift nur einen oder nur einige Ner-
ven heraus. Dann besteht ungefähr das Bild einer Nervenquetschung
+ heftige Schmerzen. So bei der Diabetesneuritis, die bald an den
oberen, bald an den unteren Gliedern einen Nerven befällt, so bei
der Neuritis puerperalis, die am häufigsten die Endäste der Nn.
medianus und ulnaris ergreift, so beim Herpes zoster, wo Schmerzen
und Analgesie in erster Reihe stehen. Alle diese Bemerkungen über
Neuritisanästhesie haben nur relativen Werth, da das Studium der
einzelnen Formen durchaus nicht abgeschlossen ist.
Hyperästhesie und Parästhesien können durch Reizung
der sensorischen Bahnen an beliebiger Stelle entstehen. Näheres über
14*
212 Untersuchung des Empfindungsapparates.
den Ort der Reizung kann man nur ihrer Ausbreitung- entnehmen
und zwar gelten dafür die bei der Anästhesie angegebenen Segeln.
Sind bei der Hyperästhesie die dem Willen nicht unterworfenen
Hautreflese deutlich gesteigert, so spricht dies für peripherische
Eeizung. Halbseitige Hyperästhesie, eine seltene Erscheinung, soll
am häufigsten bei Läsionen der Brücke beobachtet worden sein.
Parästhesien sind häufig Vorläufer oder begleitende Erscheinungen
bei Anästhesie. Begreiflicher Weise kommen sensorische Reizerschei-
nungen leichter durch indirecte Läsion zu Stande als Anästhesie.
Druck auf das Rückenmark bewirkt oft Paraplegie mit Hyper-
ästhesie, richtiger Hyperalgesie. Dieses Bild ist in gewissem Grade
charakteristisch für die Compressio medullae spinalis.
Eine wichtige Rolle spielt die Hyperästhesie in der Hysterie,
hier giebt es wie eine Hemianästhesie so eine Hemihyperästhesie und
alle Formen der hysterischen Anästhesie können durch Hyperästhesie
ersetzt werden. Besonders wichtig ist, dass bei allen örtlichen Stö-
rungen, Lähmungen, Contracturen, Krämpfen, Neuralgien, die Haut
der kranken Stelle anästhetisch oder hyperästhetisch zu sein pflegt.
Erinnert z. B. das Bild an eine Coxitis und findet man die Haut über
dem Hüftgelenke hyperalgetisch, so wird es sich wahrscheinlich um
Hysterie handeln. Das Gleiche gilt von einem Blepharospasmus u.s.w.
Ferner sind bedeutungsvoll die auf Haut und Schleimhaut vorkom-
menden hyperästhetischen Stellen, die die Franzosen als „Zones hys-
terogenes" bezeichnen. Bald ist die Oberfläche hyperästhetisch, sodass
jede Berührung Erfolg hat, bald sitzt die Empfindlichkeit in der
Tiefe, sodass nur starker Druck wirkt. Bei Erregung einer hyste-
rogenen Zone klagt der Kranke über Schmerz; dauert die Reizung
fort, so stellen sich die Zeichen der hysterischen Aura ein (nach der
Mittellinie ausstrahlender Schmerz, Aufsteigen eines Etwas nach dem
Halse, Beklemmung, Klopfen in den Schläfen, Sausen in den Ohren)
und unter Umständen kommt es zu einem hysterischen Anfalle. Um-
gekehrt kann zuweilen durch Reizung einer solchen Stelle der An-
fall unterbrochen werden: Zone hysterofrenatrice.
Nächst der Hysterie ist wohl die Tabes am häufigsten Ursache
von Hyperästhesie. Fast pathognostisch ist die Hyperästhesie der
Haut über der Stelle des lanzinirenden Schmerzes. Einzelne Haut-
stellen, die später anästhetisch werden, sind oft lange Zeit hyperal-
getisch. Bei Augenmuskellähmiingen der Tabeskranken findet man
zuweilen Hyperalgesie der Lider und der Umgebung des Auges.
Von den peripherischen Erkrankungen führt am häufigsten die
Neuritis zu Hyperästhesie, die auch hier nur Vorläufer der An-
Das Gefühl. Schmerz. 213
ästhesie ist. Besonders bei Alkoholismus wird oft Hyperästhesie ge-
funden.
Schmerz entsteht beim Gesunden, wenn sehr intensive Eeize
empfindliche Theile treffen. Pathologisch kann Schmerz entweder
dadurch entstehen, dass peripherische sensible Nerven durch krank-
hafte Veränderungen intensiv gereizt werden, . oder dadurch, dass
vermöge einer abnormen Beschaffenheit der bei den Schmerzempfin-
dungen thätigen Theile der Hirnrinde physiologische Vorgänge inner-
halb dieser schmerzerregend wirken (Schmerzhallucination). Wir
werden demnach Schmerz bei peripherischen Läsionen und bei functio-
nellen Äff ectionen finden. Reizungdercentralensensorischen
Bahnen ruft wahrscheinlich keinen Schmerz hervor.
Sicher ist, dass Läsionen der Gehirnsubstanz fast immer schmerzlos
sind. Nur dann, wenn ein Gehirnherd die Meningen lädirt oder sen-
sorische Hirnnerven- (Trigeminus-) Fasern nach ihrem Austritte aus
dem Kern, d. h. intracerebrale peripherische Fasern, trifft, pflegt er
Schmerzen in Bezirke dieser Fasern zu bewirken.
In seltenen Fällen hat man bei Hirnherden Schmerzen in den
gelähmten Gliedern beobachtet, ohne dass man erklärende Verände-
rungen in der Peripherie gefunden hätte. Manche meinen, die Schmer-
zen entstehen dann, wenn der Herd die Gefühlsbahnen reizt, ohne
sie zu unterbrechen. Dagegen ist freilich einzuwenden, dass dann
die „centralen" Schmerzen häufiger sein müssten und dass anschei-
nend Herde ganz verschiedener Lage dieselbe Wirkung ausüben zu
können scheinen.
Man beobachtet zwar zuweilen Schmerzen in den gelähmten
Gliedern bei cerebraler Läsion, diese lassen sich aber gewöhnlich
durch peripherische Reizung erklären. Entweder nämlich handelt es
sich um Contracturen , bei denen die Spannung der Muskeln den
Schmerz erregt, die Muskeln auch druckempfindlich sind, oder es be-
stehen secundäre peripherische Veränderungen, als welche man die
Gelenkaffectionen und die Neuritis der Hemiplegischen kennt. Die
Gelenkschmerzen sind gewöhnlich durch eine acute oder subacute ent-
zündliche Veränderung, die sich am häufigsten am Schulter- und am
Kniegelenke zeigt und über deren Ursache man nichts Näheres weiss,
verursacht. Die ziehenden und reissenden Schmerzen in bestimmten
Nervengebieten, die mit Druckempfindlichkeit, u. U. auch mit Ver-
dickung der Nervenstämme einhergehen, sind Folgen einer Neuritis
oder Perineuritis hypertrophica, deren Ursache ebenfalls unbekannt
ist. Neuritis kommt in wahrscheinlichem Zusammenhange mit cere-
bralen Läsionen auch ohne Lähmuno- vor. Wir haben z. B. in einem
214 Untersuchung des Empnuduugsapparates.
Falle linkseitiger Hemianopsie auf der linken Seite sowohl Neuritis
des N. ulnaris mit Schmerzen, xAmästkesie und mit Atrophie der Inter-
ossei, als anscheinend neuritische Schmerzen im Ischiadicusgebiete auf-
treten sehen.
Auch spinale Läsionen sind, soweit sie nur centrale Bahnen
treffen, gewöhnlich schmerzlos. Zweifellos ist die graue Substanz un-
empfindlich. Wenn spinale Erkrankungen mit heftigen Schmerzen
verlaufen, so wird man in erster Linie an eine Betheiligung der
hinteren Wurzeln zu denken haben. Die sogenannte Paraplegia dolo-
rosa wird deshalb am häufigsten bei Carcinom der Wirbelsäule be-
obachtet, weil die wuchernde Krebsmasse das Mark und die Wurzeln
dicht umwächst und letztere in den Zwischenwirbellöchern zusammen-
drückt. Die spinale Meningitis ist sehr schmerzhaft, weil bei ihr in
erster Linie die Wurzeln leiden. Auch bei der Tabes ist die Ursache
der heftigen Schmerzen in der sowohl extra - als intraspinalen Er-
krankung der hinteren Wurzelfasern zu suchen. Die Zerstörung der
hinteren grauen Substanz bei G-liosis spinalis dagegen pflegt schmerz-
los zu verlaufen. Eine Myelitis kann einen beträchtlichen Theil
des Markes zerstören, ohne Schmerzen zu verursachen. Da jedoch
überall hintere Wurzeln in das Kückenmark eintreten, werden spinale
Läsionen, die den ganzen Querschnitt einnehmen, kaum je ganz schmerz-
los sein.
Schmerzen können also in der Hauptsache entstehen entweder
durch Beizung der Endorgane, sei es durch starke äussere Eeize
(physiologische Schmerzen), sei es durch krankhafte Veränderungen
der Organe (pathologische Organschmerzen), oder durch Reizung der
Nervenfasern (excentrische oder Nervenschmerzen), oder durch Func-
tionstörung der Hirnrinde (Schmerzhallucination oder functionelle
Schmerzen). Die Diagnose hat zunächst zu entscheiden, ob ein Schmerz
als Organschmerz, als Nervenschmerz oder als Hallucination zu be-
trachten ist. Diese Aufgabe kann leicht sein, kann aber auch aller
diagnostischen Bemühung spotten. Jedweder Schmerz ist nur ein
Vorgang in unserem Bewusstsein. Die alltägliche Erfahrung lehrt
uns, dass seelische Veränderungen (Ablenkung der Aufmerksamkeit
durch Dinge, die uns nahe angehen, Furcht, Hoffnung u. s. w.) Schmer-
zen stillen und Schmerzen erregen können. Noch deutlicher zeigen
uns dies die hypnotischen Erscheinungen. Setzt der Hypnotische den
Suggestionen keinen Widerstand mehr entgegen, so kann man jeden
Schmerz, mag er durch greifbare Läsionen verursacht sein oder nicht,
wegsuggeriren, jede Schmerzform durch die Versicherung, sie werde
empfunden, empfinden lassen. Die ärztliche Kunst hat den Schmerz
Das Gefühl. Schmerz. 215
auf sehr verschiedene Weise zu stillen gesucht und alle Verfahren
haben in einem Theile der Fälle Erfolg gehabt, mögen sie rationell
gewesen sein oder nicht. Pfuscher und Wunderthäter heilen that-
sächlich Schmerzen durch die unsinnigsten Mittel.
Zur Unterscheidung zwischen „eingebildeten" und „berechtigten"
Schmerzen könnte man zunächst Mittel anwenden, die offenbar oder
wahrscheinlich nur durch den Glauben helfen können : die Suggestion
durch das Wort im Wachen oder im hypnotischen Zustande, Hand-
auf legen, indifferente Verordnungen (Aqua destillata, Brodpillen) u. s. w.,
oder elektrische Ströme, Magnete, Metalle u. s. w. Dabei ist aber
zu beachten, dass das Fehlschlagen der Suggestion nicht nur davon
abhängen kann, dass materielle Schmerzursachen bestehen, sondern
auch davon, dass vermöge des Bewusstseinzustandes (Eigensugges-
tionen) die Suggestion keinen Eingang findet, dass andererseits bei
empfänglichem Bewusstsein alle Formen des Schmerzes durch Sug-
gestion verschwinden können. Immerhin wird der Versuch oft zum
Ziele führen. Man kann auch so verfahren, dass man die Mittel an-
wendet, die erfahrungsgemäss im gegebenen Falle materiell verur-
sachte Schmerzen zu stillen pflegen. Sind sie wirkungslos, so spricht
dies ceteris paribus für die rein seeliche Natur des Schmerzes. Nach
diesen allgemeinen Bemerkungen ist es ersichtlich, dass das Folgende
cum grano salis zu verstehen ist.
Der Organschmerz (Muskel-, Knochen-, Hautschmerz u. s. w.)
wird in ein bestimmtes Organ verlegt, er ist mehr oder weniger
continuirlich und, in der Eegel wenigstens, mit objectiven Verände-
rungen des Organs verbunden. Auf den Nachweis der letzteren ist
natürlich das Hauptgewicht zu legen: Entzündung der Haut, An-
schwellung des Knochens u. s. w. u. s. w. Begreiflicher Weise wird
bei Schmerzen in inneren Organen, wo die Localisationsfähigkeit
gering ist, dann, wenn objective Veränderungen fehlen, am ehesten
es zweifelhaft sein, ob ein Organschmerz besteht oder nicht. Auf
diese Dinge näher einzugehen, ist hier nicht möglich.
Der Nervenschmerz entsteht durch primäre Erkrankung der
Nerven oder dadurch, dass anderweite Erkrankungen die Nerven-
fasern in ihrem Verlaufe reizen. Sein Characteristicum ist, dass der
Schmerz auf bestimmte Nervenbezirke beschränkt ist und, oft wenig-
stens, dem Laufe eines Nerven folgt. Tritt der excentrische Schmerz
in der Ausbreitung eines Nerven auf, so findet sich natürlich in dieser
keine den Schmerz erklärende Veränderung. Man wird demnach bei
Schmerzen in anscheinend gesunden Theilen immer zuerst an Nerven-
schmerzen denken. Zweifellos wird die Diagnose, wenn der Schmerz
216 Untersuchung des Empfindungsapparates.
dein Laufe eines Nerven folgt, ein merkwürdiges Verhalten, das wohl
durch die Nervi nervorum zu erklären ist. In diesem Falle findet
sich oft Empfindlichkeit des betroffenen Nerven gegen Druck u. s. w.,
besonders an den Stellen, wo der Nerv dicht unter der Haut ver-
läuft, wo er gegen einen Knochen gedrückt werden kann, bestehen soge-
nannte Schmerzpunkte (points douloureux). In den meisten Fällen wird
die Diagnose dadurch erleichtert, dass positive Symptome vorhanden
sind, die auf das' Ergriffensein von Nervenfasern deuten, d. h. Hyper-
ästhesie. Parästhesie, Anästhesie, Lähmung, Krampf, vasomotorische,
secretorische. trophische Störungen in dem Bezirke des schmerzen-
den Nerven. Doch können wir trotz Fehlens solcher Symptome den
Nervenschmerz mit Sicherheit da diagnosticiren, wo der Schmerz
anfallsweise auftritt. Dann besteht eine Neuralgie im engeren
Sinne des Wortes. Gewöhnlich werden als Erfordernisse zur Diag-
nose einer Neuralgie genannt: 1. dass der Schmerz auf den Verlauf
und die Ausbreitung eines Nerven beschränkt ist, 2. dass er in An-
fällen auftritt, 3. dass im Verlaufe oder der Ausbreitung des be-
troffenen Nerven sich druckempfindliche Stellen, Schmerzpunkte finden.
Aber einerseits kommen 1 und 3 vor ohne 2, dann spricht man von
Nervenschmerzen, nicht von „echter" Neuralgie, z. B. bei manchen
Fällen von Neuritis. Andererseits können sowohl 1 als 3 fehlen und
kann doch die Diagnose auf Neuralgie berechtigt sein. Die Aus-
breitung des Schmerzes wird zuweilen so unbestimmt von den Kranken
angegeben, besonders dann, wenn es sich um innere Organe handelt,
dass 1 mehr oder weniger fraglich wird. Die Schmerzpunkte sind
fast immer, wenigstens im neuralgischen Airfalle selbst, vorhanden,
fehlen aber doch nach den Angaben der meisten Beobachter in ein-
zelnen Fällen echter Neuralgie, können sich wenigstens bei den
Neuralgien innerer Organe dem Nachweise entziehen. Dagegen ist
das Auftreten des Schmerzes in deutlichen Paroxysmen unter allen
Umständen charakteristisch. Nur eine Einschränkung ist zumachen:
wenn Krampfanfälle schmerzhaft sind (tetanische Anfälle, Crampi,
Uteruskrämpfe u. s. w.) , entsteht secundär ein Schmerzanfall. Hier
erklärt die Art des Reizes den paroxystischen Schmerz. In allen
anderen Fällen muss da, wo auf Reize hin oder ohne wahrnehni-
bare Reize ein Anfall von Schmerzen entsteht und auf diese oder
jene Weise die seelische Natur der Schmerzen auszuschliessen ist,
eine eigenthümliche (moleculare) Veränderung im sensiblen Nerven
angenommen werden: die neuralgische Veränderung. Die
neuralgische Veränderung kann die einzige Wirkung sein, die ein
den sensiblen Nerven treffender Reiz oder sonst ein pathologischer
Das Gefühl. Schmerz. 217
Einfluss hat, dann besteht der Symptomencomplex der Neuralgie für
sich allein: reine oder primäre Neuralgie. Oder die neuralgische
Veränderung tritt zu einer Läsion des Nerven hinzu, dann werden
in der Kegel noch andere nervöse Symptome vorhanden sein : secun-
däre Neuralgie. Die Diagnose der neuralgischen Veränderung wird
in der Eegel leicht sein, wenn man festhält, dass ihr ein in Anfällen
auftretender Nervenschmerz entspricht. Schwieriger ist die Unter-
scheidung der primären und der secundären Neuralgie. Bestehen
deutliche Atrophie oder Lähmung, oder stärkere und dauernde An-
ästhesie, oder Ernährungstörungen, als da sind Zoster, Glanzhaut,
Verdickung der Haut u. s. w. , neben der Neuralgie, so ist sie eine
secundäre, denn diese Symptome finden sich nur bei palpabler Läsion.
Zuckungen, Gefässkrampf oder -Lähmung, secretorische Störungen
können auch durch den Schmerz selbst reflectorisch hervorgerufen
werden, werden daher auch bei reiner Neuralgie beobachtet. Hyper-
ästhesie oder eine geringe Anästhesie findet sich bei reinen Neuralgien
während des Anfalls und kann ihn mehr oder weniger lange über-
dauern, stärkere Anästhesie aber ist wohl immer auf eine palpable
Läsion zu beziehen. Bei secundären Neuralgien pflegt der Schmerz
nicht rein intermittirend zu sein, sondern die Paroxysmen stellen nur
Steigerungen eines mehr oder weniger continuirlichen Schmerzes dar.
Aus der Stärke und dem Charakter des Schmerzes (ob reissend,
brennend, bohrend u. s. w.) lassen sich bis jetzt irgendwie sichere
diagnostische Schlüsse nicht ziehen. Ebensowenig aus dem Vorhanden-
sein von Ausstrahlung des Schmerzes. Bestehen nur die Symptome
der neuralgischen Veränderung, so kann man eine tiefere Läsion des
Nerven ausschliessen, nicht aber das Vorhandensein einer anatomi-
schen Läsion überhaupt. Vielmehr sind reine Neuralgien sehr oft
"Wirkungen von Organkrankheiten, die den Nerven durch Druck reizen,
u. U. aber keine sonstigen Symptome machen. So sind weitaus die
meisten Supraorbitalisneuralgien Wirkungen eines Nasen-, beziehungs-
weise Stirnhöhlenkatarrhs. So treten Neuralgien bei Aneurysmen, Neu-
bildungen, Knochenanschwellungen u. s. w. in den gedrückten Nerven
auf. Seltener sind die reinen Neuralgien, bei denen nur die mole-
culare Veränderung im Nerven anzunehmen ist (bei Anämie, bei Ma-
laria und anderen Vergiftungen). Das beste Beispiel einer secundären
Neuralgie ist die gewöhnliche Ischias, bei der es sich meist um eine
Perineuritis zu handeln scheint: andauernder dumpfer Schmerz mit
paroxystischen Exacerbationen, häufig Parese, Anästhesie, Volumen-
verminderung des Beines u. s. w.
Ueber den Sitz der Läsion werden bei secundären Neuralgien
218 Untersuchung des Empfindiuigsapparates.
oft die begleitenden Erscheinungen Aufschluss geben, bei reinen Neur-
algien muss man natürlich auf etwa vorhandene Organverände-
rungen Eücksiclit nehmen und ist im Uebrigen auf die Ausbreitung
des Schmerzes angewiesen. Ist nur ein Zweig eines Nerven ergriffen,
so hat wahrscheinlich die neuralgische Veränderung in diesem Zweige
selbst ihren Sitz. Bei dem Trigeminus aber ist zu bemerken, dass
dessen Bündel zum Theil. ehe sie central werden, im Gehirn und
Kückenmark einen gesonderten Verlauf haben, dass demnach ein
neuralgischer Schmerz des Auges z. B. auf Erkrankung der für das
Auge bestimmten Trigeminusfasern entweder vor ihrem Anschlüsse
an den Stamm oder nach ihrer Trennung davon deuten kann. Sind
alle Zweige eines Nerven vom Schmerz ergriffen, so kann man mit
grosser Sicherheit den Stamm des Nerven als erkrankt ansehen.
Sind mehrere Nerven eines Gliedes neuralgisch verändert, so wird
man zunächst an eine Läsion des Plexus oder der Wurzelfasern den-
ken, darf aber nicht vergessen, dass auch eine multiple Läsion in den
Nerven selbst möglich ist. Das Letztere gilt auch für den Fall, dass
neuralgische Schmerzen in beiden Beinen auftreten (z. B. Schmerzen
der Säufer durch multiple Neuritis), wenngleich doppelseitige Neur-
algien am häufigsten durch Läsionen innerhalb des Wirbelkanals
zu Stande kommen. Eine doppelseitige Armneuralgie weist mit
grosser Wahrscheinlichkeit auf eine Läsion der hinteren Wurzeln
(Wirbelerkrankung, Paehymeningitis cervicalis).
Besondere Erwähnung verdienen noch die lanzinir enden oder
Blitz- Schmerzen. Diese sind in Anfällen auftretende Nerven-
schmerzen, stellen daher eine wirkliche Neuralgie dar. Sie haben
aber das Eigentümliche, bald in diesem, bald in jenem Nerven auf-
zutreten, gleichen bald elektrischen oder Blitzschlägen, bald Messer-
stichen, bald der Berührung mit glühendem Eisen. Die Haut über
der Stelle des Schmerzes ist überempfindlich. Sie sind zwar nicht
im strengen Sinne pathognostisch für die tabische Erkrankung der
Wurzelfasern, dürften aber doch äusserst selten bei anderen Krank-
heiten als der Tabes zu finden sein.
Für den nur functionellen oder seelischen Schmerz im
Allgemeinen ist die Abwesenheit aller objectiven Veränderungen, die
Anwesenheit anderer Symptome functioneller Störung charakteristisch.
Am häufigsten A'ielleicht entstehen Schmerzhallucinationen dadurch,
dass früher materielle Ursachen des Schmerzes (eine Verletzung, eine
Entzündung) dagewesen sind und dass, als diese schwanden, die
Schmerzen blieben. Das sind die Fälle, in denen die Suggestion,
mag sie unverhüllt oder verhüllt wirken, am leichtesten dauernde
Das Gefühl. Schmerz. 219
Erfolge erzielt. Wie man leicht begreift, giebt es zahlreiche Zwi-
schenformen, bei denen die materielle Ursache zwar noch vorhan-
den ist, das Bewnsstsein aber mehr Schmerz enthält als jener ent-
spräche.
Bei der Hysterie im engeren Sinne sind Schmerzen sehr häufig.
Jede Form organischen Schmerzes kann von der Hysterie nachgeahmt
werden. Eigentliche Neuralgien sind nicht gerade häufig, häufiger
ist der Zustand als eine Art von Hyperästhesie zu bezeichnen.
Z. B. werden oft als Neuralgien die hysterischen Gelenkneurosen
bezeichnet, doch handelt es sich hier nicht um wirkliche Neuralgien,
sondern um starke Hyperästhesie des Gelenkes. So lange das letztere
ruhig gehalten wird, besteht kein Schmerz, nur Bewegungsversuche
rufen ihn hervor. Oder wenn Schmerz in der Ruhe besteht, so ist
er doch ein continuirlicher. Da die Gelenkneurosen oft nach einem
leichten Trauma des Gelenkes auftreten, bestehen wohl anfänglich
wirklich geringe Veränderungen im Gelenke. Diese würden von
normalen Menschen kaum beachtet werden, rufen aber bei hyste-
rischen abnorm starke Eeaction hervor und fixiren die Aufmerksam-
keit auf das Gelenk. Die Schmerzen sind sozusagen Illusionen, Um-
deutungen wirklich vorhandener Empfindungen. Die Abwesenheit
aller objectiven Veränderungen des Gelenkes, die u.U. wegen der
reflectorischen Muskelspannungen nur in der Narkose nachgewiesen
werden kann, die Ueberempfindlichkeit der Haut über dem Gelenke,
das Vorhandensein zweifellos hysterischer Symptome, die Aetiologie,
die durch psychische Einflüsse verursachten Schwankungen des Be-
findens führen zur Diagnose.
Fehlen eigentliche hysterische Symptome, so ist die Diagnose viel
schwerer. In dem weiten Gebiete der hypochondrischen Zustände
kommen die verschiedensten Formen ganz oder halb eingebildeter
Schmerzen vor. Man muss sich vielfach darauf verlassen, dass die
sorgfältigste Untersuchung keine greifbare Ursache des Schmerzes
entdecken lässt und dass jede rationelle Therapie fehlschlägt. Als
Topoalgie (Blocq) ist ein Schmerz bezeichnet worden, der als ver-
einzeltes Symptom jahrelang an derselben Stelle bestehen kann, ohne
dass eine örtliche Ursache nachzuweisen wäre. Ferner giebt es chro-
.nische Zustände, in denen offenbar seelische Schmerzen auftreten,
sobald die Theile thätig sind und dadurch die Kranken zur Unthätig-
keit verdammt werden : A p r a x i a a 1 g e r a, Es kann soweit kommen,
dass die Kranken aus Furcht vor den Schmerzen fast vollständig
unbeweglich werden : Akinesia algera. Kennzeichnend für diese
schweren Fälle ist die Nutzlosigkeit jeder Therapie, alle Eingriffe
220 Untersuchung des Empfindungsapparates.
verschlimmern den Zustand, nur bei vollständiger Kühe befinden sich
die Kranken leidlich.
Eine besondere Besprechung' muss endlich zwei Symptomen ge-
widmet werden: dem Kopfschmerz und dem Rückenschmerz.
Kopfschmerz (Cephalaea) heisst ein Schmerz, der von dem
Betroffenen in das Innere des Kopfes verlegt wird. Schmerzen in
den äusseren Theilen des Kopfes bezeichnen die Laien gewöhnlich
als Kopfreissen oder als Gesichtschmerzen, -Reissen. Da nun das In-
nere des Schädels von den Nn. recurrentes des Trigeminus, die sich
hauptsächlich in den Hirnhäuten, besonders der Dura verzweigen,
versorgt wird, handelt es sich beim Kopfschmerz wahrscheinlich stets
um eine Schädigung der genannten Trigeminusfasern. Die Diagnose
kann auch liier zu unterscheiden suchen, ob die Enden dieser Fasern
gereizt werden, oder der Verlauf, ob Organschmerz, oder Nerven-
schmerz besteht, ob im letzteren Falle die Reizung der Recurrens-
fasern nach dem Abgange vom Trigeminusstamm oder vor der Ver-
einigung mit diesem, d. h. intracerebral, statthat; indessen reichen
hierzu unsere Mittel meist nicht aus, da wir in der Regel ausschliess-
lich auf die oft verworrenen Angaben des Kranken angewiesen sind.
Ein paroxystischer Kopfschmerz, dessen Anfälle wirklich den Typus
der Neuralgie darstellten, scheint nicht vorzukommen. Wir wissen
nur, dass unter bestimmten Bedingungen verschiedene Formen des
Kopfschmerzes zu Stande kommen und schliessen theils aus Art, Ort
und Verlauf des Schmerzes, theils aus den begleitenden Erscheinungen
auf die Natur der zu Grunde liegenden Veränderung.
Kopfschmerz kommt vor bei allen anatomischen Erkran-
kungen der Gehirnhäute, bei den verschiedenen Formen der
Meningitis, bei den von den Meningen ausgehenden Neubildungen
und den Erkrankungen des Gehirns und des Schädels, die auf die
Meningen übergreifen. Diese Form des Kopfschmerzes ist meist mit
Erbrechen, das offenbar reflectorisch entstellt, verbunden. Nur wenn
weitere Symptome vorhanden sind, wird eine Diagnose möglich sein.
Wenn bei notorischen Säufern sehr intensive Kopfschmerzen mit Er-
brechen auftreten, wird man an die Möglichkeit einer Pachymeningitis
haeniorrhagica denken müssen, bei Tuberkulösen legen dieselben Er-
scheinungen den Gedanken an eine sich entwickelnde Meningitis tub.
nahe, nach Kopfverletzungen, im Verlaufe fieberhafter Erkrankungen
kommt dann die eitrige Meningitis in Frage. Heftige und andauernde
Schmerzen an einer umschriebenen Stelle des Kopfes lassen, besonders
dann, wenn sie mit Empfindlichkeit der entsprechenden Schädelstelle
gegen Klopfen verbunden sind, an eine umschriebene Affection der
Das Gefühl. Schmerz. 221
Hirnhäute denken (Schädelexostosen, circumscripte luetische oder
tuberkulöse Meningitis, kleine Tumoren u. s.w.). Es scheint, als ob
bei Nichthysterischen umschriebene Empfindlichkeit des Schädels
gegen Klopfen fast immer auf ein örtliches organisches Leiden zeigte.
Kopfschmerz kommt vor bei mechanischer Reizung der Gehirn-
häute durch Drucksteigerung im Schädel. Je rascher die Stei-
gerung eintritt, um so heftiger ist der bald den ganzen Kopf, bald
mehr die vordere oder hintere, linke oder rechte Kopfhälfte ein-
nehmende Schmerz. Bei sehr langsamer Entwicklung der intracra-
niellen Drucksteigerung kann der Schmerz gering sein, ja ganz fehlen.
Er wird gewöhnlich als dumpf, überaus quälend und niederdrückend
beschrieben. Auch dieser Schmerz ist von Erbrechen begleitet. Dass
ein Kopfschmerz auf Steigerung des Hirndruckes zu beziehen ist,
ergiebt sich aus dem Vorhandensein der Stauungspapille und anderer
Zeichen, als Pulsverlangsamung und Benommenheit. In allen Fällen
von heftigem Kopfschmerz unbekannter Entstehung ist die ophthal-
moskopische Untersuchung vorzunehmen. Eine gewisse Bedeutung
hat der auf den Hinterkopf beschränkte Kopfschmerz mit Stauungs-
papille, er deutet auf ein raumbeschränkendes Uebel in der hinteren
Schädelgrube. Ausser bei Tumoren, Hydrocephalus u. s. w. kommt
Steigerung des Hirndruckes bei der Hirnblutung vor, da aber liier
das Bewusstsein zu schwinden pflegt, fehlt natürlich der Kopfschmerz.
Dagegen geht ein solcher oft dem Eintritte der Blutung voraus und
ebenso klagen die Kranken unmittelbar nach dem Insult oft über
ihn. Auch da, wo der Insult ohne Bewusstseinstörung verläuft, ist
der Kopfschmerz oft vorhanden.
Intra cerebrale Läsionen, die nicht mit Steigerung des Druckes
im Schädel verbunden sind, bewirken nur dann Kopfschmerz, wenn
sie die Yierkügelgegend treffen, vielleicht deshalb, weil unter
den Yierhügeln die absteigende Trigeminuswurzel, deren sensorische
Natur freilich von Vielen geläugnet wird, verläuft. Auf Läsion der
letzteren sind möglicherweise die mit Erbrechen verbundenen Kopf-
schmerzen zu beziehen, die den Eintritt mancher Oculomotorius-
lähmung begleiten und am stärksten in der Augengegend empfunden
werden. Man müsste dann annehmen, dass bei solchen Lähmungen
die Läsion im Oculomotoriuskern oder in dessen Nähe ihren Sitz habe.
Theils als selbständige Krankheit, theils als Symptom anderer
Krankheiten tritt der unter dem Namen Migräne oder Hemi-
kranie bekannte Kopfschmerz auf. Das Wesentliche dieses Leidens
ist, dass ein oft, aber durchaus nicht immer auf eine Kopfhälfte be-
schränkter Schmerz in Anfällen, die durch Pausen von Tagen, Wochen,
222 Untersuchung des Empfindungsapparates.
Monaten getrennt sind. Stunden, einen Tag' oder einige Tage dauern,
durch Ruhe und horizontale Lage gemildert werden, gewöhnlich mit
Erbrechen, wenigstens mit Uebelkeit, zuweilen auch mit Durchfall
enden, sich zeigt. Tor dem Anfalle werden oft auraartige Symptome
beobachtet : Flimmerscotom (S. 175). Gähnen. Aufstossen, Heisshunger,
Mensen. Ohrensausen. Stiche im Kopfe. Parästhesien in einer Körper-
hälfte. Frieren, allgemeine Abgeschlagenheit, seelische Verstimmung,
beängstigende Träume. Im Anfälle besteht zuweilen Hyperästhesie
der Kopfhaut und Schnierzhaftigkeit der Trigeminuspunkte bei Druck;
jede Bewegung, besonders die der Augen, jede stärkere Beizung der
Sinnesorgane steigert den Schmerz. Oft bestehen vasomotorische Sym-
ptome, die wahi'scheinlich reflectorisch hervorgerufen sind: Blässe
und Kühle, oder Böthung und Wärme der schmerzenden Kopf hallte,
seltener sind Veränderungen der Pupillenweite auf der Seite des
Schmerzes. In einzelnen Fällen findet eine Häufung der Anfälle statt
«Status hemicranicus). Zuweilen scheinen unvollständige heniikraniscke
Anfälle oder Symptome, die an Stelle des Anfalles treten (hemikra-
nische Aecprivalente), vorzukommen: nur Flimmerscotom, oder dieses
mit Ohnmacht, psychische Verstimmung mit Erbrechen u. s. w.
Die Migräne kommt vor als selbständige „Neurose" (idiopathische
Migräne), das Leiden beginnt dann im Kindes- 'oder Jugendalter, ist
fast stets ererbt. Sie soll ferner als reflectorische Erscheinung beob-
achtet werden: besonders bei chronischen Erkrankungen der Nasen-
sckleimhaut und bei Bandwurm. Sie kommt endlich, und zwar ziem-
lich selten, als Symptom organischer Nervenkrankheiten vor. kann
das erste oder eines der ersten Symptome der Tabes, der progres-
siven Paralyse sein, kann als Vorläufer bei Herderkrankungen des
Gehirns sich zeigen. Die Diagnose der Migräne ist in der Eegel
leicht, nur bei unvollständigen Anfällen oder heniikranischen Aecjui-
valenten können Schwierigkeiten entstehen, kann unter Umständen
neben der Migräne Epilepsie in Frage kommen. An die Existenz
der reflectorischen und der symptomatischen Migräne niuss man sich
erinnern, wenn die Anfälle bei erblich nicht belasteten Leuten und
im späteren Lebensalter sich zeigen. In diesen Fällen kann, auch
wenn die Untersuchung negativ ausfällt, die Diagnose einer idio-
pathischen Migräne nicht mit Sicherheit gestellt werden. Auch können
Glaukomanfälle für Migräne gehalten werden.
AVeit er ist zu erwähnen der Kopfschmerz der Syphilitischen.
Er nimmt gewöhnlich die Gegend der Scheitelbeine ein. wird in der
Nacht stärker und verschwindet rasch bei Anwendung von Jodkalium.
Die Kopfschmerzen, die bei acuten fieberhaften Infec-
Das Gefühl. Schmerz. 223
tionskraukheiten, nach acuten Vergiftungen (z. B. durch
Alkohol) vorhanden sind, werden kaum diagnostische Schwierigkeiten
machen.
Sehr häufig ist Kopfschmerz bei Anämie. Er nimmt den ganzen
Kopf oder vorwiegend die Stirngegend ein. Die directen Symptome
der Anämie, die Verschlimmerung hei aufrechter Stellung, die Besse-
rung bei horizontaler Lage gelten als seine Kennzeichen. Doch muss
man sich hüten, jeden Kopfschmerz bei islamischen für directe Wir-
kung der Anämie zu halten. Nur da, wo diese sehr stark ist, oder
wo andere Ursachen auszuschliessen sind, ist der Schluss berechtigt.
Man muss sich wohl vorstellen, dass hier, wie bei den Neuralgien
der Anämischen, abnorme Stoffwechselproducte die Nerven reizen.
Sehr häufig wird Congestion oder Blutandrang zum Kopfe
als Ursache des Kopfschmerzes diagnosticirt, besonders dann, wenn
der Kopf geröthet ist, Neigung zu Nasenbluten besteht, Bücken u. s. w.
den Schmerz steigert. Inwieweit die vermehrte Blutfülle directe Ur-
sache ist, inwieweit der Schmerz und die Congestion gemeinsame
Folgen einer dritten Veränderung sind, lässt sich meist nicht bestimmen.
Vielleicht spielen in manchen Fällen hartnäckiger Verstopfung i\. s. w.
Selbstinfectionen durch Verdauungsproducte eine Solle. Bei Ver-
stopfung kommen besonders Hinterkopf- und Nackenschmerzen vor.
Chemische Wirkungen liegen offenbar dem urämischen Kopfschmerze
zu Grunde, wahrscheinlich auch den sonstigen Kopfschmerzen der
Nierenkranken, denen der Diabeteskranken. Chronische Intoxicationen
im engeren Sinne (durch Blei, Arsen, Quecksilber u. s. w.) können
ebenfalls Ursache des Kopfschmerzes sein, ohne dass er irgendwie
eine charakteristische Art hätte. EeflectorischeKopfschmer-
zen nicht-hemikranischer Art werden bei Erkrankungen der Nasen-
schleimhaut, bei Kefractionsanomalien des Auges, bei Helminthen
u. s. w. beschrieben.
Bei der Neurasthenie ist der Kopfschmerz oft eins der wich-
tigsten Symptome. Er wird von den Kranken in der verschiedensten
Weise beschrieben: als ob ein eiserner Reifen um den Kopf gelegt
wäre, als ob der Kopf zerspringen wollte, als ob der Schädel bloss
läge, als würde mit Fädchen an dem Gehirne gezogen, als ob der
Kopf mit Luft, Blei gefüllt wäre, als ob es im Kopfe schwappte, als
ab im Kopfe gehämmert würde u. s. w. Häufiger noch als eigent-
licher Schmerz ist ein dumpfer Druck im Kopfe, besonders im Hinter-
kopfe: Kopfdruck. Zuweilen beklagen sich die Kranken über das
Gefühl einer schweren Bleikappe, oder es ist die Kopfhaut hyper-
ästhetisch und es besteht ein Gefühl des Brennens auf den Scheitel.
224 Untersuchung des Empfindungsapparates.
Die Abwesenheit von Symptomen organischer Erkrankung, die An-
wesenheit anderer neurasthenischer Symptome, das Entstehen oder
die Steigerung der Beschwerden durch geistige Anstrengung und ge-
müthliche Erregung lassen meist die Diagnose stellen. Ob aus diesen
Kopfschmerzen auf vasomotorische Störungen im Schädel zu schliessen
ist. oder wie sie sonst zu erklären sind, steht dahin.
Aelmlich wie bei Neurasthenie liegen die Verhältnisse bei Hy-
sterie und anderen Neurosen. Bei Hysterie ist von einer gewissen
diagnostischen Wichtigkeit die Beschränkung des Schmerzes auf ein-
zelne Stellen des Kopfes, besonders den Scheitel (Clavus hystericus).
Endlich kommt als selbständiges chronisches Leiden der soge-
nannte habituelle Kopfschmerz bei sonst Gesunden vor. Er
soll meist doppelseitig sein und auch sonst dem neurasthenischen
Kopfschmerze gleichen. Man darf ihn nur da diagnosticiren, wo bei
sorgfältiger Untersuchung keine der bisher genannten Ursachen nach-
zuweisen ist, und wird auch dann in dieser Diagnose nur einen Aus-
druck unserer Unwissenheit zu sehen haben. Am häufigsten ent-
puppen sich die Fälle des habituellen Kopfschmerzes bei genauerem
Zusehen als atypische Migräne. Die Verwechselung mit Eheumatis-
mus der Kopfschwarte, der zum „Kopfreissen" gehört und sich durch
Druckempfindlichkeit der schmerzenden Theile kund giebt, muss na-
türlich vermieden werden. Nicht selten wird Kopfschmerz mit Supra-
orbitalisneuralgie verwechselt, obwohl bei genauem Befragen die
Kranken im letzteren Falle den Schmerz in den Knochen verlegen
und Druck auf den Nerven ausstrahlende Empfindungen bewirkt.
In einem Falle schwerer Migräne hatte ein Chirurg den N. supra-
orbit. zweimal, natürlich ohne Nutzen resecirt.
Auch Kücken seh merz ist eine häufige Klage. Er kann durch
rheumatische u. s. w. Erkrankung der Muskeln entstehen, er wird
daim vom Kranken meist richtig in die letzteren verlegt, tritt nur
bei bestimmten Bewegungen auf, die kranken Muskeln sind schmerz-
haft bei Druck und bei passiven Bewegungen. Dem Kopfschmerze
vergleichbar ist der in die Wirbelsäule selbst verlegte Schmerz, der
bald durch Keizung der Wirbel oder der Meningen entsteht, bald
functionell ist.
Von den Erkrankungen der Wirbel ist besonders die Arthritis
deformans der Wirbelsäule schmerzhaft. Der Schmerz kann die
ganze Wirbelsäule oder nur Abschnitte einnehmen, ist mehr oder
weniger andauernd, wird durch Bewegungen beträchtlich gesteigert,
bewirkt daher, schon ehe mechanische Hindernisse der Bewegung
entstehen, Steifigkeit der Wirbelsäule, die kranken Wirbel sind in
Das Gefühl. Schmerz. 225
massigem Grade druckempfindlich, zuweilen zeigt sich, und das ist
am meisten charakteristisch, bei Bewegungen ein Knarren.
Bei Tuberkulose, Carcinose u. s. w. der Wirbel kann als
erstes Symptom ein umschriebener Eückenschmerz, der durch Be-
wegungen gesteigert wird, bestehen. Meist treten schon frühzeitig
Wurzelsymptome, besonders excentrische Schmerzen auf. Bei der
Diagnose ist natürlich das Hauptgewicht auf objective Veränderungen
der Wirbel: Verdickung, Knickung, zu legen, ist die Aetiologie zu
berücksichtigen u. s. w. Für Erkrankungen der Halswirbelsäule ist
es bekanntlich charakteristisch, dass beim Erheben des Kopfes die
Hände zu Hülfe genommen werden.
Bei spinaler Meningitis bestehen gewöhnlich noch andere
Symptome ausser dem Eückenschmerze, die die Diagnose ermöglichen
Der Schmerz ist sehr intensiv, die Beweglichkeit ist sehr vermindert,
schmerzhafte, reflectorische Muskelspannungen treten jedem Versuche
passiver Bewegung entgegen. Die Wurzelsymptome, das Fieber, die
ätiologischen Beziehungen, der Verlauf müssen in Betracht gezogen
werden. Bei cerebraler Meningitis beweisen Schmerzhaftigkeit und
Steifheit der Wirbelsäule, der reflectorische Krampf der Rücken-
muskeln (Opisthotonus) die Theilnahme der Meninx spinalis. Es
scheint, als ob auch leichte chronische Affectionen der Rückenmarks-
häute vorkämen, die sich wesentlich nur durch Rückenschmerz, be-
sonders Schmerzhaftigkeit bei Bewegungen der Wirbelsäule, verrathen.
Bei den Krankheiten des Rückenmarkes selbst spielt
der Rückenschmerz keine grosse Rolle. Nur hie und da findet er
sich bei Tabes und Myelitis, active und passive Bewegungen sind
selten schmerzhaft, öfter finden sich einzelne Wirbel, die bei kräf-
tigem Drucke, bei elektrischer Reizung u. s. w. empfindlich sind. Bei
Tumoren kann natürlich stärkerer Rückenschmerz entstehen, sobald
die Meningen in Mitleidenschaft gezogen werden.
Dagegen ist Rückenschmerz überaus häufig bei den sog. func-
tio n eilen Neurosen. Für diesen Schmerz ist im Gegensätze zu
dem bei organischen Erkrankungen kennzeichnend, dass die Beweg-
lichkeit der Wirbelsäule ganz oder fast ganz frei ist, während bei
Druck u. s. w. sich eine Hyperästhesie der Wirbelsäule findet, so
stark, wie sie bei organischen Läsionen nie beobachtet wird. Zu-
weilen fehlt der spontane Schmerz ganz, untersucht man aber die
Wirbelsäule, so schreit der Kranke bei Berührung einzelner Wirbel,
wird bleich, droht ohnmächtig zu werden, oder entzieht sich durch
stürmische Bewegungen dem Untersucher. In anderen Fällen wird
fortwährend über Rückenschmerz geklagt, der Druck der Kleider,
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl.. 15
226 Untersuchung des Schädels und der Wirbelsäule.
die Eückenlage nicht vertragen, bei zufälligem Anleimen entstehen
dieselben Erscheinungen wie absichtlichem Drucke. Gelegentlich er-
regt schon ein leiser Druck heftigen Schmerz, während tiefer Druck,
sobald die Aufmerksamkeit anderweit festgehalten ist, ohne Wirkung
bleibt. Aus diesem Verhalten darf man nicht ohne Weiteres auf
Simulation schliessen. Am häufigsten ist der zwischen den Schulter-
blättern gelegene Abschnitt der Wirbelsäule schmerzhaft. Der Cha-
rakter des Schmerzes, das Fehlen aller Zeichen organischer Läsion,
die Anwesenheit anderer hysterischer oder neurasthenischer Sym-
ptome machen die Diagnose leicht. Bildet der Rückenschmerz das.
Hauptsymptom. so spricht man wohl von „Spinalirritation". Meist
handelt es sich dann um jugendliche weibliche Kranke, die als Xeu-
rasthenische mit hysterischer Färbung bezeichnet werden können.
Auch bei der sog. traumatischen Neurose tritt neben anderen hyste-
rischen Symptomen oft der Eückenschmerz in den Vordergrund.
VI. Untersuchung des Schädels und der Wirbelsäule.
Die knöchernen Hüllen des Gehirns und Bückermiarks bedürfen
besonderer Aufmerksamkeit.
Am Schädel ist zunächst dessen Grösse und Form zu be-
achten. Man misst den grössten Umfang mittels des Centimeter-
bandmaasses. Er beträgt bei lebenden erwachsenen Deutschen etwa
56 Zentimeter für den Mann, 54 Centini et er für das Weib. Bei ge-
sunden Kindern ist in den ersten 2 Lebensjahren der Kopfumfang
um ein Geringes grösser als der Brustumfang, bei Neugeborenen
beträgt er etwa 34 Centimeter. Abnorme Kleinheit des Schädels
bezeichnet man als Mikrocephalie, abnorme Grösse als Makro-
cephalie. Die hydrocephalische Kopfform ist dadurch aus-
gezeichnet, dass an der Erweiterung der Schädelkapsel besonders
die Scheitel- und Stirnbeine betheiligt sind, die Stirn yorgebuchtet
erscheint. Von anderweiten Anomalien der Schädelform (Dolicho-
Brachy-. Bhombo-, Lepto-, Khinocephalus) überzeugt man sich leicht
durch Gesicht und Getast. es wird zu klinischen Zwecken nur aus-
nahmeweise nöthig. mit dem Bandmaasse und dem Tasterzirkel vor-
zugehen. Am wichtigsten sind die Asymmetrien des Schädels als
Degenerationzeichen. Ein Bild der Kopfform kann man sich leicht
dadurch verschaffen, dass man dem Kopfe einen starken Bleidraht
anpasst. sei es in dieser, sei es in jener Richtung, und dann die er-
haltene Curve auf dem Papiere nachzeichnet.
Ferner ist zu prüfen, ob irgendwo am Schädel sich Buckel
Untersuchung- des Schädels und der Wirbelsäule. 227
oder Einsenk u n gen finden. Bei Narben der Kopfhaut, ob sie
mit der Unterlage verwachsen sind, ob ihnen eine Impression des
Schädels entspricht, ob sie empfindlich sind. Bei Kindern ist auf das
Verhaltender Fonta'n eilen und etwaige weiche Stellen, besonders
am Hinterkopfe (Craniotabes), zu achten.
Durch Beklopfen des Schädels sind umschriebene empfindliche
Stellen zu entdecken. Diese sind wichtig, während allgemeine Hyper-
ästhesie des Kopfes von weit geringerer Bedeutung ist. Sie finden sich
zwar hie und da auch bei Hysterischen, deuten aber in der Mehr-
zahl die Fälle auf eine örtliche Läsion in der Schädelhöhle hin. Es
ist auch empfohlen worden, zu untersuchen, ob die Nähte besonders
empfindlich seien, indem man mit dem Fingernagel über die Kopf-
knochen hinfährt. Auf die Kopfhaut beschränkte Anästhesie soll bei
fimctionellen Neurosen nicht selten sein.
An der Wirbelsäule prüft man zunächst, ob ihre Form
normal ist, ob die Linie der Dornfortsätze seitliche Ausbiegungen
zeigt (Scoliosis), deren geringere man wahrnimmt, wenn man die
Dornfortsätze mit dem Finger verfolgt, ob ausserdem eine Axen-
drehung stattgefunden hat, ob die normalen Krümmungen von vom
nach hinten vorhanden sind, oder ob irgendwo eine zu starke Krüm-
mung oder gar eine Knickung der Wirbelsäule sich zeigt (Kyphosis
oder abnorme nach hinten convexe, Lordosis oder abnorme nach
vorn convexe Krümmung, Gibbus oder Spitzbuckel), welche Wirbel
sich an der etwaigen Deformität betheiligen. Gibbus kommt bei
Fractur oder bei Caries der Wirbel vor und die winkelförmige Ky-
phose kann zu Compression des Rückenmarkes führen, während
dies die bogenförmigen Kyphosen in Folge von Ehachitis u. s. w.
fast nie thun.
Die Beweglichkeit wird untersucht, indem man Beugungen
nach vorn und hinten, nach rechts und links vornehmen lässt. Es
ist darauf zu achten, ob die Bewegungen in normaler Excursion
möglich sind (wobei bemerkenswerth , dass bei functionellen Stö-
rungen fast nie Steifigkeit der Wirbelsäule beobachtet wird), ob bei
ihnen Schmerzen eintreten, ob sich bei ihnen Knarren zeigt (Arthri-
tis deformans).
Endlich ist die Empfindlichkeit der ruhenden Wirbel durch
Druck mit dem Finger auf die Dorn- und Querfortsätze, durch Klopfen,
durch einen heissen Schwamm oder durch den elektrischen Strom
zu prüfen (vergl. S. 225). Schmerzhaftigkeit der Wirbel bei Druck
ii; s. w. bezeichnet man oft als Spinalirritation (siehe oben).
Auch auf das Vorkommen ausstrahlender Empfindungen ist zu achten.
15*
228 Die Prüfung der vegetativen Functionen.
VII. Die Prüfung der vegetativen Functionen.
Da alle Organe des Körpers mit dem Nervensysteme in Verbin-
dung und sozusagen unter seiner Leitung stehen, bewirken Läsionen
des Nervensystems nicht nur Störungen der seelischen Thätigkeiten,
der Bewegung und Empfindung, sondern auch vielfache anderweite
Krankheitserscheinungen, ziehen umgekehrt alle möglichen Krank-
heiten das Nervensystem in Mitleidenschaft. Die Untersuchung des
Nervenkranken hat sich daher nicht auf die genannten Functionen
zu beschränken, sondern den gesammten körperlichen Zu-
stand zu umfassen. Die Prüfungsmethoden sind natürlich die
der Klinik überhaupt, wir können hier nur auf die Punkte hinweisen,
die besonderer Beachtung bedürfen.
Von einer gewissen Bedeutung ist zunächst die Constitution,
ob gross, ob klein, ob untersetzt, ob schlank u. s. w., ferner die
allgemeine Ernährung, ob fett oder mager, wohlgenährt oder
kachektisch u. s. w.
Man muss sich aber hüten, zu viel Gewicht auf die Constitution und
die allgemeine Ernährung zu legen. Insbesondere liegt kein Grund vor,
einen „apoplektiscken Habitus" anzunehmen. Bei den sog. functionellen
Neurosen findet man sehr verschiedenes Verhalten, bald blühende Ernährung,
bald Abmagerung und Anämie. Letzteres besonders in den Fällen lang-
dauernder Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit. Auf jeden Fall ist es falsch,
die Anämie "für eine regelmässige Begleiterin functioneller Neurosen zu
halten. Andererseits darf man natürlich aus einem guten Ernährungzustande
keinen Grund gegen das Vorhandensein organischer Läsionen entnehmen,
da die meisten chronischen Krankheiten des Gehirns und Rückenmarks
die Ernährung lange Zeit ungestört lassen können. Bei dem Verdachte auf
bösartige Neubildungen lässt nur das Vorhandensein der Kachexie, be-
sonders der graugelblichen Verfärbung der Haut, nicht ihr Fehlen, einen
Schluss zu. Liegen Gründe vor, einen Hirnabscess zu vermuthen, so kann
der Nachweis einer Ernährungstörung, wie sie eben bei chronischen Eite-
rungen beobachtet wird, die Diagnose gewichtig unterstützen. Das Ent-
sprechende gilt von tuberkulösen Processen.
Nicht minder wichtig als bei anderen Krankheiten ist hier viel-
fach die Beobachtung der Körpertemperatur.
Steigerung der Temperatur bei Nervenkrankheiten ist eine Wirkung
entweder der Krankheitsursache oder der Läsion des Nervensystems.
Fieber kann die entzündlichen, beziehungsweise infectiösen Krank-
heiten des Nervensystems begleiten. Es ist regelmässig vorhanden bei den
acuten oder subacuten Formen der Meningitis, sowohl der eitrigen nach
Schädelverletzung, Ohreiterung u. s. w., als der tuberkulösen, als der epide-
mischen cerebrospinalen, ohne dass die Curve charakteristische Eigenthüm-
lichkeiten zeigte. (Näheres s. bei Wunderlich, Das Verhalten der Eigen-
Körpertemperatur. 229
wärme u. s. w. 1870. S. 371, und in den Lehrbüchern der spec. Pathologie.)
Bei den chronischen Formen der tuberkulösen Meningitis kann das Fieber
zeitweise ganz fehlen, doch treten wohl immer von Zeit zu Zeit Tempera-
tursteigerungen ein. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei Hirnabscess, hier
kann ein einmaliger oder wiederholter Schüttelfrost von grosser diagnosti-
scher Bedeutung sein. Tritt eine Perforation des Abscesses an der Hirn-
rinde oder in die Ventrikel ein, so pflegt die Temperatur hoch anzusteigen.
Ob solitäre Hirntuberkel Fieber bewirken, ist nicht sicher zu sagen. Oft
fehlt das Fieber, und wo es vorhanden ist, lassen sich in der Regel ander-
weitige tuberkulöse Processe nachweisen. Zu den fieberhaften Krankheiten
sind die acute Encephalitis der Kinder und die acute Poliomyelitis zu
rechnen, insofern sie mit Temperatursteigerung einzusetzen pflegen. Viel-
leicht kommt in milderer Form ähnliches bei den sogenannten rheuma-
tischen Lähmungen einzelner Nerven vor. Sicher beobachtet ist Fieber bei
der sogenannten multiplen Neuritis und der acuten aufsteigenden Spinal-
paralyse; hier und da auch bei der acuten diffusen Myelitis und bei der
sogenannten acuten (entzündlichen) Bulbärparalyse. Diesen Krankheiten ist
vielleicht die von Wer nicke beschriebene acute hämorrhagische Polience-
phalitis superior zur Seite zu stellen. Gelegentlich, wiewohl selten, kommt
Fieber bei der Malaria larvata vor und kann dann diagnostische Bedeutung
haben.
Eine Reihe von Läsionen des Nervensystems kann Temperatursteige-
rung bewirken, doch gewinnt diese nicht oft diagnostisches Interesse. Schon
lange bekannt ist, dass bei Verletzungen des Halsmarkes beträchtliche
Veränderungen der Eigenwärme (Steigerung bis 43,9 ", Erniedrigung bis
30,2") vorkommen. Von den Herderkrankungen des Gehirns steigern oder
erniedrigen am häufigsten die der Brücke und der Oblongata die Tempera-
tur. Im Allgemeinen soll bei Hirnblutungen, seltener bei Erweichungen,
die Temperatur nach dem Anfalle sinken, um beim Verschwinden der Insult-
symptome bis zur Norm oder etwas über sie zu steigen, bei üblem Aus-
gange weiter zu fallen oder aber hoch anzusteigen (Bourneville). Weiter
begleiten Schwankungen der Eigenwärme besonders die progressive Para-
lyse. Theils hat man auf häufige geringe abendliche Temperatursteigerungen
Gewicht gelegt, theils auf das Vorkommen theils super-, theils subnormaler
Temperaturen (bis 35°), die bald in Verbindung mit paralytischen Anfällen,
bald selbständig sich zeigen. Unmittelbar nach dem paralytischen Anfalle
zeigt sich eine Steigerung der Temperatur, während sie beim einzelnen
epileptischen Anfalle in der Regel fehlt. Von diagnostischem Werthe ist
die Beobachtung der Temperatur im Status epilepticus. Während gehäufter
epileptischer Anfälle pflegt die Temperatur hoch anzusteigen, die Reihen
grosser hysterischer Anfälle aber steigern die Temperatur nicht oder nur
ganz wenig. Aehnlich wie die epileptischen können auch die urämischen
und die tetanischen Anfälle die Temperatur steigern, beim Tetanus sind
die Maxima der Temperatursteigerung überhaupt (44,75°) beobachtet worden.
Bei Hysterischen sollen zuweilen unmotivirte excessive Temperatursteige-
rungen vorkommen (?). Kürzere und längere Störungen der Körperwärme
werden zuweilen bei Basedowischer Krankheit beobachtet. Bei Geistes-
kranken und Nervösen überhaupt scheint die Temperatur weniger stetig
zu sein als bei Gesunden, leichter durch äussere Einflüsse (besonders Ab-
230 Die Prüfung der vegetativen Functionen.
kühlung) verändert zu werden. Bemerkenswert!! ist, dass bei manchen
Nervenkrankheiten, bei Myxödem und besonders bei Melancholie, die Tem-
peratur dauernd etwas unter der Norm bleibt, ein Umstand, der u. U. zur
Unterscheidung von Simulation benutzt werden kann. Ob bei Nervösen
Fieber, das nicht durch complicirende Organkrankheiten zu erklären ist,
etwa nach gemttthlichen Aufregungen eintreten kann, steht noch dahin.
Dass durch Fieber Störungen der Hirnthätigkeit bewirkt werden, ist
bekannt. Sind diese Störungen sehr intensiv und fehlen andererseits cha-
rakteristische Zeichen der primären Krankheit, so kann es zweifelhaft er-
scheinen, ob nicht eine selbständige Hirnerkrankung, d. h. eine Meningitis
bestehe. Die Unterscheidung z. B. zwischen Typhus und Meningitis kann
vorübergehend unmöglich sein, denn die meisten Symptome der Meningitis
kann auch das Typhusgift, beziehungsweise die Temperatursteigerung ver-
ursachen. Für Meningitis können nur unzweifelhafte Herdsymptome : Stau-
ungspapille, andauernde Augenmuskellähmung u. s. w. entscheiden. Aehnlich
liegen die Verhältnisse bei anderen schweren Infectionskrankheiten (Pneu-
monie, Pyämie, Septämie, Miliartuberkulose u. s. w.).
Bei der Haut und ihren Anhängen, Nägeln und Haaren
ist besonders darauf zu achten, ob sich an ihnen Anomalien finden,
die erfahrungsgemäss mit nervösen Störungen in Verbindung stehen
oder stehen können, d. h. also locale Hyperämie oder Anämie, Ekchy-
mosen, Pigmentirung, Oedem, Hyperidrosis oder Anidrosis, Atrophie
oder Hypertrophie der Haut, besonders verdünnte glänzende Haut
(peau lisse, glossy skin), Herpes zoster, Urticaria oder Neigung zu
solcher, Ulcerationen , Gangrän, Verfärbung und Verkrüppelung der
Nägel, Verfärbung und sonstige abnorme Beschaffenheit (Sprödig-
keit u. s. w.) der Haare.
Ohne über den Zusammenhang zwischen Läsionen des Nervensystems
und Veränderungen der Haut etwas entscheiden zu wollen, kann mau
doch das zweifellos häufige Vorkommen letzterer bei bestimmten Nerven-
krankheiten diagnostisch verwerthen.
An gelähmten Theilen findet man bald nach Eintritt der Lähmung
oft Hyperämie und gesteigerte örtliche Temperatur, weiter-
hin gewöhnlich Blässe und Kühle. Bei der Complicirtheit der vaso-
motorischen Innervation ist es begreiflich, dass vielfache Verschiedenheiten,
die vielleicht zum Theil individueller Art sind, vorkommen. Wesentlich
ist, dass bei Gefässlähmung die Anpassung an äussere Veränderungen ge-
stört ist. Bei Abkühlung zeigt sich in der Regel starke Cyanose. Zur
Localisation der Lähmung lässt sich das vasomotorische Verhalten nicht
wohl benutzen, auch nicht mit Sicherheit zur Unterscheidung organischer
und functioneller Lähmung; wiewohl starke vasomotorische Störungen im
Allgemeinen für organische Läsion sprechen, kommt doch auch bei Hysterie
dunkel cyanotische Färbung in Verbindung mit Oedem (oedeme bleu) vor.
Auf Kopf und Hals (zuweilen auch den Arm) beschränkte vasomotorische
Störungen lassen eine Läsion der im Halssympathicus vereinigten Fasern
annehmen. Nur die weiteren Symptome und die Aetiologie können ent-
Haut. 231
scheiden, ob es sieh um eine Erkrankung des Syinpathicus seihst oder um
eine solche des Halsmarkes oder der Oblongata oder der peripherischen
Nervenenden, oder aber um refleetorisehe Symptome handelt
Unter Umständen, über die wir niehts Näheres wissen, verbindet sich
mit der Gefässlähmung Oedem. Es kommt sowohl bei centralen als bei
peripherischen Läsionen vor, es kann auch bei functionellen Störungen auf
treten. Selten aber erreicht das nervöse Oedem höhere Grade. Diagno-
stisch werthvoll kann das Leichte Oedem werden, das sich bei multipler
Neuritis oder Nervendogeneration besonder- auf Fuss- und Handrücken
zu zeigen pflegt, da es bei Poliomyelitis fehlt. Eine leicht mit Oedem zu
verwechselnde Erkrankung ist das Myxödem, bei dem die verdickte Haut
prall gespannt ist.
Was von der Lähmung der Gefässnerven gilt, gilt mutatis mutandis
auch von der der Schweissnerven.
Beachtenswerth ist die Neigung zu allgemeiner Hyperidrosis. die die
multiple Neuritis begleiten kann. Neigung zum Schwitzen begleitet die
Paralysis agitans, oft auch die Neurasthenie (schwitzende Hände und Fasse .
Fast immer ist bei Basedowischer Krankheit die Schweissabsonderung ge-
steigert, sei es, dass sichtbarer Schweiss abgesondert wird, sei es, dass
die Haut nur etwas durchfeuchtet ist. Infolgedessen ist der Widerstand der
Haut gegen galvanische Ströme bei der Basedowischen Krankheit abnorm
gering. Halbseitiges Schwitzen kommt mit anderen Sympathicus-Symptomen,
aber auch selbständig vor.
Auffallend trocken ist die Haut beim Myxödem und oft bei Melan-
cholie, seltener bei Tabes.
Subcutane Blutungen sind bei nervösen Störungen ziemlich selten.
Man sieht sie zuweilen bei Tabes an der Stelle des Schmerzes nach lanzi-
nirenden Schmerzen auftreten, doch können sie auch bei anderen Krank-
heiten sich zeigen. Hier und da hat man bei Hysterischen anscheinend
ursachlose Hautblutungen beobachtet, bei Epileptischen kommen sie im
Anschluss an einen Anfall vor und können ein werthvolles Zeichen sein
(besonders kleine Blutungen in der Bindehaut, stecknadelkopfgrosse Blu-
tungen der Gesichts- und der Brusthaut).
Die Neigung zu Erythemen oder zu Urticariabildung findet
sich meist neben allgemeiner Nervosität, nicht oder doch sehr selten bei
organischer Erkrankung. Insbesondere besteht die sogenannte Urticaria
factitia. bei der alle leichten mechanischen Reizungen der Haut mit Quaddel-
bildung beantwortet werden, fast immer mit allgemeiner nervöser Reizbar-
keit zusammen. Anfallweises Erythem der Hände und Füsse mit Schmerzen
und Schwellung wird als besondere Krankheit beobachtet: Erythromelalgie
UWeir-Mitchell). Erytheme kommen auch bei Morbus Basedowii vor.
Die gewöhnlich als trophische Störungen bezeichneten Verände-
rungen der Haut (besonders umschriebene Hypertrophie, Ichthyosis,
atrophische Glanzhaut [glossy skin], Vitiligo, Herpes, Pem-
phigus') scheinen, soweit sie mit Nervenläsionen zusammenhängen, nur
bei der Erkrankung peripherischer Nervenfasern vorzukommen. Man hat
bald die Spinalganglien, bald die gemischten Nerven, bald die kleinen
Hautnerven vorwiegend erkrankt gefunden. Ist beim Herpes zoster auch
der hintere Ast ergriffen, so kann man die Erkrankung des Ganglion ver-
232 Die Prüfung der vegetativen Functionen.
muthen. Bei centralen Läsionen sind die genannten Symptome bisher nicht
mit Sicherheit beobachtet worden. Wo sie etwa bei Hemiplegischen vor-
kommen, handelt es sich in der Eegel um neuritische Veränderungen, deren
Zusammenhang mit der centralen Läsion nicht bekannt ist. Oft sind sie
auf das Gebiet eines Xervenzweiges beschränkt, dann darf man vermuthen,
dass die Läsion in diesem selbst zu suchen sei. Ausser bei Erkrankungen
einzelner Xerven ("Verletzungen, Xeuritis), kommen sie bei den Erkran-
kungen vor, wo multiple peripherische Xervendegenerationen theils nach-
gewiesen, theils zu vermuthen sind: besonders bei Tabes, dann bei soge-
nannter multipler Xeuritis, bei toxischer Xeuritis, beim Diabetes. Vitiligo
und häufiger abnorm starke Pigmentirung der Haut gehören zu den Sym-
ptomen des Morbus Basedowii. Die hier vorkommende Bronzehaut kann
an Morbus Addisonii erinnern, doch scheinen die Schleimhäute frei zu
bleiben. Auch Arsenvergiftung kann ausser anderen Hautveränderungen
Braunfärbung bewirken.
Eine besondere Erwähnung verdient die halbseitige Gesichts-
atrophie, auf deren Beschreibung hier nicht eingegangen werden kann.
Bei ihr finden sich in der Regel keine anderweiten Zeichen von Xerven-
läsion, es ist daher nicht sicher, ob es sich überhaupt um eine solche
handelt.
Die gangränösen Processe (TJlcerationen, Decubitus,
mal perforant) sind wohl nur zum Theil direct mit der Läsion des
Xervensystems in Verbindung zu bringen, hängen zum Theil wohl von
äusseren Schädlichkeiten ab, die von den unempfindlichen oder unbeweg-
lichen Theilen nicht abgewehrt worden sind. Insbesondere der Decubitus
acutus, der bei spinalen Läsionen auf dem Kreuzbeine, bei cerebralen
auf der Hinterbacke der gelähmten Seite auftritt, scheint oft in dieser Weise
zu erklären zu sein. Je sorgfältiger die Pflege des Kranken ist, um so
seltener zeigt er sich. Das Mal perforant dagegen scheint in der Regel,
ähnlich wie der Herpes, eine Degeneration peripherischer Xerven voraus-
zusetzen. Es wird am häufigsten bei Tabes, beziehungsweise progressiver
Paralyse, und bei Diabetes gesehen. Eine eigenthümliche Stellung nimmt
die sogenannte spontane symmetrische Gangrän ein. Diese tritt
als mehr oder weniger oberflächliche Verschorfung an den Endgliedern,
meist zugleich mit Gefässkrampf bei Leuten, die an allgemeinen Xeurosen
leiden, in der Regel jüngeren nervösen Frauenzimmern, auf und wird viel-
fach als Wirkung des Gefässkrampfes angesehen. Sie weist jedenfalls nicht
auf schwere organische Läsion hin.
Zu den peripherische Xervenläsionen begleitenden Ernährungstörungen
gehören auch das Spröd- und Rissigwerden, die Verkrüppelung und das
Abfallen der Xägel, Erscheinungen, die am häufigsten an den grossen
Zehen beobachtet werden (z. B. bei Tabes). Ferner gehören hierher das
Brüchigwerden, die Verfärbung und das Ausfallen der Haare. Doch ist zu
bemerken, dass diese Veränderungen der Haare auch bei sog. functionellen
Störungen vorkommen : Ausfallen und Weisswerden bei Trigeminusneural-
gien und heftigen Kopfschmerzen, Weisswerden nach schweren Gemüths-
bewegungen, Struppigwerden bei psychischen Erkrankungen, in seltenen
Fällen anfallweise Struppigwerden und Verfärbung bei epileptoiden Zu-
ständen.
Knochen und Gelenke.
233
Bei den Knochen ist auf Reste von Fracturen, als Zeichen
abnormer Brüchigkeit, bei den Gelenken auf arthritisähnliche Ver-
änderungen zu prüfen. Auf Verunstaltung-, Ueberzahl, Caries, Locker-
heit, Ausgefallensein der Zähne ist zu achten.
Erkrankungen der Knochen und Gelenke, die mit Wahrscheinlichkeit
von Erkrankung des Nervensystems abhängen, sind bisher am häufigsten
bei Tabes (Charcot), beziehungsweise progressiver Paralyse, und bei
Gliosis spinalis, seltener bei
diffuser Myelitis und anderen
Affectionen beobachtet wor-
den. Entweder handelt es
sich bei Tabes um ab-
normeBrüchigkeit der
Knochen, so dass geringe
Anlässe eine Fractur her-
vorrufen, oder um Erkran-
kungen der Gelenke,
die mehr oder weniger cha-
rakteristisch verlaufen. Das
Gelenkleiden tritt gewöhn-
lich ohne nachweisbare Ur-
sache und plötzlich auf.
Seine Symptome sind ein be-
trächtlicher seröser Erguss
in das Gelenk und eine zäh-
teigige Anschwellung in der
Umgebung. Fieber und
Schmerzen pflegen zu fehlen.
Entweder verschwindet nach
einiger Zeit die Geschwulst
wieder und alles kehrt zur
Norm zurück (gutartige
Form), oder es bleiben
schwere Störungen im Ge-
lenke zurück, Krachen, Dis-
locationen in Folge von Usur
der Knochenoberflächen,
Luxationen (bösartigeForm).
Am häufigsten wird das Knie
befallen, dann die Schulter, weiterhin Ellenbogen, Hüft-, Fuss- und Hand-
gelenk, selten die kleinen Gelenke. Befällt die Erkrankung die Gelenke
der Fusswurzel, so entsteht eine eigenthümliche Verunstaltung des Fusses,
der „Tabesfuss", da die einzelnen Knochen nicht nur ihre Gestalt
verändern, sondern sich auch gegen einander verschieben. Anatomisch be-
merkenswerth ist, dass die Usur die Knochenwucherung überwiegt und
dass häufig wirkliche Luxationen vorkommen. Mikroskopisch findet man
eine von den Haversischen Kanälen ausgehende rareficirende Atrophie der
Knochensubstanz, chemisch Decalcinirung. Letztere zeigt sich zuerst in
Fig. 42.
Tabische Arthropathie, seit einem Jahre bestehend, das
rechte Kniegelenk durch starken Erguss ausgedehnt, das linke
Fussgelenk steinhart geschwollen, nur unter Krachen beweglich.
An der zweiten Zehe des linken Fusses bestand ein mal perforant.
234 Die Prüfung- der vegetativen Functionen.
der Umgebung- der Haversischen Kanäle und geht dem Schwunde voraus.
Diese eigenartige Alteration des Knochengewebes scheint sowohl Ursache
der Fracturen als der Arthropathien zu sein. Erkrankt die Diaphyse, so
kommt es zu jener, erkrankt die Epiphyse, zu dieser. Die angegebenen
Merkmale unterscheiden die tabische Arthropathie hinreichend von
den gewöhnlichen Formen der Arthritis deformans. Die Gelenkerkrankungen
bei Gliosis (Syringomyelie) betreffen gewöhnlich die Arme, können aber
den tabischen recht ähnlich sein. Häufiger als bei diesen hat man bei
ihnen Vereiterung der Gelenke beobachtet: die Misshandlung der ganz
analgetischen Theile führen zu Verletzungen und zum Eindringen der Eite-
rungerreger.
Chronische oder subacute, meist schmerzhafte, mit massiger Schwel-
lung verbundene Ge lenk affectio neu sieht man zuweilen an den ge-
lähmten Gliedern der Hemiplegischen. Es ist unbekannt, ob etwa
die Neuritis der Hemiplegischen in . solchen Fällen nächste Ursache ist,
ob die Zerrung der der Muskelunterstützung beraubten Gelenkbänder eine
Eolle spielt u. s. w. Periodisch auftretende Gelenkschwellungen durch
seröse Ergüsse, die 3 — 10 Tage bestehen, dann schwinden, nach 2 — 4 — 6
Wochen wiederkehren, gewöhnlich ohne wesentliche Schmerzen, Köthung
u. s. w. verlaufen, sind als anscheinend selbständiges Leiden (Hydrops genu
intermittens) und auch bei Morbus Basedowii beobachtet worden.
Die Arthritis deformans, besonders diejenige Form, die an
den Finger- und Handgelenken beginnt, beide Seiten annähernd symme-
trisch befällt und bei Weibern häufiger ist als bei Männern, ist oft mit
neuritischen Symptomen, man weiss nicht wie, verknüpft. Die letzteren
können der Gelenkerkrankung vorausgehen und erhalten oft erst durch
das Auftreten dieser ihre richtige Deutung. Sie bestehen gewöhnlich in
Nervenschmerzen, zuweilen in Vertaubung, Anästhesie, umschriebener Mus-
kelatrophie und zeigen sich am häufigsten im Gebiete der Nn. medianus
und ulnaris. Auch Contractur der Fascia palmaris kommt in diesem Zu-
sammenhange vor.
Sowohl bei centralen als bei peripherischen Lähmungen, sobald sie
vor vollendetem Wachsthume auftreten, kommt Zurückbleiben der
Knochen im Wachsthume vor. Diese Verjüngung der Knochen pflegt
um so stärker zu sein, in je früherem Lebensalter die Lähmung sich ent-
wickelte. Hier und da hat man auch übermässiges Knochenwachs-
thum an gelähmten Gliedern beobachtet.
Scheinbar spontanes und schmerzloses Ausfallen der Zähne,
zuweilen auch des Alveolarfortsatzes, ist bei Tabes beobachtet worden und
wird- auf Erkrankung des Trigeminus bezogen. Frühzeitige Caries, Ueber-
zahl und Verunstaltung der Zähne gehören zu den Zeichen neuropathischer
Belastung. . .
Am Respirations- und Circulationsapparate kommen
hauptsächlich Krampf- oder Lähmungserscheinungen in Betracht (vgl.
den II. Theil). Auf Anästhesie ist besonders beim Kehlkopfe zu achten,
.sie wird durch Berühren mit der Sonde während der Spiegelunter-
suchung nachgewiesen. Sonst weiss man von sensorischen Störungen
der in Rede stehenden Organe nicht viel. Als trophische Störungen
Respirations- und CirculatiousappaTat. 235
kann man, wenn man will, die nervösen Lungenblutungen bezeichnen,
die in seltenen Fällen bei Hysterie sich zeigen. Ihre Diagnose ist
nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf das Vorhandensein
anderweiter nervöser Symptome und das dauernde Fehlen von Zei-
chen organischer Limgenerkrankimg zu gründen.
Natürlich ist die Untersuchung der Athmungs- und Blutlauf-
organe auch insofern von Bedeutung, als sie die Ursachen verschie-
dener nervöser Störungen enthüllen kann. Bei manchen functionellen
Störungen (Krampfhusten, Asthma, Cephalaea, Trigeminusneuralgie.
vasomotorischen Störungen am Kopfe u. s. w.) ist die Untersuchung
der Nasenhöhle wichtig, da deren Erkrankungen (Polypen, Schwel-
lung der Schleimhaut der unteren Muskel u. s. w.) sog. reflectorische
Neurosen bewirken können. Der Zusammenhang lässt sich durch
den Erfolg therapeutischer Eingriffe nachweisen. Endocarditische
Veränderungen und Atherom der Arterien spielen bekanntlich eine
wichtige Bolle als Ursache von Herderkranklingen des Gehirns. Be-
merkenswerth ist, dass das Vorhandensein peripherischer Atheromatose
nicht ohne Weiteres auf Vorhandensein solcher an den Hirngefässen
schliessen lässt und umgekehrt normales Verhalten der peripherischen
Arterien Atherom der Hirnarterien nicht ausschliessen lässt.
Von krampfhaften Respirationstörungen sind besonders zu erwähnen,
die sogenannten Larynxkrisen, Anfälle, die bald denen des Keuch-
hustens gleichen, bald in Aphonie mit Husten und mehr oder weniger
starker Dyspnoe bestehen, bald hauptsächlich das Bild der Erstickung dar-
stellen und starke Cyanose, Athmungstillstand, Verlust des Bewusstseins,
epileptiforme Anfälle bewirken können. Der Anfall tritt entweder ganz
plötzlich ein, oder es gehen allerhand Empfindungen im Kehlkopfe, Brennen,
Kitzeln, Constrictionsgefühl u. s. w. voraus. Diese Larynxkrisen bilden ein
nicht sehr seltenes Symptom der Tabes, einer Krankheit, bei der auch
Stimmbandlähmungen häufig vorkommen. Sie können aber auch hysterischer
Natur sein. Imgleichen kommen Anfälle trockenen Hustens, ohne
nachweisbare Ursache, sowohl bei Tabes als bei Hysterie zur Beobachtung.
Auch beim M. Basedowii und bei Kröpfen überhaupt treten sie auf.
Asthma bronchiale ist da, wo es nicht von Emphysem oder von
Bronchitis abhängt, am häufigsten durch Veränderungen der ersten Wege
(Nasenpolypen u. s. w.) verursacht.
Verschiedene Formen dyspnoischer Athmung werden beobach-
tet, wenn die Oblongata direct oder indirect (Hirnaffectionen mit starken
Allgemeinerscheinungen) lädirt wird. Bei allgemeiner Hirnlähmung kommt
•es am ehesten zu vertiefter und verlangsamter, seufzender Athmung (ähn-
lich der toxischen Dyspnoe: Diabetes, Salicylvergiftung, Urämie u. s. w.),
in der Nähe des Todes zu raschem, oberflächlichem Athmen oder zu dem
Cheyne-Stockes'schen Phänomen. Anfälle von Lufthunger ohne eigentliche
Athmungstörungen kommen bei Bulbäraffectionen vor. Es kann sich um
diffuse Läsionen oder um systematische Degeneration des Vaguskerns im
236 Die Prüfung der vegetativen Functionen.
Verlaufe der progressiven Bulbärparalyse oder der Tabes handeln. Mög-
lieber Weise kann auch eine peripherische Läsion des Vagus (multiple
Neuritis, Tumorendruck u. s. w.) verschiedene Respirationstörungen hervor-
rufen. Alle denkbaren Formen abnormer Athmung werden bei Hysterie
beobachtet, besonders jagende (Hunde-) Athmung, allerhand Geräusche
beim Athmen, Keuchen, Stöhnen u. s. w. Das gute Allgemeinbefinden, die
bizarre Art der Störung selbst, die weiteren positiven und negativen Sym-
ptome machen in der Regel die Diagnose leicht.
Von den Störungen der Herzt hätigkeit ist diagnostisch am wich-
tigsten die Verlangsamung durch Vagusreizung. Als Ausdruck dieser
betrachtet man den laugsamen Puls bei beträchtlicher Steigerung des Hirn-
druckes ; besonders in acuten Fällen und bei Bewusstlosigkeit des Kranken,
z. B. bei Hirnblutung oder Schädeltrauma, wo die anderen Symptome in-
tracranieller Drucksteigerung im Stiche lassen können, giebt die Beob-
achtung des Pulses .werthvolle Fingerzeige, da der langsame Puls auf
Reizung des Vaguscentrum deutet, die der Verlangsamung folgende Be-
schleunigung des dann kleinen und weichen Pulses aber die Lähmung
dieses Centrum anzeigt und damit von übelster Bedeutung ist. Bei Menin-
gitis ist die Langsamkeit des Pulses trotz Fiebers ein wichtiges Symptom.
Bei Tumoren und Abscessen soll relativ früh eintretende Pulsverlangsamung
auf Sitz in der hinteren Schädelgrube deuten.
Fehlt bei fieberhafter Krankheit Beschleunigung des Pulses, so muss
dies den Gedanken an eine Hirnkrankheit erwecken. Auszuschliessen ist
natürlich eine andere Ursache der Pulsverlangsamung (Degeneration des
Herzens, urämische, ebolämische Intoxication u. s. w.).
Auch bei Läsion des Halsmarkes hat man abnorm geringe Pulsfrequenz
beobachtet und als Sympathicuslähmung gedeutet.
Beschleunigung des Pulses kann ausser durch fieberhafte Zu-
stände und Herzkrankheiten durch nervöse Einflüsse verursacht sein, es
handelt sich dann, abgesehen von den seltenen Fällen der Reizung der
sympathischen Herznervenfasern, um Läsionen, die den Vaguskern oder
den Nervus vagus treffen, oder um functionelle Störungen. An eine Läsion
des Vagus denkt man z. B. bei dem raschen Puls vieler Tabeskranken,
bei der beträchtlichen Pulsfrequenz, die zuweilen während der multiplen
Neuritis beobachtet wird, bei der Existenz anderweiter Symptome von
Vaguslähmung. Weitaus am häufigsten begleitet die Pulsbeschleunigung
allgemeine Neurosen, man kann aus ihr nur auf gesteigerte nervöse Erreg-
barkeit schliessen, sie findet sich besonders bei anämischen Zuständen, bei
Neurasthenie, bei sog. traumatischer Neurose, bei Paralysis agitans und
als eins des Hauptsymptome bei Morbus Basedowii. Auch Tachykardie
in Anfällen kann bei den genannten Zuständen, zuweilen mit lebhaften
Beschwerden, auftreten. Bei reizbarer Schwäche des Nervensystems ist
eins der constantesten Symptome Irritablität des Herzens derart,
dass zwar in der Ruhe die Pulszahl annähernd normal ist, bei den ge-
ringsten körperlichen oder psychischen Anstrengungen aber sofort beträcht-
lich vermehrt wird. Dies Zeichen kann iu U. gegen die Annahme von
Simulation verwerthet werden. Unregelmässigkeit und Aussetzen
des Pulses soll ein frühes Symptom bei der tuberkulösen Meningitis der
Kinder sein (Henoch). Sonst kommt Arrhythmie fast nur bei organischen
Verdauungsapparat, 237
Erkrankungen des Circulatiousapparates und bei gewissen Vergiftungen (be-
sonders Tabakvergiftung) vor.
Das Gefühl des Herzklopfens (Palpitatio) kann die Tachykardie
begleiten und wird wie diese nur dann als „nervös" zu bezeichnen sein,
wenn alle Zeichen organischer Läsion fehlen. Es kann auch bei ganz
normaler Herzthätigkeit vorhanden sein, es handelt sich dann um eine Art
Hyperästhesie. Meist tritt es anfallsweise auf.
Angina pectoris kann eine functionelle Nervenstörung sein. Wenn
aber nicht deutliche Zeichen von Hysterie oder dergl. daneben bestehen,
wird es, besonders bei etwas älteren Personen, schwierig sein, eine orga-
nische Herzläsion (besonders Atherom der Coronararterien) auszuschliessen.
Auch an Tabakvergiftung muss man denken.
Auch Störungen von Seiten des Verdauungsapparates
können Wirkung sowohl als Ursache nervöser Störungen sein. Von
Veränderungen im Nervensysteme abhängig sind zumeist die Krämpfe
und Lähmungen des Magendarmkanales. Anästhesie lässt sich nur
am Ein- und Ausgange des Kanales nachweisen. Secretorische Stö-
rungen (beim Speichelfiuss, bei den verschiedenen Formen des Er-
brechens und der Diarrhoe) sind ziemlich häufig. Zu den trophischen
Störungen kann man das seltene hysterische Blutbrechen zählen.
Die Diagnose hat im Allgemeinen die Abwesenheit der Symptome,
aus denen eine organische Läsion des Verdauungsrohres zu erschlies-
sen ist, einerseits, das Vorhandensein anderweiter nervöser Störungen
und ihren Zusammenhang mit der Functionstörung des Verdauungs-
apparates andererseits zu erweisen.
Locale Veränderungen können functionelle Neurosen befördern,
vielleicht hervorrufen. Bei vorhandener Disposition können Magen-
darmkatarrlie hypochondrische oder neurasthenische Symptome ver-
anlassen, in gleicher Sichtung sind oft Hämorrhoiden wirksam. Ein-
geweidewürmer sollen zuweilen die verschiedensten nervösen Sym-
ptome bewirken (krampfhafte Zufälle bei den Spulwürmern der
Kinder, Dj^spepsie, Migräne - .Anfälle u. s. w. bei Bandwurm), es ist
daher gut, bei räthselhaften Nervenstörungen an sie zu denken.
Bei organischen Nervenkrankheiten treten verhältnissmässig
selten Störungen des Verdauungs- Apparates in den Vordergrund. Von ge-
ringer diagnostischer Bedeutung sind die Störungen der Speichel-
secretion. Sie begleiten hie und da Facialislähmungen, bei Sympathicus-
läsion sind sie noch nicht beobachtet. Speichelfiuss (Ptyalismus) wird am
häufigsten als Symptom chronischer Bulbäraffectionen beobachtet, die ande-
ren bulbären Symptome klären dann über seine Bedeutung auf. Obsti-
pation ist bei Hirn- und Rückenmarkskrankheiten überaus häufig vor-
handen, doch lassen sich aus ihrem Dasein oder Fehlen besondere Schlüsse
nicht ziehen. Incontinentia alvi hängt theils von Bewusstseinstörung
ab, ist theils eine Wirkung der Läsion des unteren Lendenmarkes, be-
238 Die Prüfung der vegetativen Functionen.
ziehungsweise der von Her zum Rectum ziehenden Nerven. Schmerz-
hafte Empfindungen in der Aftergegend (Brennen, Gefühl des
Gepfähltwerdens) und eigentliche Schmerzanfälle mit Stuhldrang (Rectum-
krisen) werden bei Tabes beobachtet.
Von weit grösserer Bedeutung als die genannten Symptome sind das
cerebrale Erbrechen und die Magen-, beziehungsweise Darm-
krisen bei spinalen Affectionen.
Erbrechen kann reflectorisch entstehen, wenn die die Dura versorgen-
den Trigeminusfasern gereizt werden. So ist es aufzufassen, wenn es in
zweifelloser Abhängigkeit von Kopfschmerz steht: bei örtlicher Läsion der
Dura, bei manchen Hirntumoren, beim Einsetzen von Augenmuskellähmungen,
bei Migräne. Ist keine organische Läsion vorhanden, so stellt das Er-
brechen, beziehungsweise die Uebelkeit ein werthvolles Symptom dar, um
die Migräne von anderweiten Kopfschmerzen zu unterscheiden. Bei Stei-
gerung des intrakraniellen Druckes kommt neben dem mit Kopfschmerz
verbundenen auch selbständiges Erbrechen vor, und ist das Bewusstsein
getrübt, so dass keine Schmerzempfindung mehr angegeben wird, so kann
doch das Erbrechen noch fortdauern. Sodann begleitet Erbrechen oft die
Hirnerkrankungen, bei denen es zu einer mehr oder weniger directen Ein-
wirkung auf die Oblongata kommt. Daher sind Tumoren der hinteren
Schädelgrube, auch da, wo kein stärkerer Kopfschmerz besteht, durch häu-
figes Erbrechen ausgezeichnet. Tritt ein apoplektischer Insult mit Erbrechen
auf und ist das Bewusstsein soweit erhalten, dass die Abwesenheit stärke-
ren Kopfschmerzes nachgewiesen werden kann, so ist zunächst an eine
Blutung im Kleinhirn zu denken. Besteht Erbrechen neben Bewusstlosig-
keit, so ist nicht zu entscheiden, ob es sich um Reizung der Dura, be-
ziehungsweise allgemeine Drucksteigerung, oder um mehr umschriebene
Einwirkung auf die Oblongata handelt. Immerhin ist Erbrechen sehr selten
bei den mit Insult beginnenden Herdläsionen, wenn diese nicht in der
hinteren Schädelgrube ihren Sitz haben. Bei Erkrankungen der Oblon-
gata selbst (Erweichung, Compression, Sclerose) ist das Erbrechen ein
directes Herdsymptom. Das cerebrale, wie das nervöse Erbrechen über-
haupt, unterscheidet sich von dem durch Erkrankungen des Magens ver-
ursachten dadurch, dass es keine Beziehung zur Nahrungsaufnahme er-
kennen lässt. Ob es leicht oder schwer eintritt, hängt nur davon ab, ob
der Magen voll oder leer ist.
Die als crises gastriques bezeichneten Zufälle bestehen darin,
dass mehr oder weniger plötzlich heftigste Schmerzen in der Magengegend
eintreten. Zuweilen beginnt der Schmerz in der unteren Bauchgegend und
steigt dann gegen das Epigastrium auf, oder er zeigt sich zuerst zwischen
den Schulterblättern. Er hat neuralgischen Charakter und bringt durch
seine Stärke den Kranken zur Verzweiflung, so dass dieser zuweilen an-
haltend schreit, die bizarrsten Stellungen einuimmt, in Ohnmacht fällt. Mit
dem Schmerze tritt Erbrechen erst des Mageninhaltes, dann von Schleim
und Galle, schliesslich einer aus Schleim, Galle und Blut gemischten Flüssig-
keit ein. Es ist oft unstillbar und macht jede Nahrungsaufnahme oder
Medication per os unmöglich. Der Anfall dauert gewöhnlich einige Tage
und hört dann plötzlich, wie er begonnen, auf. Im Intervall, dessen Länge
die grössten Verschiedenheiten zeigt, bestehen keine Magenstörungen. Die
Verdaunngsapparat. 239
gastrischen Krisen sind weitaus am häufigsten als Symptom der Tabes
beobachtet worden, sie können unter den ersten Zeichen dieser Krankheit
auftreten. Auch kommen hier unvollständige Krisen vor, die nur in Er-
brechen, nicht in Schmerz bestehen. In seltenen Fällen treten die Anfälle
als Symptom anderer Rückenmarksaffectionen oder als selbständiges, schon
in der Jugend beginnendes, wahrscheinlich functionelles Leiden auf. Daher
kann aus ihrer Existenz allein die Tabes noch nicht mit Sicherheit er-
schlossen werden.
Auch Darmkrisen, Kolikanfälle mit zahlreichen flüssigen Entlee-
rungen, sind ebenso wie einfache hartnäckige Diarrhoe bei Tabes beob-
achtet worden. Mehr oder weniger lange und heftige Anfälle von Durch-
fall bilden ein wichtiges Symptom des M. Basedowii. Begreiflicher Weise
können auch Läsionen nur der peripherischen zu Magen und Darm ziehen-
den Nerven vorkommen, doch ist über solche nichts Sicheres bekannt.
Vielleicht gehört hierher die Bleikolik, deren Diagnose bei Berück-
sichtigung der Aetiologie, des Zahnfleischrandes, der hartnäckigen Obsti-
pation, der auffallenden Härte des langsamen Pulses, der Contractur der
Bauchmuskeln selten Schwierigkeiten macht.
Im Uebrigen handelt es sich meist um functionelle Störungen
und deren Unterscheidung von örtlichen Erkrankungen des Verdauungs-
apparates. Es kommen etwa in Betracht Speichelfluss, Schlingbeschwerden
(Oesophaguskrampf), AViederkäuen (Ruminatio, Merycismus), die peristal-
tische Unruhe des Magens und des Darms, Meteorismus, Aufstossen, abnorme
Säurebildung im Magen, Erbrechen, Magendruck und Hyperästhesie des
Magens, Appetitlosigkeit, Mangel des Sättigungsgefühls und Heisshunger,
neuralgische Magenschmerzen (Gastralgie, Cardialgie, Magenkrampf), Darm-
schmerzen (Colica nervosa), Durchfall oder geformte, aber abnorm reich-
liche Entleerungen, Verstopfung.
Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten zu besprechen. In diffe-
rentialdiagnostischer Beziehung ist ungefähr folgendes zu sagen.
Der Speichelfluss, der bei Idioten und blödsinnig Gewordenen
häufig ist, bei Schwachsinnigen oft durch Speichelansammlung in den Mund-
winkeln angedeutet ist, bei Verrückten mit Geschmackshallucinationen sich
durch fortwährendes Ausspucken zeigt, bei anderen Irren nicht selten mit
Masturbation in Beziehung stehen soll, bei Hysterischen anfallsweise auf-
treten kann, wird kaum diagnostische Schwierigkeiten machen. Der Oeso-
phaguskrampf kann eine Stenose vortäuschen, das Fehlen eines Hinder-
nisses bei vorsichtiger und geduldiger Sondirung, die Inconstanz des Phä-
nomens, seine Beziehung zu psychischen Veränderungen, die anderweiten
nervösen Symptome machen gewöhnlich die Unterscheidung leicht. Bei
gesteigertemNahrungsbedürfnisse muss man natürlich an Diabetes
denken, doch kommt dasselbe, besonders anfallsweise, auch als nervöses
Symptom vor. Fehlen des Nahrungsbedürfnisses oder Widerwille gegen
Nahrung (Anorexia nervosa) ist in der Regel hysterischer Natur.' Die
Anorexie ist zuweilen so hartnäckig, dass ernsthafte Störungen der Ernäh-
rung, starke Abmagerung und Schwäche die Folge sind und der Anschein
eines schweren organischen Leidens entsteht. Ein Ulcus ventriculi kann
in Frage kommen, wenn Erbrechen und Cardialgie bestehen, wenn nach
jeder Nahrungsaufnahme Schmerz eintritt. Die Wirksamkeit von psychi-
240 Die Prüfung' der vegetativen Functionen.
sehen Veränderungen, die Existenz anderer functioneller Nervenstörungen,
das dauernde Fehlen aller objeetiven Veränderungen sprechen auch hier
gegen die organische Läsion, doch kann u. U. eine sichere Entscheidung
nicht möglich sein. Seltener als Ulcus kommen bei Cardialgie Choleli-
thiasis oder Urolithiasis in Frage. Meteor ismus und Hyperästhesie der
Bauchhaut können an Peritonitis erinnern, doch kaum ernsthafte Zweifel
hervorrufen. Häufig schwankt die Diagnose zwischen Magenkatarrh
und Neurose. Bemerkenswerth ist, dass auch bei nervöser Dys-
pepsie die Zunge dick belegt sein kann. Charakteristisch sind gewöhnlich
die Aetiologie (Gemüthsbewegungen, intellectuelle Anstrengung) und der
Einnuss psychischer Momente. Die Beschwerden sind launenhaft, bald
schadet dies, bald jenes, oft werden gerade grobe Speisen gut vertragen
und sogenannte Diätfehler bleiben ohne üble Folgen. Die Verdauung der
eingeführten Nahrung geht trotz der Beschwerden normal vor sich. Fast
stets bestehen die Zeichen allgemeiner Nervosität. Die Behandlung des
Leidens als Magenkatarrh (durch Karlsbader Salz und dergl.) wirkt ver-
schlimmernd. Zuweilen finden sich in der Mittellinie des Bauches bei tiefem
Drucke Schmerzpunkte (Burkart). Endlich darf man nicht vergessen,
dass nervöse Dyspepsie viel häufiger ist als Magenkatarrh. So wenig wie
beim Magen handelt es sich in der Regel beim Darme um einen „Katarrh'',
wenn bei nervösen Individuen Obstipation, die oft mit flüssigen Ent-
leerungen wechselt, besteht. Auch der den Faeces beigemischte Schleim
beweist keinen Katarrh, da der Schleim eine Wirkung der Schleimhaut-
reizung durch den längeren Aufenthalt der Faeces sein kann. Die Be-
fürchtung eines unbekannten organischen Leidens kann wachgerufen werden,
wenn Kranke trotz guten Appetites, reichlicher Nahrungsaufnahme und
ohne alle subjeetiven Beschwerden mehr und mehr abmagern. Solche
Kranke haben anscheinend normale, aber übermässig reichliche Stuhlgänge
und es wird bei ihnen offenbar ein grosser Theil der Nahrungstoffe un-
resorbirt entleert. Diese Atrypsia nervosa kommt zuweilen bei Melan-
cholischen und bei Neurasthenischen vor.
Etwaige Veränderungen der Schilddrüse, der Milz, der
Lymphdrüsen sind zu ermitteln.
Die Function der Schilddrüse besteht wahrscheinlich darin, gewisse
schädliche Stoffwechselproducte zu beseitigen. Damit wird es begreiflich,
dass nach Erkrankung oder Entfernung der Schilddrüse (wenn nicht andere
Organe ihre Stelle ausfüllen können) Erscheinungen auftreten, die denen
eines langsam wirkenden Nervengiftes ähnlich sind und die als Wirkungen
jener nicht mehr durch das Schilddrüsengewebe unschädlich gemachten
Stoffwechselproducte (Leukomaine) aufgefasst werden können. Je nach der
Art der Schädigung, die die Thyreoidea trifft, muss sich das Bild ver-
schieden gestalten. Beizung oder Zerstörung der Drüsenelemente kann in
Frage kommen.
Nach Exstirpation der Schilddrüse hat man verschiedene nervöse Stö-
rungen, als Verfall der Ernährung, Circulationstürungen, psychische Schwäche,
gesehen (Kachexia strumipriva), so dass ein dem Cretinismus (endemischer
Idiotismus mit Degeneration der Thyreoidea) ähnliches Bild zu Stande kam.
Kleinheit oder anscheinendes Fehlen der Thyreoidea soll bei dem söge-
Harnapparat. 241
nannten Myxödem, dessen Hauptsymptom schleimige Entartung des Unter-
hautzellgewebes ist und dessen sonstige Erscheinungen im Wesentlichen
denen der Kachexia strumipriva gleichen, beobachtet worden sein. Die den
M. Basedowii begleitende Struma, die wahrscheinlich auf eine krankhafte
Thätigkeit der Schilddrüse als die nächste Ursache der übrigen Symptome
deutet, ist oft dadurch ausgezeichnet, dass sie reich an Blutgefässen ist und
dass die aufgelegte Hand ein Schwirren fühlt. Daneben klopfen die Caro-
tiden stark. Es scheint jedoch auch eine gewöhnliche Struma, ein Cysten-
kropf die Basedow-Symptome hervorrufen zu können.
Primäre Struma kann Ursache von Sympathicuslähmung werden, da-
gegen hat man bei primärer Sympathicuslähmung Veränderungen der Schild-
drüse noch nicht beobachtet.
Geringe Anschwellung der Milz wird bei einigen Nervenkrank-
heiten gefunden, deren infectiöse Natur auch aus anderen Gründen wahr-
scheinlich ist, so bei Meningitis, bei multipler Neuritis und acuter auf-
steigender Spinalparalyse. Ein stärkerer Milztumor kann u. U. auf die
Diagnose einer Malaria larvata leiten. Pulsirende Milzschwellung kommt bei
M. Basedowii vor.
Geschwollene Lymphdrüsen können als Zeichen der Syphilis wichtig
sein, sie können durch Druck u. s.w. örtliche Nervensymptome verursachen.
Die Bestimmimg der Menge und der B e s c h a f f e n li e i t des
Urins ist deshalb von Interesse, weil einmal diese bei Nerven-
krankheiten verändert sein können, zum andern sowohl Diabetes
als Nephritis einer Reihe nervöser Störungen zu Grunde liegen kann.
Oligurie undAnurie kommen zuweilen bei Hysterischen vor. Einige
Male hat man bei hysterischer Anurie vicariirendes Erbrechen beobachtet
und im Erbrochenen Harnstoff gefunden (Charcot). Geringe Quantitäten
eines concentrirten Harns entleeren zuweilen Geisteskranke, besonders
Melancholische. Ausnahmeweise kann auch bei Tabes und anderen Rücken-
markskrankheiten Oligurie vorkommen.
Polyurie ist häufig bei functionellen Neurosen, tritt oft vorüber-
gehend nach hysterischen und epileptischen Anfällen auf, kommt auch bei
M. Basedowii vor. Seltener sieht man sie bei organischen Läsionen, die
direct oder indirect die Oblongata in Mitleidenschaft ziehen. Polyurie in
Anfällen hat man einige Male auch bei Tabes gesehen. Polyurie mit
Glykosurie weist auf directe oder indirecte Läsion der Oblongata, kommt
bei beträchtlicher Steigerung des Hirndrucks und bei verschiedenen bul-
bären Affectionen vor. Diese symptomatische Polyurie lässt sich vom wirk-
lichen Diabetes mellitus meist durch das Bestehen anderweiter cerebraler
Herdsymptome leicht unterscheiden. Vorübergehende und geringe Glykos-
urie kann nach apoplektischen und epileptischen Anfällen auftreten. Sie
ist ferner bei Tabes beschrieben worden. Auch bei sog. functionellen
Störungen will man gelegentlich geringe Zuckermengen im Urin gefunden
haben (Morb. Basedowii, nach schweren Strapazen und Gemüthsbewegungen).
Unter ähnlichen Verhältnissen wie die Glykosurie, aber seltener begleitet
Albuminurie die Läsionen des Nervensystems, sie kommt besonders bei
infectiösen Krankheiten (Meningitis, Neuritis), bei bulbären Affectionen, nach
apoplektischen und epileptischen Anfällen hie und da vor.
Mob ins, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 16
242 Die Prüfung' der vegetativen Functionen.
Zunahme der Urate und besonders der Phosphate soll bei
vielen Nervenkrankheiten, besonders bei Neurosen vorkommen. Phosphat-
urie ist wiederholt als Symptom der Paralysis agitans bezeichnet worden.
Diagnostische Wichtigkeit haben bisher diese Dinge nicht.
Die gute Regel, in jedem nicht durchsichtigen Falle nervöser Stö-
rungen den Urin zu untersuchen, gründet sich hauptsächlich darauf, dass
der Diabetes mellitus die verschiedenartigsten Symptome von Seiten
des Nervensystems verursachen kann, die oft allein den Kranken zum
Arzte führen. An Diabetes hat man zu denken, wenn allgemeine Mattigkeit
und Muskelschwäche ohne nachweissbare Ursache auftreten, wenn hart-
näckige, besonders multiple Neuralgien, umschriebene Anästhesie, vereinzelte
Lähmungen (Augenmuskeln, Sympathicus u. s. w.), Fehlen des Kniephäno-
mens, Ernährungstörungen der Haut, besonders Mal perforant und andere
gangränöse Processe, kurz, wenn neuritische Symptome sich zeigen, wenn
Kranke comatös gefunden werden.
In ähnlicher Weise können bei Nephritis die urämischen Sym-
ptome an ein primäres Nervenleiden glauben lassen: Asthma, Kopfschmerz
und Erbrechen, Zuckungen, Angst, Sonmolenz, der urämische Krampf-
anfall und das Coma.
Eine überaus wichtige Solle spielen die Störungen der Blasen-
thätigkeit.
Bei Gehirnkrankheiten pflegt die Entleerung des Urins nur dann ab-
norm zu sein, wenn das Bewusstsein gestört ist. Plötzliche Urinent-
leerung (seltener Stuhlentleerung) kann den apoplektischen Insult, den
epileptischen und den paralytischen Anfall begleiten. U. U. kann die statt-
gefundene Durchnässung das einzige Zeichen eines nächtlichen epileptischen
Anfalls sein. Bei tiefem Coma kann es zu paralytischer Retention
und dann zu Harnträufeln kommen, da wie andere Reflexe die Function
des Detrusor gehemmt werden kann. Bei Stupor und Sonmolenz, bei höhe-
ren Graden der Demenz bleibt die reflectorische Thätigkeit erhalten, wird
aber nicht mehr vom Bewusstsein controlirt, die Kranken lassen den Urin
unter sich gehen , er wird mit grösseren oder kleineren Zwischenzeiten
ausgetrieben. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei Compression des Rücken-
marks oder der Oblongata und diffuser Myelitis. Je nachdem nur die
Motilität oder auch die Sensibilität gelitten hat und je nach der Intensität
der Störung kann die Blasenfunction in verschiedener Weise mangelhaft
sein. Nur bei acuter Compression, acuter Myelitis kommt es zu paralyti-
scher Retention. Später und bei chronischen Formen von vornherein kann
man den Zustand eher Incoordination der Blase nennen, bald müssen die
Kranken lange drücken, bald läuft der Urin vorzeitig ab, bald fühlen sie
nicht, ob die Blase entleert ist, und hören zu früh auf u. s. w. Ist die
Verbindung mit der Hirnrinde vollständig aufgehoben, so findet von Zeit
zu Zeit eine unbewusste Entleerung statt. Sind die Centra der Blase im
unteren Lendenmarke oder die von ihnen zur Blase führenden Nerven lädirt,
so können auch hier, wenn die Innervation nicht ganz aufgehoben ist, sehr
verschiedene Combinationen vorkommen, wie die Beobachtung der Tabes-
krauken beweist. Ist die Innervation aber ganz aufgehoben (Zerstörung des
Lendenmarkes oder der Cauda equina), so muss gänzliche Blase nläh-
Harnapparat. 243
mung eintreten, der Urin tropfenweise, wie er abgesondert wird, aus der
leeren Blase fliessen. Diagnostisch hat die Form der Blasenstörung weit
Aveniger Werth als ihre Existenz überhaupt. Dieser Werth beruht beson-
ders darauf, dass die Blasenstörung sehr früh einzutreten pflegt und die
Incontinenz wenigstens fast ausschliesslich organische Läsionen begleitet.
Bei Compression des Rückenmarkes z. B. kann, schon ehe deutliche
Lähmungserscheinungen vorhanden sind, mangelhafte Blasenthätigkeit auf
die ernste Bedeutung der »Schwäche der Beine und der Steigerung der Sehnen-
reflexe aufmerksam machen. Schwankt die Diagnose zwischen organischer
und functioneller Paraplegie, so wird die vielleicht nur angedeutete Inconti-
nenz entschieden für jene sprechen. Das Fehlen von Blasenstörungen ist zur
Diagnose erforderlich bei Erkrankungen der Pyramidenbahn allein, bei Polio-
myelitis. Erfahrungsgemäss fehlen die Blasenstörungen fast stets bei den
verschiedenen Formen der multiplen Neuritis oder Neryendegeneration und
diese unterscheiden sich dadurch von der Tabes, bei der sie fast ausnahmelos
vorhanden sind. Die gewöhnlichsten Erscheinungen bei letzterer Krank-
heit sind vorübergehende Retention, Nachtröpfeln und leichte Incon-
tinenz derart, dass gelegentlich, beim Husten, Lachen, beim Aufstehen
oder sonstwie einige Kaffeelöffel Urin unwillkürlich abfliessen. Diese
Störungen können als erste und oft lange Zeit fast einzige Beschwerde
der Kranken sieh zeigen, so dass, wo sie vorhanden sind, der Gedanke
an Tabes sofort aufsteigt. Später zeigen sich die genannten Symptome
in schwererer Form, kommen Hyperästhesie und Anästhesie der Blase
und der Urethra, Harnzwang, Fehlen des Bedürfnisses zu uriniren und
des Gefühls beim Uriniren zur Beobachtung. Nicht selten sind aller-
hand Parästhesien, Druck und Spannung in der Blasengegend, schmerz-
haftes Ziehen und Brennen beim Harnen u. s. w. Frühzeitig können Anfälle
von Schmerzen in der Nierengegend (Nierenkrisen) oder in der Blasen-
gegend (Blasenkrisen) auftreten. Letztere sind zuweilen mit furchtbar
quälendem Harnzwange und Entleerung geringer Blutmengen verbunden.
Die Sondenuntersuchung ergiebt dann die Abwesenheit eines Blasensteines.
Aehnliche Erscheinungen wie bei der Tabes können im Verlaufe der mul-
tiplen Sklerose auftreten. Bei Hysterie beobachtet man zwar zuweilen
spastische Retention, Harnzwang, Anästhesie und allerhand Sensa-
tionen, in sehr seltenen Fällen auch Blasenblutungen, doch werden sich
diagnostische Schwierigkeiten kaum ergeben. Als functionelle Störung ist
endlich die bei nervösen Kindern und jugendlichen Personen häufige En-
uresis nocturna zu erwähnen, die oft durch örtliche Reizzustände
(Verklebung des Präputium u. s. w.) veranlasst wird. Sie kann verwechselt
werden mit dem unbewussten Harnen bei nächtlicher Epilepsie. Im Noth-
falle entscheidet die directe Beobachtung des schlafenden Kindes.
Vermehrter Harndrang kommt bei Hysterie und Neurasthenie vor,
soll auch bei Erkrankung der Hirnschenkel und anderen, basalen Läsionen
nicht selten sein.
Organische Erkrankungen der Harnorgane sollen Ursache nervöser
Störungen, insbesondere paraplegischer Symptome werden können (Para-
plegia urinaria). Ob organische Läsionen des Nervensystems auf diesem
Wege zu Stande kommen können (Myelitis durch Neuritis adscendens),
ist sehr zweifelhaft. Meist handelt es sich wohl um hysterische Lähmung.
16*
244 Die Prüfung der vegetativen Functionen.
Bei den männlichen Genitalien ist, ausser auf die aus der
Anamnese sich ergebenden Functionstörungen, besonders auf Bildungs-
anomalien, krankhafte Ausflüsse und Sensibilitätstörungen zu achten.
Abnorme Bildung der Genitalien ist vielfach als Degeneration-
zeichen aufzufassen. Auf die Genitalien und ihre Umgebung mehr oder
weniger beschränkte Anästhesie kommt bei Tabes und selten beiHyste-
ria virilis, beziehungsweise traumatischer Neurose vor. Anfälle heftiger,
der Urethra folgender Schmerzen (Urethralkrisen) scheinen bisher vor-
wiegend bei Tabes beobachtet worden zu sein, doch können neuralgische
Symptome von Seiten der verschiedenen Zweige des N. pudendo-haemorrhoid.
auch selbständig vorkommen. Selbstverständlich ist bei ihrem Vorhanden-
sein das Fehlen örtlicher Organerkrankuugen, die gleiche Symptome her-
vorrufen könnten, durch die nach den Regeln der Kunst geschehende
Untersuchung nachzuweisen. Einen der Ovarie ähnlichen Schmerz soll
man zuweilen durch Druck auf den Hoden bei Hysteria virilis bewirken
können. Unempfindlichkeit der Hoden gegen Druck ist ein häufiges
Tabessymptom.
Steigerung, Verminderung, Aufhebung des Geschlechts-
triebes, Unvollständigkeit oder Mangel der Erectionen,
Priapismus, Pollutionen, Spermatorrhoe kommen in den mannig-
fachsten Combinationen weitaus am häufigsten als Symptome functioneller
Neurosen vor (nach sexuellen Excessen, bei Neurasthenischen, bei Irren),
können aber auch von organischen Läsionen abhängen. Sie gehören zu
den häufigsten und frühesten Symptomen der Tabes und können dazu
dienen, diese von der multiplen Neuritis, bei der sie wohl immer fehlen,
zu unterscheiden. Sie werden andererseits auch bei diffusen Läsionen des
Rückenmarkes gefunden, sofern diese entweder die Centra der Genitalien
im unteren Lendenmarke direct treffen, oder deren Verbindungsbahnen
mit dem Gehirn, die man ebenso wie die der Blasencentra in den Hinter-
strängen vermuthet, über deren Verlauf man aber durchaus nichts Sicheres
weiss, unterbrechen. Sie können endlich verschiedene constitutionelle Krank-
heiten, z. B. Diabetes, Leukämie, begleiten. Ihre Bedeutung ist demnach
nur aus den anderweiten Symptomen zu erschliessen. Finden sich sonst
keinerlei Zeichen einer organischen Läsion, so wird man mit ziemlich
grosser Sicherheit die etwaigen Störungen der Geschlechtsthätigkeit als
functionelle betrachten können. Wenigstens wird man aus diesen allein nie
eine organische Läsion diagnosticiren dürfen. Von den bisher genannten
Störungen kann die Spermatorrhoe auch nichtnervöser Natur sein, in Folge
gonorrhoischer Processe u. s. w. auftreten. Fast ausnahmelos ist das Letztere
der Fall bei der Prostatorrhoe, dem Aspermatismus und der Azoospermie.
Die Untersuchung der Genitalien ist auch insofern von Bedeutung,
als ihre Veränderungen bei neuropathischen Individuen (am häufigsten bei
Kindern) sog. reflectorische Neurosen (Enuresis, Pollutionen, allgemeine
Nervosität, in seltenen Fällen Lähmungen, Zuckungen der Beine u. s. w.)
bewirken können: Phimosis, Verengerung der Harnröhrenmündung, Ver-
klebung des Präputium, vielleicht auch Gonorrhoe.
Das über die männlichen Genitalien Bemerkte gilt mutatis mu-
tandis auch von den weiblichen. Doch sei die Bemerkung ge-
Geschlechtsorgane. Degenerationszeichen. 245
stattet, dass bei Psychosen und Neurosen die Untersuchung nur auf
Grund bestimmter Indication vorgenommen werden soll, zu diagno-
stischen Zwecken nur dann, wenn ohne sie eine sichere Diagnose
nicht möglich ist, Hier ist die einzige Stelle, wo eine zu gründliche
Untersuchung vom Uebel sein kann.
Störungen in der Function der weiblichen Geschlechtsorgane, die
von Veränderungen im Nervensystem abhängig wären, sind nicht häufig,
mit Ausnahme der Menstruationstörungen. Diese zeigen sich in
verschiedener Form (zu reichliche, zu spärliche, zu häufige, zu seltene,
schmerzhafte Menstruation, Amenorrhoe) bei organischen sowohl als functio-
nellen Nervenkrankheiten und sind in diagnostischer Hinsicht kaum zu
verwerthen. Ausserdem findet man zuweilen Hyperästhesie oder An-
ästhesie der äusseren Genitalien bei spinalen Läsionen (Tabes) sowohl
als bei Hysterie. Bemerkenswerth sind die bei Tabes beobachteten anfalls-
weise auftretenden Wollustempfindungen mit vulvovaginaler Secretion (so-
genannte Clitoriskrisen).
Besondere Erwähnung verdieut noch die sogenannte Ovarie oder
Ovarialhyperästhesie, ein für die Diagnose der Hysterie sehr wichtiges
und fast pathognostisches Symptom. Man findet nämlich bei der Mehrzahl
der Hysterischen einen Schmerzpunkt, wenn man in einer Linie, die beide
Spinae il. sup. verbindet, da wo diese von der seitlichen Grenzlinie des
Epigastrium geschnitten wird, einen Druck ausübt. Die Haut an dieser
Stelle kann hyperästhetisch, normal empfindlich oder anästhetisch sein,
dringt man aber mit den Fingern in die Tiefe, so erregt man einen cha-
rakteristischen Schmerz, der nach dem Epigastrium zu ausstrahlt, von
Uebelkeit und Erbrechen begleitet sein kann. Wird der Druck fortgesetzt,
so kann u. U. ein hysterischer Anfall eintreten und dieser wiederum kann
durch energischen Druck auf die beschriebene Stelle unterbrochen werden.
Die Ovarie findet sich häufiger links als rechts. Ob es sich bei ihr wirk-
lich immer um das Ovarium handelt, steht dahin.
Die Bedeutung der Erkrankungen der weiblichen Genitalien als Ur-
sache von Neurosen ist vielfach übertrieben worden. Zweifellos richtig
ist, dass bei disponirten Weibern allerhand functionelle Störungen des
Nervensystems durch Lageveränderungen des Uterus oder durch Entartung
des Eierstockes u. s. w. bewirkt werden können, dass besonders schmerzhafte
Genitalerkrankungen indirect, nämlich durch die GemüthsbeAvegung und durch
andauernde und heftige Schmerzen, nervöse oder hysterische Symptome hervor-
rufen können, aber in der Mehrzahl der Fälle wird auch da, wo Genitalerkran-
kungen bestehen, zwischen ihnen und den nervösen Störungen kein Zusammen-
hang zu finden sein. Immerhin hat man die Möglichkeit eines solchen ins
Auge zu fassen, wenn eine sonstige Krankheitsursache nicht ersichtlich ist.
Schliesslich sei ein kurzer Ueberblick gegeben über die soge-
nannten Degenerationzeichen d. h. diejenigen Anomalien der
Körperform, aus denen man auf eine angeborene Mangelhaftigkeit
der Organisation, besonders des Nervensj^stems, zu schliessen pflegt.
246
Diagnose e juvantibus et noceutibus.
Fig. 43.
Neuropathisches Ohr (Fehlen des Helix).
Abnorme Schädelform (Mikro-, Makrocephalus , Asymmetrie
des Schädels u. s. w.).
Asymmetrie des Gesichts, Zurückweichen des Kinnes, Progna-
thie, abnorm starke Entwicklung des Unter kieferwinkels, eingedrückte
Nasenwurzel.
Missbildung der Ohren (abnorme
Grösse, Fehlen des Ohrläppchens, des
Helix u. s. w.).
Bildungsfehler der Augen (Colo-
bom , Pigmentmangel , Strabismus,
Schiefstand der Lidspalte u. s. w.).
Fehler der Mundhöhle (Hasen-
scharte, Wolfsrachen, abnorm ge-
wölbter Gaumen, zu grosse Zunge,
Deformitäten, Schiefstand, Ueberzahl
der Zähne).
Abnormitäten der G 1 i e d e r (Zwerg-
wuchs, Riesenwuchs, Verkrümmung
der Wirbelsäule, Klumpfuss, Ueber-
zahl oder Verwachsung von Fingern
und Zehen).
Geschlechtsorgane (Hypo- oder
Epispadie, Phimosis, Anomalien der Testes, hermaphroditische Bil-
dung, Fehlen des Uterus u. s. w.).
Anomalien der Haut (abnorme Pigmentirung oder Behaarung,
Naevusbüdung). Und anderes mehr.
VIII. Die Diagnose e juvantibus et nocentibus
ist einer allgemeinen Besprechung nicht zugänglich. Nur mit
einigen Worten sei die diagnostische Verwendung der Medi-
camente erwähnt, die bis jetzt eine geringe Bolle spielt, in Zukunft
vielleicht eine grössere spielen wird. Die Reaction auf Medicamente
unterstützt zuweilen die Diagnose. Z. B. prüft man mit Quecksilber und
Jod auf Syphilis, sucht durch die Anwendung des Bromkalium die
epileptischen Anfälle, die das Mittel unterdrückt, von den hyste-
rischen, die es nicht beeinflusst, zu unterscheiden. Bei Kopfschmerzen
zweifelhafter Art spricht die therapeutische Wirksamkeit von Natr.
salicyl. für idiopathische Migräne. Bei der Frage, besteht Malaria
oder nicht, trägt der eclatante Erfolg von Chinin oder Arsen zur
positiven Entscheidung bei. Ebenso lässt sich Arsen verwenden, wenn
die Diagnose Chorea zweifelhaft ist.
Bildungshemmungen
der
ZWEITER THEIL.
ERSTES HAUPTSTUCK.
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störungen.1)
a. Die Muskeln des Auges.-)
a. Die äusseren Augenmuskeln.
Der M. levator palpebrae super. (X. ociüoniotorius) hebt
das obere Lid und hält das Auge offen. Es ist möglich, ihn will-
kürlich zu erschlaffen, da Kranke mit completer Lähmung des M.
orbicul. palpebr. das obere Lid willkürlich etwas senken können.
Lähmung des Levator palp. sup. bewirkt Herabsinken des oberen
Lides (Ptosis). Bei dem Versuche, das Lid zu heben, contrahirt sich
dann der M. frontalis, so dass es in der Eegel den Kranken noch ge-
lingt, mit der Augenbraue das Lid um einige Millimeter zu heben.
Drückt man mit dem Finger die Augenbraue herab, so bleibt bei
completer Lähmung des Lev. palp. sup. jede Hebung des oberen Lides,
das faltenlos herabhängt, aus. Je älter das Individuuni ist. um so
tiefer hängt bei Lähmung des Lev. palp. sup. das obere Lid herab.
Es kommt auch eine hysterische Ptosis vor. Bei ihr steht nicht, wie
bei der organischen, die Augenbraue höher als auf der gesunden Seite,
sondern tiefer.
Tonischer Krampf des Levator wird als Lagophthalmus spa-
sticus bezeichnet. Bei Lähmung einzelner Drehmuskeln scheint der
Lev. palp. sup. auf der kranken Seite zuweilen stärker contrahirt zu
sein als auf der gesunden, wohl ein Ausdruck der Anstrengung, die
die Kranken beim Sehen anwenden.
Die glatten Muskeln der Augenlider (N. sympathicus)
helfen das Auge offen halten und legen wahrscheinlich die Lider an
1) Diese Lehre ist für die Mehrzahl der Muskeln am erfolgreichsten von
Duchenne bearbeitet worden. In den nicht veraltenden Werken dieses grossen
Neuropathologen findet der Leser weiteren Aufschluss {Physiologie des Mouve-
ments. Paris 1S6T. und Electrisation loealisee. Paris 1872).
2) Alles Nähere s. in den Specialschriften.
250 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
den Bulbus an. Ihre Lähmung bewirkt Verengerung der Lidspalte,
ohne Störung der willkürlichen Beweglichkeit.
Folgt beim Blicke nach unten das obere Lid dem Augapfel nicht in
normaler Art, sondern nur ruckweise, oder bleibt es zurück, so spricht man
von dem Graefe 'sehen Symptome (eigentlich sc. desMorb. Basedowü).
Doch kommt dieses Zeichen auch ausserhalb der Basedowischen Krankheit
vor. Es beruht wahrscheinlich auf einer übermässig starken Spannung der
das Auge öffnenden Muskelfasern.
Ob der Müller'sche M. orbitalis (N. sympath.) den Bulbus nach
vorn drängt und ob das Zurückweichen des letzteren bei Sympathi-
cuslähmung auf seine Unthätigkeit zu beziehen ist, weiss man nicht.
Der M. rectus sup. (N. oculomot.) dreht den Bulbus nach oben
innen, der M. obliquus in f. (N. oculomot.) nach oben aussen, der
M. rectus int. (N. oculomot.) direct nach innen, der M. rectus ext.
(N. abducens) direct nach aussen, der M. rectus in f. (N. oculomot.)
nach unten innen, der M. obliquus sup. (N. trochlearis) nach unten
aussen. Von den sechs Drehmuskeln sind demnach drei Einwärts-
wender (Mm. rectus sup., rectus int. und rectus inf.), drei Auswärts-
wender (Mm. obliquus inf., rectus ext., obliquus sup.). Die Bewegun-
gen nach rechts und links werden nur durch die Contraction des
Eectus int. oder externus ausgeführt, die Bewegung direct nach oben
durch gleichzeitige Contraction des Eect. sup. und Obliqu. inf., direct
nach unten durch Obliqu. sup. und Eect. inferior.
Bei Bewegungen beider Augen nach der Seite contrahiren sich
je ein Eect. ext. und int. gleichzeitig, bei Convergenz beide Eecti interni.
Bei Lähmung aller Drehmuskeln steht der Bulbus unbe-
weglich geradeaus gerichtet und ist etwas vorgetrieben, da die rück-
wärts ziehende Wirkung der Drehmuskeln wegfällt.
Sind auf beiden Augen synergisch wirkende Muskeln gelähmt,
so ist nur eine bestimmte Blickrichtung unmöglich: conjugirte
(oder a s s o c i i r t e) A u g e n m u s k e 1 1 ä h m u n g. Formen dieser sind :
1. Ausfall der Blickrichtung nach rechts oder links. Dabei pflegt der
betheiligte M. rectus ext. complet gelähmt zu sein, während der be-
theiligte Eectus int. bei Convergenz normal thätig ist. Ist der De-
fect doppelseitig, so können die Augen weder nach rechts noch nach
links gewendet werden, während die Beweglichkeit nach oben
und unten erhalten ist. Dabei ist die Convergenz möglich. 2. Aus-
fall der Blickrichtung nach oben oder unten , oder nach oben und
unten. Dabei kann der Lev. palp. sup. betheiligt sein. 3. Ausfall der
Convergenz, bei Seitwärtsbewegungen wirken die Eecti int. normal.
Wenn, trotz iutacter Function der Recti int. beim Seitwärtsblicken dann,
wenn ein nahegelegener Gegenstand fixirt werden soll, nur ein Auge nach
Muskeln des Auges. Aeussere Augenmuskeln. 251
innen gedreht wird, das andere aber entsprechend nach aussen abgelenkt
wird, kann man von Insufficienz der Convergenz sprechen. Diese ist Aus-
druck einer relativen Schwäche der Eecti int., sie kommt (abgesehen von
Myopie) besonders bei M. Basedowii und bei allgemeiner Schwäche der
Augenmuskeln (Neurasthenie, destruetive Processe in der Nähe der Augen-
muskelkerne, besonders progr. Bulbärparalyse) vor. Im letzteren Falle scheint
die Convergenz als die mühsamste Augenbewegung am ehesten zu leiden.
Sind an beiden Augen nicht synergisch wirkende Muskeln, oder
sind nur Muskeln an einem Auge gelähmt, so entstehen die entspre-
chenden Beweglichkeitsdefecte und Doppeltsehen (Strabis-
mus paralyticus).
Bei Lähmung eines Kectus ext. kann das betroffene Auge
nicht nach aussen gedreht werden, bei Parese erreicht die Cornea den
äusseren Augenwinkel nicht, oder nur unter zuckenden, nystagmus-
artigen Bewegungen. Der Bulbus wird in der Ruhe durch den über-
wiegenden Eect. int. nach innen abgelenkt. Doppeltsehen besteht in
der äusseren Hälfte des Blickfeldes, die nicht gekreuzten, neben ein-
ander stehenden Doppelbilder weichen beim Blick nach der Seite des
gelähmten Muskels auseinander.
Bei Lähmung eines Kectus int. kann das betroffene Auge
nicht nach innen gedreht werden, oder doch den inneren Augenwinkel
nicht oder nur zuckend erreichen. In der Kühe wird es nach aussen
abgelenkt. In der inneren Hälfte des Blickfeldes Doppeltsehen. Die
gekreuzten, neben einander stehenden Doppelbilder weichen beim
Blick nach der gesunden Seite hin auseinander.
Bei Lähmung eines Kectus sup. kann das Auge nicht nach
oben gedreht werden, es wird nach unten und etwas nach aussen
abgelenkt. In der oberen Hälfte des Blickfeldes wird doppelt gesehen,
die übereinanderstehenden , leicht gekreuzten Doppelbilder weichen
beim Blick nach oben auseinander.
Bei Lähmung eines Obliquus in f. ist der absolute Beweg-
lichkeitsdefect schwer zu erkennen, die Beweglichkeit nach oben ist
etwas beschränkt, das Auge wird etwas nach unten innen abgelenkt.
Doppelbilder in der oberen Hälfte des Blickfeldes; diese sind nicht
gekreuzt und stehen schief übereinander.
Bei Lähmung eines Kectus in f. ist die Beweglichkeit nach
unten beschränkt, das Auge wird nach oben und etwas nach aussen
abgelenkt, Doppeltsehen in der unteren Hälfte des Blickfeldes; ziem-
lich starkes Schwindelgefühl. Die gekreuzten Doppelbilder stehen
schief übereinander.
Bei Lähmung eines Obliquus sup. ist die Beweglichkeit
nach unten beschränkt, das Auge wird nach oben und etwas nach
252 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
innen abgelenkt. Doppelbilder in der unteren Hälfte des Blickfeldes,
nach innen zu sich etwas über die Horizontale erhebend, nach aussen
zu sich unter sie senkend, ziemlich starkes Schwindelgefühl. Die
nicht gekreuzten Doppelbilder stehen übereinander. Sie weichen aus-
einander, wenn das Object nach der Seite des gesunden Auges be-
wegt wird.
Sind alle Drehmuskeln mit Ausnahme des Obliqu. sup. und Rectus
ext. gelähmt, so ist das Auge nach aussen unten gerichtet, wird bei
Bewegungsversuchen noch weiter nach dieser Richtung gedreht. Beim
Blick nach unten tritt eine Drehung um die sagittale Axe (Rad-
drehung) ein, so dass das obere Ende des verticalen Meridians nasal-
wärts bewegt wird. Die Bewegung nach innen oder nach oben ist
ganz unmöglich, der Blick nach aussen ist frei. Fast im ganzen
Blickfelde bestehen Doppelbilder, das Schwindelgefühl ist sehr stark.
Der Beweglichkeitsdefect pflegt bei Vergieichung mit dem ge-
sunden Auge ohne Weiteres deutlich zu sein. Wo dies nicht der
Fall ist und bei allen Defecten in der Beweglichkeit nach oben und
unten, ist auf Doppelbilder zu untersuchen. Dies geschieht, indem
man den Kranken auffordert, dem etwa in 1 M. Entfernung gehal-
tenen Finger des Untersuchers mit den Augen nach den verschie-
denen Richtungen zu folgen und anzugeben, wann Doppelbilder auf-
treten und wie die Bilder sich gegen einander verhalten. Genauer
wird die Untersuchung, wenn man Ein Auge mit einem gefärbten,
etwa rothen, Glase bedeckt und die Augen den Bewegungen eines
brennenden Lichtes folgen lässt.
Die wichtigste Regel ist, dass Lähmung eines Einwärtswenders
gekreuzte, Lähmung eines Auswärtswenders nicht gekreuzte (gleich-
namige) Doppelbilder bewirkt. Immerhin sind zu dieser Prüfung guter
Wille und eine gewisse Intelligenz des Kranken nötliig. Bei älteren
Augenmuskellähmungen pflegt Contractur des Antagonisten einge-
treten zu sein. Die Doppelbilder zeigen sich dann in grösseren Ab-
schnitten, möglicherweise im ganzen Blickfelde, oder aber das Doppelt-
sehen hört auf, da nur das Bild des einen Auges beachtet wird.
Man kann zur Diagnose auch die sogenannte s ecun dar e Ab-
lenkung des gesunden Auges benutzen. Wird letzteres ver-
deckt und mit dem kranken Auge in der Zugrichtung des gelähmten
Muskels gesehen, so contrahirt sich der associirte Muskfd des ge-
sunden Auges übermässig stark. Bei Lähmung des rechten Rect.
externus z. B. geht, beim Versuche nach rechts zu sehen, das linke
Auge zu weit nach innen. Der Grad der secundären Ablenkung ist
ein Maass für die Parese des associirten Muskels.
Muskeln des Auges. Innere Augenmuskeln. 253
Der Schwindel, der besonders bei Lähmung der nach unten
drehenden Muskeln während des Gehens. Arbeitens u. s. w. störend
wird, erklärt sich ans der fälschen Projection des Gesichtsfeldes.
die abhängt von dem Maasse der Muskelanstrengung. Er wird ge-
steigert durch die verwirrende Wirkung des Doppeltsehens. Diesen
Beschwerden suchen die Patienten zu entgehen, entweder dadurch,
dass sie das kranke Auge schliessen. oder dadurch, dass sie eine
eigentümliche Kopfhaltung annehmen, um denjenigen Theil
des Blickfeldes, in dem keine Doppelbilder auftreten, für die ge-
wöhnlichen Beschäftigungen zu benutzen.
Tonische Krämpfe einzelner Augenmuskeln bezeichnet man
als Strabismus spasticus.
Die klonischen Krämpfe stellen sich theils als incoordinirte.
unwillkürliche Bewegungen der Augen dar. theils als eine Art Augen-
zittern (Nystagmus), das am häufigsten in lateraler Eichtung be-
steht, bald in der Ruhe, bald nur bei Bewegungen auftritt. Ataxie
der Augenmuskeln kann sich in der Weise zeigen, dass der Kranke,
wenn er auf einen Gegenstand sehen will, mit den Augen über das
Ziel hinausschiesst, sich dann mit einer zu ausgiebigen Drehung der
Bnlbi corrigirt und erst nach mehrfachen Schwankungen den Gegen-
stand fixiren kann.
Zu den krampfhaften Bewegungen kann auch die sogenannte
conjugirte Deviation der Augen gerechnet werden. Bei Hemi-
plegien werden oft Augen und Kopf dauernd nach der gesunden
Seite gewendet, bei halbseitigen Krämpfen nach der Seite der Krämpfe
(Prevost). Dies beruht darauf, dass in jenem Falle der Einfluss
der gesunden, in diesem der der krankhaft erregten Hemisphäre auf
die seitlichen Augenbewegungen überwiegt. Bei Anstrengung des
AYilleus können die hemiplegischen Kranken die Augen auch zu-
rück-, beziehungsweise nach der anderen Seite fähren. Es besteht
also keine Lähmung.
ß. Die inneren Augenmuskeln.
Der M. ciliar is (X. oculomot.) zieht die Chorioidea nach vorn,
so dass die Linse sich stärker wölben kann. Er bewirkt demnach
die Aecommodation. Seine Lähmung hebt die Fähigkeit zu aecom-
modiren auf, das Auge ist nicht mehr im Stande, nahe Gegenstände
deutlich zu erkennen, zu lesen u. s. w. Durch passende convexe Gläser
kann der Mangel ausgeglichen werden. Tonischer Krampf des M.
ciliaris bewirkt scheinbare Myopie, das Auge ermüdet rasch. Ein-
tröpfelung von Atropin beseitigt den Krampf.
254 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Die Muskeln der Iris sind der Sphincter pupillae (N.
oculomot.) und der Dilatator pup. (N. sympathicus). Dilatirend
wirkt auch Gefässverengerung, verengernd vermehrte Blutfülle der
Iris. Der Sphincter contrahirt sich bei Lichteinfall, bei Convergenz
(beziehungsweise Accommodation), der Dilatator bei sensorischer oder
psychischer Erregung, bei gewaltsamer Athmung und heftiger Mus-
kelanstrengung. Beide werden durch gewisse Gifte erregt. Zunächst
ist zu bestimmen, ob bei massiger ebenso wie bei intensiver Be-
leuchtung beider Augen Gleichheit der Weite beider Pupillen be-
steht (.,Isocorie;'-Heddaeus). Jede Anisocorie ist pathologisch. Ferner
ist die mittlere Weite der Pupillen bei diffusem Tageslicht zu schätzen
oder zu messen, (Myosis = Pupillenverkleinerung, Mydriasis = Pu-
pillenvergrösserung).
Ausser der Pupillenweite ist zu untersuchen:
1. die Pupillenverengerung bei Lichteinfall. Man lässt den mit
dem Gesichte dem Lichte zugewandten Kranken einen fernen Ge-
genstand iixiren und beschattet vorübergehend das Auge durch Vor-
halten der Hand.
Der zu Untersuchende befindet sich ca. 1 m vom Fenster entfernt
und blickt, ohne zu accommodiren, hinaus in den Tag (nicht Sonne) hinein.
Es ist ihm gestattet, zu blinzeln, im Uebrigen soll er aber beide Augen,
auch unter der deckenden Hand, stets offen halten. Der Untersucher steht
seitlich vom Untersuchten und verdeckt dessen linkes Auge möglichst
vollständig durch Auflegen der rechten Hohlhand. Nach 5 — 10 See,
während deren der Untersucher die Weite der rechten Pupille beachtet und
sich zu merken sucht, lässt er das linke Auge frei und beobachtet die
consensuelle Pupillenreaction des rechten Auges. Darauf wird die
Verschliessung des linken Auges wiederholt und die Gegend des letzteren
fixirt, damit der Untersucher bei der Aufdeckung des linken Auges sofort
die Weite seiner Pupille wahrnehme und deren Verengerung, d.h. die directe
Reaction schätze. In gleicher Weise belehrt man sich durch zweimalige
Verdeckung und Wiederfreilassung des rechten Auges 1. über die con-
sensuelle Pupillenreaction des linken, 2. über die directe Pupillenreaction
des rechten Auges. Ist das Ergebniss der Prüfung bei offenem 2. Auge
negativ, so wird man auch das 2. Auge theilweise oder ganz verdecken,
die Zeit der Verdunkelung verlängern, den Lichtcontrast so gross wie
möglich machen. Nötigenfalls wird die Prüfung im Dunkelzimmer vor-
genommen und auf das zu untersuchende Auge nach 10 — 15 Min. das volle
Tages(oder Sonnen-)licht geworfen. (Vorschriften nach Heddaeus.)
Beim Gesunden ist die directe Pupillenreaction der consensuellen
gleich. Das Vorhandensein der Lichtreaction beweist, dass die Fasern,
die die Eetina des untersuchten Auges, mit dem Oculomotorius ver-
binden, ungeschädigt sind, dass das Auge reflexerregbar ist,
mag- die Keaction am untersuchten oder am anderen Auge eintreten.
Muskeln des Auges. Innere Augenmuskeln.
255
Wenn auch nur an einem Auge die Gleichheit der directen und der
consensuellen Reaction festgestellt werden kann, ist nachgewiesen,
dass beide Augen (Eetinae) gleich reflexerregbar sind. Bei einseitiger
„Reflextaubheit" fehlt die directe Reaction des untersuchten und die
consensuelle Reaction des anderen Auges. Bei doppelseitiger Reflex-
taubheit fehlt die Lichtreaction überhaupt, Wichtig ist die Unter-
scheidung zwischen Reflextaubheit und reflectorischer Pupillenstarre.
Ist letztere einseitig, so verengt sich die Pupille weder bei Beleuch-
tung des gleichen noch des anderen Auges, während die Pupille des
anderen Auges sowohl direct als consensuell reagirt,
2. Die Pupillen Ver-
engerung bei Convergenz.
Man lässt den Kranken
erst in die Ferne, dann
auf einen nahen Gegen-
stand, den vorgehaltenen
Finger, oder die eigene
Nasenspitze, sehen. Bei
Unfähigkeit zu convergi-
ren, ist die Prüfung der
Mitbewegung der Pupille
nicht ausführbar. Ist die
Verengerung bei Conver-
genz vorhanden , so ist
die centrifugale, zur Iris
gehende Bahn (des Oculo-
motorius) unbeschädigt,
die Pupille ist beweglich,
fehlt sie, so ist die Pupille
starr. Erhaltene Beweg-
lichkeit bei Reflextaubheit lässt auf eine Läsion der centripetalen
Bahn oder des diese mit den Irisfasern des Oculomotorius verbinden-
den centralen Stückes schliessen. Bei reflectorischer Pupillenstarre
kann man sich die Läsion so vorstellen , wie Fig. 44 es zeigt.
3. Die Pupillenerweiterung bei sensorischer Erregung. Man reizt
die Haut des Halses oder Nackens durch Stechen, Kneifen, am besten
durch den faradischen Pinsel und beobachtet, ob danach die Pupille
des massig beleuchteten, in die Ferne blickenden Auges sich lang-
sam erweitert,
4. Endlich kann man durch Einträufelung von Giften die Be-
weglichkeit der Pupille prüfen. Atropin (1 proc. Lösung des Atropin.
Fig. u.
Schema , das den Unterschied zischen Reflextaubheit und
reflectorischer Pnpillenstarre darthut.
R. A. = rechtes Auge, L. A. = linkes Auge. N. o. =N. opticus.
N. III. = Nucleus Nervi oculomotorii. s = centripetale Pu-
pillenfasern. m = Iris - Ast des N. oculomotorius. Läsion
hei y bewirkt Reflextaubheit des linken Auges. Läsion bei x,
und x2 bewirkt reflectorische Pupillenstarre des linken Auges.
256 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
sulf.) bewirkt maximale Erweiterung der Pupille durch Lähmung
des Sphincter und Reizung des Dilatator. Das Gleiche bewirken
Duboisin, Hyoscyamin u. a. Cocain erweitert die Pupille (und die
Lidspalte) massig und vorübergehend, wahrscheinlich durch Reizung
des Dilatator. Eserin (1 proc. Lösung des Eserin. sulf.) verengert die
Pupille ad maximum durch Reizung des Sphincter, Lähmung des
Dilatator. Aehnlich wirken Pilocarpin, Muscarin, Nicotin. Morphium
verengert bei innerer Anwendung die Pupille. Bei Inhalation von
Chloroform erweitert sich zunächst die Pupille, verengt sich dann
und wird unbeweglich. Am energischsten und am längsten dauernd
ist c. p. die Atropinwirkung, es empfiehlt sich daher die Prüfung
durch Eserin u. s. w. vorausgehen zu lassen.
Bei Lähmung des Sphincter wird die Pupille erweitert
(Mydriasis paralytica). Licht- und Convergenzreaction fehlen. Die
Erweiterung bei schmerzhaften Reizen muss eintreten, ist aber an
der schon erweiterten Pupille schwer zu beobachten. Atropin ver-
stärkt die Erweiterung.
Bei Krampf des Sphincter ist die Pupille stark verengert
(Myosis spastica). Lichteinfall oder Beschattung, Convergenz, schmerz-
halte Hautreize bewirken keine Irisbewegung (wenigstens bei starkem
Krämpfe), Atropin erweitert die Pupille langsamer als gewöhnlich,
Eserin verstärkt die Myosis.
Bei L ä h m u n g d e s D i 1 a t a t o r ist die Pupille massig verengt
(Myosis paralytica). Alle Reactionen sind erhalten, nur die reflec-
torische Erweiterung fehlt.
Bei Krampf des Dilatator ist die Pupille erweitert (My-
driasis spastica), die reflectorische Erweiterung fehlt bei starker
Mydriasis, die übrigen Reactionen pflegen mehr oder weniger er-
halten zu sein.
Im Allgemeinen ist der Sphincter stärker als der Dilatator ; wo
beide collidiren, überwiegt der erstere.
Findet sich Lähmung des Sphincter und Krampf des
Dilatator, so ist die Pupille ad maximum erweitert und starr, um-
gekehrt ist sie bei Lähmung des Dilatator und Krampf des
Sphincter ad maximum verengert und starr.
Besteht Lähmung des Sphincter und des Dilatator (wie
im Tode), so ist die Pupille mittelweit und starr.
Ist nur ein Muskel gelähmt, so bildet sich wahrscheinlich unter
Umständen eine secundäre Contractur des anderen aus, so dass z. B.
die mittlere Myosis nach Lähmung des Dilatator mit der Zeit ver-
stärkt und die Beweglichkeit gegen Lichtreize und bei Convergenz-
Muskeln des Ohres. 257
bewegung beschränkt werden kann. Docli ist über diese Dinge wenig
Sicheres bekannt. Auf jeden Fall sind Sphincter und Dilatator nicht
Antagonisten im gewöhnlichen Sinne des Wortes, da sie durch Reize
verschiedener Art erregt werden.
Ausser den schon erwähnten kommen noch folgende Beweglich-
keitsdefecte zur Beobachtung. Die Pupille reagirt nicht auf Licht-
einfall oder Beschattung, verengert sich aber bei Convergenz, dabei
fehlt in der Regel die active reflectorische Erweiterung (reflec-
torischePupillenstarre). Die reflectorische Pupillenstarre darf,
wie schon erwähnt, nicht mit Aufhebung der Reflexerregbarkeit
identificirt werden. Sie gleicht dieser, wenn sie doppelseitig vor-
handen ist. Da aber bei einseitiger reflectorischer Starre das Auge
mit der lichtstarren Pupille reflexempfindlich ist, so ist anzunehmen,
dass auch doppelseitige Lichtstarre etwas anderes ist als Reflextaubheit.
Die (erweiterte) Pupille reagirt nicht auf Lichtreize, aber bei
Convergenz und die active reflectorische Erweiterung ist erhalten:
bei Zerstörung der Opticusfasern, doppelseitiger, peripherischer Amau-
rose. Bei einseitiger Amaurose ist die consensuelle Reaction erhalten.
Bemerkenswerte ist, dass in seltenen Fällen trotz peripherischer
Amaurose die Lichtreaction zum Theil erhalten sein kann, dass da-
her die Pupillenreaction durch schwächere Reize bewirkt zu werden
scheint als die Lichtempfindung.
Stossweise active Contractionen der Iris (wahrscheinlich klo-
nischer Krampf des Sphincter pup.) werden Hippus genannt, zit-
.ternde passive Bewegungen der Pupille bei Drehungen des Bulbus
Iridodonesis (Irisflattern, Iris tremulans).
b. Die Muskeln des (mittleren) Ohres.
Der M. tensor tympani (N. trigeminus) zieht den Hammer-
griff und damit das Trommelfell etwas nach hinten und innen und
spannt letzteres an. Er muss dabei gleichzeitig die Kette der Ge-
hörknöchelchen nach innen bewegen und die Steigbügelplatte tiefer
in das ovale Fenster hineindrücken. Man betrachtet daher den
• Tens. tymp. als Schalldämpfer (Toynbee). Meist soll der Grundton
abgedämpft erscheinen, während die Obertöne deutlich hervortreten.
Nach Lucae werden die hohen Töne weniger deutlich wahrge-
nommen, während die tiefen überwiegen.
Die Contraction des Tens. tymp. tritt als Mitbewegung bei Con-
traction der Gaumen- und Halsmuskeln ein.
Der M. stapedius (N. facialis) soll das Trommelfell erschlaffen.
Nach He nie dient er hauptsächlich zur Befestigung des Steigbügels
Möttius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl.. 17
258 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
und zur Dämpfung passiver Bewegungen, die ihm mitgetheilt werden.
Nach Toynbee hebt der Stap. die Steigbügelplatte aus dem ovalen
Fenster und erleichtert ihre Schwingungsfähigkeit.
Lähmung des M. stapedius, beziehungsweise Ueberwiegen des
Tensor tymp., soll Hyperacusis (abnorme Feinhörigkeit, besonders
gegen tiefe Töne) und ein hohes subjectives Geräusch verursachen
(Lucae). Andere nehmen an, dass das Ueberwiegen des Tens. bei
Lähmung des Stap. Abschwächung des Gehörs nebst subjectiven
Geräuschen hervorrufe, dass die bei Facialislähmung beobachtete
Hyperacusis vielmehr durch gesteigerte Thätigkeit des nicht mit ge-
lähmten Staped., der bei jedem Innervationsversuche abnorm stark
innervirt werde, zu Stande komme (Urbantschitsch). Durch
abnorm starke Innervation des Staped. wird auch der zuweilen bei
Facialislähmungen nach jedem Bewegungsversuche auftretende brum-
mende Ton erklärt.
Contracturen der inneren Ohrmuskeln scheinen zuweilen
ausser Gehörstörungen und subjectiven Geräuschen reflectorische
Symptome zu bewirken (Hyperästhesie der betroffenen Kopfhälfte,
Trigeminusneuralgien u. s. w.).
Klonische Krämpfe des Tens. tymp. sollen ein knackendes
Geräusch verursachen.
Letzteres wird (neben Empfindungen in der Zunge) auch durch
faradische Reizung hervorgerufen, sobald eine Elektrode in den
mit Wasser gefüllten Gehörgang gebracht wird (Duchenne). Wahr-
scheinlich handelt es sich dabei um Eeizung der inneren Ohrmuskeln.
Beziehungen zum Ohre haben mittels der Tuba Eustachii die
Gaumenmuskeln. Der M. tensor palati wird als Abductor
(v. T r ö lt s c h) s. Diktator (E ü d i n g e r) tubae bezeichnet. Er hebt den
Knorpelhaken und die membranöse Tuba von der medialen Knorpel-
platte ab und erweitert damit den Tubeneingang. Der M. levator
palati verengert die Rachenmündung der Tuba bei seiner Contraction
Lähmung des Tensor palati wird ungenügende Oeffnung
oder Verschluss der Tuba bewirken, damit Erschwerung des Luft-
zutrittes zu der Paukenhöhle, Gehörstörungen und subjective Ge-
räusche.
Tonischer Krampf des Tensor pal. bewirkt Offenstehen
der Tuba, damit abnorm leichtes Eindringen der Luft in die Pau-
kenhöhle und verstärktes Hören der eigenen Stimme (Autophonie).
Klonischer Krampf des Tensor pal. bewirkt ein knacken-
des Geräusch, das auch objectiv wahrnehmbar ist. Dieses Geräusch
kann von manchen Personen auch willkürlich durch directe An-
Mimische Muskeln des Gesichtes. 259
Spannung des Tens. pal. oder durch Schlingbewegungen . Gähnen
Kauen u. s. w. hervorgerufen werden.
c. Die mimischen Muskeln des Gesichtes.
Der M. epicranius, der aus den durch die Galea aponeu-
rotica getrennten Mm. frontalis und o c c i p i t a 1 i s besteht, legt
die Stirnhaut in quere Falten, zieht die Augenbrauen nach oben und
verleiht dem Gesichte den Ausdruck des Erstaunens. Während in
der Regel beide Theile sich gemeinsam zusammenziehen, vermögen
einzelne Menschen den M. occipitalis isolirt zu contrahiren und da-
mit das Capillitium nach hinten zu verschieben.
Lähmung des Epicranius verursacht Glätte der Stirn und Un-
vermögen, die Stirn in Querfalten zu legen.
Der M. pyramidalis, anatomisch ein Theil des M. frontalis,
faltet die Haut über der Nasenwurzel quer, indem er die Stirnhaut
herabzieht und das innere Ende der Augenbrauen senkt. Seine Con-
traction macht das Gesicht finster.
Der M. orbicularis palpebrarum schliesst die Augenlider
und legt die Haut darum in zahlreiche strahlenartige Falten. Das
als M. malaris bezeichnete Bündel des Orbicularis legt die Haut am
äusseren Augenwinkel in feine, nach dem letzteren zusammenlaufende
Falten und hebt die Wangenhaut etwas, damit entsteht ein freund-
licher Ausdruck. Die Contraction der Augenlidmuskeln muss auch
eine Erweiterung des Thränensackes bewirken, mittels der die im
medialen Augenwinkel angesammelte Flüssigkeit angesogen wird.
Lähmung des M. orbic palp. verursacht Unvermögen, das Auge
zu schliessen. Es bleibt offen (Lagophthalmus paralyticus) und es
tritt Thränenträufeln ein. Im Schlafe oder beim Versuche, das Auge
willkürlich zu schliessen, wird das obere Lid etwas gesenkt und der
Bulbus nach oben innen gedreht.
Tonischer Krampf des M. orbic. palp. wird als Blepharospas-
mus bezeichnet. Klonischer Lidkrampf heisst Spasmus nictitans.
Der M. corrugator supercilii schiebt die Augenbraue nach
innen und etwas nach unten, so dass das obere Lid überschattet und
zum Theil bedeckt wird, die Haut der Glabella in senkrechte Falten
gelegt wird. Dabei wird das mediale Ende der Augenbraue leicht
gehoben. So entsteht der Ausdruck des Nachdenkens, des drohen-
den Ernstes.
Der M. triangularis (Compressor) nasi legt die Haut des
Nasenrückens in Längsfalten und soll damit den Ausdruck der Lü-
sternheit bewirken.
IT*
260 Die Function der einzelneu Muskeln und deren Störung.
Der M. depressor nasi (myrtifoirais) s. dilatator narium
hebt den Nasenflügel und erweitert das Nasenloch, Seine Lähmung
vermindert die Fähigkeit zu schnüffeln und damit die Kiechfähigkeit.
Das von Duchenne als Dilatator externus bezeichnete Bündel
verengert die Nasenmündung.
Der M. levator lab. sup. alaeque nasi hebt den Nasen-
flügel und die Oberlippe, ohne das Nasenloch zu erweitern. Seine
Contraction pflegt das Weinen der Kinder einzuleiten.
Der M. levator lab. sup. proprius und der M. levator
•anguli oris (M. caninus) heben die Oberlippe, beziehungsweise den
Mundwinkel senkrecht in die Höhe und machen das Gesicht weinerlich
und verdriesslich. Das letztere bewirkt auch der M. zygomaticus
minor, der die Oberlippe nach oben und etwas nach aussen hebt.
Dagegen ist der M. zygomaticus major der Muskel des
Lachens und der Freude, Er zieht den Mundwinkel nach aussen
und etwas nach oben, legt die Haut der Wange in tiefe, theils nach
dem Nasenflügel, theils nach der Nasenwurzel zu bogenförmig ver-
laufende Falten.
Lähmung der vier letztgenannten Muskeln lässt den Mundwinkel
herabsinken, die Nasolabialfurche verstreichen und flacht die Wange ab.
Der M. buccinator drückt die Wange an die Zähne, faltet
dabei die Wangenschleimhaut. Zum Austreiben der Luft aus der
Mundhöhle beim Blasen u. s. w. trägt er nichts bei. Seine Läh-
mung bewirkt Erschlaffung der Wange, die alsdann bei jeder Ex-
spiration aufgebläht wird und beim Kauen nicht mehr sich den
Zähnen anlegt, so dass die Bissen zwischen Zähne und Wange fallen.
Der M. orbicularis oris schliefst die Lippen und drückt sie
an die Zähne an. Zusammen mit den Mm. incisivi und dem M.
nasalis labii sup. spitzt er den Mund zum Küssen, Pfeifen, Aus-
sprechen der Vokale o und u. In verschiedener Weise bethätigt sich
der 0. oris bei Bildung mehrerer Consonannten (b, p, w, v, f, m).
Buccinator und Orbicularis oris wirken gemeinsam beim Saugen,
Trinken, Essen, Blasen von Instrumenten u. s. w. und sind als Theile
eines Muskels zu betrachten.
Lähmung des Orbic. oris bewirkt Offenstehen des Mundes, aus
dem der Speichel fliesst. Schon einseitige Lähmung hebt die Fähig-
keit zu pfeifen auf. Doppelseitige Lähmung stört die Articulation,
da die oben aufgezählten Laute unvollkommen oder nicht gebildet
werden können,
Contraction des M. levator menti flacht die Rundung des
Kinnes ab, schiebt Kinn und Unterlippe nach oben, so dass letztere
Mimische Muskeln des Gesichtes
261
die Oberlippe zum Tkeil deckt und sich aussen umschlägt, das Lip-
penroth verbreiternd. So erhält das Gesicht einen hochmüthigen,
verachtenden Ausdruck. Der Lev. menti ist bei Bildung der Lippen-
laute betheiligt, ist er gelähmt, so unterstützen manche Kranken das
Kinn mit der Hand, um dadurch die Bildung jener Laute zu erleichtern.
M. frontalis
Oberer Facialisast.
AI. corrug. supereil.
II. orbic. palpebr.
Nasenmuskeln
M. zygomaüci
M. orbicul. oris
Mittler. Facialisast
M. masseter
AI. levator menti
M. quadr. menti
AI. triang. menti
Xerv. hypogloss.
Unterer Facialisast
M. platysma myoid.
Zungenbein- |
muskeln 1
AI. omohyoideus
thoracic, anter.
(AI. pector.)
N. phrenicus Supraclavicular- Plexus
punkt. i Erb 'scher brachialis
Punkt. ALdeltoid.,
biceps, brachial. in-
tern, und supinat.
long.)
Fig. 45.
Alotorische Punkte am Kopfe (nach Erh).
Gegend der
Central Windungen
Gegend d. 3. Stirn-
windung und Insel
( Sprachcentrum)
AI. temporalis
Oberer Facialisast
vor dem Ohr
X. facialis ( Stamm)
N. auricul. post.
Alittl. Facialisast
Unter. Facialisast
AI. splenius
AI. stemocleido-
mastoideus
X. accessorius
AI. levator anguli
scapul.
AI. cucullaris
N. dors. scapulae
N. axillaris
X. thoracic long.
(AI. serratus anric.
maj.)
Der M. quadratus menti zieht die Unterlippe nach unten
und etwas nach aussen, diese dabei an die Zähne andrückend. Auch
er bewirkt den Ausdruck der Missachtung und Abneigung.
Der M. tri angularis menti zieht den Mundwinkel nach unten
und aussen, ohne dabei die Mundspalte zu öffnen. Er betheiligt sich
beim 'Weinen. Seine isolirte Contraction drückt Ekel aus.
262
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Die Lähmung der Kinnmuskeln macht sich im Buhezustande
wenig bemerklich, erst bei Bewegungsversuchen erkennt man die
Unfähigkeit, die Unterlippe herabzuziehen oder zu heben.
Der schwache M. risorius (He nie) zieht den Mundwinkel nach
aussen, wie es beim Lächeln geschieht.
Der M. subcutaneus colli (Platysma) zieht gemeinsam mit
dem ihm verbundenen Quadratus m. die Unterlippe nach aussen, so
dass bei energischer Contraction die Zähne entblösst werden. Er
stellt ferner eine Ebene dar zwischen unterem Kieferrande und Hals,
so dass dem Einsinken der Haut des Halses und dem Collabiren der
Halsvenen .beim Einathmen Widerstand geleistet wird. Man sieht
daher bei rascher und angestrengter Inspiration, besonders beim
Singen, die Subcutanei sich spannen und die Haut in Längsfalten
legen. Ob die Contraction des lateralen Abschnittes auf die Ent-
leerung der Parotis Einfluss hat, ist zweifelhaft. Der M. subc. colli
contrahirt sich bei heftigen Affecten, Entsetzen, Wuth.
Bei Lähmung des Subc.c.
sind die erwähnten Bewegun-
gen nicht möglich und der
Eand des Unterkiefers tritt
mehr als sonst hervor.
Die Mm. attrahens, at-
tollens und retrahens
auriculae heben die Ohr-
muschel in geringem Grade
nach oben-vorn, beziehungs-
weise oben-hinten und ver-
größern damit die Gehörs-
öffnimg. Sie können nur von
einzelnen Individuen willkür-
lich contrahirt werden, ihre
Lähmung ist daher oft nicht
nachweisbar, es sei denn, dass
die elektrische Erregbarkeit
Fig. 46. verloren gegangen ist.
Die kleinen Muskeln der
Ohrmuschel (Mm. tragicus
et antitragicus, helicis major et minor) nähern den Anti-
tragns etwas dem Tragus und verkürzen die Concha ein wenig von
oben nach unten. Sie sind ohne praktische Bedeutung.
Alle bisher ernannten Muskeln werden vom X. facialis inner-
Peripherische rechtseiticro Facialislähmunc
(nach Seelipmüllor).
Kaumuskeln. 263
virt, nur der M. subcut, colli erhält ausser dem Facialiszweige einige
Zweige vom dritten Cervicalnerven (Xn. subcutanei coli. med. et inf.)
und der M. buccinator soll einige Fädchen vom Trigeminus erhalten.
Wie die elektrische Eeizung der einzelnen Muskeln vor-
zunehmen ist, geht aus Fig. 45 und deren Beschreibung hervor. Nicht
isolirt zur Contraction zu bringen ist der tiefliegende M. caninus.
Wie die Untersuchung der Gesichtsmuskeln auf Lähmung auszu-
führen ist, ergiebt sich aus dem Gesagten. Bei einseitiger Läh-
mung fällt meist sofort das Yerstrichensein der Falten und das Ver-
zogensein des Gesichtes nach der gesunden Seite ins Auge. Geringe
Grade von Lähmung werden erst bei Ausführung der willkürlichen
und der Mitbewegungen, beim Lachen, Sprechen u. s. w. deutlich.
Wenn der Kranke eine anstrengende Bewegung macht, etwa die
Hand des Untersuchers drückt, tritt zuweilen die Differenz beider
Gesichtshälften besonders deutlich hervor. Am schwierigsten sind
schwache, doppelseitige Paresen nachzuweisen, da individuell die
Kraft der Gesichtsmuskeln sehr verschieden gross ist. Oft hat dar-
über der Kranke selbst das sicherste Urtheil. Man prüft die Kraft,
indem man den einzelnen Muskeln mit dem Finger Widerstand leistet.
Der klonische Krampf der Gesichtsmuskeln, bei dem sich
hauptsächlich die Muskeln um das Auge und den Mund zu betheiligen
pflegen, wird oft als Tic convulsif bezeichnet. Tonischer Ge-
sichtskrampf giebt dasselbe Bild wie Faradisiren des X. facialis.
Oontracturen einzelner Gesichtsmuskeln werden sich leicht erkennen
lassen.
d. Die Kaumuskeln
werden vom N. trigeminus innervirt.
Die Mm. masseter und temporalis ziehen mit grosser Kraft
den LTnterkiefer an den Oberkiefer und pressen die Zähne auf ein-
ander. Unterstützend wirkt bei dieser Bewegung die Contraction
der Mm. pterygoidei interni. Beim Oeffnen des Mundes wird
der Unterkiefer vom M. pterygoideus ext, auf das Tuberculum
articulare hervorgezogen.
Den Kiefer seitwärts zu bewegen oder vielmehr ihn um den
einen Gelenkkopf zu rotiren, dienen die vereinigten Mm. ptery-
goidei einer Seite.
Bei einseitiger Kaumuskellähmung kauen die Kranken nur
auf der gesunden Seite. Lässt man sie die Zähne auf einander
beissen, so sieht man, fühlt besser durch die aufgelegten Finger,
dass Masseter und Temporalis sich auf der kranken Seite schwach
264 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
oder gar nicht contraliiren. Bei doppelseitiger Lähmung* klagen die
Kranken zuerst über rasches Ermüden beim Kauen, sie können feste
Speisen nicht mehr zerkleinern, müssen oft pausiren beim Essen.
Objectiv giebt sich die Kaumuskelparese dadurch kund, dass der
Untersucher die Zahnreihen gegen den "Willen des Patienten getrennt
halten kann, während gesunde Kaumuskeln die Kraft der Hand meist
überwältigen. Bei completer Lähmung hängt der Unterkiefer schlaff
herab. Immer bleibt der letztere passiv leicht beweglich, nur wenn
sich secundäre Contractur entwickeln und den Unterkiefer heben
sollte, kann in dieser Richtung eine Schwierigkeit entstehen.
Atrophie des Masseter und Temporaiis macht sich dem Gesicht
und Gefühl leicht kenntlich.
Die elektrische Erregung ist schwierig, nur bei schwerer Facia-
lislähmung ist der Masseter leicht zu untersuchen (vergl. Fig. 45).
Lähmung der Pterygoidei kann man nur an der Unfähigkeit,
den Unterkiefer seitlich zu verschieben, erkennen.
Tonischer Krampf der Kaumuskeln wird „Trismus"
genannt. Bei einseitigem Krämpfe der Pterygoidei wird der Kiefer
nach der kranken Seite hin verschoben. Klonischer Krampf der
Kaumuskeln bewirkt bald wirkliche Kaubewegungen, bald schnappende
Bewegungen des Unterkiefers und Zähneklappen, bald Zähneknirschen.
e. Die Muskeln der Zunge
werden vom N. hypoglossus innervirt.
Der M. genioglossus zieht die aufgehobene Zunge nieder und
nähert ihren Grund dem Kinnstachel, wodurch ihre Spitze aus der
Mundhöhle heraustritt. Der M. hyoglossus zieht die Zunge her-
ab und etwas zurück. Der M. styloglossus zieht, wenn er ein-
seitig wirkt, die Zunge seitwärts, wenn er auf beiden Seiten wirkt,
direct nach rückwärts. Die Binnenmuskeln der Zunge (M. lingua-
lis und transversus linguae) durchflechten sich mit den drei
genannten Muskeln. „Dadurch, dass die zur Verkürzung und zum
Zurückziehen der Zunge bestimmten sagittalen Muskeln sich an der
Oberfläche, dicht unter der Schleimhaut, ausbreiten und unabhängig
von einander sich bald an der oberen, bald an der unteren Fläche,
bald an den Seiten zusammenziehen, erlangt die Zunge das Ver-
mögen, sich aufwärts, abwärts, seitwärts zu beugen. Dass der Eücken
der Zunge sich abwechselnd im frontalen Durchschnitt wölben und
rinnenartig vertiefen kann, ist bedingt durch das wechselnde Spiel
der Mm. genioglossi und hyoglossi, von welchen jene die Mitte, diese
Muskeln der Zunge.
265
die Seitenrander der Zunge niederdrücken. Gemeinschaftlich wirkend
platten sie die Zunge ab" (Henle).
Bei einseitiger Zungenlähmung wird beim Herausstrecken
die Spitze der Zunge nach der gelähmten Seite hin gewendet, haupt-
sächlich durch die Wirkung des gesunden Genioglossus. Ausserdem
sieht man, besonders bei einseitiger Atrophie der Zunge, dass die
Spitze bei Herausstrecken sich nach der kranken Seite zu krümmt.
Bei Hemiatrophie erscheint
die kranke Hälfte runzelig.
schlaff, zusammengesunken,
wie ein Anhang zur gesun-
den Hälfte, die glatt, prall
und elastisch bleibt. Gerin-
gere Grade der Atrophie ent-
deckt man, wenn man mit
jeder Hand je eine Zungen-
hälfte zwischen Daumen und
Zeigefinger nimmt und die
Zunge vorstrecken lässt
(Hutchinson). Die gesunde
Hälfte wird dann prall und
fest, die kranke bleibt dünn
und schlaff.
Deutliche Functionstö-
rungen beim Sprechen und
Schlucken ruft einseitige
Zungenlähmung nur hervor, wenn sie plötzlich eintritt. Entwickelt
sie sich langsam, so wird der Ausfall durch Yicariirende Thätigkeit
der gesunden Hälfte ziemlich gedeckt.
Bei doppelseitiger Parese wird die Zunge langsam, zögernd
und zitternd herausgestreckt, sinkt rasch wieder zurück. Alle Be-
wegungen der Zunge im Munde sind langsam, ungeschickt und
kraftlos.
Bei completer Lähmung liegt die Zunge unbeweglich, schlaff,
wie collabirt, am Boden der Mundhöhle.
Zungenlähmung beeinträchtigt das Kauen und Schlingen. Der
Bissen kann nicht gehörig bewegt und zwischen die Zähne gescho-
ben werden, Speisereste bleiben in den Seitentheilen der Mund-
höhle liegen.
Beim Schlucken wird erst die Zungenspitze, dann der Zungen-
rücken an den harten Gaumen angedrückt und werden die Bissen
Fig. 47.
Hemiatrophie der Zunge (nach Hirt).
266 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
so in den Pharynx geschoben, werden flüssige und halbflüssige
Massen mit grosser Geschwindigkeit durch Schlund und Speiseröhre
bis an die Cardia befördert (Kronecker und Meltzer). Dieses
„Hindurchspritzen" geschieht wesentlich durch die Musculatur der
Zunge und des Mundbodens, besonders die Mm. hyoglossus und mylo-
hyoideus. Indem die Zunge gegen den harten Gaumen angedrückt
und zugleich nach hinten zurückgezogen wird, bildet sich ein ab-
geschlossener Eaum, in dem ein verhältnissmässig hoher Druck
entsteht. Bei Zungenlähmung kann dieser Eaum nach vorn nicht
abgeschlossen werden, die Getränke laufen daher nach der Mund-
höhle zurück. Die Speisen bleiben zum Theil auf dem Zungen-
rücken liegen. Auch der Speichel kann nicht gehörig verschluckt
werden, sammelt sich in der Mundhöhle an und belästigt die Kran-
ken in hohem Grade.
Da die Zunge bei Bildung vieler Laute mitwirkt, wird durch
ihre Lähmung die Articulation beeinträchtigt. Bei einseitiger Läh-
mung und bei Parese werden die betreffenden Laute (c, d, e, g, i,
k, 1, n, r, s, seh, x, z) undeutlich. Am ehesten leiden 1 und r, das k
wird wie t, das g wie d ausgesprochen, ähnlich wie es von Kindern
geschieht.
Bei schwerer Lähmung wird die Sprache überhaupt lallend und
unverständlich. Auch das Singen, besonders das von Falsettönen,
soll schon durch geringe Grade von Zungenlähmung erschwert werden.
Bemerkenswerth ist, dass bei vollständigem Fehlen der Zunge
(z. B. Herausgerissensein) durch vicariirende Thätigkeit des Mund-
bodens die Zungenlaute leidlich gut gebildet werden können. Sind
aber die Muskeln des Mundbodens auch mit betroffen, so bewirkt
schon geringe Parese sehr deutliche Störungen beim Sprechen und
Schlucken.
Atrophie der Zunge macht sich durch Abnahme des Volumen
bemerklich, sie wird dünn und runzelig. Die Atrophie kann durch
Fettwucherung verdeckt werden.
Die elektrische Erregung der Zungenmuskeln gelingt zu-
weilen vom N. hypoglossus aus, am Halse oberhalb des Zungen-
beins (vergl. Fig. 45), jederzeit durch directe Eeizung, die allerdings
nur die oberflächlichen Bündel zur Contraction bringt.
Der Krampf der Zungenmuskeln, an dem sich bald diese, bald
jene Bündel hauptsächlich betheiligen, bietet meist das Bild regel-
loser Bewegungen der ganzen Zunge, seltener besteht er in wech-
selndem Herausstrecken und Zurückziehen, oder in Bewegungen nur
einer Zuno-enhälfte,
Muskeln des weichen Gaumens. 267
f. Die Muskeln des weichen Gaumens
sollen theils vom N. facialis (durch den N.petros. superfic. major
zum Ganglion sphenopalatinum gehende Fasern) versorgt werden
(hauptsächlich der M. levator vel. pal.), theils vom X. vagoacces-
sorius und N. tr ige minus (M. tensor pal.). Es ist wahrschein-
licher, dass der Facialis gar nichts mit ihnen zu thun habe, dass
der Vagoaccessorius der Gaumen-Nerv sei.
Der M. azygos uvulae (M. palatostaphylinus) verkürzt nicht
allein das Zäpfchen, er wendet es auch kräftig nach hinten, derart.
dass seine Spitze gegen die Pharynxwand gerichtet ist, u. U. sie be-
rührt. Ist er einseitig gelähmt, so wird das Zäpfchen nach der
gesunden Seite gekrümmt, die __ _— _
Krümmung verstärkt sich bei Con-
traction des gesunden M. azygos.
Doch ist auf leichte Abweichungen
der Uvula von der Mittellinie kein
Gewicht zu legen, da diese auch
beim Gesunden nicht selten vorkom-
men. Die doppelseitige Lähmung
des M. azygos verlängert die Uvula
nur etwas, man erkennt sie erst
daran, dass bei Berührung der Uvula
keine Verkürzung eintritt. Die ein-
seitige Lähmung stört weder beim -gig. 48.
Schlucken. nOCll beim Sprechen, da- Halbseitige Gaumenlähnrang (nach Seelig-
. . . . T müller).
gegen wird die doppelseitige Läh-
mung dadurch lästig, dass die Spitze der L vula die Zungenbasis be-
rührt und wie ein Fremdkörper wirkt. Ausserdem kommt es leicht
zu geringem Xäseln beim Sprechen und hie und da zum Regurgitiren
von Flüssigkeiten durch die Xase.
Der M. levator palati (petrostaphylinus) hebt das Gaumen-
segel, so dass die Concavität des freien Randes vermehrt wird, und
spannt es seitlich, sobald die hebende "Wirkung durch die Fasern
der Mm. palatopharyngei und glossostaphylini gehindert wird. Seine
einseitige Lähmung lässt die entsprechende Seite des Gaumensegels
etwas tiefer stehen als die andere, die Differenz nimmt zu bei Con-
traction des Gaumens und es tritt eine Verschiebung nach der ge-
sunden Seite ein. Bei doppelseitiger Lähmung hängt das Gaumen-
segel schlaff herab und ist durch Kitzeln der Uvula nicht zur
Contraction zu bringen. Die Stimme wird näselnd, manche Laute
268 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
(s, c, x, Gaumen-r u. s. w.) werden mangelhaft ausgesprochen und
beim Trinken fliesst ein Theil der Flüssigkeit durch die Nase zurück.
Der M. tensor palati (sphenostaphylinus) soll seinen Namen
mit Unrecht tragen, er sei wesentlich Spanner der fibrösen Ver-
längerung des knöchernen Gaumens für den Fall, dass diese fibröse
Platte von den Längsmuskeln des Pharynx abwärts gezogen werden
sollte. Heber seine Beziehungen zu Ohrtrompete ist oben (S. 258)
gesprochen worden.
Die vom Boden der Mundhöhle und vom Pharynx aufsteigenden
Fasern (Mm. glossostaphylinus und pharyngopalatinus)
dienen zur Abschliessung der Nasenhöhle gegen den Pharynx, indem
sie (mit Hülfe der Mm. styloglossi) die Zunge dem Gaumen etwas
nähern und die Arcus pharyngopalatini mit ihren Rändern zugleich
gerade strecken und einander nähern. Bei letzterer Bewegung wirken
die Kreisfasern des Pharynx unterstützend. Wird durch den M.
pharyngopalat. das Gaumensegel herabgezogen und werden die hin-
teren Gaumenbögen wie Gardinen zusammengezogen, so bildet der
Gaumen eine von oben nach unten und von vorn nach hinten schräge
Platte und zwischen den Gaumenbögen bleibt ein etwa 1 Cm. breiter
Eaum. Beim Schlucken hebt zunächst der Levator pal. das Gaumen-
segel und vergrössert die Capacität des Pharynx, zugleich contrahirt
sich der obere Schlundschnürer und hilft den Nasenrachenraum ab-
schliessen. Dann wird das Gaumensegel durch den M. pharyngopalat.
niedergezogen, nähern sich die hinteren Gaumenbögen, die oben be-
schriebene Lücke zwischen sich lassend, in die durch den M. azygos
die Uvula gedrückt wird.
Lähmu ng des M. pharyngopalatinus vergrössert die Krümmung
der hinteren Gaumenbögen, so dass der durch sie gebildete Vor-
sprang zu verschwinden droht. Bei Reizung des Gaumens bleiben
die oben beschriebenen Bewegungen aus. Die Stimme soll bei iso-
lirter Lähmung des Pharyngopalat. nicht näselnd sein, das Schlingen
aber wird gestört.
Bei Untersuchung auf Gaumenmuskellähmung beobachtet man
die Stellung des Gaumens bei ruhiger Athmung, lässt den Kranken
intoniren und Schlingbewegungen machen, reizt den Gaumen mecha-
nisch. Bei normalem Zustande löst Kitzeln der Uvula synergische
Contraction aller Gaumenmuskeln aus. Bei peripherischer Lähmung
fehlen die Reflexe. Krämpfe der Gaumenmuskeln werden nach
dem Gesagten leicht zu erkennen sein. Die elektrische Reizung
der Gaumenmuskeln, die am besten durch eine sondenförmige, mit
Unterbrecher versehene Elektrode geschieht, wird oft durch das Vor-
Muskeln des Rachens. Museulatur des Oesophagus. 269
Jiandensein von Anästhesie erleichtert. Am leichtesten ist die Er-
regung des M. azygos, bei Berührung der Uvula schnurrt diese in
sich und nach oben zusammen. Auch können die Contractionen des
Gaumens durch die Fingerspitze controlirt werden.
g. Die Muskeln des Rachens
werden vom N. vago-accesssorius innervirt (der M. stylopharyng.
durch den N. glossopharyngeus nach einigen Autoren).
Der M. s t y 1 o p h a r y n g e u s ist ein Heber des Schlundes.
Die Mm. constrictores pharyngis (sup., med., inf.) verengern
den Schlund.
Die Lähmung der Schlundmuskeln giebt sich kund durch Ver-
minderung oder Aufhebung des Schlingvermögens (Fehlschlucken)
und durch Fehlen reflectorischer Contractionen bei mechanischer
Heizung, Ausserdem sieht man bei einseitiger Lähmung, dass die
entsprechende Hälfte des Schlundes erweitert ist und dass bei Würge-
bewegungen diese Hälfte sich nicht mit verschiebt.
Bei einseitiger elektrischer Reizung tritt eine kräftige
Verziehung der gesammten Schleimhaut der hinteren Bachenwand
nach der gereizten Seite ein.
Man kann reflectorisch Schlingbewegungen erregen dadurch, dass
man, während die An des Batteriestromes etwa im Nacken steht,
mit der Ka rasch über die seitliche Kehlkopfgegend streicht. Bei
Rachenlähmung treten zuweilen diese reflectorischen Schlingbewe-
gungen nur bei Anwendung starker Ströme oder gar nicht ein.
Die Museulatur des Oesophagus, die hier anhangsweise erwähnt
werden mag, wird ebenfalls vom Vag o-acc es so rius versorgt. Ihre
Lähmung verursacht besonders Beschwerden beim Schlucken fester
Speisen. Während bei Lähmung der Zunge und des Gaumens be-
sonders das Trinken Noth leidet, können hier festere Bissen nicht
zum Magen gelangen, da zu ihrer Fortbewegung die peristaltischen
Bewegungen des Oesophagus nöthig sind. Den Getränken dient der
Oesophagus nur als Schlauch, durch den sie „hindurchgespritzt"
werden, isolirte Lähmung des Oesophagus hindert daher das Trinken
nicht. Feste Speisen aber zu verschlucken, fürchten sich die Patienten,
jene scheinen hinter dem Sternum stecken zu bleiben, erregen Athem-
noth und erst nach längerem Würgen und Pressen gelingt es, den
Bissen hinabzudrücken. Die Sonde geht in solchen Fällen nicht nur
ohne Hinderniss, sondern auffallend leicht durch den Oesophagus.
270 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung:.
Nach B. Fränkel begleitet die Oesophaguslähmung eine charakte-
ristische Veränderung der Schlnckgeräusche. Nach den Untersuchun-
gen von Kronecker und Meltzer entstehen beim Schlucken Ge-
räusche, Das erste, „Durchspritzgeräusch", entspricht der oben (S. 265)
beschriebenen Schleuderwirkung der Zungen-Halsmuskeln, fällt zeit-
lich mit dem Hinabschleudern des Schluckes zusammen und gleicht,
wenn der Oesophagus, beziehungsweise die Magengrube, auscultirt
wird, einem kurzen lauten Gurgeln. Das zweite, „Durchpressgeräusch"?
hört man über der Magengrube etwa 6 — 7 Secunden nach dem
Schlucken, es dauert länger als das erste und klingt etwa, als ob
Wasser in eine Flasche gegossen würde. Wahrscheinlich gelangt der
Schluck sofort bis zur Cardia und wird erst nach 6 — 7 Secunden
durch die peristaltische Contraction des Oesophagus durch die Cardia
hindurch gepresst. Bei Gesunden hört man über der Magengrube
gewöhnlich nur das zweite Geräusch, seltener nur das erste, ziemlich
selten beide Geräusche, In Fällen von Oesophaguslähmung fand B.
Fränkel immer ein zweites Schluckgeräusch, es erfolgte verhältniss-
mässig spät (9 — 18 Secunden nach dem Schlucke), dauerte auffallend
lange und war in zwei Fällen sehr laut. Bei Stricturen des Oeso-
phagus soll keine Veränderung dss Geräusches vorkommen. Eulen-
burg hat einem in Falle von Burbärparalyse die Angaben Frank eis
bestätigt gefunden. Schon ältere Autoren haben von Deglutitio sonora
bei Oesophaguslähmung gesprochen
Dem sogenannten „Oesophagismus" scheinen krampfhafte
Zusammenschnürungen des Oesophagus (oder des Pharynx) zu Grunde
zu liegen. Der Bissen oder Schluck wird an einer bestimmten Stelle
angehalten und es entsteht ein peinliches Druckgefühl mit Angst.
Die Sonde findet an der betreffenden Stelle ein Hinderniss, das nach
kurzer Zeit verschwindet. Ob dem als „Globus" bezeichneten Gefühle
des Auf- oder Absteigens einer Kugel in Schlund und Speiseröhre
krampfhafte Contractionen entsprechen, oder ob es sich nur um ab-
norme Empfindungen handelt, steht dahin.
Die elektrische Eeizung der Oesophagusmusculatur ist mit-
tels passender Sonde ausführbar, jedenfalls aber wegen der Nähe
des N. vagus nur mit Vorsicht anzuwenden.
h. Die Muskeln, die den Kiefer herabziehen und das
Zungenbein bewegen.
Der M. subcutaneus colli ist oben besprochen worden, er
kann beim Herabziehen des Unterkiefers mitwirken.
Muskeln, die den Kiefer herabziehen und das Zungenbein bewegen. 271
Der M. biventer s. digastricus max. i n f. (vorderer Bauch :
X. trigeminus , hinterer Bauch: N. facialis) zieht deu Kiefer herab
und öffnet den Mund, wenn die Muskeln, die das Zungenbein unten
festhalten, zum Oeifnen des Mundes mitwirken. Bei fixirtem Kiefer
hebt der Biventer das Zungenbein.
Der M. stylohyoideus (X. facialis) zieht das Zungenbein nach
oben und rückwärts.
Einseitige Lähmung dieser Muskeln müsste Schiefstand des
Zungenbeins bewirken, doch wird bei Lähmung des XT. facialis in
der Eegel davon nichts wahrgenommen. Es scheinen daher gegebenen
Falles andere Muskeln corrigirend oder vicarürend einzutreten.
Der M. geniohyoideus (N. hypoglossus) hebt das Zungenbein
kräftig, oder zieht bei fixirtem Zungenbeine den Unterkiefer herab.
Der M. mylohyoideus, Diaphragma oris (N. trigeminus), hebt
das Zungenbein und den ganzen Boden der Mundhöhle ; in letzterer
Thätigkeit liegt seine Bedeutung.
Der vordere Bauch des M. omohyoideus (X". hypogl.) zieht
das Zungenbein herab, der hintere spannt die Fascie des Halses.
Wenn beide Bäuche sich contrahiren, werden die Halsfascie und die
Scheide der grossen Blutgefässe vorwärts gezogen.
Die Mm. sternothyreoideus und hyo thyreoideus und
der M. sternohyoideus (X. hypogl., Xn. cervicales) ziehen das
Zungenbein nach abwärts.
Die vier letztgenannten Mus-
keln können elektrisch isolirt ge-
reizt werden, leicht und jederzeit
der Omohyoideus.
Die Zungenbeinmuskeln wirken
natürlich beim Schlucken, Sprechen
u. s. w. in mannigfachen Combinatio-
nen. Diese sind (nach Heule) aus
beistehendem Schema zu ersehen.
Zieht die Gruppe SH abwärts, PH
rück- und aufwärts und MH vor-
und aufwärts, so folgt aus der Ver-
bindung von PH mit MH ein Zug-
gerade nach oben, aus der Verbin-
dung von SH mit MH ein Zug vorwärts, von SH mit PH ein Zug
rückwärts, der entweder gerade oder je nach dem Vorherrschen der
einen oder anderen Gruppe zugleich mehr auf- oder abwärts ge-
richtet ist.
272 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Den Bewegungen des Zungenbeins nach oben und unten folgt
der Kehlkopf. Letzteren können ohne jenes die M. sternothyr. und
thyreohyoid. bewegen.
Ueber Lähmung zustände der in Eede stehenden Muskeln ist
wenig bekannt, feinere Störungen scheinen sich nicht bemerklich zu
machen. Hemiplegische Zustände lassen diese wie alle Muskeln, die
durch den Willen nur doppelseitig innervirt werden können, relativ
frei. Bei peripherischen (Kern-) Lähmungen werden Schluck- und
Sprachstörungen die Hauptsymptome sein.
i. Die Muskeln des Kehlkopfes.1)
Die Muskeln des Kehldeckels (N. laryngeus sup.), Mm.
thyreo- und aryepiglottici, ziehen den Kehldeckel herab, ihre
Lähmung bewirkt ungenügenden Kehlkopfverschluss.
Der M. c r i c o - 1 h y r e o i d e u s (N. laryng. sup.) neigt den Schild-
knorpel nach vorn herab und spannt das Stimmband. Seine Läh-
mung lässt die Stimme tiefer und rauher erscheinen.
Alle übrigen Kehlkopfmuskeln werden vom N. laryngeus in f.
(R. recurrens n. vago-accessorii) versorgt.
Der M. crico-arytaenoideus posticus dreht die Giess-
beckenknorpel nach aussen und erweitert die Stimmritze. Läh-
mung dieses Muskels, des Stimmbandabductor, macht die Stimme
tiefer und unrein, nicht tonlos. Doppelseitige Lähmung bewirkt be-
sonders Athembeschwerden, inspiratorische Dyspnoe und Stridor bei
beschleunigter Respiration; die Stimmbänder sind einander genä-
hert, weichen bei der Inspiration nicht auseinander, sondern treten
einander noch näher. Einseitige Lähmung bewirkt keine deutlichen
Symptome ; das betroffene Stimmband steht bei der Inspiration still.
Der M. crico-arytaenoideus lateralis ist Antagonist des
vorigen, verengert die Stimmritze.
Die Mm. arytaenoidei transversi und obliqui nähern
die G-iessbeckenknorpel einander und verengern die Stimmritze.
Der M. thyreo- arytaenoideus verzieht den Giessbecken-
knorpel nach vorn und unten, ohne das Stimmband zu spannen, was
erst geschieht, wenn jener und der Schildknorpel durch die betref-
fenden Muskeln iixirt sind.
Lähmung der Stimmbandadductoren bewirkt Aphonie, weder
Stridor noch Dyspnoe. Diese Lähmung ist in der Regel functio-
1) Alles Nähere siehe in den Specialschriften.
Muskeln, die den Kopf und die Halswirbel bewegen. 273
neiler (hysterischer) Natur. Das Sprechen geschieht dann tonlos, der
Husten aber ist oft tönend. Die Stimmbänder haben normale Stellung
und bewegen sich normal bei der Athmung, nähern sich aber nicht
bei Phonationsversuchen.
Complete einseitige Recurrenslähmung bewirkt Cada-
verstellung des betroffenen Stimmbandes (d. h. dasselbe ist massig
abducirt und bewegungslos, während das andere sich frei bewegt
und bei der Adduction die Mittellinie überschreitet), klangarme, durch
Schwebungen unreine Stimme, die bei Anstrengungen leicht in das
Falset umschlägt, keine Athmungstörung.
Complete doppelseitige Recurrenslähmung bewirkt
Cadaverstellung beider Stimmbänder und Aiyknorpel, absolute Stimm-
losigkeit, grosse Luftverschwendung bei Phonations- und Hustever-
suchen und übermässige Anstrengung der Exspirationsmuskeln, Un-
möglichkeit kräftigen Hustens und Exspirirens. Dyspnoe ist, wenig-
stens bei Erwachsenen, in der Ruhe nicht vorhanden, bei tiefer
Athmung tritt Stridor ein.
Die genauere Diagnose der Kehlkopflähmungen und Krämpfe
hat sich ausschliesslich auf die laryngoskopische Untersuchung zu
gründen.
Die Untersuchung der Kehlkopfmuskeln durch endolaryngeale
(endopharyngeale) Elektrisation ist möglich, aber schwierig aus-
zuführen. Yon der Haut aus kann isolirt der M. cricothyr. gereizt
werden. Ferner gelingt es zuweilen durch Eindrücken einer knopf-
förmigen Elektrode unter den vorderen Rand des M. sternocieidomast.
in der Mitte zwischen Kehlkopf und Brustbein den N. recurrens zu
erregen. Auch Reizimg des X. laryng. sup., d. h. Bewegung der Epi-
glottis, kann durch percutane Elektrisation bewirkt werden.
k. Die Muskeln, die den Kopf und die Halswirbel bewegen.
Der M. sternocleidomastoideus (X. accessorius, ausserdem
einige Fäden vom PL cervicalis) einer Seite dreht das Gesicht nach
der entgegengesetzten Seite und beugt die Halswirbelsäule etwas, so
dass das Kinn gehoben wird, das Ohr der gleichen Seite tiefer steht
und das Gesicht, bei Wirkung des rechten Muskels z. B., nach links
oben gerichtet ist. Nach Duchenne ist die Drehung des Kopfes
mehr Sache der Portio sternalis, die Beugung Sache der Portio cla-
vicularis. Wirken die Muskeln beider Seiten, so schieben sie den
Kopf nach vorn mit Beugung der Halswirbelsäule und Erhebung des
Kinns. Hyrtl nennt den M. sternocleid. Sustentator capitis, da er
M ob i us, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. IS
274 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
bei jeder Stellung des Kopfes ihn darin erhalten hilft. Bei ange-
strengter Athnning wird durch die Nackenmuskeln der Kopf in auf-
rechter Stellung fixirt und liehen die Mm. sternocleid. Schlüsselbein
und Brustbein.
Will man den M. sternocleid. sich energisch contrahiren sehen,
so lässt man den Kopf in der ausgestreckten Bückenlage erheben,
oder lässt den Kopf nach vorn und abwärts bewegen, während man
das Kinn mit der Hand zurückhält.
Bei einseitiger Lähmung des M. sternocleid. steht der Kopf in
geringem Grade schief im Sinne des contralateralen Muskels. Bei
Lähmung des rechten Muskels kann der Kopf nur schwer nach links
gedreht werden, während passive Bewegung kein Hinclerniss findet.
Bei den betreffenden Bewegungen sieht und fühlt man, dass der feste
Muskelbauch auf der kranken Seite fehlt. Bei längerer Dauer der
Lähmung kommt es zu Contractur des contralateralen Sternocleid.,
die den Kopf in höherem Grade schief stellt und die passive Be-
weglichkeit aufhebt.
Bei doppelseitiger Lähmung steht der Kopf gerade, aber sinkt
leicht nach hinten und alle vom Sternocleid. auszuführenden Bewe-
gungen können theils gar nicht, theils nur mühsam, mit Hülfe anderer
Muskeln ausgeführt werden, besonders können die Kranken im Lie-
gen den Kopf nicht erheben. Aufrechthalten und Bewegen des Kopfes
führt zu rascher Ermüdung.
Klonische und tonische (Caput obstipum spasticum) Krämpfe
des Sternocleid. werden leicht zu erkennen sein.
Die elektrische Eeizung ist sehr leicht auszuführen (vergl.
Fig. 45).
Ueber den M. cucullaris siehe unten (S. 290).
Ueber die Mm. scaleni siehe unten (S. 281).
Die Mm. recti icapitis antici major et minor sind die
Kopfnicker, machen die Bewegung im Gelenke zwischen Atlas und
Hinterhaupt nach vorn.
Der M. rectus cap. lateralis hilft den Kopf seitlich beugen.
Der M. Ion gus colli zerfällt in drei Abtheilungen. Die innerste
beugt die Hals Wirbelsäule, die zweite (Obliquus colli inf.) dreht sie,
die dritte (Obliquus colli sup.) beugt und dreht sie, aber in entgegen-
gesetzter Bichtung. Die Gesammtwirkung ist Beugung des Halses.
Die Mm. recti capitis postici major et minor bewegen
den Kopf im Atlas-Hinterhauptgelenk nach hinten.
Der M. rectus cap. posticus lateralis zieht den Kopf
zur Seite.
Muskeln, die den Kopf und die Halswirbel bewegen.
Der M. obliquus cap. superior s. minor streckt den Kopf.
Der M. obliquus cap. inferior s. major ist Eotator capitis,
dreht den Kopf im Atlas -Epistropheusgelenke. unterstützt von dem
Obliquus colli sup. (siehe oben Longus colli j und dem Complexus minor.
Die Mm. spinalis eervieis und semispinalis cervicis,
die kurzen Muskeln zwischen den Halswirbeln müssen
bei einseitiger Wirkung die Halswirbelsäule seitlich beugen, bez.
drehen, bei doppelseitiger strecken. Seitliche Beugung ist auch Auf-
gabe des M. transversalis cervicis.
Die Mm. Mventer cervicis und complexus major ziehen
den Kopf nach hinten.
Der M. complexus minor s. trachelomastoideus zieht
ebenfalls den Kopf nach hinten, dreht ihn aber bei einseitiger Wirkung.
Die Um. splenii capitis
et colli ziehen bei einseitiger
Wirkung den Kopf und Hals
schief nach hinten und beugen
den Kopf nach ihrer Seite.
strecken ihn kraftvoll bei doppel-
seitiger Wirkung.
Sämmtliche tiefe Hals- und
Xackenmuskeln werden von den
Zweigen der vier oberen
Halsnerven und zum geringe-
ren Theile von den hinteren
Zweigen der vier unteren Hals-
nerven innervirt.
Einer isolirten elektri-
schen Eeizung entziehen sie
sich mit Ausnahme des Splenius
capitis (Fig. 45).
Feher isolirte Lähmungen
ist hier so gut wie nichts bekannt.
Bei einseitiger oder allgemeiner
Parese der Halsmuskeln wird das
Beugen. Strecken. Drehen des Kopfes und Halses in entsprechender
AVtise Xoth leiden. Da beim Sitzen. Stehen. Gehen, Aufrechthalten
des Kopfes die Hauptthätigkeit der bezüglichen Muskeln ist. cha-
rakterisirt sich ihre Lähmung am ersten dadurch, dass der Kopf
der Schwere folgend, nach vorn fällt. Km dieses zu vermeiden, werfen
anfänglich die Kranken den Kopf nach hinten, ihn so zu sagen ba-
18*
Fig. 50.
Krampf des rechten 11. splenius capitis
(nach Duchenne).
276 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
lancirend, doch bei zunehmender Lähmung- sinkt er nach vorn und
schliesslich ruht das Kinn dem Sternum auf.
Diffuse Krämpfe der Nackenmuskeln sind ziemlich häufig', so-
wohl klonische als tonische („Nackenstarre").
Isolirte Krämpfe scheinen besonders in den Nutatoren und
Rotatoren (Nick- oder Salemkrämpfe, Tic rotatoire) des
Kopfes, sowie im Splenius vorzukommen.
Der Krampf des Splenius unterscheidet sich von dem des
Stemocleidom. dadurch, dass hier das Kinn gehoben und nach der
anderen Seite gedreht, dort der Kopf nicht gedreht und nach der
Schulter der kranken Seite geneigt ist. Ausserdem fühlt man den con
trahirten Splenius im Nacken als derben Wulst.
I. Die Muskeln, die die Wirbeisäule bewegen.
Alle hinteren Muskeln der Wirbelsäule strecken sie bei doppel-
seitiger Zusammenziehuug. Die unteren und oberen Abschnitte dieser
Musculatur können selbständig thätig sein, so dass bald nur der
untere, bald nur der obere Abschnitt der Wirbelsäule bewegt wird.
Bei einseitiger Wirkung kommt es je nach dem mehr geraden
oder mehr schrägen Verlaufe der Muskeln zur Beugung nach hinten
und zur Seite oder zur Drehung der Wirbelsäule.
Die Mm. sacrolumbaris und longissimus dorsi (M. erec-
tor trunci) strecken bei doppelseitiger Wirkung die Lenden- und
untere Brustwirbelsäule. Bei einseitiger Wirkung ziehen sie die
Wirbelsäule schräg nach hinten, ohne sie zu drehen, so dass eine
etwa bis zum achten Brustwirbel reichende Krümmung entstellt,
deren Convexität nach der den contrahirten Muskeln entgegengesetzten
Seite gerichtet ist.
Der M. spinalis dorsi und die Mm. interspinales müssen
den vorher genannten gleichsinnig wirken.
Der M. semispinalis dorsi ist hauptsächlich der Dreher der
Wirbelsäule, nur bei doppelseitiger Wirkung streckt er sie. Ihm
gleichsinnig Wirkt der M. multifidus Spinae. Die zwischen Quer-
und Dornfortsätzen verlaufenden Muskeln werden um so eher die
Wirbel drehen, je mehr ihr Verlauf ein querer ist.
Die Mm. intertransversarii werden die seitliche Beugung
der Wirbelsäule unterstützen.
Die Beugung der unteren Wirbelsäule direct nach rechts oder
links ist Aufgabe des M. quadratus lumborum.
Nach vorn und seitlich nach vorn beugen die Bauchmuskeln
die Wirbelsäule.
Muskeln, die die Wirbelsäule bewegen. 277
Die genannten Muskeln werden in der Hauptsache von den
Zweigen der Dorsalnerven, zum kleineren Theile von den hin-
teren Aesten der Lendennerven versorgt.
Durch elektrische Reizung- kann beim Gesunden, abgesehen
von den Bauchmuskeln, nur der Sacrolumbaris zur Contraction ge-
bracht werden : Atrophie der oberen Muskelschichten gestattet u. U.
die tieferen Muskeln (Semispinalis) zu reizen.
Lähmung der Strecker des Brusttheils der Wirbel-
säule bewirkt clorso-cervicale Kyphose. EinLoth, an den am meisten
vorstehenden Brustwirbeln angebracht, hängt 10 — 15 cm hinter dem
Os sacrum. Um diese Verschiebung des Schwerpunktes auszugleichen,
wird das Becken aufgerichtet, zur Lordose der Lendenwirbelsäule
kommt es nicht,
Sehr viel wichtiger ist Lähmung der Strecker oder Beu-
ger der unteren Wirbelsäule. Ist der Erector trunci beider-
seits gelähmt, so wird nach Duchenne beim Stehen und Gehen
der Rumpf direct zurückgebeugt, so dass ein von den vorstehenden
Brustwirbeln ausgehendes Loth hinter das Os sacrum fällt. Dabei
besteht Streckung im Hüftgelenke, d. h. Aufrichtung des Beckens,
und um das Hintenüberfallen zu vermeiden, Beugung im Knie- und
Fussgelenke. Bei dieser Stellung wird der Rumpf durch die Wirkung
der Bauchmuskeln aufrecht erhalten. Die unteren Lendenwirbel bil-
den einen nach hinten offenen Winkel, die obere Lenden- und untere
Brustwirbelsäule verläuft ziemlich geradlinig nach hinten oben (Fig. 51,
vergl. auch Fig. 10). Beim Liegen wird die Wirbelsäule gerade,
beim Sitzen bildet sie einen nach hinten convexen Bogen, der Kranke
verhindert dann das Vornüberfallen durch Aufstützen der Hände
auf die Schenkel.
Lähmung der Bauchmuskeln, die sich zunächst dadurch
kund giebt. dass das Aufrichten aus horizontaler Lage ohne Hülfe
der Arme unmöglich ist, bewirkt wie die der Wirbelsäulenstrecker
Lordose, aber hier fällt ein von den vorstehenden Brustwirbeln aus-
gehendes Loth etwa auf die Mitte des Os sacrum, das sammt dem
Becken stark geneigt ist. Die unwillkürliche Beugung im Hüftgelenke
verhindert das Hintenüberfallen des Körpers. Der starken Einbiegung
der Lendenwirbelsäule gemäss springt der Bauch stark vor und pro-
miniren die Xates. Entsprechend diesem Verhalten bei eoiüpleter
Lähmung der Bauchmuskeln findet man nach Duchenne bei starker
Ausprägung der physiologischen Lendenlordose oft Schwäche der
Bauchmuskeln.
Sind die Bauchmuskeln und die Wirbelsäulenstrecker gelähmt,
278
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
so ist die aufrechte Haltung- überhaupt unmöglich. Nur durch beider
Wirkung kommt sie zu Stande.
Bei einseitiger Lähmung- des Erector trunci wird nach
Angabe der Autoren der untere Theil der Wirbelsäule nach der
kranken Seite zu convex und der Brusttheil zeigt eine compensirende
Skoliose. Besteht keine Contractur, so verschwindet die Skoliose bei
der Beugung des Rumpfes nach vorn. Sind alle Muskeln auf einer
Fig. 51.
Stellung des Kumpfes bei Lähmung der Wirbel-
säulenstrecker.
Fig. 52.
Stellung des Bumpfes bei Lähmung der Bauch-
muskeln.
(Nach Duchenne.)
Seite der Wirbelsäule gelähmt, so müssen die Muskeln der gesunden
Seite die letztere schräg nach hinten ziehen und zugleich drehen,
so dass die Vorderfläche der Wirbel nach der gelähmten Seite sieht.
Zugleich tritt natürlich eine compensirende cervicodorsale Skoliose
mit Rotation ein.
Lähmung eines Quadratus lumborum bewirkt leichte
Beugung der Lendenwirbelsäule nach der gesunden Seite mit com-
pensirender Skoliose im Brusttheile ohne Rotation.
Muskeln, die die Athembewegungen ausführen. 279
Besteht statt einseitiger Lähmung einseitige Contracting oder
gesellt sich diese zu jener, so finden Ausgleichungs versuche Wider-
stand und erregen Schmerz in der Gegend des oder der contractu-
rirten Muskeln. Krampf sämmtlicher Muskeln hinter der Wirbel-
säule verwandelt diese in einen einzigen nach vorn convexen Bogen
(„Opisthotonus"), einseitiger Krampf dieser Art bewirkt seitliche
Krümmung („Pleurothotonus"), Krampf aller Beugemuskeln den so-
genannten „Emprosthotonus " .
m. Die Muskeln, die die Athembewegungen ausführen.
Der wichtigste Einathmungsmuskel ist das Zwerchfell (N.
phrenicus aus dem PL cervicalis, hauptsächlich vom vierten N. cervic).
Seine Contraction bewirkt Hebung der Eippen, an denen es sich an-
setzt, nach oben und aussen und damit Vergrösserung der Thorax-
basis. Die Vergrösserung ist gering im frontalen, beträchtlich im
sagittalen Durchmesser. Das Centrum des Zwerchfells wird bei der
Contraction kraftvoll herabgezogen, so dass das Zwerchfell die Form
eines abgestumpften Kegels annimmt und der verticale Durchmesser
des Thorax vergrössert wird.
B ei elektrischer Reizung des N. phrenicus am Halse wer-
den Hypochondrien und Epigastrium vorgewölbt, die Luft dringt
mit einem seufzenden Geräusche durch den Kehlkopf. Bei einseitiger
Reizung ist die Erweiterung der Thoraxbasis nur einseitig. Bei Te-
tanisirung beider Phrenici (des Hundes) sah Duchenne, der die
Physiologie und Pathologie des Zwerchfells ziemlich erschöpfend be-
arbeitet hat, trotz angestrengtester Athmung der oberen Thoraxhälfte
nach kaum einer Minute Asphyxie eintreten. Tetanisirung Eines
Phrenicus bewirkte keine Asphyxie.
Die Reizung der Phrenici am eben getödteten und ausgeweideten
Thiere bewirkte Bewegung der unteren Rippen nach innen und Ver-
engerung der Thoraxbasis, hatte insofern eine exspiratorische Wir-
kung. Es hängt daher die Erweiterung der Thoraxbasis von dem
Gegendrucke der Baucheingeweide ab. Immerhin wurde auch am
ausgeweideten Thiere durch das Herabsteigen des Zwerchfellcentrum
der Thoraxraum vergrössert. Der seufzende Ton blieb aus, ent-
sprechend der geringeren Kraft, mit der die Luft durch den Kehl-
kopf eindrang.
Lähmung des Zwerchfells bewirkt inspiratorische Einziehung
des Epigastrium und der Hypochondrien, während die oberen zwei
Drittel des Thorax sich erweitern. Sind die Kranken in Ruhe, so
280 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
wird die Athmung ziemlich ausreichend durch die Contraction der
Intercostales und Scaleni besorgt, nur die Bespirationsfrequenz ist
etwas gesteigert. Beim Sprechen, Gehen, bei jeder Erregung treten
auch die übrigen Athmungsmuskeln in Thätigkeit und es tritt Dys-
pnoe ein. Beim tiefen Athmen fühlen die Kranken die Eingeweide
in die Brust steigen, die Stimme ist abgeschwächt. Husten, Expekto-
ration, besonders die Defäcation sind erschwert. Eine leichte Bron-
chitis kann den Tod bringen. Letzterer tritt auch ein, wenn ausser
dem Zwerchfelle die Intercostalmuskeln gelähmt werden.
Parese des Zwerchfells verursacht nur bei angestrengter Ath-
mung Beschwerden. Auch einseitige Zwerchfelllähmung ist beobachtet
worden.
Tonischer Krampf des Zwerchfells verursacht bedrohliche
Erscheinungen (s. oben). Die schwere Dyspnoe zwingt die Kranken
zum Aufrechtsitzen, heftiger Schmerz wird längs der Zwerchfell-
ansätze empfunden. Dauert der Krampf an, so kommt es zur Asphyxie
und möglicherweise zum Tode. Dass der tonische Zwerchfellkrampf
Beziehungen zum Bronchialasthma habe, ist sehr zweifelhaft.
Klonischer Zwerchfellkrampf wird als Singultus (Schlucksen)
bezeichnet, er ist eine allbekannte Erscheinung: kurze, stossweise
Contractionen des Diaphragma erweitern den Thorax und werden
von einem schluchzenden Geräusche begleitet.
Es ist auch einseitiger klonischer Krampf des Zwerchfells, der
regelmässig vor jeder Inspiration eintrat, beschrieben worden.
Nach Landerer unterstützt der M. serratus posticus in-
ferior die Thätigkeit des Zwerchfelles dadurch, dass er nicht nur
die untersten Bippen dem Zwerchfell entgegen fixirt (He nie) und
dadurch die Inspiration indirect unterstützt, sondern auch durch die
von ihm den Bippen mitgetheilte Bewegung nach auswärts und ab-
wärts selbständig inspiratorisch wirken kann.
Die Mm. intercostales (Nn. intercostales) sind Heber der
Bippen, Inspiratoren, die interni sowohl als die externi. Das
Punctum fixum bietet die erste Bippe, die hauptsächlich von den
Scalenis emporgehalten wird. Contrahiren sich die Muskeln eines
Zwischenrippenraums, so bleibt die obere Bippe unbewegt, die untere
wird nach aussen oben gehoben, beziehungsweise gedreht. Bei Con-
traction aller Intercostales werden alle Bippen und mit ihnen das
Sternum nach vorn und oben gehoben, der Brustkorb erweitert. Bei
ruhiger Athmung treten die Intercostales nicht stark in Thätigkeit,
um so mehr bei tiefer Einathmung. Die Beobachtung an Leuten,
denen die oberflächlichen Brustmuskeln fehlen, oder geschwunden
Muskeln, die die Atkenibe-vvegTingen ausfahren. 281
sind, hat ergeben, dass bei tiefer Athmung die Einsenkungen der
Intercostalräume verschwinden, während bei der Ausathmimg die
Zwisclienrippenmiiskeln schlaff sind, bei angestrengter Ausathmimg
die Intercostalräume hervorgewölbt werden. Die elektrische Rei-
zung, die bei solchen Personen ausführbar ist, zeigt, dass sowohl
Contraction des Intercost. int. (directe Heizung im vorderen Ende
des Zwischenrippenraums, da wo der Intercost. ext. den int. nicht
deckt) die nächstuntere Eippe hebt, als Contraction des Interc. ex-
ternus, als Contraction beider (Reizung des N. intercostalis).
Besteht Lähmung der Mm. intercostales , die in der Regel
gleichzeitig mit Lähmung der auxiliären Inspirationsmuskeln beob-
achtet wird, so bleibt, auch bei tiefer durch das Zwerchfell verur-
sachter Einathmung, der obere Theil des Thorax unbewegt, während
das Epigastrium sich vorwölbt und die unteren Rippen sich heben.
Basis des Thorax (mit dem Cyrtometer bei Höhe der Inspiration aufsenommen) hei Lähmung
der Mm. intercostales (a), bei Lähmung des Zwerchfells (h). Nach Duchenne.
Solche Kranke gerathen beim Gehen, Sprechen u. s. w. rasch in
Dyspnoe. Die tiefe Einathmung ist zwar durch das Diaphragma
möglich, die Ausathmimg aber ist immer kurz und unkräftig. Die
Kranken können ein Licht schwer ausblasen, sie können nicht stark
husten, sind daher bei Bronchitis in Lebensgefahr. Die Schwäche
der Exspiration erklärt sich dadurch, dass bei Lähmung der Inter-
costales die oberen zwei Drittel der Brust sich verengern, sich dau-
ernd in Exspirationstellung befinden. Die tonische Contraction der
Intercostales nämlich ist Antagonist der Kräfte, die den Thorax zu
verengern streben, besonders seiner Elasticität, Fällt jene hinweg,
so überwiegen diese Kräfte, die Rippen werden schräger, die Zwischen-
räume enger (vergl. Fig. 53).
Die wichtigsten unter den Hülfsmuskeln der Inspiration sind
die Mm. scaleni (PL cervicalis und Aestchen von der Pars supra-
clavicul. des PL brachialis). Sie heben die erste und auch die zweite
282 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Eippe, unterstützen somit die Intercostales (s. oben) und betheiligen
sich bei der Athmung. sobald diese thätig sind. Duchenne hat
nachgewiesen, dass sie bei Fixation der Eippen auch die Halswirbel-
säule zu beugen vermögen.
Der M. s t e r n o c 1 e i d o m a s t o i d e u s kann, wenn der Kopf durch
die Xackenmuskeln festgehalten wird, den unteren Ansatzpunkt nach
vorn und oben heben, betheiligt sich daher bei angestrengter Ath-
mung an der Inspiration.
Der vorderste Theil des M. cucullaris (Pars clavicularis s.
respiratoria) betheiligt sich bei tiefen Inspirationen. Die dadurch
verursachte Hebung der Schulter kann zur Erweiterung des Thorax
beitragen, wenn gleichzeitig der M. pectoralis minor (Nn. thora-
cici ant. vom PI. brach.) und der M. subclavius (N. subclavius
vom PL brach.) sich contrahiren. Jener muss die Eippen, an die
er sich ansetzt, heben, Duchenne fühlte ihn bei Atrophie des Pec-
tor. maj. bei angestrengter Inspiration anschwellen, dieser, von dem
das Letztere ebenfalls gilt, soll die erste Eippe heben, doch dürfte
er hauptsächlich die Wirkung haben, das Schlüsselbein fester in die
Brustb einpf anne hineinzudrücken.
Die Min. 1 e v a t o r e s c o s t a r u m (hintere Aeste der Nn. thora-
cici) müssen die unteren Eippen nach hinten aussen bewegen, der
M. serratus posticus sup. (X. dors. scap.) thut das Gleiche mit
der 2. — 5. Eippe.
"Wahrscheinlich ist auch der M. serratus ant. magnus nebst
dem M. rhomboideus als Inspirationsmuskel, der bei Dyspnoe in
Thätigkeit tritt, zu betrachten (s. S. 295).
Ob der M. pectoralis maj. zur Inspiration mitwirken kann,
ist zweifelhaft. Man nimmt gewöhnlich an, dass die oberflächlichen
Brustmuskeln bei fixirter Schulter die Einathmung unterstützen
können, weil Schwerathmende sich mit den Armen fest aufzustützen
pflegen, doch kann letzteres Verhalten auch zur Fixation der Wir-
belsäule und damit zur Unterstützung der oben genannten auxili-
ären Inspirationsmuskeln, besonders der Scaleni und Sternocleido-
mastoidei, dienen.
Lähmung' der Auxiliarmuskeln bewirkt keine Störung der
Eespiration, noch der Phonation. Isolirte Lähmungen sind daher,
soweit die betroffenen Muskeln nicht der directen Beobachtung unter-
liegen, nicht zu diagnosticiren. Ueber isolirte Lähmung der Scaleni
ist nichts bekannt.
Krämpfe aller oder doch der meisten Inspirationsmuskeln
kommen nicht selten vor und stellen sich in verschiedener Form,
Muskeln, die die Atlieuibewegimgen ausführen.
283
meist als Theilerscheinung der Hysterie dar. Bald wird die ruhige
Athmung von einzelnen tiefen und tönenden Inspirationen unter-
brochen, bald tritt eine längere Eeilie keuchender Inspirationen
auf u. s. w.
Die Alisa t Innung wird in der Ruhe wesentlich durch die
elastischen Kräfte des Thorax bewirkt. Die active Ausathmung
wird bewirkt durch Contraction der Bauchmuskeln (Xn. inter-
eostales), des M. triangularis sterni (Xn. intercostales) , der
wahrscheinlich die 3. — 6. Eippe herabziehen hilft, und (nach Du-
chenne) durch die Bronchialmuskeln (N. vago-accessorius).
M. rectus abdo-
mitiis iXn. inter-
costales abdomi-
nales).
;M. serrat. maa:n.
31. latissimus
dorsi.
M. obliqiras
abdom. externus
(Xn. abdominales
intercostales;
II. transversus
abdoininis.
Fig. 54.
Motorische Punkte am Eumpfe (nach. Ziemssen).
Der M. obliquus ext. abdominis zieht die Bauchwand in
der Richtung von unten-innen nach oben-aussen ein, zieht gleich-
zeitig die Rippen, an denen er sich ansetzt, herab und neigt den
Rumpf bei einseitiger Wirkung nach vorn und seitlich, bei doppel-
seitiger direct nach vorn.
Der IL obliquus int. abdom. deprimirt die Bauchwand von
unten-aussen nach oben-innen.
284 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Der M. t r a n s v e r s u s ab d. zieht direct nach hinten, den Bauch
quer einschnürend.
Der M. rectus ab dorn, zieht den Nabel, wenn sein oberer Theil
contrahirt ist, nach oben, wenn der untere contrahirt ist, nach unten,
nähert durch seine Gesammtwirkung das Sternum der Symphyse,
den Rumpf nach vorn beugend, und deprimirt den mittleren Theil
der Bauchwand kräftig.
Elektrisch leicht zu reizen sind jederzeit die Mm. obliquus
ext, und rectus (vergl. Fig. 54), bei Atrophie der oberen Schicht
gelingt es auch, die Mm. obliquus int. und transvers. isolirt zur Con-
traction zu bringen, hie und da kann man das Letztere nach Ziems-
sen auch bei mageren Gesunden erreichen.
Beim Gesunden scheinen die Bauchmuskeln immer gemeinsam
thätig sein, ihre Gesammtwirkung ist Verengerung der Bauchhöhle
und der Basis des Thorax einerseits, Vorwärtsbeugung des Rumpfes
andererseits, die wegfällt, sobald die Wirbelsäule durch die Streck-
muskeln fixirt ist. Ihre exspiratorische Wirkung ist eine sehr kräftige.
Ihre tetanische Contraction hemmt die Zwerchfellsathmung vollständig
und bewirkt eine beträchtliche Respirationstörung. Contrahiren sie
sich gemeinsam mit dem Zwerchfelle, so wird ein starker Druck auf
den Inhalt des Bauches ausgeübt: Bauchpresse (Prelum abdomi-
nalej, so bei der Defäcation, bei der Geburt.
Bei Lähmung der Bauchmuskeln ist kräftiges Ausathmen
nicht möglich, Husten, Schreien, Singen erschwert oder unmöglich,
während in der Ruhe die Athmung normal vor sich geht. Ferner
werden die Defäcation und die Harnentleerung erschwert und der Leib
aufgetrieben, da die Contenta die schlaffe Bauchwand ausbuchten.
Letzteres sieht man besonders bei der Einathmung, wo die Erhebung
sich nicht mehr auf das Epigastrium beschränkt. Da die Eingeweide,
die die schlaffen Bauchdecken vor sich hertreiben, dem Zwerchfelle
keinen genügenden Stützpunkt gewähren, kann dieses die Rippen
nicht heben, sondern verengert die Thoraxbasis. Die Störungen in
der Bewegung des Rumpfes und der aufrechten Haltung sind oben
besprochen.
Besteht einseitige Lähmung der Bauchmuskeln, so wird bei jeder
kräftigen Ausathmung der Nabel nach der gesunden Seite verzogen.
Während der Inspiration wird die gelähmte Seite vorgebuchtet und
hier die Basis des Thorax verengert.
Complete Lähmungen, denen die geschilderten Erscheinungen ent-
sprechen, sind sehr selten, häufiger kommen Paresen vor, man wird
die Symptome im letzteren Falle natürlich weniger deutlich vorfinden.
Muskeln des Beckeubodens. 285
Vermehrte Spannung' der Bauchmuskeln bewirkt Einsinken des
Bauches (Kahnbauch). Tonischer Krampf stört die Athmung
in empfindlicher "Weise (s. oben). Krämpfe einzelner Bauchmuskeln
können dies nur thun, wenn sie sehr energisch sind und lange an-
halten.
Nach Duchenne sind auch die Bronchialmuskeln Exspi-
ratoren und zwar müssen sie an der ruhigen Exspiration betheiligt
sein, da ihre Lähmung Athmungsbesch werden verursachen soll.
Duchenne fand nämlich bei Kranken (mit progressiver Bulbär-
paralyse), deren Inspiratoren und Bauchmuskeln kräftig- waren, auf-
fallende Exspirationsch wache, sie konnten trotz tiefer Inspiration
kein Licht ausblasen, nur mühsam expectoriren. Dabei bestand
keine Lähmung- am Kehlkopfe, nur war die Stimme, entsprechend
der Exspiratioiischwäche, kraftlos. Die Kranken hatten ein Gefühl
der Angst, es war ihnen voll auf der Brust. Das Athmungsgeräusch
war normal. Tonischer Krampf der Bronchialmuskeln ist wahr-
scheinlich Ursache des Asthma. Auch hier besteht Exspirations-
dyspnoe, die Inspiration kann den Widerstand der verengten Bron-
chen überwinden und die Luft dringt mit pfeifendem Geräusche in
die Alveolen, während sie bei der Exspiration nur ungenügend ent-
leert wird.
Als verbreitete Exspirationskrämpfe sind die verschiedenen For-
men des Hustens zu bezeichnen (Tussis convulsiva, Keuchhusten,
Bellhusten, Bronchokrisen u. s. w.). Genannt seien hier ferner der
Niesekrampf (Ptarmus), der Gähnkrampf (Oscedo, Chasmus), die
Schrei-, Lach-, Wein-Krämpfe.
n. Die Muskeln des Beckenbodens.
Alle Perinaealmuskeln haben die Aufgabe, die untere Becken-
öffnung elastisch zu verschliessen, der Schwere und der Bauchpresse
entgegenzuwirken, die direct auf ihnen ruhenden Eingeweide zutragen.
Der M. sp hin et er ani externus (Nn. haemorrhoid. med. et
inf. vom Plexus pudendalis) schliesst die Aftermündimg', „kann, wie
einst Aeolus, nach Umständen et pr einer e et laxas dare jussus habe-
nas" (Hyrtl).
Der M. levator ani (Nn. haemorrhoid. med. et inf.) hebt den
After mit den übrigen Perinaealmuskeln und drückt das Rectum zu-
sammen. Beim Weibe kann er durch krampfhafte Contraction eine
Verengerung der Scheide bewirken und diese unter Umständen ober-
halb ihres Einganges zusammenschnüren („Penis captivus")-
286 Die Function der einzelnen Muskeln nnd deren Störung.
Der M. b u 1 b o c a v e r n o s u s (N. pudendus) treibt durch klonische
Contractioiien den Inhalt der Harnröhre aus, verengert beim Weibe
als M. constrictor cunni den Scheideneingang, gemeinsam mit
dem Sphincter ani sich contrahirend.
Der M. ischiocavernosus (N. pudendus) muss den Penis je
nach dessen Position heben oder senken, ausserdem die Vena dors. penis
zusammendrücken. Beim Weibe wirkt er entsprechend auf die Clitoris.
Die Mm. transversi perinaei(N. pudendus) haben ausser zur
Hebung des Dammes, besonders des Bulb. urethrae, zur Ausführung
der Ereotion zu wirken. Der M. transvers. perin. superf. hat die
Nebenaufgabe, Dehnungen der Yasa perinaei zu verhindern. Der
M. transvers. prof. comprimirt durch tonische Contraction die ihn
durchbohrenden Venen der Corpp. cavernosa penis (clitoridis). Gleich-
zeitig verschliesst er die Harnröhre. Ist die Erection dadurch ein-
geleitet, dass nach Erschlaffung der glatten Muskeln in den Corpp.
cavern. der Penis durch vermehrten Blutzufluss in weiche Schwellung
gerathen ist, so werden durch die Perinaealmuskeln die Venen des
Penis zusammengedrückt und wird durch Erschwerung des Blutab-
flusses der Penis gesteift. Letztere Aufgabe erfüllt besonders der
M. transvers. prof. durch Druck auf die Venae profundae, während
der Ischiocavern. auf die Vena dorsalis und der Bulbocavern. auf
die aus dem Bulbus urethrae austretenden Venen wirken.
Eine isolirte elektrische Reizung der Dammmuskeln dürfte
sich, abgesehen von den Sphincteren, nicht mit Sicherheit ausführen
lassen. Doch lässt sich leicht Hebung des Dammes bewirken.
Lähmung der Perinaealmuskeln bewirkt Erschlaffung des Dam-
mes, Incontinenz des Afters und Verlust der Erectionsfähigkeit.
Ueber isolirte Lähmung einzelner Muskeln ist so gut wie nichts be-
kannt, nur der Sphincter ani scheint öfter allein oder doch vorwie-
gend gelähmt zu sein. Schwächezustände der Dammmuskeln spielen
wahrscheinlich eine Rolle bei manchen Formen von Prolapsus recti,
vaginae, uteri, von Geschlechtschwäche des Mannes und den ver-
wandten Zuständen.
Krämpfe werden häufig an den Sphincteren beobachtet (Fis-
sura ani, Vaginismus). Der Krampf des Levator ani kann beim Coitus
störend werden, durch Herauswerfen des Samens nach dem Coitus
die Befruchtung hemmen, unter Umständen sogar ein Geburtshinder-
niss abgeben. Krampf des Transversus perinaei prof. ist wahrschein-
lich Ursache des Priapismus.
Der M. cremaster (PI. lumb.), der hier anhangsweise erwähnt
sei. hebt den Hoden seiner Seite.
Muskeln der Eingeweide. Herz- und Blutgefässe. 287
o. Die Muskeln der Eingeweide.
a) In Beziehung auf die genauere Untersuchung des Herzens und
der Blutgefässe ist auf die Lehrbücher der Physiologie und inneren
Median zu verweisen.
Eine elektrische Beizung des Herzmuskels ist nicht ausführbar.
Ziemsse 11 hat zwar nachgewiesen, dass beim Gesunden durch Ein-
wirkung kräftiger elektrischer Beize die Schlagfolge des Herzens
verändert werden kann, doch lässt sich dieser Umstand diagnostisch
kaum verwertheil. Die für den Neurologen hauptsächlich in Be-
tracht kommenden Veränderungen am Herzen sind Schwäche, Be-
schleunigung, Verlangsamung der Herzthätigkeit. die theils dauernd,
theils anf all weise auftreten können und ohne besondere Hülfsmittel
nachzuweisen sind.
Die Muskeln der Blutgefässe regeln deren Weite. Während
Ausdehnung und Spannung der grösseren G-efässe zum Theil direct
beobachtet werden können, ist für den Zustand der dünneren Gefässe
die Farbe und Temperatur der betreffenden Haut- und Schleinihaut-
bezirke kennzeichnend. Verengerung (beziehungsweise Krampf) der
Gefässe bewirkt Blässe und Kühle (weiterhin Schrumpfung, Abnehmen
der Empfindlichkeit. Schmerz. Schwerbeweglichkeit) , Erweiterung,
die, wir wissen nicht wie. durch Xerveneinfluss bewirkt werden kann,
verursacht Wärme und Böthe (weiterhin leichte Schwellung). Krampf
der kleinen Venen ruft starke Cyanose hervor. Lähmung der Blut-
gefässe macht diese todten elastischen Schläuchen gleich, bewirkt
daher Verlangsamung der Circulation, Kühle und Cyanose (häufig
Mannorirung). Ausserdem reagiren die gelähmten Gefässe auf Beize
gar nicht, oder doch langsamer und weniger als die gesunden. Als
prüfende Beize können Wärme. Kälte, mechanische und elektrische
Erregung verwandt werden. Die elektrische Prüfung hat keine be-
sonderen Vortheile. Die Anode bewirkt direct Böthung. die Kathode
erst Blässe und dann eine etwas hellere Böthe als die Anode, Die
Böthe der Haut hält oft auffallend lange an. Faradisiren der Haut
bewirkt ebenfalls nach vorübergehender Erblassung Böthe. Durch
die Einwirkung des elektrischen Funkens sah ich auf cyanotischer
Haut (über gelähmten Muskeln) dunkelblaue, leicht erhabene Flecke
entstehen, die 24 Stunden lang sich erhielten, durch Erwärmung
verschwanden (Venenkrampf ?). Zuweilen gelingt es durch elektrische
Beizung von Nerven. Gefasserweiterung in deren Bezirke zu bewirken.
Als mechanischer Beiz wird meist das Streichen mit stumpfen
Gegenständen (Federhalter oder dergl.) gebraucht. Eine eigenthüm-
288 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
liehe, wohl auf gesteigerte Eeizbarkeit hindeutende Reaction ist die,
dass nicht ein einfacher rother Strich entstellt, sondern eine erhabene
weisse Leiste mit rothem Hofe, oder eine Quaddel, die längere Zeit
hindurch sich hält, (Urticaria facti tia).
Oh durch blossen Gefässkrampf Gangrän entstehen kann, ist
zweifelhaft. Dies gilt auch von den anderen Veränderungen der
Ernährung, die man oft vasomotorischen Einflüssen zugeschrieben hat.
Mit Bestimmtheit kann man nur sagen, dass Theile mit gelähmten
Gefässen sich Schädlichkeiten gegenüber weniger widerstandsfähig
erweisen werden als gesunde. Aus Functionstörungen der Organe
allein Schlüsse zu ziehen auf den Zustand ihrer Blutgefässe, ist un-
zulässig, wie mit Nachdruck hervorgehoben sei. —
ß. Die Muskeln des Magens und des Darms (N. vagus, Nn. splan-
chnici) führen bekanntlich die sogenannten peristaltischen Bewegun-
gen aus, die direct nur unter abnormen Verhältnissen (Erweiterung
des Magens, dünne Bauchdecken, dünne Bruchsäcke u.s.w.) beobachtet
werden können. Durch sondenförmige Elektroden können zwar Con-
tractionen im Magen und unteren Darmabschnitte erregt werden, die
auf die gereizte Stelle beschränkt, träge sind und den Eeiz über-
dauern, aber zu diagnostischen Zwecken ist die elektrische Unter-
suchung nicht brauchbar. Ausgebreitete Bewegungen lassen sich wohl
nur reflectorisch hervorrufen, sei es durch Reizung der Schleimhaut,
sei es durch solche der Bauchhaut. Lähmung der Cardia bewirkt
Sodbrennen, wahrscheinlich auch Veränderung der Schluckgeräusche,
Lähmung des Pylorus muss den Mageninhalt vorzeitig in den Darm
übertreten lassen, oder umgekehrt Darminhalt in den Magen. In-
sufficienz des Pylorus wird auch als Ursache des Uebertretens ver-
schluckter Luft in den Darm und damit der Tympanie angesehen
(Ebstein).
Schwäche der gesammten Magenmuskeln begleitet natürlich
viele Magenkrankheiten. Eigentliche Lähmung scheint in den Fällen
von chronischer Atrophie, die sowohl am Magen als am Darme be-
obachtet worden ist, vorzuliegen. Das Hauptsymptom war in diesen
Fällen schwere Dyspepsie. Als krampfhafte Störungen des Magens
kann man das Aufstossen und Erbrechen bezeichnen. Zu ihnen ge-
hören auch die pathologische Steigerung der peristaltischen Bewe-
gungen: „peristaltische Unruhe des Magens" (Kussmaul), und die
sehr seltenen antiperistaltischen Bewegungen. Der sogenannte „Magen-
krampf", Cardialgie, stellt wohl eine rein sensorische Störung, eine
Neuralgie dar.
Muskeln der Eingeweide. Muskeln der Blase. 289
Schwäche der Darmmuskeln (Atonie des Darms) betrachtet man
vielfach als Ursache der einfachen chronischen Verstopfung. Krampf-
hafte Zusammenziehungen einzelner Darmabschnitte können auch
Ursache der Verstopfung sein. Verbreitete tonische Krämpfe der
Darmmuskeln begleiten die Bleikolik. Durch Vermehrung der peri-
staltischen Bewegungen und damit durch Diarrhoe antwortet der
Darm meist auf abnorme Reizungen seiner Schleimhaut. Auch an-
derweite Erregungen (seelische) können Steigerung der Peristaltik
bewirken. —
y) Die Muskeln der Blase (Nn. haemorrhoid. aus dem 3. und 4.
Sacralnerven) sind theils unwillkürliche, theils willkürliche. Jene
sind die als Detrusor bezeichneten Muskelfaserschichten und der
Sphincter vesicae int. (Heule), der den Anfang der Urethra um-
giebt und beim Manne der Prostata angehört. Der Willkür unter-
worfen ist der Sphincter vesicae ext. (Henle), der ebenfalls inner-
halb der Prostata liegt. Der Detrusor verengt die Blase, so dass
diese ihrem jeweiligen Inhalte entsprechend gross ist, und treibt bei
stärkerer Contraction den Inhalt der Blase aus. Die Sphincteren
verschliessen die Blase. Willkürlich die Harnentleerung anregen kann
man nur durch den Druck der Bauchpresse, dagegen gestattet der
Sphincter ext. dem Willen, direct gegen die Entleerung Einspruch
zu erheben, während der Sphincter int. auch während des Schlafes
die Blase verschliesst.
Die elektrische Reizung der Sphincteren ist durch sonden-
förmige Elektroden leicht, die des Detrusor schwieriger und nur
theilweise zu erreichen.
LähmungdesDetrusor muss die Harnentleerung erschweren,
da diese dann nur durch die Bauchpresse ausgeführt werden kann,
und unvollständig machen, da die letztere zur Entleerung des un-
tersten Blasentheiles , die im gesunden Zustande die ringförmigen
Muskelfasern der Blase besorgen, nicht ausreicht (Ischuria paraly-
tica). Sind auch die Bauchmuskeln gelähmt, so ist die Harnent-
leerung unmöglich (Retentio urinae paralytica), die Blase wird ad
maximum ausgedehnt und schliesslich überwindet der Druck die
Sphincteren, so dass der Harn allmählich ausfliesst (Incontinentia
paradoxa).
Lähmung der Sphincteren bewirkt Unvermögen den Harn
zu halten, so dass dieser abtröpfelt (Incontinentia paralytica). Ist
nur der Sphincter int. gelähmt, so wird zwar während des Wachens
der Harn gehalten, im Schlafe aber entleert sich die Blase, sobald
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 19
290 Die Function der einzelnen Muskeln nnd deren Störung.
sie gefüllt ist. Ist nur der Sphincter ext. gelähmt, so muss dein
Bedürfnisse zu uriniren nachgegeben werden, willkürlicher Aufschub
ist nicht gestattet.
In Wirklichkeit sind vielfach alle Blasenmuskeln geschwächt,
so dass die Symptome der Sphincterenlähmung sich mit denen der
Detrusorlähmung vermischen.
Krampf des Detrusor muss die Ausdehnung der Blase ver-
hindern, bei gefüllter Blase unwillkürliche Harnentleerung verur-
sachen. Meist handelt es sich um reflectorische Contractionen, die
durch abnorme Empfindlichkeit oder abnorme Reizung der Blasen-
schleimhaut verursacht werden und sich als Harnzwang (Tenesmus
vesicae) darstellen. Krampf der Sphi lieferen verhindert die
Entleerung und verursacht Retentio spastica. Er wird daran er-
kannt, dass das Hinderniss, das die Sonde in der Pars prostatica
findet, verschwindet, wenn eine Zeit lang die Sonde dagegen ange-
drückt wird.
Die Muskeln der Harnröhre werden durch tonische Con-
traction das Lumen verschliessen , beziehungsweise den Inhalt der
Harnröhre nach aussen befördern.
Wegen der Muskeln der weiblichen inneren Geschlechtstheile
muss auf die Lehrbücher der Gynäkologie verwiesen werden.
Die Muskeln des Armes,
p. Die Muskeln, die die Schulter und den Oberarm bewegen.
Der M. trapezius s. cucullaris (N. accessorius und Aeste
vom PI. cervicalis) hebt bei doppelseitiger Wirkung beide Schultern
(Achselzucken) und nähert die Schulterblätter etwas der Mittellinie.
Bei einseitiger Wirkung hebt er die Schulter nach innen oben und
zieht den Kopf, wenn dieser nicht fixirt ist, nach aussen und hinten
mit Drehung des Gesichtes nach der entgegengesetzten Seite.
Contrahirt sich allein die Pars clavicularis, so wird hauptsäch-
lich die eben beschriebene Bewegung des Kopfes ausgeführt, nur
bei kraftvoller Contraction wird auch das Acromion gehoben. Ist
der Kopf durch die Nackenmuskeln fixirt, so tritt die Hebung des
Acromion in den Vordergrund, doch auch jetzt wird der Kopf leicht
ö-eneigft. Contrahiren sich beide Part, claviculares, so ziehen sie den
Muskeln, die die Schulte]' und den Obenurn bewegen.
291
Kopf nach hinten. Nur die Pars clavicul. betheiligt sich bei tiefer
Athmung.
Der mittlere Theil des Muskels, d. h. die Fasern, die sich nach
aussen vom Acromion und an der äusseren Hälfte der Spina scap.
ansetzen, hebt zunächst das Acromion, wobei sich der untere Winkel
der Scapula etwas von der Mittellinie entfernt, und bewegt dann
die ganze Scapula kräftig nach oben. Diese Fasern sind die eigent-
lichen Heber des Schulterblattes; je nach ihrer mehr oder weniger
kräftigen Entwicklung erscheint der Hals kurz oder lang.
tat, .aiRnriiSÄ
i. ■>
Fig.
oo.
Fehlerhafte Stellung des rechten Schulterblattes,
durch Atrophie der zwei unteren Drittel des
rechten AI. cucullaris verursacht. Der innere Rand
der Scapula ist rechts weiter von der Mittel-
linie entfernt als links, die Schulter steht tiefer.
(Nach Duchenne.)
Fig. 56.
Fehlerhafte Stellung der Schulterblätter, durch
complete Atrophie beider Cucullares verursacht.
Der M. levator ang. cap. ist intact. Die Latis-
simi sind atrophisch. Die unteren Winkel (BB)
sind der Mittellinie genähert, die inneren (AA)
sind von ihr entfernt. Der innere Rand verläuft
von oben-aussen nach innen -unten. Die Schulter-
ecke (GG) ist gesenkt. CC = M. sternocleid.
DD = M. lev. scap. EE = M. rhomb.
(Nach Duchenne.)
Die Fasern, die sich an der inneren Hälfte der Spina scap. an-
setzen, heben den äusseren Winkel des Schulterblattes nur wenig,
ziehen das letztere aber kräftig nach der Mittellinie. Die Fasern,
die sich am inneren Eande der Scapula ansetzen, ziehen den inneren
19*
292
Die Function der einzelnen Muskeln xmd deren Störung.
Winkel ein wenig- herab und nähern das Schulterblatt der Mittel-
linie um 3 — 4 Cm.
Die elektrische Reizung des M. f cucullaris ist sehr leicht
auszuführen (s. Fig. 45). Isolirte Faradisation der einzelnen Muskel-
abschnitte belehrt über deren Wirkung.
Bei Lähmung des unteren Drittels des Cucullaris entfernt
sich der innere Rand der Scapula, der im Normalen der Mittellinie
parallel ist und von ihr um 5—6 Cm. absteht, von der Medianen
um 10 — 12 Cm., dabei bewegt sich das Acromion nach vorn, so dass
der Rücken verbreitert und gewölbt wird, die Brust einsinkt und
das Schlüsselbein vorspringt.
Die Kranken können zwar noch
durch den oberen Theil der
Latissimi die Schultern ein-
ziehen, thun sie dies aber
kräftig, so wirkt der M. rhom-
boideus mit und zieht das
Schulterblatt nach innen oben
mit Drehung um den äusseren
Winkel.
Ist auch das mittlere
Drittel des Muskels g e -
1 ä h m t , so senkt sich das Acro-
mion und das Schulterblatt
dreht sich derart, dass der
innere Winkel sich hebt, der
untere sich der Mittellinie
nähert und die Rückenhaut
abhebt, der innere Rand der
Scapula schräg von oben aussen nach unten innen verläuft. Das
Schulterblatt ist dann sozusagen am Levator anguli scap. aufgehängt,
der gewöhnlich stark hervorspringt. Die Portio clavicularis und der
Serratus magnus können das Herabsinken und die Drehung des Schulter-
blattes nicht hindern, ebensowenig wie der Rhomboideus. Ursache
jener Bewegung ist in erster Linie die Schwere des Armes, in zweiter
die tonische Kraft der Mm. pector. und latissimi. Bei dieser Lähmung
ist kraftvolle Hebung des Armes nicht möglich, die Kranken klagen
über Schwäche des Armes, sie legen sich zeitweise nieder, weil das
Herabhängen der Schulter schmerzhafte Empfindungen hervorruft.
Die Portio clavicularis wird zuletzt gelähmt, sie ist das
ultimum moriens. Ist sie allein erhalten, so können die Kranken
Fig. 57.
Fehlerhafte Stellung des Kopfes, verursacht durch
Contractur der Portio clavicul. des linken Cucullaris :
Torticolüs. (Nach. Duchenne.)
Muskeln, die die Schulter und den Oberarm bewegen.
293
noch eine schwache Hebimg der Schulter erzielen; trotz einseitiger
Lähmung- des übrigen Cuciillaris hebt sich bei tiefer Athmung die
kranke Schlüter so gut wie die gesunde. Ist die Portio clavicularis
gelähmt, so bleibt bei der Athmung die Schulter unbewegt, auch
wenn die übrigen Theile des Cucullaris erhalten sein sollten und da-
her die absichtliche Hebung der Schulter noch möglich Aväre.
Klonische oder tonische Krämpfe des Cucullaris sind
nach dem Mitgetheilten leicht zu erkennen.
Die Mm. rhomboidei (N.
dorsalis scapulae vom 5. X. cervi-
calis) ziehen das Schulterblatt nach
innen und oben, indem sie es zu-
nächst um den äusseren Winkel
drehen und dann im Ganzen heben.
Dabei wird der innere Winkel um
1 — 3 Cm. gehoben, der äussere um
1 — 1V-2 Cm., der innere Band der
Scapula verläuft schräg von oben-
aussen nach unten- innen und der
untere Winkel wird der Mittellinie
beträchtlich genähert. Das Acro-
mion wird durch die Khomb. nicht
nach hinten gezogen. Ist der Ann
vertical gehoben, so muss die durch
die Contraction der Rhomb. be-
wirkte Drehung der Scapula ihn
senken. Beim Heben von Lasten
u. s. w. mit der Schulter unterstützen
die Rhomb. den Cucullaris. mit dem
vereint sie die Schulter kraftvoll
heben.
Die elektrische Reizung
der Rhomb. ist nur möglich bei Atrophie des Cucullaris. Zuweilen
kann der Nerv am Halse gereizt werden.
Lähmung der Rhomb. lässt den inneren Scapularand etwas
vom Thorax abstehen und den unteren Winkel sich von der Mittel-
linie entfernen. Die zwischen dem Thorax und dem Schulterblatte
entstehende Rinne verschwindet, sobald der M. serratus ant. den Arm
nach vorn erhebt. Die Bewegungen, die das Anliegen des Schulter-
blattrandes an den Thorax fordern, müssen durch die Lähmung des
Rhomb. geschwächt werden. Rhomb. und Serrat. ant. wirken als ein
Figr.
05.
Fehlerhafte Stellung des rechten Schulter-
blattes, verursacht durch Contractur des Rhom-
boideus. Der untere Winkel (D) steht fast im
Niveau des äusseren Winkels und erreicht fast
die Mittellinie. Ein Wulst (B) entspricht dem
verdickten Rhomb., ein anderer (A) dem eben-
falls contracturirten M. lev. ang. scap.
(.Nach Duchenne.)
294 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Muskel, dessen Fasern durch, den Scapularand unterbrochen werden,
sobald das Punctum fixuni die Wirbelsäule ist, und ihre gemeinsame
Contraction hebt die Kippen kräftig. Lähmung der Ehomb. muss
daher die inspiratorische Wirkung des Serratus schwächen oder auf-
heben. Lähmung der Rhomb. schwächt auch die Bewegung des aus-
gestreckten Armes nach hinten und innen. Der hintere Theil des
Deltoideus und der Teres major ziehen dann das nicht fixirte Schulter-
blatt nach dem Humerus, statt diesen zu bewegen. Diese Bewegung
der Scapula, die deutlich wird, sobald man der Bewegung des aus-
gestreckten Armes nach hinten und unten Widerstand leistet, lässt
die Lähmung der Ehomb. sicher erkennen.
Die Contractu r der Rhomb. bewirkt eine fehlerhafte Stellung
des Schulterblattes, die der bei Lähmung des mittleren Cucullaris-
theiles ähnlich ist. Ausser Hemmung der passiven Beweglichkeit
und derber Anschwellung in der Rhomboideusgegend findet man bei
Contractur der Rhomb. geringes Höherstellen des Acromion auf der
kranken Seite, während bei Cucullarislähmung des Acromion nach
vorn und unten verschoben ist. Beim Erheben des Armes schwindet
die durch die Contractur verursachte Deformität.
Der M. levator anguli scapulae (N. dors. scap. und Zweige
vom PL cervic.) hebt den inneren Schulterblattwinkel, indem er die
Scapula um den äusseren Winkel dreht, und zieht das Schulterblatt
im Ganzen in die Höhe, den Kopf leicht auf die Seite neigend.
Die elektrische Reizung gelingt in der Regel von dem
Räume zwischen Cucullaris und Sternocleidom. aus (s. Fig. 45).
Lähmung des Levator scap. dürfte keine wesentliche Defor-
mität verursachen, da der Senkung des inneren Schulterblattwinkels
die Rhomb. entgegenwirken. Ist der Muskel zugleich mit dem Cu-
cullaris gelähmt, so senken sich der äussere und der innere Winkel
des Schulterblattes gleichmässig.
Bei Contractur des Levator fühlt man einen derben Wulst
am inneren Rande des Cucullaris.
Der M. serratus anticus (N. thoracicus lateral, s. medius,
s. longus, s. respir. ext. Bell, s. thoracic, post. Henle, vom PL
brachialis) dreht das Schulterblatt um seinen inneren Winkel, so
dass das Acromion erhoben wird, hebt gleichzeitig das ganze Schulter-
blatt und zieht es nach aussen und vorn, dabei den inneren Scapula-
rand an den Thorax andrückend. Die Drehung der Scapula ist vor-
wiegend Aufgabe der unteren Bündel, während die Bewegung nach
vorn und aussen, durch die der Abstand des Schulterblattes von der
Wirbelsäule um 2 — 4 Cm. vermehrt wird, hauptsächlich durch den
Muskeln, dir die Schulter und den Oberarm bewegen.
295
mittleren Tlieil ausgeführt wird. Wie alle Muskeln, die die Scapula
um den äusseren oder inneren Winkel drehen, sie auch im Ganzen
heben, folgt auf die durch den Serratus bewirkte Drehung- eine
Hebung'. Ist nämlich der untere Winkel nach aussen und vorn be-
wegt worden, so wird die weitere Drehung durch Ehomb. und Le-
vator scap. gehindert und das Schulterblatt bewegt sich nun nach
der Richtung des geringsten Widerstandes, d. h. nach oben. Wenn
auch der Serratus die Schulter hebt, so betheiligt er sich doch nicht
Fig. 59.
Stellung des Schulterblattes in der Kühe bei isolirter rechtzeitiger Serratuslähmung.
(Nach Bäumler.)
beim Tragen von Lasten auf der Schulter, so lange der Arm dem
Rumpfe anliegt. Er würde andernfalls die Athmung stören. Dass
der Serratus im Vereine mit den Ehomb. die Rippen zu heben ver-
mag, ist schon oben erwähnt worden.
Die elektrische Reizung des Serratus ant. kann indirect
durch Reizung des Nerven vor dem Scalenus med. (s. Fig. 45) oder
in der Mittellinie der Achselhöhle, direct durch Reizung der Serratus-
296 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
bündel, soweit sie nicht von den oberflächlichen Muskeln bedeckt
sind, oder nachdem diese atrophirt sind, ausgeführt werden.
Lähmung des Serratus ant. bewirkt in der Buhestellung nur
eine geringe Verschiebung des Schulterblattes. Der untere Winkel
steht um ein Geringes der Mittellinie näher und höher als auf der
gesunden Seite (Wirkung des Ehomb.) und ist etwas abgehoben
(Wirkling des Pectoral. u. s.w.). In manchen Fällen isolirter Serratus-
Fig. 60.
Flügeiförmiges Abstehen des Schulterblattes vom Thorax heim Erheben der Arme nach vorn durch
Lähmung des Serratus anticus. (Nach Bäum ler.)
lähmung hat man gar keine Abweichung der Scapula gesehen. Man
muss dann annehmen, dass es dem kräftigen Cucullaris gelungen
sei, trotz den Ehomb. das Gleichgewicht der Scapula zu erhalten,
oder dass die Antagonisten geschwächt gewesen seien.
Sind Serratus und Cucullaris gelähmt, so senkt sich der äussere
Schulterblattwinkel der Schwere des Armes nachgebend noch mehr
als bei blosser Cucullarislähmung. Der von der Thoraxwand abstehende
Muskeln, die die Schulter und den Oberarm bewegen.
297
untere Winkel steht dann in nahezu gleicher Höhe mit dem äusseren,
der vom Levator gehaltene innere Winkel macht einen Vorsprung
zur Seite des Halses (vergl. Fig. 56).
Sind Serratus und Rhomb. gelähmt, so steht zwar der untere
Scapulawinkel vom Thorax ab, ist aber der Mittellinie nicht genähert
und steht auf der kranken Seite etwas tiefer.
Fig. 61.
Der in Figg. 59 und 60 abgebildete Kranke mit Serratuslähmung erhebt die Arme. Rechts fehlen
die Serratuszacken. (Links besteht Radialislähmung.)
Die Erhebung des Armes über die Horizontale hinaus ist bei
Serratuslähmung in der Regel nicht oder nur durch eine schleudernde
Bewegung des Arms bei rückwärts gebeugtem Rumpfe möglich. In
einigen Fällen konnte trotz der Serratuslähmung der Arm seitlich
beinahe bis zur Verticalen erhoben werden (s. Fig. 61), es muss dann
diese Bewegung durch den mittleren Theil des Cucullaris ausgeführt
worden sein, der gewöhnlich dazu nicht kräftig genug ist.
298 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Beim Gesunden geschieht die Erhebung' des Arms über die
Horizontale durch die gleichzeitige Wirkung des Deltoideus, Serra-
tus und Cucullaris. Letzterer vermag jedoch, wie oben bemerkt, den
Serratus ausnahmeweise zu ersetzen.
Bis zur Horizontalen vermag der Deltoideus den Arm zu erheben,
es treten aber, wenn der Serratus ausfällt, pathologische Bewegungen
der Scapula dabei ein. Bei der seitlichen Erhebung des Arms senkt
sich das Acromion und rückt der innere Kand der Scapula der Mittel-
linie näher, das untere Drittel des Cucullaris als Wulst vor sich her-
schiebend. Bei der Erhebung nach vorn dreht sich das Schulterblatt
ebenfalls um den inneren Winkel, zugleich aber dreht es sich um
seine Längsaxe, so dass der innere Eand weit vom Thorax absteht
und zwischen diesem und der Scapula eine tiefe Grube entsteht.
Dieses flügeiförmige Abstehen des Schulterblattes beim Vorwärts-
heben des Armes ist das sicherste Kennzeichen der Serratuslähmung.
Drückt man das Schulterblatt fest an den Thorax an, so gelingt es
dem Kranken, den Arm vertical zu erheben. Endlich erschwert die
Serratuslähmung die Vorwärtsbewegung des Acromion, beim Drängen
mit den Schultern, beim Fechtstosse.
Der M. deltoideus (N. axillaris vom 5. und 6. Cervicalnerven,
zu den vordersten Bündeln einige Fäden der Nn. thorac. ant.) abdu-
cirt den herabhängenden Arm im Schultergelenke, sofern das Schulter-
blatt flxirt ist. Das mittlere Bündel hebt den Arm direct nach aussen,
die innersten Fasern schräg nach vorn und innen, die zwischen diesen
und den äusseren gelegenen direct nach vorn, die hinteren direct nach
hinten. Bei maximaler Contraction des Deltoideus erreicht der Arm
etwa die Horizontale. Dieses Maximum der Hebung wird durch die
vordere Hälfte des Muskels bewirkt, die hinteren Bündel vermögen
den Arm nur etwa in einen Winkel von 45 u zur Verticalen zu
bringen. Wenn daher der Arm erhoben ist, so führt die Contraction
der hinteren Bündel ihn zu diesem Winkel zurück. Die Erhebung
des Arms durch den Deltoideus geschieht kräftiger und leichter,
wenn jener nach aussen gerollt ist, als wenn er nach innen gerollt ist.
Die elektrische Reizung des Deltoideus ist sowohl vom
Nerven aus (Erb 'scher Punkt, s. Fig. 45) als direct leicht zu be-
wirken. Bei isolirter Contraction des Deltoideus macht das Schulter-
blatt dieselben Bewegungen, die die Erhebung bei Serratuslähmung
verursacht, d. h. das Acromion senkt sich und der innere Rand hebt
sich vom Thorax ab. Diese Bewegungen entstehen bei der willkür-
lichen Contraction des Deltoideus am Gesunden nicht, dieser Muskel
kann daher willkürlich nicht allein contrahirt werden, sondern ist
Muskeln, die die Schulter und den Oberarm bewegen.
299
immer in Gemeinschaft mit dem Serratus thätig. Die isolirte Con-
traction des Delt, kann den Arm nicht über die Horizontale erheben,
weil der Teres maj. sich dem widersetzt. Auch müsste die weitere
Erhebung- des Humerus allein eine Subluxation nach unten im Schulter-
gelenke verursachen. Wie oben ausgeführt, geschieht die Hebung des
Arms zur Verticalen durch die Drehung der Scapula, während der
durch den Deltoideus gehobene Arm in der erreichten Position durch
den Deltoideus und den Supraspinatus festgehalten wird.
Bei Lähmung der mittleren Bün-
del des Delt. ist die Erhebung des Arms
nach aussen sehr beschränkt, nach vorn
kann der Arm bis zur Verticalen, nach
hinten bis zu einem Winkel von 45°
erhoben werden. Sind die vorderen
Bündel gelähmt, so kann der Arm nicht
nach vorn erhoben werden. Wollen die
Kranken nach dem Kopfe greifen, so
heben sie den Arm nach aussen, beugen
den Vorderarm und neigen den Kopf
zur Seite (z. B. beim Abnehmen des
Hutes). Wollen sie die gegenüberlie-
gende Schulter oder den Mund erreichen,
so heben sie die Schulter durch den
Cucullaris und den Pector maj., liegt
dann der Arm schräg nach innen und
vorn dem Thorax an, so beugen sie
den Vorderarm. Sind die hinteren Bün-
del des Delt, gelähmt, so ist die Er-
hebung des Arms nach hinten gehin-
dert. Die Kranken können ihre Hand
nur schwer in die Hosentasche stecken,
sie können sich nicht allein anziehen, da sie zwar den Arm durch
den Latissimus nach hinten führen, die Hand aber nicht über die
Gesässgegend erheben können. Wollen sie die nöthigen Bewegungen
ausführen, so heben sie den Arm nach aussen und beugen den Vorder-
arm, ohne doch ihr Ziel zu erreichen. Ist der gesammte Delt. ge-
lähmt, so hängt der Arm schlaff herab und kann nicht vom Sumpfe
entfernt werden. Nur in der Eichtung nach vorn und aussen kann
nach Duchenne der Arm durch den Supraspinatus, wenn auch mit
geringer Kraft, erhoben werden. Bei Bewegungsversuchen bleibt der
Delt. schlaff, während man ihn bei Anclrylose des Schultergelenkes
Fig. 62.
Bewegung des linken Schulterblattes bei
Deltoideuslähmung. die eintritt, sobald
der Kranke sich bemüht, den Arm nach
vorn zu erheben. (Nach Duchenne.)
300
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
erfolglos sich contrahiren sieht. Die passive Beweglichkeit ist er-
halten. Bei länger bestehender Deltoideuslähmung (besonders bei
gleichzeitiger Lähmung des Supraspinatus) wird das Schultergelenk
schlotterig und man kann durch den atrophischen Muskel eine tiefe
Kinne zwischen Gelenkkopf und Pfanne fühlen. Besteht Lähmung
des Delt. und des Serratus, so lässt sich möglicherweise letztere durch
Fehlen der elektrischen Erregbarkeit nachweisen. Auch muss dann,
wenn die Schultern kräftig nach vorn bewegt werden, die an dem
Nachaussenrücken des an den Thorax gedrückten unteren Scapula-
winkels kenntliche Serratuscontraction ausfallen. Der äussere Winkel
wird dann durch den Pector. nach vorn ge-
zogen, der innere Rand entfernt sich vom
Thorax. Ist auch der Pectoralis gelähmt, so
bleibt die Schulter vollkommen ruhig.
Bei Parese des Deltoideus suchen die
Kranken die Hebung des Armes durch He-
bung der Schulter zu unterstützen.
Contractu r des Deltoideus hat die-
selbe Wirkung wie Faradisation , auch sie
bringt die oben beschriebene fehlerhafte
Stellung der Scapula hervor.
Der M. supraspinatus (N. suprasca-
pularis vom 5. N. cervicalis) hebt den Arm
schräg nach vorn und aussen und rotirt ihn
nach innen. Er ist demnach ein Auxiliar-
muskel des Deltoideus. Seine Hauptaufgabe
aber scheint darin zu bestehen, dass er den
Humeruskopf während der Erhebung des
Armes zur Verticalen fest gegen die Pfanne
drückt und die Subluxation nach unten ver-
hindert. Seine elektrische Reizung ist nur bei Atrophie des
Cucullaris ausführbar. Ist er gelähmt, so kommt die erwähnte
Subluxation leicht zu Stande. Solche Kranke können diese willkürlich
durch Contraction des Teres maj. bei hängendem Arme herbeiführen.
Auch kommt zwischen Humerus und Scapula viel leichter ein
Schlottergelenk zu Stande, wenn ausser dem Deltoideus auch der
Supraspinatus atrophisch ist.
Die Mm. infraspinatus (X. suprascapul.) und teres minor
(X. axillaris) drehen den Arm nach aussen (Rotator hum. post.), der
M. subscapularis (X. subscapularis sup. vom PL brach.) dreht den
Arm nach innen. Die Drehung beträgt aus der Ruhestellung des
Fig. 63.
Fehlerhafte Stellung des rechten
Armes und der rechten Schulter
bei Contractur der vorderen Del-
toideusbündel und des Subscapu-
laris. (Nach Duchenne.)
Muskeln, die die Schulter und den Oberarm bewegen. 301
herabhängenden Arms ein Achtel des Kreises, ist der Arm nach innen
gerollt, so beträgt die Drehung nach aussen ein Kreisviertel. Ist
der Vorderarm gebeugt, so betheiligt er sich wie ein Zeiger an der
Drehung des Oberarms. Ist der Arm gestreckt, so giebt die Bewe-
gung der Condylen ein Maass der Drehung. Bei erhobenem Arme
kann der Infraspinatus auch eine abducirende Wirkung ausüben.
Die elektrische Eeizung dieser Muskeln ist am Gesunden
nur schwer auszuführen. Durch Atrophie des Deltoideus wird der
Infraspin. zugänglicher.
Sind die Auswärtsroller gelähmt, so gewinnt der Subscapul.
das Ueb ergewicht und der Arm wird dauernd nach innen gerollt,
umgekehrt sind die Verhältnisse bei Lähmung des Subscapularis.
Lähmung der Eotatoren beeinträchtigt Pronation und Supination der
Hand. Bei nach innen gerolltem Arme kann der Supin. brevis den
Handteller nur nach innen, nicht nach vorn wenden, bei nach aus-
wärts gerolltem Arme können die Pronatoren den Handteller nach
innen, nicht nach hinten wenden. Die Lähmung des Infraspinatus
erschwert beträchtlich das Schreiben. Die Kranken schreiben ein
bis zwei Worte, müssen dann mit der linken Hand das Papier nach
links ziehen u. s. f. Diese Lähmung verhindert ferner das Ausziehen
des Fadens beim Sticken, Nähen. Bei Lähmung des Subscapularis
können die Kranken die Hand nicht auf die andere Schulter legen.
Contractur der Einwärtsroller wird von Lähmung der Aus-
wärtsroller leicht durch das Vorhandensein der passiven Beweglich-
keit im letzteren Falle zu unterscheiden sein.
Der IL latissimus dorsi (N. subscapul. inf., s. longus, s. thora-
cicodorsalis) zieht den herabhängenden Arm nach innen und hinten
und nähert das Schulterblatt, dessen Eand der Wirbelsäule parallel
bleibt, der Mittellinie, neigt bei einseitiger Wirkung den Eumpf
etwas zur Seite, richtet ihn bei doppelseitiger Wirkung auf, zieht
den erhobenen Arm herab, oder bewegt bei fixirtem Arme den Eumpf.
Die directe elektrische Eeizung des Latiss. ist leicht aus-
führbar.
Lähmung des Latiss. hindert die erwähnten Bewegungen und
verursacht Verlust der militärischen Haltung. Die Kranken können
die Schultern nicht zurückziehen, ohne sie zugleich zu heben.
Der M. pectoralis major (Nn. thoracic! ant. vom PL brach.)
zieht den erhobenen Arm kraftvoll herab und drückt den herab-
hängenden fest an den Thorax in der Eichtung von oben-aussen
nach unten-innen. Ist der Arm fixirt, so zieht der Pector. den Eumpf
heran. Der obere Theil des Pector. zieht bei herabhängendem Arme
;o2
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
das Acromion nach vorn und oben (beim Tragen von Lasten, beim
Ausdrucke der Furcht, der Demuth, beim Frostschauer u. s. w.), er
führt den erhobenen Arm bis zur Horizontalen herab von hinten
und oben nach vorn und unten, er führt den horizontal ausgestreckten
Arm nach innen. Der untere Theil des Pector. zieht bei herab-
hängendem Arme das Acromion nach vorn und unten, er vollendet
die vom oberen Theile begonnene Abwärtsführung des erhobenen
Arms, zieht den horizontal ausgestreckten Arm nach vorn und unten.
Es ergiebt sich, dass bei verschie-
denen Bewegungen die beidenTheile
des Pectoralis einzeln thätig sein
müssen, ähnlich wie dies beim
Deltoideus der Fall ist.
^jf}W*
Fig. 64.
Atrophie der Pectorales. Auch, die Cucullares
sind geschwunden. Infolge dessen ist die Schul-
terecke gesunken und die Brust nach vorn concav
geworden.
(Nach Duchenne.)
Fig. 65.
Fehlerhafte Stellung der rechten Schulter bei
einem 10 jähr. Mädchen. Die Schulterecke und
das ganze Schulterblatt sind gehoben durch se-
cundäre Contractur des Cucullaris, die Folge
der Atrophie der Niederzieher (Latiss. dorssi und
Pectorales) ist. Ausserdem sind Deltoideus und
Oberarmmuskeln geschwunden.
(Nach Duchenne.)
Die directe elektrische Eeizung des Pector. maj. ist leicht
ausführbar, zuweilen gelingt es, den Nerven über der Clavicula zu
treffen.
Bei Lähmung des Pector. maj. ist die Fähigkeit, die Hand
auf die gegenüberliegende Schulter zu legen, nicht aufgehoben. Diese
Muskeln, die die Schulter und den Oberarm bewegen. 303
Bewegung- ist vielmehr eine Function der vorderen Deltoideusbündel,
bei deren Lähmung sie ausfallt. Die Lähmung des Pector. hindert
die horizontale Bewegung des ausgestreckten Arms nach der Mittel-
linie nicht, der Deltoideus kann sie ausführen, sie ermangelt dann
aber der Kraft. Ebenso kann der erhobene Arm durch Nachlassen
der Contraction des Deltoideus trotz Lähmung des Pector. und des
Latissim. gesenkt, ja durch den Teres maj. und die Ehomboidei mit
einer gewissen Kraft herabgeführt werden, immerhin ist diese Kraft
gering, wird ein kräftiger Säbelhieb und dergl. unmöglich. Nach
alledem sind bei Lähmung des Pector. maj. noch alle Bewegungen
möglich. Dem entspricht, dass bei dem nicht selten beobachteten
angeborenen Mangel des Muskels kein Functionsdefect deutlich ist.
Sind die Pector. und der Latiss. gelähmt, so fehlen die das
Schulterblatt herabziehenden Kräfte, die mittlere Portion des Cucul-
laris gewinnt das Uebergewicht und es entsteht eine abnorme Schulter-
haltung, indem der letztere Muskel das Acromion in die Höhe zieht.
Krämpfe des Latiss. oder Pectoralis werden der Diagnose keine
Schwierigkeiten machen.
Der M. teres major (N. subscapul. med.) hilft den erhobenen
Arm herabziehen und dann an den Thorax drücken, ihn um weniges
nach hinten bewegend. Er hilft kräftig die Schulter heben, wenn
der Arm dem Thorax anliegt. Bei elektrischer E e . i z u n g nähert
er die innere Fläche des Arms und den Axillarrand der Scapula
einander mit Erhebung des Acromion. Hieraus ergiebt sich, dass
er bei Mitwirkung anderer Muskeln kräftig auf den Arm wirken
kann. Sein Gespann ist der Bhomboideus maj., dieser hält das
Schulterblatt und nun kann der Teres maj. den Arm kräftig bewegen
(vergl. S. 294). Drücken gleichzeitig die unteren Bündel des Pector.
und des Latiss. das Acromion herab, so wird diese Thätigkeit des
Teres maj. erleichtert.
Eine drehende Wirkung scheint der Teres maj. kaum zu be-
sitzen. Aniscalptor ist der Teres maj. nicht, dies Amt versehen Del-
toideus und Subscapularis gemeinsam.
Die Lähmung des Teres maj. scheint keine wesentlichen Störun-
gen hervorzurufen, da Pector. und Latiss. die Herabziehung des Arms
auch ohne ihn kräftig genug ausführen. Man kann sich durch das Ge-
fühl überzeugen, ob die Contraction des Teres vorhanden ist oder nicht.
Bei den Bewegungen im Schultergelenke sind endlich betheiligt
das Caput longum niusc. tricipitis (N. radialis) und der M.
coracobrachialis (N. musculocut). Beide contraliiren sich kräftig
beim Herabziehen des Arms und drücken das Caput humeri in die
304
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Pfanne der Scapula hinein. Sie wirken dann dem Latiss. und Pector.
entgegen, die denHumerus nach unten zu subluxiren streben. Auch der
Deltoid. und der Supraspin. nähern den Humeruskopf der Pfanne, sie
sind aber Antagonisten der Herabzieher. Sind die Herabzieher des
Arms atrophisch, so sieht man, wenn die Kranken den emporgehaltenen
Arm herabzuziehen versuchen, den Coracobrach. und das Caput long,
tric. sich contrahiren. Sind letztere gelähmt, so wird bei kräfti-
ger Herabziehung des Armes der Humeruskopf nach unten gezogen,
noch stärker geschieht dies, wenn gleichzeitig Deltoid, und Supraspin.
gelähmt sind.
Fig. 66. Fig. 67.
Subluxation des Humerus nach vorn durch isolirte Wirkung des Pector maj. (Fig. 66); Deltoid.,
Supra- und Infraspin., Teresmin., Triceps sind complet atrophisch. Pector. maj. und Teres maj. sind
erhalten und in Contractur. Von den Armmuskeln sind nur die Vorderarmbeuger erhalten. Treten
diese in Thätigkeit, so kehrt der Humeruskopf in die Pfanne zurück (Fig. 67). Poliomyelitis adultorum.
Sind Deltoideus und Triceps gelähmt und sind die den Humerus
nach vorn ziehenden Muskeln, besonders der Pector., erhalten, so wird
das Caput humeri nach vorn subluxirt.
q. Muskeln, die den Vorderarm bewegen.
Der M. triceps brachii und der M. anconaeus quartus
'<N. radialis) strecken den Vorderarm aus. Die drei Theile jenes sind
jederzeit leicht direct elektrisch zu reizen, indirect, indem man
Muskeln, die den Vorderarm bewegen.
305
den N. rad. in der Achselhöhle aufsucht. Lähmung dieser Muskeln
bewirkt, dass der Vorderarm nicht mehr gegen einen Widerstand
M. triceps (caput longum)
M. triceps (caput intern.)
Nerv, ulnaris
M. flexor carpi ulnaris
M. fies, digitor. commun.
profund.
M. Hex. digitor. sublim,
(digiti II et III)
M. flex. digit. subl. (digit.
indicis et minimi)
Nerv, ulnaris
M. palmaris brev.
M. abductor digiti min.
M. flexor digit. min.
M. opponens digit. min.
Mm. lumbricales
M. deltoideus
(vord. Hälfte)
Nerv, musculo-
cutaneus
M. biceps
brachii
M. brach,
internus
Nerv, medianus
M. supinator longus
M. pronator teres
M. flex. carpi radialis
M. flex. digitor. sublim.
M. flex. pollicis longus
Nerv, medianus
M. abductor pollic. brev.
opponens pollicis
M. flex, poll. brev.
M. adductor pollic.
Fig. 68.
Motorische Punkte an der Innenseite des Armes. (Nach Erb.)
Und bei erhobenem Arme gestreckt werden kann. Bei herabhängen-
dem Arme und ohne Widerstand besorgt die Schwere die Streckung.
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl..
20
306
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Die Beugebewegungen werden bei Lähmung der Strecker brüsk
und schiessen leicht über das Ziel hinaus. Bei partieller Atrophie
ergiebt sich, dass die Streckwirkung des Caput longum und des Ancon.
quart. nur schwach ist, so dass die Hauptarbeit dem Caput int. und
dem C. ext die identisch wirken, zukommt.
M. deltoideus (hintere
Hälfte
M. extensor digit.f
communis 1
M. extensor indicis
M. abductor pollic. long. -
M. extensor rollic. brev.
M. inteross. dorsal. (
I et II 1
N. radialis
M. brachial, intern.
M. supinator long.
M. radial, ext. long.
M. radial, ext. brev.
M. triceps (caput longum)
|M.triceps(caput]extern.)
M. ulnar, extern.
M. supinat. brev.
M. extens. digiti minim.
M. extens. indicis
M. extens. poll. long.
M. abduct. digit. min.
1 M. inteross. dorsal.
/ III et IV
Fig. 69.
Motorische Punkte an der Aussenseite des Armes. (Nach Erb.)
Der M. brachialis int. (N. musculocutaneus und N. rad.) beugt
den Vorderarm ohne ihn zu drehen, der M. biceps brachii (N.
musculocut.) beugt und supinirt zugleich den pronirten Vorderarm,
Muskeln, die den Vorderarm bewegen.
307
der M. bracliioradialis s. supinator longns (X. radialis) beugt
und prouirt zugleich den supinirteu Vorderarm. Der 31. supinator
brevis (X. rad.), dessen
Function man bei ge-
strecktem Vorderarme
prüft, bewirkt nur Supi-
nation. der M. p r o n a t o r
t eres (X. medianus) pro-
nirt und beugt etwas,
der M.pronator qua-
d r a t u s (X. med.) pro-
nirt nur.
Wegen elektri-
scher Eeizung dieser
Muskeln siehe Figg. 68
und 69.
Lähmungen dieser
Muskeln sind meist
leicht zu erkennen. Nach
Duchenne kann, wenn
der Sup. brevis gelähmt
ist, auch bei gestreck-
tem Vorderarme eine
sehwache Supination
durch den Biceps aus-
geführt w erden. Bei
gebeugtem Vorderarme
supinirt der Biceps
kräftig. Ist der Biceps
allein gelähmt, so kann
der Vorderarm noch
kräftig gebeugt werden ;
die Kranken ermüden
aber leicht und empfin-
den Schmerz in der
Schulter, weil das Caput
long, bicip. nicht mehr
den Humeruskopf gegen
die Pfanne zieht. Die
Lähmung des Brachio-
radialis erkennt man
Fig. 70.
Verbreiteter Muskelschwund "bei einem jugendlichen Individuum
(juvenile Muskelatrophie). Die Mm. supin. long, sind gänzlich
gesclrwunden , -während alle anderen Yorderarmmuskeln erhalten
sind. Ausserdem Atrophie der Pector. und der Bauchmuskeln,
der Cucull., der Serrati, der Latiss. dors., des linken_ Biceps und
des rechten Triceps, des rechten Deltoid., endlich eines grossen
Theils der Oberschenkelmuskeln. AA = vorspringender innerer
Winkel des bei Hebung der Arme flügeli örmig abstehenden Schul-
terblattes. Starke Lendenlordose. (Nach Duchenne.)
20*
308
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
leicht daran, dass sein vorspringender Muskelbaucli bei Beugung
des Vorderarms mit Widerstand fehlt. Seine Atrophie giebt dem
Vorderarme eine spindelförmige Gestalt (vergl. Fig. 70).
r. Die Muskeln, die die Hand und die Finger bewegen.1)
Der M. radialis longus s. Extensor carpi long. (N. rad.) hebt
die Hand radialwärts, der M. radialis brevis (N. rad.) hebt sie
ohne Seitwärtsbewegung, der M. ulnar is externus (N. rad.) hebt
sie ulnarwärts. Nur bei sehr kräftiger Streckung wirken alle drei
gemeinsam.
Die Herumführung der Hand in einem nach oben convexen Halb-
kreis, die durch successive Thätigkeit aller drei Muskeln ausge-
führt wird, kann bei Lähmung des Ead. brevis nur brüsk
und stossend zu Stande kommen.
Fig. 72.
Fehlerhafte Stellung der Fehlerhafte Stellung (Herabhängen) der Hand bei Lähmung der Hand-
Hand bei Atrophie des Strecker durch Läsion des N. radialis. (Nach Seeligmüller.)
M. rad. long.
(Nach Duchenne.)
Bei isolirter Lähmung des Ead. long, oder Uln. ext. fällt
die betreffende Seitwärts-Bewegung aus. Bei Lähmung des Ead. long,
nimmt die Hand eine ulnarwärts geneigte Stellung ein, die mit der
Zeit durch Contractur des Uln. ext. befestigt wird (vgl. Fig. 71).
Ist auch der Ead. brevis gelähmt, so nimmt die fehlerhafte Stellung-
beträchtlich zu. Die isolirte Lähmung des Uln. ext. bewirkt zwar
auch eine entsprechende Deformität, aber bei Weitem nicht eine so
wesentliche Functionstörung wie die Lähmung des Ead. longus. Sind
alle Strecker gelähmt, so kann die Hand gar nicht gehoben werden,
hängt herab. Da zu einer kraftvollen Beugung der Finger Fixirung
1) Bei der Hand heisst abduciren : radialwärts (d. i. nach aussen) bewegen,
adduciren: ulnarwärts (d. i. nacb innen) bewegen, vorn: palmarwärts, hinten:
dorsalwärts.
Muskeln, die die Hand und die Finger bewegen. 309
des Handgelenks in Extension nöthig ist, leidet bei Lähmung der
Handstrecker auch die Beugung der Finger Noth, so dass die Kran-
ken einen kräftigen Druck der Hand nicht ausüben können.
Der M. radialis internus (N. medianus) beugt die Hand,
pronirt sie etwas und neigt mehr den äusseren Rand, so dass die
Handfläche leicht ulnar wärts gerichtet ist, Der M. palmaris lon-
gus (N. med.) beugt die Hand direct ohne Pronation. Der M. ul-
naris internus (N. ulnaris) beugt die Hand, den ulnaren Rand
kräftig mit sich ziehend, so dass die Handfläche nach aussen ge-
wendet wird und der fünfte Metacarpusknochen aus der Reihe her-
vortritt (wie beim Violinspielen an der linken Hand). Je stärker
die Hand gebeugt wird, um so weniger ist eine Adduction oder Ab-
duction möglich. Letztere Functionen kommen daher den Beugern
der Hand nicht zu.
Bei Lähmung der Handbeuger tritt keine fehlerhafte Hand-
stellung ein, da die Schwere der Hand den Streckern Widerstand
leistet. Die Streckung der Finger wird erschwert und verbindet
sich mit Streckung der Hand, sobald das Handgelenk nicht mehr
durch die Beuger fixirt wird.
Die Beuger der Hand helfen wie alle Muskeln, die am Condyl.
int. hum. entspringen, den Vorderarm beugen; sind die eigentlichen
Vorder armbeuger gelähmt, so vermögen jene noch eine schwache
Flexion im Cubitalgelenke zu bewirken.
Der M. extensor digitorum communis (N. rad.), sowie die
Mm. extens. indicis und digiti quinti (N. rad.) strecken die
ersten Phalangen der vier Finger kräftig und entfernen die Finger
etwas von einander, derart, dass der Medius direct gehoben, der In-
dex dem Daumen genähert wird, der vierte und fünfte Finger ulnar-
wärts bewegt werden. Durch die isolirte Contraction des Extens.
ind. proprius wird das erste Glied des Zeigefingers gestreckt und
dem Mittelfinger genähert, so dass der Extens. propr. adductorisch,
das Bündel des Extens. comm. für den Index abductorisch wirkt.
Contrahiren sich die langen Filigerstrecker allein (wie bei localisirter
Faradisation), so strecken sie auch das Handgelenk etwas und es
werden die beiden letzten Phalangen, sobald die Strecker die ersten
Phalangen über den Metacarpus erheben, durch die langen Finger-
beuger gebeugt.
Die Mm. flexores digitorum sublimis (N. med.) und p r o-
fundus (N. med. und N. uln.) beugen die zweite, beziehungsweise
die dritte Phalanx, die erste nur indirect bei maximaler Contraction.
Die Mm. interossei ext. und int. (N. ulnaris) nähern und ent-
310
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
fernen die Finger von der Mittellinie, sie beugen die erste Phalanx
und strecken gleichzeitig die zwei letzten Phalangen. In letzterer
Hinsicht werden sie von den Mm. lumbricales (N. med. und N.
uln.) unterstützt, die ebenfalls die erste Phalanx beugen, die zweite
und dritte strecken und deren erster gleichzeitig abducirend wirkt.
Diejenigen Mm. interossei, die die Finger vom Ulnarrande der Hand
entfernen, bewirken diese Abductionsbewegung vollständiger als die
Streckung der zweiten und dritten Phalanx, umgekehrt wird diese
Streckbewegung kräftiger von den die Finger adducirenden Interossei
ausgeführt. Die kleinen Handmuskeln können die beiden letzten
Phalangen nicht strecken, ohne die ersten zu beugen, und umgekehrt.
Die Muskeln des Hypothenar, Mm. abductor, flexor, oppo-
nens digiti quinti (N. ulnaris), führen die ihren Namen entspre-
chenden Bewegungen aus.
Der M. palmar is brevis (N. ulnaris) legt die Haut des Klein-
fingerballens in Falten.
Fig. 73.
Wie man bei Lähmung der langen Fingerstrecker die ersten Phalangen unterstützen muss , um zu
zeigen, dass die Streckung der zweiten und dritten Phalanx ungehindert ist. (Nach Duchenne.)
Bei Lähmung der langen Fingerstrecker kann die erste
Phalanx nicht gestreckt werden, wird sie aber passiv gestreckt, so
geht die active Streckung der zwei letzten Phalangen ohne Schwierig-
keit vor sich. Die Beugung der zweiten und dritten Phalanx ge-
schieht kraftlos und ungenügend, vollzieht sich aber ebenfalls in nor-
maler Weise, sobald die erste Phalanx passiv gestreckt wird. Die
Kranken können nur schwer schreiben oder zeichnen, sie können nur
1 bis ll/2 Cm. grosse Buchstaben oder Striche machen.
Man muss sich hüten, eine Lähmung der langen Fingerstrecker
Muskeln, die die Hand und die Finger bewegen. 311
da zu diagnosticiren, wo durch adhäsive Entzündung der Sehnen-
scheiden am Handrücken die Thätigkeit der Streckmuskeln gehemmt
wird. In dieser Weise scheinen besonders die Sehnen, die zum dritten
bis fünften Finger gehen, zu erkranken. Man erkennt diese Pseudo-
lähmung an der Geschwulst am Handrücken und an der erfolg-
losen Contraction der betroffenen Bündel bei elektrischer Reizung.
Verdickung und Anschwellung der Sehnen über dem Handgelenke
findet man bei jeder älteren Radialislähmung, sie ist eine Folge der
mechanischen Zerrung der Sehnen bei dauernd herabhängender Hand
und darf nicht mit den eben erwähnten entzündlichen Veränderungen
am Handrücken verwechselt werden.
Die Lähmung der langen Fingerbeuger hindert die Beu-
gung der ersten Phalanx nicht, die zweite und die dritte Phalanx
aber stehen in dauernder Extension. Der Gebrauch der Hand ist sehr
behindert. Die Kranken können z. B. bei Lähmung des Flex. prof.
keinen kräftigen Ton auf dem Ciavier anschlagen, die Feder nicht
mit den Fingerspitzen halten. Jeder Druck auf die Fingerspitzen
bewirkt Hyperextension der letzten Phalangen. Letztere tritt auch
nach längerer Dauer der Lähmung in der Ruhe ein. Ist nur der
Flex. sublim, gelähmt, so wird die zweite Phalanx hyperextendirt,
während die dritte flectirt ist.
Fig. 74.
Fehlerhafte Stellung der Hand nach Durchschneidung des N. uln. am Vorderarm.
(Nach Duchenne.)
Sind die Interossei und Lumbricales gelähmt oder atro-
phisch, so wird die erste Phalanx gestreckt, die zweite und dritte
gebeugt, mit der Zeit wird die Deformität zur Kralle (main en griffe).
die Köpfchen der ersten Fingerglieder werden nach vorn subluxirt,
die Finger sind leicht gespreizt und die Sehnen der langen Strecker
springen am Handrücken, die der langen Beuger in der Palma stark
hervor. Fig. 74 stellt den Anfang der Krallenbildung durch Läh-
mung der Interossei (bei Läsion des N. umaris) dar. lEan sieht, dass
312 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung1.
der zweite und der dritte Finger weniger betroffen sind als der vierte
und der fünfte, dort wirken der deformirenden Thätigkeit der langen
Fingerniuskeln die vom Medianus versorgten, gesunden Lumbricales
entgegen. Fig. 75 stellt die vollendete Klauenhand dar. Bei Parese
der Interossei sind zwar Streckung und Beugung der Finger noch
möglich, die Annäherung der Finger an einander aber nicht.
Fig. 75.
Vollendete Klauenhand bei alter, completer Ulnarisläsion. A = Narbe der Verletzung , die den
N. uln. getroffen hat. B = subluxirte erste Phalanx. (Nach Duchenne.)
Der M. extensor pollicis longus (N. rad.) bewegt den ersten
Metacarpusknochen nach hinten und nach dem zweiten Metacarpus-
knochen zu, streckt beide Phalangen, der M. extensor poll. bre-
vis (N. rad.) bewegt den ersten Metacarpusknochen direct nach
aussen, streckt die erste, lässt die zweite Phalanx gebeugt, der M.
abductor poll. longus (N. rad.) bewegt den ersten Metacarpus-
knochen nach aussen und vorn bei leichter Beugung der Phalangen.
Bei maximaler Contraction bewirken diese Muskeln auch Bewegungen
im Handgelenke, der Ext. long. Abduction und Extension, der Ext.
brev. nur Abduction, der Abduct. long. Abduction und Flexion, es
contrahirt sich daher antagonistisch mit diesen Muskeln der Ulnaris
externus. Mit der Supination der Hand haben die Daumemnuskeln
nichts zu thun.
Der M. flexor poll. longus (N. med.) beugt die zweite Pha-
lanx des Daumens, nach Analogie des Flex. dig. profundus.
Die Muskeln des Daumenballens : M m. a b d u c t o r b r e v., f 1 e x o r
brevis, adductor poll., theilen sich in zwei Gruppen, je nach-
dem sie sich an der radialen Seite der ersten Phalanx und des Me-
tacarpusknochens, oder an der ulnaren Seite ansetzen.
Die erstere Gruppe (Abductor brevis und äusserer Kopf
des Flex. brevis [N. med.]) bewegt den ersten Metacarpusknochen
Muskeln, die die Hand und die Finger bewegen.
313
nach vorn und innen, beugt die erste Phalanx und dreht sie, so dass
ihre Palmarfläche nach hinten sieht, streckt die zweite Phalanx.
Die andere Gruppe (Adductor pollicis und innerer Kopf
des Flex. brevis [N. uln.]) nähert den ersten Metacarpusknochen
dem zweiten, so dass jener sich diesem von vorn und aussen anlegt.
Dabei ist die zweite Phalanx gestreckt, die erste leicht gebeugt und
nach hinten innen gewandt.
Der M. o p p o n e n s p o 1 1. (N. med.) bewegt den ersten Meta-
carpusknochen nach vorn und innen, so dass dieser dem zweiten
direct gegenüber steht, auf die Phalangen wirkt er nicht. Er oppo-
nirt weniger kräftig als der Abduct. brev. und Flexor brev. externus.
Demnach sind drei Muskeln Beuger und Opponenten des ersten
Metacarpusknochens : die Mm. opponens, abductor brev. und der
äussere Kopf des Flex. brevis. Die Mm. abductor und flexor brevis,
der M. adductor wirken auf die beiden Phalangen wie die Interossei
auf die übrigen Finger, indem sie zugleich die erste Phalanx beugen,
die zweite strecken, ab- und adduciren.
Fig. 76.
Normale Stellung des Daumens. (Xach Duchenne.)
Die Extension der zweiten Phalanx kann bewirkt werden durch
den Extens. long, mit Streckung des Metacarpusknochens und der
ersten Phalanx, durch den Adductor mit Heranziehung des ersten
an den zweiten Metacarpusknochen und Drehung der ersten Phalanx
nach innen hinten, durch den Abductor und Flexor brevis mit Beu-
gung des ersten Metacarpusknochens und der ersten Phalanx, dem-
nach bei jeder Stellung des Daumens. Die normale Stellung des
Daumens wird durch den Tonus aller seiner Muskeln bewirkt.
Bei Lähmung des Abductor long, und Extensor brev.
steht der Daumen in Adduction, so dass er in die Hohlhand fällt
und die Beugung der Finger hindert, Ist nur einer der genannten
314
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung1.
Muskeln gelähmt, so ist die Störung viel geringer, da sie einander
bis zu einem gewissen Grade vertreten können. Bei Lähmung des
Extens.brev. wird besonders die erste Phalanx durch das Ueberge wicht
der Flexoren gebeugt. Diese Lähmung ist daher störender als die
des Abduct. longus.
Bei Lähmung des Exten s. long, ist der erste Metacarpus-
knochen mehr nach vorn und innen gestellt, die zweite Phalanx
befindet sich während der Euhe in dauernder Beugung. Wesent-
liche Störungen beim Schreiben, Zeichnen u. s. w. bewirkt diese Läh-
mung nicht. Nur beim Gebrauche der Scheere und dergl. sind die
Kranken behindert, da die zweite Phalanx nicht gleichzeitig mit der
ersten gestreckt werden kann.
Fehlerhafte Stellung des Daumens
bei Lähmung des Extens. brev. und
Abductor long. poll.
(Nach Duchenne.)
Fig. 78.
Fehlerhafte Stellung des Daumens bei Atrophie der
Thenarmuskeln (Affenhand).
(Nach Duchenne.)
Bei Lähmung des Flexor long, kann die zweite Phalanx
nicht gebeugt werden. Ein Druck auf ihre Pulpa bewirkt Hyper-
extension. "Während grobe Arbeit wohl möglich ist, treten Störungen
beim Schreiben, Zeichnen, Xähen, Ciavierspielen u. s. w, ein.
Sind die Muskeln des Daumenbällens gelähmt, so ge-
winnt der Extens. long, das Uebergewicht und der Daumen stellt
sich in Extension, so dass der erste Metacarpusknochen in der Ebene
der anderen steht und seine Dorsalfläche gerade nach hinten, wie
die der übrigen Finger, gerichtet ist. Die Opposition ist nicht mög-
lich; ebensowenig die Beugung, trotz des Abduct. long., und die iso-
lirte Streckung der zweiten Phalanx, denn bei jedem Streckversuche
bewegt sich der ganze Daumen. Durch den Adductor gelingt es
noch, Gegenstände zwischen dem Daumen und den vier Fingern fest-
zuhalten.
Bei Lähmung des Abductor brevis und Opponens ist
Muskeln, die die Haud und die Finger bewegen.
315
die Opposition noch durch den Flexor brev. und die Zurückführung
aus der Opposition durch den Abduct. long, möglich, da aber die
Beugung des ersten Metacarpusknochens dabei ungenügend ist, kann
der Daumen die Spitzen der anderen Finger nicht mehr berühren,
ohne dass diese im zweiten und dritten Gelenke gebeugt werden.
Diese Lähmung erschwert das Schreiben und andere Hantirungen
beträchtlich.
Atrophie dos Abduct. brev-. und Oppon. poll. Der erste Metacarpusknochen ist dem zweiten genähert.
(Nach Duchenne.)
Fig. 80.
Hand eines Kranken , dessen Thenarmuskeln atrophisch sind und der trotzdem den Daumen den
anderen Fingern opponiren -will. Der Flex. poll. long, beugt die zweite Daumenphalanx , die langen
Beuger die zweite und dritte Phalanx des vierten Fingers, der Metacarpus des Daumens bleibt unbe-
wegt. (Nach Duchenne.)
Fig. 81.
Hand eines Kranken, dessen Abduct. brev. und Oppon. poll. atrophisch sind. Bei Streckung der
zweiten und dritten Phalanx des zweiten und dritten Fingers kann die Spitze des Daumens die Spitze
jener Finger nicht erreichen. Nur bei Beugung der Phalangen gelingt es. (Nach Duchenne.)
Bei Lähmung des Flexor brevis ist die Opposition gegen
den zweiten und dritten Finger in normaler Weise möglich, dagegen
316 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
nicht gegen den vierten und fünften Finger, der Daumen erreicht
die letzteren nur, wenn diese im zweiten und dritten Gelenke gebeugt,
im ersten gestreckt sind. Der Gebrauch der Hand ist nicht wesent-
lich gestört, die Kranken können schreiben, zeichnen, nähen u. s. w.
Bei Lähmung des Adductor steht der erste Metacarpus-
knochen weiter als normal vom zweiten ab und kann diesem in der
Beugestellung (bei gleichzeitiger Lähmung des inneren Kopfes des
Flex. brev.) nicht genähert werden. Es gelingt daher dem Kranken
nicht, einen Stock, den Säbel oder dergl. festzuhalten. Ein Feilen-
hauer, bei dem (durch Blei) der Adductor und ein Theil des Flex.
brev. der linken Hand isolirt gelähmt waren, konnte den Meissel
mit der linken Hand nicht mehr festhalten, war daher arbeitunfähig.
Gegen den zweiten und dritten Finger konnte er den Daumen gut
opponiren, gegen den vierten und fünften nur mit Mühe und unge-
nügend. Der gegen den fünften Finger gerichtete Daumen Hess sich
mit geringer Anstrengung zurückdrängen.
Die Muskeln des Beines.
s. Die Muskeln, die Bewegungen im Hüftgelenke
verursachen.
Der M. glutaeus maximus (N. glutaeus inf. vom PL sacr.)
und die Mm. glutaei medius und minimus (N. glutaeus sup.
vom PL sacr.) bewirken Streckung, Abduction und Eotation im Hüft-
gelenke. Der Glut. max. streckt kraftvoll und dreht schwach nach
aussen, ist der Schenkel fixirt, so hebt er den Kumpf. Beim Gehen
und Stehen contrahirt er sich nicht, dagegen ist er thätig beim
Steigen der Treppen oder eines Berges, beim Springen, Tanzen, beim
Coitus, beim Erheben aus sitzender oder kauernder Stellung, auch
beim Gehen während des Lasttragens. Contrahiren sich beide Glut,
max., so nähern sie die Hinterbacken einander, wie es beim Anhalten
des Stuhlganges geschieht.
Die Contraction des gesammten Glut. med. (und des min.) ab-
ducirt das Bein kräftig, neigt bei fixirtem Beine den Eumpf zur Seite.
Die Hauptaufgabe dieser Muskeln ist, beim Gehen und Stehen den
Kumpf zu halten, besonders Seitwärtsschwankungen zu verhüten.
Contrahirt sich nur der vordere Theil des Glut, med., so wird das
Bein schräg nach vorn und aussen bewegt und gleichzeitig kräftig
nach innen gedreht, der hintere Theil des Muskels dagegen bewegt
das Bein schräg- nach hinten aussen und dreht es schwach nach
Muskeln, die Bewegungen im Hüftgelenke verursachen.
317
aussen. Folgt die Contraction des einen Bündels der des anderen,
so muss eine Kreisbewegung des- Beins zu Stande kommen.
Nerv, ischiadicus
31. biceps fem. (cap. long.)
31. bicepsfem. (eap.brev.)
N. peroneus
M. gastrocnem. (cap.
extern.)
M. soleus
31. flexor hallucis longns—
M. s'lutaeus maximus
M. adductor magnus
M. semitendinosus
M. semimembranosus
N. tibialis
31. gastrocnem. (cap. int.)
M. soieus
31. flexor digitor. comm.
longus
N. tibialis
Fig. 82.
Motorische Punkte an der Hinterseite des Beines. (Nach Erb.)
Die elektrische Reizung des Glut, max. ist direct leicht zu
bewirken (vergi. Fig. 82), der Glut. med. ist sicher nur bei Atrophie
des Max. erreichbar, der Glut. min. nur bei etwaiger Atrophie des
Max. und des Medius.
Bei Lähmung des Glut. max. ist das Gehen auf ebener Erde
und das Stehen unbehindert, dagegen fallen die oben aufgezählten
Functionen, bei denen eine Streckung im Hüftgelenke nothwendig
ist, als Treppensteigen, Aufstehen u. s. w., schwer oder sind unmöglich.
318
Die Function der einzelnen Muskeln nnd deren Störung.
Bei einseitiger Lähmung des Glut, med. und des min.
neigt sich beim Stehen und Gehen das Becken nach der entgegen-
gesetzten Seite, während der Sumpf, um das Gleichgewicht zu er-
halten, nach der Seite der Lähmung gebogen wird. Ausserdem kann
das Bein nicht abducirt und nach innen gedreht werden, die Adduc-
toren und Auswärtsdreher erhalten das Uebergewicht, Beim Gehen
schwingt das Bein der gelähmten Seite zu weit nach innen und die
Fussspitze wird nach aussen gedreht. Die Kranken vermögen nicht
mit dem Fusse einen Kreis zu beschreiben.
C d
Fig. 83.
Aufrichten der Kinder mit hereditärer Muskelatrophie (nach Genvers). Die Schwierigheit, die diese
Kranken heim Strecken des Hüftgelenkes und damit heim Aufrichten finden, beruht hauptsächlich
auf dem fast constant vorhandenen Schwunde der Glut, maximus. Nur mit Hülfe der Arme können
sie den Eumpf erheben.
Bei doppelseitiger Lähmung wird das Stehen unsicher und er-
müdend, beim Gehen neigt sich das Becken bei jedem Schritte nach
der Seite des schwingenden Beines.
Auswärtsdreher des Beines sind der M. pyriformis (N. glu-
taeus sup.), der M. obturatorius internus (N. ischiadicus vom
PL sacr.) und die Mm. gern eil i (N. ischiad.), der M. obturatorius
externus (N. obturatorius vom PI. lumb.), der M. quadratus
femoris (N. ischiad.). Der M. pyriform. bewegt ausserdem das Bein
nach hinten und aussen, ähnlich wie die hinteren Bündel des Glut.
med. und min., deren Thätigkeit er daher unterstützen wird.
Muskeln, die Bewegungen im Hüftgelenke verursachen. 319
Diese Muskeln können nur bei Atrophie des Glut. max. (mit Aus-
nahme des Obtur. ext.) elektrisch gereizt werden.
Ihre Lähmung- verursacht Ueberwiegen der vorderen Bündel
des Glut. med. und des min. und damit Drehung des Beines nach
innen.
Beugung im Hüftgelenke bewirken der M. iliopsoas (X. cru-
ralis vom PI. lumb.) und der M. tensor fasciae latae (N. glu-
taeus sup.); jener dreht gleichzeitig das Bein etwas nach aussen,
dieser dreht es nach innen und hebt damit erstere Drehung auf, so
dass durch die Thätigkeit beider Muskeln das Bein einfach im Hüft-
gelenke gebeult wird.
Die elektrische Beizung des Tens. fasc. ist leicht die des
Iliops. am Gesunden nicht ausführbar.
Ist der Tensor fasc. gelähmt, so wird beim Gehen das Bein
nach aussen gedreht, obwohl die Kranken bei darauf gerichteter
Aufmerksamkeit durch die vorderen Bündel des Glut, med. die
Drehung nach innen noch ausführen können.
Bei Contractur des Tens. fasc. ist vollständige active und
passive Streckung im Hüftgelenke nicht möglich , das Becken wird
nach vorn und nach der Seite der Contractur geneigt.
Parese des Iliopsoas oder beider Beuger macht das
Gehen schwierig, ihre Lähmung macht es ganz unmöglich; besteht
nur Parese, so ist zwar das Gehen auf ebenem Boden möglich, das
Steigen aber. Laufen und Springen nicht und rasch tritt Ermüdung
ein. Im Liegen können bei gestrecktem LTnterschenkel die Kranken
das Bein nicht in die Höhe heben und ebensowenig den Bumpf
aufrichten.
Contractur deslliopsoas bewirkt Beugung im Hüftgelenke
und Botation des Beins nach aussen. Ist das Gehen möglich, so
erscheint das kranke Bein als verkürzt, des Becken nach- der kranken
Seite geneigt, die Fussspitze nach aussen gewendet. Die passive
Streckung ist behindert und erregt Schmerz.
Der M. pectinaeus (X. obturat, vom PL lumb.) und die Mm.
adductores (X. obturat.) adduciren das Bein. Adducirend wirkt
auch der M. gracilis (s. unten). Der Pectinaeus ist Flexor-Adductor,
er beugt das Bein und bewegt es nach innen und vorn, es gleich-
zeitig etwas nach aussen drehend, wie es beim Ueb erschlagen' eines
Beines über das andere geschieht. Die Mm. adductores longus und
brevis sind Adductor-Flexor, ihre beugende Wirkung' ist nur gering.
Auch sie drehen das Bein nach aussen. Der Adductor magnus ist
nur Adductor. er bewegt das Bein direct nach innen. Sein oberer
320
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung-.
Theil dreht das Bein nach aussen, sein unterer aber dreht das aus-
wärts rotirte Bein nach innen, so dass die Fussspitze gerade nach
vorn gerichtet ist. Letztere Thätigkeit muss der Adductor magn.
heim Eeiten ausüben, da sonst der Sporn den Bauch des Pferdes
berühren würde, wie es bei den des Eeitens Unkundigen, die festen
Schluss der Schenkel bewirken wollen, nicht selten vorkommt. Der
Glut. med. kann in diesem Falle den Adduct. magn. nicht ersetzen,
da er gleichzeitig abducirend wirken würde.
N. cruralis
N. obturator
M. pectinaeus
M. adductor magims
M. adduct. longus
M. cruralis
M. vastus internus
M. tensor fasciae latae
11. sartorius
M. quadriceps femoris
(gemeinschaftl. Punkt)
M. rectus femoris
M. vastus externus
Fig. 84.
Motorische Punkte an der Vorderseite des Beines.
(Nach Erb.)
Die Adductoren sind elektrisch direct und indirect zu reizen,
(vgl. Fig. 84), nur der Adduct. brev. entzieht sich der directen Eeizung.
Bei Lähmung der Adductoren gewinnen die Abductoren
(Mm. glut. med. und min.) das Uebergewicht, das Bein weicht, wenn
der liegende Kranke es hebt, nach aussen ab und beschreibt beim
Gehen einen nach aussen convexen Bogen. Ausserdem ist natürlich
das Adduciren des Beins unmöglich oder bei Parese geschwächt. Die
Kranken können nicht ein Bein über das andere schlagen.
Muskeln, die Bewegungen im Kniegelenke verursachen. 321
Duchenne hat auf den unteren Tlieil des Adduct. magn. be-
schränkte Lähmung beobachtet. Jede Adduction war dann von Rota-
tion nach aussen begleitet. Auch in der Kühe überwogen die Aus-
wärtsdreher, deren grosser Zahl nur die vorderen Bündel des Glut,
med. und des min. und der untere Theil des Adduct. magn. ent-
gegenwirken.
Bei Conti- actur der Adductoren werden die Kniee der
leicht gebeugten Beine gegen einander gepresst, ist active wie pas-
sive Abduction nicht möglich.
t. Die Muskeln, die Bewegungen im Kniegelenke verursachen.
Der M. quadrieeps femoris (N. cruralis) streckt den Unter-
schenkel. Der M. rectus fem. genannte Kopf dieses Muskels bewirkt
zugleich eine Beugung im Hüftgelenke, er streckt um so schwächer,
je mehr das Bein in der Hüfte gebeugt ist, um so kräftiger, je mehr
die Streckmuskeln der Hüfte wirken. Er dient bei brüsker Streckung
des Hüftgelenks zur Fixirung des Femurkopfes in der Pfanne und
ist bei gebeugtem Unterschenkel ein kräftiger Hüftbeuger. Beim
Yorwärtsbewegen des schreitenden Beines betheiligt er sich nicht.
Bei elektrischer Reizung (vergl. Fig. 84) des Vastus int.
(bei gestrecktem Unterschenkel) sieht man, dass die Patella nach
innen und oben, bei der des Vast. ext,, dass sie nach oben und
kräftig nach aussen gezogen wird.
Bei Lähmung des Quaclriceps ist das Stehen unbehindert,
da normaler Weise der Muskel dabei nicht thätig ist. Sobald aber
Ober- und Unterschenkel statt eines nach vorn offenen einen nach
hinten offenen Winkel bilden, d. h. bei der geringsten Contraction
der Unterschenkelbeuger, wird die aufrechte Haltung unmöglich.
Auch das Gehen ist, wenigstens bei einseitiger Quadricepslähmung,
ohne Unterstützung möglich. Die Kranken lassen das Bein dauernd
gestreckt und gehen mit steifem Beine, indem sie das Yorwärts-
schwingen des Beins unterbrechen, ehe die Beugung des Unter-
schenkels eintritt, Den hierdurch verkürzten Schritt suchen sie durch
Yorwärtssekieben der Beckenhälfte der kranken Seite zu vergrössern.
Wird der Schritt aus Yersehen zu gross gemacht, so dass Beugung
im Knie eintritt, so fallen die Kranken. Bei doppelseitiger Parese
verfahren die Kranken ähnlich. Zuweilen drücken sie mit den Händen
auf die Kniee, um die gestreckte Haltung der Beine zu bewahren.
Zu erkennen ist die Quadricepslähmung am einfachsten aus der
Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, bei sitzender Haltung den Unter-
schenkel zu strecken.
MöMus, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 21
322 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung-.
Ist nur der Vas tu s int. gelähmt, so zieht bei jeder Streckung
der Yast. ext, die Patella nach aussen. Allmählich kommt es zu
Atrophie des Condyl. ext. fem. und bei brüsker Streckung tritt
dann eine Luxation der Patella nach aussen ein, wie Duchenne
beobachtet hat.
Bei isolirter Lähmung des Vast. ext. kommt es auch zu
Atrophie des Condyl. int., doch nicht zur Luxation der Patella, da
der Vastus int. die Patella weniger seitlich bewegt als der externus.
Vermöge der Muskelfasern, die von den Vasti seitlich zur Tibia
gehen, ist eine schwache Streckung des Unterschenkels noch möglich
nach Unterbrechung des Ligam. patellare.
Welche Bedeutung der M. subcruralis hat, der als Knie-
gelenkkapselspanner bezeichnet wird, weiss man nicht genau.
Der M. sartorius (N. cruralis) spannt, wie der Tensor fasc.
den äusseren Theil, den inneren Theil der Schenkelfascie , bewirkt
Beugung im Knie- und Hüftgelenke, dreht schwach das Bein nach
aussen. Er unterstützt beim Gehen die Beuger des Hüftgelenks,
doch ist er nicht im Stande, allein die nöthige Bewegung dem
schwingenden Beine zu geben.
Der M. gracilis (N. obturat.) adducirt das Bein kräftig, hilft
den Unterschenkel beugen und dreht ihn, wenn er nach aussen ge-
dreht war, nach innen.
Der M. biceps femoris (N. ischiad.) bewirkt Beugung im
Knie- und Streckung im Hüftgelenke, dreht den gebeugten Unter-
schenkel nach aussen.
Der M. semitendinosus (N. ischiad.) bewirkt Beugung im
Knie- und Streckung im Hüftgelenke, dreht den gebeugten Unter-
schenkel nach innen.
Der M. semimembranosus (N. ischiad.) bewirkt Beugung
im Knie- und kräftige Streckung im Hüftgelenke, dreht den Unter-
schenkel nicht.
Der M. poplitaeus (N. tibialis vom Nerv, ischiadicus) dreht
den gebeugten Unterschenkel kräftig nach innen oder verhindert
vielmehr die Drehung nach aussen, beugt schwach den Unter-
schenkel.
Die vom Tuber ischii entspringenden Muskeln haben besonders
die Aufgabe, beim Gehen die Vorwärtsneigung des Beckens zu ver-
hindern, sie strecken beim Aufsetzen des Fusses kräftig das Hüft-
gelenk. Sind sie gelähmt, so zeigt der Rumpf Neigung, beim Gehen
vornüber zu fällen und die Kranken verschieben daher durch Rück-
wärtsbeugung den Schwerpunkt nach hinten. Die Beuger des Hüft-
3Iuskeln. die den Fuss bewegen. 323
gelenks müssen dann das Hintenüberfallen verhindern und ermüden
daher bald.
Springen. Laufen. Tanzen wird bei Lähmung der Muskeln an
der Hinterseite des Schenkels unmöglich. Beim Gehen schleift der
Fuss am Boden, die Kranken suchen dies zu vermeiden, indem sie
während des Vorwärtsschreitens die Beugung im Sprunggelenke ver-
stärken. Der Extensor cruris gewinnt das Uebergewicht und dehnt
die Kniegelenkbänder. Ruht der Körper auf dem kranken Beine, so
wird dann die Streckung im Knie übermässig. Ist von den Unter-
schenkelbeugern nur der Biceps erhalten, so ist jede Beugung im
Kniegelenke mit Drehung des Unterschenkels nach aussen verbunden.
Ist umgekehrt nur der Biceps gelähmt, so ist die Drehung nach
aussen verloren.
Bei Contractur der Unterschenkelbeuger kann die Beugung
so weit gehen, dass die Ferse das Gesäss berührt. Streckversuche
sind schmerzhaft.
u. Die Muskeln, die den Fuss bewegen.
Die Mm. gastrocnemius. plantaris und soleus (X. tib.)
wirken gemeinsam, man kann sie als Triceps surae bezeichnen. Sie
strecken (plantarflectiren) den Fuss und adduciren ihn (M. extensor
adductor). Zugleich dreht sich der Fuss derart, dass die Spitze nach
innen, die Ferse nach aussen sieht, die Zehen gerathen (secundär)
in Krallenstellung, indem die ersten Phalangen sich lieben, die letzten
sich plantarflectiren.
Der M. peronaeus longus (N. peronaeus) ist Abductor Ex-
tensor, er senkt die innere Seite des Yorderfusses, so dass das Köpf-
chen des ersten Metatarsusknochens nach unten und aussen von dem
des zweiten steht, und hebt den äusseren Fussrand, wobei der innere
Knöchel vorspringt. Durch seine Contraction wird die Wölbung des
Fusses vermehrt, die Breite des Yorderfusses vermindert.
Wirken der Triceps surae und der Peron. long, gemeinsam, so
wird der Fuss direct gestreckt (plantarflectirt), d. h. der letztere
Muskel neutralisirt die adducirende Wirkung des ersteren. Eine
Beugung im Kniegelenke scheint der Gastrocnemius nicht zu bewirken.
Die Anheftung des Gastrocnem. am Oberschenkel gestattet ein nütz-
liches Zusammenwirken der Fuss- und Unterschenkelstrecker; beim
Bergsteigen z. B. contrahiren sich beide gleichzeitig, der im Knie
sich streckende Oberschenkel zieht am Gastrocnem. und vermehrt
dessen Kraft. Ist der Unterschenkel gebeugt und wird der Fuss
ohne Anstrengung gestreckt, so wirkt der Soleus allein.
21 *
324
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störuns-.
Diese Muskeln wie die folgenden sind der elektrischen Eei-
zung sowohl direct als indirect leicht zugänglich (s. Figg. 82 und 85).
M. tibial. antic.
51. extons. digit. comin.
long.
M peronaeus brevis
M. extensor hallucis
long.
Mm. intorossei dorsalos
Nerv, peronaeus
M. gastrocnem. extern.
M. peronaeus longus
M. soleus
flexor hallucis long
M extons. digit. comm.
brevis
- M. abductor digiti min.
Fig. 85.
Motorische Punkte am Unterschenkel. (Nach Erb.)
Bei Lähmung des Triceps suralis ist die Streckung des
Fusses nicht möglich. Auch der Peron. longus vermag nur eine
schwache Wirkung auszuüben, er bringt den Fuss in Valgusstellung,
kann aber den inneren Fussrand nicht kräftig herabziehen, da der
äussere Fussrand nicht mehr durch den Triceps festgehalten wird.
Die Kranken können sich nicht mehr auf die Zehen stellen, springen,
u. s. w., beim Gehen fehlt das Abstossen des Fusses vom Boden, der
Gang wird bei einseitiger Lähmung leicht hinkend. Bei längerer
Dauer der Lähmung entsteht eine eigenthümliche Art von Hohlfuss
(talus pied creux tordu en dehors, Duchenne). Die Ferse senkt
sich, die Krümmung der Planta wird gesteigert, der äussere Fuss-
rand erhoben und der ganze Fuss abducirt. Secundär entsteht Con-
Muskeln, die den Fuss bewegen.
325
tractur des Abduct. hall, magii. und des kurzen Zehenbeugers, sowie
der Plantarfascie.
Bei Contractur des Triceps surae entsteht die als Pes
varo-equinus bezeichnete Deformität (vergl. Fig. 89 a).
Bei L ä h m u n g d e s P e r o n a e u s 1 o n g. ist Streckung des Fusses
mit Adduction verbunden. Wirkt man durch die dem vorderen Theile
der Sohle aufgelegte Hand der Streckung entgegen, so giebt der
innere Fussrand dem leichtesten Drucke nach, während der äussere
die Hand kräftig wegdrückt. Beim Stehen zeigt sich Pes planus
valgus, der ganze innere Fussrand berührt den Boden, beim Gehen
aber berührt der Fuss nur mit dem äusseren Rande den Boden, der
Kopf des ersten Metatarsusknochen bleibt
1 — 2 Cm. über dem Boden und die grosse
Zehe wird stark gebeugt. Gehen ermüdet
rasch und erregt Schmerzen in der Gegend
des äusseren Knöchels. Am äusseren Fuss-
Fig. 86.
Fehlerhafte Stellung des Fasses durch
Atrophie des Triceps suralis heim Erheben
der Fusspitze. (Nach Duchenne.)
Fig. 87.
Pes planus valgus. (Nach Duchenne.)
rande und unter der ersten Phalanx der grossen Zehe entstehen
empfindliche Schwielen. Stehen auf den Fussspitzen ist nicht möglich,
denn in dieser Stellung ist der äussere vordere Eand des Fusses,
auf dem das Gewicht des Körpers ruhen soll, nicht mehr in der
Richtungslinie der Schwere des Beins, die senkrecht von dem Hüft-
gelenke durch die Mitte des Knies nach der unteren Seite des Talus
geht und am Köpfchen des ersten Metatarsusknochens endet. Bei
einseitiger Lähmung ist das Stehen auf dem kranken Fusse unsicher.
Bei längerer Dauer der Lähmung entsteht dauernder Plattfuss
(Pes planus valgus). Beim Gehen werden die Nerven der Sohle com-
326
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung:.
primirt, dasselbe bewirkt daher nicht nur Ermüdung, sondern auch
Knebeln, Taubheitsgefühl, Schmerzen.
Fig. SS.
Fehlerhafte Stellung des Fasses bei Contractur des M. peron. long, a Fuss von innen gesehen,
Senkung des ersten Metatarsusknochens und Vermehrung der Fussvölbung. b Fuss von aussen. Tor-
springen der Sehne des M. peron. long, c Fuss von unten. Verschmälerung der Sohle , Torsion dos
Fusses kenntlich an den Hautfurchen, d Fuss von vorn. "Valgusstellung. (Nach Duchenne.)
Contractur des Peronaeus longus bewirkt eine eigen-
thümliche Art von Hohlfuss (pied creux valgus par contracture du
Muskeln, die den Fuss bewegen. 327
long peronier. Ducken n e). Die Wölbung des Fusses ist gesteigert,
die Breite des vorderen Fusses, der etwas nach hinten aussen ge-
dreht ist, verringert, der Fuss steht in Valgusstellung und die Sehne
des Peron. long, springt über den äusseren Knöchel stark hervor.
Die Mm. tibialis anticus, extensor digitorum pedis
longus communis und extensor hallucis longus (X. pero-
naeusj beugen (dorsalflectiren) den Fuss. Der Tibialis ant. (Flexor
Adductor) zieht, wenn zuvor der Fuss gestreckt war, das Köpfchen
des ersten Metatarsusknochen nach oben und innen, dieser Bewegung
folgt der ganze innere Fussrand und dann wird der ganze Fuss
gleichzeitig gebeugt und adducirt, während die Zehen, besonders die
grosse, plantarflectirt werden. Bei Beugung und Adduction des Fusses
kann der Extens. hall, den Tib. ant. unterstützen. Der Extens. dig.
comm. (Abductor Flexor) bewirkt ausser schwacher Dorsalflexion der
vier Zehen Beugung und Abduction des Fusses, dessen äusserer Band
sich hebt, dessen Ferse sich senkt. Der M. peronaeus tertius
ist nur ein Theil des Extens. dig. comm., mit dessen Wirkung ist
die seinige identisch. Durch gemeinsame Contraction der Beuger
wird der Fuss direct gebeugt.
Bei Lähmung der Beugemuskeln kann der Fuss nicht
gebeugt werden, er hängt schlaff1 herab, sobald er vom Boden ab-
gehoben wird. Beim Gehen stösst die Fussspitze an den Boden, um
dies zu vermeiden, verstärken die Kranken während des Yorwärts-
schreitens die Beugung im Hüft- und Kniegelenke und lassen dann
die Sohle tappend auf den Boden auffallen. Man erkennt daher an
dem eben beschriebenen Gange ohne Weiteres die sogenannte Pero-
neuslähmung. Bei längerer Dauer der Lähmung, besonders bei
kleinen Kindern und bei bettlägerigen Kranken, gerathen die Fuss-
strecker in Contractur, es entsteht Pes equinus und, wenn der Peron.
long, nritgelähmt ist, Pes equino-varus.
Ist nur der M. tibialis ant. gelähmt, so ist die Beugung
des Fusses stets mit Abduction verbunden, trotz der Anstrengung
des Extens. hall, long., der mit der Zeit hypertrophisch wird. Infolge
letzteren Umstandes findet man bei Lähmung des Tib. ant. die erste
Phalanx der grossen Zehe dauernd gestreckt und sieht auf dem
Fassrücken die Sehne des Flex. hall. long, einen Vorsprung bilden.
Beim Gehen hat die Fussspitze die Neigung am Boden anzustossen,
der Fuss wird dauernd abducirt und der äussere Fussrand etwas
gehoben. Allmählich bildet sich durch das Uebergewicht der Strecker
und des Extens. dig. comm. die in der Fig. S9 dargestellte De-
formität aus.
328
Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
Ist nur der Extensor dig. comm. gelähmt, so ist die Beu-
gung' des Fusses stets mit Adduction verbunden. Beim Gehen schleppt
a b
Fig. 89.
Fehlerhafte Stellung des Fusses (Pes equinus) durch Lähmung des M. tib. ant., beziehungsweise
Contractur der Fussstrecker beim Versuche, den Fuss zu beugen (dorsalflectiren). Der Extens. dig,
comm. abducirt den in der Euhe leicht adducirten Fuss etwas (b). Die Sohne des Extens. hall.
long, springt vor (C auf Fig. a). (Nach Duchenne.)
der äussere Fussrand am Boden.
Mit der Zeit bildet sich ein Pes
varus aus, der vordere Theil des
Fusses krümmt sich nach innen und
am Fussrücken bilden Astragalus
und Calcaneus Vorsprünge.
Die (primäre oder secundäre)
Contractur der Fussbeuger
bewirkt Hackenfussstellung. Sind
alle Fussstrecker und die Zehen-
beuger gelähmt und nur Tib. ant.
und Extens. dig. comm. erhalten, so
wird der Fuss direct gebeugt und
die Fusssohle abgeplattet. Ist der
Tib. allein thätig, so entstellt Hacken-
fuss mit Varusstellung und Abplat-
tung der Fussohle. Sind ausser den
Fussbeugern auch der Peron. long, und die Zehenbeuger erhalten,
so entsteht ein Hackenfuss mit Hohlfussbildung und Drehung des
Fehlerhafte Stellung des Fusses (Hackenfuss
mit Varusstellung) durch Contractur des M.
tib. ant., beziehungsweise Lähmung der Fuss-
strecker und Zehenbeugor, Parese des Extens.
dig. comm. (Nach Duchenne.)
Muskeln, die den Fuss bewegen. 329
Vorderfusses (s. oben). Sind ausser den Fussbeugern auch die Zehen-
beuger erhalten, dagegen der Triceps surae und der Peron. long,
gelähmt, so entsteht Hackenfuss mit Hohlfussbildung ohne Drehung.
Ist der Fuss dauernd durch den Tib. ant. in Flexion und Ad-
duction gehalten, so kommt die Sehne des Ext. dig. comni. aus ihrer
Lage und legt sich neben die des Tib. ant. Dann wirkt auch der
Ext. dig. conim. adducirend. Es geht hieraus hervor, dass das Ab-
ductions vermögen letzteren Muskels abhängt von der lateralen Fixa-
tion seiner Sehne im Ligam. annual. tarsi.
Ist die Bewegung im Tibio-Tarsalgelenke aufgehoben oder be-
schränkt, so wird die Bewegung im Gelenke zwischen Talus und
Calcaneus supplementär gesteigert. Da nun diese lateralwärts grösser
ist, als an der inneren Seite, verbindet sie sich immer mit Abduction
des Fusses und treibt daher zur Valgusstellung.
Der M. peronaeus brevis (N. peron.) abducirt den Fuss direct
und hebt den äusseren Fussrand etwas, ohne den Fuss zu strecken
oder zu beugen. Der M. tibialis posticus (N. tib.) adducirt den
Fuss, ohne ihn zu strecken oder zu beugen. Durch ihn wird der
innere Fussrand concav, der äussere convex, der Kopf des Talus und
das vordere Ende des Calcaneus springen auf dem Fussrücken vor.
Beide Muskeln, Peron. brev. und Tib. post., halten den Fuss zwischen
Ad- und Abduction und verhindern das „Umknicken" beim Gehen
und Stehen. Der isolirten elektrischen Eeizung ist der Tib.
post. nicht zugänglich.
Bei Lähmung des Peron. brevis ist die directe Abduction
nur ungenügend durch gemeinsame Contraction des Ext. dig. comm.
und des Peron. long, möglich. Bei längerer Dauer der Lähmung
tritt Contractur des Tib. post. ein und damit eine Art Varus-
stellung mit Knickung des inneren Fussrandes und secundärer Defor-
mation der Fussgelenke.
Bei Lähmung de s Tib. post. wird die Fähigkeit der directen
Adduction verloren, der Peron. brev. gewinnt mit der Zeit das Ueber-
ge wicht und führt eine Art von Valgusstellung herbei.
Sind alle Muskeln, die den Fuss bewegen, gelähmt,
so kommt keine wesentliche Verunstaltung des Fusses zu Stande,
nur eine leichte Valgusstellung bildet sich aus, da der Druck des
Körpers eine Drehung des Calcaneus nach aussen bewirkt, und es
gelingt leicht durch mechanisches Fixiren des Fusses im rechten
Winkel zum Unterschenkel, dem Kranken das Gehen möglich zu
machen. Bei Lähmung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen da-
gegen entstehen mit der Zeit die oben beschriebenen schweren De-
330 Die Function der einzelnen Muskeln und deren Störung.
forinationen, die den Gebrauch des Fusses im höchsten Grade beein-
trächtigen. Es ist daher der Verlust aller Fussmuskeln ein kleineres
Uebel als der Verlust nur einiger.
v. Die Muskeln, die die Zehen bewegen.
Der M. extensor dig. ped. longus (s. oben) streckt (dorsal-
flectirt) die ersten Phalangen der Zehen, das Gleiche thut kräftiger
der M. extensor dig. ped. brevis (N. peron.), indem er gleich-
zeitig die Zehen etwas lateralwärts neigt. Der M. extensor h al-
iud s longus (s. oben) streckt kräftig die erste Phalanx der gros-
sen Zehe.
Die Mm. flexor dig. ped. longus (N. tib.), flexor dig. ped.
brevis (N. tib.) und der M. flexor hallucis longus (N. tib.)
beugen (plantarflectiren) kräftig die letzten Phalangen der Zehen.
Der M. flexor dig. prof. dreht zugleich die Zehen und zieht sie nach
innen, eine Wirkung, die gleichzeitige Contraction der Caro quadrata
Sylvii aufhebt.
Die Mm. interossei pedis. ext. et int. und die Mm. luin-
bricales pedis, sowie die Mm. abductor und flexor brevis
dig. quinti (N. tib.) abduciren t>der adduciren je nach ihrer Lage
die Zehen und beugen gleichzeitig die erste Phalanx, während sie
die zweite und dritte strecken.
Die Mm. adductor, flexor brevis und abductor hallu-
cis (N. tib.) beugen in ihrer Gesammtheit kräftig die erste Phalanx
der grossen Zehe, strecken die zweite. Die Bündel, die sich am in-
neren Sesambeine ansetzen (Abductor und Caput int. flex. brev.)
bewegen die grosse Zehe medianwärts; diejenigen, die sich am äu-
sseren Sesambeine ansetzen (Adductor und Caput ext. flex. brev.),
bewegen die grosse Zehe nach aussen. Wenn beim Gehen der Fuss
sich vom Boden abrollt, contrahiren sich alle kurzen Muskeln der
grossen Zehe, um den Fuss vom Boden abzustossen, energischer noch
geschieht dies beim Springen und Laufen. Der Kopf des Adduct.
hall., der als Transversalis pedis bezeichnet wird, dient auch als
lebendes Band, um die Köpfe der Metatarsusknochen bei einander
zu halten, ihr Auseinanderweichen bei Belastung des Fusses zu
verhindern.
Einer isolirten elektrischen Reizung entziehen sich von
den Muskeln am Fusse die meisten Sohlenmuskeln, doch contrahiren
sie sich gemeinsam bei Reizung des N. tibialis hinter dem inneren
Knöchel.
Muskeln, die die Zehen bewegen. 331
Bei Lähmung- der Zehenstrecker überwiegen die Int eros-
sei, die ersten Phalangen werden gebeugt, die letzten gestreckt, die
normale Krümmung der Zehen verliert sich, diese werden gerad-
linig-. Sind umgekehrt die Muskeln der Sohle, besonders die
Interossei, gelähmt, so entsteht
ein Krallenfuss (pied en griffe), d. h.
die ersten Phalangen werden ge-
streckt, unter Umständen so, dass
ihre Köpfchen subluxirt werden,
während die zweiten und dritten
Phalangen durch die Anspannung
der Zehenbeuger flectirt werden
(vergl. Fig. 91). Eine wesentliche
Störung des Gehens wird durch diese
Lähmungen nicht verursacht, nur
bei längerem Gehen tritt zuweilen
schmerzhafte Ermüdung ein. Da- Fig. 91.
gegen sind Laufen und Springen SäT'fflÄSf SSSSÄlJS
wesentlich behindert, imdderkÄSed^TZehe'
ZWEITES HAUPTSTÜCK.
Die Functionstörung, die bei Läsion der einzelnen Nerven
eintritt.
I. Hirnnerven.
1. N. olfactorius: Aufhebung des Eiecli Vermögens (Anosmia).
(Vergl. S. 180).
Leichte Reizung bewirkt Empfindlichkeit gegen Gerüche (Hyperosmia),
unangenehme Geruchsempfindungen (Parosmia).
Die Läsion kommt vor bei Erkrankung der Meningen oder der Schädel-
knochen in der vorderen Schädelgrube, durch Abreissen der Endzweige
(Sturz auf den Kopf), bei Tabes, bei Erkrankungen der Nase.
2. N. opticus: Aufhebung des Sehvermögens. (Vergl. 167 S. ff.)
Bei Läsion des rechten N. opticus entstehen rechtseitige Amaurose
und Verlust des Lichtreflexes der Pupillen bei Beleuchtung des rechten
Fig. 92.
Schema des Vorlaufes der Opticusfaserri im Chiasma.
Auges; bei Läsion des rechten Tractus opt. linkseitige bilaterale Hemi-
anopsie, bei Verletzung des Chiasma von vorn oder hinten doppelseitige
temporale Hemianopsie.
Hirnnerven. 333
Primäre Erkrankung des N. opticus kommt am häufigsten vor bei
Tabes (einfache Atrophie), bei multipler Sclerose, bei gewissen Vergiftungen,
als durch Alkohol, Blei u. a. (sog. retrobulbäre Neuritis), selten bei acuter
Myelitis (Neuritis) u. A., secundäre Erkrankung wird am häufigsten durch
Drucksteigerung in der Schädelhöhle oder durch Druck auf den Nerven
(Stauungspapille) bewirkt, ferner durch Meningitis (Neuritis), durch Tu-
moren und andere Erkrankungen der Augenhöhle.
3. N. o c u 1 o m o t o r i u s : Lähmung' der Mm. sphincter iridis, ciliaris,
rectus int., rectus sup., levator palp. sup., rectus inf., obliqus inf.
Bei Erkrankung des ganzen Oculom. ist das Auge durch Ptosis des
oberen Lides geschlossen, ist der Augapfel durch den Externus und den
Obliqu.sup. nach aussen unten abgelenkt, ist die Pupille weit und starr, die
Accommodatiou aufgehoben. Gekreuzte Doppelbilder, starker Schwindel bei
Oeffnung des Auges. Nur geringe Bewegung des Augapfels nach aussen
möglich, ausserdem kleine Raddrehung im Sinne des Obl. superior.
Ist der Nerv nur theilweise erkrankt, so kommen verschiedene Coni-
binationen vor. Am häufigsten ist Lähmung nur des Internus, nur Ptosis,
Lähmung nur der inneren Augenmuskeln, selten sind alle äusseren Muskeln
ohne die inneren betroffen.
Primäre Oculomotoriuserkrankung kommt am häufigsten bei Tabes
und bei tertiärer Syphilis vor, ferner bei multipler Sclerose, selten bei
Polyneuritis, bei Diabetes, als selbständige infectiöse Erkrankung, bei Alko-
hol-, Blei- und anderen Vergiftungen. Auch angeborene O.-L. kommt vor.
Secundär erkrankt der Nerv am häufigsten durch Tumoren oder Me-
ningitis an der Schädelbasis.
Unbekannt ist die Ursache der wiederkehrenden O.-L., die unter Kopf-
schmerz und Erbrechen eintritt und nach Tagen oder Wochen wieder
verschwindet.
4. K troclilearis: Lähmung des M. obliquus sup.
Der N. tr. erkrankt selten allein (am häufigsten noch bei Tabes),
meist mit anderen Hirnnerven bei Meningitis, Basistumoren u. s. w. —
Die Localisation der Augenmuskellähmungen ist dadurch erschwert,
dass hier der Nachweiss degenerativer Atrophie nicht möglich ist. Ueber
Augenmuskellähmungen centraler Art wissen wir so gut wie nichts. Nur
beobachtet man zuweilen bei Hemiplegie eine leichte Ptosis (cerebrale
Blepharoptose), wohl deshalb, weil der Levat. palp. sup. der einzige der
von den Augenmuskelnerven versorgten Muskeln ist, der in gewissem
Grade willkürlich einseitig contrahirt werden kann. Die Lähmungen durch
Läsion der Kerne lassen sich in der Eegel von denen durch Läsion der
intracerebralen Wurzelfasern in der Nähe der Kerne nicht trennen. Nur
bei Tab es -Paralyse und in den Fällen, wo bei sonst gesunden Personen eine
auf die Augenmuskeln beschränkte, symmetrische, langsam fortschreitende
Lähmung, offenbar systematischen Charakters, auftritt und in denen, wo
zu der progressiven Bulbärparalyse sich (ausnahmeweise) Augenmuskel-
lähmungen gesellen, wird man eine Läsion der Kerne selbst mit einiger
Sicherheit diagnosticiren können. Sonst beschränkt man sich darauf, eine
Läsion der Kernregion anzunehmen und gebraucht auch in diesem Sinne
den Ausdruck nucleäre Lähmungen. Eine solche ist dann wahrscheinlich, wenn
334 Die Functionstörung, die bei Läsion der einzelnen Nerven eintritt.
associirte Lähmungen bestehen (Aufhebung der Convergenz oder der Augen-
bewegung nach oben, unten : Läsion der Kernregion des Oculomotorius,
Aufhebung der Augenbewegung nach einer oder beiden Seiten: Läsion
der Kernregion eines oder beider Abducentes), oder wo bei Lähmung aller
äusseren Muskeln die Mm. sphincter pup. und ciliaris verschont sind (Oph-
thalmoplegia externa), oder wo die zeitliche Anordnung der Lähmungser-
scheinungen die örtliche Gruppirung der Kernregionen abspiegelt. Aus-
nahmeweise kommt eine Ophthalmopl. externa dadurch zu Stande, dass die
Endigungen der äusseren Augenmuskelnerven geschädigt werden, während
die im Innern des Bulbus geschützt verlaufenden Nervenenden der Läsion
entgehen. Einzelne solche Beobachtungen mussten als infectiöse Neuritis
aufgefasst werden.
Nur mit einem wechselnden Grade von Wahrscheinlichkeit lassen sich
für cerebralen Sitz verwerthen : Doppelseitigkeit, Flüchtigkeit und Unvoll-
ständigkeit, besonders der totalen Lähmungen, endlich die Combination
dieser Zeichen. Ob sich die Angabe von Graefe's verwerthen lässt, dass
geringe Fusionstendenz beim binocularen Sehen auf cerebralen Ursprung
deute, scheint sehr zweifelhaft zu sein. Das Gleiche gilt von der Angabe
Brenner's, dass galvanische Hyperästhesie des Acusticus für cerebralen
Sitz der Augenlähmung spreche. Für peripherischen Sitz der Läsion spre-
chen im Allgemeinen Einseitigkeit und Completheit der Lähmung. Oft er-
leichtern begleitende Symptome die Diagnose, die Zeichen gesteigerten
Hirndruckes, alternirende Hemiplegie, anderweite Hirnnervenlähmungen.
Die wichtigsten Möglichkeiten sind etwa folgende. Hemiplegie mit ge-
kreuzter Oculomotoriuslähmung: Herd im Hirnschenkel; Hemiplegie mit
gekreuzter Oculomotoriuslähmung und Trochlearislähmung : Herd im Hirn-
schenkel, der bis zum Velum medulläre reicht; Hemiplegie mit Aufhebung
der Augenbewegungen nach oben oder unten: ausgedehnter Herd in der
Höhe des oberen Vierhügels; Hemiplegie mit Aufhebung der Augenbewe-
gung nach einer Seite : Herd, der den Abducenskern trifft ; totale Hemiplegie
und Augenmuskellähmung der gleichen Seite: zwei verschiedene Herde;
Zeichen der Meningitis und Augenmuskellähmung: Erkrankung der Ner-
venstämme an der Hirnbasis oder Einwirkung auf die Vierhügelgegend
durch meningitische Veränderungen im Gehirnschlitz (associirte Lähmungen
und Trochlearislähmung), oder möglicher Weise Läsion der Wände des
Aquaeduct. und des dritten Ventrikels durch acuten Hydrocephalus ; Zeichen
eines Hirntumor und Augenmuskellähmung : nur bei sehr intensiven Allge-
meinsymptomen und doppelseitiger Lähmung allgemeine Druckwirkung,
sonst örtliche Einwirkung; Hirndruck und doppelseitige Abducenslähmung :
bei Tumoren der hinteren Schädelgrube; Hemianopsie, Trigeminusaffection
u. s. w. und Augenmuskellähmung (multiple Hirnnervenlähmung) : Läsion
an der Gehirnbasis ; die drei Augenmuskelnerven und der Rain. trig. prim. :
Fissura orbitalis; Exophthalmus und Augenmuskellähmung: Läsion in der
Orbita. Die isolirten Augenmuskellähmungen bei Syphilis können durch
selbständige Erkrankung der Nervenzweige oder Stämme oder durch gum-
matöse Meningitis an der Basis verursacht sein, wohl nur selten durch
intracerebrale Gummata. Die bei Tabes, beziehungsweise progressiver Pa-
ralyse, und bei multipler Sclerose entstehen bald durch Erkrankung der
Kernregion, bald durch die der peripherischen Nervenzweige.
Hirmierven.
335
5. N. trige minus:
a) Erster Ast (N. ophthalmiciis s. orbitalis) : Anästhesie der Haut,
entsprechend Fig. 93 (Vi), der Conjunctiva, Cornea, Iris und der
übrigen Augenhäute, eines Theiles der Dura mater, eines Theiles
der Nasenschleimhaut, Störung- der Ernährung des Auges (Ophthal-
mia neuroparalytica).
b) Zweiter Ast (N. supramaxillaris) : Anästhesie der Haut, ent-
sprechend Fig. 93 (Y-i), der Schleimhaut des Oberkiefers, eines Theiles
der Nasenschleimhaut, des Gaumens, eines Theiles der Dura mater,
der Schleimhaut des mittleren Ohres, Anästhesie der oberen Zähne
(u. U. Ausfallen derselben und Nekrose des Alveolarfortsatzes), Ge-
schmackstörunsren auf den vorderen Theilen der Zunge.
Fig. 93.
Vertheilung der Hautnerven am Kopfe. Vt = erster Trigeminusast. so N. supraorbitalis. st N.
supratrochlearis. it N. infratrochlearis. e N. ethmoidalis. 1 N. lacrymalis. — Vo = zweiter Trige-
minnsast. smlf. subcutan, malae. — V3 = dritter Trigeminusast. at X. anriculo-temporalis. b JS".
buceinatorius. m N. mentalis. — oma N. occipitalis maj., omi N. occipitalis min., am N. auricul.
magn. sc N. subcut. colli (PI. cervic). — B = hintere Aeste der unteren Halsnerven.
c) Dritter Ast (N. inframaxillaris) : Anästhesie der Haut, ent-
sprechend Fig. 93 (V3), eines Theiles der Dura mater, der Zunge,
der Unterkiefer- und Wangenschleimhaut, der unteren Zähne (u. U.
Ernährungstörungen, vergl. oben), Lähmung der Kaumuskeln, des
M. tensor tympäni, des M. mylohyoideus, des vorderen Bauches des
M. biventer, einiger Gaumenmuskeln, eventuell Störungen der Speichel-
absonderung.
Bei Läsion des gesammten Trigeminus besteht demnach An-
336 Die Functionstörung, die bei Läsion der einzelnen Nerven eintritt.
ästhesie des ganzen Kopfes mit Ausnahme der vom B. auricul. N. vagi
und von den Nn. occipitales und auricul. magn. versorgten Hauttheile,
mit Einschluss der Gehirnhäute, des Auges, der Schleimhaut in Nasen-
höhle, Paukenhöhle, Mundhöhle, des Gaumens, der Zähne, ferner
Lähmung der unter c genannten Muskeln, Geschmackstörung an den
vorderen Theilen der Zunge, Störungen der Absonderung der Thränen
und des Speichels. Unter geeigneten Umständen können an den
anästhetischen Theilen Ernährungstörungen auftreten, deren wich-
tigste die sogenannte Ophthalmia neuroparalytica und die Nekrose
der Zähne, sowie des Alveolarfortsatzes sind, während Ulcerationen
der verschiedenen Schleimhäute, Oedem u. s. w. eine weniger grosse
Eolle spielen.
Die Chorda tympani, die die Geschmacksfasern für den vorderen Theil
der Zunge enthält, geht vom zweiten Trigeminusaste zum Facialis, trennt
sich dann von diesem und legt sich an den N. lingualis (vergl. Fig. 94) ;
je nach dem Sitze der lähmenden Ursache muss sie bei Trigeminuslähmung
bald betheiligt sein, bald nicht. Vergl. S. 183. Vasomotorische Fasern
vom N. sympathicus verlaufen mit den Trigeminuszweigen gemeinsam,
dies erklärt die bei peripherischer Trigeminuslähmung auftretenden vaso-
motorischen Symptome. Dass der Trigeminus directe Einwirkung auf die
Irismuskeln besitze, ist unwahrscheinlich. Ob Hemiatrophia faciei, Glaucom
durch Läsion von Trigeminusfasern zu erklären sind, ist nicht bekannt.
Wie die Erkrankungen anderer sensibler Nerven kann auch die der
Trigeminusfasern Herpes zoster begleiten (H. z. frontalis, ophthalm., la-
bialis u. s. w.).
Centrale Kaumuskellähmung ist als Folge doppelseitiger Grosshirn-
herde beobachtet worden (vergl. S. 88). Centrale Trigeminusanästhesie
ist bisher nur als Theilerscheinung der Heinianästhesie bekannt. Kern-
läsionen sind selten, der motorische Trigeminuskern wird zuweilen bei der
progressiven Bulbärparalyse ergriffen, es tritt dann Kaumuskellähmung
mit degenerativer Atrophie ohne Sensibilitätstörung ein. Herderkrankungen
der Brücke können u. U. auch die sensorischen Trigeminuskerne treffen.
Ueber die mit Hemiplegie oder Hemianästhesie gekreuzte peripherische
Trigeminuslähmung als Symptom von Erkrankung der Brücke , bez.
Oblongata s. S. 83. In der Brücke sollen den Trigeminusfasern die Ge-
schmacksfasern nicht mehr beigesellt sein. An eine Erkrankung der
aufsteigenden Trigeminuswurzel wird man denken, wenn zu Läsionen des
Halsmarkes sich Trigeminussymptome gesellen ; vielleicht auch bei Ta-
bes, doch können hier auch die peripherischen Zweige erkrankt sein.
Weitaus am häufigsten sind peripherische Trigeminusläsionen, je nach der
Ausdehnung der Symptome wird man die Läsion in die einzelnen Zweige
oder in den Stamm, beziehungsweise in dsis Gangl. Gasseri zu verlegen
haben. Dass die Läsion des letzteren besondere Kennzeichen habe, ist
möglich, da nach G au le's Versuchen gewisse trophische Störungen von
der Reizung des Ganglion abhängen, doch ist klinisch die Sache ganz
unsicher.
Hirnnerveii. 337
Am häufigsten ist die Läsion des Trigeminus bei Erkrankung der
Gesichts- oder Schädelknocken, der Meningen, der Carotis interna (Druck
auf das Ganglion Gasseri), bei Infectionen und Intoxicationen.
Bei leichter Reizung treten im Gebiete der einzelnen Zweige Nerven-
schmerzen auf, die hier besonders oft den neuralgischen Charakter haben.
Die Trigeminusneuralgie (Neuralgia N. supraorbitalis , infraorbitalis, men-
talis, auriculotemporalis u. s. f.) ist bei Weitem die häufigste Neuralgie.
Gerade hier tritt dieses Symptom oft allein und ohne erkennbare Ursache
auf, so dass der Anschein einer selbständigen Krankheit entsteht. Von der
Läsion des Nerven sind zu unterscheiden die ausstrahlenden Schmerzen
bei Organerkrankungen (Caries der Zähne, Glaukom, Iritis, Kiefer-, Stirn-
höhlenentzündung u. s. w.). Die meisten Supraorbitalis - Neuralgien sind
Symptome einer Stirn höhlenerkrankung.
6. N. abducens: Lähmung' des M. rectus externus.
Die Läsion des Abducenskernes oder dessen Umgebung ist dadurch
kenntlich, dass nicht nur der Rectus ext., sondern auch der Rectus int.
der anderen Seite gelähmt ist. Meist handelt es sich um Parese des
Rectus int., in einigen Fällen zeigte sich diese nur, wenn der contralaterale
Internus mit dem gelähmten Externus thätig sein sollte, beim Blicke nach
der Seite des letzteren, in anderen Fällen war die Thätigkeit des Rect.
int. auch beim unoculären Sehen beeinträchtigt. Die Convergenz ist immer
möglich. Bei doppelseitiger Läsion des Abducenskernes sind beide Augen
geradeaus gerichtet, weder nach rechts noch nach links ist Bewegung mög-
lich. Bei extracerebraler Läsion des N. abducens ist der contralaterale Rect.
internus unbehelligt. Die peripherische Läsion kommt vor primär bei Tabes,
bei anderen Infectionen (selten), als angeboren, secundär bei Erkrankung
der Schädelknochen (bes. des Felsenbeins), der Meningen, bei Tumoren.
7. N. facialis: Lähmung- der mimischen Gesichtsmuskeln, des
M. stylohyoideus und des hinteren Bauches des M. Mventer, wenn
die lähmende Ursache unterhalb der Linie a (s. Fig. 94) sitzt; ausser-
dem Lähmung des M. occipitalis und des M. auricul. post., wenn die
Läsion zwischen aund/i sitzt; ausserdem Geschmackstörung, wenn
die Läsion zwischen ß und y sitzt; ausserdem Lähmung des M. stape-
dius, wenn die Läsion zwischen y und d sitzt ; ausserdem Lähmung
des M. levator palati (dessen Ast vom N. facial. durch den N. petr.
superf. maj. zum Gangl. sphenopalat. gehen soll), wenn die Läsion
zwischen ö und e (d. h. im Gangl. geniculatum) sitzt ; alle genannten
Störungen, aber keine Geschmackstörung, wenn die Läsion über e
sitzt. Neuerdings ist es wahrscheinlich geworden, dass der Facialis
mit der Innervation des Gaumens überhaupt nichts zu tlnm habe.
Hinzuzufügen ist, dass zuweilen Verminderung der Speichelsecretion
eintritt, sobald die Läsion oberhalb ß sitzt : die Speicheldrüsenfasern
sollen vom Ursprung ab im Stamme des Facialis verlaufen, ihn aber
mit der Chorda tymp. verlassen.
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Auü. 22
338
Funetionstürune'. die bei Läsion einzelner Nerven eintritt.
Die Läsion des Facialiskernes ist meist dadurch charakterisirt , da'ss
die Zeichen peripherischer Lähmung bestehen (Atrophie und partielle Ent-
artungsreaction), aber nur das untere Facialisgebiet gelähmt ist. Der Kern
der oberen Facialiszweige scheint demnach von dem für die Wangen- und
Lippenzweige, dem eigentlichen Facialiskerne, örtlich getrennt zu sein und
nur ausnahmeweise mit dem letzteren zugleich zu erkranken.
jismj G$
st(t
ca.
Fig. 94.
(Mit Benutzung einer Zeichnung Henle's.)
Vj V2 V3 KT. trigem. 1. 2. 3. Ast. VII N. facialis. VIII N. acust. G g Gangl. geniculat. c p t R com-
rounie. c. plex. tympan. sta N. stapedius. ca N. communic. c. auric. vagi. ap N. auricul. post.
1 N. lingualis. G n Gangl. nasale, v N. vidianus. psmj N. petros. superf. maj. c h t Chorda tympani.
Die basale Facialislähmung wird kaum isolirt vorkommen, die Be-
theiligung der benachbarten Hirnnerven lässt die Diagnose stellen.
Ueber Facialislähmuug bei Brückenherden vergl. S. 83, über centrale
Facialislähmung vergl. S. 67. Die peripherische Läsion des Nerven kommt
Hirnnerven. 339
primär recht häufig als selbständige infectiöse Erkrankung (sog. rheumat.
Facialislähmung) vor. Dabei ist bald die Strecke oberhalb ß frei, bald
leidet auch die Chorda. Die Lähmung tritt acut ein, oft bestehen im Anfange
auch Trigeminusschmerzen. Sie ist ausnahmeweise doppelseitig. Selten
ist die Theilnahme eines oder beider Faciales bei Polyneuritis, sehr selten
bei Tabes.
Secundäre Erkrankung entsteht am häufigsten durch Otitis media,
ferner von den Schädelknochen, den Meningen aus (dann meist zugleich
Läsion des Acusticus). Partielle Facialisläbmungen kommen bei Erkran-
kung der Parotis, durch Wunden im Gesicht u. A. vor.
Bei leichter Reizung des Nerven entstehen Krämpfe der Gesichts-
muskeln. Der Facialiskrampf ist meist Symptom der Hysterie, oder er
tritt bei erblich Belasteten als sog. Tic convulsif auf. Mit diesem dürfen
die reflectorischen Zuckungen bei Trigeminusneuralgie nicht verwechselt
werden.
8. N. acusticus:
a) E. coclilearis = Taubheit.
b) E. vestibularis = Schwindel und Gleichgemacht Störungen.
Primär erkrankt der 8. Nerv sehr selten, zuweilen bei Tabes, bei
multipler Sclerose, möglicherweise auch bei infectiöser Neuritis. Secundäre
Erkrankung bewirkt am häufigsten die Cerebrospinalmeningits, die bes.
oft das Labyrinth zerstört. Tumoren des Gehirns oder des Schläfenbeins
können natürlich auch den 8. Nerven treffen. Vergl. a. S. 176 ff.
9. N. glossopharyngeus: Verlust des Schmeckverniögens auf
den hinteren Theilen der Zunge, am Gaumen und Eachen (Ageusis),
nach Einigen auch Lähmung des M. stylopharyngeus.
Die Läsion scheint fast nur bei Erkrankungen der Schädelbasis vorzu-
kommen. Vergl. S. 184.
10. — 11. N. vago-accessorius:
a) E. externus N. accessorii : Lähmung der Mm. sternocleidomast.
und cucullaris.
b) Fasern des N. access., die mit dem N. vagus verlaufen : Gau-
men- und Schlundlähmung, Lähmung der Kehlkopfmuskeln, Störun-
gen der Herzthätigkeit (letztere gewöhnlich nur bei doppelseitiger
Erkrankung).
c) eigentliche Vagusfasern. Anästhesie eines Theiles der Ohr-
haut, des Eachens, Kehlkopfs, wahrscheinlich auch des Oesophagus,
der Trachea und der Bronchen, möglicherweise des Magens (Ver-
lust des Sättigungsgefühles), Lähmung des Oesophagus, wahrschein-
lich Störungen der Beweglichkeit des Magens, Störungen der Herz-
und Athniimgsthätigkeit (letztere besonders bei doppelseitiger Er-
krankung).
Der N. laryngeus sup. versorgt die Schleimhaut des Kehlkopfes und
den M. cricothyreoid., der N. laryng. inf. s. recurrens die übrigen Kehl-
22*
340 Functionstörung, die bei Läsion einzelner Nerven eintritt.
kopfmuskeln und wahrscheinlich die Schleimhaut unterhalb der Stimm-
bänder.
Die primäre Erkrankung des Vagoaccessorius kommt am häufigsten
bei Tabes vor (theils Kern-, theils peripherische Läsion). In seltenen
Fällen sind die meisten Aeste betroffen, gewöhnlich nur Kehlkopf- (und
Herz-) fasern : Kehlkopf krisen , Kehlkopf lähmungen , Tachykardie. Am
häufigsten kommt einseitige oder doppelseitige Abductorlähmimg, seltener
einseitige Lähmung aller Stimmbandmuskeln (sog. Kecurrenslähmung) vor.
Bei infectiöser oder toxischer Neuritis scheinen besonders die Herzfasern
zu leiden (Tachykardie und Schwäche des Herzens), doch kommen auch
Kehlkopflähmungen vor.
Verletzungen (Schuss, Stich) können den Nerven unterhalb des Fo-
ramen jugulare treffen, häufiger sind Beschädigungen einzelner Aeste, be-
sonders des Recurrens durch Aneurysmen, Geschwülste, bei Operationen.
12. N. hypoglossus: Lähmung- der Mm. genio-, hyo-, stylo-
glossus, der Binnenmuskeln der Zunge, der Mm. genio-, omo-, sterno-
hyoideus, hyo- und sternothyreoideus.
Primäre, fast immer einseitige Erkrankung des Hypoglossus (wohl
meist Kernläsion) bei Tabes, vielleicht bei Neuritis. Am häufigsten wird
der Nerv durch Geschwülste der Schädelbasis beschädigt, am Halse kön-
nen ihn Stich- und Schnittverletzungen treffen.
II. Rückenmarksnerven.
1 . Bezüglich der vieroberen Hals nerven sind zu erwähnen :
N. occipit. magn. (N. cerv. II): Anästhesie, vgl. Fig. 93 oma.
N. occipit. min. (N. cerv. III): Anästhesie, vgl. Fig. 93 omi.
N. auricul. magn. (N. cerv. III): Anästhesie, vgl. Fig. 93 am.
Nn. subcut. colli med. und inf. (Nn. cerv. II und III): An-
ästhesie der vorderen und seitlichen Halshaut, vgl. Fig. 93 es, und
Parese des Platysma.
N n. s u p r a c 1 a v i c u 1. (N. cerv. IV) : Anästhesie der oberen Brust-
und Schultergegend, vgl. Fig. 93 sc, 97 C.
N. infraoeeipit. (N. cerv. I): Lähmung der Mm. rect. cap.
post. maj. und min., obliqu. cap. sup. und inf., biventer cerv. und
complexus.
N. phrenicus: Lähmung des Zwerchfells.
Die übrigen, bisher nicht genannten Zweige der oberen Cervical-
nerven versorgen die Mehrzahl der tiefen Hals- und Nackenmuskeln,
die Mm. scaleni und zum Theil den M. lev. scapulae.
Die Erkrankung dieser Nerven ist, abgesehen vom Phrenicus, recht
selten. Neuralgien der Occipitalnerven kommen bei Syphilis (nächtl. Stei-
gerung), bei Caries der Halswirbel, selten bei infectiöser Neuritis vor.
Diese Ursachen bewirken auch zuweilen Lähmungen der Nackenmuskeln.
Rückemnarksnerveii.
341
342 Functionstörung, die bei Läsion einzelner Nerven eintritt.
In vereinzelten Fällen hat man solche auch bei M. Basedowii, bei Tabes
oder ohne nachweisbare Ursache beobachtet. Viel häufiger sind Krämpfe
der Hals- und Nackenmuskeln (Schüttel- , Nickkrämpfe) , die zum Theil
sehr hartnäckig sind und über deren Natur man oft nicht in's klare kommt,
wenn es auch zuweilen gelingt , schmerzhafte Stellen an den Knochen,
Nervengeschwülste oder dergl. zu finden, bei deren Beseitigung der Krampf
verschwindet.
Der N. phrenicus ist wegen seines langen Verlaufes Schädlichkeiten
besonders ausgesetzt. Zwerchfelllähmung ist nicht selten bei Polyneuritis,
sie kommt ausnahmeweise auch bei Tabes vor. Der Nerv kann durch
Geschwülste, Entzündungen der Umgebung, Traumata getroffen werden.
2. Läsion der hinteren Aeste der v i e r unteren Halsnerven
bewirkt Anästhesie der Nackengegend (auf Fig. 93 mit B bezeichnet)
und Lähmung eines Theils der tiefen Nackenmuskeln.
Die vorderen Aeste bilden den Plexus brachialis, d. h. fol-
gende Nerven:
N. dorsalisscapulae: Lähmung der Mm. rhomboidei, Parese
des M. levat. scap. und. des M. serratus post. superior.
N. suprascapularis: Lähmung der Mm. supra- und infra-
spinatus.
N. axillaris: Lähmung des M. deltoideus und des M. teres
min., Anästhesie, vgl. Figg. 95 und 97 ax.
Nn. subscapulares: Lähmung der Mm. subscapul., teres maj.,
latiss. dorsi.
N. thoracicus post.: Lähmung des M. serratus anticus.
Nn. thoracici ant.: Lähmung der Mm. pector., vielleicht An-
ästhesie der Haut über der Brustdrüse.
Nn. cu tan. media lis (N. cutan. intern, min.), medius (N. cutan.
intern, maj.): Anästhesie, vgl. Figg. 95 und 97 cmd, cm.
Die Achselhöhle wird versorgt vom N. cut. med. und vom lateralen
Hautaste des zweiten Intercostalnerven.
N. cut. lateralis (N. musculocutaneus) : Anästhesie , vgl.
Figg. 95 urd 97 cl, und Lähmung der Mm. coracobrach. , bieeps br.
und brachialis int. (mediales Bündel).
N. medianus: Anästhesie, vgl. Figg. 95 und 96 me, beziehungs-
weise m, und Lähmung der Mm. pronator teres , pronator quadratus,
rad. int., palm. longus, flex. dig. sublim., flex. dig. prof. (zum Theil),
flex. poll. long., der kurzen Daumenmuskeln mit Ausnahme des Ad-
duet. poll. (und wahrscheinlich mit Ausnahme des inneren Kopfes des
Flex. poll. brev.), der drei ersten Mm. lumbricales.
N. ulnaris: Anästhesie, vgl. Figg. 95 und 96 u, und Lähmung
der Mm. uln. int., flex. dig. prof. (zum Theil), der Mm. interossei,
Rückenmarksiierveu.
34:)
des vierteil M. lumbric, des Adductor poll. und wahrscheinlich des
inneren Kopfes des Flex. poll. brev., des M. palm. brev., der Mus-
keln des Hypothenar.
N. radialis: Anästhesie, vgl. Fig\ 95 cps, cpi und ra, und Läh-
mung' der Mm. triceps, ancon. quartus, eines Theiles des M. brach, int.,
der Mm. supin. long, und brevis, radial, long, und brevis, uln. ext.,
extensor dig. comm., extens. ind. und extens. digiti quinti, extens.
poll. long, und brev., abduct. poll. longus.
Bei Läsion des N. racl. an der Umschlag-
stelle ist die Anästhesie auf die Hand beschränkt,
ist der M. triceps nicht gelähmt. Hier wie beim
Med. und Uln. kann der, der den Verlauf des
Nerven kennt, aus der Verbreitung der Störung
an Haut und Muskeln mit Leichtigkeit die Stelle
der Läsion bestimmen.
Die Nerven treten in den Plexus so
ein, wie sie im Rückenmarke geordnet sind.
Läsionen des Plexus haben daher einen ähn-
lichen Erfolg wie umschriebene Läsionen des
unteren Halsmarkes.
Bei Läsionen des PI. brach, über der
Clavicula zeigen sich sehr verschiedene Com-
binationen der Lähmung und Anästhesie.
Fig. 96.
HautnervengelDiet der Dorsalseite
der Hand, r N. radialis, m N. me-
dianus. Ti N. ulnaris.
Unter ihnen scheint die häufigste einer Lä-
sion des fünften und sechsten Cervicalnerven an
dem sogenannten Erb'schen Punkte (Fig. 45) zu entsprechen. Es besteht
dann in der Regel Lähmung der Mm. delt, biceps, brach. int, sup. long.,
infraspin., zuweilen Anästhesie im Gebiete des Medianus.
Bemerkenswerth ist ferner die Verbindung von Lähmung der kleinen
Handmuskeln, Anästhesie an der Innenseite des Armes und Lähmung der
sympathischen Augenfasern (Verengerung der Pupille und Lidspalte). Ihr
entspricht die Läsion des 8. Hals- und 1. Brustnerven beim Austritte aus
dem Wirbelcanale.
Die einzelnen Schulter- und Armnerven erkranken verschieden oft,
je nachdem ihr Verlauf sie Schädlichkeiten aussetzt. Weitaus am häu-
figsten kommen traumatische Lähmungen (Stoss, Druck) vor, so die trau-
matische Serratuslähmung, die etwas seltenere Läsion des N. axillaris, die
seltene des N. dorsalis scap. u. a. an der Schulter, die ungemein häufige
traumatische Radialislähmung (gewöhnlich Druck auf die Umschlagstelle
am Oberarme, hie und da Krückendruck oder dergl. in der Achselhöhle),
die Ulnarislähmung am Arme. In der Nähe des Handgelenkes werden
Medianus und Ulnaris oft von schneidenden Werkzeugen getroffen.
Bei Polyneuritis werden die verschiedensten Combinationen beobachtet.
Sog. rheumatische Erkrankungen, d. h. infectiöse Neuritiden scheinen bes.
am N. thor. longus s. post., am Axillaris, am Radialis, am Ulnaris vor-
344 Functionstörung, die bei Läsion einzelner Nerven eintritt.
zukommen. Bei Neuritis puerperalis leiden bes. die Endäste der Nn. me-
dianus und ulnaris. Vorwiegend Armnerven erkranken bei der Blei-Neu-
ritis, deren charakteristisches Bild die Diagnose leicht macht. Ueber sie,
die Arsenikneuritis u. s. w. vergl. unter „Neuritis" (S. 349 ff.).
Es kommen übrigens hie und da Erkrankungen einzelner Armnerven,
besonders des Ulnaris vor, bei denen es nicht gelingt, die Ursache zu
finden.
Wirkliche Neuralgien im Gebiete des PI. brach, sind durchaus selten,
man begnüge sich nie mit dieser Diagnose, sondern suche nach den Ur-
sachen der etwaigen Nervenschmerzen.
Eine besondere Gruppe bilden die Störungen, die durch Ueberan-
strengung der Hand oder des Armes entstehen. Am häufigsten kommt es
auf diesem Wege zu krampfhaften Zuständen: die überanstrengten Mus-
keln gerathen bei der schädlichen Beschäftigung in Krampf, ohvvohl sie
sonst gut beweglich sind. So ist es beim Schreibekrampfe : sobald die Feder
angesetzt wird, ziehen sich die Beugemuskeln zum Theil zusammen und
verhindern das Schreiben. Zuweilen handelt es sich nur um eine lähmungs-
artige Schwäche, die beim Versuche zu schreiben in der Hand eintritt.
Die ergriffenen Muskeln sind schmerzhaft. Aehnliche Zustände sind bei
Ciavier-, Geigenspielern, bei Telegraphenbeamten, Schneidern, Cigarren-
wicklern u. A. beobachtet worden. Auch Lähmung mit Muskelschwund
kann durch Ueberanstrengung entstehen, Daumenlähmung bei Trommlern,
bei Citherspielern u. A. Ueber die anatomischen Veränderungen bei allen
diesen Erkrankungen weiss man nichts.
3. Dorsalnerven, hintere Aeste: Anästhesie der Eüekenliant
und Lähmung der langen und kurzen Eückenmuskeln, vordere Aeste
(N n. i n t e r co s t a 1 e s) : Anästhesie der seitlichen und vorderen Brust-
und der Bauchgegend (Fig. 97), Lähmung der tiefen Brust- und
der Bauchmuskeln (u. U. Secretionstörung der Brustdrüse).
Bei Läsion eines Intercostalnerven Anästhesie des betroffenen Inter-
costalraumes , die nur bei gleichzeitiger Erkrankung des hinteren Astes
bis zur Mittellinie des Rückens reicht. Die untere Grenze des Gebietes
der Intercostalnerven ist veränderlich, sie reicht zuweilen bis unter die
Crista ilei.
Die Läsion der Brustnerven kommt vor bei Wirbelerkrankungen,
Aneurysmen, Tabes, bei multipler Neuritis, bei Herpes zoster u. s. w.
Reine Neuralgien kommen selten vor, wenn man auch oft von ihnen
spricht. ,
4. Vier Lenden nerven, hintere Aeste: Anästhesie der oberen
Gesässgegend und Lähmung eines Theiles der langen Eückenmus-
keln, vordere Aeste (Plexus lumbalis) sind folgende Nerven:
N. ilio-hypogastricus: Anästhesie in der Hüftgegend und
im Hypogastrium (ih Fig. 97).
N. ilio-inguinalis: Anästhesie (vgl. ii Fig. 97 und 98) der
Haut über dem M. tensor fasc. und des Mons veneris.
Rückenmarksuerven. 345
X. 1 u m b o - i n g u i n a 1 i s : Anästhesie entsprechend 1 i auf
Figg. 97 und 98.
N. spermaticus externus: Anästhesie entsprechend se auf
Figg. 97 und 98 und des inneren Fläche des Scotuni, beziehungs-
weise der Labia majora.
N. cutaneus fem. 1 a t e r. : Anästhesie entsprechend cl auf
Figg. 97 und 98.
N. cruralis: Anästhesie entsprechend er und sa auf Figg. 97
und 98 und Lähmung der Mm. iliopsoas, epiadrieeps fem., sartorius
(zuweilen pectinaeus).
N. obturatorius: Anästhesie entsprechend obt auf Figg. 97
und 98 und Lähmung der Mm. obturat. ext., pectin. , adduetores,
gracilis.
Die Grenzen dieser Hautnervengebiete sind sehr variabel.
Läsionen einzelner Lendennerven sind recht selten. Am häufigsten
findet man diese Nerven betroffen bei Polyneuritis und bei Verletzungen.
Der Cruralis und der Obturatorius können gelegentlich auch bei Tumoren,
Hernien u. s. w. im Becken oder an der Vorderseite des Oberschenkels
beschädigt worden.
5. Der 5. Lendennerv und die Sacralnerven bilden den
PI. sacralis (die kleinen hinteren Aeste: Anästhesie der Haut über
dem Os sacrum.):
N. glutaeus sup. : Lähmung der Mm. glut. med. und min., pyri-
formis, tensor fasc. latae.
N. glut. in f.: Lähmung des M. glutaeus maximus.
N. cutaneus fem. post.: Anästhesie des unteren Theiles der
Hinterbacke, eines Theiles des Scrotum und des hinteren Theiles
des Oberschenkels, entsprechend cp Fig. 98.
N. ischiadicus: Anästhesie, entsprechend cpm, epe, per', per",
cti, epp, plm, pll auf Fig. 98, Lähmung der Mm. gemelli, obtur. int.,
quadratus fem., bieeps fem., semitend., semimembr. (zuweilen eines
Theiles des Abciuct. magn.), der Unterschenkel- und Fussmuskeln.
a) N. peronaeus: Anästhesie = epe, cpm, per', per" und Lähmung
der Mm. tib. ant. , extens. dig. long., extens. hall, long., peron. long, und
brevis, extens. dig. brev., einiger Mm. interossei.
b) N. tibialis: Anästhesie = cti, epp, plm, pll, Lähmung der
Wadenmuskeln, der Mm. tib. post., flex. dig. long, und brevis, flex. hall,
long, und brevis, der übrigen Muskeln an der Sohle und der meisten
Interossei.
Die häufigste Erkrankung im Bereiche des PL sacralis stellt die Ischias
dar : Nervenschmerzen im Verlaufe des N. ischiadicus, zu denen sich manch-
mal Parästhesien , Anästhesie, Paresen, Atrophie, Oedem gesellen und
die wahrscheinlich auf einer Perineuritis beruhen. Im Uebrigen kommt
346
Functionstörung, die bei Läsion einzelner Nerven eintritt.
Läsion des Ischiadicus durch Verletzung (von aussen oder vom Becken
her), durch Erkrankung benachbarter Theile und bei Polyneuritis vor.
Entzündungen und Ge-
schwülste im Becken, Druck
während der Geburt sind die
häufigsten in Betracht kom-
menden Ursachen, ausser
den Giften. Besonders der
N. peronaeus wird oft be-
schädigt, ähnlich wie der
N. radialis am Arme. Er
kann auch im Becken ge-
troffen werden, da seine
Fasern über den Becken-
rand vom PI. lumbalis zum
PI. sacralis laufen.
N. pudendo-hae-
morrhoidalis (s. pu-
dend. communis) : An-
ästhesie der Haut der
Aftergegend (N. hae-
morrli. ext.), des Dammes,
eines Theiles des Scrotum
(sc. auf Fig. 97) , bezieh-
ungsweise der Labien, der
Schleimhaut der Urethra
und Vagina (N. pudend.),
der Haut des Penis, be-
ziehungsweise der Clitoris
(N. dors. penis, dp auf
Fig. 97) und Lähmung
der Muskeln des Becken-
bodens, der Sphincteren
und der Blase.
Die Läsion kommt am
häufigsten bei Erkrankung
der Cauda equina vor, durch
Verletzungen oder Ge-
schwülste. Nervenschmer-
zen ohne nachweisbare Ur-
sache zeigen sich zuweilen
als Neuralgie des Hodens
u. s. w.
6. PI. coccygeus: Anästhesie der Haut über dem Steissb eine.
Nervenschmerzen nach Verletzung oder ohne bekannte Ursache.
Fig. 97.
Vt V-7 V3 = 1., 2., 3. Triareminusast. C = Cervicalnerven.
B = Braehialnerven : a x X. axillaris, c m d X. cut. medialis,
c m X. cut. medius, c 1 N. cut. lateralis. J C = Intercostal-
nerven : ra Rami anteriores, rl Rami laterales. L= Lum-
balnerven: ih X. ilio-hypopastricus , ii X. ilio-ineuinalis,
li N. lumbo-inguinalis , so X. spermat. ext. , cl X. cutan.
lateralis, c r X. cruralis, o b t X. obturator. s c = Xn. scro-
tales, dp = X. dorsalis penis. cp = X. cutan. post. (letztere
3 vom P. sacralis).
Rückenmarksnerven.
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o48 Fuiictionstörung', die bei Läsion einzelner Nerven eintritt.
III. N. sympathicus.
1. Halst heil: Enge der Pupille mit Verlust der reflectorischen
Erweiterung, sonst gut erhaltener Beweglichkeit, Verengung der Lid-
spalte, Zurücksinken des Bulbus, Gefässerweiterung (zuweilen Gef äss-
verengerung) auf der kranken Kopfhälfte, Anidrosis (zuweilen Hy-
peridrosis) ebenda, Abflachung der kranken Gesichtshälfte. Bei Eei-
zung des Nerven treten Erweiterung der Pupille und der Lidspalte,
Vortreten des Augapfels, Gefässverengerung (zuweilen Gefässerwei-
terung), Hyperidrosis (zuweilen Anidrosis) ein.
Die im Halssympathicus vereinigten Augenfasern nnd Gefässfasern
sind nicht nur im centralen Nervensystem, sondern auch in den Rami com-
municantes getrennt, daher nur Pupillen-Lid-Symptome oder nur Gefäss-
veränderungen bei deren umschriebener Erkrankung; bes. sind bemerkens-
werth die sympathischen Augensymptome bei Beschädigung des R. com-
municans vom 1. Brustnerven.
Die Läsion des Halssympathicus kann zu Stande kommen durch directe
Verletzung von aussen, durch Druck von Geschwülsten, Uebergreifen von
Entzündungen (von Lymphdrüsen u. s. w. aus). Zuweilen findet man die
sympathischen Symptome, bes. Hyper- oder Anidrosis, Gefässveränderungen,
ohne dass die Ursache nachzuweisen wäre.
2. Brust- und Bauchtheil: nichts Sicheres bekannt. Bei
Läsion der Nn. cardiaci ist Verlangsamung der Herzaction zu er-
warten, bei solcher der Nn. splanchnici Fuiictionstörung des Darms,
der Bauchdrüsen und Beckenorgane. Da, abgesehen vom N. vagus
und N. pudendo - haemorrh. , die sympathischen Bahnen die Verbin-
dung zwischen den Organen der Bauch- und Beckenhöhle und dem
Centralnervensystem darstellen, müssen alle bei Erkrankungen des
letzteren vorkommenden Functionstörungen jener Organe durch Ver-
mittelung sympathischer Fasern entstehen.
Ueber Neuritis.
Zur Neuritis rechnet man gewöhnlich alle Erkrankungen der
Nerven, mögen entzündliche Veränderungen da sein, oder nicht. Dies
ist insofern berechtigt, als sich eine strenge Trennung zwischen
Entzündung und einfacher Entartung nicht durchführen lässt. Je
nach der Art und der Menge des Giftes tödtet es die Nervenfasern
bald rasch, so dass die Menge der Zerfallsproducte Entzündung her-
vorruft, bald langsam, so dass die Zerfallsproducte hinweggeführt
werden können, ohne einen wahrnehmbaren Keiz auszuüben. Bald
wirkt das Gift nur auf die Nervenfasern selbst zerstörend, bald
schädigt es auch oder vorwiegend das Zwischengewebe. Man kann
auch die Perineuritis nicht von der Neuritis scheiden, ebenso-
wenig wie die Nervenentzündung von der Nervenentartung. Nur
die secundäre Degeneration rechnet man nicht zur Neuritis.
Da die Natur nicht nach unseren Lehrbüchern arbeitet, scheidet
sie auch nicht streng die Erkrankung des Gehirnes, des Eücken-
markes von der der peripherischen oder Aussennerven. Nicht selten,
wahrscheinlich noch häufiger, als man es jetzt weiss, erkranken
bei derselben Krankheit centrale und peripherische Fasern primär.
A priori fit denominatio. Man rechnet die Tabes nicht zur Neuritis,
weil diese bei ihr nicht die Hauptsache ist, und umgekehrt zählt
man die Bleilähmung mit Eecht zur Neuritis, mag auch einmal das
Eückenmark miterkrankt sein. Decken sich die Gebiete der centralen
und der peripherischen Erkrankung, so wird natürlich die erstere
von der letzteren verdeckt.
Auch eine primäre Erkrankung der Muskeln kann neben der
der Nerven vorhanden sein. Wahrscheinlich sind vielfach Neuritis
und Myositis wesentlich gleich.
350 Heber Neuritis.
Das Bild der Neuritis ist begreiflicherweise je nach Ursache
und Ort sehr verschieden. Strenggenommen gehören zur Neuritis
die Ischias und viele andere sogenannte Neuralgien, der Herpes zoster,
ferner die sogenannte rheumatische Facialislähmung, die sogenannte
rheumatische Augenmuskellähmung und analoge Lähmungen anderer
Nerven. Es ist üblich, diese Dinge als besondere Krankheiten zu
beschreiben. Secundäre Entzündung einzelner Nerven kann durch
Verwundungen oder durch Uebergreifen der Entzündung von benach-
barten Organen aus entstehen. Handelt es sich um eine directe Ver-
letzung des Nerven, so haben wir entweder eine mechanische Zer-
störung mit secundärer Degeneration vor uns und dann spricht man
nicht von Neuritis, oder aber es dringen mit der Verletzung Ent-
zünclungserreger in den Nerven ein, die dann eine wirkliche Neuritis
bewirken können. Ebenso können die Entzündungserreger von einer
dem Nerven benachbarten Wunde aus in den Nerven eintreten. Unter
diesen Umständen kann es zu der sogenannten Neuritis migrans,
beziehungsweise Neuritis ascendens kommen, von der früher viel
die Eede war, die aber in Wirklichkeit recht selten ist. Verläuft
der Process mehr oder weniger acut, so werden heftige Nerven-
schmerzen eintreten ; der betroffene Nerv wird, wenn er dem Finger
erreichbar ist, höchst empfindlich sein, man wird ihn zuweilen als
knotigen Strang fühlen; auch das von ihm versorgte Gebiet wird
gegen Druck sehr empfindlich, besonders bewirkt schon geringer
Druck auf die Muskeln lebhaften Schmerz, später folgen Parästhesien,
Anästhesie, Parese, Lähmung, Muskelschwund mit Entartungsreaction,
zuweilen Veränderungen der Haut (Oedem, Blasenausschlag u. dergl.).
Sind Schmerzen und Verdickung der Nerven vorhanden, ohne dass
es zu den Zeichen einer Unterbrechung der Leitung kommt, so spricht
man wohl von Perineuritis. Zu erkennen ist die Krankheit leicht.
Am häufigsten wird sie mit hysterischen Störungen verwechselt, d. h.
es wird oft eine Neuritis ascendens diagnosticirt, wo nur hysterische
Erscheinungen, Schmerzen, Lähmung, Anästhesie vorhanden sind.
Die Unterscheidung wird nicht schwer sein, wenn man daran denkt,
dass die Neuritis sich an die anatomisch aufzeigbaren Wege hält,
die Hysterie nicht, dass bei dieser degenerative Atrophie, Verdickung
der Nerven u. s. w. nicht vorkommen, wenn man auf anderweitige
hysterische Stigmata achtet.
Uebergreifen der Entzündung von anderen Organen auf die Nerven
wird unter sehr verschiedenen Umständen beobachtet. Z. B. greift die
Meningitis an der Basis des Gehirnes auf die Hirnnerven über, Wirbel-
entzündungen können Neuritis im Wirbelloche verursachen, bei der
Ueber Neuritis. 351
sogenannten Pachymeningitis cervicalis entstehen die Hauptsymptome
durch Einwirkung' der entzündlichen Schwarten auf die Wurzeln,
eiterige Pleuritis kann Neuritis der Intercostalnerven bewirken, ver-
eiternde Lymphdrüsen können benachbarte Nerven entzünden, bei
Gelenkerkrankungen kann es zu Neuritis in der Nachbarschaft kom-
men u. s. f. Das Bild wird im Allgemeinen dem der infectiösen Neu-
ritis bei Verletzungen gleichen. Allgemeine Angaben lassen sich nicht
machen.
Der Begriff der multiplen Neuritis umfasst ebenfalls ver-
schiedene Zustände. Die meisten toxischen Nervenerkrankungen im
engeren Sinne stellen eine multiple Neuritis dar: Alkoholneuritis,
Bleineuritis , Arsenikneuritis , Kohlenoxydneuritis u. s. w. An viele
infectiöse Krankheiten können sich multiple Neuritiden anschliessen:
Diphtherieneuritis , Typhusneuritis , Pneumonieneuritis , Scharlach-
neuritis, Influenzaneuritis, Tuberkuloseneuritis u. s. f. Bei einigen
chronischen Krankheiten unerkannter Natur kommt Neuritis vor,
z. B. beim Diabetes. Endlich kennen wir eine infectiöse Erkrankung,
deren Wesen eine fieberhafte multiple Neuritis ist, die multiple Neu-
ritis schlechtweg oder die Polyneuritis acuta, eine Krankheit, die
oifenbar verwandt ist mit der als Kakke oder Beriberi bekannten
endemischen Neuritis.
Da es ganz unmöglich ist, alle einzelnen Formen hier zu be-
sprechen, sollen nur die wichtigsten kurz geschildert werden. Wir
beginnen mit der selbständigen Polyneuritis. Diese tritt in
der Regel wie eine allgemeine acute Infectionskrankheit auf, mit
mehr oder weniger hohem Fieber, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit,
Benommenheit, Delirien, hie und da auch Milzschwellung, Albuminurie.
Von vornherein pflegen heftige Schmerzen zu bestehen, aber diese
sind im Anfange ziemlich unbestimmt und den Gliederschmerzen bei
anderen Infectionskrankheiten ähnlich. Es kann daher die Krankheit
in den ersten Tagen wohl verkannt werden. Da zuweilen auch Gelenk-
schwellungen sich zeigen, könnte man an Polyarthritis denken. Bald
aber lassen die allgemeinen Erscheinungen nach und treten die ört-
lichen Symptome hervor. Gewöhnlich zeigt sich zuerst Parese eines
Beines oder beider Beine. Nach den Beinen werden die Arme und
ein Theil der Rumpfmuskeln ergriffen. Die Hirnnerven bleiben in
der Regel frei, doch hat man auch ein- oder doppelseitige Gesichts-
lähmung, Augenmuskellähmungen beobachtet. Blasenstörungen treten
nur ausnahmeweise auf, am ehesten kommt vorübergehende Harn-
verhaltung vor. Die gelähmten Muskeln sind gewöhnlich schlaff, sie
nehmen rasch an Umfang ab, es kommt zu mehr oder weniger aus-
352 Ueber Neuritis.
geprägter Atrophie mit Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit
oder Entartungsreaction. Die Lähmimg ist keine gleichmässige, son-
dern die Muskeln sind in verschiedenem Grade betroffen, meist die
Strecker viel mehr als die Beuger, zuweilen bleiben einige Muskeln
im Gebiete der Lähmung verschont. Die Störungen der Empfindlich-
keit bestellen hauptsächlich in Schmerzen und Parästhesien. Die
Schmerzen können im Anfange sehr heftig sein, sie scheinen manch-
mal dem Laufe der Nerven zu folgen, mit der Zeit aber lassen sie nach,
hören nicht selten sogar ziemlich rasch auf. Prickeln, Brennen, Gefühl
des Eingeschlafenseins zeigen sich besonders in den Endgliedern und
können lange andauern. Eines der wichtigsten Symptome ist die
Druckempfindlichkeit: die Nerven, die Muskeln, zuweilen auch die
Haut vertragen keinen Druck und die Kranken schreien oft auf,
wenn man z. B. die Wadenmuskeln kräftig anfasst. Eigentliche An-
ästhesie kommt selten vor, meist besteht nur Hypästhesie, auch
kann die Empfindlichkeit gar nicht vermindert sein. Die Keflexe
sind herabgesetzt oder erloschen. Nur ausnahmeweise hat man Steige-
rung der Sehnenreflexe beobachtet. Fast immer findet man Verände-
rungen der Haut: allgemeine oder umschriebene Hyperidrosis, Oedem,
besonders an Hand- und Fussrücken, zuweilen Erytheme, Herpes-
bläschen, Unebenheiten der Nägel, Veränderungen der Haare. In
gewissem Grade ist der Puls charakteristisch, trotz des Fieberabfalles
bleibt oft Tachykardie, nicht selten wird der Puls klein und un-
regelmässig. Auch seelische Veränderungen kommen vor : die Kranken
erscheinen zuweilen als auffallend vergesslich. Wenn nicht die Läh-
mung sich auf die Mehrzahl der Athemmuskeln ausbreitet und damit
Erstickung bewirkt, wenn nicht Herzlähmung eintritt, so ist der
Verlauf günstig und dies ist diagnostisch wichtig. Im Gegensatze
zu spinalen Erkrankungen endet die Polyneuritis in der Regel mit
vollständiger Heilung. Nur ausnahmeweise bleiben einzelne Mus-
keln dauernd gelähmt. Rückfälle sind nicht allzuselten. Die Poly-
neuritis acuta ist eine leicht zu erkennende Krankheit. Ist sie einmal
ausgebildet, so können Verwechslungen für den, der die Krankheit
überhaupt kennt, kaum vorkommen. Freilich wird oft fälschlich bei
ihr Spinallähmung diagnosticirt, aber es giebt keine Rückenmarks-
krankheit, die ihr gliche. Die bei Erwachsenen seltene, früher viel
genannte Poliomyelitis verläuft ohne Störungen der Sensibilität, bei
ihr tritt die Lähmung, soweit es sich um Poliomyelitis acuta handelt,
plötzlich ein und geht dann langsam zurück, während die direct
betroffenen Muskeln rasch gänzlich zu Grunde gehen ; die chronische
Form entwickelt sich von vornherein schleichend und schreitet stetig
lieber Neuritis. 353
fort, schädigt ausschliesslich die Musculatur. Nur in den Fällen, wo
es sich um das Bild der acuten aufsteigenden Lähmung handelt,
kann man zwischen Polyneuritis und Myelitis schwanken, denn bei
beiden können Sensibilitätstörungen vorhanden sein. Immerhin wird
die Betheiligung von Blase und Darm bei spinaler Erkrankung kaum
fehlen und wird der Verlauf, sofern nicht ein rascher Tod eintritt,
Aufklärung bringen. Gerade die acute aufsteigende Lähmung durch
Neuritis scheint eine rasche und vollständige Genesung zuzulassen.
Am ehesten wird die acute Polyneuritis mit der acuten Polymyositis
verwechselt werden können. Das Stadium der Allgemeinerscheinungen,
die Schmerzen, die Lähmung können bei beiden Krankheiten sehr
ähnlich sein, doch fehlen bei der Polymyositis Druckempfindlichkeit
der Nerven, Parästhesien und Hypästhesie , treten Erythem und
Muskelschwellung in den Vordergrund. Bekanntlich gleicht das Bild
der Polymyositis dem der Trichinose, Freilich giebt es möglicher-
weise LTebergangsformen : Polymyositis mit Betheiligung der Nerven.
Häufiger als die selbständige acute Polyneuritis sind die secun-
dären Formen der multiplen Neuritis. Unter den nach Infections-
krankheiten vorkommenden Formen ist wohl die häufigste die
Diphtherieneuritis. Sie ist ziemlich charakteristisch: Gaumen-
lähmung, Aufhebung der Accommodation, Schwäche der Beine mit
Fehlen der Sehnenreflexe, das ist das Schema. In den leichtesten
Fällen besteht nur Gaumenlähmung mit oder ohne Störung der Ac-
commodation. In den schwereren treten Ataxie, Lähmung der Glieder
und Muskelschwund hinzu. Ziemlich ähnlich soll der Diphtherie-
neuritis die seltene Pneumonieneuritis sein.
Zu der Tuberculose tritt die multiple Neuritis bald mehr
acut, bald mehr chronisch hinzu. Manchmal handelt sich nur um
mehr vereinzelte neuritische Symptome, zuweilen besteht das Bild
einer schweren Polyneuritis.
Nicht gerade häufig, aber charakteristisch ist die Neuritis
puerperalis. Im Wochenbette oder nach ihm entwickelt sich unter
Schmerzen Lähmung im Gebiete der Nn. medianus und ulnaris,
seltener im Gebiete des Peronaeus.
LTnter den im engeren Sinne toxischen Neuritiden ist die wich-
tigste die Alkoholneuritis. Sie ist auch in diagnostischer Hinsicht
besonders wichtig, da ihre Ursache begreiflicherweise oft verhehlt
wird und der Arzt diese aus dem Bilde der als selbständige Krank-
heit auftretenden Neuritis erkennen soll. Die Krankheit beginnt fast
immer mit reissenden Schmerzen in den Beinen. Dann kommen
Schwäche und Unsicherheit der Beine, Schmerzen und Schwäche
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiton. 2. Aufl. 23
354 Ueber Neuritis.
der Arme. Mehr noch als bei anderen Neuritisformen ist der Alkohol-
neuritis eigen, dass die Strecker mehr als die Beuger leiden. Hängender
Fuss (Foot-drop) und hängende Hand, das ist das Kennzeichen. Kann
der Kranke noch gehen, so zeigt er wegen der Peroneuslähmung
den Hahnentritt (Steppage). Die gelähmten Muskeln schwinden, man
findet an ihnen Entartungsreaction. Augenmuskellähmungen pflegen
nicht allzu selten zu sein. Nie fehlen neben den Erscheinungen der
Lähmung die Störungen der Sensibilität, ja diese treten zuweilen
in den Vordergrund. Ausser den Schmerzen ist gewöhnlich eine grosse
Druckempfindlichkeit vorhanden, Berührungen sind wie Brennen und
jeder Druck auf die kranken Muskeln ist äusserst peinlich. Die
Hypästhesie pflegt an den Unterschenkeln und Füssen am stärksten
zu sein und kann zur vollständigen Anästhesie werden. Häufiger
und stärker als bei anderen Formen der Polyneuritis ist hier die
seelische Störung. Abgesehen von den verschiedenen Formen des
Alkohol-Irreseins, die gelegentlich mit der Neuritis zusammentreffen
können, beobachtet man eine eigenthümliche Gedächtnissschwäche.
Die Kranken sind über Ort und Zeit nicht im Klaren, wissen nicht,
was sie vor einer Stunde gethan haben, erzählen fabelhafte Ereignisse,
die gar nicht eingetreten sind, halten Längstvergangenes für neu,
verkennen die Personen u. s. f. Diese Amnesie führt natürlich zu
einem gewissen Grade von Verwirrtheit. Manchmal geht ihr wohl
auch eine Zeit verworrener Erregtheit mit Sinnestäuschungen voraus.
Wenn die beschriebene Gehirnstörung zuweilen auch bei der idio-
pathischen Polyneuritis, vielleicht auch bei anderen Formen vor-
kommt, so ist sie doch der Alkoholneuritis besonders eigen.
Die Bleineuritis ist charakterisirt durch das bekannte Bild
der Lähmung der Hand- und Fingerstrecker mit Atrophie und Ent-
artungsreaction, ohne fibrilläre Zuckungen, ohne jede Sensibilität-
störung. Den Beginn machen gewöhnlich die Strecker des vierten
und des dritten Fingers, dann folgen die der anderen Finger, dann
die der Hand. Der Supinator longus bleibt frei. Bei schweren Läh-
mungen werden auch die kleinen Handmuskeln, der Deltoideus und
andere Muskeln ergriffen. Selten sind die Beinmuskeln betheiligt,
am ehesten die Peronaeusmuskeln. Werden durch die Berufstätigkeit
besondere Muskeln .in ungewöhnlicher Weise angestrengt, so können
diese zuerst erkranken und dadurch kann der Typus geändert werden.
Z. B. erkranken bei Feilenhauern oft zuerst die kleinen Daumen-
muskeln der linken, den Meissel haltenden Hand.
Diagnostisch wichtig ist, dass zu den gewerblichen Vergiftungen
nicht selten Hysterie hinzutritt. Man kann also neben den neuritischen
Ueber Neuritis. 355
Symptomen hysterische finden und muss sich hüten, beide gleichzu-
stellen. So kann neben Bleilähmung Hemianästhesie oder Zittern
bestellen. Das Zittern der Quecksilberarbeiter soll immer hysterischer
Art sein. Bei Schwefelkohlenstoffarbeitern kommen hysterische und
neuritische Symptome vor u. s. f.
"Während die Bleineuritis gewöhnlich durch Arbeit mit Blei, oder
durch sonstige tägliche Berührung mit Blei ganz langsam entsteht,
entwickelt sich die Arsenikneuritis gewöhnlich rascher, da sie
häufiger durch einmalige Vergiftung zu Stande kommt. In diesem
Falle treten nach einigen "Wochen, wenn die Magendarmerscheinungen
vorüber sind, sehr heftige reissende Schmerzen in den Gliedern ein.
Dann kommt es zu Lähmung und Anästhesie, die zwar den grösseren
Theil der Glieder einnehmen können, zunächst aber und vorwiegend
sich an den Endgliedern, an Hand und Fuss zeigen (Akroneuritis).
Die gelähmten Muskeln schwinden, man findet an ihnen Herabsetzung
der elektrischen Erregbarkeit oder Entartungsreaction. Die Schmerzen
halten länger an als bei anderen Neuritisformen, die Genesung tritt
sehr langsam ein, ist manchmal nicht vollständig.
Im Allgemeinen beruht die Diagnose der Neuritis auf dem Zu-
sammenbestehen peripherischer Lähmung mit Störungen der Empfind-
lichkeit, besonders Schmerzen und Druckempfindlichkeit. Fehlen die
Sensibilitätstörungen wie bei der Bleineuritis, so könnte man zunächst
auch an eine Vorderhornerkrankung denken, doch wird diese aus-
zuschliessen sein, wenn vollständige Heilung eintritt. Ueberdem hat
man, wenn das Bild charakteristisch ist, sich auf den in ähnlichen
Fällen gelieferten anatomischen Befund zu beziehen.
Erwähnt mag noch die Unterscheidung zwischen Neuritis und
SyringomyeKe sein. Diese ist zwar in der Kegel so charakteristisch,
dass sie von dem, der sie überhaupt kennt, kaum verkannt wird.
Langsam, ganz langsam eintretende individuelle Atrophie, fast immer
zuerst an den Armen, mit der eigenthümlichen Anästhesie, d. h. Thermo-
anästhesie und Analgesie ohne stärkere Betheiligimg der Tastempfind-
lichkeit. Schmerzen und Druckempfindlichkeit fehlen gewöhnlich.
Die Anästhesie deckt sich nicht mit der Atrophie und entspricht
nie Nervenbezirken. Dazu tritt Steigerung der Sehnenreflexe an den
Beinen, beziehungsweise spastische Lähmung. Nur das ist zu betonen,
dass die Thermoanalgesie nicht pathognostisch für Syringomyelie ist,
sie kommt als solche auch bei Neuritis, bei Hysterie, bei anderen
Rückenmarkserkrankungen vor.
Man darf sich mit der Diagnose der Neuritis nicht begnügen.
Zwar ist diese werthvoll, da sie eine günstige Prognose möglich
23*
356 Ueber Neuritis.
macht. Aber eine wirksame Therapie (d. h. Beseitigung der Schädlich-
keit) wird in vielen Fällen erst möglich, wenn die Art der Neuritis,
d. h. die Ursache, erkannt ist. Diese specielle Diagnose gründet sich
einmal auf die Anamnese, zum anderen aber auf den Befund selbst-
Schon jetzt können wir in vielen Fällen aus dem Befunde die Art
der Neuritis erkennen, hoffentlich wird unsere Kenntniss der Neuritis-
formen in Zukunft noch wachsen und diese Unterscheidungen immer
sicherer machen.
DRITTES HAUPTSTÜCK.
Localisation im ßückenmarke.
1. Um zu bestimmen, bis zu welcher Höhe des Rückenmarkes
eine Querläsion reicht, hat man die Anästhesie, die Lähmung-, das
Verhalten der Reflexe zu berücksichtigen. Mit annähernder Sicher-
heit lässt sich etwa Folgendes sag'en:
Bei Zerstörung des unteren Endes des Rückenmarkes (Conus
terminalis), von dem der 3., der 4. und der 5. Sacralnerv entspringen,
sind Blase und Darm, sowie die Muskeln des Beckenbodens (bes. der
levator ani) ganz gelähmt, ist die Haut des Scrotum und der hinteren
Penishälfte (der ganzen weiblichen Geschlechtstheile mit Ausnahme
des Mons veneris), des grösseren Theiles der Hinterbacken und eines
Dreieckes auf der Hinterseite der Schenkel, dessen Spitze etwa die
Mitte des Schenkels erreicht, unempfindlich.
Sind auch der 2. und der 1. Sacralnerv mit ergriffen, so werden
die Muskeln am Fusse und an der Wade gelähmt, die Anästhesie
an der Hinterseite des Schenkels reicht bis zur Kniekehle und ist
nach aussen verbreitet, der Achillessehnenreflex ist erloschen.
Ist auch der 5. Lendennerv ergriffen, so sind alle Ischiadicus-
umskeln gelähmt und die Wade, sowie die äussere Hälfte des Fusses
sind unempfindlich.
Manche nehmen an, dass der Tibialis anticus verschont bleibe, bez.
seine Fasern aus der Höhe des 4. Lendennerven erhalte.
Ist auch ein Theil des oberen Lendenmarkes (3. und 4. Lenden-
nerv) zerstört, so sind die meisten Beinmuskeln gelähmt, nur das
obere Drittel der Vorderseite des Schenkels und ein schmaler Streifen
an der Vorder-Imienseite bis zum inneren Knöchel sind noch em-
pfindlich, das Kniephänonien erlischt.
Sind auch der 2. und der 1. Lendennerv ergriffen, so sind auch
die Hüftbeuger gelähmt, die Anästhesie reicht vorn bis zur Leisten-
beuge und hinten bis zu den oberen Lendenwirbeln, der Cremaster-
reflex erlischt.
Noch genauere Angaben werden vielfach gemacht, d. h. die einzelnen
Muskeln werden einzelnen Segmenten des Markes zugetheilt, doch sind
dafür kaum ausreichende Unterlasren vorhanden.
358 Legalisation im Rückenmarke.
Bei Querläsionen des Brustmarkes hat man sich an die Anästhesie
und die Hautreflexe zu halten. Die Grenze der Anästhesie bildet
einen Gürtel und zwar verläuft die Linie mit wellenartigen Erhe-
bungen. Sind von der unteren Bauchhaut aus keine Eeflexzuckungen
zu erzeugen, so sind das 11. und das 12. Segment betroffen, ist auch
vom Epigastrium aus kein Beflex zu bewirken, so umschliesst die
Läsion auch den Ursprung des 10. und des 9. Brustnerven. M. a.W.
die Eeflexe von der Bauchhaut aus setzen das Vorhandensein des
Markesvom 9. zum 12. Brustnerven voraus. Umfasst die Läsion den
2. Brustnerven, so reicht die Anästhesie bis zu den Schlüsselbeinen,
die Muskeln des Bauches und die Strecker der Wirbelsäule sind gelähmt.
Vom 1. Brustnerven aus werden ein Theil der kleinen Hand-
muskeln und die Haut am ulnaren Bande der Hand versorgt. Ist
ausser dem Segmente des 1. Brustnerven auch das des 8. Halsnerven
ergriffen, so sind alle kleinen Handmuskeln und die Beuger des
Handgelenkes gelähmt, im Uebrigen die Arme frei, die Anästhesie
im Ulnarisgebiete reicht weiter herauf und ergreift auch das Me-
dianusgebiet. Bei Läsion des 7. Halsnerven sind auch die Strecker
der Hand gelähmt, es soll auch das Eadialisgebiet der Hand ergriffen
sein. Bei Läsion des 6. Halsnerven werden weiter Serratus magnus,
Triceps, Latissimus und Ter es inj., Pronatoren, Subscapularis ergriffen.
Das Bild wird nun sehr charakteristisch: Arme und Eunipf sind
ganz gelähmt (bis auf das Zwerchfell) und unempfindlich, die Arme
sind im Schultergelenke abducirt, nach auswärts gedreht, im Ellen-
bogen gebeugt, die Hände sind pronirt und gebeugt. Die eigenthüm-
liche Stellung der Arme entsteht dadurch, dass die Mm. Deltoideus,
Biceps, Brachialis internus, Infraspinatus noch thätig sind. Empfind-
lich bleibt noch ein Streifen an der Aussenseite des Arms. Ergreift
endlich die Läsion auch das Gebiet des 5. Halsnerven, so werden
auch die vorhin genannten Schulterarmmuskeln (Delt, Bic, Brach.
int., Infraspin.) gelähmt, die Arme sinken schlaff herab und werden
fast ganz unempfindlich.
Eine Querläsion im Gebiete des 4. Halsnerven oder weiter oben
tödtet sofort, weil zu der Lähmung der anderen Athemmuskeln die des
Zwerchfelles hinzutritt, der Kranke also erstickt. Es können im oberen
Halsmarke nur kleine spinale Herde vorkommen, durch die Lähmung
der Scaleni, der Nackenmuskeln, der Ehomboidei, der Accessorius-
muskeln, Anästhesie der Schulter- und Nackenhaut, des Gesichtes
(durch Läsion der aufsteigenden Trigeminuswurzel) bewirkt werden.
Bei den Läsionen des unteren Halsmarkes sind die Pupillen verengert
wegen Läsion der sympathischen Augenfasern.
Legalisation im Rückenmarke.
359
Die genauere Legalisation der Halsmarkläsionen hat sich wesentlich
auf den Nachweis der Lähmung zu gründen. Auch hier sind unsere
Kenntnisse durchaus nicht vollendet; das Gesagte dürfte ungefähr klinisch
zuverlässig sein. Noch genauere Angaben sind vorläufig kaum vertrauens-
werth. Von der Anästhesie wissen wir nur, dass die untersten Halsnerven
die Iiand und vorwiegend die Innenseite des Armes, die mittleren die
Aussenseite des Armes, die oberen Schulter, Hals und Nacken versorgen.
Im Allgemeinen sind die Symptome maassgebend , die auf die höchste
Stelle im Marke deuten.
Fig. 99. Fig. 100.
Schnitt durch das Cervical- und durch das Lumbal mark mit Einzeichnung der ungefähren Grenzen
zwischen den einzelnen Abtheilungen, des Marktnantels. Unter Benutzung der entwickelungsgeschicht-
lichen Grundlagen wesentlich nach Präparaten mit seeundären Degenerationen des einen oder anderen
Systems, la Pyramiden - Seitenstrangbahn. 1 Pyramiden -Vorderstrangbahn. 2 Grundbündel der
Vorderseitenstränge. 3 Fasciculus anterolateralis. 4 Kleinhirn-Seitenstrangbahn. 5 Seitliche Grenz-
schicht der grauen Substanz. 6 Aeussere Burdach'she Hinterstränge, sind im Lendenmark nicht vor-
handen. 7 Innere Goll'sche Hinterstränge. 8 Wurzeleintrittzone. 9 Ventrales Feld der Hinterstränge.
(Nach Edinger.)
2. Ueber die Bedeutung der einzelnen Felder auf dem Quer-
schnitte des Rückenmarkes sind wir nur ungenügend unterrichtet.
Wir kennen den Verlauf der Pyramidenbahn, wissen, dass die in ihr
vereinigten Fasern nach der Kreuzung in den Pyramiden in den hinteren
Abschnitten der Seitenstränge (im oberen Marke auch an der Innen-
seite der Vorderstränge) herabziehen und allmählich mit den grossen
Zellen der Vorderhörner in Verbindung treten, von wo aus die Erregung
durch die vorderen Wurzeln in die Nerven eintritt. Wir wissen,
dass alle sensorischen Bahnen mit den hinteren Wurzeln in das Mark
einmünden, der Mehrzahl nach bald nach dem Eintritte sich kreuzen,
d. h. in die andere Hälfte des Markes gelangen und dann theils in
den Hintersträngen, theils in den Hinterhörnern aufwärts führen. Wir
nehmen ferner mit Grund an, dass der Reflexbogen die hintere Wurzel
mit den Vorderhornzellen der gleichen Höhe verknüpfe. Demnach
wissen wir von den Feldern der weissen Substanz, welche Wirkung
die Läsion des der Pyramidenbahn entsprechenden Feldes bewirkt
und dass eine Läsion der Hintersträim'e Fortsetzungen der hinteren
360 Localisatiou im Eückenmarke.
Wurzeln mit erbrechen muss. Unbekannt ist die Function der Yorder-
stränge (natürlich abgesehen von den Pyraniidenfasern im Halsmarke
und von den durchziehenden vorderen Wurzeln), unbekannt die
Function der Seitenstränge, soweit sie nicht Pyramidenfasern ent-
halten. Nehmen vir an, dass an irgend einer Stelle die ganze weisse
Substanz des Bückenmarkes zerstört, die graue erhalten wäre und
ebenso die ein- und austretenden Wurzeln verschont wären, so wür-
den wir nur centrale Lähmung des unteren Körpertheiles und eine
Störung der Empfindlichkeit in diesem zu erwarten haben. Genaueres
über die letztere aber können wir nicht angeben; weder ihre Aus-
dehnung, noch die Antwort auf die Frage, ob alle Qualitäten der
Empfindung leiden würden, ist bekannt.
Mit grosserer Zuversicht kann man von den Folgen der Zer-
störung der grauen Substanz reden, da es krankhafte Zustände giebt,
in denen nur sie wesentlich beschädigt wird. Wir wissen, dass Läsion
des Yorderhorns in der Hauptsache so wirkt wie die der periphe-
rischen Muskelnerven, Lähmung mit Schwund und Entartungsreac-
tion ohne Yeränderung der Empfindlichkeit verursacht, dass bei Zer-
störung der hinteren grauen Substanz nur Anästhesie, und zwar
Analgesie mit Thermoanästhesie, eintritt, dass in beiden Fällen die
Reflexe erlöschen, deren Bogen durch das lädirte Stück führt,
3. Krankhafte Yeränderungen des Bückenmarkes können auf
dreierlei Art entstehen, es kann primär erkranken, Erkrankungen der
Nachbarorgane können übergreifen, es entartet secundär bei Erkran-
kungen des Gehirns und solchen der Aussennerven, bez. der Wurzeln.
Es ist von vornherein verständlich, dass secundäre Entartungen
keine klinischen Erscheinungen machen, da eben diese schon mit der
Läsion der Theile, von denen die secundäre Degeneration abhängt,
eingetreten sein müssen. Es haben daher sowohl die absteigenden
Degenerationen bei Gehirnerkrankungen, als die aufsteigenden bei peri-
pherischer Erkrankung nur anatomische, nicht klinische Bedeutung.
Wahrscheinlich ist das Gebiet der aufsteigenden secundären Ent-
artungen grösser, als man früher glaubte. Nicht nur nach Beschä-
digung der Spinalganglien und der hinteren Wurzeln kommen solche
vor, sondern auch nach peripherischen Zerstörungen sensorischer und
motorischer Theile. Wahrscheinlich ist die Hinterstrangerkrankung
bei Tabes als secundäre Degeneration anzusehen. Wahrscheinlich
sind manche Kernerkrankungen so zu deuten. Auch die Degene-
rationen im Nervensystem, die in manchen Fällen von Dystrophia
musc. progr. gefunden worden sind, gehören vermuthlich hierher.
Dadurch schrumpft das Gebiet der primären Bückenmarkser-
Legalisation im Rückenmarke. 361
krankungen sehr ein. Von Erkrankung der weissen Substanz kommt
eigentlich nur die amyotrophische Lateralsclerose in Betracht. Neben
ihr stehen gewiss seltene Stranger krankungen , die das Bild der
spastischen Spinalparalyse zu liefern scheinen. Primäre Erkrankungen
der grauen Substanz sind die Vorderhorndegenerationen , die theils
Theilerscheinung der amyotrophischen Lateralsclerose, theils ihr coordi-
nirte Erkrankungen sind, ferner die acute Poliomyelitis, die Gliosis
spinalis. Weisse und graue Substanz leiden bei der multiplen Sclerose,
die freilich wohl nie auf das Rückenmark beschränkt ist, und bei
der acuten oder chronischen diffusen Myelitis, die durch verschiedene
Infectionen zu Stande zu kommen scheint.
Die seeundären Rückenmarkserkrankungen , sofern man unter
diesen die von der Umgebung her übergreifenden versteht, sind da-
durch ausgezeichnet, class sie mit sog. Wurzelsymptomen beginnen,
weil eine von aussen auf das Mark zudringende Erkrankung zuerst
die Wurzeln schädigen muss. Zuckungen und umschriebene peri-
pherische Lähmungen einerseits, Schmerzen, Parästhesien , Hyper-
und Anästhesie andererseits gehen den eigentlichen Marksymptomen
voraus und begleiten sie.
Das Bild der spinalen Meningitis besteht recht eigentlich aus
Wurzelreizsymptomen: Schmerzhaftigkeit und Steifheit der Wirbel-
säule, ausstrahlenden Schmerzen, Hyperästhesie eines grösseren oder
kleineren Theiles der Körperoberfläche, Muskelspannungen, besonders
Spannung der Bauch- und der Rückenmuskeln (Kahnbauch, Opistho-
tonus), Steigerung der Reflexe.
Oertliche Wurzelsymptome entstehen, wenn da oder dort ein
Druck ausgeübt wird. Wird der Wirbelcanal durch eine Verschie-
bung der Knochen oder durch eine Geschwulst verengt, so entsteht
das Bild der Querläsion mit vorausgehenden und begleitenden Wurzel-
symptomen. Unter diesen treten besonders die Schmerzen hervor.
Handelt es sich um das Halsmark, so beginnen heftige Schmerzen
im Nacken und in den Armen, später folgen atrophische Lähmung
dieser oder jener Muskelgruppe und cervicale Paraplegie. Bei Läsion
in der Höhe des Brustmarkes tritt besonders der Gürtelschmerz in
den Vordergrund. Je nachdem der Druck in sagittaler oder in seit-
licher Richtung wirkt, sind die Symptome von vornherein doppel-
seitig oder erst einseitig.
Acute Entzündung der Meningen kommt bei der Cerebrospinal-
meningitis und bei tuberkulöser Meningitis vor. Chronische Menin-
gitiden findet man am häufigsten bei Syphilis: Schwartenbildung.
Hier entwickelt sich oft aus den Wurzelsymptomen das Bild der
362 Localisation im Eückenuiarke.
Querläsion, bes. der des Brustmarkes : syphilitische Paraplegie oder
Spinalparalyse. Iu seltenen Fällen hat man eine chronische Ver-
dickung- der Dura um das untere Halsmark herum gefunden, so dass
dieses von einer geschichteten Schwarte umschlossen war, und man
hat diesen Zustand als besondere Krankheit beschrieben: Pachy-
meningitis cervicalis hypertrophica chronica, Dabei treten erst heftige
Schmerzen im Nacken und in den Armen ein, dann atrophische Läh-
mung der kleinen Handmuskeln und der Handbeuger, Ueberwiegen
der Strecker, schliesslich spastische Paraparese.
Läsionen des Rückenmarkes entstehen oft durch Verletzung:
Brüche der Wirbelsäule durch Sturz, Auffallen einer Last, Schuss-
verletzimg, Degen-, Messerstiche.
Grössere Blutungen im Wirbelkanale sind sehr selten. Sie könnten
etwa bei Scorbut oder bei Aneurysmabildung an den spinalen Ar-
terien vorkommen. Die Symptome müssen dieselben sein, wie bei
einer Verletzung des Markes von aussen. Ausserdem aber giebt es
Blutungen im Innern des Markes, die bei Verletzungen der Wirbel-
säule durch Sturz u. s. w. eintreten können. Dann reissen die Blut-
gefässe in der weicheren grauen Substanz und das Blut breitet sich
in dieser aus, u. U. als Cylinder. Auf diese Weise kann ein Bild ent-
-stehen, das ganz dem der Gliosis spinalis gleicht und von dieser
nur durch den acuten Beginn im Anschlüsse an eine Verletzung und
durch den Mangel des progressiven Charakters unterschieden ist.
Von Wirbelerkrankungen kommen besonders die Wirbelcaries
und der Wirbelkrebs in Betracht. Jene ergiebt das bekannte Bild
der Bückenmarkscompression mit dem Pott 'sehen Buckel. Bei Car-
cinom wird gewöhnlich eine Infiltration der Wirbelknochen gefun-
den, die zu Verengung der Wirbellöcher führt, daher Druck auf die
Wurzeln, ausserordentlich heftige Schmerzen, Paraplegia dolorosa.
Nachweisbare Veränderungen der Wirbelsäule können lange Zeit
fehlen. Andere Neubildungen (Fibrome, Sarkome) gehen meist von
den Meningen aus. Man muss an sie denken, wenn ohne jede nach-
weisbare Ursache langsam örtliche Wurzelsymptome auftreten, an
die sich die Zeichen einer Quer- oder Halbläsion anschliessen.
Ob das Rückenmark überhaupt erkrankt ist, ist nur dann leicht
zu sagen, wenn entweder die Zeichen der Halbläsion oder die der
Querläsion vorhanden sind, oder aber ein bestimmtes Krankheitsbild
(etwa das der acuten Poliomyelitis, das der Tabes) besteht. Sind
nur Zeichen da, die möglicherweise auf eine Theilläsion des Quer-
schnittes (graue Substanz, Seitenhinterstränge) deuten, so muss nach
den früher gegebenen Pegeln verfahren werden.
VIERTES HAUPTSTÜCK.
Localisation in der Oblongata und im Gehirn.
1. Das verlängerte Mark enthält bekanntlich ausser den ab-
wärts ziehenden Pyramidenbahnen und den aufwärts ziehenden sen-
sorischen Bahnen die Kerne der meisten Hirnnerven. Die Hirnnerven-
lähmung allein macht die Diagnose einer Läsion der Oblongata und
ihre nähere Bestimmung möglich. Hat man eine genaue Vorstellung
von der Lage der Kerne, so weiss man das für die Localisation
Notlüge (Fig. 101).
"&' ■';■■■■ r ' '■■ **c?',->
tht. m.
Fio-. 101.
Die Lage der HirnnerTOnkerne. Die Oblongata und der Pons durchsichtig gedacht.
Die Ursprungskerne (inot.) schwarz, die Endkerne (sens.) roth. (Nach E ding er.)
Bestehen nur Hirnnervenlähmungeii, so wird gefragt, ist die Lä-
sion extra oder intra medullam. Am einfachsten liegt die Sache
bei der systematischen Entartung der motorischen Oblongatakerne,
der progressiven Bulbärparalyse. Hier werden symmetrisch ganz all-
mählich die Kerne des Hypoglossus, des Facialis, des Vagus zerstört.
Die Symmetrie, die strenge Beschränkung auf die Motilität, der
langsame stetige Verlauf machen die Diagnose leicht. Wie früher
erwähnt wurde, kann durch Grosshirnherde ein ähnliches Bild ent-
364 Legalisation in der Oblortgata und im Gehirn.
stehen, doch, fehlen dann die Kennzeichen der peripherischen Läh-
mung'.
Sind nur einzelne Kerne betroffen, wie es bei der Tabes vor-
kommt, so ist eine sichere Unterscheidimg zwischen Kern- und Nerven-
erkrankung nicht möglich. Bei Erkrankungen am Boden der hin-
teren Schädelgrube fehlen fast nie die durch Eeizung der Dura ent-
stehenden Schmerzen und das Erkranken mehrerer Oblongatanerven
ohne systematische Auswahl leitet ohne Weiteres auf diesen Ort.
Sind ausser den Kernen auch die langen Bahnen beschädigt,
was durch Blutungen, Erweichungen, entzündliche Herde, Ge-
schwülste geschehen kann, so finden wir centrale Lähmung mit Hirn-
nervenlähmung. Ueber die Localisation in diesen Fällen ist früher
gehandelt worden (vgl. S. 85). Die sensorischen Bahnen müssen na-
türlich im dorsalen Theile der Oblongata gesucht werden, doch ist
Genaues über ihren Verlauf nicht bekannt. Die Bedeutung der Oliven
und anderer bisher nicht erwähnter Oblongatatheile ist unbekannt.
Hervorzuheben ist, dass bei Läsion des Facialiskerns nur das untere
Facialisgebiet gelähmt ist, dass bei Läsion der Kernregion des Abducens
gewöhnlich der M. internus des anderen Auges insoweit beschädigt ist, als
er beim Seitwärtssehen nach der Seite der Läsion als gelähmt erscheint,
während die Convergenz unbehindert ist. Ueber eine primäre Erkrankung
des Acusticuskernes ist so gut wie nichts bekannt.
Bei acuten Erkrankungen der Oblongata wird oft Erbrechen beob-
achtet, man bezieht es auf die Schädigung des Vaguskernes. Sobald diese
doppelseitig ist, treten natürlich schwere Störungen der Athmung ein, daher
ausgedehnte Herde der Oblongata rasch töclten.
2. Die Brücke enthält ebenfalls die Pyramidenbahnen (ventral),
die sensorischen Bahnen (in der Schleife), ausserdem die Kerne des
Trigeminus. Eine Trennung zwischen dem unteren Theile der Brücke
und dem oberen Theile der Oblongata ist natürlich nicht durchführ-
bar. Wie hoch hinauf ein Herd reicht, ergiebt sich eben aus der
Hirnnervenlähmung. Primäre Erkrankung nur des Trigeminuskerns
scheint nur bei Tabes (Kaumuskellähmung ohne oder mit Anästhesie)
vorzukommen.
Grössere Herde der Brücke ergeben gewöhnlich alternirende
Lähmung; alles Nöthige über Brückenlähmungen ist früher beige-
bracht worden (vgl. S. 83). Bei einseitigen Herden, die die Schleife
treffen oder auf sie übergreifen, entsteht Hemianästhesie der ande-
ren Seite; Geschmack und Gehör sollen fast immer frei bleiben. Bei
Herden, die über die Mittellinie hinausreichen , entsteht natürlich
doppelseitige Anästhesie.
3. Der Fuss des Hirnschenkels wird zum Theile von der Py-
Localisation in der Oblongata und im Gehirn. 865
ramidenbalm gebildet, die Haube enthält die sensorische Bahn. Eine
Läsion des Fusses bewirkt totale Hemiplegie, die der Haube Hemi-
anästhesie. Wegen der Enge des Kauines begleiten Störungen der
Empfindlichkeit verhältnissmässig oft die Hemiplegie. Erkennbar
wird eine Läsion des Hirnschenkels erst, wenn auch die diesen durch-
setzenden Fasern des Oculomotorius beschädigt sind : Hemiplegie mit
Oculomotoriuslähmung der anderen Seite. Die Lähmung des 3. Ner-
ven ist bei Herden im Inneren des Hirnschenkels gewöhnlich par-
tiell. Schädigt ein basaler Tumor den letzteren, so tritt erst totale
Oculomotoriuslähmung ein und ihr folgt die Hemiplegie. Begreif-
licherweise ist jene zuweilen doppelseitig.
4. Die an der inneren Seite des Hirnschenkels austretenden Ocu-
lomotoriusfasern entstammen einzelnen Gruppen von Nervenzellen,
die unterhalb und seitlich vom dritten Ventrikel liegen. Am
weitesten nach vorn liegen die Kerne der Fasern für den M. ciliaris
und den M. sphincter iridis, dann folgen die für die verschiedenen
äusseren Augenmuskeln. Man vermuthet, dass die einzelnen Kerne
folgende Anordnung haben:
Sphincter iridis Muse. eil.
Levator palp. Eectus int.
Eectus sup. Eectus inf.
Obliquus inf. ^
Nach hinten schliesst sich der Trochleariskerii an. Alle diese
Kerne stehen wahrscheinlich in vielfacher Verbindung mit anderen
Theilen. Bei der verhältnissmässig langen Kernreihe ist es begreif-
lich, dass durch kleinere Läsionen dieser Gegend partielle Augen-
muskellähniungen verschiedener Art vorkommen. (Vgl. S. 334). Nach
aussen liegen die Zellen, aus denen die absteigende Trigeminuswurzel
entspringt ; man streitet, ob sie sensorischer oder motorischer Art sei.
Es kommen in der Umgebung des 3. Ventrikels systematische De-
generationen vor (reflectorische Pupillenstarre, Ophthalmoplegia interior
oder exterior), ferner Erweichungsherde; man hat hier aber auch eine
subacute sog. „hämorrhagische Entzündung" (bei Alkoholismus und bei an-
deren Vergiftungen) beobachtet und in diesen Fällen war die Augenmuskel-
lähmung von einer eigenthümlichen Schlafsucht begleitet.
Oberhalb der Augenmuskelkerne liegen die Vi er hü gel. Man
weiss, dass die Läsion der vorderen Vierhügel Sehstörungen bewirkt.
Natürlich kommt es gewöhnlich auch zu Augenmuskellähmungen,
ob aber eine auf die hinteren Vierhügel beschränkte Läsion an und
für sich solche hervorruft, das weiss man nicht sicher. Die klinische
Erfahrung hat nur ergeben, dass dann, wenn die Symptome aus cere-
bellarer Ataxie und doppelseitiger Augenniuskellähmung bestehen.
366 Legalisation in der Oblongata und im Gehirn.
man eine Erkrankung der Vierhügelgegend erwarten darf. Besonders
Aufhebung der Augenbewegungen in vertikaler Richtung hat man
bei solchen Gelegenheiten gesehen. Es scheint, dass zuweilen auch
Herderkrankungen in der Nähe des 3. Ventrikels reflectorische Pupillen-
starre, die sonst nur Tabes-Symptom ist, bewirken.
5. Ueber die Wirkung der Läsionen des Kleinhirns weiss man
recht wenig. Anscheinend macht Zerstörung der Hemisphäre keine
deutlichen Symptome, während die des "Wurmes Schwindel und die
sogenannte cerebellare Ataxie (vergl. S. 106) bewirkt. Dabei besteht
gewöhnlich Erbrechen, das ohne nachweisbare Veranlassung von Zeit
zu Zeit auftritt. Bei Tumoren im Kleinhirn hat man die Sehnen-
reflexe fehlen sehen, doch ist es zweifelhaft, ^ob es sich hier um ein
directes Symptom handelt. Von den Kleinhirnstielen lässt sich nur
sagen, dass bei einseitiger Beschädigung des Crus cerebelli ad pon-
tem Zwangsbewegungen, besonders Drehungen um die Längsachse
beobachtet werden, wenn die Läsion mehr oder weniger acut eintritt.
6. Die im Hirnschenkel vereinigten motorischen und sensorischen
Bahnen gelangen auf ihrem Wege zur Hirnrinde zunächst zwischen
die sogenannten Stammganglien, in den Streifen weisser Masse der
nach innen vom Linsenkern, nach aussen vom Thalamus opticus liegt
und inne re Kapsel genannt wird. Im hinteren Schenkel der inneren
Kapsel finden wir sie noch vereinigt. Man nimmt an, dass im Knie
die motorischen Bahnen zu den Muskeln des Kopfes, in den vorderen
zwei Dritteln des hinteren Schenkels die Bahnen zu den Grlieder-
und Rumpfmuskeln liegen, und zwar die Armbahn vor der Bein-
bahn, während im letzten Drittel die sensorischen Bahnen vereinigt
sind. Läsion der inneren Kapsel bewirkt demnach totale Hemiplegie,
die mit Hemianästhesie verbunden ist, wenn der Herd auch das
hintere Drittel beschädigt (vergl. S. 82 u. 202).
Ueber die Wirkung einer Läsion der Stammganglien weiss man
noch nichts bestimmtes. Ist die innere Kapsel nicht beschädigt, so
fehlen Lähmung und Anästhesie. Man hat abnorme Bewegungen
(Chorea, Ataxie) nach Linsenkernerkrankungen beobachtet, aber die-
selben Erscheinungen können auftreten, wenn in anderen Höhen
Herde der Pyramidenbahn so nahe liegen, dass sie eine reizende
Wirkung haben, und andererseits hat man den ganzen Linsenkern
zerstört gefunden, ohne dass Symptome vorhanden gewesen wären.
Manche glauben, dass der Sehhügel Beziehungen zu den mimischen
Bewegungen habe, dass diese fehlen bei seiner Zerstörung, gesteigert
seien bei Reizung. Sicher ist, dass bei Zerstörung des Pulvinar Hemi-
anopsie eintritt. Die Sehbahn verläuft nach neueren Untersuchungen
Legalisation in der Oblongata und im Gehini.
367
vom Corpus genicul. ext., dem Sehganglion, und von dem Pulvinar in
der Höhe der 1. Temporalfurche und der 2. Temporalwindung nach
hinten gegen den Boden der fissura calcarina (Heu sehen). Mag sie
da oder dort beschädigt werden, immer tritt gekreuzte Hemianopsie ein.
Fig. 102.
Horizontalschnitt (nach den Seiten etwas abfallend) durch das Gehirn. (Xach Edinger).
7. Yerhältnissmässig mehr als von den übrigen Theilen des Ge-
hirns wissen wir von der Rinde desGrosshirns. Wir nehmen mit
guten Gründen an. dass die seelischen Vorgänge an die Gehirnrinde
geknüpft seien, ohne sie nicht bestehen können. Wenn daher bei einer
organischen Gehirnkrankheit seelische Störungen, besonders Ver-
dunkelung des Bewusstseins, auftreten, schliessen wir, dass die Gehirn-
rinde im Allgemeinen geschädigt sei. Ob diese oder jene Windungen
besondere Bedeutung in seelischer Beziehung haben, wissen wir nicht,
man vermuthet nur, dass besonders die Stirnwindungen den höheren
seelischen Vorgängen dienen.
Dagegen wissen wir von einzelnen Windungen bestimmt, dass
ihre Läsion Störungen der Beweglichkeit oder der Wahrnehmungs-
368
Localisation in der Oblongata und im Gehirn.
fäkigkeit bewirkt. Als motorische Region werden die beiden Central-
windungen (aufsteigende Stirn-, aufsteigende Scheitelwindung), deren
Fig. 103.
Seitenansicht des Gehirns. Die Gyri und Lobuli sind mit Antiquaschrift, die Sulci und Fissurae
mit Cursivschrift bezeichnet.
Fimbria r*sp. fornix.
Fig. 104.
Längsschnitt durch die Mitte eines Gehirns vom Erwachsenen. Der hintere Theil des Thalamus,
die Hirnschenkel u. s. w. sind abgetrennt , um die Innenseite des Schläfenlappens frei zu legen.
Localisatiou in der Oblongata lind im Gehirn. 369
Fortsetzung der Lobulus paracentfaüs ist, bezeichnet. Ihre Reizung
bewirkt Krämpfe, ihre tiefere Schädigung- oder Zerstörung Lähmung
der gegenüberliegenden Kürperhälfte. Das untere Drittel dieser
Windungen ist „Centrum" für die Muskeln des Gesichts und der
Zunge, das mittlere für den Arm, das obere Drittel (bei Hinzurechnung
des Lobul. paracentralis) für das Bein. Je nach der Ausdehnung der
Schädigung wird die Wirkung verschieden sein. Wirkt ein stärkerer
Reiz auf das „Centrum" ein, so entstehen Zuckungen in dem ent-
sprechenden Muskelgebiete der anderen Seite. Dauert der Reiz an.
so pflanzt sich die Reizung auf die übrigen Centra der gleichen und
dann auch auf die der anderen Seite fort, d. h. der örtliche Krampf
wird halbseitig und dann allgemein. Bei jedem Anfalle partieller
Epilepsie (vergl. S. 124) ist besonders darauf zu achten, wo der Krampf
beginnt, denn da sitzt die primäre Läsion. Oft gehen Parästhesien
der zuerst zuckenden Theile voraus, ja bei leichteren Reizungen
können diese allein, an Stelle der Krämpfe auftreten und sich wie
solche ausbreiten (sensorisches Aequivalent). Sind die epileptischen
Krämpfe von vornherein allgemeine, so ist auf eine Reizung der
gesammten motorischen Region zu schliessen.
Wird aus der oberflächlichen Schädigung eine tiefere, so folgt
nach einem Anfälle oder vielen Anfällen partieller Epilepsie Lähmung,
oder diese tritt von vornherein auf. Meist handelt es sich um Mono-
plegien (vergl. S. 87) ; damit eine totale Hemiplegie zu Stande komme.
niuss das ganze motorische Gebiet zerstört sein, ein Fall, der bei
der Ausdehnung dieses nicht häufig ist. Die Rindenlähmung ist oft.
aber nicht immer von Hypästhesie begleitet, wie es scheint besonders
dann, wenn auch die hintere Centralwindung beschädigt ist. Genaues
über die Localisatiou corticaler Anästhesie weiss man nicht. Oft
bestehen neben der Rindenlähmuug abnorme Bewegungen: Chorea.
Athetose, einzelne Zuckungen, Ataxie. Auch können schon paretische
Glieder noch zeitweise von partieller Epilepsie ergriffen werden.
In der Rinde des Hinterhauptlappens ist das „Sehcentrum" zu suchen.
dessen einseitige Zerstörung contralaterale Hemianopsie, dessen doppel-
seitige Zerstörung Blindheit (mit normaler Pupillenbewegung und nor-
malem Augenhintergrunde) bewirkt. Hauptsächlich der Cuneus (bez. die
Umgebung der Fissura calcarina) scheint „Sehcentrum'; oder ..Sehsphäre'-
zu sein. Bei leichterer Beschädigung dieser Theile kann die Sehfähig-
keit nur vermindert sein, insbesondere hat man dann beobachtet, dass
die Kranken die Dinge wohl sahen, aber nicht erkannten und sich nicht
orientiren konnten. Bei Reizung des Hinterhauptlappens treten wahr-
scheinlich subjective Gesichtsempfindungen, bez. -Wahrnehmungen ein.
Möbius, Diagnostik der ^Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 24
370 Legalisation in der Oblongata und im Gehirn.
Wird der Fuss der dritten (unteren) linken Stirnwindung (die
Broca'sche Stelle) zerstört, so kann der Kranke nicht mehr sprechen,
es besteht motorische Aphasie. Je nach der Ausdehnung der Läsion
kann er die Worte überhaupt nicht finden, oder nur nicht aussprechen,
besteht Agraphie daneben oder nicht (vergl. S. 50).
Ist die erste (oberste) linke Schläfenwindung zerstört, so hört
der Kranke noch, versteht aber die Worte nicht mehr, es besteht
Worttaubheit oder sensorische Aphasie. Auch hier giebt es Neben-
formen, die offenbar von dem Orte der Läsion abhängen (vergl. S. 51).
Durch die Läsion der Insula Reilii soll Paraphasie entstehen. Die
Unfähigkeit zu lesen, die Alexie bezieht man auf Läsionen in der
(regend des Gyrus supramarginalis. Offenbar ziehen zwischen der
Broca'schen Stelle und der 1. Schlaf enwindung, zwischen dieser und
dem Sehcentrum unter der Kinde verschiedene Bahnen hin, durch
deren Verletzung Nebenformen der Aphasie, Schreibe-, Lesestörungen
verschiedener Art entstehen können, ohne dass wir vorläufig mit
Sicherheit aus dem klinischen Bilde das anatomische erschliessen
könnten. Ist sowohl die 3. Stirnwindung als die 1. Schläfenwindung
links zerstört, so kann der Kranke weder sprechen noch verstehen,
es besteht vollständige Aphasie.
Ueber die Folgen einer Zerstörung der übrigen, bisher nicht
genannten Hirnwindungen ist nichts Bestimmtes bekannt. Manche
nehmen an, dass die Abweichung der Augen nach der Seite des
Herdes, die sogenannte Deviation conjuguee, die bei Läsionen der
Grosshirnhalbkugeln oft eintritt, auf eine Beschädigung des Gyrus
angularis zu beziehen sei. Auch glaubt man zum Theil, dass Läsionen
in dieser Gegend Ptosis des gegenüberliegenden Auges bewirken
können. Doppelseitige Beschädigung der Schläfenwindungen ver-
ursacht vielleicht Taubheit. Im Gyrus uncinatus vermuthet man das
„Riechcentrum" und in seiner Nähe das „Geschmackcentrum".
8. Wenn eine Läsion die Fasern des Stabkranzes zwischen
der Rinde und der inneren Kapsel trifft, so wird das Bild dem eines
Rindenherdes um so ähnlicher werden, je näher die Läsion der Rinde
ist (Monoplegie, partielle Epilepsie, Aphasie), um so ähnlicher dem
der Kapselherde, je weiter die Rinde abliegt. Doch sind wir nicht
im Stande eine Läsion des Centrum ovale mit Sicherheit zu erkennen,
da positive Zeichen fehlen. —
Je nachdem die Zerstörung einer Gehirnstelle deutliche Sym-
ptome macht oder nicht, kann man zwischen differenten und indiffe-
renten Stellen unterscheiden. Die Symptome müssen in directe und
indirecte getrennt werden, jene hängen nur von dem Orte der Läsion
Localisation in der Oblongata und im Gehirn. 371
ab, diese von ihrer Art, von der Wirkung- der Läsion auf die Um-
gebung' durch Druck, durch Veränderung des Blutlaufes u. s. w. Gäbe
es nur directe Symptome, so würden alle Erkrankungen der indiffe-
renten Hirnstellen unerkannt bleiben. Vermöge der Fernwirkung
der Läsion aber kann jedes Symptom auch von indifferenten Stellen
aus bewirkt werden. Die bisher gegebenen Regeln gelten zunächst
nur unter der Voraussetzung, dass es sich um directe Symptome
handle. Ob aber das einzelne Symptom direct oder indirect ist, kann
man ihm nicht ansehen, das ergiebt sich nur aus der Betrachtung
des Falles im Ganzen, besonders aus dem Verlaufe. Die krankhaften
Zustände, die im Gehirne beobachtet werden, sind Blutungen, Er-
weichungen, Geschwülste, Abscesse, acute Entzündungen, primäre
Sklerosen. Erkrankungen der Meningen und des Schädels können
durch Druck oder durch übergreifende Entzündung das Gehirn be1-
schädigen. Es ist von vornherein ersichtlich, dass je nach der Art
des Vorganges das Verhältniss zwischen directen und indirecten
Symptomen verschieden sein muss. Primäre Sklerosen werden fast
nur directe Symptome machen, Erweichungen bewirken indirecte
Symptome nur dann, wenn sie plötzlich eintreten und dadurch die
Circulation weithin stören. Blutungen, die plötzlich beginnen, üben
einen starken Druck auf das Gehirn aus, um so mehr, je grösser
sie sind und je rascher sie entstehen, sie drücken im Anfange auf
die Umgebung des Herdes, machen sie ödematös. Geschwülste endlich
und Abscesse bewirken einen starken Druck, der mit der Geschwin-
digkeit ihres Wachsthumes zunimmt und gewöhnlich das ganze Ge-
hirn schädigt. Aehnlich wirken von aussen drückende Gebilde. Im
Allgemeinen kann man die Erkrankungen, die indirecte Symptome
machen, in zwei Gruppen scheiden. Die einen beginnen plötzlich und
erreichen sofort ihre grösste Stärke (Blutungen und plötzliche Gefäss-
verschliessungen); hier ist im Anfange der grösste Theil der Sym-
ptome indirect, allmählich aber verschwinden im weiteren Verlaufe
die indirecten Symptome und schliesslich bleiben nur die directen
übrig, ist aber eine indifferente Stelle getroffen, so können alle Sym-
ptome verschwinden. Die andere Gruppe bilden die Tumoren (im
weitesten Sinne des Wortes). Sitzen sie an differenten Stellen, so
bewirken sie anfänglich nur directe Symptome, allmählich aber
werden diese von den indirecten überwuchert. Tumoren an indiffe-
renten Stellen können natürlich nur indirecte Symptome haben, sie
schädigen zuerst ihre Nachbarschaft. In beiden Fällen haben wir
einen progressiven Verlauf, indem die Fernwirkung immer weiter
reicht, erweitert sich das Symptomenbild immer mehr.
24*
372 Legalisation in der Oblongata und im Gehirn.
Der plötzlichen Gehirnläsion entspricht der Schlaganfall oder
apoplectische Insult (vergl. S. 25).
Das Gegenstück zum Schlaganfalle ist der allmählich wachsende
Gehirndruck. Da ein Druck, der die weiche Gehirnmasse trifft, sich
leicht fortpflanzt, so kommt es, wo auch der Druck einsetzt, ziem-
lich rasch zu den Erscheinungen des allgemeinen Gehirndruckes.
Diese sind allgemeiner, heftiger, gewöhnlich bohrend genannter Kopf-
schmerz, Erbrechen, Pulsverlangsamung, Beeinträchtigung der seeli-
schen Thätigkeiten (Benommenheit, Gedächtniss- und Urtheilschwäche,
Verstimmung, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen), Ohnmächten,
allgemeine Krämpfe und die Stauungspapille. Neben ihnen gehen
die Herderscheinungen her und je mehr sie ausgesprochen sind, um
so mehr ist eine Localisation möglich. Im Allgemeinen lässt sich
etwa folgendes sagen.
Tumoren an der Basis machen zunächst Hirnnervenlähmungen und
durch Beschädigung der Dura Schmerzen. Der, der das Bild der Gehirn-
basis vor Augen hat, kann nach den Nervensymptomen die Stelle der
Läsion ziemlich gut bestimmen. In der vorderen Schädelgrube wird der
Olfactorius betroffen, der Opticus, der 1. Trigeminusast und die Augen-
muskelnerven liegen nahe bei einander. Tumoren am Türkensattel (Hypo-
physis) schädigen zunächst das Chiasma, dann die Augenmuskelnerven
und den 1. Trigeminusast. In der mittleren Schädelgrube sind ausser den
Augenmuskelnerven und dem Trigeminus der Tractus opticus und der
Hirnschenkel zu schädigen. In der hinteren Schädelgrube kommen die
unteren 6 Hirnnerven dazu; in der Nähe des Felsenbeins liegen Facialis,
Acusticus und Abducens bei einander, die übrigen liegen noch weiter nach
hinten. Die Hirndrucksymptome sind bei den meisten Basistumoren gering.
Das Umgekehrte ist bei Klemhirngeschwülsten der Fall. Durch Druck
auf die Vena magna Galeni entsteht weitgreifende Stauung, es kommt zu
Hydrocephalus internus, frühzeitig entwickelt sich Stauungspapille, Erbrechen
und Kopfschmerz sind stark. Dazu kommen die Kleinhirnsymptome : cere-
bellare Ataxie, Schwindel, Fehlen des Kniephänomens. Je nach der Druck-
richtung werden ferner die Oblongata oder das Vierhügelgebiet geschädigt.
Tumoren in einer der Hemisphären können, wenn sie an einer in-
differenten Stelle sitzen, ausschliesslich die Symptome des allgemeinen
Hirndruckes bewirken ; häufiger bestehen neben diesen wenigstens Zeichen,
die auf Schädigung einer Hemisphäre deuten, Hemiparese, aphatische Stö-
rungen. Bei Tumoren des Stirnhirns hat man Gleichgewichtstörungen be-
obachtet. Die Regel ist, dass neben den Hirndrucksymptomen von vorn-
herein directe Symptome vorhanden sind, die nach den früher gegebenen
Regeln zu beurtheilen sind. Reizerscheinungen (Krämpfe, Spannungen,
Parästhesien) gehen oft voraus. Sitzt die Geschwulst an der Oberfläche
oder dieser nahe, so besteht örtlicher Kopfschmerz (Läsion der Dura) mit
Empfindlichkeit gegen Klopfen. Nicht selten kommen auch bei Hemi-
sphärengeschwülsten Hirnnervenlähmungen dadurch zu Stande, dass die
Nerven gegen die Schädelbasis angedrückt werden.
Localisation iu der Oblongata unö" im Gehirn 373
Die Diagnose einer Gehirngeschwulst kann sich natürlich nur auf die
Ilirndrncksymptome gründen, während die Herdsymptome zur Localisation
dienen. Die eigentlichen Tumoren sind von den Abscessen zu unterscheiden:
bei diesen besteht selten Stauungspapille, ist Eiterfieber mit Kachexie vor-
handen, ist eine Quelle der Eiterung (Otitis, putride Bronchitis, Pyämie
u. s. w.) vorhanden. Von den Neubildungen sieht man am häufigsten
Gliome und Tuberkel. Diese kommen vorwiegend im jugendlichen Alter
und neben anderen tuberkulösen Erkrankungen vor, sitzen oft im Klein-
hirn und in der Umgebung, der Brücke, dem Hirnschenkel. Gliome kom-
men am häufigsten in den Hemisphären vor, während ihres Wachsthums
werden oft apoplectische Anfälle beobachtet. Syphilome sind selten, ander-
weite syphilitische Symptome und der Erfolg der Behandlung müssen zur
Diagnose helfen. Die gummatöse Meningitis an der Basis darf nicht zu
den Tumoren gerechnet werden, sie macht fast nur directe Symptome.
Die eigentlichen (vom Knochen ausgehenden) Basisgeschwülste sind fast
immer Sarkome. Auf manche Formen (Carcinom, Cysticercus, Echinococcus)
kann man nur vermuthungsweise schliessen, wenn die Geschwulstart an
anderen Orten nachzuweisen ist. Psammome, Angiome u. s. w. sind Selten-
heiten. Adenomartige Geschwulstbildungen können von der Zirbel oder
dem Hirnanhange ausgehen, an sie ist zu denken, wenn die Symptome auf
die Vierhügel oder auf das Chiasma weisen.
Als seltene Erkrankung kommt bei Erwachsenen chronischer Hydro-
cephalus ohne nachweisbare Ursache vor. Er macht die Erscheinungen
allgemeinen Hirndruckes und wird u. U. kaum von einer Geschwulst zu
unterscheiden sein. Wie es scheint, sind doppelseitige spastische Paresen
eine Hauptwirkung des Hydrocephalus.
DRITTER THEIL.
Man geht im Allgemeinen beim Diagnosticiren auf zwei Wegen
vor. Entweder man bestimmt erst den Ort der Erkrankung- (Locali-
sation) und dann die Art. Gegenüber einem Muskelscliwunde z. B.
legt man sich die Frage vor, ob die Muskeln, oder die Nerven, oder
die Vorderhörner primär erkrankt seien, und wenn etwa das Letztere
anzunehmen ist, sucht man zu bestimmen, ob es sich um eine acute
Entzündung oder um einen langsamen Schwund der Ganglienzellen,
oder etwa um eine mechanische Beschädigung durch eine Neubildung,
oder um sonst etwas handelt. Dieser ordnungsmässige Weg ist nicht
immer gangbar, in vielen Fällen sind wir genöthigt, ein klinisch
fixirtes Krankheitsbild aus Anamnese, Befund und Verlauf zu er-
schliessen. Diesen zweiten Weg müssen wir gehen, wenn die ana-
tomischen Läsionen überhaupt nicht bekannt sind, oder doch die
Beziehung der einzelnen Symptome auf bestimmte anatomische Ver-
änderungen unausführbar ist, obwohl wir im Allgemeinen wissen,
diesem Krankheitsbilde entspricht jenes anatomische Bild.
Im Bisherigen hat die Localisation die Hauptrolle gespielt, es
bleibt noch übrig, über die Diagnose der Nervenkrankheiten einiges
beizubringen, bei denen die Localisation nicht ausführbar, oder doch
nur im Allgemeinen möglich ist und die Hauptaufgabe die ist, aus
dem Ergebniss der Untersuchung einen klinischen Begriff zu gewinnen.
Wenigstens sollen im Folgenden nur Diagnosen dieser Art etwas
eingehender besprochen werden, während im Uebrigen in der Haupt-
sache auf frühere Erörterungen verwiesen werden kann und hier
nur kurze Hinweise auf wichtige Punkte angefügt werden.
Vollständigkeit kann nicht erreicht werden. Es ist ja gar nicht mög-
lich, die „Nervenkrankheiten" streng von den anderen Krankheiten abzu-
trennen. Der Gebrauch spielt da eine Rolle, denn manche Krankheiten,
die früher als Nervenkrankheiten angesehen wurden (z. B. der geradezu
Nervenfieber genannte Ab domin altyphus) , gelten heute nicht mehr dafür
und umgekehrt werden manche Nervenkrankheiten von heute später anders-
wo abgehandelt werden. Eigentlich giebt es im klinischen Sinne nur Sym-
ptome von Seiten des Nervensystems, im anatomischen Läsionen des Nerven-
systems. Weder befallen die „Nervenkrankheiten" immer primär das
Nervensystem (die meisten Gehirnkrankheiten sind nur Zufälle im Laufe
von Gef ässkrankheiten), noch beschränken sie sich auf dieses (s. z. B. den
378 Exogene Xervenkranklieiten.
Alkokolisinus). Dabei ist der ganz willkürlichen Abtrennung mancher Krank-
heiten, die man zur Toxikologie zu verweisen pflegt, und der im Grunde
undurchführbaren Scheidung zwischen Xeuropathologie und Psychiatrie
noch nicht gedacht. Demnach ist also jede Aufzählung der Nervenkrank-
heiten eine Auswahl.
Bei der Diagnose ist es wichtig, dass der Arzt wisse, an welche
Krankheiten er zunächst zu denken habe, welche oft vorkommen. Deshalb
sind die weniger häufigen Formen hier nur kurz erwähnt.
I. Exogene Nervenkrankheiten.
I. Metailvergiftungen.
Bei Verdacht auf diese ist nach dem Gifte zu suchen (Vergif-
tungen im Gewerbe, durch Medicamente, durch Gebrauchsgegen-
stände. Selbstmordversuche. Untersuchung des Harns und anderer
Abscheidungen).
Practisch kommen eigentlich nur Blei und Arsenik in Be-
tracht. Beide schädigen besonders die peripherischen Nerven (siehe
Neuritis), bei starker langdauernder Einwirkung wohl auch das
Eückenmark. Das Blei ruft ausnahmeweise Hirnzufälle hervor (Kopf-
schmerzen, epileptische Anfalle, Verwirrtheit).
Die Diagnose der Bleivergiftung ist gewöhnlich leicht, da
die häufigeren Zufälle (die Streckerlähmung der Hände und die Kolik
mit Verstopfung und starker Spannung des Pulses) sehr charakte-
ristisch sind. Die gewöhnliche Bleilähmung könnte etwa mit einer
sehr seltenen Form des Muskelschwundes, bei der auch die Strecker
der Finger und der Hände zuerst erkranken und über dessen Wesen
nichts bekannt ist, mit ähnlichen Lähmungen durch Druck auf den
Vorderarm oder durch Aethereinspritzung daselbst verwechselt werden.
Bei abweichenden Formen der Bleilähmung wird ohne den Nachweis
des Bleies die Diagnose selten möglich sein. Bei Verdacht achte man
auf den grauen Saum am Zahnfleische und die gewöhnlich sehr
blasse Farbe der trockenen Haut bei Bleikranken.
Die Arsenik-Neuritis ist ebenfalls sehr charakteristisch
(s. S. 355). Man könnte sie etwa mit der infectiösen Polyneuritis,
vielleicht auch mit der Alkoholneuritis verwechseln. Das Gift ist
oft schwer zu finden, wenn es in der Umgebung der Kranken ver-
steckt ist (Tapeten, Möbelstoffe, Kleider, ausgestopfte Thiere u. s. f.).
Bei acuten Vergiftungen ist es im Harn zu finden. Die Kranken
sind oft blass, etwas cyanotisch, schwitzen leicht, haben Hautaus-
schläge, Haar- und Nagelerkrankuno-.
Alkoholismus. 379
2. Alkoholismus.
Der chronische Alkoholmissbrauch führt je nach seiner Grösse
und der Widerstandsfähigkeit des Trinkers früher oder später zu
einer Erkrankung- des Gehirns, manchmal zu einer der peripherischen
Nerven. Auch indirect, d. h. dadurch, dass er auf die Arterien wirkt
und Atheromatose hervorruft, wird er Ursache vieler Gehirnerkran-
kungen.
Das Hauptsymptom ist ein langsam fortschreitender Schwach-
sinn, auf dessen Boden die verschiedensten Formen seelischer Störung-
erwachsen können (Jähzorn, Anfälle von Wuth, von Angst, verein-
zelte "Wahnvorstellungen, besonders der sog. Eifersuchtwahn, Delirium
tremens, hallucinatorischer Wahnsinn). Schnapssäufer leiden oft an
epileptischen Anfällen. Yolksthümlich ist das Zittern der Säufer.
Wegen der Alkohol-Neuritis s. S. 353. Eine seltene Complication ist
die hämorrhagische Entzündung im Gebiete der Augenmuskelnerven-
kerne (S. 365). Bei der Diagnose der verschiedenen Formen des Al-
koholismus darf man nicht vergessen, dass die Kranken gewöhnlich
leugnen. Man darf sich also dadurch nicht behelligen lassen, muss,
wTenn Verdacht besteht, die Angehörigen, die Nachbarn fragen. In
der Eegel giebt das Aeussere des Kranken eine Andeutung, doch
nicht immer. Auch das Zittern kann fehlen. Man thut gut, wenn
eins der erwähnten Symptome vorhanden ist, an den Alkohol zu
denken. Das Delirium tremens bietet selten diagnostische Schwierig-
keiten. Massenhafte Täuschungen mehrerer Sinne, mit Vorwiegen
der Gesichtstäuschungen, meist peinlichen und erschreckenden In-
haltes, häufig durch Vielzahl (viele kleine Thiere, Menschenschaaren)
und Beweglichkeit ausgezeichnet, versetzen den Kranken in Auf-
regung und verwirren ihn, obwohl gewöhnlich ein gewisser Grad
von Besonnenheit erhalten bleibt. Sie nehmen am Abend und in der
Nacht zu. Der Schlaf fehlt. Es besteht Zittern oder Beben des
ganzen Körpers; die Haut ist feucht; Fieber fehlt in der Eegel, tritt
nur in besonders schweren Fällen auf. Wegen der Unterscheidung
des anderweiten Alkohol-Irreseins von ähnlichen Formen muss auf
die Psychiatrie verwiesen werden. Die Alkohol -Neuritis wird oft
verkannt. Man wird gut thun, bei jeder Polyneuritis unbekannten
Ursprungs nach Alkohol-Missbrauch zu forschen. In seltenen Fällen
täuscht die Alkohol-Neuritis Tabes vor, meist kann das Verhalten
der Pupillen den Ausschlag geben. Freilich kommen auch Verbin-
dungen des Alkoholismus mit Tabes, mit progressiver Paralyse, mit
Syphilis, mit Tuberkulose u. s. w. nicht allzuselten vor.
380 Exogene Nervenkrankheiten.
3. Nervenkrankheiten nach acuten Infectionskrankheiten.
Aehnlich wie die anderen Gifte können die nach Infectionen
im Körper entstehenden Giftstoffe das Nervensystem schädigen. Bei
diesen Nachkrankheiten leiden gewöhnlich die Nerven, oder das
Gehirn, oder beide. Seltener sind primäre Schädigungen des Bücken-
markes (verstreute Herde, die denen der multiplen Sclerose ähnlich
sind).
Manche Infectionskrankheiten bewirken oft nervöse Xachkrank-
heiten, manche selten ; diese sind zuweilen charakteristisch, zuweilen
nicht. Nach der Diphtherie kommen nervöse Störungen wohl am
häufigsten vor. Bald nach Ablauf der acuten Krankheit trifft man
dann die 3 Cardinalsymptome : Lähmung des Gaumensegels, Verlust
der Accommodation. Fehlen des Kniephänomens. In leichten Fällen
kann die Gaumenlähmung allein oder nur mit der Sehstörung auf-
treten, in schweren gesellen sich weitere Symptome hinzu: Läh-
mungen äusserer Augenmuskeln, Schlundlähmung, allgemeine Schwäche
mit Ataxie, verbreitete Lähmungen mit Muskelschwund. Parästke-
sien, Hypästhesie. Hirnsymptome sind selten. Dagegen kann neben
der Neuritis die diphtherische Herzerkrankimg bestehen und. was
jene kaum thut, den Tod herbeiführen.
Nach puerperalen Erkrankungen beobachtet man am
häufigsten Hirnsymptome : Delirien, hallucinatorische Verwirrtheit,
seltener die puerperale Neuritis (s. S. 353).
Auch nach Typhus sind Gehirnerkrankungen häufig, einfache
Schwächezustände, von Vergesslichkeit und Denkschwäche bis zu aus-
gesprochenem Blödsinne, Sinnestäuschungen. Wahnvorstellungen. Die
typhöse Neuritis beschränkt sich bald auf einzelne Nerven (z. B.
Abducens-, Peronäuslähmung) , theils ist sie eine Polyneuritis. Bei
dieser kann die amnestische Geistesstörung in den Vordergrund
treten, sofortiges Vergessen aller Erlebnisse, Ausfallen eines Theiles
der Lebensgeschichte.
Weiter sind hierzu nennen Schar lach, Erysipel, Polyarthritis
acuta, Pocken, Malaria, Pneumonie, Keuchhusten. Besonders
zahlreich, wenn auch nicht charakteristisch sind die nervösen Störungen
nach Influenza; Nervenschmerzen scheinen am häufigsten zu seiu. Nach
Tripper hat man Ischias, Polyneuritis, auch Myelitis beobachtet.
Bei der Diagnose kann man sich zuweilen auf den Befund stützen,
wie bei Diphtherie-Neuritis, in der Hauptsache aber ist man auf
die Anamnese angewiesen. Man muss sich vor der Verwechselung
mit Alkoholismus oder mit Tabes hüten und darf die Gehirnsym-
Nervenkrankheiten durch primäre Erkrankung der Blutgefässe. 381
ptome, die Wirkung- der Vergiftung- sind, nicht denen gleichstellen,
die Ausdruck angeborener Anlage sind und die ebenfalls nach In-
fectionskranklieiten auftreten können (Nervosität, Hysterie, melan-
cholische Zustände u. s. w.).
4. Nervenkrankheiten durch primäre Erkrankung der Blutgefässe.
Bei und nach den verschiedensten acuten Infectionskrankheiten
kommen auch Entartungen der Gefässwände vor, die zu Blutung-en
in der Schädelhöhle, sehr selten in dem Wirbelkanale Anlass werden
können. Je nach den Umständen kommen auch Embolien oder
Thrombosen vor. So entstehen Hemiplegien bei Diphtherie, Typhus
u. s. w. Der Arzt steht natürlich nur den örtlichen Symptomen gegen-
über und kann die Ursache nur aus dem Zusammenhange der Er-
scheinungen, bez. der Anamnese erkennen.
Die weitaus wichtigste Gefässkrankheit ist die Atheromatose.
Ueber das Vorkommen der miliaren Aneurysmen an den Hirnarterien,
über den Gefässverschluss durch atheromatose Veränderungen und
die Beurtheilung der durch sie bewirkten plötzlichen Hirnerkrankun-
gen ist schon früher einiges beigebracht worden (s. S. 26 und S. 67).
Die Fragen, ob Blutung, ob Erweichung, ob Embolie, die Locali-
sation des Herdes sind in der Regel von geringerer Bedeutung als
die Frage nach der Ursache der Gefässerkrankung : Unterscheidung
zwischen gewöhnlicher Atheromatose und syphilitischer Arterien-
erkrankung, ferner Nachweis etwaiger Bleivergiftung, des Alkoho-
lismus u. s. w.
Bei progressiver Paralyse und seltener bei multipler Sclerose
kommen apoplectische Anfälle mit Hemiplegie, bez. Aphasie vor, ohne
Blutung oder Erweichung.
In seltenen Fällen hat man bei Nephritis, aber auch bei Pneumonie
und anderen Krankheiten unter Insult entstandene Hemiplegien beobachtet,
.ohne dass nach dem Tode eine entsprechende Hirnveränderung nachzu-
weisen gewesen wäre.
Grössere Aneurysmen bewirken in der Schädelhöhle (Carotis
int,, Vertebralis) Tumorsymptome, .Aortenaneurysmen können zu Ee-
currenslähmung, Neuralgien, auch bei Usur der Wirbel zu Compres-
sion der Wurzeln und des Markes führen, ilneurysmen der periphe-
rischen Arterien können Neuralgien, Lähmung u. s. w. durch Druck
auf die benachbarten Nerven hervorrufen.
Von den Herzkrankheiten führt am ehesten die Endocarditis
als Quelle von Embolis zur Schädigung des Nerveiisj^stems. Die
382 Exogene Nervenkrankheiten.
Angina pectoris kann mit Angstzuständen bei Nervösen, Hysterischen
verwechselt werden.
Eine merkwürdige Erscheinung sind die Anfälle von Petit mal bei der
(wahrscheinlich auf Atherom des Aortaanfanges beruhenden) Bradykardie.
5. Erkrankungen des Nervensystems bei chronischen
Infectionskrankheiten.
Die Tuberkulose kann sich kundgeben als tnberciüöse Me-
ningitis (Fieber, Kopfschmerzen, Erbrechen, Benommenheit, Nacken-
starre, Hirnnervenlähmnngen, Krämpfe und Lähmung der Glieder),
als Tuberkelgescliwulst im Gehirn (Zeichen einer Herdläsion oder
eines Tumor, vorwiegend häufig in der hinteren Schädelgrube), als
Neuritis tuberculosa (umschriebene oder Polyneuritis, amnestische
Geistesstörung), als Caries der Wirbel (Querläsion des Markes mit
Gibbus im Brust- oder Halstheile). Bei der Diagnose hat man sich
auf das Vorhandensein anderweiter Zeichen von Tuberkulose, auf
das Fehlen sonstiger Ursachen, auf das jugendliche Alter der Kranken
zu stützen. Man versäume nie, wenn die ersten Zeichen einer Com-
pression des Kückenmarkes (Wurzelschmerzen, bes. Gürtelschmerz
und Steigerung der Sehnenreflexe an den Beinen) vorhanden sind,
die Wirbelsäule genau zu untersuchen.
Wenn gelegentlich einzelne Nerven durch tuberculöse Herde
beschädigt werden, wenn umschriebene Knochenherde Nervenschmer-
zen vortäuschen, müssen die Umstände des einzelnen Falles erwogen
werden.
Die Syphilis bewirkt in der ersten Zeit nach der Infection
am ehesten Nervenschmerzen (Gesicht, Scheitel, Hinterkopf; nächt-
liche Steigerung; rasches Verschwinden auf Jodkalium hin), seltener
die sog. syphilitische Epilepsie (partielle Krämpfe, bald auch andere
Zeichen einer Hirnrindenläsion ; Einfluss der specifischen Behandlung).
Diese Epilepsie durch Rindenläsion darf nicht mit hysterischen An-
fällen, die während der secundären Syphilis vorkommen können, ver-
wechselt werden.
Während der tertiären Periode sind 3 Syndrome am häufigsten,
die theils allein, theils nach einander, theils zusammen vorkommen :
multiple Hirnnervenlähmung durch gummatöse Meningitis an der
Gehirnbasis, plötzlich eintretende Herdläsionen durch syphilitische
Erkrankung der Gehirnarterien, syphilitische spastische Spinalpara-
lyse durch Meningomyelitis (am häufigsten des Brusttheiles). Ziem-
lich selten sind grössere Gummata im Gehirn (Tumor-Erscheinungen),
Der metasyphilitische Xervensolnvund (Tabes dorsalis und Dementia paralytica). 383
Erkrankung der Wurzeln im Wirbelcanale, einzelner peripherischer
Nerven.
Die Diagnose hat sich zu gründen auf anderweite Zeichen der
Syphilis, auf das Alter der Kranken, auf die Einwirkung der spe-
ciflschen Behandlung' und auf gewisse Eigentümlichkeiten der Ner-
vensyphilis. Solche sind das Zunehmen der Schmerzen in der Nacht,
das Anfallartige, die Unbeständigkeit, das Schwanken der Symptome
(Insulte mit rasch verschwindender Lähmung, vorübergehende, bez.
wiederkehrende Hirnnervenlähmung), das Aufeinanderfolgen der oben
genannten Syndrome bei demselben Kranken. Bei der multiplen
Hirnnervenlähniung kommen ausser der Syphilis fast nur bösartige
Neubildungen, selten Tuberkulose in Betracht. Die syphilitische
Arteriitis befällt bes. die Art. basilaris und ihre Zweige, etwas sel-
tener die Art. fossae Sylvii. Aus dem negativen Erfolge der Behand-
lung ist nicht viel zu folgern, da nekrotisch gewordenes Gewebe
natürlich nicht ersetzt werden kann und das schwielige Gewebe
mancher tertiären Bildungen der Behandlung oft widersteht.
Verwechselt kann die tertiäre Syphilis des Nervensystems werden
mit Gefässerkrankung durch Atheromatose , mit multipler Sclerose,
mit anderweiten Neubildungen. Zuweilen ist es nicht möglich, bei
den vorübergehenden Lähmungen mit Sicherheit zu sagen: ist es
noch tertiäre Syphilis, oder schon Metasyphilis, d. h. Tabes, bez. pro-
gressive Paralyse. Dies gilt bes. von den Augenmuskellähmungen
und den leichten apoplectischen Anfällen. Die Therapie täuscht
natürlich, da es ja in der Beschaffenheit des Zufalles liegt, vorüber-
zugehen.
6. Der metasyphilitische Nervenschwund (Tabes dorsalis und
Dementia paralytica).
Die Ursache dieser häufigen Krankheiten ist die Syphilis, aber
es handelt sich um „Nachkrankheiten", d. h. um anatomisch und
symptomatisch selbständige Krankheiten, deren conditio sine qua non
das Vorausgehen der Infectionskrankheit ist. Wenn auch niemand
an Tabes oder an Dementia paralytica erkrankt, der nicht früher
Syphilis gehabt hat, so sind doch offenbar Nebenbedingungen erfor-
derlich. Deren wichtigste scheint Ueberreizung des Gehirns und
Kückenmarkes zu sein. Besonders bei der Paralyse spielt das LTeber-
maass an intellectueller und gemüthlicher Anstrengung eine Eolle,
daher sie vielfach als eine Art von Marodeur der Civilisation be-
trachtet worden ist. Bei der Tabes kommen vielleicht körperliche
Anstrengungen in Betracht, Die früher viel genannten Erkältungen,
384 Exogene Nervenkrankheiten.
die Traumata u. s. w. sind offenbar nur xinstösse, die die schon vor-
handene Krankheit zum Ausbruche bringen. Die Patienten erkran-
ken mehrere Jahre (etwa 2 — 15, durchschnittlich 7) nach der In-
fection, deren nächste Folgen oft sehr mild gewesen sind. Alle
übrigen Umstände erklären sich aus dieser Thatsache. Es erkranken
in der Eegel Personen, die 30 — 50 Jahre alt sind, weil die Infection
zwischen dem 20. und dem 40. Jahre am häufigsten ist, In seltenen
Fällen von Tabes oder Paralyse bei Greisen handelt es sich um
Spätinfectionen , in denen von Erkrankung Jugendlicher um Früh-
infection oder um ererbte Syphilis. Männer erkranken viel häufiger
als Weiber, weil sie häufiger inficirt werden (in beiden Fällen er-
giebt sich ein Yerhältniss etwa von 6 : 1). Städtebewohner erkranken
häufiger als Landleute; Kaufleute, Soldaten, Künstler, überhaupt
Weltleute häufiger als Geistliche, Quäker: immer ist die Ursache
dieselbe.
a) Die Tabes ist nicht nur eine der häufigsten, sondern auch
eine der langwierigsten, die an Symptomen reichste und diagno-
stisch am besten zu fassende der exogenen Nervenkrankheiten.
Sie beginnt in der Kegel ganz langsam und gewöhnlich führen
zuerst die Schmerzen den Kranken zum Arzte, die Kranken klagen
über „Rheumatismus" in den Beinen, doch kann schon jetzt ein-
sachverständiger Arzt aus ihrer Schilderung das Richtige vermuthen.
Die tabischen Schmerzen treten in Anfällen auf, sei es nach einer
Erkältung oder ohne nachweisbaren Anlass. Sie sind fast immer
stechend, „bald sticht es da, bald sticht es dort". Bald gleichen sie
Nadelstichen, bald Messerstichen, bald elektrischen Schlägen. Seltener
werden sie als brennend, bohrend, schnürend geschildert, Ihre Stärke
wechselt vom Geringfügigen bis zum Unerträglichen. Oft ist wäh-
rend des Schmerzes die Haut an seiner Stelle überempfindlich. Selten
kommt es daselbst zu Ekchymosen oder zu Herpesausbrüchen. Der
Anfall setzt sich aus secunden- oder minutenlangen Schmerzen zu-
sammen und dauert einen Tag, einige Tage, bez. Nächte. Ist er
vorüber, so fühlt sich der Kranke zunächst wieder ganz wohl. Oft
findet der Arzt schon zu dieser Zeit objective Symptome. Das wich-
tigste, das in der grossen Mehrzahl der Tabesfälle vorhanden ist,
in diagnostischer Hinsicht das Cardinalsymptom ist die reflectorische
Pupülenstarre. Sie kommt ausserhalb der Tabes höchst selten vor,
wahrscheinlich nur dann, wenn eine Herderkrankung in der Nähe
des 3. Ventrikels auch die Fasern zerstört, von deren Läsion die
Pupülenstarre abhängt. Sieht man von diesen Raritäten ab, so ist
mit dem Nachweise der reflectorischen Pupülenstarre die Diagnose
► Der metasyphilitische Nervenschwund (Tabes dorsalis und Dementia paralytica). 385
der Tabes gegeben. Ausser der reflectorischen Starre kann man
finden : unregelmässige (eckige) Form, Ungleichheit, Erweiterung oder
Verengung der Pupillen. Die starke Verengung der Pupillen (die
sog. spinale Myosis) entwickelt sich gewöhnlich erst in den späteren
Zeiten der Krankheit. Dagegen können zwei wichtige Augensym-
ptome sehr früh, zuweilen schon vor den Schmerzen auftreten: alle
möglichen Augemnuskellähmungen, die ohne Anlass kommen, nach
einiger Zeit verschwinden, oft wiederkommen und dann zuweilen
dauernd werden, und Sehschwäche durch Atrophie des Sehnerven,
die meist auf einem Auge beginnt, dann auch das andere ergreift,
mit Stillständen bald rasch bald langsam fortschreitet und schliesslich
zu Blindheit führt. Zu den Schmerzen, den Augensymptomen kom-
men ferner als frühe Hauptzeichen: das Erlöschen des Kniephäno-
mens und die Blasenstörung. Das Kniephänomen kann im Anfänge
gesteigert sein, erlischt manchmal erst an einem Beine, kehrt wohl
auch vorübergehend zurück. Die Blasenstörung ist oft gering, es
muss darnach gefragt werden, aber sie fehlt sehr selten: die Kranken
müssen beim Wasserlassen drücken, hie und da verlieren sie wider
Willen kleine Mengen, sie müssen eilen, wenn der Drang sich meldet.
Die Störungen der Empfindlichkeit: Parästhesien und Hypästhesie,
sind oft schon früh vorhanden, lassen in anderen Fällen ziemlich
lange auf sich warten. Zuerst zeigt sich gewöhnlich das Eomberg'-
sche Zeichen: der Kranke steht nicht sicher, sobald er sich nicht
mehr durch die Augen im Eaume orientiren kann. Ameisenkriechen
und andere Empfindungen werden in den Beinen, am Damme, am
G-esässe, im Ulnarisgebiete wahrgenommen. Später fühlen die Kranken
eine Einschnürung des Leibes, das G-ürtelgefühl, das gewöhnlich zu-
erst in der Nabelhöhe auftritt, allmählich sich nach oben verschiebt.
Manchmal ist es nicht wie ein Gürtel, sondern die Kranken glauben,
eine schwere Platte auf dem Leibe oder der Brust zu fühlen. Nun
kann man gewöhnlich auch Hypästhesie an den Füssen, Unterschen-
keln, am Damme u. s. w. nachweisen. Alle Formen kommen vor, am
häufigsten allgemeine Herabsetzung mit Vorwiegen der Analgesie,
reine Analgesie, bloss oberflächliche, bloss tiefe Hypästhesie, oder
beide, Verlangsamung der Empfindung, Nachempfindnng, Polyästhesie,
Allocheiria u. s. w.
Als Folge der Unempfindlichkeit der tiefen Theile, besonders
der Gelenke, ist wahrscheinlich die Ataxie der Tabeskranken anzu-
sehen (vgl. S. 105). Mit der Hypästhesie der tiefen Tlieile hängt
wahrscheinlich auch die auffallende Schlaffheit der Muskeln zusam-
men. Endlich gehören Darmträgheit und Abnahme, bez. Erlöschen
Möbius, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 25
386 Exogene Nervenkrankheiten.
der Potenz, der zuweilen eine krankhafte Steigerung- vorausgeht, zu
den stets vorhandenen Symptomen.
Vor oder während der Ataxiezeit können ausserordentlich viele
andere Symptome auftreten, die der Tabes ein ungemein wechseln-
des Aussehen verleihen, während doch der Grundstock der Sym-
ptome immer derselbe bleibt Die weitaus wichtigsten der weniger
häufigen Zeichen sind die verschiedenen Krisen und die Erkrankun-
gen der Knochen und Gelenke. Das Vorbild der Krisen sind die
gewöhnlichen Schmerzanfälle. Ziemlich häufig sind die Magenkrisen
(reissende Schmerzen in der Magengegend mit unstillbarem Erbre-
chen, ausnahmeweise nur das eine oder das andere; nach einigen Ta-
gen plötzliches Verschwinden aller Symptome). Seltener sind Darni-
krisen (unvermuthete Anfälle von Durchfall mit oder ohne Schmer-
zen), Kehlkopf krisen (nach Kitzel im Halse keuchhustenähnlicher
Anfall mit Erstickungsnoth, die zu Ohnmacht führen kann), Nieren-
krisen (Xierenschmerzen mit oder ohne Stockung der Harnabsonde-
rung), Harnröhren-, Mastdarmkrisen (reissende, brennende, bohrende
Schmerzen), Clitoriskrisen (Orgasmus mit Schleimabsonderung). Die
Knochen mancher Tabeskranken werden durch chemische Verände-
rungen brüchig. Dann genügen geringe Anlässe, um einen Bruch
herberzuführen (der am ehesten die Beine trifft). Einigemale sind
Sehnenzerreissungen vorgekommen. Bei den Gelenkerkrankungen
findet man anscheinend ursachlosen, plötzlichen Beginn, schmerzlose
starke Schwellungen, gewöhnlich ohne Böthung, oft weit über das
Gelenk hinaus, starkes Krachen, rasche Usur der Gelenkenden mit
ihren Folgen. Knie, Hüfte, Fuss, Schulter, Wirbelsäule, Ellenbogen,
Hand, so ist etwa die Ordnung der Gelenke nach der Häufigkeit der
Erkrankung. Zuweilen, besonders nach Trigeminusschmerzen und
bei Trigeminusanästhesie tritt schmerzloser Zahnausfall, dem Schwund
der Alveolen folgt, ein.
Weiter giebt es noch viele, seltenere Symptome. Während von
den Gehirnnerven der Opticus, die Augenmuskelnerven sehr oft er-
griffen werden, der Trigeminus ziemlich oft, sind Acusticuserkran-
kungen (erst Ohrgeräusche, dann Taubheit), Störungen des Geruches
oder Geschmackes selten. Umschriebene Lähmungen theils mit theils
ohne Muskelschwund sind ebenfalls selten (am Unterschenkel, am
Vorderarme, an der Schulter, Facialis-, Kaumuskellähmung, halbsei-
tiger Zungenschwund). Am häufigsten kommen ausser den Augen-
lähmungen Kehlkopf lähmungen vor (einseitige, doppelseitige Abductor-
lähmung, einseitige Recurrenslähmung). Erkrankungen der Haut und
ihrer Anhänge werden liier und da beobachtet: Ausfallen von Nä-
Der metasyphilitische Nervensclnviuid (Tabes (Torsalis und Dementia paralytica). 387.
geln, von Haaren, Mal perforant, Herpes, ekzemartige Ausschläge;
Atrophie der Haut. Zuweilen kommt Glykosurie vor. Nicht gerade
selten ist Schwindel (unabhängig von Augen- und Ohrenerkrankung).
Das Gleiche gilt von der Tachykardie.
Der Gang der Diagnose bei der Tabes pflegt folgender zu sein:
Der Kranke kommt und klagt über irgend ein Symptom (reissende
Schmerzen, Doppeltsehen, Sehschwache, Blasenstörung, Magenanfälle,
Pelzigsein der Füsse u. s. f.), der Arzt weiss, dies Symptom kommt
bei Tabes vor, er untersucht die Pupillen und findet sie reflectorisch
starr, er findet das Fehlen des Kniephänomens u. s. f.
Handelt es sich um Symptome, die nicht irgendwie charakteris-
tisch sind, wie die Parästhesieen, Impotenz oder ähnl., so wird, wenn
nur überhaupt diese Symptome bei Tabes vorkommen, der Arzt an
sie zuerst denken, weil sie am häufigsten ist, er wird es um so eher,
wenn der Patient 25 — 50 Jahre alt ist, ein Mann ist und Syphilis
gehabt hat, oder doch vielleicht gehabt hat.
Thatsächlich aber sind die meisten Symptome der Tabes so eigen-
thümlicli, dass Eines schon den Verdacht auf Tabes erweckt. Die
tabischen Schmerzen kommen fast nie in der ihnen eigenthümlichen
Art ausser der Tabes vor. Ueber die reflectorische Pupillenstarre
ist schon gesprochen. Fehlen des Kniephänomens mit Schmerzen,
Parästhesien, Hypästhesie kommt wohl bei Neuritis vor, aber dann
fehlt die Blasenstörung. Diese finden wir bei multipler Sklerose,
bei beginnender Myelitis u. s. w., aber dann sind die Eeflexe gestei-
gert, die Muskelspannung vermehrt. Die meisten Augenmuskelläh-
mungen, die meisten Kehlkopfmuskellähmungen , die meisten Fälle
von Hemiatrophie der Zunge sind überhaupt tabisch. Das ophthal-
moskopische Bild der tabischen Papille ist durchaus charakteristisch.
Die Magenanfälle kommen höchst selten als selbständiges Leiden
vor, fast ausschliesslich bei Tabes. Auch bei den übrigen Krisen
muss jeder, der sie kennt, sofort an Tabes denken. Die fast ursach-
los entstehenden Knochenbrüche und Gelenkerkrankungen mit der
Analgesie u. s. w. sind gerade so typisch ; wer nur einmal das Ent-
stehen einer tabischen Knieerkrankung gesehen und überhaupt klini-
schen Sinn hat, der wird im nächsten Falle die Wahrscheinlichkeits-
diagnose ohne weitere Untersuchung machen. Bei Gelenkerkrankimg
an den Armen ist natürlich die Syringomyelie auszuschliessen, was
fast nie schwer ist.
Verwechselungen der beginnenden Tabes sind möglich mit Poly-
neuritis, mit tertiärer Syphilis, mit Diabetes, mit Hysterie. In allen
diesen Fällen kann ein Irrthum nur vorkommen, wenn die reflec-
25*
388 Exogene Nervenkrankheiten.
torisclie Pupillenstarre fehlt. Der Polyneuritis gegenüber ist dann
auf das Vorhandensein anderer Augensymptome und der Blasenstö-
rung, bez. auf den Nachweis charakteristischer Tabeszeichen das Ge-
wicht zu legen. Es muss aber zugestanden werden, dass es seltene
Fälle giebt. in denen zwischen einer beginnenden Tabes und etwa
einer Alkoholneuritis nicht mit Sicherheit entschieden werden kann.
Wenn eine gummatöse Meningitis vorwiegend die hinteren Wurzeln
und einzelne Hirnnerven schädigt, so kann natürlich ein tabesähn-
liches Bild entstehen. Wahrscheinlich aber wird die Unterscheidung
immer möglich sein. In den bisher beschriebenen Fällen hat es sich
um das Nebeneinanderbestehen von Tabes und von tertiärer Syphilis
gehandelt. Nicht oft wird man eine Tabes für Diabetes halten, aber
einer Glykosurie gegenüber kann wohl die Frage entstehen, handelt
es sich hier etwa um Tabes?, und wenn charakteristische Zeichen
fehlen, wird diese Frage nicht immer sofort beantwortet werden
können. Auch scheint gelegentlich wirklicher Diabetes neben der
Tabes zu bestehen. Die Schwierigkeit, die zuweilen die Hysterie
macht, ist übertrieben worden. Da durch Hysterie weder reflectorische
Pupillenstarre, noch Augenmuskellähmungen, noch Sehnervenschwund,
noch Verlust des Kniephänomens u. s. w. entstehen, kann die Hysterie
kaum die Tabes vortäuschen, wohl aber kann bei oberflächlicher
Untersuchung eine ausser der Hysterie vorhandene Tabes übersehen
werden, kann es, wenn beide Krankheiten vorhanden sind, zweifel-
haft sein, ob manche Parästhesieen, Hypästhesie und Aehnl. zur einen
oder zur anderen gehören. Auch Gliosis spinalis und Tabes hat man
bei demselben Kranken gefunden, wie denn Combinationen verschie-
dener Art möglich sind. Nicht um eine Combination, sondern um
eine weitere Ausbreitung der Krankheit selbst handelt es sich nur
dann, wenn neben den Symptomen der Tabes die der Dementia pa-
ralytica bestehen, ein Fall, der bei Besprechung der letzteren erör-
tert wird.
Diagnostische Schwierigkeiten und diagnostisches Interesse hat ge-
wöhnlich nur die beginnende Tabes. Ist einmal die Ataxie vorhanden, so
ist ein Verkennen für den, der die Krankheit kennt, kaum mehr möglich.
Dann, besonders aber in den späten Zeiten, wenn die Kranken bettlägerig
geworden sind, gilt es, nicht etwa das zu übersehen, was noch ausserhalb
der Tabes vorhanden ist.
b) Die Dementia paralytica oder progressive Para-
lyse der Irren oder Paralyse schlechtweg hat nicht nur die-
selbe Ursache wie die Tabes, sondern auch zum Theile dieselben
Symptome. Beide Krankheiten treten oft zusammen auf, manchmal
Der metasyphilitische Nervenschwund (Tabes dorsalis und Dementia paralytica). 389
so, class wenn die eine sicli entwickelt hat, die andere hinzutritt,
1 läufiger so, dass von vornherein der Paralyse einige tabische Sym-
ptome beigemischt sind, oder der Tabes einige paralytische.
Das Hauptsymptom der Paralyse ist ein allmählich beginnender
und stetig oder stufenweise zunehmender Schwachsinn (vgl, S. 30).
Zu ihm können seelische Eeizerscheinnngen, Wahnvorstellungen und
krankhafte Verstimmungen, hinzutreten. Nahezu regelmässig bestehen
neben ihm die paralytische Sprachstörung (vgl. S. 43 ff.) und körper-
liche Eeizerscheinungen, d. h. Zuckungen in den Muskeln des Ge-
sichts, der Zunge, Zittern. Dem Schwachsinne liegt die Entartung
der oberen Rindenschichten des Gehirns zu Grunde. Offenbar in Ab-
hängigkeit von der auch die motorischen Eindentheile ergreifenden
Entartung pflegen sich die Symptome einer leichten centralen Pa-
rese einzustellen: Muskelschwäche, Steigerung der Sehnenreflexe,
Rigidität (man pflegt diese Symptome auf die Entartung der Seiten-
stränge im Rückenmarke zu beziehen, die gefunden wird, wenn sie
vorhanden sind ; wahrscheinlich aber ist diese Entartung als secun-
däre Degeneration aufzufassen, obwohl die Pyramidenfasern im Ge-
hirn zum Theil keine sichtbare Entartung erkennen lassen). End-
lich giebt sich die Paralyse durch die sogenannten paralytischen An-
fälle (apoplectische, epileptische, selten migränöse Anfälle) kund (vgl.
S. 27).
Die Krankheit beginnt fast immer ganz allmählich. Zuweilen
bestehen ziemlich lange nur einige tabische Symptome (leichte „rheu-
matische" Schmerzen, Pupillenveränderungen, etwas Ptosis u. s.w.),
sodass man ungewiss ist, ob sich eine Tabes oder eine progressive
Paralyse entwickeln wird. In anderen Fällen ist der Schwachsinn
das Erste. In wieder anderen gehen neurasthenische Beschwerden
voraus. Es können Jahre vergehen, ehe deutliche Fortschritte be-
merkt werden. Begreiflicherweise ist die Erkennung der Paralyse
im Anfange am schwierigsten und am wichtigsten. Die Hauptgefahr
ist hier die Verwechselung mit Neurasthenie. Es kann in der That
das vollständige Bild der Neurasthenie der Paralyse vorausgehen
(die meisten Fälle der sogenannten „syphilitischen Neurasthenie" ge-
hören wohl hierher; man spricht dami von Vorläufererscheinungen,
aber wahrscheinlich handelt es sich doch schon um den Anfang der
Paralyse selbst). Früher kannte man nur die entwickelte Paralyse, aus
dieser Zeit stammt die Meinung, der Paralytische habe nie ein Krank-
heitsgefühl. Im Anfange haben die Kranken nicht nur über alle
möglichen Symptome zu klagen (Kopfschmerz, Kopfdruck, Schwindel,
Störungen des Schlafes), sondern sie fühlen auch, dass ihre geistigen
390 Exogene Nervenkrankheiten.
Fähigkeiten abnehmen, dass ihr Urtheil, ihr Gedächtniss, ihre Selbst-
beherrschung' nicht mehr dasselbe leisten wie früher. Der Neurasthe-
nische klagt ebenso, dem Beobachter scheinen vielleicht in beiden
Fällen die Klagen ungenügend oder nicht begründet zu sein, der
Unterschied ist nur der, dass der Paralytische allzusehr Recht hat,
der Xeurasthenische sich mehr oder weniger täuscht. Wenn es sich
um Männer von 30 — 50 Jahren handelt, die früher Syphilis gehabt
haben, und besonders, wenn die gewöhnlichen Ursachen der Nervosität
nicht vorhanden sind, muss der Arzt mit. der Diagnose Neurasthenie
vorsichtig sein. Wohl sind bei Paralyse oft frühzeitig objective Sym-
ptome vorhanden, sie brauchen es aber nicht zu sein und zuweilen
kann nur der weitere Verlauf entscheiden. Findet man auch nur ge-
ringe tabische oder direct paralytische Andeutungen '), so fallen diese
doch schwer in die Wagschale. Freilich darf man nicht vergessen,
dass auch ein Tabischer neurasthenisch sein kann, darf daher nicht
zu früh urtheilen.
Viel leichter ist die Diagnose, wenn schon im Anfange Symptome
sich zeigen, die ohne Weiteres an eine organische Erkrankung des
Nervensystems denken lassen. Wenn ein bis dahin gesunder Mensch
mittleren Alters Anfälle von Schwindel, von Doppeltsehen, von Apha-
sie, von Ohnmacht bekommt, wenn er über plötzliche Schwäche eines
Gliedes klagt, unversehens Harn oder Stuhl verliert u. s. w., dann
muss man zuerst an Paralyse denken.
Gewöhnlich findet man in der That schon anderweite Zeichen
(Pupillenveränderungen, leichtes Zucken im Gesichte, Veränderungen
der Sehnenreflexe, Andeutungen von Schwachsinn). Man vergleiche
Schriftstücke aus alter und neuer Zeit, lasse den Kranken rechnen,
befrage die Umgebung, ob er nicht anders ist als früher, gleichgül-
tiger, nachlässiger, ob er am Tage einschläft u. s. f.
Leiten die Symptome auf eine organische Gehirnerkrankimg, so
können ausser der Paralyse Blutungen, Erweichungen, Gehirnge-
schwülste, multiple Sklerose in Frage kommen, kann tertiäre Syphilis
oder Alkoholismus als Ursache angenommen werden. Von grösster Be-
deutung ist hier wieder die reflectorische Pupillenstarre ; in zweiter
Linie stehen die anderen Tabessymptome. Herderkrankungen bewir-
ken deutlichen Schwachsinn gewöhnlich nur dann, wenn ihre directen
Wirkungen über die Diagnose keinen Zweifel lassen. Der Alkoho-
1) Seltsamerweise erhielt ich wiederholt in solchen Fällen die Angahe der
Kranken, sie fühlten oherhalh der Kniescheibe nicht recht und fand da einen
handtellergrossen hypästhetischen Bezirk.
Der metasyphüitische Nei venscliwund (Tabes dorsalis und Dementia paralytica). 301
lismus hat seine eigenen Symptome (Neigung' zu Hallucinationen,
Bewusstseinsstörungen). Schwierig wird die Sache gewöhnlich nur.
wenn neben dem Alkoholismus Tabes oder wirkliche Paralyse be-
steht. Dann kann oft nur längere Beobachtung entscheiden. Beson-
ders dann, wenn angehende Paralytische acut oder subacut an Al-
kohol-Irresein erkranken, verdecken oft dessen Symptome die der
Paralyse und erst nach jener Ablauf treten diese wieder deutlich
hervor. Ebenso kann Gehirnsyphilis neben der Paralyse vorhanden
sein. Dies ist gewöhnlich der Fall bei der sog. syphilitischen Pseudo-
paralyse. Die specifische Behandlung bessert dann die von der ter-
tiären Syphilis abhängenden Symptome, lässt die Paralyse unver-
ändert.
Die geistige Störung kann mit wenig körperlichen Symptomen
auftreten. Ausser dem einfachen Schwachsinne, dem schwachsinnigen
Grössenwahne und der schwachsinnigen Hypochondrie, den häufig-
sten Formen, kann die Paralyse zeitweise auch eine andere Erschei-
nung darbieten, sie kann sozusagen die Maske jeder beliebigen Form
geistiger Störung tragen. Die Diagnose muss sich darauf gründen,
dass das Gepräge des Schwachsinnes, die Kritiklosigkeit, der Mangel
an Zusammenhang und Beständigkeit, nachzuweisen ist und dass
doch dieses oder jenes körperliche Symptom nicht fehlt.
In der Regel freilich ist die Diagnose der entwickelten Paralyse
überaus leicht. Ein Blick auf den Kranken, einige von ihm gespro-
chene Worte, ein von ihm beschriebenes Blatt genügen. Aber sehr
schwer ist es, über den Verlauf etwas vorauszusagen. Es giebt sehr
rasch verlaufende Fälle, in denen schon nach 1 — 2 Jahren, ja nach
Monaten der Tod eintritt, und sehr langsam verlaufende Fälle, in
denen die Krankheit 10 Jahre und länger dauert. Es giebt Fälle
mit stetigem Verlaufe zum Schlechteren und Fälle mit Besserungen
(Remissionen) , die sogar manchmal an eine Heilung glauben lassen
und jahrelang andauern können. Im Allgemeinen hat ein relativ
acuter Anstieg üble Bedeutung, doch ist das nicht immer der Fall.
Ganz unberechenbar ist das Eintreten der paralytischen Anfälle, die
oft rasche Verschlimmerung und frühen Tod bringen können. End-
lich ist darauf hinzuweisen, dass es, besonders bei Tabeskranken,
abortive Formen der Paralyse giebt. Es treten dann einige para-
lytische Symptome auf (vorübergehende Lähmungen cerebraler Form,
Ohnmächten, Migräneanfälle, ein leichter Schwachsinn mit Euphorie),
ohne dass doch eine vollständige Paralyse daraus würde.
392 Exogene Nervenkrankheiten.
7. Selbständige infectiöse Nervenkrankheiten.
a) Die primäre infectiöse Neuritis.
Wir haben guten Grund, hierher nicht nur die selbständige
Polyneuritis (vgl. S. 351) zu rechnen, sondern auch die selbständigen
Erkrankungen einzelner Nerven, die gewöhnlich als rheumatische
bezeichnet werden. Immer handelt es sich darum, dass bis dahin
gesunde Menschen nach unbedeutenden Anlässen (Erkältung, Ueber-
anstrengung) mit den Symptomen einer Neuritis erkranken.
Sehr häufig ist die sogenannte rheumatische Facialis-
lä Innung. Oft begleiten den Eintritt der im Anfange fast immer
totalen und completen Lähmung Schmerzen, die hinter dem Ohre
sitzen, oder sich als „ Gesichtsr eissen" darstellen, zuweilen gering,
zuweilen sehr heftig sind, einige Tage bis eine Woche dauern. Manch-
mal ist auch die Austrittstelle des Nerven leicht geschwollen und
druckempfindlich. Je nach dem Verlaufe, bez. dem electrischen Be-
funde unterscheidet man leichte, mittelschwere und schwere Formen,
doch ist eine strenge Trennung nicht durchzuführen. Die Diagnose
ist leicht, die Lähmung könnte nur mit einer durch Otitis entstan-
denen verwechselt werden. Die centrale Facialislähmung ist durch
Beschränkung auf den unteren Theil des Gesichts, durch das Er-
haltenbleiben der Kenexe, durch das Vorhandensein anderer centraler
Symptome genügend gekennzeichnet. Eine totale Facialislähmung
kann Brückenherde begleiten, dann besteht aber Hemiplegie der
anderen Seite.
Sehr selten sind rheumatische Augenmuskellähmungen:
Eintreten bei vorher Gesunden nach Erkältung unter Schmerzen, zuweilen
mit Schwellung der Lider. Selten sind rheumatische Eadialis-, Ul-
naris-, Cruralis-, Peronaeus-Lähmungen, doch mögen sie und
noch andere hie und da vorkommen. Ausser der Facialislähmung sind
wohl die rheumatische Serratuslähmung und die Axillarisläh-
mung die häufigsten Formen.
Primäre Neuritiden liegen wahrscheinlich auch den sogenannten
rheumatischen Neuralgien zu Grunde, Besonders beruhen gewiss
viele Trigeminus- und Occipitalisneuralgien, sowie die ge-
wöhnliche Ischias auf Infection. Die Diagnose hat sich wesentlich
auf Negatives zu stützen, Abwesenheit sonstiger Ursachen.
Eine besondere Stellung nimmt der Herpes zoster ein. Es
scheint sich dabei um eine eigenartige Infection zu handeln, die
bald nur die Haut, bald die Haut und sensorische Nervenzweige
beschädigt. Die Krankheit tritt nicht selten in kleinen Epidemien
Die primäre infectiöse Neuritis. — Poliomyelitis. — Encephalitis acuta. 393
auf und wählt sich gewöhnlich das Gebiet der Intercostalnerven aus,
kann aber auch andere Nerven (Supraorbitalis, Radialis, Ischiadicus u.a.)
befallen. Bis dahin gesunde Leute bekommen plötzlich, oft unter all-
gemeinem Unwohlsein und Fieber einen gürtelartigen Herpesausschlag
und diesem folgen, besonders bei älteren Leuten, mehr oder weniger
heftige, mehr oder weniger langdauernde Nervenschmerzen und An-
ästhesie im Bezirke des Ausschlages. Die Diagnose kann kaum irren,
nur die symptomatischen Formen bei Tabes u. s. w. können neben
dem primären Zoster in Betracht kommen.
b) Poliomyelitis acuta.
Die plötzlich, gewöhnlich unter fieberhaften Erscheinungen auf-
tretende Yorderhornentzündung der Kinder ist so charakteristisch,
dass sie immer leicht erkannt wird. Die Lähmung erreicht sofort
ihren höchsten Grad ; während die dem zerstörten Gebiete angehören-
den Muskeln schwinden, erlangen allmählich die nur leicht beschä-
digten ihre Contractilität zurück (vgl. S. 77). Die Diagnose kann
in den ersten Tagen schwer sein, ferner in den seltenen Fällen, in
denen auch Hirnnerven getroffen werden, und bei Erwachsenen. Im
letzteren Falle kann der Arzt durch eine peracute Neuritis getäuscht
werden, doch fehlen bei dieser Sensibilitätstörungen wohl nie ganz.
Das Vorkommen einer subacuten Poliomylitis ist nicht bewiesen.
Man diagnosticire sie nicht.
Als chronische Poliomyelitis hat man eine höchst seltene Krank-
heit bezeichnet, die der progressiven spinalen Muskelatrophie sehr ähnlich
ist, sich von dieser durch etwas rascheren Verlauf, mehr diffuse als indi-
viduelle Atrophie, u. U. durch Beginn an den Beinen unterscheidet. Die
Diagnose ist nur erlaubt bei annähernd symmetrischem, langsam fortschrei-
tendem Muskelschwunde mit Entartungsreaction ohne jede Störung der
Empfindlichkeit.
c) Encephalitis acuta.
Die Encephalitis acuta (cerebrale Kinderlähmung) ist, abgesehen
vom Sitze der Läsion, so ganz das Seitenstück zur Poliomyelitis acuta,
dass man die gleiche Natur bei der Krankheit vermuthen darf.
Gesunde Kinder (gewöhnlich 1 — 5 Jahre alt) erkranken plötzlich mit
Fieber, Kopfschmerz, zuweilen Erbrechen, Benommenheit, Krämpfen.
Das Fieber dauert einige Tage, seltener 1 — 2 Wochen. Nach seinem
Aufhören erholen sich die Kinder, sind aber halbseitig gelähmt.
Die centrale Lähmung schwindet zum Theil wieder, die Aphasie
gleicht sich gewöhnlich bald wieder aus, unwillkürliche Bewegungen
(Hemichorea, Hemiathetose) sind häufig, die paretischen Glieder
bleiben im Wachsthume zurück. Nicht selten hat die Lähmung die
.394 Exogene Nervenkrankheiten.
Form der cerebralen Paraplegie. In einem Theile der Fälle ent-
wickelt sich Epilepsie. Später kann diese die Hauptsache sein, nur
•ein Eest der Lähmung an den Anfang erinnern. Auch werden manche
der Patienten schwachsinnig-.
Da bei Kindern Hemiplegie durch sehr verschiedene Ursachen
entstehen kann, darf man die Encephalitis acuta nur dann diagnosti-
ciren, wenn die Hemiplegie bei einem vorher gesunden Kinde unter
Fieber acut entstanden ist.
In vereinzelten Fällen befällt die Encephalitis acuta auch Er-
wachsene, doch ist darüber noch wenig bekannt.
d) Chorea Syäenhamii.
An Chorea erkranken gewöhnlich Kinder zwischen dem 5. und
dem 15. Lebensjahre, nicht selten jugendliche Personen überhaupt,
besonders juuge Schwangere, nur ausnahrneweise andere Erwachsene,
Oft gehen Gelenkrheumatismus, Endocarditis, oder wenigstens Gelenk-
schmerzen voraus. Zuweilen befällt die Krankheit durch anderweite
Krankheit en (Scharlach u. s. w.) geschwächte Kinder.
Die Chorea beginnt langsam. Ihre Zeichen sind die choreatischen
Bewegungen (vgl. S. 129) und leichte geistige Störungen, als Launen-
haftigkeit, "Weinerlichkeit, Aengstlichkeit. Selten steigern sich die
letzteren zu Verwirrtheit mit Sinnestäuschungen. Die choreatischen
Bewegungen können auf ein Glied, eine Körperhälfte beschränkt
sein, oder alle willkürlichen Muskeln ergreifen. Sie werden durch
seelische Erregung gesteigert. Als Abart wird Chorea moilis be-
schrieben: lähmungsartige Schlaffheit eines oder mehrerer Glieder
mit vereinzelten Zuckungen. Oft geht mit der Chorea Endocarditis
einher. Andere Zeichen hat die Krankheit nicht,
Chorea kann verwechselt werden:
mit Hysterie (Anästhesie, Hyperästhesie, Einnuss seelischer Zustände,
keine Herzerkrankung, keine Gelenkveränderung),
mit choreatischen Bewegungen bei Gehirnherden (Veränderung der
Sehnenreflexe, centrale Parese u. s. w.),
mit der als chronische Chorea (Chorea Huntingtons, Myoklonie) be-
zeichneten Form der Entartung (erbliche Belastung, Auftreten in
späterem Alter, Verbindung mit psych. Schwäche, bez. Blödsinn, pro-
gressiver Verlauf, Fehlen der Herzerkrankimg).
e) Tetanie.
Die Tetanie tritt nur in manchen Gegenden und gewöhnlich in
kleinen Epidemien auf, befällt meist jugendliche Personen, Schuster
Chorea Sydenhamii. — Tetanie. — Tetanus. — Lyssa. 395
und Schneider, auch stillende Frauen. Ihr Hauptzeichen sind die Te-
■tanieanfälle : Parästhesien und tonische Krämpfe der Gliedermuskeln
(Schreibstellung). Während der Anfalle und meist auch zwischen
den Anfällen bestellt Steigerung der electrischen und mechanischen
Erregbarkeit der Nerven (vgl. S. 157). Seltenere Symptome sindOedeme,
übermässiges Schwitzen, Polyurie, Verwirrtheit.
Aelmliche Zustände kommen bei Magenkrankheiten, besonders
Magenerweiterung, und nach Exstirpation der Schilddrüse vor. Im
Uebrigen ist kaum ein Irrthum möglich, da die Uebererregbarkeit
der Nerven pathognostisch ist.
f) Tetanus.
Die Ursache ist Eindringen der Tetanusbacillen durch eine Ver-
letzung der Haut (Wundtetanus, Tetanus neonatorum, der sogenannte
rheumatische Tetanus, der auf übersehene Verletzungen zu beziehen
ist). Nach Parästhesien in den verletzten Theilen, in Gesicht und
Nacken tritt Trismus ein. Der Krampf verbreitet sich auf viele
Körpermuskeln und steigert sich anfallweise. Am stärksten ist er
an Kopf und Kumpf (Starrheit des Gesichts, Opisthotonus), Arme
und Beine bleiben lange frei. Starkes Fieber. Keine Störung der
Empfindlichkeit, erhaltene Besonnenheit, Lebhaftigkeit der Eeflexe.
Geht der Tetanus von Verletzungen am Kopfe aus, so werden oft
Schlingkrämpfe und einseitige Facialislähmung beobachtet (Tetanus
lrydrophobicus). Beginnt die Krankheit acut, so führt sie meist zum
Tode; je chronischer der Verlauf, um so häufiger tritt Heilung ein.
Höchstens bei oberflächlicher Untersuchung ist die Krankheit
zu verkennen (Trismus bei Erkrankung des Kiefers, hysterische
Zustände).
g) Lyssa.
Eindringen des Giftes durch Verletzungen der Haut, fast immer
durch den Biss wuthkranker Thiere. Nach Tagen, Wochen, Monaten
Schmerzen und Schwellung an der Stelle der Verletzung, Verstim-
mung, Mattigkeit, Angst. Dann Schlingkrämpfe beim Schlucken,
Sprechen, Athemnoth und grosse Angst, Fieber. Anfallweise Steige-
rung der Beschwerden, besonders beim Versuche zu trinken heftige
Anfälle. Nach wenigen Tagen Tod durch Herzlähmung. Verwechs-
lung mit hypochondrisch-hysterischen Zuständen, die durch Furcht
vor der Wuth entstehen, ist zu vermeiden.
h) Epidemische Cerebrospinalmeningitis.
Unter Fieber acutes oder peracutes iUiftreten der Menhigitis-
symptome: Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, Benommenheit, Nacken-
396 Exogene Nervenkrankheiten.
schmerzen, Nacken- und Eückenstarre. Oft bestellt im Anfange Herpes
labialis. Entweder rascher Tod oder wochenlange Krankheit. Unregel-
mässiges Fieber, Delirien, Opisthotonus, Zuckungen und Contracturen
der Glieder. Hyperästhesie. Zuweilen Hirnnervenlähmungen (Blind-
heit, Augenmuskellähmungen). Die häufige Taubheit ist Folge einer
Labyrintherkrankung. Milzschwellung, Eiweissharn. Allmähliche Ge-
nesung oder zunehmende Entkräftung und Kachexie.
Während einer Epidemie ist die Diagnose leicht. Vereinzelte
Fälle können Schwierigkeiten machen: Meningitis tuberculosa, Menin-
gitis durch Otitis, Hirnabscess, Typhus, Septhämie können in Betracht
kommen. Die zuweilen zu Pneumonie hinzutretende Meningitis ist
der epidemischen sehr ähnlich ; ob die Erreger wirklich verschiedene
Arten sind, ist nicht sicher.
8. Die multiple Sklerose des Gehirns und Rückenmarkes.
Die multiple Sklerose befällt in der Eegel jugendliche Personen,
wie es scheint mehr Weiber als Männer. In ausgeprägten Fällen
sind die Haupterscheinungen: eine eigenthümliche Unsicherheit der
Bewegungen (das sogenannte Intentionzittern, vgl. S. 111), eine
langsame, stockende (scandirende) Sprechweise (S. 49), Nystagmus bei
Bewegungen der Augen, Steigerung der Sehnenreflexe. Ausserdem
kommen oft theils vorübergehende, theils bleibende Augenmuskel-
lähmungen vor. Besonders aber zeigt der Augenspiegel oft eine Äb-
blassung der temporalen Papillenhälfte, die sich mit der Zeit über
die ganze Papille ausdehnen kann. Die Sehstörung ist dabei oft un-
erheblich. Dauernde Lähmung an den Gliedern ist sehr selten, dagegen
sind vorübergehende Lähmungen häufig, und zwar treten sie oft
plötzlich, schlagartig ein. Theils handelt es sich um Parese eines
Gliedes, theils um Hemiplegie. Auch kommen Ohnmachtanfälle ohne
Lähmung, seltener epileptische Krampfanfälle vor. Mit der Zeit nimmt
die Kraft der Muskeln ab und so kann sich allmählich eine spastische
Paraparese ausbilden. Störungen der Sensibilität und der Blase
spielen bei multipler Sklerose keine grosse Solle, doch, wenn man
genau untersucht, ist Hypästhesie nicht selten und Blasenbeschwerden
kommen wenigstens zeitweise vor. Die Kranken klagen oft über
Kopfschmerzen, Schwindel und bemerken zuweilen selbst, dass ihre
geistigen Kräfte abnehmen. Später kann sich Blödsinn entwickeln.
Aufregung und andere geistige Störungen (Wahnvorstellungen u. s.w.)
sind selten, kommen aber vor.
Ist das Bild der Krankheit ausgeprägt, so ist die Diagnose leicht.
Die multiple Sklerose des Gehirns und Rückenmarkes. 397
Es giebt aber auch verwaschene Fälle, die der Diagnose grosse,
u. U. unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten. Die fast nie fehlenden
Symptome sind die Steigerung der Seimenreflexe und der Augen-
spiegelbefund. Auf sie hat man sich in erster Linie zu stützen, wenn
die charakteristische Trias, Zittern, Scandiren, Nystagmus, fehlt.
Ist hauptsächlich das Brustmark beschädigt, so wird oft nur
chronische Myelitis, oder wenn Anästhesie und Blasenstörung fehlen,
eine Seitenstrangsklerose angenommen. Hier gilt es also auf die cere-
bralen Symptome (an den Augen, die apoplectischen Anfälle u. s. w.)
zu achten.
Ist besonders die Oblongata Sitz der Herde, so kann das Bild
an das der progressiven Bulbärparalyse erinnern. Immerhin fehlen die
diesem eigene Symmetrie und die Beschränkung auf die motorischen
Kerne, fehlen anderweite Symptome (Augen u. s. w.) fast nie ganz.
Auch können die seelischen Störungen in den Vordergrund treten,
so dass man glaubt, es mit einer Demenz aus unbekannter Ursache
oder mit Dementia paralytica zu thun zu haben.
Mehrfache kleinere Hirnherde, die durch Blutungen oder Er-
weichungen entstanden sind, können begreiflicherweise ein der mul-
tiplen Sklerose sehr ähnliches Bild schaffen.
Mit Tabes wird die multiple Sklerose nicht leicht verwechselt.
Bei dieser fehlen diereflectorischePupillenstarre, die charakteristischen
Schmerzen, sind die Selmenrenexe gesteigert, statt herabgesetzt oder
erloschen, ist oft Nystagmus da (der bei Tabes nicht vorkommt), ist
der Augenspiegelbefund anders u. s. w. u. s. w.
Am bedenklichsten sind die Verwechselungen mit Hysterie. Sie
kommen besonders im Anfange der Krankheit vor. Es tritt etwa
plötzliche Lähmung eines Beines oder Armes ein. Diese bessert sich
rasch und man findet ausser ihr nichts als Steigerung der Selmen-
renexe. Am ehesten hilft auch hier die Augenuntersuchung aus den
Schwierigkeiten, da ophthalmoskopische Veränderungen oft schon
frühe vorhanden sind und auch Augenmuskellähmungen auf den
rechten Weg weisen können. Die Steigerung der Sehnenreflexe ist
bei Hysterie immer massig, deutliches Fussphänomen spricht ent-
schieden gegen Hysterie. Dagegen findet man bei dieser oft den
Sohlenreflex abgeschwächt, was bei multipler Sklerose nicht der Fall
ist. Freilich darf man sich durch das Vorhandensein hysterischer
Symptome noch nicht für berechtigt halten, die multiple Sklerose
auszuschliessen, denn die Hysterie kann diese wie andere organische
Krankheiten begleiten.
398 Exogene Nervenkrankheiten.
9. Paraiysis agitans
(Schüttellähmung. ParMnson's Krankheit).
Die Paraiysis agitans tritt meist nach dem 50., sehr selten vor
dem 40. Jahre auf und hat 2 Hauptsvmptome : Zittern (vgl. S. 112)
und Muskelsteifigkeit (vgl. S. 63). Beide können zugleich vorhanden
sein, oder das eine geht dem anderen voraus. Daneben bestehen
nervöse Beschwerden (Unruhe, Schlaflosigkeit), Gefühl innerer Hitze
und starkes Schwitzen, Beschleunigung des Pulses, Muskelschmerzen.
Die Diagnose ist gewöhnlich leicht. Die Krankheit kann über-
sehen werden, wenn nur die Rigidität vorhanden ist. Sind die Er-
scheinungen, wie oft, halbseitig, so könnte man an eine cerebrale
Hemiparese denken. Doch fehlt die Steigerung der Sehnenreflexe
und die Anamnese ergiebt die eigenthümlich langsame Entwicklung.
Es ist bemerkenswerth, dass das Zittern sich manchmal so ausbreitet
wie die partielle Epilepsie es thut; zuerst zittert nur eine Hand,
dann wird der Fuss der gleichen Seite ergriffen, dann der Fuss der
anderen Seite und endlich die Hand der anderen Seite. Freilich
können Jahre darüber vergehen, aber immerhin deutet ein solcher
Verlauf darauf hin, dass wahrscheinlich feinere Veränderungen der
motorischen Hirnrinde der Schüttellähmung zu Grunde liegen.
Die Hysterie kann das Zittern der Paraiysis agitans nachahmen,
doch handelt es sich dann meist um junge Leute, die Rigidität fehlt,
andere Symptome der Hysterie sind vorhanden.
Mit der multiplen Sklerose kann man die Paraiysis agitans kaum
verwechseln : hier alte, dort junge Patienten, hier normale, dort ge-
steigerte Reflexe, hier Zittern in der Ruhe, das im Beginne absicht-
licher Bewegungen aufhört, dort nur Zittern während absichtlicher
Bewegungen u. s. w. u. s. w.
10. Die primären Degenerationen der motorischen Bahn.
Ist die ganze Bahn von den Centralwindungen oder doch vom
oberen Ende des Rückenmarkes bis zu den Vorderhörnern (einschl.)
erkrankt, so spricht man (im anatomischen Sinne) von a) amyo-
tr optisch er Lateral Sklerose; beschränkt sich die Entartung
auf die Vorderhörner, so besteht bei Beschränkung auf die Vorder-
hörrier im eigentlichen Sinne des Wortes die b) spinale progres-
sive Muskelatrophie; sind die motorischen Kerne der Oblongata
betroffen, die c) progressive Bulbärparalyse. Die 3 Formen
Die primären Degenerationen der motorischen Bahn. 399
sind nicht streng zu trennen, da die beiden letzteren neben einander
bestehen können, bez. c zu b oder b zu c hinzutreten kann und die
Entartung- der Pyramidenbahnen auch da vorhanden sein kann, wo
nach dem klinischen Befunde nur b oder c zu bestehen scheint. Alle
3 Formen sind selten, b und c noch seltener als a.
Gewöhnlich entwickelt sich zuerst langsam fortschreitender, an
den Hand- oder Schultermuskeln beginnender, annähernd symmetri-
scher Muskelschwund mit partieller EaR und fibrillären Zuckungen.
Dabei besteht Steigerung der Sehnenreflexe an Armen und Beinen
und allmählich kommt es zu dem Bilde der spastischen Paraparese.
Schliesslich tritt die progressive Bultärparalyse hinzu und tödtet
den Kranken. Es kann auch von vornherein Bulbärparalyse mit Re-
flexsteigerung (Masseterreflex) auftreten. Sehr selten ist die spastische
Paraparese das Erste. Fehlen die spastischen Symptome, so ist im
klinischen Sinne spinale Muskelatrophie oder Bulbärparalyse anzu-
nehmen, aber es ist damit nicht gesagt, dass die Seitenstränge unver-
sehrt seien. Wahrscheinlich hängt der Grad der spastischen Erschei-
nungen von dem zeitlichen und dem Stärkeverhältnisse zwischen
Vorderhorn- und Seitenstrangerkrankung ab, sodass allerlei Varia-
tionen möglich sind.
Die Unterscheidung von anderen Krankheiten ist nicht schwer,
wenn man aufmerksam ist. Früher diagnosticirte man oft spinale
progressive Muskelatrophie, jetzt weiss man, dass es sich dabei in
der Regel um Dystrophia musc. progr., oder um Gliosis spinalis, oder
um Neuritis gehandelt hat. Ersteren Irrthum verhütet die Kenntniss
der Dystrophie, letztere beide sind nicht möglich, wenn daran fest-
gehalten wird, dass bei der spinalen progressiven Muskelatrophie
alle Störungen der Sensibilität fehlen, und wenn in keinem Falle
die Prüfung der Sensibilität versäumt wird. Die progressive Bulbär-
paralyse kann durch Geschwülste der Oblongata vorgetäuscht wer-
den; zeitweise ist wohl eine Verwechselung möglich, später werden
Druckerscheinungen auftreten und werden auch sensorische Nerven
ergriffen werden. Die „Pseudobulbärparalyse" durch Grosshirnherde
ist nicht zu verkennen, da andere cerebrale Erscheinungen nicht
fehlen, die gelähmten Theile nicht atrophisch werden und ihre nor-
male Erregbarkeit behalten. An die amyotrophische Lateralsklerose
erinnern manche Fälle von Muskelschwund bei allgemeiner chroni-
scher Gelenkerkrankung, weil auch hier die Reflexe gesteigert sein
können. Die Anamnese, der Nachweis der Gelenkerkrankung, die
normale elektrische Erregbarkeit und die Vertheilung des Schwun-
des sichern die Diagnose.
400 Exogene Nervenkrankheiten.
II. Gliosis spinalis
(Gliomatosis, Syringomyelie).
Das Hauptsyinptom der Gliosis spinalis ist die Thernioanalgesie
(vgl. S. 209) als Ausdruck einer Zerstörung der hinteren grauen
Substanz, mit der sich gewöhnlich langsam fortschreitender Muskel-
schwund verbindet, sobald die gliöse Umwandlung die Vorderhörner
erreicht. Gewöhnlich wächst das neugebildete Gewebe von der Um-
gebung des Centralcanales aus zunächst in die Hinterhörner hinein,
dann folgt, in der Eegel weniger ausgedehnt, die Erkrankung der
Vorderhörner und erst spät wird auch die weisse Substanz beschä-
digt, sodass es zu spastischen Erscheinungen an der unteren Körper-
hälfte kommt. In einzelnen Fällen wiegt die Wucherung über den
Zerfall des neugebildeten Gewebes vor, dann können die spastischen
Symptome zusammen mit Wurzelreizsyniptomen sich früh zeigen,
d. h. es kann das Bild eines centralen Tumor im Kückenmarke ent-
stehen. Fast immer geht die Erkrankung vom Halsmarke aus, es
sind also die Arme und die obere Rumpfgegend Sitz der Anästhesie
und des Muskelschwundes. Ausser diesen Hauptzeichen findet man
oft Kyphose der oberen Wirbelsäule und trophische Störungen an
den Armen: Schrunden an den Fingern und der Hand. Panaritien.
Blasenausschläge, Phlegmonen, Arthropathien, Knochenbrüche.
Die Diagnose der Syringomyelie ist gewöhnlich, d. h. wenn sie
im Halsmarke beginnt, leicht, da gar kein anderes Krankheitsbüd
dieselben eigentümlichen Züge trägt (natürlich vorausgesetzt, dass
die Prüfung der Empfindlichkeit nicht vergessen wird). Man könnte
vielleicht an eine Neuritis denken, aber die Form der Anästhesie,
das Verhalten des Muskelschwundes (fibrilläre Zuckungen) und der
überaus langsame, fortschreitende Verlauf sprechen zu deutlich gegen
Neuritis. Kommt es zu wirklicher Geschwulstbildung mit Druck-
erscheinungen, so kämen etwa noch andere centrale Geschwülste des
Halsmarkes in Frage, doch sind solche enorm selten. Die Verwech-
selung mit einer centralen Blutung verhüten die Anamnese und die
Beobachtung des Verlaufes.
Wichtig ist es zu wissen, dass man Gliosis spinalis mit Hysterie
oder mit Tabes zusammen finden kann. Am leichtesten kann dann,
wenn die Symptome wenig ausgeprägt sind, die Gliose übersehen
werden, kann die ihr eigenthümliche Anästhesie als Zeichen der
Hysterie oder der Tabes angesehen werden.
Bei ungewöhnlichem Sitze oder Verlaufe der Gliosis kann die
Acute und chronische Myelitis. — Endogene Nervenkrankheiten. 401
Diagnose sehr schwer sein, doch sind solche Fälle offenbar die Aus-
nahme und auch in ihnen wird früher oder später an der Art der
Anästhesie die Krankheit zu erkennen sein.
12. Acute und chronische Myelitis.
Das Bild der vollständigen oder unvollständigen Querläsion des
Rückenmarkes kann ausser durch Verletzungen, durch Compression
bei Wirbelkrankheiten, durch multiple Sklerose, durch syphilitische
Neubildung u. s. w. auch durch entzündliche Herde, die einer noch
unbekannten Infection ihre Entstehung zu verdanken scheinen, ent-
stehen. Man spricht in solchen Fällen von acuter oder chronischer
Myelitis schlechtweg. Entstellt das Bild der Querläsion acut oder
peracut, so ist die Diagnose nicht schwer, besonders wenn Fieber-
erscheinungen vorhanden sind. Neben der entzündlichen Erweichung
käme nur eine Blutung in Betracht. Ist der Verlauf dagegen von
vornherein chronisch, so ist es viel schwerer, die anderen Möglich-
keiten auszuschliessen und in vielen Fällen ist die Bezeichnung chro-
nische Myelitis nur der Ausdruck für chronisch entstandene Quer-
läsion unbekannter Natur.
II. Endogene Nervenkrankheiten.
I. Nervosität.
(N eurastheni e.)
Es würde zu weit führen, wenn hier alle Symptome der Ner-
vosität besprochen werden sollten. In der Eegel ergeben sich bei
dieser Krankheit keine diagnostischen Schwierigkeiten, aber auf
dreierlei ist die Aufmerksamkeit zu richten, die leichteren Formen
dürfen nicht übersehen werden, die Nervosität darf nicht mit exo-
genen Krankheiten verwechselt werden, sie ist von den Zuständen
schwererer Entartung, soweit es möglich ist, abzugrenzen.
Die Nervosität ist von den Zuständen des gesunden Lebens nicht
von Grund aus verschieden und sie geht unmerklich über theils in
die sogenannten Temperamente, theils in die Erscheinungen physio-
logischer Ermüdung. Absolut normale Menschen treffen wir über-
haupt nicht und alle unter den Bedingungen der Civilisation Leben-
den weichen von vornherein mehr oder weniger von der Norm ab,
d. h. sind entartet. Immerhin haben wir Becht, wenn wir den an-
nähernd normalen Menschen vom Nervösen abscheiden und eine
Mob ins, Diagnostik der Nervenkrankheiten. 2. Aufl. 26
402 Endogene Nervenkrankkeiten.
..physiologische Breite" annehmen. Diese freilich ist nach Stand, Ort
und Zeit verschieden gross und nur der Arzt, der sogenannte „Welt-
und Menschenkenntniss" besitzt, vermag hier richtig zu urtheilen.
Bei den leichten Formen der Nervosität unterscheidet sich der Mensch
in der Ruhe vom Gesunden sehr wenig, aber er reagirt anders als
dieser, sobald grössere Anforderungen an ihn gestellt werden. Es
ist nun sehr wichtig, ehe es zu krankhaften Eeactionen kommt, die
Abweichung von der Norm zu erkennen (bei der Erziehung, der
Berufswahl, vor der Verlobung, im Beginne der verschiedensten
Krankheiten u. s. f.). Die erste Frage ist die nach der neuropathi-
schen Belastung. Es ist ja nicht undenkbar, dass eine günstige Ver-
knüpfung der Keimstoffe die Nachtheile des einen durch die Vor-
züge des andern vollständig ausgleiche, aber man wird nicht fehl
gehen, wenn man in 9 von 10 Fällen annimmt, dass da, wo auch
nur von einer Seite der Mensch erblich belastet ist, eine abnorme
Reaction trotz des Anscheines vollständiger Gesundheit bestehe. So-
dann achte man stets auf die körperlichen „Degenerationzeichen".
Fehlen sie, so ist daraus nicht ohne Weiteres die Gesundheit zu er-
schliessen, sind einige oder mehrere von ihnen vorhanden, so ist,
man mag sagen, was man will, mit grösster Wahrscheinlichkeit eine
mehr oder weniger abnorme Reaction zu erwarten. Es ist einfach
nicht wahr, dass sie auch in der physiologischen Breite vorkommen;
mag ihr Träger sich für ganz gesund halten, der sachverständige
Beobachter wird krankhafte Reactionen finden. Die Prüfung der
Function endlich kann theils durch Beobachtung, theils durch den
Versuch ausgeführt werden. Besonders wichtig sind das geschlecht-
liche Verhalten (hier sind auch geringe Abweichungen bedeutsam),
die Tiefe des Schlafes und das Bedürfniss nach Schlaf, die gemüth-
liche Reaction (Neigung zu Thränen, zu Zorn u. s. w.) , die Ermüd-
barkeit durch körperliche und geistige Anstrengungen (Neigung zu
Kopfschmerzen, rasches Nachlassen der Kraft, aber auch rasche
Erholung), das Verhalten gegen Alkohol. Die experimentelle Prü-
fung hätte sich in erster Linie auf die Ermüdbarkeit zu richten;
leider sind klinisch verwendbare Methoden bis jetzt eigentlich kaum
vorhanden.
Die Verwechselung der Nervosität mit exogenen Krankheiten
ist am leichtesten bei Patienten im Mannesalter möglich. Hier
kommt besonders die Dementia paralytica in Betracht (vgl. S. 388).
In zweiter Linie stehen leichter chronischer Alkoholismus und andere
Vergiftungen, Diabetes. Selten schwankt die Diagnose zwischen Ner-
vosität und Hirntumor oder einer anderen Herderkrankimg. Im
Nervosität. 403
Kindesalter können leichte Formen oder die Anfänge der Chorea hie
und da ScliAvierigkeiten machen. Im Greisenalter kann die Athero-
matose oder vielmehr die von ihr abhängige Gehirnveränderung ein-
fache Nervosität vortäuschen. In allen Fällen ist die Hauptsache
eine möglichst genaue Untersuchung. Findet man Zeichen organi-
scher Erkrankung, so können alle Symptome von dieser abhängen,
es kann aber auch Nervosität neben der organischen Erkrankung
bestehen. Im letzteren Falle darf der Arzt die Nervosität nicht gleich
Null setzen, wie es oft geschieht.
Es ist begreiflich, dass alle möglichen organischen Krankheiten
neben der Nervosität in Frage kommen können. Bei Rückenschmerzen,
Wirbelempfindlichkeit . Müdigkeit der Beine z. B. Krankheiten des
Rückenmarkes, bei Magendarmbeschwerden Krankheiten des Ver-
dauungTohres, bei Augenschmerzen und Augenschwäche Augenkrank-
heiten u. s. f. Indessen entstehen hier kaum ernstliche Schwierig-
keiten, denn die Abwesenheit jeder auf organische Läsion weisenden
Erscheinung einerseits, die eigenthümliche Färbung der Beschwer-
den, ihre Abhängigkeit von seelischen Veränderungen, das Vorhan-
densein charakteristischer Zeichen der Nervosität (Kopfdruck, Kreuz-
beindruck, Angstzustände u. s. w.) andererseits machen fast immer
die Diagnose ziemlich leicht. Am ehesten wird die nervöse Dyspepsie
mit dem ..Magenkatarrh" verwechselt. Man muss festhalten, dass jene
viel, viel häufiger ist, dass sie sich immer mehr oder weniger irratio-
nell verhält (Beschwerden durch leichte, verdauliche Speisen, Gut-
bekommen schwer verdaulicher Sachen, unmotivirter Wechsel der
Erscheinungen, Einfluss der Suggestion, der Gemüthsbewegimgen).
Eine genaue Untersuchung bei Nervosität ist auch deshalb nöthig,
damit leichtere organische Störungen, die neben jener bestehen und
zwar nicht ihre Ursache sind, aber sie verschlimmern und örtliche
Beschwerden hervorrufen können, nicht übersehen werden: Erkran-
kungen der Nasenschleimhaut, der Ohren, der Zähne, der Geschlechts-
theile, Hämorrhoiden. Wanderniere und Anderes.
Bei der Abgrenzung gegen andere endogene Krankheiten kommen
in Betracht Melancholie, leichte maniakalische Erregung, Hypochon-
drie, Hysterie, Da alle Formen mit der Nervosität durch allmäh-
liche Uebergänge verbunden sind, hat die Sache ihre Schwierigkeiten.
Einfache melancholische Verstimmung kann jederzeit während der
Nervosität auftreten, handelt es sich aber um einen Anfall wirklicher
Melancholie, so kann die Entscheidung nur im Anfange schwierig
sein, bald zeigt die atoii äusseren Umständen fast unabhängige, stetig
fortschreitende Verschlimmerung, dass eine schwere Krankheit im
26*
404 Endogene Nervenkrankheiten.
Anzüge ist. Leichte maniakalisehe Zustände sind fast immer Theil-
erscheinung des iutermittirenden Irreseins, nur selten und nur für
kurze Zeit wird einfache nervöse Unruhe diagnostische Schwierig-
keiten machen. Hypochondrische Anwandlungen, ungerechtfertigte
Aengstlichkeit und Schwarzseherei gehören zu den häufigsten Er-
scheinungen bei Nervösen. Von ihnen ist der wirkliche Hypochon-
der unterschieden durch seine Unbelehrbarkeit, dadurch, dass seine
Einbildungen die Charaktere der Wahnvorstellungen zeigen. Ueber
die Beziehungen der Nervosität zur Hysterie ist bei dieser zu reden.
2. Hysterie.
Das Wesen der Hysterie besteht in einem eigenthümlichen Geistes-
zustände, darin, dass seelische Veränderungen, d. h. lust- oder un-
lustvolle Vorstellungen, nicht als Beweggründe, sondern auf einem
den Kranken unbewussten Wege, wie äussere Ursachen tiefgreifende
Veränderungen des körperlichen und des geistigen Zustandes her-
vorrufen können.
Die Hauptveränderung, die durch die seelischen Ursachen ent-
steht, ist die Spaltung des Bewusstseins, die Abtrennung eines Thei-
les der seelischen Vorgänge vom wachen Bewusstsein. Darauf be-
ruhen die Anästhesie, die Amnesie, die Abulie, die Lähmung, die
Contracturen, die Krämpfe der Hysterischen. Gewisse Empfindungen
gelangen nicht zum wachen Bewusstsein, bald werden schmerzhafte
Eeize, oder bestimmte Gerüche nicht wahrgenommen: hysterische
Analgesie, partielle Anosmie, bald sind bestimmte Körperabschnitte
anscheinend unempfindlich: Hemianästhesie , Anästhesie der Glied-
abschnitte im vulgären Sinne des Wortes. Der wache Wille kann
bestimmte Muskeln nicht zur Zusammenziehung bringen: Lähmung,
oder die Muskeln ziehen sich anscheinend von selbst, ohne bewussten
Antrieb zusammen: Krampf, Contractur.
Neben der Spaltung des Bewusstseins ist der Hauptpunkt der,
dass die unbewusst wirkenden seelischen Ursachen viel grössere Ge-
walt über das Körperliche haben, tiefer in die Leiblichkeit hinein-
dringen als bewusste Vorgänge. Nicht nur sind die auf unbewussten
Vorgängen beruhenden Muskelzusammenziehungen stärker und aus-
dauernder als die willkürlichen, sondern es treten auch Symptome
auf, die im normalen Zustande nicht so durch seelische Vorgänge
bewirkt werden: übermässige Absonderung von Schweiss, Harn,
Speichel u. s. w., Versiegen der Absonderungen, Blutungen der Haut
und der Schleimhäute, Oedeme, Veränderungen der Haare, der Nägel
und Anderes.
Hysterie. 405
Endlich ist die Wirkungsweise der seelischen Ursachen eine
doppelte, theils wirken sie nach Art der Gemüthsbewegungen im
normalen Zustande, theils entspricht die Wirkung- dem Inhalte der
ursächlichen Vorstellung1. In jenem Falle unterscheiden sich die Er-
folge von den Wirkungen der normalen Gemüthsbewegungen theils
durch Stärke und Dauer (z. B. andauerndes Zittern durch Schreck),
theils durch ihre Form (d. h. es treten Erfolge ein, die beim Ge-
sunden überhaupt nicht vorkommen, z. B. Hemianästhesie). In die-
sem Falle ruft z. B. die Vorstellung des Schmerzes Schmerzen her-
vor, die Furcht vor Lähmung Lähmung, der Anblick von Krank-
heitserscheinungen Nachahmung dieser Erscheinungen.
Der gerade Weg zur Diagnose der hysterischen Symptome ist
der Nachweis ihrer seelischen Beschaffenheit. Zunächst gilt es, den
seelischen Ursprung, die ursächliche Vorstellung, bezw. Gemüths-
bewegung nachzuweisen. Die Form der Erscheinung selbst lässt
sehr oft die Art erkennen: Widerspruch mit den anatomisch-physio-
logischen Verhältnissen, anscheinend ursachloser Wechsel des Zu-
standes u. A. Genügt die einfache Beobachtung nicht, so führt der
Versuch zum Ziele: seelische Einwirkungen bewirken ein Verschwin-
den oder doch eine Veränderung der Erscheinung und durch geeig-
nete Anordnungen lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Be-
wusstsein und den Sjmiptomen auf verschiedene Weise darthun.
Man trennt die hysterischen Erscheinungen in Hauptsymptome
(Stigmata) und in wechselnde Zufälle und stellt den mehr oder
weniger dauernden Zuständen die Anfälle gegenüber. Die geordnete
LTntersuchung hat zuerst auf Auffindung der Stigmata auszugehen.
Das bei weitem wichtigste Stigma ist die Anästhesie. Ihre
häufigste Form ist die Hemianästhesie. Eine vollkommene Hemi-
anästhesie (vgl. S. 204) kommt nur bei Hysterie vor; es giebt keine
organische Läsion, die sie hervorrufen könnte. Das gleiche gilt von
der vollkommenen allgemeinen Anästhesie (d. h. der doppelten Hemi-
anästhesie). Bei stückweiser Anästhesie ist in der Regel die Begren-
zung charakteristisch. Nicht Nervenbezirke werden unempfindlich,
sondern Stücke des Körpers, die nach der Vorstellung des gewöhn-
lichen Lebens eine Einheit bilden : eine Hand, ein Fuss, ein Arm bis
zur Schulter, ein Knie u. s. f. Während die Nervenbezirke an den
Gliedern Längsstreifen bilden, wird die hysterische Anästhesie von
Linien begrenzt, die senkrecht auf der Längsachse des Gliedes stehen,
als ob dieses bis da- oder dorthin in die Anästhesie eingetaucht wor-
den wäre. Häufig besteht die Anästhesie mit anderen Erscheinungen
zusammen, deckt die Bezirke eines Krampfes, einer Lähmung, einer
406 Endogene Nervenkrankheiten.
Neuralgie u. s. w., immer im Widerspruche zu der anatomischen An-
ordnung".
Die Anästhesie kommt und geht im Anschlüsse an allerhand
Gemüthsbewegimgen (Schrecken u. s. w:), besonders im Anschlüsse
an die Anfälle, Sie ist beeinflussbar durch alles, was den Glauben
weckt, es habe Wirkung, durch die einfache Versicherung, durch
Zaubermittel, durch Suggestion in der Hypnose, durch Elektrisiren,
Magnetisiren , Auflegen von Metallen, Eingeben beliebiger Medica-
mente, Die letztgenannten Mittel hat man als „ästheseogene" be-
zeichnet, als man lernte, dass durch sie ein Ortswechsel der An-
ästhesie (bei halbseitiger Anästhesie eine Verschiebung von rechts
nach links und umgekehrt, d. h. Transfert) bewirkt werden könne.
Die hysterische Anästhesie kann vollständig oder irgend eine
Theilanästhesie (Analgesie , Thermoanästhesie u. s. w.) sein. Oft ist
sie in dem Sinne eine systematisirte , dass irgend eine Gruppe von
Beizen noch Empfindung bewirkt, die nur durch ein seelisches Band
zusammengehalten wird.
Auch vollständige Anästhesie stört die Hysterischen nicht in
ihren Verrichtungen, ja sie kommt ihnen in der Regel gar nicht zum
Bewusstsein , sodass erst der Arzt sie findet, ein Verhalten, das in
scharfem Widerspruche zu der organischen, überaus lästigen und
störenden Anästhesie steht und dessen Ursache der Umstand ist,
dass die scheinbar wirkungslosen Eeize unbewussterweise doch wahr-
genommen und verwerthet werden. Weil die Kranken es zwar nicht
wissen, aber doch fühlen, verhält sich die hysterische Anästhesie so,
als ob sie simulirt wäre. Alle die Mittel, die zur „Entlarvung" von
Simulanten ersonnen worden sind, taugen dazu nicht viel, sind aber
brauchbar, um zwischen hysterischer und organischer. Anästhesie zu
entscheiden.
Es muss jedoch erwähnt werden, dass zuweilen die der An-
ästhesie zu Grunde liegenden seelischen Veränderungen tiefer als
sonst in das Unbewusste hineinreichen. Dann bemerken die Kran-
ken selbst ihre Unempfindlichkeit, diese widersteht den ästheseogenen
Einwirkungen und die unbewusste Verwerthung der die empfindungs-
losen Theile treffenden Reize wird unvollständig.
Die Kennzeichen der Hautanästhesie gelten auch von den Sinnes-
organen. Der Kranke mit stärkster Einschränkung der Gesichtfelder
geht herum, als ob ihm nichts fehlte, und der mit einseitiger Amau-
rose wird durch Anwendung des Stereoskopes „entlarvt". Der Ge-
schmacklose schmeckt etwa nichts ausser Zwiebeln, der Schwerhörige
vernimmt ein leises Ticken, wenn es ein verabredetes Zeichen ist u. s.f.
Hysterie. 407
Ueberall und in jeder Weise kann die Anästhesie durch Hyper-
ästhesie vertreten werden und was von jener gilt, gilt auch von dieser.
M. m. kann das von der Anästhesie Gesagte auch auf die
hysterische Lähmung übertragen werden. Ihre Kennzeichen sind
schon früher besprochen worden (vgl. S. 97).
Die örtlichen Krämpfe bei Hysterischen werden kaum mit Kräm-
pfen, die auf organischen Läsionen beruhen, verwechselt werden, da-
gegen ist es zuweilen schwer, sie gegen die sog. Tics bei Entarteten
abzugrenzen. In beiden Fällen handelt es sich um abnorme Be-
wegungen seelischen Ursprungs, um unwillkürliche Nachahmungen
von Willkürbewegungen. Während aber hysterische Spasmen meist
neben anderen Hysterie-Symptomen oder doch mit ihnen wechselnd
vorkommen, bestehen die Tics allein neben den seelischen Abwei-
chungen und während jene der Suggestion mehr oder weniger zu-
gänglich sind, schlägt hier jeder Versuch der Beeinflussung fehl,
können die abnormen Bewegungen unverändert während des ganzen
Lebens andauern.
Die hysterische Amnesie kann mit der epileptischen verwech-
selt werden. Bei dieser scheinen in der That gar keine Erinnerungen
vorhanden zu sein, bei jener sind die Erinnerungen da, können nur
vom Bewusstsein nicht ergriffen werden, kehren im Schlafe oder im
hypnotischen Zustande zurück. Meist tritt die Amnesie bei einem
Anfalle auf, sie ist dann oft retrograd, d. h. nicht nur der Anfall,
sondern auch eine kürzere oder längere Zeit vor ihm wird vergessen.
Selten sind die sog. System atisirten Amnesien, d. h. die, bei denen
der Kranke nur bestimmte Classen von Erinnerungen, etwa eine
fremde Sprache oder alles, was mit einer bestimmten Person zu-
sammenhängt, vergisst.
Auch die hysterische Abulie ist nur scheinbar, nur die Willkür
ist gehemmt. Die Abulie ist im Psychischen das, was im Aeussern
die hysterische Lähmung ist.
Die Zahl der anderweiten Hysterie-Symptome ist Legion. Man
kann sie in solche trennen, die sozusagen offenkundig hysterisch sind
(z. B. die Astasie -Abasie, die Stummheit, das Bellen, das Hunde-
Athmen u. s. w.), bei denen also ihre blosse Kenntniss, bez. die des
Begriffes der Hysterie zur Diagnose ausreicht, und solche, die eine
Nachahmung organisch bedingter Sjonptome darstellen, bei denen
also eine Verwechselung möglich ist (hysterische Neuralgieen, hyste-
risches Zittern, Oedem, Erbrechen u. s. f.). Zunächst ist es rathsam,
da, wo die Sache nicht von vornherein klar ist, immer an die Mög-
lichkeit der Hysterie zu denken. Geschieht dies, so wird man ge-
408 Endogene Nervenkrankheiten.
gebenen Falles auf Grund der oben dargelegten Grundsätze immer
den rechten Weg finden können, da die Anamnese und kleine Züge
im Symptomenbilde auf die seelische Natur der Erscheinungen hin-
deuten, der Versuch ausführbar ist, anderweite Zeichen der Hysterie
selten fehlen. Auf den letzten Umstand allein darf man sich freilich
nicht verlassen, denn zuweilen, besonders bei Kindern, tritt die Hy-
sterie monosymptomatisch auf.
Die hysterischen Anfälle endlich (vgl. S. 121) sind selten ein
Hinderniss der Diagnose, erleichtern diese vielmehr. Nur dann,
wenn sie mehr oder weniger den epileptischen Anfällen gleichen,
können Schwierigkeiten entstehen (s. weiter unten).
Ist die hysterische Natur dieser oder jener Erscheinungen nach-
gewiesen, so ist damit nicht gesagt, dass nur Hysterie bestehe. Stets
ist eine genaue Untersuchung nöthig, damit nicht Zeichen einer
organischen Läsion neben der Hysterie übersehen werden. Dies be-
sonders deshalb, weil organische Läsionen (allerhand Verletzungen,
Krankheiten des Nervensystems, gewerbliche und andere Vergif-
tungen) zu den häufigsten Gelegenheitursachen hysterischer Zufälle
gehören. Inwieweit die Hysterie mit organischen Nervenkrankheiten
verwechselt werden kann, ist bei Besprechung dieser schon erwähnt
worden.
Eine scharfe Abgrenzung der Hysterie gegen die Nervosität ist
nicht durchzuführen. Wohl giebt es Formen der Nervosität ohne
Hysterie, doch kaum Hysterische ohne Zeichen der Nervosität, Letz-
tere ist eben der allgemeinere Begriff. Man wird dann von Hysterie
sprechen, wenn ihre Symptome im Vordergrunde stehen, und wird
es auch dann mit Eecht thun, wenn ausser den hysterischen Haupt-
symptomen hypochondrische, neurasthenische Symptome in grösserer
oder geringerer Zahl vorhanden sind.
Schliesslich hat man sich vor der voreiligen Annahme von Simu-
lation zu hüten. Es ist schon erwähnt worden, dass viele hysterische
Symptome sich der Natur der Sache nach so verhalten, als ob sie
simulirt wären. Dazu kommt, dass manche Hysterische gemäss der
ihnen eigenen Geistesbeschaffenheit halb unwillkürlich zu ihren Sym-
ptomen neue hinzufügen, also simuliren, etwa bei Analgesie sich Ver-
brennungen oder andere Verletzungen beibringen und als von selbst
entstanden bezeichnen, oder doch die vorhandenen Störungen über-
treiben. Die Erkenntniss der thatsächlich sehr seltenen reinen Simu-
lation kann sich nur auf die Erfassung des Bildes im Ganzen und
psychologische Erwägungen gründen. Erleichtert wird die Sache
dadurch, dass viele hysterische Symptome überhaupt nicht willkür-
Epilepsie. 409
lieh simulirbar sind, dass andere nur von Kennern der Hysterie
nachgeahmt werden können. Auf jeden Fall ist eine recht genaue
Kenntniss der Hysterie von Seiten des Arztes das beste Mittel gegen
»Simulation.
3. Die Epilepsie.
(Fallsucht, haut mal, morbus sacer.)
Epileptische Krämpfe treten auf, sobald ein starker Reiz auf
die Grosshirnrinde einwirkt ; wir finden sie bei den verschiedensten
Gehirnerkrankungen (Encephalitis, Gehirngeschwülsten, progressiver
Paralyse u. s. f.) , nach verschiedenen Vergiftungen (durch Schnaps,
besonders Absynth, Harnvergiftung u. s. f.), sie können durch mecha-
nische, chemische, elektrische Reizung der Centralwindungen absicht-
lich hervorgerufen werden. Von der Krankheit Epilepsie sprechen
wir aber nur dann, wenn die Anfälle allein vorhanden sind, eine
der sonst bekannten Gehirnkrankheiten nicht anzunehmen ist. Man
rechnet die Epilepsie zu den auf angeborener Anlage beruhenden
Krankheiten. Thatsachen sind, dass sie meist in der Kindheit oder
Jugend beginnt, dass sehr oft Verwandte der Kranken ebenfalls an
Epilepsie oder an irgend einer Form der Entartung leiden, dass sehr
oft sie selbst körperliche oder geistige Zeichen der Entartung tragen.
Andererseits ist es wohl möglich, dass ein mehr oder weniger be-
trächtlicher Theil der Fälle von Epilepsie auf Infection beruht, der-
art, dass der Epilepsie eine infectiöse Gehirnerkrankung voraus-
gegangen ist, die einen symptomlosen Herd oder überhaupt keinen
groben Herd hinterlassen hat. Abgesehen von den Erkrankungen
des Gehirnes im Kindesalter kommt die Syphilis in Betracht, die
nicht nur durch Gefässerkrankung und Gummibildung epileptische
Anfälle hervorrufen kann, sondern auch als metasyphilitische Er-
krankung eine der gewöhnlichen Epilepsie ganz gleiche Form be-
wirken zu können scheint.
Die Aeusserungen der Epilepsie sind die Krampfanfälle und
geistige Störungen, die theils im Anschlüsse an Krämpfe oder als
Vertreter solcher auftreten, theils für sich bestehen.
Der epileptische Krampfanfall als Zeichen der Krankheit Epi-
lepsie kann verwechselt werden mit Krämpfen bei grober Gehirn-
krankheit, mit toxischen Krämpfen und mit hysterischen Krämpfen.
Die Krämpfe bei Herderkrankungen sind fast immer halbseitig, oder
beginnen doch halbseitig. Ist die Sache nicht von vornherein klar,
so achte man auf die Art der Aura, wenn diese etwa in einer Hand,
einem Fusse auftritt, so handelt es sich wahrscheinlich um eine ort-
410 Endogene Nervenkrankheiten.
liehe Gehirnerkrankung. Ist eine solche vorhanden, so werden durch
genaue Anamnese und Untersuchung fast immer auch anderweite
cerebrale Symptome sich nachweisen lassen: Monoparesen bei alten
Herden , Veränderungen des Augenhintergrundes , Klopfempfindlich-
keit des Schädels, Kopfschmerzen und Erbrechen bei Tumoren. Den
Aniällen der sog. „genuinen" Epilepsie können die toxischen und
die metasyphilitischen Krampfanfälle vollständig gleichen. Wenn bei
einem erblich nicht Belasteten im Mannesalter ohne nachweisbare
Ursache Krampfanfälle auftreten, so versuche man mit allen Mitteln
der Untersuchung und der Anamnese die Ursache zu erkennen, be-
ruhige sich nicht gleich mit der Diagnose Epilepsie. Liegt eine Ver-
giftung (Urämie, Saturnismus, Schnapsvergiftung u. s. f.) vor, so kann
möglicherweise dem Kranken geholfen werden, wenn es gelingt, die
Ursache der Krämpfe zu beseitigen. Handelt es sich um progressive
Paralyse, so ist die frühzeitige Diagnose aus verschiedenen Gründen
wichtig. Der selbständigen metasyphilitischen Epilepsie gegenüber
fallen freilich, ebenso wie bei der auf alten Hirnherden beruhenden
Epilepsie, diese praktischen Antriebe zur Unterscheidung von der
„genuinen" Epilepsie weg, da in prognostischer und therapeutischer
Hinsicht kaum Unterschiede bestehen.
Die Unterscheidung zwischen Epilepsie und Hysterie ist ge-
wöhnlich leicht, da in der Mehrzahl der Fälle der hysterische An-
fall gar nicht zu verkennen ist (vgl. S. 121). Schwierigkeiten können
entstehen, wenn man auf die Anamnese allein angewiesen ist, und
in den nicht gerade häufigen, aber doch auch nicht übermässig
seltenen Fällen, in denen der hysterische Anfall eine getreue Nach-
ahmung des epileptischen ist. Das Erste ist immer der Nachweis
anderweiter Hysterie -Symptome. Nun kann es zwar vorkommen,
dass ein Hysterischer auch an Epilepsie leidet, aber dieses Zusam-
mentreffen ist doch eine Ausnahme und fast immer wird man mit
Eecht aus der hysterischen Art anderer Erscheinungen auf die auch
der Krämpfe schliessen. Mit Nachdruck muss betont werden, dass
es Zwischenformen, Uebergänge von der Hysterie zur Epilepsie nicht
giebt (Hystero-Epilepsie ist ein unpassender Wärterausdruck für
schwere Hj^sterie, den man gar nicht brauchen sollte). Zuweilen
kann man die Thatsache, dass nach epileptischen Anfällen vorüber-
gehende Albuminurie auftritt, zur Unterscheidung benutzen. Giebt
die Schilderung des Anfalles oder gar sein Anblick keinen Aufschluss,
fehlen Stigmata der Hysterie, so kann man die Hypnose als diagno-
stisches Mittel anwenden. Der leicht hypnotisirte Hysterische be-
nimmt sich oft im hypnotischen Zustande so eigenthümlich , dass
Epilepsie. 411
seine Art unverkennbar ist. Ein anderes Mittel ist die Anwen-
dung- des Bromkalium , denn dieses wirkt mit so grosser Sicherheit
hemmend auf epileptische Anfälle, dass seine Wirkungslosigkeit für
die hysterische Natur der Anfälle spricht.
Treten nur in der Nacht epileptische Anfälle auf, so können
sie leicht ganz übersehen werden, da viele Kranke früh nichts mehr
davon wissen ; besonders bei einer gelegentlich auftretenden Enuresis
nocturna, bei in der Frühe bemerkten Bindehaut-Ekchymosen muss
man daran denken, dass nächtliche Krampfanfälle vorausgegangen
sein können.
Viel häufiger als die Krampfanfälle geben die seelischen Stö-
rungen bei Epilepsie Anlass zu diagnostischen Bedenken. Die ein-
fachen kurzen Bewusstseinspausen des petit mal, in denen sich der
Kranke wie ein Träumender oder ein Schlafender verhält, können
nur mit hysterischen Zuständen verwechselt werden und müssen von
diesen durch die eben angegebenen Mittel unterschieden werden.
Schwieriger ist die Entscheidung bei den seltenen durch längere
Zeit andauernden Dämmerzuständen. Sieht man den Kranken zum
ersten Male in einem solchen Zustande, so kann es unmöglich sein,
zwischen hysterischem und epileptischem Somnambulismus, Trance
oder wie man diese Dinge sonst nennen will, zu unterscheiden. Auch
die eigentlich deliriösen Zustände können bei beiden Krankheiten sich
sehr ähnlich sein. Gewöhnlich allerdings sind dem Epileptischen
tiefere Benommenheit, grössere Angst und viel rücksichtloseres
Beagiren auf die schreckhaften Sinnestäuschungen eigen, während
im hysterischen Delirium das Ganze mehr theatralischen Anstrich
hat, die peinlichen Affecte von heiteren Erinnerungen abgelöst
werden, ernsthafte brutale Handlungen selten vorkommen und Sug-
gestionen wenigstens zum Theil angenommen werden.
Mit der Zeit werden die Epileptischen in der Regel schwach-
sinnig. Meist bestehen die Anfälle fort und zeigen ohne Weiteres
auf die Natur des Zustandes. Doch kommen auch lange anfällfreie
Zeiten vor und bei mangelhafter Anamnese ist man dann darauf an-
gewiesen, den Zustand für sich zu beurtheilen. Gewöhnlich sind die
Kranken sehr reizbar und heftig, vertragen Alkohol nicht, sie neigen
zu Frömmelei und gespreiztem "Wesen, sind wortreich und .suchen
ihre geistige Schwäche zu verdecken. Schwankt die Diagnose zwi-
schen Hysterie und Epilepsie, so spricht Schwachsinn für diese.
Sehr häufig wird die epileptische Geistesstörung mit einfacher
Betrunkenheit oder mit blossen Charakterfehlern verwechselt, hört
man von unbegründeten Wuthanfällen, von sinnlosen Entweichun^en,
412 Endogene Nervenkrankheiten.
von rücksichtlosen Verletzungen der Schadhaftigkeit imdAehnlichein,
so denke man an die Möglichkeit der Epilepsie. Die epileptische
Amnesie, die nach anfallweise auftretenden Störungen folgt, -wird
oft für freches Leugnen gehalten. Sie ist diagnostisch von grossem
Werthe, aber man darf auch nicht vergessen, dass sie nicht immer
vollständig ist, dass besonders in der ersten Zeit nach dem Aufalle
die Erinnerung leidlich erhalten sein kann und dass bei den Hand-
lungen, die nur in der dauernden epileptischen Geistesstörung ihre
Erklärung finden, überhaupt keine Amnesie besteht.
4. Migräne (vgl. S. 221).
Die Krankheit Migräne besteht ausschliesslich aus den Migräne-
anfallen. Sie beruht fast stets auf gleichartiger Vererbung, ent-
wickelt sich in der Kindheit oder Jugend. Sie kann verwechselt
werden mit den seltenen Migräneanfällen, die als Symptom der pro-
gressiven Paralyse oder einer Herderkrankimg des Gehirns auftreten,
mit hysterischen Kopfschmerzen, die sozusagen die Migräne nach-
ahmen können, mit anderweiten Kopfschmerzen bei Nervösen, bei
Nasenkranken, durch Vergiftungen, mit Glaukomanfällen. Diagno-
stische Schwierigkeiten entstehen, wenn wirkliche Migräneanfälle als
Zeichen einer anderen Krankheit auftreten, oder wemi bei wirklicher
Migräne die Anfälle so verwischt sind, dass sie schwer erkannt wer-
den. In jenem Falle müssen das Fehlen ererbter Anlage, der Be-
ginn im reifen Alter, das Bestehen anderer SjTnptome bedenklich
machen, in diesem sind das Vorkommen von Kopfschmerzen bei den
Eltern, in der Jugend, das Bestehen von Erbrechen oder doch von
Febelkeit neben den Schmerzen, das Fehlen sonstiger Symptome zu
betonen. Nicht selten kann man Medicamente als Keagentien ver-
wenden: Jodkalium wirkt bei Syphilis und bei Xasenkrankkeiten.
Abführmittel wirken bei Obstipation, die Migränemittel (salicylsaures
Natron, Antipyrin , Antifebrin u. s. w.) bei wirklicher Migräne . bei
Hysterie wirkt oft gar kein Medicament.
5. Chorea chronica
(Chorea hereditaria, Chorea Huntington^).
Die Diagnose hat sich auf den Nachweis der Vererbung, auf
den Beginn im reifen Alter, auf das Vorkommen geistiger Störungen,
' auf das Fehlen von Rheumatismus und Herzerkrankimg, von hyste-
rischen Symptomen zu gründen.
Der Chorea chronica nahe verwandt sind die auf Entartung
Die Thomseifsche Krankheit. — Die Dystrophia musculorum progressiva. 413
beruhenden chronischen unwillkürlichen Bewegungen, die als selb-
ständige Athetose, als Myoclonie, als Ticbewegungen bezeichnet wer-
den. Am seltensten kommen die Athetosebewegungen als Symptom
der Degeneration vor. Von Myoclonie oder Paramyoclonus spricht
man, wenn die Muskeln bald da, bald dort blitzartig zucken. Die
Ticbewegungen sind gleichmässig wiederkehrende, sozusagen ent-
sprungene Willkürbewegungen (Grimassiren, Schütteln des Kopfes.
einer Hand u. s. f.). Die Form der Bewegung ist nicht die Haupt-
sache, sondern die oben bei Chorea chronica betonten Umstände der
Vererbung und der Verknüpfung mit seelischen Abweichungen sind es.
6. Die Thomsen'sche Krankheit oder Myotonia congenita
ist durch die myotonische Eeaction (vgl. S. 165) so gut gekennzeich-
net, dass sie bei genügender Aufmerksamkeit gar nicht verkannt
werden kann. Man muss nur im gegebenen Falle an sie denken,
damit die Kranken nicht als Simulanten behandelt werden.
7. Die Dystrophia musculorum progressiva
oder der auf angeborener Anlage beruhende primäre Muskelschwund
kann nur mit anderen Formen des Muskelschwundes verwechselt
werden. Bedenkt man, dass alle sensorischen Störungen fehlen, so
kommen zunächst nur die auf die Vorderhörner beschränkten Kücken-
markerkrankungen in Frage. Die Unterscheidung ist schon früher
(S. 59) besprochen worden: das familiäre Auftreten, das gewöhn-
lich jugendliche Alter, die Localisation des Schwundes, seine Ver-
bindung mit H3rpertrophie, das fast ausnahmelose Fehlen der flbril-
lären Zuckungen und der Entartungsreaction sind die Umstände,
die für primären Muskelschwund sprechen. Dass die seltenen Fälle.
in denen neben dem primären Muskelschwunde eine (wahrscheinlich
secundäre) Atrophie der nervösen Bahnen gefunden worden ist, nicht
von den übrigen Fällen, wohl aber von denen zu trennen sind, in
denen die Symptome auf die primäre Nervenerkrankung deuten, das
ist auch erwähnt worden.
In neuerer Zeit hat man auch familiäre Formen des Muskel-
schwundes kennen gelernt, bei denen offenbar nervöse Theile zuerst
erkranken. Die häufigste dieser seltenen Formen hat man als neu-
rotische oder neurale Muskelatrophie bezeichnet. Mehrere
Geschwister leiden an Muskelschwund der Endglieder, der sich lang-
sam centripetal ausbreitet ; die kranken Muskeln zeigen Entartungs-
reaction; es bestehen daneben Schmerzen, Parästhesieen, Hyp-
ästhesie.
414 Endogene Nervenkrankheiten. Die Friedreicliiselie Krankheit.
Noch seltener scheinen die Fälle zu sein, in denen sich eine
chronische Vorderhornentartung oder Bulbärparalyse bei mehreren
Familiengliedern im jugendlichen Alter entwickelt. Die Diagnose
müsste sich zuerst auf die "Wiederholung der Krankheit in der Fa-
milie gründen.
8. Die Friedreichische Krankheit oder hereditäre Ataxie
ist ebenfalls eine Faniilienkrankheit. Die Kinder erkranken mit
Ataxie der Beine, dann der Arme. Dazu treten Nystagmus, stockende
undeutliche Sprache, die Sehnenreflexe schwinden ; Anästhesie kommt
erst spät dazu, Skoliose entwickelt sich oft, Schmerzen. Pupillen-
starre. Bla seiist örung fehlen.
Es kommen verschiedene Formen, die offenbar mit Friedreich's
Krankheit nahe verwandt sind, vor. Bald erinnert das Bild an das
der multiplen Sclerose, bald sind es ganz eigenartige Symptomen-
Gruppirungen.
Endlich ist die auf einer primären Entartung der Pyramiden-
bahnen beruhende chronische r eines pastischeSp in allähmung,
die einige Male als Familienkrankheit beobachtet worden ist, hier
zu nennen.
Immer hat sich bei diesen seltenen Formen die Diagnose auf
die Wiederholung in der Familie und die frühe, anscheinend ursach-
lose Entwicklung der Krankkeit zu stützen. Mögen die anatomischen
Bilder verschieden sein, chronischer Verlauf und TTnheilbarkeit sind
immer vorhanden.
REGISTER.
A b d u c e n s (nerv) 1 ä s i o n , Functions-
störungen durcli solche 337. 364. — ,
Kernläsion 64.
Abulie, hysterische 407.
Achillessehnen!' efl ex, Prüfung
dess. 137. — , gesteigerter 138. — bei
Querläsion des Lendenmarkes 92. — ,
Reflexbogen dess. 93.
Acusticusläsion, Diagnose ders. 177.
— , electrische Untersuchung bei ders.
ISO. — , Functionsstörungen durch dies.
339.
Adductoren des Oberschenkels, Con-
tractur ders. 321. — , Lähmung ders.
320.
Aesthesiometer zur Messung der
Tastempfindlichkeit bei Kranken 186.
Aetiologie der Nervenkrankheiten 5.
Ageusis, Diagnose ders. 183. — Lo-
calisation ders. 184. 339. — , totale,
incomplete 184.
A g r a m m a t i s m u s Nervenkranker, Un-
tersuchung auf solchen 39. 46. — , Vor-
kommen dess. bei progressiver Para-
lyse 45.
Agraphie 34. — , isolirte 38.
Akataphasie, Prüfung auf solche 46.
Akinesia algera 219.
Akinesis, Charakteristicum derselben
66.
Alalie Nervenkranker 34. 49.
Albuminurie nach epileptischen An-
iällen 410. — durch Läsionen des Ner-
vensystems 241.
Alexie, Untersuchung auf solche 40.
Algesimeter 188.
Alkoholismus, Diagnose dess. 379.
— , Symptome dess.: Amblyopie mit
centralen Scotomen 173, Bewusstseins-
störungen 24, epileptische Anfälle 126,
Neuritis 211. 213. 353. 379, Tremor
109. 115.
Allocheirie, Wesen ders. 194. 199.
Amaurose, anfallsweise auftretende,
vorübergehende doppelseitige 173. — ,
doppelseitige mit Pupillenstarre 175.
— durcli Stauungspapille 169. 170. — ,
Untersuchung auf solche 167 , elek-
trische 168.
Amblyopie, einseitige und doppelsei-
tige und deren Localisation 173. — ,
hysterische 172. 204. 205. — durch
Stauungspapille 169. — , toxische 173.
— , Untersuchung auf solche 167, elek-
trische 168.
Amnesie 23. — , epileptische 412. — ,
hysterische 407. — , Unterscheidung
ders. von Paraphasie 42.
Amyotrophie, spinale, Diagnose ders.
59.
A n ämie , nervöse Symptome ders. : Dreh-
schwindel 29, Kopfschmerz 223, Ohr-
geräusche 179. — , locale der Haut
durch Gefässlähmung 230.
Anästhesie 198. — , Ausdehnung ders.
201. — , Bewegungsstörungen bei ders.
103 (Unterscheidung dieser von Läh-
mung) 69. — , cerebrale 200. 202. 207.
— , dolorosa 199. 200. — , Ernährungs-
störungen der Haut bei ders. 201. — ,
fleckweise, diffuse 202. — der Genita-
lien 244.245. — des Geschmacksorgans
183. — , Grade ders. 199. — , hyste-
rische (functionelle) und deren Unter-
scheidung von organischer 204. — ,
organische 207. — des Olfactorius 181.
— , peripherische 200. 210. — , Reflexe
bei ders. 201. — der Retina 172. — ,
spinale 92. 93. 200. 202. 203. 207. 209.
357. — , totale 203. 204. — , Unter-
scheidung ders. nach dem Sitze und
der Ausbreitung 199. — in Verbindung
mit Lähmung 79. 201 (Brown-Sequard-
scher) 85. 89. 202. 208 (corticaler) 87.
95. 203 (functioneller) 98, mit Para-
plegie 91.
Analgesie der Haut 183. — bei Glio-
matosis spinal. 209. — . Relation ders.
zur Tastsinnlähmung 199. — bei Tabes
210. — in Verbindung mit Anästhesie
416
Register.
200. mit Thermoanästhesie bei Läsion
der grauen Substanz des Rückenmarks
360.
Anamnese Nervenkranker 3. — durch
Aufnahme der Geschichte des Kran-
ken 4. — , Bedeutung der einzelnen
anamnestischen Feststellungen 8. —
durch Erforschung der Familienge-
schichte 3. — , Schwierigkeiten bei der
Aufnahme ders. 5.
Anarthrie 34.48. — aphatica 34. — ,
centrale Läsion bei ders. 52. 85.
Aneurysmen, Veranlassung zu ner-
vösen Störungen 381.
Angina pectoris, diagnostische Ver- '
werthung ders. bei Nervenkranken 237.
382.
Anorexia nervosa 239.
Anosmie-, Diagnose ders. 181. — , cen-
trale, einseitige, doppelseitige 181. — ,
Localisation ders. 332. — , senile 182.
Anurie Hysterischer 241.
A phasie 34. — mit Agraphie 37, ohne
Agraphie 38. — , Broca'sche (ataktische
oder motorische) 37. — , eigentliche 36.
— Hemiplegischer 82. — , Intellect bei
ders. 43. — , Localisation ders. 50. 51.
370. — bei progressiver Paralyse 30.
— , sensorische 40. 42. — , totale 42.
— in Verbindung mit Paragraphie 38.
45, mit Worttaubheit 42.
Aphrasia paranoica, Unterschei-
dung ders. von Aphasie 47.
Aphthongie, diagnostische Merkmale
ders. 48.
Apo piektisch er Anfall (Insult), Art
und Ort der Hirnläsion bei dems. 26.
— , Entstehung und Erscheinungen
dess. 25. 372. — bei Kindern 27. — ,
langsamer 26. — , Vorläufersymptome
dess. 26 : Ohnmachtsanwandlungen 29,
Ohrensausen mit Kopfschmerzen 179.
— , Ursachen dess. 27.
Apraxia Nervenkranker 40. — algera
219.
Apselaphesie, Charakteristicum der s .
199.
Are de cercle Hysterischer 121. 122.
A r m m u s c u 1 a t u r , Bewegungsstörun-
gen ders. 290. 304.
A r s e n i k n e u r i t i s , diagnostische
Kennzeichen ders. 211. 355. 378.
Arthritis deformans der Gelenke,
neuritische Symptome ders. 234. — der
Wirbelsäule, Schmerzsymptome ders.
339.
A r t h r o g r y p o s i s , Vorkommen ders .
128.
Arthropathie, tabische 233. 234.
Astasie-Abasie Hysterischer 99. 407.
Asthenopie Hysterischer 172.
Asthma bronchiale, Relation dess.
zu nervösen Störungen 235.
Ataxie der Augenmuskeln 253. — der
Beine 101. — , bulbäre 105. — , cere-
bellare 29. 105. 106. — , Charakteristica
ders. 101. — , corticale 105. — , Dia-
gnose ders. 104. 106. 414. — , echte
101. — , Entstehung ders. 105. — der
Hände 101. — , hereditäre 414, s. auch
Friedreichische Krankheit. — an Kopf,
Hals und Rumpf 102. — , Localisation
ders. 365. 366. — , locomotorische 103.
— , Mitbewegungen bei ders. 129. —
Paralytischer 30. 31. 106. 107. — , pe-
ripherische 105. — , spinale 105. — ,
statische 103. — , Unterscheidung ders.
von Parese 69, von Tremor 110. — ,
Untersuchung auf solche 100. 101. — ,
Vorkommen ders. 105.
Äther omatose, Ursache von nervösen
Störungen 235. 381. — derHirngefässe,
Ursache von apoplektischen Insulten
27 , von Herderkrankungen des Ge-
hirns 235.
Athetosis 130. — , Entstehung und
Vorkommen ders. 132.
Athmungsmuskeln, Krampf u. Läh-
mung ders. 279 — 285. — , Localisation
der Lähmung ders. 94. 358.
Atrophie s. Muskelatrophie.
Atrypsia nervosa bei Melancholi-
schen und Neurasthenischen 240.
Auge, Bewegungsstörungen dess. 249.
259. — , Prüfung der reflektorischen
Erregbarkeit dess. 132. — , Unter-
suchung dess. bei Nervenkranken 166,
auf Bildungsfehler 246. — , Verhal-
ten dess. bei abnormem Seelenzustand
17.
Augenlider, Bewegungsstörungen
ders. bei Krampf und Lähmung der
Musculatur ders. 249. 250.
Augenmukelkrämpfe (der äusseren
Augenmuskeln) 253 (der inneren) 253.
256.
A u g e n m u s k e 1 1 ä h m u n g e n (der
äusseren Augenmuskeln) 249 (der inne-
ren) 253. — , conjugirte (assoeiirte) 250.
— , Diagnose der Lähmung der äusse-
ren 252. — , Kopfhaltung bei dens. 253.
— , Localisation ders. 365. — bei pro-
gressiver Paralyse 30. — bei Tabes
386. — , rheumatische 392. — , Schwin-
delgefühl bei dens. 28. 253.
A u s d r u c k s f ä h i g k e i t Nervenkranker ,
■ Prüfung der bildlichen 19. 33, der
schriftlichen 19. 33, der musikalischen
33, der sprachlichen 18. 32. 33. 34.
Autophonie, Entstehung ders. 258.
Axillar islähmung 342. — , rheuma-
tische 392.
Register.
417
B ar ä s i h esiomet e r zur Messung der
Druckempfindlichkeit der Haut 187.
Baralgesimeter zur Druckschmerz-
messung lsv
Battarismus der Sprache nervös Er-
regter und dessen Unterscheidung von
Logorrhoe 47.
.1 ! a u c h ni u s k e 1 n , Krampf ders. 285. — ,
Lähmung ders. 277. 278. 2*4.
] 5 a u c h r e i'l e x , diagnostische Bedeutung
dess. 144. — , Entstehung dess. durch
Querläsion des Bückenmarks 93. — ,
Prüfung dess. 133.
B e c k enm uske In , Prüfung ders. auf
ihre Functionsfähigkeit 285. 286.
Bei n m u s c u 1 a t u r , Functionsprüfung
ders. 31(5—331.
Benommenheit, geistige 22. — durch
Intoxication 24.
B e r ü h r u n g s e m p f i n d 1 i c h k e i t der
Haut, extensive 193.
Beschäftigung, Einfluss ders. auf die
Entstehung von Nervenkrankh. 9. 10.
Beweglichkeitsdefecte der Arm-
muskeln 290. 304. — der Augenmus-
keln 251. 252. 257. — der Bauchmus-
keln 277. 284. 285. — der Beinmus-
keln 316. 321. 323. 330. — der Bla-
senmuskeln 2S9. — der Brustmuskeln
280. 281. 294. 296. 302. — der Damm-
muskeln 2S6. — der Eingeweidemus-
keln 287. — des Gaumens 267. — der
Halsmuskeln 273. — der Kaumuskeln
263. — des Kehlkopfs 273. — der
mimischen Gesichtsmuskeln 259. — der
Ohrmuskein 258. 262. — des Rachens
269. — der Zunge 264.
Bewegungsapparat, Untersuchung
dess. bei Nervenkranken 53: Methoden
54, der Motilität 65, der Muskelbe-
schaffenheit 54. 60, der Nervenbe-
schaffenheit 59.
B e vf e g u n g s c e n t r e n der Gehirnrinde ,
Läsion ders. u. deren Erscheinungen
369.
B e w e g u ngsempfind u n g , Prüfung
ders. bei Nervenkranken 195. 196.
B e w e g u n g s av e i s e Nervenkranker 1 8 :
abnorme 99. — Paralytischer 30. — bei
spastischer Spinalparalyse 90. — bei
unvollständiger Querläsion desRücken-
marks 94.
Bewusstsein von der Lage der Glie-
der, Prüfung dies. 196. — , Spaltung
dess. bei Hysterischen 25. 404.
ReAvusstseinsstörungen, acut ein-
tretende 25. — ■ chronisch und subacut
verlaufende 28. — , Formen u. Grade
ders. 21. 22. — , Vorkommen ders. 23.
Blasenfunction, Prüfung ders. bei
Nervenkranken 242. 289. 290.
Mübius, Diagnostik der ^STorvcnkrankhoitGii.
Blas enlä Innung, Diagnose ders. 242.
243. — , Entstehung' ders. 92. 94. 289.
Blasenkrampf, Entstehung dess. 290.
Blasenkrisen, nervöse 243.
Bleivergiftung, Augenstörungen
durch dies. 173. — ,"Kolikanfälle durch
dies. 239. — , Lähmung durch dies.
65. — , Neuritis durch dies. 211. 354.
378. — , Tremor durch dies. 115.
B 1 e p h a r o s p a s m u s, Untersuchung auf
solchen 259.
Blick Nervenkranker, Beachtung dess.
bei der Untersuchung 18.
Blödsinn 23. — , paralytischer 30.
Blutbrechen Hysterischer 237.
Blutgefässe, Untersuchung ders. auf
ihre Function bei Nervenkranken 287.
Blutgefässk rankheiten, Schä-
digung des Nervensvstems durch solche
381.
Blutungen des Gehirns, Ursache von
apoplektischen Insulten 26. — , sub-
cutane bei nervösen Störungen 231. ■ —
im Wirbelkanal, Symptome ders. 362.
Bradykardie, Petit mal bei ders. 382.
Bradylalie Nervenkranker 49.
Bradyphrasie durch nervöse Stö-
rungen 45. 47.
B r o n c h i a 1 m u s k e 1 n , paralytische u.
spastische Symptome ders. 285.
Brown - Sequard'sche Lähmung,
Charakteristicum ders. 85. — , Sym-
ptome ders. 202. 208. — , Vorkommen
ders. 90.
Brust mark, Querläsion dess. u. deren
Localisation aus den Verletzungser-
scheinungen 358.
Brustmuskeln, Functionsprüfung
ders. 282. 301—303.
Bulbärparalyse, cerebrale u. deren
Symptome 87. 88. — progressive,
Diagnose ders. 398. 399. — , elektri-
sche Erregbarkeit bei ders. 158. 164.
— , Localisation ders. 363. — , Pseu-
dohypertrophie einzelner Muskeln bei
ders. 57. — , Sprachstörungen bei ders.
52.
Bulimie 23.
Caput obstipum spasticum 274.
Carcinomatose, nervöse Störungen
durch dies. 24.
Cardialgie, nervöse 288. — ,• Unter-
scheidung von Cardialg. durch orga-
nische Läsion 239. 240.
Cephalaea s. Kopfschmerz.
Cerebrospinalmeningitis, epide-
mische, diagnostische Kennzeichen
ders. 395. 396.
Chiasma nervorum opticorum, Läsiou
2. Aufl. 27
413
Register.
dess. n. deren diagnostische Kenn-
zeichen 175.
Chordalähniung durch Mittelohrer-
krankung 176.
Chorea chronica (hereditaria. Chorea
Huntingtons) . Charakteristica ders.
130, Diagnose ders. 412. — major,
minor, mollis. praehemiplegica . post-
hemiplegica 130. — Svdenhamii.
diagnostische Merkmale derselben 130.
394.
Choreabewegungen 129. — . halb-
seitige 130. — . Mitbewegungen bei
dens. 129. — . rhythmische 123. — ,
Unterscheidung ders. von Ataxie 104,
von Tremor 110.
Circulationsapparat . Krampf- u.
Lähmungserscheinungen an dems. 234.
Clitoriskrisen tabischer Frauen 245.
Colica nervosa 239.
Compressio cerebri, Symptome u.
Localisation ders. 221. 372. — , spina-
lis . Svmptome u. Localisation ders.
207. 208.
< ' o n g e s t i o n e n als Ursache von Kopf-
schmerz 223.
Constitutionsanomalien. Unter-
suchung auf solche bei nervösen Affec-
tionen 22s
Gontracturen der Muskeln, active
oder spastische Gl. — eines Gliedes 64.
— Hemiplegischer 86. — . hysterische
120. — des inneren Ohres 258. — einer
Körperhälfte 64. — , myopathische 61.
— des Oberarmes 301. — des Ober-
schenkels 319. 321. — . paralytische 61.
— . passive 61 . — des Rückens 279. — der
Schulter 294. 300. — . Sebnenreflexe
bei solchen 63. — infolge transversaler
Rückenmarksläsion 92. — . Unterschei-
dung- ders. von Lähmungen 69. — des
Unterschenkels 323. 325". 326. 32S. —
infolge zu fester Verbände 58.
('onus terminali s des Rückenmarks.
Läsion dess. und deren Symptome
357.
Convulsionen, Definition ders. 117.
— . epileptische 123. — . hysterische
121. — , urämische 126.
Coordination der Bewegung 100. — ,
Centren ders. 105.
Crampus. Wesen dess. 117.
Cremasterreflex, diagnostische Ver-
werthuug dess. 145. — , Prüfung dess.
133. — bei Querläsion des Rücken-
marks 93.
C ruralislähmung, Erscheinungen
ders. 345. — . rheumatische 392.
Cucullaris (Muse, trapeziusi. Fune-
tionsprüfung dess. 290 — 293. elektri-
sche 292.
J) ä m m e r z u s t ä n de des seelischen Zu-
standes 21. — . Formen ders. 22. — ,
Vorkommen ders. 29.
Darmkrisen bei spinalen Affectionen
238. 239.
Darmlähmung, nervöse 237. — bei
Querläsion des Rückenmarks 92.
Darmmuskelkrämpfe. Ursachen
ders. 289.
Decubitus, Entstehung dess. bei cere-
bralen u. spinalen Läsionen 232.
Degenerationszeichen, krankhafte
Reactionen des Nervensystems bei
solchen 245. 246. 402.
Delirien durch nervöse Störungen,
alkoholische 22. 24. — , diagnostische
Bedeutung des Zitterns für dies. 115.
— , epileptische 22. 24. 411. — , fieber-
hafte 24. 28. — , Grad der Bewusst-
seinsstörung bei dens. 22. — , hyste-
rische 22. — , mussitirende 22. — ,
Delirium tremens potatorum, diagno-
stische Kennzeichen dess. 24. 115.
Deltoideus, Functionsprüfung dess.
298, bei Contractur u. Parese 300, bei
Lähmung 299.
Dementia paralytica. Diagnose
ders. 388. 390. 391. — . Entstehung
ders. 383; s. auch progress. Paralyse.
Deviation, conjugirte der Augen,
diagnostische Verwerthung ders. 253,
bei apoplektisckem Insult 26. — , Lo-
calisation ders. 128.
Diabetes. Symptome von Seiten des
Nervensystems bei dems. 242 : Augen-
affectionen 173, Fehlen des Kniephä-
nomens 148, Hautaffectionen 232. Koma
24. Neuritis 211. 351. — . Unterschei-
dung dess. von der symptomatischen
Polyurie Nervenkranker 241.
Diagnose nervöser Störungen e juvan-
tibus et nocentibus 246.
Di etatschreiben, Prüfung Nerven-
kranker auf solches 33.
Dilatator pupillae, Krampf u. Läh-
mung dess. 256.
Diplegia 66. — facialis 87.
Disposition zu Nervenkrankheiten,
angeborene 5, erworbene 6.
Diphtherieneuritis 353. — . Dia-
gnose ders. 380. — . Sensibilitätsstö-
rungen bei ders. 211.
Doppelempfindung 194. — . Locali-
sation der Läsion einer solchen 200.
Doppeltsehen. Entstehung dess. 251.
Dorsalmark. Querläsion dess. und
deren Symptome 92. 358.
D or salner ve n 1 äh mung , Symptome
ders. 344.
D r e h s c h w i n d e 1 , diagnostische Kenn-
zeichen dess. 22-. — . Vorkommen dess.29.
Register.
419
Druckempfindlichkeit der Haut,
Prüfung ders. 186. IST. 193. — der
Muskeln. Prüfung ders. 196. — der
Muskeln und Nerven bei peripherischer
Lähmung 80.
Druckpunkte bei Krämpfen 117.
1 1 v n a m oraeter. Anwendung dess. bei
'der Untersuchung der Muskeln 67. 68.
] ) v s 1 a 1 i e n . Entstellung u. Formen ders.
49.
Dyslexie durch nervöse Störungen 41.
Dyspepsie, nervöse 237. — , Diagnose
ders. 240.
Dysphrasien, Entstehung ders. 34.
Dyspnoe, nervöse, Entstehung ders.
280. 281. 2S5. — , Legalisation u. Vor-
kommen ders. 235.
Dystrophia musculorum progressiva
57. — , Anfangsstadium ders. 54. — ,
Diagnose ders. 59. 413. — , elektrische
Erregbarkeit der Muskeln bei ders.
15S. — , Symptome ders. 57. 58. 210.
413.
Echo spräche der Irren 47.
Eclampsia parturientium, Ent-
stehung ders. 126.
Eingeweidemuskeln, Untersuchung
ders. auf ihre Function bei nervösen
Störungen 287.
Ekstasebei krankhaftem Seelenzustand
22. — , Visionen in ders. 23.
Elektrische Untersuchung 150.
— , Apparate zu ders. 150. 151. — der
Athemmuskeln 279. 281. 284. — der
Blasenmuskeln 289. — nach Brenner
151. — der Dammmuskeln 286. — , Ent-
artungsreaction bei ders. 159. — durch
Faradisation 152. — durch Galvani-
sation 153. — des Geruchapparates 180.
— des Geschmacksorgans 183. — der
Halsmuskeln 274. — der Hautempfind-
keit 188. 189. — der Hüft- u. Ober-
schenkelmuskeln 317. 319. 320. 321. —
des Kehlkopfs 273. — der Kiefer 264.
— der mimischen Gesichtsmuskeln 263.
— der Musculatur im Allg. s. Muskel-
erregbarkeit, elektr. — der Nerven s.
Nervenerregbarkeit, elektr. — des ner-
vösen Gehörapparates 179. 258. — des
Oesophagus 270. — bei pathologischen
Veränderungen der motorischenNerven
u. Muskeln 157. — des Backens 269.
— der Retina 168. — der Schulter- u.
Oberarmmuskeln 292. 293. 294. 295.
298. 300. 301. 302. 303. — der Unter-
schenkelmuskeln 324. 329. 330. — , zu
verwendende Elektroden bei ders. 1 52.
153. — , Zuckungsgesetz der motor.
Nerven u. Muskeln bei ders. 155. 156.
— der Zuns-e 266.
Elektr o cu taue Sensibilitätsprü-
fung bei Nervenkranken 188. 189.
E 1 e k t r o m u s c u 1 ä r e S e n s i b i 1 i t ä t s -
prüfung bei nervösen Leiden 196.
E mbolie derHirngefässe, Veranlassung
zu Apoplexien 25. 26. 381.
Em pfindungen, excentrischeNer-
venkranker, Prüfung ders. 197. 198,
— . perverse 194. 199. 200. — . sub-
jeetive des Auges 175. 176, des Ge-
ruchapparates 181, des Geschmack-
apparates 182, des Ohres 178. 179. —
der tiefen Tbeile 195.
Empfindungsapparat, Unter-
suchung dess. 166: des Gefühls 185,
des Gehörs 176, des Geruchs 180, des
Geschmacks 182, des Gesichts 167.
Empfindungslähmungen, partielle,
Charakteristicum ders. 199. — , Art der
Läsion ders. 200.
Empfindungsleitung, verlangsamte
der Haut 194: durch Anästhesie 200.
Encephalitis acuta (cerebrale Kin-
derlähmung), Diagnose ders. 393. — ,
epileptische Krämpfe im Beginn ders.
126. 393. — , Hemiplegie durch dies.
393. — , Relation ders. zum apoplek-
tischen Insult 27.
E n d o c a r d i t i s als Quelle von Embolis
zur Schädigung des Nervensystems 381.
EndocarditischeVeränderungen
bei Herderkrankungen des Gehirns 235.
Entar tu ngsreaction, elektrische
159. — , Charakteristicum ders. 55. — ,
complete 159. — , Dauer u. Verlauf
ders. 164. — , Entstehung ders. 5s. —
bei Lähmungen 72. — , partielle 161,
mit indirecter Zuckungsträgheit 161,
bei spastischer Lähmung 75. — , sen-
sorische 198. — , Vorkommen ders. 164.
— , Zuckungsträgheit bei ders. 163. — ,
mechanische 150.
Enuresis nocturna nervöser Kinder
243.
Epil epsie . Diagnose ders. 125. 409. — ,
Jackson'sche 124. — , idiopathische
126. — der Kinder 126. — , locale 126.
— , Reflexepilepsie 126. — , Symptome
ders. 409. 411: Amaurose (doppelseitige
173, Bewusstseinsstörungen 24.123. 125,
Flimmerscotom 176, Krämpfe s. epi-
lept. Anfall, Ohnmachtsanwandlungen
29, Schwachsinn 411. — , syphilitische
382. — , Unterscheidung ders. von Hy-
sterie 122. 410.
Epileptischer Anfall 123. — , Aura
dess. 123. 409. — . Diagnose dess. 409.
— . halbseitiger 124. — Hemiplegischer
85. 95. — Hysterischer 25. — . Ohren-
sausen in der Aura dess. 179. — Pa-
ralytischer 30. — , partieller 124. — ,
420
Eegister.
simulirter 127. — , Stertor in dems.
124. — , vollständiger 123.
Erblichkeit der Krankkeiten 3. — ,
atavistische, collaterale, ciunulative 4.
— , directe u. indirecte 3. — , gleich-
artige u. ungleichartige 4. — hei Ner-
venkrankheiten 5. 6: der Muskelhy-
pertrophie 56.
Erblindung, halbseitige s._ Hemi-
anopsie. — durch Stauungspapille und
deren centrale Läsion (Localisation)
169.
Erbrechen, cerebrales 238. — , mecha-
nisch hervorgerufenes 133. — , nervöses
23S. 239.
Ernährungsstörungen durch ner-
vöse Leiden 201. 231.
Ernährungszustand, allgemeiner
bei nervösen Störungen 228. — der
Musculatur: atrophischer 54. 55,
hypertrophischer 54, pseudohypertro-
phischer 56.
Erregbarkeit, elektrische u. mecha-
nische der Muskeln u. Nerven s. Mus-
kelerregbarkeit , Nervenerregbarkeit.
— reflectorische 132, s. auch Reflexe.
Erregungsgesetz sensorischer Ner-
ven 198.
Erytheme bei Nervosität 231.
Erythromelalgie Nervenkranker 231.
Etat de mal Epileptischer 124. —
Hysterischer 122.
Etourdissement, Wesen dess. 22.
E xsp ir ation s k r ä mpf e , Formen ders.
285.
Extenso ren (lange) der Einger, Läh-
mung ders. 310. — des Fusses, Lähmung
ders. 327. 328. 331.
Facialiskrampf 120. — , Symptome
dess. 339.
Facialislähmung, basale, centrale
338. — , einseitige 263. — , gekreuzte
mit Hemiplegie 83. — durch Kern-
läsion 363. 364. — , Localisation ders.
83. 364. — bei Mittelohrkrankheiten
176. — , peripherische 263. 338. — ,
rheumatische 339. 392. — , Symptome
ders. 337. 338: Geruchsstörungen 181,
Geschmacksstörungen 184, Sprachstö-
rungen 52.
Fallsucht s. Epilepsie.
Farbenempfindung, Prüfung ders.
bei Nervenkranken 167. — , Vorkommen
der Störungen ders. 168 : bei Stauungs-
papille^, bei Sehnervenatrophie 172.
Fibrilläre Zuckungen, Untersuch-
ung auf solche 116. — Vorkommen
ders. 116, bei degenerativer Muskel-
atrophie 74.
Fieber bei Nervenkrankheiten 228. 229.
— , Fehlen der Sehnenreflexe bei star-
kem 148. — , Störungen derHirnthätig-
keit durch solch. 230.
Fieber frost, Entstehung dess. 116.
Finger musculatur, Diagnose der
Lähmungen ders. 309 — 316.
Fingerstellungen, abnorme durch
Innervationsstörungen der Muskeln
314. 315.
Flexibilitas cerea 64.
Flexoren der Finger, Lähmung ders.
311. 314.
Flimmerscotom, diagnostische Vei-
werthung dess. bei nervösen Störungen
175. 176.
Friedreichische Krankheit, dia-
gnostische Kennzeichen ders. 414.
F u n c t i o n s p r ü f u n g (bei Nerven-
kranken) des Auges 167, des Empfin-
dungsapparates 185, des Geschmacks-
apparates 182, der Muskeln 54. 249.
290. 316, der Nerven (des Gehirns) 332
(des Rückenmarks) 340 (sympathische)
348, des Ohres 176, des Olfactorius
180, des vegetativen Apparates 228.
F u s s m u s c u 1 a t u r , Beweglichkeitsde-
fecte des Fussgelenkes und der Zehen
bei Innervationsstörungen der Muskeln
des Unterschenkels u. Fusses 323—331.
— , elektrische Prüfung ders. 324. 330.
Fussphänomen (Fussclonus), Prüfung
dess. 138. — , Vorkommen dess. bei
Fussgelenker krankung u. Periostläsion
der Unterschenkelknochen 146, bei ge-
steigerter Reflexerregbarkeit 138, bei
spastischer Spinalparalyse 91.
Fussstellung bei Contractur u. Läh-
mung des M. tibialis antic. 328, bei
Lähmung der Interossei pedis 331, bei
Peronaeuslähmung 325. 326.
Grähnkrampf Nervöser 285.
Gang Nervenkranker, Beachtung dess.
bei der Untersuchung 18. — , ataktischer
102. — , schleudernder, stampfender
102. — bei spastischer Spinalparalyse
91, bei unvollständiger Querläsion des
Rückenmarks 94.
Gangrän, spontane symmetrische bei
Neurosen 232.
Gaumen muskeln, reflectorische Er-
regbarkeit ders. 132. — , Untersuchung
ders. auf Krampf und Lähmung 25S.
267. 26S, elektrische 268.
Geberdensprache, Untersuchung
ders. bei Nervenkranken 33.
Gedächtniss, Abnahme dess. bei Pa-
ralytischen 30. — ■, Prüfung dess. bei
abnormem Seelenzustand 19.
Gefässkrampf, Symptome dess. 287.
288.
Register.
421
Gefässlähmung, Symptome ders. 230.
287. — durch Rückenmarkläsion 90.
94.
Gefühl, Untersuchung Nervenkranker
auf dass. 185. 195.
G e hir n a t r o p h i e , apoplektische An-
fälle hei der senilen 28.
Ge hir n druck, Symptome und Locali-
sation 221. 372.
Gehirnganglien, Läsion ders. und
deren Symptome 95. 366.
Gehirnkrankheiten, Auästhesie hei
dens. 207. — , Anosmie durch solche
181. — , Bewusstseinsstörungen infolge
ders. (acute) 25 (chronische) 28 (sub-
acute) 28. — , Fehlen der Sehnenreflexe
bei dens. 148. — , Krämpfe durch dies.
120 (epileptische) 12(1. — , Lähmungen
durch dies. 65. 09. 70 (halbseitige) 81.
82. — , Localisation ders. 363. — , Mus-
kelatrophie durch dies. 57. — , syphi-
litische 382. 383.
Gehirnlähmung 65.
Gehirntumoren, apoplektische An-
fälle durch dies. 27. — , chronische Be-
wusstseinsstörungen durch dies. 28. — ,
Diagnose ders. 373. — , epileptische
Anfälleinfolge ders. 126.—, Fehlender
Sehnenreflexe bei solchen 148. — , Ge-
hörsstörungen durch dies. 178. — , Lo-
calisation ders. 372. — , Stauungs-
papille durch dies. 169.
Gehlähmung Hysterischer 99.
G e h ö r s s t ö r u n g e n , nervöse, Diagnose
ders. 177. — , Entstehung ders. 176.
258. — , Hallucinationen 179. — , sub-
jective Empfindungen 178. 258.
Gelenkerkrankungen, nervöse 233.
234. — , gesteigerte Seimenreflexe hei
dens. 146. — , Muskelatrophie durch
solche 58.
Genitalien, Untersuchung ders. bei
Nervenkranken 244, auf Bildungsfehler
246.
Geruchapparat, Parästhesien dess.
181. — , Ueherempfindlichkeitdess. 181.
— , Unempfindlichst ders. 181. — Unter-
suchung dess. ISO.
Geschlecht, Einfluss dess. auf die
Erkrankung des Nervensystems 8.
Geschlechtstrieb, Anomalien dess.
bei Nervenkranken 23. 244. — bei
Rückenmarkläsion 92. — Tabischer 387.
G e s c hm a c k s ce nt r um , Localisation
dess. 370.
Geschmacksempfindung, Prüfung
ders. 182, elektrische 183.
Gesichtsatrophie, halbseitige, Re-
lation ders. zur Nervenläsion 232.
G e s i c h t s a u s d r u c k bei abnormem see-
lischen Zustand 17. 18.
G e s i c h t s b i 1 d u n g , neuropathische
246.
Gesichtsfeld, Einschränkung dess.
168, concentrische 172, bei Sehncrven-
atrophie 172, bei Stauungspapille 169.
— , Untersuchung dess. bei Nerven-
kranken 168.
Gesichtsmuskeln, mimische, Unter-
suchung ders. auf Beweglichkeits-
defecte" 259—263, elektrische 263.
G e s i c h t w a h r n e h m u n g e n , subj e c-
tive s. Empfindungen, subjective. — ,
Verlust der Erinnerung an solche in-
folge nervöser Störungen 41.
Gespräch mit Nervenkranken zur Prü-
fung des seelischen Zustandes ders.
18. 32. 33.
Gewerbe- ü. Fabrikbetriebe, ge-
fahrbringende Einwirkung ders. auf
das Nervensystem der Arbeiter 10.
G i b b u s , Untersuchung der Wirbelsäule
Nervenkranker auf solchen 227.
Gifte, Wirkung ders. auf das Nerven-
system 7. — auf die Sehnenreflexe 146 ;
s. auch Intoxicationen.
Glanz haut (glossy skin) bei Läsion
peripherischer Nerven 231.
Gleich g e w i c h t s s t ö r u n g e n A takti-
scher 103. Brach-Romberg'sches Sym-
ptom ders. 103. — , subjective, Prüfung
auf solche 197. — , Vorkommen ders.
28, in Gemeinschaft mit subjectiven
Gehörsempfindungen 29.
Glieder, Missbildungen ders. bei neu-
ropathisch belasteten Personen 246.
— , Prüfung des Bewusstseins von der
Lage ders. 196.
Gliomatosis spinalis,Diagnoseders.
79. 400. — , Localisation ders. 361. — ,
Symptome ders. SO. 400 : Entartungs-
reaction 164, Gefühlsstörungen 209.
400, Gelenkerkrankungen 234.
Gliosis, s. Gliomatosis spinalis.
Glossopharyngeusläsion, Func-
tionsstörungen durch dies. 339.
Glutäalmuskellähmung 317. — ,
einseitige u. doppelseitige 318.
Glutäusreflex, Prüfung dess. 134.
Glykosurie infolge nervöser Störun-
gen 241.
Graphospasmus, Untersuchung auf
solchen bei Nervenkrankheiten 48.
Grössenwahn der Paralytiker 30.
Haarkrankheiten infolge Erkran-
kungen des Nervensystems 232.
Halbseitenläsion des Rückenmarks,
diagnostische Kennzeichen ders. 89. 362.
Hallucinationen, Begriff u. Formen
ders. 22. 23. — im epileptischen Deli-
rium 24. — des Gehörs bei Psychosen
422
Register.
179. — . Gesichtsausdruck li. Körper-
haltung- bei dens. 18.
Halsmark, Querläsion dess. u. deren
Symptome 93. 358, Localisation dies.
359.
Halsmuskeln, Innervationsstörungen
ders. 262. 270. 273—276.
Halsnerven, Erscheinungen der Läsion
der vier oberen 340, der vier unteren
342. — , Localisation spinaler Herde
im Gebiete ders. 358.
Handmuskeln, Bewegungsstörungen
der Hand durch Lähmungen ders.
308—316.
Handphänomen, Entstehung dess.
139.
Handstellung, abnorme durch Läh-
mung der Vorderarm- und Handmus-
culatur 308. 310. 311. 312.
Harnapparat, Untersuchung dess. bei
Nervenkranken 241.
Harndrang, vermehrter durch Nerven-
störungen 243.
Harnröhrenmusc ula tur , tonische
Contraction ders. 290.
Haut mal s. Epilepsie.
Hautanomalien bei Nervenerkran-
kungen 230. 246 : anästhetischer Theile
201.
Hautempfindlichkeit, Prüfung
ders. 185. 192. — , abnorme Phänomene
bei ders. 194. — durch Elektricität
188.189. — durch Messung der Schmerz-
empfindlichkeit 188. 189, des Tast- u.
Druckgefühls 186. 187, des Tempe-
ratursinns 187. 188, der Zeit zwischen
Reiz u. Empfindung 189.
Hautreflexe 132. — , diagnostische Be-
deutung ders. 143. — , Fehlen ders.
144. — , Formen ders. 133. — , ge-
steigerter 143. — bei completer Läh-
mung 74. — , Prüfung ders. 133. —
bei Querläsion des Rückenmarks 93.
— . verminderte 144.
Hemiageusis anterior 183. ■ — totalis
184.
Hemianästhesie 199. — bei der
Brown-Sequard' sehen Lähmung 89. — ,
cerebrale 202. 207. — , Localisation
ders. 202. 203. — , totale 202. — ,
Unterscheidung organischer u. func-
tioneller (hysterischer) 204. 205. — in
Verbindung mit Anosmie 181. 202, mit
Hemianopsie 174. 202. 203, mit Schwer-
hörigkeit 178. 202.
Hemianopsie (Hemiopie), dauernde
173. — , doppelseitige 174. — , elek-
trische Untersuchung des Auges bei
ders. 168. — , Entstehung u. Locali-
sation ders. 173—175. — , gleichseitige
173. 174. — , homonyme rechtsseitige
168. — , indirecte 174. — , linksseitige
173. — , nasale 168. 175. — , occipitale
174. — , Prüfung auf dies. 168. — ,
temporale 168. 175. — , Unterscheidung
ders. von Alexie 40. — in Verbindung
mit Hemianästhesie 202. 203. 205.
Hemiathetosis 132.
Hemichorea, Erscheinungen u. Vor-
kommen ders. 130.
H e m i c o n t r a c t u r 64. — in Verbindung
mit_ Hemiplegie 86.
Hemihyperästhesie, Vorkommen
ders. 212.
Hemikranie s. Migräne.
Hemiopische Pupillenreaction,
diagnostische Bedeutung ders. 174. 175.
Hemiparesis 66.
Hemiplegie 66. — durch Apoplexie
26. — , Choreabewegungen bei ders.
130. — , Contracturen bei ders. 86. — ,
diagnostische Kennzeichen ders. 85.
— , elektrische Erregbarkeit bei ders.
157. — , functionelle (hysterische) 97.
9S. — , gekreuzte oder alternirende
66. 83. 86. — , Kraft der nicht ge-
lähmten Glieder bei ders. 86. — ■, Lo-
calisation der Läsion ders. 81 — 86. — ,
partielle 86. • — bei progressiver Para-
lyse 30. — , spinale 85. — , totale directe
u. indirecte 82.
Herderkrankungen in der hinteren
Schädelgrube , tetanieartige Anfälle
durch dies. 128.
Herpes zoster, Diagnose dess. 392.
393. — durch Läsion peripherischer
Nerven 231.
Herzklopfen, nervöses 237.
Herzthätigkeit, nervöse Störungen
ders. 236. — , Untersuchung ders. bei
Nervenkranken 287.
Hipp us durch Innervationsstörung des
Sphincter pupillae 257.
Himabscess, apoplektischer Insult
durch dens. 27. — , chronische Bewusst-
seinsstörungen bei dems. 28. — epi-
leptische Anfälle durch dens. 126. — ,
Fehlen der Sehnenreflexe bei dems.
148. — , Stauungspapille durch dens.
170.
Hirnblutung, apoplektischer Insult
durch dies. 25. 26.
Hirnhauterkrankungen s. Menin-
gitis.
Hirnnervenkeme, Läsion ders. und
deren Symptome 71. 72. 363. 364. 365.
Hirnnervenläsion, Functions-
störungen durch dies. 332 : Hemiplegie
der Glieder S3. 85. — , Localisation
ders. 85. 363. 364.
Hirnrinde, Degeneration ders. bei Pa-
ralytischen 30. 43. 51. — , Läsionen
Register.
423
ders. 367 : als Ursache von Ataxie 105,
vmi Lähmungen 71. 94 (halbseitigen)
82. 95, von Sprachstörungen 50. — ,
Localisation der Läsionen ders. 307 bis
370. — , Reizung- ders. als Ursache des
epileptischen Anfalls 125. — , Unter-
scheidung einer functiönellen Störung
ders. infolge einer Psychose von einer
organischen Gehirnaffection 24.
Hirnschenkelläsion, Symptome
ders. b3. 95. — , Localisation der Läsion
aus den Symptomen 304. 305.
H ü f t ge 1 e n k bewe g ung en, Unter-
suchung der Muskeln für dies. 316.
H ü f t m u sc ul at u r , Untersuchung ders.
auf Beweglichkeitsdefecte 316 — 321,
elektrische 317. 319. 320.
Hydrocephalus, chronischer der Er-
wachsenen 373. — , Kopfform bei
solchem 220. — , psychische Erschei-
nungen dess. 28. — , Veranlassung zu
epileptischen Anfällen 126, zu Gehör-
störungen 17S, zu spastischer Para-
plegie 91. 373, zu Stauungspapille 169.
170.
Hypästhesie, Wesen ders. 198.
H y p e r ä m i e , locale der Haut gelähmter
Glieder 230.
Hyperästhesie, Charakteristica ders.
198. — des Acusticus 180. — ge-
lähmter Muskeln 79. 89. — der Geni-
talien 244. 245. — des Geschmack-
apparates 183. — der Haut 198, Ent-
stehung imd Localisation dieser 211.
212. — , halbseitige 212. — des Olfac-
torius bei nervösen Personen 181.
Hyperalgesie, Relation ders. zur
Hyperästhesie 198. — ■ bei spinalen
Monoplegien 89.
Hypergeusis Hysterischer 183.
Hyperidrosis bei organischen und
functiönellen Nervenkrankheiten 231.
Hyperosmia nervöser Personen 181.
— durch Reizung des Nerv. Olfakto-
rius 332.
Hypertrophie der Muskeln s. Muskel-
hypertrophie. — der Nerven 59.
Hypnose, Bewusstseinstrübungen mit
Delirien in ders. 22.
Hypochondrie, Entstehung ders. 237.
— , Gesichtsphantasmen bei ders. 175.
— der Paralytischen 30. — , Schmerz-
empfindung bei ders. 219. — , Unter-
scheidung ders. von Neurasthenie 404.
Hypoglossusläsion, Diagnose ders.
340. — . Kernläsion 303. — , Lähmungs-
erscheinungen ders. 85. 340. — , Sprach-
störungen infolge ders. 52. 85.
Hvpokinesis, Gharakteristicum ders.
66.
Hysterie 404. — Aura hysterica 121.
— ,Clownismus ders. 121. — , Diagnose
ders. 121. 404. 408. — , „grosse An-
fälle" ders. 121. 408. — , Perioden
ders. 121. 122. — , Stigmata ders. 405.
— , Symptome ders. 121. 405: Amau-
rose (doppelseitige) 173, Bewusstseins-
störungen 25. 407, Borborygmen 121.
122, Choreabewegungen 130, Empfin-
dungsstörungen 25. 121. 203. 204. 205.
200. 212. 219. 224. 405, Funkensehen
175, Geschmacksanomalien 183, Ge-
sichtsfeldeinschränkung 172, Krämpfe
120 (coordinirte) 128. 407, Lähmungs-
erscheinungen 97, Ovarie 25. 123,
perverse Geruchsempfindungen 181,
Taubheit 178, Zittern 115. 110. — ,
Unterscheidung ders. von Neurasthenie
408, von Neuritis 350. — , Wesen ders.
404.
Hysterogene Punkte Hysterischer,
Lage ders. 123.
Jactation, Wesen ders. 22.
Ichthyosis durch Läsion peripheri-
scher Nerven 231.
Idiomusculär e Contraction, Prü-
fung ders. 150. — , Steigerung ders.
durch krankhafte Reactionen 150.
Idiosynkrasien Nervöser 23.
Idiotie, Entwicklung der Sprache bei
ders. 47. — , Unterscheidung ders. von
paralytischem Blödsinn 31.
Illusionen Nerverkranker 22.
Ilio psoas, Contractur u. Parese dess.
319.
I m p u 1 s i v e A c t e bei abnormem Seelen-
zustand 23. — , Unterscheidung ders.
von coordinirten Krämpfen 128.
Incontinentia alvi infolge Inner-
vationsstörungen 237. — urinae bei
Bewusstseinsstörung 242, epileptischer
24. 242. — durch Rückenmarksläsion
92. — paradoxa 289. — paralytica
289. 290.
Infectionen, ätiologischer Einfluss
ders. auf das Nervensystem 7.
Infectionskrankheiten, acute, epi-
leptische Krämpfe im Beginn ders. bei
Kindern 120. ■ — , Gefühlsstörungen bei
einzelnen 211. 222. 223. — , multiple
Neuritiden im Anschluss an solche 351.
353. 380. 382.
Influenza, nervöse Störungen im Ge-
folge ders. 380.
Infraspinatusu. supraspinatus, Func-
tionsprüfnng ders. 300. 301.
Insula Reilii, Paraphasie durch Lä-
sion ders. 51. 370.
Intentionszittern 110. — , Unter-
scheidung dess. von Ataxie 104. 111.
— , Typus dess. 111.
424
Register.
I n t e r c o s t a 1 in u s k e 1 n . Untersuchung
auf ihre Thätigkeit beim Athmen
280. 281.
Int erossei des Fusses, Lähmung ders.
331. — der Hand , Lähmung ders.
311. 312.
Intoxicationen, nervöse Störungen
durch solche 7 : Amblyopie u. Amau-
rose 173, Anästhesie 207. 211. — . Be-
wusstseinsstörungen 23. (Teschmacks-
st orangen IS 3. Koma 21. Kopfschmerz
223, Krämpfe 120, Myosis 111. Neu-
ritis 351. 353. 37S. 379, Ohrensausen
(durch Chinin u. Salicyls.) 179, cen-
trale Scotome 173, Zittern 115.
Iridodonesis durch Innervationsstö-
rungen 257.
Irritabilität des Herzens bei reiz-
barer Schwäche des Nervensystems 236.
Ischiadicusläsion, Symptome ders.
345, Localisation dies. 357. — , Vor-
kommen ders. 316.
Ischias, Diagnose ders. 392.
Ischuria paralytica, Entstehung
ders. 2S9.
Kälteempfindlichkeit der Haut,
Untersuchung ders. 1SS.
Karus durch nervöse Affectionen 21.
Kataleptische Starre, Symptome
ders. 64.
Kaumuskeln. Krampf u. Lähmung
ders. 263. 264.
K a u m u s k e 1 r e f 1 e x , Prüfung dess . bei
Nervenkranken 137.
Kehlkopf, Untersuchung dess. auf Be-
wegungsstörungen der Muskeln dess.
272. 273, auf sensorische Störungen
234.
Keuchhusten. Ner venst orangen durch
dens. 380.
Kiefermuskeln, Untersuchung ders.
auf ihre Bewegungsfähigkeit 262 bis
264. 271.
Kinderlähmung, cerebrale s. Ence-
phalitis acuta.
Klauenhand, Lähmungserscheinungen
ders. 312.
Kleinhirngeschwülste, Fehlen der
Sehnenreflexe bei solchen 14S. 366.
— Symptome und Localisation ders.
372.
Kleinhirnläsion, Localisation ders.
366. — Symptome ders. 366: Schwin-
del 29. Zwangsbewegungen 12S. 129.
Kniegelenkbewegungen, Unter-
suchung der Muskeln für diese 321
bis 323.
Kniephänomen, diagnostischerWerth
dess. 147. 148. — , Fehlen dess. 147.
14s. — . gesteigertes 13S. — bei Ge-
sunden 136. — bei Greisen 14S. —
bei progressiver Paralyse 30. — bei
Querläsion des Rückenmarks 92. — ,
Reflexbogen dess. 93. — bei spastischer
Spinalparalyse 91. — , Untersuchung
dess. 135 (durch das Jendrassik'sche
Verfahren) 136.
Knie schlottern, Entstehung dess.
109.
Knochenerkrankungen durch Er-
krankung des Nervensystems 233.
Körperhaltung Nervenkranker, Be-
achtung ders. beider Untersuchimg 17.
Körpertemperatur. diagnostische
Bedeutung ders. bei Nervenkrank-
heiten 22S: gesunkene 229. 230, ge-
steigerte 228 (locale der Haut) 230.
Körperzustand, Untersuchung dess.
bei Nervenkrankheiten 228.
Koma im Anschluss an einen apoplekt.
Insult 26, an einen epileptischen An-
fall 134. — , Formen dess. 24. — bei
Meningitis 28. — , Wesen dess. 21.
Kopfhaltung bei Augenmuskelläh-
mung 253, bei Halsmuskelkrampf 275,
bei Schultermuskelcontractur 292.
Kopfhaut, Untersuchung ders. auf
Narben bei Nervenkrankheiten 227.
Kopfschmerz, diagnostische Merk-
male dess. 220. — , habitueller 224.
— , halbseitiger 221, s. auch Migräne.
— , reflectorischer 223. — , syphiliti-
scher 222. — ■ Vorkommen dess. 220
bis 224.
Krämpfe 61. — , Beschäftigungs-
krämpfe 119. — , cerebrale 120. — ,
coordinirte 128. — , Diagnose ders.
HS. — , directe 118. — , epileptiforme
nach Apoplexien 26. — . epileptische
24. 123. 124. — , halbseitige 120. — ,
hysterische 121. 128. — . klonische 116.
117. — gelähmter Muskeln 74. —
durch Läsion sensibler und motorischer
Nerven 119. — , Nebenerscheinungen
bei solchen 117. — , reflektorische 62.
118. — , spinale 120. — , tetanische
127. — , tonische 116. 117. — , tonisch-
klonische 117. — , umschriebene 119.
— , Unterscheidung ders. von Läh-
mungen 69. — , Untersuchung auf
solche 99.
Kraft sinn, Prüfung dess. bei Nerven-
kranken 195.
Kr allen fu ss durch Muskellähmung
331.
K r a mp f zittern , Unterscheidung dess.
von paralytischem Zittern 110.
Krankengeschichte Nervenkranker
4. — , Feststellung ders. durch die
Beschwerden des Kranken 15, durch
die Untersuchung des Kranken in
Register.
425
Bezug auf seine Bewegungsfähigkeit
53, in Bez. auf sein Empfindungsver-
mögen 166 . in Bez. auf seinen seeli-
schen Zustand 1". in Bez. auf seine
sprachliche Ausdrucksweise 32.
Kyphose, bogenförmige und winkel-
förmige, der Wirbelsäule, Untersuch-
ung auf solche 227.
Lähmung, atrophische 6(3. 72. 75. — ,
Ausbreitung deis. 76. — , Brown-
Sequard'sche 85. 89. 208. — , centrale
71 (Kennzeichen) 72. 73. 74. 75. 94
(Localisation) 81. — , centrale spinale
90.93. — . Charakteristiea einer solchen
65. — , Combinationen organischer u.
functioneller 99. — , corticale 71. 94.
95. — , diffuse 71. 72. — , doppelseitige
centrale 90. — . Entartungsreaction hei
ders. 164. — , Entstehung ders. 69. — ,
functionelle oder seelische 70. 97. — ,
Grade u. Formen ders. 66. — , halb-
seitige s. Hemiplegie. — , hysterische
97 (Diagnose ders.) 98. 99. — , indivi-
duelle 71. — , ischämische (als Ursache
der Muskelatrophie) 5b. — . Kernläh-
mung 71. 72. (diagn. Merkmale) 76.
77. — . organische 70. — , peripherische
70 (diagn. Zeichen) 72. 73. 75. 94 (Lo-
calisation) 76. SO. — , pseudohypertro-
phische 66. — , schlaffe 66. 73. 96. — ,
spastische 66. 75. — , spinale 85. 88.
90. 92. 93. — , Symmetrie ders. 71. — ,
Unterscheidung centraler tou periphe-
rischer 71. 75, peripherischer von Kern-
lähmung 76. 81, rein musculöser Läh-
mung von peripherischer Nervenläsion
78. — , Untersuchung auf solche 66. 67.
— , Ursache u. Sitz ders. 65. — , Ver-
lauf ders. 77.
Lagophthalmus paralyticus 259. —
spasticus 249.
Lalopathien durch Störungen des
Nervensystems 34.
Laryngeus -Läsion, Symptome ders.
339. 340.
Larynxkrisen, A eusserungen u. Vor-
kommen ders. 235.
Lateralsklerose, amyotrophi-
sche, Diagnose ders. 39S. — , elek-
trische Erregbarkeit bei ders. 158.
164. — , Localisation ders. 361. — ,
Sensibilität bei ders. 210. — , Symptome
ders. 57. 399.
Latissimus dorsi, Lähmungserschei-
nungen dess. 301.
Lebensalter, ätiolog. Bedeutung dess.
bei Nervenkrankheiten 8.
Leitungsap hasie, Entstehung ders.
39.
L endenmarkläsionen, diagnostische
Kennzeichen ders. 92. 357.
Lendennerven-Läsion, Symptome
ders. 344. 345.
Lese Störungen Nervenkranker, Prü-
fung auf solche 19. 33. — der Para-
lytischen 30. 46.
Lethargus, "Wesen dess. 21.
L i d s p a 1 1 e bei abnormem Seelenzustand
17. — , Prüfung der reflectorischen
Erregbarkeit ders. 132. — , Verenge-
rung ders. bei Lidmuskellähmung 2V.I
250.
Localisation der Anarthrie 52. — der
explosiven u. seandirenden Sprache 52.
— der Gehirnläsionen 364. — der He-
miplegie 81. — der Monoplegien (cere-
brale) 88 (spinale) 89. — der motori-
schen Aphasie 50. — der Oblongata-Lä-
sion363. — der organischen Lähmung
70. 71. 94 — 96. — der Paraphasie 51. —
der Paraplegie 91. — der Rücken-
marksläsionen 357 (Querläsion) 93. —
— der Totalaphasie 51. — der Wort-
blindheit 51. — der Worttaubheit 50.
L o c a 1 i s a t i o n s v e r m ö g e n , Prüfung
dess. bei Kranken 193, durch Messung
189.
Logorrhoe nervös Erregter 47.
Lord ose der Wirbelsäule, Untersuch-
ung auf solche 227.
Lu fthunger bei Bulbäraffectionen 235.
Lungenblutungen, nervöse Hyste-
rischer 235.
L ymphdrüsenschwellungen, Ner-
vensymptome ders. 241.
Lyssa, Diagnose ders. 395. — , Krämpfe
durch dies. 127.
Magenaffectionen Nervenkranker,
functionelle 239, Unterscheidung von
organ. Magenkatarrh 240. — , krampf-
hafte und paralytische 237. 288. — ,
Schwindelgefühl durch solche 29.
Magenkrisen bei spinalen Affectionen
238. 239.
Makrocephalie und Mikrocepkalie,
diagnostische Bedeutung ders. für ner-
vöse Störungen 226.
Malaria, Nervenstörungen infolge ders.
380.
Mal perforant durch Degeneration
peripherischer Nerven 232.
Mamniareflex, Prüfung dess. 133.
Manegebewegungen, Char akteristi-
cum ders. 128.
Medianusnerv, Läsion dess. u. deren
Erscheinungen 342.
Medicamente, diagnostische Verwen-
dung solcher bei Nervenkrankheiten
246: bei Migräne 412.
426
Register.
Melancholie, Anästhesie bei ders. 20(5.
— attonita s. cum stupore 22. — , Ge-
sichtsausdruck bei ders. 18. — , Unter-
scheidung ders. von Neurasthenie 403.
Meniere'scher Symptomencom.pl ex,
Ckarakteristicum dess. 29. — , diagno-
stiscke Verwerthung dess. 178.
Meningitis cerebralis, Bewusst-
seinsstörungen durch dies. 24. 28. — ,
epileptiscke Anfälle bei ders. 126. — ,
gummöse 382. — , Kopfschmerz durch
. dies. 220. — , Stauungspapille bei ders.
170. — , tetaniscke Krämpfe durch dies.
127. — spinalis, diagnostische Sym-
ptome ders. 225 (Wurzelsymptome) 361.
Metallvergiftungen, neuritiscke
Symptome ders. 378.
Meteorismus Nervöser 240.
Migräne 221. — , Augenaffectionen
durch dies. 173. 176. 222. — , Diagnose
ders. 222. 412. — durch Eingeweide-
würmer 237. — , idiopathische u. reflec-
torische 222. — , Ohrgeräusche im Be-
ginn ders. 179. 222.
Milz Schwellung bei Nervenkrank-
heiten 241.
Mimik s. Gesichtsausdruck.
Mitbewegungen 101. — , Vorkommen
ders. 129.
M i 1 1 e 1 o h r e r k r a n k u n g e n , Ge-
schmacksstörungen bei dens. 184. — ,
Nervenlähmung durch solche 176.
Mogigraphie, Schrift bei ders. 48.
Mogilalie, Unterscheidung ders. von
Alalie 49.
Monocontractur 64.
Monomanien durch Nervenstörungen
23.
Monoplegie 66. — , cerebrale 87 (bra-
chialis u. cruralis) 88 (facialis) 87. — ,
functionelle oder hysterische 98. — ,
spinale (cruralis) 88.
Morbus Basedowii, Graefe'sches
Symptom bei dems. 250. — , Hautver-
änderungen bei dems. 231. 233. — ,
Struma bei dems. 241. — , Zittern bei
dems. 109. 114.
Morbus sacer s. Epilepsie.
Morphinismus, Tremor durch dens.
115.
Morvan'sche Krankheit, s. Glioma-
tosis spinalis.
Motilität, Untersuchung ders. bei Ner-
venkranken 54. 65. 249, mittelst Kraft-
messer 67.
Motorische Punkte des Arms 305.
306, des Beins (Hinterseite) 317 (Vor-
derseite) 320, des Kopfs 261, des
Rumpfes 283, des Unterschenkels 324.
Multiple Sklerose, Diagnose ders.
396. — , Localisation der Läsion ders.
91. 361. — , Symptome ders. 396:
Anästhesie 208, apoplektische Anfälle
27, Drehschwindel 29, Intentionszittern
111, Sehnervenatrophie 171 , Sprach-
störungen 52. — , Unterscheidg. ders.
von Dementia paralytica, Hysterie u.
Tabes 398, von Paralysis agitans 112.
Mundhöhle, Bildungsfehler d ers . bei
neuropathisch belasteten Personen 246.
— , Prüfung der Musculatur ders. auf
ihre Beweglichkeit 260—263.
Musculatur Nervenkranker , Ernäh-
rungszustand ders. 54. — , Kraftleistung
und -Messung ders. 67 — 69. 195. — ,
Motilität ders. 65. — Spannungszu-
stand ders. 60. 63. 64, bei fehlenden
Sehnenreflexen 146.
Muskelatrophie 54. — , articuläre 58.
— , circumscripte, individuelle 56. — ,
degenerative 55. 58. 59, chronisch de-
generative 57. — , Diagnose der ein-
zelnen Formen 58. 59. 399. 413. — ,
diffuse 56. — , einfache 57. 58. — mit
Entartungsreaction s. degenerative.
— , Inactivitätsatrophie 57. — , juve-
nile 59. — bei Lähmung 66. 72. 75.
— , neurotische oder neurale 59. 413.
— , Sehnenreflexe bei ders. 146. — ,
spinale progressive (Diagnose ders.)
398. 399. — , Untersuchung bei ders.
55, elektrische 158. 164.
Muskelbewusstsein, Aufhebung
dess. bei Hysterischen 196.
Muskelerregbarkeit, elektrische
54. 55. 150. 152. 196. — , faradische 153.
159. — , Fehlen ders. 158. — , galva-
nische 153. — bei Gelenkkrankheiten
58. — bei Hysterie 97. — , qualitative
153. 157. 159. — , quantitative 153.157.
— , Reizmomente ders. 156. — , Stei-
gerung ders. 157. — , Verminderung
ders. 157. 158. — , Zuckungsgesetz
ders. 155. — , mechanische 54. 55.
137. 149. — , Steigerung ders. 150.
M u s k e 1 g e f ü h 1 bei der Brown-Sequard-
schen Lähmung 89. 208. — , Prüfung
dess. bei Nervenkranken 196.
Muskelhypertrophie 54. — , ange-
borene Eigenthümlichkeit ders. 56. — ,
Diagnose der verschiedenen Formen
ders. 57. — einer Körperhälfte 56. — ,
Pseudohypertrophie 54. 57. — , wahre
56. 57.
Muskel sinn, Aufhebung dess. 196. — ,
Leistungen dess. 196.
Muskeltonus 60. — , Aufhebung dess.
146. — , reflectorischer 60. 62. — ,
• Steigerung dess. 145.
Mydriasis paralytica 141. 142. — spa-
stica 140, Vorkommen ders. 141.
Myelitis acuta u. chronica, diagno-
Register.
427
stische Merkmale ders. 401. — , dif-
t'n sii. EntartungsreactioD bei ders. 164.
— Krankheitsherd ders. 361.
Myosis, Beobachtung ders. bei Nerven-
krankheiten 141. — paralytica, Läsion
ii. Vorkommen ders. 142.
Myositis, Relation ders. zur Neuritis
349.
Myotonia congenita s. Thomsen-
sche Krankheit.
Myot onis che Reaction, diagnosti-
sche Bedeutung ders. 150. 165.
N a c li e in pf in d ung , Untersuchung auf
solche 194.
N a c h s p r e c h e n , Prüfung Nervenkran-
ker auf dass. 33.
Nackenstarre, Entstehung ders. 270.
N a »• e 1 a f f e c t i 0 n e n hei peripherischen
Nervenläsionen 232.
Nahrungshedürfniss, abnormes Ner-
venkranker 23. 239.
N a s e n m u s c u 1 a t u r , Lähmungserschei-
nungen ders. 260.
N asenunters u c h u n g bei func-
tionellen u. vasomotorischen Störungen
des Kopfes 235.
Nephritis, nervöse Symptome ders.
242. 381.
Nervenbahnen, motorische, Läsion
ders. bei organischer Lähmung 69. 70.
73. 81. — , primäre Degeneration ders.
u. deren Symptome 398.
Nervendegeneration, Entartungs-
reaction bei ders. 164. — , multiple
148. — , peripherische 232. — , secun-
däre 349.
Nervenerregbarkeit, elektrische
150. 198. — , faradische 152. 159. — ,
galvanische 153. 154. 159. 198. — des
Opticus 168. — des Phrenicus 279. — ,
qualitative 153. 157. 159. — , quanti-
tative 153. 154. 157. — , Steigerung
ders. 157. — , Verminderung ders. 157.
158. — , Zuckungsgesetz 155.—, me-
chanische 149.
Nervengeschwülste, Formen und
Symptome ders. 60.
Nervenkrankheiten, endogene
401. — , ex 0 g en e 378 : durch Alkohol-
missbrauch 379. — durch Blutgefäss-
erkrankung 381. — durch Infections-
krankheiten, acute 380, chronische 382.
— durch Metallvergiftung 378. — ,
metasyphilitische 383. — durch primäre
Degeneration der motorischen Bahn
398. — , selbständige infectiöse 392.
Nervenkerne, motorische , periphe-
rische Lähmung bei Läsion ders. 71. 77.
Nervenlähmung 65.
Nervenschmerz (excentrischer
Schmerz), Diagnose auf solchen 216.
— , Entstehung und Charakteristicum
dess. 215. — , lanziuirender 218; s.
auch Neuralgie.
Nerven seh wund, metasyphilitscher,
Diagnose dess. 383.
Nervosität (Neurasthenie), Diagnose
ders. 401. — , Entstehung ders. 237.
— , leichte Formen ders. 402. — bei
organischen Leiden 403. — , Symptome
ders. 403 : Kopfschmerzen 223, Ohren-
sausen 179, Schwindelgefühl 29. — ,
syphilitische 389.
Neuralgie, Diagnose ders. 216. — ,
echte 216. — durch Geschwülste der
Nerven 60. — , primäre u. seeundäre
217. — , rheumatische 392. — , Sitz
der Läsion bei ders. 218.
Neuritis 349. — ascendens, migrans
350. — , Diagnose ders. 350. 355. 356.
392. — , Entartungsreaction bei ders.
164. 350. — , Gefühlsstörungen bei
ders. 211. 212. 213. 350. — , Hyper-
trophie der Nerven bei ders. 59. 80.
— , multiple 146. 351. — , primäre in-
fectiöse 392. — , puerperale 353. 380.
— , retrobulbäre 173. — , Sebnenreüexe
bei ders. 146. 352. — , syphilitische
382. 3S3. — , toxische 351. 353. 378.
— optica, Entstehung ders. 171.
Neuropathische Belastung 4. ■ — ,
Relation ders. zur Neurasthenie 402.
Neurosen, functionelle , diagnostische
Kennzeichen ders. : Ohrensausen 179,
Rückenschmerzen 225 , Verdauungs-
störungen 237. — , refiectorische 235.
— , traumatische, Schmerzempfindung
bei dens. 226.
Nickkrämpfe, Wesen ders. 276.
Nierenkrisen durch nervöse Stö-
rungen 243.
Niesekrampf 285.
Nymphomanie bei abnormem Seelen-
zustand 23.
Nystagmus 111. 253. — , ataktischer
102. — bei multipler Sklerose 112.
0 b er ar minus kein, elektrische Prü-
fung ders. 292. 293. 294. 295. 298.
300. 301. 302. 303. — , Krampf- und
Lähmungserscheinungen ders. 290 bis
304.
Ober schenkelmuskeln, Contrac-
turen u. Lähmungen ders. 318 — 323.
Oblongata-Erkrankung 52. 364. — ,
Localisation ders. 363. — , Symptome
ders. : Anästhesie 207 , anarthrische
Störungen 52, Ataxie 105, Lähmung
83. 85. 95.
Obstipation bei Gehirn- u. Rücken-
markskrankheiten 237. 240.
428
Kegister.
Obturatorius(nerv) -Läsion, Sym-
ptome ders. 345.
Occipitalisneuralgie, Diagnose
ders. 392.
Oculomotoriusläsion , Erscheinun-
gen der Kernläsion 365. — . Lähmungs-
erscheinnngen ders. S3. 333.
0 edem bei Neuritis u. multipler Nerven-
degeneration, diagnostische Bedeutung
dess. 81. 231.
Oesopliaguskrampf. Diagnose dess.
239. 270.
Oesophaguslähmung, Symptome
ders. 269. 270.
Ohnm ach tan Wandlung. Bewusst-
sein bei ders. 222. — , diagnostische
Verwerthung ders. 29.
Ohr. Bildungsfehler dess. als Zeichen
neuropathischer Belastung 246. — ,
Untersuchung dess. bei Nervenkranken
176. 262, elektrische 179.
Ohrenkrankheiten mit nervösen
Symptomen 29.
Ohrensausen, diagnostische Verwer-
thung dess. 17S. 179.
0 h r m u s k e 1 n (des Mittelohrs) , Prüfung
ders. auf ihre Beweglichkeit 257. 258.
0 lfactorinsläsion, Functions-
störnngen ders. 332.
Oligurie, Vorkommen ders. beiGeistes-
n. Bückenmarkskrankheiten 241.
Ophthalmoskopische Untersuch-
ung Nervenkranker 167. — , diagno-
stisch wichtige Befunde bei ders. 168.
Opisthotonus 279.
Opticus, Atrophie dess. 171. — , Läsion
dess. u. deren Erscheinungen 332. 333.
— , Neuritis dess. 171. — Stauungs-
papille dess. 169. — , Untersuchung
dess.. elektr. 168.
Organkrankheiten, Ursache func-
tioneller Nervenstörungen 6. 7.
Organ seh merz, diagnostische Kenn-
zeichen dess. 215.
Ort sinn s. Localisationsvermögen.
Ovarie (Ovarialhvperästhesie) Hysteri-
scher 25. 122. 245.
Pachymeningitis cervicalis hyper-
trophica chronic, Diagnose ders. 362.
Papillitis s. Neuritis optica.
Paraanästhesie 199. — Localisation
der Läsion ders. 202.
Paradoxe Contraction, Diagnose
ders. 140.
Paradoxe Reaction des Ohres bei
elektrischer Reizung ISO.
Parästhesien 119. — , Entstehimg
ders. 211. 212. — , Formen ders. 199.
— des Genicks 181. — des Geschmacks
183. — , halbseitige infolge apoplek-
tischer Anfälle 27. — gelähmter Mus-
keln 79. 92. 93. 94. — . Unterschei-
dungen ders. nach dem Sitze und der
Ausbreitung 199.
Parageusis. Vorkommen ders. 183.
Paragraphie, Diagnose ders. 39. — ,
literale bei progress. Paralyse 44.
Paralalie, Charakteristicum u. Ent-
stehung ders. 49.
Paralexie bei Sprachstörungen 39. —
bei progressiv. Paralyse 44.
Paralysis agitans, Diagnose ders.
398. — , Symptome ders. 398: Muskel-
rigidität 65, Zittern 112. — circum-
scripta u. universalis, completa u. in-
completa 66.
Paralytische Anfälle 30. — , intel-
lectueller Zustand bei dens. 27. — ,
Unterscheidung ders. von idiopathi-
scher Epilepsie 126.
Paramyoclonus multiplex, Symp-
tome dess. 117.
Paranoia, Anästhesie bei ders. 206.
Paraparesis 66. — spinalis 90: Er-
scheinungen 90, Localisation 91.
Paraphasie, choreatische 39. — , Dia-
gnose ders. 38. — , Entstehung ders.
39. — , isolirte 39. — , literale 38 (bei
progressiv. Paralyse) 44. — , Locali-
sation ders. 51. — , physiologische 38.
— , Relation ders. zu Agrammatismus
39. — , verbale 38. — , Worttaubheit
bei ders. 40.
Paraphrasie der Irren 47.
Paraplegia 66. — cerebralis 88, cer-
vicalis 93 , hysterica 98 , spastica 90.
91, spinalis 90, urinaria 242.
Paresie analgesique s. Gliomatosis
spinal.
Paresis, Charakteristicum ders. 66. — ,
diagnostische Kennzeichen ders. 74. — ,
Localisation ders. 71. — ■, Untersuchung
auf dies. 67.
Parkinson's Krankheit s. Paralysis
agitans.
Parosmie, Prüfung ders. 181. 332.
P a s s i v b e w e g u n g e n zur Prüfung der
Bewegungsempfindung 195, der Mus-
kelspannung 60. 61.
Patellarclonus durch pathologisch
gesteigerte Erregbarkeit 138.
Patellarsehnenreflex s. Kniephä-
nomen.
Pectoralismuskeln, Krämpfe ders.
303. — , Lähmung ders. 302.
Pemphigus durch Erkrankung der
Nerven 231.
Perineuritis, Diagnose ders. 349.
P e r i o s t r e f 1 e x e , entfernte u. gekreuzte
139. — , Prüfung ders. 137.
Peripherische Nerven, Läsion ders.
Register.
429
u. deren Erscheinungen in der Empfin-
dung 2lo, in der Hautbeschaffenheit
231, "in der Motilität 96.
Peristaltik, Störungen ders. durch
Nervenaffectionen 288. 289.
Peronäalmuskeln, Contractur ders.
326. — , Lähmung ders. 325. 329, rheu-
matische 392.
Perversion der Empfindung s. Em-
pfindungen.
P e t i t in a 1 29. — , Diagnose dess. 3s2. 411.
Phosphaturie Nervenkranker 242.
Phrenicus, elektrische Reizung dess.
und deren Erscheinungen am Atheni-
apparat 27!).
Plastische Stellungen Hysterischer
122.
Plexus brachialis, Läsion dess. u.
deren Symptome 99. 342. 343. —
c o cc y g e u s , Läsion dess. 346. —
1 u in b a li s , Verletzungserscheinungen
dess. 344. 345. — sacralis, Func-
tionsstörungen durch Läsion dess. 345.
346.
Pneumonie, Bewusstseinstrübung
durch dies. 24. — , neuritische Sym-
ptome ders. 353. 380.
Pocken, nervöse Störungen durch dies.
380.
Poliomyelitis acuta, diagnostische
Kennzeichen ders. 126. 146. 210. 393.
— , Localisationders. 361. — chronica,
Diagnose ders. 393.
Pollutionen durch Innervationsstö-
rungen 244.
Polyästhesie, Wesen und Prüfung
ders. 194. 199.
Polyarthritisacuta, neuritische Sym-
ptome ders. 3S0.
Polymorphie mu s der Vererbung
krankhafter Zustände 4.
Polymyositis acuta, Sensibilität hei
ders. 210. — , Unterscheidung ders.
von Polyneuritis acuta 353.
Polyneuritis, acute 351. — , Diagnose
ders. 352. — , seeundäre 353. ■ — , Sym-
ptome ders. 351. 352.
Polyurie bei functionellen und orga-
nischen Nervenleiden 241.
Pons Varoli-Läsion, Localisation
ders. 364. — . Symptome ders. 83. 85.
95. 212.
Po st epileptische Erscheinungen
24.
Priapism u s bei functionellen Neurosen
244.
Progressive Paralyse, Beginn ders.
389. — , Diagnose ders. 29. 388. 391.
— . Entstehung ders. durch metasy-
pliilitischen Nervenschwund 383. — ,
Symptome ders. 30. 389. 391: apoplek-
tische Anfalle 27. 389, epileptische
Anfälle 120. 389, Geruchsanomalien
182, neurasthenische Beschwerden 389,
paralytische Störungen 43. 44, psy-
chische Schwäche 30. 389. 390, reflector.
Pupillenstarre 141. 142. 390, tabische
Symptome 389, Zittern 30. 115. — ,
Unterscheidung ders. von einfacher
Seelenstörung 31.
Pseudoataxie, Diagnose ders. 104.
Pseudobulbärparalyse, diagnosti-
sche Kennzeichen ders. 87. SS. 399.
P s e u d o h y p e r t r o p h i a museul orum
54. 57. — lipomatosa 54. — progres-
siva 57: diagnostische Kennnzeichen
59, Muskelhypertrophie im Beginne
ders. 56.
Psychische Störungen, Formen
ders. 21. — , Grade ders. 23. 31. —
bei intactem Bewusstsein und deren
Unterscheidung von den Erscheinungen
der progress. Paralyse 29. — in Vei-
bindung mit Emphndungsstörungen
206.
Ptosis, organische u. hysterische 249.
Pudendo-haemorrhoidalis-Lä-
sion, Functionsstörungen ders. 346.
Pulsfrequenz, nervöse Einflüsse auf
dies. 236.
Pupillendifferenz durch nervöse
Störungen 142. 143.
P upillenreaction 132. — bei ab-
normem Seelenzustand 17. — bei Am-
blyopie u. Amaurose 173. — . consen-
suelle 254. — , diagnostische Bedeutung
ders. 140 — 143. — bei progressiver
Paralyse 30. — , Prüfung ders. 254.
— bei Stauungspapille 170.
Pupillenstarre, reflectorische,
diagnostische Bedeutung ders. bei Ner-
venkrankheiten 143. 147. — , Vor-
kommen u. Wesen ders. 142. 257.
P y r a m i d e n b a h n e n , Degeneration
ders. u. deren Aehnlichkeit mit pro-
gressiv. Paralyse 31. — , Symptome
der Läsionen ders. im Gehirn 83. 85.
95. 304. 306, in der Oblongata 95. 364,
im Rückenmark 95. 96. 359. 300.
Quadriceps femoris, Lähmungser-
scheinungen dess. 321.
Quecksiltterver giftung, Zitterbe-
wegungen durch dies. 115. 355.
Querläsion des Bückenmarks, dia-
gnostische Symptome ders. 92. 93. 94.
— , Localisation ders. 357 — 359. 362.
R a c h e n m u s c u 1 a t u r , Untersuchung
ders. auf Innervationsstörungen 269.
Radialislähmung, Erscheinungen
ders. 343. — . rheumatische 392.
430
Register.
Rasseneinf Risse auf das Nerven-
system 10.
I! a u 111 g e f ü li 1 der Haut. Untersuchung
dem bei Nervenkranken 186. 193.
R e c ur r e n s 1 ä h ni un g , Functionsstü-
ruugeu durch, dies. 273. 340.
Reflexhogen der motorischen und
sensorischen Muskelnerven öS. 1-47. — ,
Sehnenreflexe hei Unterbrechung dess.
146.
Reflexe 132. — . angeborenes Fehlen
ders. 14b. — , Einfluss des Willens auf
dies. 134. — . entfernte 139. — der
Haut s. Hautreflexe. — . Herabsetzung
oder Fehlen ders. 135. 139. 144. 146.
— bei Hysterie 97. — . oberflächliche
132. — . Prüfung ders'. 54. 132. 134.
— der Pupillen 132. — bei Querläsion
des Rückenmarks 93. 360. — der
Sehnen s. Sehnenreflexe. ■ — . Stärke
und Ausdehnung ders. 134. — . Steige-
rung ders. 134. 137. 143. — . tiefe 132.
139. 145.
Reflexkrampf HS. — . salvatorischer
12-.
Reflextaubheit der Retina 255. — ,
Unterscheidung ders. von reflect. Pu-
pillenstarre 255.
Relaxation der Muskeln. Prüfung auf
solche 60.
Respirationsstörungen, nervöse
234. 279—285. — . krampfhafte 235.
280. 2S5. — bei Querläsion des Hals-
marks 93.
Retentio urinae paralvtica 242.
289. — spastica 243. 290.'
Rhomboidei. Contraetur- und Läh-
mungserscheinungen ders. 293. 294.
Riechcentrum, Localisation dess. 370.
Rigidität der Muskeln 61, bei Para-
lysis agitans 65. — . spastische 61.- — ,
Verbreitung ders. 63.
Rollbewegungen. Diagnose ders. u.
Localisation der Läsion 12S. 129.
Romberg'sches Symptom, Nachweis
dess. 104.
R ü c k e n m a r k s de g e n e r a t i o n . se-
cundäre ah- u. aufsteigende, diagno-
stische Bedeutung ders. 360.
Rü ck en mar ks kr a nkheit en, An-
ästhesie durch dies. 207. — . ataktische
Störungen bei deus. 105. — . Ent-
stellung ders. 360. 362. — im Gebiete
der grauen Substanz 360. — . Krämpfe
durch solche 120. — . Lähmungserschei-
nungen ders. 88. 95 (bei Halbseiten-
läsion) 89. 90 (bei Querläsion) 92. 93.
95. — . Localisation ders. 357. — ,
Schmerzäussernngen bei solchen 225.
— . secundäre — , 360. 361. — durch
Trauma 362.
Rückenmarkslähmung 65. SS. 92.
93. 208.
R ü c k e n m a r k s u e r v e n . Functionsstö-
mngen bei Läsion ders. 340. 342. 344.
345.
Rückenmuskeln, Untersuchung ders.
auf ihre Beweglichkeit 276 — 279.
Rückenschmerz, diagnostische Be-
deutung dess. 224 — 226. — , Entstellung
dess. 224.
S acralnerven-Läsion, Functions-
störungen durch dies. 345. 346. — ,
Localisation ders. 357.
Salemkrämpfe 276.
S a ty r ia s is bei abnormem Seelenzu-
stand 23.
Scapula reflex, Prüfung dess. 133.
Schädel. Untersuchung dess. bei
Nervenkranken auf Empfindlichkeit
227. auf Form und Gestalt 226. 246.
S c h a r 1 a c h , nervöse Störungen infolge
dess. 380.
Schilddrüse. Untersuchung auf Ano-
malien bei Nervenkranken 240. 241.
Schlaf bei abnormem Seelenzustand,
Formen und Grade dess. 21. 22.
Schlafwandeln s. Somnambulismus.
Schlingbewegung. Untersuchung
ders. 133.
Schlinglähmung, hysterische 9S. 99.
Schmerzgefühl, Bewegungslosigkeit
bei heftigem 69. — , Diagnose dess.
214. 215. — , Entstehung dess. 213.
214. — ; excentrisches 214. — , func-
tionelle oder seelische Schmerzen 218.
— im Kopfe 220. — bei Lähmung
79. — lanzinirende, Schmerzen 218. — ,
physiologisches u. pathologisches 213.
214. — . Prüfung dess. bei Kranken
193, durch Messung 188. 189. — im
Rücken 224. — , verspätetes 194.
Schmer zhallucinationen.Diagnose
ders. 214. — . Entstehung ders. 213.
S c h m e r z p u n k t e . diagnostischer Verth
ders. 216. — , Prüfung auf solche 194.
195. — , Relation ders. zu Druck-
punkten 117, zu sensorischen Punkten
198.
Schreibekrampf, Entstehung dess.
119. — . Schrift bei solchem 48.
Schriftblindheit (Alexie), Charakte-
risticum u. Diagnose ders. 40. — , iso-
lirte 41.
8 e h r if tst ö'rungen , nervöse 50 : atac-
tische 50. 101. — bei multipler Skle-
rose 112, bei Paralysis agitans 113,
bei progressiver Paralyse 30. 44. 45.
— , Prüfung auf solche 33. — , Zitter-
schrift 50.
Ree-ister.
431
citri ft stücke Nervenkranker zur
Prüfimg- ihres Seelenzustandes 19. .'<2.
ch ü ttelkrampf, Diagnose dess. 110.
— , fieberloser 116.
chüttellähmung, s. Paralysis agi-
tans.
c k u 1 1 e r ni u s k e 1 n . Untersuchung
ders. auf ihre Beweglichkeit 290 bis
304, elektrische 292. 293. 295. 298.301.
302. 303.
chwachsinn, Diagnose dess. 23. —.,
Paralytischer 30. 389. 390.
<• h w e i s s n e r v e n 1 ä h m u ng , diagno-
stische Verwerthung ders. 2.'U.
oh windel, Entstehung dess. 22. — ,
Vorkommen u. diagnostische Bedeu-
tung dess. 28. 29. — in Verbindung
mit Ohrensausen 17$.
coliose der Wirbelsäule, Berück-
sichtigung ders. hei Nervenerkrank-
ung 227.
cotome, centrale. Diagnose und Vor-
kommen ders. IT 3.
crotumreflex, Prüfung dess. 133.
ecretionsstörungen des Magen-
darmkanals durch Veränderungen im
Nervensystem 237.
e e 1 is c her Z u s t and , Grenze zwischen
normalem und krankhaftem 20. — ,
Untersuchung dess. hei Nervenkran-
ken 17.
eelenstörung. einfache. Diagnose
ders. 31.
ehcentrum, Localisation dess. 369.
ehnenreflexe 132. — . diagnostische
Bedeutung ders. 145. 148. — , Emfluss
des Willens auf dies. 145. — , Fehlen
ders. 140. 146. 14$. — , Formen ders.
135. 137. — , gesteigerte 63. 137. 145.
— . Hervorrufen ders. 135. — Hyste-
rischer 97. — ■ hei organischer Läh-
mung 72. 73. — hei Paresen 74. — hei
progress. Paralyse 30. 31. — . Prüfung
der Muskelspannung durch solche 60.
63. 64. — hei spastischer Spinalpara-
lyse 90. — bei spinaler Monoplegie
90. — hei transversaler Rückenmarks-
läsion 92. 93. — . verminderte 64. 139.
146.
ebner venatrophie, diagnostische
Bedeutung ders. 171. 172. — . Vor-
kommen ders. hei multipler Sklerose
und Tabes 171.
ehstörungen Hysterischer 172. —
bei Opticusatrophie 172. — bei Stau-
ungspapille 169. — . Untersuchung
Nervenkranker auf solche 167.
eitenzwangslage, Localisation der
Gehirnläsion bei ders. 12S. 129.
ensibilitätsstörungen bei Läh-
mung 74. 75. 76. 78. 79. S5. 94. — .
Untersuchung auf solche 185. 195.
196.
S e n s ib 1 e N e rv e n , elektrische Unter-
suchung ders. 198. — . neuralgische
Veränderung ders. 216. 217.
Sensorische Punkte, Prüfung auf
solche 198.
S e r r a t usl äh m u n g . rheumatische.
Diagnose u. Symptome ders. 392.
Sexualempfindung, conträre bei
psychischen Defecten 23.
Sil benstolpern 44. — , Prüfung auf
dess. 45.
Simulation der Epilepsie 127. — einer
functionellen Lähmung 99. — der
Hysterie 40$. — , Prüfung auf solche 21.
Singultus. diagnostische Merkmale
dass. 280.
Sinnestäuschungen, Untersuchung
auf solche 22. 23.
Sklera des Auges bei abnormem Seelen-
zustand 17.
Sohlenreflex, diagnostische Bedeu-
timg dess. 145 , bei Querläsion des
Rückenmarks 93. — . Prüfung dess.
134.
Somnambulismus, Diagnose dess. 22.
Somnolenz durch nervöse Affectionen
21.
Sopor Nervenkranker 21. — durch
Intoxicationen 24. — bei Meningitis 2$.
Spannungszustand der Muskeln 60.
— , erhöhter 61. 63. 64. — .verminder-
ter 60. 64.
Spasmus 61. — , diagnostische Unter-
scheidung dess. von passiver Contractur
62. — gelähmter Glieder 90. — nicti-
tans 259.
Spastische Phänomene Ol. 62. —
bei progressiver Paralyse 31. — bei
spastischer Spinalparalyse 90.
Speichel fluss Nervenkranker , dia-
gnostische Verwerthung dess. 237. 239.
Spermatorrhoe durch Nervenaffec-
tionen 244.
Sphin c t er p up il la e , Krampf- u. Läh-
mungserscheinungen dess. 256.
Spinalepilepsie 138.
Spinalirritation. Diagnose ders. 226.
227.
Spinalparalyse, spastische 90. — .
Diagnose ders. 91. 414. — . Localisa-
tion ders. 361.
Sprache, Aufhebung des Verständ-
nisses ders. 39. — , explosive 50 (Lo-
calisation ders.) 52 — . scandrrende 49
(Localisation) 52. — . Untersuchung
ders. bei Nervenkranken 1$. 19. 32.
— , Versagen ders. ohne krampfhafte
Bewegungen 4$.
Sprachlosigkeit, Diagnose ders. 47.
432
Register.
Sprachstörungen, anarthrische 34.
48. 52. — , dyslogische (logopathische)
34. 46. 51. — , Entstellung- ders. 34.
— nach Liclitlieim's schein atischer
Darstellung 35. 36. — , Localisation
der Läsion ders. 50 — 52. — , parapha-
tische 38. 39. 43. — , spasmodische 48.
Sprachtau hheit s. Worttaubheit.
Sprechfähigkeit, Prüfung ders. bei
Nervenkranken 32.
Sprechweise, Prüfung ders. bei Unter-
suchung des seelischen Zustandes
19. 32.
Stabkranzläsion, Erscheinungen
ders. 370.
Stapedius-Lähmung, Gehörstö-
rungen durch dies. 258.
Starrkrampf s. Tetanus.
Statusepilepticus ,Charakteristicum
dess. 124.
Status praesens, Aufnahme dess. bei
Nervenkrankheiten 15. — durch Fest-
stellung der Beschwerden des Kranken
15. — durch Untersuchung des Be-
wegungsapparates 53. 65, des Empfin-
dungsapparates 166, des Schädels u.
der Wirbelsäule 226. 227, des seeli-
schen Zustandes 17, der Sprache 32,
der vegetativen Functionen 228.
Stauungspapille, Diagnose ders. 170.
— , doppelseitige 169. 170. — , ein-
seitige 171. — , Entstehung u. Vor-
kommen ders. 169. 170.
St ereognostische Perception
Nervenkranker , Untersuchung ders.
197.
Sternocleidomastoideus, Krampf-
u. Lähmungssymptome dess. 273. 274.
Stimm bandlähmung, Diagnose ders.
272. 273. — , hysterische 97.
Stottern , Diagnose dess. 48. — Unter-
scheidung dess. von Battarismus 47.
Strabismus paralyticus 251. — , spas-
ticus 253.
Stupor, Charakteristicum dess. 22. — ,
epileptischer 24.
Sy mpathicusl äsi o n , Symptome ders.
'Wi.
Syphilis des Nervensystems 382. — ,
Diagnose ders. 383.
Syringomyelie, Diagnose ders. 79.
400. — , Gelenkaffectionen bei ders.
234. — , Hauptsymptom ders. 400. — ,
Unterscheidung ders. von Neuritis 355.
400.
Tabak sv er giftung, chronische und
deren Symptome : Amblyopie u. Amau-
rose 173, Tremor 115.
Tabes dorsalis, Diagnose ders. 105.
112. 147. 210. 384. 387. — , Entstehung
ders. 383. — , Kniephänomen bei ders.
147. 385. — , Symptome ders. 384 bis
387: Anästhesie 209, Ataxie 105. 386,
Drehschwindel 29 , Gefühlsstörungen
209. 212. 385, Gehörsstörungen 177.
178. 179. 386, Geruchsanomalien 182,
Geschmacksstörungen 184, Glykosurie
241. 38 7, Knochen- u. Gelenkaffectionen
233. 234. 386. 387, Opticusatrophie 171.
paralytische Anfälle 27, reflectorische
Pupülenstarre 142. 147.3S4,sensorische
Entartungsreaction 198. — , Unter-
scheidung ders. von Diabetes, Hysterie,
Polyneuritis, tertiärer Syphilis 387. 388.
T a b e s f u s s , Knochenveränderungen bei
dems. 233.
Tachykardie, nervöse 236. — durch
Vaguserkrankung 340.
Tast- od. Empfindungskreise 186.
Tastgefühl, Prüfung dess. durch Be-
rührung mit dem Einger 192 , durch
Bestimmung der Baumunterschiede
186. 193, durch Unterscheidung glatter
u. rauher Flächen 186. 192.
Tastsinnlähmung 199.
T a üb he it. nervöse, Diagnose ders. 177.
178.
Temperatur sinn, Anomalien dess.
194. 200. — , Prüfung dess. beiKranken
193, durch Messung der Unterschieds-
empfindlichkeit 187. 188.
Tensor fasciae latae, Bewegungs-
störungen im Hüftgelenk bei Contrac-
tur u. Lähmuug dess. 319.
Tensor palati, Krampf u. Lähmung
dess. 258. — tympani, Functions-
störungen dess. 257. 258.
Tetanie, Diagnose ders. 128. 394. — ,
elektrische Erregbarkeit der Muskeln
bei ders. 157. — , Reflexe bei ders. 146.
— , Symptome ders. 127.
Tetanus (tetanische Anfälle od. Kräm-
pfe), Charakteristicum dess. 117. — ,
Diagnose dess. 395. — , Vorkommen
dess. 127. 128.
Thermästhesiometer, Anwendung
dess. 187.
Thermanästhesie, diagnostische Be-
deutung ders. 200. 206. 209.
Thomsen'sche Krankheit (Myotonia
congenita) 117. — , Diagnose ders. 413.
— , Erscheinungen ders. 118. — ,
Muskelerregbarkeit bei ders. 150. 165.
413. — , Muskelhypertrophie bei ders.
56. 57.
Thränent räufeln durch Innerva-
tionsstörungen 259.
Thrombose der Hirngefässe, Veran-
lassung zu Apoplexien 25. 26.
T i b i a 1 i s m u s k e 1 n , Contractur u. Läh-
mung ders. 327. 329.
Reo-i st er.
433
Tic convulsif 203. — rotatoire 276.
T o p o a 1 gie bei hypochondrischen Zu-
ständen 21'.).
Transformation der Vererbung von
Krankheiten 4.
T ran m a , ätiologische Bedeutung dess.
bei Nervenkrankheiten 6.
T re mo r 108. — dnrch Alkoholvergiftnng
109. 115. — . convulsivischer 112. — ,
diagnostische Bedeutung dess. 115. — ■,
Entstehung dess. 110. 114. — essen-
tialis 114. — Gesunder 108. 114. — ,
mercnrialis 115. — , paralysischer 30.
110. 115. — . posthemiplegischer 113.
— . seniler 109. 114. — , spastischer
11 it. 111. — der Stimme 109. — .
Untersuchung auf dens. 108.
Triceps brach ii, Functionsprüfung
dess. 303. 304. — surae, Contractur
dess. 325. — , Lähmung dess. 324.
Tricepssehnenreflex. Prüfung dess.
137.
Triebe, krankhafte bei abnormem
Seelenzustand 23.
Tri o- eminus läsion 335. — . Sym-
ptome ders. 181. 336.
Trigeminusneuralgie , Diagnose
ders. 392.
Trismus, Diagnose dess. 395. — .Ent-
stehung dess. 264.
Trochlearis-Läsion. Functionsstö-
rungen durch dies. 333. 365.
Trophische Störungen der Haut bei
Erkrankung peripherischer Nerven 231.
— des Verdauungsrohres bei Hysterie
237.
Tubercula dolorosa. Untersuchung
auf solche 60.
Tnbercnlose-Nenritis 211. 353. — ,
Diagnose ders. 3S2.
Typhus, Bewusstseinsstörungen in
dems. 24. — . gesteigerte Sehnenrefiexe
bei dems. 140. — , neuritische Sym-
ptome dess. 3S0.
TJ e b e r a n s t r e n g u n g . Bedeutung ders.
für die Entstehung nervöser Störun-
gen 6.
Ulcerationen der Haut bei Läsiou
des Nervensystems 232.
Ulnaris-Lähmung. Functions-
störungen des Arms u. der Hand bei
ders. 342. 343. — . rheumatische 392.
Unt e rki ef er ph änomen , Untersuch-
ung dess. 13S.
Unters chenkelmuskeln, Bewe-
gnngsstörungen des Fusses bei Con-
tractur und Lähmung ders. 323 — 331.
— . elektrische Untersuchung ders. 324.
330.
Urämie, nervöse Symptome ders. 242:
Mob ins, Diagnostik der Nervenkrankheiten.
Amaurose (doppelseitige) 173. Konvul-
sionen 120. Dyspnoe 235, Koma 24.
Urate . Zunahme ders. im Harn Nerven-
kranker 242.
Urethralkrisen, nervöse 244.
Ur ti c ar i abil d u n g bei nervöser Reiz-
barkeit 231. 288.
Vag o- ac c e s s or in s-L äsio n , Erschei-
nungen ders. 339. 340. — , Kernläsion
363. 304.
Vasomotorische Störungen durch
nervöse Affectionen 230. 231. — bei
Anästhesie 201. — bei Lähmung 74.
75, spinaler 90. 94. — , Untersuchung
auf solche 2S7. 288.
Vastusmuskeln des Oberschenkels,
Lähmung ders. 322.
Vegetative Functionen. Unter-
suchung ders. bei Nervenkranken 22S.
Verdauungsstörungen, Wirkung
u. Ursache nervöser Störungen 237.
V er s t ändni s s Nervenkranker, Prüfung
des bildlichen, mimischen, musikali-
schen, schriftlichen 34, des sprach-
lichen 33.
Vertigo a stomacho laeso nervöser
Personen 29.
Vierhügel-Läsion, Erscheinungen
ders. 221. 365. — , Localisation ders.
365. 366.
Visionen der Ekstatischen 23.
Vitiligo infolge nervöser Störungen
231. 232.
Vorderarmmuskeln, Untersuchung
ders. auf ihre Beweglichkeit 304 — 308,
elektr. 307.
Vorderhörner des Rückenmarks,
Läsion ders. u. deren Erscheinungen
306.
V o r s t e 1 1 u n g e n bei abnormem Seelen-
zustand 23.
ua chsthumsanomalien an gelähm-
ten Gliedern 234.
Wärmeempfindlichkeit der Haut,
Messung ders. 188.
Wahnideen, Diagnose ders. 23. — .
fixe 23. — . beiprogressiver Paralyse 30.
Wahrnehmungen bei krankhaftem
Seelenzustand 22.
Wirbelerkrankungen, krebsige u.
tuberculöse, diagnostische Bedeutung
ders. für Rückenmarksaffectionen 362.
— . Schmerzäusserungenbei solchen225.
Wirbelsäule. Untersuchung ders. auf
Beweglichkeit . Empfindlichkeit und
Form bei Nervenkranken 227. 276.
Wohnort. Einfluss der geograph. Lage
dess. auf die Entstehung nervöser
Leiden 9.
2. Aufl.
2S
434
Register.
"Wortblindheit. Legalisation der
Läsion ders. 51.
"Worttaubheit 39. — . isolirte 41. — .
Läsion der linken Sehläfenwindung
bei ders. 50.
TTürgbewegung. Hervorrufen ders.
dureb reflectorisehe Erregbarkeit 133.
~\Yu r z e 1 s y m p t o in e bei seeundären
Rückenmarkserkrankungen 36 1 .
Z ahnanomalien, Untersuchung
Nervenkranker auf solcbe 234.
Zehengelenke, Funetionsprüfung der
Muskeln des Fusses u. der Zehen bei
Bewegungsstörungen ders. 330. 331.
Zittern s. Tremor.
Zuckungen, rhythmische . Diagnose
ders. 117.
Zuckungsgesetz der motorischen
Nerven und Muskeln 155.
Zuckungsträgheit bei der elektr.
Reizung 163.
Zunge, Prüfung der Geschmacksem-
pfindung ders. 1S2. — , Untersuchung
ders. auf Atrophie 266, Krampf 266,
Lähmung 265.
Zungenbein, Untersuchung dess. auf
seine Beweglichkeit 270 — 272.
Zwangsbewegungen, Diagnose ders.
128.
Zwangshandlungen bei abnormem
Seelenzustand 23.
Zwangsvorstellungen, Wesen ders.
23.
Zwerchfell, Lähmung u. Krampf dess.
279. 2S0.
Neuer Verlag von F. C. W.VOGEL in Leipzig.
Arbeiten aus der medicinischen Klinik zu Leipzig1. 1893. Herausgegeben von
Prof. Dr. II. Curschmann. Anatomische, experimentelle und klinische Bei-
träge zur Pathologie des Kreislaufs von H. Curschmann, W. His jr.,
K. Kelle, R Kockel, L. Krehl, H. Krumbholz, E. Romberg, W. Streng. Mit
13 Abbildungen im Text, gr. 8°. 1893. 8 Jk
Arbeiten aus dem Medicinisch- klinischen Institute der Königl. Ludwig-
Maximilians-Universität in München. Herausgegeben von Prof. Dr. H. y.
Ziemssen und Prof Dr. J. Bauer in München, gr. 8°. 1893.
III. Band 1. u. 2. Hälfte. Mit 9 Abbildungen im Text und 13 Tafeln. 12 Jk
Günther, R., Dr. in Sonnenstein, Ueber Behandlung und Unterbringung
der irren Verbrecher, gr. 8°. 1893. 4 Jk
Handbuch der Neurasthenie. Mit Anderen herausgegeben von Dr. Franz
Carl Müller in Alexandersbad, gr. 8°. 1893. 12 Jk; geb. li Jk
Handbuch der Ohrenheilkunde. Mit Anderen herausgegeben von Hermann
Schwartze, Prof. in Halle a. S. 2 Bände. Lex.-8°. 55 Jk; geb. 61 Jk
I.Band. Mit 133 Abbildungen. 1892. 25 Ji; geb. 28 Jk
II. Band. Mit 177 Abbildungen. 1893. 30 Jk; geb. 33 Jk
Krehl, Ludolf, Professor in Jena, Grundriss der Allgemeinen klinischen
Pathologie, gr. 8°. 1893. 6 Jk; geb. 7 Jk 25 8).
Karg, Carl, Prof. Dr. und Schinorl, Georg, Privatdocent Dr. in Leipzig, Atlas
der Pathologischen Gewebelehre in mikrophotographischer Darstellung.
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. F. V. Birch-Hirschfeld in Leipzig. Mit
27 Tafeln in Kupferätzung, gr. Fol. 1893. Vollständig 50 Jk — Elegante Halb-
franz-Mappe dazu 6 Jk — Erschien in 6 Lieferungen.
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20. Vortrag. Uebung und Schonung des Nervensystems, gr. 8°. 1893. 60$.
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König, Willi., Dr. in Dalidorf, Ueber Gesichtsfeldermüdung und deren Be-
ziehung zur concentrischen Gesichtsfeldeinschränkung bei Erkrankungen des
Centralnervensystems. gr. 8°. 1893. 4i
Landerer, Albert, Prof. Dr. in Leipzig, Anweisung zur Behandlung der
Tuberkulose mit Zimmtsäure. xMit 2 Abbildungen. 8°. 1893. 50$.
Lesser, E., Professorin Bern, Lehrbuch der Haut- und Geschlechts-
krankheiten. Für Aerzte u. Studirende. 2Theile. gr. 8°. 12 Jk; geb. 14~/£50$.
II. Theil. Geschlechtskrankheiten. 7. Auflage. Mit 7 Abbildungen
und 4 Tafeln. 1893. 6 Jk; geb. 7 Ji 25 §.
I. Theil. Hautkrankheiten. 7. Auflage. 1892. 6 Jk; geb. 7 Ji 25 ä>
t. Leube, Wilhelm, Prof. Dr. in Würzburg, Specielle Diagnose der inneren
Krankheiten. Ein Handbuch für Aerzte und Studirende. Nach Vorlesungen
bearbeitet. 2 Bände. Lex.- 8°. 22 Ji; geb. 24 Jk 50 §>.
II. Band. Nervensystem. Rückenmark. Hirn. Stoffwechsel. Infectionskrank-
heiten. Mit 57 Abbildungen im Text. Erste bis dritte Auflage. 1893.
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I.Band. 3. Auflage. 1892. 10 Jk; geb. 11 Jk 25 §.
Rieder, Herrn., Privatdocent Dr. in München, Atlas der klinischen Mikr o-
skopie des Blutes. 12 Tafeln mit 48 Abbildungen in Farbendruck. Lex.-8°.
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Schmorl, Georg, Privatdocent Dr. in Leipzig, Pathologisch-anatomische
Untersuchungen über Puerperal-Eklampsie. Mit 4 farbigen und
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Schroeder, Carl, Prof. Dr., Die Krankheiten der weiblichen Geschlechts-
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Hofmeier in Würzburg. Mit 186 Abb. im Text, gr. 8°. 1893. 12 J£; geb. \AJi
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A. Eulenburg in Berlin, Dr. Feleki in Budapest, Dr. E.'Hurry Fenwick in London, Privatdocent Dr.
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M. Horovitz in Wien, Prof. Dr. E. Frhrr. von Krafft-Ebing in Wien, Prof. Dr. Lepine in Lyon, Dr.
Georg Letzel in München, Oberstabsarzt Dr. v. Linstow in Göttingen, Prof. Dr. M. Litten in Berlin, Dr.
C. Meyer in Dresden, Dr. F. M. Oberländer in Dresden, Prof. Dr. Pel in Amsterdam, Dr. A. Peyer in
Zürich, Dr. J. Prior in Köln, Prof. Dr. Eeczey in Budapest, Dr. E. Sehrwald in Freiburg, Prof. Dr.
B. Solger in Greifswald, Prof. Dr. P. Strübing in Greifswald, Privatdocent Dr. M. von Zeissl in Wien.
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redigirt von
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Zweite Abtheilung.
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Deutsche
Zeitschrift für Nervenheilkunde.
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Prof. W. Erb in Heidelberg, Prof. L. Lichtheim in Königsberg, Prof. Fr. Schnitze
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1.— 5. Band, a 16 Ji
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Vierte umgearbeitete Auflage.
Mit 145 Abbildungen im Text. 1893. Lex. 8. 7 M., geb. 8 M. 25 Pf.
Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
0041068998