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Full text of "Diagnostik der Nervenkrankheiten"

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DIAGNOSTIK  /LA 


DER 


NERVENKRANKHEITEN 


VON 


PAUL  JULIUS  MOBIUS. 


Zweite  veränderte  und  vermehrte  Auflage. 


Mit  104  Abbildungen  im  Text. 


LEIPZIG, 

VERLAG   VON    F.C.W.VOGEL. 

1894. 


Das  Uebersetzungsrecht  ist  vorbehalten. 


VORWORT. 


Vor  8  Jahren  erschien  die  „Allgemeine  Diagnostik  der  Nerven- 
krankheiten". Natürlich  hat  sich  in  dieser  Zeit  Manches  geändert 
und  bei  der  neuen  Auflage  musste  Manches  anders  gefasst  werden. 
Doch  habe  ich,  soweit  es  möglich  war,  die  alte  Darstellung  unange- 
tastet gelassen.  Dagegen  schien  es  wünschenswerth  zu  sein,  den 
Plan  des  Buches  etwas  zu  erweitern,  ein  Unternehmen,  das  durch 
die  Aenderung  des  Titels  kundgegeben  wird.  In  seiner  neuen  Ge- 
stalt zerfällt  das  Buch  in  3  Theile.  Der  erste  enthält  die  Methoden 
der  Untersuchung  und  die  allgemeine  Symptomatologie,  geht  also 
vom  einzelnen  Symptome  aus ;  der  zweite  enthält  die  Lehre  von  der 
Localisation,  geht  also  vom  Orte  der  Läsion  aus;  der  dritte  sucht 
die  ätiologisch -klinischen  Krankheitseinheiten  zu  fassen,  ist  eine 
Skizze  der  speciellen  Diagnostik.  Manche  Wiederholungen  waren 
dabei  nicht  zu  vermeiden.  Eine  andere  Schwierigkeit  lag  darin,  dass 
die  Grenze  zwischen  dem  Zuviel  und  dem  Zuwenig  oft  schwer  ein- 
zuhalten war.  Wollte  man  Alles  sagen,  was  für  den  Neurologen  in 
Betracht  kommt,  so  würde  es  ein  unbändig  dickes  Buch  geben.  Mir 
schien  es  wichtig,  nicht  allzu  weit  in  diagnostische  Feinheiten  ein- 
zugehen, anatomisch-physiologische  Erörterungen  aber  ganz  zu  ver- 
meiden. Manche  neuere  Diagnostik  ist  ein  Lehrbuch,  dem  man  blos 
die  Therapie  abgeschnitten  hat.     Damit  ist  aber  dem  Lernenden 


IV  Vorwort. 

kaum  gedient.  Für  ihn  dürfte  es  am  besten  sein,  wenn  das  practisch 
Brauchbare  hervorgehoben  wird  und  die  Eichtung  auf  klinische 
Zwecke  maassgebend  ist.  Die  Auffassung,  dass  der  Kliniker  nicht 
des  Anatomen  oder  des  Physiologen  preiswerthe  Aufgaben  zu  lösen, 
sondern  Krankheiten  zu  erkennen  habe,  liegt  auch  der  Darstellung 
in  diesem  Buche  zu  Grunde. 

Leipzig,  im  April  1S94. 

P.  J.  MöMus. 


IHHALTSVERZEICHNISS. 


EESTER  THEIL.  Soito 

A.  Die  Anamnese. 

1.  Geschichte  der  Familie 3 

2.  Geschichte  des  Kranken  selbst 4 

An  hang-.  Uebersicht  der  die  Gewinnung-  (Herstellung)  und  Ver- 
arbeitung' gesundheitgefährlicher  (giftiger)  Stoffe  um- 
fassenden Gewerbe  und  Fabrikbetriebe  nach  dem  Grade 

ihrer  gefahrbringenden  Einwirkung  auf  die  Arbeiter  10 

B.  Status  praesens. 

Die  Beschwerden  des  Kranken 15 

Erstes  Hauptstück.     Untersuchung  des  seelischen  Zustandes  17 

Zweites  Haupt  stück.    Untersuchung  der  Sprache 32 

Die  Aphasie 34 

Verschiedene  dyslogische  Sprachstörungen 46 

Stottern  und  Aphtongie 48 

Die  Anarthrie 48 

Drittes  Hauptstück.    Untersuchung  des  Bewegungsapparates 

Vorbemerkungen 53 

I.  Der  Ernährungzustand  der  Muskeln 54 

II.  Der  Spannungzustand  der  Muskeln 60 

III.  Die  Motilität 65 

a.  Lähmung 65 

b.  Abnorme  Bewegungen .  99 

a.  Die  Ataxie 100 

ß.  Zittern 108 

;/.  Die  fibrillären  Zuckungen 116 

5.  Klonische  und  tonische  Krämpfe 116 

a.  Zwangsbewegungen 128 

£.  Mitbewegungen 129 

rj.  Choreatische  Bewegungen 129 

6.  Athetosis 130 


VI  Inbaltsverzeiekniss. 

Seite 

IV.  Die  reflectorische  Erregbarkeit 132 

V.  Die  mechanische  Erregbarkeit  der  Neiveu  und  Muskeln   .     .     .  149 
VI.  Die  elektrische  Erregbarkeit 150 

a.  Methode  der  Untersuchung 150 

b.  Pathologische  Veränderungen  der  Erregbarkeit 157 

V  i  e  r te s  H  aup tst  ü  c  k.  Untersuchung  des  Empfindungsapparates  u.s.w. 

Vorbemerkungen 166 

I.  Das  Gesicht 167 

II.  Das  Gehör 175 

III.  Der  Geruch 180 

IV.  Der  Geschmack 182 

V.  Das  Gefühl 185 

VI.  Untersuchung  des  Schädels  und  der  Wirbelsäule 226 

VII.  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen 228 

VIII.  Die  Diagnose  e  juvantibus  et  nocentibus 246 


ZWEITEE  THEIL. 

Erstes    Haupt  stück.     Die  Function    der   einzelnen  Muskeln   und 

deren  Störungen 249 

a.  Die  Muskeln  des  Auges 249 

«.  Die  äusseren  Augenmuskeln 249 

ß.  Die  inneren  Augenmuskeln 253 

b.  Die  Muskeln  des  (mittleren)  Ohres 257 

c.  Die  mimischen  Muskeln  des  Gesichtes 259 

d.  Die  Kaumuskeln 263 

e.  Die  Muskeln  der  Zunge 264 

f.  Die  Muskeln  des  weichen  Gaumens 267 

g.  Die  Muskeln  des  Rachens 269 

h.  Die  Muskeln,  die  den  Kiefer  herabziehen  und  das  Zungenbein 

bewegen 270 

i.  Die  Muskeln  des  Kehlkopfes 272 

k.  Die  Muskeln,  die  den  Kopf  und  die  Halswirbel  bewegen     .     .     .  273 

1.  Die  Muskeln,  die  die  "Wirbelsäule  bewegen 276 

m.  Die  Muskeln,  die  die  Athembewegungen  ausführen 279 

n.  Die  Muskeln  des  Beckenbodens 285 

o.  Die  Muskeln  der  Eingeweide 287 

«.  Herz-  und  Gefässmuskeln 287 

ß.  Magen-  und  Darmmuskeln 288 

y.  Blasenmuskeln 289 


Inkaltsverzeichniss.  VII 

Soito 

Die  Muskeln  des  Armes 290 

p.  Die  Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberann  bewegen  .     .     .  290 

q.  Muskeln,  die  den  Vorderarm  bewegen 304 

r.  Die  Muskeln,  die  die  Hand  und  die  Finger  bewegen 308 

Die  Muskeln  des  Beines 316 

s.  Die  Muskeln,  die  Bewegungen  im  Hüftgelenke  verursachen    .     .  316 

t.  Die  Muskeln,  die  Bewegungen  im  Kniegelenke  verursachen    .     .  321 

u.  Die  Muskeln,  die  den  Fuss  bewegen 323 

v.  Die  Muskeln,  die  die  Zehen  bewegen 330 

Zweites  Hauptstück.     Die  Functionstörung ,  die  bei  Läsion   der 

einzelnen  Nerven  eintritt 332 

I.  Hirnnerven 332 

II.  Rückenmarksnerven 340 

III.  N.  sympathicus 348 

Ueber  Neuritis 349 

Drittes  Hauptstück.    Loealisation  im  Rückenmarke 357 

Viertes  Hauptstück.  Loealisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn  363 


DKITTEK  THEIL. 

I.  Exogene  Nervenkrankheiten. 

1.  Metallvergiftungen 378 

2.  Alkoholismus 379 

3.  Nervenkrankheiten  nach  acuten  Infectionskrankheiten     ....  380 

4.  Nervenkrankheiten  durch  primäre  Erkrankung  der  Blutgefässe  381 

5.  Erkrankungen  des  Nervensystems  bei  chronischen  Infectionskrank- 
heiten      382 

6.  Der  metasyphilitische  Nervenschwund  (Tabes  dorsalis   und  De- 
mentia paralytica) 383 

7.  Selbständige  infectiöse  Nervenkrankheiten 392 

a.  Die  primäre  infectiöse  Neuritis 392 

b.  Poliomyelitis  acuta •  393 

c.  Encephalitis  acuta 393 

d.  Chorea  Sydenhamii 394 

e.  Tetanie '.     .  394 

f.  Tetanus 395 

g.  Lyssa 395 

h.  Epidemische  Cerebrospinalmeningitis 395 

8.  Die  multiple  Sklerose  des  Gehirns  und  Rückenmarkes     ....  396 

9.  Paralysis  agitans  (Schüttellähmung,  Parkinson's  Krankheit)    .     .  398 


VIII  Inhaltsverzeichniss. 

Seite 

10.  Die  primären  Degenerationen  der  motorischen  Bahn 398 

11.  Gliosis  spinalis  (Gliomatosis,  Syringom yelie) 400 

12.  Acute  und  chronische  Myelitis 401 

II.  Endogene  Nervenkrankheiten. 

1.  Nervosität  (Neurasthenie) 401 

2.  Hysterie 404 

3.  Die  Epilepsie  (Fallsucht,  haut  mal,  morbus  sacer) 409 

4.  Migräne 412 

5.  Chorea  chronica  (Chorea  hereditaria,  Chorea  Huntington's)       .     .  412 

6.  Die  Thomsen'sche  Krankheit  oder  Myotonia  congenita    .     .     .     .  413 

7.  Die  Dystrophia  musculorum  progressiva 413 

S.  Die  Friedreich'sche  Krankheit  oder  hereditäre  Ataxie     ....  414 

Register 415 


ERSTER  THEIL. 


Mob  ins,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl. 


A.  DIE  ANAMNESE. 


Die  ananmestisclien  Fragen  werden  entweder  an  den  Kranken 
selbst  gerichtet  oder,  wenn  dieser  zur  Beantwortung-  aus  irgend  einem 
Grunde  nicht  fällig  ist,  an  Angehörige,  anderweite  dem  Kranken  nahe- 
stehende Personen,  frühere  Aerzte  des  Kranken.  Hat  man  Grund,  an- 
zunehmen oder  zu  vermuthen,  dass  die  Angaben  des  Kranken  nicht 
richtig  seien,  sei  es  dass  er  geistig  nicht  normal  ist,  oder  ein  Inter- 
esse hat,  die  Wahrheit  nicht  zu  sagen,  oder  dergl.,  so  empfiehlt  es 
sich  bei  zweifelhaften  Zuständen,  die  Berichte  dritter  Personen  ein- 
zuholen, auch  diese  unter  einander  zu  vergleichen.  Besonders  die 
Frage  nach  der  Heredität  lässt  sich  oft  nur  durch  ein  derartiges  um- 
ständliches Verfahren  befriedigend  lösen,  da  gerade  hier  die  Angaben 
der  Kranken  erstaunlich  mangelhaft  zu  sein  pflegen. 

1.  Geschichte  der  Familie. 

Man  frage,  ob  die  Eltern  noch  leben  und  gesund  sind,  oder  woran 
sie  leiden,  woran  sie  gestorben  sind,  ob  sie  früher  Krankheiten,  be- 
sonders Nervenkrankheiten  (Gemüthskrankheiten,  Krämpfe,  Schlag- 
lluss,  Lähmung,  Nervenschmerzen  u.  s.  w.),  oder  Constitutionskrank- 
heiten  (Tuberkulose,  Syphilis  u.  s.  w.)  durchgemacht  haben,  wie  alt 
sie  damals  waren,  wie  ihr  Zustand,  beziehungsweise  der  der  Mutter, 
bei  der  Zeugung  (Rausch),  während  des  Fötallebens  und  der  Geburt 
(Krankheit,  Kummer,  Verletzungen,  Erschrecken  u.  s.  w.  während  der 
Schwangerschaft,  frühzeitige  oder  schwere  Geburt)  war,  ob  die  Eltern 
blutsverwandt  waren,  wie  ihr  Altersverhältniss  war. 

Man  frage  ferner  nach  den  Verhältnissen  der  Geschwister,  Gross- 
eltern und  anderer  Verwandten,  ob  Nervenkrankheiten  in  der  Familie 
vorgekommen  sind,  ob  Selbstmord,  Trunksucht,  bizarres  "Wesen,  Ver- 
brechen, Taubstummheit,  Bildungsfehler  sich  gezeigt  haben. 

Man  spricht  von  directer  Erblichkeit,  wenn  die  Eltern  an 
gleichen  oder  verwandten  Krankheiten  litten,  von  in  directer,  wenn  die 
Eltern  frei  waren,  aber  Geschwister  oder  andere  Verwandte  krank  waren 

1* 


4  Geschichte  der  Familie  und  des  Kranken  selbst. 

(atavistische  Erblichkeit  =  Krankheit  der  Grosseltern  u.  s.  w.,  col- 
laterale  =  Krankheit  von  Verwandten  einer  Seitenlinie  (Oheim,  Muhme 
u.  s.  w.),  von  cumulativer  Erblichkeit,  wenn  beide  Eltern  krank  waren, 
von  gl  ei  cli artiger  Erblichkeit,  wenn  dieselbe  Krankheit  vererbt  wird, 
von  ungleichartiger  (Transformation,  Polymorphismus  der  Vererbung), 
wenn  es  sich  um  eine  verwandte  Krankheit  handelt.  Neuropathisch 
belastet  nennt  man  den,  in  dessen  Familie  Nervenkrankheiten  oder 
gleichwertige  Abnormitäten  vorgekommen  sind,  die  Schwere  der  Belastung 
richtet  sich  sowohl  nach  Schwere  als  Häufi°'keit  der  erblichen  Krankheiten. 


2.  Geschichte  des  Kranken  seihst. 

War  der  Kranke  bei  der  Geburt  voll  entwickelt  und  gesund? 
Ist  er  bei  der  Geburt  am  Kopfe  verletzt  worden?  Zeigten  sich  bei 
ihm  Ausschläge,  Nasenfluss  oder  andere  Symptome  hereditärer  Sy- 
philis? Litt  er  als  Kind  an  Krämpfen  oder  an  Bettnässen,  nächt- 
lichem Aufschrecken,  Veitstanz  u.  s.  w.  ?  Welche  anderweiten  Kinder- 
krankheiten traten  auf?  Wann  lernte  er  gehen  und  sprechen,  wie 
war  die  Entwicklung  der  Zähne? 

Wie  waren  Betragen  und  Fortschritte  in  der  Schule?  Wann 
zeigten  sich  die  Symptome  der  Mannbarkeit,  traten  dabei  krankhafte 
Erscheinungen  auf?    Ist  Onanie  getrieben  worden? 

Welche  Beschäftigung  hatte  oder  hat  der  Kranke  ?  Brachte  sie 
ihn  mit  giftigen  Stoffen  in  Berührung '),  setzte  sie  ihn  besonderen 
Entbehrungen,  Strapazen,  Erkältungen  oder  Erhitzungen  aus?  Wie 
war  seine  Lebensweise,  war  die  Ernährung  ungenügend  oder  zu 
reichlich,  hat  der  Kranke  sich  dem  übermässigen  Genüsse  von  Spi- 
rituosen, Tabak  hingegeben  ?  Hat  Missbrauch  von  Opium  oder  ähn- 
lichen Mitteln  stattgefunden?  Wie  war  die  geschlechtliche  Thätigkeit, 
sind  darin  Excesse  vorgekommen?  Hat  der  Kranke  Kummer,  Sorgen. 
Aerger  im  Geschäft,  in  der  Familie  oder  sonstwie  erduldet?  Wie 
waren  das  Temperament,  die  geistige  und  körperliche  Leistungs- 
fähigkeit? 

Wie  war  bei  Frauen  die  Menstruation  (wie  oft,  wie  lange,  wie 
viel,  mit  Beschwerden  ?),  wann  und  wie  oft  trat  Schwangerschaft  ein. 
wie  verlief  sie  (Abort,  Frühgeburt,  leichte  oder  schwere  Geburt. 
Wochenbett,  Lactation)? 

Welche  Erkrankungen  kamen  vor  (Typhus,  Intermittens.  Rheu- 
matismus, Chlorose,  Magendarmaffectionen,  Krankheiten  der  Harn- 
und  Geschlechtsorgane,  Syphilis),  sind  insbesondere  früher  nervöse 


1 1  Tm  Anhang  findet  man  eine  Uebersicht  über  die  hauptsächlicbsten  gesund- 
heitschädlicben  Gewerbebetriebe. 


.Aetkflogische  Bemerkungen.  5 

Störungen  vorgekommen  (Nervenkrankheiten,  Neigung-  zum  Deliriren, 
Idiosynkrasien,  Intoleranz  gegen  Alkohol,  Zwangsvorstellungen,  grosse 

Reizbarkeit  u.  s.  w.)?  Welche  sind  die  vermuthlichen  Ursachen  der 
gegenwärtigen  Krankheit?  Welche  waren  ihre  ersten  Zeichen?  Be- 
gann sie  plützlich  oder  allmählich  ?    Wie  war  der  weitere  Verlauf? 

Schwierigkeiten  findet,  abgesehen  von  der  Frage  nach  der  Erblich- 
keit, die  Anamnese  nur  an  den  Punkten,  wo  viele  Kranken  eine  gewisse 
Scheu  hindert  die  Wahrheit  zu  sagen,  d.  h.  bei  dem  Potatorium  und  den 
geschlechtlichen  Angelegenheiten,  Es  ist  Sache  des  ärztlichen  Tactes,  jene 
Scheu  in  geschickter  Weise  zu  beseitigen.  Z.  B.  wird  es  oft,  wo  Ver- 
dachtsgründe vorhegen,  gerathen  sein,  dem  Kranken  die  Sache  auf  den 
Kopf  zuzusagen,  „wie  lange  haben  Sie  onanirt?",  „wann  haben  Sie  sich 
einen  Schanker  zugezogen?"  u.  s.  w.  Am  schwersten  ist  das  Eingeständniss 
der  Syphilis  zu  erlangen,  oft  muss  man  sich  mit  indirecten  Angaben  be- 
gnügen, besonders  sind  bei  Frauen  wiederholte  Aborte  in  dieser  Hinsicht 
bedeutungsvoll. 


Bei  der  Aetiologie  muss  man  wie  bei  der  Therapie  stets  des  Satzes 
eingedenk  sein:  post  hoc  non  est  propter  hoc.  Zwei  aufeinanderfolgende 
Veränderungen  können  Ursache  und  Wirkung  sein,  ob  sie  es  sind,  ist  oft 
nur  mit  einem  grösseren  oder  geringeren  Grade  von  Wahrscheinlichkeit  zu 
sagen.  Wenn  regelmässig  eine  Veränderung  auf  eine  andere  folgt,  die 
nach  den  Axiomen  der  Erfahrung  jener  als  Ursache  dienen  kann,  so  pflegen 
wir  einen  causalen  Zusammenhang  anzunehmen.  Es  ist  also  wesentlich 
die  statistische  Methode  Führerin  bei  ätiologischen  Untersuchungen.  Ver- 
hältnissmässig  selten  sind  wir  in  der  Lage,  das  Ergebniss  durch  den  Ver- 
such zu  controliren.  Wenn  dies  aber  der  Fall  ist,  wenn  wir  jederzeit 
willkürlich  die  zweite  Veränderung  hervorrufen  können,  indem  wir  die  erste 
bewirken,  dann  erst  gewinnen  wir  volle  Gewissheit.  Da  gerade  bei  den 
Nervenkrankheiten  der  Versuch  nur  ausnahmeweise  ausführbar  ist,  sind  hier 
unsere  ätiologischen  Kenntnisse  vielfach  besonders  unsicher  und  beschränken 
sich  oft  auf  Vermuthungen.  Die  Grundzüge  dessen,  was  wir  bisher  wissen, 
sind  etwa  folgende. 

Wir  sehen,  dass  den  Angriffen  des  Lebens  gegenüber  die  Menschen 
sich  verschieden  verhalten,  eine  Schädlichkeit,  die  dem  Einen  nichts  anhat, 
macht  den  Anderen  krank.  Es  besteht  demnach  eine  verschiedene  Fähigkeit 
oder  Disposition  zur  Erkrankung,  die  angeboren  oder  erworben  sein  kann. 

Die  angeborene  Disposition  zu  Nervenkrankheiten,  die  neuro- 
pathische  Anlage,  muss  bei  einigen  Krankheiten  nothwendig  vorhanden 
sein:  die  hereditären  Nervenkrankheiten  im  engeren  Sinne,  die  nur  bei 
schwer  Belasteten  vorkommen.  Zu  diesen  gehören,  soviel  wir  bis  jetzt 
wissen,  die  Friedreich'sche  Krankheit  und  verwandte  Formen,  die  Myotonia 
congenita,  die  Dystrophia  muscul.  progressiva,  die  bald  als  Pseudohyper- 
trophia  muscul.,  bald  als  juvenile  Muskelatrophie  auftritt,  die  Idiotie  und 
die  verschiedenen  psychischen  degenerativen  Erkrankungen,  als  das  cir- 
culäre  Irresein,  das  sogenannte  moralische  Irresein  u.  s.  w.  Andere  Krank- 
heiten setzen  auch  eine  ererbte  Anlage  voraus,  jedoch  braucht  es  sich  bei 


H  Aetiologische  Bemerkungen. 

ihnen  nicht  um  eine  schwere  Belastung  zu  handeln  und  möglicherweise 
können  sie  ausnahmeweise  auf  erworbener  Disposition  beruhen.  Hierher 
gehören  die  meisten  Formen  sog.  functioneller  Nervenkrankheit,  Migräne, 
Epilepsie,  Nervosität,  Hysterie,  Hypochondrie,  Melancholie,  Manie,  Verrückt- 
heit u.  s.  w.  Bei  den  bisher  genannten  Krankheiten  kann  der  Nachweis 
erblicher  Belastung  auch  von  diagnostischer  Bedeutung  werden.  Wenn 
z.  B.  diese  in  einem  Falle  von  Migräne  oder  Epilepsie  in  keiner  Weise  sich 
nachweisen  lässt,  müssen  Zweifel  auftauchen,  ob  es  sich  um  idiopathische 
Migräne  u.  s.  w.  handelt,  ob  nicht  eine  reflectorische  Form  (durch  Nasen- 
erkrankung, Bandwurm,  Narben  u.  s.  w.  veranlasst)  oder  eine  sympto- 
matische Form  (auf  Alkoholvergiftung,  auf  Tabes,  Herderkrankungen  des 
Gehirns  u.  s.  w.  beruhend)  vorliegt. 

Bei  anderen  Nervenkrankheiten,  bei  den  spinalen  Muskelatrophien, 
der  Tabes  und  der  progressiven  Paralyse,  den  Herderkrankungen  des  Ge- 
hirns und  Rückenmarks,  den  Meningitiden  u.  s.  w.,  spielt  die  Heredität 
offenbar  keine  weseutliche  Rolle  und  ist  ihr  Nachweis  nicht  von  besonderer 
Bedeutung.  Doch  scheint  auch  hier  sie  nicht  ganz  ohne  Einfluss  zu  sein, 
insofern  sie  sozusagen  der  von  aussen  kommenden  Schädlichkeit  den  Weg 
zum  Nervensystem,  das  bei  erblich  Belasteten  ein  locus  minoris  resistentiae 
ist,  zeigt. 

Das  krankhaft  veranlagte  Nervensystem  wird  um  so  leichter  erkranken, 
je  stärker  es  in  Anspruch  genommen  wird.  Die  Steigerung  der  physio- 
logischen Reize  kann  sich  als  körperliche  oder  intellectuelle  oder  mo- 
ralische Ueberanstrengung  darstellen,  deren  eine  immer  mehr  oder 
weniger  von  den  anderen  begleitet  ist.  Theils  körperlicher,  theils  geistiger 
Art  ist  die  geschlechtliche  Ueberanstrengung  (übertriebener,  unnatürlicher 
Beischlaf,  Onanie).  Zur  moralischen  Ueberanstrengung  gehören  die  heftigen 
oder  andauernden  Gemüthsbewegungen.  Als  Ueberreizung  ist  auch  der 
Mangel  des  Schlafes  zu  betrachten.  Ob  durch  Ueberanstrengung  andere 
als  sog.  functionelle  Störungen  verursacht  werden  kömien,  ist  zweifelhaft. 
Auf  jeden  Fall  sind  die  dahin  lautenden  Berichte  (Entstehung  von  Myelitis 
durch  Schreck  u.  s.  w.)  mit  grosser  Vorsicht  aufzunehmen. 

Die  Rolle  des  Trauma  ist  eine  doppelte.  Entweder  kann  es  direct 
Veränderungen  im  Nervensystem  veranlassen,  die  theoretisch  der  Be- 
urtheilung  keine  Schwierigkeit  machen:  Quetschung,  Dehnung,  Dureh- 
schneidung,  Stich-,  Hieb-,  Schussverletzung,  Zertrümmerung  u.  s.  w.,  oder 
es  kann  bei  Disponirten  nach  Art  der  Affecte  wirken  und  die  Symptome 
der  Hysterie  oder  anderer  Neurosen  hervorrufen  (sog.  traumatische  Neurose). 
Dieser  Punkt  ist  von  besonderer  diagnostischer  Bedeutung.  Nach  den 
verschiedensten  Verletzungen,  besonders  nach  allgemeinen  Erschütterungen, 
wie  sie  bei  Eisenbahnunfällen  vorkommen,  und  auch  dann,  wenn  stärkere 
directe  Verletzungen  fehlen,  können  anscheinend  die  schwersten  Symptome 
von  Seiten  des  Nervensystems  auftreten,  ohne  dass  doch  die  Untersuchung 
Zeichen  organischer  Läsion  ergäbe.  Ist  die  Verletzung  umschrieben,  so 
treten  häufig  die  Symptome  in  deren  Nähe  auf,  nach  einer  leichten  Ver- 
letzung einer  Kopf  hälfte  z.  B.  kann  Hemianästhesie  der  gleichen  Seite  sich 
entwickeln  u.  s.  w. 

Dem  Trauma  analog  Avirken  Krankheiten  nichtnervöser  Or- 
gane.   Die  nervösen  Theile  können  lädirt  werden  durch  den  Druck  eines 


Aetiologische  Bemerkungen.  7 

von  der  Umgebung  ausgehenden  Tumor,  einer  Knochengeschwulst,  eines 
Abscesses,  eines  Aneurysma,  sie  können  durch  eine  Blutung  zerstört  werden-, 
durch  Abschneiden  des  Blutzuflusses  (Embolie,  Thrombose)  absterben,  Ent- 
zündungen benachbarter  Theile  können  auf  sie  übergreifen  u.  B.  w.  Es  kann 
aber  auch  bei  Disponirten  eine  beliebige  Organkrankheit  Ursache  funetio- 
neller  Störungen  werden.  Am  häufigsten  scheint  dies  der  Fall  zu  sein, 
wenn  es  sich  um  krankhafte  Reizung  bestimmter  Schleimhäute  (Nase,  Darm, 
Genitalien)  handelt. 

Zweifellos  den  ersten  Rang  nehmen  unter  den  auf  das  Nervensystem 
wirkenden  Krankheitsursachen  die  Gifte  ein.  Je  nachdem  es  sich  um 
Einführung  todter  chemischer  Stoffe  handelt  oder  um  die  von  Mikro- 
organismen, unterscheiden  wir  Intoxicationen  im  engeren  Sinne  und 
Infectionen.  Unter  den  eigentlichen  Giften  steht  nach  der  Häufigkeit 
in  erster  Reihe  der  Alkohol,  dann  folgen  die  Gifte  des  gewerblichen  Lebens, 
besonders  Blei,  Quecksilber,  Arsen,  selten  scheinen  Vergiftungen  durch 
Tabak  vorzukommen.  Die  übrigen  Vergiftungen  haben,  etwa  abgesehen 
von  der  durch  Opium,  beziehungsweise  Morphium,  wegen  ihrer  Seltenheit 
mehr  casuistisches  Interesse.  Die  meisten  Gifte  scheinen  insofern  ähnlich 
zu  wirken,  als  sie  zunächst  Functionstörungen,  bei  längerer  Einwirkung 
aber  objeetiv  nachweisbaren  Zerfall  der  nervösen  Theile  verursachen.  Von 
Alkohol,  Blei,  Arsen  und  einigen  anderen  Giften  wissen  wir,  dass  sie  Ur- 
sache multipler  Degeneration  peripherischer  Nerven  sowohl,  als  degenera- 
tiver Veränderungen  des  Centralnervensystems  sein  können. 

Infectiöse  Einflüsse  können  sich  in  zweierlei  Art  geltend  machen. 

Eine  Reihe  von  Nervenkrankheiten  sind  eigentliche  Infectionskrank- 
heiten,  so  die  tuberkulöse  und  die  eitrige  Meningitis,  die  in  verschiedenen 
Formen  auftretende  Malaria  larvata,  die  Kakke,  die  Syphilis  des  Nerven- 
systems. Mit  Wahrscheinlichkeit  rechnen  wir  hierher  den  Tetanus,  die 
Lyssa,  die  Poliomyelitis  und  acute  Encephalitis,  manche  Formen  diffuser 
Myelitis,  die  sogenannte  multiple  Neuritis,  die  Chorea  u.  a.  Sodann  aber 
stellen  Nervenkrankheiten  sich  dar  als  Nachkrankheiten,  die  den  Infections- 
krankheiten  mit  kürzerem  oder  längerem  Intervall  folgen,  so  die  Lähmungen 
u.  s.  w.  nach  Diphtherie,  die  Ataxie  nach  verschiedenen  acuten  Krankheiten. 
Ziemlich  sicher  sind  sowohl  die  Tabes  als  die  progressive  Paralyse  Nach- 
krankheiten der  Syphilis.  Vielleicht  ist  auch  die  Ursache  der  multiplen 
Sklerose  in  vorausgehender  Infection  zu  suchen. 

Besonders  in  früherer  Zeit  legte  man  der  sogenannten  Erkältung 
eine  grosse  Wichtigkeit  bei  und  sah  in  ihr  die  Ursache  vieler  Nervenkrank- 
heiten. Zweifellos  sieht  man  oft  nach  einer  Erkältung  die  ersten  Symptome 
der  Krankheit  auftreten,  z.  B.  am  Tage  nach  einer  solchen  die  tabischen 
Schmerzen  beginnen.  Hier  verschlimmert  die  Erkältung  offenbar  einen 
schon  vorhandenen  Krankheitzustand.  Bei  einer  ganzen  Reihe  der  sogenann- 
ten rheumatischen  oder  Erkältungskrankheiten  sind  wir  schon  über  ihre 
anderweite  Ursache  klar  geworden:  die  scheinbar  rheumatische  Radialis- 
lähmung entsteht  gewöhnlich  durch  Druck,  die  rheumatischen  Augenmuskel- 
lähmungen beruhen  fast  ausnahmelos  auf  Syphilis  oder  anderer  Infection, 
die  vielfach  für  rheumatisch  erklärte  Poliomyelitis  trägt  alle  Charaktere 
einer  Infection skrankheit  an  sich  u.  s.  w.  Es  ist  zu  vermuthen,  dass  auch 
bei   anderen  Affectionen   die  Annahme    des   rheumatischen  Ursprungs  sich 


8  Aetiologische  Bemerkungen. 

als  irrig   erweisen   werde,    dass   z.  B.    die  rheumatische  Facialislähmung 
einen  infectiösen  Ursprung  erkennen  lassen  werde. 

Ueber  die  Ursache  mancher  Nervenkrankheiten  wissen  wir  noch  gar 
nichts,  z.  B.  über  die  der  primären  Erkrankungen  der  directen  motorischen 
Bahn,  der  amyotrophischen  Lateralsklerose,  der  Bulbärparalyse  und  der 
spinalen  progressiven  Muskelatrophie.  Zwar  dürfte  man  auch  hier  am 
ehesten  eine  Giftwirkung  vermuthen,  doch  ist  bis  jetzt  kein  bestimmter  An- 
haltepunkt  gegeben. 


Ueber  die  Bedeutung  der  einzelnen  anamnestischen  Feststellungen  ist 
etwa  folgendes  im  Allgemeinen  zu  sagen. 

An  den  meisten  Krankheiten  des  Nervensystems  nehmen  beide  Ge- 
schlechter in  etwa  gleichem  Maasse  theil.  Es  giebt  keine  Nervenkrank- 
heit, die  nur  bei  Männern  oder  nur  bei  Weibern  vorkäme.  Früher  hielt 
man  die  Hysterie  für  eine  nur  den  Weibern  eigene  Krankheit,  jetzt  weiss 
man,  dass  die  Hysterie  auch  bei  Männern  sehr  häufig  ist.  Immerhin  dürfte 
die  Zahl  der  weiblichen  Hysterischen  grösser  sein,  was  offenbar  mit  den 
Eigentümlichkeiten  des  weiblichen  Geisteslebens  zusammenhängt.  Auch 
die  Migräne,  die  Basedow'sche  Krankheit,  das  Myxödem  sind  bei  Weibern 
häufiger  als  bei  Männern;  warum,  weiss  man  nicht.  Endlich  sind  natür- 
lich die  als  Folge  puerperaler  Erkrankung  vorkommenden  Nervenkrank- 
heiten (puerperale  Geistesstörung,  puerperale  Neuritis)  hier  zu  nennen,  doch 
handelt  es  sich  dabei  streng  genommen  wohl  nicht  um  besondere  Krank- 
heiten, sondern  nur  um  Intoxicationen  unter  besonderen  Umständen. 

Als  Männerkrankheiten  sind  einige  auf  ererbter  Anlage  beruhende 
(endogene)  Krankheiten  zu  nennen,  bei  denen  die  Muskeln  primär  erkranken: 
die  Dystrophia  musc.  progressiva  und  die  Myotonia  congenita.  Zwar  wer- 
den die  Weiber  nicht  ganz  verschont,  aber  sie  erkranken  viel  seltener  und 
übertragen  oft  den  Keim  auf  ihre  Nachkommenschaft  ohne  selbst  zu  er- 
kranken. Auch  Friedreich' s  Krankheit  und  die  ihr  verwandten  Formen  schei- 
nen  häufiger  bei  den  männlichen  Familiengliedern  beobachtet  zu  werden. 

Dass  eine  grosse  Keihe  anderer  Krankheiten  häufiger  bei  Männern 
als  bei  Weibern  ist,  hängt  von  äusseren  Umständen  ab.  Syphilis  ist  bei 
Männern  viel  häufiger  als  bei  Weibern  (nach  Fournier  etwa  8 mal;  die 
Zahl  schwankt  nach  dem  „ Milieu",  während  bei  den  Frauen  der  sogenannten 
oberen  Stände  die  Syphilis  sehr  selten  ist,  dürfte  für  die  unteren  Classen 
Fournier's  8  zu  gross  sein).  Daher  ist  auch  die  Metasyphilis  (Tabes  und 
progressive  Paralyse)  bei  Weibern  viel  seltener;  je  nach  Ort  und  Zeit  zählt 
man  auf  10,  8,  6  tabeskranke  Männer  ein  Weib.  In  ähnlicher  Weise  über- 
wiegen die  Männer  bei  dem  Alkoholismus  und  anderen  Genussvergiftungen, 
bei  den  meisten  Gewerbevergiftungen. 

Eine  wichtige-  Rolle  spielt  das  Alter.  Begreiflicherweise  beginnen 
die  endogenen  Krankheiten  in  der  Regel  früh  im  Leben,  im  Allgemeinen 
um  so  früher,  je  schwerer  sie  sind.  Die  Idiotie,  die  sonstigen  geistigen 
Abweichungen,  die  Myotonia  congenita  geben  sich  schon  in  den  ersten 
Lebensjahren  kund,  die  Pseudohypertrophie,  die  Krankheit  Friedreich's  und 
verwandte  Formen,  die  Epilepsie  und  die  Migräne  beginnen  in  der  Kind- 
heit.    Ferner  kommen  verschiedene  Erkrankungen   des  Gehirns  vor,   die 


Aetiologische  Bemerkungen.  y 

bald  vor  der  Geburt,  bald  in  den  ersten  Lebensjahren  entstehen  und  sich 
als  Porencephalie  oder  als  mehr  oder  weniger  ausgebreitete  Sklerose  dar- 
stellen. Ein  Theil  der  auf  diese  Weise  entstehenden  cerebralen  Lähmungen 
ist  wohl  als  Wirkung  der  ererbten  Syphilis  anzusehen  und  diese  kann  auch 
in  den  späteren  Kinderjahren  theils  cerebrale  (Herderkrankuugen ,  pro- 
gressive Paralyse),  theils  spinale  (Tabes)  Störungen  hervorrufen.  Endlich 
schädigt  eine  Reihe  infectiöser  Nervenkrankheiten  vorzugsweise  das  Kindes- 
alter: die  Poliomyelitis  und  die  Encephalitis  acuta,  die  Chorea,  die  Tuber- 
kulose des  Nervensystems,  denen  sich  die  nervösen  Nachkrankheiten  nach 
Diphtherie,  Masern,  Scharlach,  Keuchhusten  anschliessen. 

Im  Jugendalter  entwickeln  sich  ausser  den  schon  genannten  Krank- 
heiten in  der  Regel  die  multiple  Sklerose,  die  Gliomatosis  spinalis,  die  juve- 
nile Muskelatrophie,  die  Akromegalie.  Die  leichteren  ererbten  Störungen 
werden  oft  jetzt  erst  deutlich:  die  geistige  Instabilität,  die  Hysterie,  die 
Migräne  u.  s.  w. 

Im  Mannesalter  finden  wir  die  Folgen  der  Syphilis  (cerebrale  und  spi- 
nale Herderkrankungen ,  Tabes  und  progressive  Paralyse)  und  des  Alko- 
holismus, die  Gewerbevergiftungen,  die  Wirkungen  der  Ueberanstrengung 
(Neurasthenie  u.  s.  w.).  Manche  Krankheiten,  über  deren  Ursache  nichts 
bekannt  ist,  pflegen  um  die  Mitte  des  Lebens  zu  beginnen,  die  spinalen 
Amyotrophien,  der  Diabetes  u.  A.  m.  Etwas  früher  pflegt  der  Morbus 
Basedowii  aufzutreten. 

Dem  Greisenalter  (im  weiteren  Sinne)  eigenthümlich  sind  die  Paralysis 
agitans,  der  Tremor  essentialis,  die  Chorea  chronica  (die  freilich  auch  schon 
früher  beginnen  kann).  Mit  dem  Nachlassen  der  Lebenskraft  kommt  es 
leicht  zu  melancholischer  oder  hypochondrischer  Verstimmung.  Unmerkliche 
Uebergänge  führen  von  der  Melancholie  und  dem  melancholischen  Wahn- 
sinne zu  dem  Altersschwachsinne.  Ferner  herrschen  im  Alter  alle  die  Stö- 
rungen vor,  die  von  der  eigentlichen  Alterskrankheit,  dem  Atherom  der 
Arterien,  abhängen,  besonders  also  die  Hirnkrankheiten,  die  durch  Gefäss- 
zerreissung  oder  Gefässverschluss  verursacht  sind.  Man  nimmt  an,  dass 
die  miliaren  Aneurysmen  der  Hirngefässe,  die  Ursache  der  Hirnblutungen, 
etwa  vom  40.  Jahre  an  häufiger  vorkommen,  während  die  thrombotischen 
Vorgänge,  sofern  nicht  Syphilis  oder  Alkohol  die  Arterien  früher  erkranken 
liess,  erst  nach  dem  50.  Jahre  in  den  Vordergrund  treten. 

Der  Stand  ist  insofern  von  Bedeutung,  als  manche  Gewerbe  den 
Arbeiter  der  Wirkung  von  Giften  aussetzen,  als  andere  Berufsarten  theils 
direct,  theils  indirect  zu  Schädigung  verschiedener  Art  Anlass  geben.  Eine 
Uebersicht  über  die  gewerblichen  Vergiftungen  enthält  der  Anhang.  Weiter- 
hin ist  als  Berufsschädlichkeit  besonders  die  Ueberanstrengung  zu  nennen. 
Sie  kommt  besonders  da  in  Betracht,  wo  körperliche  oder  geistige  Stra- 
patzen  der  Natur  der  Sache  nach  mit  gemüthlicher  Erregung  verknüpft 
sind.  Dies  ist  der  Fall  bei  gefährlichen  und  verantwortlichen  Beschäf- 
tigungen. Eisenbahndienst,  Kriegsdienst,  Unternehmungen  mit  grossem 
Eisico,  ärztlicher  Beruf  sind  Beispiele.  Die  Gefahr  steigt  noch,  wenn  der 
Beruf  oft  den  Schlaf  kürzt. 

Der  Wohnort  ist  von  Bedeutung  bei  endemischen  Krankheiten: 
Malaria,  Lyssa,  Beriberi,  Cretinismus  u.  s.w.  Auch  die  Tetanie  kommt 
nur  in  bestimmten  Gegenden  vor.   Myxödem  und  Morbus  Basedowii  scheinen 


10  Aetiologische  Bemerkungen.    Anhang. 

in  England  häufiger  zu  sein  als  auf  dem  Festlande.  Ferner  zeigen  Land- 
und  Stadtbevölkerung  manche  Unterschiede.  In  der  Regel  ist  die  Syphilis- 
gefahr in  der  Stadt  grösser  und  auch  die  neurasthenischen  Erkrankungen 
mehren  sich  mit  der  Grösse  der  Städte. 

Rasse  unterschiede  spielen  bei  uns  keine  wesentliche  Rolle.  Die 
grosse  Hysterie  scheint  bei  den  romanischen  Völkern  häufiger  vorzukommen 
als  bei  den  germanischen.  Nervenkrankheiten ,  die  auf  angeborener  An- 
lage beruhen,  werden  besonders  oft  bei  Juden  beobachtet. 


ANHANG. 


Uebersicht  der  die  Gewinnung  (Herstellung)  und  Verarbeitung  gesundheitgefähr- 

licher  (giftiger)  Stoffe  umfassenden  Gewerbe-  und  Fabrikbetriebe  nach  dem  Grade 

ihrer  gefahrbringenden  Einwirkung  auf  die  Arbeiter. 

(Nach  Hirt,  Krankheiten  der  Arbeiter.    III.    S.  268 ff.    1S75.) 

KLASSE  I. 
Höchst  gesundheitgefährliche  Beschäftigungen. 

(Auf  100  Arbeiter  kommen  durchschnittlich  65 — 80  an  gewerblichen  Vergiftungen 
Leidende  trotz  Einhaltung  aller  Vorsichtmaassregeln.) 

Hierher  gehören: 

1.  Die  Gewerbebetriebe 

der  Feuervergolder,  der  Gürtler, 

*  Feuerversilberer,  =     Spiegelbeleger. 

2.  Das  Arbeiten 

in  Arsenikhütten,  das    Einstäuben    Brüsseler    Spitzen 

*  Bleihütten,  mit  Bleiweiss, 

*  Quecksilberhütten,  das  Einstäuben  weisser  Glacehand- 
mit  bleihaltiger  Nähseide,  schuhe  mit  Bleiweiss, 

das  Auftragen  bleihaltiger  Glasuren  das  Entsilbern  des  Werkbleies, 

mittelst  Einstäuben,  die  Herstellung   der  Zündmasse   für 

das  Auspressen  der  zum  Versenden  Phosphorzündhölzchen, 

des      Quecksilbers      gebrauchten  das  Pattinsoniren, 

Beutel,  das  Verpacken  der  farbigen  Chroni- 

die  Contreoxydation  des  Eisens,  färben. 

3.  Die  Fabrikation 

von  arsenhaltigen  Anilinfarben,  von    Blumenblättern    (mit    Cyanka- 

*  5  Buntpapieren,  liumlösung  bespritzt), 
=                *             künstl.  Blumen,        von  Kupferarsenfarben, 

;  *  Baumwollenstof-  -      Phosphorzündhölzchen, 

fen,  Tapeten,  *      Schweinfurtergrün, 

=     Bleiweiss,  *     Zündhütchen. 


Anhang. 


11 


KLASSE  IL 
Minder  gesundheitgefährliche  Beschäftigungen. 

(Auf  100  Arbeiter  kommen  durchschnittlich  25 — 30  an  gewerblichen  Vergiftungen 
Leidende  trotz  Einhaltung-  aller  Vorsichtmaassregeln.) 

Hierher  gehören: 


1.    Die  Gewerbebetriebe 


der  Anstreicher, 
--     Buchdrucker, 

*  Färber, 
=     Maler, 

2.  Die  Arbeiten 

in  Blei-,  Arsen-,  Quecksilbergruben, 
*  Antimon-Gruben  und  -Hütten, 
mit  Quecksilbermethyl, 
in  Feilenhauerwerkstätten, 
das  Auftragen  bleihaltiger  Glasuren 
mittelst  Eintauchen, 

3.  Die  Fabrikation 
von  Alkaloiden, 

=  arsenfreien  Anilinfarben, 

*  arseniger  Säure, 

*  Bleichromat, 
=  Bleizucker, 

=     bleiernen  Spiegelrahmen, 
Jodmethyl, 

*  Kerzen  (giftgrünen), 

*  Knallquecksilber, 

*  Mennige, 

=      Metachromatypien, 
=      Mussivgold, 

*  Musselinglas, 


der  Lackirer, 

*  Photographen, 

*  Zinngiesser. 


das  Bürsten  der  Strohhüte  mit  Blei- 

weiss, 
das  Beizen   der  Felle   mit  Arsenik, 

resp.  mit  Quecksilber, 
das  Destilliren  des  Phosphors, 

*  Verzinnen  und  Verzinken. 

von  Chlorzink, 

*  Droguen  und  chemischen  Prä- 
paraten, 

=      Firniss, 

*  physikalischen  Instrumenten 
(Baro-  und  Thermometer), 

-     optischen  Gläsern, 

*  Rauch-  und  Schnupftabak, 
Telegraphenglocken, 

=     Verbandstoffen    (Carbolsäure 

u.  s.  w.), 
s      Zinnober, 

*  Zinnsalz. 


KLASSE  III. 

Relativ  gefahrlose  Beschäftigungen. 

(Bei  strenger  Durchführung  der  speciellen  Vorsichtmaassregeln  kommen  auf  100 

Arbeiter  durchschnittlich  5— S  gewerblich  Vergiftete,  wenn  nirr  den  Ansprüchen 

der  allgemeinen  Prophylaxis  genügt  wird.  15 — 20.) 


Hierher  gehören: 

1.    Die  Gewerbebetriebe 


der  Glaser, 
-     Klempner, 
-■     Kupferschmiede, 

2.   Das  Arbeiten 
in  Blaufarbenwerken, 
*    Kupferhämmern, 
s   Kupferwalzwerken, 


der  Seiler, 
*     Weissgiesser. 


mit  Bleisuperoxyd  in  der  Zünd- 

waar  e  nin  dustrie , 
in  galvanoplastischen  Anstalten, 


12 


Anhang:. 


mit  arseniger  Säure  in  der  Glasfabri- 
kation, 
mit  Oxalsäure  (Cattundruek), 
in  Zinkhütten, 
das  Ausstopfen  der  Thiere, 

*  Conserviren  des  Holzes  mit  Car- 
bolsäure  und  mit  Sublimat, 

das  Färben  der  Stanniole, 

*  Kupferdrabtziehen, 

3.    Die  Fabrikation 
von  Bleisoldaten, 

*  Bleischrot, 

*  Bleisuperoxyd, 

=  bleihaltiger  Cosmetica,  Spiel- 
karten, 

=  Carbolsäure  und  Carbolsäure- 
farben, 

*  Essig, 


die    Spiegelindustrie    (ausgenommen 

das  „Belegen"), 
die  Verglasung  der  Emailetiquetten, 

*  Verarbeitung  d.  Zinkes  zu  Blech, 

*  Verarbeitung  des  reinen,  metalli- 
schen Zinnes, 

das  Weissbrennen  der  Knochen  (in 
der  Phosphorfabrikation). 

von  Folien  zum  Einwickeln  des  Ta- 
baks, 

*  Grünspan, 

-     Kupfervitriol, 

*  Oelkitten, 
des  Phosphors, 

der  Sicherheitzündhölzchen  (soge- 
nannten schwedischen), 
von  Weisskupfer. 


A.    Industrien,  in  denen  Phosphor  verarbeitet  wird. 

KLASSE  I. 

Die  Herstellung  der  Zündmasse  für  Phosphorzündhölzchen,  überhaupt  (mit 
Ausnahme  weniger  Manipulationen)  die  ganze  Fabrikation  derselben. 

KLASSE  II. 
Das  Destilliren  des  Phosphors. 

KLASSE  IH. 

Das  Weissbrennen  der  Knochen  und  überhaupt  die  Darstellung  des  Phos- 
phors, die  Fabrikation  der  schwedischen  Zündhölzer. 

B.    Industrien,  in  denen  Blei  verarbeitet  wird. 
KLASSE  I. 

Das  Arbeiten  das  Einstäuben  Brüsseler  Spitzen 
in  Bleihütten,  und  weisser  Handschuhe  mit  Blei- 

mit  bleihaltiger  Nähseide,  weiss, 

das  Auftragen  bleihaltiger  Glasuren  das  Entsilbern  des  Werkbleies  (Pat- 
mittelst Einstäuben,  tinsoniren), 

die  Contreoxydation  des  Eisens,  das  Verpacken  der  Chromfarben. 

die  Fabrikation  von  Bleiweiss, 


KLASSE  IL 


Die  Gewerbebetriebe 
der  Anstreicher, 
-     Buchdrucker, 
*     Färber, 


der  Maler, 
*     Lackirer, 
=     Zinngiesser. 


Anhangs  13 

Das  Arbeiten  von  bleiernen  Spiegelrahmen, 

in  Bleigruben,  -  Firniss, 

in  Feilenhauerwerkstätten,  *  Mennige, 

das  Auftragen  ])leihaltiger  Glasuren  =  Metachromatypien, 

mittelst  Eintauchen,  «  optischen  Gläsern  und  Musselin- 

das  Bürsten  der  Strohhüte  mit  Blei-  glas, 

weiss,  *  emaillirten  Telegraphen- 

die  Fabrikation  glocken. 

von  Bleichrom at   und  Bleizucker, 

KLASSE  III. 

Die  Gewerbebetriebe  Die  Fabrikation 

der    Glaser,    Klempner,    Weiss-  von  Bleisoldaten, 

giesser.  -     Bleischrot, 

Das  Arbeiten  *     Bleisuperoxyd, 

mit   Bleisuperoxyd   in   der  Zünd-  =     bleihaltigen    Cosmetica    und 

waarenindustrie,  Spielkarten, 

das  Färben  der  Stanniole,  =     Folien   zum    Einwickeln   des 

das  Verglasen    der  Emailetiquetten,  Schnupftabaks  u.  s.  w., 

=     Oelkitt. 

C.    Industrien,  in  denen  Quecksilber  verarbeitet  wird. 

KLASSE  I. 
Die  Gewerbebetriebe 

der  Feuervergolder  und  Neusilber  er,  der  Gürtler,  der  Spiegelbeleger. 
Die  Arbeiten 

in  Quecksilberhütten,  das  Auspressen  der  Quecksilberbeutel. 
Die  Fabrikation  von  Zündhütchen. 

KLASSE  II. 

Das  Arbeiten  Die  Fabrikation 

in  Quecksilbergruben,  von  physikalischen  Instrumenten, 

mit  Quecksilbermethyl,  =     Jodmethyl, 

das  Beizen  der  Felle  mit  Queck-  =     Knallquecksilber, 

silber.  -     Zinnober. 

KLASSE  III. 
Die  Spiegelindustrie  (mit  Ausnahme  des  Belegensj. 

D.    Industrien,  in  denen  Arsenik  verarbeitet  wird. 

KLASSE  I. 

Das  Arbeiten  in  Arsenikhütten,  die  Gewinnung  der  Arsensäure. 
Die  Fabrikation  von  arsenhaltig.  Baumwollenstoffen, 

von  arsenhaltigen  Anilinfarben,  *  ==  Tapeten, 

*  *  Buntpapier,  =     Kupferarsenfarben,      besonders 

=  *  künstl.  Blumen,  Schweinfurtergrün. 


14 


Aiüiaiiff. 


KLASSE  II. 


Das  Arbeiten 
in  Arsengruben, 
das  Beizen  der  Felle  mit  Arsenik, 


Die  Fabrikation 

von  arsenfreien  Anilinfarben, 
*     arseniger  Säure. 


KLASSE  III. 


Das  Arbeiten 

in  Blaufarbenwerken, 


mit  arseniger  Säure  in  der  Glasfabrik, 
das  Ausstopfen  der  Thiere. 


Ausserdem  wären  (in  Beziehung  auf  Nervenkrankheiten)  als  mehr  oder  minder 


gesundheitschädliche  Arbeiten  etwa  zu  nennen: 


das  Arbeiten  in   Kautschukfabriken 

(Schwefelkohlenstoff), 
die  Fabrikation  von  Leucht- 


gas, 


das  Arbeiten  in  Kloaken  (Schwefel- 
wasserstoff), 
die  Herstellung  von  Jod  und  Brom. 


(Kohlen- 
oxyd) 


das  Arbeiten  in  Eisenhütten, 

Coaksöfen, 
die  Minenarbeiten, 

Endlich  gehören  in  gewissem  Sinne  hierher:  die  Thätigkeit  der  Caisson- 
arbeiter und  Taucher  (Gefahr  der  Luftdruckschwankungen),  die  durch 
häufige  Unfälle  gefährlichen  Betriebe,  z.  B.  Dynamitfabrikation,  Eisen- 
bahndienst, Arbeiten  auf  Hochbauten  u.  s.  w.,  Brauer,  Gastwirthe,  Wein- 
händler u.  s.  w.  (Alkoholmissbrauch)  u.  A.  m. 


B.  STATUS  PRAESENS. 


Die  Beschwerden  des  Kranken. 

Um  alle  Beschwerden  des  Kranken  kennen  zu  lernen,  ist  es 
zweckmässig,  methodisch  nach  allen  Functionen  zu  fragen. 

Wie  ist  das  Allgemeinbefinden ,  die  Stimmimg,  die  Leistungs- 
fähigkeit, das  Gedächtniss  (periodischer  Wechsel)?  Ist  der  Schlaf 
unruhig  oder  abnorm  tief?  Besteht  Schwindel,  Kopfschmerz,  Kopf- 
druck? Bestellt  Angst,  Präcordialdruck,  wann,  bei  welchen  Anlässen 
u.  s.  w.  ?  Kommen  Ohnmacht-,  Krampfanfälle  oder  sonstige  Bewusst- 
seinsstörimgen  vor  ?  Bestehen  Gesichts-  oder  Gehörsstörungen  (Ohren- 
sausen), Geruchs-,  Geschmacksstörungen? 

Wenn  Schmerzen  bestehen,  welche  Theile  sind  schmerzhaft, 
welchen  Charakter  hat  der  Schmerz  (stark,  schwach,  brennend,  boh- 
rend, stechend,  ziehend,  reissend,  schnürend  u.  s.  w.),  besteht  er 
immer  oder  nur  zeitweise  (etwa  Nachts),  tritt  er  in  Anfällen  auf,  in 
kurzen,  langen,  regelmässigen,  unregelmässigen,  wechselt  er  den  Ort 
oder  ist  er  stetig,  welche  Umstände  verschlimmern  ihn  (Bewegungen, 
Berührungen,  Temperaturveränderungen ,  gemüthliche  Erregungen, 
Verdauungsvorgänge  u.  s.  w.)?  Bestehen  Parästhesien  (Kriebeln, 
Prickeln,  Kälte-,  Hitze-,  Schweregefühl  u.  s.  w.),  wo,  wann  u.  s.  w.  ? 
Besteht  Empfindungslosigkeit,  Taubheitsgefühl,  wo  u.  s.  w.?  Besteht 
Schwäche  oder  Lähmung,  Steifheit  oder  Krampf,  wo,  wann  u.  s.  w.? 

Bestehen  Appetit-  oder  Yerdauungstörungen  (Appetitlosigkeit, 
vermehrter  Appetit,  Heisshunger,  Geschmack  im  Munde,  Uebelkeit, 
saures,  fades  Aufstossen,  Sodbrennen,  Erbrechen,  Magendruck,  Be- 
schwerden während  der  Verdauung,  Verstopfung,  Durchfall,  ver- 
mehrter Stuhlgang)?  Bestellt  Herzklopfen,  Schlagen  der  Adern, 
Kurzathmigkeit  ? 

Bestehen  Störungen  des  Wasserlassens  (Pressen,  Nachträufeln, 
Harndrang,  tropfenweiser,  stossweiser  Abgang  beim  Husten,  Lachen, 
Springen,  nächtliches  Bettnässen  u.  s.  w.)? 


1 6  Beschwerden  des  Kranken. 

Bestehen  Störungen  der  geschlechtlichen  Thätigkeit  (vermehrte 
Pollutionen,  nur  bei  Xacht  oder  am  Tage,  beim  Stuhlgang,  bei  Be- 
rührung eines  Weibes,  mit  oder  ohne  Steifigkeit,  mit  oder  ohne 
Wollust,  mit  nachfolgender  Mattigkeit.  Kopf-.  Rückenschmerzen : 
starker,  schwacher,  fehlender  Geschlechtstrieb .  abnorme  Richtung 
desselben,  gegen  Männer.  Kinder.  Ekel  vor  Weibern;  mangelhafte 
Potenz.  Fehlen  der  Erection,  vorzeitige  Erschlaffung,  vorzeitige  Eja- 
culation.  Mangel  der  Wollust,  nachfolgende  Beschwerden,  Fähigkeit 
der  Wiederholung)?  Ist  die  Menstruation  unregermässig,  schmerz- 
haft, zu  reichlich,  bestehen  während  derselben  sensorische  oder  vaso- 
motorische Störungen  ? 

Selbstverständlich  sind  hier,  wie  bei  der  Anamnese,  nur  die 
Hauptfragen  angedeutet,  je  nach  der  Art  des  Leidens  wird  das  Aus- 
fragen mehr  oder  weniger  vollständig  sein  müssen,  bald  nach  dieser, 
bald  nach  jener  Richtung  hin  sich  zu  vertiefen  haben. 


ERSTES  HAUPTSTÜCK. 


Untersuchung  des  seelischen  Zustandes. 

Unter  der  Bezeichnung-  Seele  und  verwandten  Ausdrücken  fassen 
wir  die  nur  der  Selbstbeobachtung  zugänglichen  Veränderungen  zu- 
sammen. Wir  schliessen  auf  sie  und  ihre  Beschaffenheit  bei  Ande- 
ren nach  der  Körperform,  besonders  der  Beschaffenheit  des  Kopfes, 
und  dem  Gesichtsausdrucke,  aus  Handlungen  und  deren  Folgen,  aus 
Inhalt  und  Form  der  Ausdrucksbewegungen  im  engeren  Sinne  (Mimik, 
Sprechen,  Schreiben),  Aus  verschiedenen  Gründen  finden  die  Em- 
pfindungen eine  gesonderte  Besprechung,  unter  seelischen  Thätig- 
keiten  im  eigentlichen  Sinne  verstehen  wir  Erkennen  und  Wollen. 

Die  Untersuchung  des  Kopfes  und  die  sogenannten  Degenera- 
tionzeichen werden  weiter  unter  besprochen. 

Der  Gesicht  sausdruck  kann  bei  abnormen  seelischen  Zu- 
ständen unverändert  sein,  oft  aber  unterstützt  die  Beobachtung  des- 
selben, sowie  der  Körperhaltung  die  Untersuchung  und  bei  gröbe- 
ren Störungen  genügt  dem  Geübten  oft  ein  Blick  auf  den  Kranken, 
um  die  Diagnose  zu  machen.  Der  Ausdruck  des  Gesichtes  hängt  ab 
von  der  Spannung  der  Gesichtsmuskeln,  der  Beschaffenheit  der  Ge- 
sichtshaut,  der  Feuchtigkeit  des  Auges  u.  s.  w.  Unwillkürlich  pflegen 
wir  aus  den  Veränderungen  dieser  Factoren  auf  solche  psychischer 
Zustände  zu  schliessen.  Es  ist  nicht  möglich,  hier  ausführliche  phy- 
siognomische  Darlegungen  zu  geben,  nur  an  einige  Punkte  sei  erinnert. 
Besonders  charakteristisch  ist  das  Verhalten  des  Auges.  Enge  der 
Lidspalte,  Zurücksinken  des  Bulbus  deuten  auf  Depressionzustände. 
Vortreten  des  Bulbus,  Erweiterung  der  Lidspalte  und  der  Pupille 
auf  Erregungzustände.  Bleibt  zwischen  der  Cornea  und  dem  oberen 
Lide  ein  Streifen  der  Sklera  sichtbar,  so  schliessen  wir  auf  eine  inten- 
sive Erregung.  Ist  nur  unterhalb  der  Cornea  ein  Sklerastreifen  sicht- 
bar, so  handelt  es  sich  gewöhnlich  um  Muskelschlaffheit,  wie  sie  bei 
Zuständen  der  Erschöpfung  und  bei  Schwachsinn  sich  an  den  Ge- 

31  ö  Mus,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  2 


18  Untersuchung  des  seelischen  Zustandes. 

sichtsmuskeln  zeigt.  Der  feuchte  Glanz,  das  „Schwimmen"  des  Auges 
lässt  oft  ohne  Weiteres  die  sexuelle  Erregung  erkennen.  Die  Un- 
stätigkeit  des  Blickes  deutet  auf  seelische  Unruhe,  Personen  mit  reiz- 
barer Schwäche  des  Nervensystems  pflegen  dem  Arzte  nicht  ruhig 
ins  Auge  sehen  zu  können.  Starrheit  des  Blickes  finden  wir  bei 
denjenigen,  deren  Seele  ganz  von  einem  Gegenstande  in  Anspruch 
genommen  ist,  so  bei  den  Geängstigten,  Verzweifelnden. 

Mit  dem  traurigen  Gesichtsausdrucke  stimmt  zusammen  die  ge- 
drückte, zusammengesunkene  Haltung  des  Melancholischen,  mit  der 
mimischen  Erregtheit  die  Unruhe  der  Glieder  bei  dem  aufgeregten 
Kranken.  Der  sich  Ueberhebende  drückt  seinen  Wahn  mit  Gran- 
dezza in  Miene  und  Haltung  aus.  Der  Hallucinirende  sieht  aufmerk- 
sam nach  einer  Richtung,  seine  ganze  Haltung  ist  die  eines  Hor- 
chenden u.  s.  w. 

Mit  der  Haltung'  im  engsten  Zusammenhange  steht  die  Bewe- 
gungsweise. Besonders  der  Gang  ist  zu  beachten,  bald  ist  er 
schleppend,  bald  stürmisch  und  stampfend,  bald  trippelnd,  bald  töl- 
pisch  tappend,  bald  rasch  und  unsicher,  bald  gespreizt  wie  Pfauentritt. 

Ferner  deuten  zuweilen  Umgebung  und  Kleidung  auf  ge- 
wisse seelische  Veränderungen,  Unordnunng  oder  Pedanterie,  Neigung 
zu  Tand  und  Flitterwerk,  Neigung  zur  Kleidung  des  anderen  Ge- 
schlechts sind  nicht  selten  charakteristisch.  Es  kann  daher  von 
Werth  sein,  den  Kranken  in  seinen  gewohnten  Lebensverhältnissen 
zu  beobachten. 

Die  wichtigsten  Aufschlüsse  gewährt  das  Gespräch  mit  dem 
Kranken.  In  der  natürlichsten  Weise  bietet  die  Anamnese  Gelegen- 
heit zur  Beurtheilung  des  psychischen  Zustandes.  Auch  bei  solchen, 
die  körperlich  nicht  krank  sind,  geht  die  Prüfung  zweckmässig  von 
dem  körperlichen  Befinden  aus.  In  anderen  Fällen  können  der  Be- 
ruf, die  früheren  Erlebnisse  des  Kranken,  die  Angelegenheiten  des 
Tages  zum  Ausgangspunkte  dienen.  Der  Kranke  soll  nicht  merken, 
dass  er  psychisch  untersucht  wird.  Der  Arzt  darf  daher  nicht  wie 
ein  Inquisitor  auftreten,  er  muss  vor  Allem  das  Zutrauen  des  Kran- 
ken zu  gewinnen  suchen,  muss  daher  Interesse  am  Gegenstande  des 
Gespräches  zeigen,  muss  den  Erlebnissen  des  Kranken  freundliche 
Theilnahme  entgegenbringen,  ohne  doch  zuviel  Wissbegier  zu  ver- 
rathen.  Sodann  gilt  es,  das  Gespräch  so  zu  führen,  dass  möglichst 
viele  Tasten  auf  der  seelischen  Claviatur  angeschlagen  werden.  Die 
familiären,  gesellschaftlichen,  politischen,  religiösen  Beziehungen  des 
Kranken  müssen  berührt  werden,  dabei  werden  die  Stimmung  des 
Kranken  und  der  Grad  seiner  Reizbarkeit,  seine  intellectuelle  und 


Untersuchung-  des  seelischen  Zustande*.  19 

moralische  Urteilsfähigkeit  wenigstens  in  groben  Zügen  kenntlich 
werden.  Die  Erörterung  vergangener  Dinge,  die  auch  dem  Arzte 
bekannt  sind,  lässt  den  Zustand  des  Gedächtnisses  erkennen.  Aus 
der  Auffassung  des  Zukünftigen  werden  sich  die  Pläne  und  Bestre- 
bungen tles  Kranken  weiterhin  ergeben.  Während  der  Arzt,  indem 
er  alle  Beziehungen  des  Kranken  ins  Gespräch  zieht,  ein  Bild  von 
dessen  Persönlichkeit  gewinnt,  gelingt  es  meist  auch,  den  wunden 
Punkt,  den  Wahn,  sofern  ein  solcher  vorhanden,  zu  entdecken.  So- 
bald der  Gegenstand  des  Wahnes  berührt  wird,  geräth  in  der  Regel 
der  Kranke,  der  denselben  bisher  verheimlicht  hat,  in  Erregung  und 
ist  nicht  mehr  im  Stande,  seine  Ideen  zurückzuhalten. 

Ueber  die  Frage,  ob  der  Kranke  besonnen  ist,  seine  Umgebung 
erkennt,  das  zu  ihm  Gesprochene  versteht,  geben  schon  die  ersten 
Fragen  Aufsclüuss.  Ueber  den  Grad  einer  etwaigen  psychischen 
.schwäche  kann  man  sich  durch  vielfältige  einfache  Proben  Aufschluss 
zu  verschaffen  suchen.  Das  Aufgeben  leichterer  Begriffscombinationen 
nach  Art  der  Kinderräthsel ,  verschiedener  Arten  von  Rechnungen 
ist  in  Gebrauch.  Die  Fähigkeit,  mündliche,  schriftliche,  mimische, 
bildliche  Darstellungen  zu  verstehen,  wird  durch  Aufforderung  zu 
bestimmten  Aeusserungen  mittelst  der  Rede  oder  Geberde,  durch 
Vorlegen  von  Buchstaben,  einzelnen  Wörtern,  Sätzen,  die  gelesen 
werden  müssen,  durch  Vorlegen  von  Bildern,  die  erklärt  werden 
müssen,  geprüft. 

Das  Gedächtniss  muss  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  unter- 
sucht werden,  ob  die  Erinnerungen  aus  ferner  Vergangenheit,  aus. 
den  letzten  Wochen  und  Monaten,  aus  der  jüngsten  Vergangenheit 
gut  erhalten  sind.  Um  die  gegenwärtige  Erinnerungsfähigkeit  zu  prü- 
fen, kann  man  mehrstellige  Zahlen  oder  Zahlenreihen,  Sätze  oder 
sinnlose  Lautreihen  vom  Kranken  nachsprechen  lassen.  Ausser  dem  In- 
halte des  Gespräches  ist  die  Sprechweise  zu  beachten,  ob  laut 
oder  leise,  stockend  oder  fliessend,  unbeholfen  oder  gewandt,  mit  oder 
ohne  Betonung  gesprochen  wird,  ob  Stottern.  Lallen,  Silbenstolpern, 
echoartige  Wiederholungen  vorkommen  u.  s.  w. 

Auch  empfiehlt  es  sich,  den  Kranken  laut  vorlesen  zu  lassen, 
da  sich  dabei  zuweilen  Störungen  verrathen,  die  im  Gespräche  nicht 
bemerkt  werden. 

Von  Werth  ist  die  Prüfung  der  von  dem  Kranken  gelieferten 
Schriftstücke.  Zu  beachten  sind  der  Inhalt,  der  Stil  und  die  Hand- 
schrift. Die  Kranken  lassen  sich  zuweilen  beim  Schreiben,  wo  sie 
sich  unbeachtet  glauben,  mehr  gehen  als  im  Gespräche.  Solche,  die 
allen  Fragen  mit  Stillschweigen  antworten,  ergehen  sich  schriftlich 


20  Untersuchung  des  seelischen  Zustandes. 

oft  in  ihren  Wahnvorstellungen.  Manche,  die  ganz  verständig  reden, 
schreiben  lauter  dummes  Zeug.  Der  Stil  gibt  ein  Bild  sowohl  des 
Bildungsgrades  als  der  Stimmung.  „Da  das  Schreiben  überhaupt 
grössere  Klarheit  der  Gedanken  erfordert  als  das  Sprechen,  so  ist 
die  Schrift  ein  besonders  feines  Eeagens  für  psychische  Schwäche- 
zustände"  (G-üntz).  Der  Deprimirte  schreibt  in  kurzen,  unschönen 
Sätzen,  seiner  Diction  fehlen  die  Geläufigkeit  und  der  Schwung.  Der 
Erregte  sehreibt  einen  überladenen  Stil,  er  kann  die  Fülle  der  Ge- 
danken nicht  bewältigen  und  mit  der  Feder  dem  Laufe  der  Vor- 
stellungen nicht  folgen,  seine  Perioden  verlaufen  sich,  Worte  und 
Sätze  werden  ausgelassen.  Die  Handschrift  kann  steif  oder  flüchtig, 
zitternd  oder  atactisch  sein,  zuweilen  ist  sie  verschnörkelt,  mit  selt- 
samen Verzierungen  versehen.  (Weiteres  über  Sprache  und  Schrift 
siehe  im  nächsten  Abschnitt.) 


Die  Untersuchung  der  seelischen  Thätigkeiten  hat  zunächst  fest- 
zustellen, ob  überhaupt  krankhafte  Störungen  derselben  bestehen. 
Die  Entscheidung  kann  in  zwei  Fällen  schwierig  sein,  nämlich  da, 
wo  die  Störungen  so  gering  sind,  dass  sie  möglicher  Weise  noch  in 
die  Breite  des  Normalen  fallen,  und  da,  wo  möglicherweise  psychische 
•Störungen  von  einem  Gesunden  vorgetäuscht  werden. 

Die  Grenze  zwischen  krankhafter  Seelenthätigkeit  einerseits  und 
Dummheit,  Sonderbarkeit,  Bosheit  andererseits  existirt  in  Wirklich- 
keit nicht.  Es  ist  daher  willkürlich  und  nur  Sache  des  Ueberein- 
kommens,  wenn  sie  da  oder  dort  gezogen  wird.  Gewöhnlich  spricht 
man  dann  von  Krankkeit,  wenn  die  seelischen  Abnormitäten  die 
Stellung  ihres  Besitzers  in  der  Gesellschaft  schwierig  oder  unmöglich 
machen.  Leichter  wird  die  Entscheidung,  wenn  es  sich  nicht  um  an- 
geborene abnorme  Zustände,  sondern  um  Veränderungen  der  Person 
handelt,  Gegebenen  Falles  wird  man  folgende  Umstände  für  die 
krankhafte  Natur  der  Störung  in  Anschlag  bringen:  neuropathische 
Belastung,  Nachweis  früherer  psychischer  Gesundheit,  Nachweis 
pathologischer  Ursachen  der  Störung  (körperliche  Krankheit,  Ver- 
letzung u.  s.  w.j.  Aeluilichkeit  der  vorhandenen  Störung  mit  einem 
allgemein  anerkannten  Bilde  psychischer  Krankheit,  Nachweis  ander- 
weiter Krankheitserscheinungen  (Degenerationzeichen,  Störungen  der 
Empfindlichkeit.  Beweglichkeit  u.  s.  w.).  Immer  dürfte  es  rathsam 
sein,  recht  vorsichtig  zu  urt  heilen.  Nur  eine  sorgfältige  Anamnese 
und  genügend  lange  eingehende  Beobachtung  vermögen  den  Beob- 
achter, auch  den  geübten  Beobachter,  vor  Irrthümern  zu  schützen. 
Dies  gilt   auch  für  den  Fall,  wenn  sich  die  Frage  erhebt,  ob  eine 


Untersuchung'  des  seelischen  Zustandes.  21 

psychische  Störung  echt  oder  simulirt  sei.  Die  Entscheidung  wird 
nieist  davon  abhängen,  ob  die  Erscheinungen  dauernd  dieselben  wie 
bei  wirklicher  Krankheit  sind,  ob  das  Bild  dem  irgend  einer  be- 
kannten Krankheitsform  vollständig  gleicht.  Die  »Schwierigkeit, 
dauernd  die  Maske  einer  psychischen  Krankheit  zu  tragen,  ein 
Krankheitsbild  in  allen  Zügen  nachzuahmen  und  trotz  aller  Prüfungen 
nicht  aus  der  Rolle  zu  fallen,  ist  überaus  gross.  Es  pflegt  daher,  wenn 
die  Beobachtungzeit  nicht  zu  kurz  ist,  die  Entlarvung  des  Simulan- 
ten fast  immer  zu  gelingen.  Doch  ist  mit  dem  Nachweise  der  Simu- 
lation der  der  psychischen  Gesundheit  nicht  gegeben.  Vielmehr  zeigt 
die  Erfahrung,  dass  Simulation  häufiger  von  psychisch  Gestörten  als 
von  Gesunden  geübt  wird.  Die  meisten  Irrenärzte  nehmen  an,  dass 
reine  Simulation  sehr  selten  sei.  Ist  daher  der  Untersucher  seiner 
Sache  nicht  vollständig  sicher,  so  möge  er  sich,  wenn  er  keine  psy- 
chische Störung  findet,  damit  begnügen,  dies  zu  bekunden,  nicht  aber 
versichern,  der  Untersuchte  sei  psychisch  gesund. 


Auf  die  Unterscheidung  der  psychischen  Störungen  des  Genaueren 
einzugehen,  >  ist  an  dieser  Stelle  nicht  gerathen.  Der  Rathsuchende 
sei  hiermit  auf  die  Lehrbücher  der  Psychiatrie  (besonders  Schule, 
Klinische  Psychiatrie.  Leipzig,  F.  C.W.  Vogel  1886;  Krafft-Ebing, 
Lehrb.  d.  Psychiatrie.  5.  Aufl.  1893;  Kraepelin,  Lehrbuch  d.  Psy- 
chiatrie. 4.  Aufl.  1893)  verwiesen. 

Zunächst  soll  hier  eine  kurze  Uebersicht  über  die  am  häufig- 
sten für  psychische  Störungen  gebrauchten  Termini  gegeben  werden. 

Von  Aufhebung  des  Bewusstseins  muss  man  dann  sprechen, 
wenn  zu  vermuthen  ist,  dass  überhaupt  keine  psychischen  Processe 
vor  sich  gehen.  Da  das  Fehlen  der  psychischen  Vorgänge  jedoch 
nicht  zu  beweisen  ist,  nimmt  man  auch  daBewusstlosigkeit  an, 
wo  keine  Beziehungen  des  Bewusstseins  zur  Aussenwelt  nachweisbar 
sind.  Die  Zwischenstufen  zwischen  Bewusstlosigkeit  und  Klarheit 
des  Bewusstseins,  d.  h.  ungestörter  Wahrnehmungsfähigkeit,  bezeich- 
net man  als  Trübungen  des  Bewusstseins  (Dämmerzustände). 
Bewusstlosigkeit  und  Bewusstseinstrübungen  nennt  man  wohl  auch 
Störungen  des  Sensorium.  Das  Paradigma  dieser  Störungen  ist  der 
Schlaf.  Einen  Schlaf,  aus  dem  man  den  Kranken  auf  keine  Weise 
erwecken  kann,  nennt  man  Koma  (Karus,  Lethargus).  Gelingt 
es  nur  durch  starke  Eeize,  den  Kranken  vorübergehend  zu  erwecken, 
so  spricht  man  von  Sopor,  dessen  leichtere  Form  die  Somno- 
lenz.  die  krankhafte  Schläfrio-keit,  ist. 


22  Untersuchung  des  seelischen  Zustandes. 

Jactation  nennt  man  das  Sichliin-  und  Herwerfen,  die  Unruhe 
der  Glieder  eines  soporösen  Kranken.  Sie  deutet  gewöhnlich  auf  Angst. 

Einen  stärkeren  Grad  von  Trübung-  des  Bewusstseins  im  wachen 
Zustande,  von  Benommenheit,  nennt  man  S  t  u  p  o  r.  Insbesondere  spricht 
man  dann  von  Stupor,  wenn  die  Beziehungen  zur  Aussenwelt  dadurch 
gehemmt  sind,  dass  krankhafte  Vorstellungen  und  Stimmungen  das 
Innere  ganz  erfüllen.  Sind  die  die  Wahrnehmung  und  Bewegung 
hemmenden  Erregungen  melancholischer  Art,  so  entstellt  die  Me- 
1  a  n  c  h  o  1  i  a  c  u  m  s  t  u  p  o  r  e  s.  a  1 1  o  n  i  t  a ,  sind  aber  die  Wahngebilde 
erfreulicher  Art,  so  entsteht  die  Ekstase.  Geben  bei  Kranken  trotz 
mehr  oder  weniger  tiefer  Bewusstseinsstörung  Eeden  und  Handlungen 
von  Wahnvorstellungen  Kunde,  so  haben  wir  es  mit  D  eliri  en  zu  tlnm, 
die  im  gesunden  Leben  ihr  Analogon  durch  die  Reden  und  Handlungen 
Träumender  finden.  Dementsprechend  nehmen  eine  Mittelstellung 
zwischen  normalen  und  krankhaften  Zuständen  ein  das  Schlaf- 
wandeln oder  Somnambulismus  und  die  Hypnose,  bei  denen 
es  sich  um  durch  bestimmte  Reize  hervorgerufene  Bewußtseins- 
trübungen mit  Delirien  handelt,  die  Wahrnehmungsfähigkeit  theils 
aufgehoben,  theils  irregeführt  ist.  Neben  dem  Schlafwandeln  ist  die 
Schlaftrunkenheit  zu  erwähnen,  d.  h.  der  Dämmerzustand, 
der  zwischen  tiefem  Schlafe  und  Erwachen  sich  einschieben  kann. 
Von  mussitirenden  Delirien  spricht  man,  wenn  soporöse  Kranke  vor 
sich  hin  murmeln.  Je  nach  der  Ursache  nennt  man  Dämmerzustände, 
Stupor,  Delirien  epileptisch,  hysterisch,  alkoholisch  u.  s.  w. 

Unter  Schwindel  versteht  man  zweierlei,  nämlich  einmal  eine 
vorübergehende  Bewusstseinstrübung  („Schwarzwerden  vor  den 
Augen",  Ohnmachtanwandlung,  etourdissement) ,  und  zum  andern 
eine  Sinnestäuschung,  als  ob  entweder  der  ruhende  Körper  sich  be- 
wegte, oder  die  ruhende  Umgebung  sich  um  den  Patienten  bewegte. 
Handelt  es  sich  um  drehende  Bewegungen,  so  spricht  man  von  Dreh- 
schwindel. 

Gefälschte  Wahrnehmungen  nennt  man  Sinnestäuschungen. 
Handelt  es  sich  um  Wahrnehmungen  wirklicher  Dinge,  die  ver- 
unstaltet zum  Bewusstsein  kommen,  so  spricht  man  von  Illusionen, 
handelt  es  sich  um  Wahrnehmungen,  denen  kein  Object  entspricht, 
die  durch  nicht  adäquate  Reize  der  der  Wahrnehmung  dienenden 
Theile  des  Nervensystems  hervorgerufen  werden,  von  Hailucina  - 
tionen.  Wenn  z.  B.  Jemand  einen  vorüberhuschenden  Schatten  für 
ein  Thier  hält,  oder  im  Rauschen  der  Bäume  klagende,  spottende 
Stimmen  hört,  hat  er  Illusionen,  wenn  er  in  stiller  Nacht  Schimpf- 
rufe vernimmt,  im  leeren  Zimmer  Gestalten  erblickt,  hallucinirt  er. 


Untersuchung  des  seelischen  Zustand.es.  23 

Gesichtshallueinationen  heissen  auch  Visionen,  besonders  bei  Eksta- 
tischen. 

Verminderte  psychische  Leistungsfähigkeit  wird  in  geringerem 
Grade  als  Schwachsinn,  in  höherem  als  Blödsinn  bezeichnet. 
Lücken  in  der  Erinnerung,  die  meist  auf  vergangene  Bewusst- 
seinsstörungen  zu  beziehen  sind,  nennt  man  amnestische  Defecte 
oder  Amnesie.  Vorstellungen,  die  sich  gegen  den  Willen  des  Vor- 
stellenden in  das  Bewusstsein  drängen  und  von  diesem  peinlich 
als  Eindringlinge  empfunden  werden,  sind  Zwangsvorstellungen. 
Wenn  sich  z.  B.  einem  Kassirer  nach  jeder  Rechnung  der  Gedanke 
aufdrängt,  er  habe  sich  verzählt,  obwohl  der  Mann  überzeugt  ist,  dass 
er  richtig  gerechnet  habe,  so  nennt  man  dies  eine  Zwangsvorstellung. 
Irrthümer  der  Kranken,  die  trotz  Widerlegung  festgehalten  wer- 
den, sind  Wahnideen.  Bei  ihnen  handelt  es  sich  theils  um  Er- 
klärungsversuche oder  Allegorien  krankhafter  Zustände  (z.  B.  der 
an  neuralgischen  Schmerzen  Leidende  behauptet,  seine  Feinde  elektri- 
sirten  ihn),  theils  um  Sinnestäuschungen  und  daran  geknüpfte  Urtheile, 
(z.  B.  der  an  Geruchshallucinationen  Leidende  glaubt  unter  Leichen 
zu  sein),  theils  um  Phantasievorstellungen  ohne  ersichtliche  andere 
Veranlassung  als  die  cerebrale  Erkrankung  überhaupt.  Eine  dauernd 
festgehaltene  Wahnidee  wird  fix  genannt. 

Krankhafte  Zu-  und  Abneigungen  gegen  bestimmte  Dinge  oder 
Personen  bezeichnet  man  als  Idiosynkrasien.  Zu  den  krankhaften 
Trieben  zählen  die  abnormen  Nahrungsbedürfnisse  (Heisshunger  = 
Bulimie),  Geschlechtsbedürfnisse  (Satyriasis,  Nymphomanie, 
c  out  rare,  d.  h.  auf  das  eigene  Geschlecht  gerichtete,  Sexual- 
empfindung  und  dergl.),  die  früher  als  Monomanien  bezeichneten 
Triebe  (Kleptomanie,  Pyromanie,  Dipsomanie  u.  s.  w.).  Ferner  sind 
hier  zu  nennen  die  impulsiven  oder  Zwangshandlungen,  die 
unmotivirt  und  oft  gegen  den  Willen  des  Kranken  eintreten. 


Findet  man  Aufhebung  oder  Trübung  des  Bewusstseins,  so  wird 
zunächst  zu  entscheiden  sein,  ob  es  sich  um  eine  primäre  Erkrankung 
des  Gehirns  oder  um  eine  secundäre,  eine  Folge  von  allgemeiner 
Krankheit  handelt. 

Bewusstseinsstörungen,  die  bei  erschöpfenden  Krankheiten,  bei 
Hunger,  Erfrierung  u.  s.  w.  das  Erlöschen  des  Lebens,  den  Tod  ein- 
leiten, werden  zu  Verwechselungen  kaum  Anlass  bieten. 

Eher  können  diejenigen,  die  in  Folge  von  Intoxicationen 
auftreten,  eine  örtliche  Gehiriikrankheit  vortäuschen.  Es  kommen 
hier  zunächst  in  Betracht  die  fieberhaften  Krankheiten,  bei  denen, 


24  Untersuchung  des  seelischen  Zustandes. 

sei  es  in  Folge  der  Temperatursteigerung,  sei  es  durch  directe  Gift- 
wirkung,  Benommenheit.  Sopor,  Delirien  bekanntlich  oft  genug'  sich 
zeigen.  Eine  genaue  körperliche  Untersuchung,  besonders  die  Be- 
obachtung der  Körpertemperatur,  wird  meist  zur  Diagnose  führen. 
Am  häufigsten  werden  das  Initialstadium  des  Typhus  und  die 
croup ose  Pneumonie  mit  Meningitis  oder  mit  Geisteskrankheit 
verwechselt.  Beim  Typhus  müssen  die  Kopfschmerzen  und  die  kör- 
perliche Schwäche,  auch  wenn  das  Fieber  noch  fehlt,  vor  der  An- 
nahme einer  Psychose  warnen.  Ferner  sind  zu  nennen  das  urämi- 
sche Koma  (Oedeme,  Cyanose,  gespannter  Puls,  hypertrophisches 
Herz,  Eetinitis  albuminurica,  eiweisshaltiger  Urin  mit  Cylindern),  das 
diabetische  Koma  (Obstgeruch  aus  dem  Munde,  zuckerhaltiger 
Urin),  das  carcinomatöse  Koma  (Nachweis  des  Carcinoms).  Bei 
Vergiftungen  im  engeren  Sinne  muss  theils  die  Anamnese  auf 
den  rechten  Weg  führen,  theils  dienen  einzelne  Symptome  als  Weg- 
weiser, z.  B.  der  Geruch  des  Athems  bei  Alkoholvergiftung,  die  in- 
tensive Myosis  bei  Morphiunivergiftung  u.  s.  w.  In  manchen  Fällen 
wird  nur  der  Nachweis  des  Giftes  entscheiden,  z.  B.  wenn  bei  Koma  mit 
Myosis  die  Diagnose  zwischen  Morphiumvergiftung  und  acuter  Pons- 
läsion schwankt.  Das  Delirium  tremens  po  tat  omni  ist  meist 
durch  das  Zittern,  den  Wechsel  zwischen  heiterer  Stimmung  und  Angst, 
die  vollständige  Schlaflosigkeit  und  die  Ruhelosigkeit  bei  starker  Benom- 
menheit, die  eigenthümlichen  Sinnestäuschungen  (zahlreiche  kleine 
Thiere  u.  s.  w.)  hinreichend  charakterisirt.  Doch  kommen  auch  bei  Menin- 
gitis und  bei  fieberhaften  Allgemeinkrankheiten  recht  ähnliche  Zu- 
stände vor.  die  sorgsame  körperliche  Untersuchung  und  die  Beob- 
achtung der  Temperatur  sind  daher  nicht  zu  vernachlässigen. 

Sind  die  genannten  Fälle  auszuschliessen,  so  kann  entweder  eine 
Functionstörung  der  Hirnrinde  in  Folge  einer  Psychose  oder  eine 
organische  Gehirnaffection  vorliegen. 

Für  epileptische  Bewusstseinsstörung  sind  die  voraus- 
gegangenen epileptischen  Krämpfe,  der  Zungenbiss,  der  unfreiwillige 
Absang  von  Urin  charakteristisch,  sobald  es  sich  um  sogenannte 
postepileptische  Erscheinungen  handelt.  Treten  die  epileptischen 
Delirien  oder  das  Koma  selbständig,  an  Stelle  von  Krampfanfällen 
auf  und  fehlen  die  genannten  Zeichen,  so  ist  man  auf  längere  Be- 
obachtung und  die  Anamnese  angewiesen.  Der  geübte  Beobachter 
kann  zuweilen  das  epileptische  Delirium  aus  dem  Vorwiegen  schreck- 
hafter Hallucinationen.  die  die  heftigste  Angst  der  Kranken  erregen, 
zu  Handlungen  der  Verzweiflung  (Selbstmord,  Mord)  zwingen, 
erkennen,    den    epileptischen    Stupor    aus    der    Verbindung    tiefer 


Untersuchung'  des  seelischen  Znstandes.  25 

Benommenheit  mit  läppischen  Handlungen  und  Neigung  zum  Um- 
herlaufen. 

Die  hysterischen  Bewusstseinsstörungen  sind  den  epi- 
leptischen äusserlich  vielfach  ähnlich,  das  Vorhandensein  hysterischer 
Krämpfe  und  anderer  hysterischer  Symptome  (Hemianästhesie,  Ovarie 
u.  s.  w.)  wird  meist  über  die  Natur  der  Störung  aufklären.  Doch 
darf  man  auch  hier  nicht  vergessen,  dass  das  Vorhandensein  hyste- 
rischer Symptome  anderweitige  Störungen  nicht  ausschliesst ,  dass 
auch  Hysterische  epileptische  Anfälle  u.  s.  w.  bekommen  können. 

Bei  genauerer  Beobachtung  ergiebt  sich  überdem,  dass  der 
hysterische  Geisteszustand  ein  ganz  eigenthümlicher  ist.  Es  handelt 
sich  bei  ihm  nicht  um  eine  einfache  Einschränkung  des  Bewusst- 
seins,  wie  wir  sie  wahrscheinlich  beim  Epileptischen  und  in  anderen 
Fällen  anzunehmen  haben,  sondern  die  Einschränkung  ist  nur  schein- 
bar, weil  deutliche  Zeichen  darauf  hinweisen,  dass  nicht  die  Wahr- 
nehmung überhaupt,  sondern  nur  ihre  bewusste  Verknüpfung  mit  den 
schon  vorhandenen  Vorstellungen  und  ihre  willkürliche  Keproduction 
unausführbar  sind.  Man  spricht  gewöhnlich  von  einer  Spaltung  des 
Bewusstseins  und  man  kann  sich  die  Sache  bildlich  so  vorstellen,  als 
ob  ein  Schirm  das  geistige  Auge  des  Kranken  hinderte,  einen  Theil 
seines  Besitzes  an  Vorstellungen  zu  sehen.  Ein  Hysterischer  z.  B., 
der  im  Somnambulismus  von  vielen  vorhandenen  Personen  nur  Eine 
wahrnimmt,  weicht  doch  beim  Gehen  einer  jeden  aus.  Die  Spaltung 
des  Bewusstseins  liegt  nicht  nur  den  offenbaren  Bewusstseinsstörun- 
gen  der  Hysterischen  und  allen  hypnotischen  Erscheinungen  zu  Grunde, 
sondern  auch  der  Amnesie,  der  Anästhesie,  der  Lähmung  bei  Hysterie, 
worauf  später  zurückzukommen  ist. 

Bei  Gehirnkrankheiten  im  engeren  Sinne  sind  Bewusstseins- 
störungen theils  in  der  Form  des  apoplektischen  Anfalles,  theils  als 
allmählich  entstanden  und  subacut  oder  chronisch  verlaufend  zu  be- 
obachten. 

Der  apoplektische  xlnfall  tritt  ein,  wenn  durch  plötzliche 
Läsion  die  Gehirnfunctionen  gehemmt  werden.  Er  begleitet-  daher 
am  häufigsten  die  Hirnblutung  und  den  Gefässverschluss  (Embolie 
und  Thrombose)  im  Gehirn.  Bei  dem  eigentlichen  Schlaganfalle  stürzt 
der  Kranke,  gewöhnlich  nachdem  kürzere  oder  längere  Zeit  Schwin- 
del, Kopfdruck,  Augenflimmern  u.  s.  w.  bestanden  hatten,  ,,Avie  vom 
Schlage  getroffen"  zu  Boden.  Die  Bewusstlosigkeit  kann  verschieden 
lange  dauern,  von  wenigen  Minuten  bis  zu  mehreren  Tagen.  Sie  kann 
direct  in  den  Tod  überführen  oder  nach  einem  Stadium  der  Benom- 
menheit dem  wiederkehrenden  Bewusstsein  weichen.    Meist  ist  von 


26  Untersuchung  des  seelischen  Zustandes. 

vornherein  die  Lähmung  einer  Körperhälfte '  erkennbar.  Die  Form 
und  die  Schwere  des  Anfalles  hängen  von  der  Geschwindigkeit,  mit 
der  die  Läsion  sich  entwickelt,  und  von  ihrer  Grösse  ab.  Kleine 
Blutungen  z.  B.  brauchen  nur  vorübergehenden  Schwindel,  eine  leichte 
Ohnmacht  zu  verursachen,  erfolgt  die  Blutung  aber  unter  starkem 
Drucke,  ist  in  Folge  dessen  die  traumatische  Wirkung  auf  das  Ge- 
hirn gross,  so  wird  doch  ein  heftiger  Schlaganfäll  entstehen.  Tritt 
die  Blutung  unter  geringem  Drucke  ein,  sickert  sozusagen  das  Blut 
aus,  so  kann  der  Insult  ganz  fehlen,  die  Hemiplegie  ohne  ihn  ein- 
treten, oder,  wenn  es  sich  um  eine  grosse  Blutung  handelt,  kann 
das  Bewusstsein  sich  langsam  trüben,  die  Benommenheit  erst  all- 
mählich zu  Sopor  und  dann  zu  Koma  werden.  Im  letzteren  Falle 
spricht  man  auch  von  einem  langsamen  Insult. 

Auf  den  Ort  der  Läsion  kann  man  nur  selten  aus  der  Art  des 
Insultes  schliessen.  Enge  der  Pupillen  deutet  auf  die  Gegend  der 
Brücke.  Easch  eintretende  Störungen  der  Athmung  und  der  Herz- 
thätigkeit  werden  für  Betheiligung  der  Oblongata  sprechen.  Das 
Gleiche  gilt  vom  Auftreten  von  Eiweiss  oder  Zucker  im  Urin.  Starre 
der  Glieder  im  Anfäll  wird  gewöhnlich  auf  Durchbrach  der  Blutung 
(beziehungsweise  des  Eiters  bei  Hiraabscessen)  in  die  Seitenventri- 
kel bezogen.  Epileptiforme  Krämpfe  entsprechen  einer  Reizung  der 
Hirnrinde,  diese  hängt  aber  weniger  vom  Orte  der  Läsion  als 
von  der  Grösse  des  Reizes,  den  der  Eintritt  der  Läsion  bewirkt, 
ab.  Besteht  Hemiplegie,  so  ist  natürlich  die  Läsion  in  der  gegen- 
überliegenden Hirnhälfte  zu  suchen.  Ein  ziemlich  häufiges  Symptom 
im  Anfall  ist  die  Deviation  conjuguee,  die  Ablenkung  des  Kopfes 
und  der  Augen  nach  einer  Seite.  Die  Läsion  befindet  sich  in  der  Hirn- 
hälfte. nach  der  der  Kranke  blickt  (le  malade  regarde  sa  lesion),  nur 
bei  halbseitigen  Krämpfen  ist  der  Blick  von  der  kranken  Hemisphäre 
abgewandt  (le  malade  regarde  ses  membres  convulsees,  Prevost). 

Die  Art  der  Läsion  ist  nicht  immer  zu  diagnosticiren,  insbeson- 
dere ist  die  Unterscheidung  zwischen  Hämorrhagie  und  Gefässver- 
schluss oft  unmöglich.  Ein  schwerer  Insult,  an  den  sich  lange  dauern- 
des Koma  anschliesst,  deutet  auf  Blutung.  Der  Insult  fehlt  bei 
letzterer  nur,  wenn  sie  sehr  klein  ist.  Tritt  complete  Hemiplegie 
ohne  Insult  ein.  so  kann  es  sich  nicht  um  eine  Blutung  handeln. 
Langsamer  Insult  entsteht  meist,  wenn  auch  nicht  immer,  durch  all- 
mählich zunehmende  Blutung. 

Vorläufersymptome  fehlen  natürlich  beiEmbolie  ganz,  bei  Blutung 
fast  immer.  Dagegen  sind  sie  oft  bei  Thrombose  vorhanden.  Aus  ihrem 
Fehlen  ist  nicht  viel  zu  schliessen.    Ihre  Gegenwart  aber  (längerer 


Untersuchung  des  seelischen  Zustandes.  2< 

heftiger  Kopfschmerz,  halbseitige  Parästhesien)  lässt  auf  Gefässver- 
schluss durch  atheromatöse  (bez.  syphilitische)  Gefässerkrankung 
schliesseu.  Relativ  leicht  ist  die  Diagnose  bei  jüngeren  Leuten. 
Hier  sind  Hämorrhagien  eine  grosse  Seltenheit ;  besteht  keine  Herz- 
krankheit, keine  sonstige  Quelle  für  Emboli  (z.  B.  puerperale  Throm- 
bose!, so  ist  zuerst  an  eine  syphilitische  Gefässerkrankung  zu  denken. 
Die  meisten  Apoplexien  bei  jüngeren  Leuten  beruhen  auf  S}Tphilis. 
Schwieriger  ist  die  Diagnose  im  höheren  Alter,  da  hier  die  frühe- 
ren Ursachen  fortwirken,  die  Athermatose  aber  hinzutritt.  Man 
giebt  gewöhnlich  an.  dass  Röthung  oder  Gedunsensein  des  Gesichtes. 
Klopfen  der  Carotiden.  gespannter,  voller,  etwas  verlangsamter  Puls 
für  Blutimg  sprechen.  Blässe  des  Gesichtes,  Schwäche  des  Pulses 
und  der  Athmung  für  Thrombose.  Nicht  unwichtig  ist  der  Ort  des 
Herdes.  Blutungen  kommen  am  häufigsten  im  Gebiete  der  Gross- 
nirnganglien  vor.  Herde  in  der  Hirnrinde  entstehen  fast  nur  durch 
Gefässverschluss.  Blutungen  in  der  Brückengegend  sind  fast  immer 
tödtlich.  Herde  der  Brücke  und  der  Oblongata,  die  nicht  rasch 
tödten.  entstehen  daher  gewöhnlich  durch  Erweichung.  Die  Art.  basi- 
laris  erkrankt  besonders  oft  durch  Syphilis. 

Auch  Tumoren  des  Gehirns  können  apoplektische  Anfälle 
verursachen.  Man  wird  einen  Tumor  annehmen,  wenn  sich  deutliche 
Stauungspapille  findet  und  anderweite  Sjmiptome  von  Hirndruck, 
heftiger  Kopfschmerz,    Pulsveiiangsamuug,  vorausgegangen  waren. 

Auch  Hirnabscesse.  die  bis  dahin  latent  geblieben  waren, 
können,  wenn  sie  in  einen  Ventrikel  durchbrechen,  einen  Insult  bewirken. 

Endlich  kommen  bei  Kindern  unter  Fieber  eintretende  Insulte, 
gewöhnlich  mit  Krämpfen  und  nachbleibender  Hemiplegie,  die  viel- 
leicht auf  eine  entzündliche  Erkrankimg  bestimmter  Hirntheile  zu 
beziehen  sind  (Encephalitis  acuta),  vor. 

Abgesehen  von  den  eigentlichen  Herdläsionen  des  Gehirns  spielen 
apoplektische  Anfälle  eine  Rolle  bei  der  multiplen  Sklerose 
und  der  progressiven  Paralyse.  Oft  rasch  vorübergehend  und 
ohne  Folgen,  oft  für  einige  Zeit  halbseitige  Lähmung  oder  Aphasie 
hinterlassend,  zeigen  sie  sich  im  Verlaufe  beider  Krankheiten.  Be- 
sonders bei  der  progressiven  Paralyse  sind  die  Schlaganfälle  nebst 
den  etwas  selteneren  epileptischen  Anfällen  von  Bedeutung,  die  „para- 
lytischen Anfälle"  kennzeichnen  nicht  selten  die  Stationen  des  Krank- 
heitsverlaufes.  denn  nach  jedem  Anfälle  pflegt  der  Kranke  auf  eine 
tiefere  Stufe  des  intellectuellen  Verfalles  zu  sinken.  Auch  bei  Tabes 
sind  die  paralytischen  Anfälle  ebenso  wie  andere  Symptome  der 
Paralyse  beobachtet  worden. 


28  Untersuchung  des  seelischen  Zustaudes. 

Ob  die  Anfälle,  die  während  der  senilen  Gehirnatrophie 
vorkommen,  den  paralytischen  gleichzustellen  sind,  steht  dahin.  In 
vielen  Fällen  entsprechen  sie  wohl  wirklichen  kleineren  Blutungen 
oder  Thrombosen. 

Eine  mehr  allmählich  eintretende  Trübung  des  Be- 
wusstseins  findet  man  bei  der  Meningitis;  im  Verlaufe  einiger 
Tage  werden  die  Kranken  benommen,  Delirien  treten  auf,  Sopor, 
gewöhnlich  mit  Jactation,  später  Koma  schliessen  sich  an.  Die  Be- 
wusstseinsstörungeii  bei  der  Meningitis  haben  an  sich  nichts  Charak- 
teristisches. Da  sie  ein  schweres  fieberhaftes  Allgemeinleiden  begleiten, 
kann  von  Gehirnkrankheiten  neben  der  Meningitis  in  der  Hauptsache 
nur  der  Hirnabscess,  an  den  jene  sich  nicht  selten  anschliesst,  sobald 
er  die  Rinde  erreicht,  in  Frage  kommen.  Der  langsamere  Verlauf 
beim  Abscess,  die  Constanz  der  Herdsymptome,  die  auf  eine  um- 
schriebene Krankheit  hindeuten,  werden  in  der  Eegel  beide  Affec- 
tionen  unterscheiden  lassen.  Zwischen  Meningitis  und  acutem  Abscess 
kann  die  Unterscheidung  zuweilen  nicht  gemacht  werden.  Häufiger 
kommen  Fälle  vor,  wo  die  Diagnose  zwischen  Meningitis  und  Typhus 
oder  Septhämie,  beziehungsweise  Pyämie,  oder  croupöser  Pneumonie 
schwankt,  Fehlt  die  Stauungspapille,  fehlen  deutliche  Hirnnerven-, 
besonders  Augenmuskellähmungen,  so  kann  diese  Differentialdiagnose 
zu  den  schwierigsten  Aufgaben  des  Klinikers  gehören.  Berücksich- 
tigung der  ätiologischen  Momente,  der  Temperaturcurve,  der  positiven 
Typhussymptome  (stärkere  Milzschwellung,  Roseola,  Typhusstühle 
u.  s.  w.)  sind  das  Wichtigste.  Näher  auf  diese  Dinge  einzugehen,  ist 
hier  nicht  der  Ort, 

Chronische  Bewusstseinsstörungen,  allmählich  zuneh- 
mende Benommenheit  mit  oder  ohne  Delirien,  kommen  am  ehesten 
bei  Hirntumoren  und  bei  Ab  sc  es  seil  vor.  Die  Symptome  eines 
raumbeschränkenden  Processes  im  Schädel  (Stauungspapille,  heftiger 
Kopfschmerz,  Puls  verlangsamung)  und  die,  wenigstens  in  der  Regel 
vorhandenen,  Herdsymptome  leiten  zur  Diagnose.  Die  psychischen 
Erscheinungen  können  natürlich  beim  Tumor  und  beim  Abscess  die- 
selben sein,  nur  das  fieberhafte  Leiden  im  letzteren  Falle  giebt  ein 
ziemlich  sicheres  Unterscheidungsmerkmal.  Der  sehr  seltene  chro- 
nische idiopathische  Hydro cephalus  der  Erwachsenen  wird  sich 
kaum  von  den  genannten  Leiden  unterscheiden  lassen. 

Schwindel  ist  im  Allgemeinen  ein  vieldeutiges  Symptom.  Der 
Schwindel  im  engeren  Sinne,  d.h.  subjective  Gleichgewichts- 
störung, kommt  vor  bei  Augenmuskellähmungen,  er  ver- 
schwindet dann  bei  Verschluss  eines  Auges  und  macht  keine  dia- 


Untersuchung  des  seelischen  Zustandes.  29 

gnostisehen  Schwierigkeiten.  Er  kommt  in  sehr  intensiver  Weise 
vor  bei  Ohrenkrankheiten,  ist  hier  meist  mit  subjectiven  Gehörs- 
empfindungen, zuweilen  mit  Erbrechen  verbunden.  Treten  Schwindel 
und  Ohrensausen  in  Anfällen  auf,  so  spricht  mau  von  dem  Meniere- 
schen  S y m p t o m enco m p  1  e x.  Der  Schwindel  kommt  ferner  vor  bei 
Erkrankungen  des  Kleinhirns  und  dessen  Umgebung,  ist  dann  oft 
mit  cerebellarer  Ataxie  (s.  diese),  zuweilen  mit  Erbrechen,  auch  mit 
heftigen  Kopfschmerzen  verbunden,  hört  in  der  Eegel  auf,  sobald 
der  Kranke  liegt.  Als  relativ  selbständiges  Symptom  zeigt  sich  Dreh- 
schwindel  im  Verlaufe  der  multiplen  Sklerose  (oft  sehr  früh- 
zeitig), der  Tabes  (hier  ziemlich  selten),  der  allgemeinen  Anämie 
(Chlorose,  perniciöse  Anämie)  u.  s.  w.  Er  kommt  endlich  vor  bei 
nervösen  Personen  ohne  organische  Läsion,  schliesst  sich  hier  oft 
an  Störungen  des  Magens  (Vertigo  a  stomacho  laeso),  seltener 
des  Darms  an. 

Viel  häufiger  als  der  eigentliche  Schwindel  sind  die  Ohnmacht- 
an Wandlungen  (etourdissement,  Schwarzwerden  vor  den  Augen), 
die  von  den  Kranken  mit  dem  Schwindel  zusammengeworfen  werden. 
Oft  ist  nicht  zu  entscheiden,  ob  es  sich  nur  um  eine  kurze  Betäubung 
oder  um  subjective  Gleichgewichtsstörung  gehandelt  hat.  Bei  den 
vorhin  aufgeführten  Zuständen,  der  Tabes,  der  Anämie,  den  sog. 
fünctionellen  Neurosen  kommt  beides  vor,  entschieden  häufiger  aber 
als  der  Drehschwindel  das  etourdissement,  das  bei  der  Mehrzahl  der 
centralen  Nervenkrankheiten  sich  zeigen  kann.  Treten  Ohnmacht- 
anwandlungen  bei  bis  dahin  gesunden  Personen  auf,  so  wird  man 
bei  älteren  Personen  an  die  Möglichkeit  eines  apoplektischen 
Insultes  oder  bei  jüngeren  an  Epilepsie  denken.  Jenem  gehen 
nicht  selten  leichtere  Attaquen  voraus,  die  sich  als  ,,  Schwindelanfalle  " 
darstellen.  Bei  Epileptischen  können  sowohl  zwischen  den  Krampf- 
anfällen als  ohne  diese  kurze  Bewusstseinspausen  auftreten,  bald  als 
plötzliches  Einschlafen,  bald  als  Dämmerzustände,  während  deren 
der  Kranke  wie  ein  Automat  im  Sprechen  und  Handeln  fortfährt 
und  die  eine  Lücke  in  der  Erinnerung  hinterlassen.  Man  bezeichnet 
diese  vielfach  variirenden  Formen  als  petit  mal  oder  auch  als 
epileptischen  Schwindel. 

Den  abnormen  psychischen  Zuständen  bei  intactem  Bewusstsein 
gegenüber  ist  eine  wichtige  Aufgabe  der  Diagnose  die,  zu  entscheiden, 
ob  die  progressive  Paralyse  besteht  oder  nicht. 

Die  Diagnose  der  progressiven  Paralyse  hat  hauptsächlich 
folgeude  Punkte  wahrzunehmen.  Die  progressive  Paralyse  ist  eine 
Krankheit,  die  fast  stets  im  Alter  zwischen  25  und  45  Jahren  be- 


30  Untersuchung  des  seelischen  Znstandes. 

ginnt.  Sie  ist  eine  fortschreitende  Degeneration  nervöser  Bestand- 
tlieile  der  Hirnrinde,  die  sich  klinisch  als  allmähliche  Vernichtung 
des  seelischen  Lebens  darstellt.  Ihr  Hanptsymptom  ist  von  vorn- 
herein die  psychische  Schwäche.  Diejenigen  geistigen  Fähigkeiten, 
die  am  spätesten  entwickelt  sind,  werden  zuerst  aufgehoben.  Der 
erworbene  Charakter,  das  Handeln  nach  Maximen  geht  verloren.  Der 
Kranke  wirft  die  Zügel  der  Bildung  ab,  denkt  und  handelt  kindisch, 
dem  sinnlichen  Antriebe  nachgebend.  Das  Interesse  für  Staat  und 
Kirche.  Gemeinde  und  Familie  ist  erstorben,  nur  das  Nächstliegende 
und  die  eigene  Person  Betreffende  wirkt  als  Motiv.  Bei  erhaltener 
Wahrnehmungsfähigkeit  und  trotz  eines  reichen  Schatzes  von  Vor- 
stellungen in  logischen  Formen  wird  fehlerhaft  combinirt :  die  Urtheils- 
kraft  ist  mehr  oder  minder  erloschen  und  die  Kritiklosigkeit  prägt 
ihr  Siegel  auf  alle  Aeusserungen  des  Paralytischen.  Erst  weiterhin 
wird  die  Abnahme  des  Gedächtnisses  deutlich;  häufig,  aber  nicht 
immer,  treten  neben  dem  Schwachsinn  Wahnvorst eilungen  auf.  die 
sich  bald  als  Grössenwalm.  bald  als  hypochondrische  Ideen  darstellen. 
Sie  bewegen  sich  meist  in  Superlativen  und  sind  durch  ihre  gänz- 
liche Absurdität  sowohl,  als  durch  ihre  Unbeständigkeit  charakterisirt. 
Der  ausgebildete  paralytische  Blödsinn  ist  kaum  zu  verkennen,  um 
so  öfter  bleiben  seine  Anfange  unerkannt,  oder  werden  mit  Nerven- 
schwäche, mit  sittlichen  Fehlern  verwechselt.  Wenn  ein  bis  dahin 
normaler  Mensch  im  mittleren  Lebensalter  seinen  Charakter  ändert, 
der  Fleissige  faul,  der  Höfliche  grob,  der  Anständige  in  Worten  und 
Werken  liederlich,  der  Sparsame  verschwenderisch  wird,  wenn  sich 
deutliche  Zeichen  geistiger  Schwäche  (Kechenfehler .  Vergessen  der 
Termine  u.  s.  w.)  einstellen,  dann  muss  man  zuerst  an  progressive 
Paralyse  denken.  Als  fast  pathognostische  Symptome  begleiten  den 
paralytischen  Blödsinn  gewöhnlich  schon  im  ersten  Anfange  die  para- 
lytische Sprach-.  Schreibe-,  Lesestörung,  von  denen  bald  die  eine, 
bald  die  andere  deutlich  ist  (vergi.  S.  43  ff.).  Ferner  kommt  eine  Reihe 
körperlicher  Symptome  hinzu :  Zittern  der  Mundmuskeln  beim  Spre- 
chen, der  Zunge,  Schwäche  einer  Gesichtshälfte,  Ungleichheit  der 
Pupillen,  Zittern  und  Ungeschicklichkeit  der  Hände,  später  Plump- 
heit und  Unsicherheit  aller  Bewegungen.  Daneben  können  sich  die 
obenerwähnten  paralytischen  Anfälle  zeigen.  Bei  jeder  vorübergehen- 
den Hemiplegie  oder  Aphasie,  bei  jedem  epileptischen  Airfälle  im 
reifen  Alter  ist  an  progressive  Paralyse  zu  denken.  Endlich  combi- 
niren  sich  häufig  mit  den  Symptomen  der  progressiven  Paralyse  die 
einer  Rückenmarkskrankheit,  gewöhnlieh  die  der  Tabes:  Pupillen- 
starre. Augenmuskellälmiuugeii.  Verlust  des  Kniephänomens,  reissende 


Untersuchung  des  seelischen  Zustandes.  31 

Schmerzen,  Ataxie  u.  s.  w.,  seltener  die  der  Degeneration  der  Pyra- 
midenbahnen:  Steigerung  der  Sehnenreflexe,  spastische  Parese.  (Ge- 
naueres über  die  progressive  Paralyse  s.  im  III.  Theile.) 

Besteht  progressive  Paralyse  nicht  und  ist,  was  kaum  Schwie- 
rigkeiten macht,  die  Idiotie  (beziehungsweise  Cretinismus,  Imbecillität) 
auszuschliessen,  so  ist  „einfache  Seelenstörung"  anzunehmen. 
Auf  deren  Unterscheidung  in  Manie,  Melancholie,  Verrücktheit  u.  s.  w. 
einzugehen,  muss  den  Lehrbüchern  der  Psychiatrie  überlassen  bleiben. 

Hier  möge  nur  noch  die  Classification  der  Psychosen  Platz  finden, 
die  für  die  preussische  Statistik  maassgebend  ist. 

a)  Einfache  Seelenstörung'. 

b)  Paralytische  Seelenstörung. 

c)  Seelenstörung  mit  Epilepsie,  mit  Hysteroepilepsie. 

d)  Idiotie,  Cretinismus,  angeborene  Imbecillität. 

e)  Delirium  potatorum. 


ZWEITES  HAUPTSTUCK. 


Untersuchung  der  Sprache. 

Sprache  wird  hier  im  weitesten  Sinne  verstanden,  als  gleich- 
bedeutend mit  Ausdrucksbewegungen.  Man  muss  unterscheiden  die 
Fähigkeit,  den  seelischen  Veränderungen  Ausdruck  zu  geben,  die 
für  sie  gebräuchlichen  Zeichen  anzuwenden,  von  der  Fähigkeit,  diese 
Zeichen  zu  verstehen. 

Die  Sprechfähigkeit  nun  muss  nach  verschiedenen  Eich- 
tungen hin  geprüft  werden. 

Man  untersucht,  ob  die  einzelnen  Laute  richtig  gebildet  werden. 
Zu  dem  Zwecke  lässt  man  das  Alphabet  hersagen  und  prüft,  ob  die 
einzelnen  Laute  gehörig  verbunden  werden  können  (Vocale  mit  Con- 
sonanten,  Labiales  mit  Linguales  u.  s.  w.).  Entsprechend  ist  bei  der 
Handschrift  darauf  zu  achten,  ob  die  Buchstaben  richtig  gebildet 
oder  etwa  durch  Zitterbewegungen  oder  durch  ausfahrende  Striche 
oder  sonstwie  entstellt  sind. 

Bei  den  Worten  kommt  es  darauf  an,  ob  die  Diction  formal 
richtig  ist,  d.  h.  die  Wörter  correct  lautirt,  nach  den  Kegeln  der  Gram- 
matik gebeugt  und  syntactisch  richtig  gestellt  werden,  und  ob  sie 
den  G-edanken  des  Sprechenden  wirklich  wiedergeben. 

Die  freie  oder  willkürliche  Sprache  prüft  man  im  Ge- 
spräche (fliessendes  Sprechen)  und  indem  man  den  Kranken  auffordert, 
vorgelegte  Gegenstände  zu  benennen.  Findet  er  die  Namen  nicht,  so 
ist  zu  untersuchen,  ob  er  noch  die  inneren  Wörter  besitzt,  die  Wörter 
innerlich  erklingen  lassen,  „die  Klangbilder  der  Wörter  innerviren" 
kann.  Dies  kann  dadurch  geschehen,  dass  man  den  Kranken  auf- 
fordert, anzugeben,  wie  viel  Buchstaben  oder  Silben  der  Name  des 
Gegenstandes  hat,  dass  man  z.  B.  sich  die  Hand  bei  jeder  Silbe 
drücken  lässt  (Li  cht  heim).  Ist  der  Kranke  mehrsprachig,  so  fragt 
es  sich,  ob  sich  die  vorhandenen  Störungen  in  den  verschiedenen  Idi- 
omen in  gleicher  Weise  zeigen. 


Untersuchung'  der  Sprache.  33 

Weiter  ist  das  Nachsprechen  zu  prüfen,  oh  der  Kranke  alle 
vorgesprochenen  Wörter  nachsprechen  kann,  ob  er  nur  einzelne 
Wörter  oder  auch  längere  Sätze  wiederholen  kann.  Beachtenswerth 
ist  hier  wie  beim  freien  Sprechen  der  Einfluss  der  Association,  z.  B. 
bringt  der  Kranke  vielleicht  ein  Zahlwort  nicht  heraus,  spricht  es 
aber  ohne  Anstoss,  wenn  die  Zahlenreihe  hergesagt  wird. 

Beün  lauten  Lesen  ist  darauf  zu  achten,  ob  es  fliessend  ge- 
schieht oder  buchstabirend. 

Auch  die  musikalische  Ausdrucksfähigkeit  kann  unter- 
sucht werden,  ob  der  Kranke  eine  Melodie  angeben  kann,  ob  er  eine 
vorgesungene  nachsingen  kann. 

Beim  Schreiben  hat  man  zu  unterscheiden  das  freie  oder  will- 
kürliche Schreiben,  das  Dictatschreiben  und  das  Copiren, 
das  Abschreiben  von  Vorlagen. 

Ist  die  Hand  gelähmt,  so  lässt  man  Worte  aus  Buchstabentäfel- 
chen  zusammensetzen.  Beim  Dictatschreiben  hat  man  darauf  zu  achten, 
ob  nur  ganze  dictirte  Sätze  oder  einzelne  vorgesprochene  Wörter 
nicht  nachgeschrieben  werden  können.  Nur  im  letzteren  Falle  handelt 
es  sich  um  eine  Störung  des  eigentlichen  Dictatschreibens.  Beim 
Nachschreiben  ganzer  clictirter  Sätze  werden  die  Sätze  ins  Gedächt- 
niss  aufgenommen  und  dann  frei  niedergeschrieben.  Unter  Umstän- 
den empfiehlt  es  sich,  auch  die  Schreibfähigkeit  der  linken  Hand  zu 
prüfen.  Diese  hat  auch  beim  Gesunden  die  Neigung  Spiegel- 
schrift zu  schreiben,  d.  h.  Abductionschrift,  die  im  Spiegel  wie  nor- 
male Schrift  erscheint.  Doch  kann  der  Gesunde,  wenn  auch  ungeschickt, 
mit  der  Linken  gewöhnliche  Schrift  von  links  nach  rechts  schreiben. 

Die  Fähigkeit  des  bildlichen  Ausdrucks  kann  dadurch  ge- 
prüft werden,  dass  man  den  Kranken  einfache  Zeichnungen  frei  oder 
nach  Vorbildern  entwerfen  lässt,  die  der  Geberdensprache  da- 
durch, dass  man  den  Kranken  auffordert,  durch  Geberden  zu  bejahen, 
zu  verneinen  u.  s.  w. 

Das  Sp r ac h ve r stand n iss  wird  am  einfachsten  so  untersucht, 
dass  ohne  Gesten  der  Kranke  aufgefordert  wird,  dies  oder  das  zu 
thun,  z.  B.  einen  seiner  Körpertheile  zu  berühren,  einen  Gegenstand 
herbeizuholen  u.  s.  w.  Bald  wird  gar  nichts  verstanden,  bald  ein- 
zelne alltägliche  Worte,  bald  einfache  Fragen  oder  Aufträge,  bald 
complicirtere  Aufträge  u.  s.  w.  Es  ist  zu  beachten,  ob  der  Kranke 
sich  bemüht  das  Gesprochene  zu  verstehen,  oder  ob  er  gar  nicht 
darauf  achtet.  Selbstverständlich  ist  Sprachtaubheit  nicht  mit  all- 
gemeiner Taubheit  zu  verwechseln,  die  Unterscheidung  wird  kaum 
Schwierigkeiten  machen. 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Anfl.  3 


34  Untersuclunig  der  Sprache. 

Das  Schrif  tver  s  tändniss  wird  durch  Vorlegen  kurzer  schrift- 
licher Fragen  und  Aufträge  geprüft.  In  zweifelhaften  Fällen  kann 
man  nur  auf  diese  Weise  sich  Aufklärung  verschaffen,  da  manche 
Kranken  eifrig  lesen,  ohne  eine  Spur  von  dem  Gelesenen  zu  verstehen. 
Zu  beachten  ist  besonders,  ob  der  Kranke  das.  was  er  selbst  schreibt 
oder  vorliest,  versteht.  Wenn  die  Wörter  nicht  verstanden  werden, 
so  erkennen   doch  die  Kranken  oft   noch  die  einzelnen  Buchstaben. 

Ferner  ist  zu  untersuchen,  ob  Zahlen  und  Zahlencombinationen. 
ob  Bilder,  ob  G-eb erden  verstanden  werden.  Das  musikalische 
Yerständniss  kann  durch  Torlegen  von  Noten  und  Vorsingen  bekannter 
Melodien  (Choräle.  Volkslieder)  untersucht  werden. 

Bei  all  diesen  Prüfungen  ist  es  zweckmässig,  immer  in  gleicher 
Weise  vorzugehen,  sich  bestimmter  Leseproben.  Copirvorlagen  u.  s.  w. 
zu  bedienen. 


Störungen  der  Sprache  oder  der  Ausdrucksfähigkeit  überhaupt 
können,  soweit  sie  von  Störungen  im  Nervensystem  abhängen,  ent- 
weder durch  Lähmung.  Krampf  der  Sprechmuskeln.  beziehungsweise 
Läsion  der  den  Ausdrucksbewegungen  dienenden  Theile  des  will- 
kürlichen Bewegungsapparates,  oder  durch  Läsionen  der  cerebralen 
Bahnen,  die  ausschliesslich  der  Sprache  (im  weitesten  Sinne)  dienen, 
des  centralen  Sprechapparates,  entstehen. 

Die  erste  Klasse  von  Sprachstörungen  bilden  Störungen  der  Laut- 
bildung oder  der  Articulation:  Alalie  oder  Anarthrie.  Ihnen  zur 
Seite  stehen  die  Störungen  der  Buchstabenbildnng,  wie  sie  durch 
Lähmung.  Ataxie.  Zittern.  Krampf  der  Hände  verursacht  werden. 
Die  zweite  Klasse  bilden  Störungen  der  Wortbildung  und  der  Dic- 
tum: Aphasie.  Dieser  entspricht  die  Agraphie.  Bei  der  An- 
arthrie sind  die  Wortbildung  und  die  Diction  jederzeit  intact.  bei  der 
Aphasie  kann  aber  auch  die  Lautbildung  leiden,  eine  Anarthria 
aphatica  ist  eine  solche,  bei  der  der  willkürliche  Bewegungsapparat 
intact  ist. 

Untrennbar  mit  der  Aphasie  verbunden  sind  die  Störungen  der 
Perception,  des  Wort-,  beziehungsweise  Zeichenverständnisses,  die  nicht 
durch  Läsionen  der  Sinnesorgane,  sondern  durch  Lasionen  der  centri- 
petalen  Bahnen  des  cerebralen  Sprechapparates  verursacht  werden. 

Anarthrie  und  Aphasie  bilden  (nach  Kussmaul)  zusammen  die 
Lalopathien.  Es  können  Sprachstörungen  aber  auch  durch  pri- 
märe Störungen  der  seelischen  Thätigkeiten  zu  Stande  kommen. 
solche  bezeichnet  Kussmaul  als  dyslogische  oder  logopa- 
thische,  als  Dysphrasien. 


Untersuchung'  der  »Sprache. 


35 


Im  Folgenden  werden  zunächst  die  einzelnen  Formen  der  Aphasie 
im  Anschlnss  an  die  Darstellung-  Li  cht  heim 's  kurz  besprochen. 
Daran  schliesst  sich  eine  Uebersicht  über  die  dyslogis.ch.en  und  dys- 
arthrischen  Sprachstörungen. 

Das  Kind  lernt  sprechen,  indem  es,  zunächst  verständnisslos,  die 
Worte  der  Erwachsenen  nachahmt.  Es  prägt 
die  Lautbilder  der  Worte  seinem  Gedächtniss 
ein  und  lernt  unter  Controle  des  Gehörs  dann 
bestimmte  Muskeln  so  coordiniren,  wie  es 
zum  Sprechen  nöthig  ist.  Das  von  Licht- 
heim gegebene  Schema  (Fig.  1)  baut  sich 
nun  auf  dem  zum  Nachsprechen  erforderlichen 
Keflexbogen  auf,  der  ausser  dem  Centrum 
für  die  Klangbilder  der  Worte  (A)  und  dem 
('entrinn  für  die  Bewegungsbilder  derselben 
(M)  die  zuführende  Bahn  vom  Acusticus  (a), 
die  austretende  motorische  Sprachbahn  (m) 
und  die  Verbindungsbahn  zwischen  A  und  M  enthält.  Werden  die 
Worte  verstanden  und  mit  Verständniss  gesprochen,  so  müssen  A 
und  M  mit  dem  Centrum  der  Begriffe  (B)  verbunden  sein.  Lernt 
das  Kind  später  lesen,  so  muss  die  Stätte,  wo  die  Erinnerungen  an 


Fig.  2. 

die  optischen  Schriftzeichen  niedergelegt  werden  (0),  mit  dem  Centrum 
der  Klangbilder  (A)  verbunden  werden  (vgl.  Fig.  2),  verstellt  es  das 
Gelesene,  so  wird  die  Bahn  OAB  eingeschlagen,  liest  es  laut,  so 
benutzt  es  den  Weg  OAMm,  liest  es  mit  Verständniss  laut,  den  Weg 
OABMm.  Beim  Schreibenlernen  endlich  muss  der  Ort,  wo  die 
Bewegungen  der  Hand  zum  Schreiben  coordinirt  werden,  die  Inner- 

3* 


36 


Untersuchung'  der  Sprache. 


vationstätte  der  Schreibbewegungen  (E),  sowolü  mit  0  als  mit  A 
und  M  verbunden  werden,  beim  verständnisslosen  Copiren  geht  der 
Weg  direct  von  0  nach  E,  beim  Dictatschreiben  von  a  über  A 

nach  E,  beim  freien  Schreiben 
längs  der  Bahn  BME.  Da 
wir  mit  beiden  Händen 
schreiben  können,  istE  wahr- 
scheinlich nicht  nur  in  der 
linken,  sondern  auch  in  der 
rechten  Hemisphäre  des  Ge- 
hirns vorhanden  (E'  in  Fig.  3). 
Je  nachdem  nun  an  dieser 
oder  jener  Stelle  der  im 
Schema  dargestellten  Bahnen 
eine  Unterbrechung  eintritt, 
muss  sich  eine  besondere 
Form  der  Aphasie  ergeben 
(vgl.  Fig.  1). 
Wird  die  Bahn  BMm  in  1,  in  4  oder  5  unterbrochen,  so  entstellt 
die  eigentliche  Aphasie,  d.  h.  es  besteht  trotz  klaren  Verstandes 
und  guter  Beweglichkeit  der  Zunge  u.  s.  w.  Sprachlosigkeit.  Die 
Kranken  bewegen  Lippen  und  Zunge,  schneiden  Gesichter,  bringen 
aber  nur  unbestimmte  Laute  hervor.  Zuweilen  sind  dem  Kranken 
einige  Wörter  geblieben,  in  anderen  Fällen  nur  ein  einziges  Wort,  in 
wieder  anderen  Fällen  nur  eine  oder  einige  sinnlose  Wortbildungen. 
Diese  Sprachreste  bringen  die  Kranken  bei  allen  Gelegenheiten  an, 
sie  antworten  auf  alle  Fragen  mit  demselben  Worte  oder  Lautgebilde, 
obwohl  sie  in  der  Eegel  wissen,  dass  dies  nicht  richtig  ist.  Gewöhn- 
lich lernen  die  Kranken  mit  der  Zeit  wieder  sprechen.  Wie  die 
Kinder  lernen  sie  es  zum  Theil  stammelnd,  so  dass  dann  anarthrisch- 
aphatische  Störungen  bestehen. 

1.  Die  Unterbrechung  in  M  giebt  folgendes  Symptomenbild,  es 
besteht  Verlust: 

a)  der  willkürlichen  Sprache, 

b)  des  Nachsprechens, 

c)  des  Lautlesens, 

d)  des  willkürlichen  Schreibens, 

e)  des  Schreibens  auf  Dictat. 
Erhalten  sind: 

f)  das  Verständniss  der  Sprache, 

g)  das  Verständniss  der  Schrift, 

h)  die  Fähigkeit,  Vorlagen  abzuschreiben. 


Untersuchung  der  Sprache,  87 

Dies  ist  die  sogenannte  Broca'sche  Aphasie  (motorische  A., 
atactische  A.).  Die  Agraphie  ist  meist  eine  absolute,  die  Kranken 
bringen  nur  ein  Gekritzel  zu  Stande,  zuweilen  können  sie  einzelne 
Buchstaben  oder  ihren  eigenen  Namen  schreiben.  Auch  die  inneren 
Worte  sind  verloren.  Von  dieser  Form,  die  Li  cht  heim  als 
Kernaphasie  bezeichnet,  sind  nur  in  Nebenpunkten  verschieden  die 
beiden  Formen,  welche  durch  Unterbrechung  in  4  oder  5  entstehen. 
Auch  diese,  die  Lichtheim  centrale  und  peripherische  Leitungs- 
aphasie  nennt,  rechnet  man  gewöhnlich  zur  Broca'schen  oder  moto- 
rischen Aphasie. 


Fig.  4. 

Schreibversuclie  eines  Agraphischen. 

2.  Die  Unterbrechung  von  BM  nämlich  bewirkt: 
Verlust : 

a)  der  willkürlichen  Sprache, 

b)  der  willkürlichen  Schrift. 
Erhalten  sind: 

c)  das  Verständniss  der  Sprache, 

d)  das  Verständniss  der  Schrift, 

e)  die  Fähigkeit  zu  copiren, 

f)  das  Nachsprechen, 

g)  das  Dictatschreiben, 
h)  das  Lautlesen. 


38  Untersuchung  der  Sprache. 

Da  die  Kranken  die  Worte  nicht  finden,  wohl  aber  sie  nach- 
sprechen können,  wird  von  Manchen  diese  Form  auch  als  amnestische 
Aphasie  bezeichnet.    • 

3.  Durch  Unterbrechung  von  Mm  (in  5)  gehen  verloren: 

a)  die  willkürliche  Sprache, 

b)  das  Nachsprechen, 

c)  das  Lautlesen. 
Erhalten  sind: 

d)  das  Verständniss  der  Sprache, 

e)  das  Verständniss  der  Schrift, 

f)  die  Fähigkeit  zu  copiren, 

g)  das  willkürliche  Schreiben, 
h)   das  Dictatschreiben. 

Hier  also  besteht  Aphasie  ohne  Agraphie.  Die  Kranken  erinnern 
sich  der  Worte,  sie  vermögen  sie  in  sich  erklingen  zu  lassen,  sind 
aber  unfähig,  sie  auszusprechen. 

Als  Nebenform  ist  die  Unterbrechung  von  ME  anzusehen:  die 
isolirte  Agraphie.  Da  diese  Bahn  (vgl.  Fig.  3)  sich  theilt,  kann 
sie  vor  der  Theilung  oder  nach  ihr  lädirt  werden:  im  ersteren 
Falle  können  beide  Hände  nicht  frei  schreiben,  im  letzteren  (Unter- 
brechung der  zum  Schreibcentrum  der  rechten  Hand  gehenden  Bahn) 
kann  nur  die  Rechte  nicht  schreiben,  während  die  Linke  correct 
schreibt  und  die  Rechte  das  von  der  Linken  Geschriebene  copiren  kann. 

4.  Durch  Unterbrechung  von  AM  entstellt  Paraphasie,  aber 
es  wird  keine  Function  ganz  aufgehoben,  denn  es  fällt  nur  die  Mög- 
lichkeit verständnisslosen  Nachsprechens,  Lautlesens,  Dictatschreibens 
weg.  Diese  Thätigkeiten  werden  jetzt  ausschliesslich  mit  Benutzung 
des  Weges  über  B  ausgeführt.  Die  Folge  davon  ist,  dass  auch  sie 
in  derselben  Weise  wie  die  willkürliche  Sprache  und  Schrift  gestört 
werden,  dass  auch  sie  die  Erscheinungen,  der  Paraphasie  zeigen. 

Man  versteht  unter  Paraphasie  den  Zustand,  avo  die  Worte  theils 
falsch  ausgesprochen,  theils  falsch  gebraucht  werden.  Das  „Sich  ver- 
sprechen" des  Gesunden  ist  physiologische  Paraphasie,  die  durch 
Mangel  an  Aufmerksamkeit,  Ermüdung,  Affecte  verursacht  ist.  Wie 
der  Gesunde  entweder  gelegentlich  ein  Wort  verunstaltet,  die  Laute 
durcheinanderwirft,  oder  ein  ganz  falsches  Wort  braucht,  so  können 
bei  pathologischen  Zuständen  sowohl  die  Worte  durch  Verschiebung 
der  Laute  und  Silben  entstellt  (literale  Paraphasie),  als  durch 
unrichtige  Worte  ersetzt  werden  (v  e  r  b  a  1  e  P  a  r  a  p  h  a  s  i  e).  Meist  fin- 
den sich  literale  und  verbale  Paraphasie  gleichzeitig,  die  Worte,  die 
sich  dem  Paraphatischen  beim  Sprechen  unterschieben,  sind  theils 
richtig  gebildete,  klang-  oder  sinnverwandte,  nur  nicht  sinnentspre- 


Untersuchung  der  Sprache.  39 

chende,  theils  ganz  verunstaltete  Wortgebilde.  Fliesst  die  Rede  ge- 
wandt dahin,  besteht  sie  aber  aus  lauter  nicht  zusammengehörenden 
Worten,  die  keinen  »Sinn  ergeben,  so  spricht  man  von  Chorea  ti- 
sche r  Paraphasie.  Die  Paraphatischen  wissen,  dass  sie  falsch 
sprechen.  Nur,  wenn  auch  die  Intelligenz  geschwächt  ist,  glauben 
sie  zuweilen  ganz  richtig  und  schön  zu  sprechen,  während  sie  ein 
tolles  Kauderwälsch  hervorbringen.  Ganz  analog  der  Paraphasie  ist 
die  Paragraphie:  die  Kranken  verschreiben  sich,  indem  sie  theils 
falsche,  sinn-  oder  schriftverwandte  Worte  brauchen,  theils  nur  un- 
aussprechliche Biichstabeiiconglomerate  bilden.  Da  sie  die  Nutzlosig- 
keit ihrer  Bemühungen  einsehen,  stehen  sie  oft  bald  von  jedem 
Schreiben  ab.  Beim  Lesen  verspricht  sich  der  Kranke  wie  beim 
Sprechen :  P  ar  al  exi  e.  Wenn  fälsche  Geberden  angewandt  werden,  z.  B. 
beim  Verneinen  genickt  wird,  so  kann  man  von  Paramimie  sprechen. 

Zur  Paraphasie  ist  wohl  auch  der  Agrammatismus  zu  rechnen, 
soweit  er  bei  aphatischen  Störungen  vorkommt,  d.  h.  die  Fehler  in 
der  Wortbeugung  und  Wortstellung. 

Wahrscheinlich  ist  die  Entstehung  der  Paraphasie  so  zu  ver- 
stehen: beim  willkürlichen  Sprechen  und  Schreiben  erklingen  fort- 
während die  gesprochenen  und  geschriebenen  Worte  in  uns,  es  kreist 
fortwährend  ein  Innervationstrom  in  der  Bahn  BMAB.  Nur  dieses 
innerliche  Ertönen  der  Worte  sichert  die  Correctheit  der  Sprache, 
sobald  diese  Oontrole  aufhört,  vergreift  sich  sozusagen  M  und  wir 
versprechen  uns.  Sobald  also  der  Kreis  BMAB  unterbrochen  wird, 
ohne  dass  doch  die  Sprache  vollkommen  gehemmt  wird,  muss  Para- 
phasie eintreten. 

Diese  Bedingung  trifft  für  die  Unterbrechung  von  AM  zu,  hier 
sind  intact  das  Verständniss  der  Sprache  und  Schrift,  das  Copiren 
von  Vorlagen,  alle  anderen  Functionen  zeigen  die  Erscheinungen  der 
Paraphasie.  Von  Manchen  wird  diese  Form,  die  isolirte  Paraphasie, 
beziehungsweise  Paragraphie,  als  Leitungsaphasie  bezeichnet. 

Die  Unterbrechungen  der  Bahn  aAB  verursachen  als  Cardinal- 
symptom  Aufhebung  des  Sprach  Verständnisses,  Sprach-  oder  Wort - 
taubheit. 

5.   Die  Unterbrechung  in  A  selbst  giebt  folgende  Symptome. 
Verlust : 

a)  des  Sprachverständnisses, 

b)  des  SchriftverständnisseS; 

c)  der  Fähigkeit  nachzusprechen, 

d)  der  Fähigkeit  auf  Dictat  zu  schreiben, 

e)  der  Fähigkeit  laut  zu  lesen. 


40  Untersuchung  der  Sprache. 

Erlialten  sind  nur: 

f)  die  willkürliche  Sprache, 

g)  die  willkürliche  Schrift, 
h)  die  Fähigkeit  zu  copiren. 

Willkürliche  Sprache  und  Schrift  aber  zeigen  Paraphasie,  be- 
ziehungsweise Paragraphie.  Dieser  Symptomencomplex  ist  die  sen- 
sorische  Aphasie  (Wer nicke).  Die  Kranken  hören  die  Worte 
wie  ein  verworrenes  Geräusch,  ihre  Muttersprache  wie  eine  fremde 
Sprache.  Da  sie  das  Gesprochene  nicht  verstehen,  beim  Sprechen 
aber,  obwohl  über  einen  grossen  Bedescliatz  verfügend,  theils  falsche, 
theils  entstellte  Worte  gebrauchen,  erscheinen  sie  Irren  gleich.  Die 
ausdrucksvollen  Geberden,  die  verständige  Handlungsweise  der  Kran- 
ken zeigen,  class  nicht  die  Gedanken  verwirrt  sind,  sondern  die 
Sprache  es  ist.  Wenn  die  Worttaubheit  nicht  complet  ist,  kann  sie 
neben  der  Paraphasie  leicht  übersehen  werden.  Es  empfiehlt  sich,  bei 
jedem  P  aliphatischen  auf  sie  zu  prüfen,  indem  man  an  den  Kranken 
ohne  Mimik  diese  und  jene  Frage  oder  Aufforderung  richtet,  z.  B. 
ihn  auffordert,  die  Nase  zu  berühren,  die  Hand  in  die  Tasche  zu 
stecken  oder  dergl.  Der  Worttaube  wird  entweder  gar  nicht  reagiren, 
oder  die  Zunge  herausstrecken,  an  das  Ohr  greifen  u.  s.  w.  Die 
Worttaubheit  pflegt  sich  ziemlich  rasch  auszugleichen.  Länger  be- 
steht die  Schriftblindheit,  die  Unfähigkeit,  Geschriebenes  oder 
Gedrucktes  zu  verstehen,  die  auch  Alexie  genannt  wird.  Sie  darf 
nicht  mit  Hemianopsie  verwechselt  werden.  Das  ist  nicht  schwer, 
wenn  nur  die  eine  oder  die  andere  Störung  besteht.  Da  aber  beide 
nicht  selten  zusammen  vorkommen,  da  die  Alexie  nicht  immer  com- 
plet ist  und  ausserdem  oft  Sprachstörungen  bestehen,  kann  die  Unter- 
suchung auf  grosse  Schwierigkeiten  stossen. 

Wie  das  Yerständniss  für  Wörter  geht  zuweilen  das  für  Zahlen 
oder  Noten  verloren. 

Tritt  zur  Läsion  von  A  auch  die  von  OE,  so  geht  die  Fähigkeit 
zu  copiren  verloren. 

6.  Sitzt  die  Läsion  in  der  Bahn  AB,  so  gehen  verloren: 

a)  das  Verständniss  der  Sprache, 

b)  das  Verständniss  der  Schrift, 
erhalten  sind: 

c)  die  willkürliche  Sprache; 

sie   zeigt  jedoch   aus  den  oben  angegebenen  Gründen   die  Störungen  der 
Paraphasie. 

d)  die  willkürliche  Schrift,  die  ebenfalls  paragraphisch  ist. 
Soweit   deckt   sich   das   Symptomenbild    mit   der   sensorischen 


Untersuchung  der  Sprache.  41 

Aphasie  Wer  nicke's.    Es  unterscheidet  sich  von  dieser  dadurch, 
dass  erhalten  sind: 

e)  das  Nachsprechen, 

f)  das  Lautlesen, 

g)  das  Schreiben  auf  Dictat,  die  alle  drei  ohne  jedes  Ver- 
ständniss  des  Gesprochenen,  Gelesenen,  Geschriebenen  aus- 
geführt werden. 

Als  Nebenform  kann  die  auf  AO  beschränkte  Läsion  betrachtet 
werden,  die  isolirte  Schriftblindheit,  Die  Kranken  können 
sprechen  und  schreiben,  verstehen  das  Gesprochene,  sind  aber  un- 
fähig-, Gedrucktes  oder  Geschriebenes  zu  lesen.  Sie  wenden,  um  zu 
lesen,  zuweilen  den  Kunstgriff  an,  dass  sie  mit  dem  Finger  den 
Schriftzügen  folgen  und  so  Wort  für  Wort  durch  das  Gefühl  entziffern. 

Als  Dyslexie  (Berlin)  ist  eine  Störung  beschrieben  worden,  die  mit 
der  Aphasie  direct  nichts  zu  thun  hat  und  darin  besteht,  dass  der  Kranke  beim 
Lesen  nur  einige  Worte  herausbringt,  dann  ermüdet,  ohne  Schmerzen  oder 
eigentliche  Sehstörungen,  und  schliesslich  erschöpft  das  Buch  bei  Seite  legt. 

Dagegen  ist  eine  der  sensorischen  Aphasie  analoge  Störung  der 
isolirte  Verlust  der  Erinnerungen  an  Gesichtswahrneh- 
mungen (Charcot).  Dabei  erscheint  dem  Kranken  alles,  was  er  sieht 
als  neu  und  fremd,  weil  die  Erinnerung  an  das  früher  Gesehene  verloren 
gegangen  ist.  Er  vermag  zwar  zu  sagen,  aus  welchen  Theilen  dieser 
oder  jener  abwesende  Gegenstand  zusammengesetzt  ist,  vermag  aber  nicht, 
sich  ihn  anschaulich  vorzustellen.  Er  träumt  nur  noch  in  Worten,  nicht 
in  Bildern.  Als  Verlust  des  optischen  Gedächtnisses  ist  wohl  auch  die  zu- 
weilen beobachtete  Störung  zu  betrachten,  bei  der  die  Kranken  nicht  mehr 
frei  zeichnen,  sondern  nur  noch  copiren  können. 

Unter  Apraxie  versteht  man  einen  Zustand,  wo  der  Kranke  die 
Gegenstände  nicht  nur  nicht  erkennt,  sondern  falsch  gebraucht,  z.  B.  mit 
der  Gabel  Suppe  essen  will,  in  die  Seife  beisst,  ins  Waschbecken  pisst  u.  s.w. 
Es  handelt  sich  dabei  um  tiefere  Störungen  der  Intelligenz,  die  als  Com- 
plication  zur  Aphasie  hinzutreten  können. 

7.  Endlich  kann  die  Unterbrechung  aA  treffen.  Dann  gehen 
verloren: 

a)  das  Sprachverständniss, 

b)  die  Fähigkeit  nachzusprechen, 

c)  die  Fähigkeit  auf  Dictat  zu  schreiben. 
Erhalten  bleiben: 

d)  die  willkürliche  Sprache, 

e)  die  willkürliche  Schrift, 

f)  das  Verständniss  der  Schrift, 

g)  das  Lautlesen, 
h)    das  Copiren. 

Es  sind  dies  die  seltenen  Fälle  reiner  Worttaubheit  ohne  Para- 
phasie und  Paragraphie. 


42  Untersuchung  der  Sprache. 

In  der  Wirklichkeit  decken  sich  die  vorhandenen  aphatischen 
Störungen  nicht  immer  mit  einer  der  sieben  ans  Li  cht  hei  ins  .Schema 
abgeleiteten  Formen.  Dies  ist  begreiflieh,  denn  erstens  kann  bei  der 
gegenseitigen  Nähe  der  in  Frage  kommenden  Bahnen  eine  Läsion 
die  Sprachbahn  mehrfach  unterbrechen.  Die  wichtigste  der  so  ent- 
stehenden combinirten  Formen  ist  die  Totalaphasie.  bei  der  gleich- 
zeitig Unfähigkeit  zu  sprechen  und  Gesprochenes  zu  verstehen,  moto- 
rische Aphasie  and  Worttaubheit  bestehen.  Zum  andern  gleichen 
sich  die  einzelnen  Störungen  verschieden  rasch  aus  und.  je  nachdem 
der  "Kranke  früh  oder  spät  in  Beobachtung  kommt,  ist  das  Bild 
seiner  Sprachstörung  ein  verschiedenes.  Hier  ist  besonders  hervor- 
zuheben, dass  die  Worttaubheit  relativ  rasch  wieder  sich  zurück- 
bildet, rascher  als  die  Schriftblindheit.  Drittens  können  Schwierig- 
keiten für  die  Auffassung  des  Symptomencomplexes  dadurch  entstehen, 
dass  die  einzelnen  Störungen  nur  partiell  auftreten,  weil  die  Läsion 
die  Sprachbahn  nirgends  vollständig  unterbricht.  Ist  z.  B.  die  Bahn 
AM  nur  theüweise  unterbrochen,  so  findet  der  Kranke  nur  in  ein- 
zelnen Fällen  die  richtigen  Wörter  nicht.  Er  spricht  vielleicht  in 
Messender  Eede  ganz  leidlich,  stockt  aber,  wenn  er  Gegenstände 
benennen  soll,  findet  den  Namen  nicht  oder  braucht  einen  falschen. 
Wird  ihm  der  Name  genannt  oder  vorgeschrieben,  so  ist  natürlich 
das  Nachsprechen  möglich  und  bleibt  die  Fähigkeit  der  Benennung 
für  kürzere  oder  längere  Zeit  erhalten.  Man  pflegt  dann  nicht  von 
Paraphasie,  sondern  von  Amnesie  zu  sprechen.  Alle  Sprachstörun- 
gen können  als  Störungen  des  Gedächtnisses  bezeichnet  werden,  die 
motorische  Aphasie  als  Verlust  der  Erinnerung  an  die  zur  Bildung 
der  Worte  nöthigen  Bewegungen  (wie  Broca  sagte),  die  sensorische 
als  Verlust  der  Erinnerung  an  die  Klangbilder  der  Worte.  Es  ist  daher 
nicht  zweckmässig,  den  übrigen  Formen  der  Aphasie  noch  eine  be- 
sondere amnestische  Aphasie  gegenüber  zu  stellen.  Es  ist  ersicht- 
lich, dass  eine  Aphasie,  die  der  bei  partieller  Läsion  von  AM  eben 
beschriebenen  mehr  oder  weniger  ähnlich  ist.  auch  bei  leichteren 
Störungen  an  anderen  Orten  der  Sprachbahn  zu  Stande  kommen 
muss.  Ist  z.  B.  in  M  der  Widerstand  nur  massig  erhöht,  so  wird 
der  Kranke  sprechen  können,  aber  einzelne  Wörter  nicht  finden.  Bei 
verstärkter  Innervation  aber.  imAffect  oder  beim  Vorsagen  der  Worte 
wird  der  Widerstand  überwunden  werden.  Bei  nur  leichter  Schä- 
digung von  A  wird  der  Kranke  einzelne  Wörter  nicht  verstehen,  viel- 
leicht aber  wird  ihm  ihre  Bedeutung  einfallen,  wenn  er  den  Gegen- 
stand sieht,  oder  wenn  er  selbst  das  Wort  ausspricht.  Die  Amnesie 
begleitet  demnach  alle  leichteren  im  Verlaufe  der  Sprachbahn  ABMA 


Untersuchung  der  Sprache.  43 

eintretenden  Störungen,  sie  tritt  besonders  dann  in  den  Vordergrund, 
wenn  die  Störungen  ziemlich  ausgeglichen,  die  Kranken  der  Heilung- 
nahe  sind.  Am  häufigsten  werden  Eigennamen  oder  Hauptwörter 
überhaupt  vergessen,  seltener  Beiwörter,  Zeitwörter  u.  s.  w.  Wie 
Kussmaul  bemerkt,  erklärt  sich  dies  dadurch,  dass  die  Vorstellung 
von  Personen  und  Sachen  loser  mit  dem  Namen  verknüpft  ist,  als 
die  Abstractionen  von  ihren  Zuständen,  Beziehungen,  Eigenschaften. 
Für  jene  gewährt  die  Phantasie  ein  anschauliches  Schema,  diese 
können  ohne  sprachlichen  Ausdruck  im  Denken  nicht  bestehen.  In 
seltenen  Fällen  erinnern  sich  die  Kranken  nur  einzelner  Stücke  der 
Wörter.  Ein  Kranker  z.  B.  wusste  alle  Anfangsbuchstaben,  schlug, 
um  das  gewünschte  Wort  zu  linden,  den  ersten  Buchstaben  im  Lexikon 
auf  und  suchte,  bis  das  entsprechende  Schriftwort  ihm  ins  Auge  fiel. 
Ein  anderer  Kranker  Hess  alle  Anfangsconsonanten  weg. 

Völlig  ungestört  kann  der  Intellect  bei  Aphasie  sein,  wenn  die 
Läsion  in  niM  sitzt,  ebensowenig  führen  Läsionen  von  aA  oder  von 
OA  zu  intellectuellen  Störungen,  dagegen  muss  nicht  nur  das  Spre- 
chen, sondern  auch  das  Denken  mehr  oder  weniger  gestört  werden, 
wenn  die  Bahn  ABMA  lädirt  wird.  Ein  Denken  ohne  Worte  ist 
nur  in  geringem  Umfange,  soweit  anschauliche  und  leicht  zu  über- 
blickende Verhältnisse  in  Frage  kommen,  möglich.  Ursache  und 
Wirkung  vermögen  auch  die  sprachlosen  Tlüere  zu  erkennen,  da- 
gegen ist  das  Denken  in  Begriffen  an  Worte  gebunden.  In  der  That 
zeigen  auch  die  meisten  Aphatischen  deutliche  Abnahme  der  Intelli- 
genz. Freilich  ist  in  vielen  Fällen  von  Aphasie  der  geistige  Defect 
nicht  durch  die  Aphasie  allein  zu  erklären,  sondern  hängt  auch  von 
anderweit  en  Hirnläsionen  ab.  Begreiflicherweise  leidet  die  Intelligenz, 
sobald  die  inneren  Worte  verloren  gehen  (wie  oben  bemerkt),  d.  h. 
sobald  Amnesie  und  Paraphasie  sich  zeigen.  Umgekehrt  treten  von 
den  Störungen  der  Sprache  am  ehesten  Amnesie  und  Paraphasie 
auf,  wenn  der  Intellect  primär  gelitten  hat,  bei  diffusen,  über  die 
ganze  Hirnrinde  verbreiteten  Erkrankungen.  Es  ist  bekannt,  dass 
das  Vergessen  der  Eigennamen  und  anderer  Hauptworte  eines  der 
ersten  Zeichen  der  senilen  Hirnsch wache  ist,  dass  dasselbe  ebenso 
nach  acuten  Krankheiten,  bei  Hirnanämie  aus  verschiedenen  Ursachen 
sich  zeigt.  Ferner  sind  paraphatische  Störungen  eines  der  wichtig- 
sten Symptome  der  diffusen  Hirnrindenerkrankung,  der  progressiven 
Paralyse  der  Irren.  Ueber  diese  Form  sind  noch  einige  Worte  zu  sagen. 

Die  Paraphasie  bei  progressiver  Paralyse  nimmt  eine  Art 
von  Mittelstellung  zwischen  der  Aphasie  und  den  dyslogischen  Sprach- 
störungen ein.    Nicht  wie  bei  jener  handelt  es  sich  um  eine  Herd- 


44 


Untersuchung  der  Sprache. 


läsion  des  Gehirns  und  doch  hängt  die  Paraphasie  nicht  direct  von 
der  geistigen  Störung  ab.  da  sie  dieser  nicht  parallel  geht,  eine  ge- 
wisse Selbständigkeit  besitzt.  Es  scheint,  dass  es  sich  bei  der  pro- 
gressiven Paralyse  hauptsächlich  nm  Zerstörung  der  Bahnen  handelt, 
die  die  einzelnen  Centra  der  Hirnrinde  verknüpfen.    AVerden  auch 


^^w^^^ 


d.  h.  Eduard  Hermann.  Klempner  aus  Roehlitz  in  Sachsen. 


Fig.  5. 

Schrift  bei  beginnender  Paralysis  progr. 


ey 


jlZis^     o^S-A'!^>Z  ,, 


Fig.  6. 
Schrift  bei  progressiver  Paralyse  (nach  Erlenmeye'r,  die  Schrift). 

die  Verbindungsbahnen  des  Sprechapparates,  besonders  die  Bahn  AM 
lädirt,  so  treten  die  paralytischen  Sprachstörungen  ein.  Diese  be- 
stehen hauptsächlich  in  literaler  Paraphasie,  die  hier  meist  als 
Silbenstolpern  bezeichnet  wird,  in  literaler  Paragraphie  und 
in  einer  eigenthümlichen  Form  der  Paralexie.  Alle  erhalten  ihre 
charakteristische  Färbung  durch  die  allgemeine  Amnesie  der  Kranken. 


Untersuchung  der  Sprache.  45 

Das  Silbenstolpern  zeigt  sich  zuerst  beim  raschen  Sprechen  und 
beim  Aussprechen  langer  Wörter.  Die  Laute  werden  zwar  noch  rich- 
tig gebildet,  aber  nicht  richtig  zum  Worte  geordnet.  Um  geringere 
Grade  des  Silbenstolperns  zu  entdecken,  lässt  man  den  Kranken  com- 
plicirte  Wortbildungen  nachsprechen,  z.  B.  Sechshimdertsechsund- 
sechzig,  dreiunddreissigste  Reiterschwadron,  dritte  reitende  Artillerie- 
brigade, konstantinopolitanischer  Dudelsackpfeifer,  französische  Schul  i- 
zwecken,  Messwechsel- Wachsmaske  u.  s.  f.  Gelingt  das  Wort  dem 
Kranken  beim  ruhigen  und  langsamen  Sprechen  nicht,  sagt  er  z.  B. 
drittende  reitende  Rartrilleriegade,  so  ist  dies  ein  bedenkliches 
Zeichen,  weil  das  Silbenstolpern  zwar  nicht  ausschliesslich,  aber  weit- 
aus am  häufigsten  ein  Symptom  beginnender  progressiver  Paralyse  ist 


Fig.  7. 

Schrift  bei  weitentwickelter  progressiver  Paralyse  (nach  Erlenmeyer). 

(l'embarras  de  la  parole  est  un  signe  mortel,  Esquirol).  Weiter- 
hin werden  auch  einfache  Wörter  falsch  gesprochen  (goten  Murgen, 
Feilsch  und  Bort  u.  s.  w.).  Oft  finden  sich  bei  der  progressiven 
Paralyse  neben  der  literalen  Paraphasie  noch  andere  Sprachstörun- 
gen, Stammeln,  Stottern,  Bradyphasie,  zitternde,  meckernde  Sprache, 
tonlose  Sprache,  selten  eigentliche  Aphasie. 

Die  Schrift  der  Paralytischen  ist  der  Sprache  ganz  analog. 
Es  werden  einzelne  Zeichen,  Buchstaben,  Silben,  Wörter  ausgelassen, 
andererseits  zugesetzt  oder  verdoppelt,  es  zeigen  sich  Agrammatisnnis 
und  Akataphasie.  Diese  Fehler  treten  oft  ausserordentlich  früh  auf, 
zu  einer  Zeit,  wann  die  Sprachstörungen  noch  nicht  deutlich  sind. 
Später  kommen  auch  mechanische  Störungen  der  Schrift  hinzu,  diese 
wird  atactisch-zittrig. 

Der  Aphatische  mit  Paragraphie  schreibt  immer  in  derselben 
Weise  falsch  und  weiss  in  der  Regel,  dass  er  falsch  schreibt,  der 


46  Untersuchung  der  Sprache. 

Paralytische  schreibt  bald  so.  bald  so  und  ist  überzeugt,  dass  er 
schön  und  richtig  schreibt. 

Manche  Paralytische,  die  vielleicht  ganz  gut  sprechen,  sind  un- 
fähig, correct  zu  lesen:  die  paralytische  Lesestörung  (Rieger). 
Die  Kranken  glauben  vollständig  richtig  zu  lesen,  sie  bringen  aber 
nur  einzelne  kurze  Wörter  heraus,  an  langen  Wörtern  scheitern  sie 
und  sollen  sie  zusammenhängend  lesen,  so  produciren  sie  blühenden 
Unsinn,  der  die  Unaufmerksamkeit  und  Kritiklosigkeit  der  Para- 
lytischen sehr  gut  illustrirt. 

Rieger  theilt  z.  B.  folgende  Probe  mit.  Der  Kranke,  der  zwar 
auch  im  Schreiben.  Nachsprechen.  Rechnen  Defecte  zeigte,  aber  im 
Gespräche  keine  Fehler  machte  und  alle  Buchstaben  rasch  und  richtig 
erkannte,  sollte  von  einer  Tafel  mit  grossem  deutschem  Drucke  Schil- 
lert Mädchen  aus  der  Fremde  ablesen. 

Das  Mädchen  aus  der  Fremde.  Das  Mädchen  aus  der  Tiefe. 

In  einem  Thal  bei  armen  Hirten  In  einem  Tage  war  eine  Hüte 

Erschien  mit  jedem  jungen  Jahr,  Erfreute  mit  jedem  jungen  Jahren 

Sobald  die  ersten  Lerchen  scharrten,  Sobald  erbiet  eine  Lehre  schwiede 

Ein  Mädchen  schön  und  wunderbar.  Ein  Mädchen  vont. 

Sie  war  nicht  in  dem  Thal  geboren,      Es  war  mit  dem  Thal  geboren 
Man  wusste  nicht,  woher  sie  kam        Xacht  gutes  mit  fröhlicher  Sichrigkeit 
Und  bald  war  ihre  Spur  verloren,        Und  empfehle  und  sprechende 
Sobald  das  Mädchen  Abschied  nahm.      Es  bessert  das  Mädchen  absichtlich 

machte, 
u.  s.  w. 

Diese  Lesest örung.  die  durchaus  nicht  bei  allen  Paralytischen 
sich  zeigt,  soll  für  die  progressive  Paralyse  charakteristisch  sein,  sich 
nicht  bei  anderen  Hirnkrankheiten  nachweisen  lassen.  Man  hat  sie 
in  vereinzelten  Fällen  aber  auch  bei  Demenz  nach  Herdläsionen  des 
Gehirns  gefunden. 

Verschiedene  dyslogische  Sprachstörungen. 

Ausser  der  richtigen  Wortbildung  gehören  zum  Sprechen  die  gram- 
matische Richtigkeit  und  die  richtige  Wortfolge.  A g  r  a  m  m  a  t  i  s  m  u  s 
und  Akataphasie  nun  kommen  zwar  auch  bei  Aphatischen  mit 
Paraphasie  vor,  sind  aber  in  der  Regel  dyslogische  Störungen.  Gram- 
matische Fehler,  die  bei  Kindern  häufig  sind,  machen  die  Kranken 
theils  aus  psychischer  Schwäche,  theils  aus  wahnsinniger  Schrullen- 
haftigkeit.  Sie  setzen  den  Infinitiv  statt  des  conjugirten  Zeitwortes, 
lassen  Artikel  weg,  sprechen  von  sich  in  der  dritten  Person  u.  s.  w. 
(z.  B.  „Toni  Blumen  genommen.  Wärterin  gekommen,  Toni  gebaut"). 


Untersuchung  der  Sprache.  47 

Sprachlosigkeit  kann  durch  motorische  Aphasie  verursacht 
sein,  sie  kommt  in  ähnlicher  Weise  vorübergehend  bei  fimctionellen 
Nervenkrankheiten  (Hysterie)  vor.  Von  diesen  Formen  leicht  zu 
unterscheiden  ist  die  Sprachlosigkeit  der  Idioten  und  die  durch 
Lähmung  der  Sprechmuskeln  bewirkte.  Dagegen  leicht  mit  der 
Aphasie  zu  verwechseln  ist  dieAphrasia  paranoica  (voluntaria, 
superstitiosa),  die  Stummheit,  zu  der  Irre  sich  aus  verschiedenen 
Motiven  verurtheilen. 

Sonderlinge  und  Irre  verunstalten  die  Rede  dadurch,  dass  sie 
ungehörige  Wörter,  und  zwar  oft  immer  dasselbe  Wort,  einschieben, 
dass  sie  zwischen  die  Worte  unarticulirte  Laute  oder  gedehnte  Yocale 
(ae,  oe)  stellen  (Gaxen),  dass  sie  immerfort  die  Diminutivform 
brauchen,  dass  sie  Worte  und  Satztheile  ungehörig  wiederholen  u.  s.  w. 
Wiederholen  sie  immer  die  an  sie  gerichteten  Fragen  oder  die  letzten 
Worte  des  Sprechenden,  so  redet  man  von  Echo  spräche. 

Das  Tempo  der  Eede  kann  verändert  sein.  Bei  trägem  oder 
gehemmtem  Gedankengange  ist  die  Eede  langsam,  stockend,  abge- 
brochen (Bradyphrasie).  Tritt  besonders  das  Stocken  hervor,  so 
dass  grössere  Pausen  entstehen,  so  spricht  man  wohl  von  Brady- 
phrasia  interrupta,  Die  Rede  des  Erregten  kann  zum  Wortschwall 
werden,  der  stromartig  mit  Wellen  und  Wirbeln  dahinfliesst  (Lo- 
gorrhoe).  Ueberstürzen  sich  die  Vorstellungen  (Ideenflucht),  so  ist 
eine  geordnete  Satzbildung  nicht  mehr  möglich,  abgerissene  Satz- 
theile, vereinzelte  Wörter,  Interjectionen  drängen  sich  hervor  und  die 
Rede  wird  verworren.  Davon  verschieden  ist  das  Poltern  (Batta- 
rismus, Tumultus  sermonis),  das  ebenfalls  durch  Ueberhastung  ent- 
stellt. Es  erinnert  mehr  an  das  Stottern,  unterscheidet  sich  aber 
von  diesem  dadurch,  dass  der  Polterer  um  so  besser  spricht,  je  mehr 
er  auf  sich  achtet,  während  der  Stotterer  durch  Aufmerksamkeit  und 
Spannung  das  Uebel  verschlimmert. 

Bei  psychischer  Schwäche  und  bei  Verrücktheit  ist  begreiflicher 
Weise  die  Sprache  oft  verwirrt  (Paraphr a sie).  Zuweilen  wird  die 
Folge  der  Wörter  nur  durch  Associationen  und  Alliterationen  be- 
herrscht, so  dass  ein  ähnliches  Bild  entsteht  wie  bei  choreatischer 
Paraphasie.  Zur  Paraphrasie  rechnet  man  bei  Irren  auch  die  Neu- 
bildung von  Worten,  die  Unteiiegung  eines  anderen  Sinnes  (wie  in 
der  Gaunersprache)  u.  s.  w. 

Bei  Idioten  ist  die  Entwicklung  der  Sprache  ein  Maass  ihrer 
intellectuellen  Fähigkeit.  Die  am  tiefsten  Stehenden  lernen  gar  nicht 
sprechen,  weil,  wie  Griesinger  es  ausdrückt,  sie  nichts  zu  sagen 


•48  Untersuchung  der  Sprache. 

haben.  Andere  lernen  unvollkommen  einige  Worte  nachsprechen  wie 
Papageien.  Etwas  Befähigtere  lernen  sprechen,  aber  ihre  Bede  ist 
lallend  und  agrammatisch  wie  die  der  Kinder. 

Stottern  und  Aphthongie. 

Stottern  und  Aphthongie  werden  als  spasmodische  Sprachstörun- 
gen bezeichnet.  ..Beim  Stottern  ist  die  Articulation  der  Silben  und 
damit  die  Bede  krampfhaft  erschwert,  nicht  immer,  wenn  der  Kranke 
sprechen  will,  sondern  nur  zu  gewissen  Zeiten. und  unter  gewissen 
Umständen.  Bei  der  Aphthongie  treten  bei  jedem  Versuche  zu  spre- 
chen Krämpfe  im  Hypoglossus  auf,  wodurch  die  Sprache  ganz  unmög- 
lich gemacht  wird."  Beim  Stottern  ist  die  Bildung  der  einzelnen 
"Laute  richtig,  aber  ihre  Verbindung,  besonders  die  Verbindung  der 
Gonsonanten  mit  den  nachfolgenden  Vocalen  wird  bei  geringer  ge- 
müthlicher  Erregung  durch  krampfhafte  Contractionen  der  Athem- 
und  Sprechmuskeln  gestört. 

Es  giebt  aber  auch  ein  dem  Stottern  verwandtes  Versagen  der 
Sprache  ohne  alle  krampfhaften  Bewegungen.  Bei  solchen  Kranken 
bewirkt  jede  oder  eine  gewisse  geistige  Erregung,  dass  sie  keinen 
Laut  oder  nur  manche  Laute  hervorbringen  können,  ohne  dass  doch 
irgend  ein  3Iuskel  sich  zusammenzöge. 


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Carl  Ackermann,   ca.  25  Jahre,  Hautboist,   zugleich  Schreiber  bei   einem  Rechtsann-alt,   spielt  Cello 

und  Bassgeise,  leidet  seit  6  Monaten  beim  Schreiben  an  Zittern  und  Unbehülflichkeit.    Es  tritt  beim 

Versuch  in  der  sonst  normalen  Hand  Tremor  auf  und  krampfhafte  Flexion,  erst  nach  vielen  Ansätzen 

gelingt  es,  in  einzelnen  Absätzen  zu  schreiben. 

Fig.  8. 
Schrift  bei  Mogigraphie. 

Analog  den  spasmodischen  Sprachstörungen  ist  der  Sc  h  reibe - 
krampf  (G-raphospasmus,  Alogigraphia).  bei  dem  die  Hand  sonst  frei 
beweglich  ist.  beim  Versuche  zu  schreiben  aber  Krämpfe  der  Hand- 
und  Armmuskeln  die  Schrift  zittrig,  atactisch  oder  ganz  unmöglich 
machen  (Fig.  S). 

Die  Anarthrie. 

Als  Anart hrie.  Stammeln  oder  Lallen  bezeichnet  man  die 
Unfähigkeit,  die  einzelnen  Laute  richtig  zu  bilden.  Sprechen  lernende 
Kinder  lallen,  ebenso  kranke  Personen,  die  auf  der  Stufe  des  Kindes 


Untersuchung  der  Sprache.  49 

stehen  geblieben  oder  auf  sie  herabgesunken  sind.  Unter  Alalia 
versteht  man  das  Unvermögen,  articulirte  Laute  zu  bilden,  während 
bei  Mogilalia  die  Bildung  dieses  oder  jenes  Lautes  unmöglich  ist. 
bei  Paralalia  bestimmte  Laute  falsch  gebildet  werden.  Die  Dj's- 
lalien  beruhen  entweder  auf  mangelnder  Uebung,  angeborener  Un- 
geschicklichkeit (Provinzialismen,  Lispeln  u.  s.  w.),  oder  auf  fehler- 
hafter Bildung  der  Articulationsorgane :  mechanische  Dyslalien,  oder 
auf  Lähmung.  Im  engeren  Sinne  nennt  man  die  Störungen  anar- 
thrische,  die  durch  Lähmung  der  bei  der  Sprache  betheiligten  Mus- 
keln entstellen.  Die  Anarthrie,  die  durch  Lähmung  der  Zungen- 
oder der  Gesichts-  oder  der  Gaumenmuskeln  entsteht,  ist  im  II.  Theile 
berücksichtigt. 

Bei  centralen  Leiden  sind  oft  alle  in  Frage  kommenden  Muskeln 
mehr  oder  weniger  betroffen,  so  dass  die  meisten  Laute,  wenn  auch 
in  verschiedenem  Grade,  verstümmelt  werden.  Dabei  leidet  die 
Fügung  der  Laute  zu  Silben  und  Wörtern  nicht  Noth,  vielmehr  er- 
kennt man  an  Accent  und  Rhythmus  des  Nachsprechenden,  dass  die 
Wortbildung  nicht  gestört  ist.  Die  Kranken  können  jederzeit  die 
richtige  Zahl  der  Buchstaben  und  Silben  angeben,  aus  denen  das 
Wort,  um  das  man  sie  fragt,  besteht,  ein  Beweis,  dass  auch  bei  voll- 
ständiger Sprachlosigkeit  die  inneren  Worte  erhalten  sind.  Ist  die 
Lähmung  fortgeschritten,  so  werden  überhaupt  articulirte  Laute  nicht 
mehr  gebildet,  die  Sprache  wird  ein  unverständliches  Lallen  und 
schliesslich  bleiben  nur  grunzende  Töne  übrig.  Die  Sprachstörung 
kann  schon  beträchtlich  sein,  während  die  groben  Bewegungen  der 
Zunge,  der  Lippen  u.  s.  w.  noch  ganz  gut  von  Statten  gehen.  Dies 
ist  begreiflich,  weil  bei  der  Bildung  der  Laute  nicht  die  Bewegungs- 
fähigkeit überhaupt  ausreicht,  sondern  diese  in  der  feinsten  Weise 
abstufbar  sein  muss.  Auch  gelingen  die  einzelnen  Laute  bei  lang- 
samem Hersagen  des  Alphabets  oft  noch  ganz  leidlich,  wenn  schon 
die  Umgangsprache  sehr  schwer  verständlich  ist,  wie  wohl  Einer 
mit  steifen  Fingern  noch  die  einzelnen  Buchstaben  malen  kann,  beim 
raschen  Schreiben  aber  nur  eine  unleserliche  Schrift  zu  Stande  bringt. 

Ist  die  Bildung  der  Laute  nicht  eigentlich  gestört,  sondern  nur 
erschwert,  wie  etwa  bei  grosser  Ermüdung  der  Sprachorgane,  so 
wird  die  Sprache  eintönig  und  kraftlos.  Alle  nöthigen  Bewegungen 
werden  auf  das  geringste  Maass  beschränkt  und  trotz  vermehrter  An- 
strengung vermögen  die  Kranken  nur  langsam  ein  Wort  nach  dem 
anderen  hervorzubringen  (Bradylalia). 

Werden  die  einzelnen  Silben  durch  Pausen  getrennt,  die  Worte 
gleichsam  zerhackt,  so  spricht  man  von  scandir ender  Sprache. 

M  ö  b  i  u  s ,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  4 


50  Untersuchung-  der  Sprache. 

Dabei  werden  oft  einzelne  Silben  mit  angespannter  Kraft  explosions- 
artig hervorgestossen ,  während  die  folgenden  wieder  kraftlos  und 
eintönig  nachschleppen  (explosive  Sprache). 

Den  Störungen  der  Lautbildung  analog  sind  die  der  Schrift,  bei 
der  durch  Lähmung  oder  abnorme  Contractionen  der  Muskeln 
die  Buchstaben  verunstaltet  werden.  Man  kann  unterscheiden  die 
Zitterschrift,  wo  der  Strich  in  eine  Wellenlinie  mit  kleineren  oder 

Fig.  9. 

Schrift  eines  81jähr.  Greises,  der  nur  beini  Schreiben  zitterte. 

grösseren  Oscillationen  verwandelt  ist  (vgl.  Fig.  9),  und  die  atactische 
Schrift,  wo  durch  Ausfahren  der  Hand  die  Buchstaben  in  unregel- 
mässiger Weise  verunstaltet  werden.  Beide  Formen  können  combinirt 
vorkommen. 

Dauernde  motorische  Aphasie  ist  auf  eine  Erkran- 
kung des  Fusses  der  dritten  (unteren)  linken  Stirnwin- 
dung zu  beziehen  Es  ist  dies  die  sogenannte  Broca'sche  Stelle 
oder  Broca'sche  Windung.  Bei  Linkshändern  und  bei  Personen,  deren 
linke  Hemisphäre  durch  angeborene  oder  früh  erworbene  Defecte 
geschädigt  ist,  scheint  das  ..Sprachcentrum"  an  der  entsprechenden 
Stelle  der  rechten  Hemisphäre  sich  zu  finden,  kann  daher  durch 
reehtseitige  Herde  Aphasie  bewirkt  werden.  Es  ist  bemerkenswerte, 
dass  bei  Kindern  auch  Läsionen  der  linken  Hemisphäre,  die  das 
Sprachcentrum  treffen,  nur  rasch  vorübergehende  Aphasie  bewirken. 

Bei  der  Zerstörung  der  Broca'schen  Windung  selbst  entsteht  die 
oben  unter  1  beschriebene  Form  der  motorischen  Aphasie,  die  Kern- 
aphasie  Lichtheim's.  Den  unter  2  und  3  beschriebenen  Formen, 
der  motorischen  Theilaphasie  Lichtheim's.  liegen  wahrscheinlich 
Läsionen  der  weissen  Substanz  in  der  Nähe  der  Broca'schen  Stelle, 
möglicherweise  partielle  Läsionen  dieser  selbst  zu  Grunde. 

Die  Worttaubheit  ist  nach  Wer  nicke's  Vorgang  auf  eine 
Läsion  der  ersten  linken  Schläfen  wind  Uns:  zurückzuführen. 


Untersuchung  der  Sprache.  51 

Bei  Linkshändern  scheint  die  rechte  erste  Sehläfenwindimg  dem  AVort- 

verständnisse  zu  dienen.  Analog'  den  Verhältnissen  bei  der  motori- 
schen Aphasie  wird  man  die  den  seltenen  Formen  ü  und  7  entspre- 
chenden Läsionen  in  nächster  Nähe  der  ersten  Schläfenwindung  suchen. 
Bei  der  Paraphasie  müssen  die  Verbindungen  zwischen  dem 
motorischen  Sprachcentrum  in  der  dritten  Stirnwindung  und  dem 
sensorischen  in  der  ersten  Schläfenwindung  lädirt  sein.  Dieser  For- 
derung- würde  eine  Erkrankung  der  Insula  Reilii  genügen.  Hier 
sucht  in  der  That  Wer  nicke  den  Herd  hei  der  von  ihm  sogenannten 
Leitungsaphasie.  Genaueres  weiss  man  nicht,  doch  ist  es  höchst 
wahrscheinlich,  dass  die  Insel  einen  wichtigen  Theil  der  Sprachbahnen 
umschliesst. 

lieber  die  Localisation  der  übrigen  selteneren  Aphasieformen 
ist  nichts  Sicheres  bekannt.  Bei  der  Totalaphasie  muss  eine 
ausgebreitete  Läsion  der  linken  Hemisphäre  angenommen  werden, 
die  sowohl  die  Broca'sche  als  die  Wernicke'sche  Stelle  schädigt. 
Bei  Wortblindheit  hat  man  mehrmals  das  untere  Scheitel- 
1  ä  p  p  c  h  e  n  erkrankt  gefunden.  Es  ist  ersichtlich,  dass  es  sich  dabei 
um  Zerstörung  einer  Bahn  handeln  muss,  die  die  Occipitallappen  mit 
den  Sprachcentra  verbindet. 

Von  den  Stellen  der  Hirnrinde,  wo  die  Wortbildung  stattfindet, 
müssen  Bahnen  zu  den  Articulationsnieclianisnien  führen,  die  moto- 
rischen Sprachbahnen.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  verbinden  diese 
Bahnen  die  dritte  linke  Stirnwindung  mit  den  unteren  Dritteln  beider 
ersten  Centralwindungen,  wo  die  zu  den  Sprachmuskeln  führenden 
Willensbahnen  beginnen.  Die  Annahme,  nach  der  eine  motorische 
Sprachhahn  von  der  Broca'schen  Stelle  direct  zu  den  Kernen  der 
Oblongata  zieht,  wird  dadurch  widerlegt,  dass  Herde  in  der  linken 
Capsula  int.  motorische  Aphasie  nicht  bewirken. 

Bei  der  progressiven  Paralyse  scheint  das  Wesentliche  die  De- 
generation der  die  einzelnen  Hirnwindungen  verbindenden  (Asso- 
ciations-)Fasern  zu  sein.  Dem  entspricht,  dass  die  Sprachstörungen 
hier  hauptsächlich  paraphatische  sind.  Von  einer  eigentlichen  Loca- 
lisation kann,  da  es  sich  um  eine  diffuse  Erkrankung  der  Rinde  handelt, 
nicht  wohl  die  Bede  sein.  Die  paralytische  Sprech-,  Schreibe-,  Lese- 
störuiig  ist  vom  grössten  diagnostischen  Werthe  deshalb,  weil  sie  nahezu 
ausschliesslich  eben  bei  der  progressiven  Paralyse  vorkommt.  Wenige 
Symptome  kommen  dem  Ideal  eines  pathognostischen  Symptoms,  aus 
dem  allein  die  Diagnose  einer  Krankheit  gemacht  werden  kann,  so  nahe. 
Die  sonstigen  dyslogischen  Sprachstörungen  beweisen  nur  Krank- 
sein der  den  seelischen  Vorgängen  dienenden  Theile  der  Hirnrinde, 


52  Untersuchung  der  Sprache. 

haben  dieselbe  diagnostische  Bedeutung  wie  psychische  Störungen 
überhaupt. 

Anarthrie  beruht,  abgesehen  von  den  congenitalen  uud  mechani- 
schen Dyslalien,  auf  Lähmung  der  Sprechniuskeln.  sie  tritt  daher 
auf  bei  allen  Läsionen,  die  die  letzteren  selbst  oder  ihre  Nerven- 
bahnen treffen.  Läsioneu  einer  Hemisphäre  bewirken  keine  Anar- 
thrie, weil  die  Innervation,  die  die  Sprechmuskeln  von  einer  Hemi- 
sphäre erhalten,  ausreicht  zur  Lautbildung.  Bestehen  dagegen  in 
beiden  Hemisphären  Läsionen,  die  die  Facialis-Hypoglossusbahn 
treffen,  so  tritt  complete  Lähmung  der  Lippen,  Zunge  u.  s.  w.  ein 
und  damit  Anarthrie  (Pseudobulbärparalyse,  vgl.  Abschnitt  Lähmung). 
Herde  iu  der  Brücke  bewirken  oft  Anarthrie,  weil  liier  die  rechte 
und  die  linke  Sprechmuskelbahn  so  nahe  bei  einander  liegen,  dass 
sie  leicht  durch  einen  Herd  geschädigt  werden  können. 

Erkrankungen  der  Oblong  ata  sind  die  wichtigste  Ursache 
anarthrischer-  Störungen.  Insbesondere  bei  der  progressiven  Bulbär- 
paralyse,  die  die  Kerne  des  H3Tpoglossus,  Facialis.  Vago-Accessorius 
allmählich  zerstört,  ist  Anarthrie  gewöhnlich  das  erste  Symptom; 
die  Sprachstörung  pflegt  schon  sehr  stark  zu  sein,  wenn  die  groben 
Bewegungen  der  Zunge  uud  der  Lippen  noch  leidlich  erhalten  siud. 

Auch  peripherische  doppelseitige  Läsionen  des  Hypo- 
glossus  müssen  die  Lautbildung  beträchtlich  stören,  während  peri- 
pherische doppelseitige  Facialislähmung  die  Bildung  nur  einiger 
Laute  erschwert.  Einseitige  Hypoglossuslähmung  lässt  nur  die  Zun- 
genlaute (1,  r,  g,  k)  undeutlich  erscheinen  (auch  dies  nur.  weun  die 
Lähmung  plötzlich  eintritt,  bei  langsam  sich  entwickelnder  Lähmung 
vermag  die  gesunde  Zungenhälfte  sich  den  veränderten  Verhält- 
nissen anzupassen  und  den  Bewegungsausfall  zu  ersetzen),  einseitige 
Facialislähmung  macht  in  der  Begel  keine  merklichen  Lautirungs- 
beschwerden. 

Primäre  Atrophie  der  Sprechmuskeln  ist  sehr  selten. 
Es  ist  zu  erwarten,  dass  diese  im  Gegensatze  zu  der  bulbären  Atro- 
phie nur  bei  sehr  weit  vorgeschrittener  Entwicklung  Anarthrie  be- 
wirken wird,  weil,  so  lange  die  Innervation  intact  ist,  auch  der 
in  seinem  Volumen  reducirte  Muskel  alle  feinen  Bewegungen  aus- 
führen kann. 

Die  3 can dir  e  n  d  e  S  p  r  a  c h  e  ist  fast  ausschliesslich  bei  der  m  u  1  - 
t  ip  1  en  S  kl  er  o  s  e  beobachtet  worden.  Auch  die  explosive  Sprache 
scheint  auf  sklerotische  Heide  der  Oblongata  zu  beziehen  zu  sein. 


DRITTES  HAUPTSTÜCK. 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Vorbemerkungen. 

Der  active  Bewegungsapparat  besteht  aus  den  Muskeln  und  den 
mit  ihnen  zusammenhängenden  centrifügalen  Bahnen  des  Nerven- 
systems. Der  willkürliche  active  Bewegungsapparat  besteht  aus 
den  willkürlichen  (quergestreiften)  Muskeln  und  folgenden  nervösen 
Theilen:  1.  den  peripherischen  motorischen  Nervenfasern,  die  die 
willkürlichen  Muskeln  mit  dem  Bückenmark  verbinden  und,  nach- 
dem sie  zum  Theil  mit  centripetalen  Fasern  in  den  sogenannten  ge- 
mischten Nerven  vereinigt  waren,  durch  die  vorderen  Wurzeln  in 
das  Bückenmark  eintreten,  2.  den  grossen  Zellen  der  Yorderhörner 
der  grauen  Bückenmarkssubstanz,  deren  jede  wahrscheinlich  eine 
Faser  der  vorderen  Wurzeln  als  Fortsatz  entsendet,  3.  aus  den  Bahnen, 
die  die  Yorderhornzellen  mit  der  Grosshirnrinde  verbinden,  deren 
weitaus  wichtigste  die  sogenannte  Pyramidenbahn  (directes  motori- 
sches Leitungsystem)  ist.  Letztere  setzt  sich  zusammen  aus  den  in 
den  Seiten-  und  Vordersträngen  verlaufenden  spinalen  Pyramiden- 
bahnen,  den  Pyramiden  der  Oblongata  und  den  intracerebralen 
Pyramidenbahnen,  die  sich  durch  die  vordere  Brückenabtheilung, 
den  Hirnschenkelfuss,  die  innere  Kapsel  und  den  Stabkranz  zu  den 
Centralwindungen  des  Gehirns  begeben,  in  ihnen,  als  ihrer  Kopf- 
station, endigen. 

Für  die  Hirnnerven  treten  an  die  Stelle  der  Vorderhornzellen  die 
Zellen  der  Nervenkerne  im  Hirnstainme. 

Die  cerebralen  sowohl,  wie  die  spinalen  Abschnitte  des  Be- 
wegungsapparates  entziehen  sich  der  directen  Untersuchung  gänzlich. 
Auch  die  peripherischen  Nerven  können  nicht  direct  untersucht  wer- 
den, ausgenommen  die  Fälle,  wo  Verdickungen  der  Nerven  sich 
durch  Palpation  nachweisen  lassen.    Die  Untersuchung  des  Bewe- 


54  Untersuchung-  des  Bewegungsapparates. 

gungsapparates  ist  dalier  identisch  mit  der  der  Muskeln.    Wir  be- 
dienen uns  bei  dieser: 

1.  der  Inspection, 

2.  der  Palpation, 

3.  der  Functionsprüfuiig,  die  bestellt  aus 

a)  Prüfung  der  Motilität,  d.  li.  der  willkürlichen  Con- 
tractionen, 

b)  Prüfung  der  reflektorischen  Contractionen, 
die  durch  Eeizung  der  Haut  oder  tieferer  empfindlicher 
Theile  bewirkt  werden. 

c)  dir ect er  Reizung  durch  elektrische  oder  mechanische 
Eeize,  die  sowohl  auf  die  Muskeln  selbst,  als  auf  den 
motorischen  Xerven  gerichtet  werden  können. 

Abgesehen  wird  hier,  wie  bei  den  nervösen  Theilen,  von  chirurgischen 
Eingriffen,  besonders  von  der  Ausschneidung  kleiner  Muskelstückchen  be- 
hufs mikroskopischer  oder  chemischer  Untersuchung.  Ueber  diese  Dinge 
ist  a.  a.  0.  nachzulesen. 

Die  Untersuchung  hat  ins  Auge  zu  fassen:  den  Ernährung- 
zustand  und  den  Spannungzustand  der  Muskeln,  das  Vorhandensein 
von  Lähmung  oder  von  abnormen  Bewegungen,  die  reflectorische, 
elektrische  und  mechanische  Erregbarkeit, 

I.  Der  Ernährungzustand. 

Ueber  den  Ernährungzustand  der  Muskeln  verschaffen  uns 
zunächst  Inspection  und  Palpation  Aufschluss.  Im  Allgemeinen  kann 
man  ihn  als  dem  Volumen  und  der  Härte  der  nicht  contra hir- 
ten  Muskeln  proportional  betrachten. 

Besteht  Hypertrophie,  so  ist  das  Volumen  des  Muskels  ver- 
meint, er  bildet  einen  stärkeren  Vorsprung  als  im  normalen  Zu- 
stande und  die  fühlende  Hand  findet  an  ihm  vermehrten  "Wider- 
stand. Dass  die  Hypertrophie  eine  wahre  im  klinischen  Sinne  ist, 
erkennt  man  an  der  vermehrten  Kraft,  während  Abnahme  von  Kraft 
trotz  Zunahme  des  Volumen  und  der  Härte  auf  eine  nur  im  anato- 
mischen .Sinne  wahre  H3Tpertrophie  (d.  h.  das  erste  Stadium  der  Dystro- 
phie) oder  auf  Pseudolrypertrophie  (durch  Bindegewebewucherung) 
schliessen  lässt.  Ist  nur  das  Volumen  vermehrt,  Härte  und  Kraft 
vermindert,  so  kann  man  annehmen,  dass  Fettwucherung  die  Hyper- 
trophie vortäusche  (Pseudolrypertrophia  lipomatosa). 

Besteht  Atrophie,  so  sind  Volumen  und  Härte  vermindert. 
Je  nach  dem  Grade  des  Schwundes  ist  hier  nur  das  Eelief  des  Mus- 


Ernährangzustand  der  Muskeln.  55 

kels  verjüngt,  tritt  dort  an  Stelle  des  normalen  Vorsprunges  eine 
Vertiefung,  gelingt  es  dort  überhaupt  nicht  mehr,  die  Existenz  des 
Muskels  nachzuweisen.  Ist  nur  das  Volumen  vermindert,  die  Härte 
des  nichtcontrahirten  Muskels  aber  vermehrt,  so  kann  man  anneh- 
men, dass  neben  dem  Schwunde  Hypertrophie  oder  Bindegewebe- 
wucherung bestehe.  Bei  jedwedem  Muskelschwunde  ist  die  Kraft 
vermindert,  bei  einfachem  Schwunde  sind  beide  Veränderungen  ein- 
ander proportional.  Ist  die  Schwäche  grösser,  als  es  der  Atrophie 
zu  entsprechen  scheint,  so  ist  entweder  der  Schwund  zum  Theil 
durch  Wucherung  interstitiellen  Gewebes  verdeckt,  oder  die  Mus- 
kelsubstanz  ist  nicht  nur  geschwunden,  sondern  auch  degenerirt,  oder 
es  besteht  ausser  der  Muskelerkrankung  eine  lähmende  Ursache. 
Magerkeit  begünstigt  diese  Prüfung,  reichliches  Unterhautfett  oder 
Anasarka  kann  sie  sehr  erschweren. 

Ausser  Volumen  und  Härte  giebt  über  den  Ernährungzustand 
der  Muskeln  die  elektrische  Untersuchung  Aufschluss.  Ob 
aussei-  quantitativen  Veränderungen  auch  die  sog.  degenerative  Atro- 
phie des  Muskels  vorhanden  ist,  ob  da,  wo  Härte  und  Volumen  nicht 
wesentlich  verändert  sind,  nicht  doch  Entartung  besteht,  dies  kann 
oft  die  elektrische  Untersuchung  lehren.  Finden  sich  keine  wesent- 
lichen oder  nur  quantitative  Veränderungen  der  elektrischen  Erreg- 
barkeit, so  ist  die  Atrophie  eine  einfache,  besteht  nicht  oder  wenig- 
stens zur  Zeit  nicht  Entartung  des  Muskels.  Findet  sich  dagegen 
die  Entartungsreaction  in  einer  ihrer  Formen,  so  bestellt  die  dege- 
nerative Atrophie,  die  contractile  Substanz  ist  nicht  nur  ver- 
mindert, sondern  auch  (warscheinlich  nebst  ihren  Nervenfasern)  ent- 
artet. Die  Stärke  der  Degeneration  kann  im  Allgemeinen  als  dem 
Grade  oder  der  Schwere  der  Entartungsreaction  proportional  be- 
trachtet werden.  Wir  wissen  ferner,  dass  gewissen  Stadien  der 
Degeneration  gewisse  Stadien  der  Entartungsreaction  entsprechen. 
Vgl.  hierzu  Abschnitt:  Elektrische  Erregbarkeit. 

Ueber  gewisse  Ernährungstörungen  des  Muskels  belehrt  auch 
das  Beklopfen  (vgl.  mechanische  Erregbarkeit),  es  kann  dasselbe, 
wo  die  elektrische  Untersuchung  nicht  ausführbar  ist,  diese  in  un- 
vollkommener Weise  ersetzen.  Erhält  man  nämlich  bei  leichtem 
Klopfen  auf  den  Muskelbauch  eine  träge  Zuckung,  so  besteht  Ent- 
artungsreaction, d.  h.  degenerative  Atrophie  (sofern,  was  leicht  ist, 
die  Myotonia  congenita  ausgeschlossen  werden  kann).  Die  Form  der 
Zuckung  ist  in  diesem  Falle  ganz  gleich  der  durch  galvanische  Bei- 
zung des  Muskels  erhaltenen.  Nur  aus  dem  positiven  Ergebnisse 
darf  ein  Schluss  gezogen  werden. 


ob 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


Neben  der  Atrophie  einzelner  Muskeln  (circumscripta,  in- 
dividuelle Atrophie)  unterscheidet  man  über  grössere  Muskel- 
Gebiete  verbreitete  Atrophie  (diffuse  Atrophie.  A.  en  masse). 
Handelt  es  sich  um  Atrophie  der  Giiederniuskeln.  so  giebt  der  Um- 
fang des  Gliedes  ein  Maass  des  Schwundes.  Die  Messung-  wird  mit 
dem  in  Centimeter  getheilten  Bandmaasse  ausgeführt  und  jederzeit 
ist  anzugeben,  an  welcher  Stelle  des  Gliedes  das  Band  umgelegt 
worden  ist.  Bei  Torderarm  und  Unterschenkel  giebt  man  zweck- 
mässig den  grössten  Umfang  an  beim  Oberarm 
kann  die  Mitte  gewählt  werden,  beim  Ober- 
schenkel giebt  man  an  „15  Cm.  oberhalb  des 
oberen  Eandes  der  Patella"  oder  dergl.  Ferner 
ist  die  Lage  des  Gliedes  während  der  Messung 
zu  notiren.  am  besten  ordnet  man  Streckung 
im  Ellenbogen-.  Hand-.  Kniegelenke  an.  stellt  den 
Fnss  rechtwinklig  zum  Unterschenkel. 

Ueber  individuelle  Atrophie  kann  man  nur 
bei  oberflächlichen  Muskeln  urtheilen.  Die  Atro- 
phie solcher  Muskeln,  die  sich  der  Palpation  und 
elektrischen  Untersuchung  entziehen,  kann  man 
nur  aus  dem  Functionsdefect  erschliessen. 


Wahre  Muskelhypertrophie  im  kli- 
nischen  Sinne,  d.  h.  vermehrtes  Volumen  mit 
gest eigener  Kraft,  findet  sich  als  angeborene, 
zuweilen  ererbte  Eigenthümlichkeit.  <ei 
es    fast    aller   willkürlichen   Muskeln    ('manche 
AthleteD  .    sei    es    nur    eines    Theiles    davon. 
Sie  kommt  ferner  vor  bei  angeborener  Hyper- 
trophie einer  Körperhälfte,  bei  Thom- 
'seber    Krankheit    und   zeigt    sich   zu- 
weilen   im    Beginne     der    Pseudohyper- 
trophia  musc.  progr..  liier  besonders  an  den 
"Wadenmuskeln.    Häufiger  findet  man  bei  dieser 
Krankkeit  und  bei  der  Thomsen'schen  Krank- 
heit die  wahre  Muskelhypertrophie  nur  im  ana- 
-  -lieii  Sinne,   d.  h.  vermeintes  Volumen   durch  Dickenzunahme 
einzelnen  Muskelfasern  ohne  Steigerung  der  Kraft.   Im  letzt 
Sinne  ist  Mnskelhypertrophie  in  seltenen  Fällen   auch   als  selb- 
ständige Erkrankung,  zumeist  auf  eine  Gliedmaasse  beschränkt, 
beobachtet  worden. 


10. 

: . :  :. 
-J=endo- 
hypertrophia   musc.  progr. 
eh  Ducken: 


Ernährungzustaud  der  Muskeln.  5  < 

Pseudohypertrophie  der  Muskeln,  d.  h.  Zunahme  des 
Volumen  durch  Bindegewebe-  oder  Fettwucherimg  mit  Verminderung 

der  Kraft  durch  Schwund  der  Muskelfasern  ist  das  Hauptsymptom 
der  als  Pseudohypertrophia  musc.  progressiva  bekannten 
Form  der  Dystrophia  musc.  progressiva. 

In  ganz  vereinzelten  Fällen  ist  sie  bei  chronischer  dege- 
nerativer Muskelatrophie  (amyotrophische  Lateralsklerose, 
Bulbärparalyse)  an  einzelnen  erkrankten  Muskeln  (besonders  der 
Zunge)  gesehen  worden. 

Diagnostisch  werden  die  verschiedenen  Formen  der  Muskelhypertrophie 
kaum  Schwierigkeiten  machen.  Die  wahre  Hypertrophie  der  Athleten  ist 
charakterisirt  durch  das  Fehlen  aller  Functionstörungen,  durch  die  durch- 
aus normale  elektrische  und  mechanische  Reaction.  Die  Hypertrophie  bei 
Thomsen'scher  Krankheit  oder  Myotonia  congenita  bildet  nur  einen  Zug 
in  einem  kaum  verkennbaren  Krankheitsbilde:  Die  seit  Kindheit  bestehende 
myotonische  Störung,  d.  h.  die  Hemmung  willkürlicher  Bewegung  durch 
tonischen  Krampf,  der  bei  fortgesetzter  Bewegung  schwindet,  die  bezeich- 
nenden Abnormitäten  der  elektrischen  und  mechanischen  Erregbarkeit 
(s.  „myotonische  Reaction"  im  Abschnitt:  Elektrische  Erregbarkeit),  das 
Fehlen  aller  Störungen  der  Sensibilität  und  Reflexerregbarkeit  machen  die 
Diagnose  leicht.  Die  Hypertrophie  bei  Dystrophia  musc.  progr.  (bezw. 
Pseudohypertrophia  muscul.)  ist  ebenfalls  leicht  erkennbar.  Hier  findet 
sich  eine  bestimmte  Localisation  der  Hypertrophie,  neben  ihr  besteht  Atrophie 
(s.  unten),  die  Function  der  erkrankten  Muskeln  ist  einfach  herabgesetzt, 
ebenso  die  elektrische  und  mechanische  Erregbarkeit  einfach  vermindert. 
Am  ehesten  könnte  man  im  Beginne  der  Pseudohypertrophia  musc,  wo 
vielleicht  nur  Hypertrophie  der  Waden,  kein  deutlicher  Functionsdefect 
besteht,  zweifelhaft  sein-  Oft  weist  hier  die  Erkrankung  anderer  Familien- 
glieder auf  die  Diagnose  hin.  Auf  jeden  Fall  wird  der  weitere  Verlauf, 
während  dessen  die  übrigen  Symptome  der  Krankheit  auftreten,  den  Zweifel 
verscheuchen. 

E  i  n  f  a  c  h  e  M  u  s  k  e  1  a  t  r  o  p  h  i  e ,  d.  h.  Ahnahme  des  Volumen  ohne 
qualitative  Veränderung  der  elektrischen  Erregbarkeit,  findet  sich 
in  diffuser  Form  bei  allgemeiner  Abmagerung  (z.B.  bei  Phthisis 
pulm),  ferner  in  diffuser,  aber  meist  auf  einzelne  Körpertheile  be- 
schränkter Form  bei  langdauernder  Bewegungslosigkeit  (z.  B. 
Abmagerung  der  Beine  bei  jahrelangem  Bettliegen).  Diese  sogenannte 
Inactivitätsatrophie,  deren  Bedeutung  noch  jetzt  vielfach  über- 
schätzt wird,  tritt  sehr  spät  ein  und  erreicht  selten  hohe  Grade. 
Ziemlich  rasch  eintretende  einfache  Muskelatrophie  in  verschiedener 
Ausdehnung  findet  man  in  manchen  Fällen  bei  Erkrankungen 
des  centralen  Nervensystems,  ohne  sie  bisher  genügend  er- 
klären zu  können.  Ebenfalls  schwer  verständlich,  aber  häufig  und 
praktisch  wichtig  ist  die   einfache  Muskelatrophie,    die  bei  vielen 


58 


Untersuchung  des  Bewegnngsapparates. 


Gelenkerkrankungen  die  um  das  Gelenk  gelegenen  Muskeln, 
besonders  die  Streckmuskeln  (Schulter:  Deltoideus.  Knie:  Quadriceps. 
Hüfte:  Glutäen).  oft  sehr  bald  befällt  und  mit  starker  Herabsetzung 
der  elektrischen  Erregbarkeit  verbunden  ist. 

In  etwas  anderer  Weise  stellt  sich  der  Muskelschwund  dar,  der 
durch  zu  feste  Verbände,  besonders  Gipsverbände,  entsteht.  Hier 
handelt  es  sich  nach  v.  Volkniann  um  Absperrung  des  arteriellen 
Blutes:  ,.ischä mische  Lähmung".  Nachdem  der  Verband  einige 
Zeit  gelegen  hat,  schwellen  unter  heftigen  Schmerzen  die  gedrückten 
Muskeln  an  und  gerathen  in  Contractur.    Später  tritt  eine  narbige 

Schrumpfung  des  Muskels  ein. 
die  Contractur  bleibt  bestehen. 
Charakteristisch  ist  die  bis  zum 
Erlöschen  gehende  Herabsetzung 
der  elektrischen  Erregbarkeit 
ohne  Entartungsreaction. 

Endlich  ist  individuelle  ein- 
fache Muskelatrophie  charak- 
teristisch für  die  Dystrophia 
musc.  progressiva. 

Während  demnach  die  ein- 
fache Muskelatrophie  keinen 
Schluss  auf  eine  Läsion  des 
Nervensystems  gestattet,  deutet 
die  Existenz  degenerativer 
Muskelatrophie,  d.  h.  Atro- 
phie mit  Entartungsreaction.  auf 
eine  Läsion  des  peripherischen 
motorischen  Xervens3Tstems.  Soviel  vir  bis  jetzt  wissen,  entsteht 
degenerative  Muskelatrophie  nur  durch  Läsion  der  Strecke  vm  (Fig.  11). 
weder  durch  centrale,  noch  durch  rein  musculäre  Erkrankungen. 
Diese  Eegel  gilt  wenigstens  für  die  ganz  überwältigende  Mehrzahl 
der  Fälle,  nur  in  ganz  wenigen  Fällen  primären  Muskelschwundes 
sind  neuerdings  Andeutungen  der  EaE  gesehen  worden.  Das  Vor- 
kommen der  degenerativen  Atrophie  wird  bei  Schilderung  der  EaE 
(vgl.  unten)  und  bei  der  Localisation  der  Lähmungen  nochmals  zu 
erwähnen  sein. 

Diagnostisch  werden  die  verschiedenen  Arten  nichtnenrotischen  Muskel- 
schwundes sich  leicht  trennen  lassen.  Bei  articulärer  Atrophie  sind  das 
Vorhandensein  oder  Vorausgehen  einer  Gelenkerkranknng,  die  Beschränkung 
der  mit  Schlaffheit  verbundenen  Atrophie  auf  die  Streckmuskeln,  der  elek- 


Fig.  11. 

Schema  des  Reflexbogens,  -welcher  zwischen  senso- 
rischem  und  motorischem  Muskelnerven  "besteht. 
M  =  'willkürl.  iluskel.  m  =  motorischer,  s  =  sen- 
sorischer lluskelnerr.  R  =  Rückenmark,  a  —  Py- 
ramidenbahn.  p  =  Hinterstrangbahn,  v  =  Vordere 
graue  Substanz,    h  =  Hintere  graue  Substanz. 


Emährungzustancl  der  Muskeln.  59 

trische  Befund,  das  Fehlen  anderweiter  Störungen  bezeichnend.  Leicht 
wird  trotz  des  gleichen  elektrischen  Befundes  von  der  articulären  die 
Atrophie  durch  ischämische  Lähmung  unterschieden:  Vorausgehen  eines 
festen  Verbandes  wegen  Knochenbruches  oder  dergl.,  Oedem  der  Haut, 
passive  Contractur  der  Beugemuskeln,  deren Ueberwindung  heftige  Schmerzen 
erregt.  Inactivitätsatrophie  darf  man  nur  annehmen,  wenn  lange  Inactivität 
nachgewiesen  ist,  der  einfache  Muskelschwund  gering  ist  und  sonstig«; 
Störungen  fehlen. 

Diesen  Formen,  bei  denen  es  sicli  um  seeundäre  Erkrankung  des 
Muskels  handelt,  wo  der  Sitz  der  primären  Erkrankung  für  den  der  Atrophie 
maassgebend  ist,  steht  als  systematische  Erkrankung  des  willkürlichen 
Muskelgewebes  die  Dystrophia  musc.  progr.  mit  ihren  Unterarten  gegen- 
über. Hier  beginnt  die  Erkrankung  fast  immer  im  jugendlichen  Alter, 
um  so  früher,  je  schwerer  die  Form,  und  befällt  in  annähernd  symmetrischer 
Weise  bestimmte  Muskeln.  Tritt  sie  als  Pseudohypertrophie  auf,  so  gesellt 
sich  zur  Hypertrophie  der  Wadenmuskeln  die  Atrophie  der  Glutaei,  der 
Lendenstrecker,  später  erst  werden  die  Schultermuskeln  befallen.  Bei  der 
leichteren  Form,  der  sog.  juvenilen  Muskelatrophie,  erkranken  die  letzteren 
zuerst  und  zwar  findet  man  fast  immer  Atrophie  der  Pectorales,  der  Cu- 
cullares,  der  Latissimi,  der  Serrati  ant.,  der  Ehomboidei,  der  Bicip.  und 
Supin.  longi,  gewöhnlich  Hypertrophie  der  Deltoidei,  der  Supra-  und  Infra- 
spinati,  der  Tricipites,  Hypertrophie,  die  später  auch  zu  Atrophie  wird. 
An  zweiter  Stelle  erkranken  die  Rücken-  und  Beinmuskeln.  In  seltenen 
Fällen  beginnt  der  Schwund  in  den  Gesichtsmuskeln. 

Die  Dystrophia  mnsc.  progr.  von  den  neurotischen  Formen  der  Muskel- 
atrophie zu  unterscheiden,  ist  gewöhnlich  leicht,  kann  aber  auch  sehr  schwer 
sein.  Für  jene  ist  entscheidend  der  Nachweis  deutlicher  Hypertrophie, 
sprechen  mit  Wahrscheinlichkeit  die  beschriebene  Localisation,  Fehlen 
fibrillärer  Zuckungen  und  der  EaR,  Fehlen  aller  eigentlichen  Nerven- 
symptome, sehr  jugendliches  Alter,  familiäres  Auftreten  der  Krankheit, 
langsamer  Verlauf.  Für  spinale  Amyotrophie  sprechen  mit  Sicherheit  früh- 
zeitige und  deutliche  EaR,  ausgebreitete  und  andauernde  fibrilläre  Zuckungen, 
Zeichen  von  Buibärparalyse,  mit  Wahrscheinlichkeit  Beginn  in  den  kleinen 
Handmuskeln,  Steigerung  der  Sehnenreflexe,  rascher  Verlauf.  Bei  Berück- 
sichtigung aller  Merkmale  wird  nur  in  einer  geringen  Anzahl  von  Fällen 
ohne  deutliche  nervöse  Symptome,  ohne  Buibärparalyse,  ohne  Heredität,  bei 
Erwachsenen,  beim  Fehlen  deutlicher  Hypertrophie  und  primärem  Ergriffen- 
sein der  Schultermuskeln  eine  sichere  Entscheidung  unmöglich  sein. 

Man  hat  zuweilen  auch  bei  Dystrophia  musc.  progr.  eine  Erkrankung 
des  Nervensystems  (Schwund  der  Vorderhornzellen)  gefunden.  Wahr- 
scheinlich sind  diese  seltenen  Fälle,  in  denen  das  klinische  Bild  und  der 
Muskelbefund  ganz  denen  der  übrigen  Fälle  von  Dystrophie  entsprachen, 
ganz  zu  trennen  von  der  primären  Rückenmarkerkrankung  mit  degenerativer 
Muskelatrophie.  — 

Anhangsweise  möge  hier  der  sogenannten  Hypertrophie  der  Ner- 
ven, die  theils  als  gleichmässige,  theils  als  knotige  Verdickung  der  ober- 
flächlichen Nervenstämme  sich  zuweilen  nachweisen  lässt,  gedacht  werden. 
Diese,  meist  verbunden  mit  Druckempfindlichkeit,  ist  fast  ausnahmelos 
ein  Symptom  entzündlicher  Veränderungen,  der  Neuritis,  beziehungsweise 


60  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Perineuritis.  Sie  ist  begreiflicher  Weise  von  grossem  diagnostischen 
Werfhe.  Eigentliche  Hypertrophie  der  Nerven  und  liponiatöse  Pseudo- 
hypertrophie  entziehen  sich  wohl  der  Untersuchung  und  sind  nur  bei  der 
Section  als  Curiosität  hier  und  da  gefunden  worden.  Geschwülste  der 
Nerven,  die  die  Palpation  nachweist,  sind  theils  echte  Neurerne,  theils 
Fibrome,  in  seltenen  Fällen  andere  Geschwulstarten  (Myxome,  Sarkome, 
Carcinome,  Syphilome,  Lepraknoten).  Sie  können  Ursache  heftiger  Schmerzen 
oder  echter  Neuralgien  werden.  Als  Tubercula  dolorosa  werden  kleine, 
gewöhnlich  harte  Nervengeschwülste  bezeichnet,  die  bald  dieser,  bald 
jener  Geschwulstform  angehören. 

II.  Der  Spannungzustand. 

Lieber  den  Spannungzustand  der  Muskeln  belehren  die  Palpation, 
die  Ausführung-  passiver  Bewegungen  und  die  Prüfung  der  Sehnen- 
reflexe. Je  stärker  der  Muskel  gespannt  ist,  um  so  härter  fühlt  er 
sich  an,  der  Widerstand,  den  passive  Bewegungen  finden,  ist  pro- 
portional dem  Grade  der  Spannung  und  mit  dem  Grade  der  reflek- 
torischen Spannung  (des  Tonus  ')  steht  das  Verhalten  der  Sehnen- 
reflexe gewöhnlich  in  naher  Beziehung.  Die  Glieder  eines  Gesunden 
leisten,  sofern  er  gelernt  hat,  jede  willkürliche  Spannung  auszu- 
schliessen,  keinen  nennenswerthen  Widerstand.  Doch  ist  dies  nur 
der  Fall,  wenn  die  Aufmerksamkeit  auf  den  Zustand  des  Gliedes  ge- 
richtet ist.  Lenkt  man  sie  ab,  so  findet  man  eine  gewisse  leichte 
Spannung,  die  fehlt,  wenn  der  Muskel  abnorm  geringe  Spannung  be- 
sitzt. Immerhin  kann  man  durch  passive  Bewegungen  über  Ver- 
minderung der  normalen  Muskelspannung  keinen  sicheren 
Aufschluss  erlangen.  Dagegen  macht  sich  diese  in  der  Regel  be- 
merklich durch  Verminderung  oder  Aufhebung  der  Seimenreflexe. 
Besteht  die  Verminderung  der  Muskelspannung  längere  Zeit,  so  ent- 
wickelt sich  eine  Schlaffheit  oder  Relaxation  der  Muskeln, 
die  die  letzteren  wie  überdehnte  elastische  Stränge  erscheinen  lässt. 
Sie  fühlen   sich  abnorm  weich  an,  die  tastende  Hand  findet  nicht 


1)  Man  hat  guten  Grund,  anzunehmen,  dass  ein  sogenannter  reflectori- 
scher  Tonus  besteht,  d.  h.  dass  die  durch  die  Dehnung  der  Muskeln  bewirkte 
Erregung  der  sensorischen  Muskelnerven  direct  eine  gewisse  Erregung  der  mo- 
torischen Nerven  und  damit  eine  gewisse  Contraction  des  Muskels  bewirkt.  (Vgl. 
Fig.  11.)  —  Die  Stärke  des  Tonus  ist  wechselnd,  sie  nimmt  im  Laufe  des  Lebens 
ab,  sie  kann  unter  pathologischen  Verhältnissen  vermehrt  oder  vermindert  sein, 
und  ob  dies  der  Fall  ist.  hat  die  Untersuchung  zu  prüfen.  Verminderung  des 
Tonus  nmss  Erschlaffung,  Steigerung  muss  vermehrte  Spannung  des  Muskels  be- 
wirken. Die  Erfahrung  hat  ergeben,  dass  das  Verhalten  der  Sehnenreflexe  im 
Allgemeinen  parallel  geht  dem  des  Tonus,  dass  in  der  Regel  die  Lebhaftigkeit 
jener  direct  proportional  ist  dem  Grade  dieses. 


Spannung'zustaud  der  Muskeln.  61 

mehr  den  elastischen  Widerstand  des  gesunden  Muskels,  die  normale 
Haltung-  der  Glieder  fehlt. 

Finden  passive  Bewegungen  erhöhten  Widerstand  und  ist  die 
Resistenz  des  Muskels  vermehrt,  so  spricht  man  von  erhöhter 
S p a n n u n g  oder  Spannung  schlechtweg,  Starrheit  oder  Rigidität 
der  Muskeln.  Meist  macht  sich  die  Spannung  dem  Kranken  selbst 
als  ein  Gefühl  der  Steifheit  geltend.  Nimmt  die  Spannung  zu,  so 
geht  sie  allmählich  in  Conti' actur  über.  Diese  ist  charakterisirt 
durch  Aufhebung  der  passiven  Beweglichkeit,  Vorspringen  des  ver- 
kürzten Muskels  und  die  durch  Annäherung  der  Ansatzpunkte  be- 
wirkte Deformität. 

Rigidität  und  Contractur  können  bewirkt  sein  entweder  durch 
Contraction  oder  durch  Schrumpfung  des  Muskels.  Im  ersteren  Falle 
spricht  man  von  Krampf,  Spasmus,  spastischer  Rigidität, 
spastischer  oder  activer  Contractur,  im  letzteren  von  pas- 
siver Rigidität,  beziehungsweise  Contract  u  r.  Die  letztere 
wieder  wird  als  p  a  r  a  1  y  t  i  s  c  h  e  C  o  n  t  r  a  c  t  u  r  bezeichnet,  wenn  durch 
dauernd  eingehaltene  Stellungen  in  Folge  von  Lähmung,  von  Er- 
krankung der  Gelenke  u.  s.  w.  die  Muskeln,  deren  Ansatzpunkte  da- 
bei genähert  worden  waren,  sich  verkürzt  haben,  als  myopathische 
Contractur,  wenn  es  sich  um  primäre  Schrumpfung  des  Muskels 
durch  entzündliche  Veränderungen  oder  im  Verlaufe  degenerativer,  bez. 
primärer  Atrophie  handelt.  Da  in  allen  Muskeln,  deren  Ansatzpunkte 
einander  dauernd  genähert  sind,  peripherische  Veränderungen  eintreten, 
die  passive  Verkürzung  bewirken,  muss  zu  jeder  activen  Contractur 
mit  der  Zeit  die  passive  hinzukommen.  In  praxi  stellt  sich  daher 
Contracturen  gegenüber  die  Frage  oft  dahin,  ob  nur  passive  Con- 
tractur besteht,  oder  ob  ausser  dieser  auch  spastische  Phänomene 
sich  finden.  Die  Unterscheidung  beider  Formen  von  Contractur  kann 
schwierig  sein.  Im  Allgemeinen  findet  man  bei  spastischen  Phäno- 
menen einen  elastischen,  bei  passiver  Verkürzung  des  Muskels  einen 
todten  Widerstand.  Wird  die  active  Contractur  durch  passive  Be- 
wegungen, die  hier  nicht  schmerzlich  zu  sein  brauchen,  überwunden, 
so  schnellt  das  Glied,  sobald  der  Zwang  nachlässt,  wie  eine  Stahl- 
feder in  die  frühere  Lage  zurück.  Die  passive  Contractur  überwinden 
passive  Bewegungen,  die  zuweilen  sehr  heftigen  Schmerz  verursachen 
und  dann,  wenn  sie  sonst  nöthig  sind,  in  der  Narkose  ausgeführt 
werden  müssen,  natürlich  auch  bei  entsprechender  Kraft,  der  Unter- 
sucher  aber  hat  dabei  das  Gefühl,  als  ob  er  einen  Stab  aus  Blei  oder 
Kupfer  böge,  und  die  Wirkung  ist  eine  mehr  oder  weniger  dauernde. 
Die  active  Contractur  ist  variabel,   die  passive  nicht.    Reizungen 


62 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


der  Muskeln,  Seimen,  wohl  auch  der  Haut,  (Drücken,  Zerren,  Fara- 
disiren.  rasche  Abkühlung  u.  s.  w.)  steigern  den  Spasmus.  Dieser 
ist  daher  abends  stärker  als  früh.  Er  wird  nicht  selten  von  Zuckungen 
unterbrochen,  die  bei  plötzlichen  Dehnungen  der  Muskeln  u.  s.  w. 
eintreten.  Besonders  brüske  Bewegungsversuche  steigern  die  Span- 
nung, während  sanfte  Bewegungen  sie  nicht  selten  überwinden.  Im 
warmen  Bade,  wo  das  verminderte  specifische  Gewicht  Zerrungen 
der  Muskeln  erschwert,  nimmt  die  Starre  ab  und  die  vorher  unbe- 
Aveglichen  Glieder  geben  oft  vorsichtigen  Bewegungsversuchen  nach. 
Im  Schlafe  nimmt  ebenfalls  die  active  Contractur  ab,  in  tiefer  Chloro- 
formnarkose  endlich  verschwindet  sie  ganz.    Die  passive  Contractur 

dagegen  ist  von  äusseren 
Umständen  unabhängig, 
sie  ändert  sich  nur  inso- 
fern, als  sie  entsprechend 

den  Schrumpfungsvor- 
gängen  im  Muskel  lang- 
sam zu-  oder  abnimmt. 
Die  activen.  durch 
Contraction  verursachten 
Spannungen  und  Con- 
tracturen  zerfallen  wieder 
in  2  Klassen.  Die  einen 
stellen  die  Steigerung  des 
reflectorischen  Muskel- 
tonus dar,  nur  für  sie  be- 
nutzt man  am  besten  die 
Ausdrücke  Spasmus,  spa- 
stische Phänomene  u.  s.  w. 
Bei  den  anderen  handelt  es  sich  entweder  um  vermehrte  willkürliche 
Spannung,  oder  um  directe  Reizung  motorischer  Fasern,  oder  um 
einen  reflectorischen  Krampf  mit  Benutzung  des  weiteren  Reflex- 
bogens.  Letzteres  ist  so  zu  verstehen:  der  kürzeste  oder  engste 
Reflexbogen  (vgl.  Fig.  11)  verbindet  die  empfindlichen  Theile  des 
Muskels,  beziehungsweise  der  Fascie  und  Sehne  mit  der  motorischen 
Bahn.  Handelt  es  sich  um  Reizung  anderer  empfindlicher  Theile, 
besonders  der  Haut,  so  muss  eine  andere  Bahn  HhvM  (vgl.  Fig.  12) 
oder  die  Bahn  HhpavM,  bei  welch  letzterer  die  Verbindung  zwischen 
p  und  a  im  Gehirn  stattfindet,  eintreten.  Bei  willkürlichen  Bewe- 
gungen liegt  das  Yerbindungstück  zwischen  p  und  a  wahrscheinlich 
in  der  Hirnrinde,  bei  unwillkürlichen  Bewegungen,  die  auf  Hautreize 


Fis-,  12. 


Schema  des  Keflexbogens  von  Haut  zu  Muskel.    H  =  Haut, 

ss  =  sensorischer  Hautnerv.    Die  übrigen  Bezeichnungen 

■wie  bei  Fig.  11. 


»  Spannungzustand  der  Muskeln.  63 

antworten,  in  tieferen  Hirntheilen.  Man  beobachtet  nun  nicht  selten 
Mnskelspannungen  bei  schmerzhaften  Erkrankungen  der  Haut  u.  s.w., 
die  bald  willkürlich,  bald  unwillkürlich  oder  reflectorisch  sind  und 
bei  denen  wahrscheinlich  die  Bahn  HhpavM  benutzt  wird. 

Auf  welche  Weise  eine  active  Spannung*  oder  Contractur  ent- 
standen ist.  lässt  sich  ihr  schwer  ansehen.     In  der  Prüfung*  der 
s.dmenrehVxe  aber  besitzen  wir  ein  überaus  wichtiges  Mittel,  um  den 
( iharakter  erhöhter  Muskelspannung  zu  beurtheilen.  Deren  Steigerung 
nämlich  begleitet  die  Spannung  nur  dann,  wenn  der  Muskeltonus  ge- 
steigert ist.  wenn  spastische  Phänomene  im  engeren  Sinne  vorliegen. 
Die  Steigerung  der  Sehnenreflexe  macht  schon  die  geringsten 
Grade  spastischer  Eigidität  kenntlich,  lässt,  wo  passive  Bewegungen 
noch  keinen  deutlichen  Widerstand  finden,  das  Eintreten  der  Eigidität 
voraussehen  und  wird  endlich  von  besonderem  Nutzen  in  den  Fällen, 
wo  die  oben  erwähnte  Combination  activer  und  passiver  Contractur 
besteht,  wo  die  Schrumpfung  des  Muskels  durch  dauernde  refiecto- 
rische  Contraction  verursacht  worden  ist.  Zeigt  eine  Contractur  Eigen- 
schaften der  passiven  und  sind  doch  die  Sehnenreflexe  gesteigert, 
so  ist  zu  schliessen,  dass  es  sich  ursprünglich  um  active  Contractur 
handelte  und  dass  erst  secundär  zu  dieser  sich  peripherische  Ver- 
änderungen gesellt  haben.    Sind  die  Sehnenreflexe  nicht  gesteigert, 
vielmehr  vermindert  oder  aufgehoben,  so  kann  (abgesehen  von  den 
seltenen  Fällen,  in  denen  die  Sehnenreflexe  durch  centrale  Verände- 
rungen aufgehoben  sind)  entweder  passive  Contractur  bestehen  oder 
Contraction.    die    durch   Reizung   von  m,  von  H,  ss,  p  verursacht 
ist  (vgl.  Fig.  12).    Denn  auch  bei  der  willkürlichen  oder  bei  der 
durch  Hautreize  verursachten  unwillkürlichen   Spannung   sind   die 
Sehnenreflexe  nicht  gesteigert.    Zu  bemerken  ist  noch,  dass  man  sich 
durch  ein  scheinbares  Fehlen  der  Sehnenreflexe  nicht  täuschen  lassen 
darf.     Wenn  nämlich  beim  Spasmus  die  Muskeln  ad  maximum  con- 
trahirt  sind,  kann  natürlich  das  Beklopfen  der  Sehnen  keine  weitere 
Contraction  verursachen.. 

Die  Untersuchung  hat  weiter  zu  prüfen,  welche  Muskeln  sich 
in  erhöhter  Spannung  befinden,  und  auch  aus  der  Verbreitung  der 
Eigidität  lässt  sich  ein  Schluss  auf  ihre  Natur  ziehen.  Die  passive 
Contractur  beschränkt  sich  entsprechend  den  Bedingungen  ihrer  Ent- 
stehung meist  auf  einzelne  Muskeln  oder  Muskelgruppen.  Die  active 
dagegen  pflegt  sich  bei  allen  Muskeln  eines  G-liedes  geltend  zu  machen, 
ergreift  auch  die  Antagonisten,  so  dass  die  Beweglichkeit  sowohl 
nach  der  einen  als  nach  der  anderen  Richtung  gehemmt  ist.  Frei- 
lich pflegt  auch   die  active  Contractur  in   der   einen  Muskelgruppe 


64 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


stärker  zu  sein  als  in  der  anderen,  liier  in  den  Beugern,  dort  in  den 
Streckern,  und  demgemäss  finden  wir  das  Glied  bald  in  Beugestellung, 
bald  in  Streckstellung  fixirt.  Immer  aber  findet  auch  bei  Streck- 
contractur  die  passive  Beugung  Widerstand,  und  umgekehrt  sind  die 
Sehnenreflexe  in  den  Beugern  gesteigert  wie  in  den  Streckern. 

Sind  die  Muskeln  einer 
Körperhälfte  contracturirt,  so 
spricht  man  wohl  von  Hern i- 
eon.trac.tur,  sind  nur  die 
Muskeln  eines  Gliedes  befallen, 
von  Monocontractur. 


Fig.  13. 


Da  Verminderung  der  nor- 
malen Muskelspannung  wesent- 
lich nur  durch  Herabsetzung, 
beziehungsweise  Erlöschen  der 
Sehnenreflexe  zu  erkennen  ist, 
wird  ihr  Torkommen  und  ihre 
Bedeutung  im  Abschnitt  Eeflex- 
erregbarkeit  besprochen.  Das 
Gleiche  gilt  von  den  Zuständen 
vermehrter  activer  Muskel- 
spannung, die  mit  Steigerung 
der   Sehnenreflexe    verbunden 


Linksseitige  Hemiplegie  mit  Contractur  (nach  der Icono-    .  -,~.. 

graphie   de  la   Salpetriere    von    Bourneville    und    ISt.        Die     paSSIVe     C/OUtraCtlir 

ist  stets  eine  secundäre  Er- 
scheinung und  bietet  keinen  Anhalt  zu  diagnostischen  Schlüssen  auf 
den  Sitz  der  primären  Läsion. 

Besondere  Erwähnung  verdienen  noch  zwei  Formen  vermehrter 
Muskelspannung.  Den  spastischen  Erscheinungen  ist  wahrscheinlich 
die  katalep tische  Starre  zur  Seite  zu  stellen.  Man  versteht 
darunter  einen  Zustand,  wo  alle  Muskeln  eines  Gliedes  passiven  Be- 
wegungen einen  gleichmässigen,  geringen  Widerstand  entgegensetzen 
und  die  Glieder  jede  ihnen  ertheilte  Stellung  durch  längere  Zeit  be- 
wahren. Man  nennt  diesen  Zustand  auch  ..wächserne  Biegsamkeit 
(Flexibilitas  eerea)".  Das  Wesentliche  dabei  scheint  zu  sein,  dass 
der  Contractionzustand  der  rigiden  Muskeln  kein  gleichbleibender 
ist.  sondern  je  nach  der  verschiedenen  Stellung  des  Gliedes  derart 
wechselt,  dass  der  Einfluss  der  Schwere  eben  überwunden  wird.  Offen- 
bar handelt  es  sich  dabei  um  den  Ausdruck  seelischer  Zustände. 


Motilität.    Lähmung. 


65 


Anders  stellt  sich  die  Rigidität  bei  Paraljrsis  agitans  dar. 
Hier  entwickelt  sich  ganz  allmählich  an  der  Mehrzahl  der  Muskeln 
eine  gewisse  Starrheit,  die  die  einzelnen  Theile  in  bestimmten 
Stellungen  fixirt.  ziemlich  leicht  durch  passive  Bewegungen  über- 
wunden werden  kann,  aber  immer  in  der- 
selben Weise  wiederkehrt.  Diese  Rigidität 
verursacht  eine  charakteristische  Körper- 
haltung (vgl.  Fig.  14).  Die  Sehnenreflexe 
sind  nicht  gesteigert, 

III.  Die  Motilität. 

a.  Lähmung. 

Unter  Lähmung  verstehen  wir  das 
Unvermögen  eines  oder  mehrerer 
Muskeln,  sich  auf  den  ihnen  ad- 
äquaten Reiz  hin  in  normaler 
Weise  zu  verkürzen.  Lähmung 
w  i  1 1  k  ü  r  1  i  c  h  e  r  M  u  s  k  e  1  n  bedeutet  dem- 
nach Unfähigkeit,  durch  den  Willen 
contrahirt  zu  werden,  oder  Auf- 
hebung  der  willkürlichen  Beweg- 
lichkeit durch  eine  Erkrankung 
des  activen  Bewegungsapparates. 
Nicht  zur  Lähmung  rechnen  wir  die  Stö- 
rungen der  Beweglichkeit,  die  durch  Er- 
krankung der  Gelenke,  Bänder  u.  s.  w. 
verursacht  werden.  Von  Lähmung  eines 
Nerven  kann  man  nur  in  dem  Sinne  reden, 
dass  die  von  ihm  versorgten  Muskeln  ge- 
lähmt seien,  will  man  Störung  oder  Auf- 
hebung der  Function  eines  Nerven  be- 
zeichnen, so  bedient  man  sich  besser  des  Ausdrucks  Läsion  oder 
eines  ähnlichen.  Setzt  man  zu  dem  Worte  Lähmung  ein  zweites,  so 
will  man  damit  den  Sitz  oder  die  Ursache  der  Erkrankung  bezeichnen, 
so  heisst  Muskellähmung  Lähmung  durch  Erkrankung  des  Muskels. 
Nerven-,  Rückenmark-,  Gehirnlähmung  Lähmung  durch 
Erkrankung  des  Nerven,  Rückenmarks,  Gehirns,  so  spricht  man  von 
Bleilähmung  u.  s.  w. 

Im  weitesten  Sinne  bezeichnet  man  als  Lähmung  jede  Vermin- 
derung der  Beweglichkeit  im  oben  erläuterten  Sinne,  demnach  alle 

Mö Mus,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  5 


Fig.   14. 

Charakteristische  Haltung  des 

Körpers  bei  Paralysis  agitans   (nach 

Strümpell). 


66  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Stufen  zwischen  Schwäche  und  Bewegungsunfähigkeit.  Letztere,  die 
Aufhebung  der  willkürlichen  Beweglichkeit  oder  Motilität,  ist  die 
Lähmung  im  engeren  Sinne.  Paralysis,  Akinesis,  die  ver- 
schiedenen Grade  der  Schwäche  nennt  man  Paresis,  Hypoki- 
nesis,  oder  man  unterscheidet  auch  vollständige  und  unvoll- 
ständige Lähmung,  Paralysis  completa.  incompleta.  In 
anderem  Sinne  gebraucht  man  das  Wort  total,  z.  B.  heisst  eine 
Facialislähmung  total,  wenn  alle  Gesichtsmuskeln  gelähmt  sind,  com- 
plet  aber,  wenn  die  gelähmten  Gesichtsmuskeln  ganz  bewegungs- 
unfähig sind. 

Der  Paralysis  totalis  s.  universalis  steht  die  Paralysis 
partialis  s.  circumscripta  gegenüber.  Ist  die  Lähmung  auf 
rechte  oder  linke  Körperhälfte  beschränkt,  so  spricht  man  von  Hemi- 
plegie, die  total  ist,  wenn  die  ganze  Körperhälfte  gelähmt  ist,  par- 
tiell, wenn  etwa  nur  Gesicht  und  Arm  oder  Arm  und  Bein  gelähmt 
sind.  Im  Gegensätze  zur  totalen  Hemiplegie  spricht  man  auch  von 
Monoplegie,  damit  nicht  Lähmung  eines  Muskels,  sondern  eines 
Gliedes  meinend.  Hat  die  Lähmung  beide  Körperhälften  ergriffen, 
so  heisst  sie  Paraplegia  (oder  Dipl egia)  und  zwar  Paraplegia 
c  r  u  r  a  1  i  s  oder  P  a  r  a  p  1  e  g  i  e  schlechtweg,  wenn  beide  Beine. 
Paraplegia  brachialis,  wenn  beide  Arme  gelähmt  sind.  Dem- 
nach sind  auch  die  Ausdrücke  Hemiparesis,  Paraparesis  ver- 
ständlich. Hemiplegia  cruciata  s.  altern  ans  bedeutet,  dass 
bestimmte  Theile  links  und  andere  Theile  rechts  gelähmt  sind,  z.  B. 
die  Glieder  links,  das  Gesicht  rechts  oder  Glieder  und  Gesicht  links. 
Augenmuskeln  rechts.  Der  Ausdruck  Hemiplegia  cruciata  wird  im 
engeren  Sinne  für  den  Fall  gebraucht,  dass  der  Arm  der  einen,  das 
Bein  der  anderen  Seite  gelähmt  ist. 

Weiter  giebt  man  der  Lähmung  Beiworte  je  nach  dem  Zustande 
der  gelähmten  Muskeln.  Man  spricht  von  atrophischer  oder  von 
pseudohypertrophischer  Lähmung.  Man  nennt  eine  Lähmung 
spastisch,  wenn  der  Tonus  der  Muskeln  gesteigert  ist,  Rigidität 
oder  active  Contractur  besteht;  man  nennt  sie  schlaff,  wenn  die 
Muskehl  nicht  gespannt  oder  relaxirt  sind. 

Die  Untersuchung  auf  Lähmung  besteht  wesentlich  darin,  dass 
man  den  Kranken  auffordert,  bestimmte  Bewegungen  zu  machen, 
und  aus  dem  Functionsdefect.  wo  ein  solcher  sich  findet,  auf  die 
Ausbreitung  der  Lähmung  schliesst.  Dazu  muss  man  wissen,  welche 
Function  die  einzelnen  Muskeln  haben  und  welche  Störung  durch 
ihren  Ausfall,  beziehungsweise  ihre  Schwächung  entsteht.  Im  II.  Theile 
findet  man  hierüber  Ausschluss.     Ausser  der   mangelnden  Beweg- 


Motilität.    Lähmung.  67 

liclikeit  belehrt  oft  Lage  oder  Haltung  der  Theile  über  Lähmung. 
Auf  diese  Kennzeichen  ist  man  zum  Theil  bei  bewusstlosen  Kranken 
und  in  gewissem  Grade  auch  bei  kleinen  Kindern  angewiesen.  Bei 
Kranken  z.  B.,  die  in  Folge  eines  apoplektischen  Insultes  be- 
wusstlos  sind,  pflegen,  wenn  Hemiplegie  besteht,  die  gelähmten  Glieder 
schlaffer  zu  sein  als  die  gesunden,  in  die  Höhe  gehoben  und  losge- 
lassen fallen  sie  wie  todt  herab,  während  die  gesunden  Glieder  lang- 
samer herabsinken  und  ihre  natürliche  Lage  mehr  oder  weniger  be- 
wahren. Die  gelähmte  Wange  pflegt  bei  der  Einathmung  einge- 
sunken zu  sein  und  durch  die  Ausathmung  wie  ein  Segel  aufgeblasen 
zu  werden,  der  gelähmte  Mundwinkel  steht  tiefer,  oft  fliesst  der 
Speichel  aus  ihm.  In  selteneren  Fällen  sind  die  Muskeln  der  ge- 
lähmten Seite  gespannt,  wie  bei  der  späten  Contractur  der  Hemi- 
plegischen,  und  man  erkennt  an  dem  krankhaften  Widerstände,  den 
passive  Bewegungen  finden,  die  Hemiplegie.  Nach  den  weiter  unten 
zu  besprechenden  Regeln  kann  auch  das  Verhalten  der  Reflexe  bei  be- 
wusstlosen Kranken  zum  Nachweis  von  Lähmung  verwerthet  werden. 
Handelt  es  sich  nur  um  Parese,  so  ist  ihr  Grad  annähernd  zu 
bestimmen.  Es  ist  anzugeben,  ob  die  zu  prüfende  Bewegung  bis  zu 
ihrem  Ende  geführt  werden  kann,  z.  B.  ob  der  Rectus  ext.  das  Auge 
bis  in  den  äusseren  Lidwinkel  bewegt,  ob  die  Bewegung  rasch  oder 
nur  langsam  möglich  ist,  ob  sie  stetig  oder  unter  Zittern  zu  Stande 
kommt,  welchen  Widerstand  sie  überwinden  kann.  Von  besonderer 
Wichtigkeit  ist  der  letztere  Punkt.  Man  stellt  dem  zu  untersuchen- 
den Muskel  einen  veränderlichen  Widerstand  entgegen  und  hat  in 
der  Grösse  des  überwundenen  Widerstandes  ein  Maass  der  Kraft. 
Der  beste  Kraftmesser  ist  die  Hand  des  Untersuchers, 
wenn  sie  die  nöthige  Uebung  besitzt.  Zwar  ist  das  Resultat  nicht 
in  Zahlen  auszudrücken,  aber  dieser  Nachtheil  ist  gering,  da  gerade 
hier  Zahlen  nur  einen  beschränkten  Werth  haben.  Durch  wiederholte 
Prüfung  der  Verhältnisse  bei  Gesunden  und  Kranken  gelingt  es  ziem- 
lich bald,  sich  ein  Urtheil  zu  verschaffen  über  die  Kraftleistung,  die 
man  von  den  verschiedenen  Muskeln  zu  erwarten  hat.  Bei  keiner 
Untersuchung  der  Motilität  sollte  die  Kraftprüfung  versäumt  werden, 
denn  diese  dient  nicht  nur  zur  Beurtheilung  des  Grades  der  Schwäche, 
sondern  oft  entdeckt  man  durch  sie  Paresen,  die  sonst  unbemerkt 
bleiben.  Zur  Messung  des  Händedruckes  dient  das  als  Dynamo- 
meter bezeichnete  Instrument  (vgl.  Fig.  15,  S.  68).  Der  Zeiger  giebt 
die  Zahl  der  Kilogramme  an,  die  dem  Drucke  entspricht.  Man  fordert 
den  Kranken  auf,  das  Instrument  in  die  Hand  zu  nehmen,  so  dass 
die  Finger  es  bequem  und  sicher  umfassen,  und  bei  gestrecktem 


68  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Arme,  ohne  Stossbewegung  des  Armes,  es  rasch  und  kräftig*  zu- 
sammenzudrücken. Ist  die  Haut  der  Hohlhand  sehr  empfindlich,  so 
kann  man  den  Metallbogen  mit  Gummi  oder  Zeugstoffen  umwickeln. 
Man  beobachtet  den  Zeiger  während  des  Drückens  und  hat  nicht 
nur  darauf  zu  achten,  wie  weit  der  Zeiger  vorrückt,  sondern  auch 
darauf,  wie  lange  der  Kranke  im  Stande  ist,  den  maximalen  Druck 
auszuüben.  Dabei  muss  man  wissen,  dass  erst  nach  Ueberwindung 
der  anfänglichen  Ungeschicklichkeit  die  höchste  Zahl  erreicht  wird, 
dass  bei  rasch  hintereinander  folgenden  Prüfungen  auch  bei  Gesunden 
ziemlich  bald  Ermüdung  eintritt,  dass  an  den  verschiedenen  Tages- 
zeiten die  Kraftleistung  nicht  ganz  dieselbe  ist  (nach  Buch  ist  sie 
früh  am  geringsten,  steigt  nach  dem  Frühstück,  erreicht  nach  dem 
Mittagessen  das  Maximum,  sinkt  dann  etwas,  steigt  gegen  Abend 
an,  nimmt  während  der  Nacht  ab). 


Fig.  15. 
Dynamometer. 

Das  Dynamometer  ist  besonders  bei  einseitigen  Erkrankungen 
und  dann  brauchbar,  wenn  es  gilt,  bei  wiederholten  Untersuchungen 
sich  über  Zu-  oder  Abnahme  der  Schwäche  zu  unterrichten. 

Um  die  Kraft  der  Beine  zu  messen,  kann  man  verschiedene  Vor- 
richtungen anwenden.  Pitr  es  legte  Duchenne's  Dynamometer  in  die 
Kniekehle  und  liess  den  Unterschenkel  kräftig  beugen.  E.  Fried- 
länder wandte  die  in  Fig.  16  und  17  abgebildeten  Apparate  an. 
Keiner  von  ihnen  hat  weitere  Verbreitung  gefunden. 

Pitr  es  fand  als  Durchschnittswerthe  bei  Männern  für  die  rechte  Hand 
49  Kgr.,  für  die  linke  44  Kgr.,  bei  Frauen  29,  beziehungsweise  26  Kgr. 
Demange  nennt  als  Durchschnittszahl  bei  Siebzigjährigen  40  Kgr.  Fried- 
länder fand  (an  älteren,  schwächlichen  Individuen)  bei  Männern  für  das 
rechte  Bein  35  Kgr.  (Streckung)  und  39  Kgr.  (Beugung),  für  das  linke 
Bein  37  Kgr.  (Streckung)  und  41  Kgr.  (Beugung),  bei  Frauen  entsprechend 
25  und  29,  26  und  30  Kgr. 

Ich  fand  bei  der  Untersuchung  von  30  annähernd  gesunden  Männern 
im  Alter  von  25 — 55  Jahren  als  Durchschnittszahl  für  die  rechte  Hand 
63  Kgr.,  für  die  linke  Hand  74  Kgr.    Das  üeberwiegen  der  linken  Hand 


Motilität.    Lähmung. 


69 


war  bei  der  ersten  Prüfung  nahezu  constant,  glich  sich  aus  bei  fort- 
gesetzter Uebung.  An  15  über  80  Jahre  alten  gesunden  Männern  erhielt 
ich  für  die  rechte  Hand  42  Kgr.,  für  die  linke  38  Kgr. 

Zu  unterscheiden  ist  die  durch  Lähmung-  verursachte  Verminde- 
rung- der  Motilität  von  der  durch  Krämpfe  oder  Contracturen  oder 
Ankylosen  u.  s.  w.  verursachten.  Das  Verhalten  gegen  passive  Be- 
wegungen entscheidet.  Nur  wo  Lähmung'  neben  den  eben  genannten 
anderen  Zuständen  besteht,  kann  die  Diagnose  schwer  sein.  Der 
Ernährungzustand  der  Muskeln,  das  Verhalten  gegen  elektrische  und 
mechanische  Reize  können  dann  zuweilen  auf  den  rechten  Weg  leiten. 
Hier  und  da  wird  die  Entscheidung  unmöglich  sein. 


Fig.  16. 


Fig.  17. 


Parese  ist  ferner  zu  unterscheiden  von  Ataxie,  worauf  unten 
eingegangen  wird. 

Gelegentlich  kann  auch  die  durch  Anästhesie  verursachte  Stö- 
rung der  Beweglichkeit  Lähmung  vortäuschen.  Bewegungstörungen 
durch  Anästhesie  treten  nicht  ein,  so  lange  das  Auge  die  Bewegungen 
überwacht.  Erst  nach  Ausschluss  des  Auges  wird  die  Motilität  ge- 
stört. Dies  Verhalten  wird  Verwechselung  mit  Lähmung  verhindern 
(vgl.  Abschnitt:  Anästhesie). 

Endlich  kann  Bewegungslosigkeit  entstehen,  wenn  die  Bewe- 
gungen heftigen  Schmerz  verursachen,  die  Kranken  halten  dann  un- 
willkürlich still  und  folgen  der  Aufforderung  zu  Bewegungen  nicht. 
Unter  Umständen  kann  dann  die  Untersuchung  nur  in  der  Narkose 
ausgeführt  werden.  

Lähmung  entsteht,  wenn  an  irgend  einer  Stelle  die  motorische 
Bahn  ganz  oder  theüweise  unterbrochen  ist.  Die  Läsion  muss  dann 
einen  bestimmten  Sitz  haben  und  man  spricht  von  organischer 


70 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


Lähmung.  Dieser  stellt  man  gegenüber  die  functionelle  oder 
seelische  Lähmung,  bei  der  die  motorische  Bahn  unbeschädigt 
ist,  seelische  Zustände  aber  den  Willen  hemmen.  Wir  fassen  zu- 
nächst die  Localisation  der  organischen  Lähmung  ins  Auge  und  wer- 
den später  die  Diagnose  der  functionellen  Lähmung  besprechen. 


Fig.  18. 

Schema  der  Willensbahn  zu  Gesicht,  Arm  und  Bein. 
B  =  BeinLahn,  A  =  Armbahn,  G  =  Gesichtsbahn,  o  =  Kern,  beziehungsweise  Vorderhorn. 

Die  Willensbahn  zerfällt  in  zwei  Abschnitte.  Der  erste  beginnt 
mit  den  Ganglienzellen  der  motorischen  Theile  der  Hirnrinde  und 
umfässt  die  cerebralen  und  spinalen  P3Tamidenbahnen ,  der  zAveite 
beginnt  mit  den  Ganglienzellen  der  Yorderhörner  (Nervenkerne)  und 
umfässt  den  peripherischen  Theil  der  Bahn  zu  den  Muskeln.  Eine 
Läsion  des  ersten  Abschnittes,  gleichgültig  wo  innerhall)  derselben 


Motilität.    Lähmung.  71 

ihr  .sitz,  bewirkt  centrale  Lähmung,  eine  Läsion  des  zweiten 
bewirkt  peripherische  Lähmung',  innerhalb  der  man  herkömm- 
licher Weise  die  Kernlähmung  und  die  im  engeren  Sinne  periphe- 
rische Lähmung  unterscheidet. 

DieUnterscheidun g\d e r  p eripherische n  (und  der  Keru- 
lähmung)  von  der  centralen  Lähmung  kann  sich  gründen  auf 
die  Verbreitung-  der  Lähmung-  oder  auf  begleitende  Symptome.  Der 
Grad  der  Lähmung-  ist  ohne  wesentliche  Bedeutung-,  da 
er  begreiflicher  Weise  nicht  sowohl  von  der  Localisation  als  von  der 
Stärke  der  Läsion  abhängt.  Nur  für  die  durch  Erkrankung  der 
Gehirnrinde  verursachten,  die  sogenannten  corticalen  Lähmungen, 
ist  es  in  gewissem  Grade  charakteristisch,  dass  sie  fast  immer  nur 
Paresen  darstellen.  Die  grossen  Bewegungen  können  mit  leidlicher 
Kraft  ausgeführt  werden,  dagegen  sind  alle  feineren  Bewegungen,  bei 
denen  Präcision  und  Geschicklichkeit   erfordert  werden,  unmöglich. 

Jede  individuelle  Lähmung,  d.  h.  jede  Lähmung,  bei 
der  nur  bestimmte  Muskeln  oder  Muskelgruppen  ge- 
lähmt sind,  ist  fast  immer  durch  peripherische  Läsion 
oder  durch  Läsion  der  Kerne  (Vorderhörner)  entstanden. 
Centrale  Lähmungen  sind  diffus,  es  sind  alle  Muskeln  eines 
Gliedes  oder  wenigstens  Gliedabschnittes  gelähmt,  und  wenn  auch 
oft  genug  die  einen  Muskeln  schwerer  betroffen  sind  als  die  anderen, 
z.  B.  die  Strecker  mehr  als  die  Beuger,  so  kommt  doch  nie  das  In- 
tactsein  einzelner  Muskeln  innerhalb  des  Gebietes  der  Lähmung  vor. 
Diese  Regel  ist  durch  die  Erfahrung  bewährt  für  das  Gebiet  der 
Spinalnerven,  sie  erleidet  vielleicht  für  einige  Hirnnerven  Einschrän- 
kungen, worauf  später  eingegangen  wird.  Denkbar  wäre  es,  dass 
einzelne  centrale  Elemente  lädirt  würden,  dass  centrale  individuelle 
Lähmungen  vorkämen,  die  Erfahrung  aber  weiss  von  ihnen  nichts. 
Höchstens  sieht  man  bei  kleinen  Emden  Verletzungen,  dass  die  Beweg- 
lichkeit einiger  Finger  mehr  behindert  ist,  als  die  der  anderen.  Die 
Eegel  darf  natürlich  nicht  umgekehrt  werden,  denn  Lähmung  en  masse 
kann  auch  durch  peripherische  Läsion  entstehen,  wenngleich  dies 
nicht  gerade  häufig  ist. 

Von  den  diffusen  Lähmungen  sind  sicher  centraler  Natur  die 
hemiplegischen ,  d.  h.  Lähmung  einer  Körperhälfte,  oder  einer  Ge- 
sichtshälfte und  eines  Armes,  oder  eines  Armes  und  eines  Beines. 
Monoplegien  sowohl,  als  Paraplegien  können  centraler  Natur  sein, 
brauchen  es  aber  nicht  zu  sein. 

Symmetrie  der  Lähmung  lässt  keinen  sicheren 
Schluss  auf  die  Localisation  der  Läsion  zu,  denn  begreif- 


72  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

licher  Weise  können  Kernläsionen  symmetrische  Lähmungen  ebenso- 
wohl wie  centrale  Läsionen  bewirken  und  erfahrungsgemäss  können 
auch  Erkrankungen  gemischter  Nerven  symmetrisch  auf  beide  Seiten 
vertheilt  sein.  Immerhin  wird  Symmetrie  der  Lähmung  ceteris  pari- 
bus  für  eine  Läsion  an  der  Stelle  sprechen,  wo  die  für  symmetrische 
Theile  bestimmten  Fasern  zusammenliegen,  d.  h.  im  G-ehirn  oder 
Rückenmark,  oder  auch  in  den"  vorderen  Wurzeln. 

Vorhandensein  der  Entartungsreaction  ist  fast  stets 
die  Wirkung  einer  peripherischen  oder  einer  Kernläsion. 
Man  hat  zwar  neuerdings  einigemale  partielle  Entartungsreaction 
bei  cerebraler  Lähmung  gefunden,  doch  ist  ein  solches  Vorkommen 
wohl  eine  grosse  Seltenheit  und  in  praxi  kann  man  sich  immerhin 
an  die  Eegel  halten.  Sie  darf  nicht  umgekehrt  werden,  denn  einmal 
kommen  leichte  Läsionen  des  Nervenstammes  ohne  EaR  sehr  oft  vor, 
zum  andern  fehlt  die  EaR  fast  stets  bei  Lähmungen  durch  einfache 
Muskelatrophie,  und  drittens  ist  bei  gewissen  Kernläsionen  die  EaR 
nicht  immer  nachzuweisen.  Bei  spinaler  progressiver  Muskelatrophie, 
bei  progressiver  Bulbärparalyse  und  bei  amyotrophischer  Lateral- 
sklerose handelt  es  sich  darum,  dass  die  Zellen  des  Kerns  (Vorder- 
horns)  eine  nach  der  anderen  absterben.  Es  muss  demnach  eine 
Anzahl  Nerven-  und  Muskelfasern  in  degenerativer  Atrophie  be- 
griifen  sein;  diese  befinden  sich  aber  verstreut  zwischen  noch 
gesunden  Fasern.  Nur  wo  gleichzeitig  eine  grössere  Zahl  atrophi- 
render  Fasern  sich  findet,  gelingt  es  der  elektrischen  Untersuchung, 
die  EaR  nachzuweisen.  In  der  Regel  ist  dies  schwer,  misslingt  dem 
weniger  Geübten  fast  stets  und  oft  ist  es  gar  nicht  möglich.  Auch 
da,  wo  EaR  sich  findet,  zeigt  die  Mehrzahl  der  kranken  Muskeln 
nur  einfache  Verminderung  der  Erregbarkeit. 

Bei  diffuser  Lähmung  lässt  diffuse  Atrophie  nur 
dann  auf  peripherische  Läsion  schliessen,  wenn  EaR 
besteht.  Das  Fehlen  von  Atrophie  bei  diffuser  Lähmung  macht 
die  centrale  Natur  wahrscheinlich,  macht  sie  nahezu  sicher,  wenn 
die  Lähmung  schon  längere  Zeit,  etwa  einen  Monat  besteht.  Periphe- 
rische Lähmungen  ohne  Atrophie  kommen  nämlich  nur  bei  leichter 
Läsion  vor  und  pflegen  nach  einigen  Wochen  wieder  verschwunden 
zu  sein. 

Das  Vorhandensein  individueller  Atrophie  macht 
jederzeit  die  Existenz  einer  peripherischen  oder  einer 
K  e  r  n  1  ä  s  i  o  n  w  a  h  r  s  c  h  e  i  n  1  i  c  h. 

Das  Vorhandensein  der  Sehnenreflexe  bei  completer 
Lähmung  beweist  die  centrale  Natur  der  Läsion.    Jede 


Motilität.    Lähmimg.  73 

spastische  Lähmung  setzt  eine  centrale  Läsion  voraus. 
Eine  scheinbare  Ausnahme  von  dieser  Regel  könnte  beobachtet  wer- 
den, wenn  bei  peripherischer  Parese  die  Reflexerregbarkeit,  sei  es 
durch  peripherische  Reize,  sei  es  nach  Art  der  Strychninvergiftung, 
beträchtlich  gesteigert  wäre.  Doch  findet  sich  dann  die  Steigerung 
der  Reflexe  nicht  im  Gebiete  der  Lähmung,  ist  z.  B.  nicht,  wenn 
der  Triceps  gelähmt  ist,  der  Tricepsreflex  gesteigert.  Bisher  sind  nur 
einige  Fälle  verbreiteter  peripherischer  Neuritis  bekannt,  wo  die  Sehnen- 
reflexe gesteigert  waren,  es  bestanden  in  ihnen  nur  Paresen  und  die 
Muskeln,  die  durch  Beklopfen  der  Sehnen  zu  lebhafter  Contraction  ge- 
bracht werden  konnten,  waren  nicht  gelähmt.  Auch  sind  derartige 
Fälle  so  selten,  dass  sie  in  praxi  vernachlässigt  werden  dürfen. 

Das  Fehlen  der  Sehnenreflexe  kommt  zwar  viel  häufiger  bei 
peripherischer  Läsion  als  bei  centraler  vor,  beweist  aber  an  sich 
nichts.  Die  Sehnenreflexe  können  nämlich  auch  durch  centrale 
Läsion  aufgehoben  werden.  Sie  fehlen  manchmal  beim  plötzlichen 
Eintritte  einer  Gehirnerkrankimg,  nach  schweren  epileptischen  An- 
fällen, nach  starken  Insulten  verschiedener  Art,  unter  noch  nicht 
genügend  bekannten  Umständen  bei  Gehirngeschwülsten  (besonders 
Kleinhirngeschwülsten).  Ferner  scheinen  die  Sehnenreflexe  bei  einer 
das  Rückenmark  ganz  vom  Gehirn  abtrennenden  Läsion  zu  erlöschen. 
Endlich  hat  man  in  einzelnen  Fällen  bei  Compression  des  Markes 
Erlöschen  der  Reflexe  beobachtet.  Bei  dem  durch  Shock  erklär- 
baren Fehlen  der  Reflexe  kehren  diese  nach  verhältnissmässig  kurzer 
Zeit  zurück.  In  den  anderen  Fällen  (gewisse  Hirntumoren,  voll- 
ständige Durchtrennung  des  Markes,  Compression)  fehlen  sie  dauernd. 
Es  ist  demnach  nicht  zulässig,  aus  dem  Fehlen  der  Sehnenreflexe 
allein  auf  eine  Unterbrechung  des  Reflexbogens  und  damit  auf  eine 
im  weiteren  Sinne  peripherische  Läsion  zu  schliessen. 

Eine  Läsion,  die  den  motorischen  Nerven  oder 
ausschliesslich  den  Kern  (nicht  zugleich  die  Pyramiden- 
balin)  trifft,  verursacht  jederzeit  eine  schlaffe  Lähmung 
und  lässt,  sobald  sie  die  Leitungsfähigkeit  aufhebt,  die  Sehnen- 
reflexe verschwinden.  Doch  lässt  sich  das  Fehlen  der  Sehnen- 
reflexe für  die  Diagnose  der  Lähmung  nur  dann  verwenden,  wenn 
nachgewiesen  ist,  dass  sie  mit  dem  Eintritte  der  Lähmung  ver- 
schwunden sind,  oder  wenn  bei  einseitiger  Lähmung  die  Sehnen- 
reflexe auf  der  nicht  gelähmten  Seite  erhalten  sind.  Fehlen  der 
Sehnenreflexe  kann  nämlich  auch  durch  Läsion  des  aufsteigenden 
Schenkels  des  Reflexbogens  oder  des  Verbindungsstückes  zwischen 
diesem   und   der  motorischen   Ganglienzelle  bewirkt  werden.     Die 


74  Untersuchung'  des  Bewegttngsapparates. 

Selmenreflexe  können  dalier  auch  vor  dem  Eintritte  der  Lähmung 
gefehlt  haben.  Wenn  z.  B.  ein  Tabeskranker,  bei  dem  das  Knie- 
phänomen  fehlt,  eine  Hemiplegie  bekommt,  besteht  centrale  Lähmung 
mit  Fehlen  der  Sehnenreflexe. 

Bei  Paresen  scheint  sich  die  Sache  so  zu  verhalten:  Die  Sehnen- 
reflexe  können  erhalten  bleiben,  so  lange  eine  Anzahl  von  Muskel- 
fasern in  normaler  Weise  iimervirt  wird,  sie  verschwinden  aber, 
sobald  auch  nur  in  der  leichtesten  Weise  die  G-esammtheit  der  moto- 
rischen Elemente  lädirt  ist.  Wenn  z.  B.  im  M.  quadrieeps  die  Hälfte 
Muskelfasern,  sei  es  durch  einfache  musculäre  Atrophie,  sei  es  durch 
Erkrankung  eines  Theiles  der  Cruralrsfasem,  sei  es  durch  Erkrankung 
eines  Theiles  der  Yorderhornzellen  gelähmt  ist,  die  andere  Hälfte  aber 
gesund  ist.  wird  Parese  mit  erhaltenem  Kniephänomen  vorhanden 
sein.  Wenn  aber  alle  Fasern  des  X.  cruralis  einem  massigen  Drucke 
ausgesetzt  werden,  so  wird  bei  vielleicht  ganz  geringer  Parese  das 
Kniephänomen  fehlen. 

So  erklärt  es  sich,  dass  auch  bei  Paresen  mit  partieller  Entartungs- 
reaction  die  Selmenreflexe  erhalten  sein  können.  Wieviel Nerv-Muskel- 
Elemente  intact  sein  müssen,  ist  nicht  mit  Bestimmtheit  zu  sagen. 

Das  Vorhandensein  der  Hautreflexe  bei  completer 
Lähmung  beweist  die  centrale  Läsion.  Im  Uebrigen  sind 
die  aus  dem  Verhalten  der  Hautreflexe  zu  ziehenden  Schlüsse  noch 
unsicherer  als  die  auf  die  Selmenreflexe  gegründeten.  Das  Fehlen 
der  Hautreflexe  ist  mit  Vorsicht  zu  deuten,  sie  fehlen  zum  Theil 
auch  bei  centraler  Läsion  vermöge  der  sogenannten  Beflexhemmung. 
können  natürlich  auch  durch  Läsion  der  centripetalen  Bahn  aufge- 
hoben sein.  Bei  peripherischen  Paresen  pflegen  die  Hautreflexe  dem 
Grrade  der  Schwäche  entsprechend  herabgesetzt  zu  sein. 

Krämpfe  gelähmter  Muskeln  lassen  nur  dann  auf  eine  centrale 
Läsion  schliessen,  wenn  eine  directe  Reizung  der  motorischen  Nerven 
unterhalb  der  Läsionstelle  ausgeschlossen  werden  kann.  Näheres 
wird  später  bei  der  Localisation  der  Krämpfe  beigebracht  werden. 

Fibrilläre  Zuckungen  begleiten  in  der  Regel  die  degene- 
rative Atrophie,  besonders  bei  Vorderkornerkraiikung.  und  sind,  da 
sie  bei  einfacher  Atrophie  zu  fehlen  pflegen,  von  einer  gewissen 
diagnostischen  Wichtigkeit.  Doch  darf  man  nicht  vergessen,  dass 
einmal  nicht  ausnahmelos  bei  jeder  degenerativen  Atrophie  die  fibril- 
lären  Zuckungen  sich  zeigen,  dass  sie  andererseits  gelegentlich  auch 
da  vorkommen,  wo  keine  organische  Läsion  besteht. 

Sensorische,  vasomotorische  Störungen  sind  für  die 
Unterscheidung  zwischen  peripherischer  und  centraler  Lähmung  ohne 


Motilität.    Lähmung.  75 

wesentliche  Bedeutung,  die  diagnostische  Verwerthung  solcher  Stö- 
rungen wird  später  besprochen  werden. 

Nach  alledem  sind  die  Hauptkennzeichen  der  centralen  Läh- 
mung :  diffuse  Lähmung',  Fehlen  der  individuellen  Atrophie,  qualitativ 
normale  elektrische  Erregbarkeit,  Erhaltensein  oder  Steigerung  der 
Sehnenreflexe,  beziehungsweise  spastische  Phänomene;  die  der  peri- 
pherischen und  der  Kernlähmung:  individuelle  Lähmung  und  Atro- 
phie,  Vorhandensein  der  Entartungsreaction ,  Fehlen  der  Kenexe. 
Eigentlich  pathognostisch  ist  kein  Zeichen.  Immer  kommt  es  auf 
die  Gruppirung  im  einzelnen  Falle  an;  die  allgemeine  Besprechung 
bleibt  immer  ungenügend. 

Bestehen  gleichzeitig  eine  peripherische  und  eine  centrale  Läsion, 
so  kann  die  letztere  nur  unter  bestimmten  Umständen  erkannt  werden. 
Besteht  z.B.  innerhalb  des  Gebietes  centraler  Lähmung  eine  Zone  mit 
degenerativer  Atrophie,  zeigen  etwa  einige  Muskeln  einer  gelähmten 
Körperhälfte  coniplete  Entartungsreaction,  wie  es  bei  Neuritis  der 
Hemiplegischen  vorkommt,  so  wird  die  Diagnose  nicht  schwer  sein,  es 
muss  ausser  der  cerebralen  Läsion  eine  peripherische  bestehen.  Bei  Be- 
sprechung der  Localisation  centraler  Läsion  werden  einzelne  Combi- 
nationen  Erwähnung  finden.  Decken  sich  aber  die  Gebiete  der  Läh- 
mung, so  wird  in  der  Eegel  die  peripherische  Läsion  die  centrale 
verdecken.  Ist  z.  B.  die  Cauda  equina  zerstört,  so  muss  eine  etwa 
vorhandene  Läsion  des  unteren  Kückenmarkendes  unerkannt  bleiben. 
Sind  die  Vorderhornzellen  vollkommen  degenerirt,  so  kann  eine  Er- 
krankung der  centralen  Pyramidenbahnen  keine  Symptome  machen. 
Ist  jedoch  die  peripherische  Unterbrechung  der  motorischen  Bahn  nur 
eine  partielle,  sind  z.  B.  die  Vorderhörner  nur  zum  Theil  erkrankt,  so 
kann  die  centrale  Läsion,  die  Degeneration  der  Pyramidenbahn,  an 
der  Steigerung  der  Sehnenreflexe  und  der  Kigidität  erkannt  werden. 
In  den  Fällen,  wo  bei  der  anatomischen  Untersuchung  Degeneration 
der  centralen  Pyramidenbahn  und  der  Vorderhörner  gefunden  wurde, 
fehlten  neben  der  atrophischen  Lähmung  die  spastischen  Phänomene 
bald  ganz,  bestand  bald  nur  Steigerung  der  Seimenreflexe,  bald 
Rigidität  oder  Contractur.  Wie  das  Krankheitsbild  sich  gestaltet, 
das  hängt  wohl  ab  einerseits  von  dem  Stärkeverhältnisse  zwischen 
Seitenstrang-  und  Vorderhornerkrankung,  andererseits  von  dem  zeit- 
lichen Verhältnisse  beider,  derart,  dass  bei  starker  und  frühzeitiger 
Erkrankung  der  centralen  Bahnen  die  spastischen  Erscheinungen 
deutlich  sind.  Es  besteht  dann  spastische  Lähmung  mit 
Atrophie  und  in  der  Kegel  mit  partieller  Entartungs- 
reaction. 


76  Untersuchung  des  Bewegnngsäpparates. 

Die  genauere  Legalisation  der  peripherischen  Läh- 
mung und  besonders  die  Unterscheidung  zwischen  Kern- 
lähmung und  peripherischer  Lähmung  im  engeren  Sinne 
ist  oft  sehr  leicht,  kann  aber  auch  schwer  oder  unmöglich  werden. 

Den  wichtigsten  Fingerzeig  entnehmen  wir  dem  Vor- 
handensein oder  Fehlen  sensorischer  Störungen.  Das 
erster e  gestattet  sowohl  ein  rein  musculäres  Leiden  als  eine  iso- 
lirte  Erkrankung  der  vorderen  grauen  Substanz  oder  der  vorderen 
Wurzeln  endgültig  anszuschliessen.  Demnach  kann  besonders  eine 
sogenannte  Poliomyelitis,  d.  h.  eine  auf  die  Yorderhörner  beschränkte 
Entzündung,  oder  eine  primäre  Degeneration  der  Yorderhornzellen 
nicht  angenommen  werden,  sobald  stärkere  Schmerzen,  Hyperästhesie, 
Anästhesie  nachgewiesen  sind.  Das  Fehlen  aber  sensorischer  Stö- 
rungen gestattet  einen  positiven  Schluss  auf  Yorderhornerkrankung 
nicht,  denn  abgesehen  von  rein  musculären  Affectionen  und  isolirten 
Erkrankungen  der  vorderen  Wurzeln  kommen  wahrscheinlich  nicht 
allzu  selten  Fälle  vor,  wo  die  motorischen  Fasern  der  gemischten 
Nerven  primär  und  isolirt  erkranken,  Fälle,  deren  Typus  die  ge- 
wöhnliche Bleilähmung  ist.  Wir  sind  demnach  bei  der  Localisation 
peripherischer  Lähmungen  ohne  Sensibilitätstörung  auf  anderweite 
Unterscheidungsmerkmale  angewiesen. 

Aus  der  Ausbreitung  der  Lähmung' kann  man  nur  dann 
einen  sicheren  Schluss  ziehen,  wenn  die  Lähmung  alle  von  Einem 
Nerven  versorgten  Muskeln  trifft.  Dann  kann  man  die 
Läsion  mit  Sicherheit  in  diesen  Nerven  selbst  verlegen, 
denn  schon  im  Plexus  und  in  den  vorderen  Wurzeln  ist  die  Gruppi- 
rung  der  Fasern  eine  andere.  Alle  anderen  Schlüsse  aus  der  Ver- 
theüung  der  Lähmung  sind  unsicher.  E.  Remak  hat  darauf  hinge- 
wiesen, dass  Lähmung  einer  Gruppe  fimctionell  zusammengehörender 
Muskehi  am  leichtesten  durch  eine  Läsion  bestimmter  Territorien 
der  Yorderhörner  zu  Stande  kommen  könne,  da  in  diesen  Avahr- 
scheinlich  die  Ganglienzellen  fimctionell  verbundener  Muskeln  bei 
einander  liegen.  Er  hat  verschiedene  Typen  spinaler  atrophischer 
Lähmung  aufgestellt.  Dem  Oberarnitypus ,  bei  dem  hauptsächlich 
Deltoideus.  Biceps,  Brach,  int.,  Supin.  long,  gelähmt  sind,  soll  eine 
Vorderhornläsion  im  oberen  Theile  der  Halsanschwellung  entsprechen. 
Dem  Yorderarmtypus,  bei  dem  wie  bei  der  Bleilähmung  die  Strecker 
der  Hand  und  der  Finger  leiden,  die  Supinatoren  verschont  werden, 
soll  eine  Läsion  im  mittleren  Theile  der  Halsanschwellung  zu  Grunde 
liegen.  Bei  Lähmung  der  kleinen  vom  Ulnaris  und  Med.  versorgten 
Handmuskeln  soll  der  unterste  Theil  des  Halsmarkes  in  der  Höhe 


Motilität.     Lähmung:.  77 

des  achten  Hals-  und  ersten  Brustnerven  betroffen  sein.  Bei  Läh- 
mung- des  Cruralisgebietes  wird  oft  der  M.  sartorius  verschont,  leidet 
dagegen  oft  der  M.  tib.  ant.  mit,  bei  Lähmung  des  Unterschenkels 
bleibt  der  Tibialis  oft  frei,  während  er  andererseits  oft  allein  er- 
krankt. I  »emeiitsprechend  soll  der  Kern  des  Tib.  ant,  in  der  Nähe 
des  Cruraliskernes  im  mittleren  Abschnitt  des  Lendenmarkes  liegen, 
während  in  der  unteren  Hälfte  desselben  der  Sartoriuskern  neben 
der  Kernregion  des  Ischiadicus  zu  vermuthen  ist.  Aber  Remak 
selbst  hat  hervorgehoben,  dass  auch  Läsionen  der  vorderen  Wurzeln 
und  naheliegenden  Plexusabsclmitte  ähnliche  Lähmungen  bewirken 
(z.  B.  Läsion  des  fünften  und  sechsten  Halsnerven  am  Erb'schen 
Punkte  den  Überarmtypus).  Ausserdem  ist  nachgewiesen,  dass  die 
Bleilähmimg  durch  Erkrankung  der  peripherischen  Radialiszweige 
entstehen  kann.  Andere  Thatsachen  machen  es  wahrscheinlich,  dass 
auch  in  anderen  Fällen  die  Lähmung  functionell  verbundener  Muskeln 
nicht  durch  spinale,  auch  nicht  durch  Plexusläsionen  zu  entstehen 
braucht,  sondern  dass  die  Function  selbst,  die  besondere  Anstrengung 
gemeinsam  arbeitender  Muskeln,  die  individuelle  Erkrankung  ihrer 
Nervenzweige  bewirken  oder  wenigstens  vorbereiten  kann. 

Dass  eine  rein  motorische  peripherische  Lähmung  nicht  spinaler 
Natur  ist.  kann  unter  Umständen  der  Verlauf  beweisen.  Wenn 
nämlich  eine  solche  Lähmung,  die  complet  und  von  Entartungsreaction 
begleitet  war,  heilt,  so  war  sie  sicher  extraspinaler  Natur.  Es  muss 
dann  die  motorische  Bahn  zerstört  gewesen  sein,  dass  aber  eine  Re- 
generation von  intraspinalen  Fasern  und  Zellen  nicht  existirt,  ist 
hinlänglich  festgestellt. 

Die  Diagnose  einer  isolirteu  Vorderhornerkrankung  ist  demnach 
schwierig.  Wir  haben  bis  jetzt  nur  dann  das  Recht,  sie  als  sicher  hin- 
zustellen, wenn  das  ganze  Krankheitsbild  einer  klinisch  und 
anatomisch  gesicherten  Vorderhornerkrankung  entspricht,  Als 
solche  kommen  hauptsächlich  in  Betracht:  die  acute  Polionryelitis 
uud  die  spinale  progressive  Muskelatrophie.  Jene  ist  gekennzeichnet 
durch  plötzlichen  Beginn  (mit  Fieber,  oft  mit  Krämpfen)  einer  mehr 
oder  weniger  ausgebreiteten,  oft  functionell  verbundene  Muskelgrup- 
pen  befallenden  Lähmung.  Die  Lähmung  nimmt  nach  Ablauf  des 
acuten  Stadium  wieder  ab,  die  dauernd  gelähmten  Muskeln  aber 
werden  rasch  atrophisch  und  zeigen  (meist  complete)  EaR.  Stö- 
rungen der  Sensibilität  oder  der  Sphincteren  fehlen  gänzlich.  Die 
Betroffenen  sind  meist  Kinder,  selten  Erwachsene. 

Der  spinalen  progressiven  Muskelatrophie  ist  eigentümlich  die 
schleichende  Entwickelung  annähernd  symmetrischer  Atrophie,  die 


78  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

fast  immer  in  den  kleinen  Handmuskeln,,  seltener  in  den  Schulter- 
mnskeln  beginnt,  von  fibrillären  Zuckungen,  gewöhnlich  von  (meist 
partieller  und  nur  hier  und  da  nachweisbarer)  EaE  begleitet  ist.  Stö- 
rungen der  Sensibilität  und  der  Sphincteren  fehlen  gänzlich.  Die  Be- 
troffenen sind  Erwachsene.  Von  der  spinalen  Muskelatrophie  trennen 
Manche  die  chronische  Poliomyelitis.  Diese  soll  rascher  verlaufen 
als  jene  und  es  soll  bei  ihr  die  Lähmung  dem  Schwunde  vorausgehen. 
Können  wir  nicht  eine  dieser  Krankheiten  annehmen,  so  mag  zwar 
die  Vermuthuiig  einer  isolirten  Vorderhornerkrankung  gerechtfertigt 
sein,  eine  bestimmte  Diagnose  aber  ist  nicht  möglich. 

Die  Unterscheidung  rein  musculärer  Lähmungen  von  peripheri- 
schen Nervenläsionen  kann  ebenfalls  Schwierigkeiten  machen.  Bei 
jenen  entspricht,  soviel  wir  wissen,  meist  der  Grad  der  Lähmung 
dem  der  Atrophie,  sind,  so  lange  eine  gewisse  Menge  gesunder  con- 
tractiler  Substanz  vorhanden  ist,  die  Eeflexe  erhalten,  fehlt  die  Ent- 
artungsreaction  ebenso  wie  die  sensorischen  Störungen.  Bei  diesen 
wird  in  der  Eegel  die  Lähmung  grösser  sein  als  die  Atrophie,  wird 
Atrophie  ohne  nachweisbare  Entartungsreaction  kaum  vorkommen, 
werden,  wenigstens  in  der  Eegel,  sensorische  Störungen  vorhanden 
sein,  fehlen,  sobald  die  Atrophie  irgend  erheblich  ist,  die  Eeflexe. 
Ausser  der  einfachen  Muskelatrophie,  die  der  Dystrophia  muscul. 
progr.  eigen  ist,  und  deren  Diagnose  durch  die  typische  Verbreitung 
der  Atrophie,  durch  ätiologische  Momente,  kurz  durch  den  Charakter 
des  ganzen  Krankheitsbildes  erleichtert  wird,  kommen  besonders  die 
Atrophie  der  Muskeln  bei  Gelenkkrankheiten,  vielleicht  auch  manche 
nach  festen  Verbänden  sich  zeigende  Lähmungen  und  Atrophien  in 
Betracht.  Für  die  articulären  Atrophien  ist  ausser  dem  Nachweise 
der  Gelenkerkrankung  und  der  Beschränkung  der  Atrophie  auf  peri- 
articuläre  Muskeln  die  beträchtliche  einfache  Herabsetzung  der  elek- 
trischen Erregbarkeit  ohne  jede  Andeutung  von  EaE  charakteristisch. 
Dies  gilt  auch  von  den  nach  festen  Verbänden  beobachteten  Läh- 
mungen. Die  Polymyositis  endlich  und  die  Trichinose  sind  durch 
Beginn  und  Verlauf  von  den  meisten  Lähmungsformen  getrennt. 
Man  könnte  sie  nur  mit  einer  acuten  multiplen  Neuritis  verwechseln : 
das  Fehlen  aller  Sensibilitätstörungen,  das  starke  Oedem,  der  Nach- 
weis der  Trichinen  bei  Trichinose  werden  meist  den  Irrthum  aus- 
schliessen. 

Die  Existenz  von  sensorischen  Störungen  neben  einer  Lähmung 
mit  den  Kennzeichen  der  peripherischen  Läsion  wird  in  weitaus  den 
meisten  Fällen  mit  Eecht  als  Beweis  für  Erkrankung  der  gemischten 
Nerven  angesehen  werden.    Zunächst  muss  jedoch  betont  werden, 


Motilität.    Lähmung.  79 

da ss  initiale  Schmerzen  massiger  »Stärke,  die  nur  den  Eintritt 
der  Lähmung  begleiten,  keinerlei  loealdiagnostische  Bedeutung  be- 
sitzen. Sie  sind  auch  bei  erwiesenen  Kernlähmungen  beobachtet 
worden.  Stärkere  und  andauernde  Schmerzen,  deutliche  Hyper- 
ästhesie, deutliche  Parästhesien  und  Anästhesie  zwingen,  die  Läsion 
an  einen  Ort  zu  verlegen,  wo  motorische  und  sensorische  Fasern  von 
ihr  getroffen  werden.  Denkbar  sind  drei  Fälle :  Läsion  der  gemisch- 
ten Nerven,  Läsion  der  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  durch  eine 
intravertebrale,  aber  extraspinale  Erkrankung,  Läsion  der  vorderen 
und  hinteren  Hörner  durch  eine  auf  die  graue  Substanz  des  Rücken- 
markes beschränkte  Erkrankung.  Zwischen  diesen  drei  Fällen  zu 
entscheiden,  wird  in  der  Regel  möglich  sein. 

Bei  gleichzeitiger  Läsion  der  vorderen  und  hinteren  Wurzeln 
werden  wir  sowohl  auf  beide  Körperhälften  vertheilte  heftige  Schmer- 
zen und  Parästhesien,  Hyperästhesie  der  Haut  und  Muskeln  und  dann 
Anästhesie,  als  motorische  Reizerscheinungen  und  später  atrophische 
Lähmungen  mit  EaR  zu  erwarten  haben,  wohl  nie  werden  heftiger 
Rückenschmerz  in  der  Höhe  der  Läsion,  Empfindlichkeit  und  Steifig- 
keit des  betroffenen  Abschnittes  der  Wirbelsäule  fehlen.  Die  Aetio- 
logie,  der  Verlauf,  die  objectiven  Erscheinungen  eines  Wirbelleidens 
u.  s.  w.  werden  dann  die  Diagnose,  sei  es  auf  eine  Meningitis,  eine 
Spondylitis,  eine  Tumorbildung,  lenken. 

Eine  auf  die  vordere  und  hintere  graue  Substanz  beschränkte 
Läsion,  die  bei  der  Syringomyelie  oder  Gliomatosis  spinalis  und  bei 
der  seltenen  centralen  Rückenmarkblutung  vorkommt,  muss  neben 
degenerativer  Atrophie  Parästhesien  und  Anästhesie  bewirken. 
Hyperästhesie  und  Schmerzen  sind  gewöhnlich  nicht  vorhanden,  sie 
sind  nur  dann  zu  erwarten,  wenn  ausnahmeweise  der  Zerfall 
sich  bis  zu  den  hinteren  Wurzelfasern  erstreckt  oder  Druckwirkungen 
bestehen.  In  der  Regel  werden  beide  Körperhälften  erkrankt  sein 
und  die  motorischen  und  sensorischen  Symptome  örtlich  nicht  zu- 
sammenfallen, hier  diese,  dort  jene  auftreten,  bald  diese  verbreitet 
und  jene  umschrieben,  bald  umgekehrt  sich  zeigen.  Der  langsame, 
schmerzlose  Verlauf,  die  ausgedehnte,  meist  partielle,  aber  oft  beträcht- 
liche Sensibilitätstörung,  zu  der  Ernährungstörungen  sich  zu  gesellen 
pflegen,  die  umschriebene  Muskelatrophie,  die  sich  der  bei  Amyotrophia 
spinalis  gleich  verhält,  aber  einseitig  oder  unsymmetrisch  ist,  geben  in 
ihrer  Gesammtheit  ein  charakteristisches  Bild,  dessen  am  meisten  her- 
vortretende Züge  die  eigenthümliche  Anästhesie  (fast  immer  Thermo- 
analgesie)  und  die  trophischen  Störungen  sind.  Die  Symptome  der 
Leitungsunterbrechung ,  d.  i.  spastische  Parese  am  unteren  Körper- 


80  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

theile,  fehlen  oft.  können  aber  doch  auftreten,  sobald  die  Neubildung 
oder  der  Zerfall  die  Pyramidenbahnen  schädigt.  Am  häufigsten  findet 
sich  die  Glioniatosis  im  Halsmarke  und  bewirkt  dann  Atrophie  der 
Arme  mit  Thermoanalgesie  und  trophischen  Störungen.  Es  sind  aber 
auch  vielfache  andere  Combinationen  möglich,  z.  B.  totale  Anästhesie 
eines  Armes  mit  Aufhebung  der  Eeflexe  ohne  Lähmung,  Anästhesie 
des  Armes  auf  der  einen  Seite,  Muskelatrophie  auf  der  anderen  u.  s.  w. 

In  weitaus  den  meisten  Fällen,  in  denen  eine  Lähmung  mit  dem 
Charakter  der  peripherischen  Läsion  neben  sensorischen  Störungen 
besteht,  wird  es  sich  um  eine  Erkrankung  der  gemischten  Nerven 
handeln.  Sicher  ist  dies  natürlich  der  Fall,  wenn  die  Verbindung 
der  Lähmung  und  der  Sensibilitätstörungen  den  Bezirken  einzelner 
Nerven  entspricht.  Die  Diagnose  fordert  dann  nur  die  Kenntmss 
dieser  Bezirke  (vgl.  den  II.  Theil).  Meist  gelingt  es  auch,  zu  bestim- 
men, an  welcher  Stelle  des  Nerven  die  Läsion  zu  suchen  ist,  da 
begreiflicher  Weise  die  Bezirke  der  oberhalb  der  Läsion  abgehenden 
Aeste  unversehrt  sein  müssen.  Handelt  es  sich  nicht  um  die  Er- 
krankung eines  oder  einiger  Nerven,  sondern  um  eine  multiple  Er- 
krankung peripherischer  Nerven,  die  in  zerstreuten  Herden  auftritt, 
so  geben  zuweilen  einzelne  sensorische  Symptome  einen  Fingerzeig. 
Druckempfindlichkeit  der  Nerven  scheint  nur  bei 
Erkrankung  der  Nerven  selbst  vorzukommen.  Findet 
man  bei  peripherischen  Lähmungen  die  Nervenstämme  bei  der  Pal- 
pation schmerzhaft,  treten  bei  Druck  auf  sie  ausstrahlende  Empfin- 
dungen ein,  so  darf  man  eine  Neuritis  annehmen.  Noch  sicherer 
wird  die  Diagnose,  wenn  der  empfindliche  Nerv  sich  deutlich  ver- 
dickt oder  höckerig  zeigt.  Auch  Druckempfindlichkeit  der 
Muskeln  kommt  am  häufigsten  bei  Läsion  gemischter  Nerven  vor 
(ausserdem  bei  primärer  Muskelerkrankimg  und  bei  Wurzelläsion). 
Dies  Symptom  hat  deshalb  eine  besondere  Wichtigkeit,  weil  es  zu- 
weilen als  einzige  sensorische  Störung  bei  Erkrankungen  gemischter 
Nerven  aufzutreten  scheint  und  deshalb  bei  peripherischen  Läh- 
mungen, die  mit  Kernlähmungen  verwechselt  werden  könnten,  die 
Diagnose  erleichtert.  Es  ist  eine  bekannte  Thatsache,  dass  die  sen- 
sorischen Störungen  oft  viel  geringer  sind,  als  man  nach  der  Schwere 
der  motorischen  Störungen  erwarten  sollte.  Wie  dies  zu  erklären 
sei,  weiss  man  nicht  recht.  Man  sagt  gewöhnlich,  die  sensiblen 
Nerven  seien  widerstandsfälliger  gegen  manche  Schädlichkeiten, 
Druck  u.  s.  w.,  als  die  motorischen. 

Aus  der  Beschaffenheit  der  die  Lähmung  begleitenden  Anästhesie 
ist    ein   sicherer  Schluss    nicht    zu    ziehen,    zwar    spricht   complete 


Motilität.    Lähmung-.  81 

Anästhesie  ceteris  paribus  für  eine  periplierische  Läsion,  doch  kommen 
bei  dieser  auch  alle  möglichen  Formen  partieller  Anästhesie   vor 

(näheres  s.  bei  Anästhesie). 

Eine  gewisse  diagnostische  Bedeutung  hat  das  Oedem,  das  sich 
oft  bei  Neuritis  und  multipler  Nervendegeneration,  besonders  auf 
Hand-  und  Fussrücken,  zeigt,  bei  Kernläsionen  gewöhnlich  fehlt. 

Ernährungstörungen  der  Haut  u.  s.  w.,  die  die  Lähmung 
begleiten,  leisten  diagnostisch  nicht  mehr  als  die'  Anästhesie,  da 
sie  ohne  diese  sich  nicht  zeigen  und  wohl  oft  direct  von  ihr  ab- 
hängig sind. 

Bisher  ist  angenommen  worden,  dass  es  sich  um  eine  einheit- 
liche Läsion  handele,  sollte  es  sich  um  Läsionen  verschiedenen  Sitzes 
handeln,  sollte  z.  B.  neben  einer  Yorderhornerkrankung  eine  Degene- 
ration peripherischer  sensibler  Nerven  in  gleichem  Bezirke  bestehen, 
so  wird  eine  richtige  Diagnose  nicht  möglich  sein.  Wahrscheinlich 
kommt  eine  Combination  derart,  dass  dieselbe  Schädlichkeit  die  moto- 
rische Bahn  in  verschiedener  Höhe  lädirt,  sowohl  die  motorischen 
Rückenmarkzellen  als  primär  die  motorischen  Nerven  trifft,  nicht 
allzu  selten  vor.  Auch  sie  dürfte  nicht  zu  erkennen  sein.  Wohl 
aber  muss  man  an  ihre  Möglichkeit  denken,  wenn  die  Diagnose 
zwischen  Kern-  und  peripherischer  Läsion  schwankt.  — 

Zur  Localisation  einer  centralen  Lähmung  werden  wir 
hauptsächlich  benutzen  die  Ausbreitung  der  Lähmung,  begleitende 
peripherische  Lähmungen  und  sensorische  Symptome. 

Es  ist  ohne  Weiteres  ersichtlich  (vgl.  Schema  Fig.  18),  dass  eine 
Lähmung  einer  Körperhälfte  durch  eine  Läsion  nur  erfolgen  kann, 
wenn  diese  Läsion  ihren  Sitz  in  der  gegenüberliegenden  Hirnhälfte 
hat.  Die  Erfahrung  hat  ergeben,  dass  bei  Ausschaltung  einer  Hemi- 
sphäre nicht  eine  totale  und  complete  Lähmung  der  willkürlich 
beweglichen  Theile  der  anderen  Körperhälfte  eintritt,  sondern  dass 
nur  diejenigen  Theile  wirklich  gelähmt  werden,  die  willkürlich  ein- 
seitig bewegt  werden  können,  dass  dagegen  diejenigen  Theile,  die 
stets  nur  in  Gemeinschaft  mit  den  symmetrischen  Theilen  der  anderen 
Seite  bewegt  werden,  in  ihrer  Beweglichkeit  nicht  oder  doch  nur 
wenig  gestört  werden,  und  zwar  um  so  weniger,  je  weniger  sie  ein- 
seitiger Willkürbewegungen  fähig  sind.  Wird  also  die  Willensbahn 
einer  Hemisphäre  lädirt,  so  finden  wir  Lähmung  des  contralateralen 
Armes  und  Beines,  dagegen  Lähmung,  beziehungsweise  Parese  nur 
des  unteren  Facialisgebietes,  schwache  Parese'  der  Zungenhälfte,  der 
Rumpfhälfte,  keine  Lähmung  der  Augen-,  Kau-  und  Sprechmuskeln. 
In  der  Regel  ist  auch  die  Lähmung  des  Armes  stärker  als  die  des 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  6 


82  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Beines,  entsprechend  dem  Umstände,  dass  die  Beine  meist  gemeinsam 
fchätig  sind.  Diesen  Symptomencomplex :  Hemiplegie  der  Glieder  und 
der  unteren  Gesichtshälfte  (und  der  einen  Zungenhälfte)  bezeichnen 
wir  als  totale  Hemiplegie.  Ihm  entspricht  eine  Läsion  der 
anderen  Hirnhälfte  oberhalb  der  Stelle  in  der  Brücke,  wo  die  Facialis- 
bahn  sich  von  der  der  Glieder  trennt.  Wo  diese  Läsion  die  Willens- 
bahn getroffen  hat,  ergiebt  "sich  meist  aus  den  begleitenden  Er- 
scheinungen und  dem  Verlaufe.  Es  kann  sich  entweder  um  eine 
Läsion  der  Willensbahn  selbst  oder  um  eine  Läsion  in  deren  Um- 
gebung, die  sie  durch  Druck  oder  sonstwie  schädigt,  handeln.  Im 
ersteren  Falle  besteht  eine  directe  totale  Hemiplegie,  im  letzteren 
eine  indirecte.  Bei  indirecter  Hemiplegie  werden  alle  Schlüsse 
auf  die  Localität  der  Läsion  viel  unsicherer  sein  als  bei  directer. 
Man  wird  aber  jene  um  so  eher  annehmen  können,  je  stärker  die 
sog.  Allgemeinerscheinungen  sind,  unter  denen  die  Lähmung  eintrat 
(Bewusstseinsstörung  u.  s.  w.),  oder  die  neben  ihr  bestehen  (Stauungs- 
papille, Pulsverlangsamimg  u.  s.  w.),  man  wird  diese  diagnosticiren 
dürfen,  wenn  entweder  von  vornherein  die  Hemiplegie  ohne  stärkere 
Allgemeinerscheinungen  auftrat,  oder  seit  dem  Beginne  eine  längere 
Zeit  verflossen  ist,  und  zwar  wird  die  Diagnose  um  so  sicherer  sein, 
je  grösser  diese  Zeit  ist.  Eine  directe  totale  Hemiplegie  wird 
am  ehesten  von  einer  Läsion  der  Willensbahn  in  der 
inneren  Kapsel  oder  nahe  über,  beziehungsweise  unter 
dieser  Stelle  abzuleiten  sein  (vgl.  Fig.  20,  A).  Indirecte  Hemi- 
plegie wird  am  häufigsten  durch  eine  Läsion  der  der  inneren  Kapsel 
benachbarten  Stammganglien  bewirkt,  Läsionendes  Centrum 
ovale  und  der  Hirnrinde  bewirken  seltener  totale  Hemiplegie, 
da,  wenigstens  zur  Entstehung  einer  directen  Hemiplegie,  der  Herd 
eine  sehr  grosse  Ausdehnung  besitzen  muss  (vgl.  Fig.  20).  Man  wird 
eine  Erkrankung  dieser  Gegenden  annehmen  müssen,  wenn  die  Hemi- 
plegie allmählich  aus  Monoplegien  entstanden  ist,  erst  das  Bein, 
dann  der  Arm,  dann  das  Gesicht  gelähmt  worden  ist,  oder  umgekehrt. 
Eine  corticale  Läsion  wird  auch  durch  das  Bestehen  partieller 
Epilepsie,  rhythmischer  Zuckungen  und  anderer  Reizerscheinungen 
wahrscheinlich  gemacht.  Hemichorea  und  Hemiathetose  sollen  auch 
häufig  die  durch  Läsion  der  inneren  Kapsel  oder  deren  Umgebung 
entstandenen  Hemiplegien  begleiten.  Diese  Symptome  finden  sich 
besonders  dann  oft,  wenn  gleichzeitig  Hemianästhesie  besteht.  Die 
rechtseitige  totale  Hemiplegie  ist  meist  mit  Aphasie 
verbunden.  Meist  stellt  die  Aphasie  ein  indirectes  Symptom  dar 
und  verschwindet  nach  einiarer  Zeit.    Besteht  sie  dauernd  neben  der 


Motilität.    Lähmung-. 


83 


Hemiplegie,  so  ist  eine  Läsion  von  beträchtlicher  Ausdehnung  an- 
zunehmen, die  sowohl  die  motorische  Bahn  als  die  Gegend  des  Sprach- 
centrum trifft. 

Sitzt  die  Läsion  im  Hirnschenkel,  so  kann  sie  ausser  der 
Willensbahn  der  einen  Seite  auch  die  Fasern  des  N.  oculomotorius 
der  anderen  Seite  treffen  (vgl.  Fig.  19).  Es  deutet  demnach  totale 
Hemiplegie  mit  gekreuzter  (peripherischer)  Oculomotoriuslähmung 
auf  einen  Herd  im  Hirnschenkel.  Bei  Erkrankungen  der  Schädel- 
basis folgt  die  gekreuzte  Lähmung  oft  der  Oculomotoriuslähmung. 

Eine  Hemiplegie  ohne  Facialislähmung,  aber  mit 
Parese  der  Zungenhälfte  (Abweichen  der  herausgestreckten 
Zunge  nach  der  Seite  der  Lähmung, 
leichte  Articulationstörungen)  wird 
auf  die  Strecke  der  Willensbahn 
zu  beziehen  sein  zwischen  dem  Ab- 
gange der  Facialisbahn  und  dem 
der  Hypoglossusbahn  von  der  Py- 
ramidenbahn, d.  h.  auf  eine  Läsion 
in  der  Brücke  oder  der  oberen 
Hälfte  der  Oblongata.  Ein 
Blick  auf  Fig.  20  lehrt,  dass  halb- 
seitige Herde  im  oberen  Theile 
der  Brücke  totale  Hemiplegie  ver- 
ursachen können  (C),  Herde  im 
mittleren  und  unteren  Theile  Hemi- 
plegie ohne  Facialislähmung  (zwi- 
schen C  und  B)  oder  Hemiplegie 
mit  gekreuzter  Facialislähmung  (B). 

Im  letzteren  Falle,  bei  alt  er  nir  ender  Hemiplegie,  ist  die 
Facialislähmung  eine  Kern-  oder  peripherische  Lähmung,  hat  dem- 
nach die  Kennzeichen  der  peripherischen  Lähmung.  Hemiplegie 
mit  gekreuzter  Facialislähmung  beweist  eine  Läsion 
der  der  letzteren  gleichnamigen  Brückenhälfte.  Jenach 
dem  Sitze  des  Herdes  in  der  Brücke  kann  auch  eine  gekreuzte 
Trigeminus-  oder  Abducenslähmung  die  Hemiplegie  begleiten. 

Die  centrale  Bahn  der  Hirnnerven  verläuft  im  Hirnstamme  wahr- 
scheinlich nach  innen  von  der  Bahn  der  Glieder  (vgl.  Schema  Fig.  18). 
Es  ist  daher  begreiflich,  dass  halbseitige  Brückenherde,  die  die 
Mittellinie  etwas  überschreiten,  ausser  den  von  einer  Hemisphäre 
kommenden  motorischen  Fasern  zunächst  auch  die  Fasern  der  an- 
deren Hemisphäre  für  Gesicht  und  Zunge  treffen.    Es  muss  dann 

6* 


Fig.  19. 

Querschnitt  durch  den  Hirnschenkel  bei  secun- 
därer  Degeneration  der  rechten  Pyramidenbahn 
(nach  Charcof).  sn  Substantia  nigra,  p  Die 
degenerirte  und  deshalb  durchscheinende  Pyra- 
midenbahn.  III.  N.  oculomotorius.  AS  Aquae- 
ductus Sylvii. 


84 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


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Jf.spina'        y%!'  V:M 


Füj\  20. 


Schema  der  motorischen  Innervation!)  ahn  für  den  Facialis  und  die  Extremitätennerven. 
Frontalschnirt  durch  Grosshirn,  Hirnschenkel,  Brücke,  verlängertes  Mark  und  Rückenmark. 

(Nach  Edinger. ) 


Motilität.    Lähmung.  85 

Hemiplegie  mit  doppelseitiger  Facialis-  und  Hypoglossuslähmung  ent- 
stehen.  Letztere  aber  bewirkt,  auch  wenn  sie  nur  eine  Parese  ist, 
schwere  Störungen  der  Articulation.  So  erklärt  es  sich,  dass  Läsionen 
der  Brücke  häufig'  zu  Anarthrie  führen. 

Eine  Hemiplegie  der  Glieder  mit  gekreuzter  Lähmung 
des  Hypoglossus,  bez.  des  Vagoaccessorius,  wird  auf  eine  halb- 
seitige Läsion  der  Oblongata  oberhalb  der  Pyramidenkreuzung  zu 
beziehen  sein. 

Eine  Hemiplegie  der  Glieder  bei  gleichseitiger  peri- 
pherischer Hirnner  venlähmung  kann  nur  durch  eine  Läsion 
entstehen,  die  einen  Pyramidenstrang  nach  der  Kreuzung  und  die  Hirn- 
nerven  derselben  Seite  trifft,  demnach  ihren  Sitz  ausserhalbderOb- 
longata  hat  (Tumor,  bes.  Aneurysma  der  Art.  vertebralis).  Ist  die  Läh- 
mung- der  von  den  Hirnnerven  versorgten  Muskeln  doppelseitig,  so  wird 
sich  die  stärkere  Lähmung  auf  der  Seite  der  Gliederlähmung  finden. 

Hemiplegie  der  Glieder  ohne  Hirnnervenlähmung 
wird  man  mit  Wahrscheinlichkeit  durch  eine  Läsion  erklären,  die 
entweder  die  Willensbahn  da  trifft,  wo  die  Gliederbahnen  mit  der 
Gesichtsbahn  noch  nicht  nahe  zusammenliegen,  d.  h.  in  der  Hirn- 
rinde, beziehungsweise  im  Centrum  ovale,  oder  da,  wo  die  Bahnen 
der  Hirnnerven  sich  schon  von  denen  der  Glieder  getrennt  haben,  d.  h. 
unterhalb  der  Pyramidenkreuzung  (Hemipl.  spinalis,  s.  unten).  Hemi- 
plegie der  Glieder  kann  zwar  auch  durch  eine  umschriebene  Läsion 
der  inneren  Kapsel,  des  Hirnschenkels  oder  der  Brücke,  die  die 
Gesichtsbahn  verschont,  zu  Stande  kommen,  indessen  dürfte  diese 
Kntstehungsweise  selten  sein;  die  Symptome  würden  dieselben  sein 
wie  bei  einer  Gliederhemiplegie  durch  Läsion  des  Stabkranzes.  Eine 
Hemiplegie  der  Glieder  durch  Läsion  der  Centralwin- 
dungen,  bei  der  die  letztere  selbstverständlich  auf  der  der  Lähmung 
gegenüberliegenden  Seite  zu  suchen  ist,  wird  entweder  nicht  von 
Sensibilitätstörungen  begleitet  sein  oder,  wenn  diese  vorhanden  sind, 
finden  sie  sich  auf  derselben  Seite  wie  die  Lähmung.  Epileptische 
Anfälle  der  gelähmten  Glieder  werden  sich  häufig  zeigen.  Die 
partielle  Epilepsie  wird  seltener  die  Läsionen  des  Centrum  ovale 
begleiten,  auch  Sensibilitätstörungen  werden  sich  bei  den  letzteren 
seltener  finden  als  bei  der  entsprechenden  Eindenläsion. 

Die  Hemipl egia  spinalis,  eine  seltene  Erscheinung,  wird 
wohl  immer  durch  Läsion  einer  Hälfte  des  oberen  Halsmarkes  ent- 
stehen. Ihr  Characteristicum  ist  dann,  dass  sie  zugleich  mit  Anästhesie 
der  gegenüberliegenden  Glieder  auftritt:  Brown-Sequard'sche  Läh- 
mung (worüber  Näheres  bei  den  Monoplegien). 


86 


Untersuchung  des  Beweg-ungsapparates. 


AB    B'A' 


Man  spricht  auch  vou  Hemipleg'ia  cruciata,  d.  h.  Läh- 
mung' eines  Armes  und  des  gegenüberliegenden  Beines.  Diese 
äusserst  seltene  Combination  muss  durch  eine  Läsion  der  Pyramiden- 
kreuzung bewirkt  werden,  die  so  wirkt,  dass  sie  die  Fasern  für 
das  eine  Glied  vor,  die  für^  das  andere  nach  der  Kreuzung  trifft 
(vgl.  Fig.  21). 

Die  Form  der  partiellen  Hemiplegie,  wo  nur  Gesicht  und 
Arm  betroffen  sind,  entsteht  wohl  nur  durch  Läsionen  des 
Centrum  ovale  oder  der  Gehirnrinde,  es  handelt  sich  dann  sozusagen 
um  Combination  zweier  Monoplegien. 

Bei  allen  cerebralen  Hemiplegien  von  einer  ge- 
wissen Stärke  ist  auch  die  Kraft  der  nicht  gelähmten 
Glieder  vermindert,  und  zwar  ist  in  der  Kegel  das  ge- 
sunde Bein  mehr  geschwächt  als  der  ge- 
sund e  A  r  m.  Zuweilen  sind  beide  Beine,  wenigstens 
zum  Gehen  und  Stehen,  nahezu  gleich  unbrauchbar. 
so  dass  der  Anschein  einer  mit  Paraplegie  ver- 
bundenen Hemiplegie  entsteht,  obwohl  nur  eine 
Gehirnläsion  vorhanden  ist.  Dies  merkwürdige  Ver- 
halten erklärt  man  gewöhnlich  durch  Annahme 
einer  abnormen  Anordnung  der  Pyramidenbannen 
mit  Beziehung  auf  die  Thatsache,  dass  zuweilen 
bei  einseitigen  Gehirnherden  eine  doppelseitige 
secundäre  Degeneration  im  Rückenmark  gefunden 
worden  ist,  Eichtiger  ist  wohl  die  Annahme,  dass 
immer  jede  Hemisphäre  mit  beiden  Körperseiten 
durch  Commissurfasern  in  Verbindung  steht. 

Ein  mit  der  Hemiplegie  gleichzeitig  eintreten- 
der tonischer  Krampf  der  dem  Willen  entzogenen  Glieder,  die  so- 
genannte f  r  ü  h  z  e  i  t  i  g  e  H  e  m  i  c  o  n  t  r  a  c  t  u  r ,  deutet  auf  eine  Reizung 
der  Willensbahn  unterhalb  der  Stelle  der  Läsion,  ist  demnach  als 
Krampf,  nicht  als  Steigerung  des  Muskeltonus  aufzufassen.  Diese 
Form  der  Hemicontractur  begleitet  fast  nur  schwere,  rasch  tödtliche 
Formen  des  apoplektischen  Insultes  und  ist  meist  auf  einen  Durch- 
brach der  Blutung  in  den  Seitenventrikel  zu  beziehen. 

Später  auftretende  active  Gontracturen,  die  durch  abnorme 
Steigerung  des  reflectorischen  Tonus  zu  erklären  sein  dürften,  lassen 
ebensowenig  wie  die  neben  ihnen  meist  bestehenden  passiven  Con- 
tracturen  auf  einen  bestimmten  Ort  der  Läsion  schliessen,  sie  können 
sich  bei  jeder  centralen  Unterbrechung  der  Willensbahn  zeigen  und 
<js  ist  nicht  bekannt,  wovon  es  abhängt,  dass  sie  in  dem  einen  Falle 


Schema  der  Hemiplegia 

cruciata. 
A  =  rechtsseitige  Arm- 
bahn, B  =  rechtsseitige 
Beinbahn ;  A'  =  links- 
seitige Armbahn,  B'  = 
linkss.  Beinbahn. 


Motilität.    Lähmung.  87 

stark  ausgebildet,  in  dem  anderen  nur  angedeutet  (durch  Steigerung 
der  Selinenreflexe)  sind. 

Eine  cerebrale  Monoplegie  kommt  zu  Stande,  wenn  eine 
die  motorischen  Theile  der  Hirnrinde  oder  der  Stabkranzfaserung 
im  Centrum  ovale  treffende  Läsion  so  geringe  Ausdehnung  besitzt, 
dass  sie  nur  die  Gesichtsbahn,  die  Arm-  oder  Beinbalm  unterbricht. 
Da  es  sich  um  kleine  Herde  handelt,  ist  es  begreiflich,  dass  cerebrale 
Monoplegien  fast  nur  durch  directe  Läsion  entstehen.  Sie  werden 
sehr  häufig  eingeleitet  oder  während  ihres  Bestehens  unterbrochen 
von  Anfällen  partieller  Epilepsie,  die  auf  die  gelähmten  Theile  oder 
doch  auf  die  Seite  der  Lähmung  sich  beschränken.  Ebenfalls  häufig 
ist  ein  gewisser  Grad  von  Anästhesie  der  gelähmten  Glieder  bei 
cerebraler  Monoplegie,  und  zwar  wird  um  so  eher  die  Lähmung  von 
Sensibilitätstörung  begleitet  sein,  je  näher  die  Läsion  der  Einde 
sitzt.  Doch  dürfte  es  sicher  sein,  dass  auch  Lähmungen,  die  durch 
Läsionen  der  Gehirnrinde  selbst  bewirkt  sind,  nicht  immer  von  Sen- 
sibilitätstörung begleitet  werden.  Die  Art  der  Anästhesie  pflegt 
insofern  charakteristisch  zu  sein,  als  die  Schmerzempfindlichkeit  wenig- 
verringert, dagegen  das  Vermögen,  die  Beschaffenheit  der  Dinge 
durch  Tasten  zu  erkennen,  stärker  beeinträchtigt  ist.  Insbesondere 
leidet  bei  corticalen  Paresen  des  Armes  oft  das  stereognostische  Ver- 
mögen und  das  Vermögen,  die  Lage  des  Gliedes  und  seine  passiven 
Bewegungen  zu  beurtheilen. 

Die  isolirte  cerebrale  Lähmung  der  Gesichtsbahn,  die  Mono- 
plegia  facialis,  zeigt  keine  von  der  sonstigen  cerebralen  Facialis- 
lähmung  abweichenden  Charaktere.  Wird  auch  die  Zunge  schief, 
d.  h.  mit  der  Spitze  nach  der  Seite  der  Lähmung  abweichend,  heraus- 
gestreckt, zeigt  sich  die  Zunge  sonst  in  ihren  Bewegungen  gehemmt, 
so  spricht  man  wohl  auch  von  Monoplegia  facio-lingualis.  Die  Läsion 
ist  im  untersten  Drittel  der  vorderen  Centralwindung  (oder  beider 
Centralwindungen)  oder  in  den  darunterliegenden  Stabkranzbündeln 
zu  suchen.  Aus  der  Nachbarschaft  dieses  Ortes  mit  der  Broca'schen 
Stelle  erklärt  es  sich,  dass  rechtzeitige  Monoplegia  facialis  nicht 
selten  mit  motorischer  Aphasie  verknüpft  ist. 

Es  ist  mehrmals  beobachtet  worden,  dass  auf  beiden  Seiten  das 
untere  Drittel  der  vorderen  Centralwindung  durch  symmetrische 
oder  nahezu  symmetrische  Herde  lädirt  war.  Dann  bestand  complete 
Lähmung  des  unteren  Facialisgebietes,  des  Hypoglossusgebietes,  der 
Kaumuskeln  mit  allen  den  Functionstörungen,  die  diesen  Lähmungen 
zukommen.  Eine  derartige  Diplegia  facialis  (die  auch  als  cerebrale 
Bulbärparaljrse  oder  als  Pseudobulbärparalyse  bezeichnet 


88  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

worden  ist)  unterscheidet  sich  von  einer  durch  Läsion  der  ent- 
sprechenden Nervenkerne  entstandenen  Lähmung  dadurch,  dass  ihr 
die  Kennzeichen  der  centralen  Lähmung  zukommen:  Fehlen  der 
Atrophie  und  der  Eiitartungsreaction,  der  fibrillären  Zuckungen,  Er- 
haltenbleiben der  Kenexe.  Aus  diesen  Beobachtungen  ist  der  Schluss 
zu  ziehen,  dass  in  dem  unteren  Drittel  der  ersten  Centralwindung 
nicht  nur  die  Gesichtsmuskeln  der  anderen  Seite,  sondern  auch  die 
Zungen-  und  Kaumuskeln  vertreten  sind,  dass  aber  eine  einseitige 
Läsion  dieser  Centra  deshalb  so  wenig  Symptome  macht,  weil  die 
betreffenden  Muskeln  stets  auf  beiden  Seiten  in  Function  treten,  auf 
sie  also  die  oben  (S.  81)  angegebene  Eegel  Anwendung  findet. 

Eine  Monoplegia  brachialis,  die  die  Kennzeichen  der 
centralen  Lähmung  trägt,  ist  auf  eine  Läsion  des  mittleren  Drittels 
der  ersten  Centralwindung  (oder  auch  beider  Centralwindungen)  zu 
beziehen,  beziehungsweise  auf  eine  entsprechende  Läsion  der  Stab- 
kranzfäserung.  Sie  kann  den  ganzen  Arm  befallen,  ist  aber  oft  nur 
an  einzelnen  Abschnitten  des  Armes  stärker  ausgeprägt.  Am  schwer- 
sten ist  gewöhnlich  die  Hand  geschädigt,  während  die  Bewegungen 
im  Ellenbogen-  und  Schultergelenke  relativ  frei  sind,  umgekehrt  können 
auch  die  oberen  Abschnitte  mehr  leiden  als  die  Hand.  Zuweilen 
kommt  es  vor,  dass  die  Streckbewegungen  viel  mehr  beschränkt  sind 
als  die  Beugebewegungen.  Auch  scheint  es,  dass  einzelne  Finger 
besonders  schwer  betroffen  werden  können. 

Die  cerebrale  Monoplegia  cruralis,  die  seltener  als  die 
beiden  anderen  Formen  beobachtet  wird,  entspricht  einer  Läsion 
der  oberen  Abschnitte  der  Centralwindungen,  besonders  des  Lobulus 
paracentralis.  Auch  hier  soll  gewöhnlich  der  unterste  Theil  des 
Gliedes,  der  Fuss,  am  stärksten  gelähmt  sein.  Die  Monoplegie 
des  Beines  scheint  ebenso  wie  die  des  Armes  fast  nie  eine  complete 
Paralyse  darzustellen,  es  handelt  sich  immer  um  Parese,  die  groben 
Bewegungen  kommen  noch  leidlich  zu  Stande,  die  feineren  sind  un- 
möglich. Da  die  beiden  Paracentralläppchen  einander  gegenüberliegen, 
ist  es  begreiflich,  dass  gewisse  Schädlichkeiten  beide  treffen  und  so 
eine  Paraplegia  cerebralis  bewirken.  Besonders  bei  Kindern  ist  die 
cerebrale  Lähmung  beider  Beine  (mit  Starre)  oft  beobachtet  worden. 

Von  der  cerebralen  wird  die  spinale  Monoplegia  cruralis 
leicht  zu  unterscheiden  sein.  Freilich  wenn  der  Fall  vorkäme,  dass 
nur  ein  Seitenstrang  im  Kückenmark  erkrankte,  möchte  die  Unter- 
scheidung u.  U.  schwierig  sein  und  würde  weniger  aus  der  Form 
der  Lähmung  als  den  begleitenden  Symptomen,  dem  Verlaufe  u.  s.  w. 
zu  entnehmen  sein.    Thatsächlich  kommt  aber  die  spinale  Lähmung 


Motilität.    Lähmung. 


89 


eines  Beines  wohl  ausschliesslich  durch  Läsion  einer  Rückenmarks- 
hälfte,  sogenannte  „Halbseitenläsion",  zu  Stande  und  stellt  das 
dar,  was  vielfach  auch  Brown-Sequard'sche  Lähmung  ge- 
nannt wird.  Das  Oharacteristicum 
dieser  Form  besteht  in  der  Anästhesie 
des  anderen  Beines.  Da  die  senso- 
rischen  Fasern  nach  ihrem  Eintritte 
in  das  Rückenmark  sich  mit  denen 
der  anderen  Seite  kreuzen,  um  dann 
in  der  anderen  Rückenmarkshälfte 
aufzusteigen,  während  die  motorische 
Bahn  schon  in  der  Pyramiden- 
kreuzung die  Rückenmarkshälfte  er- 
reicht hat,  in  der  sie  bis  zu  ihrem 
Austritte  in  die  vorderen  Wurzeln 
verbleibt,  muss  eine  halbseitige 
Trennung  des  Rückenmarks  gekreuzte 
Lähmung  und  Anästhesie  bewirken. 
Genauer  stellt  sich  die  Sache  folgen- 
dermaassen  dar.  Man  findet,  wenn 
etwa  die  linke  Hälfte  des  mittleren 
Brustmarks  durchschnitten  ist,  An- 
ästhesie des  rechten  Beines  und  der 
rechten  Rumpf  hälfte  bis  zur  Höhe  der 
Läsion  (d),  Anästhesie,  an  die  sich 
nach  oben,  ein  schmaler  Gürtel  von 
Hyperästhesie  anschliesst.  Man  findet 
ferner  Lähmung  des  linken  Beines, 
das  nicht  anästhetisch,  sondern  viel- 
mehr hyperästhetisch  ist  (a).  Diese 
Hyperästhesie,  richtiger  Hyperalgesie, 
deren  Entstehung  ebensowenig  wie  die 
des  hyperästhetischen  Grenzstreifens 
recht  zu  erklären  ist,  pflegt  vorüber- 
gehender Natur  zu  sein,  sich  nach 
einiger  Zeit  zu  verlieren.  Nach  oben 
grenzt  an  sie  eine  Zone   dauernder 

Anästhesie  (b),  die  der  durch  den  Schnitt  herbeigeführten  Läsion 
hinterer  Wurzelfasern  entspricht.  Auf  sie  folgt  zuweilen  wieder  ein 
hyperästhetischer  Streifen  (c,  vgl.  Fig.  22).  Es  wird  angegeben,  dass 
das  ..Muskelgefühl"   des  gelähmten  Beines  erloschen  sei.  Brown- 


Schematische  Darstellung  der  Haupterschei- 
nungen bei  Halbseitenläsion  des 'Dorsal- 
marks (links).  (Nach  Erb.)  Die  schräge 
Schrafflrung  bedeutet  motorische  und  va- 
somotorische Lähmung ;  die  senkrechte 
Schraffirung  bedeutet  Hautanästhesie;  die 
Punktirung  bezeichnet  die  Hauthyper- 
ästhesie. 


90  Untersuchung'  des  Bewegungsapparates. 

Sequard  meint  daher,  dass  die  diesem  entsprechenden  sensorisclien 
Fasern  die  Kreuzung  der  anderen  nicht  mitmachen,  sondern  die  Bahn 
der  motorischen  Fasern  einschlagen.  An  dem  gelähmten  Beine  hat 
man  die  Zeichen  der  Gefässlähmung  beobachtet.  Die  Sehnenreflexe 
sind  begreiflicher  Weise  auf  der  Seite  der  Lähmung  gesteigert,  auf 
der  der  Anästhesie  nicht  wesentlich  verändert. 

Da  eine  genau  auf  eine  Bückenmarkshälfte  beschränkte  Läsion 
nicht  oft  vorkommt,  findet  man  sehr  selten  das  reine  Bild  der 
Brown-Sequard'schen  Lähmung.  Eine  vorwiegende  Erkrankung  der 
einen  Rückenmarkshälfte,  z.  B.  durch  Druck  eines  an  der  Seite  ge- 
legenen Tumor,  ist  nicht  allzu  selten,  es  lassen  sich  dann  sozusagen 
die  Züge  jener  Lähmung  in  dem  Bilde  der  spinalen  Paraplegie  er- 
kennen, derart,  dass  zwar  beide  Beine  paretisch  sind,  aber  das  eine 
stärker,  während  das  weniger  gelähmte  deutliche  Anästhesie  zeigt. 
Daneben  bestehen  Störungen  der  Blasen-  und  Darmthätigkeit,  die 
Sehnenreflexe  sind  beiderseits  gesteigert  u.  s.  w. 

Doppelseitige  centrale  Lähmungen  können,  von  doppelseitigen 
Gehirnherden  abgesehen,  nur  durch  Läsion  solcher  Stellen  entstehen, 
wo  die  Bahnen  beider  Körperhälften  nahe  bei  einander  liegen,  d.  h. 
durch  Läsionen  der  Brücke  und  Oblongata  einerseits,  des  Rücken- 
marks andererseits. 

Die  gewöhnliche  Form  der  centralen  spinalen  Lähmung  ist  die 
Lähmung  beider  Beine,  die  Paraplegia  oder  Paraparesis 
spinalis.  Die  obere  Grenze  der  Lähmung  zeigt  an,  in  welcher 
Höhe  des  Rückenmarks  die  Läsion  oder  das  obere  Ende  der  Läsion 
zu  suchen  ist.  Das  Verhalten  der  Sensibilität,  der  Blase,  des  Darmes 
u.  s.  w.  giebt  Aufschluss  über  die  Ausbreitung  der  Läsion  über  den 
Querschnitt  des  Rückenmarks.  Sind  nur  die  spinalen  Pyramiden- 
bahiien  geschädigt,  so  entwickelt  sich  das  Bild  der  sogenannten 
spastischen  Spinalparalyse,  d.  h.  Lähmung  der  Beine  mit 
spastischen  Phänomenen.  Letztere  sind  in  gewissem  Grade  bei  fast 
jeder  Schädigung  der  Pyramidenbahnen  vorhanden,  doch  ist  ihre 
Stärke  verschieden.  Bald  findet  man  nur  Steigerung  der  Sehnenreflexe, 
bald  active  Contractur.  In  der  Regel  sind  bei  spinalen  Läsionen 
die  spastischen  Phänomene  stark  entwickelt,  ihr  Grad  aber  ist  nicht 
immer  proportional  dem  der  Lähmung.  Zuweilen  ist  bei  ziemlich 
gut  erhaltener  Kraft  jede  Bewegung  durch  die  Spasmen  unterbrochen, 
sind  die  Sehnenreflexe  im  höchsten  Grade  gesteigert.  Immerhin  ist 
die  Regel  die,  dass  Spasmus  und  Lähmung  einander  ungefähr  ent- 
sprechen, zuerst  besteht  nur  leichte  Schwäche,  rasche  Ermüdbarkeit, 
dabei  finden  passive  Bewegungen  noch  kaum  einen  Widerstand;  doch 


Motilität.     Lähmung-.  91 

ist  das  Kniephänomen  gesteigert  und  lässt  sich  das  Fussphänomen 
bewirken,  dann  wird  das  Gehen  schwer  und  der  Gang-  ist  deutlich 
,. spastisch",  d.  h.  die  Kranken  gehen  in  kleinen  Schritten  mit  steifen 
Beinen  und  Knieen,  die  Fussspitzen  schleifen  am  Boden  und  bei 
jedem  Schritte  wird  durch  reflectorische  Coiitraction  der  Wade  dem 
Körper  eine  hüpfende  Bewegung  ertheilt,  endlich  verharren  die  dem 
Willenseinflusse  fast  ganz  entzogenen  Beine  in  Contractur,  gewöhnlich 
Streckcontractur.  Wie  die  erwähnte  zuweilen  vorkommende  In- 
kongruenz zwischen  der  Lähmung  und  den  spastischen  Phänomenen 
zu  erklären  sei,  weiss  man  nicht.  Die  Annahme,  dass  mit  den  Willens- 
fasern besondere  reflexhemmende  Fasern  verlaufen,  deren  Läsion 
Ursache  der  spastischen  Erscheinungen  sei.  bedarf  auf  jeden  Fall 
weiterer  Begründung. 

Bestehen  nun  neben  der  spastischen  Paraplegie  keinerlei  Sen- 
sibilität- und  Ernährungsstörungen,  keine  Blasen-  und  Darmlähmung, 
so  muss  man  annehmen,  dass  die  Läsion  nur  die  spinalen  Pyramiden- 
bahiien  schädige;  doch  darf  man  nicht  ohne  Weiteres  auf  ihre  directe 
isolirte  Läsion  schliessen.  Die  Erfahrung  nämlich  hat  ergeben,  dass 
auch  ein  massiger  Druck,  der  auf  den  ganzen  Querschnitt  des 
Eückenmarks  wirkt  (Wirbelerkrankung,  Tumor)  ausschliesslich  spas- 
tische Paraplegie  zur  Folge  haben,  dass  ferner  eine  Allgemein- 
erkrankung  des  Gehirns,  der  chronische  Hydrocephalus,  in  gleicher 
Weise  wirken  kann.  Freilich  werden  in  jenem  Falle  gewöhnlich 
Wurzelsymptome  (Gürtelschmerz  oder  Parästhesien,  Anästhesie)  der 
Diagnose  den  Weg  weisen,  werden  in  diesem  Falle  auf  das  Hirn 
deutende  Symptome  (Schädelanomalien,  Stauungspapille  u.  s.  w.)  selten 
ganz  fehlen.  Lassen  sich  extraspinale  Läsionen  ausschliessen,  so 
wird  man  annehmen  dürfen,  dass  es  sich  um  eine  Läsion  der  Pyra- 
midenbahnen  handele,  die  diese  ausschliesslich  oder  vorwiegend  trifft, 
sei  es,  dass  sie  strangförmig  degenerirt  sind,  eine  Erkrankung,  die 
in  Gemeinschaft  mit  Degeneration  der  Kleinhirnseitenstrangbahnen 
selbständig  im  Rückenmarke  vorkommt,  sei  es,  dass  Herde  diffuser 
Erkrankung  vorwiegend  im  Gebiete  der  Pyramidenbahnen  sich  finden 
(z.  B.  bei  multipler  Sklerose). 

Paraplegie  mit  Anästhesie  u.  s.  w.  dagegen  werden  wir  finden, 
wenn  an  irgend  einer  Stelle  des  Rückenmarks  der  ganze  oder  nahezu 
der  ganze  Querschnitt  lädirt  ist.  Es  muss  dann  ausser  der  centralen 
Lähmung  auch  an  deren  oberer  Grenze  eine  Kern-,  beziehungsweise 
peripherische  Lähmung  vorhanden  sein,  da  an  der  betroffenen  Stelle 
des  Rückenmarks  auch  die  vorderen  Hörner  und  Wurzelfasern  lädirt 
werden:  die  Ausdehnung  dieser  Lähmung  muss  abhängen  von  der 


92  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Längsausdehnung  der  den  Querschnitt  einnehmenden  (transversalen) 
Läsion.    Demnach  wird  sich  das  Bild  folgendermaassen  gestalten. 

Eine  transversale  Läsion  des  Lendenmarks  wird  Läh- 
mung und  Anästhesie,  die  sich  nach  oben  etwa  bis  zur  Beckenapertur 
erstrecken,  Lähmung  der  Blase  und  des  Darmes  verursachen.  Da- 
neben wird  ein  Theil  der  Beinmuskeln,  nämlich  die,  deren  Yorder- 
hornzellen  lädirt  sind,  der  degenerativen  Atrophie  anheimfallen.  In 
den  gelähmten  Theilen  werden  möglicherweise  Parästhesien  auftreten 
und  die  Reflexe  werden  zum  Theil  verschwinden,  spastische  Phä- 
nomene werden  sich  wenig  oder  gar  nicht  zeigen.  Je  nach  der  Höhe, 
in  der  der  Herd  im  Lendenmarke  sitzt,  und  seiner  Ausdehnung 
werden  die  Symptome  etwas  verschieden  sein.  Ist  das  untere  Lenden- 
mark zerstört,  so  zeigen  sich  hauptsächlich  im  Gebiet  des  Plexus 
sacralis  degenerative  Atrophie  und  Anästhesie,  treten  complete  Läh- 
mung der  Blase  und  des  Darmes  (vollständige  Incontinenz)  und 
Aufhebung  der  geschlechtlichen  Thätigkeit  ein.  Der  Achillessehnen- 
reflex schwindet,  das  Kniephänomen  kann  erhalten  sein.  Ist  nur 
der  obere  Theil  des  Lendenmarks  ergriffen,  so  beobachten  wir  ausser 
Anästhesie  der  Beine  und  der  Beckengegend  degenerative  Atrophie 
im  Gebiet  des  Plexus  lumbalis,  centrale  Lähmung  des  Sacralgebietes. 
Blase  und  Darm  sind  anästhetisch  und  dem  Einfluss  des  Willens 
entzogen,  functioniren  aber  noch  reflectorisch,  das  Kniephänomen 
fehlt,  der  Achillessehnenreflex  kann  erhalten  sein.  Da  grössere  Herde 
meist  eine  unregelmässige  Gestalt  haben,  so  wird  häufig  die  Diagnose 
sich  mit  der  Annahme  einer  transversalen  Läsion  des  Lendenmarks 
begnügen  müssen.  Schon  oben  ist  bemerkt  worden,  dass  es  zuweilen 
nicht  möglich  ist,  zwischen  einer  Läsion  der  Cauda  equina  und  einer 
solchen  des  unteren  Markendes  zu  unterscheiden. 

Eine  transversale  Läsion  des  Dorsalmarks  wird  be- 
wirken Lähmung  und  Anästhesie  des  Unterkörpers  bis  zu  einer 
bestimmten  Höhe  des  Rumpfes  mit  gesteigerten  Sehnenreflexen, 
oder  auch  Contractur  der  Beine,  Störungen  der  Blasen-  und  Darm- 
thätigkeit,  der  sexuellen  Function,  degenerative  Atrophie  einiger 
Rücken-,  Brust-  oder  Bauchmuskeln,  häufig  Gürtelgefühl  an  der 
oberen  Grenze  der  Anästhesie.  Sitzt  der  Herd  im  unteren  Brust- 
marke, so  werden  Lähmung  und  Anästhesie  etwa  bis  zum  Nabel  oder 
bis  zum  Processus  xiphoideus  reichen,  d.  h.  es  werden  ausser  Bein- 
uiid  Beckenmuskeln  auch  die  des  Bauches  und  der  Lendengegend 
gelähmt  sein.  Bei  Herden  im  oberen  Dorsalmarke  kann  die  Grenze 
der  Anästhesie  an  den  obersten  Rippen  verlaufen,  können  auch  die 
Intercostalmuskeln   und   die   tiefen   Muskeln    der    Brustwirbelsäule 


Motilität.    Lähmung'.  93 

gelähmt  sein.  Wenn  der  Herd  eine  geringe  Längenausdehnung  hat, 
werden  von  ihm  nur  wenige  Vorderhornzellen  getroffen  werden,  die 
degenerative  Atrophie,  die  der  Höhe  des  Herdes  entspricht,  kann 
sich  daher  leicht  der  Beobachtung-  entziehen. 

Eine  transversale  Läsion  des  Halsmarkes  unterscheidet 
sich  von  der  des  Brustmarkes  dadurch,  dass  ausser  den  Beinen  und 
dem  Rumpfe  auch  die  Arme  von  Lähmung,  Anästhesie,  von  Par- 
ästhesien  ergriffen  werden  (Paraplegia  cervicalis).  Ein  Herd 
in  der  Halsanschwellung  selbst  wird  Lähmung  und  Anästhesie  der 
Arme  mit  degenerativer  Atrophie  eines  Theiles  der  Muskeln  be- 
Avirken,  ein  Herd  in  dem  oberen  Halsmarke  Lähmung  und  Anästhesie 
der  Arme  mit  Steigerung  der  Sehnenreflexe  und  ohne  degenerative 
Atrophie,  dagegen  mit  schweren  Respirationstörungen  (Schädigung 
des  N.  phrenicus).  Ausserdem  können  bei  Läsionen  des  Halsmarkes 
einige  Symptome  am  Kopfe  auftreten,  Anästhesie  oder  Schmerzen 
im  Gesicht  (aufsteigende  Trigeminuswurzel),  Zeichen  von  Lähmung 
oder  Reizung  der  im  Halssympathicus  verlaufenden  Fasern.  Lähmung 
aller  vier  Glieder  begleitet  ebenso  die  Läsionen  in  der  Gegend  der 
Pyramidenkreuzung,  meist  werden  dann  S3anptome  von  Seiten  der 
bulbären  Nerven  vorhanden  sein. 

Die  Hautreflexe  sind  bei  transversaler  Rückenmarksläsion  im 
Gebiete  der  centralen  Lähmung  in  der  Regel  erhalten,  oft,  doch  nicht 
so  regelmässig  wie  die  Sehnenreflexe,  erhöht.  In  der  ersten  Zeit 
nach  dem  Eintritte  der  Läsion  können  sie  fehlen ;  man  nimmt  dann 
an,  dass  sie  durch  einen  von  der  Läsion  ausgehenden  Reiz  gehemmt 
werden.  Ausserdem  scheinen  sie  dauernd  zu  erlöschen,  wenn  der 
Herd  jede  Verbindung  zwischen  dem  Gehirne  und  dem  unteren  Mark- 
theile unterbricht.  Im  Gebiete  der  Kernlähmung  fehlen  sie  selbst- 
verständlich, sobald  die  Lähmung-  complet  ist.  Die  vorhandenen 
Hautreflexe  können  zur  genaueren  Localisation  der  Querläsion  ver- 
wendet werden.  Ist  der  Sohlenreflex  normal  oder  gesteigert,  so  muss 
die  untere  Hälfte  des  Lendenmarkes  erhalten  sein,  Erhalteiisein  des 
Cremasterreflexes  deutet  auf  eine  Läsion  oberhalb  des  1.  Lenden- 
nerven,  der  Bauchreflex  fordert  Unversehrtheit  des  unteren  Dorsal- 
markes (Höhe  des  8.  bis  11.  Dorsalnerven),  der  epigastrische  Reflex 
die  des  oberen  Dorsalmarkes  (Höhe  des  4.  bis  7.  Dorsalnerven)  u.  s.  w. 
Dass  in  derselben  Richtung  die  Sehnenreflexe  ein  jederzeit  ver- 
wendbares Merkmal  abgeben,  ist  oben  schon  angedeutet.  Hier  sei 
noch  bemerkt,  dass  der  Reflexbogen  für  das  Kniephänomen  in  der 
Höhe  des  2.  bis  4.  Lendennerven,  der  für  den  Achillessehnenreflex 
in  der  Höhe  des  1.  Sacralnerven  zu  suchen  ist. 


94  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Gefässlähmung  findet  sich  in  der  Regel  an  den  unterhalb  der 
Läsion  gelegenen  Theilen,  doch  lassen  sich  aus  ihr  ebensowenig  wie 
aus  den  die  Anästhesie  zuweilen  begleitenden  Ernährlingstörungen 
der  Haut,  der  Knochen  u.  g.  w.  diagnostische  Schlüsse  ziehen,  die 
nicht  schon  aus  dem  Verhalten  der  Lähmung  und  der  Sensibilität- 
störung  hätten  gezogen  werden  können. 1) 

Im  Bisherigen  ist  angenommen  worden,  dass  die  transversale 
Läsion  nahezu  den  ganzen  Querschnitt  treffe.  Selbstverständlich 
handelt  es  sich  aber  vielfach  nur  um  unvollständige  Unterbrechungen 
der  einzelnen  Bahnen,  ein  Theil  der  Fasern  ist  zerstört,  ein  Theil 
erhalten.  Dementsprechend  ist  die  Motilität  nicht  gänzlich  auf- 
gehoben, sondern  nur  vermindert,  zuweilen  geschehen  die  Bewegungen 
zitternd  oder  ataktisch,  die  Blasenstörungen  stellen  sich  in  der  ver- 
schiedensten Form  dar;  besonders  bemerkenswerth  ist,  dass  die 
Störungen  der  Sensibilität  oft  nicht  gleichen  Schritt  mit  denen  der 
Motilität  halten,  dass  oft  bei  ziemlich  beträchtlicher  Lähmung  nur 
Parästhesien,  nicht  objectiv  nachweisbare  Anästhesie  beobachtet 
werden,  ein  Missverhältniss,  das,  wie  oben  bemerkt,  besonders  bei 
den  Drucklähmungen  vorkommt. 

Nie  wird  eine  vollständige  Unterbrechung  der  spinalen  Bahnen 
im  oberen  Cervicalmarke  klinisch  beobachtet,  da  sie  hier  absolut 
tödtlich  wegen  Lähmung  der  Athmungsmuskeln  ist.  — 

Bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  möge  es  gestattet  sein, 
das  Wichtigste  aus  der  Lehre  von  der  Localisation  der  organischen 
Lähmung  in  kurzen  Sätzen  nochmals  zusammenzufassen. 

Centrale  Lähmung  ist  stets  diffus,  halbseitig  oder  doppelseitig, 
die  Sehnenrefiexe  sind  bei  ihr  fast  immer  erhalten,  meist  gesteigert, 
die  Hautreflexe  erhalten,  zuweilen  gesteigert,  oder  seltener  durch 
Reflexhemmimg  aufgehoben;  die  elektrische  Erregbarkeit  ist  quali- 
tativ nicht  verändert,  es  besteht  keine  oder  (selten)  diffuse  iUrophie. 

Die  peripherische  (beziehungsweise  Kern-)  Lähmung  ist  in  der 
Regel  individuell,  nur  selten  diffus,  die  Sehnenreflexe  und  die  Haut- 
reflexe  sind  in  der  Regel  vermindert  oder  aufgehoben;  es  besteht 
Atrophie  der  gelähmten  Muskeln  mit  Entartungsreaction,  welche  letz- 
tere nur  bei  rein  musculären  Erkrankungen  fast  ausnahmelos  fehlt. 

Von  Läsionen  der  Gehirnrinde  bewirken  nur  solche  Lähmung, 
die  die  Central  Windungen  mit  Einschluss  des  Lobul.  paracentralis 
treffen.   Alle  anderen  corticalen  Läsionen  können  nur  indirect,  indem 


1 )  Einige  genauere  Angaben  über  die  Bestimmung  des  Ortes  einer  spinalen 
Läsion  findet  man  im  IL  Theile. 


Motilität.    Lähmung".  95 

sie  secundäre  Fimctionstörungen  der  ebengenannten,  sog.  motorischen 
Theile  herbeiführen,  Lähmung  bewirken. 

Läsion  des  gesammten  motorischen  Gebietes  der  Rinde  bewirkt 
totale  Hemiplegie,  solche  des  unteren  Theiles  der  Centralwindungen 
Monoplegia  faciolingualis,  solche  des  mittleren  Theiles  Monoplegia 
bracliialis,  solche  des  Lobul.  paracentralis  Monoplegia  cruralis. 

Alle  corticalen  Lähmungen  sind  häufig  von  epileptischen  An- 
fällen, von  Anästhesie,  von  motorischen  Reizerscheinungen  (Ataxie, 
Chorea,  Athetosis,  Tremor)  an  den  gelähmten  Theilen  begleitet. 

Läsionen  der  Pyramidenbahnen  im  Centrum  ovale  wirken  ähnlich 
wie  die  der  Rinde. 

Läsion  der  Pyramidenbahnen  in  der  inneren  Kapsel  (im  hinteren 
Schenkel  derselben)  bewirkt  totale  Hemiplegie.  Diese  kann  begleitet 
sein  von  totaler  Hemianästhesie.  Besonders  wenn  dies  der  Fall  ist, 
finden  sich  oft  auch  motorische  Reizerscheinungen  (Hemichorea  u.  s.  w.). 

Läsionen  der  Centralganglien  (Streifen-  und  Sehhügel)  können 
nur  indirect  totale  Hemiplegie  bewirken. 

Läsionen  des  Hirnschenkelfusses  bewirken  totale  Hemiplegie, 
oft  mit  gekreuzter  Oculomotoriuslähmung. 

Läsionen  der  vorderen  Brückenabtheilung  können  je  nach  dem 
Sitze  des  Herdes  totale  Hemiplegie  oder  totale  Hemiplegie  mit  ge- 
kreuzter Facialislähmung,  seltener  gekreuzter  Trigeminus-,  Abducens- 
lähmung,  oder  Hemiplegie  der  Glieder  mit  gekreuzter  Facialis- 
lähmung bewirken.    Häufig  sind  dabei  Articulationstörungen. 

Läsionen  der  Pyramidenbahnen  in  der  Oblongata  bewirken  Hemi- 
plegie der  Glieder,  seltener  Lähmung  aller  vier  Glieder  oder  Hemi- 
plegia  cruciata,  nebst  Störungen  im  Gebiete  der  drei  letzten  Hirn- 
nerven in  wechselnder  Combination :  gekreuzte  Hypoglossuslähmung, 
totale  Zungenlähmung,  Gaumenlähmung,  Schlinglähmung,  Störungen 
der  Athmung  und  der  Herzthätigkeit,  zuweilen  mit  Albuminurie, 
Glykosurie  u.  s.  w.  verbunden. 

Läsionen  einer  Rückenmarkshälfte  bewirken  die  Brown-Sequard- 
sche  Lähmung,  Hemiplegia  spinalis  bei  Sitz  der  Läsion  im  Hals- 
marke, Monoplegia  spinalis  bei  tieferem  Sitze. 

Läsionen  beider  Rückenmarkshälfteil  bewirken  Paraplegie.  Sind 
nur  die  spinalen  Pyramidenbahnen  getroffen,  so  besteht  spastische 
Lähmung  ohne  weitere  Symptome.  Ist  ein  grösserer  Theil  des  Quer- 
schnittes betheiligt,  so  gesellen  sich  zur  spastischen  Paraplegie  Para- 
anästhesie,  Störungen  der  Blasen-  und  Darmthätigkeit  und  je  nach 
der  Höhe  der  Läsion   entsteht   das  Bild  der  cervicalen,  dorsalen, 


96 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


lumbalen  Paraplegie.   Ist  eine  vollständige  Durclitreniimrg  des  Markes 
vorhanden,  so  erlöschen  die  Eeflexe  des  unteren  Theiles. 

Läsion  der  spinalen  PjTamidenbahnen  und  der  Yorderhörner  kann 
spastische  Lähmung-  mit  deg'enerativer  Atrophie  bewirken. 

Läsion  der  Yorderhörner  allein  bewirkt  schlaffe  Lähmung-  mit 
degenerativer  Atrophie,  die  gewöhnlich  functionell  verbundene  Muskel- 
gruppen befallt,  ohne  jede  Sensibilitätstörimg.    Ist  der  Process  ein 

sehr  langsamer,  so  ist  die  Läh- 
mung der  Atrophie  proportional; 
verläuft  er  rascher,  so  ist  die 
Lähmung  grösser  als  die  Atrophie. 
Läsion  der  Yorderhörner  und 
der  Hinterhörner  allein  bewirkt 
atrophische  Lähmung  mit  par- 
tieller Anästhesie,  cl.  h.  Thermo- 
anästhesie  und  Analgesie,  ohne 
Symptome  von  Leitungsunter- 
brechung. 

Läsion  der  peripherischen  Ner- 
ven bewirkt  in  der  Kegel  atro- 
phische Lähmung  mit  Sensibilität- 
störung, die  den  Bezirken  be- 
stimmter Nerven  entspricht.  Sie 
kann  aber  auch  klinisch  der  Yor- 
derhornlähmung  gleichen. 
Läsion  der  Muskeln  allein  bewirkt  Atrophie  ohne  Entartungs- 
reaction,  ohne  fibrilläre  Zuckungen,  ohne  Sensibilitätstörimg.  — 

Zu  Fig.  23: 

1.  Reizung  bei  1:  Schmerz  oder  Hyperästhesie  der  Haut,  möglicher- 
weise Krampf;    Läsion  bei   1 :  Hautanästhesie,  Erlöschen  der  Hautreflexe. 

2.  Reizung  hei  2:  Muskelschmerz  oder  Hyperästhesie,  zuweilen 
Steigerung  der  Sehnenreflexe  und  Spasmus ;  Läsion  bei  2 :  Muskelanästhesie 
und  Verlust  des  Tonus,  beziehungsweise  Relaxation  des  Muskels,  Erlöschen 
der  Sehnenreflexe. 

3.  Reizung  bei  3  (bez.  v):  Krampf;  Läsion  bei  3:  Lähmung  mit  Re- 
laxation, Erlöschen  der  Reflexe  und  degenerativer  Atrophie. 

4.  Reizung  bei  4 :  ?,  Krampf?,  Parästhesien?,  Läsion  bei  4:  Verlust 
des  Tonus,  beziehungsweise  Relaxation  des  Muskels  und  Aufhören  der 
Reflexe  ohne  Anästhesie  (ist  nur  die  Verbindung  zwischen  s  und  v  zer- 
stört, so  fehlen  nur  die  tiefen  Reflexe). 

5.  Reizung  bei  5  :  Krampf;  Läsion  bei  5 :  spastische  Lähmung. 

6.  Reizung  bei  (i :  Parästhesien ;  Läsion  bei  0 :  Anästhesie  mit  Er- 
haltung der  Reflexe  und  ohne  Relaxation. 


Fig.  23. 

E  =  Rücken  mark.  M  ==  vrillkürl.  Muskel.  H  — 
Haut,  a  =  Pyramidenbahn,  p  =  Hinterstrang- 
bahn, v  =  "\  orderhornzelle.  h  =  hintere  graue 
»Substanz,  m  =  motorischer  Nerv,  s  =  sensibler 
Muskelnerv,    ss  =  Hautnerv. 


Motilitiit.    Lähmung.  97 

Die  Unterscheidung  functioneller,  d.h.  hysterischer 

u  n  d  o  r  g  a  n  i  s  c  h  e  r  L  ä  h  m  u ng  bietet  selten  grosse  Schwierigkeit  dar. 

Für  hysterische  Lähmung  ist  in  erster  Linie  charakteristisch 
das  Fehlen  aller  Symptome,  die  mit  Sicherheit  auf  eine  organische 
Läsion  schliessen  lassen,  in  zweiter  das  Vorhandensein  solcher  Sym- 
ptome, die  erfahrungsgemäss  oft  hysterische  Lähmung-  begleiten. 

Es  fehlt  gewöhnlich  die  Atrophie  der  Muskeln,  ebenso  fehlen 
Ernährungstörungen  der  Haut,  der  Knochen  u.  s.  w.  In  seltenen 
Fällen  begleitet  die  hysterische  Lähmung  eine  rasch  eintretende  Ali- 
magerung  der  gelähmten  Muskeln. 

Die  elektrische  Erregbarkeit  ist  vollständig  normal. 

Die  Eeflexe,  sowohl  die  Haut-  als  die  Sehnenreflexe,  können 
zwar  gesteigert  sein,  fehlen  aller  nie. 

Es  fehlen  ferner  Veränderungen  des  ophthalmoskopischen  Bildes. 
nie  kommt  Hemianopsie  vor,  nie  Augenmuskellähmungen 

Andererseits  bestehen  neben  der  hysterischen  Lähmung  oft  andere 
Symptome  der  Hysterie  (psychische  Veränderung,  Krämpfe,  Herni- 
anästhesie,  Ovarie  u.  s.  w.),  die  freilich  auch  ganz  fehlen  können. 

Jede  hysterische  Lähmung  lässt  sich  willkürlich 
nachahmen,  sie  ist  eine  Wülenslähmung.  Nie  kommt  hier  etwa 
eine  Deltoideuslähmung  vor  oder  eine  Serratuslähmung  oder  sonst 
eine  Lähmung  von  Muskeln  oder  Muskelgruppen,  deren  isolirte  will- 
kürliche Innervation  nicht  möglich  ist.  Immer  besteht  die  hysterische 
Lähmung  in  einem  abnormen  Zustande  des  Bewusstseins,  der  Willkür 
ist  der  Weg  versperrt,  während  im  Schlafe,  im  lrypnotischen  Zu- 
stande die  Beweglichkeit  vorhanden  ist.  In  leichteren  Fällenbewegt  der 
Kranke  die  scheinbar  gelähmten  Theile,  sobald  er  nicht  an  sie  denkt, 
kehrt  die  Lähmung  wieder,  sobald  die  Aufmerksamkeit  den  Theilen 
zugewandt  ist.  Es  bestehen  daher  Uebergänge  zwischen  der  eigent- 
lichen hysterischen  Lähmung  und  der  hysterischen  Functionlähmimg, 
bei  der  die  Theile  nur  bei  bestimmten  Bewegungen  nicht  gehorchen. 

Eine  der  häufigsten  Formen  ist  die  hysterische  Stimmband- 
lälimung,  das  Unvermögen  beim  Lautiren  die  Stimmritze  zu  schlies- 
sen.   Oft  begleitet  Anästhesie  die  Parese  der  Stimmbandadductoreu. 

Sonst  kommen  nur  functionelle  Hemi-,  Para-,  Monoplegien  in  Frage. 

Bei  einer  hysterischen  Hemiplegie  pflegt  die  Facialislähnnmg 
zu  fehlen,  sind  die  Hautreflexe  erhalten.  Am  wichtigsten  scheint  das 
Verhalten  des  Bauchreflexes  zu  sein  (Rosenbach),  bei  organischer 
Hemiplegie  fehlt  er,  oder  ist  doch  herabgesetzt  auf  der  ge- 
gelähmten Seite.  Ausnahmsweise  begleitet  die  hysterische  Hemi- 
plegie auch  eine  Schwäche  des  unteren  Facialisgebietes.    Diese  ist 

H  ö  b  i  u  s  ,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  7 


98  Untersuchung  des  Bewegungsäpparates. 

oft  nur  bei  absichtlichen  Bewegungen  vorhanden,  fehlt  beim  Lachen, 
Weinen,  kann  auch  beim  Sprechen  fehlen.  Mit  ihr  darf  der  Krampf 
der  anderen  Gesichtshälfte  nicht  verwechselt  werden.  Nicht  selten 
nämlich  besteht  ein  Spasmus,  durch  den  der  Mundwinkel  empor- 
gezogen, die  Zunge  hakenförmig  gekrümmt  wird.  Dieser  Wangen- 
Zungen-Kranipf  pflegt  die  der  Gliederlähmung  gegenüber  liegende 
Seite  zu  befallen. 

Die  Haltung  der  Glieder  ist  bei  hysterischer  Hemiplegie  ziemlich 
charakteristisch :  der  Arm  hängt  schlaff  herab,  das  Bein  wird  nach- 
geschleppt, nicht  wie  bei  der  organischen  Hemiplegie  gestreckt  ge- 
halten und  beim  Vorwärtschreiten  im  Bogen  („mähend")  nach  vorn 
geführt. 

Bei  hysterischer  Paraplegie  wird  das  Fehlen  der  Blasen-  und 
Darmstörungen  eine  dorsale  Myelitis  ausschliessen  lassen.  Vor  Ver- 
wechselung mit  spastischer  Spinalparalyse  wird,  in  der  Kegel  wenig- 
stens, das  Vorhandensein  anderweiter  hysterischer  Symptome,  der 
Ovarialhyperästhesie,  der  psychischen  Veränderungen,  der  Krampf- 
airfalle u.  s.  w.  sowie  der  günstige  Verlauf  schützen,  d.  h.  die  Dia- 
gnose wird  auf  der  Auffassung'  des  ganzen  Krankheitsbildes  beruhen. 
An  sich  allerdings  kann  eine  Paraplegie  durch  isolirte  Erkrankung 
der  spinalen  Pyramidenbahnen  der  hysterischen  Paraplegie  voll- 
ständig gleichen. 

Eine  fünctionelle  Monoplegie  unterscheidet  sich  von  einer  Mono- 
plegie durch  organische  Läsion  peripherischer  Theile  (etwa  des 
Plexus)  oder  der  entsprechenden  Kernzone  durch  das  Fehlen  der 
obenerwähnten  positiven  Symptome  genügend,  von  einer  organischen 
corticalen  Monoplegie  dadurch,  dass  diese  gewöhnlich  incomplet,  jene 
complet  ist,  dass  bei  dieser  geringe  Abstumpfung  der  Sensibilität, 
bei  jener  oft  vollständige  Unempfindlichkeit  sich  zeigt,  dass  bei  dieser 
anderweite  cerebrale  Symptome  bestehen,  bei  jener  nicht  u.  s.  w. 
Die  Anästhesie  hat  bei  diesen  hysterischen  Lähmungen  eine  charak- 
teristische Begrenzung,  ihre  Ausdehnung  stimmt  nicht  mit  anatomi- 
schen Anordnungen  überein,  sondern  sie  wird  durch  Linien,  die  auf 
der  Längsachse  des  Gliedes  senkrecht  stehen,  begrenzt,  als  wäre 
das  gelähmte  Stück  in  eine  anästhetisch  machende  Flüssigkeit  ein- 
getaucht worden.  Der  Verlauf,  das  Fehlen  oder  Vorhandensein 
notorisch  hysterischer  Erscheinungen  u.  s.  w.  werden  auch  hier  in 
den  meisten  Fällen  die  Diagnose  erleichtern. 

Die  obenerwähnte  Functionlähmung  kann  sich  sehr  verschieden 
darstellen.  Hierher  gehören  das  Unvermögen  laut  zu  sprechen,  bei 
erhaltener  Fähigkeit  laut  zu  husten,  die  hysterische  Schlinglähmung, 


Motilität.     Lähmung.     Abnorme  Bewegungen.  99 

d.  h.  Unvermögen  zu  schlucken  bei  guter  Beweglichkeit  aller  in 
Betracht  kommenden  Muskeln,  die  Gehlähmung,   d.  h.  Unfähigkeit 

zu  gehen  bei  guter  Beweglichkeit  der  Beine  im  Bett.  Die  letztere 
Form  ist  neuerdings  als  Astasie-Abasie  (Blocq)  bezeichnet  worden. 
Man  hat  unterschieden,  je  nachdem  Gehen  und  Stehen  ganz  un- 
möglich ist,  oder  nur  das  Stehen  möglich  ist,  oder  die  nicht  gehen 
könnenden  Kranken  doch  auf  allen  Vieren  laufen,  oder  wie  Vögel 
hüpfen,  oder  strampelnd  laufen  u.  s.  w. 

Wichtig  ist,  dass  man  diese  hysterischen  Zustände  nicht  mit 
anderen  seelischen  Bewegungstönmgen  verwechsele  oder  zusammen- 
werfe. Für  den  Hysterischen  ist  seine  Lähmung  gerade  so  wirklich 
wie  eine  organische  Lähmung,  er  weiss  von  ihrem  seelischen  Ur- 
sprünge nichts.  Ganz  anders  ist  es,  wenn  Kranke  aus  Angst  vor 
peinlichen  Empfindungen  diese  oder  jene  oder  alle  Bewegungen 
meiden ;  sie  wissen  dann  ganz  gut,  dass  keine  Lähmung  besteht  und 
wie  sie  zu  ihrer  Fnbeweglichkeit  kommen. 

Beachtenswerth  ist  ferner,  dass  Combinationen  organischer  und  func- 
tioneller  Lähmung  vorkommen  können.  Wird  z.  B.  bei  einem  dis- 
ponirten  Individuum  durch  eine  Verletzung  des  Plex.  brach,  eine 
Plexuslähmung  hervorgerufen,  so  kann  eine  functionelle  Lähmung 
des  Armes  hinzutreten.  Man  findet  dann  totale  Lähmung  (und  An- 
ästhesie) des  Armes,  nur  einzelne  Muskeln  aber  zeigen  die  Charaktere 
der  peripherischen  Lähmung:  Atrophie,  Veränderungen  der  elek- 
trischen Erregbarkeit  u.  s.  w. 

Es  kann  die  Frage  entstehen,  ob  eine  functionelle  Lähmung 
eine  simulirte  sei  oder  nicht.  Deutliche  Steigerung  der  Sehnen- 
reflexe wird  Simulation  ausschliessen  lassen,  anderenfalls  werden  die 
Aetiologie,  die  Physiognomie  des  ganzen  Falles,  der  Verlauf  u.  s.  w. 
den  Beobachter  leiten. 


h.  Abnorme  Bewegungen. 

Die  abnormen  Bewegungen  oder  die  Krämpfe  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes  bieten  sich  der  Beobachtung  entweder  ohne  Weiteres 
dar.  oder  sie  begleiten,  stören  nur  willkürliche  Bewegungen,  oder  sie 
treten  nur  unter  anderweiten  Bedingungen  (psychische  Erregung  u.  s.  w.) 
ein.  Die  Untersuchung  hat  festzustellen,  ob  abnorme  Bewegungen 
vorhanden  sind,  unter  welchen  Umständen  sie  auftreten,  welche 
Muskeln  sich  an  ihnen  betheiligen  und  welcher  Art  sie  sind.  Ueber 
die  Ursachen  der  Krämpfe  wissen  wir  im  Allgemeinen  recht  wenig, 
es   ist  daher  auch  schwer,  sie  in  rationeller  Weise  zu  gruppiren. 


100  Untersuchung  des  Bewegnngsapparates. 

Die  übliche  Eintheilung  ist  eine  rein  symptomatische,  nicht  selten 
werden  Erscheinungen  verschiedener  Bedeutung  unter  einer  Bezeich- 
nung' zusainmengefasst.  Auch  ist  der  Sprachgebrauch  durchaus  nicht 
fixirt.  so  dass  u.  U.  die  Benennung  mehr  oder  weniger  willkür- 
lich ist. 

a.  Die  Ataxie. 

Bei  jeder  willkürlichen  Bewegung  contrahiren  sich  mehrere  Mus- 
keln. Damit  die  Bewegung  richtig  ausgeführt  werde,  muss  die 
Erregung  sich  auf  die  nöthigen  Muskeln  beschränken,  aber  jedem 
von  ihnen  muss  ein  bestimmter  Grad  der  Verkürzung  ertheilt  werden 
und  in  bestimmter  Weise  muss  der  zeitliche  Ablauf  der  Erregung 
geregelt  sein.  Dies  versteht  man  unter  Coordination  der  Bewegung. 
Einige  Bewegungen,  wie  Saugen  und  Zugreifen,  führt  schon  das 
neugeborene  Kind  richtig  aus.  die  meisten  aber  müssen  erst  im 
Laufe  des  Lebens  erlernt  werden.  Zunächst  fehlt  z.  B.  beim  Gehen 
die  Coordination.  die  Bewegungen  der  Beine  sind  ungeordnet  (in- 
coordinirt.  ataktisch)  und  erst  nach  vielen  Versuchen  lernt  das  Kind 
die  richtigen  Muskeln  in  richtiger  ^Veise  zu  brauchen.  Aehnlich 
ist  der  Vorgang  beim  Sprechen.  Schreiben.  Spielen  von  Instrumen- 
ten u.  s.  w.  Dass  nicht  nur  alle  Bewegungen  ohne  Sehen  ausgeübt, 
sondern  auch  von  Blinden  erlernt  werden,  lehrt  die  alltägliche  Er- 
fahrung. Inwieweit  ohne  andere  Empfindungen  als  die  der  Augen 
coordinirte  Bewegungen  erlernt  werden  können,  darüber  sagt  uns 
die  Erfahrung  nichts.  Dass  bei  der  Erlernung  irgend  complicirterer 
Bewegungen  die  Empfindlichkeit  der  bewegten  Theile  entbehrt  werden 
könnte,  erscheint  kaum  denkbar.  Dass  aber  reichlich  geübte  Be- 
wegungen auch  von  unempfindlichen  Gliedern,  sobald  die  Augen 
thätig  sind,  richtig  ausgeführt  werden  können,  ist  von  vornherein 
wahrscheinlich  und  wird  durch  die  Erfahrung  bestätigt.  Immerhin 
gilt  dies  nur  von  relativ  einfachen  Bewegungen,  bei  schwierigeren 
wird  wohl  die  Orientirung  durch  die  Empfindungen  der  Glieder  nie 
ganz  zu  entbehren  sein,  da  liier  die  Ueberwachung  durch  die  Augen 
nicht  ausreicht,  um  die  Bewegungen  allen  wechselnden  äusseren 
Umständen  entsprechend  zu  verändern.  Den  Einfluss  der  Uebung 
muss  man  sich,  bei  der  Coordination  wie  überhaupt,  wohl  so  vor- 
stellen, dass  im  Gehirn  und  Bückenmark,  wo  alle  Theile  mit  allen 
verbunden  sind,  durch  öftere  Wiederkehr  desselben  Erregungs- 
vorganges  Bahnen  mit  geringem  Widerstände  geschaffen,  sozusagen 
Geleise  ausgefahren  werden. 

•  Bei  Erkrankungen  des  Nervensystems  kommt  es  nun  nicht  selten 
vor,  dass  die  Coordination  der  Bewegungen  gestört  ist.    Ergiebt  die 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Ataxie.  101 

Prüfung  der  einzelnen  in  Frage  kommenden  Muskeln,  dass  jeder 
willkürlich  mit  normaler  Kraft  contrahirt  wird,  und  ist  doch  die 
beabsichtigte  Bewegung  nicht  richtig  ausführbar,  so  muss  die  Ko- 
ordination gestört  sein.  Dies  ist  Ataxie  in  der  weitesten  Bedeutung 
des  Wortes.  Der  Zustand  gleicht  etwa  dem  eines  Kindes,  das  gehen 
oder  schreiben  lernt,  und  kann  dieser  physiologischen  Ataxie  als 
pathologische  gegenübergestellt  werden.  Im  Einzelnen  kann  bei  der 
Ataxie  die  Zahl  der  contrahirten  Muskeln  zu  gross  oder  zu  klein 
sein,  kann  ein  Theil  der  Muskeln  zu  stark  oder  zu  schwach  ver- 
kürzt werden,  können  die  betheiligten  Muskeln  zu  früh  oder  zu  spät 
in  Thätigkeit  treten.  Meist  sind  wohl  alle  drei  Störungen  gleich- 
zeitig vorhanden.  Die  Fälle,  wo  nur  die  Ausbreitung  der  Inner- 
vation zu  gross  ist,  wo  demnach  unbeabsichtigte  Bewegungen  die 
beabsichtigten  begleiten,  pflegt  man  nicht  zur  Ataxie  zu  rechnen, 
sondern  man  spricht  dann  von  Mitbewegungen.  Eigentliche  oder 
echte  Ataxie  diagnosticiren  wir  da,  wo  der  nicht  ge- 
lähmte Kranke  Bewegungen,  die  er  früher  geschickt 
machte,  ungeschickt  ausführt  trotz  Ueberwachung  durch 
die  Augen. 

Wenn  wir  auf  Ataxie  untersuchen,  so  prüfen  wir  zunächst  relativ 
einfache  Bewegungen.  Ataxie  der  Hände  erkennt  man  daran,  dass 
ein  vorgehaltener  Gegenstand  nicht  rasch  und  sicher  ergriffen  wird, 
sondern  dass  die  Hand  an  ihm  vorbeifährt,  dass  der  Kranke,  wenn 
er  seine  Nase  ergreifen  soll,  an  die  Stirne  greift,  dass  er  das  Glas 
oder  den  Löffel  nicht  zum  Munde,  sondern  zur  Nase  oder  zum  Kinn 
führt.  Ist  die  Ataxie  stark,  so  wird  die  Hand  nicht  nur  bei  diesen 
einfachen  Bewegungen  das  Ziel  nicht  erreichen,  sondern  planlos  in 
der  Luft  herumfahren,  den  Inhalt  des  Glases  verschütten  u.  s.  w.  Ist 
die  Ataxie  schwach,  so  werden  zwar  grobe  Bewegungen  noch  ziem- 
lich richtig  ausgeführt,  aber  beim  Zuknöpfen  gerathen  die  Finger 
unter  einander,  der  Finger,  der  rasch  durch  ein  Loch  fahren  soll, 
stösst  daneben,  wenn  der  Kranke  die  ausgebreiteten  Arme  einander 
rasch  nähert  und  die  Spitzen  der  Zeigefinger  sich  berühren  sollen, 
so  treffen  sich  diese  nicht.  Die  Schrift  ist  unsicher,  „ ausfahrend", 
das  Spielen  von  Instrumenten  wird  unmöglich. 

An  den  Beinen  zeigt  sich  schwache  Ataxie  dadurch,  dass  es 
dem  Kranken  nicht  mehr  gelingt,  mit  dem  Fusse  einen  Kreis  zu 
beschreiben,  ohne  auszufahren,  dass  er  mit  der  Ferse  einer  Seite 
nicht  rasch  und  sicher  das  Knie  der  anderen  berühren  kann,  dass 
er  einen  vorgehaltenen  Gegenstand  mit  der  grossen  Zehe  nicht  trifft, 
dass  er  beim  Uebereinanderlegen  der  Füsse  einen  ganz  unnöthigen 


102  Untersuchung'  des  Bewegungsapparates. 

Bogen  beschreibt  und  etwa  doch  auf  den  anderen  Fuss  auftrifft  u.  s.  w. 
Ist  die  Ataxie  stärker,  so  wird  das  Bein  nicht  mehr  stetig,  sondern 
wackelnd  erhoben  und  werden  die  Störungen  besonders  beim  Stehen 
und  Gehen  deutlich.  Fordert  man  den  Kranken  auf,  vom  Stuhle  auf- 
zustehen, so  bemerkt  "man  ein  leichtes  Zögern,  er  giebt  sich  erst 
einen  Austoss,  steht  dann  rasch  auf.  schwankt  aber  mehrmals,  ehe 
er  feststeht.  Er  steht  nun  breitbeinig,  drückt  die  Kniee  durch  und 
richtet  den  Blick  auf  die  Füsse ;  setzt  er  die  Füsse  neben  einander,  so 
sehwankt  er.  auf  einem  Fusse  kann  er  nicht  stehen,  oder  er  schwankt 
doch  und  setzt  rasch  den  anderen  Fuss  wieder  nieder.  Ist  der  Gang 
noch  sicher,  so  tritt  doch  Schwanken  beim  raschen  Halt-  oder  gar 
Kehrtmachen  ein.  Laufen,  Springen,  Steigen  auf  einen  Stuhl,  Trepp- 
abwärtsgehen  u.  s.  w.  fallen  schwer.  Zuweilen  geht  der  Kranke 
gut  vorwärts,  kann  aber  nur  ganz  unbeholfen  nach  rückwärts  gehen. 
Bei  stärkerer  Entwicklung  der  Störung  ist  der  a  taktische  Gang 
auf  den  ersten  Blick  zu  erkennen.  Der  Kranke  steht  mit  steifen 
und  gespreizten  Beinen,  beginnt  er  zu  gehen,  so  hebt  er  das  Bein 
übermässig  hoch,  wirft  den  Unterschenkel  nach  aussen  und  vor- 
wärts und  setzt  dann  den  Fuss  mit  der  Ferse  zuerst  stampfend  zu 
Bodeu.  Während  des  „stampfenden",  „schleudernden"  Ganges  heften 
die  Kranken  die  Augen  auf  die  Füsse.  Weiterhin  werden  die  Be- 
wegungen immer  unsicherer  und  stürmischer,  die  Kranken  werfen 
ihre  Beine  nach  allen  Seiten,  taumeln  bald,  stürzen  bald  vorwärts, 
stossen  an  Personen  und  Gegenstände  an  und  sind  schliesslich  trotz 
zweier  Stöcke  nicht  fähig,  sich  aufrecht  zu  erhalten.  Das  Gehen 
ist  dann  unmöglich  trotz  wohlerhaltener  Kraft  der  Beinmuskeln. 

Seltener  als  an  den  Gliedern  beobachtet  man  Ataxie  an  Kopf, 
Hals  und  Rumpf,  hier  bewirkt  sie  Grimassiren,  Articulationstöruiigen, 
wohl  auch  unregelmässige  Bewegungen  der  Augen  (ataktischen  Ny- 
stagmus), Schwanken  des  Kopfes  und  Sumpfes  beim  Sitzen  u.  s.  w. 
Gewöhnlich  werden  als  charakteristisch  für  die  Ataxie  besonders  die 
schroffen  Bewegungen,  das  Schleudern,  der  ebenso  übermässige  als 
unnütze  Kraftaufwand  bezeichnet.  Es  handelt  sich  da  wohl  zum  Theil 
um  eine  secundäre  Störung,  die  Kranken  suchen  unwillkürlich  ihre 
Ungeschicklichkeit  dadurch  gut  zu  machen,  dass  sie  sich  absonderlich 
anstrengen,  iln-e  Muskeln  übermässig  stark  innerviren.  Nicht  alle 
Ataktischen  zeigen  das  Schleudern,  besonders  bei  Frauen  sind  die 
Bewegungen  oft  einfach  unbeholfen. 

Fast  stets  suchen  die  Ataktischen  ihre  Bewegungen  mit  den  Augen 
zu  überwachen  und  wenn  sie  dies  nicht  können  (bei  geschlossenen 
Augen  «Hier  im  Dunkeln),  nimmt  gewöhnlich  die  Ataxie  wesentlich 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Ataxie  103 

zu.  Bei  geringer  Ataxie  bemerken  die  Kranken  nicht  selten  deren 
Vorhandensein  nur  daran,  dass  sie  im  Dunkeln  auffallend  ungeschickt 
sind.  Immerhin  vermag*  die  Ueberwachung  der  Augen  die  Ataxie 
nicht  zu  beseitigen.  Vielmehr  ist  für  die  eigentliche  Ataxie  charak- 
teristisch, dass  die  Bewegungen  trotz  der  Ueberwachung  durch  di<^ 
Augen  incoordinirt  sind. 

Von  der  bei  Bewegungen  eintretenden  locomotorischen 
Ataxie  trennt  man  zuweilen  die  statische  (Friedreich)  und 
versteht  darunter  das  Schwanken,  das  eintritt,  wenn  die  Kranken 
den  Arm  ruhig  ausgestreckt  halten,  mit  der  Hand  einen  gleichmässigen 
Druck  ausüben  sollen,  wenn  sie  sitzen,  aufrecht  stehen.  Die  statische 
Ataxie  ist  ein  Ausdruck  sehr  starker  Ataxie. 

Von    der    bisher  beschriebenen  Ataxie  im  engeren  Sinne 
pflegt  man  die  Bewegungstörungen  zu  unterscheiden,  die  bei 
mehr  oder  weniger  vollständiger  Anästhesie  auftreten.    Es  sind 
mehrfach  Fälle  beobachtet  worden,  wo  Kranke  mit  Anästhesie  der 
Haut  und  der  tiefen  Theile  alle  Bewegungen  richtig  ausführten,  so 
lange  sie  sie  sahen.    Dagegen  traten  bei  ihnen  Störungen  ein,  sobald 
sie   die  Augen   schlössen   oder  in's  Dunkle  kamen.     Die  Kranken 
lassen  dann  die  Dinge,  die  sie  in  der  Hand  hielten,  fallen,  sie  sind 
unfähig,  eine  bestimmte  Bewegung  auszuführen,  weil  sie  gar  nicht 
wissen,  ob  sie  ihren  Arm  bewegen  oder  nicht,  die  Bewegung  fällt 
bald  zu  gross,  bald  zu  klein  aus,  zuweilen  bleibt  das  Glied  ganz 
ruhig,  während   die  Kranken  glauben,    es  bewegt  zu  haben.     Bei 
Anästhesie  der  Füsse  können   die  Kranken  ohne  Hülfe  der  Augen 
nicht  gehen,  noch  stehen.    Die  Fähigkeit,  das  Gleichgewicht  zu 
erhalten,  ist  direct  abhängig  von  der  Empfindlichkeit.    Nur  da- 
durch,  dass   zu   dem  Gehirn  fortwährend  durch   die  centripetalen 
Bahnen  Nachrichten  über  die  äusseren  Verhältnisse  gelangen,  können 
jederzeit  den  Muskeln  beider  Körperhälften  die  zur  Erhaltung  des 
Gleichgewichtes  nöthigen  Innervationen  zugeführt  werden.  Es  kommt 
in  Betracht  die  Empfindlichkeit  der  peripherischen   Theile  (Haut, 
Muskeln  u.  s.  w.),  des  Auges  und  wahrscheinlich  auch  der  Bogengänge 
des  Labyrinthes.     Sind  die  peripherischen  Theile  unempfindlich,  so 
reicht  die  Orientirung  durch  die  Sinnesorgane  nothdürftig  aus,   das 
Gleichgewicht  zu  erhalten.    Wird  aber  auch  das  Auge  ausgeschlossen, 
so   treten   sofort  Gleichgewichtstörungen    ein.     Steht  ein  Kranker 
mit  offenen  Augen  sicher,  beginnt  er  aber  zu  schwanken,  sobald  er 
die  Augen  schliesst  (Brach-Eomberg'sches  Symptom),  so  ist 
dies  ein  Beweis,  dass  die  Empfindlichkeit  seiner  Füsse  gestört  ist. 
Sind  die  Füsse  ganz  anästhetisch,  so  stürzt  der  Kranke  beim  Augen- 


104  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Schlüsse  sofort  zusammen.  Um  das  Romberg'sche  Symptom  auch 
bei  schwacher  Anästhesie  nachweisen  zu  können,  lässt  man  den 
Kranken  mit  geschlossenen  Füssen  stehen,  d.  h.  so,  dass  die  inneren 
Fussränder  sich  berühren.  Dann  ist  die  Erhaltung  des  Gleichgewichtes 
begreiflicher  Weise  besonders  schwierig.  Noch  mehr  ist  letzteres 
beim  Stehen  auf  einem  Fusse  der  Fall;  Kranke  mit  Andeutungen 
von  Anästhesie  der  Füsse  sind  ganz  unfähig,  bei  geschlossenen  Augen 
auf  einem  Fusse  zu  stehen. 

Blinde  Ataktische  schwanken  zuweilen  beim  Stehen  stärker, 
sobald  sie  die  Augen  schliessen.  Es  handelt  sich  da  wohl  um  eine 
psychische  Wirkung. 

Eine  Art  von  Pseudoataxie  kann  dadurch  zu  Stande  kommen, 
dass  von  den  zu  einer  Bewegung  nöthigen  Muskeln  einige  mehr  oder 
minder  paretisch  sind.  Wird  die  Muskelgruppe  dann  in  der  gewohnten 
Weise  innervirt,  so  muss  die  Bewegung  ataktisch  sein.  Ist  dabei 
die  Sensibilität  normal,  so  muss  die  Störung  vorübergehend  sein,  der 
Wille  lernt  sich  den  veränderten  Verhältnissen  anpassen.  Besteht 
aber  auch  Anästhesie  der  betroffenen  Theile,  so  wird  die  Unsicher- 
heit der  Bewegung  kaum  auszugleichen  sein.  Diese  Pseudoataxie 
erkennt  man  eben  daran,  dass  bei  der  Einzelprüfung  der  Muskeln 
sich  da  und  dort  Parese  findet.  Doch  wird  die  Unterscheidung  von 
der  wirklichen  Ataxie  nicht  selten  schwierig  sein,  da  beide  Störungen 
neben  einander  bestehen  können,  besonders  im  Laufe  der  Zeit  zur 
Ataxie  oft  Parese  hinzukommt.  Die  Pseudoataxie  wird  um  so  leichter, 
eintreten,  je  weniger  die  Coordination  durch  Uebung  gestärkt  ist, 
leichter  bei  Kindern  als  bei  Erwachsenen. 

Die  Ataxie  kann  verwechselt  werden  mit  den  Chorea- 
bewegungen.  Jene  zeigt  sich  bei  willkürlichen  Bewegungen,  sei 
es,  dass  diese  eine  locomotorische  oder  eine  statische  Wirkung  haben, 
die  Choreabewegungen  dauern  auch  bei  vollständiger  Kühe  des 
Körpers  fort.  Jene  zeigt  sich  bei  denselben  Bewegungen  immer  in 
nahezu  derselben  Weise,  während  diese  bald  da  sind,  bald  fehlen, 
in  launischer  Weise  bald  so,  bald  so  auftreten.  Jene  lässt  die  ganze 
Bewegung  uncoordinirt  erscheinen,  bei  dieser  ist  die  Bewegung  co- 
ordinirt  und  nur  während  der  Ausführung  wird  sie  von  einer  anderen 
Bewegung  durchkreuzt,  die  oft  auch  den  Charakter  der  Willkür  hat. 

Das  Intention  zittern  unterscheidet  sich  dadurch  von  der 
Ataxie,  dass  dort  auch  die  Einzelbewegung  zitternd  ausgeführt  wird, 
dass  dort  die  Abweichungen  von  der  beabsichtigten  Bewegung  rhyth- 
misch sind,  bei  der  Ataxie  unregelmässig.  Immerhin  kann  das  In- 
tentionzittmi   so  intensiv  werden,   dass  der  rhythmische  Charakter 


Motilität.     Abnorme  Bewegungen.    Ataxie.  105 

undeutlich  wird  und  die  Unterscheidung  von  der  Ataxie  Schwierig- 
keiten macht.   Auch  können  beide  Störungen  gleichzeitig  vorkommen. 


Durch  welche  Läsion  die  Ataxie  zu  Stande  kommt,  wissen  wir 
nicht  mit  Bestimmtheit.  Man  hat  früher  viel  über  die  Entstehung 
der  Ataxie  gestritten.  Neuere  Versuche  haben  es  wahrscheinlich 
gemacht,  dass  doch  in  allen  Fällen  von  Ataxie  Störungen  der  Em- 
pfindlichkeit, besonders  der  Empfindlichkeit  der  Gelenke  bestehen 
(G-oldscheider).  Ist  in  diesen  die  Ursache  der  Ataxie  zu  sehen,  so 
wird  ohne  Weiteres  begreiflich,  dass  alle  Störungen,  die  die  Bahn  von 
den  Gelenkflächen  zu  den  empfindenden  Hirntheilen  unterbrechen, 
Ataxie  bewirken  können.  Ausserdem  kommen  die  vermutheten 
„Coordination-Centra"  inBetracht,  Thatsächlich  ist  Ataxie  beschrieben 
worden  bei  Läsion  der  Grosshirnrinde  (corticale  oder  Einden- 
ataxie),  des  Kleinhirns  (cerebellare  Ataxie),  der  Oblongata 
(bulbäre  Ataxie),  des  Eückenmarkes  (spinale  Ataxie),  der 
Nerven  (peripherische  Ataxie).  Wir  finden  echte  Ataxie  weitaus 
am  häufigsten  bei  Tabes.  Da  nun  bei  Tabes  (und  ebenso  bei  der 
hereditären  Ataxie  oder  Friedreichischen  Krankheit)  regelmässig  die 
Hinterstränge  des  Eückenmarkes  erkrankt  sind,  läge  es  nahe,  die 
Ataxie  von  einer  Läsion  der  Hinterstränge  abzuleiten.  Freilich  ist 
es  bis  jetzt  nicht  möglich  zu  sagen,  welcher  Abschnitt  der  Hinter- 
stränge in  Frage  kommt,  ob  etwa  die  Erkrankung  der  Hinterhörner 
von  besonderer  Bedeutung  sei.  Man  wird,  wenn  man  eine  der 
tabischen  gleichende  Ataxie  trifft  und  wenn  sonst  Gründe  vorliegen, 
eine  spinale  Läsion  anzunehmen,  geneigt  sein  eine  Erkrankung  der 
Hinterstränge  zu  vermuthen,  z.  B.  wenn  ein  Kranker  mit  multipler 
Sklerose  ataktisch  ist.  Immerhin  wird  man  in  dieser  Hinsicht  vor- 
sichtig sein  müssen,  es  ist  zweifellos,  dass  auch  eine  Erkrankung 
peripherischer  Nerven  Ataxie  bewirken  kann. 

Bemerkeiiswerth  ist,  dass  die  Diagnose  der  Tabes  sich  weit  weniger 
auf  den  Nachweis  der  Ataxie,  als  auf  andere  Symptome  stützt  (reflectorische 
Pupillenstarre,  Anisocorie,  Atrophia  n.  opt,  Fehlen  der  Sehnenreflexe, 
Blasenstörung,  lanzinirende  Schmerzen,  Anästhesie).  Die  Ataxie  fehlt 
fast  immer  während  eines  Theiles  des  Tab  es  Verlaufes,  ja  sie  kann  bis  zum 
Ende  des  Lebens  fehlen  und  andererseits  kommt  Ataxie  in  ähnlicher  Weise 
wie  bei  Tabes  auch  ohne  Tabes  vor. 

Neuerdings  hat  man  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  langsam  sich 
entwickelnde  Ataxie  der  Beine  zusammen  mit  Parese  und  oft  mit  erhaltenen 
Sehnenreflexen  bei  der  combinirten  Degeneration  der  Hinter-  und  Seiten- 
stränge gefunden  wird.    An  diese  Erkrankung,  über  deren  Verhältniss  zur 


106  Untersuchung  des  Bewegungsäpparates. 

Tabes  noch  nichts  Sicheres  bekannt  ist,  wird  daher  bei  den  angegebenen 
Erscheinungen  zu  denken  sein. 

Besteht  Ataxie  neben  bulbären  Symptomen,  so  wird  eine  Läsion 
der  Fortsetzungen  der  /Hinterstränge  im  verlängerten  Marke  wahr- 
scheinlich sein. 

Der  tabischen  gleichende  Ataxie  (der  Beine)  ist  einige  Male 
auch  bei  cerebellaren  Erkrankungen  beobachtet  worden.  Man  wird 
die  Diagnose  nur  machen  können,  wenn  neben  der  Ataxie  unzweifel- 
hafte Symptome  einer  KLeinhirnläsion,  z.  B.  die  Erscheinungen  eines 
Kleinliiriitumor,  bestehen,  Symptome  einer  spinalen  Läsion  fehlen. 
Die  sogenannte  „cerebellare  Ataxie"  hat  eigentlich  mit  dem, 
was  man  sonst  Ataxie  nennt,  nichts  zu  tliun.  Bei  cerebellarer  Ataxie 
besteht  Unfähigkeit,  sicher  zu  gehen  und  zu  stehen,  die  nicht  von 
Anästhesie  der  Beine  abhängt.  Der  Kranke  mit  cerebellarer  Ataxie 
zeigt  im  Liegen  keine  Spur  von  Ataxie,  soll  er  aber  gehen,  so 
taumelt  er  wie  ein  Betrunkener,  soll  er  mit  geschlossenen  Füssen 
stehen,  so  schwankt  er  hin  und  her,  fällt  möglicherweise  zu  Boden. 
Es  handelt  sich  demnach  ausschliesslich  um  Gleichgewichtstörungen, 
die  ganz  und  gar  denen  gleichen,  die  eine  acute  Alkoholvergiftung 
hervorbringt.  Aus  der  Existenz  der  cerebellaren  Ataxie  kann  man 
zwar  stets  eine  Functionstörung  des  Kleinhirns  erschliessen,  doch 
nicht  ohne  Weiteres  eine  directe  Läsion  des  Kleinhirns.  Seine  Function, 
das  Gleichgewicht  zu  wahren,  ist  von  der  normalen  Verbindung  des 
Centrum  mit  der  Peripherie  abhängig.  Die  durch  Sensibilitätstörungen 
und  durch  Augenmuskellähmungen  bewirkten  Alterationen  des  Gleich- 
gewichtes werden  sich  leicht  ausschliessen  lassen.  Schwerer  ist  dies 
bei  den  Erkrankungen  der  halbzirkelförmigen  Kanäle  des  Ohres, 
beziehungsweise  des  Acusticus,  die  in  ähnlicher  Weise  von  cerebellarer 
Ataxie  begleitet  sein  können,  wie  die  des  Centrum  im  Kleinhirn 
selbst.  Ist  die  cerebellare  Ataxie  mit  Gehörsstörungen,  subjectiven 
Geräuschen,  objectiv  nachweisbaren  Erkrankungen  des  Ohres  ver- 
bunden, so  wird  man  zunächst  an  eine  Erkrankung  der  Nerven  der 
halbzirkelförmigen  Kanäle  denken,  bestehen  mit  ihr  Gehirnsymptome 
(Stauungspapille.  Hemiplegie,  bestimmte  Zwangsbewegungen,  an- 
dauernder heftiger  Hinterkopfschmerz  u.  s.  w.),  so  wird  eine  Er- 
krankung des  Kleinhirns  selbst  wahrscheinlicher  sein.  Schwindel 
kann  in  beiden  Fällen  bestehen. 

Wenn  die  Bewegungen  paretischer  Glieder  ataktisch  sind,  so  muss 
in  der  Regel  die  Diagnose  nach  den  für  Lähmungen  geltenden  Vorschrif- 
ten ohne  Rücksicht  auf  die  Ataxie  gestellt  werden.  Erfahrunggemäss 
können  Lähmungen  bei  sehr  verschiedener  Localisation  der  Läsion 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Ataxie.  107 

von  Ataxie  begleitet  sein.  Man  hat  die  Ataxie  z.  B.  bei  Paraparese 
durch  spinale  Querläsion,  bei  cerebralen  Monoplegien  und  bei  Hemi- 
plegien beobachtet.  Am  häufigsten  scheint  Ataxie  bei  den  von  cor- 
ticalen  Läsionen  abhängigen  Paresen  zu  sein.  Man  wird  berechtigt 
sein,  sie  auf  eine  Stufe  mit  den  übrigen  diese  Parese  begleitenden 
motorischen  Reizerscheiiiungen  zu  stellen,  mit  dem  Tremor,  der 
Athetose,  der  Chorea,  und  in  der  That  finden  sich  gerade  hier  Zu- 
stände, wo  es  schwer  ist,  zu  sagen,  ob  man  von  Hemiathetosis.  von 
Hemichorea  oder  von  Hemiataxie  reden  soll.  Wovon  es  abhängt, 
dass  bald  eine  dieser  Störungen  die  Parese  begleitet,  bald  nicht. 
dass  bald  diese  Form  sich  zeigt,  bald  jene,  wissen  wir  nicht.  Neben 
der  corticalen  Ataxie  besteht  häufig  Anästhesie,  d.  h.  Unvermögen, 
die  Lage  des  Gliedes  und  passive  Bewegungen  zu  erkennen.  Während 
gewöhnlich  die  Ataxie,  ebenso  wie  die  Chorea,  nach  dem  Eintritte 
der  cerebralen  Lähmung  sich  entwickelt:  posthemiplegische  Ataxie. 
Chorea,  geht  sie  in  selteneren  Fällen  der  Lähmung  voraus:  prähe- 
miplegische  Ataxie,  Chorea,  Die  Diagnose  wird  sich  im  letzteren  Falle 
auf  die  Halbseitigkeit  des  Symptomes,  den  Beginn  an  einem  Gliede. 
die  Raschheit  der  Entwicklung,  die  etwaige  charakteristische  Sen- 
sibilitätstörung,  auf  anderweite  cerebrale  Sjmiptome  zu  stützen  haben. 
AVas  endlich  die  Ataxie  angeht,  die  theils  allein,  theils  mit 
anderen  nervösen  Störungen  als  acute,  gewöhnlich  früher  oder  später 
vorübergehende  Erkrankung  nach  verschiedenen  acuten  Infections- 
krankheiten  (Diphtherie,  Typhus,  Variola,  Morbilli,  Scaiiatma,  Erysi- 
pels, Pneumonie,  Malaria,  Dj^senterie  u.s.  w.)  auftreten  kann,  so  wissen 
wir  über  Art  und  Ort  der  Läsion  sehr  wenig.  Für  viele  leichtere 
Fälle  ist  es  wahrscheinlich,  dass  so  wenig  wie  bei  der  nach  manchen 
Richtungen  analogen  gewöhnlichen  Chorea  stärkere  organische  Ver- 
änderungen im  Nervensystem  bestehen.  In  anderen  Fällen  kann 
man  multiple  entzündliche  Herde,  die  die  Section  einige  Male 
nachgewiesen  hat,  vermuthen.  Diese  mögen  bald  im  ganzen  Nerven- 
system auftreten,  bald  auf  Gehirn  oder  Rückenmark,  oder  periphe- 
rische Nerven  beschränkt  sein.  Es  ist  durchaus  nicht  nothwendig. 
dass  die  acute  Ataxie  immer  durch  Läsion  desselben  Ortes  entsteht. 
Vielmehr  spricht  für  das  Gegentheil  der  LTmstand,  dass  das  klinische 
Bild  der  acuten  Ataxie  in  verschiedener  Weise  sich  darstellt;  bald 
sieht  man  die  schleudernden  Bewegungen,  die  wir  am  Tabeskraiiken 
kennen,  bald  erinnert  der  Zustand  mehr  an  die  cerebellare  Ataxie, 
bald  werden  die  Bewegungen  denen  kleiner  Kinder  ähnlich,  so 
dass  es  den  Eindruck  macht,  als  ob  die  Kranken  nur  das  Gehen. 
Essen  u.  s.  w.  verlernt  hätten. 


108  Untersuchung  des  Bewegiuigsapparates. 

ß.  Zittern. 

Man  spricht  von  Zittern  (Tremor),  wenn  rasch  sich  folgende, 
kleine,  hin-  und  hergehende  Bewegungen  sich  zeigen.  Zittern  wird 
bekanntlich  auch  am  Gesunden  beobachtet  bei  rascher  Abkühlung, 
bei  starker  gemüthlicher  Erregung,  bei  intensiver  Ermüdung  u.  s.  w. 
Krankhaft  ist  ein  Zittern,  wenn  es  entweder  ohne  wahrnehmbare 
Ursache  oder  auf  abnorm  schwache  Eeize  hin  entsteht,  oder  zwar 
auf  dieselbe  Weise  zu  Stande  kommt  wie  beim  Gesunden,  aber  durch 
Stärke  und  Dauer  abnorm  ist. 

Ist  Zittern  nicht  ohne  Weiteres  wahrzunehmen,  so  prüft  man, 
ob  es  bei  Bewegungen  eintritt.  Am  ehesten  zeigt  es  sich  bei  Be- 
wegungen, die  entweder  Kraft  oder  eine  gewisse  Genauigkeit  und 
Sicherheit  fordern,  beim  Heben  eines  schweren  Gegenstandes,  beim 
Ausgestreckthalten  der  Hand  oder  des  Fusses,  beim  Einfädeln  einer 
Nadel,  beim  Knüpfen  eines  Knotens,  beim  Schreiben,  Essen,  Trinken 
u.  s.  w.  Rasche,  energische  Bewegungen  gelingen  gewöhnlich  ohne 
Zittern,  vielfach  geübte  leichter  als  ungewohnte.  Im  Allgemeinen 
kann  Schreiben  als  das  feinste  Reagens  auf  Tremor  angesehen  werden, 
doch  ist  zu  bemerken,  dass  schriftgewandte  Personen  oft  noch  ohne 
deutliches  Zittern  schreiben,  während  sie  z.  B.  beim  Binden  einer 
Schleife  oder  dergl.  deutlich  zittern. 

Es  ist  darauf  zu  achten,  ob  Bewegungen,  die  anfänglich  sicher 
ausgeführt  wurden,  nach  Wiederholung  zitternd  geschehen,  ob  psy- 
chische Erregung  abnorm  leicht  Zittern  hervorruft,  ob  schon  geringe 
Abkühlungen  ebenso  wirken  u.  s.  w. 

Bei  jedem  Zittern  ist  zu  prüfen,  welche  Theile  zittern,  ob  bei 
Bewegungen  nur  die  bewegten  Theile  oder  auch  andere  zittern,  ob 
die  einzelnen  Oscillationen  sich  sehr  rasch  oder  relativ  langsam 
folgen,  ob  sie  streng  rhythmisch  sind  oder  nicht,  wie  gross  sie  sind, 
ob  sie  unter  einander  gleich  gross  sind  oder  nicht,  ob  das  Zittern 
durch  den  Willen  vermindert  werden  kann,  welche  Momente  es 
steigern,  ob  Pausen  eintreten  und  auf  welche  Veranlassung. 

Ueber  die  meisten  dieser  Momente  erhält  man  in  der  elegan- 
testen Weise  Aufschluss,  wenn  man  durch  einen  geeigneten  Apparat 
die  Zitterbewegungen  graphisch  darstellt,  Einige  Curven,  die  bei 
Benutzung  eines  dem  Marey'schen  Myographen  ähnlichen  Apparates 
erhalten  worden  sind,  stellen  die  Figg.  24 — 26  dar.  Immerhin  ist  es 
nicht  wünscheiiswerth,  durch  derartige  complicirte  Apparate  die  kli- 
nische Untersuchung  zu  erschweren.  Nur  ausnahmeweise  werden 
sie  zu  diagnostischen  Ergebnissen  führen,  die  nicht  auf  einfachere 
Weise  zu  erhalten  wären.    Deshalb  möge  derjenige,  der  Laboratorium- 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Zittern. 


109 


methoden  anzuwenden  wünscht,  die  entsprechenden  Specialschriften 
einsehen. 

Das  Zittern  des  Kopfes  stellt  sich  als  Schütteln  oder  Nicken 
dar,  häufig"  ist  Zittern  der  Kaumuskeln  (Zähneklappern),  der  Zunge. 
auch  Zittern  einzelner  Gesichtsmuskeln  wird  beobachtet.  Das  Zittern 
der  Augen  wird  gewöhnlich  zum  Nystagmus  gerechnet.  Tremor  der 
Kehlkopfmuskeln  bewirkt  das  Zittern  der  Stimme.    Manche  Formen 

Zittercurven  (nach  P.  Marie). 


A 


Fig.  24. 

Zittern  bei  Morbus  Basedowii.    A  Zittern.    B  Chronograph. 


A 


S=10VD 


Fig.  25. 

Zittern  bei  Alkoholismus. 


aiiarthrisclier  Sprachstörung  scheinen  durch  Tremor  der  beim  Sprechen 
bewegten  Muskeln  verursacht  zu  werden.  An  den  Gliedern  wird 
die  Art  der  Zitterbewegung  von  der  Natur  des  Gelenkes  abhängen. 
Bekannt  ist  das  „Schlottern  der  Kniee".  Nicht  nur  am  häufigsten, 
sondern  auch  am  mannigfaltigsten  sind  die  Zitterbewegungen  der 
Hand  und  der  Finger. 

Bald  zittern  nur  bestimmte  Theile,  bald  zeigt  sich,  wie  im  Fieber- 
frost, ein  allgemeines  Schütteln  und  Beben.  Zittert  nur  ein  Theil. 
z.  B.  die  Hand,  so  können  doch  mechanisch  die  Erschütterungen 


110  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

sich  dem  ganzen  Arme  mittheilen.  Das  bei  Bewegungen  eintretende 
Zittern  beschränkt  sich  entweder  auf  den  bewegten  Theil  oder  ver- 
breitet sich  auf  benachbarte  Theile  oder  wird  ein  allgemeines.  Bei 
Bewegungen  der  Hantl  z.  B.  kann  auch  der  andere  Arm  oder  der 
Kopf  oder  das  Bein  zu  zittern  beginnen  oder  der  ganze  Körper  in 
Beben  gerathen.  Die  Geschwindigkeit  des  Zitterns  ist  ebenso  va- 
riabel wie  die  Grösse  der  Oscillationen.  Die  Grenze  nach  unten  ist 
die  eben  wahrnehmbare  Bewegung:,  kommt  keine  Locomotion  zu 
Stande,  so  besteht  auch  kein  Zittern.  Die  Contractionen  einzelner 
Muskelbündel,  besonders  die  sogenannten  fibrillären  Zuckungen,  haben 
mit  dem  Tremor  nichts  zu  thun.  ')  Die  Grenze  nach  oben  ist  nicht 
leicht  zu  bestimmen.  Das  Zittern  geht  stetig  in  den  klonischen 
Krampf  über.  Zittern  mit  grossen  Oscillationen  nennt  man  wohl 
auch  Schutt elkramp f.  Es  ist  dem  Tremor  wesentlich,  dass  die 
Oscillationen  sich  rhythmisch  folgen :  auf  die  Zeiteinheit  kommen  un- 
gefähr gleich  viele,  wenn  immer  auch  Schwankungen  nicht  ausge- 
schlossen sind.  Verwischt  sich  der  rhythmische  Charakter,  so  kann 
es  schwer  sein,  zu  sagen,  ob  Zittern  oder  choreatische  Bewegungen 
bestehen,  oder  die  Grenze  zwischen  Tremor  und  Ataxie  zu  ziehen. 
Von  Bedeutung  ist  ausserdem  besonders  die  Frequenz  der  Oscilla- 
tionen, über  die  unten  einige  Angaben  folgen. 

Es  ist  nicht  bekannt,  ob  das  Zittern  durch  abwechselnde  Con- 
traction  und  Erschlaffung,  beziehungsweise  durch  Nachlassen  der 
Contraetion,  derselben  Muskeln  oder  durch  abwechselnde  Contractio- 
nen. beziehungsweise  wechselndes  Nachlassen,  antagonistischer  Mus- 
keln zu  Stande  kommt,  wenngleich  für  die  meisten  Fälle  das  Letztere 
wahrscheinlicher  ist.  Es  ist  auch  im  einzelnen  Falle  schwer,  zu 
entscheiden,  ob  das  Zittern,  das  Bomberg  die  Brücke  zwischen 
Lähmung  und  Zuckung  nannte,  durch  ein  Zuwenig  oder  Zuviel  der 
Innervation  zu  erklären  sei.  Im  Allgemeinen  pflegt  man  ein  para- 
lytisches Zittern,  dessen  Typus  bei  der  Ermüdung  zu  beobach- 
ten ist,  und  ein  Krampf  zittern,  dessen  Typus  der  Schüttelfrost 
ist.  zu  unterscheiden. 

Von  Alters  her  ist  es  gebräuchlich,  zwischen  einem  Zittern, 
das  mir  die  willkürlichen  Bewegungen  begleitet,  dem  Intention- 
zittern, und  einem  Zittern,  das  auch  ohne  solche  besteht,  zu  unter- 
scheide]].    Wenn  eine  strenge  Trennung  beider  Arten  nicht   durch- 


li  Es  ist  unbegreiflich,  dass  ein  so  grober  Irrthum  wie  die  Verwechselung 
der  nach  Durchschneidung  des  Hypoglossus  in  der  Zunge  auftretendes  filrrillären 
Zuckungen  mir  dem  Zittern  immer  wieder  reproducirt  wird. 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Zittern.  111 

zuführen  ist,  die  eine  in  die  andere  übergehen  kann,  so  ist  es  doch 
zweckmässig-  für  den  klinischen  Gebrauch  an  jener  Unterscheidung 
festzuhalten. 

Doch  darf  man  das  Intentionzittern  nicht  schlechtweg-,  wie  viel- 
fach geschieht,  mit  dem  paralytischen  Zittern  identificiren.  Erstens 
kann  das  letztere  auch  in  der  Kühe  sich  zeigen,  wenn  die  Muskeln, 
die  zur  Bewahrung  der  Haltung  dienen,  diesen  Dienst  nur  zitternd 
verrichten  können,  wenn  z.  B.  der  Kopf  nur  zitternd  aufrecht  er- 
halten werden  kann.  Dann  aber  giebt  es  eine  Form  des  Krampf- 
zitterns,  das  spastische  Zittern,  das  nur  Bewegungen  begleitet 
und  dessen  Typus  das  Fussphänomen  ist.  Das  spastische  Zittern, 
das  sozusagen  zwischen  dem  paralytischen  und  convulsivischen  Zittern 
steht,  wird  nach  Art  der  übrigen  spastischen  Phänomene  reflectorisch 
durch  Dehnung  der  Muskeln  und  Sehnen  hervorgerufen,  die  entweder 
mechanisch  oder  durch  willkürliche  Contraction  der  Antagonisten  zu 
Stande  kommt. 

Als  Typus  des  Intentionzitterns  wird  gewöhnlich  das  bei  m  u  1  - 
tipler   Sklerose  bezeichnet.    Hier  zeigt   sich   in   vollkommener 
Ruhe  kein  Zittern,   oft  fehlt  es  auch  bei  kleinen  Bewegungen,  so- 
bald aber  Bewegungen  von  einer  gewissen  Ausdehnung   gemacht 
werden,   tritt  es  auf.     Beim  Beginne  der  Bewegung  ist  es  gering, 
steigert  sich  aber  allmählich  zu  heftigem  Schütteln,  so  dass  die  ge- 
rade Linie  in  eine  Zickzacklinie  mit  wachsenden    Schwankungen 
verwandelt  wird.    Die  Zitterbewegungen  sind  annähernd  rhythmisch, 
aber  es  finden  sich  grössere  Unregelmässigkeiten  als  z.  B.  bei  dem 
Zittern  der  Paralysis  agitans,  sowohl  in  Beziehung  auf  die  wech- 
selnde Grösse  der  Oscillatioiien  als  in  Beziehung  auf  die  zeitliche 
Folge,  so  dass  man  nicht  selten  an  die  ataktischen  Bewegungen  er- 
innert wird.    Immerhin  finden  sich  bei  dem  Intentionzittern  nicht 
die  ungestümen,  regellosen  und  zweckwidrigen  Contractionen,  die 
bei  Ataktischen  die  Bewegungen  durchkreuzen  oder  vereiteln.    Trotz 
des  Schütteins  hält  die  Bewegung  die  eingeschlagene  Richtung  ein 
und  bleibt  der  oscillatorische  Charakter  der  Bewegungstörung'  ge- 
wahrt.   In  der  weitaus  grössten  Zahl   der  Fälle   wird    eine   Ver- 
wechselung des  Intentionzitterns  mit   anderen  Bewegungstörungen 
nicht  möglich  sein.    Am  schwierigsten  zu  beurtheilen  sind  die  selte- 
nen Fälle,  wo  Intentionzittern  und  Ataxie  neben  einander  vorkommen. 
Die  multiple  Sklerose  kann  auch  ohne  Zittern  vorkommen,  aus 
seinem   Fehlen   kann    daher   kein   diagnostischer    Schluss   gezogen 
werden.    Das  Vorhandensein  des  Intentionzitterns  beweist  zwar  die 
multiple  Sklerose  nicht  schlechthin,  macht  sie  aber  immerhin  sehr 


112  Untersuchung  des  Bewegttagsapparates. 

wahrscheinlich,  wenn  sonst  Symptome  einer  cerebrospinalen  Läsion 

vorliegen,  besonders  kann  es  wichtig  sein,  wenn  es  gilt.  Tabes  und 
multiple  Sklerose  zu  unterscheiden.  In  diesem  Sinne  lässt  sich  be- 
sonders auch  das  eigentümliche,  die  Bewegungen  der  Augen  be- 
gleitende Augenzittern,  der  Nystagmus,  verwerthen.  da  diese  Erschei- 
nung wohl  nie  bei  Tabes  vorkommt. 

Eine  Verwechselung  zwischen  Paralysis  agitans  und  multipler 
Sklerose  kann  nicht  leicht  vorkommen,  wenn  man  die  Verschieden- 
heit des  Tremor  bei  beiden  beachtet. 

Fig.  27. 

Schrift  bei  multipler  Sklerose  (nach  Charcot). 

Deutlich  sind  die  Kennzeichen  des  convulsi vischen  Zitterns  bei 
dem  Zittern  der  Paralysis  agitans.  Hier  handelt  es  sich  um 
streng  rhythmische  Oscillationen.  die  sich  durchschnittlich  in  der 
Secunde  5 — 6  mal  wiederholen.  Sie  zeigen  sich  gewöhnlich  zuerst 
an  einer  Hand,  ergreifen  dann  das  gleichseitige  Bein,  um  später 
auch  an  dem  anderen  Beine  und  der  anderen  Hand  sich  zu  zeigen. 
Selten  betheiligt  sich  der  Kopf  am  Zittern,  doch  beobachtet  man  zu- 
weilen auch  Schütteln  und  Nicken  desselben.  Zittern  des  Unter- 
kiefers und  einzelner  Gesichtsmuskeln.  Eigentümlich  sind  die  Be- 
wegungen der  Hand  und  der  Finger:  die  im  Metacarpophalangeal- 
gelenke  gebeugten  Finger  nähern  sich  dem  Daumen  und  bewegen 
sich  mit  diesem  wie  um  AVoile  zu  spinnen,  einen  Bleistift  oder  eine 
Papierkugel  zu  rollen,  wie  beim  Zerkrümeln  von  Brot  oder  Drehen 
von  Pillen :  gleichzeitig  beugt  sich  das  Handgelenk  in  raschen  Stössen 
gegen  den  Vorderarm,  dieser  gegen  den  Oberarm.  Das  Zittern  dauert 
bei  jeder  Stellung  und  Lage  fort.  Willkürliche  Bewegungen  ver- 
stärken es  nicht,  im  Gegentheile  hört  es  im  Beginne  solcher  auf. 
äsl  nach  beim  Drücken  mit  der  Hand,  beim  Heben  schwerer  Gegen- 
stände u.  s.  w.  Dem  entspricht,  dass  bei  nicht  zu  starkem  Tremor 
die  Schrift  ihn  oft   nicht   erkennen  lässt  (vgl.  Fig.  25  a).    Ist   der 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Zittern. 


11: 


Tremor  stark,  so  erscheint  die  Schrift  wie  in  Fig.  29  b.  Das  Zittern 
ist  um  so  geringer,  je  ruhiger  sich  die  Kranken  verhalten,  je  weniger 
sie  irritirt  werden;  bei  der  geringsten  Aufregung,  wenn  sie  sprechen, 


Haltung  dor  Hand  bei  Paralysis  agitans  (nach.  Charcot).    a  Gewöhnliche  Haltung  bei  massiger 

Intensität  der  Krankheit,    b   Deformität   der  Hand,    ähnlich   der  Haltung  bei  Arthritis  deform., 

bei  weit  fortgeschrittener  Krankheit. 


wenn  sie  sich  beobachtet  fühlen,  nimmt  es  beträchtlich  zu.  Es  be- 
steht nicht  immer  in  gleicher  Stärke,  macht  zuweilen  mehrtägige 
Pausen,  oder  hört  wenigstens  in  einem  Gliede  auf,  kehrt  dann  aber 


(yy^A^-      efu«^      c^7^^^*^/-  y^&> 


^2$^ 


^-Z^z^ 


J  ff-  tshae+nZ'    /&?S. 


53  jähriger  Mann,  typische  'rechtseitige)  Paralysis  agitans  seit  1  Jahro.    Beim  Ergreifen  der 
Feder  hört  dor  Tremor  auf  und  während  des  Schreibens  ist  von  ihm  nichts  zu  sehen. 


Ltf/pMtAMruS  y^PV^jßW 


-73 


0o£&*  m? 


b 
Fig.  29. 

Schrift  bei  Paralysis  agitans  (nach  Charcot). 

oft  mit  erhöhter  Kraft  zurück  und  steigert  sich  zeitweise  paroxys- 
menartig. 

Das  Zittern  der  Paralysis  agitans  kommt  nicht  nur  bei  dieser 
Krankheit,  sondern  hie  und  da  auch  als  posthemiplegisches  Zittern 

M  ö  b  i  u  s ,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  8 


114  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

oder  als  vorübergehende  hysterische  Störung  vor.  Es  ist  daher  nicht 
zulässig,  aus  der  Art  des  Zitterns  allein  die  Paralysis  agitans  zu 
diagnosticiren. 

Dem  Zittern  bei  Paralysis  agitans  am  ähnlichsten  ist  der  Tre- 
mor essentialis  '),  der,  wie  jene,  eine  seltene  Krankheit  darstellt, 
auf  erblicher  Anlage  beruht  und  im  höheren  Alter  auftritt.  Auch 
hier  finden  wir  rhythmische  Oscillationen,  die  sich  4 — 6  mal  in  der 
Secunde  wiederholen  (vgl.  Fig.  26).  Bei  geringer  Stärke  zeigt  sich 
der  Tremor  essentialis  nur  bei  Bewegungen  und  besonders  bei  Er- 
regungen, bei  stärkerer  hält  er  auch  in  der  Ruhe  an.  Willkürliche 
Bewegungen  steigern  ihn  im  letzteren  Falle  wenig  oder  nicht.  Zum 
Unterschiede  von  der  Paralysis  agitans  zittert  hier  fast  immer  der 
Kopf,  der  zuerst  oder  doch  bald  nach  den  Händen  vom  Tremor  er- 
griffen wird.  Der  Kopf  schüttelt  oder  nickt,  meist  zittert  auch  der 
Unterkiefer.  Das  Zittern  der  Hände  besteht  aus  kleinen  Oscillationen, 
die  Finger  sind  gewöhnlich  nicht  selbständig  thätig,  sondern  machen 
nur  die  Bewegungen  der  Hand  mit.  Die  Beine  bleiben  oft  verschont, 
oder  sind  doch  weniger  am  Zittern  betheiligt  als  Kopf  und  Hände. 

Etwas  anders  stellt  sich  das  bei  M  o  r  b  u  s  B  a  s  e  d  o  w  i  i  häufige 
convulsivische  Zittern  dar.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  rhyth- 
mische Oscillationen,  diese  sind  aber  kleiner  und  folgen  sich  rascher 
als  bei  Paralysis  agitans  und  Tremor  essentialis.  Auf  die  Secunde 
kommen  8 — 9  (vgl.  Fig.  24).  Bald  wird  der  ganze  Körper  fort- 
während von  diesem  leisen  Beben  erschüttert,  bald  zittern  nur  die 
Glieder.  Am  Arme  geschehen  die  Oscillationen  hauptsächlich  im 
Handgelenke,  die  Finger  werden  nur  passiv  bewegt. 

Dieses  Zittern  gleicht  fast  vollständig  dem,  das  bei  Gesunden 
nach  heftigen  psychischen  Erregungen  beobachtet  wird.  Es  ist  ein 
Ausdruck  gesteigerter  Empfindlichkeit,  der  sogenannten  reizbaren 
Schwäche  des  Nervensystems :  Eeize,  die  beim  Gesunden  unwirksam 
sind,  bringen  hier  Wirkungen  hervor,  wie  sie  dort  nur  excessive 
Reize  haben.  Dementsprechend  beobachtet  man  ein  ähnliches  Zittern 
bei  verwandten  Zuständen  nervöser  Schwäche,  in  der  Recon- 
valescenz  von  schweren  Krankheiten,  bei  nervöser  Erschöpfung 
durch  sexuelle  Excesse,  durch  Lactation,  durch  Hunger, 
durch  Blutverluste  u.  s.  w. 


1)  Weil  der  Tremor  essentialis  häufiger  als  in  der  Jugend  im  höheren  Alter 
beginnt,  wird  er  oft  auch  als  Tremor  senilis  bezeichnet.  Er  ist  jedoch  ganz,  zu 
trennen  von  dem  häufigen  Intentionzittern  alter  Leute.  Die  meisten  über  Tremor 
senilis  verfassten  Arbeiten  beziehen  sich  auf  den  convulsivischen  Tremor  essentialis. 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Zittern.  115 

Eine  diagnostische  Bedeutung-  kann  das  Zittern  bei  gewissen 
Vergiftungen  haben.  Allbekannt  ist  der  Tremor  alcoholicus. 
Beim  chronischen  Alkoholismus  ist  das  Zittern  eins  der  gewöhnlich- 
sten Symptome:  es  beginnt  meist  an  den  Händen,  verbreitet  sich 
allmählich  auf  Arme  und  Beine,  selbst  auf  Lippen  und  Zunge  und 
kann  endlich  bis  zu  einem  förmlichen  Beben  und  Schütteln  des  Kör- 
pers, wodurch  Gehen  und  Stehen  behindert  wird,  anwachsen.  Es 
ist  im  nüchternen  Zustande,  des  Morgens,  am  stärksten,  wird  ge- 
ringer nach  dem  Genüsse  von  Spirituosen.  Es  ist  nicht  immer  mit 
Muskelschwäche  verbunden,  sondern  kann  auch  bei  robusten  Säufern 
vorkommen.  Das  Delirium  tremens  hat  vom  Zittern  seinen  Namen. 
doch  ist  bemerkenswerth,  dass  einerseits  der  Tremor  im  Delirium 
tremens  fehlen  kann,  andererseits  bei  Meningitis  und  auch  bei  febrilen 
Delirien  ein  ganz  ähnliches  Zittern  vorkommt. 


't^yull^Ji^ 


Fig.  30. 

Zitterschrift  bei  Alkoholismus. 
Junger  Mann,  beginnendes  Delirium  tremens. 


Ein  dem  Tremor  der  Säufer  ähnliches  Zittern  sieht  man  oft 
bei  progressiver  Paralyse,  bei  ab stinir enden  Morphiumsüch- 
tigen und  angeblich  auch  bei  acuter  und  bei  chronischer  Tabaks- 
vergiftung. 

Der  Tremor  mercurialis  soll  in  der  Form  dem  Zittern  bei 
Paralysis  agitans  sehr  ähnlich  sein.  Er  beginnt  an  Armen,  Zunge, 
Gesicht,  verbreitet  sich  später  auf  die  Beine.  Anfangs  tritt  er  als 
geringes  Zittern  beim  Sprechen  und  bei  willkürlichen  Bewegungen 
auf,  wird  dann  stärker  und  schliesslich  zum  Schüttelkrampf,  der  alle 
Thätigkeit  hemmt.  Doch  haben  neuere  Untersuchungen  es  wahr- 
scheinlich gemacht,  dass  es  sich  bei  dem  als  Quecksilberzittern  be- 
schriebenen Zittern  um  Hysterie  gehandelt  hat. 

Sehr  selten  scheint  Zittern  bei  Bleivergiftung  zu  sein.  In  einigen 
von  mir  beobachteten  Fällen  glich  der  Tremor  am  meisten  dem  al- 
koholischen.   Doch  lag  vielleicht  auch  hier  Hysterie  vor. 

Auch  bei  vielfachen  anderen  Vergiftungen  ist  gelegentlich  Zittern 


116  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

beobachtet  worden,  so  bei  chronischer  Vergiftung*  durch  Aether,  Jod? 
Arsen,  Seeale  comutum,  Copaivabalsani,  Chinin,  bei  Pellagra  u.  s.  w. 

Jede  rasche  und  starke  Abkühlung  der  Körperoberfläche  giebt 
einen  Schüttelfrost.  Der  pathologische  Schüttelfrost  ist  am  bekann- 
testen als  Fieberfrost.  Daneben  ist  zu  nennen  der  Katheter- 
frost, der  bei  manchen  Personen  durch  Application  des  Katheters 
entsteht.  Ihm  analog  sind  die  fieberlosen  SeMttelkrämpfe,  die  ge- 
legentlich starke  Schmerzreize  und  scheinbar  geringfügige  Ver- 
letzungen (z.  B.  Eindringen  eines  Domes  unter  den  Fussnagel) 
begleiten. 

Bei  Hysterischen  kommen  Schüttelfröste  bei  normaler  Körper- 
temperatur ohne  nachweisbare  Veranlassung  vor.  Ausserdem  kann 
die  Hysterie  jedes  Zittern  nachahmen  und  es  ist  in  jedem  Falle  rath- 
sam,  an  die  Hysterie  zu  denken,  auf  das  Vorhandensein  anderer  lryste- 
rischer  Erscheinungen,  auf  den  Einfluss  suggestiver  Mittel  zu  achten. 

y.  Die  fibrillären  Zuckungen. 

Als  fibrilläre  Zuckungen  bezeichnet  man  Zuckungen  einzelner 
Muskelfaserbündel,  die  keine  Ortsveränderung  bewirken  und  nur  bei 
oberflächlichen  Muskeln  durch  Gesicht  und  Gefühl  wahrnehmbar  sind. 
Man  sieht  über  den  Muskel  eine  kleine  schmale  Welle  hinweglaufen, 
sind  die  fibrillären  Zuckungen  zahlreich,  so  „wogt"  die  ganze  Ober- 
fläche des  Muskels.  Die  fibrillären  Zuckungen  bieten  sich  theils 
ohne  Weiteres  der  Beobachtung  dar,  theils  treten  sie  nur  zeitweise, 
etwa  bei  Abkühlung  der  Haut  ein.  Anblasen,  leichtes  Klopfen  auf 
den  Muskel  kann  ihr  Eintreten  fördern.  Ausser  auf  ihre  Stärke 
ist  auf  ihre  Ausdehnung  zu  achten. 

Die  fibrillären  Zuckungen  sind  fast  stets  ein  Zeichen  degenera- 
tiver (neurotischer)  Atrophie,  sie  bestehen,  so  lange  Muskelfasern 
im  Untergänge  begrfffen  sind.  Am  deutlichsten  und  dauerndsten 
zeigen  sie  sich  bei  der  chronischen  Vorderhorn-  (Kern-)  Atrophie. 
Bei  primärer  Läsion  peripherischer  Nerven  sind  sie  zuweilen  vor- 
handen, können  aber  auch  gänzlich  fehlen,  fehlen  z.  B.  bei  der  ge- 
wöhnlichen Bleilähmung.  Sie  fehlen  fast  ausnahmelos  bei  rein  mus- 
culärer  Atrophie,  ein  diagnostisch  sehr  wichtiger  Punkt, 

Hier  und  da  treten  die  fibrillären  Zuckungen  bei  Gesunden  oder 
Nervösen  auf,  sie  sind  hier  aber  selten  und  ganz  unbeständig. 

d.  Klonische  und  tonische  Krämpfe. 
Von  Alters  her   theilt   man  die  Krämpfe  in  klonische   und 
tonische,  versteht  unter   diesen  einen  längere  Zeit  anhaltenden 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Klonische  und  tonische  Krämpfe.     117 

Tetanus  (Starrkrampf),  unter  jenen  rasche  unwillkürliche  Bewegungen. 
Ein  auf  einen  oder  einige  wenige  Muskeln  (z.  B.  die  Wadenmuskeln) 
beschränkter  Tetanus,  der  von  Schmerzen  begleitet  ist,  heisst  Cram- 
pus.  Ist  der  tonische  Krampf  über  den  grössten  Theil  oder  die 
Gesammtheit  der  Skeletmuskeln  verbreitet,  so  spricht  man  oft  schlecht- 
weg von  Tetanus,  oder  tetanischem  Anfall.  Die  klonischen  Krämpfe 
können  sich  als  einzelne  Zuckungen  darstellen,  die  von  Zeit 
zu  Zeit  in  demselben  Muskel,  oder  wechselnd  bald  in  diesem,  bald 
in  jenem  Muskel  auftreten,  als  rhythmische  Zuckungen,  die 
in  gleichen  Intervallen  sich  zeigen,  meist  von  gleicher  Grösse  sind 
und  vom  Zittern  durch  das  langsamere  Tempo  sich  unterscheiden, 
als  (Konvulsionen,  d.  h.  rasche,  ausgiebige,  kräftige  und  mehr  oder 
weniger  ungeordnete  Contractionen  („Schlagen  der  Glieder").  Mit 
dem  Ausdrucke  (Konvulsionen  bezeichnet  man  gewöhnlich  über  den 
ganzen  Körper  verbreitete  Krämpfe,  wie  man  in  diesem  Sinne  auch 
von  Krämpfen,  von  einem  Krampfanfalle  schlechtweg  spricht.  Häufig 
sind  gemischte,  tonisch -klonische  Krampfformen. 

Ueber  Erscheinung  und  Bezeichnung  der  Krämpfe  bei  den  ein- 
zelnen Muskeln  vgl.  den  II.  Theil. 

Ausser  auf  Form,  Stärke,  Ausdehnung  der  Krämpfe  ist  auf 
die  Nebenerscheinungen  zu  achten,  ob  in  den  vom  Krämpfe  befalle- 
nen Muskeln  Schmerz  besteht,  ob  sonstige  sensorische,  vasomotorische, 
secretorische  Störungen  bestehen,  wie  sich  die  Körpertemperatur 
verhält,  ob  das  Bewusstsein  getrübt  ist  oder  nicht.  Besonders  zu 
achten  ist  auf  das  Vorhandensein  von  Druckpunkten.  Bei  manchen 
Krampfformen  findet  man  einzelne  Stellen  (besonders  die  Stellen, 
wo  die  zu  den  befallenen  Muskeln  gehenden  Nerven  und  Arterien 
oberflächlich  liegen,  einzelne  Dornfortsätze,  aber  gelegentlich  auch 
anscheinend  indifferente  Punkte),  von  denen  aus  man  durch  Druck 
entweder  den  Krampf  hemmen  oder  hervorrufen  kann.  Zuweilen 
sind  diese  Druckpunkte  zugleich  Schmerzpunkte  (s.  unten).  Eine 
seltene  Erscheinung,  die  darin  besteht,  dass  kurze,  blitzähnliche, 
regellose  Zuckungen,  die  während  absichtlicher  Bewegungen  und 
während  des  Schlafes  aufhören  und  durch  Hautreize  gesteigert 
werden,  in  den  verschiedensten  Muskeln  beider  Körperseiten  auftreten, 
ist  von  Friedreich  als  Paramyoclonus  multiplex  bezeichnet 
worden. 

Als  eine  eigenthümliche  Art  des  tonischen  Krampfes  ist  wohl 
auch  der  als  Myotonia  congenita  (Strümpell)  bezeichnete 
Zustand  zu  betrachten.  Die  Myotonie,  das  einzige  Symptom  der 
Thomsen'schen  Krankheit,  besteht  darin,  dass  bei  Bewegungs- 


118  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

versuchen  jeder  willkürlich  bewegte  Muskel  von  einem  leichten 
tonischen  Krämpfe  befallen  wird,  der  die  beabsichtigte  Bewegung 
hemmt  und  nicht  durch  den  Willen  beseitigt  werden  kann  sie  macht 
sich  besonders  bemerklich  im  Beginne  willkürlicher  Bewegungen. 
während  sie  nach  deren  mehrmaliger  Wiederholung  schwindet.  Län- 
gere Unbeweglichkeit,  Ermüdung  steigern  das  Leiden.  Dabei  sind 
die  Haut-  und  Selmeureflexe  normal,  ebenso  bleibt  die  mechanische 
und  elektrische  Nervenerregbarkeit  unverändert,  während  die  me- 
chanische und  elektrische  Muskelerregbarkeit  in  eigenthümlicher 
Weise  verändert  ist  (myotpnische  Reaction,  s.S.  164),  fehlen  ander- 
weite nervöse  Störungen. 

In  der  Theorie  können  Krämpfe  durch  Heizung  jeder  Stelle. 
sowohl  der  motorischen  als  der  sensorischen  Bahn,  entstehen.  In 
jenem  Falle  würde  man  von  directen,  in  diesem  von  Reflex- 
krämpfen sprechen.  Bei  directen  Krämpfen  wäre  zu  erwarten. 
dass  die  Form  des  Krampfes  der  Eeizung  proportional  wäre.  Dem- 
nach könnten  klonische  directe  Krämpfe  nur  durch  intermittirende 
Reize  bewirkt  werden.  Doch  ist  es  immerhin  denkbar,  dass  patho- 
logische Processe  eine  „krampflge  Veränderung*  im  motorischen 
Nerven  verursachen  können,  vermöge  deren  er  Reize  nicht  nur  mit 
Zuckung  oder  Tetanus,  sondern  auch  mit  klonischem  Krämpfe  be- 
antwortet. Wahrscheinlich  ist  allerdings  diese  Annahme  nicht,  viel- 
mehr wird  man  geneigt  sein,  alle  klonischen  Krämpfe  für  Reflex- 
krämpfe  zu  erklären  mit  der  Voraussetzung,  dass  in  der  grauen 
Substanz  die  Bedingungen  liegen,  durch  die  ein  Reiz  eine  Reihe 
von  Zuckungen  bewirkt.  Tonische  Krämpfe  und  vereinzelte  Zuckun- 
gen können  sehr  wohl  durch  directe  Reizung  motorischer  Theile 
entstehen,  doch  lehrt  die  Erfährung.  dass  auch  hier  die  reflectorische 
Entstehung  häufiger  ist.  Demnach  stellt  die  grosse  Mehrzahl  der 
Krämpfe  Reflexkrämpfe  dar.  Der  Krampf  kann  entweder  durch 
abnorme  Reize  oder  durch  abnorme  Steigerung  der  Erregbarkeit 
entstehen.  Letzteres  dürfte  der  häufigere  Fall  sein,  doch  ist  im 
einzelnen  Falle  die  Entscheidung  oft  nicht  möglich. 

Die  Diagnose  hat  den  Krämpfen  gegenüber  einen  schweren 
Stand.  Zwar  ist  es  verhältnissmässig  leicht,  aus  der  Ausbreitung 
des  Krampfes  zu  erkennen,  welche  Theile  des  Bewegungsapparates 
betheiligt  sind  (eine  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  im  IL  Theile  die 
Anleitung  zu  finden  ist),  doch  ist  damit  der  Ausgangspunkt  des 
Krampfes  nicht  erkannt,  da  die  Läsion  sich  ja  auch  an  dieser  oder 
jener  Stelle  des  Empfindungsapparates  befinden  kann. 

Im  Allo-emeinen  mögen  folgende  Bemerkungen  als  Wegweiser 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Klonische  und  tonische  Krämpfe.     119 

dienen.  Bei  um schri ebenen  Krämpfen  hat  man  zunächst  zu 
untersuchen,  ob  nicht  im  G  e  b  i  e  t  e  d  e  s  K  r  a  m  p  f  e  s  p  a  t  h  o  1  o  g  i  s  c  h  e 
Veränderungen  bestehen,  die  reflectoriscli  den  Krampf  erregen  können. 
Denn  es  ist  anzunehmen,  dass  die  reflectorischen  Bewegungen  von 
den  Muskeln  ausgeführt  werden,  deren  Nerven  mit  den  irritirten 
sensiblen  Fasern  einen  kurzen  Reflexbogen  bilden,  in  gleicher  Höhe 
liegen.  Z.  B.  wird  Blepharospasmus  am  häufigsten  durch  Reizung 
der  sensiblen  Theile  des  Auges,  besonders  der  Bindehaut,  entstehen, 
Trismus  durch  Läsionen  in  der  Gegend  des  Kiefergelenks,  durch 
Zalmkrankheiten ,  Accessoriuskrampf .  durch  Läsion  empfindlicher 
Theile  des  Halses,  etwa  der  oberen  Halswirbel,  Krämpfe  der  Glieder- 
muskeln  durch  Gelenkerkrankungen,  Periostitis  oder  dergl.,  Krämpfe 
der  Bronchialmuskeln  bei  Reizung  der  Bronchialschleimhaut,  der 
Darmmuskeln  bei  Reizung  der  Darmschleimhaut,  der  Blase  bei 
Reizung  der  Blaseuschleimhaut ,  Vaginismus  bei  Schleimhautaffec- 
tionen  des  Scheideneinganges  u.  s.  w. 

Da  es  vorzukommen  scheint,  dass  auch  entferntere  periphe- 
rische Veränderungen  vermöge  eines  weiteren,  durch  das  Gehirn 
gehenden  Reflexbogens  umschriebene  Krämpfe  verursachen  können, 
wird  auch  diese  Möglichkeit  ins  Auge  zu  fassen  sein.  Es  kommen 
hier  hauptsächlich  in  Betracht  Erkrankungen  der  Geschlechtsorgane 
und  Darmreizung  durch  Eingeweidewürmer.  Man  betrachtet  ge- 
wöhnlich den  Zusammenhang  als  bewiesen,  wenn  die  entsprechende 
Therapie  einen  positiven  Erfolg  hat. 

Eine  eigenthümliche  Stellung  nehmen  die  sogenannten  B  e  - 
schäftigungskrämpfe  ein,  deren  Typus  der  Schreib  krampt' 
ist.  Das  Merkmal,  dass  nur  bei  einer  bestimmten  Thätigkeit  der 
Krampf  eintritt,  lässt  diagnostische  Irrungen  vermeiden.  Wahr- 
scheinlich handelt  es  sich  auch  hier  meist  um  reflectorische  Con- 
tractionen,  die  durch  örtliche  Reizungen  in  den  überanstrengten 
Theilen  hervorgerufen  werden. 

Gelingt  es  nicht,  bei  umschriebenen  Krämpfen  in  der  Peripherie 
eine  reflectoriscli  wirkende  Ursache  aufzufinden,  so  wird  man  dem- 
nächst an  eine  Läsion  der  sensiblen  Nervenfasern  denken, 
man  wird  untersuchen,  ob  etwa  eine  Erkrankung  der  Nervenstämme 
des  betroffenen  Gebietes  vorliegt,  ob  Hyperästhesie,  Parästhesien  u.  s.  w. 
bestehen,  ob  Narben  da  sind,  die  die  Nerven  drücken  könnten. 

An  einen  durch  directe  Reizung  des  motorischen  Nerven 
bewirkten  Krampf  wird  man  nur  da  denken,  wo  man  tonischen 
Krampf  der  von  einem  Nerven  versorgten  Muskeln  antrifft.  In 
einem  von  Fr.  Schnitze  beobachteten  Falle  wurde  bei  klonischem, 


120 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates 


man  sehr  vorsichtig  sein. 


in  Anfällen  auftretenden  Facialiskrampf  ein  auf  den  Facialis 
drückendes  Aneurysma  der  Art.  vertebral.  gefunden,  nur  wenige 
analoge  Fälle  sind  bekannt,  U.  U.  wird  das  reizende  Etwas  als 
Geschwulst,  Entzündung  u.  s.  w.  sich  nachweisen  lassen,  zuweilen 
wird  Parese  in  dem  betroffenen  Nervengebiete  bestehen. 

Krämpfe,  die  durch  spinale  Läsionen  hervorgerufen  werden, 
sind  wohl  immer  tonisch.  Ob  sie  direct  oder  reflectorisch  entstehen, 
ist  natürlich  schwer  zu  sagen,  wenn  auch  das  Letztere  häufiger 
der  Fall  zu  sein  scheint.    Mit  der  Annahme  spinaler  Krämpfe  muss 

Der  einzig  sichere  Fall  spinaler  Krämpfe 
sind  die  nach  gewissen  Vergiftungen 
(Strychnin,  die  Krankheit  Tetanus) 
auftretenden,  verbreiteten  tonischen 
Krämpfe.  Bei  organischer  Rücken- 
markserkrankung ist  fast  nie  etwas 
von  Krämpfen  zu  sehen.  Selbst- 
verständlich darf  die  Steigerung  der 
Reflexerregbarkeit,  die  bei  Leitungs- 
unterbrechung  im  Rückenmark  in 
dem  unteren  Stücke  eintritt,  nicht 
mit  Krämpfen  verwechselt  werden. 
Als  lebhafte  Sehnen-  oder  Hautreflexe 
sind  wohl  auch  die  scheinbar  spontanen 
Zuckungen,  die  hie  und  da  an  den 
gelähmten  Gliedern  bei  transversaler 
Myelitis  beobachtet  werden,  zu  deuten. 
*  Es  bleibt  noch  das  grosse  Gebiet 

cerebraler  Krämpfe.    Durch  orga- 

Balpetriere^n^Boomeviire   und    „j^^     Läsion     des    GeMmS    Werden, 

soviel  wir  wissen,  entweder  allgemeine 
oder  halbseitige  Krämpfe  verursacht.  Ob  bei  Läsionen  der  Oblongata 
etwa  Schling-,  Athmungs-  u.  s.  w.  Krämpfe  vorkommen,  ist  nicht 
mit  Bestimmtheit  zu  sagen. 

Alle  anderen  Krampfformen  dürften  als  hysterische  zu  betrachten 
sein,  so  der  doppelseitige  Facialiskrampf  ohne  peripherische  Veran- 
lassung, die  seltenen  isolirten  Zungenkrämpfe,  die  verschiedenen 
Respirations-.  Schrei-,  Lach-,  Weinkrämpfe.  Als  eine  Form  der 
Krämpfe  kann  man  auch  die  sogenannten  Contracturen  der 
Hysterischen  betrachten.  Diese  treten  theils  ohne  nachweisbare 
Veraidassung,  theils  bei  ganz  geringfügigen  Anlässen  ein  und  sind 
durch  ihre  Stärke  und  Hartnäckigkeit  merkwürdig.    Meist  zeigen  sie 


Fig.  n 

Hysterische  Contractur  (nach  der  Iconographie 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.     Klonische  und  tonische  Krämpfe.     121 

sich  an  den  Gliedern,  der  Arm  wird  in  Beuge-  oder  StrecksteUuiig 
Hxirt.  oder  die  Hand  wird  fest  geballt,  oder  ein  Bein,  zuweilen  beide 
Beine  sind  in  andauernder  Streckung  u.  s.  w.  Die  Gegenwart  anderer 
hysterischer  Symptome  erleichtert  gewöhnlich  die  Diagnose. 

Ganz  besonders  ist  darauf  zu  achten,  dass  in  der  Regel  das 
Gebiet  des  hysterischen  Krampfes  anästhetisch  oder  hyperästhetisch 
ist.  Die  Mehrzahl  aller  Krämpfe  ist  hysterischer  Art  und  in  den 
meisten  Fällen  der  sog.  Eeflexkrämpfe  ergiebt  eine  genaue  Unter- 
suchung das  Vorhandensein  der  Hysterie. 

Am  wichtigsten  sind  die  allgemeinen  Krämpfe,  die  Co n- 
vnlsionen  der  Hysterischen.  Die  „grossen  Anfälle"  der  Hyste- 
rischen, die  mit  einem  leicht  misszuverstehenden  Namen  auch  hystero- 
epileptische  genannt  werden,  obgleich  sie  keine  Beziehung  zur  Epilepsie 
haben,  bestehen  aus  mehreren  Perioden.  Nachdem  kürzere  oder 
längere  Zeit  Prodrome,  Vorläufererscheinungen  des  Anfalles  (seelische 
Verstimmung,  Hallucinationen,  Zusammenschnüren  im  Halse,  Bor- 
borygmen,  Tympanie,  Ptyalismus,  Polyurie,  Beängstigung,  Palpitatio- 
nen,  Contracturen)  sich  gezeigt  haben,  leitet  die  Aura  hysterica  den 
Anfall  ein.  Die  Aura  besteht  gewöhnlich  in  dem  Gefühle  einer  vom 
Hypogastrium  oder  von  der  Ovarialgegend  zum  Epigastrium  und  dann 
zum  Halse  aufsteigenden  Kugel.  Damit  verbinden  sich  Herzklopfen, 
Schlagen  der  Schläfenarterien,  Ohrensausen,  Umnebelung  des  Be- 
wusstseins.  Die  erste  Periode  des  Anfalles  wird  gewöhnlich  epilep- 
toide  Periode  genannt,  weil  sie  in  vieler  Hinsicht  dem  epileptischen 
Anfalle  ähnlich  ist.  Man  bemerkt  ein  Zittern  der  Lider,  dann  sinkt 
die  Kranke  zu  Boden  (ohne  Schrei).  Verletzungen  treten  beim  Fallen 
fast  nie  ein.  Der  Kopf  dreht  sich  langsam  nach  hinten,  das  Gesicht 
verzerrt  sich,  die  Zunge  wird  herausgestreckt,  die  Athmung  stockt, 
die  Arme  werden  adducirt,  nach  innen  rotirt,  die  Hände  gebeugt 
und  zur  Faust  geschlossen,  die  Beine  in  allen  Gelenken  gestreckt. 
Nachdem  die  Kranke  eine  Zeit  lang  starr  gelegen,  beginnen  kurze, 
rapide  Zuckungen,  die  Cyanose  verliert  sich  und  es  treten  tiefe, 
tönende  Athemzüge  ein.  Nach  einer  kurzen  Ruhepause  beginnt  die 
zweite  Periode,  die  der  Verdrehungen  und  grossen  Bewegungen 
(Clownismus).  Die  Kranke  nimmt  die  verschiedensten,  uner wartesten, 
unwahrscheinlichsten  Stellungen  ein.  Unter  diesen  ist  die  bekann- 
teste und  häufigste  der  Kreisbogen  (arc  de  cercle,  vgl.  Fig.  32). 
Dann  bringt  die  Kranke  etwa  den  Rumpf  stark  nach  vorn  und 
schleudert  ihn  kräftig  nach  hinten  auf  die  Kissen,  oder  sie  führt 
stossende  Bewegungen  mit  dem  Becken  aus,  wirft  die  Beine  in  die 
Luft,  schlägt  wie  in  Vvuth  um  sich.    Dabei  schreit  und  heult  sie 


122  Untersuchung  des  Bewegimgsapparates. 

oft.  An  die  zweite  schliesst  sich  an  die  dritte  Periode  oder  die  der 
plastischen  Stellungen.  Die  Kranke  nimmt  eine  ausdrucksvolle  Hal- 
tung an  und  verräth  durch  Delirien,  dass  sie  irgend  ein  früheres 
Erlebniss  hallucinirt.  'Die  Ereignisse,  die  die  Kranke  früher  am 
tiefsten  bewegt  haben,  werden  wieder  erlebt  und  rasch  folgen  sich 
heitere  und  traurige  Scenen.  Haltung,  Miene  und  Wort  drücken  bald 
Schrecken,  bald  Drohung,  Lockung,  Lüsternheit,  Ekstase,  Spott, 
Klage  aus.  Allmählich  klingt  in  ruhigeren  Delirien  der  Anfall  aus. 
Dabei  besteht  nicht  volle  Bewusstlosigkeit,  die  Kranke  erinnert  sich 
später  oft  zum  Tlieil  an  ihre  Hallucinationen,  aber  das  Bewusstsein 
ist  stark  getrübt  und  die  Kranke  ist  völlig  anästhetisch.  Nur  selten 
tritt  der  Anfall  der  grossen  Hysterie  isolirt  auf,  in  der  Eegel  in 
Keinen  (etat  de  mal),  die  eine  beträchtliche  Länge  erreichen  können. 


Fig.  32. 

Hysterischer  Kreisbogen  (nach.  Bourneville  nnd  Regnard.). 

Im  Gegensatze  zum  epileptischen  etat  de  mal  findet  sich  während 
der  gehäuften  Anfälle  nie  stärkere  Temperatursteigerung,  ist  nie 
das  Leben  bedroht. 

Ein  sozusagen  verwaschenes  Bild  des  grossen  bildet  der  gewöhn- 
liche hysterische  Anfall.  Die  erste  Periode  kann  allein  auftreten 
und  dann  ist  am  ehesten  eine  Verwechselung  mit  Epilepsie  möglich. 
Das  normale  Verhalten  der  Pupillen,  die  Eeichhaltigkeit  der  Be- 
wegungen, die  lauten  Borboiygmen,  der  gelegentlich  sich  einmischende 
Kreisbogen,  das  Herausgestrecktsein  der  Zunge,  besonders  aber  die 
Empfindlichkeit  der  einen  Ovarialgegend  und  die  Möglichkeit,  durch 
kräftigen  Druck  auf  diese  den  Anfall  zu  unterbrechen,  sind  unter- 
scheidende Merkmale.  Tritt  nur  oder  hauptsächlich  die  zweite 
Periode  auf,  so  wird  kaum  die  Diagnose  schwanken.  Das  anschei- 
nend Absichtliche  der  excessiven  Bewegungen,  die  zuweilen  mit  der 
G-elenkisrkeit  eines  Kautschukmannes  und  der  Kraft  eines  Käsenden 


Motilität.     Abnorme  Bewegungen.    Klonische  und  tonische  Krampte.      123 

ausgeführt  werden,  der  Ausdruck  des  Schmerzes,  der  YVuth  oder 
anderer  Affecte  im  Gesicht  und  allerhand  kleinere  Züge  sind  überaus 
charakteristisch.  Bemerkenswertti  ist,  das  hysterische  Krämpfe  auch 
halbseitig  auftreten.  Die  Bewegungen  sind  auch  dann  ausgiebiger 
und  complicirter  als  beim  epileptischen  Anfall.  Anfälle  unwillkür- 
licher tactmässiger  Bewegungen  bei  Hysterischen,  z.  B.  Bewegungen 
eines  Armes  wie  beim  Hämmern,  bezeichnet  man  wohl  auch  als 
rhythmische  Chorea. 

In  der  Zeit  zwischen  den  Anfällen  findet  man  oft  bestimmte 
Punkte  am  Körper,  durch  deren  Compression  unangenehme  Sensa- 
tionen und  schliesslich  der  Anfall  hervorgerufen  werden  können: 
hysterogene  Punkte  oder  Zonen.  Diese  sind  am  häufigsten  in 
der  Eierstockgegend  vorhanden  (Ovarie,  s.  unten),  doch  kommen  sie 
auch  über  und  unter  der  Mamma,  unter  den  Achseln,  in  den  Weichen, 
über  und  neben  der  Wirbelsäule,  meist  symmetrisch,  vor.  Selbst- 
verständlich ist  für  die  Diagnose  der  hysterischen  Krämpfe  auch  der 
Nachweis  anderweiter  hysterischer  Symptome  werthvoll,  als  der 
Hemianästhesie,  der  Lach-,  Schrei-  u.  s.  w.  Krämpfe,  der  charakter- 
istischen seelischen  Verstimmung  u.  s.  w.  Immerhin  brauchen  neben 
den  Anfällen  andere  Symptome  nicht  jederzeit  vorhanden  zu  sein. 
Männliches  Geschlecht  spricht  natürlich  nicht  gegen  Hysterie,  da  bei 
Männern  hysterische  Airfälle  durchaus  nicht  selten  sind. 

Die  epileptischen  Convulsionen  sind  bald  totale,  bald 
partielle.  Im  Bilde  des  vollständigen  epileptischen  Anfalls  unter- 
scheidet man  gewöhnlich  drei  Perioden.  Vorläufererscheinüngen 
fehlen  oft  ganz,  nur  seelische  Verstimmung,  Traurigkeit,  Angst,  be- 
stehen oft  längere  Zeit  vor  dem  Anfalle.  Unmittelbar  vor  dem 
Anfalle  zeigt  sich  die  epileptische  Aura.  Diese  besteht  bald  in 
prickelnden  Empfindungen,  die  in  einer  Hand,  im  Fusse,  im  Epigas- 
trium,  gelegentlich  auch  in  der  Zunge  oder  im  Gesichte  beginnen  und 
dann  zum  Kopfe  aufsteigen,  bald  in  Hallucinationen  der  oberen  Sinne. 
Gesichtswahrnehmungen,  besonders  Lichterscheinungen,  (Bothsehen. 
Flimmerscotom),  Geruchs-,  Gehörs-  (Glockenklingen,  Bauschen.  Pfeifen 
u.  s.  w.),  selten  Geschmackswahrnehmungen- bald  einzelnen  Zückungen, 
bald  in  Blass-  oder  Rothwerden,  Frostgefühl,  Schweissausbruch 
Schwindel,  Angst  u.  s.  w.  Nach  der  gewöhnlich  kurzen  Aura,  zu- 
weilen ohne  jede  Aura,  beginnt  die  erste  Periode  des  Anfalls  mit 
plötzlichem  und  totalem  Bewusstseinsverluste,  Der  Kranke  stürzt 
jählings  zu  Boden,  stösst  dabei  manchmal  einen  wilden  Schrei  aus, 
verletzt  sich  nicht  selten  beim  Niederfallen  mehr  oder  weniger  schwer. 
Nun  tritt  tonischer  Krampf  fast  der  gesammten  Musculatur  ein.  der 


124  Untersuchung  des  Bewegongaapparates. 

Kopf  dreht  sich  nach  hinten  oder  nach  der  Seite,  die  Augen  werden 
nach  derselben  Seite  gewandt,  der  Körper  krümmt  sich  gewöhnlich 
schwach  opisthotonisch,  die  Arme  sind  gestreckt,  adducirt,  nach  innen 
rotirt,  die  Hände  gebeugt  und  die  Finger  über  die  Damnen  einge- 
schlagen, die  Beine  starr  gestreckt.  Auch  die  Athmnngsmnskeln 
nehmen  an  der  Starre»  Theil  und  das  anfangs  bleiche  Gesicht  wird 
dunkel  cyanotisch.  Die  Pupillen  sind  weit  und  in  der  Regel  reactions- 
los.  Die  tonische  Periode  dauert  meist  nur  Bruchtheile  einer  Minute, 
dann  beginnt  die  Periode  der  klonischen  Krämpfe,  „die  Glieder  schlagen" 
erst  in  kleineren,  dann  in  grösseren  Zuckungen,  die  Augen  werden 
hin-  und  herbewegt,  das  Gesicht  wird  verzerrt,  die  Zunge  im  Munde 
umhergerollt  und  dabei  meist  durch  die  knirschenden  und  kauenden 
Zähne  verletzt.  Oft  tritt  schäumender  Speichel  vor  den  Mund  und  wird 
durch  den  Zungenbiss  blutig  gefärbt,  Es  kann  zu  Knochenbrüchen, 
Verrenkungen,  zum  Abbrechen  von  Zähnen  u.  s.  w.  kommen.  Sehr 
oft  gehen  Urin  und  Flatus  ab,  zuweilen  auch  Fäces  und  Semen. 
Nach  '/'2  bis  3  Minuten  erschlaffen  die  wild  bewegten  Glieder  und 
die  dritte  Periode  beginnt,  die  des  Stertor  (tönenden  Athmens)  oder 
des  Koma.  Sie  geht  in  ruhigen  tiefen  Schlaf  über,  oder  der  Kranke 
erwacht  nach  kürzerer  Zeit  ermattet,  oft  mit  heftigem  dumpfem 
Kopfschmerze,  fast  ausnahmelos  ohne  Erinnerung  an  die  Ereignisse 
des  Anfalls.  Manchmal  wird  unmittelbar  nach  dem  Anfall  etwas 
Eiweiss  im  Urin  gefunden,  oft  zeigt  sich  Polyurie,  in  sehr  seltenen 
Fällen  Glykosurie.  Tritt  der  Anfall  Nachts  ein,  so  werden  u.  U.  die 
Kranken  nur  durch  Kopf-  und  Gliederschmerzen,  den  Zungenbiss  und 
andere  Residua  aufmerksam  gemacht, 

Der  Anfall  kann  incomplet  sein,  es  kann  nur  die  Aura  auf- 
treten, es  können  die  zweite  und  die  dritte  Periode  ganz  fehlen,  oder 
die  Aura  kann  sich  nur  mit  Bewusstseinsverlust  und  vereinzelten 
Zuckungen  verbinden. 

Die  Anfälle  können  in  schweren  Fällen  reihenweise  auftreten 
(etat  de  mal,  Status  epilepticus).  Während  der  Zeit  der  gehäuften 
Anfalle  bestellt  andauerndes  Koma,  die  Temperatur,  die  im  einzelnen 
Anfalle  nahezu  normal  bleibt,  kann  hoch  ansteigen  und  nicht  selten 
tritt  der  Tod  im  Status  epilepticus  ein. 

Der  partielle  epileptische  Anfall  (Jackson'sche  Epilepsie)  be- 
fällt nur  eine  Körperhälfte  und  zwar  die  ganze  oder  einen  Theil, 
oder  aber  er  beginnt  wenigstens  an  einer  Körperhälfte,  ergreift  erst 
später  und  in  geringerem  Maasse  auch  die  andere,  Die  Aura,  die 
oft  ganz  fehlt,  besteht  meist  in  Empfindungen  (Prickeln,  Taubsein, 
Brennen)  des  Tlieils.  in  dem  der  Anfall  beginnt,  Eigentliche  Perioden 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Klonische  und  tonische  Krämpfe.     125 


des  Anfalls  lassen  sich  kaum  unterscheiden.  Meist  handelt  es  sich 
von  vornherein  um  klonische  Krämpfe  massiger  Excursion.  Beginnt 
der  Anfall  im  Gesicht  (wobei  das  obere  Facialisgebiet  mit  inbegriffen, 
oder  vorwiegend  ergriffen  sein  kann),  so  kann  er  auf  dasselbe  be- 
schränkt bleiben,  häufiger  ergreift  er  auch  den  Arm,  zuweilen  dann 
das  Bein.  Beginnt  er  im  Arme  und  bleibt  er  nicht  auf  ihn  beschränkt, 
so  kann  er  sich  gleichzeitig  auf  Gesicht  und  Bein  verbreiten.  Beginnt 
er  im  Beine,  so  ergreift  er  an  zweiter  Stelle  den  Arm,  erst  an  dritter 
das  Gesicht,  Tritt  dann  der  Krampf  auch  auf  die  andere  Körper- 
hälfte  über,  so  scheint  er  in  manchen  Fällen  vom  Bein  aus  sich  nach 
oben  zu  verbreiten,  in  anderen  Fällen 
aber  einen  anderen  Verlauf  zu  nehmen. 
Sicheres  ist  darüber  noch  nicht  bekannt, 
bei  der  Schnelligkeit  der  Ausbreitung 
derartiger  verbreiteter  Krämpfe  ist  die 
Beobachtung  schwierig.  Die  Störung 
des  Bewusstseins  ist  bei  der  partiellen 
Epilepsie  im  Allgemeinen  proportional 
der  Ausdehnung  des  Krampfes.  Sind 
nur  Gesicht  und  Arm  ergriffen,  so  geht 
das  Bewusstsein  in  der  Regel  nicht 
verloren.  Manche  Kranke  folgen  auf- 
merksam der  Entwicklung  des  Anfalls, 
andere  empfinden  lebhafte  Angst  und 
fürchten,  ohnmächtig  zu  werden.  Bei 
Convulsionen  einer  Körperhälfte  tritt 
oft,  beim  Uebergreifen  auf  die  andere 
fast  regelmässig  Bewusstlosigkeit  ein. 
Oft  bleibt  nach  dem  Anfall  eine  Parese 
der  vom  Krämpfe  befallenen  Glieder 
zurück,  die  sich  nach  einiger  Zeit  wieder 
verliert. 

Auch  die  partielle  Epilepsie  kann  in  gehäuften  Anfällen,  während 
deren  meist  Sopor  oder  Koma  besteht,  auftreten. 

Das  Symptom  des  epileptischen  ilnfalls  nun  ist  im  Allgemeinen 
Ausdruck  einer  Reizung  der  Hirnrinde.  Es  kommt  zunächst 
vor  als  Haiipterscheinung  der  Krankheit  Epilepsie.  Ob  im  ein- 
zelnen Falle  diese  Krankheit  zu  diagnosticiren  ist,  ergiebt  sich  aus 
dem  Fehlen  anderweiter,  nicht  epileptischer  Hirnsymptome  in  der 
Zwischenzeit  zwischen  den  Anfällen,  aus  dem  jugendlichen  Alter, 
in  dem  die  Patienten  beim  ersten  Auftreten   der  Anfälle   stehen. 


Fig.  33. 

Partielle  Epilepsie  (nach  Bourneville 

und  Regnard). 


126  Unter suchimg  des  Bewegungsapparates. 

aus  dem  Bestehen  erblicher  Belastung-  u.  s.  w.  Anfälle  der  idio- 
pathischen Epilepsie  sind  überaus  selten  nur  halbseitig.  Der  epilep- 
tische Anfall  ist  ferner  ein  Symptom  chronischer  Vergiftungen,  be- 
sonders bei  Schnapssäufern,  und  gleicht  hier  ganz  dem  Anfalle  der 
idiopathischen  Epilepsie.  In  seltenen  Fällen  sollen  peripherische 
Reizungen  (Narben,  Xer venia sionen,  Eingeweidewürmer,  Zahnerkran- 
kungen u.  s.  w.)  epileptische  Anfälle  hervorrufen:  Reflexepilepsie 
In  den  genannten  Fällen  muss  man  das  Bestehen  einer  sogenannten 
epileptischen  Veränderung  des  Gehirns  annehmen,  vermöge  deren 
das  Wiedereintreten  der  Anfälle  erleichtert  wird. 

Einzelne  epileptische  Anfälle  treten  besonders  bei  Kindern  da 
auf,  wo  der  Erwachsene  einen  Schüttelfrost  bekommt,  beim  B  e  ginne 
infectiöser  Krankheit,  Sie  leiten  fast  regelmässig  die  Ence- 
phalitis ein.  oft  auch  die  acute  Poliomyelitis.  Von  einer  acuten  In- 
toxication  hängen  in  der  Regel  die  epileptischen  Anfälle  ab,  die  als 
urämische  Convulsionen,  und  die,  die  als  Eclampsia  partu- 
rientium  bezeichnet  werden. 

Fast  alle  Gehirnkrankheiten  im  engeren  Sinne  können  ge- 
legentlich epileptische  Anfälle  bewirken.  Bei  acut  einsetzenden  Herd- 
läsionen  kann  der  Krampfanfall  den  apoplektischen  Insult  vertreten. 
Während  die  eine  Seite  hemiplegisch  wird,  kann  die  andere  von 
( 'onvulsionen  ergriffen  sein.  Bei  allen  raumbeschränkenden  Processen 
im  Schädel,  Tumoren,  Abscessen,  Hydrocephalus,  können  von  Zeit 
zu  Zeit  epileptische  Anfälle  auftreten.  Ueberaus  häufig  sind  sie  bei 
der  diffusen  Erkrankung  der  Rinde ;  bei  der  progressiven  Para- 
lyse und  der  Meningitis  treten  besonders  oft  epileptische  Anfälle 
auf.  Der  paralytische  Anfair  soll  sich  von  dem  der  idiopathischen 
Epilepsie  dadurch  unterscheiden,  dass  er  mit  starken  Sclrwankungen 
der  Körpertemperatur  verbunden  ist.  Der  Meningitis  und  der  pro- 
gressiven Paralyse  analog  Avirken  alle  Processe,  die  einen  grösse- 
ren Theil  der  Hirnrinde  schädigen:  Pachymeningitis  haemorrhagica, 
Meningealblutungen,  Gysticerken  des  Gehirns,  die  multiple  Sklerose. 
Treten  bei  der  Tabes  epileptische  Anfälle  auf,  so  sind  wahrscheinlich 
paralytische  Veränderungen  der  Rinde  vorhanden. 

Die  umschriebenen  Erkrankungen  der  Hirnrinde  be- 
wirken gewöhnlich  locale  Epilepsie.  Gummata,  Tuberkel  und  andere 
Geschwülste,  Entzündungen,  Erweichungs-,  Schrumpfungs-Processe, 
die  in  den  Centralwindungen  oder  in  ihrer  Nähe  sich  befinden,  rufen 
häufig  Convulsionen  auf  der  gegenüberliegenden  Körperhälfte  her- 
vor. Je  nach  der  Lage  des  Herdes  wird  der  Anfall  im  Gesichte,  im 
Arme  oder  im  Beine  beginnen,  und  je  nach  Ausdehnung  und  Stärke 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Klonische  und  tonische  Krämpfe.    127 

des  Reizes  wird  die  Verbreitung-  mehr  oder  weniger  gross  sein.  In 
der  Zeit  zwischen  den  Anfällen  findet  man  gewöhnlich  Symptome 
von  Lähmung  auf  der  betroffenen  Seite,  wenigstens  Steigerung  der 
Sehnenreflexe,  und  oft  bestehen  noch  anderweite  Hirnsymptome,  die 
die  Diagnose  erleichtern.  Besonders  diejenigen  umschriebenen  Er- 
krankungen der  Hirnrinde,  die  in  früher  Jugend  beginnen,  scheinen 
die  Entwicklung  der  epileptischen  Veränderung-  zu  begünstigen.  Es 
bestehen  dann  oft  totale  epileptische  Anfälle,  aber  der  Beginn  an 
einem  Gliede,  das  stärkere  Befallenwerden  einer  »Seite  erinnert  an 
den  örtlichen  Ursprung-  der  Krämpfe. 

Endlich  sind  noch  die  simulirten  epileptischen  Anfälle  zu  er- 
wähnen. Einen  Beweis  gegen  Simulation  liefern  das  Erblassen  des 
Gesichtes  und  die  Erweiterung  der  Pupillen  im  Beginne  des  Anfalles, 
die  Lichtstarrheit  der  Pupillen  während  desselben.  Freilich  können 
diese  Symptome  auch  bei  echter  Epilepsie  fehlen.  Der  Zungenbiss 
fehlt  gewöhnlich  bei  Simulanten,  ebenso  der  Abgang  von  Urin  u.  s.  w., 
selbstverständlich  auch  das  allerdings  inconstante  Auftreten  von 
Eiweiss  im  Urin  nach  dem  Anfalle. 

Anfälle  von  tetanischen  Krämpfen,  an  denen  sich  der 
grössere  Theil  der  Skeletmuskeln  betheiligt,  kommen  am  häufigsten 
bei  der  Krankheit  Tetanus  vor.  Hier  ist  das  Bild  des  Krampfes 
ziemlich  charakteristisch :  eigenthümlicher  Gesichtsausdruck  durch 
Starre  der  mimischen  Muskeln,  starker  Trismus,  Opisthotonus,  In- 
spirationstellung  des  Thorax,  Starre  der  Bauchmuskeln,  Streck- 
krampf der  Beine,  relatives  Verschontbleiben  der  Arme,  von  Zeit 
zu  Zeit  Nachlassen,  paroxysmenartige  Steigerung  des  Krampfes. 
Etwas  abweichend  ist  das  Bild  des  sogenannten  Kopftetanus,  der 
sich  nach  Verletzungen  am  Kopfe  entwickelt:  ausser  dem  Tetanus 
der  Skeletmuskeln  bestehen  starke  Krämpfe  der  Schliessmuskeln  und 
einseitige  Facialislähmung. 

Bei  der  Lyssa  fehlt  der  Trismus,  stehen  die  Schlundkrämpfe 
im  Vordergründe,  bleiben  die  Gliedermuskeln  meist  frei.  Bei  der 
Meningitis  können  tetanische  Anfälle  auftreten,  meist  als  Steige- 
rung des  andauernden  Krampfes  der  Nackenmuskeln.  Trismus  fehlt 
gewöhnlich.  Die  Bewusstseinsstörung ,  das  Fieber,  die  cerebralen 
Herdsymptome  der  Meningitis  sind,  wenn  es  Noth  thut,  diagnostisch 
zu  verwerthen.  Tetanische  Anfälle  werden  in  seltenen  Fällen  auch 
bei  Tumoren  in  der  hinteren  Schädelgrube,  besonders  des  kleinen 
Gehirns  beobachtet.  Rumpf-  und  Nackenmuskeln  sollen  vorwiegend 
betroffen  sein. 

Tetanische  Anfälle,  die  sich  fast  stets  auf  die  Muskeln  der  Arme 


128  Untersuchung  des  Beweg'ungsapparates. 

und  Unterschenkel  beschränken,  meist  Beugestellungen  (Schreibhaltung 
der  Finger)  hervorrufen,  sind  das  Hauptsymptom  der  merkwürdigen 
Krankheit  Tetanie.  Die  Steigerung  der  mechanischen  und  elek- 
trischen Nervenerregbarkeit  ausserhalb  der  Anfälle,  die  Möglichkeit, 
den  Anfall  durch  Druck  auf  die  Arterien  hervorzurufen  (Trousseau'- 
sches  Phänomen)  machen  die  Diagnose  leicht, 

Hie  und  da  sind  auch  tetanieartige  Anfälle  bei  Her  der  kr  an- 
klingen in  der  hinteren  Schädelgrube  beobachtet  worden. 

Verbreitete  tetanische  Krämpfe  ohne  Bewusstseinsstörungen  mit 
Re-  und  Internüssionen  kommen  endlich  bei  kleinen  Kindern  während 
Magen-,  Darmkrankheiten,  im  Beginne  der  Bhachitis  vor  und  werden 
als  A r t h rogryposis  bezeichnet. 

e.  Z w a ngs b e wegu ngen. 

Bei  den  Zwangsbewegungen  oder  den  coordinirten 
Krämpfen  werden  ohne  oder  gegen  den  Willen  complicirte  und 
zweckmässige  Bewegungen  ausgeführt,  Den  Namen  „statische 
Krämpfe",  der  auch  in  diesem  Sinne  gebraucht  wird,  lässt  man  am 
besten  ganz  fallen,  da  er  missverständlich  ist,  Zu  den  coordinirten 
Krämpfen  gehören  die  Schrei-,  Wein-,  Lach-,  Husten-,  Athmungs- 
krämpfe  bei  Hysterie.  Ferner  gehören  hierher  das  zwangsmässige 
im  Kreise  Gehen  (Manegebewegung),  das  Rollen  um  die  eigene  Axe, 
das  Festhalten  einer  bestimmten  Seitenlage,  die  Deviation  conjuguee. 
Bei  manchen  derartigen  Bewegungen  kann  es  zweifelhaft  sein,  ob 
sie  primäre  Zwangsbewegungen  oder  gewollte  Bewegungen  sind,  die 
zur  Wiederherstellung  des  durch  Schwindelempfindimgen  scheinbar 
gestörten  Gleichgewichtes  dienen  sollen,  so  bei  manchen  Drehbewe- 
gungen, bei  Vor-  oder  Rückwärtslaufen.  Unter  Umständen  kann 
die  Grenze  zwischen  coordinirten  Krämpfen  und  Zwangshandlungen 
oder  „impulsiven"  Handlungen,  wie  sie  bei  Geisteskrankheit  und  bei 
vorübergehenden  Bewusstseinstrübungen  vorkommen ,  schwer  zu 
ziehen  sein. 

Zweifelhaft  erscheint  es,  ob  der  sogenannte  saltatorische 
Reflexkrampf,  der  in  dem  Auftreten  unfreiwilliger  Hüpfbewe- 
gungen  beim  Aufsetzen  der  Füsse  auf  den  Boden  besteht,  und  ver- 
wandte Krampferscheinungen  hierher  gehören.  Wahrscheinlich  han- 
delt es  sich  um  eine  hysterische,  für  Astasie  -  Abasie  zu  haltende 
Erkrankung. 

Ueber  die  Deviation  conjugee  lässt  sich  im  Allgemeinen  nur 
sagen,  dass  sie  die  Läsion  einer  Hemisphäre  anzeigt  (vergl.  S.  26). 
Fallen  nach  Einer  Seite,  Seitenzwangslage  und  Rollbewegungen  um 


Motilität.    Abnorme  Bewegungen.    Ohoreatische  Bewegungen.         129 

die  Körperaxe  sind  am  häufigsten  beobachtet  bei  Läsionen,  die  direct 

oder  indirect  die  mittleren  Klei nhirn Schenkel  betrafen.    Es 

scheint  sich  hier   um  ein  ziemlich  zuverlässiges  Herdsymptom  zu 

handeln. 

l.  Mitbewegungen. 

Wenn  bei  willkürlichen  Bewegungen  mehrere  als  die  zur  beab- 
sichtigten Bewegung  nöthigen  Muskeln  contrahirt  werden,  z.  B.  wenn 
beim  Schliessen  des  Auges  der  Mund  verzogen  wird,  wenn  beim  Be- 
wegen einer  Hand  auch  die  andere  Hand  oder  der  Fuss  bewegt  wird, 
spricht  man  von  Mitbewegungen.  Auch  beim  Gesunden  kommen 
solche  vor,  z.  B.  Verzerren  des  Gesichts  bei  angestrengter  Thätigkeit 
der  Hand  u.  s.  w.  Gewöhnlich  beschränkt  man  den  Namen  auf  Fälle 
der  genannten  Art,  doch  ist  ersichtlich,  dass  Mitbewegungen  auch 
bei  der  Ataxie  und  der  Chorea  eine  Eolle  spielen  und  dass  eine 
strenge  Grenze  nicht  gezogen  werden  kann. 

Mitbewegungen  treten  gewöhnlich  neben  Lähmungen  auf,  am 
häufigsten  bei  centralen  Lähmungen;  diagnostischen  Werth  aber  be- 
sitzen sie  kaum. 

i].  Ohoreatische  Bewegungen. 

Von  Chorea  spricht  man,  wenn  sowohl  in  der  Kühe  als  bei 
Bewegungen  ungewollte  und  ungeordnete,  rasche  und  wechselnde 
Bewegungen  eintreten.  Am  besten  werden  diese  durch  den  Ausdruck 
Muskeltollheit  (folie  musculaire)  charakterisirt,  denn  sie  sind  durchaus 
plan-  und  zwecklos.  Im  Gesichte  zeigt  sich  zunächst  hie  und  da 
ein  Zucken  (Runzeln  der  Stirn,  Zukneifen  des  Auges,  Verziehen  des 
Mundes,  Vorstrecken  der  Zunge),  später  wird  es  zu  einem  unsinnigen 
Grimmassiren,  einem  fratzenhaften  Mienenspiele,  der  Kopf  wird  ge- 
dreht und  gebeugt,  die  Zunge  wird  im  Munde  hin-  und  hergewälzt, 
die  Kiefern  werden  auf-  und  zugeklappt.  Durch  alle  diese  Bewegungen 
und  durch  die  Zuckungen  der  Bauch-  und  Glottismuskeln  können 
die  Articulation  und  die  Tonbildung  erschwert  oder  unmöglich  werden. 
An  den  Gliedern  zeigen  sich  vorerst  auch  nur  vereinzelte  Zuckungen, 
die  Schulter  wird  gehoben,  der  Arm  bald  gebeugt,  bald  gestreckt, 
die  Hand  bald  geöffnet,  bald  geschlossen  u.  s.  w.  Diese  Zuckungen 
unterbrechen  die  willkürlichen  Bewegungen,  die  Kranken  lassen  daher 
Dinge  aus  der  Hand  fallen,  können  nicht  mehr  correct  schreiben, 
nähen  u.  s.  w.  Weiterhin  geräth  der  ganze  Körper  in  Unruhe,  so 
dass  der  Kranke  einem  Zappelmanne  gleicht,  die  Glieder  werden 
hin-  und  hergeschleudert,  beim  Gehen  wird  plötzlich  ein  Bein  iu  die 
Höhe  gezogen,  der  sitzende  Kranke  wird  vom  Stuhle  geworfen  u.  s.  w. 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  9 


130  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Im  höchsten  Grade  der  Chorea  ist  jede  absichtliche  Thätigkeit  un- 
möglich, das  tolle  Muskelspiel  erschwert  die  Ernährung  und  vertreibt 
den  Schlaf. 

Zeigen  sich  die  choreatischen  Bewegungen  nur  auf  einer  Körper- 
hälfte, so  spricht  man  von  Heinich orea, 

Choreatische  Bewegungen  sind  am  häufigsten  das  Hauptsymptom 
der  Chorea  (minor)  genannten  Krankheit.  Sie  treten  hier  zuweilen 
halbseitig  oder  doch  vorwiegend  auf  einer  Seite  auf.  Letztere  kann 
dann  paretisch  erscheinen,  derart,  dass  an  den  schlaff  herabhängenden 
Gliedern  nur  einzelne  Zuckungen  bemerkt  werden  (Chorea  mollis). 
Ausser  der  gewöhnlichen  Chorea  (Ch.  Sydenhami),  die  besonders  bei 
Kindern  vorkommt,  heilbar  ist  und  wahrscheinlich  eine  infectiöse 
Krankheit  darstellt,  giebt  es  eine  Chorea  chronica,  bei  der  es  sich 
um  eine  gewöhnlich  erst  in  der  zweiten  Lebenshälfte  entstehende, 
auf  ererbter  Auslage  beruhende,  unheilbare,  oft  mit  geistigen  Störungen 
verknüpfte  Krankheit  handelt, 

Hemichorea  erscheint  ferner  als  Vorläufer  (selten)  oder  im  Ge- 
folge von  Hemiplegien:  prähemiplegische,  posthemiple- 
gische  Chorea.  Das  Vorhandensein  von  wirklicher  Lähmung, 
von  Contractur,  wenigstens  von  Steigerung  der  Sehnenreflexe,  zuweilen 
anderweite  Hiimsymptome  und  die  Anamnese  werden  unschwer  die 
Verwechselung  mit  der  Krankheit  Chorea  vermeiden  lassen. 

Choreabewegungen  können  sich  auch  bei  Hysterie  zeigen, 
treten  sie  hier  in  den  Vordergrund  und  verbinden  sie  sich  mit  zu- 
sammengesetzten Bewegungsformen  (Springen,  Klettern,  Clownismus), 
so  spricht  man  wohl  von  Chorea  major. 

#.  Athetosis. 

Die  als  Athetosis  (u-frarog,  nichtgesetzt,  ruhelos)  bezeichneten 
Bewegungen  sind  den  choreatischen  ähnlich,  unterscheiden  sich  aber 
von  ihnen  durch  ihr  langsames  Tempo  und  ihre  Gleichmässigkeit. 
Sie  werden  hauptsächlich  an  Händen  und  Füssen,  weniger  häufig 
am  Kopfe  beobachtet,  Die  Finger  werden  langsam,  einer  nach  dem 
anderen  gestreckt  und  dann  wieder  gebeugt,  voneinander  entfernt 
und  einander  genähert  (vergl.  Fig.  34).  Unaufhörlich  wechseln  die 
Bewegungen  mit  einander.  Ganz  ähnlich  ist  das  Spiel  der  Zehen. 
In  der  Regel  sieht  man  auch  im  Hand-  und  Fussgelenke  Beuge-, 
streck-,  Ab-  und  Adductionsbewegungen.  Die  oberen  Abschnitte  der 
Glieder  aber  pflegen  sich  nicht  oder  nur  sehr  wenig  zu  betheiligen. 
Relativ  häufig  sieht  man  athetotische  Bewegungen  des  Kopfes,  seltener 
solche  der  Gresichtsmuskeln  und  der  Zunge.    Auch  hier  kommt  eine 


Reflectorische  Erregbarkeit. 


131 


Fig.  34. 

Beispiel  der  Stellung  der  Finger  bei  Athetosebewegungen  (nach  Strümpell). 

9* 


132  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Herniatlietosis  vor.  BegTeifliclier  Weise  giebt  es  Fälle,  wo  es 
willkürlich  ist,  ob  man  von  Athetosebewegungen  oder  von  Chorea- 
bewegungeii  reden  will. 

Atlietosis,  meist  doppelseitige,  tritt  in  seltenen  Fällen  als  selb- 
ständige, zuweilen  angeborene  Störung  auf.  Es  ist  nicht  bekannt, 
ob  der  idiopathischen  Athetose  organische  Läsionen  zu  Grunde  liegen. 
Auch  bei  Epileptischen  und  Geisteskranken  sollen  zuweilen  Athetose- 
bewegungen vorkommen. 

Die  Hemiathetosis  hat  dieselben  Beziehungen  zur  Hemiplegie 
wie  die  Hemichorea. 

Chorea  sowohl  wie  Atlietosis  sind  wohl  immer  cerebrale  Sym- 
ptome. Sie  können  natürlich  auch  reflectorisch  bei  peripherischen 
Läsionen  entstehen,  werden  daher  liier  und  da  auch  bei  Neuritis 
und  zwar  gewöhnlich  auf  ein  Glied  beschränkt  beobachtet. 


t>y 


IV.    Die  reflectorische  Erregbarkeit. 

Reflectorische  Bewegungen  können  hervorgerufen  werden  einmal 
durch  Reizung  der  Haut  oder  der  Schleimhaut  und  der  anderen 
Sinnesorgane,  zum  andern  durch  Reizung  der  Sehnen,  der  Fa  seien, 
des  Periostes.  Die  Reflexe  zerfallen  demnach  in  zwei  Klassen,  die 
nach  ihren  Typen  genannt  werden:  die  Hautreflexe  und  die 
Sehnen reflexe;  gleichsinnig  ist  die  Unterscheidung  zwischen 
oberflächlichen  und  tiefen  Reflexen.  Eine  Art  selbstän- 
diger Stellung  nehmen  die  Pupillenreflexe  ein:  Verengerung 
der  Pupillen  bei  Lichteinfäll,  Erweiterung  der  Pupillen 
bei  schmerzhaften  Hautreizen,  plötzlichen  starken  Gehörsreizen.  Vergi. 
hierzu  die  Erörterung  im  IL  Theile. 

Unter  den  durch  Reizung  der  Oberfläche  verursachten  Reflexen 
kommen  hauptsächlich  folgende  in  Betracht: 

Schlu ss  der  Lidspalte  bei  Annäherung  von  Gegenständen 
an  das  Auge  (bei  der  Prüfung  nähert  man  rasch  die  Hand  dem  zu 
untersuchenden  Auge)  und  bei  Berührung  der  Conjunctiva  (man  hält 
mit  Daumen  und  Zeigefinger  der  linken  Hand  das  Auge  offen,  be- 
rührt man  dann  mit  einem  stumpfen  Gegenstände  die  Conjunctiva 
bulbi,  so  erfolgt  ein  kräftiges  Zukneifen  des  Auges). 

Niesen  bei  Kitzeln  der  Xaseiischleimhaut  mit  einer  Feder  oder 
dergleichen,  bei  Einführung  gewisser  Stoffe  (z.  B.  Schnupftabak)  in 
die  Xase. 

Contr actio n  des  Gaumens  bei  Berührung  der  Uvula  (vergl. 
den  IL  Theil). 


Reflectorische  Erregbarkeit.  133 

Schlingbewegung  bei  Berührung  des  Zungengrundes. 

Würgbewegung  bei  Berührung  der  hinteren  Rachenwand, 
beziehungsweise  Erbrechen  bei  längerem  Kitzeln. 

Husten  bei  Berührung  des  Kehlkopfeinganges,  zuweilen  auch 
bei  Kitzeln  des  äusseren  Gehörganges. 

Die  Hautreflexe  im  engeren  Sinne  werden  geprüft  durch  Kitzeln 
mit  dem  Fingernagel,  mit  einem  Federbart  u.  s.  w.:  Kitzelreflex, 
durch  Stechen  mit  einer  Nadel:  Stichreflex,  durchstreichen  mit 
einer  Spitze  (Nadel-,  Bleistiftspitze),  mit  einem  stumpfen  Gegenstande 
(Bleistift,  Stiel  des  Percussionshammers) :  Streichreflex,  durch 
Berühren  mit  einem  kalten  Gegenstande,  am  besten  einem  Stückchen 
Eis:  Kältereflex.  Je  nach  der  Oertlichkeit  und  je  nach  der  Art 
der  vorhandenen  Störung  ist  die  eine  oder  die  andere  Reizmethode 
am  zweckmässigsten.  Besonders  bei  Abschwächung  der  Reflexe  hat 
man,  wenn  die  eine  Methode  nicht  zum  Ziele  führt,  die  andere  zu 
probiren,  kann  sich  auch  des  Kneipens,  Brennens,  der  faradischen 
Pinselung  u.  s.  w.  bedienen. 

An  Kopf  und  Armen  findet  man  beim  Gesunden  wenig  Haut- 
reflexe, nur  Kitzelreflexe  lassen  sich  zuweilen  von  der  Nasolabialfalte 
und  der  Handfläche,  in  der  Regel  von  der  Achselhöhle  aus  erzielen. 

Am  Rücken  findet  man  den  Scapulareflex,  d.  h.  Bewegung 
des  Schulterblattes  bei  Streichen  der  Haut  zwischen  innerem  Scapula- 
rand  und  Wirbelsäule;  er  ist  unbeständig. 

Auf  der  Vorderfläche  des  Rumpfes  lässt  sich  durch  Streichen 
oder  Kitzeln  der  Brustwarze  oder  auch  des  WTarzenhofes  bei  Weibern 
Erection  der  Brustwarze  bewirken  (Mammareflex). 

Von  grösserer  Bedeutung  ist  der  bei  Gesunden  ziemlich  bestän- 
dige Bauchreflex.  Sowohl  im  Epigastrium,  als  in  der  Nabel- 
gegend und  den  seitlichen  Bauchgegenden  bewirkt  Streichen  mit  der 
Bleistiftspitze  oder  dem  Fingernagel  Contractionen  der  Bauchmus- 
keln auf  der  gereizten  Seite.  Der  Reflex  tritt  bei  jüngeren  Personen 
und  solchen  mit  straffen  Bauchdecken  leichter  auf  als  bei  älteren 
Personen  und  solchen  mit  schlaffen  Bauchdecken. 

Streicht  man  die  Haut  an  der  Innenseite  des  Oberschenkels, 
oder  drückt  man  die  Haut  kräftig  etwa  12  Cm.  oberhalb  des  Condyl. 
int.  fem.,  so  zieht  der  Cremaster  der  gereizten  Seite  den  Hoden  in 
die  Höhe :  C  r  e  m  a  s  t  e  r  r  e  f  1  e  x.  Dieser  fehlt  ziemlich  oft  bei  älteren 
Männern. 

Bei  directer  Reizung  der  Scrotalhaut,  besonders  beim  Berühren  mit 
einem  kalten  Gegenstande,  schrumpft  sie  zusammen,  contrahiren  sich  ihre 
glatten  Muskelbündel :  Scrotumreflex. 


134  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Die  refiectorische  Wirkung  einer  Reizung  der  Haut  des  Penis  oder 
der  Clitoris  pflegt  aus  naheliegenden  Gründen  der  Untersuchung  nicht  unter- 
worfen zu  werden.  Man  hat  als  Reflex  des  Bulbocavernosus  eine  Con- 
traction  dieses  Muskels  bezeichnet,  die  eintritt,  wenn  man  rasch  über  die 
Glans  wegstreicht  oder  auf  die  Wurzel  des  Plenis  klopft. 

Sticht  oder  reizt  man  sonst  den  Rand  des  Anus,  so  zieht  sich  der 
Sphincter  zusammen. 

Streichen  der  Gesässhaut  bewirkt  bei  manchen  Menschen  Con- 
traction  des  IL  glutaeus  max.:  Glutäusreflex. 

Endlich  ist  der  vielgeprüfteste  Hautreflex  zu  nennen,  der  Sohlen- 
reflex.  die  Bewegung  des  Fusses,  beziehungsweise  des  Beines  bei 
Kitzeln.  Streichen  u.  s.  w.  der  Sohlenhaut. 

Die  Reflexbewegungen  treten  theils  doppelseitig,  theils  nur  auf 
der  gereizten  Seite  ein.  jenes  gilt  von  den  Pupillenreflexen,  dem 
Lidschluss  bei  Eeizung  des  Opticus  oder  der  Conjunctiva,  natürlich 
auch  vom  Niesen,  Husten  u.  s.  w.,  dieses  gilt  besonders  vom  Bauch- 
reflex,  in  der  Regel  auch  vom  Cremaster-,  Scapula-,  Glutäus-,  Solilen- 
reflex. 

In  gewissem  Grade  ist  die  Ausdehnung  der  reflectorischen  Be- 
wegung abhängig  von  der  Stärke  des  Eeizes.  Bei  einfacher  Berüh- 
rung der  Fusssohle  z.  B.  wird  nur  Dorsalflexion  der  Zehen  eintreten, 
bei  stärkerer  Bewegung  des  Fusses,  weiterhin  Beugung  im  Knie- 
und  Hüftgelenke.  Bei  fortgesetztem  Kitzeln  betheiligen  sich  auch 
der  gleichseitige  Arm,  das  andere  Bein  und  schliesslich  der  ganze 
Körper  an  den  zuckenden  Fluchtbewegungen. 

Die  Prüfung  hat  ausser  auf  die  Stärke  und  Ausdehnung  der 
reflectorischen  Bewegung  darauf  zu  achten,  ob  sie  normal  rasch  ein- 
tritt, oder  ob  sie  sich  erst  nach  längerer  Dauer  des  Reizes  zeigt, 
oder  ob  zwischen  Reiz  und  Bewegung  eine  Pause  zu  beobachten  ist. 

Die  Beurtheilung  der  oberflächlichen  Reflexe  wird  dadurch  er- 
schwert, dass  auch  beim  Gesunden  ihre  Stärke  und  Ausdehnung  sehr 
wechseln,  dass  viele  von  ihnen  auch  beim  Gesunden  fehlen,  manche 
willkürlich  unterdrückt  werden  können. 

Beständig  und  unabhängig  vom  Willen  sind  die  Pupillenreflexe, 
beständig  und  nahezu  unabhängig  vom  Willen  die  Lidreflexe,  die  ver- 
schiedenen Schleimhautreflexe,  in  etwas  geringerem  Grade  der  Sohlen- 
reflex,  ziemlich  beständig  und  unabhängig  vom  Willen  der  Bauch- 
reflex, der  Cremasterreflex,  der  Scrotumreflex.  Im  Allgemeinen  sind 
die  Reflexe  um  so  lebhafter  und  beständiger,  je  jünger  das  Individuum 
ist.  Am  sichersten  wird  man  ein  pathologisches  Verhalten  der  Re- 
flexe bei  einseitiger  Erkrankung  erkennen. 

Von  Steigerung  der  Reflexe  spricht  man,  wenn  die  Bewegung 


Refiectoriscke  Erregbarkeit.  185 

schon  bei  abnorm  geringen  Reizen  sich  zeigt,  bei  den  gewöhnlichen 
Reizen  rascher  und  energischer  als  in  der  Norm  eintritt,  wenn  sich 
an  ihr  mehr  Muskeln  als  gewöhnlich  betheiligen.  Den  Typus  dieser 
Störung  bildet  die  Strychninvergiftimg.  Die  Herabsetzung  der  Re- 
flexe zeigt  sich  dadurch,  dass  stärkere  Reize  zur  Hervornifimg  der 
reflectorischen  Bewegung  nöthig,  oder  dass  nur  bestimmte  Reize 
wirksam  sind,  dass  die  Bewegung  schwach  und  träge  ist,  oder  dass 
sie  auch  beim  starken  Reize  auf  die  der  Reizstelle  nächsten  Muskeln 
beschränkt  bleibt.  Herabsetzung  und  Aufhebung  der  Reflexe  beob- 
achtet man  am  Gesunden  im  Schlafe  und  in  der  Narkose.  Sehr  früh 
schwindet  der  Bauchreflex,  dann  der  Cremasterreflex,  spät  erst  der 
Conjunctivareflex.  Die  Pupillen  sind  im  tiefen  Schlafe  eng  und  mehr 
oder  weniger  starr. 

Die  Sehnenreflexe  (Erb)  oder  Sehnenphänomene  (West- 
phal)  werden  hervorgerufen  durch  Klopfen  auf  die  Sehnen,  die  Fas- 
cien,  das  Periost  oder  durch  anderweite  rasche  Dehnung  der  sehni- 
gen Theile.  Sie  bestehen  in  einer  raschen,  blitzähnlichen  Contraction 
des  Muskels,  dessen  Sehne  oder  Fascie  mechanisch  gereizt  worden 
ist,  in  seltenen  Fällen  auch  anderer  Muskeln;  bei  den  Periostreflexen 
wird  das  Klopfen  von  der  Zuckung  eines  oder  mehrerer  benachbarter 
Muskeln  beantwortet.  Damit  der  Sehnenreflex  zu  Stande  komme. 
ist  eine  gewisse  Spannung  der  Sehne,  die  theils  von  dem  Contrac- 
tionsgrade  der  Muskeln,  theils  von  der  Stellung  des  Gliedes  abhängt, 
nöthig. 

Der  weitaus  wichtigste  Sehnenreflex  ist  der  P  a  t  e  1 1  a  r  s  e  h  n  e  n  - 
r  e  f  1  ex  oder  das  K n i  e p  h ä  n o  m e  n.  Man  kann  die  Prüfung  auf 
verschiedene  Weise  vornehmen.  Der  Untersuchte,  der  sitzt,  stellt 
entweder  den  Fuss  mit  der  ganzen  Sohle  so  auf  den  Boden,  dass 
Ober-  und  Unterschenkel  einen  Winkel  von  etwa  60°  bilden,  oder 
er  legt  ein  Bein  über  das  andere,  so  dass  der  eine  Unterschenkel 
vom  anderen  Knie  getragen  wird  und  mit  seinem  Oberschenkel  eben- 
falls einen  Winkel  von  60°  bildet,  oder  er  lässt,  auf  dem  Rand  eines 
Tisches  sitzend,  beide  Unterschenkel  senkrecht  herabhängen.  Der 
Untersucher  legt  die  linke  Hand  auf  den  zu  untersuchenden  M. 
quadriceps  (oder  er  beobachtet  den  Muskel  mit  den  Augen),  führt 
mit  dem  in  der  rechten  Hand  gehaltenen  Percussionshammer  einen 
kurzen  kräftigen  Schlag  gegen  die  Mitte  des  Ligamentum  patellae. 
Man  kann  sich  zum  Klopfen  auch  des  Ulnarandes  der  Hand,  der 
Fingerkuppe  oder  eines  beliebigen  Werkzeuges  bedienen,  doch  ist  es 
rathsam,  besonders  in  zweifelhaften  Fällen,  den  Percussionshammer 
zu  brauchen.    Unmittelbar  nach  dem  Schlage  erfolgt   eine  rasche. 


136 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


kräftige  Coiitraction  des  M.  quadriceps,  durch  die  der  Unterschenkel, 
wenn  er  frei  hängt,  gestreckt,  vorwärts  geworfen  wird.  Ist  die 
Keaction  deutlieh,  so  kann  man  sich  mit  der  Untersuchung  des  be- 
kleideten Beines  begnügen,  ist  sie  zweifelhaft,  so  gelingt  es  zuweilen 
noch  am  entkleideten  Beine  eine  schwache  oder  partielle  Quadriceps- 
znckimg  durch  Gesicht  oder  Gefühl  wahrzunehmen.  Auch  muss  man 
im  letzteren  Falle  das  Klopfen  variiren,  zuweilen  ist  nur  starkes 
Percutiren  wirksam,  zuweilen  zeigen  sich  einzelne  Partien  des  Lig. 
pat,  z.B.  der  innere  Eand,  besonders  reizempfänglich. 

Von  den  oben  angegebenen  Methoden  ist  vielleicht  die  in  Fig.  35 
abgebildete  am  bequemsten ;  führt  sie  nicht  zum  Ziele,  so  kann  man 
die  anderen  versuchen,  wird  aber  schwerlich  mit  ihnen  mehr  er- 
reichen.   Liegt  der  Kranke  im  Bett,  so  hebt  man  am  besten  mit  der 

untergeschob  enen  Linken 
das  Knie,  bis  Unter-  und 
Oberschenkel  einen  Winkel 
von  60 — 70°  bilden.  Immer 
muss  der  Kranke  vermei- 
den, seine  Muskeln  willkür- 
lich anzuspannen.  Die  Ent- 
spannung des  Quadriceps 
kann  dadurch  erleichtert 
werden,  dass  man  den  Pa- 
tienten anweist,  andere  Mus- 
keln, besonders  solche  der 
Arme  kräftig  zu  innerviren, 
z.  B.  die  Fäuste  zu  ballen, 
die  Hände  gegen  einander 
zu  drücken  oder  dergl.  (Das 
sog.  Jendrassik 'sehe "Ver- 
fahren besteht  darin,  dass 
der  Kranke  die  Finger  beider  Hände  in  einander  schlägt  und  dann 
kräftig  zieht,  als  ob  er  die  Hände  auseinander  reissen  wollte). 

Bei  scheinbarem  Fehlen  des  Kniephänomens  ist  es  empfehlens- 
werth,  erst  nach  wiederholter  Untersuchung  ein  endgültiges  Urtheil 
abzugeben.  Man  hat  auch  empfohlen,  in  solchen  Fällen  eine  Strychnin- 
injeetion  auszuführen:  ist  das  Kniephänomen  dauernd  aufgehoben,  so 
bringt  es  auch  die  Strychninwirkimg  nicht  zum  Vorschein. 

Bei  Gesunden  ist  das  Kniephänomen  nahezu  ausnahmelos  vor- 
handen, es  ist  unter  Umständen  sehr  schwach  und  schwer  hervor- 
zurufen, z.  B.  bei  grosser  Fettleibigkeit,  bei  sehr  kurzer  straffer  Pa- 


Fig.  35. 
Herrorrufung  des  Kniephänomens. 


Reflectorische  Erregbarkeit.  137 

tellarsehne,  fehlt  jedoch,  wenn  überhaupt,  ausserordentlich  selten. 
Nur  bei  Greisen  wird  es  oft  schwach  und  fehlt  zuweilen  ganz. 

Von  den  übrigen  Sehnenreflexen  sind  nur  wenige  bei  Gesunden 
beständig  und  auch  diese  fehlen  öfter  als  das  Kniephänomen.  Fast 
immer  findet  man  den  Achillessehnenreflex.  Man  fasst  dabei 
den  Fuss  mit  der  linken  Hand,  hält  ihn  etwa  im  rechten  Winkel  zum 
Unterschenkel  und  klopft  dann  auf  die  leicht  gespannte  Achilles- 
sehne. Die  Wirkung  ist  eine  rasche  und  gewöhnlich  schwache 
Zuckung  der  Wadenmuskeln.  Ferner  ist  beständig  der  Trieeps- 
sehnenreflex  am  Arme.  Man  hält  den  Arm  im  rechten  Winkel 
und  klopft  dann  auf  die  Tricepsselme  oberhalb  des  Olecranon.  Oft 
auch  gelingt  es  durch  Percussion  der  Sehne  in  der  Ellenbogenbeuge, 
den  Biceps  brach,  zu  einer  schwachen  Zuckung  zu  bringen.  Ziem- 
lich beständig  sind  auch  die  von  den  unteren  Enden  des  Radius 
und  der  U 1  n a  aus  zu  bewirkenden  Periostreflexe.  Diese  stellen 
sich  gewöhnlich  bei  Beklopfen  des  Radiusendes  als  leichte  Beuge- 
bewegung des  Armes,  zuweilen  auch  als  Stipulation  dar,  während 
von  der  Ulna  aus  Zuckungen  im  Triceps  und  Deltoideus  ausgelösst 
zu  werden  pflegen.  Durch  de  Watteville  ist  auch  ein  Kau- 
muskelreflex  bekannt  geworden.  Drückt  man  mit  einem  Papier- 
messer oder  einem  ähnlichen  Gegenstande,  den  man  mit  seinem  Ende 
flach  auf  die  Zähne  an  einer  Seite  des  Unterkiefers  auflegt,  den 
letzteren  etwas  herab  und  percutirt  das  Papiermesser  nahe  den  Zähnen, 
so  tritt  beim  Gesunden  eine  rasche  Contraction  der  Kaumuskeln  ein, 
die  den  Unterkiefer  hebt. 

Durch  directes  Beklopfen  des  Muskelbauches  erhält  man  bei 
den  meisten  oberflächlichen  grösseren  Muskeln  des  Gesunden  eine 
blitzartige  schwache  Zuckung  des  ganzen  Muskels,  die  wahrschein- 
lich meist  als  Fascienreflex  aufzufassen  ist.  Doch  kann  im  einzelnen 
Falle  die  Beurtheilung  der  Natur  der  Zuckung  schwierig  sein,  da  es 
sich  auch  um  eine  directe  mechanische  Erregung  des  Muskelnerven 
handeln  kann.  Sicher  liegt  ein  Fascienreflex  vor,  wenn  beim  Klopfen 
auf  einen  Muskelbauch  ein  anderer  Muskel  zuckt.  (Vgl.  hierzu  den 
Abschnitt  über  mechanische  Muskelerregbarkeit.) 

Bei  pathalogischer  Steigerung  der  Erregbarkeit  sind 
die  Sehnenreflexe  lebhafter  als  im  gesunden  Zustande,  bewirkt  die 
mechanische  Reizung  auch  an  Stellen  Zuckung,  wo  sie  bei  Gesunden 
erfolglos  ist,  betheiligt  sich  eine  grössere  Zahl  von  Muskeln  an  der 
Zuckung.  Eine  massige  Steigerung  ist  nur,  wenn  sie  einseitig  vor- 
kommt, zu  erkennen,  da  auch  bei  Gesunden  die  Lebhaftigkeit  der 
Sehnenreflexe  innerhalb  ziemlich  weiter  Grenzen  schwankt. 


1 38  Untersuchung  des  Bewegung-sapparates. 

Ist  das  Knie phänonien  gesteigert,  so  bewirkt  schon  ein 
schwaches  Klopfen  eine  starke  Quadricepszuckung,  weiterhin  kann 
an  die  Stelle  einer  einfachen  Zuckung  eine  Keine  solcher  treten 
(Patellarclonus).  Eine  klonische  Contraction  kann  man  dann  auch 
erhalten,  wenn  man  die  Patella  fest  zwischen  die  Finger  nimmt  und 
mit  einem  Eucke  kräftig  nach  unten  zieht,  oder  mit  dem  dem  oberen 
Rande  der  Patelle  angelegten  Finger  die  Patella  nach  unten  drängt 
und  dann  den  Finger  in  der  Eichtung  von  oben  nach  unten  percu- 
tirt.  Ferner  bewirkt  dann  auch  Beklopfen  der  Tibia  die  Quadri- 
cepszuckung. 

Nimmt  man  bei  gesteigerter  Reflexerregbarkeit  den  Fuss  des 
Kranken  in  die  volle  Hand  und  beugt  ihn.  während  das  Bein  im 
Knie  gestreckt  ist,  kräftig  dorsalwärts,  so  tritt  ein  klonischer  Krampf 
der  "Wadenmuskeln  und  unter  Umständen  ein  Schüttelkrampf  des 
ganzen  Beines  ein.  Man  spricht  dann  vom  F  u  s  s  c  1  o  n  u  s  oder  Fuss- 
phänomen.  Erzittert  das  ganze  Bein  heftig,  so  wird  wohl  auch 
der  Name  Spinalepilepsie  gebraucht. 

In  Wirklichkeit  handelt  es  sich  um  eine  Steigerung  des  Achilles- 
sehnenreflexes. Durch  die  Beugung  des  Fusses  wird  die  Achilles- 
sehne gedehnt,  darauf  antwortet  eine  Streckung  des  Fusses,  wird 
aber  durch  den  Druck  der  Hand  der  Fuss  dauernd  dorsalwärts  ge- 
drängt, so  folgt  jeder  Streckung  eine  neue  Bewegung,  d.  h.  Dehnung 
der  Sehne  und  es  entstellt  ein  Wechsel  von  Beugung  und  Streckung, 
dessen  Dauer  beliebig  verlängert  werden  kann.  Streckt  man  mit  der 
Hand  den  Fuss  kräftig  plantarwärts,  so  hört  sofort  der  Krampf  auf, 
da  dann  die  Sehne  erschlafft  wird.  Bei  Kranken  genügt  zuweilen 
jedes  Anstossen  des  Fusses  im  Bett,  um  das  Fussphänomen  hervor- 
zurufen. Die  Erhöhung  des  Achillessehnenreflexes  kann  sich  auch 
dadurch  kundgeben,  dass  schon  ein  Klopfen  auf  die  Torderseite  des 
Unterschenkels  eine  Contraction  der  Wadenmuskeln  hervorruft  (front  - 
tap  der  englischen  Autoren).  Bei  Gesunden  ist  das  Fussphänomen 
auf  die  oben  beschriebene  Weise  fast  nie  zu  erregen.  Dagegen  ge- 
lingt es  auf  folgende  Weise:  wenn  der  Sitzende  den  Fuss  nur  mit 
dem  Ballen  den  Boden  berühren  und  dann  das  Bein  auf-  und  nieder- 
schwingen lässt.  so  wird  nach  kurzer  Zeit  diese  zitternde  Bewegung 
eine  unwillkürliche,  wird  immer  stärker  und  lässt  sich  nur  durch 
eine  kräftige  Anstrengung  des  Willens  zum  Stillstande  bringen. 

In  ähnlicher  Weise  erhält  man  statt  des  einfachen  Kaumuskel- 
reflexes bei  der  oben  beschriebenen  Prüfung  ein  Unterkiefer- 
phänomen,  einen  Clonus  der  Kaumuskeln. 

Bei  Steigerung  der  Erregbarkeit  erhält  man  beim  Beklopfen  zahl- 


Reflectorische  Erregbarkeit.  139 

reicher  Seimen  Reflexe,  so  an  den  Addnctoren  des  Oberschenkels,  den 
Beugern  des  Unterschenkels,  am  Tibialis  anticus,  den  langen  Zehen- 
streckern und  den  Peronaealmuskeln,  an  den  Beugern  und  Streckern 
der  Hand  und  der  Finger,  am  Snpinator  longns  u.  s.  w.  An  der  Hand 
sieht  man  in  seltenen  Fällen  ein  „Handphänomen",  Beugeclonus  bei 
plötzlicher  Streckung,  Pronationscloniis  bei  Snpination.  Zahlreiche 
Periostreflexe  treten  auf,  die  zum  Theil  „entfernte  Reflexe"  sind, 
zeigen  sich  als  Zuckungen  im  Biceps  bei  Beklopfen  der  Clavicula. 
des  Pectoralis  bei  Beklopfen  des  Sternum  oder  der  Rippen,  des  Del- 
toideus  bei  Beklopfen  der  Spina  scapulae.  Ton  den  unteren  Enden 
der  Vorderarmknochen  aus  lassen  sich  kräftige  Zuckungen  im  Su- 
pinator  und  Biceps,  im  Triceps  und  Deltoideus  bewirken.  Percussion 
der  Dornfortsätze  der  Halswirbel  ruft  Contraction  der  Oberarmnms- 
keln  hervor,  solche  der  Lendenwirbel  Contractionen  der  Glutäen  und 
der  Addnctoren.  Ferner  beobachtet  man  „gekreuzte  Periostreflexe" 
vom  Schlüsselbein  aus  im  contralateralen  Biceps,  vom  Condylus  int. 
tibiae  in  den  Adductoren  des  anderen  Schenkels,  von  den  Sternal- 
enden  der  oberen  Rippen  im  anderen  Pector.  major.  Die  eigentlichen 
Sehnenreflexe  kommen  selten  gekreuzt  vor,  nur  sieht  man  gelegent- 
lich bei  Beklopfung  des  einen  Lig.  patellae  auch  im  anderen  Quadri- 
ceps  eine  leichte  Zuckung. 

Sind  die  tiefen  Reflexe  intensiv  gesteigert,  so  führt  auch  die  mit 
Avillkürlichen  Bewegungen  verknüpfte  Dehnung  der  Sehnen  u.  s.  w. 
zu  reflectorischen  Contractionen.  Von  ihnen  wird  jede  absichtliche 
Bewegung  durchbrochen  und  gehemmt.  Scheinbar  lösen  dann  auch 
Hautreize  die  Sehnenreflexe  aus,  denn  sie  bewirken  eine  willkürliche 
oder  unwillkürliche  Bewegung.  So  kann  das  Fussphänomen  durch 
Kitzeln  der  Sohle  zu  Stande  zu  kommen  scheinen.  Bemerkenswerth 
ist,  dass  zuweilen  durch  starke  Reizung  der  Haut  die  Sehnenreflexe 
gehemmt  werden  können.  So  kann  das  Kniephänomen  ausbleiben, 
wenn  man  die  Haut  des  anderen  Oberschenkels  kräftig  kneipt  u.  s.  w. 

Fast  stets  geht  mit  der  Steigerung  der  Sehnenreflexe  die  des 
Muskeltonus  parallel,  bei  massiger  Steigerung  besteht  erhöhte  Muskel- 
spannung, bei  intensiver  Steigerung  active  Contractur  (vergl.  S.  60  ff.). 
Freilich  kommen  auch  Fälle  vor,  wo  trotz  Steigerung  der  Sehnen- 
reflexe die  Muskeln  auffällig  schlaff  sind,  ein  Verhalten,  das  bis  jetzt 
nicht  recht  verständlich  ist. 

Was  unter  Herabsetzung  und  Fehlen  der  Sehnenreflexe  zu 
verstehen  sei,  ergiebt  sich  von  selbst.  Zuweilen  können  lebhafte 
Hautreflexe  das  Fehlen  der  Sehnenreflexe  verhüllen,  insbesondere 
kann  es  vorkommen,  dass  Reizung  der  Haut  über  dem  Lig.  patellae 


140  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

eine  Zuckung  des  Quadriceps  bewirkt,  während  doch  das  Kniephä- 
nomen selbst  fehlt  (Pseudokniephänomen  Westphal's).  Man  muss 
demnach  prüfen,  ob  auch  Percussion  oder  Drücken  einer  Hautfalte 
Quadricepszuckung  hervorruft.  Der  Hautreflex  soll  immer  erst  kurze 
Zeit  nach  der  Reizung-  auftreten. 

Fehlen  die  Sehnenreflexe,  so  ist,  um  dies  nochmals  zu  betonen, 
durch  wiederholte  Untersuchung  zu  prüfen,  ob  es  sich  um  eine  vor- 
übergehende Störung  oder  um  ein  endgültiges  Erloschensein  handelt. 

Im  Schlafe  und  in  der  Chloroformnarkose  werden  die  Sehnen- 
reflexe schwächer,  erlöschen  schliesslich.  Das  Kniephänomen  ver- 
schwindet eher  als  der  Conjunctivareflex  und  soll  beim  Aufhören 
der  Narkose  später  als  dieser  zurückkehren.  Bei  massiger  Ermüdung 
durch  körperliche  Anstrengung  oder  durch  Mangel  an  Schlaf  sind  die 
Sehnenreflexe  lebhaft,  bei  starker  Erschöpfung  zuweilen  herabgesetzt. 

Endlich  ist  noch  eine  Erscheinung  zu  erwähnen,  welche  viel- 
leicht reflectorischer  Natur  ist,  die  sogenannte  „paradoxe  Con- 
ti- a  c  t  i  o  n  "  (W  e  s  t  p  h  a  1).  Diese  besteht  darin,  dass  ein  Muskel,  den 
man  passiv  verkürzt,  indem  man  seine  Ansatzpunkte  einander  nähert, 
durch  diesen  Act  in  Contraction  geräth.  Sie  bildet  demnach  eine 
Art  von  Gegenstück  zu  den  Sehnenreflexen,  bei  denen  es  sich  um 
eine  plötzliche  Dehnung  handelt.  Das  Phänomen  ist  hauptsächlich 
am  M.  tibialis  ant.  studirt  worden,  an  dem  es  am  häufigsten  vorzu- 
kommen scheint.  Wenn  man  den  Fuss  des  liegenden  Kranken  schnell 
und  kräftig  dorsalflectirt,  so  sieht  man,  dass  der  Fuss,  nachdem  die 
Hand  des  Untersuchenden  ihn  losgelassen,  in  der  ihm  gegebenen 
Stellung  verharrt,  wobei  die  Sehne  des  Tib.  ant.  vorspringt,  und  erst 
dann  gleichmässig  oder  in  Absätzen  der  Schwere  nachgebend  herab- 
sinkt. Welche  Bedeutung  dieses  pathologische  Verhalten  hat,  das 
gelegentlich  auch  an  anderen  Muskeln  in  entsprechender  Weise  be- 
obachtet worden  ist,  wissen  wir  nicht. 


Von  hervorragender  diagnostischer  Bedeutung  sind  die  Pupillen- 
reflexe,  deren  Prüfung  in  dem  Abschnitte  über  die  Function  der 
Augenmuskeln  ausführlich  geschildert  werden  wird  und  über  die 
hier  nur  das  Wichtigste  gesagt  werden  kann. 

Auffallend  weite  und  bewegliche  Pupillen  finden  wir 
da,  wo  die  reflectorische  Erregbarkeit  überhaupt  gesteigert  ist,  bei 
Kindern  und  bei  nervösen,  leicht  erregbaren  Personen.  Auch  im 
Gebiete  des  Pathologischen  sind  sie  ein  Ausdruck  gesteigerter  Erreg- 
barkeit (Nervosität,  Hysterie,  Manie  u.  s.  w.).  Eigentliche  Mydriasis 
spastica  treffen  wir  bei  directer  oder  reflectorischer  Reizung  der  Sym- 


Reflectoriscke  Erregbarkeit.  141 

pathicusfasern,  durch  Läsionen,  die  das  Halsmark  oder  den  Halssym- 
pathicus  selbst  reizen,  während  lebhafter  Schmerzen  beliebiger  Art. 
Weite  und  starre  Pupillen  kommen  vor: 

1.  bei  Koma  (im  epileptischen  Anfalle,  bei  Meningitis  und  sonst 
bei  sehr  starkem  Hirndrucke).  Hier  kann  natürlich  nur  die  Licht- 
reaction  geprüft  werden.  Eng  ist  die  Pupille  bei  tiefem  Koma  nur 
dann,  wenn  es  sich  um  die  mit  Myosis  einhergehenden  Vergiftungen 
(besonders  die  durch  Morphium)  handelt,  oder  wenn  ein  apoplectischer 
Insult  durch  eine  Brückenläsion  (bes.  Blutung)  hervorgerufen  worden 
ist,  oder  wenn  schon  vor  dem  Eintritte  des  Koma  Myosis  durch  or- 
ganische Läsion  (z.  B.  durch  Tabes)  bestand. 

2.  bei  Vermehrung  des  intraocularen  Druckes,  besonders  bei  ent- 
wickeltem Glaucom.  Hier  handelt  es  sich  wohl  nicht  um  nervöse 
Einflüsse. 

3.  bei  Läsion  des  N.  oculomotorius.  Hier  fehlen  natürlich  die 
Lichtreaction  und  die  Mitbewegung  bei  Convergenz.  Bestehen  von 
Seiten  des  Oculomotorius  anderweite  Lähmungserscheinungen,  so  wird 
in  den  meisten  Fällen  eine  Localisation  möglich  sein.  Besteht  die 
Mydriasis  allein,  dann  ist  über  ihre  Entstehung  schwer  zu  urtheilen. 
so  bei  Tabes  incipiens,  bei  der  mit  tabischen  Veränderungen  ver- 
bundenen progressiven  Paralyse,  bei  multipler  Sklerose  u.  s.  w. 

Mydriasis  paralytica  mit  Accommodationslähmung  ist  bekanntlich 
eine  Wirkung  des  Atropins,  das  die  Nervenendigungen  angreifen  soll, 
und  anderer  Gifte  (Duboisin,  Cocain).  Sie  kommt  auch  nach  Diph- 
therie und  ziemlich  selten  bei  Tabes  vor. 

Auffallend  enge  Pupillen  findet  man  bei  der  Mehrzahl 
der  Greise,  sehr  oft  bei  Tabes  und  auch  bei  progressiver  Paralyse, 
der  Tabes  des  Gehirns,  seltener  bei  multipler  Sklerose,  bei  manchen 
Vergiftungen  (Morphium,  Tabak  u.  s.  w.),  bei  manchen  Eeizzustäiiden 
im  Auge  (Iritis,  Ciliarneuralgie),  bei  massigem  Hirndrucke  (Meningitis, 
Durhämatom,  Hirntumoren)  und  bei  Herdläsionen  der  Brückengegend. 
Stärkere  Myosis  bei  Personen  unter  50  Jahren  ist  stets  pathologisch, 
wie  andererseits  weite  Pupillen  bei  alten,  nicht  an  genkranken  Leuten 
immer  auf  Störungen  des  Nervensystems  hinweisen  dürften. 

Bei  seniler  M}-osis  besteht  meist  nur  Pupillenträgheit,  selten,  voll- 
kommene Starre.  Die  senile  Pupillenträgheit  ist  eine  totale,  die  Mit- 
bewegung bei  Convergenz  ist  vermindert  und  sowohl  gegen  Lichtreize 
als  gegen  Schmerzreize  reagirt  die  Iris  wenig  oder  gar  nicht.  Die 
Schmerzreaction  aber  hört  früher  im  Leben  auf  als  die  Lichtreaction, 
ist  oft  schon  in  der  Mitte  des  Lebens  kaum  mehr  nachzuweisen. 

Bei  tabischer  u.  s.  w.  Myosis  besteht  entweder  reflektorische  Pu- 


142  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

pillenstarre  (s.  unten)  oder  totale  Starre.  Man  muss  dann  2  Läsionen 
annehmen,  deren  eine  Myosis  paralytica,  deren  andere  Starre  ver- 
ursacht. 

Bei  Myosis  durch  Hirndruck  und  durch  Iritis  handelt  es  sich 
zweifellos  um  Sphincterkrampf,  bestellt  daher  complete  oder  incom- 
plete  totale  Starre, 

Massige  Verengerung'  der  Pupille  mit  vollkommen 
e  r  h  a  1 1  e  n  e  r  L  i  c  h  t  r  e  a  c  t  i  o  n  (sog.  Myosis  paralytica)  entsteht  durch 
Läsion  der  von  der  Oblongata  durch  das  Halsmark  und  den  N.  sym- 
pathicus  zum  Diktator  iridis  ziehenden  Fasern.  Sie  wird  daher 
beobachtet  bei  Herderkrankungen  der  Oblongata,  bei  Affectionen  des 
Halsmarkes,  besonders  Myelitis  cervicalis,  bei  Erkrankung  des  Hals- 
sympathicus  selbst  (hier  wohl  immer  einseitig).  Fehlen  der  Schmerz- 
reaction  bei  sonstiger  guter  Beweglichkeit  der  Pupille  ist  das  Cha- 
racteristicum  der  reinen  Myosis  paralytica. 

Reflectorische  Pupillenstarre,  d.  h.  Fehlen  der  Licht- 
reaction  bei  erhaltener  Mitbewegung,  scheint  immer  auf  eine  organi- 
sche centrale  Läsion  zu  deuten,  die  die  Bahn  zwischen  Opticus  und 
Oculomotoriuskern  unterbricht.  Sie  kommt  vor  bei  Tabes  und  bei 
progressiver  Paralyse  und  sehr  selten  bei  Blutungen  und  anderen 
Herderkrankungen  in  der  Nähe  der  Vierhügel.  Sieht  man  von  diesen 
seltenen  Herderkrankungen  ab,  so  ist  die  reflectorische  Pupillenstarre 
pathognostisch  für  Tabes-Paralyse.  Sie  ist  zuweilen  mit  Mydriasis, 
oft  mit  Myosis  verbunden,  kann  aber  auch  ohne  Aenderung  der  Pu- 
pillenweite bestehen.  Gewöhnlich  scheint  bei  ihr  auch  die  Schmerz- 
reaetion  zu  fehlen. 

"Wenn  auch  die  Innervation  der  Iris  so  verwickelt  und  die 
Untersuchung  der  Pupille  u.  U.  so  schwierig  ist,  dass  wir  nicht 
immer  zur  sicheren  Unterscheidung  zwischen  spastischer  und  para- 
lytischer Mydriasis  oder  Myosis  gelangen,  den  Ort  der  Läsion  genau 
zu  bestimmen  oft  ausser  Stande  sind,  so  vermindern  diese  Verhält- 
nisse den  hohen  Werth  der  Pupillensymptome  doch  nicht.  Dieser 
Werth  besteht  hauptsächlich  darin,  dass  letztere  uns  oft  zwischen 
organischer  und  functioneller  Nervenkrankheit  unterscheiden  lassen, 
dass  sie  bei  bestimmten  Krankheiten  sehr  frühzeitig  und  mit  grosser 
Eegelmässigkeit  auftreten,  dass  sie  schon  bei  oberflächlicher  Unter- 
suchung auf  den  rechten  Weg  weisen  können.  Findet  man  Pupillen- 
differenz, ein  Symptom,  das  auch  der  weniger  Geübte  leicht  und 
sicher  nachweisen  kann,  so  kann  man  freilich  nur  auf  eine  krank- 
hafte Veränderung  überhaupt  schliessen.  Geringe  Differenzen  in  der 
Weite  der  Pupillen  sind  jedoch  nicht  zu  betonen.    Sie  sind  zwar 


Reflectorische  Erregbarkeit.  143 

immer  etwas  Krankhaftes,  aber  oft  ohne  bestimmte  Bedeutung.  Ist  die 
geringe  Differenz  dauernd  vorhanden,  so  deutet  sie  oft  auf  ererbte 
Instabilität,  Man  sieht  sie  bei  erblich  Nervösen  (einmal  fand  ich 
bei  Mutter  und  Tochter  Erweiterung  der  linken  Pupille).  Wenn 
solche  Belastete  mit  geringer  Pupillendifterenz  neurasthenische  oder 
andere  Zufälle  bekommen,  so  kann  die  Differenz  vorübergehend  zu- 
nehmen. Anders  ist  es  mit  beträchtlichen  Unterschieden.  Sie  kom- 
men hie  und  da  im  Migräne-Anfälle  vor,  sonst  selten  bei  leichteren 
Störungen.  Bei  Gesunden  kommt  Pupillendifferenz  nicht  vor.  Ab- 
gesehen von  den  Fällen  einseitiger  Amblyopie  oder  Amaurose,  ein- 
seitiger Iriskrankheit  und  von  denen,  wo  die  Pupillenstörung  Theil- 
erscheinung  einer  Oculomotorius-  oder  Sympathicusläsion  ist,  ist  die 
beträchtliche  Pupillendiiferenz  am  häufigsten  bei  Tabes,  beziehungs- 
weise progressiver  Paralyse.  Man  sieht  sie  verhältnissmässig  oft 
bei  Personen,  die  vor  einigen  Jahren  Syphilis  gehabt  haben  und 
bei  denen  noch  durchaus  keine  anderweiten  oder  nur  unbestimmte 
Nervensymptome  bestehen,  und  kann  dann  in  ihr  den  Vorläufer  jener 
Krankheiten  vermuthen.  Die  reflectorische  Pupillenstarre  kann,  um 
ein  anderes  Beispiel  zu  wählen,  u.  U.  allein  uns  in  den  Stand  setzen, 
zwischen  multipler  Neuritis  und  Tabes  zu  entscheiden,  da  sie  allein 
von  den  Tabessymptomen  nicht  durch  die  Erkrankung  peripherischer 
Nerven  entstehen  kann.  Sie  ist  oft  von  allen  Tabessymptomen  das 
erste  und  kann  dem  Verschwinden  des  Kniephänomens  um  längere 
Zeit  vorausgehen.  Schwankt  die  Diagnose  zwischen  Meningitis  und 
Typhus  oder  Pneumonie,  so  kann  eine  enge  und  starre  Pupille  für 
erstere  entscheiden.  Myosis  bei  einem  Maniacus  wird  ohne  Weiteres 
an  progressive  Paralyse  denken  lassen.  Myosis  bei  einem  Koma- 
tösen kann,  trotz  Fehlens  jeder  Anamnese,  zur  Diagnose  einer  Mor- 
phiumvergiftung leiten.  Reactionslosigkeit  der  Pupillen  im  epilep- 
tischen Anfalle  lässt  am  sichersten  Simulation  ausschliessen  u.  s.  f. 


Im  Vergleiche  zu  der  der  Pupillen-  und  der  Sehnenreflexe  ist  die 
diagnostische  Bedeutung  der  Hautreflexe  nicht  gross. 
Steigerung  findet  man  da,  wo  eine  gesteigerte  Erregbarkeit  der 
reflexvermittelnden  grauen  Substanz  zu  vermuthen  ist,  und  da,  wo 
die  vom  Gehirn  herabkommenden  reflexhemmenden  Erregungen  weg- 
gefallen sind.  Der  Typus  der  ersten  Gruppe  ist  die  Strychninver- 
giftung.  In  ähnlicher  Weise  sind  die  Hautreflexe  in  der  Krankheit 
Tetanus  gesteigert.  Hierher  gehören  vielleicht  die  lebhaften  Reflexe, 
die  man  bei  manchen  sogen.  Neurosen  trifft,  Steigerung  durch  Weg- 
fallen reflexhemmender  Einflüsse  sollte  man  bei  allen  centralen  Läh- 


144  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

mimgen  erwarten.  Bei  den  meisten  cerebralen  Lähmungen  aber  sind 
die  Hautreflexe  durch  die  sogenannte  „Beflexhenmiung"  herabgesetzt 
oder  aufgehoben  (s.  unten) .  bei  spinalen  Lähmungen  sind  die  Ver- 
hältnisse sein-  wechselnd.  Bei  transversaler  Myelitis  trifft  man  zu- 
weilen in  der  That  an  dem  gelähmten  Unterkörper  sehr  lebhafte 
Hautreflexe.  Doch  kommen  auch  anscheinend  ganz  ähnliche  Fälle 
Tor.  wo  die  Hautreflexe  nicht  gesteigert  oder  gar  herabgesetzt  sind. 
Scheinbare  Steigerung  der  Hautreflexe  kann  bei  Hyperästhesie  der 
Haut  gefunden  werden,  sobald  nämlich  diese  durch  peripherische 
Veränderungen  verursacht  ist. 

Herabsetzung  oder  Aufhebung  der  Hautreflexe  entsteht 
durch  unvollständige  oder  vollständige  Unterbrechung  des  kurzen, 
quer  durch  das  Bückeumark  führenden  Beflexbogens  und  durch 
Steigerung  der  reflexhemmenden  Einflüsse.  Demnach  sind  schwach 
oder  fehlen  die  Hautreflexe  bei  allen  peripherischen  Lähmungen 
und  Anästhesien  (vergl.  S.  74).  Sie  fehlen  ferner  bei  den  centralen 
Läsionen,  die  mit  Erregung  reflexhemmender  Fasern  verbunden  sind, 
besonders  bei  cerebralen  Hemiplegien  und  -anästhesien.  Hier  ist 
wohl  der  einzige  Bunkt.  wo  bis  jetzt  aus  der  Untersuchung  der 
Hautreflexe  wesentlicher  diagnostischer  Gewinn  gezogen  werden  kann. 
Das  Verhalten  der  Hautreflexe  lässt  oft  leicht  und  sicher  zwischen 
organischer  und  functioneller  Hemiplegie,  beziehungsweise  -anästhesie 
entscheiden.  Bei  jener  sind  die  Hautreflexe  auf  der  Seite  der  Läh- 
mung herabgesetzt  oder  aufgehoben,  bei  dieser  sind  sie  auf  beiden 
Seiten  gleich  gut  erhalten.  0.  Bosenbach  hat  besonders  das  Ver- 
halten des  Baiichreflexes  untersucht  und  ist  etwa  zu  folgenden  Sätzen 
gelangt.  Venu  der  Bauchreflex  bei  cerebralen  Störungen  einseitig 
fehlt,  liegt  stets  eine  organische  locale  Erkrankung  der  gegenüber- 
liegenden Hirnhälfte  vor.  TVenn  bei  einem  Hirnleiden  die  Bauch- 
reflexe  beiderseitig  vermisst  werden,  bei  bestehender  oder  fehlender 
Störung  des  Bewusstseins,  so  liegt  eine  diffuse  Erkrankung  des  Ge- 
hirns (Meningitis,  Hirndruck  u.  s.  w.)  vor.  Man  kann  bei  Kindern 
und  Leuten  mit  straffen  Bauchdecken  diesen  Schluss  mit  einiger 
Sicherheit,  bei  Individuen  mit  schlaffen  Bauchdecken  nur  mit  Vor- 
behalt machen.  Gesichert  wird  hier  die  Annahme  einer  diffusen 
Hirnerkrankung  erst,  wenn  die  Pupillen  eng  und  die  anderen  Be- 
flexe  beeinträchtigt  sind.  Wenn,  nachdem  doppelseitiges  Fehlen  des 
Bauchreflexes  festgestellt  war.  dieser  sich  ein-  oder  doppelseitig  wieder 
zeigt,  so  ist  das  ein  prognostisch  günstiges  Zeichen,  da  es  eine  locale 
oder  allgemeine  Abnahme  der  cerebralen  Störung  (Verminderung  des 
Hirndruckesj  anzeigt.     Das  Verschwinden   des  einen   noch   vornan- 


Reflectorische  Erregbarkeit.  145 

denen  Bauchreflexes  bei  komatösen  Hemiplegischen  ist  ein  sehr  un- 
günstiges Symptom,  da  es  eine  stärkere  Fimctionshemmung  auch  in 
der  anderen  Hirnhälfte  andeutet.  Dem  Bauchreflex  analog  verhält 
sich  der  etwas  weniger  beständige  Cremasterreflex.  Dagegen  ist  der 
Sohlenreflex  als  zum  Theile  vom  Willen  abhängig  nicht  nur  bei  or- 
ganischen Hirnlälmmngen,  sondern  auch  bei  hysterischen  Lähmun- 
gen sehr  herabgesetzt.  Dieses  Verhalten  kann  einen  gewissen  Werth 
haben,  wenn  die  Diagnose  zwischen  Hysterie  und  spinaler  Lähmung 
schwankt,  da  bei  dieser  der  Sohlenreflex  nicht  vermindert  zu  sein 
pflegt.  — 

Von  ungleich  grösserem  diagnostischen  Werthe  als  das  Verhalten 
der  Hautreflexe  ist,  wie  gesagt,  das  der  tiefen  oder  Sehnen- 
reflexe.  Lebhaft  sind  sie  bei  jugendlichen  und  oft  bei  nervösen 
reizbaren  Personen.  Doch  zeigt  sich  hier  nie  das  Fussphänomen  und 
bleibt  überhaupt  die  Steigerung  der  reflectorischen  Erregbarkeit  in- 
nerhalb massiger  Grenzen,  so  class  eine  Verwechselung  mit  patholo- 
gischer Steigerung  kaum  vorkommen  wird.  Ganz  ausgeschlossen  ist 
diese  Verwechselung,  wenn  nur  auf  einer  Körperseite  oder  nur  an 
der  unteren  Körperhälfte  die  Sehnenreflexe  erhöht  sind. 

Steigerung  der  Sehnenreflexe  ist  meist  verbunden  mit 
Steigerung  der  unwillkürlichen  Muskelspannung,  des  Tonus.  Verur- 
sacht wird  die  Steigerung  der  Sehnenreflexe  am  häufigsten  durch 
Unterbrechung  der  Willensbahn.  Sobald  der  Zufluss  der  willkürlichen 
Innervation  zu  den  Muskeln  auch  nur  im  mindesten  gehemmt  ist, 
findet  man  Steigerung  der  Sehnenreflexe.  Diese  begleitet  nicht  nur 
die  organische  centrale  Lähmung,  sondern  in  gewissem  Grade  auch 
die  hysterische  Lähmung,  ist  mithin  zur  Unterscheidung  beider,  wenn 
die  abnorme  Lebhaftigkeit  der  Eeflexe  nicht  sehr  gross  ist,  nicht  mit 
Sicherheit  zu  verwerthen.  Sie  begleitet  Läsionen  der  Pyramiden- 
bahn,  die  noch  keine  wahrnehmbare  Lähmung  hervorgerufen  haben. 
Findet  man  z.  B.  deutliche  Steigerung  der  Sehnenreflexe  an  der  unte- 
ren Körperhälfte  als  einziges  Symptom,  so  ist  die  Vermuthung  ge- 
rechtfertigt, dass  die  spinalen  Pyramidenbahnen  krankhaft  afficirt 
seien,  dass  etwa  ein  Druck  auf  das  Brustmark  ausgeübt  werde.  In 
ähnlicher  Weise  kann  halbseitige  Steigerung  der  Sehnenreflexe  die 
spätere  Entwicklung  einer  Hemiplegie  ankündigen.  Besteht  neben 
den  abnorm  lebhaften  Sehnenreflexen  deutliche  Lähmung,  so  gelten 
die  für  die  centrale  Lähmung  gegebenen  Regeln.  Nochmals  sei  die 
grosse  Bedeutung  hervorgehoben,  die  der  Nachweis  gesteigerter  Seh- 
nenreflexe im  Gebiete  degenerativer  Atrophie  hat,  er  ist  fast  pa- 

Möbius,  Diagnostik  dor  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  10 


146  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

tliognostisch  für  die  combinirte  Erkrankung  der  Vorderliörner  und 
der  Pyramideiibahnen  (amyotrophische  Lateralsklerose). 

Ausser  durch  Unterbrechung-  der  Willensbahn  kann  die  Steige- 
rung- der  Sehnenreflexe  verursacht  werden  durch  Gifte,  die  reizend 
auf  die  graue  Substanz  des  Rückenmarkes  wirken.  Hier  kommen 
wahrscheinlich  die  Strychninvergiftung  und  die  Krankheit  Tetanus 
in  Frage. 

Um  eine  Steigerung  der  Erregbarkeit  der  grauen  Substanz,  die 
durch  unbekannte  Ursachen  entsteht,  handelt  es  sich  vielleicht  auch 
in  den  Fällen,  wo  bei  abgemagerten,  schwächlichen  Kranken,  beson- 
ders bei  Phthisischen  und  bei  Typhuskraiiken,  abnorm  starke  Sehnen- 
reflexe beobachtet  werden.  Während  die  bei  Strychninvergiftung  und 
bei  Tetanus  bestehende  allgemeine  Steigerung  der  Reflexe  kaum  zu 
diagnostischen  Irrthümern  Anlass  geben  wird,  muss  man  sich  hüten, 
in  den  letztgenannten  Fällen  aus  den  abnorm  lebhaften  Sehnen- 
reflexen eine  organische  Läsion  des  Nervensystems  zu  diagnosticiren. 

In  einzelnen  Fällen  ist  auch  bei  Läsion  peripherischer  Nerven, 
besonders  bei  multipler  Neuritis,  das  Auftreten  abnorm  lebhafter 
Sehnenreflexe  beobachtet  worden,  die  mit  Heilung  der  Neuritis  zur 
Norm  zurückkehrten.  Wahrscheinlich  entstand  hier  eine  durch  die 
entzündliche  Reizung  bewirkte  Steigerung  der  Erregbarkeit  im  auf- 
steigenden (sensorischen)  Schenkel  des  Reflexbogens. 

Endlich  hat  man  das  Fussphänomen  auch  bei  Erkrankung  des 
Sprunggelenkes  und  bei  Läsion  des  Periostes  der  Unterschenkelknochen, 
gesteigerte  Sehnenreflexe  überhaupt  bei  chronischen  Gelenkerkran- 
kungen wiederholt  gesehen,  ein  Befund,  der  wohl  ebenfalls  auf  Reizung 
sensorischer  Fasern  deutet. 

Verminderung  oder  Aufhebung  der  Sehnenreflexe  ist 
gleichbedeutend  mit  Verminderung  oder  Aufhebung  des  Muskeltonus, 
man  findet  daher,  wo  die  Sehnenreflexe  fehlen,  ausnahmelos  Schlaff- 
heit der  Musculatur.  Beide  Veränderungen  müssen  eintreten,  sobald 
der  Reflexbogen  shvm  M  (Fig.  36)  an  irgend  einer  Stelle  unterbrochen 
wird.  So  hebt  sowohl  Zerstörung  von  v  (z.  B.  Poliomyelitis  acuta) 
den  Sehnenreflex  auf,  als  die  von  m  (z.  B.  peripherische  Lähmung 
durch  Neuritis),  als  die  von  M  (z.  B.  fortschreitender  Muskelschwund), 
als  die  von  h  (z.  B.  Zerfall  des  Hinterhorns  durch  Gliomatosis  spinalis). 

Sitzt  die  Läsion  auf  der  Strecke  v  m  M,  so  besteht  schlaffe  Läh- 
mung. Das  Nähere  ist  schon  auf  S.  73  angegeben.  Wiederholt  sei 
nur,  dass  der  Sehnenreflex  bestehen  bleiben  kann,  so  lange  in  dem 
Reflexbogen  eine  grössere  Zahl  vollkommen  gesunder  Muskel-  und 
Nervenelemente  vorhanden  ist  (spinale  Muskelatrophie,  primäre  Mus- 


Eteflectorische  Erregbarkeit. 


147 


Schema  des  Reflexbogens,  welcher  zwischen  senso- 
rischem und  motorischem  Muskolnerven  besteht. 
M  =  willkürl.  Muskel,  m  =  motorischer,  s  =  sen- 
sorischer Muskelnerv.  R  ■=  Rückenmark,  a  =  Py- 
ramidenbahn, p  =  Hinterstrangbahn,  v  =  vordere 
graue  Substanz,    h  =  hintere  graue  Substanz. 


kelatrophie),  dass  aber,  sobald  alle  Muskel-  oder  Nervenfasern  auch 
nur  im  geringsten  Grade  erkrankt  sind,  der  Sehnenreflex  zu  verschwin- 
den scheint.  Es  ist  festgestellt  wor- 
den, dass  z.  B.  eine  leichte  Deh- 
nung des  N.  cruralis ,  die  keine 
deutliche  Lähmung  hinterlässt,  das 
Kniephänomen  zum  Verschwin- 
den bringt.  Deshalb  darf  man  in 
den  Fällen,  wo  man  Fehlen  des 
Kniephänomens  ohne  Lähmungs- 
erscheinungen  findet,  z.  B.  nach 
Diphtherie,  nicht  ohne  Weiteres 
annehmen,  dass  die  Strecke  vmM 
iutact  sei,  dass  die  Läsion  ausser- 
halb ihrer  sitzen  müsse. 

Bei  Läsion  der  Strecke  sh 
muss  Muskelanästhesie  mit  Fehlen 
des  Sehnenreflexes  und  Muskel- 
schlaifheit  entstehen.  Möglicher- 
weise kommt  auch  eine  auf  die 
kurze  Strecke  zwischen  h  und  v  beschränkte  Läsion  vor  (bei  4  in  Fig.  23), 
man  würde  dann  Fehlen  des  Sehnenreflexes  und  Muskelschlaffheit 
finden,  ohne  Lähmung  und  ohne  Anästhesie.  Da  aber,  wie  eben  be- 
merkt, eine  so  leichte  Läsion  der  Nerven,  dass  sie  deren  sonstige 
Function  nicht  wahrnehmbar  stört,  den  Sehnenreflex  aufhebt,  gerin- 
gere Grade  von  Muskelanästhesie  überdem  schwer  nachzuweisen  sind, 
ist  es  kaum  möglich,  im  einzelnen  Falle  die  Läsion  bei  4  mit  Be- 
stimmtheit zu  diagnosticiren. 

In  praktischer  Hinsicht  ist  die  wichtigste  Thatsache  die,  dass 
Verschwinden  des  Kniephänomens  ein  überaus  frühzeitiges  und  regel- 
mässiges Sjanptom  der  Tabes  darstellt.  Fehlen  des  Kniephänomens 
und  reflectorische  Pupillenstarre  sind  die  beiden  objectiven  Symptome, 
die  eine  frühzeitige  Diagnose  der  Tabes  möglich  machen.  Sind  beide 
bei  einer  Person  im  mittleren  Lebensalter  vorhanden,  so  handelt  es 
sich  höchstwahrscheinlich  um  Tabes.  Zwar  giebt  es  auch  Fälle  von 
Tabes  mit  erhaltenem  Kniephänomen,  da  der  tabische  Process  die 
zum  Zustandekommen  des  Kniephänomens  nöthigen  Fasern  verschonen 
oder  erst  später  befallen  kann,  ja  es  scheinen  die  Fälle  nicht  allzu 
selten  zu  sein,  wo  das  Kniephänomen  erst  erlischt,  nachdem  schon 
längere  Zeit  deutliche  tabische  Symptome  bestanden  hatten,  die  Dia- 
gnose am  Lebenden  aber  wird  dann  nur  möglich  sein,  wenn  die 


in. 


148  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

übrigen  Symptome,  Aetiologie  und  Verlauf  durchaus  eindeutig-  sind. 
Andererseits  darf  man  aus  dem  Fehlen  des  Kniephänomens  ohne  re- 
flectorische  Pupillenstarre  natürlich  nicht  mit  Sicherheit  auf  Tabes 
sctiliessen,  auch  wenn  sonstige  Symptome  (Nervenschmerzen,  Anästhesie, 
Ataxie  u.  s.  w.),  die  bei  Tabes  vorkommen,  bestehen.  Denn  es  ist  er- 
sichtlich, dass  jedweder  Process,  der  die  in  den  hinteren  Wurzeln 
vereinigten  Fasern  da  oder  dort  befällt,  alle  diese  Symptome  hervor- 
rufen kann.  Dies  gilt  von  der  multiplen  Nervendegeiieration  durch 
Alkohol  und  andere  Gifte,  von  den  allerdings  sehr  seltenen  Fällen, 
wo  Neubildungen  in  der  hinteren  Hälfte  des  Wirbelkanals  und  um 
die  hinteren  Wurzeln  sich  finden.  Dies  gilt  auch  vom  Diabetes,  wo 
nicht  selten,  und  zwar  anscheinend  in  schwereren  Fällen,  das  Ivnie- 
phänomen  fehlt  und  wo  vielleicht  auch  peripherische  Nervendegene- 
ration vorkommt.  Es  kann  hier  nicht  die  Aufgabe  sein,  näher  auf 
die  Diagnose  der  Tabes  einzugehen,  es  sollte  nur  hervorgehoben 
werden,  dass,  so  wichtig  für  diese  das  Verschwinden  des  Kniephä- 
nomens ist,  doch  dieses  S3anptom  nicht  als  pathognostisch  angesehen 
werden  darf,  dass  hier  wie  anderwärts  zur  Diagnose  Berücksichti- 
gung aller  Symptome,  des  Verlaufes  und  der  Aetiologie  gehört. 

Der  diagnostische  Werth  der  Sehnenreflexe,  besonders  des  Knie- 
phänomens, kann  dadurch  nicht  vermindert  werden,  dass  in  ganz 
vereinzelten  Fällen  das  Kniephänomen  fehlt,  ohne  dass  eine  Unter- 
brechung des  Reflexbogens  anzunehmen  wäre.  Wie  neuere  Unter- 
suchungen gezeigt  haben,  erlöschen  die  Sehnenreflexe  des  unteren 
Körpertheiles  dauernd,  wenn  ein  Theil  des  Markes  vollständig  vom 
Gehirn  abgetrennt  wird  (Zerreissung  u.  s.  w.).  Auch  hat  man  bei 
einzelnen  Gehirnerkrankungen ,  besonders  bei  Gehirngeschwülsten, 
Abscessen,  Kleinhirnerkrankungen  dauerndes  Fehlen  der  Sehnenreflexe 
beobachtet.  Bei  starkem  Fieber  können  die  Sehnenreflexe  vorüber- 
gehend fehlen.  Abgesehen  weiterhin  von  dem  Fehlen  aller  Eeflexe  in 
tiefer  Narkose  und  bei  schwerem  Koma  beobachtet  man  hier  und  da 
ein  angeborenes  Fehlen  des  Reflexes  bei  sonst  gesunden  Personen. 
Es  scheint  sich  dabei  vorwiegend  um  neuropathisch  belastete  Indivi- 
duen zu  handeln.  Sodann  scheint  vorübergehend  das  Kniephänomen 
nach  grossen  Strapazen  und  allerhand  erschöpfenden  Eingriffen  (auch 
unmittelbar  nach  epileptischen  Anfällen)  fehlen  zu  könuen.  Wie  diese 
vorübergehende  Herabsetzung  des  Muskeltonus  zu  Stande  kommt,  ist 
nicht  recht  verständlich.  Vielleicht  kann  man  sie  derjenigen  ver- 
gleichen, die  dauernd  bei  Greisen  vorkommt.  Auch  bei  diesen  kann 
das  Kniephänomen  fehlen  ohne  eigentlich  krankhafte  Vorgänge.  Da 
bei  ihnen  häufig  Myosis  und  Pupillenträgheit  zu  finden  ist,  Blasen- 


Mechanische  Erregbarkeit  der  Nerven  und  Muskeln.  149 

Störungen  und  herumziehende  Schmerzen  nicht  selten  sind,  kann  ein 
an  Tabes  incipiens  erinnerndes  Bild  entstehen. 

V.  Die  mechanische  Erregbarkeit  der  Nerven  und  Muskeln. 

Klopft  man  bei  Gesunden  mit  dem  Percussionshammer  auf  die 

Stellen,  wo  motorische  oder  gemischte  Nerven  dicht  unter  der  Haut 
verlaufen,  so  bewirkt  man  in  vielen  Fällen  eine  rasche  Zuckung  in 
den  von  den  betroffenen  Nerven  versorgten  Muskeln. 

Am  geeignetsten  zur  mechanischen  Eeizung  sind  die  Punkte,  wo 
der  Nerv  gegen  einen  Knochen  gedrückt  werden  kann.  So  lassen 
sich  in  der  Eegel  mechanisch  reizen:  der  N.  radialis  an  der  Umschlag- 
stelle, der  N.  ulnaris  zwischen  dem  Olecranon  und  dem  Condyl.  int., 
der  N.  peronaeus  am  Capit.  fibul.;  zuweilen  gelingt  es  auch  am  N. 
facialis  unterhalb  des  Ohres,  an  verschiedenen  Aesten  des  PI.  brach, 
in  der  Supraclaviculargrube,  am  N.  tibial.  u.  s.  w. 

Erhält  man  bei  Beklopfen  des  Muskels  eine  rasche  Zuckung,  so 
handelt  es  sich  entweder  um  einen  Fascienreflex,  oder  um  eine  me- 
chanische Eeizung  des  Muskelnerven.  Dass  letzteres  der  Fall  ist, 
kann  man  annehmen,  wenn  die  übrigen  Sehnenreflexe  erloschen  sind 
(z.  B.  bei  Zuckung  des  Vastus  int.  trotz  Erloschenseins  des  Kniephä- 
nomens),  oder  wenn  die  Zuckung  nur  von  dem  motorischen  Punkte 
des  Muskels  aus  zu  erregen  ist. 

Die  Steigerung  der  mechanischen  Nervenerregbar- 
keit, die  natürlich  nicht  mit  Steigerung  der  Sehnenreflexe  verwech- 
selt werden  darf,  giebt  sich  dadurch  kund,  dass  die  Eeaction  auf 
schwache  Beize  hin  eintritt,  intensiver  ist  und  an  Nerven  und  Mus- 
keln sich  zeigt,  die  sonst  mechanisch  nicht  erregbar  sind.  Im  Gesicht 
z.  B.  bewirkt  dann  ein  sagittaler  Strich  mit  dem  Hammerstiele  Con- 
traction  aller  Gesichtsmuskeln.  Eine  Ausbreitung  der  Contraction 
über  den  Bereich  des  gereizten  Nervenastes  hinaus  kann  selbstver- 
ständlich nicht  vorkommen.  Von  Hyperästhesie  der  Haut  lässt  sich 
der  Zustand  leicht  dadurch  unterscheiden,  dass  Eeizung  einer  Haut- 
falte erfolglos  bleibt.  Die  Steigerung  oder  Herabsetzung  der  mecha- 
nischen Nervenerregbarkeit  geht  im  Allgemeinen  der  elektrischen  Ner- 
venerregbarkeit  parallel  (s.  diese).  Ein  höherer  Grad  der  Steigerung 
ist  eine  seltene  Erscheinung,  ist  eigentlich  nur  bei  Tetanie  beobachtet 
worden,  geringere  Grade  sieht  man  gelegentlich  bei  Schreib krampf 
und  anderen  Zuständen. 

Ton  der  mechanischen  Nervenerregbarkeit  zu  unterscheiden  ist 
die   directe  Erregbarkeit   der  Muskelfaser  durch  media- 


150  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

nisclie  Reize  („idiomuseuläre  C  o  n t r a  c t i o n  " ) .  Diese  giebt  sich 
bei  Gesunden  nur  auf  sehr  starke  Beize  hin  zu  erkennen.  Nach  einem 
heftigen  Schlage  auf  den  Muskel  entsteht  an  der  direct  getroffenen 
Stelle  ein  Wulst,  der  sich  nur  allmählich  wieder  ausgleicht.  Schlägt 
man  z.  B.  mit  dem  Ulnarrand  der  Hand  kräftig  auf  den  Biceps  eines 
ausgestreckten  Armes,  so  zeigt  sich  auf  dem  Muskel  eine  quere  Leiste 
von  einigen  Mm.  Höhe,  deren  Breite  ungefähr  der  des  Handrandes 
entspricht,  ein  Schlag  mit  dem  Percussionshammer  bewirkt  einen 
rundlichen  Buckel  u.  s.  w. 

Bei  krankhaften  Zuständen  ist  nicht  selten  die  idiomuseuläre 
Contractilität  gesteigert,  so  das  schon  leichtes  Klopfen,  ja  ein 
Streichen  über  den  Muskel  den  Muskelwulst  hervorruft  und  dieser 
länger  besteht  als  im  gesunden  Zustande,  Immer  scheint  es  sich 
dann  um  pathologische  Veränderungen  im  Muskel  selbst  zu  handeln. 
Da  derartige  Zustände  jedoch  sich  bei  den  verschiedensten  Krank- 
heiten (besonders  oft  bei  Phthisis  pulm.)  vorfinden,  ist  bis  jetzt  die 
Steigerung  der  idiomusculären  Erregbarkeit  für  sich  allein  kaum  zu 
verwerthen,  sie  beweist  eben  nur  einen  krankhaften  Zustand  des 
Muskels.  In  den  ersten  Stunden  nach  dem  Tode  findet  sich  Steige- 
rung der  idiomusculären  Contractilität,  dann  nimmt  die  letztere  ab, 
erhält  sich  aber  5 — 6  Stunden  p.  mortem. 

Als  Theilerscheinung  krankhafter  Beactionen  erscheint  die  Stei- 
gerung der  idiomusculären  Erregbarkeit  in  zwei  Fällen.  Erstens 
nämlich  findet  sie  sich  in  einem  gewissen  Stadium  der  Entartungs- 
reaction  und  könnte  hier  als  mechanischeEntartungsreaction 
bezeichnet  werden.  So  lange  nämlich  Uebererregbarkeit  gegen  den 
galvanischen  Strom  besteht,  beantwortet  der  Muskel  auch  mechanische 
Eeize,  besonders  Klopfen  mit  einer  trägen  Zuckung,  die  ganz  der 
durch  den  galvanischen  Strom  ausgelösten  gleicht. 

Zum  Anderen  zeigt  sich  Steigerung  der  mechanischen  Muskel- 
erregbarkeit als  Theilerscheinung  der  myo tonischen  Beaction 
bei  Thomsen'scher  Krankheit  (s.  unten). 

VI.  Die  elektrische  Erregbarkeit.1) 

a,  Methode  der  Untersuchung. 
Zur  Ausführung  der  elektrischen  Untersuchung  gehören:  1.  ein 
Inductionsapparat,  am  besten  ein  Dubois'scher  Schlittenapparat,  der 
von  einem  Grenet'schen  Tauchelement  oder  einigen  Leclancheschen 


1 1  Näheres  siehe  in  den  Lehrbüchern  der  Elektrotherapie. 


Elektrische  Erregbarkeit.    Methode  der  Untersuchung.  151 

Elementen  in  Gang-  gesetzt  wird  und  bei  dem  der  Abstand  beider 
Bollen  von  einer  in  Millimeter  getheüten  Scala  abgelesen  werden 
kann;  2.  eine  kräftige  galvanische  Batterie,  gleichgültig  aus  welchen 
Elementen  sie  zusammengesetzt  ist;  3.  ein  Apparat,  der  die  Stärke 
des  galvanischen  Stromes  zu  verändern  gestattet  und  der  ein  Ele- 
mentenzähler  oder  ein  Rheostat  sein  kann ;  4.  ein  Stromwender,  der 
sowohl  einlaches  Oeffnen  und  Schliessen,  als  Wendung  des  Stromes 
gestattet,  am  besten  der  von  Brenner  verbesserte  Siemens-Halske'- 
sche  Stromwender;  5.  ein  Apparat,  mit  dem  man  die  Stärke  des  gal- 
vanischen Stromes  misst,  d.  h.  ein  Galvanometer,  am  besten  ein  nach 
absoluten  Einheiten  getheiltes,  sei  es  das  von  Edelmann,  das  sich 
durch  Zuverlässigkeit,  grosse  Empfindlichkeit  und  gute  Dämpfung 
auszeichnet,  aber  sehr  theuer  und  als  Horizontalgalvanometer  un- 
bequem ist,  sei  es  das  von  Stöhrer,  sei  es  das  von  Hirschmann,  die 
beide  zwar  dem  Edelmann'schen  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  nach- 
stehen, aber  beträchtlich  billiger,  als  Verticalgalvanometer  handlicher 
und  für  practische  Zwecke  vollständig  ausreichend  sind;  6.  Lei- 
tungschnüre  und  verschiedene  Elektroden,  von  denen  am  besten  die 
Erb'schen  Formen  zu  benutzen  sind.  Neuerdings  hat  man  empfohlen, 
als  Eeizelektroden  immer  solche  von  gleichem  Querschnitte,  sog.  Nor- 
malektroden  zu  verwenden.  E  r  1)  hat  als  Normalelektroden  eine  vier- 
eckige Platte  von  10  gern  Querschnitt,  Stintzing  eine  runde  con- 
vexe  Scheibe  von  ca.  3  qcm  Querschnitt  empfohlen. 

Nur  diese  Apparate  und  die  sie  verknüpfenden  metallischen  Ver- 
bindungen sind  nöthig,  alle  aber  werden  bei  einer  vollständigen 
elektrischen  Untersuchung  gebraucht.  Dagegen  sind  die  Apparate 
zur  Erzeugung  statischer  Elektricität  unnöthig,  da  diese  Form  der 
elektrischen  Untersuchung  bisher  keine  verwendbaren  Ergebnisse 
geliefert  hat, 

Man  lässt  eine  „grosse"  Elektrode  auf  dem  Sternum  oder  in 
dem  Nacken  fest  aufsetzen  und  applicirt  die  andere  kleinere  Elek- 
trode, bez.  die  Normalelektrode  dem  zu  reizenden  Nerven  oder  Muskel. 
Jene  heisst  die  indifferente  Elektrode,  diese  die  differente  oder 
Eeizelektro de  (polare  Untersuchungsmethode  Brenner's). 
Beide  Elektroden  und  die  Haut  unter  ihnen  müssen  mit  möglichst 
heissem  Wasser  gut  durchfeuchtet  sein.  Die  Elektroden  werden  fest 
angedrückt  und  während  der  Reizung  unverrückt  festgehalten.  Die 
Untersuchung  ist  immer  in  derselben  Weise,  womöglich  immer  mit 
denselben  Apparaten  vorzunehmen.  Je  pedantischer  das  Verfahren 
ist,  um  so  sicherer  werden  die  Resultate  sein.  Die  Prüfung  hat 
jederzeit  an  den  gesunden  Theilen  zu  beginnen. 


152  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Die  Prüfung  mit  dem  faradischen  Strome  geht  der  mit   dem 
galvanischen  voraus. 

Zur  Prüfung  der  faradisehen  Erregbarkeit  wählt  mau,  wenn  ein 
Nerv  gereizt  werden  soll  (indirecte  Beizung,  indirecte  oder  Nerven- 
Erregbarkeit),  als  Reizelektrode,  die  mit  dem  negativen  Pole  (des 
Oeffnungstromes)  der  secuudären  Spirale  verbunden  wird,  die  „feine" 
oder  „kleinste"  Elektrode,  wenn   der  Muskel  selbst  gereizt  werden 
soll  (directe  Reizung,  directe  oder  Muskelerregbarkeit),  die  „kleine" 
oder  die   „mittlere"  Elektrode.    Nachdem  die  Electroden  an  ihrem 
genau  gewählten  Platze  sind,  wird  der  Strom  eingeleitet  und  langsam 
gesteigert  bis  eine  eben  wahrnehmbare,  aber  deutliche  (minimale) 
Contraction  des  Muskels  oder  der  Muskeln  eintritt.  Der  Rollenabstand, 
bei  dem  dieser  Erfolg  eingetreten  ist,  wird  notirt.   Der  Vergleich  mit 
der  gesunden  Seite  lehrt  dann,  ob  die  faradische  Erregbarkeit  normal, 
gesteigert  oder  herabgesetzt  ist.  Auch  kanu  man  bei  einseitigen  Er- 
krankungen die  bei  einer  beliebigen  Stromstärke  durch  Reizung  sym- 
metrischer Punkte  erzielten  Contractionen  direct  vergleichen.  Handelt 
es  sich  um  doppelseitige  Erkrankungen,  so  ist  die  Sache  schwieriger. 
Um  nicht  auf  den  Vergleich  mit  anderen  Individuen  angewiesen  zu 
sein,  hat  Erb  folgende  Methode  angegeben.   Man  ermittelt  die  Er- 
regbarkeit der  Nerven  (und  den  Leitungswiderstand)  an  verschiedenen 
Stellen  des  Körpers  (Kopf,  Rumpf,  Arme,  Beine),  diese  Stellen  zeigen 
constante  Beziehungen  ihrer  Erregbarkeit  und  Abweichungen  von 
diesem  relativen  Verhalten  können  als  pathologisch  betrachtet  werden. 
Folgende  4  Nerven  werden  j  euerseits  geprüft:  der  Stirnast  des  N. 
facialis  (N.  frontalis),  der  N.  accessorius,   der  N.  ulnaris   (3 — 4  Cm. 
oberhalb  des  Conclylus  int.  humer.,  bei  ganz  schwach  gebeugtem  Arme 
zu  untersuchen),  der  N.  peronaeus  (3 — 4  Cm.  oberhalb  des  Capitul. 
fibulae  in  der  Kniekehle,  nach  innen  von  der  Sehne  des  Biceps  lern. ; 
bei  gestrecktem  Beine  zu  untersuchen).    An  diesen  Stellen  wird  so 
genau  als  irgend  möglich  in  der  oben  beschriebenen  Weise  der  Rollen- 
abstand,  bei  dem  die  minimale  Contraction  eintritt,  bestimmt.    Die 
Erfahrung  lehrt,  dass  bei  Gesunden  die  gefundenen  Zahlen  für  beide 
Körperhälften  fast  genau  übereinstimmen,  dass  alle  4  Nerven  ziem- 
lich bei  derselben  Stromstärke  erregt  werden,  dass  insbesondere  die 
Xn.  ulnaris  und  peronaeus  sich  fast  ganz  gleich  erhalten.    Findet 
sich  daher  bei  einer  Erkrankung  beider  Beine  z.  B.  der  Rollenabstand 
der  minimalen  Contraction  um  30  oder  40  Mm.  kleiner  an  den  Nn. 
[K-ronaei  als   an  den  Nn.  ulnares,  während  der  Leitungswiderstand 
derselbe  ist,  so  kann  man  mit  aller  Bestimmtheit  eine  Herabsetzung 
der  faradischen  Erregbarkeit  der  Nn.  peronaei  annehmen.  Auf  kleine 


Elektrische  Erregbarkeit.    Methode  der  Untersuchung.  153 

Differenzen  aber,  die  10  Min.  nicht  übersteigen,  ist  gar  kein  Gewicht 
zu  legen.  Ist  trotz  Verminderung  des  Rollenabstandes  der  Leitungs- 
widerstand vermindert,  so  wird  der  Schluss  auf  Herabsetzung  der 
Erregbarkeit  noch  sicherer.  Ist  aber  bei  vermindertem  Eollenabstande 
auch  der  Leitungswiderstand  erhöht,  so  lässt  sich  zunächst  gar  kein 
Schluss  ziehen. 

Die  Muskelcontraction  bei  faradischer  Reizung-,  sowohl  des  Nerven 
als  des  Muskels  selbst,  ist,  wenn  man  einzelne  Inductionströme  ver- 
wendet, eine  kurze  Zuckung-,  kräftiger  beim  Oeffhungstrom  als  beim 
Schliessungstrom.  Wendet  man  rasch  folgende  Inductionströme  an, 
wie  es  gewöhnlich  geschieht,  so  erhält  man  eine  tetanische  Contraction, 
die  rasch  eintritt  und  aufhört,  sobald  der  Strom  unterbrochen  wird. 

Zur  Prüfung  der  galvanischen  Erregbarkeit  benutzt  man  bei 
Reizung-  der  Nerven  und  der  Muskeln  die  „mittlere"  Elektrode  oder 
die  „Normalelektrode".  Nachdem  die  Elektroden  ebenso  wie  bei  der 
faradischen  Prüfung-  fixirt  sind,  leitet  man  einen  schwachen  galva- 
nischen Strom  von  der  indifferenten  zur  differenten  Elektrode  (so 
dass  die  letztere  Kathode  ist),  steigert  den  Strom  langsam,  indem 
man  bei  jeder  Stromstufe  3  kurze  Stromschliessungen  mit  dem  Strom- 
wender macht,  bis  eine  schwache,  aber  deutliche  Zuckung  bei  der 
Stromschliessung-  eintritt.  Dann  beobachtet  man  das  Galvanometer 
und  notirt  die  Stromstärke  (d.  h.  den  Ausschlag-  der  Galvanometer- 
nadel),  bei  der  die  erste  Zuckung  eintrat.  In  der  Regel  kann  man 
sich  bei  Prüfung  der  quantitativen  Erregbarkeit  mit  Feststellung  der 
zur  Kathodenschliessung-zuckung  (KaSZ)  nöthigen  Stromstärke  be- 
gnügen. Man  kann  aber  auch  (nach -Erb 's  Vorgang)  die  Stromstärke 
weiter  steigern  und  den  Nadelausschlag  bestimmen,  bei  dem  die  KaSZ 
tetanisch  wird  (KaSTe  =  Kathodenschliessungstetanus ,  KaDZ  = 
Kathodendauerzuckung).  Man  erhält  dann  2  Zahlen,  deren  Verhältniss 
einen  Maasstab  der  Erregbarkeit  liefert,  da  es  beim  Gesunden  ziem- 
lich constant  ist.  Soll  die  Prüfung  noch  ausführlicher  sein,  oder  handelt 
es  sich  um  Feststellung  der  qualitativen  Erregbarkeit  (s.  unten),  so 
wird  man  auch  untersuchen,  bei  welcher  Stromstärke  die  erste 
Anodenschliessuiigzuckung  (AnSZ),  die  erste  Anodenöffnungzuckung 
(AnOZ),  die  erste  Kathodenöffnungzuckung  (KaOZ)  auftreten. - 

Um  zu  erfahren,  ob  die  erhaltenen  Zahlen  dem  Normalen  ent- 
sprechen, vergleicht  man  bei  einseitigen  Erkrankungen  symmetrisch 
gelegene  Punkte.  Bei  doppelseitigen  Erkrankungen  kann  man  nach 
der  oben  beschriebenen  Methode  Erb 's  verfahren,  d.  h.  man  bestimmt 
die  Erregbarkeit  verschiedener  Nerven,  gewöhnlich  der  Nn.  frontal., 
accessor.,  uln.  und  peronaei,  deren  relatives  Verhalten  bei  Gesunden 


154  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

constant  ist,  und  ermittelt,  ob  die  erhaltenen  Zahlen  sich  wie  bei 
Gesunden  zu  einander  verhalten.  Die  Erfahrung  lehrt,  dass  insbe- 
sondere die  Nn.  ulnares  und  peronaei,  deren  Vergleichung  am  wich- 
tigsten ist,  beim  Gesunden  ungefähr  durch  dieselbe  Stromstärke  (der 
N.  peron.  braucht  gewöhnlich  eine  etwas  höhere  Stromstärke)  erregt 
werden,  dass  demnach  eine  Abweichung  von  diesem  Verhalten  patho- 
logisch ist.  Auch  die  gleichen  Nerven  verschiedener  Individuen  pflegen 
bei  ungefähr  derselben  Stromstärke  erregt  zu  werden.  Durch  die 
Einführung  von  Galvanometern  mit  Angabe  der  absoluten  Strom- 
stärke ist  es  möglich  geworden,  die  Resultate  verschiedener  Beob- 
achter direct  zu  vergleichen,  sofern  diese  sonst  identisch  verfahren, 
sich  gleicher  Elektroden  bedienen  u.  s.  w. 

Es  genügt  nicht,  den  Ausschlag  des  Galvanonieters  anzugeben,  neben 
ihm  muss  auch  die  Grösse  der  Elektrode  notirt  werden,  denn  für  die  Reiz- 
wirkung ist  die  Dichtigkeit  des  Stromes  maassgebend  und  diese  hängt  ab 
von  der  Grösse  der  Elektrode.  Man  fügt  dem  Galvanometer ausschlag  als 
Zähler  die  Grösse  der  Elektrode  (in  qcm)  als  Nenner  hinzu.  Wenn  z.  B. 
bei  Anwendung  einer  Elektrode  von  1 0  qcm  die  KaSZ  bei  1  MilL- Ampere 
eintritt,  so  würde  dies  durch  den  Bruch  /i0(0,l)  ausgedrückt  werden.  Mau 
kann  auch  sagen,  KaSZ  tritt  ein  bei  1  M.-A.  (Erb's  Normalelektrode), 
oder  bei  0,1  absoluter  Dichtigkeit. 

Erb  fand,  dass  die  meisten  oberflächlich  gelegenen  Nerven  die  erste 
KaSZ  bei  0,5  bis  2,0  M.-A.  (Normalelektrode)  geben.  Er  fand  z.  B.  bei 
einem  gesunden  Manne  KaSZ  am  N.  front,  bei  1,4  M.-A.,  am  N.  access. 
bei  0,5  M.-A.,  am  N.  ulnar,  bei  0,4  M.-A.,  am  N.  peron.  bei  1,5  M.-A. 
Stintzing  fand  bei  Anwendung  seiner  Normalelektrode  (ca.  3  qcm)  und 
des  Edelmann1  sehen  Galvanometers  durchschnittlich  KaSZ  am  N.  frontalis 
bei  1,45,  am  N.  access.  bei  0,27,  am  N.  ulu.  bei  0,55,  am  N.  peron.  bei 
1,1  M.-A.  Er  giebt  als  weitere  Mittelwerthe  N.  musculocut.  0,17,  N.  crur. 
1,05,  N.  üb.  1,45,  N.  fac.   1,75,  N.  racl.   1,8. 

Je  grösser  die  Reizelektrode  ist,  um  so  grösser  werden  die  Zahlen, 
da  die  Dichtigkeit,  mit  der  der  Nerv  getroffen  wird,  abnimmt. 

Die  quantitative  Erregbarkeitsprüfung  fordert  Uebung  und  ist 
auch  für  den  Geübten  zeitraubend.  Die  diagnostische  Bedeutung  ihrer 
Ergebnisse  ist  sehr  gering  (s.  unten).  Dazu  kommt,  dass  wirkliche 
Exactheit  trotz  aller  Vervollkommnung  der  Instrumente  und  Methoden 
nicht  erreicht  wird.  Am  meisten  kommen  hier  in  Betracht  die  oft 
individuell  etwas  verschiedene  Lage  der  Nerven  und  die  wechselnde 
Dicke  des  Fettpolsters.  Bei  einem  dicken  Beine  erhält  man  immer 
andere  Zahlen  als  an  einem  dünnen. 

Die  Schwierigkeiten  der  Methode  und  die  Unmöglichkeit,  aus  ihren 
Ergebnissen  bestimmte  Schlüsse  zu  ziehen,  entschuldigen  vor  der 
Hand  Den  genügend,  der  von  der  Bestimmung  der  quantitativen  Er- 
regbarkeit absieht. 


Elektrische  Erregbarkeit.    Methode  der  Untersuchung 


155 


Beim  Gesunden  reagiren  Nerven  und  Muskeln  in  gesetzmässiger 
Weise  verschieden,  je  nachdem  die  Reizelektrode  Kathode  oder 
Anode  ist,  je  nachdem  der  Strom  geschlossen  oder  geöffnet  wird: 
Zuckungsgesetz  der  motorischen  Nerven  und  Muskeln. 
Bei  Reizung-  des  Nerven  erhält  man  folgende  „Stufen"  des  Zuckungs- 
gesetzes : 

1.  bei  schwachem  Strome  tritt  nur  KaSZ  ein,  alle  übrigen  Reiz- 
momente  bleiben  unbeantwortet, 

2.  bei  mittelstarkem  Strome  wird  die  KaSZ  stärker  (KaSZ'), 
es  treten  jetzt  auch  bei  Reizung  mit  der  Anode  Zuckungen  ein  und 
zwar  tritt  bald  zuerst  die  AnSZ  und  dann  auch  die  AnOZ  ein,  bald 
erscheint  diese  häufiger,  bald  jene. 

3.  bei  starkem  Strome  wird  die  KaSZ  tetanisch  oder  tonisch 
(KaSTe,  KaDZ»,  AnOZ  und  AnSZ  werden  stärker,  besonders  AnOZ 
nimmt  zu  (AnOZ",  AnSZ')  und  es  erscheint  auch  eine  schwache 
KaOZ.  Nur  bei  sehr  starkem  Strome  erreicht  man  schwachen 
AnSTe, 


1.  Stufe 

2.  Stufe 

3.  Stufe 

KaS 

Z 

Z' 

Te 

KaO 

— 

— 

Z 

AnS 

— . 

z 

Z' 

AnO 

— 

z 

Z" 

Dieses  Zuckungsgesetz  ist  an  allen  motorischen  Nerven  dasselbe, 
nur  zeigen  sich  Verschiedenheiten,  die  auf  der  verschiedenen  ana- 
tomischen Lagerung  der  Nerven  beruhen,  insofern  als  bei  dem  einen 
Nerven  (z.  B.  N.  facialis)  die  AnSZ  vor  der  AnOZ  auftritt,  bei  anderen 
(z.  B.  N.  radialis)  es  sich  umgekehrt  verhält. 

Bei  directer  Reizung  der  Muskeln,  d.  h.  wenn  die  Elektrode  auf 
den  Muskelbauch  aufgesetzt  wird,  treten  in  der  Regel  nur  Schliessung- 
zuckungen ein.  Meist  erscheint  die  KaSZ  vor  der  AnSZ,  aber  jene 
ist  nicht  viel  grösser  als  diese.  Ja,  in  nicht  seltenen  Fällen  über- 
wiegt sogar  die  AnSZ  über  die  KaSZ,  man  beobachtet  dies  besonders 
am  M.  quadriceps,  deltoideus,  biceps  hum.  und  anderen  grossen  Muskeln. 

Die  Erklärung  des  Zuckungsgesetzes  ist  folgende.  Die  Reizwirkung 
des  negativen  Poles,  der  Kathode,  ist  grösser  als  die  des  positiven  Poles, 
der  Anode.  Bei  der  Schliessung  des  Stromes  tritt  nur  an  der  Kathode 
Erregung  ein ,  bei  Oeffnung  des  Stromes  nur  an  der  Anode.  Wird  beim 
lebenden  Menschen  ein  Pol,  z.  B.  die  Anode,  über  einem  Nerven  auf  die 
Haut  gesetzt,  so  tritt  der  Strom  in  den  Nerven  ein,  da  dieser  aber  von 
gut  leitendem  Gewebe  umgeben  ist,  muss  der  Strom  ihn  nicht  weit  von  der 


156 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


Fig.  37. 

Grob  schematische  Darstellung  der  wirksamen  Stromfäden 
■bei  der  gewöhnlichen  percutanen  Application  heider  Elek- 
troden über  einem  Nerven  (N.  ulnaris  am  Oberarm).  Die  un- 
wirksamen Stromfäden  punktirt.  Es  finden  sich  vier  ver- 
schiedene Stromrichtungen  im  Nerven.    (Nach  Erb.) 


Eintrittsstelle  wieder  verlassen,  d.  h.  neben  der  Anode  muss  die  (virtuelle) 
Kathode  sein.  Die  Dichtigkeit  des  Stromes  wird  direct  unter  der  Elek- 
trode grösser  sein  als  in 
der  Umgebung,  die  Eeiz- 
wirkung der  direct  appli- 
cirten  Anode  wird  daher 
stärker  sein  als  die  der 
virtuellen  Kathode.  Immer- 
hin wird  diese  zur  Geltung 
kommen.  Es  wird  neben  der 
der  Anode  zukommenden 
Oeffnungserregung  eine  von 
der  virtuellen  Kathode  ab- 
hängige Schliessungserreg- 
ung eintreten. 

Setzt  man  die  erregende 
Wirkung  oderEeizgrösse  (R) 
der  Ka  =  1,  die  der  Anode 
=  1/2,  nimmt  an,  die  Dich- 
tigkeit des  Stromes  (D)  di- 
rect unter  der  Elektrode 
sei  =  1,  die  Dichtigkeit  in 
der  Zone  des  virtuellen 
Poles  =  ij-2,  so  ergiebt  sich 
folgendes.  Die  Stärke  der 
einzelnen  Zuckungen  entspricht  dem  Product  aus  Eeizgrösse  des  Poles 
und  Dichtigkeit  des  Stromes  (ED).  Ist  die  Eeizelektrode  die  Ka,  so  wirkt 
sie  bei  der  Schliessung  des  Stromes  mit  der  Eeizgrösse  1  und  der  Dichtigkeit 
1  :  ED  =  1  =  KaSZ.  Bei  der  Oefihung  findet  die  Reizwirkung  an  der 
virtuellen  Anode  mit  der  Eeizgrösse  C/2)  und  mit  der  Dichtigkeit  lJi  statt: 
ED  =  i/i  =  KaOZ.  Ist  aber  die  Eeizelektrode  die  An,  so  tritt  bei  der 
Schliessung  des  Stromes  die  Eeizwirkung  in  der  Zone  der  virtuellen  Ka- 
thode ein,  wo  die  Dichtigkeit  V2  ist,  aber  mit  der  Eeizgrösse  der  Ka  =  1, 
also:  ED  =  xji  =  AnSZ.  Bei  der  Oeffnung  findet  jetzt  die  Beizwirkung 
an  der  Anode  selbst  (D  =  1)  statt,  aber  nur  mit  der  Eeizgrösse  der  An  =  1/-2, 
also:  ED  =V2  =  AnOZ. 

Xach  dieser  schematischen  Darstellung  Erb's  ordnen  sich  die  Beiz- 
momente, wie  es  dem  Znckungsgesetz  entspricht: 
KaSZ  =    1   oder  =  4 
AnSZ  =  V2     *      =2 
AnOZ  =  7-2     *       =  2 
KaOZ  =V4     '-      =  1. 
Dass  beim  Muskel  nicht  selten  AnSZ  =  oder  ^>  KaSZ,  erklärt  sich 
wohl   aus    der  verwickelten  Lagerung  der  vielfachen  anodischen  und  ka- 
thodischen  Stellen   in   den  massiven  Muskeln.     Gegen  den  kurzdauernden 
Oeffnungsreiz   scheint   der  Muskel  sehr  wenig  empfindlich  zu  sein,    daher 
fehlen  Oefinungzuckungen  bei  directer  Muskelreizung  gewöhnlich. 

Alle  durch  galvanische  Nerven-  oder  Muskelreizung  bewirkten 
Zuckungen  sind,  sofern  sie  nicht  bei  starkem  Strome  tetanisch  werdet], 


Elektrische  Erregbarkeit.    Methode  der  Untersuchung:. 


157 


blitzartig-  rasch.  Unter  normaler  qualitativer  Erregbarkeit  verstellt 
man,  dass  die  Reactionen  dem  Zuckungsgesetz  gemäss  erfolgen  und 
dass  die  Zuckungen  den  blitzartigen  Charakter  haben. 


Dichtigkeit  =  'fe"*- 


Dichtigkeit  =  1 


Fig.  38. 

Schematische  Darstellung  der  verschiedenen  Dichtigkeit  an  dem  differenten  (— )  und  dem 
virtuellen  (f)  Pol  bei  unipolarer  Application  der  Ka  am  Nerven.     (Nach  Erb.) 


b.  Pathologische   Veränderungen  der  Erregbarheit. 

Die  diagnostische  Bedeutung  von  Veränderunge  n  derquan- 
titativen  Erregbarkeit  ist  bis  jetzt  durchaus  nicht  gross. 

1.  Die  Steigerung  der  Erregbarkeit  hat  bisher  nur  bei 
einer  einzigen  Krankheit  diagnostische  Bedeutung  gefunden,  der 
Tetanie.  Bei  dieser  treten  die  faradischen  Contractionen  schon  bei 
grossem  Bollenabstande  ein,  erscheint  die  KaSZ  bei  ganz  schwachem 
Strome  und  geht  sehr  rasch  in  Tetanus  über,  zeigt  sich  früh  und 
lebhaft  AnOZ,  die  bei  stärkerem  Strome  zu  dem  am  Gesunden  nicht 
beobachteten  AnOTe  wird. 

Im  Uebrigen  ist  die  Steigerung  der  Erregbarkeit  selten,  man 
beobachtet  sie  gelegentlich  bei  Hemiplegien,  bei  Tabes,  bei  frischen 
peripherischen  Läsionen. 

2.  Die  einfache  Verminderung  der  E  r  r  e  g b  a  r  k  e  i  t  ist  zwar 
viel  häufiger  als  die  Steigerung,  aber  ebenfalls  ohne  vielseitige  dia- 
gnostische Bedeutung.  Der  positive  Schluss,  den  sie  ebenso  wie  die 
Steigerung  gestattet,  ist  der,  dass  in  der  That  eine  krankhafte  Ver- 
änderung der  motorischen  Bahn  vorliegt.  Die  quantitative  Erreg- 
barkeitsprüfimg kann  daher  von  Nutzen  sein,  wenn  zwischen  orga- 


158  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

nisclier  und  fimctioneller  Erkrankung  zu  entscheiden,  oder  wenn 
Simulation  auszuschliessen  ist.  Freilich  sind  die  Fälle  dieser  Art 
selten,  in  denen  ohne  elektrische  Untersuchung  ein  Urtheil  nicht 
abgegeben  werden  kann.  Ist  überdem  die  verminderte  Erregbarkeit 
nicht  ganz  ausser  allem  Zweifel,  so  ist  grosse  Vorsicht  im  Schliessen 
rathsam.  Geringe  Veränderungen  der  Erregbarkeit  sollten  nur  dann 
in  Betracht  gezogen  werden,  wenn  sie  von  einem  geübten  Beobachter 
bei  wiederholter  Untersuchung  nachgewiesen  worden  sind. 

Natürlich  kommen  sehr  verschiedene  Grade  der  Verminderung 
vor.  Zur  Erzielung  der  faradischen  Contraction  müssen  die  Rollen 
immer  mehr  genähert  werden,  bis  schliesslich  der  stärkste  Strom 
keine  Wirkung  mehr  hat.  Bei  galvanischer  Reizung  schwindet  KaOZ, 
dann  sind  AnOZ,  AnSZ  und  KaSTe  nicht  mehr  zu  erzielen,  nur 
schwache  KaSZ  bleibt  übrig.  Wenn  auch  Stromwendungen  (Voltaische 
Alternativen),  die  beträchtlich  stärker  wirken  als  einfache  Strom- 
schliessungen,  bei  stärkstem  Strome  keine  Zuckung  hervorrufen, 
spricht  man  von  Erloschensein  der  galvanischen  Erregbarkeit. 

Die  einfache  Verminderung  der  Erregbarkeit  wird  beobachtet 
bei  Muskelatrophie  ohne  Entartung  der  Nerven  und  Muskeln,  dem- 
nach bei  Dystrophie  musc.  progressiva,  bei  Muskelschwund  nach 
Gelenkkrankheiten,  bei  mannigfachen  cerebralen  und  spinalen  Af- 
fectionen,  die  im  Laufe  der  Zeit  zu  einfacher  Muskelatrophie  führen. 
In  manchen  Fällen  ist  ihr  Auftreten  noch  nicht  erklärt,  so  in  Fällen 
von  acuter  Myelitis,  aufsteigender  progressiver  Lähmung,  periphe- 
rischer Lähmung  u.  s.  w. 

Die  einfache  Verminderung  der  Erregbarkeit  kommt  neben  der 
sogleich  zu  besprechenden  Entartungsreaction  vor  bei  amyotrophi- 
scher Lateralsklerose,  spinaler  progressiver  Muskelatrophie  und  pro- 
gressiver Bulbäratrophie.  Hier  zeigt  sie  die  Mehrzahl  der  kranken 
Muskeln,  während  einzelne  Muskeln  oder  Muskelbündel  Entartungs- 
reaction erkennen  lassen. 

Sie  kommt  nach  der  letzteren  vor,  wenn  alle  degenerirten  Nerven- 
und  Muskelfasern  abgestorben  sind,  ein  kleiner  Theil  aber  der  Ver- 
nichtung entgangen  ist,  wie  man  dies  gelegentlich  nach  Poliomyelitis 
acuta  beobachtet.  Erloschen  ist  die  elektrische  Erregbarkeit,  wenn 
der  Muskel  gänzlich  zerstört  ist.  Scheinbar  erloschen  ist  sie,  wenn 
bei  Läsionen  peripherischer  Nerven  der  elektrische  Reiz  oberhalb 
der  Läsionstelle  einwirkt,  während  bei  leichter  Lähmung  unterhalb 
dieser  Stelle  der  Nerv  erregbar  ist. 

Von  ungleich  grösserer  diagnostischer  Bedeutung  als  die  nur 
quantitativen  Veränderungen  sind  diejenigen  Veränderungen  der  elek- 


Elektrische  Erregbarkeit.    Pathologische  Veränderungen  der  Erregbarkeit.     159 

trischen  Erregbarkeit,  die  auch  qualitativer  Natur  sind  und  unter 
der  Bezeichnung-  Entartungsreaction  (Erb)  zusammengefasst 
werden.  Die  Entartungsreaction  (EaR)  tritt  in  verschiedener  Form 
auf,  der  „completen  EaR"  steht  die  „partielle  EaR,"  gegnüber. 

Die  complete  EaR  stellt  sich  folgendermaassen  dar.  Während 
bei  den  nur  quantitativen  Veränderungen  Reizung  des  Nerven  und 
Reizung  des  Muskels  dasselbe  Resultat  geben,  ist  hier  die  Erreg- 
barkeitsveränderung  des  Nerven  von  der  des  Muskels  ganz  verschieden. 
Ist  ein  Nerv  durchtrennt  oder  sonst  schwer  lädirt,  so  zeigt  zuweilen 
das  peripherische  Stück  eine  1 — 2  Tage  dauernde  Steigerung  der 
Erregbarkeit,  dann  aber  sinkt  die  letztere  rasch  ab,  um  nach  10  bis 
14  Tagen  vollständig  zu  erlöschen.  Der  Nerv  verhält  sich  gegen  den 
galvanischen  und  faradischen  Strom  ganz  gleich,  beide  vermögen  ihn 
erst  nur  schwer,  dann  gar  nicht  mehr  zu  erregen.  Die  gänzliche 
Unerregbarkeit  des  Nerven  dauert  je  nach  der  Schwere  der  Läsion 
verschieden  lange,  ist  in  unheilbaren  Fällen  dauernd.  Ist  aber  die 
Motilität  zurückgekehrt,  d.  h.  ist  der  Nerv  soweit  wiederhergestellt, 
dass  er  den  Erregungsvorgang  zu  leiten  vermag,  so  beginnt  früher 
oder  später  nach  diesem  Zeitpunkt  auch  die  elektrische  Erregbarkeit 
wieder,  nimmt  aber  nur  ganz  langsam  zu  und  bleibt  lange  vermindert, 
auch  dann,  wenn  schon  die  willkürliche  Beweglichkeit  vollständig 
wiederhergestellt  ist.  Bemerkenswerth  ist,  dass  in  dem  lädirten  Nerven 
die  elektrische  Erregbarkeit  oft  noch  lange  fehlt  trotz  wiedererlangter 
Leitungsfähigkeit.  Nur  Reize,  die  oberhalb  der  Läsionstelle  einwirken, 
sowohl  der  Wille  als  der  elektrische  Strom,  vermögen  dann  Con- 
traction  zu  erregen. 

Der  Muskel  verhält  sich  gegen  den  faradischen  Strom  ebenso 
wie  der  Nerv.  Die  faradische  Erregbarkeit  sinkt  rasch  und  ist  am 
Ende  der  2.  Woche  etwa  erloschen.  Erst  nach  der  Erregbarkeit 
des  Nerven  kehrt  die  faradische  Erregbarkeit  des  Muskels  zurück 
und  noch  etwas  länger  als  jene  bleibt  sie  vermindert.  Anders  ver- 
hält sich  die  galvanische  Erregbarkeit  des  Muskels,  auch  sie  sinkt 
zunächst  etwas,  aber  im  Laufe  der  2.  Woche  etwa  beginnt  sie  zu 
steigen  und  wird  übernormal.  Die  Steigerung  der  Erregbarkeit  kann 
sehr  beträchtlich  sein,  so  dass  Stromstärken  lebhafte  Contraction  be- 
wirken, die  bei  dem  gesunden  symmetrischen  Muskel  gänzlich  wir- 
kungslos bleiben.  Zugleich  verliert  die  Zuckung  ihren  blitzartigen 
Charakter,  sie  wird  träge,  langgezogen  und  dabei  kraftlos  und  geht 
rasch  in  einen  während  der  Stromdauer  anhaltenden  Tetanus  über. 
Neben  der  Zuckungsträgheit  zeigt  sich  eine  Aenderung  des  Zuckungs- 
gesetzes.   Die  AnSZ  tritt  gleichzeitig  mit  der   oder  früher  als  die 


160 


Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 


KaSZ  auf,  ist  ebenso  gi'oss  oder  grösser  als  diese  (AnSZ  >>  KaSZ). 
Beispielsweise  zeigte  sich  bei  einer  Lähmung-  des  linken  Daumenballens 
nach  Bleivergiftung  die  AnSZ  bei  2  Milli-Daniell,  die  KaSZ  bei  6 
Milli-Daniell,  jene  war  ganz  träge  und  etwa  um  3  mal  grösser  als 
die  etwas  weniger  träge  KaSZ.  Ferner  zeigen  sich  Oeifnungzuckungen. 
die  beim  gesunden  Muskel  fehlen,  und  zwar  ist  gewöhnlich  KaOZ  = 
AnOZ.     Immerhin  sind  die   OZZ.  nur  in  der  ersten  Zeit  deutlich. 


Gurven  von  Schliessungzuekungen   bei  directer  (unipolarer)  Muskelreizung 
im  Peronaeusgebiet  am  Unterschenkel.     Ka  =  KaSZ,  An  =  AnSZ. 


:fc 

X 

iL 

^j^ 

A_ 

jIl 

TL 

J^- 

I 

JX_ 

Ka 

An 

Ka 

An  . 

Ka 

An 

Ka 

An 

Ka 

An 

Ka 

An 

1.  Curven  von  einem  gesunden  Mädchen.    33  El.  KaSZ  erheblich  grösser  als  AnSZ. 


2.  Fall  von  Poliomyelit.  anter.  chron.  —  EaR.  —  Curve  vom  Peronaeusgebiet. 
AnSZ  erheblich  grösser  als  KaSZ. 


33  Elem.  — 


Ka 

An 

KCL 

An' 

Ka, 

An 

1 

3.  Derselbe  Fall.  —  Bei  40  Elem.  —  TJeberwiegen  der  AnSZ  und  träger  Charakter  der  Zuckungen 

sehr  deutlich. 

Fig.   39. 

pflegen  in  späteren  Stadien  zu  verschwinden.  Beides,  die  Trägheit 
der  Zuckung  und  das  Ueberwiegen  der  AnSZ  über  die  KaSZ.  wird 
sehr  anschaulich  durch  graphische  Darstellung,  wie  die  von  Käst 
aufgenommenen  Curven  der  Fig.  39  lehren.  Die  Steigerung  der 
galvanischen  Erregbarkeit  hält  etwa  1 — 2  Monate  an.  dann  sinkt 
die  Erregbarkeit,  während  die  qualitativen  Veränderungen  bestehen 
bleiben.  Endlich  verlieren  sich  diese  allmählich  und  nur  Abnahme 
der  galvanischen  Erregbarkeit  zeigt  sich  noch  lange  nach  der  sonstigen 
Wiederherstellung.  Die  qualitativen  Veränderungen  der  galvanischen 
Muskelerregbarkeit  bestehen  oft  noch,  wenn  schon  die  Erregbarkeit 


Elektrische  Erregbarkeit.    Pathologische  Veiänderungen  der  Erregbarkeit.     161 

des  Nerven- zurückgekehrt  ist,  so  dass  dann  vom  Nerven  aus  zwar 
schwache,  aber  qualitativ  normale  Zuckungen  erreg!  werden,  während 
bei  directer  Muskelreizung  die  Zuckung  noch  trüge  ist  und  AuS 
stärker  wirkt  als  KaS.  Bei  unheilbaren  Zuständen  sinkt  die  galva- 
nische Erregbarkeit  tiefer  und  tiefer  und  schiesslich  zeigt  nur  noch 
eine  schwache  träge  AnSZ,  dass  ein  Rest  des  Muskels  vorhanden 
ist.     Oft  erst  nach  Jahren  schwindet  auch  diese  AnSZ. 

Ueber  den  Verlauf  der  completen  EaE  geben  die  Schemata 
Erb's  (Fig.  40)  eine  Uebersicht.  Diese  orientiren  zugleich  über  den 
Zusammenhang  der  verschiedenen  Symptome  der  EaE,  mit  den  in 
Nerv  und  Muskel  ablaufenden  Degenerations-,  beziehungsweise  Re- 
generationsvorgängen.  Die  erste  Ordinate  bezeichnet  den  Eintritt 
der  Läsion  und  damit  das  Aufhören  der  Motilität  (.  .  .),  das  Stern- 
chen (*)  giebt  die  Rückkehr  der  Motilität  an.  die  wellenförmige 
Führung  der  die  galvanische  Muskelerregbarkeit  bezeichnenden  Linie 
deutet  auf  die  qualitativen  Aenderungen  jener. 

Während  demnach  die  complete  EaR  charakterisirt  ist  durch 
Fehlen  der  Erregbarkeit  des  Nerven  gegen  beide  Ströme  und  der 
Erregbarkeit  des  Muskels  gegen  den  faradischen  Strom  einerseits, 
durch  Steigerung  der  galvanischen  Muskelerregbarkeit  mit  Zuckungs- 
trägheit und  Umkehrung  des  Zuckungsgesetzes  andererseits,  zeigt 
sich  bei  der  partiellen  EaR  dieselbe  Veränderung  der  galvani- 
schen Muskelerregbarkeit,  aber  ohne  Verlust  der  galvanischen  Nerven- 
erregbarkeit und  der  faradischen  Nerven-  und  Muskelerregbarkeit. 
Obgleich  die  galvanische  Erregbarkeit  des  Muskels  beträchtlich  ge- 
steigert ist,  die  Zuckung  bei  directer  Muskelgalvanisirung  ausgeprägt 
träge  und  AnSZ  >>  KaSZ  ist,  tritt  im  Nerven  nur  ein  geringes  Sinken 
der  faradischen  und  galvanischen  Erregbarkeit  ein,  reagirt  der  Muskel 
gegen  den  faradischen  Strom  nur  um  weniges  schwächer,  sind  die  vom 
Nerven  aus  erregten  Zuckungen  nicht  träge.  Ein  Bild  dieser  Ver- 
änderungen giebt  Fig.  41. 

Zwischen  der  completen  und  der  eben  geschilderten  partiellen 
EaR  steht  „die  partielle  EaR  mit  indirecter  Zuckungsträgheit". 
Diese  ist  bisher  nur  selten  beobachtet  worden  und  besteht  entweder 
darin,  dass  nicht  nur  bei  galvanischer  Muskelreizung,  sondern  auch 
bei  faradischer  Reizung  des  Nerven  oder  des  Muskels  die  Zuckung 
träge  ist  (faradische  EaR  R  e  m  a  k '  s),  während  bei  indirecter  galva- 
nischer Reizung  rasche  Zuckungen  auftreten,  oder  darin,  dass  sowolü 
bei  directer  als  indirecter  Reizung  mit  beiden  Stromesarten  die 
Zuckung  träge  ist.  Im  letzteren  Falle  sind  die  durch  directe  Reizung 
bewirkten  Zuckungen  noch  etwas  träger  als  die  vom  Nerven  aus  er- 

M  ii  b  i  u  s  ,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  1 1 


162 


Untersuchung;  des  Bewegungsapparates. 


regten,  erhält  man  vom  Nerven  aus  KaSZ  und  AnOZ,  vom  Muskel 
aus  nur  AnSZ  und  KaSZ. 

Schemata  der  completen  EaR  in  Beziehung  auf  Motilität,  faradische  und  galva- 
nische Erregbarkeit  des  Nerven  und  des  Muskels;  darüber  die  Bezeichnung  der 
gleichzeitigen  histologischen  Veränderungen. 


Degenerat.    Atrophie  u.  Kernwucherung 

des  Nerven  der  Muskelfasern  Eegenerat. 


Cirrhose 


1.        2.       3.        4.       5.       6.       7.       8.       9.       10.      11.      12.  Woche. 


1.  Lähmung  mit  relativ  frühzeitiger  "Wiederkehr  der  Motilität. 


Atrophie  etc. 
der  Muskeln 


Cirrhose 


Eegenerat. 


des  Nerven 

1.       2.       5.       6.      10.      15.      20.     25.     30.     35.      40.     45.     50.     55.  Woche 


2.  Lähmung  mit  später  Wiederkehr  der  Motilität. 

erat. 

jrven  Atrophie.  Kernwucherung,  Cirrhose 


Völlig.  Schwund 


1.        3.       10.      20.     30.      40.      50.      60.      70. 


90.     100.  Woche 


Motilität 
Galv. 


3   l    Farad. 


Galv. 
u.  far. 


O       ',  LI.        iC» 

fc   I       Err 


3.  Unheilbare  Lähmung.    Motilität  bleibt  verschwunden. 
Fig.  40. 

Zwischen  den  verschiedenen  Formen  der  EaR  finden  sich  alle 
möglichen  Abstufungen,  ja  bei  demselben  Individuum  kann  aus  der 
partiellen  EaR  die  complete  hervorgehen.     Auch  beobachtet  man 


Elektrische  Erregbarkeit.    Pathologische  Veränderungen  der  Erregbarkeit.     1&3 

Zwischenglieder  zwischen  dem  normalen  Verhalten  und  der  partiellen 
EaR.  Allerlei  Abweichungen  bezüglich  des  Verlaufes  kommen  vor. 
wie  dies  bei  der  Verwickeltheit  der  pathologischen  Verhältnisse  nicht 
anders  zu  erwarten  ist.  Um  die  EaR  in  allen  Verhältnissen  zu  er- 
kennen, bedarf  es  grosser  Sachkenntniss  und  Uebung.  Man  muss 
störende  Contractionen  anderer  Muskeln  durch  passende  Stellung 
der  Elektroden,  oder  auch  durch  Fixirung  der  nicht  untersuchten 
Muskeln  auszuschalten  wissen.  In  späten  »Stadien  bereitet  oft  die 
starke  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  Schwierigkeiten,  man  bedarf 
dann  grosser  Stromquantitäten.  Die  Erregbarkeitsteigerimg  ist  oft 
nur  kurzdauernd,  daher  zur  Zeit  der  Untersuchung  nicht  mehr  nach- 
zuweisen.   Auch  das  Ueberwiegen  der  AnSZ  ist  nicht  immer  deutlich. 


Motilität 


Nerv ': 


Degenerative  Atrophie  der 
— ,  Muskelfasern        .. — 


Kegeneration 


9.  Woche 


Fig.  41. 

Schema  der  partiellen  EaE  (nach  Erb).  Die  faradische  und  galvanische  Erregbarkeit  des  Nerven 
und  die  faradische  Erregbarkeit  des  Muskels  sinken  nur  um  ein  (Geringes.  Die  Motilität  kehrt  früh- 
zeitig wieder.    Ausgleichung  rasch  und  vollständig.    Degeneration  des  Nerven  fehlt  wahrscheinlich. 


besonders  in  späteren  Stadien  findet  man  KaSZ  =  AnSZ.  Dagegen 
fehlt  die  Trägheit  der  Zuckung  nie,  sie  ist  das  eigentliche  Kenn- 
zeichen der  EaR:  wo  Zuckungsträgkeit  ist,  da  ist  EaR. 

Der  letzte  Satz  bedarf  nur  insofern  einer  Einschränkung,  als  Erb 
nachgewiesen  hat,  dass  auch  bei  Thomsen' scher  Krankheit  die  Muskeln  mit 
träger  Zuckung  reagiren  können.  Hier  aber  ist  die  Gesammtheit  der 
Reaction  so  charakteristisch,  dass  eine  Verwechselung  mit  EaR  kaum 
möglich  ist. 

Ausserdem  kommt  EaR  nur  umschrieben,  fast  ausschliesslich  an  mehr 
oder  weniger  gelähmten  Muskeln  und  vorübergehend  vor,  die  Reaction  bei 
Thomsen' scher  Krankheit  ist  an  allen  Muskeln  vorhanden,  die  Muskeln 
sind  nicht  gelähmt,  der  Zustand  ist  dauernd. 

Die  pathologische  Erfahrung  und  der  Versuch  ergeben,  dass  de- 
geiierative  Atrophie  der  unterhalb  der  Läsion  gelegenen  motorischen 

11* 


164  Untersuchung  des  Bewegungsapparates. 

Nervenfasern  und  der  Muskeln  eintritt,  sobald  die  Yorderhörner  des 
Rückenmarks  oder  die  Kerne  der  Hirnnerven,  die  vorderen  "Wurzeln 
oder  die  Nerven  selbst  lädirt  werden.  Der  klinische  Ausdruck  der 
degenerativen  Atrophie  ist  die  EaE.  Aus  dem  Nachweise  der  letz- 
teren ergiebt  sich  der  Schluss.  dass  degenerative  Atrophie  der  Nerven 
und  Muskeln  besteht.  Läsionen  oberhalb  der  Yorderhörner  (der 
Nervenkerne  des  Hirnst anmies),  d.  h.  solche,  die  auf  die  weisse  Eücken- 
marksubstanz  oder  die  centralen  Bahnen  des  Gehirns  beschränkt 
sind,  bewirken  in  der  Kegel  degenerative  Atrophie  ebensowenig  wie 
rein  musculäre  Erkrankungen. 

Die  EaE  kommt  demnach  vor  bei  Poliomyelitis,  primärer  De- 
generation der  Yorderhörner  (amyotrophischer  Lateralsklerose,  pro- 
gressiver spinaler  Muskelatrophie,  Bulbärparalyse)  und  allen  spinalen 
Erkrankungen,  die  sich  auf  die  Yorderhörner  erstrecken  (diffuser 
Myelitis,  G-liomatosis  spin.  u.  s.  w.).  bei  sämmtlichen  Erkrankungen 
peripherischer  Nerven,  sobald  sie  stark  genug  sind,  um  Unterbrechung 
der  Faser  und  damit  degenerative  Atrophie  zu  bewirken  (Traumata, 
Neuritis,  primäre  Nervendegeneration). 

Je  vollständiger  die  EaE  ist,  um  so  schwerer  ist  im  Allgemeinen 
die  Läsion.  um  so  länger  die  Dauer  der  Krankkeit,  um  so  fraglicher 
die  Wiederherstellung;  Demnach  bieten  die  verschiedenen  Formen 
der  partiellen  EaE  eine  bessere  Prognose  als  die  complete  EaE  (vergl. 
ilie  Schemata).  Eine  Ausnahme  machen  die  primären  Erkrankungen 
der  motorischen  Bahn  (amyotrophische  Lateralsklerose,  progressive 
spinale  Muskelatrophie,  Bulbärparalyse).  Bei  ihnen  findet  sich  meist 
nur  partielle  EaE  und  zwar  nur  in  dem  kleineren  Theil  der  erkrankten 
Muskeln,  während  der  grössere  Theil  einfache  Herabsetzung  der  Er- 
regbarkeit zeigt,  und  trotzdem  ist  die  Prognose  ungünstig,  weil  diese 
Krankheiten  ihrer  Natur  nach  progressiv  sind.  Die  Muskeln  mit 
completer  EaE  sind  während  längerer  Zeit  gelähmt,  die  mit  par- 
tieller EaE  sind  meist  auch  gelähmt  oder  wenigstens  paretisch.  In 
seltenen  Fällen  aber  hat  man  EaE.  sowohl  complete  als  partielle,  in 
gar  nicht  gelähmten  Muskeln  nachgewiesen,  ein  schwer  zu  erklären- 
der Befund. 

Aus  dem  Bisherigen  ergiebt  sich,  dass  die  EaE  die  Hauptsache 
in  der  Elektrodiagnostik  ist.  Neuere  Untersuchungen  haben  freilich 
auch  ihren  Werth  vermindert,  da  sie  gezeigt  haben,  dass  in  seltenen 
Fällen  nicht  nur  durch  rein  muskuläre,  sondern  auch  durch  centrale 
Erkrankungen  EaE  entstellt.  Dass  sie  bei  primären  Muskelkrank- 
heiten  vorkommen  könne,  musste  man  schon  nach  experimentellen 
Ergebnissen  vermuthen.    Man  hat  sie  tliatsächlich  bei  Trichinose 


Elektrische  Erregbarkeit.    Pathologische  Veränderungen  der  Erregbarkeit.     165 

und  hie  und  da  auch  bei  Dj^strophie  gefunden.  Man  hat  sie  ferner 
einigemale  hei  centraler  Lähmung  ohne  peripherische  Nervenerkran- 
kung gefunden. 

Immerhin  sind  die  Ausnahmen  von  den  oben  gegebenen  Regeln 
so  selten,  dass  diese  für  die  Praxis  auch  fernerhin  gelten  können. 

Von  anderweiten  Veränderungen  der  elektrischen  Erregbarkeit 
der  Nerven  und  Muskeln  ist  wenig  zu  berichten. 

Diagnostische  Bedeutung  kann  nur  der  die  Thomsen'sche  Krank- 
heit (Myotonia  congenita)  begleitenden  Reaction  zuerkannt  werden. 

Die  Reaction  bei  Thomsenscher  Krankheit  ist  von  Erb  als  myo- 
tonische  Reaction  (MyR)  geschildert  worden.  Die  mechanische 
Erregbarkeit  der  motorischen  Nerven  ist  normal  oder  herabgesetzt  — 
die  der  Muskeln  erhöht  und  verändert  (träge,  tonische  Contraction 
mit  sehr  langer  Nachdauer).  Die  faradische  Erregbarkeit  der  Nerven 
ist  normal  —  die  Muskeln  gerathen  durch  stärkere  faradische  Ströme 
in  eine  nachdauernde  Contraction.  antworten  aber  auf  einzelne,  auch 
auf  stärkste,  Oeffnungschläge  mit  blitzähnlicher  Zuckung.  Die  gal- 
vanische Erregbarkeit  der  Nerven  ist  normal  —  die  Muskeln  da- 
gegen zeigen  erhöhte  galvanische  Erregbarkeit  mit  qualitativer  Ver- 
änderung, d.  h.  AnS  wirkt  annähernd  gleich  stark  ein,  zuweilen 
stärker  als  KaS,  und  alle  Contractionen  sind  träge,  tonisch,  sehr 
lange  nachdauernd.  Endlich  beobachtet  man  das  Phänomen  rhyth- 
mischer, wellenförmiger  Contractionen  bei  stabiler  Stromeinwirkung, 
d.  h.  in  der  Sekunde  laufen  etwa  1 — 3  Wellen  von  der  Ka  nach  der 
An  hin. 

In  ganz  seltenen  Fällen  hat  man  Abweichungen  vom  Zuckungs- 
gesetze bei  Reizung  des  Nerven  (AnSZ  ">  KaSZ)  oder  verschiedenes 
Verhalten  des  Nerven  gegen  den  faradischen  und  den  galvanischen 
Strom  gesehen.  Doch  haben  diese  Raritäten  bis  jetzt  keine  diagno- 
stische Bedeutuno-. 


VIERTES  HAUPTSTÜCK. 


Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Vorbemerkungen. 

Der  Empfindungsapparat  besteht  aus  den  die  Reize  aufnehmenden 
Endapparaten,  den  centripetal  leitenden  Bahnen  und  den  centralen. 
Apparaten,  durch  die  die  Erregung  auf  motorische  Theile  übertragen 
wird  und  die  beim  Empfinden  in  Thätigkeit  sind.  Man  muss  an- 
nehmen, dass  von  jeder  empfindlichen  Stelle  des  Körpers  eine  centri- 
petal leitende  Bahn  sich  bis  zur  Grosshirnrinde  erstreckt  und  dass 
das  Ende  dieser  Bahn  verknüpft  ist  mit  dem  Anfange  der  Willens- 
bahn. Auf  diesen  Wegen  muss  sich  der  Erregungsvorgting  fortpflanzen, 
wenn  auf  Eeize  hin  willkürliche  Bewegungen  eintreten.  Da  aber 
ohne  Empfindung  und  Willen  auf  Eeizung  empfindlicher  Theile  hin 
Bewegungen  erfolgen  können  und  diese  auch  eintreten,  wenn  eine 
Unterbrechung  der  centripetalen  Bahn  im  Rückenmark  oder  Gehirn 
stattgefunden  hat,  müssen  im  Rückenmark  und  Gehirnstamm  Ver- 
bindungen zwischen  der  centripetalen  und  der  centrifugalen  Bahn 
bestehen,  die  die  Reflexbogen  darstellen. 

Eine  directe  Untersuchung  des  Empfindungsapparates,  d.  h.  der 
centripetal  leitenden  Apparate  ist  nur  an  einer  Stelle  möglich,  die 
Netzhaut  allein  kann  durch  den  Augenspiegel  besichtigt  werden. 
Im  Uebrigen  sind  wir  darauf  angewiesen  die  Function  zu  prüfen, 
über  die  wir  durch  Aussagen  des  Untersuchten  oder  durch  Reflex- 
bewegungen Aufschluss  erhalten.  Bewirkt  Reizung  empfindlicher 
Theile  eine  Reflexbewegung,  so  ist  der  Reflexbogen  durchgängig. 
Fehlt  die  erwartete  Reflexbewegung,  so  kann  die  Läsion  an  ver- 
schiedenen Stellen  sich  befinden.  Um  auf  eine  Läsion  der  centri- 
petalen Bahn  schliessen  zu  können,  müsste  nachgewiesen  sein,  dass 
sowohl  die   centrifiiü'ale  Bahn  als  das  centrale  Verbinduno-stück  in- 


Das  Gesicht.  167 

tact  ist.  Da  dieser  Nachweis  nicht  immer. zu  führen  ist,  kann  die 
Prüfung  der  Reflexbewegungen  nur  in  beschränktem  Maasse  zur 
Untersuchung-  des  Empfindung-sapparates  dienen.  Wir  werden  sie 
zu  diesem  Zwecke  nur  da  anwenden,  wo  wir  über  die  Empfindun- 
gen keine  Auskunft  erlangen  können  (Bewusstseinsstörung ,  Unter- 
brechung der  centripetalen  Bahn  im  Gehirn  oder  Rückenmark). 
Wie  die  Reflexe  zu  prüfen  sind,  ist  früher  gesagt. 

Man  spricht  gewöhnlich  von  5  Sinnen,  dem  Gesicht,  Gehör, 
Geruch,  Geschmack  und  Gefühl,  indem  man  unter  der  Bezeichnung- 
Gefühl  alle  die  verschiedenartigen  Empfindungen  zusammenfasst,  die 
durch  Reizung  der  Haut,  der  Schleimhäute,  der  Muskeln,  der  Fascien, 
der  Bänder,  der  Knochen  und  Gelenke  u.  s.  w.  bewirkt  werden. 

I.  Das  Gesicht. 

Ueber  die  Ausführung  der  o  p  h  t  h  a  1  m  o  s  k  o  p  i  s  c  h  e  n  P  r  ü  f  u  n  g 
kann  hier  nichts  beigebracht  werden.  Nur  auf  ihre  überaus  grosse 
Wichtigkeit  sei  hingewiesen;  auch  da,  wo  keine  deutlichen  Seh- 
störungen bestehen,  giebt  sie  zuweilen  wichtige  Aufschlüsse.  Sie  ist 
in  zweifelhaften  Fällen  von  Nervenkrankheiten  nie  zu  unterlassen. 

Auch  bezüglich  der  Funktionsprüfung  des  Auges  muss  auf  die 
Lehrbücher  der  Ophthalmologie  verwiesen  werden.  Nur  wenige 
Bemerkungen  seien  gestattet. 

Bei  Prüfung  der  centralen  Sehschärfe  Averden  gewöhnlich 
Buchstaben  und  Zeichen  (am  häufigsten  die  von  Snellen  empfoh- 
lenen) benutzt.  Jede  Probe  ist  mit  einer  Zahl  bezeichnet,  die  die 
Entfernung  in  Metern  ausdrückt,  in  der  ein  normales  Auge  sie  er- 
kennt. Man  bezeichnet  die  Sehschärfe  (Y)  durch  einen  Bruch,  dessen 
Nenner  die  Nummer  der  Schriftprobe,  dessen  Zähler  die  Zahl  der 
Meter,  innerhalb  derer  die  Probe  erkannt  wurde,  ausdrückt.  Erkennt 
das  geprüfte  Auge  die  Probe  5  auf  5  Meter,  so  ist  V  =  5/s  =  1, 
d.  h.  normal,  erkennt  es  nur  Probe  9  auf  5  Meter,  so  ist  V  =  5/9. 
also  ungefähr  =  xj-i.  Fehler  der  Refraction  müssen  natürlich  be- 
rücksichtigt, beziehungsweise  corrigirt  werden.  Bei  sehr  vermin- 
derter Sehschärfe  lässt  man  Finger  zählen,  oder,  wenn  dies  nicht 
möglich,  prüft  man,  ob  im  dunkeln  Räume  Lichtschimmer  wahr- 
genommen wird.  Verminderung  des  Lichtsinns  heisst  Amblyopie, 
Aufhebung  Amaurose. 

Die  Prüfung  des  Farbensinnes  wird  gewöhnlich  so  ausge- 
führt, dass  der  Untersuchte  aufgefordert  wird,  von  einer  Anzahl 
bunter  Papiere,  Wollenfäden,  Pulverproben  die  ähnlichen  zusammen- 


168  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

zulegen  oder  zu  einer  bestimmten  Probe  die  entsprechende  aus  dem 
Haufen  zu  wählen.  Aufhebung  des  Farbensinnes  heisst  Achromat- 
opsie, partielle  Störungen  heissen  Dyschromatopsie. 

Das  Gesichtsfeld  (GF)  wird  mittelst  des  sogenannten  Peri- 
meters geprüft.  Zum  vorläufigen  Nachweise  gröberer  Störungen, 
besonders  der  Hemianopsie,  genügt  es,  den  Kranken  etwa  die  Nase 
oder  das  Auge  des  Arztes  in  ca.  50  Cm.  Entfernung  fixiren  zu  lassen 
und  dann  zu  beobachten,  wann  der  von  rechts  oder  von  links  ge- 
näherte Finger  wahrgenommen  wird.  Zur  Prüfung  des  GF  für 
Farben  benutzt  man  nicht  den  Finger,  sondern  Stücke  farbigen 
Papier  es  oder  dergi.  Man  spricht  von  Gesichtsfeldeinschränkung 
(GFE),  die  concentrisch,  sectorenförmig  oder  halbseitig  ist.  Ausfall 
einer  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  wird  Hemianopsie  oder  Hemiopie 
genannt.  Die  Hemianopsie  ist  eine  temporale,  wenn  das  Auge  die 
äussere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  nicht  sieht,  eine  nasale,  wenn  die 
innere  Hälfte  ausfällt,  eine  homonyme  rechtsseitige,  wenn  auf  beiden 
Augen  die  rechte  Hälfte  des  GF  fehlt  u.  s.  w. 

Die  elektrische  Untersuchung  der  Retina,  beziehungsweise  des 
Opticus  wird  am  besten  so  ausgeführt,  dass  die  kleine  differente  Elektrode 
auf  die  geschlossenen  Lider  gesetzt  wird;  während  die  grosse  indifferente 
sich  im  Nacken,  auf  dem  Brustbein  oder  sonstwo  befindet.  Der  faradische 
Strom  bewirkt  keine  deutlichen  Gesichtsempfindungen,  beim  Schliessen  und 
Oeffnen  des  galvanischen  Stromes  wird  das  Gesichtsfeld  blitzartig  erhellt 
und  im  Centrum  zeigt  sich  ein  heller  Fleck  (gewöhnlich  eine  runde  Scheibe). 
Bei  manchen  Personen  ist  der  helle  Fleck  gefärbt,  dann  treten  bei  KaS 
und  AnO  einerseits  und  bei  KaO  und  AnS  andererseits  dieselben  Färbungen 
ein,  z.  B.  dort  gelb,  liier  blau.  Ueber  krankhafte  Reactionen  wissen  wir 
bisher  weiter  nichts,  als  dass  bei  Amblyopie  die  galvanischen  Phosphene 
abgeschwächt,  bei  Amaurose  in  der  Regel  verschwunden  sind,  dass  bei 
Hemianopsie  die  Farbenscheibe  einen  entsprechenden  Defect  zeigt,  dass 
demnach  die  galvanische  Reaction  dem  Sehvermögen  ungefähr  parallel 
geht.  Daher  ist  bis  auf  Weiteres  die  elektrische  Untersuchung  des  Auges 
entbehrlich. 


Bei  der  ophthalmoskopischen  Untersuchung  können  sich  Befunde 
ergeben,  die  indirect  auch  für  den  Neurologen  von  Wichtigkeit  sind : 
syphilitische  Veränderungen  im  Auge,  Tuberkeln  der  Chorioidea, 
Cysticerken ,  Blutungen  im  Augenhintergrunde  u.  s.  w.  Die  Unter- 
suchung muss  u.  U.  die  Verwechselung  des  Glaucom  mit  Trigeminus- 
neuralgie  oder  Migräne  verhüten.  Als  Zeichen  organischer  Erkran- 
kung des  Nervensystems  selbst  sind  aber  folgende  Befunde  von 
höchster  Bedeutung:  die  Stauungspapille,  die  Papillitis  oder  Neu- 
ritis N.  optici  und  die  Atrophie  der  Papille. 


Das  Gesicht.  169 

Die  Stauungspapille,  deren  Kennzeichen  und  deren  Unter- 
scheidung von  verwandten  Formen  als  bekannt  vorausgesetzt  werden 
müssen,  ist  entweder  Ausdruck  einer  örtlichen  Erkrankung  des 
Nerven  oder  einer  Steigerung1  des  Druckes  im  Schädel.  Im  letzteren 
Falle  ist  sie  stets  .doppelseitig,  wenn  auch  zuweilen  auf  einem  Auge 
etwas  stärker  entwickelt  als  auf  dem  anderen.  Sie  bestellt  in  der 
grossen  Mehrzahl  der  Fälle  bei  Hirntumoren,  darf  aber  nicht  schlecht- 
weg, als  „Symptom  eines  Hirntumor"  bezeichnet  werden,  da  sie  eben 
nur  auftritt,  wenn  der  Tumor  den  Druck  im  Schädel  merklich  steigert, 
und  andererseits  ihr  Vorhandensein  über  die  Ursache  der  Druckstei- 
gerung zunächst  nichts  aussagt,  Ihr  Nachweis  ist  ganz  besonders  in 
den  Fällen  von  Werth,  wo  zunächst  nur  sog.  Allgemeinerscheinungen, 
Kopfschmerz,  Erbrechen,  psychische  Veränderungen,  von  Seiten  des 
Gehirns  bestehen  und  die  Diagnose  zwischen  einer  organischen  Gehirn- 
läsion und  functioneller  Erkrankung  schwankt.  Die  Stauungspapille 
ist  bei  Tumoren  u.  s.  w.  oft  frühzeitig  deutlich  entwickelt,  zu  einer 
Zeit,  wann  Sehschärfe  und  Gesichtsfeld  noch  ganz  oder  fast  normal 
■sind.  Es  ist  im  Gegensatze  zur  primären  Sehnervenatrophie,  wo 
von  vornherein  die  Function  des  Nerven  Noth  leidet,  für  die  Stau- 
ungspapille charakteristisch,  dass  bei  schon  beträchtlicher  Schwellung 
der  Papille  das  centrale  Sehvermögen  längere  Zeit  normal  bleiben 
■kann.  Das  Gesichtsfeld  ist  häufig  schon,  ehe  die  Sehschärfe  abnimmt, 
eingeschränkt,  stärkere  Störungen  des  Farbensinnes  treten  erst  spät 
•ein.  Besonders  frühzeitig  scheinen  raumbeschränkende  Processe  in 
der  hinteren  Schädelgrube  Stauungspapille  zu  bewirken,  vielleicht 
dadurch,  dass  sie  den  Aquäduct  oder  die  grossen  Hirnvenen  compri- 
•miren  und  der  so  entstandene  Hydrocephalus  internus  den  Boden 
des  3.  Ventrikels  gegen  die  Tractus  oder  das  Chiasma  opt,  drückt, 
Unter  diesen  Umständen  kommt  es  auch  vor,  dass  die  mit  der  Stau- 
ungspapille verbundene  Amblyopie  zur  Amaurose  wird.  Ebenso  kann 
vollständige  Erblindung  beobachtet  werden,  wenn  ein  Tumor  der 
■Hypophysis  cerebri  oder  andere  basale  Tumoren  das  Chiasma  compri- 
miren.  Die  Eegel  ist,  dass  die  von  der  Stauungspapille  abhängige 
Amblyopie  nur  einen  massigen  Grad  erreicht,  wenn  überhaupt,  erst 
spät  zur  Amaurose  wird.  Findet  man  nun  frühzeitige  und  voll- 
ständige Erblindung  bei  Stauungspapille  (der  in  der  Regel  bald  die 
Sehnervenatrophie  folgt),  so  kann  man  annehmen,  dass  ausser  durch 
den  allgemeinen  Hirndruck  die  Optici  durch  eine  örtliche  Läsion 
getroffen  werden,  sei  es  durch  den  Druck  einer  in  der  Nähe  des 
Chiasma  befindlichen  Neubildung,  sei  es  durch  den  vorgewölbten 
Boden  des  3.   Ventrikels,    sei   es   auch  durch  locale  meningitische 


1  i  0  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Veränderungen.  In  seltenen  Fällen  kann  eine  doppelseitige  Läsion 
der  centralen  Opticusbalm  (in  den  Occipitalwindungen  oder  im  Marke 
der  Hennsphären)  Amaurose  zur  Stauungspapille  hinzufügen.  Wichtig 
ist  das  Verhalten  der  Pupillen.  Bei  der  einfachen  Stauungspapille 
pflegt  deren  Eeaction  leidlich  erhalten  zu  sein.  Besteht  mit  der 
Stauungspapille  complete  Amaurose,  so  sind  die  Pupillen  weit  und 
starr,  wenn  der  Nervus  oder  der  Tractus  opticus  erkrankt  ist.  Findet 
man  aber  trotz  completer  Amaurose  gute  Lichtreaction  der  Pupillen, 
so  ist  jene  die  "Wirkung  einer  centralen  Läsion  (doppelte  Hemianopsie). 

Ausser  bei  Tumoren  findet  sich  doppelseitige  Stauungspapille 
bei  dem  idiopathischen  Hvdrocephalus,  oft  bei  den  verschiedenen 
Formen  der  Meningitis,  seltener  und  meist  in  geringem  Grade  bei 
Hirnabscess. 

Die  Diagnose  wird,  wenn  eine  ausgeprägte  Schwellung  beider 
Papillen  vorhanden  ist,  immer  in  erster  Linie  auf  einen  Tumor  zu 
lenken  sein.  Die  Meningitis  ist  in  den  meisten  Fällen  eine  fieber- 
hafte Allgemeinerkrankung,  die  ihr  Verlauf  genügend  zu  charakte- 
risiren  pflegt.  Beim  Hvdrocephalus  der  Kinder  leitet  die  Vergröße- 
rung des  Schädels  auf  den  rechten  Weg.  Der  primäre  Hvdrocephalus 
der  Erwachsenen  kommt  seiner  Seltenheit  wegen  kaum  in  Betracht 
und  ist  einer  positiven  Diagnose  nicht  wohl  zugänglich.  Am  ehesten 
kann  die  Unterscheidung  zwischen  Tumor  und  Abscess  Schwierig- 
keiten machen.  Beim  Hirnabscess  besteht  selten  Stauungspapille, 
er  ist  meist  zeitweise  mit  Fieber  verbunden,  er  zeigt  oft,  viel  deut- 
licher als  die  Tumoren,  einen  remittirenden  Verlauf,  in  der  Eegel  ist 
ein  causales  Moment  (Schädeltrauma,  Ohreiterung,  überhaupt  Eiterung 
am  Kopfe,  putride  Bronchitis)  nachzuweisen.  Fehlt  die  Stauungs- 
papille, so  ist  die  Diagnose  eines  Tumor  nicht  mit  voller  Sicherheit 
möglich.  Da  jene  zuweilen  ohne  stärkeren  Kopfschmerz  beobachtet 
wird,  kann  dieser  ohne  Stauungspapille  nicht  als  Symptom  von  Druck- 
steigerung im  Schädel  gelten,  muss  vielmehr,  wenn  es  sich  überhaupt 
um  organische  Hirnläsion  handelt,  als  Ausdruck  örtlicher  Beizung 
der  Dura  oder  der  intracerebralen  Durafasern  betrachtet  werden. 
In  entsprechender  Weise  sind  dann  die  anderen  sogenannten  Allge- 
meinerscheinungen :  Convulsionen,  psychische  Veränderungen  u.  s.  w.. 
zu  deuten.  Die  allmählich  entstandenen  Herdsymptome  können, 
wenn  sie  auf  eine  intracerebrale  Läsion  hinweisen,  ebensowohl  von 
einer  Neubildung,  als  von  sklerotischen  Vorgängen,  als  von  chroni- 
scher Erweichung  verursacht  sein.  Lässt  multiple  Hirnnervenläsion 
einen  basalen  Process  vermuthen.  so  kann  es  sich,  wenn  die  Stauungs- 
papille fehlt,  um  eine  umschriebene  Meningitis  der  Basis  oder  um 


Das  Gesicht.  171 

eine  in  massigen  Grenzen  bleibende  Neubildung,  beziehungsweise  ein 
Aneurysma  handeln.  Zwischen  diesen  beiden  Möglichkeiten  ist  oft 
nicht  zu  entscheiden.  Wenn  bei  gewissen  Vergiftungen  (Alkohol, 
Blei,  Tabak)  der  Augenspiegel  neuritische  Veränderungen  nachweist, 
so  verhindert  die  charakteristische  Functionstörung  (siehe  unten) 
eine  Verwechselung  mit  eigentlicher  Stauungspapille. 

Einseitige  Stauungspapille  ist  immer  Symptom  einer  umschrie- 
benen, den  Sehnerven  betreifenden  Läsion.  Es  kann  sich  um  directe 
Wirkung  einer  cerebralen,  beziehungsweise  basalen  Neubildung,  die 
den  allgemeinen  Hirndruck  zu  steigern  nicht  im  Stande  ist,  um  eine 
umschriebene  Meningitis  u.  s.  w.  handeln,  es  können  aber  auch  krank- 
hafte Processe  in  der  Orbita  die  Ursache  sein.  Die  Diagnose  ist 
nur  mit  Berücksichtigung  der  begleitenden  Erscheinungen  möglich. 

Die  Papillitis  kommt,  abgesehen  von  Erkrankungen  der  Retina, 
durch  Läsion  der  Sehnerven  zu  Stande :  bei  Meningitis,  Periostitis,  in 
seltenen  Fällen  bei  multipler  Sclerose,  bei  chronischer  Myelitis  u.  s.  w. 

Die  Sehnervenatrophie  ist  entweder  die  Folge,  das  End- 
stadium der  Neuritis  optici,  oder  sie  ist  primär.  Den  Neurologen 
interessiren  besonders  2  Formen  der  Atrophie,  die  bei  multipler 
Sclerose  und  die  bei  Tabes  vorkommende. 

Bei  multipler  Sclerose  ist  der  Nachweis  atrophischer  Verände- 
rungen der  Papille  deshalb  von  grosser  Wichtigkeit,  weil  bei  der 
Variabilität  dieser  Krankheit  andere  Symptome  oft  fehlen,  die  mit 
Bestimmtheit  zwischen  ihr  und  functioneller  Erkrankung  entschei- 
den Hessen.  Insbesondere  ist  oft  beginnende  multiple  Sclerose  für 
Hysterie  gehalten  worden.  Diese  Verwechselung  verhütet  die  Augen- 
spiegeluntersuchung. Ferner  kann  letztere  in  den  Fällen  von  dia- 
gnostischer Bedeutung  sein,  wo  die  Diagnose  zwischen  transver- 
saler Myelitis  und  multipler  Sclerose  schwankt,  ist  sie  vorhanden, 
so  handelt  es  sich  wahrscheinlich  um  multiple  Sklerose.  Besonders 
ist  diese  Krankheit  zu  vermuthen,  wenn  zu  der  sogenannten  spasti- 
schen Spinalparalyse  Opticusatrophie  tritt.  Bemerkenswerth  ist,  dass 
die  Atrophie  gewöhnlich  als  Verfärbung  besonders  der  temporalen 
Hälften  der  Papillen  sich  zeigt,  dass  complete  Atrophie  mit  Erblin- 
dung sehr  selten  vorkommt,  der  Process  vielmehr  gewöhnlich  in 
mittlerer  Stärke  sehr  lange  stationär  bleibt.  Meist  sind  beide  Augen 
ergriffen,  das  eine  aber  mehr  als  das  andere. 

Um  eine  primäre  Atrophie  der  Sehnervenfasern  handelt  es  sich 
zweifellos,  wenn  bei  Tabes  oder  bei  progressiver  Paralyse  Opticus- 
atrophie gefunden  wird.  Diese  kann  zu  den  frühesten  Symptomen 
der  Tabes  gehören  und  lange  Jahre  neben  den  lanzinirenden  Schmer- 


172  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

zen  die  einzige  Beschwerde  der  Kranken  bilden.  Wahrscheinlich 
handelt  es  sich  auch  in  den  meisten  Fällen  von  „einfacher"  oder 
„idiopathischer"  Opticusatrophie  um  beginnende  Tabes.  Auf  jeden  Fall 
ist  an  diese  zuerst  zu  denken. 

Die  Sehstörung  besteht  bei  Sehnervenatrophie  gewöhnlich  zu- 
nächst in  Störungen  der  Farbenempfindung  (centrales  Scotom  für 
Koth  und  Grün)  und  Einschränkung  des  Gesichtsfeldes,  das  oft  eine 
zickzackförmige  Begrenzung  zeigt,  während  die  centrale  Sehschärfe 
nur  wenig  herabgesetzt  ist.  Erst  später  pflegt  die  letztere  in  stär- 
kerem Grade  zu  leiden  und  mit  nicht  seltenen  Stillständen  schreitet 
bei  der  primären  Atrophie  der  Process  bis  zur  vollständigen  Blind- 
heit fort.  Auch  hier  pflegt  die  Erkrankung  auf  beiden  Augen  nicht 
ganz  gieichmässig  zu  sein. 

Concentrische  Einengung  des  Gesichtsfeldes  beider 
Augen  ist  ein  häufiges  und  wichtiges  Symptom  der  Hysterie.  Bezeich- 
nend ist,  dass  trotz  der  oft  beträchtlichen  Einschränkung  des  Gesichts- 
feldes, die  mit  dem  Perimeter  gefunden  wird,  die  Orientirungsfähig- 
keit  der  Kranken  nicht  vermindert  zu  sein  pflegt,  dass  meist  im  An- 
schlüsse an  psychische  Veränderungen  die  Störung  kommt  und  ver- 
schwindet. Auch  kann  zuweilen  direct  nachgewiesen  werden,  dass 
das  Nichtsehen  der  peripherischen  Eetinatheile  nur  scheinbar  ist, 
durch  die  hysterische  ..Spaltung  des  Bewusstseins"  entstellt.  Hat 
man  z.  B.  dem  Kranken  im  Schlafe  eingegeben,  er  werde  wieder 
einschlafen,  sobald  er  ein  Kreuz  sehe,  und  bringt  man  dann  ein 
Kreuz  in  den  peripherischen  Theil  des  Gesichtsfeldes,  so  schläft  der 
Kranke  ein,  obwohl  er  scheinbar  das  Kreuz  gar  nicht  sieht.  Ver- 
wandt mit  dieser  Erscheinung  ist  die  sogenannte  Anästhesia  re- 
tinae oder  neurasthenische  Asthenopie,  die  wesentlich  in  einer 
raschen  Ermüdung  des  Auges  bei  angestrengtem  Sehen  besteht  und 
besonders  der  Neurasthenie  eigen  ist,  aber  auch  bei  Hysterie  vorkommt. 
Nach  Wilbrand  ist  charakteristisch,  dass  bei  der  Untersuchung 
mit  dem  Perimeter  die  Gestalt  des  Gesichtsfeldes  verschieden  wird, 
je  nachdem  die  Untersuchung  von  rechts  oder  links,  oben  oder  unten 
ausgeht,  da  im  Beginne  nahezu  normale  Angaben  gemacht  werden, 
bei  den  späteren  Meridianen  aber  durch  die  rasch  eintretende  Er- 
müdung die  Einschränkung  des  Gesichtsfeldes  mehr  und  mehr  zu- 
nimmt. Für  diese  rein  functionellen  Sehstörungen  ist  neben  dem 
negativen  Augenspiegelbefunde  die  freie  Beweglichkeit  der  Pupillen 
von  Bedeutung.  Dies  gilt  auch  von  den  anderweiten  Sehstörungen 
der  H3rsterischen.  Bei  hysterischer  Hemianästhesie  besteht  gewöhn- 
lich Amblyopie  des  Auges  der  unempfindlichen  Seite  und  in  geringerem 


Das  Gesicht.  173 

Grade  auch  des  anderen  Auges.  Das  nähere  ist  bei  Besprechung  der 
Hemianästhesie  angegeben. 

Ob  centrale  Scotome  bei  sog.  fimctionellen  Neurosen  vor- 
kommen, ist  zweifelhaft,  abgesehen  von  dem  Scotom  der  Augenmigräne 
sind  sie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  Symptom  gewisser  Vergiftungen. 
Besonders  sind  sie  der  alkoholischen  Amblyopie  eigen,  sollen  auch  bei 
der  seltenen  Tabak-,  bei  saturniner  Amblyopie  und  gelegentlich  bei 
Diabetes  auftreten.  In  diesen  Fällen  kann  anfanglich  der  Augen- 
hintergrund normal  sein,  später  sieht  man  in  der  Reg-el  neuritische 
Veränderungen  der  Papille,  die  mit  atrophischer  Verfärbung,  beson- 
ders der  temporalen  Hälfte,  enden  können. 

Rasch  entstehende  und  zur  Amaurose  führende  ein-  oder  doppel- 
seitige Amblyopie  pflegt  man  durch  locale  Erkrankung  der  Sehnerven 
(„retrobulbäre  Neuritis")  zu  erklären,  wenn  ophthalmoskopische  Ver- 
änderungen dabei  zunächst  ganz  fehlen  oder  so  gering  sind,  dass  sie 
die  Aufhebung  des  Sehvermögens  nicht  erklären.  Dabei  sind  die 
Pupillen  weit  und  starr.  Derartige  Fälle  sind  nach  acuten  Infections- 
krankheiten,  bei  Wucherungen,  die  den  Nerven  am  Foramen  opticum 
oder  in  dessen  Nähe  lädiren,  beobachtet  worden.  Anfallsweise  auf- 
tretende und  oft  rasch  vorübergehende  doppelseitige  Amaurose  ohne 
Augenspiegelbefund  kommt  ausser  bei  Migräne  und  bei  Hysterie  bei 
Urämie  und  bei  Epilepsie  vor.  Mehrfach  wird  angegeben,  dass  auch 
hier  die  Pupillen  weit  und  starr  seien,  daher  eine  peripherische  Läsion 
wahrscheinlich  sein  würde.  Doch  ist  zweifellos  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  die  Pupillenbeweglichkeit  erhalten,  man  kann  dann  eine  cen- 
trale Störung  vermuthen.  die  überhaupt  von  vornherein  als  wahr- 
scheinlicher erscheint. 

Von  grossem  diagnostischem  Interesse  ist  die  halbseitige  Blind- 
heit, die  Hemianopsie.  Findet  sich  gleichseitige  Hemianopsie,  so 
muss  eine  Läsion  jenseits  des  Chiasma  bestehen.  Als  Theilerscheinung 
sog.  function  eller  Störung  wird  die  Hemianopsie  einzig  und  allein 
bei  der  Migräne  beobachtet,  hier  kann  sie  als  rasch  vorübergehender 
Vorläufer  des  Anfalls  auftreten.  In  allen  anderen  Fällen  beweist 
sie  das  Bestehen  einer  organischen  Läsion.  Dauernde  Hemianopsie 
kann  zunächst  verursacht  sein  durch  eine  Läsion  der  Hirnrinde.  Ein 
Herd  in  den  rechten  Occipitalwiiidungen  (nach  Hellsehen  in  der 
Fissura  calcarina)  verursacht  linksseitige  Hemianopsie  und  umgekehrt. 
Je  nach  der  Lage  und  Ausdehnung  des  Herdes  wird  bald  die  ganze 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  werden  bald  auf  beiden  Augen  Theile 
davon,  wird  bald  vorwiegend  oder  ganz  die  Hälfte  des  Gesichtsfeldes 
eines  Auges  ausfallen.   Die  Maculag-eo-end  der  Retina  wird  von  beiden 


174  Untersuchung  des  Enipfindungsapparates. 

Hiriiliälften  aus  innervirt  Kleinere  Defecte  werden  sich  nur  mit 
dem  Perimeter  auffinden  lassen  und  auch  grössere  werden  leicht  über- 
sehen, wenn  die  Aufmerksamkeit  des  Arztes  nicht  besonders  auf  sie 
gerichtet  ist.  Den  gleichen  Erfolg  wie  eine  Läsion  der  Binde  des 
Occipitallappens  muss  eine  Läsion  der  Markstrahlen  haben,  die  von 
den  Hinterhaupt  Windungen  nach  aussen,  vom  Hinterkorn  nach  dem 
Corpus  geniculatum  externum  ziehen,  d.  h.  besonders  ein  Herd  in  der 
weissen  Substanz  des  Hinterhauptlappens.  Entsteht  Hemianopsie  ohne 
anderweite  Symptome,  so  ist  eine  directe  Läsion  des  Occipitallappens 
am  wahrscheinlichsten  Findet  man  z.  B.  neben  Stauungspapille  und 
Hinterkopfschmerzen  linksseitige  Hemianopsie  ohne  andere  Herder- 
scheinungen, so  ist  ein  Tumor  im  rechten  Occipitallappen  zu  ver- 
muthen.  Entsteht  nach  einem  apoplektischen  Anfälle  vorübergehende 
Hemiplegie,  dauernde  Hemianopsie,  so  ist  zunächst  an  eine  Blutung 
oder  Erweichung  im  Occipitallappen  zu  denken.  Indirecte  Hemianop- 
sie wird  nur  dann  beobachtet  werden,  wenn  andere  allgemeine  Cere- 
bralerscheinungen  bestehen,  wenn  z.  B.  eine  dauernde  Hemiplegie  mit 
heftigem  Insult  beginnt. 

Bei  Läsion  beider  Occipitallappen  muss  natürlich  eine  doppel- 
seitige Hemianopsie  zu  Stande  kommen,  d.  h.  Amaurose.  Ein  derar- 
tiges Vorkommniss  ist  bei  der  Neigung  der  Hirnkerde  zu  symmetri- 
schem Auftreten  nichts  Unerhörtes.  Man  wird  daran  zu  denken  haben, 
wenn  unter  Insult  doppelseitige  Amaurose  bei  guter  Beweglichkeit 
der  Pupillen  sich  entwickelt.  Letztere  muss  begreiflicher  Weise  bei 
jeder  centralen  Sehst ürung  erhalten  bleiben.  Wird  eine  als  occipitale 
aufgefasste  Hemianopsie  im  weiteren  Verlaufe  zur  Amaurose,  so  kann 
es  sich  um  eine  doppelseitige  Heniisphärenläsion  handeln,  es  kann 
aber  auch  die  zweite  Läsion  eine  andere  Strecke,  etwa  den  Tractus 
opt.  treffen.  Zuweilen  mag  im  letzteren  Falle  die  „hemiopische  Pu- 
pillenreaction"  Wer  nicke 's  (s.  LT.  Theil)  die  Diagnose  ermöglichen. 

Xach  den  vorliegenden  Erfahrungen  wird  man,  wenn  Hemianopsie 
mit  Hemianästhesie  besteht,  zunächst  eine  das  Pulvinar  mitergrei- 
fende Läsion  ins  Auge  zu  fassen  haben.  Blutungen  und  Erweichungen 
des  Sehhügels,  die  sich  auf  das  Pulvinar  und  die  anstossende  Mark- 
masse erstrecken,  werden  am  ehesten  in  Frage  kommen.  Auch  Blind- 
heit durch  doppelseitige  Erweichung  des  Pulvinar  ist  gesehen  worden. 

Endlich  kann  gleichseitige  Hemianopsie  durch  Läsion  eines  Trac- 
tus opticus  entstehen.  Dies  geschieht  nicht  häufig  und  am  ehesten 
bei  Hirntumoren,  die.  wenn  sie  an  der  Basis  sitzen,  direct  den  Trac- 
tus treffen  können,  bei  anderweitigem  Sitze  durch  indirecten  Druck 
erst  einen,  dann  beide  Tractus  schädigen  können.    Ferner  kann  die 


Das  Gesicht.  175 

Meningitis,  besonders  die  chronische  umschriebene,  durch  Uebergreifen 
der  Entzündung-  den  oder  die  Tractus  erkranken  lassen.  Meist  wird 
Tractus-Hemianopsie  mit  Hemiplegie  und  peripherischer  Lähmung 
von  Hirnnerven  (Oculomotorius)  verbunden  sein.  Als  ihr  Kennzeichen 
hat  W ernicke  die  hemiopische  Pupillenreaction  angegeben,  doch 
wird  sich  nicht  immer  bei  Prüfung  auf  diese  ein  sicheres  Resultat 
erreichen  lassen.  Die  Läsion  beider  Tractus  hat  natürlich  dieselbe 
Wirkung,  wie  die  beider  Nervi  optici:  doppelseitige  Amaurose  mit 
Pupillenstarre. 

Für  Läsion  des  Chiasma  endlich  ist  charakteristisch,  dass  un- 
gleichseitige Hemianopsie  auftritt,  nämlich  temporale  Hemianopsie 
auf  beiden  Augen.  Trifft  ein  Druck  den  Chiasmawinkel  von  vorn 
oder  von  hinten,  so  müssen  beide  inneren  Hälften  der  Retina  ausser 
Function  gesetzt  werden,  demnach  muss  doppelseitige  temporale  He- 
mianopsie auftreten.  Zuerst  werden  Defecte  in  einer  oder  beiden 
temporalen  Gesichtsfeldhälften  sich  zeigen  und  im  weiteren  Verlaufe 
werden  diese  sich  vergrössern.  Eine  strenge  Begrenzung  des  De- 
fects  durch  die  Mittellinie  wird  begreiflicher  Weise  selten  vorkom- 
men und  im  weiteren  Verlaufe  kann  sich  ein-  oder  doppelseitige 
Amaurose  entwickeln.  Findet  man  Amaurose  auf  einem  und  tem- 
porale Hemianopsie  auf  dem  anderen  Auge,  so  wird  man  ebenso  wie 
bei  doppelseitiger  temporaler  Hemianopsie  eine  Neubildung  im  vorde- 
ren oder  im  hinteren  Chiasmawinkel  annehmen  können.  In  späteren 
Stadien  werden  auch  ophthalmoskopische  Erscheinungen  vorhanden 
sein.  Nasale  Hemianopsie  eines  Auges  lässt  auf  einen  den  Nerven, 
das  Chiasma  oder  den  Tractus  von  aussen  treffende  Läsion  schliessen. 
Sie  pflegt  selten  deutlich  ausgeprägt  zu  sein. 

Subjective  Gesichtserscheinungen  können  im  Verlaufe 
degenerativer,  zu  Amaurose  führender  Processe  auftreten,  die  Klage 
über  Funkensehen,  mouches  volantes  u.  s.  w.  ist  ferner  bei  Hysteri- 
schen, Hypochondrischen  u.  s.  w.  häufig,  im  Allgemeinen  aber  spielen 
subjective  Gesichtserscheinungen  bei  Nervenkrankheiten  keine  grosse 
Rolle,  Bestimmte  Gesichtsphantasmen  können  als  Aura  eines  hyste- 
rischen oder  epileptischen  Anfalles  auftreten.  Rothsehen  (Flammen. 
Blut)  kommt  in  diesem  Sinne  nicht  selten  bei  Epileptischen  vor. 
Ein  Kranker  sah  stets  vor  dem  Anfalle  ein  von  der  rechten  Seite 
her  vorrückendes  buntes  sich  drehendes  Rad.  Ausserdem  ist  ein 
hierher  gehörendes  Symptom  von  diagnostischer  Wichtigkeit:  das 
Flimmer sco tom.  Es  besteht  in  Flimmern,  das  eine  Gesichts- 
feldhälfte  einnimmt  und  anfallsweise  auftritt.  Zuerst  zeigen  sich 
Lichterscheinungen.  welche  von  der  rechten  oder  linken  Seite  her- 


1  <  6  Untersuchung  des  Empnndungsapparates. 

kommen,  eiuem  Funkenregen  oder  den  Feuerrädern  ähnliche  Fi- 
guren, oft  leuchtende  Zickzack-(Fortincations-)Linien  darstellen,  all- 
mählich sich  nach  der  Mittellinie  zu  ausbreiten,  nicht  oft  sie  über- 
schreiten. Torher  oder  nachher  kann  sich  Nebel  in  Gestalt  hemianop- 
tischer  Defecte.  zuweilen  wirkliche  Hemianopsie  zeigen.  Gewöhnlich 
handelt  es  sich  bei  Migräne  nicht  um  eigentliche  Hemianopsie,  sondern 
die  Kranken  sehen  von  allen  Gegenständen  nur  die  eine  Hälfte,  in 
anderen  Fällen  wird  die  eine  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  schwarz  ge- 
sehen, während  bei  der  echten  Hemianopsie  ein  wirkliches  Nieht- 
sehen  besteht.  Das  Flimmerscotom  dauert  gewöhnlich  xk—xh  Stunde, 
ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  Theilerscheinung  der  Migräne,  leitet 
deren  Anfall  ein  oder  tritt  statt  dessen  auf.  Es  kann  sowohl  die 
idiopathische  als  die  symptomatische  Migräne  begleiten.  Seltener  ist 
es  ein  Vorläufer  epileptischer  Anfälle  oder  ein  epileptisches  Aequivalent. 

II.   Das  Gehör. 

Die  Untersuchung  des  äusseren  und  mittleren  Ohres  ist  nach 
den  Regeln  der  Otiatrie  auszuführen.  Die  Functionsprüfung 
wird  gewöhnlich  so  angestellt,  dass  die  Entfernung  bestimmt  wird, 
innerhalb  deren  durch  das  untersuchte  Ohr  die  Flüstersprache  ver- 
nommen wird,  und  die,  innerhalb  deren  das  Ticken  einer  Uhr,  die 
vorher  am  Gesunden  geprüft  worden  ist,  vernommen  wird  (Luftlei- 
tung), dass  ferner  eine  tönende  Stimmgabel  auf  verschiedene  Stellen 
des  Schädels  aufgesetzt  und  dann  bestimmt  wird,  ob  und  von  wel- 
chem Ohre  sie  besser  gehört  wird  (Kopfknochenleitung). 

Störungen  des  Gehörs  können  durch  krankhafte  Vorgänge 
im  äusseren,  mittleren,  inneren  Ohre,  im  peripherischen  oder  cen- 
tralen Verlaufe  des  N.  acusticus  verursacht  sein.  Erfahrungsgemäss 
handelt  es  sich  in  den  weitaus  meisten  Fällen  um  Läsionen  des 
mittleren  Ohres,  deren  enorme  Häufigkeit  contrastirt  mit  der  Selten- 
heit von  Erkrankungen  des  nervösen  Hörapparates.  Der  Nachweis 
von  pathologischen  Veränderungen  diesseits  der  Labyrinthfenster 
kann  für  den  Neurologen  positives  diagnostisches  Interesse  haben, 
da  u.  U.  diese  Ausgangspunkt  reflectorischer  Symptome  sein  können, 
da  Mittelohrerkrankungen  häufig  die  Ursache  von  Faciaslähmung 
oder  Chordalähmung  sind,  eitrige,  beziehungsweise  tuberkulöse  Ohr- 
aifectionen  nicht  selten  Meningitis  oder  Hirnabscess  bewirken.  In 
keinem  Falle  von  Facialislähmung,  von  Meningitis,  von  Hirnabscess, 
von  Gehirnkrankkeit  zweifelhafter  Diagnose  darf  die  Untersuchung 
des  Ohres  verabsäumt  werden. 


Das  Gehör.  177 

Finden  sich  bei  der  Untersuchung-  des  äusseren  und  mittleren 
Ohres  keine  zur  Erklärung  der  vorhandenen  Gehörstörung  ausreichen- 
den Veränderungen,  so  ist  noch  nicht  mit  Sicherheit  bewiesen,  dass 
die  Läsion  jenseits  der  Paukenhöhle  liegt,  da  auch  bei  normalem 
Spiegelbefunde  Veränderungen  an  den  Labyrinthfenstern  Ursache  der 
Schwerhörigkeit  u.  s.  w.  sein  können.  Dass  es  sich  in  der  That  um 
„nervöse  Taubheit",  d.  h.  um  solche,  die  durch  Erkrankung  des 
Labyrinthes  oder  des  Acusticus  verursacht  wird,  handle,  pflegt  man 
anzunehmen,  sobald  die  Schallwahrnehmung  durch  die  Kopf  knochen 
vermindert  ist.  Doch  wird  auch  diesem  Zeichen  gegenüber  zur  Vor- 
sicht ermahnt  und  wird  vielfach  nur  der  Ausfall  gewisse  Töne  aus 
der  Perception  (partielle  Tontaubheit)  als  beweiskräftig  angesehen. 

Zweifellos  ist  die  Diagnose,  wenn  complete  Taubheit  bei  nor- 
malem Mittelohrbefunde  besteht.  Ueberhaupt  pflegt  die  Taubheit  nur 
dann  vollständig  zu  sein,  wenn  die  schallempfindenden. Organe  selbst 
erkrankt  sind.  Doch  ist  relative  Taubheit  viel  häufiger  als  absolute. 
In  den  meisten  Fällen  wird  daher  die  Diagnose  „nervöse  Taubheit" 
nur  mit  einem  mehr  oder  minder  grossen  Grade  von  Wahrschein- 
lichkeit gestellt  werden  können.  Aber  auch  da,  wo  dies  der  Fall  ist, 
ist  für  den  Neurologen  noch  nicht  viel  gewonnen,  da  die  nervöse 
Taubheit  durch  eine  Erkrankung  des  Felsenbeins  oder  des  häutigen 
Labyrinths  ebensowohl  als  durch  die  nervöser  Theile  selbst  verursacht 
sein  kann.  In  der  That  ist  jenes  weitaus  häufiger  als  dieses.  Eine 
hämorrhagische  Entzündung  des  Labyrinths  scheint  der  meist  doppel- 
seitigen Taubheit  zu  Grunde  zu  liegen,  die  relativ  oft  nach  Meningitis, 
zuweilen  nach  Eheumatismus,  Scharlach  und  anderen  Infectionskrank- 
heiten  dauernd  zurückbleibt.  Bei  hämorrhagischer  Diathese  hat  man 
Blutungen,  bei  Leukämie  leukämische  Infiltrationen  des  Labyrinths 
beobachtet  u.  s.  w.  Dass  eine  nervöse  Taubheit  Wirkung  einer  Laby- 
rintherkrankung  sei,  wird  man  besonders  dann  annehmen,  wenn  neben 
ihr  Schwindel  und  objectiv  wahrnehmbare  Gleichgewichtstörungen 
ohne  sonstige  Hirnsymptome  bestehen.  Bekanntlich  betrachtet  man 
mit  gutem  Grunde  die  halbzirkelförmigen  Kanäle  als  Organe,  von 
deren  Intactheit  die  Erhaltung  des  Gleichgewichtes  mit  abhängt. 

Eine  Läsion  des  Acusticus  selbst  oder  seiner  Fortsetzuno- 
im  Gehirn  wird  man  nur  dann  diagnosticiren  dürfen,  wenn  andere 
Symptome  und  der  Verlauf  eine  solche  Deutung  der  Gehörstörungen 
als  wahrscheinlich  erscheinen  lassen.  Eine  primäre  Degeneration  des 
Acusticus  ist  bisher  nur  bei  der  Tabes  nachgewiesen  worden.  Wenn 
daher  im  Verlaufe  der  Tabes  progressive  nervöse  Taubheit  auftritt, 
ebenso  wenn  bei  Tabes  trotz  Fehlens  einer  Mittelohrerkrankung  sub- 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  12 


178  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

jective  Gehörerscheinungen  mit  oder  ohne  Schwindel,  besonders  wenn 
die  Anfälle  Meniere'scher  Krankheit  sich  zeigen,  wird  man  zunächst 
an  die  Erkrankung  der  Hörnerven  denken.  Vielleicht  kommt  die 
letztere  auch  bei  multipler  Sklerose  vor.  Durch  Druck,  sei  es  auf 
den  Nerven,  sei  es  auf  seinen  Kern,  können  Neubildungen  und  andere 
raumbeschränkende  Erkrankungen  in  der  hinteren  Schädelgrube, 
Hydrocephalus,  der  sich  auf  den  4.  Ventrikel  erstreckt,  erst  subjective 
Sensationen,  dann  Taubheit  bewirken,  Erweichungen  der  Oblongata, 
locale  Meningitiden  und  Exostosen  u.  s.  w.  können  die  Acusticus- 
fasern  zerstören  oder  reizen  und  Gehörstörungen  hervorrufen.  In 
allen  diesen  Fällen  werden  gewöhnlich  anderweite  Symptome  vor- 
handen sein,  werden  insbesondere '  die  dem  Acusticus  benachbarten 
Nerven  in  entsprechender  Reihenfolge  leiden  und  wird  so  die  Dia- 
gnose erleichtert  werden.  Sollte  der  Acusticus  allein,  z.  B.  durch 
gummatöse  Entartung,  erkranken,  so  würde  man  über  die  Annahme 
einer  nervösen  Taubheit  nicht  hinauskommen,  üeber  Gehörstörungen 
durch  Erkrankung  der  Hemisphären  weiss  man  bis  jetzt  sehr  wenig. 
Bei  der  capsulären  Hemianästhesie  soll  meist  doppelseitige  massige 
Schwerhörigkeit  mit  vorwiegender  Betheiligung  des  Ohres  der  an- 
ästhetischen Seite  bestehen.  Hysterische  Taubheit  kann  ein-  oder 
doppelseitig,  incomplet  oder  complet  sein.  Einseitige  complete  Taub- 
heit bei  einer  Erkrankung  der  gegenüberliegenden  Hemisphäre  scheint 
bisher  nur  einmal  (Gliom  des  Scheitellappens,  Strümpell)  beobachtet 
worden  zu  sein.  Ebenso  selten  dürfte  eine  Beobachtung  "Wernicke's 
sein,  bei  der  symmetrische  gummatöse  Erweichungen  des  Stabkranzes 
beider  Schläfelappen  doppelseitige  Taubheit  bewirkt  hatten.  Im  letz- 
teren Falle  hatte  eine  Zeit  lang  sensorische  Aphasie  bestanden  und 
auf  eine  Läsion  des  Schläfelappens  hingewiesen. 

Beim  Ohre  spielen  die  subjectiven  Empfindungen  eine 
grössere  Rolle  als  bei  anderen  Sinnesorganen.  Sie  werden  gewöhnlich 
unter  der  Bezeichnung  Ohrensausen  zusammengefasst  und  bald  als 
'Wasserrauschen,,  bald  als  Fliegensummen,  Glockenklingen,  Wagen- 
rollen, Blasen,  Pfeifen,  Knallen  u.  s.  w.  beschrieben.  Häufig  bestehen 
neben  ihnen,  ausser  Schwerhörigkeit,  Schwindel  und  objectiv  wahr- 
nehmbare Gleichgewichtstörungen.  Treten  Ohrensausen  und  Schwindel 
heftig  und  in  Anfällen  auf,  so  spricht  man  von  dem  Meniere'schen 
Symptomencomplex.  Dem  einfachen  Ohrensausen  sowohl  als  der 
Meniere'schen  Krankheit  liegt  bald  eine  Erkrankung  des  Mittelohres, 
bald  eine  des  inneren  Ohres,  bald  eine  ,des  Nerven  zu  Grunde.  Ist 
das  Mittelohr  gesund,  so  handelt  es  sich  in  den  meisten  Fällen  um 
eine  Labyrinthaffection.   Eine  directe  Reizung  des  N.  acusticus  kann 


Das  Gehör.  179 

auch  hier  nur  aus  den  begleitenden  Erscheinungen  erschlossen  werden. 
Bemerkenswerth  ist,  dass  hei  der  Tabes  und  den  den  Aeusticus  treffen- 
den Gehirnerkrankungen  oft  die  Reizerscheinungen  längere  Zeit  der 
Taubheit  vorausgehen  und  nachlassen,  sobald  diese  complet  wird, 
dass  aber  u.  IL  trotz  vollständiger  Taubheit  die  Reizerscheinungen 
fortdauern  nach  Analogie  der  Anästhesia  dolorosa.  Nach  dem  Ein- 
tritte des  Aeusticus  in  das  Centralorgan  trennen  sich  wahrscheinlich 
von  den  die  Schallempfindimg  vermittelnden  Fasern  (Nervus  troch- 
learis)  die  der  Erhaltung  des  Gleichgewichtes  dienenden  (N.  vestibu- 
laris).  Es  ist  demnach  zu  erwarten,  dass  bei  centraler  Läsion  des 
Aeusticus  zwar  Taubheit  und  Ohrensausen,  nicht  aber  Schwindel  und 
Taumeln  sich  zeigen.  Letztere  Symptome  treten  in  ähnlicher  Weise 
wie  bei  Ohrenkrankheiten,  aber  ohne  Gehörstörungen  bei  Kleinhirn- 
erkrankungen auf.  Möglicher  Weise  kommt  bei  Tabes  auch  eine  auf 
den  N.  vestibularis  beschränkte  Erkrankung  vor,  die  Ursache  der 
zuweilen  ohne  Gehörstörungen  auftretenden  Schwindelerscheinungen 
sein  könnte.  Ohrensausen  begleitet  nicht  selten  Kopfschmerzen  ver- 
schiedener Art  (besonders  bei  Anämie),  tritt  mit  diesen  als  Vorläufer 
apoplektischer  Insulte  auf,  kann  dem  epileptischen  und  dem  Migräne- 
Anfälle  als  Aura  vorausgehen,  ist  ein  wichtiges  Symptom  mancher 
Vergiftungen  (Chinin,  Salicylsäure),  kann  selbständig  im  Verlaufe  sog. 
functioneller  Neurosen  sich  zeigen.  Beim  seelisch  Gesunden  behalten 
die  durch  pathologische  Reizung  des  Aeusticus  entstehenden  Sensa- 
tionen den  Charakter  mehr  oder  weniger  unbestimmter  Geräusche 
und  werden  richtig  als  subjeetiver  Natur  beurtheilt,  Irre  aber  objeeti- 
viren  sie  und  formen  sie  um  zu  allen  möglichen  Gehörwahrnehmungen. 
Wenn  nun  auch  die  meisten  Gehörhallucinationen  nicht  diesen  Ur- 
sprung haben,  vielmehr  ausschliesslich  auf  krankhafte  Processe  in 
der  Hirnrinde  zu  beziehen  sind,  so  ist  es  doch  rathsam,  bei  Gebör- 
liallucinanten  das  Ohr  zu  untersuchen,  um  bei  krankhaften  Verände- 
rungen desselben  durch  deren  Beseitigung  eine  Quelle  der  Phantas- 
mata  zu  verstopfen. 

Die  elektrische  Untersuchung  des  nervösen  Gehörapparates 
(Brenner)  kann  zwar  verschiedene  Anomalien  der  galvanischen  Keaction 
des  Aeusticus  ergehen,  doch  lassen  sich  bisher  aus  ihr  bestimmte  diagno- 
stische Schlüsse  nicht  ziehen. 

Die  Untersuchung  wird  so  angestellt,  dass  die  differente  Elektrode 
auf  den  Tragus  aufgesetzt  wird,  während  sich  die  indifferente  Elektrode  im 
Nacken  befindet.  Bei  einer  gewissen  (bei  Gesunden  gewöhnlich  ziemlich 
grossen)  Stromstärke  wird  KaS  mit  einer  Gehörsensation  beantwortet,  die 
in  der  Regel  als  Klingen,  seltener  als  Pfeifen,  Zischen,  Brummen  u.  s.  w. 
beschrieben  wird.    Bei  noch  stärkerem  Strome  entsteht  auch  bei  AnO  ein 

12* 


180  Untersuchung  des  Enipfindungsapparates. 

leises,  rasch  vorübergehendes  Klingen.  AnS  und  KaO  erregen  den  gesunden 
Gehörapparat  nicht.  Demnach  lässt  sich  die  sogenannte  Acusticusreaction 
in  folgender  Formel  (Normalformel)  darstellen: 

KaS  Kl'  (lauter  Klang) 

KaO  — 

AnS  — 

AnO  Kl  (schwacher  Klang). 
Bei  krankhaften  Zuständen  findet  man  am  häufigsten  die  Reaction  so 
verändert,  dass  die  Gehörsensationen  schon  bei  geringerer,  oft  sehr  geringer 
Stromstärke  eintreten  und  weiterhin  ungewöhnlich  laut  und  anhaltend  werden, 
während  doch  die  Normalformel  nicht  verändert  ist  („einfache  galvanische 
Hyperästhesie  des  Acusticus").  Als  hoher  Grad  der  einfachen  Hyperästhesie 
ist  die  sogenannte  „paradoxe  Reaction"  zu  betrachten,  d.  h.  Reagiren  des 
nicht  untersuchten  Ohres  im  Sinne  der  indifferenten  Elektrode  (z.  B.  Kl 
rechts,  wenn  am  linken  Ohre  AnS  ausgeführt  wird,  u.  s.  w.). 

Die  Hyperästhesie  wird  sowohl  bei  Erkrankungen  diesseits  der  Laby- 
rinthfenster, als  bei  solchen  jenseits  derselben  gefunden,  in  der  Regel  be- 
steht sie,  wenn  Ohrensausen  besteht.  Manche  nehmen  an,  dass,  wenn  bei 
AnS  und  AnD  (oder  bei  den  anderen  Reizmomenten)  das  Sausen  aufhört, 
die  Ursache  des  Geräusches  im  Nerven  selbst  liege,  dass,  wenn  der  galva- 
nische Strom  das  Sausen  nicht  verändert,  die  Ursache  ausserhalb  des  Nerven 
zu  suchen  sei.  Doch  ist  dies  wohl  nicht  ganz  sicher,  wenigstens  ist  es 
sehr  leicht  möglich,  dass  Veränderungen  des  Nerven  selbst  allen  galva- 
nischen Reizen  gegenüber  unverändert  bleiben.  Seltener  als  die  einfache 
Hyperästhesie  beobachtet  man  Hyperästhesie  mit  Veränderung  oder  Um- 
kehrung der  Formel  (KaS  —  KaO  Kl,  AnS  Kl',  AnO  — )  oder  Verände- 
rungen der  Formel  ohne  Hyperästhesie. 

III.  Der  Geruch. 

Zur  Functions prüfung  des  Olfaktorius  verwendet  man 
riechende  Stoffe,  die  nicht  gleichzeitig  (wie  Ammoniak  und  dergleichen) 
die  Gefunlsnerven,  d.  h.  die  Trigeminusfasern  der  Nase  reizen.  Natür- 
lich ist  jedes  Nasenloch  einzeln  durch  Vorhalten  des  Fläschchens  zu 
prüfen.  Man  benutzt  sowohl  sogenannte  Wohlgerüche  (ätherische  Oele. 
z.  B.  Ol.  Rosmar.,  Ol.  Aurant,,  Eau  de  Cologne,  oder  Moschus)  als 
Stinkstoffe  (Asa  foetida,  verbrannte  Federn  u.  s.  w.  u.  s.  w.).  Auch  möge 
man  darauf  achten,  ob  das  Arom  der  Speisen  und  Getränke  (z.  B. 
Vanille,  Wein),  das  in  Wahrheit  eine  Geruchsempfmdung  ist,  wahr- 
genommen wird.  Besteht  trotz  Anosmie  Wahrnehmung  des  Aroms, 
so  ist  zu  schliessen,  dass  jene  nur  durch  Verhinderung  des  Eintritts 
der  Riechstoffe  in  den  oberen  Theil  der  Nase  entsteht,  während  der 
Zugang  durch  die  Choanen  frei  ist.  Ferner  ist  nach  subjectiven 
Geruchserscheinungen  zu  fragen. 

Die  elektrische  Untersuchung  des  Geruchapparates  ist  schwer 
auszuführen.    Nach  Einführung  der  differenten  eicheiförmigen  Elektrode  in 


Der  Geruch.  181 

die  mit  38°  warmer,  0,73  proe.  NaCl-Lösung  gefüllte  Nase,  während  die 
indifferente  Elektrode  auf  der  Stirn  steht,  soll  ein  specifischer  Geruch  bei 
KaS  und  AnO  auftreten. 

U eb er e m pfindliehkeit  (Hyperaesthesia  olfact.,  Hyperosmia) 

kommt  hier  und  da  bei  nervösen  Personen,  besonders  bei  hysteri- 
schen, vor,  derart,  dass  Gerüche,  die  der  Gesunde  nicht  wahrnimmt, 
wahrgenommen  werden.  Häufiger  ist,  dass  bestimmte  Gerüche  bei 
Hysterischen  abnorm  starke  Eeaction,  Abneigung,  Ekel,  Kopfschmerz, 
Ohnmacht,  hervorrufen. 

Parästhesien  (Parosmia)  stellen  meist  unangenehme  Empfin- 
dungen dar,  Leichen-,  Schwefeldampf-,  Abtrittsgeruch  u.  s.  w.,  kommen 
zuweilen  bei  Irren  vor,  sie  sind  theils  Hallucinationen,  theils  Illu- 
sionen. Zuweilen  besteht  die  epileptische  Aura  in  einer  Geruchs- 
empfindimg. Subjective  Geruchsempfindungen  gehen  nicht  selten  der 
Anosmie  voraus  (Phosphorgeruch). 

U n empfindlichkeit  (Anaesthesia  olfact,,  Anosmia)  kann  durch 
Veränderungen  der  Xasensclüeimhaut  (Coryza,  Polypen  u.  s.  w.),  durch 
solche  des  Nerven  oder  des  Gehirns  entstehen.  Bei  Trigeminusläh- 
mung  ist  der  Geruch  scheinbar  vermindert,  weil  die  Nasenschleim- 
haut abnorm  trocken  ist,  bei  Facialislähmung  aus  derselben  Ursache 
und  weil  das  Schnüffeln  (Lähmung  des  M.  depressor  nar.)  erschwert 
ist.  Centrale  Anosmie  ist  bisher  nur  als  Theilerscheinung  der  He- 
mianästhesie  beobachtet  worden.  Bei  functionellen  Störungen  kann 
die  Anosmie  auch  doppelseitig  sein.  Nicht  selten  entsteht  ein-  oder 
doppelseitige  Anosmie  durch  Läsion,  sei  es  der  Nu.  olfact.,  sei  es  der 
Bulbi  und  Tractus  olfact.  an  der  Schädelbasis.  Tritt  nach  einem 
Trauma  (besonders  Fall  auf  den  Kopf)  Anosmie  ein,  so  kann  es  sich 
um  eine  Fractur  des  Stirn-  oder  Siebbeins  handeln,  vielleicht  auch 
um  ein  Losreissen  des  Bulbus  olf.  von  seinen  in  die  Lamina  cribrosa 
eintretenden  Aesten.  Besteht  neben  Aphasie  und  rechtseitiger  Hemi- 
plegie linksseitige  Anosmie,  so  muss  man  wohl  zunächst  an  eine 
Mtbetheiligung  der  äusseren  Wurzel  des  Tract.  olf.  durch  die  links- 
seitige Läsion  denken.  Tritt  Anosmie  im  Verlaufe  anderweiter  Ge- 
hirnkrankheiten ein,  so  kann  es  sich  entweder  um  Uebergreifen  ent- 
zündlicher Veränderungen  auf  den  Olfactorius  (Meningitis)  oder  um 
Druckatrophie  desselben  (Hydrocephalus)  handeln.  Tumoren  des  Vor- 
derlappens können,  indem  sie  den  Nerven  gegen  das  Siebbein  drücken, 
auch  einseitige  Druckatrophie  und  Anosmie  bewirken,  während  na- 
türlich beim  Hydrocephalus,  sei  er  durch  Tumoren  bewirkt  oder  idio- 
pathisch, beide  Nerven  getroffen  werden.  Caries  des  Siebbeins,  Exo- 
stosen, Gummata  des  Nerven  sind  als  Ursache  der  Anosmie  beobachtet 


182  Untersuchung-  des  Empfindungsapparates. 

worden.  Primäre  Atrophie  des  Nerven,  Anosmie  mit  oder  ohne  vor- 
ausgehende Parästhesien,  kann  Theilerscheinung  der  Tabes,  beziehungs- 
weise der  progressiven  Paralyse  sein.    Senile  Anosmie  ist  selten. 

Auf  welche  Weise  eine  Störung  des  Geruches  entstanden  ist, 
lässt  sich  nur  aus  der  Gesammtheit  der  Symptome  erschliessen. 

IV.  Der  Geschmack. 

Die  G eschniacksp r ü f u n g  beschränkt  sich  gewöhnlich  auf  die 
Zunge,  obwohl  auch  die  Gaumenbögen  und  ein  Theil  des  Eachens  zu 
schmecken  fähig  sein  sollen.  Man  lässt  den  Untersuchten  die  Zunge 
herausstrecken  und  bringt  dann  mit  einem  Glasstabe  oder  einem  klei- 
nen Pinsel  die  zu  schmeckende  Flüssigkeit  auf  die  Stelle  der  Zunge, 
die  geprüft  werden  soll.  Der  Kranke  muss  durch  Nicken  oder  Schüt- 
teln des  Kopfes,  durch  Erheben  der  Hand  oder  sonstwie  anzeigen, 
ob  er  eine  Geschmacksempfindung  hat,  dann  erst  darf  er  die  Zunge 
zurückziehen  und  angeben,  was  er  geschmeckt  hat.  Durch  diese  Vor- 
sichtsmaassregel  soll  verhütet  werden,  dassdie  zu  schmeckende  Flüssig- 
keit von  der  geprüften  Stelle  sich  auf  die  übrige  Zunge  verbreitet, 
ehe  der  Untersuchte  ein  Urtheil  abgegeben  hat.  xiuch  der  Vorschlag, 
durch  den  Finger  des  Kranken  auf  einem  Täfelchen,  das  die  Worte: 
Sauer,  Süss,  Salzig,  Bitter  enthält,  das  richtige  Wort  bezeichnen  zu 
lassen,  ist  zweckmässig.  Nach  jedem  Versuche  ist  der  Mund  mit 
Wasser  auszuspülen.  In  der  Eegel  benutzt  man  zur  Prüfung  Stoffe, 
die  die  sogenannten  Hauptarten  des  Geschmackes  repräsentiren,  Bit- 
teres (Chininlösung) ,  Süsses  (Zuckerlösimg),  Saures  (Essig),  Salziges 
(Kochsalzlösung).  Zuerst  am  besten  Zucker  und  Salz,  dann  Essig, 
zuletzt  Chinin,  da  besonders  Chinin  störenden  Nachgeschmack  ver- 
ursacht. Es  kommt  wohl  hie  und  da  partielle  Ageusis  vor,  doch 
ist  ihr  Nachweis  bisher  von  untergeordneter  Bedeutung,  die  Haupt- 
sache ist  die  Localisation,  die  Bestimmung,  welche  Theile  der  Zunge 
schmecken,  welche  nicht  oder  unvollkommen.  Insbesondere  ist  zu 
unterscheiden  das  Gebiet  des  N.  lingualis  (beziehungsweise  der  Chorda 
tymp):  vordere  Zungenhälfte,  von  dem  des  N.  glossopharyngeus :  hintere 
Zungenhälfte.  Manche  nehmen  an,  dass  auch  die  Geschmacksfasern 
des  Glossopharyngeus  aus  dem  Trigeminus  stammen.  Geschmack- 
störungen werden  von  den  Kranken  leicht  übersehen,  so  lange  sie 
noch  durch  den  Geruch  das  Arom  der  Speisen  und  Getränke  wahr- 
nehmen. 

Zu  fragen  ist  nach  subjectiven  Geschmacksempfindungen  und  nach 
deren  näheren  Umständen. 


Der  Geschmack.  183 

Die  elektrische  Untersuchung  giebt  bisher  keine  xYufschlüsse 
über  die  Geschmacksempfindung,  die  nicht  auf  andere  Weise  zu  erhalten 
wären.  Da  jedoch  der  galvanische  Strom  mit  Leichtigkeit  Geschmacks- 
empfindungen auslöst  (die  An  stärker  als  die  Iva),  so  kann  er,  wenn  er 
zur  Hand  ist,  als  bequemes  Prüfungsmittel  dienen.  Man  benutzt  am  besten 
eine  Elektrode,  die  beide  Pole  als  isolirte  Drahtenden  enthält,  steckt 
z.  B.  die  Enden  der  Leitungsschnüre  durch  ein  Stück  Kork  und  setzt  beide 
der  zu  prüfenden  Zungenstelle  auf.  Man  kann  dann  die  Reizung  sehr 
gut  localisiren  und  die  nicht  schmeckenden  Stellen  von  den  normalen  ab- 
grenzen. 

Ueberempfindlichkeit  (Hyperaesthesia  gustatoria,  Hyper- 
geusis)  kommt  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Gerachshyperästhesie  am 
ehesten  bei  Hysterischen  zur  Beobachtung. 

Parästhesien  (Parageusis) sind,  abgesehen  von  denen, die  durch 
krankhafte  Beschaffenheit  der  Mundschleimhaut  verursacht  sind,  und 
denen,  die  nach  einzelnen  Vergiftungen  (z.  B.  durch  Santonin)  auf- 
treten, ebenfalls  meist  psychische  Symptome  (Hallucinationen  oder 
Illusionen).  Hie  und  da  geben  Kranke  mit  peripherischer  Facialis- 
lähmung  an,  subjeetive  Geschmacksempfindungen  (bald  säuerlichen, 
bald  metallischen,  bald  faden  Geschmack  u.  s.  w.)  auf  der  entsprechen- 
den vorderen  Zungenhälfte  zu  haben,  die  Parästhesie  geht  dann  ge- 
wöhnlich der  Anästhesie  voraus  und  ist  wie  diese  zu  beurtheilen. 

Das  diagnostische  Interesse,  das  sich  an  die  Störungen  des  Ge- 
schmackes, besonders  an  die  Unempfindlichkeit  (Anaesthesia 
gustatoria,  Ageusis)  knüpft,  beruht  hauptsächlich  auf  dem  Umstände, 
dass  zwei  verschiedene  Nerven  die  Geschmacksempfindungen  ver- 
mitteln, deren  einer  einen  eigenthümlichen  Verlauf  hat.  Die  Fasern 
des  K  lingualis,  die  den  Geschmack  der  vorderen  Zungenhälfte  ver- 
mitteln, verbleiben  bekanntlich  (zum  grössten  Theile  wenigstens)  nicht 
im  Lingualis,  sondern  gelangen  als  Chorda  tympani  zum  Facialis  und 
treten  aus  diesem  wieder  in  den  zweiten  Ast  des  Trigeminus  über, 
mit  dem  sie  in  die  Brücke  gelangen,  um  wahrscheinlich  alsbald  eigene, 
noch  unbekannte  Wege  einzuschlagen  (vergl.  den  II.  Theil).  Wenn  diese 
Fasern  an  irgend  einer  Stelle  ihres  Weges  lädirt  wrerden,  muss  Ageusis 
einer  vorderen  Zungenhälfte  (Hemiageusis  anterior)  eintreten.  Das  Vor- 
handensein oder  Fehlen  dieser  Form  der  Geschmackstörimg  muss  daher 
begreiflicher  Weise  bei  Erkrankungen  des  Facialis  und  Trigeminus 
von  grosser  localdiagnostischer  Bedeutung  sein.  Besteht  sie  zugleich 
mit  Anästhesie  der  Zunge  gegen  tactile  Reize  u.  s.  w.  ohne  ander- 
w-eite  Trigeminussymptome,  so  darf  man  die  Läsion  im  X.  lingualis 
suchen.  Besteht  Verlust  des  Geschmackes  auf  einer  vorderen  Zungen- 
hälfte allein,  so  ist  wahrscheinlich  die  Chorda  tymp.  selbst  getroffen. 


184  Untersuchung-  des  Empfindungsapparates.. 

was  bei  Mittelolirerkrankimgen  nicht  selten  geschieht.  Besteht  das 
Symptom  neben  Facialislähmung,  so  mnss  die  zwischen  dem  Gangl. 
geniciüi  und  dem  Abgänge  der  Chorda  liegende  Strecke  des  Nerven 
erkrankt  sein.  Doch  ist  zu  bemerken,  dass  einige  Male  auch  bei 
Läsion  des  Facialis  unterhalb  des  Foramen  mastoid.  ein  gewisser 
Grad  von  Ageusis  gefunden  worden  ist.  Man  nimmt  an,  dass  in 
solchen  Fällen  rückläufige  Fasern  der  Chorda  den  Facialis  begleiten. 
um  später  zum  N.  auriculotemporalis  überzutreten.  Wenn  neben  den 
Symptomen  einer  Läsion  des  zweiten  Trigeminusastes  Ageusis  sich 
findet,  muss  die  Strecke  zwischen  dem  Gangl.  nasale  s.  sphenopa- 
latinum  und  dem  Gangl.-  Gasseri  erkrankt  sein.  Wenn  endlich  totale 
Trigeminusanästhesie  und  Ageusis  zusammen  vorkommen,  ist  eine 
Läsion  des  Trigeminusstammes  an  der  Schädelbasis  zu  diagnosticiren. 
Das  Fehlen  freilich  von  Geschmackstörimg  bei  Trigeminusläsion  lässt 
sich  nur  dann  diagnostisch  verwertheil,  wenn  die  Anästhesie  complet 
ist,  da  anderenfalls  die  Läsion  gerade  die  Geschmacksfasern  ver- 
schont haben  kann. 

Verlust  des  Geschmackes  nur  auf  der  hinteren  Zimgenhälfte  muss 
auf  Läsion  des  Glossopharyngeus  bezogen  werden.  Derartige  Fälle 
sind  äusserst  selten  und  meist  complicirter  Natur.  Da  bei  der  pro- 
gressiven Bulbärparalyse  der  Glossopharyngeus  nicht  betheiligt  ist, 
wird  Ageusis  im  Gebiete  dieses  Nerven  bei  bulbären  Symptomen 
gegen  die  Diagnose  jener  Krankheit,  für  Annahme  eines  diffusen  Pro- 
cesses  (Compression  u.  s.  w.)  zu  verwerthen  sein. 

Ageusis  einer  ganzen  Zimgenhälfte  würde  nur  dann  peripheri- 
scher Natur  sein  können,  wenn  ein  einseitiger  Process  die  Nerven- 
ursprünge  vom  Trigeminus  bis  zum  Glossopharyngeus  lädirte,  es 
müssten  dann  auch  Abclucens,  Facialis,  Acusticus  der  gleichen  Seite 
getroffen  sein.  Factisch  ist  Hemiageusis  totalis  wohl  nur  als  Theil- 
erscheinung  der  Hemianästhesie  bisher  beobachtet  worden. 

Totale  incomplete  Ageusis  ist  häufig  Folge  von  Veränderungen 
der  Zungenschleimhaut  (dickem  Belage,  abnormer  Trockenheit  u.  s.  w.). 
In  seltenen  Fällen  trifft  man  sie  bei  sonst  gesunden  Personen,  viel- 
leicht handelt  es  sich  dann  um  eine  Erkrankung  der  Nervenenden. 
Wie  die  von  einigen  Autoren  beschriebene  Ageusis  senilis  zu  er- 
klären sei,  ist  noch  unbekannt.  Auf  jeden  Fall  ist  diese  Form  sehr 
selten.  Vielmehr  erhalten  sich  Geschmack  und  Geruch  bei  Greisen 
in  der  Eegel  auffallend  gut.  Im  Uebrigen  ist  totale  Ageusis  wohl 
nur  bei  Hysterie  beobachtet  worden. 

Auch  bei  Tabes  sollen  Geschmackstörungen  vorkommen,  doch 
scheint  über  ihre  Art  nichts  Genaueres  bekannt  zu  sein. 


Das  Gefühl.  185 


V.  Das  Gefühl. 


a)  Die  ärztliche  Prüfung  der  Hautempfindlichkeit  kann  sich  ent- 
weder beschränken  auf  die  Untersuchung,  ob  Reize  dieser  oder  jener  Art 
überhaupt  noch  empfunden  werden,  oder  aber  sie  kann  darauf  ausgehen, 
die  Empfindlichkeit  zu  messen,  die  dann  reciprok  der  Reizgrösse  gesetzt 
wird.  Im  ersten  Falle  wird  man  z.  B.  festzustellen  suchen,  ob  Berührungen 
mit  dem  Finger  wahrgenommen  werden,  ob  Nadelstiche  wehthun,  ob  kalte 
Dinge  als  kalt,  warme  als  warm  empfunden  werden.  Es  ist  jedoch  ersicht- 
lich, dass  geringere  Störungen  leicht  dieser  Untersuchung  entgehen  werden, 
dass  eine  Vergleichung  der  zu  verschiedener  Zeit  erhaltenen  Ergebnisse 
schwierig  ist.  Der  Wunsch,  einen  exacten,  d.  h.  zahlenmässigen  Ausdruck 
für  letztere  zu  erlangen,  erscheint  demnach  als  sehr  berechtigt.  Es  bieten  sich 
dazu  zwei  Wege.  Einmal  kann  man  die  absolute  Empfindlichkeit  messen, 
d.  h.  den  kleinsten,  noch  eben  wahrgenommenen  Reiz  bestimmen,  zum  andern 
kann  man  zwei  Reize  feststellen,  die  einen  gegebenen  Empfindungsunter- 
schied liefern.  Das  Maass  der  Unterschiedsempfindlichkeit  zu  erlangen, 
giebt  es  drei  Methoden.  Die  Methode  der  eben  merklichen  Unterschiede 
beruht  darauf,  dass  man  den  Unterschied  zweier  Reizgrössen,  z.  B.  zweier 
Gewichtsgrössen,  bestimmt,  der  noch  eben  merklich  in  die  Empfindung  fällt; 
die  Methode  der  richtigen  und  falschen  Fälle  darauf,  dass  man  bei  einem 
so  kleinen  Unterschiede  der  Grössen,  dass  nicht  sicher  erkannt  werden  kann, 
welche  von  beiden  wirklich  die  grössere  oder  kleinere  sei,  die  Zahl  der 
richtigen  und  falschen  Urtheilsfälle  bestimmt,  d.  h.  zählt,  wie  oft  man  die 
Richtung  des  Unterschiedes  richtig  bestimmt,  wie  oft  man  sich  darüber  ge- 
täuscht hat;  die  Methode  der  mittleren  Fehler  darauf,  dass  man  sich  die 
eine  Grösse  gemessen  giebt,  die  andere  nach  dem  Urtheile  der  Empfindung 
ihr  gleich  herzustellen  sucht  und  die  durch  Nachmessen  erkannten  Fehler, 
die  man  begeht,  notirt.  Die  Grösse  der  Empfindlichkeit  ist  bei  der  ersten 
Methode  der  Grösse  des  eben  merklichen  Unterschiedes,  bei  der  zweiten 
der  Grösse  des  Unterschiedes,  der  ein  gleich  grosses  Verhältniss  richtiger 
zu  den  falschen  Urtheilsfällen  liefert,  bei  der  dritten  der  Grösse  des  aus 
allen  einzelnen  Fehlern  gezogenen  mittleren  Fehlers  umgekehrt  proportional. 
Ist  in  theoretischer  Beziehung  besonders  das  Maass  der  Unterschiedsem- 
pfindlichkeit wichtig  geworden,  so  musste  die  ärztliche  Untersuchung  von 
ihm  wegen  der  Schwierigkeit  der  Methoden  im  Grossen  und  Ganzen  von 
vornherein  absehen.  Nur  die  Methode  des  eben  merklichen  Unterschiedes 
hat  auch  zu  praktischen  Zwecken,  nämlich  bei  Bestimmung  der  Druck-  und 
Temperaturempfindlichkeit,  Anwendung  gefunden.  Im  Uebrigen  handelt  es 
sich  um  Feststellung  der  absoluten  Empfindlichkeit. 

Soll  die  Empfindlichkeit  einer  Hautstelle  gemessen  werden,  so  wird  es 
nicht  genügen,  für  eine  bestimmte  Art  von  Reizen  den  noch  eben  wahr- 
nehmbaren zu  bestimmen,  da  die  sogenannten  Gefühlsqualitäten  von  ein- 
ander relativ  unabhängig  sind.  Man  wird  verschiedene,  den  hauptsächlichsten 
Qualitäten  der  Empfindung  entsprechende  Reize  anwenden,  es  wird  sich 
demnach  darum  handeln,  das  Tast-  und  Druckgefühl,  das  Temperaturgefühl 
und  die  Schmerzempfindlichkeit  zu  messen.  Die  gewonnenen  Werthe  haben 
nur  für  eine  bestimmte  Hautstelle  Geltung. 

Die  bisher  dem  ärztlichen  Gebrauche  empfohlenen  Methoden  sind  nun 


186  Untersuchung  des  Empftndungsapparates. 

etwa  folgende.  An  erster  Stelle  verdient  ihrer  historischen  Bedeutung  wegen 
die  Weber'sche  Methode  genannt  zu  werden,  nach  der  die  eben  merkliche 
Distanz  zweier  Zirkelspitzen  auf  der  Haut  bestimmt  wird.  Sie  misst  die 
Fähigkeit  der  Haut,  extensive  Grössen  abzuschätzen. 

Sieveking  hat  ein  Instrument,  das  sogenannte  Aesthesiometer,  an- 
gegeben, das  die  Ausführung  der  Weber'schen  Methode  erleichtert.  Es  be- 
steht aus  einem  in  Millimeter  getheilten  Metallbalken,  der  zwei  mit  abge- 
stumpften Hornspitzen  versehene  Querbalken  trägt.  Der  eine  der  letzteren 
ist  verschiebbar,  so  dass  die  beiden  Spitzen  in  einen  beliebigen  Abstand 
gebracht  werden  können.  Beim  Gebrauche  setzt  man  beide  Spitzen  gleich- 
zeitig und  massig  fest  auf  die  zu  untersuchende  Hautstelle,  am  besten  immer 
in  sagittaler  Richtung,  und  bestimmt,  indem  man  in  wiederholten  Versuchen 
von  kleineren  zu  grösseren  Abständen  aufsteigt,  den  Abstand,  bei  dem  die 
Spitzen  deutlich  als  zwei  gefühlt  werden.  Beim  Gesunden  erhält  man  für 
verschiedene  Hautstellen  verschiedene  Werthe,  etwa  in   folgender  Weise: 

Zungenspitze 1  Mm. 

Fingerspitze 2      = 

Lippenroth 3      = 

Dorsalfläche  der  1.  und  2.  Phalanx  und  Innen- 
fläche der  Finger 6      e 

Nasenspitze 7      * 

Thenar  und  Hypothenar 8      = 

Kinn 9      * 

Spitze  der  grossen  Zehe,  Wangen,  Augenlider     12      - 

Glabella 13      = 

Ferse. 22      * 

Handrücken 30      - 

Hals 35      = 

Vorderarm,  Unterschenkel,  Fussrücken ...     40      * 

Eücken 60 — 80      * 

Oberarm  und  Unterschenkel 80      = 

Man  spricht  auch  von  „Empfindungs-"  oder  ,, Tastkreisen",  indem  man 
sich  vorstellt,  dass  die  ermittelten  Distanzen  Durchmesser  von  Kreisen 
gleicher  Empfindlichkeit  darstellen.  In  Wirklichkeit  handelt  es  sich  nicht 
um  eigentliche  Kreise,  sondern  die  noch  eben  gefühlte  Distanz  ist  etwas 
verschieden,  je  nachdem  die  Spitzen  in  sagittaler  oder  transversaler  Richtung 
oder  sonstwie  aufgesetzt  werden.  Unter  Vergrösserung  der  Tastkreise  ver- 
steht man  Zunahme  der  noch  eben  gefühlten  Distanz,  d.  h.  Abnahme  des 
Vermögens,  extensive  Grössen  zu  schätzen. 

Einen  Apparat  zur  Messung  des  Tastsinns,  des  Vermögens,  die  Ober- 
fläche der  Körper  zu  beurtheilen,  hat  Rumpf  empfohlen.  Der  Apparat, 
der  von  Hering  angegeben  worden  ist,  besteht  aus  einer  runden  Metall- 
platte, auf  der  eine  Anzahl  Stäbe  im  Kreise  stehen.  Der  erste  dieser  Stäbe 
ist  ganz  glatt,  die  folgenden  sind  mit  verschieden  dicken  Drähten  um- 
wickelt. Der  Tastsinn  ist  proportional  der  Fähigkeit,  die  Grade  der  Rauhig- 
keit dieser  Stäbe  zu  unterscheiden.  Bei  der  Prüfung  soll  es  zweckmässig 
sein,  den  Apparat  auf  33°  zu  erwärmen. 

E.  H.  Weber  hat  ferner  die  Empfindlichkeit  für  Druckunterschiede 
messen  gelehrt  durch  Aufsetzen  von  Gewichten  auf  die  Haut.    Die  Prüfung 


Das  Gefühl.  187 

kann  mit  verschiedenen  Geldmünzen,  deren  eine  verschieden  grosse  Zahl 
aufgelegt  wird  (Eigenbrodt),  oder  mit  Schachteln,  die  gleich  gross  sind, 
aber  verschiedene  Gewichtsmengen  von  Schrot  oder  dergl.  enthalten,  aus- 
geführt werden.  Dabei  muss  das  Muskelgefühl  dadurch  ausgeschlossen 
werden,  dass  der  untersuchte  Theil  gut  gestützt  und  unverrückbar  gelagert 
wird,  müssen  die  Zeiten  zwischen  dem  Auflegen  verschiedener  Gewichte 
gleich  gross  sein,  muss,  wenn  es  sich  um  Metallgewichte  handelt,  ein 
schlechter  Wärmeleiter  (Holz,  Pappe)  untergelegt  werden.  Nach  Webe  r 
empfinden  die  Fingerspitzen  einen  Druckunterschied  von  29  :  30  (ähnlich 
Lippen,  Zunge  u.  s.  w.),  die  Vorderarme  von  18  :  20  (ähnlich  Brust,  Unter- 
schenkel u.  s.  w.).  Eine  Modifikation  dieser  Methode  stellt  Eulenburg's 
Barästhesiometer  dar,  das  nicht  durch  verschiedene  Gewichte,  sondern 
durch  Andrücken  eines  Knöpfchens  an  die  Haut  mittels  einer  Spiralfeder 
wechselnde  Druckgrössen  erzeugt.  Aehnlich  war  schon  D  ohrn  vorgegangen, 
indem  er  ein  Stäbchen  durch  eine  mit  verschiedenen  Gewichten  belastete 
Wagschale  gegen  die  Haut  andrücken  Hess.  Das  Minimum  der  Druck- 
empfindung bestimmte  zuerst  Kamm ler  dadurch,  dass  leichte,  eventuell 
durch  Auflage  vergrösserte  Gewichte  aus  Hollundermark,  Kork,  Karten- 
papier von  9  Qmm.  ganz  langsam  und  möglichst  senkrecht  auf  den  zu 
prüfenden  Theil  herabgelassen  wurden.  Eine  zweite  Methode  gab  Goltz 
an,,  indem  er  durch  einen  Apparat,  mit  dem  sich  künstliche  Pulswellen 
hervorbringen  Hessen,  das  Druckminimum  in  Gestalt  der  noch  eben  fühl- 
baren Welle  aufsuchte;  für  den  praktischen  Gebrauch  hat  Bastelberger 
einen  Apparat  nach  Goltz 's  Princip  construirt.  Ein  mit  Wasser  gefüllter 
Gummischlauch  trägt  an  seinem  vorderen  Ende,  das  dem  zu  untersuchen- 
den Körpertheile  angelegt  wird,  einen  fingerförmigen,  dehnbaren  Aufsatz. 
An  seinem  hinteren  Ende  befindet  sich  ein  Stempel,  der  den  Druck  im 
Schlauche  regulirt.  Die  Druckschwankungen  werden  durch  eine  mit  Ge- 
wichten beschwerte  Schale  einer  Wage,  vermittels  einer  Pelotte,  ausgeübt. 
Die  Wage  befindet  sich  in  einem  Kasten,  aus  dem  nur  die  beiden  Enden 
des  Schlauches  hervorragen.  In  eigenthümlicher  Weise  wollte  A.  Frey  die 
„Tastempfindlichkeit"  messen.  Er  construirte  einen  Apparat,  in  dem  durch 
eine  Feder  von  veränderlicher  Spannung  kleine  Körperchen  von  unten  an 
eine  Hautstelle  angeschleudert  werden.  Entweder  wird  bei  gleicher  Flug- 
bahn das  Gewicht  des  Körperchens  verändert,  bis  das  Minimum  der  Em- 
pfindung erreicht  ist,  oder  bei  gleichem  Gewicht  wird  die  Wurfhöhe  ver- 
ändert. 

Bei  Messung  des  Temperatursinnes  kann  es  sich  nur  um  die  Unter- 
schiedsempfindlichkeit handeln.  Zur  Bestimmung  des  eben  merklichen  Unter- 
schiedes tauchte  Weber  den  Finger  schnell  hintereinander  in  Wasser  von 
verschiedener  Temperatur,  oder  auch  er  setzte  mit  Oel  gefüllte  und  in 
verschiedenem  Grade  erwärmte  Glasfläschchen  auf  die  zu  prüfende  Haut- 
stelle. Nothnagel  nahm  an  Stelle  der  Glasflaschen  mit  Wasser  gefüllte 
Kupfercylinder,  die  an  den  Seiten  mit  einer  schlecht  leitenden  Schicht 
umgeben  waren  und  durch  eine  Oeffnung  im  Deckel  eingeführte  Thermo- 
meter enthielten.  Eulenburg  beschrieb  ein  Thermästhesiometer,  bestehend 
aus  zwei  an  einem  Stativ  befestigten  Thermometern  mit  breiten  Endflächen, 
die  in  verschiedener  Weise  erwärmt  und  in  variablem  Abstände  an  die 
Haut  angedrückt  werden  können.     Man  liest,    während  die  Temperaturen 


188  Untersuchung  des  Empfmdimgsapparates. 

beider  Thermometer  sich  ausgleichen,  die  noch  eben  merkliche  Differenz 
ab.  Später  hat  Eulenburg  ein  complicirteres  Instrument  empfohlen.  Tem- 
peraturen zwischen  27  und  33  °  C.  werden  am  feinsten  unterschieden.  In- 
nerhalb dieser  Grenzen  fand  Nothnagel  als  eben  wahrnehmbaren  Unter- 
schied: an  den  Armen  0,2U,  an  der  Wange  0,2 — 0,4°,  an  denSchläfen  0,3 — 0,4°, 
am  Handrücken  0,3°,  in  der  Hand  und  auf  dem  Fussrücken  0,4",  am  Bein 
0,5 — 0,6°,  am  Rücken  0,9°,  also  durchschnittlich  etwa  0,5°.  Man  hat  auch 
die  Grenzen  des  Temperatursinnes  zu  messen  gesucht  und  sowohl  einen 
Kälteschmerzmesser  (Kryalgimeter),  als  einen  Wärmeschmerzmesser  (Therm- 
algimeter)  consrruirt.  Jener  besteht  aus  einem  Thermometer  mit  einem 
breiten,  der  Haut  aufzusetzenden  Quecksilbergefäss,  das  beim  Versuche 
durch  einen  Aethersprühregen  abgekühlt  wird,  dieses  besteht  aus  einem 
Thermometer,  dessen  Quecksilbergefäss  mit  einem  durch  einen  galvanischen 
Strom  zu  erhitzenden  Platindraht  umwickelt  ist.  Es  ergab  sich,  dass  der 
Kälteschmerz  an  manchen  Hautstellen  leichter  eintritt  (besonders  Ellen- 
bogen) als  an  anderen  (besonders  Fingerspitzen),  er  variirte  zwischen-}- 2,8° 
und  —  11,4°  C.  Der  Wärmeschmerz  variirte  nach  den  verschiedenen  Haut- 
steilen  zwischen  36,3  und  52,6  C.  Golds ch eider  hat  gezeigt,  dass  Kälte- 
Empfindlichkeit  und  Wärme-Empfindlichkeit  gesondert  untersucht  werden 
müssen.  Er  hat  gefunden,  dass  derselbe  Kälte-,  bez.  Wärmereiz  normaler- 
weise an  verschiedenen  Stellen  der  Haut  Empfindungen  von  verschiedener 
Stärke  hervorruft.  Die  an  der  Hautob  er  fläche  vorhandenen  örtlichen  Unter- 
schiede werden  von  ihm  in  12  Abstufungen  der  Kälte-  und  8  der  Wärme- 
Empfindlichkeit  gesondert,  und  von  jeder  Hautstelle  wurde  bestimmt,  welcher 
Abstufung  sie  normalerweise  zugehört.  Besteht  in  einem  Gebiete  eine 
Herabsetzung  der  Temperaturempfindlichkeit,  so  entsteht  an  den  zugehörigen 
Prüfungstellen  bei  der  Berührung  mit  einem  erwärmten  (abgekühlten)  Metall- 
cylinder  eine  schwächere  Wärme-(Kälte-)Empfindung  als  an  Stellen  gleicher 
Stufe,  die  normalen  Gebieten  angehören,  und  eine  ebenso  starke  wie  an 
Stellen  niedrigerer  Stufen.  Man  kann  sagen:  die  Wärme- (Kälteempfind- 
lichkeit dieses  Gebietes  ist  um  so  und  soviel  Stufen  herabgesetzt. 

Besondere  Schwierigkeiten  bietet  die  Messung  der  Schmerzempfindlich-; 
keit.  Björnström  (Upsala  1877)  hat  ein  Algesimeter  angegeben.  Es 
besteht  aus  einer  Pincette,  zwischen  deren  Arme  eine  Hautfalte  eingeklemmt 
und,  bis  Schmerz  entsteht,  zusammengedrückt  wird.  Die  an  einem  Ziffer- 
blatte ablesbare  Druckgrösse  ist  das  Maass  der  Schmerzempfindlichkeit. 
Buch  coustruirte  ein  „Baralgesimeter"  zur  Druckschmerzmessung  an  jedem 
beliebigen  Körpertheile.  Es  ist  wesentlich  eine  Wiederholung  des  Eulenburg'- 
schen  Instrumentes.  Eine  brauchbare  Methode,  die  Schmerzempfindlichkeit 
der  Haut  zu  messen,  besitzen  wir  nicht.  In  gewissem  Grade  aber  geht 
die  Empfindlichkeit  gegen  inducirte  elektrische  Ströme  der  Schmerzempfind- 
lichkeit parallel,  die  von  Leyden  u.  A.  empfohlene  elektrocutane  Sensi- 
bilitätsprüfung bietet  daher  für  jenen  Maugel  einen  gewissen  Ersatz.  Sie 
wird  am  zweckmässigsten  derart  angestellt,  dass,  während  der  eine  Pol 
als  feuchte  breite  Platte  auf  einer  indifferenten  Stelle  ruht,  der  andere  als 
weicher  Pinsel  der  zu  untersuchenden,  sorgfältig  getrockneten  Hautstelle 
leise  applicirt  wird.  Man  nähert  alsdann  die  secundäre  Rolle  der  primären 
des  Dubois'schen  Schlittens  soweit,  dass  das  Minimum  der  Empfindung  er- 
reicht wird,  und  notirt  den  Rollenabstand  als  der  Empfindlichkeit  reciprok. 


Das  Gefühl.  189 

Die  Zahlen,  die  sich  bei  Prüfung  der  verschiedenen  Bautstellen  ergeben, 
sind  natürlich,  je  nach  den  verschiedenen  Apparaten,  verschiedene.  Nur 
das  Verhältniss  zwischen  der  elektrocutancn  Sensibilität  verschiedener  Kör- 
pertheile  lässt  sich  allgemein  gültig  ausdrücken.  Es  ergiebt  sich  etwa 
folgende  Scala: 

Gesichtshaut 1,00      Handrücken 0,80 

Zunge 0,S5      Fingerspitzen 0,65 

Hals 0,95      Oberschenkel 0,80 

Brust 0,85      Unterschenkel  und  Fussrücken  0,75 

Rücken 0,80      Fusssohle 0,50 

Arm 0,S5 

Die  elektrische  Prüfung  der  Hautempfindlichheit  hat  den  grossen  Vor- 
theil,  dass  besonders  bei  einseitigen  Störungen  man  mit  ziemlich  geringem 
Aufwand  an  Zeit  und  Mühe  ein  relativ  sicheres  zahlenmässiges  Ergebniss 
erlangt.  Sie  hat  den  Nachtheil,  dass  man  eigentlich  nicht  genau  weiss, 
welchen  „Sinn"  der  Haut  man  misst.  Die  elektrocutane  Sensibilität  geht 
zwar,  wie  oben  bemerkt,  in  der  Regel  der  Schmerzempfindlichkeit  ungefähr 
parallel,  doch  ist  dies  nicht  immer  der  Fall  und  dieses  Verhältniss  muss 
daher  an  jedem  Kranken  erst  geprüft  werden.  Welche  Functionstörung 
der  Empfindungsapparat  bei  Veränderungen  der  elektrocutanen  Sensibilität 
zeigt,  ergiebt  sich  nicht  ohne  Weiteres,  weder  für  die  „absolute"  Empfind- 
lichkeit, noch  für  ein  besonderes  Vermögen  geben  jene  einen  Maassstab.. 
Die  Fähigkeit,  den  Ort  des  Reizes  anzugeben,  das  Localisationsver- 
mögen,  könnte  man  messen  nach  Art  der  Methode  des  mittleren  Fehlers, 
wenn  man  notirte,  um  wie  viel  in  jedem  Falle  der  Untersuchte  sich  irrt, 
und  aus  einer  Reihe  von  Versuchen  das  Mittel  zöge. 

Messbar  endlich  ist  die  Zeit  zwischen  Reiz  und  Empfindung.  Die  be- 
treffenden physiologischen  Methoden  sind  wegen  der  schwierigen  und  zeit- 
raubenden Handhabung  von  vornherein  vom  praktischen  Gebrauche  aus- 
geschlossen. Ein  Metronom  oder  eine  Secundenuhr  dienen  am  Kranken- 
bette zur  Messung  der  hier  vorkommenden  starken  Verzögerungen  der 
Empfindung. 

Alle  Maassmethoden  stellen  Ansprüche  an  den  Untersucher  und  den 
Untersuchten.  Die  beste  Methode  führt  nicht  zum  Ziele,  wenn  der  sich 
ihrer  Bedienende  sie  nicht  beherrscht.  Dazu  aber  gehört  Uebung  und 
Kenntniss  aller  der  grossen  und  kleinen  Schwierigkeiten,  die  vorkommen. 
Bekanntschaft  mit  der  (umfangreichen)  Literatur  und  persönliche  Erfahrung 
sind  unerlässlich.  Dem,  der  diesen  Ansprüchen  nicht  genügt,  wird  eine 
Methode  um  so  weniger  nützen,  je  feiner  sie  ist,  die  relativ  richtigsten 
Resultate  wird  er  mit  einer  möglichst  groben  Untersuchung  erlangen.  Auch 
von  dem  Untersuchten  wird  mancherlei  verlangt.  Bei  den  physiologischen 
Untersuchungen  hat  sich  herausgestellt,  dass  bei  jedem  Subject  eine  Zeit 
der  Uebung  vergehen  muss,  ehe  die  an  ihm  erlangten  Resultate  einstim- 
mig werden.  Der  Untersuchte  muss  die  Fähigkeit  besitzen,  seine  Aufmerk- 
samkeit längere  Zeit  auf  schwache  Empfindungen  concentriren  zu  können, 
eine  Fähigkeit,  die  entsprechend  geringer  geistiger  Entwicklung  fehlen 
oder  durch  krankhafte  Veränderungen  verloren  werden  kann.  Diese  Ver- 
hältnisse sind  eine  überaus  reichlich  fliessende  Quelle  der  Irrthümer,  die 
bei  klinischen  Prüfungen  in  erster  Linie  zu  beachten  ist.    Zu  geringes  oder 


190  Untersuchung'  des  Empfindungsapparates. 

zu  hohes  Alter,  mangelhafte  Bildung,  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  durch 
Schmerzen,  durch  aufregende  und  verwirrende  psychische  Eindrücke,  cere- 
brale Erkrankungen  u.  s.  w.  kommen  in  Frage.  Nötkig  und  nicht  immer 
vorhanden  ist  endlich  der  gute  Wille.  Auch  von  Seite  des  Untersuchten 
aus  werden  die  Fehler  um  so  grösser  und  zahlreicher  werden,  je  compli- 
cirter  die  Methode  ist.  Gerade  die  Methoden,  die  bei  psychophysischen 
Experimenten  vermöge  ihrer  Feinheit  die  elegantesten  Resultate  geben, 
werden  im  kleinsten  Umfange  anwendbar,  d.  h.  für  den  Arzt  am  wenigsten 
brauchbar  sein.  Die  wahre  Exactheit  besteht  darin,  zuverlässige  Angaben 
zu  machen,  nicht  darin,  unter  allen  Umständen  Zahlen  zu  liefern. 

Das  Gesagte  findet  auf  die  einzelnen  Methoden  in  verschiedenem  Grade 
Anwendung.  Die  Weber' sehe  Methode  zur  Bestimmung  der  extensiven  Haut- 
empfindlichkeit sollte  bei  Kranken  nur  unter  besonders  günstigen  Umständen 
zur  Anwendung  kommen.  Ihre  Schwierigkeiten  sind  zahlreich.  Sie  fordert 
von  dem  Untersucher  peinliche  Genauigkeit;  dahin  gehören  stets  gleich- 
massiges  Aufsetzen  der  Zirkelspitzen,  Beachtung  ihrer  Temperatur,  Beachtung 
der  Zeit  zwischen  den  Einzelversuchen  u.  s.  w.  Von  Seiten  des  Untersuchten 
wird  ein  nicht  geringes  Maass  der  Fähigkeit  zur  Selbstbeobachtung  ge- 
fordert. Der  Einfluss  der  Uebung  ist  bei  dieser  Methode  gross.  Nach  ihr 
angestellte  Versuchsreihen  sind  nur  dann  vergleichbar,  wenn  alle  Neben- 
umstände auf  das  Peinlichste  gleich  gemacht  worden  waren.  Es  erscheint 
demnach  zweckmässig,  den  Gebrauch  dieser  Methode  zu  klinischen  Zwecken 
mehr  einzuschränken,  als  es  bisher  vielfach  der  Fall  gewesen  ist.  Dies 
um  so  mehr,  da  wir  durch  sie  trotz  aller  Mühe  und  Zeitverluste  nichts 
bestimmen,  als  die  Fähigkeit,  extensive  Grössen  abzuschätzen.  Sie  bietet 
nichts  weniger  als  ein  Maass  der  Hautempfindlichkeit  überhaupt.  Sie  giebt 
auch  keinen  directen  Aufschluss  über  das  Localisationsvermögen,  wie  Ein- 
zelne zu  glauben  scheinen.  Bei  sehr  vielen  Autoren  findet  sich  als  selbst- 
verständlich die  Meinung,  durch  die  Weber'sche  Zirkelmethode  werde  das 
Tastgefühl  gemessen.  Dies  ist  zum  Mindesten  eine  gänzlich  unerwiesene 
Behauptung.  Mag  auch  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Veränderung  der 
extensiven  Hautempfindlichkeit  der  des  Vermögens  zu  tasten  überhaupt 
proportional  sein,  so  braucht  sie  es  doch  nicht  zu  sein.  Ob  z.  B.  die  Fähig- 
keit, die  Beschaffenheit  der  Oberflächen  durch  das  Gefühl  zu  bestimmen, 
mit  der  Vergrösserung  der  sogenannten  Tastkreise  immer  abnimmt,  wäre 
auf  jeden  Fall  erst  durch  besondere  Versuche  festzustellen.  Als  Prüfung 
des  Tastgefühls,  bei  dem  es  sich  ja  wesentlich  um  kleine  Druckschwan- 
kungen handelt,  könnte  auch  die  Goltz'sche  Wellenmethode  bezeichnet 
werden.  Sie  scheint  sich  mittels  des  Bastelberger'schen  Apparates  ziemlich 
leicht  ausführen  zu  lassen  und  verspricht  zuverlässige  Resultate.  Ich  habe 
über  sie  keine  eigene  Erfahrung  und  weiss  nicht,  ob  sie  bisher  in  aus- 
gedehnter Weise  Anwendung  gefunden  hat.  Kammler 's  Verfahren  ist 
zu  praktischen  Zwecken  ganz  ungeeignet,  übrigens  auch  nicht  dazu  em- 
pfohlen. Auch  die  Methode  Frey's  kann  man  kurzer  Hand  als  zu  com- 
plicirt  bei  Seite  legen.  Die  Prüfung  der  Unterschiedsempfindlichkeit,  wie 
sie  bei  der  Untersuchung  des  Druckgefühls  nach  E.  H.  Weber  oder  mittels 
des  Eulenburg'schen  Barästhesiometers  ausgeführt  wird,  ist  im  Allgemeinen 
schwieriger  als  die  der  absoluten  Empfindlichkeit,  stellt  insbesondere  an 
die  Intelligenz  des  Untersuchten  höhere  Ansprüche.     Bei  den  Drucksinn- 


Das  Gefühl.  191 

Prüfungen  mittels  Gewichten  sind  viele  Cautelen  zu  berücksichtigen,  um 
nicht  zu  sehr  fehlerhaften  Resultaten  zu  gelangen.  Ein  Theil  der  Schwierig- 
keiten ist  wohl  durch  Eulenburg's  Instrument  gehoben.  Doch  bemerkt 
Erb  mit  Recht,  dass  er  die  damit  erlangten  Resultate  ziemlich  unsicher 
finde;  es  komme  zu  viel  darauf  an,  mit  welcher  Schnelligkeit  man  die 
verschiedenen  Grade  des  Druckes  eintreten  lasse.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  das  Resultat  der  Drucksinnprüfung  nicht  allein  von  der  Sensibilität 
der  Haut  abhängig  ist.  Richtet  sich  schon  beim  Gesunden  die  Druck- 
empfindlichkeit der  verschiedenen  Hautstellen  zum  Theil  nach  der  Be- 
schaffenheit der  Unterlage  (man  kann  z.  B.  mit  der  Zunge  den  Puls  nicht 
fühlen),  so  können  auch  pathologische  Veränderungen  der  letzteren  den 
Drucksinn  alteriren.  Die  Messung  des  Temperaturgefühls  bietet  ähnliche 
Schwierigkeiten  wie  die  anderen  Prüfungen  der  Unterschiedsempfindlich- 
keit. Goldscheide r 's  Methode  hat  zweifellos  grossen  Werth,  ist  aber 
doch  nicht  leicht  anzuwenden.  Wenig  oder  gar  nicht  geeignet  zur  Messung 
der  Schmerzempfindlichkeit  ist  Björnström 's  Verfahren.  Es  ist  nicht 
möglich,  immer  gleich  hohe  Hautfalten  aufzuheben,  an  vielen  Körperstellen 
lassen  sich  überhaupt  feine  Falten  nicht  bilden,  die  Art  der  Anheftung 
und  Unterlage  der  Haut  bei  den  verschiedenen  Individuen  ist  wichtiger  für 
das  Resultat  als  der  Grad  der  Hautempfindlichkeit  selbst,  die  Schnelligkeit, 
mit  der  der  Druck  eintritt,  ist  von  grossem  Einflüsse  auf  die  Grösse  des 
Schmerzes.  Die  Prüfung  der  elektrocutanen  Sensibilität  giebt  ziemlich  zu- 
verlässige Resultate,  doch  fordert  sie  eine  gewisse  Vertrautheit  mit  dem 
Gebrauch  elektrischer  Apparate.  Ausserdem  liegt  in  dem  wechselnden 
Leitungswiderstande  der  Epidermis  eine  schwer  zu  eliminirende  Fehler- 
quelle. Auch  mischen  sich  leicht  Empfindungen  tieferer  Theile  störend 
ein,  da  der  Strom  durch  den  Körper  hindurch  gehen  muss.  Das  Resultat 
dieser  Prüfung  sagt  uns  eigentlich  nur,  wie  empfindlich  die  Haut  gegen 
elektrische  Reize  ist.  Es  ist  demnach  auch  bei  dieser  Untersuchung  frag- 
lich, ob  der  Lohn  der  Mühe  werth  ist. 

Summa  summarum,  so  wünschenswerth  es  erscheint,  die  Sensibilität 
des  Kranken  messen  zu  können,  so  sehr  theoretische  Erwägungen  zur 
Anwendung  der  Maassmethoden  drängen,  so  ergiebt  andererseits  die  Er- 
fahrung, dass  die  am  Krankenbette  sich  entgegenstellenden  Schwierigkeiten 
gross,  zum  Theil  unüberwindlich  sind.  Von  den  vorgeschlagenen  Maass- 
methoden sind  mehrere  unbrauchbar,  alle  sind  mühsam,  zeitraubend,  liefern 
am  Krankenbette  selten  ganz  zuverlässige  Resultate.  Es  ist  demnach  wenig- 
stens vor  der  Hand  gerathen,  bei  klinischen  Untersuchungen  auf  die  exaete, 
nach  Art  der  Physiologen  ausgeführte  Messung  der  Hautempfindlichkeit 
nicht  zu  viel  Gewicht  zu  legen,  im  Allgemeinen  sich  auf  die  Anwendung 
einfacherer  Prüfungsarten  zu  beschränken.  Diese  sind  ohne  besondere 
Apparate  überall  und  jederzeit  auszuführen,  fordern  geringen  Zeitaufwand 
und  können  auch  von  dem  weniger  Geübten  angewandt  werden.  Irgendwie 
stärkere  Sensibilitätstörungen  entgehen  auch  ihnen  nicht  und  über  den  Grad 
der  Störung  gestatten  sie  immerhin  ein  annäherndes  Urtheil.  Diese  Vor- 
züge würden,  wenn  die  Maassmethoden  wirklich  genaue  Messungen  ver- 
sprächen, weniger  ins  Gewicht  fallen,  zusammen  aber  mit  den  gegen  jene 
geltenden  Bedenken  sichern  sie  den  einfachen  Prüfungsweisen  den  Vor- 
rang.  In  der  Wirklichkeit  pflegen  sich  denn  auch  die  meisten  Neurologen 


192  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

mit  den  einfachen  Sensibilitätsprüfungen  zu  begnügen,  nur  ausnahnieweise 
diese  oder  jene  der  Maassniethoden  zu  benutzen.  Letztere  scheinen  in 
den  Büchern  eine  grössere  Rolle  zu  spielen  als  im  Leben. 

Wenn  in  dieser  Weise  die  einfacheren  Untersuchungsarten  bevorzugt 
werden,  so  soll  darum  die  Untersuchung  nicht  oberflächlich  werden.  Viel- 
mehr wird  es  gelten,  durch  die  Anwendung  vielfach  variirter  Reize  sich 
ein  möglichst  genaues  Bild  von  der  Empfindlichkeit  des  Kranken  zu  ver- 
schaffen. Alle  die  Reize,  die  im  gewöhnlichen  Leben  häufig  die  Haut 
treffen,  können  angewendet  werden,  und  nach  allen  Seiten  hin  kann  die 
Untersuchung  sich  "erstrecken. 

Die  klinische  Prüfung-  der  Hautempfindlichkeit  wird  zweckmässig' 
in  folgender  Weise  angestellt. 

Als  allgemeine  Kegel  gilt,  dass  der  G-esichtsinn  auszuschliessen 
ist.  Am  einfachsten  ist  es,  die  Augen  weg  wenden,  schliessen  zu 
lassen,  doch  werden  durch  letzteres  manche  Kranke  irritirt,  man 
nrnss  dann  durch  einen  Schirm  oder  dergleichen  die  operirende  Hand 
verdecken. 

Bei  allen  Untersuchungen  sind  Controlversuche  angezeigt,  die 
an  der  analogen  Haut  stelle  eines  Gesunden,  am  Besten  des  Unter- 
suchers, bei  einseitigen  Erkrankungen  an  der  symmetrischen  Stelle 
angestellt  werden. 

Wichtig  ist  es  auch,  zu  bemerken,  dass,  wenn  über  Sensibilität- 
störungen berichtet  wird,  Angaben,  wie  „der  Tastsinn  war  erhalten", 
relativ  wenig  Werth  haben.  Man  sollte  sagen,  der  Kranke  reagirte 
so  und  so  auf  die  und  die  Eeize.  Handelt  es  sich  um  feinere  Ver- 
hältnisse, so  ist  die  genaue  Angabe  der  Methode  unerlässlich,  denn 
jede  Variation  der  Methode  giebt  auch  eine  Variation  im  Ergebnisse. 

1.  Es  wird  die  Berührungsempfindlichkeit  untersucht. 
Der  Kranke  muss  angeben,  ob  er  zarte  Berührungen  mit  der  Finger- 
spitze empfinde.  Er  hat  jede  Berührung  mit  Ja  oder  Jetzt  zu  be- 
antworten. Zwischengeschobene  „leere"  Versuche,  wo  der  Arzt  fragt 
„Jetzt?",  ohne  den  Kranken  zu  berühren,  verhindern  Täuschungen. 

Der  gesunde  Mensch  nimmt  zarte  Berührungen  überall  deutlich 
wahr,  fühlt  sie  der  Kranke  nicht,  oder  fühlt  er  von  den  Berührungen 
eine  grössere  Zahl  nicht,  so  ist  die  Berührungsempfindlichkeit  herab- 
gesetzt. Bei  schwacher  Anästhesie  sagen  zuweilen  die  Kranken :  „ich 
fühle  die  Berührung,  aber  nicht  deutlich  wie  sonst". 

Wenn  man  will,  kann  man  das  Tastvermögen  weiter  da- 
durch prüfen,  dass  man  glatte  und  rauhe  Körper  unterscheiden  lässt. 
Empfehlenswerth  zu  dieser  (meist  entbehrlichen)  Untersuchung  sind 
gleich  grosse  Holzcylinder,  die  mit  verschiedenen  Stoffen  (Leinwand, 
Seide,  Tuch,  Wolle,  Pelz)  überzogen  sind. 


Das  Gefühl.  193 

Weiter  kann  man  Striche  auf  der  Haut  machen,  deren  Grösse 
and  Richtung  beurtheilen  lassen.  Handelt  es  sich  um  Grrössenbeurthei- 
lung,  so  spricht  man  von  „extensiver  Empfindlichkeit".  Den 
Ausdruck  „Raum sinn",  der  gewöhnlich  bei  der  Weber'schen  Me- 
thode gebraucht  wird,  vermeidet  man  am  besten  ganz. 

2.  Zur  Prüfung  des  sogenannten  „Drucksinnes"  ist  das  ein- 
fachste Instrument  die  Fingerspitze,  die  in  ähnlicher  Weise  wie  der 
Apparat  von  Goltz  Druckschwankungen  erzeugen  kann.  Die  Druck- 
empfindlichkeit ist  herabgesetzt,  wenn  der  Kranke  den  Druck  des 
Fingers  nur  als  Berührung  empfindet.  Wie  schon  bemerkt  wurde, 
hängt  der  Drucksinn  nicht  nur  von  der  Empfindlichkeit  der  Haut, 
sondern  auch  von  der  der  tiefen  Theile  und  von  der  Beschaffenheit 
der  Unterlage  ab. 

3.  Die  Schmerzempfindlichkeit  wird  mit  einer  spitzen 
Xadel  (am  besten  Mikroskopirnadel)  untersucht,  AVer  einigermaassen 
auf  diese  Methode  sich  eingeübt  hat.  wird  mit  ihr  rasch  und  ziem- 
lich sicher  zum  Ziele  gelangen.  Sie  dürfte  dem  Kneipen,  Brennen 
u.  s.  w.  weit  vorzuziehen  sein.  Der  Gesunde  empfindet  auch  den  leich- 
testen Stich  als  Schmerz ;  fühlt  der  Kranke  nicht,  dass  er  gestochen 
wird,  glaubt  er  etwa  mit  dem  Finger  berührt  zu  werden,  so  ist  die 
Schmerzempfindiichkeit  herabgesetzt.  Werden  auch  starke,  die  Haut 
durchdringende  Stiche  nur  als  Berührungen  empfunden,  so  spricht 
mau  von  Analgesie  der  Haut, 

4.  Das  Localisationsvermögen  (der  Ortsinn)  wird  am 
besten  auch  mit  der  Nadel  geprüft.  Man  lässt  den  getroffenen  Ort 
mit  der  Fingerspitze  bezeichnen,  nur  wenn  dies  nicht  möglich  ist, 
mit  Worten  beschreiben.  Der  Gesunde  trifft  ihn  gewöhnlich  genau, 
oder  irrt  sich  doch  nur  um  1 — 2  Üentiineter.  Macht  der  Kranke  Fehler 
von  5  Centimeter  und  mehr,  so  kann  man  mit  Sicherheit  das  Locali- 
sationsvermögen als  vermindert  ansehen. 

5.  Der  Temperatur  sinn  oder  die  Empfindlichkeit  gegen  Tem- 
peraturunterschiede kann  durch  Anhauchen,  das  der  Gesunde  als 
warm,  und  Anblasen,  das  er  als  kalt  empfindet,  untersucht  werden,  ein 
Verfahren,  das  schon  geringe  Störungen  erkennen  lässt.  Ferner  lässt 
man  kühlere  (metallene,  z.  B.  den  Percussionshammer)  und  wärmere 
(hölzerne  u.  s.  w.,  z.  B.  den  Stiel  des  Hammers)  Gegenstände  der  Um- 
gebung unterscheiden.  Soll  die  Prüfung  aus  irgend  welchem  Grunde 
besonders  sorgfältig  sein,  so  ist  es  das  Einfachste,  Probirgläschen  mit 
verschieden  temperirtem  Wasser  zu  füllen  und  zu  untersuchen,  ob 
der  Kranke  die  Unterschiede,  die  der  Gesunde  fühlt,  ebenfalls  fühlt. 
Beim  Temperatursinn  trifft  man  nicht  nur  einfache  Abnahme  der 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.     2.  Aufl.  13 


194  Untersuchung  rte*  Empfin^ungsappaxates. 

Empfindlichkeit,  sondern  auch  nicht  selten  Anomalien  des  Gefühls 
derart,  dass  vielleicdit  Kältereize  sehr  lebhafte  Kälteempfindung  er- 
regen, hei  warmen  Körpern  aber  mir  die  Berührung  gefühlt  wird, 
ohne  dass  ein  Unheil  über  die  Temperatur  möglieh  wäre,  dass  in 
anderen  Fällen  Kältereize  (kaltes  Wasser,  Eis)  als  deutlich  warm 
empfunden  werden,  ein  Symptom,  das  Strümpell  als  perverse  Tem- 
peratnrempnndimg  bezeichnet  hat. 

Bei  der  Prüfung  der  Haut  empfindliclikeit  findet  man  zuweilen. 
das--  zwischen  Beiz  und  Zeichen  der  Empfindung-  sich  eine  Pause 
einschiebt,  die  mehrere  Secunden  betragen  kann.  3Ian  spricht  dann 
gewöhnlich  von  verlangsamter  Empfindungsleitung.  Die  verspätete 
Empfindung,  ein  Ausdruck,  mit  dem  nichts  präjudicirt  ist.  wird 
am  häufio'sten  bei  Prüfling  der  Schmerzempfiiidlichkeit  gefunden. 
Selten  ist  die  Berührungsempfiiidung  oder  die  Temperaturempfindung 
verspätet.  Wohl  aber  verursachen  zuweilen  Stiche  eine  Doppel- 
empfindung (Beniak)  derart,  dass  die  Kranken  sofort  die  Berüh- 
rung si.o-nalisiren.  aber  erst  nach  einigen  Secunden  den  berührten 
Theil  zurückziehen  und  Zeichen  einer  Schmerzempfindung  geben.  In 
seltenen  Fällen  trat  erst  eine  Schmerz-  und  danach  eine  Tastempfin- 
dung ein.  beide  waren  verspätet.  Gelegentlich  beobachtet  man  ver- 
wandte Phänomene,  die  als  X  a  c  h  e  m  p  f  i  n  d  u  n  g  (X  a  u  n  y  n)  bezeichnet 
werden.  Der  durch  den  Stich  verursachte  Schmerz  verschwindet 
rasch,  danach  aber  tritt  an  der  gestochenen  Stelle  Schmerz  ein.  der 
absatzweise  sich  steigert  und  stundenlang  anhalten  kann.  Zu  den 
selteneren  Erscheinungen  gehört  auch  die  P  o  1  y  ä  s  t  h  e  s  i  e  (F  i  s  c  h  e  r ).. 
bei  der  die  Kranken  statt  einer  Spitze  2.  statt  der  beiden  Spitzen 
des  Tasterzirkels  3 — ö  zu  fühlen  behaupten.  Das  Gleiche  gilt  von 
der  Allocheirie  (Ober  st  einen,  bei  der  die  Kranken  über  die 
gereizte  Körperseite  im  Unklaren  sind.  z.  B.  die  rechts  applicirten 
Stiche  links  zu  fühlen  glauben. 

Schliesslich  sei  noch  die  Prüfung  auf  Schmerzpunkte  er- 
wähnt. Man  findet  zuweilen  einzelne  Stellen,  wo.  sei  es  durch  Reizung 
der  Haut,  sei  es  durch  Reizung  tieferer  Theile.  Druck  oder  Wärme 
oder  der  galvanische  Strom  einen  heftigen,  nicht  selten  ausstrahlen- 
den Schmerz  und  reflectorische  Erscheinungen  bewirkt.  Die  Stellen, 
ilie  in  Frage  kommen,  sind  in  der  Eegel  die,  wo  sensible  oder  ge- 
mischte Nerven  ziemlich  direct  unter  der  Haut  liegen,  oder  es  sind 
einzelne  Stellen  der  Haut  über  oder  neben  den  Dornfortsätzen  der 
Wirbelsäule.  Um  die  Sehmerzpunkte  zu  finden,  drückt  man  mit  der 
Fingerkuppe  oder  mit  dem  Knöchel  die  fraglichen  Stellen,  klopft 
auf  sie  mit  dem  Percussionshammer,  fährt   über  sie  mit  einem  in 


Das  Gefühl.  195 

heisses  Wasser  getauchten  Schwämme,  mit  der  Kathode  eines  kräf- 
tigen galvanischen  Stromes,  während  die  Anode  auf  einer  indiffe- 
renten   Stelle  Steht. 

1).  Die  Empfindungen,  die  von  den  unter  der  Haut  oder  Schleim- 
liaui  gelegenen  Theilen  ausgehen,  fasst  man  zusammen  und  spricht 
von  Empfindlichkeit  der  tiefen  Tlieile.  An  ihr  haben  An- 
tlieil  die  Muskeln,  die  Fascien  und  Sehnen,  die  Bänder  und  Gelenke, 
das  Periost  und  die  Knochen.  Weder  ist  es  möglich  diese  verschie- 
denen Organe  einzeln  zu  prüfen,  noch  ihre  Empfindungen  ganz  zu 
trennen  von  denen  der  Haut.  Alle  jene  und  die  Haut  kommen  in 
Frage  bei  den  Fähigkeiten,  deren  Prüfung  als  für  die  Empfindlich- 
keit der  tiefen  Theile  maassgebend  angesehen  wird. 

1.  Die  Fähigkeit,  die  Schwere  gehobener  Körper  zu 
beur  theilen,  bezeichnet  man  gewöhnlich  als  Kraft  sinn.  Man 
prüft  dies  an  den  Armen  so,  dass  man  dem  Untersuchten  verschiedene 
Gewichte  in  die  Hand  giebt  oder  diese  in  eine  um  den  Arm  oder 
die  Hand  gelegte  Tuchschlinge  legt  und  dann  den  Untersuchten  auf- 
fordert, mit  Benutzung  von  Bewegungen  abzuwägen,  welches  Gewicht 
das  schwerere  sei. 

Hitzig  hat  Holzkugeln,  die  mit  verschiedenen  Bleimengen  gefüllt 
sind  und  trotz  verschiedenen  Gewichtes  gleich  aussehen,  angewandt.  Man 
giebt  sie  den  Kranken  in  die  Hand  oder  legt  sie  in  eine  an  den  Strumpf 
augestrickte  Seitentasche.  E.H.Weber  fand,  dass  Gewichtsunterschiede 
von  1/ao  vom  Gesunden  empfunden  werden.  Andere  haben  andere  Zahlen 
gefunden.  Am  besten  vergleicht  man  das  Ergebniss  mit  den  Angaben  eines 
( lesunden  von  gleichem  Alter  u.  s.  w. 

2.  Die  Fälligkeit,  Richtung,  Geschwindigkeit  und 
Excursion  der  eigenen  Bewegungen  zu  beurtheilen,kann 
entweder  dadurch  geprüft  werden,  dass  man  mit  dem  Untersucliteu 
passive  Bewegungen  vornimmt  und  ihn  dann  auffordert,  zu  sagen, 
was  geschehen  ist,  oder  dass  man  ihn  bestimmte  Bewegungen  aus- 
führen lässt.  Im  ersteren  Falle  hebt  man  z.  B.  vorsichtig  mit  der 
unter  die  Ferse  gelegten  Hand  das  Bein  des  liegenden  Untersuchten. 
Der  Gesunde  nimmt  die  geringste  passive  Bewegung  wahr.  Ist  die 
Empfindlichkeit  vermindert,  so  kann  der  Winkel,  den  das  Bein 
des  Untersuchten  mit  der  Horizontalen  in  dem  Augenblicke  bildet, 
Wann  die  passive  Bewegung  wahrgenommen  wird,  ein  Maass  der 
Störung  abgeben.  Im  anderen  Falle  bezeichnet  man  dem  sehenden 
rntersuchten  eine  Bewegung,  die  er  dann  mit  geschlossenen  Augen 
ausführen  soll,  man  zeigt  ihm  z.  B.,  wie  hoch  er  das  Bein  lieben  soll, 
oder  man  markirt  einen  Punkt,   den  er  mit  dem  Finger   berühren 

13* 


196  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

soll.  Die  Gesunden  erfüllen  alle  derartigen  Aufgaben  mit  grosser 
Sicherheit  und  pflegen  sich  höchstens  um  wenige  Centimeter  zu  irren. 
Zur  Prüfung  der  „Bewegungsempfindung"  räth  Golds  ch eider  das 
Glied  oberhall)  und  unterhall)  des  zu  bewegenden  Gelenkes  in  die 
volle  Hand  zu  nehmen  und,  indem  man  einen  ziemlich  starken  Druck 
ausübt,  ganz  kleine  Bewegungen  mit  massiger  Geschwindigkeit 
auszuführen.    Der  Kranke  muss  etwas  eingeübt  werden. 

Mit  der  besprochenen  Fälligkeit  hängt  eng  zusammen  das  B  e  - 
wusstsein  von  der  Lage  der  Glieder.  Man  prüft  dies,  indem 
man  dem  untersuchten  Gliede  bestimmte  Stellungen  ertheilt,  die  der 
natürlich  nicht  sehende  Patient  beschreiben  muss,  oder  die  er  mit 
dem  symmetrischen  Gliede  nachahmen  muss. 

Bei  diesen  Untersuchungen  ist  selbstverständlich  darauf  zu  achten, 
ob  die  activen  Bewegungen  nicht  etwa  durch  motorische  Störungen 
gehemmt  werden.  Wenn  auch  bei  offenen  Augen  die  geforderten 
Bewegungen  nicht  richtig  sind,  so  spricht  man  von  Ataxie.  Die  unter 
1  und  2  genannten  Vermögen  bezeichnet  man  auch  als  Leistungen 
des  „Muskelsinnes".  Es  ist  aber  zweckmässig,  diesen  Namen  nicht 
zu  brauchen,  da  offenbar  ausser  den  Empfindungen  der  Muskeln  auch 
die  der  Gelenke,  die  der  gespannten  Haut  u.  s.  w.  eine  Bolle  spielen. 
Ausser  von  Aufhebung  des  Muskelsinnes  hat  man  auch  von  Aufhebung 
des  Muskelbewusstseins  (conscience  musculair e  —  D u c li e n n e) 
gesprochen.  Man  versteht  darunter  einen  bei  Hysterischen  beobach- 
teten Zustand,  in  dem  die  unempfindlichen  Glieder  nur  unter  Controle 
der  Augen  bewegt  werden  können,  bei  Schluss  der  Augen  oder  im  Dun- 
keln jede  Bewegung  unmöglich  ist,  die  Kranken  als  gelähmt  erscheinen. 

3.  Die  Empfindlichkeit  der  Muskeln  prüft  man  durch 
Druck  mit  der  Hand.  Gesunde  Muskeln  sind  sehr  wenig  druckem- 
pfindlich. Findet  man  Schmerzhaftigkeit  der  Muskeln  bei  Druck  (wo- 
bei durch  Drücken  leerer  Hautfalten  Verwechselung  mit  Hyperäs- 
thesie der  Haut  vermieden  wird),  so  liegt  zweifellos  ein  krankhafter 
Zustand  vor. 

Man  kann  auch  die  elektromusculäre  Sensibilität  durch 
directe  oder  indirecte  faradische,  oder  auch  galvanische  Beizung  prüfen. 
Mit  jeder  künstlichen  Oontraction  ist  ein  charakteristisches  Spannimg- 
gefühl verbunden,  das  sich  bis  zu  heftigem  Schmerze  steigern  kann, 
demselben  Schmerze,  der  auch  bei  gewissen  Krämpfen  (Crampi)  ein- 
tritt. Verlust  der  elektromusculären  Sensibilität  ist  leicht  nachzu- 
weisen, geringere  Störungen  sind  nur  bei  Anästhesie  der  Haut  leicht 
zu  erkennen,  weil  es  schwierig  ist.  Haut-  und  Muskelempfindungen 
srenau  auseinander  zu  halten. 


Das  Gefühl.  197 

4.  DieFähigkeit,  den  aufrechten  Körper  im  Gleichgewichte 
zu  erhalten,  miiss  als  von  der  Empfindlichkeit  abhängig  hier  mit  er- 
wähnt werden.  Wenn  der  Untersuchte  nur  mit  sehenden  Augen 
sicher  stehen  kann,  nach  Schluss  der  Augen  oder  im  Dunkeln  schwankt 
oder  zu  Boden  fällt,  ist  bewiesen,  dass  die  Empfindlichkeit  der  Füsse 
herabgesetzt  oder  aufgehoben  ist. 

:>.  Das  Vermögen,  die  körperliche  Gestalt  der  Dinge 
zu  erkennen,  wird  geprüft,  indem  man  den  Untersuchten  kleinere, 
an  ihrer  Form  leicht  erkennbare  Körper  durch  das  Gefühl  bestimmen 
lässt.  Meist  handelt  es  sich  um  das  Gefühl  der  Hand,  man  giebt 
also  den  Patienten  verschiedene  Geldmünzen,  kleine  Schlüssel  u.  s.  w. 
in  die  Hand,  die  durch  Umgreifen  oder  durch  Hin-  und  Herbewegen 
erkannt  werden. 

Zu  methodischen  Versuchen  ist  es  am  zweckmässigsteu  geometrische 
Körper  zu  verwenden.  Hoffmann,  ein  Schüler  Kussmaul's,  hat  zu 
diesen  „stereognostischen  Versuchen"  ans  Holz  gearbeitete,  3 — 6  Centi- 
meter  im  Durchmesser  grosse  Körper  benutzt  und  zwar  Kugel,  Halbkugel, 
Kugelsegment,  Kegel,  Würfel,  dreikantiges  Prisma,  Octaeder,  Dodekaeder. 
Der  Gesunde  erkennt  diese  Körper,  über  deren  Benennung  man  sich  vor- 
her mit  ihm  vereinigt  hat,  sofort  nach  der  Umschliessung  mit  der  Hand. 
Bei  herabgesetztem  Gefühle  gelingt  dies  erst  nach  einiger  Zeit  und  nach 
mehrfachem  Hin-  und  Herbewegen,  werden  nur  noch  die  einfacheren  Körper 
(Kugel  u.  s.  w.)  erkannt,  bis  schliesslich  jede  stereognostische  Beurtheilung 
unmöglich  wird. 

Die  stereognostische  Perception  ist  offenbar  eine  complicirte  Erschei- 
nung, bei  der  verschiedene  Empfindungsqualitäten  eine  Rolle  spielen. 
Hoff  mann  hat  darüber  in  der  Hauptsache  folgendes  ermittelt.  Die  stereo- 
gnostische Perception  kann  aufgehoben  sein,  wenn  die  Temperatur-,  die 
einfache  Berührungs-,  die  Schmerzempfindlichkeit,  der  Ortsinn,  der  Kraft- 
sinn erhalten  sind.  Von  grösserer  Bedeutung  scheinen  die  extensive  und 
die  Druckempfindlichkeit,  die  Empfindung  passiver  Bewegungen  und  das 
Gefühl  von  der  Lage  der  Glieder  zu  sein.  Immerhin  kann  jedes  einzelne 
dieser  Vermögen  in  hohem  Grade  beeinträchtigt  sein,  ohne  dass  die  stereo- 
gnostische Perception  in  gleichem  Grade  Noth  litte;  ist  nur  eins  von  ihnen 
vollständig  erhalten,  so  ist  die  letztere  immer  in  gewissem  Grade  möglich. 
Die  wichtigste  Rolle  sollen  die  extensive  Empfindlichkeit  (der  Raumsinn) 
und  der  Drucksinn  spielen.  Bestehen  neben  der  Anästhesie  Störungen  der 
Beweglichkeit,  so  ist  das  Ergebniss  der  stereognostischen  Prüfung  sehr 
unsicher. 

Eine  kurze  Besprechung  verdienen  die  excen  tri  sehen  Em- 
pfindungen, die  durch  mechanische  oder  elektrische  Reizung  von 
Nervenzweigen  in  deren  Gebiete  hervorgerufen  werden  können.  Der 
Typus  dieser  Empfindungen  ist  das  „Mäuschen",  das  wohlbekannte 
Kriebeln  im  Ulnarisgebiet  der  Hand,  bei  einem  den  N.  uln.  am  Ellen- 
bogen treffenden  Stosse.   Beim  Gesunden  bewirkt  ein  massiger  Druck 


198  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

auf  die  erreichbaren  gemischten  oder  sensörischen  Nerven  keine  ex- 
centrische  Empfindung'.  Bei  Erkrankungen  dieser  Nerven  aber  tritt 
sie  oft  sehr  leicht  ein.  Die  ausstrahlende  Empfindung  tritt  dann 
zuweilen  nicht  nur  im  Hautgebiete  des  Nerven,  sondern  auch  längs 
seines  Verlaufes  auf.  so  dass  die  Kranken  mit  der  Fingerspitze  dem 
Laufe  des  Nerven  folgen  können.  Man  erklärt  dieses  Phänomen 
durch  Reizung  der  Nervi  nervorum.  Auch  soll  Druck  auf  einen  er- 
krankten Nerven  zuweilen  eine  in  centripetaler  Richtung  ausstrah- 
lende Empfindung  erregen  (Bärwinkel). 

Bei  galvanischer  Reizung  sensorischer  Nerven  findet  man  beim  Ge- 
sunden ein  Erregung sg es etz,  das  vollkommen  analog  ist  dem  Zuckungs- 
gesetze motorischer  Nerven.  Bei  allmählich  zunehmender  Stromstärke  wird 
zuerst  KaS  mit  rasch  vorübergehender  excentrischer  Empfindung  beant- 
wortet (KaSE),  dann  wird  KaSE  dauernd,  so  lange  der  Strom  geschlossen 
ist,  und  es  treten  vorübergehende  excentrische  Empfindungen  bei  AnS  und 
AnO  ein,  endlich  wird  auch  AnSE  dauernd  und  es  zeigt  sich  schwache 
KaOE.  Die  Stromstärke,  bei  der  excentrische  Empfindung  eintritt,  ist  un- 
gefähr dieselbe,  bei  der  Zuckung  eintritt,  d.  h.  für  KaSE  etwa  1 — 2  M.-A. 

Analog  den  motorischen  Punkten  kann  man  die  Stellen  des  Körpers, 
von  den  aus  am  leichtesten  excentrische  Empfindung  durch  den  elek- 
trischen Reiz  erregt  wird,  als  sensorische  Punkte  bezeichnen.  Diese 
entsprechen  den  Stellen,  wo  sensible  Nervenzweige  nahe  unter  der  Haut 
verlaufen,  und  im  Allgemeinen  den  bei  Neuralgien  vorkommen  den  Schmerz- 
punkten. 

Ueber  Abweichungen  vom  sensorischen  Erregungsgesetze  ist  bisher 
noch  sehr  wenig  bekannt.  M.  Mendelssohn  will  bei  Tabeskranken  an 
den  Nerven  der  anästhetischen  Bezirke  eine  Art  sensorischer  Entartungs- 
reaction  gefunden  haben,  derart,  dass  AnSE  >  KaSE  war.  Bei  einigen 
dieser  Kranken  fehlten  AnOE  und  KaOE  ganz,  und  drei  empfanden  über- 
haupt nur  AnSE. 

Vielleicht  erlangen  diese  Dinge  in  Zukunft  diagnostische  Bedeutung. 


»Schliesslich  noch  einige  Worte  über  die  gebräuchlichen  Termini. 

Steigerung  der  Empfindlichkeit  wird  als  Hyperästhesie  be- 
zeichnet. Selten  wird  darunter  der  seltene  Zustand  verstanden,  wo 
die  Reizschwelle  abnorm  niedrig  ist,  die  Empfindungen  durch  schwa: 
chere  Reize  als  beim  Gesunden  bewirkt  werden.  Gewöhnlich  ver- 
steht man  unter  Hyperästhesie  eine  Art  Hyperalgesie  derart,  dass 
die  meisten  Reize  unangenehme  Empfindungen  erwecken:  während 
die  Empfindungen,  an  die  Urtheile  geknüpft  werden,  nicht  lebhafter 
oder  gar  schwächer  als  sonst  sind,  begleitet  das  Unlust gefiihl.  das 
der  Gesunde  nur  bei  sehr  starken  Reizen  empfindet,  fast  alle  Reize. 

Verminderung  der  Empfindlichkeit  ist Hy päst hesie.  Aufhebung 
Anästhesie.     Gewöhnlich  aber  nennt  man  jede  Herabsetzung  der 


Das  Gefühl.  199 

Empfindlichkeit  Anästhesie,  spricht  demnach  von  schwacher,  starker, 
completer  Anästhesie.  Eine  nicht  complete  Anästhesie  ist  nur  selten 
eine  gleichmässige  in  dem  Sinne,  dass  alle  Empnndungsquali- 
täteu  gleichmässig  herabgesetzt  sind,  gewöhnlich  ist  sie  eine  par- 
tielle, d.  h.  die  eine  Art  von  Reizen  wird,  weniger  deutlich  emt 
pfänden  als  die  andere.  Die  „partiellen  Empfindüngslähmungen" 
stellen  sich  aber  nicht  so  dar,  dass  etwa  nur  Temperaturreize  nicht 
gefühlt  würden,  alle  sonstigen  Empfindungsqualitäten  normal  wären, 
sondern  nur  ein  oder  einige  Vermögen  sind  mehr  geschädigt  als  die 
anderen.  Es  ist  daher  nur  in  dem  Sinne  statthaft  von  Tastsinnläh- 
mung  (Apselaphesie)  zu  reden,  dass  man  darunter  Verminderung  der 
der  Wahrnehmung  dienenden  Empfindungen  der  Haut  versteht  und 
sie  unterscheidet  von  der  Analgesie,  beziehungsweise  Anedonie,  d.  h. 
der  Verminderung,  des  die  Empfindungen  begleitenden  „Gefühlstones". 
In  gleicher  Weise  wird  zuweilen  Anästhesie  im  engeren  Sinne  der 
Analgesie  gegenübergestellt.  Es  findet  sich  in  der  That  selbständige 
Analgesie,  d.  i.  Aufhebung  des  Schmerzgefühles  ohne  Beeinträch- 
tigung der  Wahrnehmungsfähigkeit. 

Unter  Anaesthesin  dolorosa  versteht  man  den  Zustand, 
wo  Schmerzen  in  einem  gegen  äussere  Reize  unempfindlichen  Gebiete 
auftreten. 

Parästhesien  sind  im  allgemeinsten  Sinne  Empfindungen,  die 
ohne  äussere  Ursache  eintreten.  Es  gehören  dahin  das  Jucken  (Pru- 
ritus), das  Prickeln,  Kriebeln,  Ameisenlaufen  (Formicatio),  Hitze-  (Ar- 
dor)  und  Frostgefühl  (Algo.r)  und  dergleichen,  streng  genommen  auch 
die  verschiedenen  Formen  des  krankhaften  Schmerzes,  die  jedoch  in 
der  Regel  für  sich  abgehandelt  werden. 

Als  P  e  r  v  e  r  s  i  o  n  der  E  m  p  f  i  n  d u  n  g  bezeichnet  man  die  Be- 
antwortung eines  Reizes  mit  einer  Empfindung,  die  beim  Gesunden 
einem  anderen  Reize  zukommt,  z.  B.  das  Auftreten  von  Brennen  bei 
einem  Stiche,  das  Gefühl  des  Stiches  bei  Berührung  mit  einem  kalten 
Gegenstände  u.  s.  w.,  ferner  die  oben  als  Polyästhesie,  Allocheirie  u.  s,  w. 
beschriebenen  Zustände. 

Man  unterscheidet  weiter  nach  dem  Sitze  cutane,  musculäre, 
viscerale,  sensu ale  Anästhesien,  Parästhesien  u.  s,  w.,  nach  der 
Ausbreitung  cir  cum  Scripte,  diffuse  Anästhesie,  Hemianäs- 
thesie,  Paraanästhesie.  — 

Welche  Hautbezirke  den  einzelnen  Nerven  entsprechen,  ist  aus 
der  im  IL  Theile  gegebenen  Uebersicht  über  die  Vertheilung  der 
peripherischen  Nerven  und  den  dort  befindlichen  Abbildungen  zu 
entnehmen. 


200  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Aus  der  Art  der  Anästhesie  kann  mau  kerne  sicheren  Schlüsse 
auf  den  Ort  der  Läsion  ziehen,  doch  deuten  bestimmte  Formen  der 
Anästhesie  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  darauf. 

Complete  Anästhesie  kann  sowohl  cerebraler,  als  spinaler,  als 
peripherischer  Natur  sein,  doch  ist  sie  weit  häufiger  durch  periphe- 
rische als  durch  centrale  Veränderungen  verursacht,  abgesehen  von 
der  functionellen  Anästhesie,  die  sehr  oft  complet  ist.  Umgekehrt 
ist  die  partielle  Anästhesie  häufiger  centraler  als  peripherischer  Natur. 
Doch  muss  mit  Nachdruck  betont  werden,  dass  partielle  Anästhesie 
durchaus  nicht  mit  Bestimmtheit  gegen  peripherische  Läsion  spricht, 
vielmehr  können  wahrscheinlich  die  meisten  Formen  partieller  An- 
ästhesie durch  die  letztere  entstehen.  Auch  die  Verlangsamung  der 
Empfindung  kommt  durch  sie,  wiewohl  selten,  zu  Stande,  nicht  nur 
durch  spinale  Läsionen,  wie  früher  angenommen  wurde.  Analgesie 
kommt  am  häufigsten  bei  functioneller,  sehr  häufig  bei  spinaler,  selte- 
ner bei  peripherischer,  wohl  nie  bei  corticaler  Anästhesie  vor.  Da- 
gegen wird  erhaltene  Schmerzempfiudlichkeit  bei  verlorener  oder  ver- 
minderter Wahrnehmungsfähigkeit  fast  nur  bei  cerebralen,  besonders 
corticalen  Läsionen  beobachtet.  Mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  deutet 
das  Vorhandensein  von  Analgesie  und  Thermoanästhesie  bei  erhaltener 
Tastempfindlichkeit  auf  Erkrankung  der  Hinterhörner  im  Rücken- 
marke.  Da  diese  Form  der  partiellen  Anästhesie  nicht  nur  bei  der  glio- 
matösen  Entartung,  sondern  auch  bei  Zerstörung  der  grauen  Substanz 
durch  Blutungen  auftritt,  dürfte  sie  in  der  That  localdiagnostisch 
verwerthbar  sein.  Freilich  scheint  sie  ausnahmeweise  auch  bei  peri- 
pherischen Läsionen  vorzukommen  und  ist  auch  einige  Male  bei  Hys- 
terie beobachtet  worden.  Die  meisten  Beispiele  von  Perversion  der 
Empfindung,  von  Doppelempfindung  u.  s.  w.  hat  man  bei  spinalen 
Läsionen  beobachtet. 

Eine  Form  der  perversen  Temperaturempfindung,  die  in  dem 
Verluste  der  Kälteempfindung,  vermöge  dessen  Eis  als  warm  em- 
pfunden wird,  und  in  einer  andauernden  subjectiven  Wärmeempfin- 
dung besteht,  ist  meist  bei  Erkrankungen  der  Oblongata,  beziehungs- 
weise der  Brücke  beobachtet  worden. 

Gewisse  Schlüsse  kann  man  ferner  aus  den  die  Anästhesie  be- 
gleitenden Erscheinungen  ziehen. 

Die  Anaesthesia  dolorosa,  wenn  sie  nicht  hysterischer  Art  ist,  lässt 
mit  einiger  Sicherheit  auf  eine  peripherische,  d.  h.  unterhalb  des  Ein- 
tritts der  sensiblen  Faser  in  die  graue  Substanz  gelegene  Läsion 
schliessen,  da,  wie  bei  Besprechung  des  Schmerzes  erwähnt  wird,  der 
Schmerz  in  der  Regel  nur  durch  Reizung  peripherischerBahnen  entsteht. 


Das  Gefühl.    Anästhesie.  201 

Begleitende  Parästhesien  haben  keine  diagnostische  Bedeutung. 

Wenn  Anästhesie  mit  Lähmung  zusammen  vorkommt,  so  ist 
immer  die  Beschaffenheit  der  Lähmung  maassgebend  für  die  Locali- 
sation. 

Anästhesie  ohne  Lähmung  kann  durch  Läsionen  verschiedensten 
Sitzes  entstellen.  Auch  bei  Erkrankungen  in  den  gemischten  Nerven 
kann  sie  vorkommen,  wenn  es  sich  um  Processe  handelt,  die  pri- 
mär, sozusagen  systematisch  die  sensiblen  Fasern  zum  Absterben 
bringen.  Immerhin  wird  eine  Läsion  der  gemischten  Nerven  selten 
in  Frage  kommen.  Die  cerebrale  Läsion  wird  sich  ausschliessen 
lassen,  wenn  die  Anästhesie  nicht  halbseitig  ist.  Es  bleiben  dann  die 
Endigungen  der  sensiblen  Fasern  in  der  Haut,  die  Hautnerven,  die 
hinteren  Wurzeln  und  deren  Fortsetzungen  im  Rückenmarke  als  mög- 
licher Sitz  der  Läsion. 

Die  Berücksichtigung  der  Eeflexe  ist  bei  der  Anästhesie  von 
geringerer  Bedeutung  als  bei  der  Lähmung.  Nur  wenn  bei  completer 
Anästhesie  die  Eeflexe  lebhaft  sind,  kann  man  mit  Bestimmtheit  eine 
centrale  Läsion  annehmen.  Das  Vorhandensein  der  Sehnenreflexe  bei 
Hautanästhesie  hat  natürlich  keine  Bedeutung,  nur  bei  Anästhesie 
der  Muskeln  spricht  ihr  Fehlen  für  peripherische,  beziehungsweise 
Kern-Läsion,  ihr  Vorhandensein  für  centrale  Läsion.  Die  Hautreflexe 
fehlen  bei  completer,  sind  gewöhnlich  schwach  bei  unvollständiger 
peripherischer  Anästhesie,  sie  können  aber  auch  bei  centraler  Anäs- 
thesie fehlen  vermöge  der  sogenannten  Reflexhemmung. 

Ernährungstöruiigen  der  Haut,  der  Knochen  u.  s.  w.  kommen  in 
der  Regel  nur  bei  Erkrankung  der  grauen  Rückenmarksubstanz  oder 
bei  peripherischer  Anästhesie  vor.  Da  man  jedoch  über  die  Ursache 
dieser  Ernährungstöruiigen  nicht  recht  im  Klaren  ist,  nicht  weiss,  ob 
für  sie  die  Läsion  der  sensorischen  Fasern  selbst  verantwortlich  zu 
machen  ist,  oder  ob  etwa  gar  besondere  trophische  Fasern  anzunehmen 
sind,  oder  ob  sie  nicht  zum  Theil  wenigstens  als  blosse  Complicatio- 
nen  zu  betrachten  sind,  entstanden  durch  äussere  Schädlichkeiten, 
die  wegen  der  Unempfindlichkeit  nicht  abgewehrt  werden,  so  ist  es 
nicht  wohl  möglich,  aus  ihrem  Fehlen  oder  Vorhandensein  bestimmte 
Schlüsse  auf  Ort  oder  Art  der  die  Anästhesie  bewirkenden  Verände- 
rungen zu  machen. 

Vasomotorische  Störungen  neben  der  Anästhesie  sind  ebenfalls 
diagnostisch  nicht  wohl  zu  verwerthen.  Auf  keinen  Fall  ist  man 
berechtigt,  einen  etwaigen  Gefässkrampf  ohne  Weiteres  als  Ursache 
der  Anästhesie  anzusehen. 

Am  wichtigsten  ist  die  Ausdehnung  der  Anästhesie.    Ent- 


202  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

'spricht  sie  dem  Bezirke  dieses  oder  jenes  Nerven,  so  darf  man  die 
Läsioii  in  diesem  suchen. 

Besteht  P  araa  nästhesie.  so  wird  man  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit eine  Läsion  des  Rückenmarkes  (u.  U.  allerdings  der 
Canda  eqninai  annehmen  dürfen  und  zwar  wird  es  sich  entweder 
um  eine  Qneiiäsion  oder  um  eine  Erkrankung  der  hinteren  Rücken- 
markshälfte handeln.  In  jenem  Falle  fehlt  nie  die  Paraplegie  und 
es  finden  dann  die  für  diese  geltenden  Regeln  Anwendung  (vergl 
S.  90  u.  f.).  Die  obere  Grenze  der  Anästhesie  ist  gewöhnlich  leichter 
und  sicherer  als  die  der  Lähmung  zu  bestimmen,  aus  ihr  erschliesst 
man.  bis  zu  welcher  Höhe  des  Rückenmarkes  die  Läsioii  reicht. 
Besteht  eine  auf  die  Hinter  stränge,  beziehungsweise  hintere  Hälfte 
des  Markes  beschränkte  Erkrankung,  so  findet  sich  auch  Paraanäs- 
thesie.  doch  fehlt  natürlich  die  Lähmung. 

Findet  man  fleck  weise,  diffuse  Anästhesie,  so  ist  zunächst 
über  deren  Ursache  nichts  Bestimmtes  zu  sagen,  es  können  die  sen- 
siblen Endorgane,  es  können  in  den  peripherischen  Nerven  einzelne 
Fasern  in  wechselnder  Combination  erkranken,  es  können  im  cen- 
tralen Nervensystem  unregelmässige  Herde  von  beliebiger  Gestalt 
und  Zahl  auftreten.  Sie  kommt  auch  bei  Hysterie  vor.  Nur  die 
Auffassung  des  ganzen  Krankheitsbildes  wird  die  Localisation  er- 
möglichen. 

Jederzeit  centraler  Natur  ist  die  Hemianästhesie.  Die  spi- 
nale Hemianästhesie  ist  auf  S.  89  als  Theilerscheiiiuiig  der  Brown- 
Secpiard"schen  Lähmung  besprochen  worden.  Wir  haben  uns  daher 
hier  nur  mit  der  cerebralen  und  der  hysterischen  Hemianästhesie  zu 
beschäftigen.  Die  organische  Hemianästhesie  setzt  eine  Läsion  der 
anderen  Hirnhälfte  voraus:  wo  in  dieser  sie  zu  suchen  ist.  ergiebt 
sich  aus  der  Betheiligung  der  Hirnnerven.  Halbseitige  Gefühlstörung 
mit  Aufhebung  aller  Specialsinne  einer  Seite,  des  Geruchs,  Gesichts, 
Gehörs.  Geschmacks,  könnte  nur  durch  eine  Läsion  der  gegenüber- 
liegenden Hemisphäre  entstehen,  denn  nur  in  dieser  sind  die  zu  allen 
Sinnesgebieten  führenden  Bahnen  vereinigt.  'Man  nahm  bisher  viel- 
fach an.  dass  eine  derartige  totale  Hemianästhesie  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  zu  beziehen  sei  auf  eine  Läsioii  des  hintersten 
Abschnittes  der  inneren  Kapsel.  Eine  höher  gelegene  Läsion  werde 
schwerlich  sämmtliche  nach  verschiedenen  Gegenden  der  Hirnrinde 
ausstrahlenden  Gefühlsbahnen  treffen.  Eine  tiefer  gelegene  Läsioii 
werde  zum  Mindesten  »xeruch  und  Gesicht  nicht  mehr  treffen.  Die 
Form  der  halbseitigen  Sehstörung  bei  der  Hemianästhesie  durch 
Läsion  der  inneren  Kapsel  sei  die  der  Anästhesie  gleichseitige  Hemi- 


\).\>  Gefühl.    Anästhesie.  203 

anopsie.  Gfegen  diese  Lehre  ist  freilich  zu  bemerken,  dass  nach 
neueren  Angaben  die  Sehbahn  überhaupt  nicht  durch  die  innere  Klapse] 
zieht,  dass  die  Beobachtungen,  auf  die  die  Lehre  sich  gründet,  vielfach 
zu  Bedenken  Anlass  geben,  da  es  sich  wahrscheinlich  in  vielen  Fällen 
um  hysterische  Hemianästhesie  gehandelt  hat,  die  zu  den  Symptomen 
der  organischen  Läsion  hinzutrat. 

Hemianästhesie  ohne  Geruchs-  und  ohne  Sehstörung,  aber  mit 
Anästhesie  der  Gesichtshaut  wird  eine  Läsion  vermuthen  lassen,  die 
unterhalb  der  inneren  Kapsel  sitzt,  aber  oberhalb  des  Abganges  der 
Trigeminusbahn,  der  wohl  in  einer  etwa  dem  vorderen  Rande  der 
Brücke  entsprechenden  Höhe  statthat.  Heber  den  Verlauf  der  Acus- 
ticusbahn  lässt  sich  bisher  nichts  Sicheres  angeben,  man  weiss  nur. 
dass  Läsionen  des  Hirnschenkels,  die  Hemianästhesie  verursachen, 
nicht  von  Gehörstörung  begleitet  zu  sein  brauchen.  Eine  Läsion 
der  halbseitigen  Gefühlsbahn  in  der  Höhe  der  Brücke  und  der  Ob- 
iongata  wird  Hemianästhesie  ohne  Betheiligung  des  Trigeminusgebietes 
oder  Hemianästhesie  mit  gekreuzter  Trig-eminusanästhesie,  die  alsdann 
peripherischer  Natur  ist.  bewirken.  Ueber  das  Vorkommen  halbsei- 
tiger Geschmackstörung  und  über  den  centralen  Verlauf  der  Ge- 
schmacksbalm  ist  zu  wenig  bekannt,  als  dass  man  aus  dem  Verhalten 
des  Geschmackes  sichere  Schlüsse  auf  den  Ort  der  Läsion  bei  Hemi- 
anästhesie machen  könnte. 

Ob  eine  Hemianästhesie  als  Folge  einer  directen  oder  indirecten 
Läsion  der  Gefühlsbahn  zu  betrachten  ist,  ergiebt  sich  aus  ähnlichen 
Ueberlegungen  wie  bei  der  Hemiplegie.  Sicher  kommt  es  schwerer 
zu  einer  indirecten  Hemianästhesie  als  zu  einer  indirecten  Hemiplegie. 
Wo  dalier  die  Hemianästhesie  ohne  Hemiplegie  besteht,  wird  man 
sie  als  direct  verursacht  betrachten.  Dagegen  zeigt  indirecte  Hemi- 
anästhesie sich  oft  in  der  ersten  Zeit  nach  Eintritt  einer  Hemiplegie. 
Sie  ist  dann  gewöhnlieh  weder  der  Ausdehnung  noch  dem  Grade 
nach  vollständig  und  bildet  sich  ziemlich  rasch  wieder  zurück.  Ge- 
wöhnlich schwindet  die  indirecte  Hemianopsie,  die  nicht  selten  ist. 
rasch  wieder,  Störungen  der  Empfindlichkeit  an  der  gelähmten  Körper- 
hälfte können  längere  Zeit  bestehen. 

Ueber  die  die  corticalen  Monoplegien  begleitende  Anästhesie  ist 
schon  oben  (S.  87)  gesprochen  worden. 

AVenn  eine  Läsion  die  hintere  Hälfte  des  Rückenmarkes  im 
oberen  Halsmarke  zerstörte,  so  würde  eine  nahezu  totale  An- 
ästhesie entstehen,  denn  da  die  aufsteigende  Trigeminuswurzel.  die 
einen  grossen  Theil  der  sensiblen  Trigeminusfasern  enthält,  mit  zer- 
stört wäre,  so  würden  ausser  den  Gliedern  und  dem  Rumpfe  auch  die 


204  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Haut  und  die  Schleimhäute  des  Kopfes  unempfindlich  sein.  Ton  einer 
totalen  Anästhesie,  die  durch  eine  doppelseitige  Läsion  des  hinteren 
Abschnittes  der  inneren  Kapsel  entstanden  wäre,  würde  sich  jene 
durch  die  Nichtbetheiligung  der  Sinnesorgane  unterscheiden,  auch 
würde  wahrscheinlich  das  Auge  empfindlich  bleiben.  Genaueres  lässt 
sich  wegen  des  Mangels  an  ausreichenden  Beobachtungen  nicht  sagen. 
Doch  ist  die  Möglichkeit  einer  derartigen  Anästhesie  deshalb  nicht 
ausser  Acht  zu  lassen,  weil  die  entsprechende  Läsion  sehr  wohl 
durch  die  Gliomatose  des  Halsmarkes  bewirkt  werden  kann,  dem- 
nach die  Annahme  einer  hysterischen  Anästhesie  bei  nahezu  totaler 
Anästhesie  nicht  ohne  Weiteres  gerechtfertigt  ist. 

Die  Unterscheidung  zwischen  organischer  und  func- 
tio neiler  (hysterischer)  Anästhesie  stützt  sich  im  Allgemei- 
nen darauf,  dass  letztere  der  anatomischen  Regeln  zu  spotten  pflegt, 
dass  die  Reflexe  vollständig  normal  bleiben,  dass  anderweite  Sym- 
ptome der  Hysterie,  Irysterische  Lähmung,  Ovarie.  hysterische  Krämpfe 
u.  s.  w.  bestehen.  Oft  werden  die  aus  kleinen  Zügen  sich  zusammen- 
setzende Physiognomie  des  Falles,  der  Verlauf,  die  Aetiologie  mit 
in  Betracht  gezogen  werden  müssen.  Entsteht  z.  B.  nach  einem 
leichten  Trauma  des  Arms  complete  Anästhesie  des  ganzen  Arms, 
so  wird  ihre  functionelle  Natur  ohne  TV"eiteres  erkannt  werden. 
Totale  Analgesie  mit  sensorieller  Anästhesie  (Amblyopie,  Gesichts- 
feldeinschränkung.  Anosmie  u.  s.  w.)  ist  stets  functionell.  Das  Gleiche 
gilt  von  der  (seltenen)  perte  de  la  conscience  musculaire  D u  ch  enne"s. 
Am  häufigsten  wird  die  Diagnose  zwischen  organischer  und  func- 
tioneller  Hemianästhesie  schwanken.  Bei  der  letzteren  sind  alle 
nach  rechts  oder  nach  links  von  der  Mittellinie  gelegenen  Theile  un- 
empfindlich, zuweilen  nur  die  Decke,  öfter  auch  die  tiefen  Theile, 
Muskeln,  Gelenke  u.  s.  f.,  meist  ist  die  Anästhesie  allgemein,  seltener 
ist  sie  partiell,  besteht  nur  Analgesie,  oder  Analgesie  und  Therm- 
anästhesie u.  s.  w.  Die  Schleimhäute  des  Auges,  der  Nase,  des  Mun- 
des, der  Genitalien  sind  ebenfalls  halbseitig  unempfindlich.  Das  eine 
Nasenloch  riecht  nicht,  das  eine  Ohr  hört  nicht,  die  eine  Zungen- 
hälfte schmeckt  nicht.  Die  Sehstörung  besteht  in  doppelseitiger  Ab- 
nahme der  centralen  Sehschärfe ,  die  aber  auf  dem  Auge  der  un- 
empfindlichen Seite  viel  stärker  ist .  in  beträchtlicher  allgemeiner 
concentrischer  Einschränkung  des  Gesichtsfeldes,  in  concentrischer 
Einengung  des  Gesichtsfeldes  für  Farben.  Die  Achromatopsie  be- 
steht bei  geringeren  Graden  in  Verlust  der  Violettempfindung,  dann 
fallen  Grün,  Roth,  endlich  Orange  aus,  am  längsten  wird  Gelb  und 
Blau  gesehen.  Die  Angabe,  dass  auch  bei  organischer  Hemianästhesie 


Das  Gefühl.    Anästhesie.  205 

die  Sehstörimg  in  Form  der  geschilderten  Amblyopie  auftrete,  steht 
in  Widerspruch  mit  der  gesicherten  Thatsache,  dass  einseitige  Lä- 
sionen des  Oceipitalläppens  Hemianopsie  bewirken.  Man  nimmt  da- 
her jetzt  an,  dass  die  Befunde  von  Hemianästhesie  mit  Ambtyopie 
durch  organische  Läsion  theils  auf  ungenauer  Untersuchung,  theils 
auf  Verwechselung  hysterischer  Hemianästhesie.  die  als  „traumatische 
Neurose"  oft  bei  organischen  Hirnläsionen  aufzutreten  scheint,  mit 
organischer  Hemianästhesie  beruhen.  Wahrscheinlich  verhält  sich  die 
Sache  in  Wirklichkeit  so.  dass  Herde,  die  nur  die  innere  Kapsel  be- 
schädigen, überhaupt  keine  Sehstörimg  machen,  dass  Herde  in  der 
Hemisphäre,  die  eine  Fernwirkung  ausüben,  indirecte  Hemianopsie 
neben  der  Hemianästhesie  bewirken  können,  dass  die  bei  Kapsel- 
herden  beobachtete  gekreuzte  Amblyopie  hysterischer  Art  gewesen 
ist.  Findet  sich  Hemianopsie,  so  ist  die  organische  Läsion  überhaupt 
zweifellos.  Sieht  man  von  der  Sehstörung  ab.  so  bleiben  als  wich- 
tigste Symptome,  die  gegen  functionelle  Hemianästhesie  sprechen: 
Bestehen  einer  Facialislähmung,  Verminderung  oder  Aufhebung  des 
Bauchreflexes  (beziehungsweise  der  Hautreflexe  überhaupt,  vgl.  S.  144). 
Diese  Symptome  (ebenso  Oculomotorius-,  Abducens-,  Hypoglossus-, 
Kaumuskellähmung  u.  s.  w.)  beweisen  die  Existenz  einer  organischen 
Läsion.  sie  lassen  aber  die  Hemianästhesie  nicht  mit  voller  Sicher- 
heit als  organische  erkennen,  weil  es  immer  möglich  ist,  dass  an  die 
Verletzung  des  Gehirns  sich  hysterische  Hemianästhesie  angeschlos- 
sen hat,  wie  sie  sich  an  andere  Traumata  anschliesst.  Für  functio- 
nelle Hemianästhesie  sprechen:  das  Fehlen  aller  Zeichen  einer  orga- 
nischen Läsion,  besonders  die  Unversehrtheit  der  Hautreflexe  auf 
beiden  Seiten,  das  Vorhandensein  der  Ovarie  und  anderer  Schmerz- 
punkte,  die  Klage  über  Schmerzen  in  den  anästhetischen  Theilen. 
lrysterische  Krämpfe  und  anderweite  hysterische  Symptome,  die  Ent- 
stehung im  Anschluss  an  eine  Gemüt hsbewegung  oder  ein  Trauma, 
das  die  anästhetische  Seite  betroffen  hat,  das  plötzliche  Verschwin- 
den der  Anästhesie,  die  Möglichkeit,  sie  durch  metalloskopische  Pro- 
ceduren  und  dergl.  zu  beeinflussen,  das  U/eberspringen  der  Anästhesie 
auf  die  andere  Seite  u.  s.  w.  Das  Fehlen  psychischer  Symptome  von 
Hysterie  will  gar  nichts  besagen.  Auch  männliches  Geschlecht  spricht 
natürlich  nicht  gegen  functionelle  Hemianästhesie,  da  diese  bei  Män- 
nern besonders  nach  Traumen  ziemlich  häufig  auftritt.  Wichtig  ist. 
dass  die  hysterische  Anästhesie  häufiger  links  als  rechts  sich  zeigt 
und  dass  sie  überhaupt  sehr  viel  häufiger  als  die  organische  ist.  End- 
lich aber  ist  bei  der  hysterischen  Hemianästhesie  wie  bei  jeder  hy- 
sterischen Anästhesie  die  Hauptsache  die.  dass  die  Unempfindlichkeit 


206  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

durch  die  Spaltung  des  Bewusstseins,  nicht  durch  irgendwelche  Lei- 
tungshindernisse  verursacht  ist.  Die  anästhetischen  Hysterischen  füh- 
len, aber  sie  wissen  es  nicht,  d.  h.  sie  können  sich  eines  Theiles  ihrer 
Empfindungen  nicht  bewusst  werden.  In  "Wahrheit  aber  verwerthen 
sie  unbewussterweise  die  von  den  scheinbar  unempfindlichen  Theilen 
ausgehenden  Wahrnehmungen.  Sie  wissen  gewöhnlich  nichts  von 
ihrer  Anästhesie,  ehe  sie  vom  Arzte  gefunden  wird,  sie  stossen  sich 
nicht  an  die  anästhetischen  Theile.  sie  gebrauchen  diese  ebenso  ge- 
schickt wie  die  der  fühlenden  Seite,  sie  verwerthen  die  die  anästhe- 
tischen Theile  treffenden  Eindrücke  zu  unbewusst  bleibenden  Schlüs- 
sen, was  man  durch  besondere  Versuche  nachweisen  kann  und  was 
sie  Simulanten  ähnlich  macht. 

Die  hysterische  Heinianästhesie  kann  nach  den  verschiedenen 
Eichtungen  hin  unvollständig  sein :  complete  Anästhesie  bis  zu  leich- 
ter Hypästhesie.  qualitativ  allgemeine  Anästhesie  oder  nur  Analgesie 
(zuweilen  nur  Thermanästhesie).  Yerschonung  eines  oder  einiger,  oder 
aller  oberen  Sinnesorgane,  Yerschonung  einiger  oder  aller  Schleim- 
häute. Yerschonung  der  tiefen  Theile.  Freibleiben  des  Kopfes,  eines 
Gliedes,  eines  G-liedabschnittes.  der  Geschlechtstheile.  zerstreuter  In- 
seln u.  s.  w. 

Thatsächlich  lassen  sich  last  alle  Formen  hysterischer  Anästhesie 
auf  die  Hemianästhesie  zurückführen.  Ist  mehr  als  diese  vorhanden, 
so  kann  zur  vollständigen  Hemianästhesie  einer  Seite  unvollständige 
der  anderen  hinzutreten,  oder  es  kann  zur  doppelseitigen  Hemian- 
ästhesie. d.  h.  zur  totalen  Anästhesie  kommen.  Ist  weniger  vorhan- 
den, so  haben  wir  Anästhesie  einer  Kopfhälfte,  eines  Armes,  einer 
Hand  u.  s.  w.  Die  charakteristische  Form  der  örtlichen  hysterischen 
Anästhesie  ist  die  Anästhesie  des  Gliedabschnittes :  die  Grenze  bildet 
eine  zur  Längsrichtung  senkrechte  Linie. 

Teherans  häufig  ist  die  Anästhesie  Begleiterin  anderer  örtlicher 
Hysteriesymptome.  Ist  irgendwo  ein  hysterischer  Spasmus,  ihn  deckt 
ein  anästhetischer  Bezirk.  Dasselbe  gilt  von  Lähmungen,  schmerz- 
haften Zuständen  (z.  B.  sogenannte  Gelenkneurosen.  Neuralgien  u.s.  w.). 
LeberaH.  wo  hysterische  Anästhesie  vorkommt,  kann  sie  durch  Hy- 
perästhesie vertreten  werden :  Hemihyperästhesie.  Hyperästhesie  eines 
Gliedabschnittes  u.  s.  f. 

Am  nächsten  steht  der  hysterischen  Anästhesie  die  zuweilen  bei 
Psychosen  vorkommende  Anästhesie,  bei  Melancholie.  Paranoia, 
besonders  bei  verschiedenen  Formen  des  Irreseins  der  Entarteten. 
I  )as  Vorbild  ist  die  Anästhesie  des  kämpfenden  Kriegers.  Die  Auf- 
merksamkeit ist  bei  den  Kranken  auf  die  krankhaften  inneren  Zu- 


Das  Gefühl.    Anästhesie.  207 

stände  gerichtet,  die  äusseren  Reize  werden  nicht  wahrgenommen,  es 
entstellt  allgemeine  Anästhesie  oder  Analgesie.  Doch  können  Auto- 
suggestionen auch  zu  örtlicher  Anästhesie  führen. 

Allgemeine  Anästhesie  oder  Analgesie  kann  auch  durch  Einwir- 
kung im  Blut  enthaltene]-  Gifte  auf  das  Gehirn  entstehen:  Opium, 
Chloroform  u.  s.  w.,  örtliche  durch  Cocain,  durch  Kälte.  Diagnostische 
Schwierigkeiten  kommen  hier  kaum  in  Frage. 

Fassen  wir  die  Erfahrungen  über  organische  Anästhesie  zu- 
sammen, so  ergiebt  sich  etwa  Folgendes. 

Bei  Anästhesie  durch  grobe  Gehirnerkrankungen  sind 
besonders  2  Fälle  in  Betracht  zuziehen:  Herde  in  der  Rinde  hinter 
der  Rolando 'sehen  Furche  und  Herde  im  äusseren  Abschnitte  der 
inneren  Kapsel  (Carrefour  sensitif)  oder  den  tieferen  Abschnitten  der 
Gefühlsbahn.  Bei  jenen  handelt  es  sich  um  eine  die  Hemiparese,  be- 
ziehungsweise Monoparese  begleitende  Hypästhesie,  bei  diesen  um 
Hemianästliesie,  die  je  nach  der  Ausdehnung  des  Herdes  mit  Hemi- 
plegie verbunden  ist  oder  nicht.  Werden  die  in  der  inneren  Kapsel 
vereinigten  sensorischen  Fasern  weiter  abwärts  beschädigt,  so  sind 
die  oberen  »Sinne  nur  zum  Tlieil  betroffen.  Eine  Läsion  der  halb- 
seitigen Gefühlsbahn  in  der  Höhe  der  Brücke  wird  Hemianästliesie 
ohne  Störung  des  Gesichtes  und  des  Geruches,  ohne  Betheiligung  des 
Trigemmusgebietes  oder  mit  gekreuzter  Trigeminusaiiästhesie  bewir- 
ken. Die  cerebrale  Hemianästliesie  stellt  sich  meist  als  Hypästhesie 
dar.  vorübergehend  zeigt  sie  sich  oft  nach  Eintritt  einer  Hemiplegie. 

Bei  Herden  in  der  Oblong  ata  kann  ausgebreitete  Anästhesie 
vorkommen;  sitzt  der  Herd  oberhalb  der  Pyramidenkreuzung,  seist 
die  Anästhesie  auf  der  Seite  der  Lähmung,  sitzt  er  unterhalb,  so  sind 
Lähmung'  und  Anästhesie  gekreuzt.  Doppelseitige  Herde  machen  na- 
türlich auch  doppelseitige  Erscheinungen. 

Von  den  Krankheiten  d  e  s  R  ü  c  k  e  n  m  a  r  k  e  s  führen  manche 
oft,  manche  selten  oder  gar  nicht  zu  Anästhesie.  Zuerst  sei  die  me- 
chanische Beschädigung  genannt.  Der  ganze  Querschnitt  des 
Rückenmarkes  wird  am  häufigsten  durch  Druck  getroffen:  Druck 
eines  Exsudates  im  Wirbelcanal,  Druck  durch  Wirbelknochen,  Druck 
durch  Geschwülste.  Bei  C  o m p r  e  s s  i  o  s  p i n al i s ,  aus  der  durch  den 
Hinzutritt  von  Entzündungserregern  eine  sogenannte  Compressions- 
myelitis  werden  kann,  leiden  in  erster  Linie  die  motorischen  Func- 
tionen: Motilität,  reflectorische  Erregbarkeit,  Blasenthätigkeit.  Es 
ist  kennzeichnend,  dass  bei  massigem  Drucke  Anästhesie  ganz  fehlen 
kann.  Bei  stärkerem  Drucke  kommt  es  zuweilen  erst  zu  Dysästhesie, 
d.h.  zu  peinlichen  Parästhesien  und  Hyperästhesie,  dann  zu  Anästhesie. 


208  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Die  letztere  ist  dann  Paraanästliesie ;  meist  leiden  alle  Arten  der 
Empfindlichkeit,  zuweilen  Schmerz-  und  Temperaturempfindlichkeit 
mehr  als  die  Wahrnehmung.  Die  obere  Grenze  der  Paraanästhesie 
dient  zur  Bestimmung  des  Sitzes  der  Läsion.  Da  der  Druck  in  der 
Regel  auch  Wurzelfasern  trifft,  zeigen  sich  an  der  oberen  Grenze 
der  Paraanästhesie  Wurzelsymptome:  Schmerzen,  Streifen  completer 
Anästhesie,  trophische  Störungen,  beziehungsweise  peripherische  Läh- 
mungen. 

Ist  nur  eine  Hälfte  des  Markes  beschädigt,  so  entsteht  das  Bild 
der  Brown-Sequard 'sehen  Lähm u n g  (durch  Messerstich,  Schuss- 
verletzung,  einseitige  Geschwülste,  einseitig  wirkende  Knochenfrag- 
mente u.  s.  w.).  Man  findet,  wenn  etwa  die  linke  Hälfte  des  mittle- 
ren Brustmarkes  durchschnitten  ist,  Anästhesie  des  rechten  Beines 
und  der  rechten  Rumpfhälfte  bis  zur  Höhe  der  Läsion,  Anästhesie, 
an  die  sich  nach  oben  hin  ein  schmaler  Gürtel  von  Hyperästhesie 
anschliesst.  Man  findet  ferner  Lähmung  des  linken  Beines,  das 
nicht  anästhetisch,  sondern  vielmehr  hyperästhetisch  ist. '  Diese  Hy- 
perästhesie, richtiger  Hy peralgesie ,  deren  Entstehung  ebensowenig 
wie  die  des  hyperästhetischen  Grenzstreifens  recht  zu  erklären  ist, 
pflegt  vorübergehender  Natur  zu  sein.  Nach  oben  grenzt  an  sie  eine 
Zone  dauernder  Anästhesie  durch  Zerstörung  hinterer  Wurzelfasern. 
Auf  sie  folgt  zuweilen  wieder  ein  hyperästhetischer  Gürtel.  Es  wird 
angegeben,  dass  das  „Muskelgefühl"  des  gelähmten  Beines  erloschen 
sei.  Da  eine  genau  auf  eine  Rückenmarkshälfte  beschränkte  Läsion 
nicht  oft  vorkommt,  findet  man  sehr  selten  das  reine  Bild  der  Brown- 
Sequard'schen  Lähmung.  Bei  vorwiegender  Beschädigung  einer 
Hälfte  lassen  sich  in  dem  Bilde  der  spinalen  Paraplegie  die  Züge 
jener  Lähmung  halbwegs  erkennen,  derart,  dass  zwar  beide  Beine 
paretisch  sind,  aber  das  eine  stärker,  während  das  weniger  gelähmte 
deutliche  Anästhesie  zeigt. 

Die  sogenannte  diffuse  Myelitis,  d.h.  die  Entstehung  ent- 
zündlicher Herde  im  Rückenmarke,  die  je  nach  der  Intensität  des 
Reizes  zu  acuter  Erweichung  oder  zur  Schrumpfung  führen,  sich 
rasch  oder  langsam  entwickeln,  ist  eine  seltene  Krankheit,  bei  ihr 
müssen  natürlich  die  Wurzelsymptome  zurücktreten  und  muss  das 
Bild  einer  mehr  oder  weniger  grossen  Zerstörung  des  Querschnittes 
entsprechen:  Paraanästliesie.  Das  Gleiche  gilt  von  der  überaus  sel- 
t enen  Hämatomy elie.  Die  multiple  S  c  1  e  r  o  s  e  ist  dadurch  gekenn- 
zeichnet, dass  bei  ihr  die  Anästhesie  eine  untergeordnete  Rolle  spielt. 
Doch  fehlt  sie  selten  ganz:  fleckweise  Anästhesie,  ausnahmeweise 
Paraanästhesie. 


Das  Gefühl.     Anästhesie.  209 

Von  denjenigen  Krankheiten,  die  nur  bestimmte  Theile  des 
Markes  befallen,  gehen  uns  besonders  zwei  an:  die  vorwiegend  die 
Hinterhörner  zerstörende  Gliomatosis  spinalis  und  die  .vorwiegend 
die  Hinterstränge  schädigende  Tabes.  Für  die  Gliom ato  sis  spi- 
nalis ist  das  Hauptzeichen  die  besondere  Anästhesie :  Analgesie  und 
Thermanästhesie  mit  Erhaltung  oder  mit  geringer  Verminderung  der 
Empfindlichkeit  gegen  Berührungen.  Doch  kann  auch  allgemeine 
Anästhesie  vorkommen  und  jene  besondere  Anästhesie  kann  sich  aus- 
nahmeweise  bei  Hysterie  und  bei  peripherischen  Erkrankungen  zeigen. 
In  der  Regel  ist  Thermoanalgesie  bei  Gliomatosis  vorhanden,  mit  ihr 
verbunden  ist  oft  eine  besondere  Parästhesie,  d.  h.  Gefühl  des  Brennens 
auf  der  Haut,  Neben  der  Anästhesie  besteht  meist  Muskelschwund 
spinalen  Charakters.  Aber  die  Gebiete  des  Schwundes  und  die  der 
Anästhesie  decken  sich  nicht,  da  die  Gliose  in  unregelmässiger  Weise 
bald  da  die  vordere,  bald  dort  die  hintere  graue  Substanz  zerstört. 
Meist  ist  die  Erkrankung  doppelseitig,  sie  kann  aber  auch  lange  ein- 
seitig sein.  Die  Arme  sind  vorwiegend  ergriffen.  Im  Gebiete  der  Anäs- 
thesie  findet  man  oft  trophische  Störungen:  Erkrankungen  der  Haut 
und  der  Knochen  durch  geringfügige  äussere  Anlässe,  Panaritien, 
eiternde  Schrunden,  Phlegmonen,  Blasenbildung,  Gelenkeiterung,  Kno- 
chenzerstörung  und  -Wucherung.  Ergreift  schliesslich  die  Glioma- 
tosis den  ganzen  Querschnitt,  so  tritt  zu  dem  Bilde  die  spastische 
Paraparese  hinzu.  Hyperästhesie  und  Schmerzen  fehlen  in  der  Regel 
während  des  ganzen  Verlaufes. 

Die  sogenannte  Mor  van'sche  Krankheit  oderParesieanalgesique 
ist  wahrscheinlich  mit  der  Gliomatosis  spinalis  identisch. 

Die  Tabes  ist  die  häufigste  Rückenmarkskrankheit  und  ausser 
der  Hysterie  wohl  die  häufigste  Ursache  von  Anästhesie.  Da  bei  ihr 
aber  auch  selbständige  Erkrankungen  der  peripherischen  Nerven  fast 
regelmässig  vorzukommen  scheinen,  ist  es  schwer,  die  tabische  An- 
ästhesie auf  ihre  anatomische  Ursache  zu  beziehen.  Vieles,  was  man 
früher  als  spinale  Anästhesie  ansah,  ist  wohl  peripherischer  Art  und 
damit  stimmt,  dass  die  Anästhesie  bei  Tabes  thatsächlich  die  ver- 
schiedensten Formen  zeigt,  dass  alle  Arten  der  Anästhesie,  die  bei 
peripherischen  Erkrankungen  beobachtet  werden,  auch  bei  Tabes 
vorkommen.  Haut,  Schleimhäute  und  tiefe  Theile  werden  befallen. 
Im  Allgemeinen  erkranken  die  Beine  zuerst:  ilnästhesie  der  Füsse 
und  wahrscheinlich  besonders  Anästhesie  der  Fuss-  und  Beingelenke, 
in  der  man  vermuthlich  die  nächste  Ursache  der  Ataxie  zu  erblicken 
hat.  An  den  Armen  pflegt  das  Ulnarisgebiet  zuerst  betroffen  zu 
werden,  oft  aber  werden  auch  alle  5  oder  etwa  4  Finger  gleichzeitig 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  14 


210  Untersuchung  des  Empfindtmgsapparates. 

hypästhetisch.  Trigeminusanästhesie  ist  nicht  selten.  Der  Grad  der 
Anästhesie  wechselt  von  der  leichtesten  Hypästhesie  bis  zur  com- 
pleten  Anästhesie.  Alle  Arten  der  Anästhesie  kommen  vor,  Analgesie 
aber  ist  (wenigstens  auf  der  Haut)  am  häufigsten.  Der  Ausdehnung 
nach  wiegt  die  fleckförmige  Anästhesie  vor.  Paraanästhesie  gehört 
den  späteren  Stadien  der  Krankheit  an.  Bei  der  Diagnose  der  Tabes 
steht  die  Anästhesie  in  zweiter  Reihe,  sie  hat  nicht  dieselbe  Wichtig- 
keit wie  reflectorische  Pupillenstarre,  Blitzschmerzen,  Blasenstörung 
und  Fehlen  des  Kniephänomens. 

Was  von  der  Tabes  gilt,  gilt  natürlich  auch  dann,  wenn  ausser 
tabischen  Symptomen  progressive  Paralyse  vorhanden  ist.  Ferner 
sind  der  Tabes  in  Beziehung  auf  die  Anästhesie  mehr  oder  weniger 
ähnlich  die  seltenen,  noch  ungenügend  bekannten  Fälle,  in  denen  eine 
nichttabische  Hinterstrangerkrankung  besteht. 

Einige  Rückenmarkskrankkeiten  sind  nie  mit  Anästhesie  verbun- 
den, so  dass  ihr  Fehlen  diagnostisch  wichtig  wird :  Poliomyelitis 
acuta  und  amyotrophische  Lateralsclerose,  zu  denen  als 
seltene  Unterformen  dort  Poliomyelitis  chronica,  hier  einfache  spinale 
progressive  Muskelatrophie  hinzutreten.  Diesen,  auf  die  motorischen 
Theile  des  Bückenmarkes  beschränkten  Krankheiten  gleichen  in  Be- 
ziehung auf  das  Fehlen  der  Anästhesie  die  primären  Muskel- 
krankheiten:  Dystrophia  musc.  progressiva,  Trichinosis  und  wohl 
auch  die  primäre  acute  Polymyositis. 

Die  durch  Erkrankung  der  peripherischen  Nerven  her- 
vorgerufene Anästhesie  ist  in  der  Regel  fleckförmig,  d.  h.  entweder 
entspricht  ihr  Bereich  dem  eines,  beziehungsweise  mehrerer  Nerven, 
oder  sie  stellt  sich  in  unregelmässigen  Flecken  dar.  Paraanästhesie 
kann  auch  durch  Erkrankung  der  Cauda  equina  bewirkt  werden. 
Sie  kann  natürlich  auch  durch  Erkrankung  aller  Nerven  der  unteren 
Körperhälfte  in  der  Peripherie  entstehen,  entwickelt  sich  aber  dann 
aus  einzelnen  anästhetischen  Bezirken.  Peripherische  Anästhesie  ist 
meist  mit  Lähmung  verbunden,  diese  aber  kann  fehlen,  wenn  nur 
die  hinteren  Wurzeln  betroffen  sind,  oder  wenn  ein  Gift,  das  nur 
oder  vorzugsweise  die  empfindenden  Fasern  in  den  peripherischen 
Nerven  schädigt,  die  Ursache  ist.  Schmerzen  begleiten  fast  immer 
die  peripherische  Anästhesie,  oder  gehen  ihr  voraus.  Sie  ist  am 
häufigsten  allgemein,  umfasst  alle  Arten  der  Empfindlichkeit,  sie  kann 
sich  aber  auch  als  Analgesie,  als  Thermanästhesie,  als  Verbindung 
beider  u.  s.  f.  darstellen,  ebenso  wie  Verzögerung  der  Empfindung, 
Vervielfachung,  Verlegung  auf  die  andere  Seite,  Nachempfindung  der 
peripherischen  Anästhesie  durchaus  nicht  fremd  sind. 


Das  Gefühl.    Anästhesie.  211 

Bei  mechanischen  Einwirkungen  (Schnitt,  Quetschung, 
Zerreissung,  Druck  durch  Geschwülste,  Exsudate)  handelt  es  sich  na- 
türlich immer  um  Nervenbezirkanästhesie,  bezüglich  deren  der  Hin- 
weis auf  die  Anatomie  genügt.  Hieher  gehört  eigentlich  auch  die 
Meningitis  spinalis,  da  bei  dieser  in  der  Regel  der  Druck  eines  (tuber- 
culösen,  syphilitischen)  Exsudates  das  Wirksame  ist.  Besonders  die 
Thatsache  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass  die  Nervenbe- 
zirke an  den  Gliedern  Längsstreifen  (am  Rumpfe  Querstreifen)  bilden. 
Werden  z.  B.  die  oberen  Zweige  des  Plexus  brachialis  betroffen,  so 
wird  die  Aussenseite  des  Armes  anästhetisch,  während  bei  Erkran- 
kung der  unteren  Zweige  der  Anästhesiestreifen  die  ulnare  Seite 
einnimmt. 

Die  Anästhesie  bei  den  verschiedenen  Arten  der  infectiösen 
oder  toxischen  Nervenerkrankung  ist  zwar  durchaus  nicht  so 
charakteristisch  wie  die  Form  der  Lähmung,  hat  aber  doch  zuweilen 
etwas  Eigentümliches.  Bei  der  Arsenikneuritis  z.  B.  beschränkt  sich 
in  der  Regel  die  Anästhesie,  ebenso  wie  die  Lähmung,  mehr  oder 
weniger  auf  Hände  und  Füsse  und  ist  mit  heftigen  Schmerzen  ver- 
bunden. Bei  Alkoholneuritis  fehlt  sie  fast  nie,  kann  sogar  über  die 
Lähmung  überwiegen,  erstreckt  sich  auf  oberflächliche  und  tiefe 
Theile,  ist  mit  Schmerzen  und  grosser  Druckempfindlichkeit  verbun- 
den. Bei  den  gewöhnlichen  Formen  der  Bleineuritis  dagegen  fehlt 
die  Anästhesie  ganz.  Bei  der  Tuberculoseneuritis  liegen  die  Verhält- 
nisse ähnlich  wie  bei  der  Alkoholneuritis.  Bei  der  Diphtherieneuritis 
tritt  die  Anästhesie  gewöhnlich  gegen  die  Lähmung  zurück.  Die 
Häufigkeit  der  atactischen  Störungen  aber  deutet  hier  auf  Anästhesie 
tiefer  Theile.  Auch  bei  der  Infectionskrankheit,  die  man  schlechtweg 
multiple  Neuritis  oder  rheumatische  Neuritis  zu  nennen  pflegt,  ist 
die  Anästhesie  der  Lähmung  untergeordnet,  meist  findet  man  nur 
Schmerzen,  Parästhesien,  verhältnissmässig  geringe  Hypästhesie.  Bei 
manchen  Formen  greift  sich  das  Gift  nur  einen  oder  nur  einige  Ner- 
ven heraus.  Dann  besteht  ungefähr  das  Bild  einer  Nervenquetschung 
+  heftige  Schmerzen.  So  bei  der  Diabetesneuritis,  die  bald  an  den 
oberen,  bald  an  den  unteren  Gliedern  einen  Nerven  befällt,  so  bei 
der  Neuritis  puerperalis,  die  am  häufigsten  die  Endäste  der  Nn. 
medianus  und  ulnaris  ergreift,  so  beim  Herpes  zoster,  wo  Schmerzen 
und  Analgesie  in  erster  Reihe  stehen.  Alle  diese  Bemerkungen  über 
Neuritisanästhesie  haben  nur  relativen  Werth,  da  das  Studium  der 
einzelnen  Formen  durchaus  nicht  abgeschlossen  ist. 

Hyperästhesie  und  Parästhesien  können  durch  Reizung 
der  sensorischen  Bahnen  an  beliebiger  Stelle  entstehen.  Näheres  über 

14* 


212  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

den  Ort  der  Reizung  kann  man  nur  ihrer  Ausbreitung-  entnehmen 
und  zwar  gelten  dafür  die  bei  der  Anästhesie  angegebenen  Segeln. 
Sind  bei  der  Hyperästhesie  die  dem  Willen  nicht  unterworfenen 
Hautreflese  deutlich  gesteigert,  so  spricht  dies  für  peripherische 
Eeizung.  Halbseitige  Hyperästhesie,  eine  seltene  Erscheinung,  soll 
am  häufigsten  bei  Läsionen  der  Brücke  beobachtet  worden  sein. 
Parästhesien  sind  häufig  Vorläufer  oder  begleitende  Erscheinungen 
bei  Anästhesie.  Begreiflicher  Weise  kommen  sensorische  Reizerschei- 
nungen leichter  durch  indirecte  Läsion  zu  Stande  als  Anästhesie. 

Druck  auf  das  Rückenmark  bewirkt  oft  Paraplegie  mit  Hyper- 
ästhesie, richtiger  Hyperalgesie.  Dieses  Bild  ist  in  gewissem  Grade 
charakteristisch  für  die  Compressio  medullae  spinalis. 

Eine  wichtige  Rolle  spielt  die  Hyperästhesie  in  der  Hysterie, 
hier  giebt  es  wie  eine  Hemianästhesie  so  eine  Hemihyperästhesie  und 
alle  Formen  der  hysterischen  Anästhesie  können  durch  Hyperästhesie 
ersetzt  werden.  Besonders  wichtig  ist,  dass  bei  allen  örtlichen  Stö- 
rungen, Lähmungen,  Contracturen,  Krämpfen,  Neuralgien,  die  Haut 
der  kranken  Stelle  anästhetisch  oder  hyperästhetisch  zu  sein  pflegt. 
Erinnert  z.  B.  das  Bild  an  eine  Coxitis  und  findet  man  die  Haut  über 
dem  Hüftgelenke  hyperalgetisch,  so  wird  es  sich  wahrscheinlich  um 
Hysterie  handeln.  Das  Gleiche  gilt  von  einem  Blepharospasmus  u.s.w. 
Ferner  sind  bedeutungsvoll  die  auf  Haut  und  Schleimhaut  vorkom- 
menden hyperästhetischen  Stellen,  die  die  Franzosen  als  „Zones  hys- 
terogenes"  bezeichnen.  Bald  ist  die  Oberfläche  hyperästhetisch,  sodass 
jede  Berührung  Erfolg  hat,  bald  sitzt  die  Empfindlichkeit  in  der 
Tiefe,  sodass  nur  starker  Druck  wirkt.  Bei  Erregung  einer  hyste- 
rogenen  Zone  klagt  der  Kranke  über  Schmerz;  dauert  die  Reizung 
fort,  so  stellen  sich  die  Zeichen  der  hysterischen  Aura  ein  (nach  der 
Mittellinie  ausstrahlender  Schmerz,  Aufsteigen  eines  Etwas  nach  dem 
Halse,  Beklemmung,  Klopfen  in  den  Schläfen,  Sausen  in  den  Ohren) 
und  unter  Umständen  kommt  es  zu  einem  hysterischen  Anfalle.  Um- 
gekehrt kann  zuweilen  durch  Reizung  einer  solchen  Stelle  der  An- 
fall unterbrochen  werden:  Zone  hysterofrenatrice. 

Nächst  der  Hysterie  ist  wohl  die  Tabes  am  häufigsten  Ursache 
von  Hyperästhesie.  Fast  pathognostisch  ist  die  Hyperästhesie  der 
Haut  über  der  Stelle  des  lanzinirenden  Schmerzes.  Einzelne  Haut- 
stellen, die  später  anästhetisch  werden,  sind  oft  lange  Zeit  hyperal- 
getisch. Bei  Augenmuskellähmiingen  der  Tabeskranken  findet  man 
zuweilen  Hyperalgesie  der  Lider  und  der  Umgebung  des  Auges. 

Von  den  peripherischen  Erkrankungen  führt  am  häufigsten  die 
Neuritis  zu  Hyperästhesie,  die  auch  hier  nur  Vorläufer  der  An- 


Das  Gefühl.    Schmerz.  213 

ästhesie  ist.  Besonders  bei  Alkoholismus  wird  oft  Hyperästhesie  ge- 
funden. 

Schmerz  entsteht  beim  Gesunden,  wenn  sehr  intensive  Eeize 
empfindliche  Theile  treffen.  Pathologisch  kann  Schmerz  entweder 
dadurch  entstehen,  dass  peripherische  sensible  Nerven  durch  krank- 
hafte Veränderungen  intensiv  gereizt  werden, .  oder  dadurch,  dass 
vermöge  einer  abnormen  Beschaffenheit  der  bei  den  Schmerzempfin- 
dungen  thätigen  Theile  der  Hirnrinde  physiologische  Vorgänge  inner- 
halb dieser  schmerzerregend  wirken  (Schmerzhallucination).  Wir 
werden  demnach  Schmerz  bei  peripherischen  Läsionen  und  bei  functio- 
nellen  Äff ectionen  finden.  Reizungdercentralensensorischen 
Bahnen  ruft  wahrscheinlich  keinen  Schmerz  hervor. 
Sicher  ist,  dass  Läsionen  der  Gehirnsubstanz  fast  immer  schmerzlos 
sind.  Nur  dann,  wenn  ein  Gehirnherd  die  Meningen  lädirt  oder  sen- 
sorische  Hirnnerven-  (Trigeminus-)  Fasern  nach  ihrem  Austritte  aus 
dem  Kern,  d.  h.  intracerebrale  peripherische  Fasern,  trifft,  pflegt  er 
Schmerzen  in  Bezirke  dieser  Fasern  zu  bewirken. 

In  seltenen  Fällen  hat  man  bei  Hirnherden  Schmerzen  in  den 
gelähmten  Gliedern  beobachtet,  ohne  dass  man  erklärende  Verände- 
rungen in  der  Peripherie  gefunden  hätte.  Manche  meinen,  die  Schmer- 
zen entstehen  dann,  wenn  der  Herd  die  Gefühlsbahnen  reizt,  ohne 
sie  zu  unterbrechen.  Dagegen  ist  freilich  einzuwenden,  dass  dann 
die  „centralen"  Schmerzen  häufiger  sein  müssten  und  dass  anschei- 
nend Herde  ganz  verschiedener  Lage  dieselbe  Wirkung  ausüben  zu 
können  scheinen. 

Man  beobachtet  zwar  zuweilen  Schmerzen  in  den  gelähmten 
Gliedern  bei  cerebraler  Läsion,  diese  lassen  sich  aber  gewöhnlich 
durch  peripherische  Reizung  erklären.  Entweder  nämlich  handelt  es 
sich  um  Contracturen ,  bei  denen  die  Spannung  der  Muskeln  den 
Schmerz  erregt,  die  Muskeln  auch  druckempfindlich  sind,  oder  es  be- 
stehen secundäre  peripherische  Veränderungen,  als  welche  man  die 
Gelenkaffectionen  und  die  Neuritis  der  Hemiplegischen  kennt.  Die 
Gelenkschmerzen  sind  gewöhnlich  durch  eine  acute  oder  subacute  ent- 
zündliche Veränderung,  die  sich  am  häufigsten  am  Schulter-  und  am 
Kniegelenke  zeigt  und  über  deren  Ursache  man  nichts  Näheres  weiss, 
verursacht.  Die  ziehenden  und  reissenden  Schmerzen  in  bestimmten 
Nervengebieten,  die  mit  Druckempfindlichkeit,  u.  U.  auch  mit  Ver- 
dickung der  Nervenstämme  einhergehen,  sind  Folgen  einer  Neuritis 
oder  Perineuritis  hypertrophica,  deren  Ursache  ebenfalls  unbekannt 
ist.  Neuritis  kommt  in  wahrscheinlichem  Zusammenhange  mit  cere- 
bralen Läsionen  auch  ohne  Lähmuno-  vor.    Wir  haben  z.  B.  in  einem 


214  Untersuchung  des  Empnuduugsapparates. 

Falle  linkseitiger  Hemianopsie  auf  der  linken  Seite  sowohl  Neuritis 
des  N.  ulnaris  mit  Schmerzen,  xAmästkesie  und  mit  Atrophie  der  Inter- 
ossei,  als  anscheinend  neuritische  Schmerzen  im  Ischiadicusgebiete  auf- 
treten sehen. 

Auch  spinale  Läsionen  sind,  soweit  sie  nur  centrale  Bahnen 
treffen,  gewöhnlich  schmerzlos.  Zweifellos  ist  die  graue  Substanz  un- 
empfindlich. Wenn  spinale  Erkrankungen  mit  heftigen  Schmerzen 
verlaufen,  so  wird  man  in  erster  Linie  an  eine  Betheiligung  der 
hinteren  Wurzeln  zu  denken  haben.  Die  sogenannte  Paraplegia  dolo- 
rosa wird  deshalb  am  häufigsten  bei  Carcinom  der  Wirbelsäule  be- 
obachtet, weil  die  wuchernde  Krebsmasse  das  Mark  und  die  Wurzeln 
dicht  umwächst  und  letztere  in  den  Zwischenwirbellöchern  zusammen- 
drückt. Die  spinale  Meningitis  ist  sehr  schmerzhaft,  weil  bei  ihr  in 
erster  Linie  die  Wurzeln  leiden.  Auch  bei  der  Tabes  ist  die  Ursache 
der  heftigen  Schmerzen  in  der  sowohl  extra  -  als  intraspinalen  Er- 
krankung der  hinteren  Wurzelfasern  zu  suchen.  Die  Zerstörung  der 
hinteren  grauen  Substanz  bei  G-liosis  spinalis  dagegen  pflegt  schmerz- 
los zu  verlaufen.  Eine  Myelitis  kann  einen  beträchtlichen  Theil 
des  Markes  zerstören,  ohne  Schmerzen  zu  verursachen.  Da  jedoch 
überall  hintere  Wurzeln  in  das  Kückenmark  eintreten,  werden  spinale 
Läsionen,  die  den  ganzen  Querschnitt  einnehmen,  kaum  je  ganz  schmerz- 
los sein. 

Schmerzen  können  also  in  der  Hauptsache  entstehen  entweder 
durch  Beizung  der  Endorgane,  sei  es  durch  starke  äussere  Eeize 
(physiologische  Schmerzen),  sei  es  durch  krankhafte  Veränderungen 
der  Organe  (pathologische  Organschmerzen),  oder  durch  Reizung  der 
Nervenfasern  (excentrische  oder  Nervenschmerzen),  oder  durch  Func- 
tionstörung  der  Hirnrinde  (Schmerzhallucination  oder  functionelle 
Schmerzen).  Die  Diagnose  hat  zunächst  zu  entscheiden,  ob  ein  Schmerz 
als  Organschmerz,  als  Nervenschmerz  oder  als  Hallucination  zu  be- 
trachten ist.  Diese  Aufgabe  kann  leicht  sein,  kann  aber  auch  aller 
diagnostischen  Bemühung  spotten.  Jedweder  Schmerz  ist  nur  ein 
Vorgang  in  unserem  Bewusstsein.  Die  alltägliche  Erfahrung  lehrt 
uns,  dass  seelische  Veränderungen  (Ablenkung  der  Aufmerksamkeit 
durch  Dinge,  die  uns  nahe  angehen,  Furcht,  Hoffnung  u.  s.  w.)  Schmer- 
zen stillen  und  Schmerzen  erregen  können.  Noch  deutlicher  zeigen 
uns  dies  die  hypnotischen  Erscheinungen.  Setzt  der  Hypnotische  den 
Suggestionen  keinen  Widerstand  mehr  entgegen,  so  kann  man  jeden 
Schmerz,  mag  er  durch  greifbare  Läsionen  verursacht  sein  oder  nicht, 
wegsuggeriren,  jede  Schmerzform  durch  die  Versicherung,  sie  werde 
empfunden,  empfinden  lassen.    Die  ärztliche  Kunst  hat  den  Schmerz 


Das  Gefühl.    Schmerz.  215 

auf  sehr  verschiedene  Weise  zu  stillen  gesucht  und  alle  Verfahren 
haben  in  einem  Theile  der  Fälle  Erfolg  gehabt,  mögen  sie  rationell 
gewesen  sein  oder  nicht.  Pfuscher  und  Wunderthäter  heilen  that- 
sächlich  Schmerzen  durch  die  unsinnigsten  Mittel. 

Zur  Unterscheidung  zwischen  „eingebildeten"  und  „berechtigten" 
Schmerzen  könnte  man  zunächst  Mittel  anwenden,  die  offenbar  oder 
wahrscheinlich  nur  durch  den  Glauben  helfen  können :  die  Suggestion 
durch  das  Wort  im  Wachen  oder  im  hypnotischen  Zustande,  Hand- 
auf legen,  indifferente  Verordnungen  (Aqua  destillata,  Brodpillen)  u.  s.  w., 
oder  elektrische  Ströme,  Magnete,  Metalle  u.  s.  w.  Dabei  ist  aber 
zu  beachten,  dass  das  Fehlschlagen  der  Suggestion  nicht  nur  davon 
abhängen  kann,  dass  materielle  Schmerzursachen  bestehen,  sondern 
auch  davon,  dass  vermöge  des  Bewusstseinzustandes  (Eigensugges- 
tionen)  die  Suggestion  keinen  Eingang  findet,  dass  andererseits  bei 
empfänglichem  Bewusstsein  alle  Formen  des  Schmerzes  durch  Sug- 
gestion verschwinden  können.  Immerhin  wird  der  Versuch  oft  zum 
Ziele  führen.  Man  kann  auch  so  verfahren,  dass  man  die  Mittel  an- 
wendet, die  erfahrungsgemäss  im  gegebenen  Falle  materiell  verur- 
sachte Schmerzen  zu  stillen  pflegen.  Sind  sie  wirkungslos,  so  spricht 
dies  ceteris  paribus  für  die  rein  seeliche  Natur  des  Schmerzes.  Nach 
diesen  allgemeinen  Bemerkungen  ist  es  ersichtlich,  dass  das  Folgende 
cum  grano  salis  zu  verstehen  ist. 

Der  Organschmerz  (Muskel-,  Knochen-,  Hautschmerz  u.  s.  w.) 
wird  in  ein  bestimmtes  Organ  verlegt,  er  ist  mehr  oder  weniger 
continuirlich  und,  in  der  Eegel  wenigstens,  mit  objectiven  Verände- 
rungen des  Organs  verbunden.  Auf  den  Nachweis  der  letzteren  ist 
natürlich  das  Hauptgewicht  zu  legen:  Entzündung  der  Haut,  An- 
schwellung des  Knochens  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Begreiflicher  Weise  wird 
bei  Schmerzen  in  inneren  Organen,  wo  die  Localisationsfähigkeit 
gering  ist,  dann,  wenn  objective  Veränderungen  fehlen,  am  ehesten 
es  zweifelhaft  sein,  ob  ein  Organschmerz  besteht  oder  nicht.  Auf 
diese  Dinge  näher  einzugehen,  ist  hier  nicht  möglich. 

Der  Nervenschmerz  entsteht  durch  primäre  Erkrankung  der 
Nerven  oder  dadurch,  dass  anderweite  Erkrankungen  die  Nerven- 
fasern in  ihrem  Verlaufe  reizen.  Sein  Characteristicum  ist,  dass  der 
Schmerz  auf  bestimmte  Nervenbezirke  beschränkt  ist  und,  oft  wenig- 
stens, dem  Laufe  eines  Nerven  folgt.  Tritt  der  excentrische  Schmerz 
in  der  Ausbreitung  eines  Nerven  auf,  so  findet  sich  natürlich  in  dieser 
keine  den  Schmerz  erklärende  Veränderung.  Man  wird  demnach  bei 
Schmerzen  in  anscheinend  gesunden  Theilen  immer  zuerst  an  Nerven- 
schmerzen denken.    Zweifellos  wird  die  Diagnose,  wenn  der  Schmerz 


216  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

dein  Laufe  eines  Nerven  folgt,  ein  merkwürdiges  Verhalten,  das  wohl 
durch  die  Nervi  nervorum  zu  erklären  ist.    In  diesem  Falle  findet 
sich  oft  Empfindlichkeit  des  betroffenen  Nerven  gegen  Druck  u.  s.  w., 
besonders   an  den  Stellen,  wo   der  Nerv  dicht  unter  der  Haut  ver- 
läuft, wo  er  gegen  einen  Knochen  gedrückt  werden  kann,  bestehen  soge- 
nannte Schmerzpunkte  (points  douloureux).  In  den  meisten  Fällen  wird 
die  Diagnose  dadurch  erleichtert,  dass  positive  Symptome  vorhanden 
sind,  die  auf  das'  Ergriffensein  von  Nervenfasern  deuten,  d.  h.  Hyper- 
ästhesie. Parästhesie,  Anästhesie,  Lähmung,  Krampf,  vasomotorische, 
secretorische.  trophische  Störungen  in  dem  Bezirke  des  schmerzen- 
den Nerven.    Doch  können  wir  trotz  Fehlens  solcher  Symptome  den 
Nervenschmerz  mit  Sicherheit  da  diagnosticiren,  wo   der  Schmerz 
anfallsweise  auftritt.    Dann  besteht  eine  Neuralgie  im  engeren 
Sinne  des  Wortes.    Gewöhnlich  werden  als  Erfordernisse  zur  Diag- 
nose einer  Neuralgie  genannt:  1.  dass  der  Schmerz  auf  den  Verlauf 
und  die  Ausbreitung  eines  Nerven  beschränkt  ist,  2.  dass  er  in  An- 
fällen auftritt,  3.  dass  im  Verlaufe  oder  der  Ausbreitung  des  be- 
troffenen Nerven  sich  druckempfindliche  Stellen,  Schmerzpunkte  finden. 
Aber  einerseits  kommen  1  und  3  vor  ohne  2,  dann  spricht  man  von 
Nervenschmerzen,  nicht  von  „echter"  Neuralgie,  z.  B.  bei  manchen 
Fällen  von  Neuritis.    Andererseits  können  sowohl  1  als  3  fehlen  und 
kann  doch  die  Diagnose  auf  Neuralgie  berechtigt  sein.    Die  Aus- 
breitung des  Schmerzes  wird  zuweilen  so  unbestimmt  von  den  Kranken 
angegeben,  besonders  dann,  wenn  es  sich  um  innere  Organe  handelt, 
dass  1  mehr  oder  weniger  fraglich  wird.    Die  Schmerzpunkte  sind 
fast  immer,  wenigstens  im  neuralgischen  Airfalle  selbst,  vorhanden, 
fehlen  aber  doch  nach  den  Angaben  der  meisten  Beobachter  in  ein- 
zelnen Fällen  echter  Neuralgie,   können   sich  wenigstens  bei  den 
Neuralgien  innerer  Organe  dem  Nachweise  entziehen.    Dagegen  ist 
das  Auftreten  des  Schmerzes  in  deutlichen  Paroxysmen  unter  allen 
Umständen  charakteristisch.  Nur  eine  Einschränkung  ist  zumachen: 
wenn  Krampfanfälle   schmerzhaft  sind  (tetanische  Anfälle,  Crampi, 
Uteruskrämpfe  u.  s.  w.) ,  entsteht  secundär  ein  Schmerzanfall.    Hier 
erklärt  die  Art  des  Reizes  den  paroxystischen  Schmerz.   In  allen 
anderen  Fällen  muss  da,  wo  auf  Reize  hin   oder  ohne  wahrnehni- 
bare  Reize  ein  Anfall  von  Schmerzen  entsteht  und  auf  diese  oder 
jene  Weise  die  seelische  Natur  der  Schmerzen  auszuschliessen  ist, 
eine  eigenthümliche  (moleculare)  Veränderung  im  sensiblen  Nerven 
angenommen  werden:    die    neuralgische   Veränderung.    Die 
neuralgische  Veränderung  kann  die  einzige  Wirkung  sein,  die  ein 
den  sensiblen  Nerven  treffender  Reiz  oder  sonst  ein  pathologischer 


Das  Gefühl.    Schmerz.  217 

Einfluss  hat,  dann  besteht  der  Symptomencomplex  der  Neuralgie  für 
sich  allein:  reine  oder  primäre  Neuralgie.  Oder  die  neuralgische 
Veränderung  tritt  zu  einer  Läsion  des  Nerven  hinzu,  dann  werden 
in  der  Kegel  noch  andere  nervöse  Symptome  vorhanden  sein :  secun- 
däre  Neuralgie.  Die  Diagnose  der  neuralgischen  Veränderung  wird 
in  der  Eegel  leicht  sein,  wenn  man  festhält,  dass  ihr  ein  in  Anfällen 
auftretender  Nervenschmerz  entspricht.  Schwieriger  ist  die  Unter- 
scheidung der  primären  und  der  secundären  Neuralgie.  Bestehen 
deutliche  Atrophie  oder  Lähmung,  oder  stärkere  und  dauernde  An- 
ästhesie, oder  Ernährungstörungen,  als  da  sind  Zoster,  Glanzhaut, 
Verdickung  der  Haut  u.  s.  w. ,  neben  der  Neuralgie,  so  ist  sie  eine 
secundäre,  denn  diese  Symptome  finden  sich  nur  bei  palpabler  Läsion. 
Zuckungen,  Gefässkrampf  oder  -Lähmung,  secretorische  Störungen 
können  auch  durch  den  Schmerz  selbst  reflectorisch  hervorgerufen 
werden,  werden  daher  auch  bei  reiner  Neuralgie  beobachtet.  Hyper- 
ästhesie oder  eine  geringe  Anästhesie  findet  sich  bei  reinen  Neuralgien 
während  des  Anfalls  und  kann  ihn  mehr  oder  weniger  lange  über- 
dauern, stärkere  Anästhesie  aber  ist  wohl  immer  auf  eine  palpable 
Läsion  zu  beziehen.  Bei  secundären  Neuralgien  pflegt  der  Schmerz 
nicht  rein  intermittirend  zu  sein,  sondern  die  Paroxysmen  stellen  nur 
Steigerungen  eines  mehr  oder  weniger  continuirlichen  Schmerzes  dar. 
Aus  der  Stärke  und  dem  Charakter  des  Schmerzes  (ob  reissend, 
brennend,  bohrend  u.  s.  w.)  lassen  sich  bis  jetzt  irgendwie  sichere 
diagnostische  Schlüsse  nicht  ziehen.  Ebensowenig  aus  dem  Vorhanden- 
sein von  Ausstrahlung  des  Schmerzes.  Bestehen  nur  die  Symptome 
der  neuralgischen  Veränderung,  so  kann  man  eine  tiefere  Läsion  des 
Nerven  ausschliessen,  nicht  aber  das  Vorhandensein  einer  anatomi- 
schen Läsion  überhaupt.  Vielmehr  sind  reine  Neuralgien  sehr  oft 
"Wirkungen  von  Organkrankheiten,  die  den  Nerven  durch  Druck  reizen, 
u.  U.  aber  keine  sonstigen  Symptome  machen.  So  sind  weitaus  die 
meisten  Supraorbitalisneuralgien  Wirkungen  eines  Nasen-,  beziehungs- 
weise Stirnhöhlenkatarrhs.  So  treten  Neuralgien  bei  Aneurysmen,  Neu- 
bildungen, Knochenanschwellungen  u.  s.  w.  in  den  gedrückten  Nerven 
auf.  Seltener  sind  die  reinen  Neuralgien,  bei  denen  nur  die  mole- 
culare  Veränderung  im  Nerven  anzunehmen  ist  (bei  Anämie,  bei  Ma- 
laria und  anderen  Vergiftungen).  Das  beste  Beispiel  einer  secundären 
Neuralgie  ist  die  gewöhnliche  Ischias,  bei  der  es  sich  meist  um  eine 
Perineuritis  zu  handeln  scheint:  andauernder  dumpfer  Schmerz  mit 
paroxystischen  Exacerbationen,  häufig  Parese,  Anästhesie,  Volumen- 
verminderung  des  Beines  u.  s.  w. 

Ueber  den  Sitz   der  Läsion  werden  bei  secundären  Neuralgien 


218  Untersuchung  des  Empfindiuigsapparates. 

oft  die  begleitenden  Erscheinungen  Aufschluss  geben,  bei  reinen  Neur- 
algien muss  man  natürlich  auf  etwa  vorhandene  Organverände- 
rungen  Eücksiclit  nehmen  und  ist  im  Uebrigen  auf  die  Ausbreitung 
des  Schmerzes  angewiesen.  Ist  nur  ein  Zweig  eines  Nerven  ergriffen, 
so  hat  wahrscheinlich  die  neuralgische  Veränderung  in  diesem  Zweige 
selbst  ihren  Sitz.  Bei  dem  Trigeminus  aber  ist  zu  bemerken,  dass 
dessen  Bündel  zum  Theil.  ehe  sie  central  werden,  im  Gehirn  und 
Kückenmark  einen  gesonderten  Verlauf  haben,  dass  demnach  ein 
neuralgischer  Schmerz  des  Auges  z.  B.  auf  Erkrankung  der  für  das 
Auge  bestimmten  Trigeminusfasern  entweder  vor  ihrem  Anschlüsse 
an  den  Stamm  oder  nach  ihrer  Trennung  davon  deuten  kann.  Sind 
alle  Zweige  eines  Nerven  vom  Schmerz  ergriffen,  so  kann  man  mit 
grosser  Sicherheit  den  Stamm  des  Nerven  als  erkrankt  ansehen. 
Sind  mehrere  Nerven  eines  Gliedes  neuralgisch  verändert,  so  wird 
man  zunächst  an  eine  Läsion  des  Plexus  oder  der  Wurzelfasern  den- 
ken, darf  aber  nicht  vergessen,  dass  auch  eine  multiple  Läsion  in  den 
Nerven  selbst  möglich  ist.  Das  Letztere  gilt  auch  für  den  Fall,  dass 
neuralgische  Schmerzen  in  beiden  Beinen  auftreten  (z.  B.  Schmerzen 
der  Säufer  durch  multiple  Neuritis),  wenngleich  doppelseitige  Neur- 
algien am  häufigsten  durch  Läsionen  innerhalb  des  Wirbelkanals 
zu  Stande  kommen.  Eine  doppelseitige  Armneuralgie  weist  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  Läsion  der  hinteren  Wurzeln 
(Wirbelerkrankung,  Paehymeningitis  cervicalis). 

Besondere  Erwähnung  verdienen  noch  die  lanzinir  enden  oder 
Blitz- Schmerzen.  Diese  sind  in  Anfällen  auftretende  Nerven- 
schmerzen, stellen  daher  eine  wirkliche  Neuralgie  dar.  Sie  haben 
aber  das  Eigentümliche,  bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Nerven  auf- 
zutreten, gleichen  bald  elektrischen  oder  Blitzschlägen,  bald  Messer- 
stichen, bald  der  Berührung  mit  glühendem  Eisen.  Die  Haut  über 
der  Stelle  des  Schmerzes  ist  überempfindlich.  Sie  sind  zwar  nicht 
im  strengen  Sinne  pathognostisch  für  die  tabische  Erkrankung  der 
Wurzelfasern,  dürften  aber  doch  äusserst  selten  bei  anderen  Krank- 
heiten als  der  Tabes  zu  finden  sein. 

Für  den  nur  functionellen  oder  seelischen  Schmerz  im 
Allgemeinen  ist  die  Abwesenheit  aller  objectiven  Veränderungen,  die 
Anwesenheit  anderer  Symptome  functioneller  Störung  charakteristisch. 
Am  häufigsten  A'ielleicht  entstehen  Schmerzhallucinationen  dadurch, 
dass  früher  materielle  Ursachen  des  Schmerzes  (eine  Verletzung,  eine 
Entzündung)  dagewesen  sind  und  dass,  als  diese  schwanden,  die 
Schmerzen  blieben.  Das  sind  die  Fälle,  in  denen  die  Suggestion, 
mag  sie  unverhüllt  oder  verhüllt  wirken,  am  leichtesten  dauernde 


Das  Gefühl.    Schmerz.  219 

Erfolge  erzielt.  Wie  man  leicht  begreift,  giebt  es  zahlreiche  Zwi- 
schenformen,  bei  denen  die  materielle  Ursache  zwar  noch  vorhan- 
den ist,  das  Bewnsstsein  aber  mehr  Schmerz  enthält  als  jener  ent- 
spräche. 

Bei  der  Hysterie  im  engeren  Sinne  sind  Schmerzen  sehr  häufig. 
Jede  Form  organischen  Schmerzes  kann  von  der  Hysterie  nachgeahmt 
werden.  Eigentliche  Neuralgien  sind  nicht  gerade  häufig,  häufiger 
ist  der  Zustand  als  eine  Art  von  Hyperästhesie  zu  bezeichnen. 
Z.  B.  werden  oft  als  Neuralgien  die  hysterischen  Gelenkneurosen 
bezeichnet,  doch  handelt  es  sich  hier  nicht  um  wirkliche  Neuralgien, 
sondern  um  starke  Hyperästhesie  des  Gelenkes.  So  lange  das  letztere 
ruhig  gehalten  wird,  besteht  kein  Schmerz,  nur  Bewegungsversuche 
rufen  ihn  hervor.  Oder  wenn  Schmerz  in  der  Ruhe  besteht,  so  ist 
er  doch  ein  continuirlicher.  Da  die  Gelenkneurosen  oft  nach  einem 
leichten  Trauma  des  Gelenkes  auftreten,  bestehen  wohl  anfänglich 
wirklich  geringe  Veränderungen  im  Gelenke.  Diese  würden  von 
normalen  Menschen  kaum  beachtet  werden,  rufen  aber  bei  hyste- 
rischen abnorm  starke  Eeaction  hervor  und  fixiren  die  Aufmerksam- 
keit auf  das  Gelenk.  Die  Schmerzen  sind  sozusagen  Illusionen,  Um- 
deutungen  wirklich  vorhandener  Empfindungen.  Die  Abwesenheit 
aller  objectiven  Veränderungen  des  Gelenkes,  die  u.U.  wegen  der 
reflectorischen  Muskelspannungen  nur  in  der  Narkose  nachgewiesen 
werden  kann,  die  Ueberempfindlichkeit  der  Haut  über  dem  Gelenke, 
das  Vorhandensein  zweifellos  hysterischer  Symptome,  die  Aetiologie, 
die  durch  psychische  Einflüsse  verursachten  Schwankungen  des  Be- 
findens führen  zur  Diagnose. 

Fehlen  eigentliche  hysterische  Symptome,  so  ist  die  Diagnose  viel 
schwerer.  In  dem  weiten  Gebiete  der  hypochondrischen  Zustände 
kommen  die  verschiedensten  Formen  ganz  oder  halb  eingebildeter 
Schmerzen  vor.  Man  muss  sich  vielfach  darauf  verlassen,  dass  die 
sorgfältigste  Untersuchung  keine  greifbare  Ursache  des  Schmerzes 
entdecken  lässt  und  dass  jede  rationelle  Therapie  fehlschlägt.  Als 
Topoalgie  (Blocq)  ist  ein  Schmerz  bezeichnet  worden,  der  als  ver- 
einzeltes Symptom  jahrelang  an  derselben  Stelle  bestehen  kann,  ohne 
dass  eine  örtliche  Ursache  nachzuweisen  wäre.  Ferner  giebt  es  chro- 
.nische  Zustände,  in  denen  offenbar  seelische  Schmerzen  auftreten, 
sobald  die  Theile  thätig  sind  und  dadurch  die  Kranken  zur  Unthätig- 
keit  verdammt  werden  :  A  p  r  a  x  i  a  a  1  g  e  r  a,  Es  kann  soweit  kommen, 
dass  die  Kranken  aus  Furcht  vor  den  Schmerzen  fast  vollständig 
unbeweglich  werden :  Akinesia  algera.  Kennzeichnend  für  diese 
schweren  Fälle  ist  die  Nutzlosigkeit  jeder  Therapie,  alle  Eingriffe 


220  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

verschlimmern  den  Zustand,  nur  bei  vollständiger  Kühe  befinden  sich 
die  Kranken  leidlich. 

Eine  besondere  Besprechung'  muss  endlich  zwei  Symptomen  ge- 
widmet werden:  dem  Kopfschmerz  und  dem  Rückenschmerz. 

Kopfschmerz  (Cephalaea)  heisst  ein  Schmerz,  der  von  dem 
Betroffenen  in  das  Innere  des  Kopfes  verlegt  wird.  Schmerzen  in 
den  äusseren  Theilen  des  Kopfes  bezeichnen  die  Laien  gewöhnlich 
als  Kopfreissen  oder  als  Gesichtschmerzen,  -Reissen.  Da  nun  das  In- 
nere des  Schädels  von  den  Nn.  recurrentes  des  Trigeminus,  die  sich 
hauptsächlich  in  den  Hirnhäuten,  besonders  der  Dura  verzweigen, 
versorgt  wird,  handelt  es  sich  beim  Kopfschmerz  wahrscheinlich  stets 
um  eine  Schädigung  der  genannten  Trigeminusfasern.  Die  Diagnose 
kann  auch  liier  zu  unterscheiden  suchen,  ob  die  Enden  dieser  Fasern 
gereizt  werden,  oder  der  Verlauf,  ob  Organschmerz,  oder  Nerven- 
schmerz besteht,  ob  im  letzteren  Falle  die  Reizung  der  Recurrens- 
fasern  nach  dem  Abgange  vom  Trigeminusstamm  oder  vor  der  Ver- 
einigung mit  diesem,  d.  h.  intracerebral,  statthat;  indessen  reichen 
hierzu  unsere  Mittel  meist  nicht  aus,  da  wir  in  der  Regel  ausschliess- 
lich auf  die  oft  verworrenen  Angaben  des  Kranken  angewiesen  sind. 
Ein  paroxystischer  Kopfschmerz,  dessen  Anfälle  wirklich  den  Typus 
der  Neuralgie  darstellten,  scheint  nicht  vorzukommen.  Wir  wissen 
nur,  dass  unter  bestimmten  Bedingungen  verschiedene  Formen  des 
Kopfschmerzes  zu  Stande  kommen  und  schliessen  theils  aus  Art,  Ort 
und  Verlauf  des  Schmerzes,  theils  aus  den  begleitenden  Erscheinungen 
auf  die  Natur  der  zu  Grunde  liegenden  Veränderung. 

Kopfschmerz  kommt  vor  bei  allen  anatomischen  Erkran- 
kungen der  Gehirnhäute,  bei  den  verschiedenen  Formen  der 
Meningitis,  bei  den  von  den  Meningen  ausgehenden  Neubildungen 
und  den  Erkrankungen  des  Gehirns  und  des  Schädels,  die  auf  die 
Meningen  übergreifen.  Diese  Form  des  Kopfschmerzes  ist  meist  mit 
Erbrechen,  das  offenbar  reflectorisch  entstellt,  verbunden.  Nur  wenn 
weitere  Symptome  vorhanden  sind,  wird  eine  Diagnose  möglich  sein. 
Wenn  bei  notorischen  Säufern  sehr  intensive  Kopfschmerzen  mit  Er- 
brechen auftreten,  wird  man  an  die  Möglichkeit  einer  Pachymeningitis 
haeniorrhagica  denken  müssen,  bei  Tuberkulösen  legen  dieselben  Er- 
scheinungen den  Gedanken  an  eine  sich  entwickelnde  Meningitis  tub. 
nahe,  nach  Kopfverletzungen,  im  Verlaufe  fieberhafter  Erkrankungen 
kommt  dann  die  eitrige  Meningitis  in  Frage.  Heftige  und  andauernde 
Schmerzen  an  einer  umschriebenen  Stelle  des  Kopfes  lassen,  besonders 
dann,  wenn  sie  mit  Empfindlichkeit  der  entsprechenden  Schädelstelle 
gegen  Klopfen  verbunden  sind,  an  eine  umschriebene  Affection  der 


Das  Gefühl.    Schmerz.  221 

Hirnhäute  denken  (Schädelexostosen,  circumscripte  luetische  oder 
tuberkulöse  Meningitis,  kleine  Tumoren  u. s.w.).  Es  scheint,  als  ob 
bei  Nichthysterischen  umschriebene  Empfindlichkeit  des  Schädels 
gegen  Klopfen  fast  immer  auf  ein  örtliches  organisches  Leiden  zeigte. 

Kopfschmerz  kommt  vor  bei  mechanischer  Reizung  der  Gehirn- 
häute durch  Drucksteigerung  im  Schädel.  Je  rascher  die  Stei- 
gerung eintritt,  um  so  heftiger  ist  der  bald  den  ganzen  Kopf,  bald 
mehr  die  vordere  oder  hintere,  linke  oder  rechte  Kopfhälfte  ein- 
nehmende Schmerz.  Bei  sehr  langsamer  Entwicklung  der  intracra- 
niellen  Drucksteigerung  kann  der  Schmerz  gering  sein,  ja  ganz  fehlen. 
Er  wird  gewöhnlich  als  dumpf,  überaus  quälend  und  niederdrückend 
beschrieben.  Auch  dieser  Schmerz  ist  von  Erbrechen  begleitet.  Dass 
ein  Kopfschmerz  auf  Steigerung  des  Hirndruckes  zu  beziehen  ist, 
ergiebt  sich  aus  dem  Vorhandensein  der  Stauungspapille  und  anderer 
Zeichen,  als  Pulsverlangsamung  und  Benommenheit.  In  allen  Fällen 
von  heftigem  Kopfschmerz  unbekannter  Entstehung  ist  die  ophthal- 
moskopische Untersuchung  vorzunehmen.  Eine  gewisse  Bedeutung 
hat  der  auf  den  Hinterkopf  beschränkte  Kopfschmerz  mit  Stauungs- 
papille, er  deutet  auf  ein  raumbeschränkendes  Uebel  in  der  hinteren 
Schädelgrube.  Ausser  bei  Tumoren,  Hydrocephalus  u.  s.  w.  kommt 
Steigerung  des  Hirndruckes  bei  der  Hirnblutung  vor,  da  aber  liier 
das  Bewusstsein  zu  schwinden  pflegt,  fehlt  natürlich  der  Kopfschmerz. 
Dagegen  geht  ein  solcher  oft  dem  Eintritte  der  Blutung  voraus  und 
ebenso  klagen  die  Kranken  unmittelbar  nach  dem  Insult  oft  über 
ihn.  Auch  da,  wo  der  Insult  ohne  Bewusstseinstörung  verläuft,  ist 
der  Kopfschmerz  oft  vorhanden. 

Intra  cerebrale  Läsionen,  die  nicht  mit  Steigerung  des  Druckes 
im  Schädel  verbunden  sind,  bewirken  nur  dann  Kopfschmerz,  wenn 
sie  die  Yierkügelgegend  treffen,  vielleicht  deshalb,  weil  unter 
den  Yierhügeln  die  absteigende  Trigeminuswurzel,  deren  sensorische 
Natur  freilich  von  Vielen  geläugnet  wird,  verläuft.  Auf  Läsion  der 
letzteren  sind  möglicherweise  die  mit  Erbrechen  verbundenen  Kopf- 
schmerzen zu  beziehen,  die  den  Eintritt  mancher  Oculomotorius- 
lähmung begleiten  und  am  stärksten  in  der  Augengegend  empfunden 
werden.  Man  müsste  dann  annehmen,  dass  bei  solchen  Lähmungen 
die  Läsion  im  Oculomotoriuskern  oder  in  dessen  Nähe  ihren  Sitz  habe. 

Theils  als  selbständige  Krankheit,  theils  als  Symptom  anderer 
Krankheiten  tritt  der  unter  dem  Namen  Migräne  oder  Hemi- 
kranie  bekannte  Kopfschmerz  auf.  Das  Wesentliche  dieses  Leidens 
ist,  dass  ein  oft,  aber  durchaus  nicht  immer  auf  eine  Kopfhälfte  be- 
schränkter Schmerz  in  Anfällen,  die  durch  Pausen  von  Tagen,  Wochen, 


222  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Monaten  getrennt  sind.  Stunden,  einen  Tag'  oder  einige  Tage  dauern, 
durch  Ruhe  und  horizontale  Lage  gemildert  werden,  gewöhnlich  mit 
Erbrechen,  wenigstens  mit  Uebelkeit,  zuweilen  auch  mit  Durchfall 
enden,  sich  zeigt.  Tor  dem  Anfalle  werden  oft  auraartige  Symptome 
beobachtet :  Flimmerscotom  (S.  175).  Gähnen.  Aufstossen,  Heisshunger, 
Mensen.  Ohrensausen.  Stiche  im  Kopfe.  Parästhesien  in  einer  Körper- 
hälfte. Frieren,  allgemeine  Abgeschlagenheit,  seelische  Verstimmung, 
beängstigende  Träume.  Im  Anfälle  besteht  zuweilen  Hyperästhesie 
der  Kopfhaut  und  Schnierzhaftigkeit  der  Trigeminuspunkte  bei  Druck; 
jede  Bewegung,  besonders  die  der  Augen,  jede  stärkere  Beizung  der 
Sinnesorgane  steigert  den  Schmerz.  Oft  bestehen  vasomotorische  Sym- 
ptome, die  wahi'scheinlich  reflectorisch  hervorgerufen  sind:  Blässe 
und  Kühle,  oder  Böthung  und  Wärme  der  schmerzenden  Kopf  hallte, 
seltener  sind  Veränderungen  der  Pupillenweite  auf  der  Seite  des 
Schmerzes.  In  einzelnen  Fällen  findet  eine  Häufung  der  Anfälle  statt 
«Status  hemicranicus).  Zuweilen  scheinen  unvollständige  heniikraniscke 
Anfälle  oder  Symptome,  die  an  Stelle  des  Anfalles  treten  (hemikra- 
nische  Aecprivalente),  vorzukommen:  nur  Flimmerscotom,  oder  dieses 
mit  Ohnmacht,  psychische  Verstimmung  mit  Erbrechen  u.  s.  w. 

Die  Migräne  kommt  vor  als  selbständige  „Neurose"  (idiopathische 
Migräne),  das  Leiden  beginnt  dann  im  Kindes-  'oder  Jugendalter,  ist 
fast  stets  ererbt.  Sie  soll  ferner  als  reflectorische  Erscheinung  beob- 
achtet werden:  besonders  bei  chronischen  Erkrankungen  der  Nasen- 
sckleimhaut  und  bei  Bandwurm.  Sie  kommt  endlich,  und  zwar  ziem- 
lich selten,  als  Symptom  organischer  Nervenkrankheiten  vor.  kann 
das  erste  oder  eines  der  ersten  Symptome  der  Tabes,  der  progres- 
siven Paralyse  sein,  kann  als  Vorläufer  bei  Herderkrankungen  des 
Gehirns  sich  zeigen.  Die  Diagnose  der  Migräne  ist  in  der  Eegel 
leicht,  nur  bei  unvollständigen  Anfällen  oder  heniikranischen  Aecjui- 
valenten  können  Schwierigkeiten  entstehen,  kann  unter  Umständen 
neben  der  Migräne  Epilepsie  in  Frage  kommen.  An  die  Existenz 
der  reflectorischen  und  der  symptomatischen  Migräne  niuss  man  sich 
erinnern,  wenn  die  Anfälle  bei  erblich  nicht  belasteten  Leuten  und 
im  späteren  Lebensalter  sich  zeigen.  In  diesen  Fällen  kann,  auch 
wenn  die  Untersuchung  negativ  ausfällt,  die  Diagnose  einer  idio- 
pathischen Migräne  nicht  mit  Sicherheit  gestellt  werden.  Auch  können 
Glaukomanfälle  für  Migräne  gehalten  werden. 

AVeit  er  ist  zu  erwähnen  der  Kopfschmerz  der  Syphilitischen. 
Er  nimmt  gewöhnlich  die  Gegend  der  Scheitelbeine  ein.  wird  in  der 
Nacht  stärker  und  verschwindet  rasch  bei  Anwendung  von  Jodkalium. 

Die  Kopfschmerzen,  die  bei  acuten   fieberhaften   Infec- 


Das  Gefühl.    Schmerz.  223 

tionskraukheiten,  nach  acuten  Vergiftungen  (z.  B.  durch 
Alkohol)  vorhanden  sind,  werden  kaum  diagnostische  Schwierigkeiten 
machen. 

Sehr  häufig  ist  Kopfschmerz  bei  Anämie.  Er  nimmt  den  ganzen 
Kopf  oder  vorwiegend  die  Stirngegend  ein.  Die  directen  Symptome 
der  Anämie,  die  Verschlimmerung  hei  aufrechter  Stellung,  die  Besse- 
rung bei  horizontaler  Lage  gelten  als  seine  Kennzeichen.  Doch  muss 
man  sich  hüten,  jeden  Kopfschmerz  bei  islamischen  für  directe  Wir- 
kung der  Anämie  zu  halten.  Nur  da,  wo  diese  sehr  stark  ist,  oder 
wo  andere  Ursachen  auszuschliessen  sind,  ist  der  Schluss  berechtigt. 
Man  muss  sich  wohl  vorstellen,  dass  hier,  wie  bei  den  Neuralgien 
der  Anämischen,  abnorme  Stoffwechselproducte  die  Nerven  reizen. 

Sehr  häufig  wird  Congestion  oder  Blutandrang  zum  Kopfe 
als  Ursache  des  Kopfschmerzes  diagnosticirt,  besonders  dann,  wenn 
der  Kopf  geröthet  ist,  Neigung  zu  Nasenbluten  besteht,  Bücken  u.  s.  w. 
den  Schmerz  steigert.  Inwieweit  die  vermehrte  Blutfülle  directe  Ur- 
sache ist,  inwieweit  der  Schmerz  und  die  Congestion  gemeinsame 
Folgen  einer  dritten  Veränderung  sind,  lässt  sich  meist  nicht  bestimmen. 
Vielleicht  spielen  in  manchen  Fällen  hartnäckiger  Verstopfung  i\.  s.  w. 
Selbstinfectionen  durch  Verdauungsproducte  eine  Solle.  Bei  Ver- 
stopfung kommen  besonders  Hinterkopf-  und  Nackenschmerzen  vor. 
Chemische  Wirkungen  liegen  offenbar  dem  urämischen  Kopfschmerze 
zu  Grunde,  wahrscheinlich  auch  den  sonstigen  Kopfschmerzen  der 
Nierenkranken,  denen  der  Diabeteskranken.  Chronische  Intoxicationen 
im  engeren  Sinne  (durch  Blei,  Arsen,  Quecksilber  u.  s.  w.)  können 
ebenfalls  Ursache  des  Kopfschmerzes  sein,  ohne  dass  er  irgendwie 
eine  charakteristische  Art  hätte.  EeflectorischeKopfschmer- 
zen  nicht-hemikranischer  Art  werden  bei  Erkrankungen  der  Nasen- 
schleimhaut, bei  Kefractionsanomalien  des  Auges,  bei  Helminthen 
u.  s.  w.  beschrieben. 

Bei  der  Neurasthenie  ist  der  Kopfschmerz  oft  eins  der  wich- 
tigsten Symptome.  Er  wird  von  den  Kranken  in  der  verschiedensten 
Weise  beschrieben:  als  ob  ein  eiserner  Reifen  um  den  Kopf  gelegt 
wäre,  als  ob  der  Kopf  zerspringen  wollte,  als  ob  der  Schädel  bloss 
läge,  als  würde  mit  Fädchen  an  dem  Gehirne  gezogen,  als  ob  der 
Kopf  mit  Luft,  Blei  gefüllt  wäre,  als  ob  es  im  Kopfe  schwappte,  als 
ab  im  Kopfe  gehämmert  würde  u.  s.  w.  Häufiger  noch  als  eigent- 
licher Schmerz  ist  ein  dumpfer  Druck  im  Kopfe,  besonders  im  Hinter- 
kopfe: Kopfdruck.  Zuweilen  beklagen  sich  die  Kranken  über  das 
Gefühl  einer  schweren  Bleikappe,  oder  es  ist  die  Kopfhaut  hyper- 
ästhetisch und  es  besteht  ein  Gefühl  des  Brennens  auf  den  Scheitel. 


224  Untersuchung  des  Empfindungsapparates. 

Die  Abwesenheit  von  Symptomen  organischer  Erkrankung,  die  An- 
wesenheit anderer  neurasthenischer  Symptome,  das  Entstehen  oder 
die  Steigerung  der  Beschwerden  durch  geistige  Anstrengung  und  ge- 
müthliche  Erregung  lassen  meist  die  Diagnose  stellen.  Ob  aus  diesen 
Kopfschmerzen  auf  vasomotorische  Störungen  im  Schädel  zu  schliessen 
ist.  oder  wie  sie  sonst  zu  erklären  sind,  steht  dahin. 

Aelmlich  wie  bei  Neurasthenie  liegen  die  Verhältnisse  bei  Hy- 
sterie und  anderen  Neurosen.  Bei  Hysterie  ist  von  einer  gewissen 
diagnostischen  Wichtigkeit  die  Beschränkung  des  Schmerzes  auf  ein- 
zelne Stellen  des  Kopfes,  besonders  den  Scheitel  (Clavus  hystericus). 

Endlich  kommt  als  selbständiges  chronisches  Leiden  der  soge- 
nannte habituelle  Kopfschmerz  bei  sonst  Gesunden  vor.  Er 
soll  meist  doppelseitig  sein  und  auch  sonst  dem  neurasthenischen 
Kopfschmerze  gleichen.  Man  darf  ihn  nur  da  diagnosticiren,  wo  bei 
sorgfältiger  Untersuchung  keine  der  bisher  genannten  Ursachen  nach- 
zuweisen ist,  und  wird  auch  dann  in  dieser  Diagnose  nur  einen  Aus- 
druck unserer  Unwissenheit  zu  sehen  haben.  Am  häufigsten  ent- 
puppen sich  die  Fälle  des  habituellen  Kopfschmerzes  bei  genauerem 
Zusehen  als  atypische  Migräne.  Die  Verwechselung  mit  Eheumatis- 
mus  der  Kopfschwarte,  der  zum  „Kopfreissen"  gehört  und  sich  durch 
Druckempfindlichkeit  der  schmerzenden  Theile  kund  giebt,  muss  na- 
türlich vermieden  werden.  Nicht  selten  wird  Kopfschmerz  mit  Supra- 
orbitalisneuralgie  verwechselt,  obwohl  bei  genauem  Befragen  die 
Kranken  im  letzteren  Falle  den  Schmerz  in  den  Knochen  verlegen 
und  Druck  auf  den  Nerven  ausstrahlende  Empfindungen  bewirkt. 
In  einem  Falle  schwerer  Migräne  hatte  ein  Chirurg  den  N.  supra- 
orbit.  zweimal,  natürlich  ohne  Nutzen  resecirt. 

Auch  Kücken  seh  merz  ist  eine  häufige  Klage.  Er  kann  durch 
rheumatische  u.  s.  w.  Erkrankung  der  Muskeln  entstehen,  er  wird 
daim  vom  Kranken  meist  richtig  in  die  letzteren  verlegt,  tritt  nur 
bei  bestimmten  Bewegungen  auf,  die  kranken  Muskeln  sind  schmerz- 
haft bei  Druck  und  bei  passiven  Bewegungen.  Dem  Kopfschmerze 
vergleichbar  ist  der  in  die  Wirbelsäule  selbst  verlegte  Schmerz,  der 
bald  durch  Keizung  der  Wirbel  oder  der  Meningen  entsteht,  bald 
functionell  ist. 

Von  den  Erkrankungen  der  Wirbel  ist  besonders  die  Arthritis 
deformans  der  Wirbelsäule  schmerzhaft.  Der  Schmerz  kann  die 
ganze  Wirbelsäule  oder  nur  Abschnitte  einnehmen,  ist  mehr  oder 
weniger  andauernd,  wird  durch  Bewegungen  beträchtlich  gesteigert, 
bewirkt  daher,  schon  ehe  mechanische  Hindernisse  der  Bewegung 
entstehen,  Steifigkeit  der  Wirbelsäule,  die  kranken  Wirbel  sind  in 


Das  Gefühl.    Schmerz.  225 

massigem  Grade  druckempfindlich,  zuweilen  zeigt  sich,  und  das  ist 
am  meisten  charakteristisch,  bei  Bewegungen  ein  Knarren. 

Bei  Tuberkulose,  Carcinose  u.  s.  w.  der  Wirbel  kann  als 
erstes  Symptom  ein  umschriebener  Eückenschmerz,  der  durch  Be- 
wegungen gesteigert  wird,  bestehen.  Meist  treten  schon  frühzeitig 
Wurzelsymptome,  besonders  excentrische  Schmerzen  auf.  Bei  der 
Diagnose  ist  natürlich  das  Hauptgewicht  auf  objective  Veränderungen 
der  Wirbel:  Verdickung,  Knickung,  zu  legen,  ist  die  Aetiologie  zu 
berücksichtigen  u.  s.  w.  Für  Erkrankungen  der  Halswirbelsäule  ist 
es  bekanntlich  charakteristisch,  dass  beim  Erheben  des  Kopfes  die 
Hände  zu  Hülfe  genommen  werden. 

Bei  spinaler  Meningitis  bestehen  gewöhnlich  noch  andere 
Symptome  ausser  dem  Eückenschmerze,  die  die  Diagnose  ermöglichen 
Der  Schmerz  ist  sehr  intensiv,  die  Beweglichkeit  ist  sehr  vermindert, 
schmerzhafte,  reflectorische  Muskelspannungen  treten  jedem  Versuche 
passiver  Bewegung  entgegen.  Die  Wurzelsymptome,  das  Fieber,  die 
ätiologischen  Beziehungen,  der  Verlauf  müssen  in  Betracht  gezogen 
werden.  Bei  cerebraler  Meningitis  beweisen  Schmerzhaftigkeit  und 
Steifheit  der  Wirbelsäule,  der  reflectorische  Krampf  der  Rücken- 
muskeln  (Opisthotonus)  die  Theilnahme  der  Meninx  spinalis.  Es 
scheint,  als  ob  auch  leichte  chronische  Affectionen  der  Rückenmarks- 
häute  vorkämen,  die  sich  wesentlich  nur  durch  Rückenschmerz,  be- 
sonders Schmerzhaftigkeit  bei  Bewegungen  der  Wirbelsäule,  verrathen. 

Bei  den  Krankheiten  des  Rückenmarkes  selbst  spielt 
der  Rückenschmerz  keine  grosse  Rolle.  Nur  hie  und  da  findet  er 
sich  bei  Tabes  und  Myelitis,  active  und  passive  Bewegungen  sind 
selten  schmerzhaft,  öfter  finden  sich  einzelne  Wirbel,  die  bei  kräf- 
tigem Drucke,  bei  elektrischer  Reizung  u.  s.  w.  empfindlich  sind.  Bei 
Tumoren  kann  natürlich  stärkerer  Rückenschmerz  entstehen,  sobald 
die  Meningen  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden. 

Dagegen  ist  Rückenschmerz  überaus  häufig  bei  den  sog.  func- 
tio n eilen  Neurosen.  Für  diesen  Schmerz  ist  im  Gegensätze  zu 
dem  bei  organischen  Erkrankungen  kennzeichnend,  dass  die  Beweg- 
lichkeit der  Wirbelsäule  ganz  oder  fast  ganz  frei  ist,  während  bei 
Druck  u.  s.  w.  sich  eine  Hyperästhesie  der  Wirbelsäule  findet,  so 
stark,  wie  sie  bei  organischen  Läsionen  nie  beobachtet  wird.  Zu- 
weilen fehlt  der  spontane  Schmerz  ganz,  untersucht  man  aber  die 
Wirbelsäule,  so  schreit  der  Kranke  bei  Berührung  einzelner  Wirbel, 
wird  bleich,  droht  ohnmächtig  zu  werden,  oder  entzieht  sich  durch 
stürmische  Bewegungen  dem  Untersucher.  In  anderen  Fällen  wird 
fortwährend  über  Rückenschmerz  geklagt,  der  Druck  der  Kleider, 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl..  15 


226  Untersuchung  des  Schädels  und  der  Wirbelsäule. 

die  Eückenlage  nicht  vertragen,  bei  zufälligem  Anleimen  entstehen 
dieselben  Erscheinungen  wie  absichtlichem  Drucke.  Gelegentlich  er- 
regt schon  ein  leiser  Druck  heftigen  Schmerz,  während  tiefer  Druck, 
sobald  die  Aufmerksamkeit  anderweit  festgehalten  ist,  ohne  Wirkung 
bleibt.  Aus  diesem  Verhalten  darf  man  nicht  ohne  Weiteres  auf 
Simulation  schliessen.  Am  häufigsten  ist  der  zwischen  den  Schulter- 
blättern gelegene  Abschnitt  der  Wirbelsäule  schmerzhaft.  Der  Cha- 
rakter des  Schmerzes,  das  Fehlen  aller  Zeichen  organischer  Läsion, 
die  Anwesenheit  anderer  hysterischer  oder  neurasthenischer  Sym- 
ptome machen  die  Diagnose  leicht.  Bildet  der  Rückenschmerz  das. 
Hauptsymptom.  so  spricht  man  wohl  von  „Spinalirritation".  Meist 
handelt  es  sich  dann  um  jugendliche  weibliche  Kranke,  die  als  Xeu- 
rasthenische  mit  hysterischer  Färbung  bezeichnet  werden  können. 
Auch  bei  der  sog.  traumatischen  Neurose  tritt  neben  anderen  hyste- 
rischen Symptomen  oft  der  Eückenschmerz  in  den  Vordergrund. 

VI.   Untersuchung  des  Schädels  und  der  Wirbelsäule. 

Die  knöchernen  Hüllen  des  Gehirns  und  Bückermiarks  bedürfen 
besonderer  Aufmerksamkeit. 

Am  Schädel  ist  zunächst  dessen  Grösse  und  Form  zu  be- 
achten. Man  misst  den  grössten  Umfang  mittels  des  Centimeter- 
bandmaasses.  Er  beträgt  bei  lebenden  erwachsenen  Deutschen  etwa 
56  Zentimeter  für  den  Mann,  54  Centini  et  er  für  das  Weib.  Bei  ge- 
sunden Kindern  ist  in  den  ersten  2  Lebensjahren  der  Kopfumfang 
um  ein  Geringes  grösser  als  der  Brustumfang,  bei  Neugeborenen 
beträgt  er  etwa  34  Centimeter.  Abnorme  Kleinheit  des  Schädels 
bezeichnet  man  als  Mikrocephalie,  abnorme  Grösse  als  Makro- 
cephalie.  Die  hydrocephalische  Kopfform  ist  dadurch  aus- 
gezeichnet, dass  an  der  Erweiterung  der  Schädelkapsel  besonders 
die  Scheitel-  und  Stirnbeine  betheiligt  sind,  die  Stirn  yorgebuchtet 
erscheint.  Von  anderweiten  Anomalien  der  Schädelform  (Dolicho- 
Brachy-.  Bhombo-,  Lepto-,  Khinocephalus)  überzeugt  man  sich  leicht 
durch  Gesicht  und  Getast.  es  wird  zu  klinischen  Zwecken  nur  aus- 
nahmeweise nöthig.  mit  dem  Bandmaasse  und  dem  Tasterzirkel  vor- 
zugehen. Am  wichtigsten  sind  die  Asymmetrien  des  Schädels  als 
Degenerationzeichen.  Ein  Bild  der  Kopfform  kann  man  sich  leicht 
dadurch  verschaffen,  dass  man  dem  Kopfe  einen  starken  Bleidraht 
anpasst.  sei  es  in  dieser,  sei  es  in  jener  Richtung,  und  dann  die  er- 
haltene Curve  auf  dem  Papiere  nachzeichnet. 

Ferner  ist  zu  prüfen,  ob  irgendwo   am  Schädel  sich  Buckel 


Untersuchung-  des  Schädels  und  der  Wirbelsäule.  227 

oder  Einsenk u n gen  finden.  Bei  Narben  der  Kopfhaut,  ob  sie 
mit  der  Unterlage  verwachsen  sind,  ob  ihnen  eine  Impression  des 
Schädels  entspricht,  ob  sie  empfindlich  sind.  Bei  Kindern  ist  auf  das 
Verhaltender  Fonta'n  eilen  und  etwaige  weiche  Stellen,  besonders 
am  Hinterkopfe  (Craniotabes),  zu  achten. 

Durch  Beklopfen  des  Schädels  sind  umschriebene  empfindliche 
Stellen  zu  entdecken.  Diese  sind  wichtig,  während  allgemeine  Hyper- 
ästhesie des  Kopfes  von  weit  geringerer  Bedeutung  ist.  Sie  finden  sich 
zwar  hie  und  da  auch  bei  Hysterischen,  deuten  aber  in  der  Mehr- 
zahl die  Fälle  auf  eine  örtliche  Läsion  in  der  Schädelhöhle  hin.  Es 
ist  auch  empfohlen  worden,  zu  untersuchen,  ob  die  Nähte  besonders 
empfindlich  seien,  indem  man  mit  dem  Fingernagel  über  die  Kopf- 
knochen  hinfährt.  Auf  die  Kopfhaut  beschränkte  Anästhesie  soll  bei 
fimctionellen  Neurosen  nicht  selten  sein. 

An  der  Wirbelsäule  prüft  man  zunächst,  ob  ihre  Form 
normal  ist,  ob  die  Linie  der  Dornfortsätze  seitliche  Ausbiegungen 
zeigt  (Scoliosis),  deren  geringere  man  wahrnimmt,  wenn  man  die 
Dornfortsätze  mit  dem  Finger  verfolgt,  ob  ausserdem  eine  Axen- 
drehung  stattgefunden  hat,  ob  die  normalen  Krümmungen  von  vom 
nach  hinten  vorhanden  sind,  oder  ob  irgendwo  eine  zu  starke  Krüm- 
mung oder  gar  eine  Knickung  der  Wirbelsäule  sich  zeigt  (Kyphosis 
oder  abnorme  nach  hinten  convexe,  Lordosis  oder  abnorme  nach 
vorn  convexe  Krümmung,  Gibbus  oder  Spitzbuckel),  welche  Wirbel 
sich  an  der  etwaigen  Deformität  betheiligen.  Gibbus  kommt  bei 
Fractur  oder  bei  Caries  der  Wirbel  vor  und  die  winkelförmige  Ky- 
phose kann  zu  Compression  des  Rückenmarkes  führen,  während 
dies  die  bogenförmigen  Kyphosen  in  Folge  von  Ehachitis  u.  s.  w. 
fast  nie  thun. 

Die  Beweglichkeit  wird  untersucht,  indem  man  Beugungen 
nach  vorn  und  hinten,  nach  rechts  und  links  vornehmen  lässt.  Es 
ist  darauf  zu  achten,  ob  die  Bewegungen  in  normaler  Excursion 
möglich  sind  (wobei  bemerkenswerth ,  dass  bei  functionellen  Stö- 
rungen fast  nie  Steifigkeit  der  Wirbelsäule  beobachtet  wird),  ob  bei 
ihnen  Schmerzen  eintreten,  ob  sich  bei  ihnen  Knarren  zeigt  (Arthri- 
tis deformans). 

Endlich  ist  die  Empfindlichkeit  der  ruhenden  Wirbel  durch 
Druck  mit  dem  Finger  auf  die  Dorn-  und  Querfortsätze,  durch  Klopfen, 
durch  einen  heissen  Schwamm  oder  durch  den  elektrischen  Strom 
zu  prüfen  (vergl.  S.  225).  Schmerzhaftigkeit  der  Wirbel  bei  Druck 
ii;  s.  w.  bezeichnet  man  oft  als  Spinalirritation  (siehe  oben). 
Auch  auf  das  Vorkommen  ausstrahlender  Empfindungen  ist  zu  achten. 

15* 


228  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

VII.  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

Da  alle  Organe  des  Körpers  mit  dem  Nervensysteme  in  Verbin- 
dung und  sozusagen  unter  seiner  Leitung  stehen,  bewirken  Läsionen 
des  Nervensystems  nicht  nur  Störungen  der  seelischen  Thätigkeiten, 
der  Bewegung  und  Empfindung,  sondern  auch  vielfache  anderweite 
Krankheitserscheinungen,  ziehen  umgekehrt  alle  möglichen  Krank- 
heiten das  Nervensystem  in  Mitleidenschaft.  Die  Untersuchung  des 
Nervenkranken  hat  sich  daher  nicht  auf  die  genannten  Functionen 
zu  beschränken,  sondern  den  gesammten  körperlichen  Zu- 
stand zu  umfassen.  Die  Prüfungsmethoden  sind  natürlich  die 
der  Klinik  überhaupt,  wir  können  hier  nur  auf  die  Punkte  hinweisen, 
die  besonderer  Beachtung  bedürfen. 

Von  einer  gewissen  Bedeutung  ist  zunächst  die  Constitution, 
ob  gross,  ob  klein,  ob  untersetzt,  ob  schlank  u.  s.  w.,  ferner  die 
allgemeine  Ernährung,  ob  fett  oder  mager,  wohlgenährt  oder 
kachektisch  u.  s.  w. 

Man  muss  sich  aber  hüten,  zu  viel  Gewicht  auf  die  Constitution  und 
die  allgemeine  Ernährung  zu  legen.  Insbesondere  liegt  kein  Grund  vor, 
einen  „apoplektiscken  Habitus"  anzunehmen.  Bei  den  sog.  functionellen 
Neurosen  findet  man  sehr  verschiedenes  Verhalten,  bald  blühende  Ernährung, 
bald  Abmagerung  und  Anämie.  Letzteres  besonders  in  den  Fällen  lang- 
dauernder  Schlaflosigkeit  und  Appetitlosigkeit.  Auf  jeden  Fall  ist  es  falsch, 
die  Anämie  "für  eine  regelmässige  Begleiterin  functioneller  Neurosen  zu 
halten.  Andererseits  darf  man  natürlich  aus  einem  guten  Ernährungzustande 
keinen  Grund  gegen  das  Vorhandensein  organischer  Läsionen  entnehmen, 
da  die  meisten  chronischen  Krankheiten  des  Gehirns  und  Rückenmarks 
die  Ernährung  lange  Zeit  ungestört  lassen  können.  Bei  dem  Verdachte  auf 
bösartige  Neubildungen  lässt  nur  das  Vorhandensein  der  Kachexie,  be- 
sonders der  graugelblichen  Verfärbung  der  Haut,  nicht  ihr  Fehlen,  einen 
Schluss  zu.  Liegen  Gründe  vor,  einen  Hirnabscess  zu  vermuthen,  so  kann 
der  Nachweis  einer  Ernährungstörung,  wie  sie  eben  bei  chronischen  Eite- 
rungen beobachtet  wird,  die  Diagnose  gewichtig  unterstützen.  Das  Ent- 
sprechende gilt  von  tuberkulösen  Processen. 

Nicht  minder  wichtig  als  bei  anderen  Krankheiten  ist  hier  viel- 
fach die  Beobachtung  der  Körpertemperatur. 

Steigerung  der  Temperatur  bei  Nervenkrankheiten  ist  eine  Wirkung 
entweder  der  Krankheitsursache  oder  der  Läsion  des  Nervensystems. 

Fieber  kann  die  entzündlichen,  beziehungsweise  infectiösen  Krank- 
heiten des  Nervensystems  begleiten.  Es  ist  regelmässig  vorhanden  bei  den 
acuten  oder  subacuten  Formen  der  Meningitis,  sowohl  der  eitrigen  nach 
Schädelverletzung,  Ohreiterung  u.  s.  w.,  als  der  tuberkulösen,  als  der  epide- 
mischen cerebrospinalen,  ohne  dass  die  Curve  charakteristische  Eigenthüm- 
lichkeiten  zeigte.  (Näheres  s.  bei  Wunderlich,  Das  Verhalten  der  Eigen- 


Körpertemperatur.  229 

wärme  u.  s.  w.  1870.  S.  371,  und  in  den  Lehrbüchern  der  spec.  Pathologie.) 
Bei  den  chronischen  Formen  der  tuberkulösen  Meningitis  kann  das  Fieber 
zeitweise  ganz  fehlen,  doch  treten  wohl  immer  von  Zeit  zu  Zeit  Tempera- 
tursteigerungen  ein.  Aehnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  Hirnabscess,  hier 
kann  ein  einmaliger  oder  wiederholter  Schüttelfrost  von  grosser  diagnosti- 
scher Bedeutung  sein.  Tritt  eine  Perforation  des  Abscesses  an  der  Hirn- 
rinde oder  in  die  Ventrikel  ein,  so  pflegt  die  Temperatur  hoch  anzusteigen. 
Ob  solitäre  Hirntuberkel  Fieber  bewirken,  ist  nicht  sicher  zu  sagen.  Oft 
fehlt  das  Fieber,  und  wo  es  vorhanden  ist,  lassen  sich  in  der  Regel  ander- 
weitige tuberkulöse  Processe  nachweisen.  Zu  den  fieberhaften  Krankheiten 
sind  die  acute  Encephalitis  der  Kinder  und  die  acute  Poliomyelitis  zu 
rechnen,  insofern  sie  mit  Temperatursteigerung  einzusetzen  pflegen.  Viel- 
leicht kommt  in  milderer  Form  ähnliches  bei  den  sogenannten  rheuma- 
tischen Lähmungen  einzelner  Nerven  vor.  Sicher  beobachtet  ist  Fieber  bei 
der  sogenannten  multiplen  Neuritis  und  der  acuten  aufsteigenden  Spinal- 
paralyse; hier  und  da  auch  bei  der  acuten  diffusen  Myelitis  und  bei  der 
sogenannten  acuten  (entzündlichen)  Bulbärparalyse.  Diesen  Krankheiten  ist 
vielleicht  die  von  Wer  nicke  beschriebene  acute  hämorrhagische  Polience- 
phalitis  superior  zur  Seite  zu  stellen.  Gelegentlich,  wiewohl  selten,  kommt 
Fieber  bei  der  Malaria  larvata  vor  und  kann  dann  diagnostische  Bedeutung 
haben. 

Eine  Reihe  von  Läsionen  des  Nervensystems  kann  Temperatursteige- 
rung bewirken,  doch  gewinnt  diese  nicht  oft  diagnostisches  Interesse.  Schon 
lange  bekannt  ist,  dass  bei  Verletzungen  des  Halsmarkes  beträchtliche 
Veränderungen  der  Eigenwärme  (Steigerung  bis  43,9  ",  Erniedrigung  bis 
30,2")  vorkommen.  Von  den  Herderkrankungen  des  Gehirns  steigern  oder 
erniedrigen  am  häufigsten  die  der  Brücke  und  der  Oblongata  die  Tempera- 
tur. Im  Allgemeinen  soll  bei  Hirnblutungen,  seltener  bei  Erweichungen, 
die  Temperatur  nach  dem  Anfalle  sinken,  um  beim  Verschwinden  der  Insult- 
symptome bis  zur  Norm  oder  etwas  über  sie  zu  steigen,  bei  üblem  Aus- 
gange weiter  zu  fallen  oder  aber  hoch  anzusteigen  (Bourneville).  Weiter 
begleiten  Schwankungen  der  Eigenwärme  besonders  die  progressive  Para- 
lyse. Theils  hat  man  auf  häufige  geringe  abendliche  Temperatursteigerungen 
Gewicht  gelegt,  theils  auf  das  Vorkommen  theils  super-,  theils  subnormaler 
Temperaturen  (bis  35°),  die  bald  in  Verbindung  mit  paralytischen  Anfällen, 
bald  selbständig  sich  zeigen.  Unmittelbar  nach  dem  paralytischen  Anfalle 
zeigt  sich  eine  Steigerung  der  Temperatur,  während  sie  beim  einzelnen 
epileptischen  Anfalle  in  der  Regel  fehlt.  Von  diagnostischem  Werthe  ist 
die  Beobachtung  der  Temperatur  im  Status  epilepticus.  Während  gehäufter 
epileptischer  Anfälle  pflegt  die  Temperatur  hoch  anzusteigen,  die  Reihen 
grosser  hysterischer  Anfälle  aber  steigern  die  Temperatur  nicht  oder  nur 
ganz  wenig.  Aehnlich  wie  die  epileptischen  können  auch  die  urämischen 
und  die  tetanischen  Anfälle  die  Temperatur  steigern,  beim  Tetanus  sind 
die  Maxima  der  Temperatursteigerung  überhaupt  (44,75°)  beobachtet  worden. 
Bei  Hysterischen  sollen  zuweilen  unmotivirte  excessive  Temperatursteige- 
rungen vorkommen  (?).  Kürzere  und  längere  Störungen  der  Körperwärme 
werden  zuweilen  bei  Basedowischer  Krankheit  beobachtet.  Bei  Geistes- 
kranken und  Nervösen  überhaupt  scheint  die  Temperatur  weniger  stetig 
zu  sein  als  bei  Gesunden,  leichter  durch  äussere  Einflüsse  (besonders  Ab- 


230  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

kühlung)  verändert  zu  werden.  Bemerkenswert!!  ist,  dass  bei  manchen 
Nervenkrankheiten,  bei  Myxödem  und  besonders  bei  Melancholie,  die  Tem- 
peratur dauernd  etwas  unter  der  Norm  bleibt,  ein  Umstand,  der  u.  U.  zur 
Unterscheidung  von  Simulation  benutzt  werden  kann.  Ob  bei  Nervösen 
Fieber,  das  nicht  durch  complicirende  Organkrankheiten  zu  erklären  ist, 
etwa  nach  gemttthlichen  Aufregungen  eintreten  kann,  steht  noch  dahin. 
Dass  durch  Fieber  Störungen  der  Hirnthätigkeit  bewirkt  werden,  ist 
bekannt.  Sind  diese  Störungen  sehr  intensiv  und  fehlen  andererseits  cha- 
rakteristische Zeichen  der  primären  Krankheit,  so  kann  es  zweifelhaft  er- 
scheinen, ob  nicht  eine  selbständige  Hirnerkrankung,  d.  h.  eine  Meningitis 
bestehe.  Die  Unterscheidung  z.  B.  zwischen  Typhus  und  Meningitis  kann 
vorübergehend  unmöglich  sein,  denn  die  meisten  Symptome  der  Meningitis 
kann  auch  das  Typhusgift,  beziehungsweise  die  Temperatursteigerung  ver- 
ursachen. Für  Meningitis  können  nur  unzweifelhafte  Herdsymptome :  Stau- 
ungspapille, andauernde  Augenmuskellähmung  u.  s.  w.  entscheiden.  Aehnlich 
liegen  die  Verhältnisse  bei  anderen  schweren  Infectionskrankheiten  (Pneu- 
monie, Pyämie,  Septämie,  Miliartuberkulose  u.  s.  w.). 

Bei  der  Haut  und  ihren  Anhängen,  Nägeln  und  Haaren 
ist  besonders  darauf  zu  achten,  ob  sich  an  ihnen  Anomalien  finden, 
die  erfahrungsgemäss  mit  nervösen  Störungen  in  Verbindung  stehen 
oder  stehen  können,  d.  h.  also  locale  Hyperämie  oder  Anämie,  Ekchy- 
mosen,  Pigmentirung,  Oedem,  Hyperidrosis  oder  Anidrosis,  Atrophie 
oder  Hypertrophie  der  Haut,  besonders  verdünnte  glänzende  Haut 
(peau  lisse,  glossy  skin),  Herpes  zoster,  Urticaria  oder  Neigung  zu 
solcher,  Ulcerationen ,  Gangrän,  Verfärbung  und  Verkrüppelung  der 
Nägel,  Verfärbung  und  sonstige  abnorme  Beschaffenheit  (Sprödig- 
keit  u.  s.  w.)  der  Haare. 

Ohne  über  den  Zusammenhang  zwischen  Läsionen  des  Nervensystems 
und  Veränderungen  der  Haut  etwas  entscheiden  zu  wollen,  kann  mau 
doch  das  zweifellos  häufige  Vorkommen  letzterer  bei  bestimmten  Nerven- 
krankheiten diagnostisch  verwerthen. 

An  gelähmten  Theilen  findet  man  bald  nach  Eintritt  der  Lähmung 
oft  Hyperämie  und  gesteigerte  örtliche  Temperatur,  weiter- 
hin gewöhnlich  Blässe  und  Kühle.  Bei  der  Complicirtheit  der  vaso- 
motorischen Innervation  ist  es  begreiflich,  dass  vielfache  Verschiedenheiten, 
die  vielleicht  zum  Theil  individueller  Art  sind,  vorkommen.  Wesentlich 
ist,  dass  bei  Gefässlähmung  die  Anpassung  an  äussere  Veränderungen  ge- 
stört ist.  Bei  Abkühlung  zeigt  sich  in  der  Regel  starke  Cyanose.  Zur 
Localisation  der  Lähmung  lässt  sich  das  vasomotorische  Verhalten  nicht 
wohl  benutzen,  auch  nicht  mit  Sicherheit  zur  Unterscheidung  organischer 
und  functioneller  Lähmung;  wiewohl  starke  vasomotorische  Störungen  im 
Allgemeinen  für  organische  Läsion  sprechen,  kommt  doch  auch  bei  Hysterie 
dunkel  cyanotische  Färbung  in  Verbindung  mit  Oedem  (oedeme  bleu)  vor. 
Auf  Kopf  und  Hals  (zuweilen  auch  den  Arm)  beschränkte  vasomotorische 
Störungen  lassen  eine  Läsion  der  im  Halssympathicus  vereinigten  Fasern 
annehmen.    Nur  die  weiteren  Symptome   und   die  Aetiologie   können  ent- 


Haut.  231 

scheiden,  ob  es  sieh  um  eine  Erkrankung  des  Syinpathicus  seihst  oder  um 
eine  solche  des  Halsmarkes  oder  der  Oblongata  oder  der  peripherischen 
Nervenenden,  oder  aber  um  refleetorisehe  Symptome  handelt 

Unter  Umständen,  über  die  wir  niehts  Näheres  wissen,  verbindet  sich 
mit  der  Gefässlähmung  Oedem.  Es  kommt  sowohl  bei  centralen  als  bei 
peripherischen  Läsionen  vor,  es  kann  auch  bei  functionellen  Störungen  auf 
treten.  Selten  aber  erreicht  das  nervöse  Oedem  höhere  Grade.  Diagno- 
stisch werthvoll  kann  das  Leichte  Oedem  werden,  das  sich  bei  multipler 
Neuritis  oder  Nervendogeneration  besonder-  auf  Fuss-  und  Handrücken 
zu  zeigen  pflegt,  da  es  bei  Poliomyelitis  fehlt.  Eine  leicht  mit  Oedem  zu 
verwechselnde  Erkrankung  ist  das  Myxödem,  bei  dem  die  verdickte  Haut 
prall  gespannt  ist. 

Was  von  der  Lähmung  der  Gefässnerven  gilt,  gilt  mutatis  mutandis 
auch  von  der  der  Schweissnerven. 

Beachtenswerth  ist  die  Neigung  zu  allgemeiner  Hyperidrosis.  die  die 
multiple  Neuritis  begleiten  kann.  Neigung  zum  Schwitzen  begleitet  die 
Paralysis  agitans,  oft  auch  die  Neurasthenie  (schwitzende  Hände  und  Fasse  . 
Fast  immer  ist  bei  Basedowischer  Krankheit  die  Schweissabsonderung  ge- 
steigert, sei  es,  dass  sichtbarer  Schweiss  abgesondert  wird,  sei  es,  dass 
die  Haut  nur  etwas  durchfeuchtet  ist.  Infolgedessen  ist  der  Widerstand  der 
Haut  gegen  galvanische  Ströme  bei  der  Basedowischen  Krankheit  abnorm 
gering.  Halbseitiges  Schwitzen  kommt  mit  anderen  Sympathicus-Symptomen, 
aber  auch  selbständig  vor. 

Auffallend  trocken  ist  die  Haut  beim  Myxödem  und  oft  bei  Melan- 
cholie, seltener  bei  Tabes. 

Subcutane  Blutungen  sind  bei  nervösen  Störungen  ziemlich  selten. 
Man  sieht  sie  zuweilen  bei  Tabes  an  der  Stelle  des  Schmerzes  nach  lanzi- 
nirenden  Schmerzen  auftreten,  doch  können  sie  auch  bei  anderen  Krank- 
heiten sich  zeigen.  Hier  und  da  hat  man  bei  Hysterischen  anscheinend 
ursachlose  Hautblutungen  beobachtet,  bei  Epileptischen  kommen  sie  im 
Anschluss  an  einen  Anfall  vor  und  können  ein  werthvolles  Zeichen  sein 
(besonders  kleine  Blutungen  in  der  Bindehaut,  stecknadelkopfgrosse  Blu- 
tungen der  Gesichts-  und  der  Brusthaut). 

Die  Neigung  zu  Erythemen  oder  zu  Urticariabildung  findet 
sich  meist  neben  allgemeiner  Nervosität,  nicht  oder  doch  sehr  selten  bei 
organischer  Erkrankung.  Insbesondere  besteht  die  sogenannte  Urticaria 
factitia.  bei  der  alle  leichten  mechanischen  Reizungen  der  Haut  mit  Quaddel- 
bildung beantwortet  werden,  fast  immer  mit  allgemeiner  nervöser  Reizbar- 
keit zusammen.  Anfallweises  Erythem  der  Hände  und  Füsse  mit  Schmerzen 
und  Schwellung  wird  als  besondere  Krankheit  beobachtet:  Erythromelalgie 
UWeir-Mitchell).    Erytheme  kommen  auch  bei  Morbus  Basedowii  vor. 

Die  gewöhnlich  als  trophische  Störungen  bezeichneten  Verände- 
rungen der  Haut  (besonders  umschriebene  Hypertrophie,  Ichthyosis, 
atrophische  Glanzhaut  [glossy  skin],  Vitiligo,  Herpes,  Pem- 
phigus') scheinen,  soweit  sie  mit  Nervenläsionen  zusammenhängen,  nur 
bei  der  Erkrankung  peripherischer  Nervenfasern  vorzukommen.  Man  hat 
bald  die  Spinalganglien,  bald  die  gemischten  Nerven,  bald  die  kleinen 
Hautnerven  vorwiegend  erkrankt  gefunden.  Ist  beim  Herpes  zoster  auch 
der  hintere  Ast  ergriffen,  so  kann  man  die  Erkrankung  des  Ganglion  ver- 


232  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

muthen.  Bei  centralen  Läsionen  sind  die  genannten  Symptome  bisher  nicht 
mit  Sicherheit  beobachtet  worden.  Wo  sie  etwa  bei  Hemiplegischen  vor- 
kommen, handelt  es  sich  in  der  Eegel  um  neuritische  Veränderungen,  deren 
Zusammenhang  mit  der  centralen  Läsion  nicht  bekannt  ist.  Oft  sind  sie 
auf  das  Gebiet  eines  Xervenzweiges  beschränkt,  dann  darf  man  vermuthen, 
dass  die  Läsion  in  diesem  selbst  zu  suchen  sei.  Ausser  bei  Erkrankungen 
einzelner  Xerven  ("Verletzungen,  Xeuritis),  kommen  sie  bei  den  Erkran- 
kungen vor,  wo  multiple  peripherische  Xervendegenerationen  theils  nach- 
gewiesen, theils  zu  vermuthen  sind:  besonders  bei  Tabes,  dann  bei  soge- 
nannter multipler  Xeuritis,  bei  toxischer  Xeuritis,  beim  Diabetes.  Vitiligo 
und  häufiger  abnorm  starke  Pigmentirung  der  Haut  gehören  zu  den  Sym- 
ptomen des  Morbus  Basedowii.  Die  hier  vorkommende  Bronzehaut  kann 
an  Morbus  Addisonii  erinnern,  doch  scheinen  die  Schleimhäute  frei  zu 
bleiben.  Auch  Arsenvergiftung  kann  ausser  anderen  Hautveränderungen 
Braunfärbung  bewirken. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdient  die  halbseitige  Gesichts- 
atrophie, auf  deren  Beschreibung  hier  nicht  eingegangen  werden  kann. 
Bei  ihr  finden  sich  in  der  Regel  keine  anderweiten  Zeichen  von  Xerven- 
läsion,  es  ist  daher  nicht  sicher,  ob  es  sich  überhaupt  um  eine  solche 
handelt. 

Die  gangränösen  Processe  (TJlcerationen,  Decubitus, 
mal  perforant)  sind  wohl  nur  zum  Theil  direct  mit  der  Läsion  des 
Xervensystems  in  Verbindung  zu  bringen,  hängen  zum  Theil  wohl  von 
äusseren  Schädlichkeiten  ab,  die  von  den  unempfindlichen  oder  unbeweg- 
lichen Theilen  nicht  abgewehrt  worden  sind.  Insbesondere  der  Decubitus 
acutus,  der  bei  spinalen  Läsionen  auf  dem  Kreuzbeine,  bei  cerebralen 
auf  der  Hinterbacke  der  gelähmten  Seite  auftritt,  scheint  oft  in  dieser  Weise 
zu  erklären  zu  sein.  Je  sorgfältiger  die  Pflege  des  Kranken  ist,  um  so 
seltener  zeigt  er  sich.  Das  Mal  perforant  dagegen  scheint  in  der  Regel, 
ähnlich  wie  der  Herpes,  eine  Degeneration  peripherischer  Xerven  voraus- 
zusetzen. Es  wird  am  häufigsten  bei  Tabes,  beziehungsweise  progressiver 
Paralyse,  und  bei  Diabetes  gesehen.  Eine  eigenthümliche  Stellung  nimmt 
die  sogenannte  spontane  symmetrische  Gangrän  ein.  Diese  tritt 
als  mehr  oder  weniger  oberflächliche  Verschorfung  an  den  Endgliedern, 
meist  zugleich  mit  Gefässkrampf  bei  Leuten,  die  an  allgemeinen  Xeurosen 
leiden,  in  der  Regel  jüngeren  nervösen  Frauenzimmern,  auf  und  wird  viel- 
fach als  Wirkung  des  Gefässkrampfes  angesehen.  Sie  weist  jedenfalls  nicht 
auf  schwere  organische  Läsion  hin. 

Zu  den  peripherische  Xervenläsionen  begleitenden  Ernährungstörungen 
gehören  auch  das  Spröd-  und  Rissigwerden,  die  Verkrüppelung  und  das 
Abfallen  der  Xägel,  Erscheinungen,  die  am  häufigsten  an  den  grossen 
Zehen  beobachtet  werden  (z.  B.  bei  Tabes).  Ferner  gehören  hierher  das 
Brüchigwerden,  die  Verfärbung  und  das  Ausfallen  der  Haare.  Doch  ist  zu 
bemerken,  dass  diese  Veränderungen  der  Haare  auch  bei  sog.  functionellen 
Störungen  vorkommen :  Ausfallen  und  Weisswerden  bei  Trigeminusneural- 
gien  und  heftigen  Kopfschmerzen,  Weisswerden  nach  schweren  Gemüths- 
bewegungen,  Struppigwerden  bei  psychischen  Erkrankungen,  in  seltenen 
Fällen  anfallweise  Struppigwerden  und  Verfärbung  bei  epileptoiden  Zu- 
ständen. 


Knochen  und  Gelenke. 


233 


Bei  den  Knochen  ist  auf  Reste  von  Fracturen,  als  Zeichen 
abnormer  Brüchigkeit,  bei  den  Gelenken  auf  arthritisähnliche  Ver- 
änderungen zu  prüfen.  Auf  Verunstaltung-,  Ueberzahl,  Caries,  Locker- 
heit, Ausgefallensein  der  Zähne  ist  zu  achten. 

Erkrankungen  der  Knochen  und  Gelenke,  die  mit  Wahrscheinlichkeit 
von  Erkrankung  des  Nervensystems  abhängen,  sind  bisher  am  häufigsten 
bei  Tabes  (Charcot),  beziehungsweise  progressiver  Paralyse,  und  bei 
Gliosis  spinalis,  seltener  bei 
diffuser  Myelitis  und  anderen 
Affectionen  beobachtet  wor- 
den. Entweder  handelt  es 
sich  bei  Tabes  um  ab- 
normeBrüchigkeit  der 
Knochen,  so  dass  geringe 
Anlässe  eine  Fractur  her- 
vorrufen, oder  um  Erkran- 
kungen der  Gelenke, 
die  mehr  oder  weniger  cha- 
rakteristisch verlaufen.  Das 
Gelenkleiden  tritt  gewöhn- 
lich ohne  nachweisbare  Ur- 
sache und  plötzlich  auf. 
Seine  Symptome  sind  ein  be- 
trächtlicher seröser  Erguss 
in  das  Gelenk  und  eine  zäh- 
teigige Anschwellung  in  der 
Umgebung.  Fieber  und 
Schmerzen  pflegen  zu  fehlen. 
Entweder  verschwindet  nach 
einiger  Zeit  die  Geschwulst 
wieder  und  alles  kehrt  zur 
Norm  zurück  (gutartige 
Form),  oder  es  bleiben 
schwere  Störungen  im  Ge- 
lenke zurück,  Krachen,  Dis- 
locationen  in  Folge  von  Usur 

der  Knochenoberflächen, 
Luxationen  (bösartigeForm). 
Am  häufigsten  wird  das  Knie 
befallen,  dann  die  Schulter,  weiterhin  Ellenbogen,  Hüft-,  Fuss-  und  Hand- 
gelenk, selten  die  kleinen  Gelenke.  Befällt  die  Erkrankung  die  Gelenke 
der  Fusswurzel,  so  entsteht  eine  eigenthümliche  Verunstaltung  des  Fusses, 
der  „Tabesfuss",  da  die  einzelnen  Knochen  nicht  nur  ihre  Gestalt 
verändern,  sondern  sich  auch  gegen  einander  verschieben.  Anatomisch  be- 
merkenswerth  ist,  dass  die  Usur  die  Knochenwucherung  überwiegt  und 
dass  häufig  wirkliche  Luxationen  vorkommen.  Mikroskopisch  findet  man 
eine  von  den  Haversischen  Kanälen  ausgehende  rareficirende  Atrophie  der 
Knochensubstanz,    chemisch  Decalcinirung.    Letztere   zeigt   sich   zuerst  in 


Fig.  42. 

Tabische  Arthropathie,  seit  einem  Jahre  bestehend,  das 
rechte  Kniegelenk  durch  starken  Erguss  ausgedehnt,  das  linke 
Fussgelenk  steinhart  geschwollen,  nur  unter  Krachen  beweglich. 
An  der  zweiten  Zehe  des  linken  Fusses  bestand  ein  mal  perforant. 


234  Die  Prüfung-  der  vegetativen  Functionen. 

der  Umgebung-  der  Haversischen  Kanäle  und  geht  dem  Schwunde  voraus. 
Diese  eigenartige  Alteration  des  Knochengewebes  scheint  sowohl  Ursache 
der  Fracturen  als  der  Arthropathien  zu  sein.  Erkrankt  die  Diaphyse,  so 
kommt  es  zu  jener,  erkrankt  die  Epiphyse,  zu  dieser.  Die  angegebenen 
Merkmale  unterscheiden  die  tabische  Arthropathie  hinreichend  von 
den  gewöhnlichen  Formen  der  Arthritis  deformans.  Die  Gelenkerkrankungen 
bei  Gliosis  (Syringomyelie)  betreffen  gewöhnlich  die  Arme,  können  aber 
den  tabischen  recht  ähnlich  sein.  Häufiger  als  bei  diesen  hat  man  bei 
ihnen  Vereiterung  der  Gelenke  beobachtet:  die  Misshandlung  der  ganz 
analgetischen  Theile  führen  zu  Verletzungen  und  zum  Eindringen  der  Eite- 
rungerreger. 

Chronische  oder  subacute,  meist  schmerzhafte,  mit  massiger  Schwel- 
lung verbundene  Ge lenk affectio neu  sieht  man  zuweilen  an  den  ge- 
lähmten Gliedern  der  Hemiplegischen.  Es  ist  unbekannt,  ob  etwa 
die  Neuritis  der  Hemiplegischen  in  .  solchen  Fällen  nächste  Ursache  ist, 
ob  die  Zerrung  der  der  Muskelunterstützung  beraubten  Gelenkbänder  eine 
Eolle  spielt  u.  s.  w.  Periodisch  auftretende  Gelenkschwellungen  durch 
seröse  Ergüsse,  die  3 — 10  Tage  bestehen,  dann  schwinden,  nach  2 — 4 — 6 
Wochen  wiederkehren,  gewöhnlich  ohne  wesentliche  Schmerzen,  Köthung 
u.  s.  w.  verlaufen,  sind  als  anscheinend  selbständiges  Leiden  (Hydrops  genu 
intermittens)  und  auch  bei  Morbus  Basedowii  beobachtet  worden. 

Die  Arthritis  deformans,  besonders  diejenige  Form,  die  an 
den  Finger-  und  Handgelenken  beginnt,  beide  Seiten  annähernd  symme- 
trisch befällt  und  bei  Weibern  häufiger  ist  als  bei  Männern,  ist  oft  mit 
neuritischen  Symptomen,  man  weiss  nicht  wie,  verknüpft.  Die  letzteren 
können  der  Gelenkerkrankung  vorausgehen  und  erhalten  oft  erst  durch 
das  Auftreten  dieser  ihre  richtige  Deutung.  Sie  bestehen  gewöhnlich  in 
Nervenschmerzen,  zuweilen  in  Vertaubung,  Anästhesie,  umschriebener  Mus- 
kelatrophie und  zeigen  sich  am  häufigsten  im  Gebiete  der  Nn.  medianus 
und  ulnaris.  Auch  Contractur  der  Fascia  palmaris  kommt  in  diesem  Zu- 
sammenhange vor. 

Sowohl  bei  centralen  als  bei  peripherischen  Lähmungen,  sobald  sie 
vor  vollendetem  Wachsthume  auftreten,  kommt  Zurückbleiben  der 
Knochen  im  Wachsthume  vor.  Diese  Verjüngung  der  Knochen  pflegt 
um  so  stärker  zu  sein,  in  je  früherem  Lebensalter  die  Lähmung  sich  ent- 
wickelte. Hier  und  da  hat  man  auch  übermässiges  Knochenwachs- 
thum  an  gelähmten  Gliedern  beobachtet. 

Scheinbar  spontanes  und  schmerzloses  Ausfallen  der  Zähne, 
zuweilen  auch  des  Alveolarfortsatzes,  ist  bei  Tabes  beobachtet  worden  und 
wird-  auf  Erkrankung  des  Trigeminus  bezogen.  Frühzeitige  Caries,  Ueber- 
zahl  und  Verunstaltung  der  Zähne  gehören  zu  den  Zeichen  neuropathischer 
Belastung.  .    . 

Am  Respirations-  und  Circulationsapparate  kommen 
hauptsächlich  Krampf-  oder  Lähmungserscheinungen  in  Betracht  (vgl. 
den  II.  Theil).  Auf  Anästhesie  ist  besonders  beim  Kehlkopfe  zu  achten, 
.sie  wird  durch  Berühren  mit  der  Sonde  während  der  Spiegelunter- 
suchung nachgewiesen.  Sonst  weiss  man  von  sensorischen  Störungen 
der  in  Rede  stehenden  Organe  nicht  viel.    Als  trophische  Störungen 


Respirations-  und  CirculatiousappaTat.  235 

kann  man,  wenn  man  will,  die  nervösen  Lungenblutungen  bezeichnen, 
die  in  seltenen  Fällen  bei  Hysterie  sich  zeigen.  Ihre  Diagnose  ist 
nur  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  auf  das  Vorhandensein 
anderweiter  nervöser  Symptome  und  das  dauernde  Fehlen  von  Zei- 
chen organischer  Limgenerkrankimg  zu  gründen. 

Natürlich  ist  die  Untersuchung  der  Athmungs-  und  Blutlauf- 
organe auch  insofern  von  Bedeutung,  als  sie  die  Ursachen  verschie- 
dener nervöser  Störungen  enthüllen  kann.  Bei  manchen  functionellen 
Störungen  (Krampfhusten,  Asthma,  Cephalaea,  Trigeminusneuralgie. 
vasomotorischen  Störungen  am  Kopfe  u.  s.  w.)  ist  die  Untersuchung 
der  Nasenhöhle  wichtig,  da  deren  Erkrankungen  (Polypen,  Schwel- 
lung der  Schleimhaut  der  unteren  Muskel  u.  s.  w.)  sog.  reflectorische 
Neurosen  bewirken  können.  Der  Zusammenhang  lässt  sich  durch 
den  Erfolg  therapeutischer  Eingriffe  nachweisen.  Endocarditische 
Veränderungen  und  Atherom  der  Arterien  spielen  bekanntlich  eine 
wichtige  Bolle  als  Ursache  von  Herderkranklingen  des  Gehirns.  Be- 
merkenswerth  ist,  dass  das  Vorhandensein  peripherischer  Atheromatose 
nicht  ohne  Weiteres  auf  Vorhandensein  solcher  an  den  Hirngefässen 
schliessen  lässt  und  umgekehrt  normales  Verhalten  der  peripherischen 
Arterien  Atherom  der  Hirnarterien  nicht  ausschliessen  lässt. 

Von  krampfhaften  Respirationstörungen  sind  besonders  zu  erwähnen, 
die  sogenannten  Larynxkrisen,  Anfälle,  die  bald  denen  des  Keuch- 
hustens gleichen,  bald  in  Aphonie  mit  Husten  und  mehr  oder  weniger 
starker  Dyspnoe  bestehen,  bald  hauptsächlich  das  Bild  der  Erstickung  dar- 
stellen und  starke  Cyanose,  Athmungstillstand,  Verlust  des  Bewusstseins, 
epileptiforme  Anfälle  bewirken  können.  Der  Anfall  tritt  entweder  ganz 
plötzlich  ein,  oder  es  gehen  allerhand  Empfindungen  im  Kehlkopfe,  Brennen, 
Kitzeln,  Constrictionsgefühl  u.  s.  w.  voraus.  Diese  Larynxkrisen  bilden  ein 
nicht  sehr  seltenes  Symptom  der  Tabes,  einer  Krankheit,  bei  der  auch 
Stimmbandlähmungen  häufig  vorkommen.  Sie  können  aber  auch  hysterischer 
Natur  sein.  Imgleichen  kommen  Anfälle  trockenen  Hustens,  ohne 
nachweisbare  Ursache,  sowohl  bei  Tabes  als  bei  Hysterie  zur  Beobachtung. 
Auch  beim  M.  Basedowii  und  bei  Kröpfen  überhaupt  treten  sie  auf. 

Asthma  bronchiale  ist  da,  wo  es  nicht  von  Emphysem  oder  von 
Bronchitis  abhängt,  am  häufigsten  durch  Veränderungen  der  ersten  Wege 
(Nasenpolypen  u.  s.  w.)  verursacht. 

Verschiedene  Formen  dyspnoischer  Athmung  werden  beobach- 
tet, wenn  die  Oblongata  direct  oder  indirect  (Hirnaffectionen  mit  starken 
Allgemeinerscheinungen)  lädirt  wird.  Bei  allgemeiner  Hirnlähmung  kommt 
•es  am  ehesten  zu  vertiefter  und  verlangsamter,  seufzender  Athmung  (ähn- 
lich der  toxischen  Dyspnoe:  Diabetes,  Salicylvergiftung,  Urämie  u.  s.  w.), 
in  der  Nähe  des  Todes  zu  raschem,  oberflächlichem  Athmen  oder  zu  dem 
Cheyne-Stockes'schen  Phänomen.  Anfälle  von  Lufthunger  ohne  eigentliche 
Athmungstörungen  kommen  bei  Bulbäraffectionen  vor.  Es  kann  sich  um 
diffuse  Läsionen  oder  um   systematische  Degeneration  des  Vaguskerns  im 


236  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

Verlaufe  der  progressiven  Bulbärparalyse  oder  der  Tabes  handeln.  Mög- 
lieber Weise  kann  auch  eine  peripherische  Läsion  des  Vagus  (multiple 
Neuritis,  Tumorendruck  u.  s.  w.)  verschiedene  Respirationstörungen  hervor- 
rufen. Alle  denkbaren  Formen  abnormer  Athmung  werden  bei  Hysterie 
beobachtet,  besonders  jagende  (Hunde-)  Athmung,  allerhand  Geräusche 
beim  Athmen,  Keuchen,  Stöhnen  u.  s.  w.  Das  gute  Allgemeinbefinden,  die 
bizarre  Art  der  Störung  selbst,  die  weiteren  positiven  und  negativen  Sym- 
ptome machen  in  der  Regel  die  Diagnose  leicht. 

Von  den  Störungen  der  Herzt hätigkeit  ist  diagnostisch  am  wich- 
tigsten die  Verlangsamung  durch  Vagusreizung.  Als  Ausdruck  dieser 
betrachtet  man  den  laugsamen  Puls  bei  beträchtlicher  Steigerung  des  Hirn- 
druckes ;  besonders  in  acuten  Fällen  und  bei  Bewusstlosigkeit  des  Kranken, 
z.  B.  bei  Hirnblutung  oder  Schädeltrauma,  wo  die  anderen  Symptome  in- 
tracranieller  Drucksteigerung  im  Stiche  lassen  können,  giebt  die  Beob- 
achtung des  Pulses  .werthvolle  Fingerzeige,  da  der  langsame  Puls  auf 
Reizung  des  Vaguscentrum  deutet,  die  der  Verlangsamung  folgende  Be- 
schleunigung des  dann  kleinen  und  weichen  Pulses  aber  die  Lähmung 
dieses  Centrum  anzeigt  und  damit  von  übelster  Bedeutung  ist.  Bei  Menin- 
gitis ist  die  Langsamkeit  des  Pulses  trotz  Fiebers  ein  wichtiges  Symptom. 
Bei  Tumoren  und  Abscessen  soll  relativ  früh  eintretende  Pulsverlangsamung 
auf  Sitz  in  der  hinteren  Schädelgrube  deuten. 

Fehlt  bei  fieberhafter  Krankheit  Beschleunigung  des  Pulses,  so  muss 
dies  den  Gedanken  an  eine  Hirnkrankheit  erwecken.  Auszuschliessen  ist 
natürlich  eine  andere  Ursache  der  Pulsverlangsamung  (Degeneration  des 
Herzens,  urämische,  ebolämische  Intoxication  u.  s.  w.). 

Auch  bei  Läsion  des  Halsmarkes  hat  man  abnorm  geringe  Pulsfrequenz 
beobachtet  und  als  Sympathicuslähmung  gedeutet. 

Beschleunigung  des  Pulses  kann  ausser  durch  fieberhafte  Zu- 
stände und  Herzkrankheiten  durch  nervöse  Einflüsse  verursacht  sein,  es 
handelt  sich  dann,  abgesehen  von  den  seltenen  Fällen  der  Reizung  der 
sympathischen  Herznervenfasern,  um  Läsionen,  die  den  Vaguskern  oder 
den  Nervus  vagus  treffen,  oder  um  functionelle  Störungen.  An  eine  Läsion 
des  Vagus  denkt  man  z.  B.  bei  dem  raschen  Puls  vieler  Tabeskranken, 
bei  der  beträchtlichen  Pulsfrequenz,  die  zuweilen  während  der  multiplen 
Neuritis  beobachtet  wird,  bei  der  Existenz  anderweiter  Symptome  von 
Vaguslähmung.  Weitaus  am  häufigsten  begleitet  die  Pulsbeschleunigung 
allgemeine  Neurosen,  man  kann  aus  ihr  nur  auf  gesteigerte  nervöse  Erreg- 
barkeit schliessen,  sie  findet  sich  besonders  bei  anämischen  Zuständen,  bei 
Neurasthenie,  bei  sog.  traumatischer  Neurose,  bei  Paralysis  agitans  und 
als  eins  des  Hauptsymptome  bei  Morbus  Basedowii.  Auch  Tachykardie 
in  Anfällen  kann  bei  den  genannten  Zuständen,  zuweilen  mit  lebhaften 
Beschwerden,  auftreten.  Bei  reizbarer  Schwäche  des  Nervensystems  ist 
eins  der  constantesten  Symptome  Irritablität  des  Herzens  derart, 
dass  zwar  in  der  Ruhe  die  Pulszahl  annähernd  normal  ist,  bei  den  ge- 
ringsten körperlichen  oder  psychischen  Anstrengungen  aber  sofort  beträcht- 
lich vermehrt  wird.  Dies  Zeichen  kann  iu  U.  gegen  die  Annahme  von 
Simulation  verwerthet  werden.  Unregelmässigkeit  und  Aussetzen 
des  Pulses  soll  ein  frühes  Symptom  bei  der  tuberkulösen  Meningitis  der 
Kinder  sein  (Henoch).    Sonst  kommt  Arrhythmie  fast  nur  bei  organischen 


Verdauungsapparat,  237 

Erkrankungen  des  Circulatiousapparates  und  bei  gewissen  Vergiftungen  (be- 
sonders Tabakvergiftung)  vor. 

Das  Gefühl  des  Herzklopfens  (Palpitatio)  kann  die  Tachykardie 
begleiten  und  wird  wie  diese  nur  dann  als  „nervös"  zu  bezeichnen  sein, 
wenn  alle  Zeichen  organischer  Läsion  fehlen.  Es  kann  auch  bei  ganz 
normaler  Herzthätigkeit  vorhanden  sein,  es  handelt  sich  dann  um  eine  Art 
Hyperästhesie.    Meist  tritt  es  anfallsweise  auf. 

Angina  pectoris  kann  eine  functionelle  Nervenstörung  sein.  Wenn 
aber  nicht  deutliche  Zeichen  von  Hysterie  oder  dergl.  daneben  bestehen, 
wird  es,  besonders  bei  etwas  älteren  Personen,  schwierig  sein,  eine  orga- 
nische Herzläsion  (besonders  Atherom  der  Coronararterien)  auszuschliessen. 
Auch  an  Tabakvergiftung  muss  man  denken. 

Auch  Störungen  von  Seiten  des  Verdauungsapparates 
können  Wirkung  sowohl  als  Ursache  nervöser  Störungen  sein.  Von 
Veränderungen  im  Nervensysteme  abhängig  sind  zumeist  die  Krämpfe 
und  Lähmungen  des  Magendarmkanales.  Anästhesie  lässt  sich  nur 
am  Ein-  und  Ausgange  des  Kanales  nachweisen.  Secretorische  Stö- 
rungen (beim  Speichelfiuss,  bei  den  verschiedenen  Formen  des  Er- 
brechens und  der  Diarrhoe)  sind  ziemlich  häufig.  Zu  den  trophischen 
Störungen  kann  man  das  seltene  hysterische  Blutbrechen  zählen. 
Die  Diagnose  hat  im  Allgemeinen  die  Abwesenheit  der  Symptome, 
aus  denen  eine  organische  Läsion  des  Verdauungsrohres  zu  erschlies- 
sen  ist,  einerseits,  das  Vorhandensein  anderweiter  nervöser  Störungen 
und  ihren  Zusammenhang  mit  der  Functionstörung  des  Verdauungs- 
apparates andererseits  zu  erweisen. 

Locale  Veränderungen  können  functionelle  Neurosen  befördern, 
vielleicht  hervorrufen.  Bei  vorhandener  Disposition  können  Magen- 
darmkatarrlie  hypochondrische  oder  neurasthenische  Symptome  ver- 
anlassen, in  gleicher  Sichtung  sind  oft  Hämorrhoiden  wirksam.  Ein- 
geweidewürmer sollen  zuweilen  die  verschiedensten  nervösen  Sym- 
ptome bewirken  (krampfhafte  Zufälle  bei  den  Spulwürmern  der 
Kinder,  Dj^spepsie,  Migräne  -  .Anfälle  u.  s.  w.  bei  Bandwurm),  es  ist 
daher  gut,  bei  räthselhaften  Nervenstörungen  an  sie  zu  denken. 

Bei  organischen  Nervenkrankheiten  treten  verhältnissmässig 
selten  Störungen  des  Verdauungs- Apparates  in  den  Vordergrund.  Von  ge- 
ringer diagnostischer  Bedeutung  sind  die  Störungen  der  Speichel- 
secretion.  Sie  begleiten  hie  und  da  Facialislähmungen,  bei  Sympathicus- 
läsion  sind  sie  noch  nicht  beobachtet.  Speichelfiuss  (Ptyalismus)  wird  am 
häufigsten  als  Symptom  chronischer  Bulbäraffectionen  beobachtet,  die  ande- 
ren bulbären  Symptome  klären  dann  über  seine  Bedeutung  auf.  Obsti- 
pation ist  bei  Hirn-  und  Rückenmarkskrankheiten  überaus  häufig  vor- 
handen, doch  lassen  sich  aus  ihrem  Dasein  oder  Fehlen  besondere  Schlüsse 
nicht  ziehen.  Incontinentia  alvi  hängt  theils  von  Bewusstseinstörung 
ab,  ist  theils    eine  Wirkung    der  Läsion    des    unteren  Lendenmarkes,  be- 


238  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

ziehungsweise  der  von  Her  zum  Rectum  ziehenden  Nerven.  Schmerz- 
hafte Empfindungen  in  der  Aftergegend  (Brennen,  Gefühl  des 
Gepfähltwerdens)  und  eigentliche  Schmerzanfälle  mit  Stuhldrang  (Rectum- 
krisen)  werden  bei  Tabes  beobachtet. 

Von  weit  grösserer  Bedeutung  als  die  genannten  Symptome  sind  das 
cerebrale  Erbrechen  und  die  Magen-,  beziehungsweise  Darm- 
krisen bei  spinalen  Affectionen. 

Erbrechen  kann  reflectorisch  entstehen,  wenn  die  die  Dura  versorgen- 
den Trigeminusfasern  gereizt  werden.  So  ist  es  aufzufassen,  wenn  es  in 
zweifelloser  Abhängigkeit  von  Kopfschmerz  steht:  bei  örtlicher  Läsion  der 
Dura,  bei  manchen  Hirntumoren,  beim  Einsetzen  von  Augenmuskellähmungen, 
bei  Migräne.  Ist  keine  organische  Läsion  vorhanden,  so  stellt  das  Er- 
brechen, beziehungsweise  die  Uebelkeit  ein  werthvolles  Symptom  dar,  um 
die  Migräne  von  anderweiten  Kopfschmerzen  zu  unterscheiden.  Bei  Stei- 
gerung des  intrakraniellen  Druckes  kommt  neben  dem  mit  Kopfschmerz 
verbundenen  auch  selbständiges  Erbrechen  vor,  und  ist  das  Bewusstsein 
getrübt,  so  dass  keine  Schmerzempfindung  mehr  angegeben  wird,  so  kann 
doch  das  Erbrechen  noch  fortdauern.  Sodann  begleitet  Erbrechen  oft  die 
Hirnerkrankungen,  bei  denen  es  zu  einer  mehr  oder  weniger  directen  Ein- 
wirkung auf  die  Oblongata  kommt.  Daher  sind  Tumoren  der  hinteren 
Schädelgrube,  auch  da,  wo  kein  stärkerer  Kopfschmerz  besteht,  durch  häu- 
figes Erbrechen  ausgezeichnet.  Tritt  ein  apoplektischer  Insult  mit  Erbrechen 
auf  und  ist  das  Bewusstsein  soweit  erhalten,  dass  die  Abwesenheit  stärke- 
ren Kopfschmerzes  nachgewiesen  werden  kann,  so  ist  zunächst  an  eine 
Blutung  im  Kleinhirn  zu  denken.  Besteht  Erbrechen  neben  Bewusstlosig- 
keit,  so  ist  nicht  zu  entscheiden,  ob  es  sich  um  Reizung  der  Dura,  be- 
ziehungsweise allgemeine  Drucksteigerung,  oder  um  mehr  umschriebene 
Einwirkung  auf  die  Oblongata  handelt.  Immerhin  ist  Erbrechen  sehr  selten 
bei  den  mit  Insult  beginnenden  Herdläsionen,  wenn  diese  nicht  in  der 
hinteren  Schädelgrube  ihren  Sitz  haben.  Bei  Erkrankungen  der  Oblon- 
gata selbst  (Erweichung,  Compression,  Sclerose)  ist  das  Erbrechen  ein 
directes  Herdsymptom.  Das  cerebrale,  wie  das  nervöse  Erbrechen  über- 
haupt, unterscheidet  sich  von  dem  durch  Erkrankungen  des  Magens  ver- 
ursachten dadurch,  dass  es  keine  Beziehung  zur  Nahrungsaufnahme  er- 
kennen lässt.  Ob  es  leicht  oder  schwer  eintritt,  hängt  nur  davon  ab,  ob 
der  Magen  voll  oder  leer  ist. 

Die  als  crises  gastriques  bezeichneten  Zufälle  bestehen  darin, 
dass  mehr  oder  weniger  plötzlich  heftigste  Schmerzen  in  der  Magengegend 
eintreten.  Zuweilen  beginnt  der  Schmerz  in  der  unteren  Bauchgegend  und 
steigt  dann  gegen  das  Epigastrium  auf,  oder  er  zeigt  sich  zuerst  zwischen 
den  Schulterblättern.  Er  hat  neuralgischen  Charakter  und  bringt  durch 
seine  Stärke  den  Kranken  zur  Verzweiflung,  so  dass  dieser  zuweilen  an- 
haltend schreit,  die  bizarrsten  Stellungen  einuimmt,  in  Ohnmacht  fällt.  Mit 
dem  Schmerze  tritt  Erbrechen  erst  des  Mageninhaltes,  dann  von  Schleim 
und  Galle,  schliesslich  einer  aus  Schleim,  Galle  und  Blut  gemischten  Flüssig- 
keit ein.  Es  ist  oft  unstillbar  und  macht  jede  Nahrungsaufnahme  oder 
Medication  per  os  unmöglich.  Der  Anfall  dauert  gewöhnlich  einige  Tage 
und  hört  dann  plötzlich,  wie  er  begonnen,  auf.  Im  Intervall,  dessen  Länge 
die  grössten  Verschiedenheiten  zeigt,  bestehen  keine  Magenstörungen.  Die 


Verdaunngsapparat.  239 

gastrischen  Krisen  sind  weitaus  am  häufigsten  als  Symptom  der  Tabes 
beobachtet  worden,  sie  können  unter  den  ersten  Zeichen  dieser  Krankheit 
auftreten.  Auch  kommen  hier  unvollständige  Krisen  vor,  die  nur  in  Er- 
brechen, nicht  in  Schmerz  bestehen.  In  seltenen  Fällen  treten  die  Anfälle 
als  Symptom  anderer  Rückenmarksaffectionen  oder  als  selbständiges,  schon 
in  der  Jugend  beginnendes,  wahrscheinlich  functionelles  Leiden  auf.  Daher 
kann  aus  ihrer  Existenz  allein  die  Tabes  noch  nicht  mit  Sicherheit  er- 
schlossen werden. 

Auch  Darmkrisen,  Kolikanfälle  mit  zahlreichen  flüssigen  Entlee- 
rungen, sind  ebenso  wie  einfache  hartnäckige  Diarrhoe  bei  Tabes  beob- 
achtet worden.  Mehr  oder  weniger  lange  und  heftige  Anfälle  von  Durch- 
fall bilden  ein  wichtiges  Symptom  des  M.  Basedowii.  Begreiflicher  Weise 
können  auch  Läsionen  nur  der  peripherischen  zu  Magen  und  Darm  ziehen- 
den Nerven  vorkommen,  doch  ist  über  solche  nichts  Sicheres  bekannt. 
Vielleicht  gehört  hierher  die  Bleikolik,  deren  Diagnose  bei  Berück- 
sichtigung der  Aetiologie,  des  Zahnfleischrandes,  der  hartnäckigen  Obsti- 
pation, der  auffallenden  Härte  des  langsamen  Pulses,  der  Contractur  der 
Bauchmuskeln  selten  Schwierigkeiten  macht. 

Im  Uebrigen  handelt  es  sich  meist  um  functionelle  Störungen 
und  deren  Unterscheidung  von  örtlichen  Erkrankungen  des  Verdauungs- 
apparates. Es  kommen  etwa  in  Betracht  Speichelfluss,  Schlingbeschwerden 
(Oesophaguskrampf),  AViederkäuen  (Ruminatio,  Merycismus),  die  peristal- 
tische  Unruhe  des  Magens  und  des  Darms,  Meteorismus,  Aufstossen,  abnorme 
Säurebildung  im  Magen,  Erbrechen,  Magendruck  und  Hyperästhesie  des 
Magens,  Appetitlosigkeit,  Mangel  des  Sättigungsgefühls  und  Heisshunger, 
neuralgische  Magenschmerzen  (Gastralgie,  Cardialgie,  Magenkrampf),  Darm- 
schmerzen (Colica  nervosa),  Durchfall  oder  geformte,  aber  abnorm  reich- 
liche Entleerungen,  Verstopfung. 

Es  würde  zu  weit  führen,  alle  Einzelheiten  zu  besprechen.  In  diffe- 
rentialdiagnostischer Beziehung  ist  ungefähr  folgendes  zu  sagen. 

Der  Speichelfluss,  der  bei  Idioten  und  blödsinnig  Gewordenen 
häufig  ist,  bei  Schwachsinnigen  oft  durch  Speichelansammlung  in  den  Mund- 
winkeln angedeutet  ist,  bei  Verrückten  mit  Geschmackshallucinationen  sich 
durch  fortwährendes  Ausspucken  zeigt,  bei  anderen  Irren  nicht  selten  mit 
Masturbation  in  Beziehung  stehen  soll,  bei  Hysterischen  anfallsweise  auf- 
treten kann,  wird  kaum  diagnostische  Schwierigkeiten  machen.  Der  Oeso- 
phaguskrampf kann  eine  Stenose  vortäuschen,  das  Fehlen  eines  Hinder- 
nisses bei  vorsichtiger  und  geduldiger  Sondirung,  die  Inconstanz  des  Phä- 
nomens, seine  Beziehung  zu  psychischen  Veränderungen,  die  anderweiten 
nervösen  Symptome  machen  gewöhnlich  die  Unterscheidung  leicht.  Bei 
gesteigertemNahrungsbedürfnisse  muss  man  natürlich  an  Diabetes 
denken,  doch  kommt  dasselbe,  besonders  anfallsweise,  auch  als  nervöses 
Symptom  vor.  Fehlen  des  Nahrungsbedürfnisses  oder  Widerwille  gegen 
Nahrung  (Anorexia  nervosa)  ist  in  der  Regel  hysterischer  Natur.' Die 
Anorexie  ist  zuweilen  so  hartnäckig,  dass  ernsthafte  Störungen  der  Ernäh- 
rung, starke  Abmagerung  und  Schwäche  die  Folge  sind  und  der  Anschein 
eines  schweren  organischen  Leidens  entsteht.  Ein  Ulcus  ventriculi  kann 
in  Frage  kommen,  wenn  Erbrechen  und  Cardialgie  bestehen,  wenn  nach 
jeder  Nahrungsaufnahme  Schmerz    eintritt.    Die  Wirksamkeit  von  psychi- 


240  Die  Prüfung'  der  vegetativen  Functionen. 

sehen  Veränderungen,  die  Existenz  anderer  functioneller  Nervenstörungen, 
das  dauernde  Fehlen  aller  objeetiven  Veränderungen  sprechen  auch  hier 
gegen  die  organische  Läsion,  doch  kann  u.  U.  eine  sichere  Entscheidung 
nicht  möglich  sein.  Seltener  als  Ulcus  kommen  bei  Cardialgie  Choleli- 
thiasis  oder  Urolithiasis  in  Frage.  Meteor ismus  und  Hyperästhesie  der 
Bauchhaut  können  an  Peritonitis  erinnern,  doch  kaum  ernsthafte  Zweifel 
hervorrufen.  Häufig  schwankt  die  Diagnose  zwischen  Magenkatarrh 
und  Neurose.  Bemerkenswerth  ist,  dass  auch  bei  nervöser  Dys- 
pepsie die  Zunge  dick  belegt  sein  kann.  Charakteristisch  sind  gewöhnlich 
die  Aetiologie  (Gemüthsbewegungen,  intellectuelle  Anstrengung)  und  der 
Einnuss  psychischer  Momente.  Die  Beschwerden  sind  launenhaft,  bald 
schadet  dies,  bald  jenes,  oft  werden  gerade  grobe  Speisen  gut  vertragen 
und  sogenannte  Diätfehler  bleiben  ohne  üble  Folgen.  Die  Verdauung  der 
eingeführten  Nahrung  geht  trotz  der  Beschwerden  normal  vor  sich.  Fast 
stets  bestehen  die  Zeichen  allgemeiner  Nervosität.  Die  Behandlung  des 
Leidens  als  Magenkatarrh  (durch  Karlsbader  Salz  und  dergl.)  wirkt  ver- 
schlimmernd. Zuweilen  finden  sich  in  der  Mittellinie  des  Bauches  bei  tiefem 
Drucke  Schmerzpunkte  (Burkart).  Endlich  darf  man  nicht  vergessen, 
dass  nervöse  Dyspepsie  viel  häufiger  ist  als  Magenkatarrh.  So  wenig  wie 
beim  Magen  handelt  es  sich  in  der  Regel  beim  Darme  um  einen  „Katarrh'', 
wenn  bei  nervösen  Individuen  Obstipation,  die  oft  mit  flüssigen  Ent- 
leerungen wechselt,  besteht.  Auch  der  den  Faeces  beigemischte  Schleim 
beweist  keinen  Katarrh,  da  der  Schleim  eine  Wirkung  der  Schleimhaut- 
reizung  durch  den  längeren  Aufenthalt  der  Faeces  sein  kann.  Die  Be- 
fürchtung eines  unbekannten  organischen  Leidens  kann  wachgerufen  werden, 
wenn  Kranke  trotz  guten  Appetites,  reichlicher  Nahrungsaufnahme  und 
ohne  alle  subjeetiven  Beschwerden  mehr  und  mehr  abmagern.  Solche 
Kranke  haben  anscheinend  normale,  aber  übermässig  reichliche  Stuhlgänge 
und  es  wird  bei  ihnen  offenbar  ein  grosser  Theil  der  Nahrungstoffe  un- 
resorbirt  entleert.  Diese  Atrypsia  nervosa  kommt  zuweilen  bei  Melan- 
cholischen und  bei  Neurasthenischen  vor. 

Etwaige  Veränderungen  der  Schilddrüse,  der  Milz,  der 
Lymphdrüsen  sind  zu  ermitteln. 

Die  Function  der  Schilddrüse  besteht  wahrscheinlich  darin,  gewisse 
schädliche  Stoffwechselproducte  zu  beseitigen.  Damit  wird  es  begreiflich, 
dass  nach  Erkrankung  oder  Entfernung  der  Schilddrüse  (wenn  nicht  andere 
Organe  ihre  Stelle  ausfüllen  können)  Erscheinungen  auftreten,  die  denen 
eines  langsam  wirkenden  Nervengiftes  ähnlich  sind  und  die  als  Wirkungen 
jener  nicht  mehr  durch  das  Schilddrüsengewebe  unschädlich  gemachten 
Stoffwechselproducte  (Leukomaine)  aufgefasst  werden  können.  Je  nach  der 
Art  der  Schädigung,  die  die  Thyreoidea  trifft,  muss  sich  das  Bild  ver- 
schieden gestalten.  Beizung  oder  Zerstörung  der  Drüsenelemente  kann  in 
Frage  kommen. 

Nach  Exstirpation  der  Schilddrüse  hat  man  verschiedene  nervöse  Stö- 
rungen, als  Verfall  der  Ernährung,  Circulationstürungen,  psychische  Schwäche, 
gesehen  (Kachexia  strumipriva),  so  dass  ein  dem  Cretinismus  (endemischer 
Idiotismus  mit  Degeneration  der  Thyreoidea)  ähnliches  Bild  zu  Stande  kam. 
Kleinheit   oder    anscheinendes  Fehlen  der  Thyreoidea  soll  bei  dem  söge- 


Harnapparat.  241 

nannten  Myxödem,  dessen  Hauptsymptom  schleimige  Entartung  des  Unter- 
hautzellgewebes ist  und  dessen  sonstige  Erscheinungen  im  Wesentlichen 
denen  der  Kachexia  strumipriva  gleichen,  beobachtet  worden  sein.  Die  den 
M.  Basedowii  begleitende  Struma,  die  wahrscheinlich  auf  eine  krankhafte 
Thätigkeit  der  Schilddrüse  als  die  nächste  Ursache  der  übrigen  Symptome 
deutet,  ist  oft  dadurch  ausgezeichnet,  dass  sie  reich  an  Blutgefässen  ist  und 
dass  die  aufgelegte  Hand  ein  Schwirren  fühlt.  Daneben  klopfen  die  Caro- 
tiden  stark.  Es  scheint  jedoch  auch  eine  gewöhnliche  Struma,  ein  Cysten- 
kropf  die  Basedow-Symptome  hervorrufen  zu  können. 

Primäre  Struma  kann  Ursache  von  Sympathicuslähmung  werden,  da- 
gegen hat  man  bei  primärer  Sympathicuslähmung  Veränderungen  der  Schild- 
drüse noch  nicht  beobachtet. 

Geringe  Anschwellung  der  Milz  wird  bei  einigen  Nervenkrank- 
heiten gefunden,  deren  infectiöse  Natur  auch  aus  anderen  Gründen  wahr- 
scheinlich ist,  so  bei  Meningitis,  bei  multipler  Neuritis  und  acuter  auf- 
steigender Spinalparalyse.  Ein  stärkerer  Milztumor  kann  u.  U.  auf  die 
Diagnose  einer  Malaria  larvata  leiten.  Pulsirende  Milzschwellung  kommt  bei 
M.  Basedowii  vor. 

Geschwollene  Lymphdrüsen  können  als  Zeichen  der  Syphilis  wichtig 
sein,  sie  können  durch  Druck  u.  s.w.  örtliche  Nervensymptome  verursachen. 
Die  Bestimmimg  der  Menge  und  der  B  e  s  c  h  a  f f  e  n  li  e  i  t  des 
Urins  ist  deshalb  von  Interesse,  weil  einmal  diese  bei  Nerven- 
krankheiten verändert  sein  können,  zum  andern  sowohl  Diabetes 
als  Nephritis  einer  Reihe  nervöser  Störungen  zu  Grunde  liegen  kann. 
Oligurie  undAnurie  kommen  zuweilen  bei  Hysterischen  vor.  Einige 
Male  hat  man  bei  hysterischer  Anurie  vicariirendes  Erbrechen  beobachtet 
und  im  Erbrochenen  Harnstoff  gefunden  (Charcot).  Geringe  Quantitäten 
eines  concentrirten  Harns  entleeren  zuweilen  Geisteskranke,  besonders 
Melancholische.  Ausnahmeweise  kann  auch  bei  Tabes  und  anderen  Rücken- 
markskrankheiten  Oligurie  vorkommen. 

Polyurie  ist  häufig  bei  functionellen  Neurosen,  tritt  oft  vorüber- 
gehend nach  hysterischen  und  epileptischen  Anfällen  auf,  kommt  auch  bei 
M.  Basedowii  vor.  Seltener  sieht  man  sie  bei  organischen  Läsionen,  die 
direct  oder  indirect  die  Oblongata  in  Mitleidenschaft  ziehen.  Polyurie  in 
Anfällen  hat  man  einige  Male  auch  bei  Tabes  gesehen.  Polyurie  mit 
Glykosurie  weist  auf  directe  oder  indirecte  Läsion  der  Oblongata,  kommt 
bei  beträchtlicher  Steigerung  des  Hirndrucks  und  bei  verschiedenen  bul- 
bären  Affectionen  vor.  Diese  symptomatische  Polyurie  lässt  sich  vom  wirk- 
lichen Diabetes  mellitus  meist  durch  das  Bestehen  anderweiter  cerebraler 
Herdsymptome  leicht  unterscheiden.  Vorübergehende  und  geringe  Glykos- 
urie kann  nach  apoplektischen  und  epileptischen  Anfällen  auftreten.  Sie 
ist  ferner  bei  Tabes  beschrieben  worden.  Auch  bei  sog.  functionellen 
Störungen  will  man  gelegentlich  geringe  Zuckermengen  im  Urin  gefunden 
haben  (Morb.  Basedowii,  nach  schweren  Strapazen  und  Gemüthsbewegungen). 
Unter  ähnlichen  Verhältnissen  wie  die  Glykosurie,  aber  seltener  begleitet 
Albuminurie  die  Läsionen  des  Nervensystems,  sie  kommt  besonders  bei 
infectiösen  Krankheiten  (Meningitis,  Neuritis),  bei  bulbären  Affectionen,  nach 
apoplektischen  und  epileptischen  Anfällen  hie  und  da  vor. 

Mob  ins,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  16 


242  Die  Prüfung'  der  vegetativen  Functionen. 

Zunahme  der  Urate  und  besonders  der  Phosphate  soll  bei 
vielen  Nervenkrankheiten,  besonders  bei  Neurosen  vorkommen.  Phosphat- 
urie ist  wiederholt  als  Symptom  der  Paralysis  agitans  bezeichnet  worden. 
Diagnostische  Wichtigkeit  haben  bisher  diese  Dinge  nicht. 

Die  gute  Regel,  in  jedem  nicht  durchsichtigen  Falle  nervöser  Stö- 
rungen den  Urin  zu  untersuchen,  gründet  sich  hauptsächlich  darauf,  dass 
der  Diabetes  mellitus  die  verschiedenartigsten  Symptome  von  Seiten 
des  Nervensystems  verursachen  kann,  die  oft  allein  den  Kranken  zum 
Arzte  führen.  An  Diabetes  hat  man  zu  denken,  wenn  allgemeine  Mattigkeit 
und  Muskelschwäche  ohne  nachweissbare  Ursache  auftreten,  wenn  hart- 
näckige, besonders  multiple  Neuralgien,  umschriebene  Anästhesie,  vereinzelte 
Lähmungen  (Augenmuskeln,  Sympathicus  u.  s.  w.),  Fehlen  des  Kniephäno- 
mens, Ernährungstörungen  der  Haut,  besonders  Mal  perforant  und  andere 
gangränöse  Processe,  kurz,  wenn  neuritische  Symptome  sich  zeigen,  wenn 
Kranke  comatös  gefunden  werden. 

In  ähnlicher  Weise  können  bei  Nephritis  die  urämischen  Sym- 
ptome an  ein  primäres  Nervenleiden  glauben  lassen:  Asthma,  Kopfschmerz 
und  Erbrechen,  Zuckungen,  Angst,  Sonmolenz,  der  urämische  Krampf- 
anfall und  das  Coma. 

Eine  überaus  wichtige  Solle  spielen  die  Störungen  der  Blasen- 
thätigkeit. 

Bei  Gehirnkrankheiten  pflegt  die  Entleerung  des  Urins  nur  dann  ab- 
norm zu  sein,  wenn  das  Bewusstsein  gestört  ist.  Plötzliche  Urinent- 
leerung (seltener  Stuhlentleerung)  kann  den  apoplektischen  Insult,  den 
epileptischen  und  den  paralytischen  Anfall  begleiten.  U.  U.  kann  die  statt- 
gefundene Durchnässung  das  einzige  Zeichen  eines  nächtlichen  epileptischen 
Anfalls  sein.  Bei  tiefem  Coma  kann  es  zu  paralytischer  Retention 
und  dann  zu  Harnträufeln  kommen,  da  wie  andere  Reflexe  die  Function 
des  Detrusor  gehemmt  werden  kann.  Bei  Stupor  und  Sonmolenz,  bei  höhe- 
ren Graden  der  Demenz  bleibt  die  reflectorische  Thätigkeit  erhalten,  wird 
aber  nicht  mehr  vom  Bewusstsein  controlirt,  die  Kranken  lassen  den  Urin 
unter  sich  gehen ,  er  wird  mit  grösseren  oder  kleineren  Zwischenzeiten 
ausgetrieben.  Aehnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  Compression  des  Rücken- 
marks oder  der  Oblongata  und  diffuser  Myelitis.  Je  nachdem  nur  die 
Motilität  oder  auch  die  Sensibilität  gelitten  hat  und  je  nach  der  Intensität 
der  Störung  kann  die  Blasenfunction  in  verschiedener  Weise  mangelhaft 
sein.  Nur  bei  acuter  Compression,  acuter  Myelitis  kommt  es  zu  paralyti- 
scher Retention.  Später  und  bei  chronischen  Formen  von  vornherein  kann 
man  den  Zustand  eher  Incoordination  der  Blase  nennen,  bald  müssen  die 
Kranken  lange  drücken,  bald  läuft  der  Urin  vorzeitig  ab,  bald  fühlen  sie 
nicht,  ob  die  Blase  entleert  ist,  und  hören  zu  früh  auf  u.  s.  w.  Ist  die 
Verbindung  mit  der  Hirnrinde  vollständig  aufgehoben,  so  findet  von  Zeit 
zu  Zeit  eine  unbewusste  Entleerung  statt.  Sind  die  Centra  der  Blase  im 
unteren  Lendenmarke  oder  die  von  ihnen  zur  Blase  führenden  Nerven  lädirt, 
so  können  auch  hier,  wenn  die  Innervation  nicht  ganz  aufgehoben  ist,  sehr 
verschiedene  Combinationen  vorkommen,  wie  die  Beobachtung  der  Tabes- 
krauken beweist.  Ist  die  Innervation  aber  ganz  aufgehoben  (Zerstörung  des 
Lendenmarkes  oder  der  Cauda  equina),  so  muss  gänzliche  Blase nläh- 


Harnapparat.  243 

mung  eintreten,  der  Urin  tropfenweise,  wie  er  abgesondert  wird,  aus  der 
leeren  Blase  fliessen.  Diagnostisch  hat  die  Form  der  Blasenstörung  weit 
Aveniger  Werth  als  ihre  Existenz  überhaupt.  Dieser  Werth  beruht  beson- 
ders darauf,  dass  die  Blasenstörung  sehr  früh  einzutreten  pflegt  und  die 
Incontinenz  wenigstens  fast  ausschliesslich  organische  Läsionen  begleitet. 
Bei  Compression  des  Rückenmarkes  z.  B.  kann,  schon  ehe  deutliche 
Lähmungserscheinungen  vorhanden  sind,  mangelhafte  Blasenthätigkeit  auf 
die  ernste  Bedeutung  der  »Schwäche  der  Beine  und  der  Steigerung  der  Sehnen- 
reflexe aufmerksam  machen.  Schwankt  die  Diagnose  zwischen  organischer 
und  functioneller  Paraplegie,  so  wird  die  vielleicht  nur  angedeutete  Inconti- 
nenz entschieden  für  jene  sprechen.  Das  Fehlen  von  Blasenstörungen  ist  zur 
Diagnose  erforderlich  bei  Erkrankungen  der  Pyramidenbahn  allein,  bei  Polio- 
myelitis. Erfahrungsgemäss  fehlen  die  Blasenstörungen  fast  stets  bei  den 
verschiedenen  Formen  der  multiplen  Neuritis  oder  Neryendegeneration  und 
diese  unterscheiden  sich  dadurch  von  der  Tabes,  bei  der  sie  fast  ausnahmelos 
vorhanden  sind.  Die  gewöhnlichsten  Erscheinungen  bei  letzterer  Krank- 
heit sind  vorübergehende  Retention,  Nachtröpfeln  und  leichte  Incon- 
tinenz derart,  dass  gelegentlich,  beim  Husten,  Lachen,  beim  Aufstehen 
oder  sonstwie  einige  Kaffeelöffel  Urin  unwillkürlich  abfliessen.  Diese 
Störungen  können  als  erste  und  oft  lange  Zeit  fast  einzige  Beschwerde 
der  Kranken  sieh  zeigen,  so  dass,  wo  sie  vorhanden  sind,  der  Gedanke 
an  Tabes  sofort  aufsteigt.  Später  zeigen  sich  die  genannten  Symptome 
in  schwererer  Form,  kommen  Hyperästhesie  und  Anästhesie  der  Blase 
und  der  Urethra,  Harnzwang,  Fehlen  des  Bedürfnisses  zu  uriniren  und 
des  Gefühls  beim  Uriniren  zur  Beobachtung.  Nicht  selten  sind  aller- 
hand Parästhesien,  Druck  und  Spannung  in  der  Blasengegend,  schmerz- 
haftes Ziehen  und  Brennen  beim  Harnen  u.  s.  w.  Frühzeitig  können  Anfälle 
von  Schmerzen  in  der  Nierengegend  (Nierenkrisen)  oder  in  der  Blasen- 
gegend (Blasenkrisen)  auftreten.  Letztere  sind  zuweilen  mit  furchtbar 
quälendem  Harnzwange  und  Entleerung  geringer  Blutmengen  verbunden. 
Die  Sondenuntersuchung  ergiebt  dann  die  Abwesenheit  eines  Blasensteines. 
Aehnliche  Erscheinungen  wie  bei  der  Tabes  können  im  Verlaufe  der  mul- 
tiplen Sklerose  auftreten.  Bei  Hysterie  beobachtet  man  zwar  zuweilen 
spastische  Retention,  Harnzwang,  Anästhesie  und  allerhand  Sensa- 
tionen, in  sehr  seltenen  Fällen  auch  Blasenblutungen,  doch  werden  sich 
diagnostische  Schwierigkeiten  kaum  ergeben.  Als  functionelle  Störung  ist 
endlich  die  bei  nervösen  Kindern  und  jugendlichen  Personen  häufige  En- 
uresis nocturna  zu  erwähnen,  die  oft  durch  örtliche  Reizzustände 
(Verklebung  des  Präputium  u.  s.  w.)  veranlasst  wird.  Sie  kann  verwechselt 
werden  mit  dem  unbewussten  Harnen  bei  nächtlicher  Epilepsie.  Im  Noth- 
falle  entscheidet  die  directe  Beobachtung  des  schlafenden  Kindes. 

Vermehrter  Harndrang  kommt  bei  Hysterie  und  Neurasthenie  vor, 
soll  auch  bei  Erkrankung  der  Hirnschenkel  und  anderen,  basalen  Läsionen 
nicht  selten  sein. 

Organische  Erkrankungen  der  Harnorgane  sollen  Ursache  nervöser 
Störungen,  insbesondere  paraplegischer  Symptome  werden  können  (Para- 
plegia  urinaria).  Ob  organische  Läsionen  des  Nervensystems  auf  diesem 
Wege  zu  Stande  kommen  können  (Myelitis  durch  Neuritis  adscendens), 
ist  sehr  zweifelhaft.  Meist  handelt  es  sich  wohl  um  hysterische  Lähmung. 

16* 


244  Die  Prüfung  der  vegetativen  Functionen. 

Bei  den  männlichen  Genitalien  ist,  ausser  auf  die  aus  der 
Anamnese  sich  ergebenden  Functionstörungen,  besonders  auf  Bildungs- 
anomalien, krankhafte  Ausflüsse  und  Sensibilitätstörungen  zu  achten. 

Abnorme  Bildung  der  Genitalien  ist  vielfach  als  Degeneration- 
zeichen aufzufassen.  Auf  die  Genitalien  und  ihre  Umgebung  mehr  oder 
weniger  beschränkte  Anästhesie  kommt  bei  Tabes  und  selten  beiHyste- 
ria  virilis,  beziehungsweise  traumatischer  Neurose  vor.  Anfälle  heftiger, 
der  Urethra  folgender  Schmerzen  (Urethralkrisen)  scheinen  bisher  vor- 
wiegend bei  Tabes  beobachtet  worden  zu  sein,  doch  können  neuralgische 
Symptome  von  Seiten  der  verschiedenen  Zweige  des  N.  pudendo-haemorrhoid. 
auch  selbständig  vorkommen.  Selbstverständlich  ist  bei  ihrem  Vorhanden- 
sein das  Fehlen  örtlicher  Organerkrankuugen,  die  gleiche  Symptome  her- 
vorrufen könnten,  durch  die  nach  den  Regeln  der  Kunst  geschehende 
Untersuchung  nachzuweisen.  Einen  der  Ovarie  ähnlichen  Schmerz  soll 
man  zuweilen  durch  Druck  auf  den  Hoden  bei  Hysteria  virilis  bewirken 
können.  Unempfindlichkeit  der  Hoden  gegen  Druck  ist  ein  häufiges 
Tabessymptom. 

Steigerung,  Verminderung,  Aufhebung  des  Geschlechts- 
triebes, Unvollständigkeit  oder  Mangel  der  Erectionen, 
Priapismus,  Pollutionen,  Spermatorrhoe  kommen  in  den  mannig- 
fachsten Combinationen  weitaus  am  häufigsten  als  Symptome  functioneller 
Neurosen  vor  (nach  sexuellen  Excessen,  bei  Neurasthenischen,  bei  Irren), 
können  aber  auch  von  organischen  Läsionen  abhängen.  Sie  gehören  zu 
den  häufigsten  und  frühesten  Symptomen  der  Tabes  und  können  dazu 
dienen,  diese  von  der  multiplen  Neuritis,  bei  der  sie  wohl  immer  fehlen, 
zu  unterscheiden.  Sie  werden  andererseits  auch  bei  diffusen  Läsionen  des 
Rückenmarkes  gefunden,  sofern  diese  entweder  die  Centra  der  Genitalien 
im  unteren  Lendenmarke  direct  treffen,  oder  deren  Verbindungsbahnen 
mit  dem  Gehirn,  die  man  ebenso  wie  die  der  Blasencentra  in  den  Hinter- 
strängen vermuthet,  über  deren  Verlauf  man  aber  durchaus  nichts  Sicheres 
weiss,  unterbrechen.  Sie  können  endlich  verschiedene  constitutionelle  Krank- 
heiten, z.  B.  Diabetes,  Leukämie,  begleiten.  Ihre  Bedeutung  ist  demnach 
nur  aus  den  anderweiten  Symptomen  zu  erschliessen.  Finden  sich  sonst 
keinerlei  Zeichen  einer  organischen  Läsion,  so  wird  man  mit  ziemlich 
grosser  Sicherheit  die  etwaigen  Störungen  der  Geschlechtsthätigkeit  als 
functionelle  betrachten  können.  Wenigstens  wird  man  aus  diesen  allein  nie 
eine  organische  Läsion  diagnosticiren  dürfen.  Von  den  bisher  genannten 
Störungen  kann  die  Spermatorrhoe  auch  nichtnervöser  Natur  sein,  in  Folge 
gonorrhoischer  Processe  u.  s.  w.  auftreten.  Fast  ausnahmelos  ist  das  Letztere 
der  Fall  bei  der  Prostatorrhoe,  dem  Aspermatismus  und  der  Azoospermie. 

Die  Untersuchung  der  Genitalien  ist  auch  insofern  von  Bedeutung, 
als  ihre  Veränderungen  bei  neuropathischen  Individuen  (am  häufigsten  bei 
Kindern)  sog.  reflectorische  Neurosen  (Enuresis,  Pollutionen,  allgemeine 
Nervosität,  in  seltenen  Fällen  Lähmungen,  Zuckungen  der  Beine  u.  s.  w.) 
bewirken  können:  Phimosis,  Verengerung  der  Harnröhrenmündung,  Ver- 
klebung des  Präputium,  vielleicht  auch  Gonorrhoe. 

Das  über  die  männlichen  Genitalien  Bemerkte  gilt  mutatis  mu- 
tandis  auch  von  den  weiblichen.    Doch  sei  die  Bemerkung  ge- 


Geschlechtsorgane.    Degenerationszeichen.  245 

stattet,  dass  bei  Psychosen  und  Neurosen  die  Untersuchung  nur  auf 
Grund  bestimmter  Indication  vorgenommen  werden  soll,  zu  diagno- 
stischen Zwecken  nur  dann,  wenn  ohne  sie  eine  sichere  Diagnose 
nicht  möglich  ist,  Hier  ist  die  einzige  Stelle,  wo  eine  zu  gründliche 
Untersuchung  vom  Uebel  sein  kann. 

Störungen  in  der  Function  der  weiblichen  Geschlechtsorgane,  die 
von  Veränderungen  im  Nervensystem  abhängig  wären,  sind  nicht  häufig, 
mit  Ausnahme  der  Menstruationstörungen.  Diese  zeigen  sich  in 
verschiedener  Form  (zu  reichliche,  zu  spärliche,  zu  häufige,  zu  seltene, 
schmerzhafte  Menstruation,  Amenorrhoe)  bei  organischen  sowohl  als  functio- 
nellen  Nervenkrankheiten  und  sind  in  diagnostischer  Hinsicht  kaum  zu 
verwerthen.  Ausserdem  findet  man  zuweilen  Hyperästhesie  oder  An- 
ästhesie der  äusseren  Genitalien  bei  spinalen  Läsionen  (Tabes)  sowohl 
als  bei  Hysterie.  Bemerkenswerth  sind  die  bei  Tabes  beobachteten  anfalls- 
weise auftretenden  Wollustempfindungen  mit  vulvovaginaler  Secretion  (so- 
genannte Clitoriskrisen). 

Besondere  Erwähnung  verdieut  noch  die  sogenannte  Ovarie  oder 
Ovarialhyperästhesie,  ein  für  die  Diagnose  der  Hysterie  sehr  wichtiges 
und  fast  pathognostisches  Symptom.  Man  findet  nämlich  bei  der  Mehrzahl 
der  Hysterischen  einen  Schmerzpunkt,  wenn  man  in  einer  Linie,  die  beide 
Spinae  il.  sup.  verbindet,  da  wo  diese  von  der  seitlichen  Grenzlinie  des 
Epigastrium  geschnitten  wird,  einen  Druck  ausübt.  Die  Haut  an  dieser 
Stelle  kann  hyperästhetisch,  normal  empfindlich  oder  anästhetisch  sein, 
dringt  man  aber  mit  den  Fingern  in  die  Tiefe,  so  erregt  man  einen  cha- 
rakteristischen Schmerz,  der  nach  dem  Epigastrium  zu  ausstrahlt,  von 
Uebelkeit  und  Erbrechen  begleitet  sein  kann.  Wird  der  Druck  fortgesetzt, 
so  kann  u.  U.  ein  hysterischer  Anfall  eintreten  und  dieser  wiederum  kann 
durch  energischen  Druck  auf  die  beschriebene  Stelle  unterbrochen  werden. 
Die  Ovarie  findet  sich  häufiger  links  als  rechts.  Ob  es  sich  bei  ihr  wirk- 
lich immer  um  das  Ovarium  handelt,  steht  dahin. 

Die  Bedeutung  der  Erkrankungen  der  weiblichen  Genitalien  als  Ur- 
sache von  Neurosen  ist  vielfach  übertrieben  worden.  Zweifellos  richtig 
ist,  dass  bei  disponirten  Weibern  allerhand  functionelle  Störungen  des 
Nervensystems  durch  Lageveränderungen  des  Uterus  oder  durch  Entartung 
des  Eierstockes  u.  s.  w.  bewirkt  werden  können,  dass  besonders  schmerzhafte 
Genitalerkrankungen  indirect,  nämlich  durch  die  GemüthsbeAvegung  und  durch 
andauernde  und  heftige  Schmerzen,  nervöse  oder  hysterische  Symptome  hervor- 
rufen können,  aber  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  auch  da,  wo  Genitalerkran- 
kungen bestehen,  zwischen  ihnen  und  den  nervösen  Störungen  kein  Zusammen- 
hang zu  finden  sein.  Immerhin  hat  man  die  Möglichkeit  eines  solchen  ins 
Auge  zu  fassen,  wenn  eine  sonstige  Krankheitsursache  nicht  ersichtlich  ist. 


Schliesslich  sei  ein  kurzer  Ueberblick  gegeben  über  die  soge- 
nannten Degenerationzeichen  d.  h.  diejenigen  Anomalien  der 
Körperform,  aus  denen  man  auf  eine  angeborene  Mangelhaftigkeit 
der  Organisation,  besonders  des  Nervensj^stems,  zu  schliessen  pflegt. 


246 


Diagnose  e  juvantibus  et  noceutibus. 


Fig.  43. 
Neuropathisches  Ohr  (Fehlen  des  Helix). 


Abnorme  Schädelform  (Mikro-,  Makrocephalus ,  Asymmetrie 
des  Schädels  u.  s.  w.). 

Asymmetrie  des  Gesichts,  Zurückweichen  des  Kinnes,  Progna- 
thie, abnorm  starke  Entwicklung  des  Unter kieferwinkels,  eingedrückte 

Nasenwurzel. 

Missbildung  der  Ohren  (abnorme 
Grösse,  Fehlen  des  Ohrläppchens,  des 
Helix  u.  s.  w.). 

Bildungsfehler  der  Augen  (Colo- 
bom ,  Pigmentmangel ,  Strabismus, 
Schiefstand  der  Lidspalte  u.  s.  w.). 
Fehler  der  Mundhöhle  (Hasen- 
scharte, Wolfsrachen,  abnorm  ge- 
wölbter Gaumen,  zu  grosse  Zunge, 
Deformitäten,  Schiefstand,  Ueberzahl 
der  Zähne). 

Abnormitäten  der  G 1  i  e  d  e  r  (Zwerg- 
wuchs, Riesenwuchs,  Verkrümmung 
der  Wirbelsäule,  Klumpfuss,  Ueber- 
zahl oder  Verwachsung  von  Fingern 
und  Zehen). 
Geschlechtsorgane  (Hypo-  oder 
Epispadie,  Phimosis,  Anomalien  der  Testes,  hermaphroditische  Bil- 
dung, Fehlen  des  Uterus  u.  s.  w.). 

Anomalien  der  Haut  (abnorme  Pigmentirung  oder  Behaarung, 
Naevusbüdung).    Und  anderes  mehr. 

VIII.  Die  Diagnose  e  juvantibus  et  nocentibus 

ist  einer  allgemeinen  Besprechung  nicht  zugänglich.  Nur  mit 
einigen  Worten  sei  die  diagnostische  Verwendung  der  Medi- 
camente erwähnt,  die  bis  jetzt  eine  geringe  Bolle  spielt,  in  Zukunft 
vielleicht  eine  grössere  spielen  wird.  Die  Reaction  auf  Medicamente 
unterstützt  zuweilen  die  Diagnose.  Z.  B.  prüft  man  mit  Quecksilber  und 
Jod  auf  Syphilis,  sucht  durch  die  Anwendung  des  Bromkalium  die 
epileptischen  Anfälle,  die  das  Mittel  unterdrückt,  von  den  hyste- 
rischen, die  es  nicht  beeinflusst,  zu  unterscheiden.  Bei  Kopfschmerzen 
zweifelhafter  Art  spricht  die  therapeutische  Wirksamkeit  von  Natr. 
salicyl.  für  idiopathische  Migräne.  Bei  der  Frage,  besteht  Malaria 
oder  nicht,  trägt  der  eclatante  Erfolg  von  Chinin  oder  Arsen  zur 
positiven  Entscheidung  bei.  Ebenso  lässt  sich  Arsen  verwenden,  wenn 
die  Diagnose  Chorea  zweifelhaft  ist. 


Bildungshemmungen 


der 


ZWEITER  THEIL. 


ERSTES   HAUPTSTUCK. 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störungen.1) 

a.   Die  Muskeln  des  Auges.-) 

a.   Die  äusseren  Augenmuskeln. 

Der  M.  levator  palpebrae  super.  (X.  ociüoniotorius)  hebt 
das  obere  Lid  und  hält  das  Auge  offen.  Es  ist  möglich,  ihn  will- 
kürlich zu  erschlaffen,  da  Kranke  mit  completer  Lähmung  des  M. 
orbicul.  palpebr.  das  obere  Lid  willkürlich  etwas  senken  können. 

Lähmung  des  Levator  palp.  sup.  bewirkt  Herabsinken  des  oberen 
Lides  (Ptosis).  Bei  dem  Versuche,  das  Lid  zu  heben,  contrahirt  sich 
dann  der  M.  frontalis,  so  dass  es  in  der  Eegel  den  Kranken  noch  ge- 
lingt, mit  der  Augenbraue  das  Lid  um  einige  Millimeter  zu  heben. 
Drückt  man  mit  dem  Finger  die  Augenbraue  herab,  so  bleibt  bei 
completer  Lähmung  des  Lev.  palp.  sup.  jede  Hebung  des  oberen  Lides, 
das  faltenlos  herabhängt,  aus.  Je  älter  das  Individuuni  ist.  um  so 
tiefer  hängt  bei  Lähmung  des  Lev.  palp.  sup.  das  obere  Lid  herab. 

Es  kommt  auch  eine  hysterische  Ptosis  vor.  Bei  ihr  steht  nicht,  wie 
bei  der  organischen,  die  Augenbraue  höher  als  auf  der  gesunden  Seite, 
sondern  tiefer. 

Tonischer  Krampf  des  Levator  wird  als  Lagophthalmus  spa- 
sticus  bezeichnet.  Bei  Lähmung  einzelner  Drehmuskeln  scheint  der 
Lev.  palp.  sup.  auf  der  kranken  Seite  zuweilen  stärker  contrahirt  zu 
sein  als  auf  der  gesunden,  wohl  ein  Ausdruck  der  Anstrengung,  die 
die  Kranken  beim  Sehen  anwenden. 

Die  glatten  Muskeln  der  Augenlider  (N.  sympathicus) 
helfen  das  Auge  offen  halten  und  legen  wahrscheinlich  die  Lider  an 


1)  Diese  Lehre  ist  für  die  Mehrzahl  der  Muskeln  am  erfolgreichsten  von 
Duchenne  bearbeitet  worden.  In  den  nicht  veraltenden  Werken  dieses  grossen 
Neuropathologen  findet  der  Leser  weiteren  Aufschluss  {Physiologie  des  Mouve- 
ments.  Paris  1S6T.  und  Electrisation  loealisee.  Paris  1872). 

2)  Alles  Nähere  s.  in  den  Specialschriften. 


250  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

den  Bulbus  an.  Ihre  Lähmung  bewirkt  Verengerung  der  Lidspalte, 
ohne  Störung  der  willkürlichen  Beweglichkeit. 

Folgt  beim  Blicke  nach  unten  das  obere  Lid  dem  Augapfel  nicht  in 
normaler  Art,  sondern  nur  ruckweise,  oder  bleibt  es  zurück,  so  spricht  man 
von  dem  Graefe 'sehen  Symptome  (eigentlich  sc.  desMorb.  Basedowü). 
Doch  kommt  dieses  Zeichen  auch  ausserhalb  der  Basedowischen  Krankheit 
vor.  Es  beruht  wahrscheinlich  auf  einer  übermässig  starken  Spannung  der 
das  Auge  öffnenden  Muskelfasern. 

Ob  der  Müller'sche  M.  orbitalis  (N.  sympath.)  den  Bulbus  nach 
vorn  drängt  und  ob  das  Zurückweichen  des  letzteren  bei  Sympathi- 
cuslähmung  auf  seine  Unthätigkeit  zu  beziehen  ist,  weiss  man  nicht. 

Der  M.  rectus  sup.  (N.  oculomot.)  dreht  den  Bulbus  nach  oben 
innen,  der  M.  obliquus  in  f.  (N.  oculomot.)  nach  oben  aussen,  der 
M.  rectus  int.  (N.  oculomot.)  direct  nach  innen,  der  M.  rectus  ext. 
(N.  abducens)  direct  nach  aussen,  der  M.  rectus  in  f.  (N.  oculomot.) 
nach  unten  innen,  der  M.  obliquus  sup.  (N.  trochlearis)  nach  unten 
aussen.  Von  den  sechs  Drehmuskeln  sind  demnach  drei  Einwärts- 
wender (Mm.  rectus  sup.,  rectus  int.  und  rectus  inf.),  drei  Auswärts- 
wender (Mm.  obliquus  inf.,  rectus  ext.,  obliquus  sup.).  Die  Bewegun- 
gen nach  rechts  und  links  werden  nur  durch  die  Contraction  des 
Eectus  int.  oder  externus  ausgeführt,  die  Bewegung  direct  nach  oben 
durch  gleichzeitige  Contraction  des  Eect.  sup.  und  Obliqu.  inf.,  direct 
nach  unten  durch  Obliqu.  sup.  und  Eect.  inferior. 

Bei  Bewegungen  beider  Augen  nach  der  Seite  contrahiren  sich 
je  ein  Eect.  ext. und  int.  gleichzeitig,  bei  Convergenz  beide  Eecti  interni. 

Bei  Lähmung  aller  Drehmuskeln  steht  der  Bulbus  unbe- 
weglich geradeaus  gerichtet  und  ist  etwas  vorgetrieben,  da  die  rück- 
wärts ziehende  Wirkung  der  Drehmuskeln  wegfällt. 

Sind  auf  beiden  Augen  synergisch  wirkende  Muskeln  gelähmt, 
so  ist  nur  eine  bestimmte  Blickrichtung  unmöglich:  conjugirte 
(oder  a  s  s  o  c  i  i  r  t  e)  A  u  g  e  n  m  u  s  k  e  1 1  ä  h  m  u  n  g.  Formen  dieser  sind : 
1.  Ausfall  der  Blickrichtung  nach  rechts  oder  links.  Dabei  pflegt  der 
betheiligte  M.  rectus  ext.  complet  gelähmt  zu  sein,  während  der  be- 
theiligte Eectus  int.  bei  Convergenz  normal  thätig  ist.  Ist  der  De- 
fect  doppelseitig,  so  können  die  Augen  weder  nach  rechts  noch  nach 
links  gewendet  werden,  während  die  Beweglichkeit  nach  oben 
und  unten  erhalten  ist.  Dabei  ist  die  Convergenz  möglich.  2.  Aus- 
fall der  Blickrichtung  nach  oben  oder  unten ,  oder  nach  oben  und 
unten.  Dabei  kann  der  Lev.  palp.  sup.  betheiligt  sein.  3.  Ausfall  der 
Convergenz,  bei  Seitwärtsbewegungen  wirken  die  Eecti  int.  normal. 

Wenn,  trotz  iutacter  Function  der  Recti  int.  beim  Seitwärtsblicken  dann, 
wenn  ein  nahegelegener  Gegenstand  fixirt  werden  soll,  nur  ein  Auge  nach 


Muskeln  des  Auges.    Aeussere  Augenmuskeln.  251 

innen  gedreht  wird,  das  andere  aber  entsprechend  nach  aussen  abgelenkt 
wird,  kann  man  von  Insufficienz  der  Convergenz  sprechen.  Diese  ist  Aus- 
druck einer  relativen  Schwäche  der  Eecti  int.,  sie  kommt  (abgesehen  von 
Myopie)  besonders  bei  M.  Basedowii  und  bei  allgemeiner  Schwäche  der 
Augenmuskeln  (Neurasthenie,  destruetive  Processe  in  der  Nähe  der  Augen- 
muskelkerne,  besonders  progr.  Bulbärparalyse)  vor.  Im  letzteren  Falle  scheint 
die  Convergenz  als  die  mühsamste  Augenbewegung  am  ehesten  zu  leiden. 

Sind  an  beiden  Augen  nicht  synergisch  wirkende  Muskeln,  oder 
sind  nur  Muskeln  an  einem  Auge  gelähmt,  so  entstehen  die  entspre- 
chenden Beweglichkeitsdefecte  und  Doppeltsehen  (Strabis- 
mus paralyticus). 

Bei  Lähmung  eines  Kectus  ext.  kann  das  betroffene  Auge 
nicht  nach  aussen  gedreht  werden,  bei  Parese  erreicht  die  Cornea  den 
äusseren  Augenwinkel  nicht,  oder  nur  unter  zuckenden,  nystagmus- 
artigen  Bewegungen.  Der  Bulbus  wird  in  der  Ruhe  durch  den  über- 
wiegenden Eect.  int.  nach  innen  abgelenkt.  Doppeltsehen  besteht  in 
der  äusseren  Hälfte  des  Blickfeldes,  die  nicht  gekreuzten,  neben  ein- 
ander stehenden  Doppelbilder  weichen  beim  Blick  nach  der  Seite  des 
gelähmten  Muskels  auseinander. 

Bei  Lähmung  eines  Kectus  int.  kann  das  betroffene  Auge 
nicht  nach  innen  gedreht  werden,  oder  doch  den  inneren  Augenwinkel 
nicht  oder  nur  zuckend  erreichen.  In  der  Kühe  wird  es  nach  aussen 
abgelenkt.  In  der  inneren  Hälfte  des  Blickfeldes  Doppeltsehen.  Die 
gekreuzten,  neben  einander  stehenden  Doppelbilder  weichen  beim 
Blick  nach  der  gesunden  Seite  hin  auseinander. 

Bei  Lähmung  eines  Kectus  sup.  kann  das  Auge  nicht  nach 
oben  gedreht  werden,  es  wird  nach  unten  und  etwas  nach  aussen 
abgelenkt.  In  der  oberen  Hälfte  des  Blickfeldes  wird  doppelt  gesehen, 
die  übereinanderstehenden ,  leicht  gekreuzten  Doppelbilder  weichen 
beim  Blick  nach  oben  auseinander. 

Bei  Lähmung  eines  Obliquus  in  f.  ist  der  absolute  Beweg- 
lichkeitsdefect  schwer  zu  erkennen,  die  Beweglichkeit  nach  oben  ist 
etwas  beschränkt,  das  Auge  wird  etwas  nach  unten  innen  abgelenkt. 
Doppelbilder  in  der  oberen  Hälfte  des  Blickfeldes;  diese  sind  nicht 
gekreuzt  und  stehen  schief  übereinander. 

Bei  Lähmung  eines  Kectus  in  f.  ist  die  Beweglichkeit  nach 
unten  beschränkt,  das  Auge  wird  nach  oben  und  etwas  nach  aussen 
abgelenkt,  Doppeltsehen  in  der  unteren  Hälfte  des  Blickfeldes;  ziem- 
lich starkes  Schwindelgefühl.  Die  gekreuzten  Doppelbilder  stehen 
schief  übereinander. 

Bei  Lähmung  eines  Obliquus  sup.  ist  die  Beweglichkeit 
nach  unten  beschränkt,  das  Auge  wird  nach  oben  und  etwas  nach 


252  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

innen  abgelenkt.  Doppelbilder  in  der  unteren  Hälfte  des  Blickfeldes, 
nach  innen  zu  sich  etwas  über  die  Horizontale  erhebend,  nach  aussen 
zu  sich  unter  sie  senkend,  ziemlich  starkes  Schwindelgefühl.  Die 
nicht  gekreuzten  Doppelbilder  stehen  übereinander.  Sie  weichen  aus- 
einander, wenn  das  Object  nach  der  Seite  des  gesunden  Auges  be- 
wegt wird. 

Sind  alle  Drehmuskeln  mit  Ausnahme  des  Obliqu.  sup.  und  Rectus 
ext.  gelähmt,  so  ist  das  Auge  nach  aussen  unten  gerichtet,  wird  bei 
Bewegungsversuchen  noch  weiter  nach  dieser  Richtung  gedreht.  Beim 
Blick  nach  unten  tritt  eine  Drehung  um  die  sagittale  Axe  (Rad- 
drehung) ein,  so  dass  das  obere  Ende  des  verticalen  Meridians  nasal- 
wärts  bewegt  wird.  Die  Bewegung  nach  innen  oder  nach  oben  ist 
ganz  unmöglich,  der  Blick  nach  aussen  ist  frei.  Fast  im  ganzen 
Blickfelde  bestehen  Doppelbilder,  das  Schwindelgefühl  ist  sehr  stark. 

Der  Beweglichkeitsdefect  pflegt  bei  Vergieichung  mit  dem  ge- 
sunden Auge  ohne  Weiteres  deutlich  zu  sein.  Wo  dies  nicht  der 
Fall  ist  und  bei  allen  Defecten  in  der  Beweglichkeit  nach  oben  und 
unten,  ist  auf  Doppelbilder  zu  untersuchen.  Dies  geschieht,  indem 
man  den  Kranken  auffordert,  dem  etwa  in  1  M.  Entfernung  gehal- 
tenen Finger  des  Untersuchers  mit  den  Augen  nach  den  verschie- 
denen Richtungen  zu  folgen  und  anzugeben,  wann  Doppelbilder  auf- 
treten und  wie  die  Bilder  sich  gegen  einander  verhalten.  Genauer 
wird  die  Untersuchung,  wenn  man  Ein  Auge  mit  einem  gefärbten, 
etwa  rothen,  Glase  bedeckt  und  die  Augen  den  Bewegungen  eines 
brennenden  Lichtes  folgen  lässt. 

Die  wichtigste  Regel  ist,  dass  Lähmung  eines  Einwärtswenders 
gekreuzte,  Lähmung  eines  Auswärtswenders  nicht  gekreuzte  (gleich- 
namige) Doppelbilder  bewirkt.  Immerhin  sind  zu  dieser  Prüfung  guter 
Wille  und  eine  gewisse  Intelligenz  des  Kranken  nötliig.  Bei  älteren 
Augenmuskellähmungen  pflegt  Contractur  des  Antagonisten  einge- 
treten zu  sein.  Die  Doppelbilder  zeigen  sich  dann  in  grösseren  Ab- 
schnitten, möglicherweise  im  ganzen  Blickfelde,  oder  aber  das  Doppelt- 
sehen  hört  auf,  da  nur  das  Bild  des  einen  Auges  beachtet  wird. 

Man  kann  zur  Diagnose  auch  die  sogenannte  s ecun dar e  Ab- 
lenkung des  gesunden  Auges  benutzen.  Wird  letzteres  ver- 
deckt und  mit  dem  kranken  Auge  in  der  Zugrichtung  des  gelähmten 
Muskels  gesehen,  so  contrahirt  sich  der  associirte  Muskfd  des  ge- 
sunden Auges  übermässig  stark.  Bei  Lähmung  des  rechten  Rect. 
externus  z.  B.  geht,  beim  Versuche  nach  rechts  zu  sehen,  das  linke 
Auge  zu  weit  nach  innen.  Der  Grad  der  secundären  Ablenkung  ist 
ein  Maass  für  die  Parese  des  associirten  Muskels. 


Muskeln  des  Auges.     Innere  Augenmuskeln.  253 

Der  Schwindel,  der  besonders  bei  Lähmung  der  nach  unten 
drehenden  Muskeln  während  des  Gehens.  Arbeitens  u.  s.  w.  störend 
wird,  erklärt  sich  ans  der  fälschen  Projection  des  Gesichtsfeldes. 
die  abhängt  von  dem  Maasse  der  Muskelanstrengung.  Er  wird  ge- 
steigert durch  die  verwirrende  Wirkung  des  Doppeltsehens.  Diesen 
Beschwerden  suchen  die  Patienten  zu  entgehen,  entweder  dadurch, 
dass  sie  das  kranke  Auge  schliessen.  oder  dadurch,  dass  sie  eine 
eigentümliche  Kopfhaltung  annehmen,  um  denjenigen  Theil 
des  Blickfeldes,  in  dem  keine  Doppelbilder  auftreten,  für  die  ge- 
wöhnlichen  Beschäftigungen  zu  benutzen. 

Tonische  Krämpfe  einzelner  Augenmuskeln  bezeichnet  man 
als  Strabismus  spasticus. 

Die  klonischen  Krämpfe  stellen  sich  theils  als  incoordinirte. 
unwillkürliche  Bewegungen  der  Augen  dar.  theils  als  eine  Art  Augen- 
zittern (Nystagmus),  das  am  häufigsten  in  lateraler  Eichtung  be- 
steht, bald  in  der  Ruhe,  bald  nur  bei  Bewegungen  auftritt.  Ataxie 
der  Augenmuskeln  kann  sich  in  der  Weise  zeigen,  dass  der  Kranke, 
wenn  er  auf  einen  Gegenstand  sehen  will,  mit  den  Augen  über  das 
Ziel  hinausschiesst,  sich  dann  mit  einer  zu  ausgiebigen  Drehung  der 
Bnlbi  corrigirt  und  erst  nach  mehrfachen  Schwankungen  den  Gegen- 
stand fixiren  kann. 

Zu  den  krampfhaften  Bewegungen  kann  auch  die  sogenannte 
conjugirte  Deviation  der  Augen  gerechnet  werden.  Bei  Hemi- 
plegien werden  oft  Augen  und  Kopf  dauernd  nach  der  gesunden 
Seite  gewendet,  bei  halbseitigen  Krämpfen  nach  der  Seite  der  Krämpfe 
(Prevost).  Dies  beruht  darauf,  dass  in  jenem  Falle  der  Einfluss 
der  gesunden,  in  diesem  der  der  krankhaft  erregten  Hemisphäre  auf 
die  seitlichen  Augenbewegungen  überwiegt.  Bei  Anstrengung  des 
AYilleus  können  die  hemiplegischen  Kranken  die  Augen  auch  zu- 
rück-, beziehungsweise  nach  der  anderen  Seite  fähren.  Es  besteht 
also  keine  Lähmung. 

ß.  Die  inneren  Augenmuskeln. 
Der  M.  ciliar is  (X.  oculomot.)  zieht  die  Chorioidea  nach  vorn, 
so  dass  die  Linse  sich  stärker  wölben  kann.  Er  bewirkt  demnach 
die  Aecommodation.  Seine  Lähmung  hebt  die  Fähigkeit  zu  aecom- 
modiren  auf,  das  Auge  ist  nicht  mehr  im  Stande,  nahe  Gegenstände 
deutlich  zu  erkennen,  zu  lesen  u.  s.  w.  Durch  passende  convexe  Gläser 
kann  der  Mangel  ausgeglichen  werden.  Tonischer  Krampf  des  M. 
ciliaris  bewirkt  scheinbare  Myopie,  das  Auge  ermüdet  rasch.  Ein- 
tröpfelung  von  Atropin  beseitigt  den  Krampf. 


254  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

Die  Muskeln  der  Iris  sind  der  Sphincter  pupillae  (N. 
oculomot.)  und  der  Dilatator  pup.  (N.  sympathicus).  Dilatirend 
wirkt  auch  Gefässverengerung,  verengernd  vermehrte  Blutfülle  der 
Iris.  Der  Sphincter  contrahirt  sich  bei  Lichteinfall,  bei  Convergenz 
(beziehungsweise  Accommodation),  der  Dilatator  bei  sensorischer  oder 
psychischer  Erregung,  bei  gewaltsamer  Athmung  und  heftiger  Mus- 
kelanstrengung. Beide  werden  durch  gewisse  Gifte  erregt.  Zunächst 
ist  zu  bestimmen,  ob  bei  massiger  ebenso  wie  bei  intensiver  Be- 
leuchtung beider  Augen  Gleichheit  der  Weite  beider  Pupillen  be- 
steht (.,Isocorie;'-Heddaeus).  Jede  Anisocorie  ist  pathologisch.  Ferner 
ist  die  mittlere  Weite  der  Pupillen  bei  diffusem  Tageslicht  zu  schätzen 
oder  zu  messen,  (Myosis  =  Pupillenverkleinerung,  Mydriasis  =  Pu- 
pillenvergrösserung). 

Ausser  der  Pupillenweite  ist  zu  untersuchen: 

1.  die  Pupillenverengerung  bei  Lichteinfall.  Man  lässt  den  mit 
dem  Gesichte  dem  Lichte  zugewandten  Kranken  einen  fernen  Ge- 
genstand iixiren  und  beschattet  vorübergehend  das  Auge  durch  Vor- 
halten der  Hand. 

Der  zu  Untersuchende  befindet  sich  ca.  1  m  vom  Fenster  entfernt 
und  blickt,  ohne  zu  accommodiren,  hinaus  in  den  Tag  (nicht  Sonne)  hinein. 
Es  ist  ihm  gestattet,  zu  blinzeln,  im  Uebrigen  soll  er  aber  beide  Augen, 
auch  unter  der  deckenden  Hand,  stets  offen  halten.  Der  Untersucher  steht 
seitlich  vom  Untersuchten  und  verdeckt  dessen  linkes  Auge  möglichst 
vollständig  durch  Auflegen  der  rechten  Hohlhand.  Nach  5 — 10  See, 
während  deren  der  Untersucher  die  Weite  der  rechten  Pupille  beachtet  und 
sich  zu  merken  sucht,  lässt  er  das  linke  Auge  frei  und  beobachtet  die 
consensuelle  Pupillenreaction  des  rechten  Auges.  Darauf  wird  die 
Verschliessung  des  linken  Auges  wiederholt  und  die  Gegend  des  letzteren 
fixirt,  damit  der  Untersucher  bei  der  Aufdeckung  des  linken  Auges  sofort 
die  Weite  seiner  Pupille  wahrnehme  und  deren  Verengerung,  d.h.  die  directe 
Reaction  schätze.  In  gleicher  Weise  belehrt  man  sich  durch  zweimalige 
Verdeckung  und  Wiederfreilassung  des  rechten  Auges  1.  über  die  con- 
sensuelle Pupillenreaction  des  linken,  2.  über  die  directe  Pupillenreaction 
des  rechten  Auges.  Ist  das  Ergebniss  der  Prüfung  bei  offenem  2.  Auge 
negativ,  so  wird  man  auch  das  2.  Auge  theilweise  oder  ganz  verdecken, 
die  Zeit  der  Verdunkelung  verlängern,  den  Lichtcontrast  so  gross  wie 
möglich  machen.  Nötigenfalls  wird  die  Prüfung  im  Dunkelzimmer  vor- 
genommen und  auf  das  zu  untersuchende  Auge  nach  10 — 15  Min.  das  volle 
Tages(oder  Sonnen-)licht  geworfen.     (Vorschriften  nach  Heddaeus.) 

Beim  Gesunden  ist  die  directe  Pupillenreaction  der  consensuellen 
gleich.  Das  Vorhandensein  der  Lichtreaction  beweist,  dass  die  Fasern, 
die  die  Eetina  des  untersuchten  Auges,  mit  dem  Oculomotorius  ver- 
binden, ungeschädigt  sind,  dass  das  Auge  reflexerregbar  ist, 
mag-  die  Keaction  am  untersuchten  oder  am  anderen  Auge  eintreten. 


Muskeln  des  Auges.    Innere  Augenmuskeln. 


255 


Wenn  auch  nur  an  einem  Auge  die  Gleichheit  der  directen  und  der 
consensuellen  Reaction  festgestellt  werden  kann,  ist  nachgewiesen, 
dass  beide  Augen  (Eetinae)  gleich  reflexerregbar  sind.  Bei  einseitiger 
„Reflextaubheit"  fehlt  die  directe  Reaction  des  untersuchten  und  die 
consensuelle  Reaction  des  anderen  Auges.  Bei  doppelseitiger  Reflex- 
taubheit fehlt  die  Lichtreaction  überhaupt,  Wichtig  ist  die  Unter- 
scheidung zwischen  Reflextaubheit  und  reflectorischer  Pupillenstarre. 
Ist  letztere  einseitig,  so  verengt  sich  die  Pupille  weder  bei  Beleuch- 
tung des  gleichen  noch  des  anderen  Auges,  während  die  Pupille  des 
anderen  Auges  sowohl  direct  als  consensuell  reagirt, 

2.  Die  Pupillen  Ver- 
engerung bei  Convergenz. 
Man  lässt  den  Kranken 
erst  in  die  Ferne,  dann 
auf  einen  nahen  Gegen- 
stand, den  vorgehaltenen 
Finger,  oder  die  eigene 
Nasenspitze,  sehen.  Bei 
Unfähigkeit  zu  convergi- 
ren,  ist  die  Prüfung  der 
Mitbewegung  der  Pupille 
nicht  ausführbar.  Ist  die 
Verengerung  bei  Conver- 
genz vorhanden ,  so  ist 
die  centrifugale,  zur  Iris 
gehende  Bahn  (des  Oculo- 
motorius)  unbeschädigt, 
die  Pupille  ist  beweglich, 
fehlt  sie,  so  ist  die  Pupille 
starr.  Erhaltene  Beweg- 
lichkeit bei  Reflextaubheit  lässt  auf  eine  Läsion  der  centripetalen 
Bahn  oder  des  diese  mit  den  Irisfasern  des  Oculomotorius  verbinden- 
den centralen  Stückes  schliessen.  Bei  reflectorischer  Pupillenstarre 
kann  man  sich  die  Läsion  so  vorstellen ,  wie  Fig.  44  es  zeigt. 

3.  Die  Pupillenerweiterung  bei  sensorischer  Erregung.  Man  reizt 
die  Haut  des  Halses  oder  Nackens  durch  Stechen,  Kneifen,  am  besten 
durch  den  faradischen  Pinsel  und  beobachtet,  ob  danach  die  Pupille 
des  massig  beleuchteten,  in  die  Ferne  blickenden  Auges  sich  lang- 
sam erweitert, 

4.  Endlich  kann  man  durch  Einträufelung  von  Giften  die  Be- 
weglichkeit der  Pupille  prüfen.  Atropin  (1  proc.  Lösung  des  Atropin. 


Fig.  u. 

Schema ,   das  den  Unterschied  zischen  Reflextaubheit  und 

reflectorischer  Pnpillenstarre  darthut. 
R.  A.  =  rechtes  Auge,  L.  A.  =  linkes  Auge.  N.  o.  =N.  opticus. 
N.  III.  =  Nucleus  Nervi  oculomotorii.  s  =  centripetale  Pu- 
pillenfasern.  m  =  Iris  -  Ast  des  N.  oculomotorius.  Läsion 
hei  y  bewirkt  Reflextaubheit  des  linken  Auges.  Läsion  bei  x, 
und  x2  bewirkt  reflectorische  Pupillenstarre  des  linken  Auges. 


256  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

sulf.)  bewirkt  maximale  Erweiterung  der  Pupille  durch  Lähmung 
des  Sphincter  und  Reizung  des  Dilatator.  Das  Gleiche  bewirken 
Duboisin,  Hyoscyamin  u.  a.  Cocain  erweitert  die  Pupille  (und  die 
Lidspalte)  massig  und  vorübergehend,  wahrscheinlich  durch  Reizung 
des  Dilatator.  Eserin  (1  proc.  Lösung  des  Eserin.  sulf.)  verengert  die 
Pupille  ad  maximum  durch  Reizung  des  Sphincter,  Lähmung  des 
Dilatator.  Aehnlich  wirken  Pilocarpin,  Muscarin,  Nicotin.  Morphium 
verengert  bei  innerer  Anwendung  die  Pupille.  Bei  Inhalation  von 
Chloroform  erweitert  sich  zunächst  die  Pupille,  verengt  sich  dann 
und  wird  unbeweglich.  Am  energischsten  und  am  längsten  dauernd 
ist  c.  p.  die  Atropinwirkung,  es  empfiehlt  sich  daher  die  Prüfung 
durch  Eserin  u.  s.  w.  vorausgehen  zu  lassen. 

Bei  Lähmung  des  Sphincter  wird  die  Pupille  erweitert 
(Mydriasis  paralytica).  Licht-  und  Convergenzreaction  fehlen.  Die 
Erweiterung  bei  schmerzhaften  Reizen  muss  eintreten,  ist  aber  an 
der  schon  erweiterten  Pupille  schwer  zu  beobachten.  Atropin  ver- 
stärkt die  Erweiterung. 

Bei  Krampf  des  Sphincter  ist  die  Pupille  stark  verengert 
(Myosis  spastica).  Lichteinfall  oder  Beschattung,  Convergenz,  schmerz- 
halte Hautreize  bewirken  keine  Irisbewegung  (wenigstens  bei  starkem 
Krämpfe),  Atropin  erweitert  die  Pupille  langsamer  als  gewöhnlich, 
Eserin  verstärkt  die  Myosis. 

Bei  L  ä h  m u  n  g  d  e  s  D  i  1  a  t  a  t  o  r  ist  die  Pupille  massig  verengt 
(Myosis  paralytica).  Alle  Reactionen  sind  erhalten,  nur  die  reflec- 
torische  Erweiterung  fehlt. 

Bei  Krampf  des  Dilatator  ist  die  Pupille  erweitert  (My- 
driasis spastica),  die  reflectorische  Erweiterung  fehlt  bei  starker 
Mydriasis,  die  übrigen  Reactionen  pflegen  mehr  oder  weniger  er- 
halten zu  sein. 

Im  Allgemeinen  ist  der  Sphincter  stärker  als  der  Dilatator ;  wo 
beide  collidiren,  überwiegt  der  erstere. 

Findet  sich  Lähmung  des  Sphincter  und  Krampf  des 
Dilatator,  so  ist  die  Pupille  ad  maximum  erweitert  und  starr,  um- 
gekehrt ist  sie  bei  Lähmung  des  Dilatator  und  Krampf  des 
Sphincter  ad  maximum  verengert  und  starr. 

Besteht  Lähmung  des  Sphincter  und  des  Dilatator  (wie 
im  Tode),  so  ist  die  Pupille  mittelweit  und  starr. 

Ist  nur  ein  Muskel  gelähmt,  so  bildet  sich  wahrscheinlich  unter 
Umständen  eine  secundäre  Contractur  des  anderen  aus,  so  dass  z.  B. 
die  mittlere  Myosis  nach  Lähmung  des  Dilatator  mit  der  Zeit  ver- 
stärkt und  die  Beweglichkeit  gegen  Lichtreize  und  bei  Convergenz- 


Muskeln  des  Ohres.  257 

bewegung  beschränkt  werden  kann.  Docli  ist  über  diese  Dinge  wenig 
Sicheres  bekannt.  Auf  jeden  Fall  sind  Sphincter  und  Dilatator  nicht 
Antagonisten  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes,  da  sie  durch  Reize 
verschiedener  Art  erregt  werden. 

Ausser  den  schon  erwähnten  kommen  noch  folgende  Beweglich- 
keitsdefecte  zur  Beobachtung.  Die  Pupille  reagirt  nicht  auf  Licht- 
einfall  oder  Beschattung,  verengert  sich  aber  bei  Convergenz,  dabei 
fehlt  in  der  Regel  die  active  reflectorische  Erweiterung  (reflec- 
torischePupillenstarre).  Die  reflectorische  Pupillenstarre  darf, 
wie  schon  erwähnt,  nicht  mit  Aufhebung  der  Reflexerregbarkeit 
identificirt  werden.  Sie  gleicht  dieser,  wenn  sie  doppelseitig  vor- 
handen ist.  Da  aber  bei  einseitiger  reflectorischer  Starre  das  Auge 
mit  der  lichtstarren  Pupille  reflexempfindlich  ist,  so  ist  anzunehmen, 
dass  auch  doppelseitige  Lichtstarre  etwas  anderes  ist  als  Reflextaubheit. 

Die  (erweiterte)  Pupille  reagirt  nicht  auf  Lichtreize,  aber  bei 
Convergenz  und  die  active  reflectorische  Erweiterung  ist  erhalten: 
bei  Zerstörung  der  Opticusfasern,  doppelseitiger,  peripherischer  Amau- 
rose. Bei  einseitiger  Amaurose  ist  die  consensuelle  Reaction  erhalten. 
Bemerkenswerte  ist,  dass  in  seltenen  Fällen  trotz  peripherischer 
Amaurose  die  Lichtreaction  zum  Theil  erhalten  sein  kann,  dass  da- 
her die  Pupillenreaction  durch  schwächere  Reize  bewirkt  zu  werden 
scheint  als  die  Lichtempfindung. 

Stossweise  active  Contractionen  der  Iris  (wahrscheinlich  klo- 
nischer Krampf  des  Sphincter  pup.)  werden  Hippus  genannt,  zit- 
.ternde  passive  Bewegungen  der  Pupille  bei  Drehungen  des  Bulbus 
Iridodonesis  (Irisflattern,  Iris  tremulans). 

b.  Die  Muskeln  des  (mittleren)  Ohres. 

Der  M.  tensor  tympani  (N.  trigeminus)  zieht  den  Hammer- 
griff und  damit  das  Trommelfell  etwas  nach  hinten  und  innen  und 
spannt  letzteres  an.  Er  muss  dabei  gleichzeitig  die  Kette  der  Ge- 
hörknöchelchen nach  innen  bewegen  und  die  Steigbügelplatte  tiefer 
in  das  ovale  Fenster  hineindrücken.  Man  betrachtet  daher  den 
•  Tens.  tymp.  als  Schalldämpfer  (Toynbee).  Meist  soll  der  Grundton 
abgedämpft  erscheinen,  während  die  Obertöne  deutlich  hervortreten. 
Nach  Lucae  werden  die  hohen  Töne  weniger  deutlich  wahrge- 
nommen, während  die  tiefen  überwiegen. 

Die  Contraction  des  Tens.  tymp.  tritt  als  Mitbewegung  bei  Con- 
traction  der  Gaumen-  und  Halsmuskeln  ein. 

Der  M.  stapedius  (N.  facialis)  soll  das  Trommelfell  erschlaffen. 
Nach  He  nie  dient  er  hauptsächlich  zur  Befestigung  des  Steigbügels 

Möttius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl..  17 


258  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

und  zur  Dämpfung  passiver  Bewegungen,  die  ihm  mitgetheilt  werden. 
Nach  Toynbee  hebt  der  Stap.  die  Steigbügelplatte  aus  dem  ovalen 
Fenster  und  erleichtert  ihre  Schwingungsfähigkeit. 

Lähmung  des  M.  stapedius,  beziehungsweise  Ueberwiegen  des 
Tensor  tymp.,  soll  Hyperacusis  (abnorme  Feinhörigkeit,  besonders 
gegen  tiefe  Töne)  und  ein  hohes  subjectives  Geräusch  verursachen 
(Lucae).  Andere  nehmen  an,  dass  das  Ueberwiegen  des  Tens.  bei 
Lähmung  des  Stap.  Abschwächung  des  Gehörs  nebst  subjectiven 
Geräuschen  hervorrufe,  dass  die  bei  Facialislähmung  beobachtete 
Hyperacusis  vielmehr  durch  gesteigerte  Thätigkeit  des  nicht  mit  ge- 
lähmten Staped.,  der  bei  jedem  Innervationsversuche  abnorm  stark 
innervirt  werde,  zu  Stande  komme  (Urbantschitsch).  Durch 
abnorm  starke  Innervation  des  Staped.  wird  auch  der  zuweilen  bei 
Facialislähmungen  nach  jedem  Bewegungsversuche  auftretende  brum- 
mende Ton  erklärt. 

Contracturen  der  inneren  Ohrmuskeln  scheinen  zuweilen 
ausser  Gehörstörungen  und  subjectiven  Geräuschen  reflectorische 
Symptome  zu  bewirken  (Hyperästhesie  der  betroffenen  Kopfhälfte, 
Trigeminusneuralgien  u.  s.  w.). 

Klonische  Krämpfe  des  Tens.  tymp.  sollen  ein  knackendes 
Geräusch  verursachen. 

Letzteres  wird  (neben  Empfindungen  in  der  Zunge)  auch  durch 
faradische  Reizung  hervorgerufen,  sobald  eine  Elektrode  in  den 
mit  Wasser  gefüllten  Gehörgang  gebracht  wird  (Duchenne).  Wahr- 
scheinlich handelt  es  sich  dabei  um  Eeizung  der  inneren  Ohrmuskeln. 

Beziehungen  zum  Ohre  haben  mittels  der  Tuba  Eustachii  die 
Gaumenmuskeln.  Der  M.  tensor  palati  wird  als  Abductor 
(v.  T  r  ö lt  s  c h)  s.  Diktator  (E  ü  d i n g e r)  tubae  bezeichnet.  Er  hebt  den 
Knorpelhaken  und  die  membranöse  Tuba  von  der  medialen  Knorpel- 
platte ab  und  erweitert  damit  den  Tubeneingang.  Der  M.  levator 
palati  verengert  die  Rachenmündung  der  Tuba  bei  seiner  Contraction 

Lähmung  des  Tensor  palati  wird  ungenügende  Oeffnung 
oder  Verschluss  der  Tuba  bewirken,  damit  Erschwerung  des  Luft- 
zutrittes zu  der  Paukenhöhle,  Gehörstörungen  und  subjective  Ge- 
räusche. 

Tonischer  Krampf  des  Tensor  pal.  bewirkt  Offenstehen 
der  Tuba,  damit  abnorm  leichtes  Eindringen  der  Luft  in  die  Pau- 
kenhöhle und  verstärktes  Hören  der  eigenen  Stimme  (Autophonie). 

Klonischer  Krampf  des  Tensor  pal.  bewirkt  ein  knacken- 
des Geräusch,  das  auch  objectiv  wahrnehmbar  ist.  Dieses  Geräusch 
kann  von  manchen  Personen  auch  willkürlich  durch  directe  An- 


Mimische  Muskeln  des  Gesichtes.  259 

Spannung  des  Tens.  pal.  oder  durch  Schlingbewegungen .  Gähnen 
Kauen  u.  s.  w.  hervorgerufen  werden. 

c.   Die  mimischen  Muskeln  des  Gesichtes. 

Der  M.  epicranius,  der  aus  den  durch  die  Galea  aponeu- 
rotica  getrennten  Mm.  frontalis  und  o  c  c  i  p  i  t  a  1  i  s  besteht,  legt 
die  Stirnhaut  in  quere  Falten,  zieht  die  Augenbrauen  nach  oben  und 
verleiht  dem  Gesichte  den  Ausdruck  des  Erstaunens.  Während  in 
der  Regel  beide  Theile  sich  gemeinsam  zusammenziehen,  vermögen 
einzelne  Menschen  den  M.  occipitalis  isolirt  zu  contrahiren  und  da- 
mit das  Capillitium  nach  hinten  zu  verschieben. 

Lähmung  des  Epicranius  verursacht  Glätte  der  Stirn  und  Un- 
vermögen, die  Stirn  in  Querfalten  zu  legen. 

Der  M.  pyramidalis,  anatomisch  ein  Theil  des  M.  frontalis, 
faltet  die  Haut  über  der  Nasenwurzel  quer,  indem  er  die  Stirnhaut 
herabzieht  und  das  innere  Ende  der  Augenbrauen  senkt.  Seine  Con- 
traction  macht  das  Gesicht  finster. 

Der  M.  orbicularis  palpebrarum  schliesst  die  Augenlider 
und  legt  die  Haut  darum  in  zahlreiche  strahlenartige  Falten.  Das 
als  M.  malaris  bezeichnete  Bündel  des  Orbicularis  legt  die  Haut  am 
äusseren  Augenwinkel  in  feine,  nach  dem  letzteren  zusammenlaufende 
Falten  und  hebt  die  Wangenhaut  etwas,  damit  entsteht  ein  freund- 
licher Ausdruck.  Die  Contraction  der  Augenlidmuskeln  muss  auch 
eine  Erweiterung  des  Thränensackes  bewirken,  mittels  der  die  im 
medialen  Augenwinkel  angesammelte  Flüssigkeit  angesogen  wird. 

Lähmung  des  M.  orbic  palp.  verursacht  Unvermögen,  das  Auge 
zu  schliessen.  Es  bleibt  offen  (Lagophthalmus  paralyticus)  und  es 
tritt  Thränenträufeln  ein.  Im  Schlafe  oder  beim  Versuche,  das  Auge 
willkürlich  zu  schliessen,  wird  das  obere  Lid  etwas  gesenkt  und  der 
Bulbus  nach  oben  innen  gedreht. 

Tonischer  Krampf  des  M.  orbic.  palp.  wird  als  Blepharospas- 
mus bezeichnet.    Klonischer  Lidkrampf  heisst  Spasmus  nictitans. 

Der  M.  corrugator  supercilii  schiebt  die  Augenbraue  nach 
innen  und  etwas  nach  unten,  so  dass  das  obere  Lid  überschattet  und 
zum  Theil  bedeckt  wird,  die  Haut  der  Glabella  in  senkrechte  Falten 
gelegt  wird.  Dabei  wird  das  mediale  Ende  der  Augenbraue  leicht 
gehoben.  So  entsteht  der  Ausdruck  des  Nachdenkens,  des  drohen- 
den Ernstes. 

Der  M.  triangularis  (Compressor)  nasi  legt  die  Haut  des 
Nasenrückens  in  Längsfalten  und  soll  damit  den  Ausdruck  der  Lü- 
sternheit bewirken. 

IT* 


260  Die  Function  der  einzelneu  Muskeln  und  deren  Störung. 

Der  M.  depressor  nasi  (myrtifoirais)  s.  dilatator  narium 
hebt  den  Nasenflügel  und  erweitert  das  Nasenloch,  Seine  Lähmung 
vermindert  die  Fähigkeit  zu  schnüffeln  und  damit  die  Kiechfähigkeit. 

Das  von  Duchenne  als  Dilatator  externus  bezeichnete  Bündel 
verengert  die  Nasenmündung. 

Der  M.  levator  lab.  sup.  alaeque  nasi  hebt  den  Nasen- 
flügel und  die  Oberlippe,  ohne  das  Nasenloch  zu  erweitern.  Seine 
Contraction  pflegt  das  Weinen  der  Kinder  einzuleiten. 

Der  M.  levator  lab.  sup.  proprius  und  der  M.  levator 
•anguli  oris  (M.  caninus)  heben  die  Oberlippe,  beziehungsweise  den 
Mundwinkel  senkrecht  in  die  Höhe  und  machen  das  Gesicht  weinerlich 
und  verdriesslich.  Das  letztere  bewirkt  auch  der  M.  zygomaticus 
minor,  der  die  Oberlippe  nach  oben  und  etwas  nach  aussen  hebt. 

Dagegen  ist  der  M.  zygomaticus  major  der  Muskel  des 
Lachens  und  der  Freude,  Er  zieht  den  Mundwinkel  nach  aussen 
und  etwas  nach  oben,  legt  die  Haut  der  Wange  in  tiefe,  theils  nach 
dem  Nasenflügel,  theils  nach  der  Nasenwurzel  zu  bogenförmig  ver- 
laufende Falten. 

Lähmung  der  vier  letztgenannten  Muskeln  lässt  den  Mundwinkel 
herabsinken,  die  Nasolabialfurche  verstreichen  und  flacht  die  Wange  ab. 

Der  M.  buccinator  drückt  die  Wange  an  die  Zähne,  faltet 
dabei  die  Wangenschleimhaut.  Zum  Austreiben  der  Luft  aus  der 
Mundhöhle  beim  Blasen  u.  s.  w.  trägt  er  nichts  bei.  Seine  Läh- 
mung bewirkt  Erschlaffung  der  Wange,  die  alsdann  bei  jeder  Ex- 
spiration aufgebläht  wird  und  beim  Kauen  nicht  mehr  sich  den 
Zähnen  anlegt,  so  dass  die  Bissen  zwischen  Zähne  und  Wange  fallen. 

Der  M.  orbicularis  oris  schliefst  die  Lippen  und  drückt  sie 
an  die  Zähne  an.  Zusammen  mit  den  Mm.  incisivi  und  dem  M. 
nasalis  labii  sup.  spitzt  er  den  Mund  zum  Küssen,  Pfeifen,  Aus- 
sprechen der  Vokale  o  und  u.  In  verschiedener  Weise  bethätigt  sich 
der  0.  oris  bei  Bildung  mehrerer  Consonannten  (b,  p,  w,  v,  f,  m). 
Buccinator  und  Orbicularis  oris  wirken  gemeinsam  beim  Saugen, 
Trinken,  Essen,  Blasen  von  Instrumenten  u.  s.  w.  und  sind  als  Theile 
eines  Muskels  zu  betrachten. 

Lähmung  des  Orbic.  oris  bewirkt  Offenstehen  des  Mundes,  aus 
dem  der  Speichel  fliesst.  Schon  einseitige  Lähmung  hebt  die  Fähig- 
keit zu  pfeifen  auf.  Doppelseitige  Lähmung  stört  die  Articulation, 
da  die  oben  aufgezählten  Laute  unvollkommen  oder  nicht  gebildet 
werden  können, 

Contraction  des  M.  levator  menti  flacht  die  Rundung  des 
Kinnes  ab,  schiebt  Kinn  und  Unterlippe  nach  oben,  so  dass  letztere 


Mimische  Muskeln  des  Gesichtes 


261 


die  Oberlippe  zum  Tkeil  deckt  und  sich  aussen  umschlägt,  das  Lip- 
penroth verbreiternd.  So  erhält  das  Gesicht  einen  hochmüthigen, 
verachtenden  Ausdruck.  Der  Lev.  menti  ist  bei  Bildung  der  Lippen- 
laute betheiligt,  ist  er  gelähmt,  so  unterstützen  manche  Kranken  das 
Kinn  mit  der  Hand,  um  dadurch  die  Bildung  jener  Laute  zu  erleichtern. 


M.  frontalis 
Oberer  Facialisast. 
AI.  corrug.  supereil. 

II.  orbic.  palpebr. 
Nasenmuskeln 

M.  zygomaüci 
M.  orbicul.  oris 
Mittler.  Facialisast 
M.  masseter 

AI.  levator  menti 
M.  quadr.  menti 
AI.  triang.  menti 
Xerv.  hypogloss. 
Unterer  Facialisast 

M. platysma  myoid. 

Zungenbein-  | 
muskeln     1 


AI.  omohyoideus 


thoracic,  anter. 
(AI.  pector.) 


N.  phrenicus     Supraclavicular-  Plexus 

punkt.    i  Erb 'scher  brachialis 

Punkt.  ALdeltoid., 
biceps,  brachial. in- 
tern, und  supinat. 
long.) 

Fig.  45. 

Alotorische  Punkte  am  Kopfe  (nach  Erh). 


Gegend  der 
Central  Windungen 


Gegend  d.  3.  Stirn- 

windung  und  Insel 

( Sprachcentrum) 

AI.  temporalis 

Oberer  Facialisast 

vor  dem  Ohr 
X.  facialis  ( Stamm) 

N.  auricul.  post. 
Alittl.  Facialisast 
Unter.  Facialisast 
AI.  splenius 
AI.  stemocleido- 
mastoideus 

X.  accessorius 
AI.  levator  anguli 

scapul. 
AI.  cucullaris 

N.  dors.  scapulae 

N.  axillaris 

X.  thoracic  long. 

(AI.  serratus  anric. 

maj.) 


Der  M.  quadratus  menti  zieht  die  Unterlippe  nach  unten 
und  etwas  nach  aussen,  diese  dabei  an  die  Zähne  andrückend.  Auch 
er  bewirkt  den  Ausdruck  der  Missachtung  und  Abneigung. 

Der  M.  tri  angularis  menti  zieht  den  Mundwinkel  nach  unten 
und  aussen,  ohne  dabei  die  Mundspalte  zu  öffnen.  Er  betheiligt  sich 
beim  'Weinen.    Seine  isolirte  Contraction  drückt  Ekel  aus. 


262 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


Die  Lähmung  der  Kinnmuskeln  macht  sich  im  Buhezustande 
wenig  bemerklich,  erst  bei  Bewegungsversuchen  erkennt  man  die 
Unfähigkeit,  die  Unterlippe  herabzuziehen  oder  zu  heben. 

Der  schwache  M.  risorius  (He nie)  zieht  den  Mundwinkel  nach 
aussen,  wie  es  beim  Lächeln  geschieht. 

Der  M.  subcutaneus  colli  (Platysma)  zieht  gemeinsam  mit 
dem  ihm  verbundenen  Quadratus  m.  die  Unterlippe  nach  aussen,  so 
dass  bei  energischer  Contraction  die  Zähne  entblösst  werden.  Er 
stellt  ferner  eine  Ebene  dar  zwischen  unterem  Kieferrande  und  Hals, 
so  dass  dem  Einsinken  der  Haut  des  Halses  und  dem  Collabiren  der 
Halsvenen  .beim  Einathmen  Widerstand  geleistet  wird.  Man  sieht 
daher  bei  rascher  und  angestrengter  Inspiration,  besonders  beim 
Singen,  die  Subcutanei  sich  spannen  und  die  Haut  in  Längsfalten 
legen.  Ob  die  Contraction  des  lateralen  Abschnittes  auf  die  Ent- 
leerung der  Parotis  Einfluss  hat,  ist  zweifelhaft.  Der  M.  subc.  colli 
contrahirt  sich  bei  heftigen  Affecten,  Entsetzen,  Wuth. 

Bei  Lähmung  des  Subc.c. 
sind  die  erwähnten  Bewegun- 
gen nicht  möglich  und  der 
Eand  des  Unterkiefers  tritt 
mehr  als  sonst  hervor. 

Die  Mm.  attrahens,  at- 
tollens  und  retrahens 
auriculae  heben  die  Ohr- 
muschel in  geringem  Grade 
nach  oben-vorn,  beziehungs- 
weise oben-hinten  und  ver- 
größern damit  die  Gehörs- 
öffnimg. Sie  können  nur  von 
einzelnen  Individuen  willkür- 
lich contrahirt  werden,  ihre 
Lähmung  ist  daher  oft  nicht 
nachweisbar,  es  sei  denn,  dass 
die  elektrische  Erregbarkeit 
Fig.  46.  verloren  gegangen  ist. 

Die  kleinen  Muskeln  der 
Ohrmuschel  (Mm.  tragicus 
et  antitragicus,  helicis  major  et  minor)  nähern  den  Anti- 
tragns  etwas  dem  Tragus  und  verkürzen  die  Concha  ein  wenig  von 
oben  nach  unten.    Sie  sind  ohne  praktische  Bedeutung. 

Alle  bisher  ernannten  Muskeln  werden  vom  X.  facialis  inner- 


Peripherische  rechtseiticro  Facialislähmunc 
(nach  Seelipmüllor). 


Kaumuskeln.  263 

virt,  nur  der  M.  subcut,  colli  erhält  ausser  dem  Facialiszweige  einige 
Zweige  vom  dritten  Cervicalnerven  (Xn.  subcutanei  coli.  med.  et  inf.) 
und  der  M.  buccinator  soll  einige  Fädchen  vom  Trigeminus  erhalten. 

Wie  die  elektrische  Eeizung  der  einzelnen  Muskeln  vor- 
zunehmen ist,  geht  aus  Fig.  45  und  deren  Beschreibung  hervor.  Nicht 
isolirt  zur  Contraction  zu  bringen  ist  der  tiefliegende  M.  caninus. 

Wie  die  Untersuchung  der  Gesichtsmuskeln  auf  Lähmung  auszu- 
führen ist,  ergiebt  sich  aus  dem  Gesagten.  Bei  einseitiger  Läh- 
mung fällt  meist  sofort  das  Yerstrichensein  der  Falten  und  das  Ver- 
zogensein des  Gesichtes  nach  der  gesunden  Seite  ins  Auge.  Geringe 
Grade  von  Lähmung  werden  erst  bei  Ausführung  der  willkürlichen 
und  der  Mitbewegungen,  beim  Lachen,  Sprechen  u.  s.  w.  deutlich. 
Wenn  der  Kranke  eine  anstrengende  Bewegung  macht,  etwa  die 
Hand  des  Untersuchers  drückt,  tritt  zuweilen  die  Differenz  beider 
Gesichtshälften  besonders  deutlich  hervor.  Am  schwierigsten  sind 
schwache,  doppelseitige  Paresen  nachzuweisen,  da  individuell  die 
Kraft  der  Gesichtsmuskeln  sehr  verschieden  gross  ist.  Oft  hat  dar- 
über der  Kranke  selbst  das  sicherste  Urtheil.  Man  prüft  die  Kraft, 
indem  man  den  einzelnen  Muskeln  mit  dem  Finger  Widerstand  leistet. 

Der  klonische  Krampf  der  Gesichtsmuskeln,  bei  dem  sich 
hauptsächlich  die  Muskeln  um  das  Auge  und  den  Mund  zu  betheiligen 
pflegen,  wird  oft  als  Tic  convulsif  bezeichnet.  Tonischer  Ge- 
sichtskrampf giebt  dasselbe  Bild  wie  Faradisiren  des  X.  facialis. 
Oontracturen  einzelner  Gesichtsmuskeln  werden  sich  leicht  erkennen 
lassen. 

d.  Die  Kaumuskeln 

werden  vom  N.  trigeminus  innervirt. 

Die  Mm.  masseter  und  temporalis  ziehen  mit  grosser  Kraft 
den  LTnterkiefer  an  den  Oberkiefer  und  pressen  die  Zähne  auf  ein- 
ander. Unterstützend  wirkt  bei  dieser  Bewegung  die  Contraction 
der  Mm.  pterygoidei  interni.  Beim  Oeffnen  des  Mundes  wird 
der  Unterkiefer  vom  M.  pterygoideus  ext,  auf  das  Tuberculum 
articulare  hervorgezogen. 

Den  Kiefer  seitwärts  zu  bewegen  oder  vielmehr  ihn  um  den 
einen  Gelenkkopf  zu  rotiren,  dienen  die  vereinigten  Mm.  ptery- 
goidei einer  Seite. 

Bei  einseitiger  Kaumuskellähmung  kauen  die  Kranken  nur 
auf  der  gesunden  Seite.  Lässt  man  sie  die  Zähne  auf  einander 
beissen,  so  sieht  man,  fühlt  besser  durch  die  aufgelegten  Finger, 
dass  Masseter  und  Temporalis  sich  auf  der  kranken  Seite  schwach 


264  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

oder  gar  nicht  contraliiren.  Bei  doppelseitiger  Lähmung*  klagen  die 
Kranken  zuerst  über  rasches  Ermüden  beim  Kauen,  sie  können  feste 
Speisen  nicht  mehr  zerkleinern,  müssen  oft  pausiren  beim  Essen. 
Objectiv  giebt  sich  die  Kaumuskelparese  dadurch  kund,  dass  der 
Untersucher  die  Zahnreihen  gegen  den  "Willen  des  Patienten  getrennt 
halten  kann,  während  gesunde  Kaumuskeln  die  Kraft  der  Hand  meist 
überwältigen.  Bei  completer  Lähmung  hängt  der  Unterkiefer  schlaff 
herab.  Immer  bleibt  der  letztere  passiv  leicht  beweglich,  nur  wenn 
sich  secundäre  Contractur  entwickeln  und  den  Unterkiefer  heben 
sollte,  kann  in  dieser  Richtung  eine  Schwierigkeit  entstehen. 

Atrophie  des  Masseter  und  Temporaiis  macht  sich  dem  Gesicht 
und  Gefühl  leicht  kenntlich. 

Die  elektrische  Erregung  ist  schwierig,  nur  bei  schwerer  Facia- 
lislähmung  ist  der  Masseter  leicht  zu  untersuchen  (vergl.  Fig.  45). 

Lähmung  der  Pterygoidei  kann  man  nur  an  der  Unfähigkeit, 
den  Unterkiefer  seitlich  zu  verschieben,  erkennen. 

Tonischer  Krampf  der  Kaumuskeln  wird  „Trismus" 
genannt.  Bei  einseitigem  Krämpfe  der  Pterygoidei  wird  der  Kiefer 
nach  der  kranken  Seite  hin  verschoben.  Klonischer  Krampf  der 
Kaumuskeln  bewirkt  bald  wirkliche  Kaubewegungen,  bald  schnappende 
Bewegungen  des  Unterkiefers  und  Zähneklappen,  bald  Zähneknirschen. 

e.  Die  Muskeln  der  Zunge 

werden  vom  N.  hypoglossus  innervirt. 

Der  M.  genioglossus  zieht  die  aufgehobene  Zunge  nieder  und 
nähert  ihren  Grund  dem  Kinnstachel,  wodurch  ihre  Spitze  aus  der 
Mundhöhle  heraustritt.  Der  M.  hyoglossus  zieht  die  Zunge  her- 
ab und  etwas  zurück.  Der  M.  styloglossus  zieht,  wenn  er  ein- 
seitig wirkt,  die  Zunge  seitwärts,  wenn  er  auf  beiden  Seiten  wirkt, 
direct  nach  rückwärts.  Die  Binnenmuskeln  der  Zunge  (M.  lingua- 
lis  und  transversus  linguae)  durchflechten  sich  mit  den  drei 
genannten  Muskeln.  „Dadurch,  dass  die  zur  Verkürzung  und  zum 
Zurückziehen  der  Zunge  bestimmten  sagittalen  Muskeln  sich  an  der 
Oberfläche,  dicht  unter  der  Schleimhaut,  ausbreiten  und  unabhängig 
von  einander  sich  bald  an  der  oberen,  bald  an  der  unteren  Fläche, 
bald  an  den  Seiten  zusammenziehen,  erlangt  die  Zunge  das  Ver- 
mögen, sich  aufwärts,  abwärts,  seitwärts  zu  beugen.  Dass  der  Eücken 
der  Zunge  sich  abwechselnd  im  frontalen  Durchschnitt  wölben  und 
rinnenartig  vertiefen  kann,  ist  bedingt  durch  das  wechselnde  Spiel 
der  Mm.  genioglossi  und  hyoglossi,  von  welchen  jene  die  Mitte,  diese 


Muskeln  der  Zunge. 


265 


die  Seitenrander  der  Zunge  niederdrücken.  Gemeinschaftlich  wirkend 
platten  sie  die  Zunge  ab"  (Henle). 

Bei  einseitiger  Zungenlähmung  wird  beim  Herausstrecken 
die  Spitze  der  Zunge  nach  der  gelähmten  Seite  hin  gewendet,  haupt- 
sächlich durch  die  Wirkung  des  gesunden  Genioglossus.  Ausserdem 
sieht  man,  besonders  bei  einseitiger  Atrophie  der  Zunge,  dass  die 
Spitze  bei  Herausstrecken  sich  nach  der  kranken  Seite  zu  krümmt. 
Bei  Hemiatrophie  erscheint 
die  kranke  Hälfte  runzelig. 
schlaff,  zusammengesunken, 
wie  ein  Anhang  zur  gesun- 
den Hälfte,  die  glatt,  prall 
und  elastisch  bleibt.  Gerin- 
gere Grade  der  Atrophie  ent- 
deckt man,  wenn  man  mit 
jeder  Hand  je  eine  Zungen- 
hälfte zwischen  Daumen  und 
Zeigefinger  nimmt  und  die 

Zunge  vorstrecken  lässt 
(Hutchinson).  Die  gesunde 
Hälfte  wird  dann  prall  und 
fest,  die  kranke  bleibt  dünn 
und  schlaff. 

Deutliche  Functionstö- 
rungen  beim  Sprechen  und 
Schlucken    ruft     einseitige 

Zungenlähmung  nur  hervor,  wenn  sie  plötzlich  eintritt.  Entwickelt 
sie  sich  langsam,  so  wird  der  Ausfall  durch  Yicariirende  Thätigkeit 
der  gesunden  Hälfte  ziemlich  gedeckt. 

Bei  doppelseitiger  Parese  wird  die  Zunge  langsam,  zögernd 
und  zitternd  herausgestreckt,  sinkt  rasch  wieder  zurück.  Alle  Be- 
wegungen der  Zunge  im  Munde  sind  langsam,  ungeschickt  und 
kraftlos. 

Bei  completer  Lähmung  liegt  die  Zunge  unbeweglich,  schlaff, 
wie  collabirt,  am  Boden  der  Mundhöhle. 

Zungenlähmung  beeinträchtigt  das  Kauen  und  Schlingen.  Der 
Bissen  kann  nicht  gehörig  bewegt  und  zwischen  die  Zähne  gescho- 
ben werden,  Speisereste  bleiben  in  den  Seitentheilen  der  Mund- 
höhle liegen. 

Beim  Schlucken  wird  erst  die  Zungenspitze,  dann  der  Zungen- 
rücken an  den  harten  Gaumen  angedrückt  und  werden  die  Bissen 


Fig.  47. 

Hemiatrophie  der  Zunge  (nach  Hirt). 


266  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

so  in  den  Pharynx  geschoben,  werden  flüssige  und  halbflüssige 
Massen  mit  grosser  Geschwindigkeit  durch  Schlund  und  Speiseröhre 
bis  an  die  Cardia  befördert  (Kronecker  und  Meltzer).  Dieses 
„Hindurchspritzen"  geschieht  wesentlich  durch  die  Musculatur  der 
Zunge  und  des  Mundbodens,  besonders  die  Mm.  hyoglossus  und  mylo- 
hyoideus. Indem  die  Zunge  gegen  den  harten  Gaumen  angedrückt 
und  zugleich  nach  hinten  zurückgezogen  wird,  bildet  sich  ein  ab- 
geschlossener Eaum,  in  dem  ein  verhältnissmässig  hoher  Druck 
entsteht.  Bei  Zungenlähmung  kann  dieser  Eaum  nach  vorn  nicht 
abgeschlossen  werden,  die  Getränke  laufen  daher  nach  der  Mund- 
höhle zurück.  Die  Speisen  bleiben  zum  Theil  auf  dem  Zungen- 
rücken liegen.  Auch  der  Speichel  kann  nicht  gehörig  verschluckt 
werden,  sammelt  sich  in  der  Mundhöhle  an  und  belästigt  die  Kran- 
ken in  hohem  Grade. 

Da  die  Zunge  bei  Bildung  vieler  Laute  mitwirkt,  wird  durch 
ihre  Lähmung  die  Articulation  beeinträchtigt.  Bei  einseitiger  Läh- 
mung und  bei  Parese  werden  die  betreffenden  Laute  (c,  d,  e,  g,  i, 
k,  1,  n,  r,  s,  seh,  x,  z)  undeutlich.  Am  ehesten  leiden  1  und  r,  das  k 
wird  wie  t,  das  g  wie  d  ausgesprochen,  ähnlich  wie  es  von  Kindern 
geschieht. 

Bei  schwerer  Lähmung  wird  die  Sprache  überhaupt  lallend  und 
unverständlich.  Auch  das  Singen,  besonders  das  von  Falsettönen, 
soll  schon  durch  geringe  Grade  von  Zungenlähmung  erschwert  werden. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  bei  vollständigem  Fehlen  der  Zunge 
(z.  B.  Herausgerissensein)  durch  vicariirende  Thätigkeit  des  Mund- 
bodens die  Zungenlaute  leidlich  gut  gebildet  werden  können.  Sind 
aber  die  Muskeln  des  Mundbodens  auch  mit  betroffen,  so  bewirkt 
schon  geringe  Parese  sehr  deutliche  Störungen  beim  Sprechen  und 
Schlucken. 

Atrophie  der  Zunge  macht  sich  durch  Abnahme  des  Volumen 
bemerklich,  sie  wird  dünn  und  runzelig.  Die  Atrophie  kann  durch 
Fettwucherung  verdeckt  werden. 

Die  elektrische  Erregung  der  Zungenmuskeln  gelingt  zu- 
weilen vom  N.  hypoglossus  aus,  am  Halse  oberhalb  des  Zungen- 
beins (vergl.  Fig.  45),  jederzeit  durch  directe  Eeizung,  die  allerdings 
nur  die  oberflächlichen  Bündel  zur  Contraction  bringt. 

Der  Krampf  der  Zungenmuskeln,  an  dem  sich  bald  diese,  bald 
jene  Bündel  hauptsächlich  betheiligen,  bietet  meist  das  Bild  regel- 
loser Bewegungen  der  ganzen  Zunge,  seltener  besteht  er  in  wech- 
selndem Herausstrecken  und  Zurückziehen,  oder  in  Bewegungen  nur 
einer  Zuno-enhälfte, 


Muskeln  des  weichen  Gaumens.  267 

f.   Die  Muskeln  des  weichen  Gaumens 

sollen  theils  vom  N.  facialis  (durch  den  N.petros.  superfic.  major 
zum  Ganglion  sphenopalatinum  gehende  Fasern)  versorgt  werden 
(hauptsächlich  der  M.  levator  vel.  pal.),  theils  vom  X.  vagoacces- 
sorius  und  N.  tr  ige  minus  (M.  tensor  pal.).  Es  ist  wahrschein- 
licher, dass  der  Facialis  gar  nichts  mit  ihnen  zu  thun  habe,  dass 
der  Vagoaccessorius  der  Gaumen-Nerv  sei. 

Der  M.  azygos  uvulae  (M.  palatostaphylinus)  verkürzt  nicht 
allein  das  Zäpfchen,  er  wendet  es  auch  kräftig  nach  hinten,  derart. 
dass  seine  Spitze  gegen  die  Pharynxwand  gerichtet  ist,  u.  U.  sie  be- 
rührt. Ist  er  einseitig  gelähmt,  so  wird  das  Zäpfchen  nach  der 
gesunden    Seite    gekrümmt,     die  __  _— _ 

Krümmung  verstärkt  sich  bei  Con- 
traction  des  gesunden  M.  azygos. 
Doch  ist  auf  leichte  Abweichungen 
der  Uvula  von  der  Mittellinie  kein 
Gewicht  zu  legen,  da  diese  auch 
beim  Gesunden  nicht  selten  vorkom- 
men. Die  doppelseitige  Lähmung 
des  M.  azygos  verlängert  die  Uvula 
nur  etwas,  man  erkennt  sie  erst 
daran,  dass  bei  Berührung  der  Uvula 
keine  Verkürzung  eintritt.  Die  ein- 
seitige Lähmung  stört  weder  beim  -gig.  48. 

Schlucken.  nOCll  beim  Sprechen,  da-        Halbseitige   Gaumenlähnrang  (nach   Seelig- 
.  .  .    .         T  müller). 

gegen  wird  die  doppelseitige  Läh- 
mung dadurch  lästig,  dass  die  Spitze  der  L  vula  die  Zungenbasis  be- 
rührt und  wie  ein  Fremdkörper  wirkt.    Ausserdem  kommt  es  leicht 
zu  geringem  Xäseln  beim  Sprechen  und  hie  und  da  zum  Regurgitiren 
von  Flüssigkeiten  durch  die  Xase. 

Der  M.  levator  palati  (petrostaphylinus)  hebt  das  Gaumen- 
segel, so  dass  die  Concavität  des  freien  Randes  vermehrt  wird,  und 
spannt  es  seitlich,  sobald  die  hebende  "Wirkung  durch  die  Fasern 
der  Mm.  palatopharyngei  und  glossostaphylini  gehindert  wird.  Seine 
einseitige  Lähmung  lässt  die  entsprechende  Seite  des  Gaumensegels 
etwas  tiefer  stehen  als  die  andere,  die  Differenz  nimmt  zu  bei  Con- 
traction  des  Gaumens  und  es  tritt  eine  Verschiebung  nach  der  ge- 
sunden Seite  ein.  Bei  doppelseitiger  Lähmung  hängt  das  Gaumen- 
segel schlaff  herab  und  ist  durch  Kitzeln  der  Uvula  nicht  zur 
Contraction  zu  bringen.    Die  Stimme   wird  näselnd,  manche  Laute 


268  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

(s,  c,  x,  Gaumen-r  u.  s.  w.)  werden  mangelhaft  ausgesprochen  und 
beim  Trinken  fliesst  ein  Theil  der  Flüssigkeit  durch  die  Nase  zurück. 

Der  M.  tensor  palati  (sphenostaphylinus)  soll  seinen  Namen 
mit  Unrecht  tragen,  er  sei  wesentlich  Spanner  der  fibrösen  Ver- 
längerung des  knöchernen  Gaumens  für  den  Fall,  dass  diese  fibröse 
Platte  von  den  Längsmuskeln  des  Pharynx  abwärts  gezogen  werden 
sollte.  Heber  seine  Beziehungen  zu  Ohrtrompete  ist  oben  (S.  258) 
gesprochen  worden. 

Die  vom  Boden  der  Mundhöhle  und  vom  Pharynx  aufsteigenden 
Fasern  (Mm.  glossostaphylinus  und  pharyngopalatinus) 
dienen  zur  Abschliessung  der  Nasenhöhle  gegen  den  Pharynx,  indem 
sie  (mit  Hülfe  der  Mm.  styloglossi)  die  Zunge  dem  Gaumen  etwas 
nähern  und  die  Arcus  pharyngopalatini  mit  ihren  Rändern  zugleich 
gerade  strecken  und  einander  nähern.  Bei  letzterer  Bewegung  wirken 
die  Kreisfasern  des  Pharynx  unterstützend.  Wird  durch  den  M. 
pharyngopalat.  das  Gaumensegel  herabgezogen  und  werden  die  hin- 
teren Gaumenbögen  wie  Gardinen  zusammengezogen,  so  bildet  der 
Gaumen  eine  von  oben  nach  unten  und  von  vorn  nach  hinten  schräge 
Platte  und  zwischen  den  Gaumenbögen  bleibt  ein  etwa  1  Cm.  breiter 
Eaum.  Beim  Schlucken  hebt  zunächst  der  Levator  pal.  das  Gaumen- 
segel und  vergrössert  die  Capacität  des  Pharynx,  zugleich  contrahirt 
sich  der  obere  Schlundschnürer  und  hilft  den  Nasenrachenraum  ab- 
schliessen.  Dann  wird  das  Gaumensegel  durch  den  M.  pharyngopalat. 
niedergezogen,  nähern  sich  die  hinteren  Gaumenbögen,  die  oben  be- 
schriebene Lücke  zwischen  sich  lassend,  in  die  durch  den  M.  azygos 
die  Uvula  gedrückt  wird. 

Lähmu  ng  des  M.  pharyngopalatinus  vergrössert  die  Krümmung 
der  hinteren  Gaumenbögen,  so  dass  der  durch  sie  gebildete  Vor- 
sprang zu  verschwinden  droht.  Bei  Reizung  des  Gaumens  bleiben 
die  oben  beschriebenen  Bewegungen  aus.  Die  Stimme  soll  bei  iso- 
lirter  Lähmung  des  Pharyngopalat.  nicht  näselnd  sein,  das  Schlingen 
aber  wird  gestört. 

Bei  Untersuchung  auf  Gaumenmuskellähmung  beobachtet  man 
die  Stellung  des  Gaumens  bei  ruhiger  Athmung,  lässt  den  Kranken 
intoniren  und  Schlingbewegungen  machen,  reizt  den  Gaumen  mecha- 
nisch. Bei  normalem  Zustande  löst  Kitzeln  der  Uvula  synergische 
Contraction  aller  Gaumenmuskeln  aus.  Bei  peripherischer  Lähmung 
fehlen  die  Reflexe.  Krämpfe  der  Gaumenmuskeln  werden  nach 
dem  Gesagten  leicht  zu  erkennen  sein.  Die  elektrische  Reizung 
der  Gaumenmuskeln,  die  am  besten  durch  eine  sondenförmige,  mit 
Unterbrecher  versehene  Elektrode  geschieht,  wird  oft  durch  das  Vor- 


Muskeln  des  Rachens.    Museulatur  des  Oesophagus.  269 

Jiandensein  von  Anästhesie  erleichtert.  Am  leichtesten  ist  die  Er- 
regung des  M.  azygos,  bei  Berührung  der  Uvula  schnurrt  diese  in 
sich  und  nach  oben  zusammen.  Auch  können  die  Contractionen  des 
Gaumens  durch  die  Fingerspitze  controlirt  werden. 

g.  Die  Muskeln  des  Rachens 

werden  vom  N.  vago-accesssorius  innervirt  (der  M.  stylopharyng. 
durch  den  N.  glossopharyngeus  nach  einigen  Autoren). 

Der  M.  s  t  y  1  o  p  h  a  r  y  n  g  e  u  s  ist  ein  Heber  des  Schlundes. 
Die  Mm.  constrictores  pharyngis  (sup.,  med.,  inf.)  verengern 
den  Schlund. 

Die  Lähmung  der  Schlundmuskeln  giebt  sich  kund  durch  Ver- 
minderung oder  Aufhebung  des  Schlingvermögens  (Fehlschlucken) 
und  durch  Fehlen  reflectorischer  Contractionen  bei  mechanischer 
Heizung,  Ausserdem  sieht  man  bei  einseitiger  Lähmung,  dass  die 
entsprechende  Hälfte  des  Schlundes  erweitert  ist  und  dass  bei  Würge- 
bewegungen  diese  Hälfte  sich  nicht  mit  verschiebt. 

Bei  einseitiger  elektrischer  Reizung  tritt  eine  kräftige 
Verziehung  der  gesammten  Schleimhaut  der  hinteren  Bachenwand 
nach  der  gereizten  Seite  ein. 

Man  kann  reflectorisch  Schlingbewegungen  erregen  dadurch,  dass 
man,  während  die  An  des  Batteriestromes  etwa  im  Nacken  steht, 
mit  der  Ka  rasch  über  die  seitliche  Kehlkopfgegend  streicht.  Bei 
Rachenlähmung  treten  zuweilen  diese  reflectorischen  Schlingbewe- 
gungen nur  bei  Anwendung  starker  Ströme  oder  gar  nicht  ein. 


Die  Museulatur  des  Oesophagus,  die  hier  anhangsweise  erwähnt 
werden  mag,  wird  ebenfalls  vom  Vag  o-acc  es  so  rius  versorgt.  Ihre 
Lähmung  verursacht  besonders  Beschwerden  beim  Schlucken  fester 
Speisen.  Während  bei  Lähmung  der  Zunge  und  des  Gaumens  be- 
sonders das  Trinken  Noth  leidet,  können  hier  festere  Bissen  nicht 
zum  Magen  gelangen,  da  zu  ihrer  Fortbewegung  die  peristaltischen 
Bewegungen  des  Oesophagus  nöthig  sind.  Den  Getränken  dient  der 
Oesophagus  nur  als  Schlauch,  durch  den  sie  „hindurchgespritzt" 
werden,  isolirte  Lähmung  des  Oesophagus  hindert  daher  das  Trinken 
nicht.  Feste  Speisen  aber  zu  verschlucken,  fürchten  sich  die  Patienten, 
jene  scheinen  hinter  dem  Sternum  stecken  zu  bleiben,  erregen  Athem- 
noth  und  erst  nach  längerem  Würgen  und  Pressen  gelingt  es,  den 
Bissen  hinabzudrücken.  Die  Sonde  geht  in  solchen  Fällen  nicht  nur 
ohne  Hinderniss,  sondern  auffallend  leicht  durch  den  Oesophagus. 


270  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung:. 

Nach  B.  Fränkel  begleitet  die  Oesophaguslähmung  eine  charakte- 
ristische Veränderung  der  Schlnckgeräusche.  Nach  den  Untersuchun- 
gen von  Kronecker  und  Meltzer  entstehen  beim  Schlucken  Ge- 
räusche, Das  erste,  „Durchspritzgeräusch",  entspricht  der  oben  (S.  265) 
beschriebenen  Schleuderwirkung  der  Zungen-Halsmuskeln,  fällt  zeit- 
lich mit  dem  Hinabschleudern  des  Schluckes  zusammen  und  gleicht, 
wenn  der  Oesophagus,  beziehungsweise  die  Magengrube,  auscultirt 
wird,  einem  kurzen  lauten  Gurgeln.  Das  zweite,  „Durchpressgeräusch"? 
hört  man  über  der  Magengrube  etwa  6 — 7  Secunden  nach  dem 
Schlucken,  es  dauert  länger  als  das  erste  und  klingt  etwa,  als  ob 
Wasser  in  eine  Flasche  gegossen  würde.  Wahrscheinlich  gelangt  der 
Schluck  sofort  bis  zur  Cardia  und  wird  erst  nach  6 — 7  Secunden 
durch  die  peristaltische  Contraction  des  Oesophagus  durch  die  Cardia 
hindurch  gepresst.  Bei  Gesunden  hört  man  über  der  Magengrube 
gewöhnlich  nur  das  zweite  Geräusch,  seltener  nur  das  erste,  ziemlich 
selten  beide  Geräusche,  In  Fällen  von  Oesophaguslähmung  fand  B. 
Fränkel  immer  ein  zweites  Schluckgeräusch,  es  erfolgte  verhältniss- 
mässig  spät  (9 — 18  Secunden  nach  dem  Schlucke),  dauerte  auffallend 
lange  und  war  in  zwei  Fällen  sehr  laut.  Bei  Stricturen  des  Oeso- 
phagus soll  keine  Veränderung  dss  Geräusches  vorkommen.  Eulen- 
burg hat  einem  in  Falle  von  Burbärparalyse  die  Angaben  Frank  eis 
bestätigt  gefunden.  Schon  ältere  Autoren  haben  von  Deglutitio  sonora 
bei  Oesophaguslähmung  gesprochen 

Dem  sogenannten  „Oesophagismus"  scheinen  krampfhafte 
Zusammenschnürungen  des  Oesophagus  (oder  des  Pharynx)  zu  Grunde 
zu  liegen.  Der  Bissen  oder  Schluck  wird  an  einer  bestimmten  Stelle 
angehalten  und  es  entsteht  ein  peinliches  Druckgefühl  mit  Angst. 
Die  Sonde  findet  an  der  betreffenden  Stelle  ein  Hinderniss,  das  nach 
kurzer  Zeit  verschwindet.  Ob  dem  als  „Globus"  bezeichneten  Gefühle 
des  Auf-  oder  Absteigens  einer  Kugel  in  Schlund  und  Speiseröhre 
krampfhafte  Contractionen  entsprechen,  oder  ob  es  sich  nur  um  ab- 
norme Empfindungen  handelt,  steht  dahin. 

Die  elektrische  Eeizung  der  Oesophagusmusculatur  ist  mit- 
tels passender  Sonde  ausführbar,  jedenfalls  aber  wegen  der  Nähe 
des  N.  vagus  nur  mit  Vorsicht  anzuwenden. 

h.  Die  Muskeln,  die  den  Kiefer  herabziehen  und  das 
Zungenbein  bewegen. 

Der  M.  subcutaneus  colli  ist  oben  besprochen  worden,  er 
kann  beim  Herabziehen  des  Unterkiefers  mitwirken. 


Muskeln,  die  den  Kiefer  herabziehen  und  das  Zungenbein  bewegen.     271 


Der  M.  biventer  s.  digastricus  max.  i n f.  (vorderer  Bauch : 
X.  trigeminus ,  hinterer  Bauch:  N.  facialis)  zieht  deu  Kiefer  herab 
und  öffnet  den  Mund,  wenn  die  Muskeln,  die  das  Zungenbein  unten 
festhalten,  zum  Oeifnen  des  Mundes  mitwirken.  Bei  fixirtem  Kiefer 
hebt  der  Biventer  das  Zungenbein. 

Der  M.  stylohyoideus  (X.  facialis)  zieht  das  Zungenbein  nach 
oben  und  rückwärts. 

Einseitige  Lähmung  dieser  Muskeln  müsste  Schiefstand  des 
Zungenbeins  bewirken,  doch  wird  bei  Lähmung  des  XT.  facialis  in 
der  Eegel  davon  nichts  wahrgenommen.  Es  scheinen  daher  gegebenen 
Falles  andere  Muskeln  corrigirend  oder  vicarürend  einzutreten. 

Der  M.  geniohyoideus  (N.  hypoglossus)  hebt  das  Zungenbein 
kräftig,  oder  zieht  bei  fixirtem  Zungenbeine  den  Unterkiefer  herab. 

Der  M.  mylohyoideus,  Diaphragma  oris  (N.  trigeminus),  hebt 
das  Zungenbein  und  den  ganzen  Boden  der  Mundhöhle ;  in  letzterer 
Thätigkeit  liegt  seine  Bedeutung. 

Der  vordere  Bauch  des  M.  omohyoideus  (X".  hypogl.)  zieht 
das  Zungenbein  herab,  der  hintere  spannt  die  Fascie  des  Halses. 
Wenn  beide  Bäuche  sich  contrahiren,  werden  die  Halsfascie  und  die 
Scheide  der  grossen  Blutgefässe  vorwärts  gezogen. 

Die  Mm.  sternothyreoideus  und  hyo  thyreoideus  und 
der  M.  sternohyoideus  (X.  hypogl.,  Xn.  cervicales)  ziehen  das 
Zungenbein  nach  abwärts. 

Die  vier  letztgenannten  Mus- 
keln können  elektrisch  isolirt  ge- 
reizt werden,  leicht  und  jederzeit 
der  Omohyoideus. 

Die  Zungenbeinmuskeln  wirken 
natürlich  beim  Schlucken,  Sprechen 
u.  s.  w.  in  mannigfachen  Combinatio- 
nen.  Diese  sind  (nach  Heule)  aus 
beistehendem  Schema  zu  ersehen. 
Zieht  die  Gruppe  SH  abwärts,  PH 
rück-  und  aufwärts  und  MH  vor- 
und  aufwärts,  so  folgt  aus  der  Ver- 
bindung von  PH  mit  MH  ein  Zug- 
gerade  nach  oben,  aus  der  Verbin- 
dung von  SH  mit  MH  ein  Zug  vorwärts,  von  SH  mit  PH  ein  Zug 
rückwärts,  der  entweder  gerade  oder  je  nach  dem  Vorherrschen  der 
einen  oder  anderen  Gruppe  zugleich  mehr  auf-  oder  abwärts  ge- 
richtet ist. 


272  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

Den  Bewegungen  des  Zungenbeins  nach  oben  und  unten  folgt 
der  Kehlkopf.  Letzteren  können  ohne  jenes  die  M.  sternothyr.  und 
thyreohyoid.  bewegen. 

Ueber  Lähmung  zustände  der  in  Eede  stehenden  Muskeln  ist 
wenig  bekannt,  feinere  Störungen  scheinen  sich  nicht  bemerklich  zu 
machen.  Hemiplegische  Zustände  lassen  diese  wie  alle  Muskeln,  die 
durch  den  Willen  nur  doppelseitig  innervirt  werden  können,  relativ 
frei.  Bei  peripherischen  (Kern-)  Lähmungen  werden  Schluck-  und 
Sprachstörungen  die  Hauptsymptome  sein. 

i.  Die  Muskeln  des  Kehlkopfes.1) 

Die  Muskeln  des  Kehldeckels  (N.  laryngeus  sup.),  Mm. 
thyreo-  und  aryepiglottici,  ziehen  den  Kehldeckel  herab,  ihre 
Lähmung  bewirkt  ungenügenden  Kehlkopfverschluss. 

Der  M.  c  r  i  c  o  - 1  h  y  r  e  o  i  d  e  u  s  (N.  laryng.  sup.)  neigt  den  Schild- 
knorpel nach  vorn  herab  und  spannt  das  Stimmband.  Seine  Läh- 
mung lässt  die  Stimme  tiefer  und  rauher  erscheinen. 

Alle  übrigen  Kehlkopfmuskeln  werden  vom  N.  laryngeus  in  f. 
(R.  recurrens  n.  vago-accessorii)  versorgt. 

Der  M.  crico-arytaenoideus  posticus  dreht  die  Giess- 
beckenknorpel  nach  aussen  und  erweitert  die  Stimmritze.  Läh- 
mung dieses  Muskels,  des  Stimmbandabductor,  macht  die  Stimme 
tiefer  und  unrein,  nicht  tonlos.  Doppelseitige  Lähmung  bewirkt  be- 
sonders Athembeschwerden,  inspiratorische  Dyspnoe  und  Stridor  bei 
beschleunigter  Respiration;  die  Stimmbänder  sind  einander  genä- 
hert, weichen  bei  der  Inspiration  nicht  auseinander,  sondern  treten 
einander  noch  näher.  Einseitige  Lähmung  bewirkt  keine  deutlichen 
Symptome ;  das  betroffene  Stimmband  steht  bei  der  Inspiration  still. 

Der  M.  crico-arytaenoideus  lateralis  ist  Antagonist  des 
vorigen,  verengert  die  Stimmritze. 

Die  Mm.  arytaenoidei  transversi  und  obliqui  nähern 
die  G-iessbeckenknorpel  einander  und  verengern  die  Stimmritze. 

Der  M.  thyreo- arytaenoideus  verzieht  den  Giessbecken- 
knorpel  nach  vorn  und  unten,  ohne  das  Stimmband  zu  spannen,  was 
erst  geschieht,  wenn  jener  und  der  Schildknorpel  durch  die  betref- 
fenden Muskeln  iixirt  sind. 

Lähmung  der  Stimmbandadductoren  bewirkt  Aphonie,  weder 
Stridor  noch  Dyspnoe.    Diese  Lähmung  ist  in  der  Regel  functio- 


1)  Alles  Nähere  siehe  in  den  Specialschriften. 


Muskeln,  die  den  Kopf  und  die  Halswirbel  bewegen.  273 

neiler  (hysterischer)  Natur.  Das  Sprechen  geschieht  dann  tonlos,  der 
Husten  aber  ist  oft  tönend.  Die  Stimmbänder  haben  normale  Stellung 
und  bewegen  sich  normal  bei  der  Athmung,  nähern  sich  aber  nicht 
bei  Phonationsversuchen. 

Complete  einseitige  Recurrenslähmung  bewirkt  Cada- 
verstellung  des  betroffenen  Stimmbandes  (d.  h.  dasselbe  ist  massig 
abducirt  und  bewegungslos,  während  das  andere  sich  frei  bewegt 
und  bei  der  Adduction  die  Mittellinie  überschreitet),  klangarme,  durch 
Schwebungen  unreine  Stimme,  die  bei  Anstrengungen  leicht  in  das 
Falset  umschlägt,  keine  Athmungstörung. 

Complete  doppelseitige  Recurrenslähmung  bewirkt 
Cadaverstellung  beider  Stimmbänder  und  Aiyknorpel,  absolute  Stimm- 
losigkeit,  grosse  Luftverschwendung  bei  Phonations-  und  Hustever- 
suchen und  übermässige  Anstrengung  der  Exspirationsmuskeln,  Un- 
möglichkeit kräftigen  Hustens  und  Exspirirens.  Dyspnoe  ist,  wenig- 
stens bei  Erwachsenen,  in  der  Ruhe  nicht  vorhanden,  bei  tiefer 
Athmung  tritt  Stridor  ein. 

Die  genauere  Diagnose  der  Kehlkopflähmungen  und  Krämpfe 
hat  sich  ausschliesslich  auf  die  laryngoskopische  Untersuchung  zu 
gründen. 

Die  Untersuchung  der  Kehlkopfmuskeln  durch  endolaryngeale 
(endopharyngeale)  Elektrisation  ist  möglich,  aber  schwierig  aus- 
zuführen. Yon  der  Haut  aus  kann  isolirt  der  M.  cricothyr.  gereizt 
werden.  Ferner  gelingt  es  zuweilen  durch  Eindrücken  einer  knopf- 
förmigen  Elektrode  unter  den  vorderen  Rand  des  M.  sternocieidomast. 
in  der  Mitte  zwischen  Kehlkopf  und  Brustbein  den  N.  recurrens  zu 
erregen.  Auch  Reizimg  des  X.  laryng.  sup.,  d.  h.  Bewegung  der  Epi- 
glottis,  kann  durch  percutane  Elektrisation  bewirkt  werden. 

k.  Die  Muskeln,  die  den  Kopf  und  die  Halswirbel  bewegen. 

Der  M.  sternocleidomastoideus  (X.  accessorius,  ausserdem 
einige  Fäden  vom  PL  cervicalis)  einer  Seite  dreht  das  Gesicht  nach 
der  entgegengesetzten  Seite  und  beugt  die  Halswirbelsäule  etwas,  so 
dass  das  Kinn  gehoben  wird,  das  Ohr  der  gleichen  Seite  tiefer  steht 
und  das  Gesicht,  bei  Wirkung  des  rechten  Muskels  z.  B.,  nach  links 
oben  gerichtet  ist.  Nach  Duchenne  ist  die  Drehung  des  Kopfes 
mehr  Sache  der  Portio  sternalis,  die  Beugung  Sache  der  Portio  cla- 
vicularis.  Wirken  die  Muskeln  beider  Seiten,  so  schieben  sie  den 
Kopf  nach  vorn  mit  Beugung  der  Halswirbelsäule  und  Erhebung  des 
Kinns.    Hyrtl  nennt  den  M.  sternocleid.  Sustentator  capitis,  da  er 

M  ob  i us,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  IS 


274  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

bei  jeder  Stellung  des  Kopfes  ihn  darin  erhalten  hilft.  Bei  ange- 
strengter Athnning  wird  durch  die  Nackenmuskeln  der  Kopf  in  auf- 
rechter Stellung  fixirt  und  liehen  die  Mm.  sternocleid.  Schlüsselbein 
und  Brustbein. 

Will  man  den  M.  sternocleid.  sich  energisch  contrahiren  sehen, 
so  lässt  man  den  Kopf  in  der  ausgestreckten  Bückenlage  erheben, 
oder  lässt  den  Kopf  nach  vorn  und  abwärts  bewegen,  während  man 
das  Kinn  mit  der  Hand  zurückhält. 

Bei  einseitiger  Lähmung  des  M.  sternocleid.  steht  der  Kopf  in 
geringem  Grade  schief  im  Sinne  des  contralateralen  Muskels.  Bei 
Lähmung  des  rechten  Muskels  kann  der  Kopf  nur  schwer  nach  links 
gedreht  werden,  während  passive  Bewegung  kein  Hinclerniss  findet. 
Bei  den  betreffenden  Bewegungen  sieht  und  fühlt  man,  dass  der  feste 
Muskelbauch  auf  der  kranken  Seite  fehlt.  Bei  längerer  Dauer  der 
Lähmung  kommt  es  zu  Contractur  des  contralateralen  Sternocleid., 
die  den  Kopf  in  höherem  Grade  schief  stellt  und  die  passive  Be- 
weglichkeit aufhebt. 

Bei  doppelseitiger  Lähmung  steht  der  Kopf  gerade,  aber  sinkt 
leicht  nach  hinten  und  alle  vom  Sternocleid.  auszuführenden  Bewe- 
gungen können  theils  gar  nicht,  theils  nur  mühsam,  mit  Hülfe  anderer 
Muskeln  ausgeführt  werden,  besonders  können  die  Kranken  im  Lie- 
gen den  Kopf  nicht  erheben.  Aufrechthalten  und  Bewegen  des  Kopfes 
führt  zu  rascher  Ermüdung. 

Klonische  und  tonische  (Caput  obstipum  spasticum)  Krämpfe 
des  Sternocleid.  werden  leicht  zu  erkennen  sein. 

Die  elektrische  Eeizung  ist  sehr  leicht  auszuführen  (vergl. 
Fig.  45). 

Ueber  den  M.  cucullaris  siehe  unten  (S.  290). 

Ueber  die  Mm.  scaleni  siehe  unten  (S.  281). 

Die  Mm.  recti  icapitis  antici  major  et  minor  sind  die 
Kopfnicker,  machen  die  Bewegung  im  Gelenke  zwischen  Atlas  und 
Hinterhaupt  nach  vorn. 

Der  M.  rectus  cap.  lateralis  hilft  den  Kopf  seitlich  beugen. 

Der  M.  Ion gus  colli  zerfällt  in  drei  Abtheilungen.  Die  innerste 
beugt  die  Hals  Wirbelsäule,  die  zweite  (Obliquus  colli  inf.)  dreht  sie, 
die  dritte  (Obliquus  colli  sup.)  beugt  und  dreht  sie,  aber  in  entgegen- 
gesetzter Bichtung.    Die  Gesammtwirkung  ist  Beugung  des  Halses. 

Die  Mm.  recti  capitis  postici  major  et  minor  bewegen 
den  Kopf  im  Atlas-Hinterhauptgelenk  nach  hinten. 

Der  M.  rectus  cap.  posticus  lateralis  zieht  den  Kopf 
zur  Seite. 


Muskeln,  die  den  Kopf  und  die  Halswirbel  bewegen. 


Der  M.  obliquus  cap.  superior  s.  minor  streckt  den  Kopf. 

Der  M.  obliquus  cap.  inferior  s.  major  ist  Eotator  capitis, 
dreht  den  Kopf  im  Atlas  -Epistropheusgelenke.  unterstützt  von  dem 
Obliquus  colli  sup.  (siehe  oben  Longus  colli  j  und  dem  Complexus  minor. 

Die  Mm.  spinalis  eervieis  und  semispinalis  cervicis, 
die  kurzen  Muskeln  zwischen  den  Halswirbeln  müssen 
bei  einseitiger  Wirkung  die  Halswirbelsäule  seitlich  beugen,  bez. 
drehen,  bei  doppelseitiger  strecken.  Seitliche  Beugung  ist  auch  Auf- 
gabe des  M.  transversalis  cervicis. 

Die  Mm.  Mventer  cervicis  und  complexus  major  ziehen 
den  Kopf  nach  hinten. 

Der  M.  complexus  minor  s.  trachelomastoideus  zieht 
ebenfalls  den  Kopf  nach  hinten,  dreht  ihn  aber  bei  einseitiger  Wirkung. 

Die  Um.  splenii  capitis 
et  colli  ziehen  bei  einseitiger 
Wirkung  den  Kopf  und  Hals 
schief  nach  hinten  und  beugen 
den  Kopf  nach  ihrer  Seite. 
strecken  ihn  kraftvoll  bei  doppel- 
seitiger Wirkung. 

Sämmtliche  tiefe  Hals-  und 
Xackenmuskeln  werden  von  den 
Zweigen  der  vier  oberen 
Halsnerven  und  zum  geringe- 
ren Theile  von  den  hinteren 
Zweigen  der  vier  unteren  Hals- 
nerven innervirt. 

Einer  isolirten  elektri- 
schen  Eeizung  entziehen  sie 
sich  mit  Ausnahme  des  Splenius 
capitis  (Fig.  45). 

Feher  isolirte  Lähmungen 
ist  hier  so  gut  wie  nichts  bekannt. 
Bei  einseitiger  oder  allgemeiner 
Parese  der  Halsmuskeln  wird  das 

Beugen.  Strecken.  Drehen  des  Kopfes  und  Halses  in  entsprechender 
AVtise  Xoth  leiden.  Da  beim  Sitzen.  Stehen.  Gehen,  Aufrechthalten 
des  Kopfes  die  Hauptthätigkeit  der  bezüglichen  Muskeln  ist.  cha- 
rakterisirt  sich  ihre  Lähmung  am  ersten  dadurch,  dass  der  Kopf 
der  Schwere  folgend,  nach  vorn  fällt.  Km  dieses  zu  vermeiden,  werfen 
anfänglich  die  Kranken  den  Kopf  nach  hinten,  ihn  so  zu  sagen  ba- 

18* 


Fig.  50. 

Krampf  des  rechten  11.  splenius  capitis 

(nach  Duchenne). 


276  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

lancirend,  doch  bei  zunehmender  Lähmung-  sinkt  er  nach  vorn  und 
schliesslich  ruht  das  Kinn  dem  Sternum  auf. 

Diffuse  Krämpfe  der  Nackenmuskeln  sind  ziemlich  häufig',  so- 
wohl klonische  als  tonische  („Nackenstarre"). 

Isolirte  Krämpfe  scheinen  besonders  in  den  Nutatoren  und 
Rotatoren  (Nick-  oder  Salemkrämpfe,  Tic  rotatoire)  des 
Kopfes,  sowie  im  Splenius  vorzukommen. 

Der  Krampf  des  Splenius  unterscheidet  sich  von  dem  des 
Stemocleidom.  dadurch,  dass  hier  das  Kinn  gehoben  und  nach  der 
anderen  Seite  gedreht,  dort  der  Kopf  nicht  gedreht  und  nach  der 
Schulter  der  kranken  Seite  geneigt  ist.  Ausserdem  fühlt  man  den  con 
trahirten  Splenius  im  Nacken  als  derben  Wulst. 

I.  Die  Muskeln,  die  die  Wirbeisäule  bewegen. 

Alle  hinteren  Muskeln  der  Wirbelsäule  strecken  sie  bei  doppel- 
seitiger Zusammenziehuug.  Die  unteren  und  oberen  Abschnitte  dieser 
Musculatur  können  selbständig  thätig  sein,  so  dass  bald  nur  der 
untere,  bald  nur  der  obere  Abschnitt  der  Wirbelsäule  bewegt  wird. 

Bei  einseitiger  Wirkung  kommt  es  je  nach  dem  mehr  geraden 
oder  mehr  schrägen  Verlaufe  der  Muskeln  zur  Beugung  nach  hinten 
und  zur  Seite  oder  zur  Drehung  der  Wirbelsäule. 

Die  Mm.  sacrolumbaris  und  longissimus  dorsi  (M.  erec- 
tor  trunci)  strecken  bei  doppelseitiger  Wirkung  die  Lenden-  und 
untere  Brustwirbelsäule.  Bei  einseitiger  Wirkung  ziehen  sie  die 
Wirbelsäule  schräg  nach  hinten,  ohne  sie  zu  drehen,  so  dass  eine 
etwa  bis  zum  achten  Brustwirbel  reichende  Krümmung  entstellt, 
deren  Convexität  nach  der  den  contrahirten  Muskeln  entgegengesetzten 
Seite  gerichtet  ist. 

Der  M.  spinalis  dorsi  und  die  Mm.  interspinales  müssen 
den  vorher  genannten  gleichsinnig  wirken. 

Der  M.  semispinalis  dorsi  ist  hauptsächlich  der  Dreher  der 
Wirbelsäule,  nur  bei  doppelseitiger  Wirkung  streckt  er  sie.  Ihm 
gleichsinnig  Wirkt  der  M.  multifidus  Spinae.  Die  zwischen  Quer- 
und  Dornfortsätzen  verlaufenden  Muskeln  werden  um  so  eher  die 
Wirbel  drehen,  je  mehr  ihr  Verlauf  ein  querer  ist. 

Die  Mm.  intertransversarii  werden  die  seitliche  Beugung 
der  Wirbelsäule  unterstützen. 

Die  Beugung  der  unteren  Wirbelsäule  direct  nach  rechts  oder 
links  ist  Aufgabe  des  M.  quadratus  lumborum. 

Nach  vorn  und  seitlich  nach  vorn  beugen  die  Bauchmuskeln 
die  Wirbelsäule. 


Muskeln,  die  die  Wirbelsäule  bewegen.  277 

Die  genannten  Muskeln  werden  in  der  Hauptsache  von  den 
Zweigen  der  Dorsalnerven,  zum  kleineren  Theile  von  den  hin- 
teren Aesten  der  Lendennerven  versorgt. 

Durch  elektrische  Reizung-  kann  beim  Gesunden,  abgesehen 
von  den  Bauchmuskeln,  nur  der  Sacrolumbaris  zur  Contraction  ge- 
bracht werden :  Atrophie  der  oberen  Muskelschichten  gestattet  u.  U. 
die  tieferen  Muskeln  (Semispinalis)  zu  reizen. 

Lähmung  der  Strecker  des  Brusttheils  der  Wirbel- 
säule bewirkt  clorso-cervicale  Kyphose.  EinLoth,  an  den  am  meisten 
vorstehenden  Brustwirbeln  angebracht,  hängt  10 — 15  cm  hinter  dem 
Os  sacrum.  Um  diese  Verschiebung  des  Schwerpunktes  auszugleichen, 
wird  das  Becken  aufgerichtet,  zur  Lordose  der  Lendenwirbelsäule 
kommt  es  nicht, 

Sehr  viel  wichtiger  ist  Lähmung  der  Strecker  oder  Beu- 
ger der  unteren  Wirbelsäule.  Ist  der  Erector  trunci  beider- 
seits gelähmt,  so  wird  nach  Duchenne  beim  Stehen  und  Gehen 
der  Rumpf  direct  zurückgebeugt,  so  dass  ein  von  den  vorstehenden 
Brustwirbeln  ausgehendes  Loth  hinter  das  Os  sacrum  fällt.  Dabei 
besteht  Streckung  im  Hüftgelenke,  d.  h.  Aufrichtung  des  Beckens, 
und  um  das  Hintenüberfallen  zu  vermeiden,  Beugung  im  Knie-  und 
Fussgelenke.  Bei  dieser  Stellung  wird  der  Rumpf  durch  die  Wirkung 
der  Bauchmuskeln  aufrecht  erhalten.  Die  unteren  Lendenwirbel  bil- 
den einen  nach  hinten  offenen  Winkel,  die  obere  Lenden-  und  untere 
Brustwirbelsäule  verläuft  ziemlich  geradlinig  nach  hinten  oben  (Fig.  51, 
vergl.  auch  Fig.  10).  Beim  Liegen  wird  die  Wirbelsäule  gerade, 
beim  Sitzen  bildet  sie  einen  nach  hinten  convexen  Bogen,  der  Kranke 
verhindert  dann  das  Vornüberfallen  durch  Aufstützen  der  Hände 
auf  die  Schenkel. 

Lähmung  der  Bauchmuskeln,  die  sich  zunächst  dadurch 
kund  giebt.  dass  das  Aufrichten  aus  horizontaler  Lage  ohne  Hülfe 
der  Arme  unmöglich  ist,  bewirkt  wie  die  der  Wirbelsäulenstrecker 
Lordose,  aber  hier  fällt  ein  von  den  vorstehenden  Brustwirbeln  aus- 
gehendes Loth  etwa  auf  die  Mitte  des  Os  sacrum,  das  sammt  dem 
Becken  stark  geneigt  ist.  Die  unwillkürliche  Beugung  im  Hüftgelenke 
verhindert  das  Hintenüberfallen  des  Körpers.  Der  starken  Einbiegung 
der  Lendenwirbelsäule  gemäss  springt  der  Bauch  stark  vor  und  pro- 
miniren  die  Xates.  Entsprechend  diesem  Verhalten  bei  eoiüpleter 
Lähmung  der  Bauchmuskeln  findet  man  nach  Duchenne  bei  starker 
Ausprägung  der  physiologischen  Lendenlordose  oft  Schwäche  der 
Bauchmuskeln. 

Sind  die  Bauchmuskeln  und  die  Wirbelsäulenstrecker  gelähmt, 


278 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


so  ist  die  aufrechte  Haltung-  überhaupt  unmöglich.  Nur  durch  beider 
Wirkung  kommt  sie  zu  Stande. 

Bei  einseitiger  Lähmung-  des  Erector  trunci  wird  nach 
Angabe  der  Autoren  der  untere  Theil  der  Wirbelsäule  nach  der 
kranken  Seite  zu  convex  und  der  Brusttheil  zeigt  eine  compensirende 
Skoliose.  Besteht  keine  Contractur,  so  verschwindet  die  Skoliose  bei 
der  Beugung  des  Rumpfes  nach  vorn.   Sind  alle  Muskeln  auf  einer 


Fig.  51. 

Stellung  des  Kumpfes  bei  Lähmung  der  Wirbel- 
säulenstrecker. 


Fig.  52. 

Stellung  des  Bumpfes  bei  Lähmung  der  Bauch- 
muskeln. 


(Nach  Duchenne.) 


Seite  der  Wirbelsäule  gelähmt,  so  müssen  die  Muskeln  der  gesunden 
Seite  die  letztere  schräg  nach  hinten  ziehen  und  zugleich  drehen, 
so  dass  die  Vorderfläche  der  Wirbel  nach  der  gelähmten  Seite  sieht. 
Zugleich  tritt  natürlich  eine  compensirende  cervicodorsale  Skoliose 
mit  Rotation  ein. 

Lähmung  eines  Quadratus  lumborum  bewirkt  leichte 
Beugung  der  Lendenwirbelsäule  nach  der  gesunden  Seite  mit  com- 
pensirender  Skoliose  im  Brusttheile  ohne  Rotation. 


Muskeln,  die  die  Athembewegungen  ausführen.  279 

Besteht  statt  einseitiger  Lähmung  einseitige  Contracting  oder 
gesellt  sich  diese  zu  jener,  so  finden  Ausgleichungs versuche  Wider- 
stand und  erregen  Schmerz  in  der  Gegend  des  oder  der  contractu- 
rirten  Muskeln.  Krampf  sämmtlicher  Muskeln  hinter  der  Wirbel- 
säule verwandelt  diese  in  einen  einzigen  nach  vorn  convexen  Bogen 
(„Opisthotonus"),  einseitiger  Krampf  dieser  Art  bewirkt  seitliche 
Krümmung  („Pleurothotonus"),  Krampf  aller  Beugemuskeln  den  so- 
genannten „Emprosthotonus  " . 

m.  Die  Muskeln,  die  die  Athembewegungen  ausführen. 

Der  wichtigste  Einathmungsmuskel  ist  das  Zwerchfell  (N. 
phrenicus  aus  dem  PL  cervicalis,  hauptsächlich  vom  vierten  N.  cervic). 
Seine  Contraction  bewirkt  Hebung  der  Eippen,  an  denen  es  sich  an- 
setzt, nach  oben  und  aussen  und  damit  Vergrösserung  der  Thorax- 
basis. Die  Vergrösserung  ist  gering  im  frontalen,  beträchtlich  im 
sagittalen  Durchmesser.  Das  Centrum  des  Zwerchfells  wird  bei  der 
Contraction  kraftvoll  herabgezogen,  so  dass  das  Zwerchfell  die  Form 
eines  abgestumpften  Kegels  annimmt  und  der  verticale  Durchmesser 
des  Thorax  vergrössert  wird. 

B  ei  elektrischer  Reizung  des  N.  phrenicus  am  Halse  wer- 
den Hypochondrien  und  Epigastrium  vorgewölbt,  die  Luft  dringt 
mit  einem  seufzenden  Geräusche  durch  den  Kehlkopf.  Bei  einseitiger 
Reizung  ist  die  Erweiterung  der  Thoraxbasis  nur  einseitig.  Bei  Te- 
tanisirung  beider  Phrenici  (des  Hundes)  sah  Duchenne,  der  die 
Physiologie  und  Pathologie  des  Zwerchfells  ziemlich  erschöpfend  be- 
arbeitet hat,  trotz  angestrengtester  Athmung  der  oberen  Thoraxhälfte 
nach  kaum  einer  Minute  Asphyxie  eintreten.  Tetanisirung  Eines 
Phrenicus  bewirkte  keine  Asphyxie. 

Die  Reizung  der  Phrenici  am  eben  getödteten  und  ausgeweideten 
Thiere  bewirkte  Bewegung  der  unteren  Rippen  nach  innen  und  Ver- 
engerung der  Thoraxbasis,  hatte  insofern  eine  exspiratorische  Wir- 
kung. Es  hängt  daher  die  Erweiterung  der  Thoraxbasis  von  dem 
Gegendrucke  der  Baucheingeweide  ab.  Immerhin  wurde  auch  am 
ausgeweideten  Thiere  durch  das  Herabsteigen  des  Zwerchfellcentrum 
der  Thoraxraum  vergrössert.  Der  seufzende  Ton  blieb  aus,  ent- 
sprechend der  geringeren  Kraft,  mit  der  die  Luft  durch  den  Kehl- 
kopf eindrang. 

Lähmung  des  Zwerchfells  bewirkt  inspiratorische  Einziehung 
des  Epigastrium  und  der  Hypochondrien,  während  die  oberen  zwei 
Drittel  des  Thorax  sich  erweitern.    Sind  die  Kranken  in  Ruhe,  so 


280  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

wird  die  Athmung  ziemlich  ausreichend  durch  die  Contraction  der 
Intercostales  und  Scaleni  besorgt,  nur  die  Bespirationsfrequenz  ist 
etwas  gesteigert.  Beim  Sprechen,  Gehen,  bei  jeder  Erregung  treten 
auch  die  übrigen  Athmungsmuskeln  in  Thätigkeit  und  es  tritt  Dys- 
pnoe ein.  Beim  tiefen  Athmen  fühlen  die  Kranken  die  Eingeweide 
in  die  Brust  steigen,  die  Stimme  ist  abgeschwächt.  Husten,  Expekto- 
ration, besonders  die  Defäcation  sind  erschwert.  Eine  leichte  Bron- 
chitis kann  den  Tod  bringen.  Letzterer  tritt  auch  ein,  wenn  ausser 
dem  Zwerchfelle  die  Intercostalmuskeln  gelähmt  werden. 

Parese  des  Zwerchfells  verursacht  nur  bei  angestrengter  Ath- 
mung Beschwerden.  Auch  einseitige  Zwerchfelllähmung  ist  beobachtet 
worden. 

Tonischer  Krampf  des  Zwerchfells  verursacht  bedrohliche 
Erscheinungen  (s.  oben).  Die  schwere  Dyspnoe  zwingt  die  Kranken 
zum  Aufrechtsitzen,  heftiger  Schmerz  wird  längs  der  Zwerchfell- 
ansätze empfunden.  Dauert  der  Krampf  an,  so  kommt  es  zur  Asphyxie 
und  möglicherweise  zum  Tode.  Dass  der  tonische  Zwerchfellkrampf 
Beziehungen  zum  Bronchialasthma  habe,  ist  sehr  zweifelhaft. 

Klonischer  Zwerchfellkrampf  wird  als  Singultus  (Schlucksen) 
bezeichnet,  er  ist  eine  allbekannte  Erscheinung:  kurze,  stossweise 
Contractionen  des  Diaphragma  erweitern  den  Thorax  und  werden 
von  einem  schluchzenden  Geräusche  begleitet. 

Es  ist  auch  einseitiger  klonischer  Krampf  des  Zwerchfells,  der 
regelmässig  vor  jeder  Inspiration  eintrat,  beschrieben  worden. 

Nach  Landerer  unterstützt  der  M.  serratus  posticus  in- 
ferior die  Thätigkeit  des  Zwerchfelles  dadurch,  dass  er  nicht  nur 
die  untersten  Bippen  dem  Zwerchfell  entgegen  fixirt  (He nie)  und 
dadurch  die  Inspiration  indirect  unterstützt,  sondern  auch  durch  die 
von  ihm  den  Bippen  mitgetheilte  Bewegung  nach  auswärts  und  ab- 
wärts selbständig  inspiratorisch  wirken  kann. 

Die  Mm.  intercostales  (Nn.  intercostales)  sind  Heber  der 
Bippen,  Inspiratoren,  die  interni  sowohl  als  die  externi.  Das 
Punctum  fixum  bietet  die  erste  Bippe,  die  hauptsächlich  von  den 
Scalenis  emporgehalten  wird.  Contrahiren  sich  die  Muskeln  eines 
Zwischenrippenraums,  so  bleibt  die  obere  Bippe  unbewegt,  die  untere 
wird  nach  aussen  oben  gehoben,  beziehungsweise  gedreht.  Bei  Con- 
traction aller  Intercostales  werden  alle  Bippen  und  mit  ihnen  das 
Sternum  nach  vorn  und  oben  gehoben,  der  Brustkorb  erweitert.  Bei 
ruhiger  Athmung  treten  die  Intercostales  nicht  stark  in  Thätigkeit, 
um  so  mehr  bei  tiefer  Einathmung.  Die  Beobachtung  an  Leuten, 
denen  die  oberflächlichen  Brustmuskeln  fehlen,  oder  geschwunden 


Muskeln,  die  die  Atkenibe-vvegTingen  ausfahren.  281 

sind,  hat  ergeben,  dass  bei  tiefer  Athmung  die  Einsenkungen  der 
Intercostalräume  verschwinden,  während  bei  der  Ausathmimg  die 
Zwisclienrippenmiiskeln  schlaff  sind,  bei  angestrengter  Ausathmimg 
die  Intercostalräume  hervorgewölbt  werden.  Die  elektrische  Rei- 
zung,  die  bei  solchen  Personen  ausführbar  ist,  zeigt,  dass  sowohl 
Contraction  des  Intercost.  int.  (directe  Heizung  im  vorderen  Ende 
des  Zwischenrippenraums,  da  wo  der  Intercost.  ext.  den  int.  nicht 
deckt)  die  nächstuntere  Eippe  hebt,  als  Contraction  des  Interc.  ex- 
ternus,  als  Contraction  beider  (Reizung  des  N.  intercostalis). 

Besteht  Lähmung  der  Mm.  intercostales ,  die  in  der  Regel 
gleichzeitig  mit  Lähmung  der  auxiliären  Inspirationsmuskeln  beob- 
achtet wird,  so  bleibt,  auch  bei  tiefer  durch  das  Zwerchfell  verur- 
sachter Einathmung,  der  obere  Theil  des  Thorax  unbewegt,  während 
das  Epigastrium  sich  vorwölbt  und  die  unteren  Rippen  sich  heben. 


Basis  des  Thorax  (mit  dem  Cyrtometer  bei  Höhe  der  Inspiration  aufsenommen)  hei  Lähmung 
der  Mm.  intercostales  (a),  bei  Lähmung  des  Zwerchfells  (h).    Nach  Duchenne. 

Solche  Kranke  gerathen  beim  Gehen,  Sprechen  u.  s.  w.  rasch  in 
Dyspnoe.  Die  tiefe  Einathmung  ist  zwar  durch  das  Diaphragma 
möglich,  die  Ausathmimg  aber  ist  immer  kurz  und  unkräftig.  Die 
Kranken  können  ein  Licht  schwer  ausblasen,  sie  können  nicht  stark 
husten,  sind  daher  bei  Bronchitis  in  Lebensgefahr.  Die  Schwäche 
der  Exspiration  erklärt  sich  dadurch,  dass  bei  Lähmung  der  Inter- 
costales die  oberen  zwei  Drittel  der  Brust  sich  verengern,  sich  dau- 
ernd in  Exspirationstellung  befinden.  Die  tonische  Contraction  der 
Intercostales  nämlich  ist  Antagonist  der  Kräfte,  die  den  Thorax  zu 
verengern  streben,  besonders  seiner  Elasticität,  Fällt  jene  hinweg, 
so  überwiegen  diese  Kräfte,  die  Rippen  werden  schräger,  die  Zwischen- 
räume enger  (vergl.  Fig.  53). 

Die  wichtigsten  unter  den  Hülfsmuskeln  der  Inspiration  sind 
die  Mm.  scaleni  (PL  cervicalis  und  Aestchen  von  der  Pars  supra- 
clavicul.  des  PL  brachialis).    Sie  heben  die  erste  und  auch  die  zweite 


282  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

Eippe,  unterstützen  somit  die  Intercostales  (s.  oben)  und  betheiligen 
sich  bei  der  Athmung.  sobald  diese  thätig  sind.  Duchenne  hat 
nachgewiesen,  dass  sie  bei  Fixation  der  Eippen  auch  die  Halswirbel- 
säule zu  beugen  vermögen. 

Der  M.  s  t  e  r  n  o  c  1  e  i  d  o  m  a  s  t  o  i  d  e  u  s  kann,  wenn  der  Kopf  durch 
die  Xackenmuskeln  festgehalten  wird,  den  unteren  Ansatzpunkt  nach 
vorn  und  oben  heben,  betheiligt  sich  daher  bei  angestrengter  Ath- 
mung an  der  Inspiration. 

Der  vorderste  Theil  des  M.  cucullaris  (Pars  clavicularis  s. 
respiratoria)  betheiligt  sich  bei  tiefen  Inspirationen.  Die  dadurch 
verursachte  Hebung  der  Schulter  kann  zur  Erweiterung  des  Thorax 
beitragen,  wenn  gleichzeitig  der  M.  pectoralis  minor  (Nn.  thora- 
cici  ant.  vom  PI.  brach.)  und  der  M.  subclavius  (N.  subclavius 
vom  PL  brach.)  sich  contrahiren.  Jener  muss  die  Eippen,  an  die 
er  sich  ansetzt,  heben,  Duchenne  fühlte  ihn  bei  Atrophie  des  Pec- 
tor.  maj.  bei  angestrengter  Inspiration  anschwellen,  dieser,  von  dem 
das  Letztere  ebenfalls  gilt,  soll  die  erste  Eippe  heben,  doch  dürfte 
er  hauptsächlich  die  Wirkung  haben,  das  Schlüsselbein  fester  in  die 
Brustb  einpf anne  hineinzudrücken. 

Die  Min.  1  e  v  a  t  o  r  e  s  c  o  s  t  a  r  u  m  (hintere  Aeste  der  Nn.  thora- 
cici)  müssen  die  unteren  Eippen  nach  hinten  aussen  bewegen,  der 
M.  serratus  posticus  sup.  (X.  dors.  scap.)  thut  das  Gleiche  mit 
der  2. — 5.  Eippe. 

"Wahrscheinlich  ist  auch  der  M.  serratus  ant.  magnus  nebst 
dem  M.  rhomboideus  als  Inspirationsmuskel,  der  bei  Dyspnoe  in 
Thätigkeit  tritt,  zu  betrachten  (s.  S.  295). 

Ob  der  M.  pectoralis  maj.  zur  Inspiration  mitwirken  kann, 
ist  zweifelhaft.  Man  nimmt  gewöhnlich  an,  dass  die  oberflächlichen 
Brustmuskeln  bei  fixirter  Schulter  die  Einathmung  unterstützen 
können,  weil  Schwerathmende  sich  mit  den  Armen  fest  aufzustützen 
pflegen,  doch  kann  letzteres  Verhalten  auch  zur  Fixation  der  Wir- 
belsäule und  damit  zur  Unterstützung  der  oben  genannten  auxili- 
ären  Inspirationsmuskeln,  besonders  der  Scaleni  und  Sternocleido- 
mastoidei,  dienen. 

Lähmung'  der  Auxiliarmuskeln  bewirkt  keine  Störung  der 
Eespiration,  noch  der  Phonation.  Isolirte  Lähmungen  sind  daher, 
soweit  die  betroffenen  Muskeln  nicht  der  directen  Beobachtung  unter- 
liegen, nicht  zu  diagnosticiren.  Ueber  isolirte  Lähmung  der  Scaleni 
ist  nichts  bekannt. 

Krämpfe  aller  oder  doch  der  meisten  Inspirationsmuskeln 
kommen  nicht  selten  vor  und  stellen  sich  in  verschiedener  Form, 


Muskeln,  die  die  Atlieuibewegimgen  ausführen. 


283 


meist  als  Theilerscheinung  der  Hysterie  dar.  Bald  wird  die  ruhige 
Athmung  von  einzelnen  tiefen  und  tönenden  Inspirationen  unter- 
brochen, bald  tritt  eine  längere  Eeilie  keuchender  Inspirationen 
auf  u.  s.  w. 

Die  Alisa t Innung  wird  in  der  Ruhe  wesentlich  durch  die 
elastischen  Kräfte  des  Thorax  bewirkt.  Die  active  Ausathmung 
wird  bewirkt  durch  Contraction  der  Bauchmuskeln  (Xn.  inter- 
eostales),  des  M.  triangularis  sterni  (Xn.  intercostales) ,  der 
wahrscheinlich  die  3. — 6.  Eippe  herabziehen  hilft,  und  (nach  Du- 
chenne) durch  die  Bronchialmuskeln  (N.  vago-accessorius). 


M.  rectus  abdo- 
mitiis  iXn.  inter- 
costales abdomi- 
nales). 


;M.  serrat.  maa:n. 


31.  latissimus 
dorsi. 


M.  obliqiras 
abdom.  externus 
(Xn.  abdominales 

intercostales; 

II.  transversus 
abdoininis. 


Fig.   54. 
Motorische  Punkte  am  Eumpfe  (nach.  Ziemssen). 


Der  M.  obliquus  ext.  abdominis  zieht  die  Bauchwand  in 
der  Richtung  von  unten-innen  nach  oben-aussen  ein,  zieht  gleich- 
zeitig die  Rippen,  an  denen  er  sich  ansetzt,  herab  und  neigt  den 
Rumpf  bei  einseitiger  Wirkung  nach  vorn  und  seitlich,  bei  doppel- 
seitiger direct  nach  vorn. 

Der  IL  obliquus  int.  abdom.  deprimirt  die  Bauchwand  von 
unten-aussen  nach  oben-innen. 


284  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

Der  M.  t r a n s v e r s u s  ab  d.  zieht  direct  nach  hinten,  den  Bauch 
quer  einschnürend. 

Der  M.  rectus  ab  dorn,  zieht  den  Nabel,  wenn  sein  oberer  Theil 
contrahirt  ist,  nach  oben,  wenn  der  untere  contrahirt  ist,  nach  unten, 
nähert  durch  seine  Gesammtwirkung  das  Sternum  der  Symphyse, 
den  Rumpf  nach  vorn  beugend,  und  deprimirt  den  mittleren  Theil 
der  Bauchwand  kräftig. 

Elektrisch  leicht  zu  reizen  sind  jederzeit  die  Mm.  obliquus 
ext,  und  rectus  (vergl.  Fig.  54),  bei  Atrophie  der  oberen  Schicht 
gelingt  es  auch,  die  Mm.  obliquus  int.  und  transvers.  isolirt  zur  Con- 
traction  zu  bringen,  hie  und  da  kann  man  das  Letztere  nach  Ziems- 
sen  auch  bei  mageren  Gesunden  erreichen. 

Beim  Gesunden  scheinen  die  Bauchmuskeln  immer  gemeinsam 
thätig  sein,  ihre  Gesammtwirkung  ist  Verengerung  der  Bauchhöhle 
und  der  Basis  des  Thorax  einerseits,  Vorwärtsbeugung  des  Rumpfes 
andererseits,  die  wegfällt,  sobald  die  Wirbelsäule  durch  die  Streck- 
muskeln fixirt  ist.  Ihre  exspiratorische  Wirkung  ist  eine  sehr  kräftige. 
Ihre  tetanische  Contraction  hemmt  die  Zwerchfellsathmung  vollständig 
und  bewirkt  eine  beträchtliche  Respirationstörung.  Contrahiren  sie 
sich  gemeinsam  mit  dem  Zwerchfelle,  so  wird  ein  starker  Druck  auf 
den  Inhalt  des  Bauches  ausgeübt:  Bauchpresse  (Prelum  abdomi- 
nalej,  so  bei  der  Defäcation,  bei  der  Geburt. 

Bei  Lähmung  der  Bauchmuskeln  ist  kräftiges  Ausathmen 
nicht  möglich,  Husten,  Schreien,  Singen  erschwert  oder  unmöglich, 
während  in  der  Ruhe  die  Athmung  normal  vor  sich  geht.  Ferner 
werden  die  Defäcation  und  die  Harnentleerung  erschwert  und  der  Leib 
aufgetrieben,  da  die  Contenta  die  schlaffe  Bauchwand  ausbuchten. 
Letzteres  sieht  man  besonders  bei  der  Einathmung,  wo  die  Erhebung 
sich  nicht  mehr  auf  das  Epigastrium  beschränkt.  Da  die  Eingeweide, 
die  die  schlaffen  Bauchdecken  vor  sich  hertreiben,  dem  Zwerchfelle 
keinen  genügenden  Stützpunkt  gewähren,  kann  dieses  die  Rippen 
nicht  heben,  sondern  verengert  die  Thoraxbasis.  Die  Störungen  in 
der  Bewegung  des  Rumpfes  und  der  aufrechten  Haltung  sind  oben 
besprochen. 

Besteht  einseitige  Lähmung  der  Bauchmuskeln,  so  wird  bei  jeder 
kräftigen  Ausathmung  der  Nabel  nach  der  gesunden  Seite  verzogen. 
Während  der  Inspiration  wird  die  gelähmte  Seite  vorgebuchtet  und 
hier  die  Basis  des  Thorax  verengert. 

Complete  Lähmungen,  denen  die  geschilderten  Erscheinungen  ent- 
sprechen, sind  sehr  selten,  häufiger  kommen  Paresen  vor,  man  wird 
die  Symptome  im  letzteren  Falle  natürlich  weniger  deutlich  vorfinden. 


Muskeln  des  Beckeubodens.  285 

Vermehrte  Spannung'  der  Bauchmuskeln  bewirkt  Einsinken  des 
Bauches  (Kahnbauch).  Tonischer  Krampf  stört  die  Athmung 
in  empfindlicher  "Weise  (s.  oben).  Krämpfe  einzelner  Bauchmuskeln 
können  dies  nur  thun,  wenn  sie  sehr  energisch  sind  und  lange  an- 
halten. 

Nach  Duchenne  sind  auch  die  Bronchialmuskeln  Exspi- 
ratoren  und  zwar  müssen  sie  an  der  ruhigen  Exspiration  betheiligt 
sein,  da  ihre  Lähmung  Athmungsbesch  werden  verursachen  soll. 
Duchenne  fand  nämlich  bei  Kranken  (mit  progressiver  Bulbär- 
paralyse),  deren  Inspiratoren  und  Bauchmuskeln  kräftig-  waren,  auf- 
fallende Exspirationsch wache,  sie  konnten  trotz  tiefer  Inspiration 
kein  Licht  ausblasen,  nur  mühsam  expectoriren.  Dabei  bestand 
keine  Lähmung-  am  Kehlkopfe,  nur  war  die  Stimme,  entsprechend 
der  Exspiratioiischwäche,  kraftlos.  Die  Kranken  hatten  ein  Gefühl 
der  Angst,  es  war  ihnen  voll  auf  der  Brust.  Das  Athmungsgeräusch 
war  normal.  Tonischer  Krampf  der  Bronchialmuskeln  ist  wahr- 
scheinlich Ursache  des  Asthma.  Auch  hier  besteht  Exspirations- 
dyspnoe, die  Inspiration  kann  den  Widerstand  der  verengten  Bron- 
chen überwinden  und  die  Luft  dringt  mit  pfeifendem  Geräusche  in 
die  Alveolen,  während  sie  bei  der  Exspiration  nur  ungenügend  ent- 
leert wird. 

Als  verbreitete  Exspirationskrämpfe  sind  die  verschiedenen  For- 
men des  Hustens  zu  bezeichnen  (Tussis  convulsiva,  Keuchhusten, 
Bellhusten,  Bronchokrisen  u.  s.  w.).  Genannt  seien  hier  ferner  der 
Niesekrampf  (Ptarmus),  der  Gähnkrampf  (Oscedo,  Chasmus),  die 
Schrei-,  Lach-,  Wein-Krämpfe. 

n.  Die  Muskeln  des  Beckenbodens. 

Alle  Perinaealmuskeln  haben  die  Aufgabe,  die  untere  Becken- 
öffnung elastisch  zu  verschliessen,  der  Schwere  und  der  Bauchpresse 
entgegenzuwirken,  die  direct  auf  ihnen  ruhenden  Eingeweide  zutragen. 

Der  M.  sp  hin  et  er  ani  externus  (Nn.  haemorrhoid.  med.  et 
inf.  vom  Plexus  pudendalis)  schliesst  die  Aftermündimg',  „kann,  wie 
einst  Aeolus,  nach  Umständen  et  pr einer e  et  laxas  dare  jussus  habe- 
nas"  (Hyrtl). 

Der  M.  levator  ani  (Nn.  haemorrhoid.  med.  et  inf.)  hebt  den 
After  mit  den  übrigen  Perinaealmuskeln  und  drückt  das  Rectum  zu- 
sammen. Beim  Weibe  kann  er  durch  krampfhafte  Contraction  eine 
Verengerung  der  Scheide  bewirken  und  diese  unter  Umständen  ober- 
halb ihres  Einganges  zusammenschnüren  („Penis  captivus")- 


286  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  nnd  deren  Störung. 

Der  M.  b  u  1  b  o  c  a  v  e  r  n  o  s  u  s  (N.  pudendus)  treibt  durch  klonische 
Contractioiien  den  Inhalt  der  Harnröhre  aus,  verengert  beim  Weibe 
als  M.  constrictor  cunni  den  Scheideneingang,  gemeinsam  mit 
dem  Sphincter  ani  sich  contrahirend. 

Der  M.  ischiocavernosus  (N.  pudendus)  muss  den  Penis  je 
nach  dessen  Position  heben  oder  senken,  ausserdem  die  Vena  dors.  penis 
zusammendrücken.  Beim  Weibe  wirkt  er  entsprechend  auf  die  Clitoris. 

Die  Mm.  transversi  perinaei(N.  pudendus)  haben  ausser  zur 
Hebung  des  Dammes,  besonders  des  Bulb.  urethrae,  zur  Ausführung 
der  Ereotion  zu  wirken.  Der  M.  transvers.  perin.  superf.  hat  die 
Nebenaufgabe,  Dehnungen  der  Yasa  perinaei  zu  verhindern.  Der 
M.  transvers.  prof.  comprimirt  durch  tonische  Contraction  die  ihn 
durchbohrenden  Venen  der  Corpp.  cavernosa  penis  (clitoridis).  Gleich- 
zeitig verschliesst  er  die  Harnröhre.  Ist  die  Erection  dadurch  ein- 
geleitet, dass  nach  Erschlaffung  der  glatten  Muskeln  in  den  Corpp. 
cavern.  der  Penis  durch  vermehrten  Blutzufluss  in  weiche  Schwellung 
gerathen  ist,  so  werden  durch  die  Perinaealmuskeln  die  Venen  des 
Penis  zusammengedrückt  und  wird  durch  Erschwerung  des  Blutab- 
flusses der  Penis  gesteift.  Letztere  Aufgabe  erfüllt  besonders  der 
M.  transvers.  prof.  durch  Druck  auf  die  Venae  profundae,  während 
der  Ischiocavern.  auf  die  Vena  dorsalis  und  der  Bulbocavern.  auf 
die  aus  dem  Bulbus  urethrae  austretenden  Venen  wirken. 

Eine  isolirte  elektrische  Reizung  der  Dammmuskeln  dürfte 
sich,  abgesehen  von  den  Sphincteren,  nicht  mit  Sicherheit  ausführen 
lassen.    Doch  lässt  sich  leicht  Hebung  des  Dammes  bewirken. 

Lähmung  der  Perinaealmuskeln  bewirkt  Erschlaffung  des  Dam- 
mes, Incontinenz  des  Afters  und  Verlust  der  Erectionsfähigkeit. 
Ueber  isolirte  Lähmung  einzelner  Muskeln  ist  so  gut  wie  nichts  be- 
kannt, nur  der  Sphincter  ani  scheint  öfter  allein  oder  doch  vorwie- 
gend gelähmt  zu  sein.  Schwächezustände  der  Dammmuskeln  spielen 
wahrscheinlich  eine  Rolle  bei  manchen  Formen  von  Prolapsus  recti, 
vaginae,  uteri,  von  Geschlechtschwäche  des  Mannes  und  den  ver- 
wandten Zuständen. 

Krämpfe  werden  häufig  an  den  Sphincteren  beobachtet  (Fis- 
sura  ani,  Vaginismus).  Der  Krampf  des  Levator  ani  kann  beim  Coitus 
störend  werden,  durch  Herauswerfen  des  Samens  nach  dem  Coitus 
die  Befruchtung  hemmen,  unter  Umständen  sogar  ein  Geburtshinder- 
niss  abgeben.  Krampf  des  Transversus  perinaei  prof.  ist  wahrschein- 
lich Ursache  des  Priapismus. 

Der  M.  cremaster  (PI.  lumb.),  der  hier  anhangsweise  erwähnt 
sei.  hebt  den  Hoden  seiner  Seite. 


Muskeln  der  Eingeweide.    Herz-  und  Blutgefässe.  287 

o.   Die  Muskeln  der  Eingeweide. 

a)  In  Beziehung  auf  die  genauere  Untersuchung  des  Herzens  und 
der  Blutgefässe  ist  auf  die  Lehrbücher  der  Physiologie  und  inneren 
Median  zu  verweisen. 

Eine  elektrische  Beizung  des  Herzmuskels  ist  nicht  ausführbar. 
Ziemsse  11  hat  zwar  nachgewiesen,  dass  beim  Gesunden  durch  Ein- 
wirkung kräftiger  elektrischer  Beize  die  Schlagfolge  des  Herzens 
verändert  werden  kann,  doch  lässt  sich  dieser  Umstand  diagnostisch 
kaum  verwertheil.  Die  für  den  Neurologen  hauptsächlich  in  Be- 
tracht kommenden  Veränderungen  am  Herzen  sind  Schwäche,  Be- 
schleunigung, Verlangsamung  der  Herzthätigkeit.  die  theils  dauernd, 
theils  anf all  weise  auftreten  können  und  ohne  besondere  Hülfsmittel 
nachzuweisen  sind. 

Die  Muskeln  der  Blutgefässe  regeln  deren  Weite.  Während 
Ausdehnung  und  Spannung  der  grösseren  G-efässe  zum  Theil  direct 
beobachtet  werden  können,  ist  für  den  Zustand  der  dünneren  Gefässe 
die  Farbe  und  Temperatur  der  betreffenden  Haut-  und  Schleinihaut- 
bezirke  kennzeichnend.  Verengerung  (beziehungsweise  Krampf)  der 
Gefässe  bewirkt  Blässe  und  Kühle  (weiterhin  Schrumpfung,  Abnehmen 
der  Empfindlichkeit.  Schmerz.  Schwerbeweglichkeit) ,  Erweiterung, 
die,  wir  wissen  nicht  wie.  durch  Xerveneinfluss  bewirkt  werden  kann, 
verursacht  Wärme  und  Böthe  (weiterhin  leichte  Schwellung).  Krampf 
der  kleinen  Venen  ruft  starke  Cyanose  hervor.  Lähmung  der  Blut- 
gefässe macht  diese  todten  elastischen  Schläuchen  gleich,  bewirkt 
daher  Verlangsamung  der  Circulation,  Kühle  und  Cyanose  (häufig 
Mannorirung).  Ausserdem  reagiren  die  gelähmten  Gefässe  auf  Beize 
gar  nicht,  oder  doch  langsamer  und  weniger  als  die  gesunden.  Als 
prüfende  Beize  können  Wärme.  Kälte,  mechanische  und  elektrische 
Erregung  verwandt  werden.  Die  elektrische  Prüfung  hat  keine  be- 
sonderen Vortheile.  Die  Anode  bewirkt  direct  Böthung.  die  Kathode 
erst  Blässe  und  dann  eine  etwas  hellere  Böthe  als  die  Anode,  Die 
Böthe  der  Haut  hält  oft  auffallend  lange  an.  Faradisiren  der  Haut 
bewirkt  ebenfalls  nach  vorübergehender  Erblassung  Böthe.  Durch 
die  Einwirkung  des  elektrischen  Funkens  sah  ich  auf  cyanotischer 
Haut  (über  gelähmten  Muskeln)  dunkelblaue,  leicht  erhabene  Flecke 
entstehen,  die  24  Stunden  lang  sich  erhielten,  durch  Erwärmung 
verschwanden  (Venenkrampf  ?).  Zuweilen  gelingt  es  durch  elektrische 
Beizung  von  Nerven.  Gefasserweiterung  in  deren  Bezirke  zu  bewirken. 
Als  mechanischer  Beiz  wird  meist  das  Streichen  mit  stumpfen 
Gegenständen  (Federhalter  oder  dergl.)  gebraucht.  Eine  eigenthüm- 


288  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

liehe,  wohl  auf  gesteigerte  Eeizbarkeit  hindeutende  Reaction  ist  die, 
dass  nicht  ein  einfacher  rother  Strich  entstellt,  sondern  eine  erhabene 
weisse  Leiste  mit  rothem  Hofe,  oder  eine  Quaddel,  die  längere  Zeit 
hindurch  sich  hält,  (Urticaria  facti tia). 

Oh  durch  blossen  Gefässkrampf  Gangrän  entstehen  kann,  ist 
zweifelhaft.  Dies  gilt  auch  von  den  anderen  Veränderungen  der 
Ernährung,  die  man  oft  vasomotorischen  Einflüssen  zugeschrieben  hat. 
Mit  Bestimmtheit  kann  man  nur  sagen,  dass  Theile  mit  gelähmten 
Gefässen  sich  Schädlichkeiten  gegenüber  weniger  widerstandsfähig 
erweisen  werden  als  gesunde.  Aus  Functionstörungen  der  Organe 
allein  Schlüsse  zu  ziehen  auf  den  Zustand  ihrer  Blutgefässe,  ist  un- 
zulässig, wie  mit  Nachdruck  hervorgehoben  sei.  — 

ß.  Die  Muskeln  des  Magens  und  des  Darms  (N.  vagus,  Nn.  splan- 
chnici)  führen  bekanntlich  die  sogenannten  peristaltischen  Bewegun- 
gen aus,  die  direct  nur  unter  abnormen  Verhältnissen  (Erweiterung 
des  Magens,  dünne  Bauchdecken,  dünne  Bruchsäcke  u.s.w.)  beobachtet 
werden  können.  Durch  sondenförmige  Elektroden  können  zwar  Con- 
tractionen  im  Magen  und  unteren  Darmabschnitte  erregt  werden,  die 
auf  die  gereizte  Stelle  beschränkt,  träge  sind  und  den  Eeiz  über- 
dauern, aber  zu  diagnostischen  Zwecken  ist  die  elektrische  Unter- 
suchung nicht  brauchbar.  Ausgebreitete  Bewegungen  lassen  sich  wohl 
nur  reflectorisch  hervorrufen,  sei  es  durch  Reizung  der  Schleimhaut, 
sei  es  durch  solche  der  Bauchhaut.  Lähmung  der  Cardia  bewirkt 
Sodbrennen,  wahrscheinlich  auch  Veränderung  der  Schluckgeräusche, 
Lähmung  des  Pylorus  muss  den  Mageninhalt  vorzeitig  in  den  Darm 
übertreten  lassen,  oder  umgekehrt  Darminhalt  in  den  Magen.  In- 
sufficienz  des  Pylorus  wird  auch  als  Ursache  des  Uebertretens  ver- 
schluckter Luft  in  den  Darm  und  damit  der  Tympanie  angesehen 
(Ebstein). 

Schwäche  der  gesammten  Magenmuskeln  begleitet  natürlich 
viele  Magenkrankheiten.  Eigentliche  Lähmung  scheint  in  den  Fällen 
von  chronischer  Atrophie,  die  sowohl  am  Magen  als  am  Darme  be- 
obachtet worden  ist,  vorzuliegen.  Das  Hauptsymptom  war  in  diesen 
Fällen  schwere  Dyspepsie.  Als  krampfhafte  Störungen  des  Magens 
kann  man  das  Aufstossen  und  Erbrechen  bezeichnen.  Zu  ihnen  ge- 
hören auch  die  pathologische  Steigerung  der  peristaltischen  Bewe- 
gungen: „peristaltische  Unruhe  des  Magens"  (Kussmaul),  und  die 
sehr  seltenen  antiperistaltischen  Bewegungen.  Der  sogenannte  „Magen- 
krampf", Cardialgie,  stellt  wohl  eine  rein  sensorische  Störung,  eine 
Neuralgie  dar. 


Muskeln  der  Eingeweide.    Muskeln  der  Blase.  289 

Schwäche  der  Darmmuskeln  (Atonie  des  Darms)  betrachtet  man 
vielfach  als  Ursache  der  einfachen  chronischen  Verstopfung.  Krampf- 
hafte Zusammenziehungen  einzelner  Darmabschnitte  können  auch 
Ursache  der  Verstopfung  sein.  Verbreitete  tonische  Krämpfe  der 
Darmmuskeln  begleiten  die  Bleikolik.  Durch  Vermehrung  der  peri- 
staltischen  Bewegungen  und  damit  durch  Diarrhoe  antwortet  der 
Darm  meist  auf  abnorme  Reizungen  seiner  Schleimhaut.  Auch  an- 
derweite Erregungen  (seelische)  können  Steigerung  der  Peristaltik 
bewirken.  — 

y)  Die  Muskeln  der  Blase  (Nn.  haemorrhoid.  aus  dem  3.  und  4. 
Sacralnerven)  sind  theils  unwillkürliche,  theils  willkürliche.  Jene 
sind  die  als  Detrusor  bezeichneten  Muskelfaserschichten  und  der 
Sphincter  vesicae  int.  (Heule),  der  den  Anfang  der  Urethra  um- 
giebt  und  beim  Manne  der  Prostata  angehört.  Der  Willkür  unter- 
worfen ist  der  Sphincter  vesicae  ext.  (Henle),  der  ebenfalls  inner- 
halb der  Prostata  liegt.  Der  Detrusor  verengt  die  Blase,  so  dass 
diese  ihrem  jeweiligen  Inhalte  entsprechend  gross  ist,  und  treibt  bei 
stärkerer  Contraction  den  Inhalt  der  Blase  aus.  Die  Sphincteren 
verschliessen  die  Blase.  Willkürlich  die  Harnentleerung  anregen  kann 
man  nur  durch  den  Druck  der  Bauchpresse,  dagegen  gestattet  der 
Sphincter  ext.  dem  Willen,  direct  gegen  die  Entleerung  Einspruch 
zu  erheben,  während  der  Sphincter  int.  auch  während  des  Schlafes 
die  Blase  verschliesst. 

Die  elektrische  Reizung  der  Sphincteren  ist  durch  sonden- 
förmige  Elektroden  leicht,  die  des  Detrusor  schwieriger  und  nur 
theilweise  zu  erreichen. 

LähmungdesDetrusor  muss  die  Harnentleerung  erschweren, 
da  diese  dann  nur  durch  die  Bauchpresse  ausgeführt  werden  kann, 
und  unvollständig  machen,  da  die  letztere  zur  Entleerung  des  un- 
tersten Blasentheiles ,  die  im  gesunden  Zustande  die  ringförmigen 
Muskelfasern  der  Blase  besorgen,  nicht  ausreicht  (Ischuria  paraly- 
tica).  Sind  auch  die  Bauchmuskeln  gelähmt,  so  ist  die  Harnent- 
leerung unmöglich  (Retentio  urinae  paralytica),  die  Blase  wird  ad 
maximum  ausgedehnt  und  schliesslich  überwindet  der  Druck  die 
Sphincteren,  so  dass  der  Harn  allmählich  ausfliesst  (Incontinentia 
paradoxa). 

Lähmung  der  Sphincteren  bewirkt  Unvermögen  den  Harn 
zu  halten,  so  dass  dieser  abtröpfelt  (Incontinentia  paralytica).  Ist 
nur  der  Sphincter  int.  gelähmt,  so  wird  zwar  während  des  Wachens 
der  Harn  gehalten,  im  Schlafe  aber  entleert  sich  die  Blase,  sobald 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  19 


290  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  nnd  deren  Störung. 

sie  gefüllt  ist.  Ist  nur  der  Sphincter  ext.  gelähmt,  so  muss  dein 
Bedürfnisse  zu  uriniren  nachgegeben  werden,  willkürlicher  Aufschub 
ist  nicht  gestattet. 

In  Wirklichkeit  sind  vielfach  alle  Blasenmuskeln  geschwächt, 
so  dass  die  Symptome  der  Sphincterenlähmung  sich  mit  denen  der 
Detrusorlähmung  vermischen. 

Krampf  des  Detrusor  muss  die  Ausdehnung  der  Blase  ver- 
hindern, bei  gefüllter  Blase  unwillkürliche  Harnentleerung  verur- 
sachen. Meist  handelt  es  sich  um  reflectorische  Contractionen,  die 
durch  abnorme  Empfindlichkeit  oder  abnorme  Reizung  der  Blasen- 
schleimhaut  verursacht  werden  und  sich  als  Harnzwang  (Tenesmus 
vesicae)  darstellen.  Krampf  der  Sphi lieferen  verhindert  die 
Entleerung  und  verursacht  Retentio  spastica.  Er  wird  daran  er- 
kannt, dass  das  Hinderniss,  das  die  Sonde  in  der  Pars  prostatica 
findet,  verschwindet,  wenn  eine  Zeit  lang  die  Sonde  dagegen  ange- 
drückt wird. 

Die  Muskeln  der  Harnröhre  werden  durch  tonische  Con- 
traction  das  Lumen  verschliessen ,  beziehungsweise  den  Inhalt  der 
Harnröhre  nach  aussen  befördern. 


Wegen  der  Muskeln  der  weiblichen  inneren  Geschlechtstheile 
muss  auf  die  Lehrbücher  der  Gynäkologie  verwiesen  werden. 


Die  Muskeln  des  Armes, 
p.  Die  Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen. 

Der  M.  trapezius  s.  cucullaris  (N.  accessorius  und  Aeste 
vom  PI.  cervicalis)  hebt  bei  doppelseitiger  Wirkung  beide  Schultern 
(Achselzucken)  und  nähert  die  Schulterblätter  etwas  der  Mittellinie. 
Bei  einseitiger  Wirkung  hebt  er  die  Schulter  nach  innen  oben  und 
zieht  den  Kopf,  wenn  dieser  nicht  fixirt  ist,  nach  aussen  und  hinten 
mit  Drehung  des  Gesichtes  nach  der  entgegengesetzten  Seite. 

Contrahirt  sich  allein  die  Pars  clavicularis,  so  wird  hauptsäch- 
lich die  eben  beschriebene  Bewegung  des  Kopfes  ausgeführt,  nur 
bei  kraftvoller  Contraction  wird  auch  das  Acromion  gehoben.  Ist 
der  Kopf  durch  die  Nackenmuskeln  fixirt,  so  tritt  die  Hebung  des 
Acromion  in  den  Vordergrund,  doch  auch  jetzt  wird  der  Kopf  leicht 
ö-eneigft.    Contrahiren  sich  beide  Part,  claviculares,  so  ziehen  sie  den 


Muskeln,  die  die  Schulte]'  und  den  Obenurn  bewegen. 


291 


Kopf  nach  hinten.   Nur  die  Pars  clavicul.  betheiligt  sich  bei  tiefer 
Athmung. 

Der  mittlere  Theil  des  Muskels,  d.  h.  die  Fasern,  die  sich  nach 
aussen  vom  Acromion  und  an  der  äusseren  Hälfte  der  Spina  scap. 
ansetzen,  hebt  zunächst  das  Acromion,  wobei  sich  der  untere  Winkel 
der  Scapula  etwas  von  der  Mittellinie  entfernt,  und  bewegt  dann 
die  ganze  Scapula  kräftig  nach  oben.  Diese  Fasern  sind  die  eigent- 
lichen Heber  des  Schulterblattes;  je  nach  ihrer  mehr  oder  weniger 
kräftigen  Entwicklung  erscheint  der  Hals  kurz  oder  lang. 


tat,  .aiRnriiSÄ 

i.      ■> 


Fig. 


oo. 


Fehlerhafte  Stellung  des  rechten  Schulterblattes, 
durch  Atrophie  der  zwei  unteren  Drittel  des 
rechten  AI.  cucullaris  verursacht.  Der  innere  Rand 
der  Scapula  ist  rechts  weiter  von  der  Mittel- 
linie entfernt  als  links,  die  Schulter  steht  tiefer. 
(Nach  Duchenne.) 


Fig.  56. 

Fehlerhafte  Stellung  der  Schulterblätter,  durch 
complete  Atrophie  beider  Cucullares  verursacht. 
Der  M.  levator  ang.  cap.  ist  intact.  Die  Latis- 
simi  sind  atrophisch.  Die  unteren  Winkel  (BB) 
sind  der  Mittellinie  genähert,  die  inneren  (AA) 
sind  von  ihr  entfernt.  Der  innere  Rand  verläuft 
von  oben-aussen  nach  innen -unten.  Die  Schulter- 
ecke (GG)  ist  gesenkt.  CC  =  M.  sternocleid. 
DD  =  M.  lev.  scap.  EE  =  M.  rhomb. 
(Nach  Duchenne.) 

Die  Fasern,  die  sich  an  der  inneren  Hälfte  der  Spina  scap.  an- 
setzen, heben  den  äusseren  Winkel  des  Schulterblattes  nur  wenig, 
ziehen  das  letztere  aber  kräftig  nach  der  Mittellinie.  Die  Fasern, 
die  sich  am  inneren  Eande  der  Scapula  ansetzen,  ziehen  den  inneren 

19* 


292 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  xmd  deren  Störung. 


Winkel  ein  wenig-  herab  und  nähern  das  Schulterblatt  der  Mittel- 
linie um  3 — 4  Cm. 

Die  elektrische  Reizung  des  M.  f  cucullaris  ist  sehr  leicht 
auszuführen  (s.  Fig.  45).  Isolirte  Faradisation  der  einzelnen  Muskel- 
abschnitte belehrt  über  deren  Wirkung. 

Bei  Lähmung  des  unteren  Drittels  des  Cucullaris  entfernt 
sich  der  innere  Rand  der  Scapula,  der  im  Normalen  der  Mittellinie 
parallel  ist  und  von  ihr  um  5—6  Cm.  absteht,  von  der  Medianen 
um  10 — 12  Cm.,  dabei  bewegt  sich  das  Acromion  nach  vorn,  so  dass 
der  Rücken  verbreitert  und  gewölbt  wird,  die  Brust  einsinkt  und 

das  Schlüsselbein  vorspringt. 
Die  Kranken  können  zwar  noch 
durch  den  oberen  Theil  der 
Latissimi  die  Schultern  ein- 
ziehen, thun  sie  dies  aber 
kräftig,  so  wirkt  der  M.  rhom- 
boideus  mit  und  zieht  das 
Schulterblatt  nach  innen  oben 
mit  Drehung  um  den  äusseren 
Winkel. 

Ist  auch  das  mittlere 
Drittel  des  Muskels  g  e  - 
1  ä  h  m  t ,  so  senkt  sich  das  Acro- 
mion und  das  Schulterblatt 
dreht  sich  derart,  dass  der 
innere  Winkel  sich  hebt,  der 
untere  sich  der  Mittellinie 
nähert  und  die  Rückenhaut 
abhebt,  der  innere  Rand  der 
Scapula  schräg  von  oben  aussen  nach  unten  innen  verläuft.  Das 
Schulterblatt  ist  dann  sozusagen  am  Levator  anguli  scap.  aufgehängt, 
der  gewöhnlich  stark  hervorspringt.  Die  Portio  clavicularis  und  der 
Serratus  magnus  können  das  Herabsinken  und  die  Drehung  des  Schulter- 
blattes nicht  hindern,  ebensowenig  wie  der  Rhomboideus.  Ursache 
jener  Bewegung  ist  in  erster  Linie  die  Schwere  des  Armes,  in  zweiter 
die  tonische  Kraft  der  Mm.  pector.  und  latissimi.  Bei  dieser  Lähmung 
ist  kraftvolle  Hebung  des  Armes  nicht  möglich,  die  Kranken  klagen 
über  Schwäche  des  Armes,  sie  legen  sich  zeitweise  nieder,  weil  das 
Herabhängen  der  Schulter  schmerzhafte  Empfindungen  hervorruft. 
Die  Portio  clavicularis  wird  zuletzt  gelähmt,  sie  ist  das 
ultimum  moriens.    Ist  sie  allein  erhalten,  so  können  die  Kranken 


Fig.  57. 

Fehlerhafte  Stellung  des  Kopfes,  verursacht  durch 

Contractur  der  Portio  clavicul.  des  linken  Cucullaris  : 

Torticolüs.     (Nach.  Duchenne.) 


Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen. 


293 


noch  eine  schwache  Hebimg  der  Schulter  erzielen;  trotz  einseitiger 
Lähmung-  des  übrigen  Cuciillaris  hebt  sich  bei  tiefer  Athmung  die 
kranke  Schlüter  so  gut  wie  die  gesunde.  Ist  die  Portio  clavicularis 
gelähmt,  so  bleibt  bei  der  Athmung  die  Schulter  unbewegt,  auch 
wenn  die  übrigen  Theile  des  Cucullaris  erhalten  sein  sollten  und  da- 
her die  absichtliche  Hebung  der  Schulter  noch  möglich  Aväre. 

Klonische  oder  tonische  Krämpfe  des  Cucullaris  sind 
nach  dem  Mitgetheilten  leicht  zu  erkennen. 

Die  Mm.  rhomboidei  (N. 
dorsalis  scapulae  vom  5.  X.  cervi- 
calis)  ziehen  das  Schulterblatt  nach 
innen  und  oben,  indem  sie  es  zu- 
nächst um  den  äusseren  Winkel 
drehen  und  dann  im  Ganzen  heben. 
Dabei  wird  der  innere  Winkel  um 
1 — 3  Cm.  gehoben,  der  äussere  um 
1 — 1V-2  Cm.,  der  innere  Band  der 
Scapula  verläuft  schräg  von  oben- 
aussen  nach  unten- innen  und  der 
untere  Winkel  wird  der  Mittellinie 
beträchtlich  genähert.  Das  Acro- 
mion  wird  durch  die  Khomb.  nicht 
nach  hinten  gezogen.  Ist  der  Ann 
vertical  gehoben,  so  muss  die  durch 
die  Contraction  der  Rhomb.  be- 
wirkte Drehung  der  Scapula  ihn 
senken.  Beim  Heben  von  Lasten 
u.  s.  w.  mit  der  Schulter  unterstützen 
die  Rhomb.  den  Cucullaris.  mit  dem 
vereint  sie  die  Schulter  kraftvoll 
heben. 

Die  elektrische  Reizung 
der  Rhomb.  ist  nur  möglich  bei  Atrophie  des  Cucullaris.    Zuweilen 
kann  der  Nerv  am  Halse  gereizt  werden. 

Lähmung  der  Rhomb.  lässt  den  inneren  Scapularand  etwas 
vom  Thorax  abstehen  und  den  unteren  Winkel  sich  von  der  Mittel- 
linie entfernen.  Die  zwischen  dem  Thorax  und  dem  Schulterblatte 
entstehende  Rinne  verschwindet,  sobald  der  M.  serratus  ant.  den  Arm 
nach  vorn  erhebt.  Die  Bewegungen,  die  das  Anliegen  des  Schulter- 
blattrandes an  den  Thorax  fordern,  müssen  durch  die  Lähmung  des 
Rhomb.  geschwächt  werden.  Rhomb.  und  Serrat.  ant.  wirken  als  ein 


Figr. 


05. 


Fehlerhafte  Stellung  des  rechten  Schulter- 
blattes, verursacht  durch  Contractur  des  Rhom- 
boideus.  Der  untere  Winkel  (D)  steht  fast  im 
Niveau  des  äusseren  Winkels  und  erreicht  fast 
die  Mittellinie.  Ein  Wulst  (B)  entspricht  dem 
verdickten  Rhomb.,  ein  anderer  (A)  dem  eben- 
falls contracturirten  M.  lev.  ang.  scap. 
(.Nach  Duchenne.) 


294  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

Muskel,  dessen  Fasern  durch,  den  Scapularand  unterbrochen  werden, 
sobald  das  Punctum  fixuni  die  Wirbelsäule  ist,  und  ihre  gemeinsame 
Contraction  hebt  die  Kippen  kräftig.  Lähmung  der  Ehomb.  muss 
daher  die  inspiratorische  Wirkung  des  Serratus  schwächen  oder  auf- 
heben. Lähmung  der  Rhomb.  schwächt  auch  die  Bewegung  des  aus- 
gestreckten Armes  nach  hinten  und  innen.  Der  hintere  Theil  des 
Deltoideus  und  der  Teres  major  ziehen  dann  das  nicht  fixirte  Schulter- 
blatt nach  dem  Humerus,  statt  diesen  zu  bewegen.  Diese  Bewegung 
der  Scapula,  die  deutlich  wird,  sobald  man  der  Bewegung  des  aus- 
gestreckten Armes  nach  hinten  und  unten  Widerstand  leistet,  lässt 
die  Lähmung  der  Ehomb.  sicher  erkennen. 

Die  Contractu r  der  Rhomb.  bewirkt  eine  fehlerhafte  Stellung 
des  Schulterblattes,  die  der  bei  Lähmung  des  mittleren  Cucullaris- 
theiles  ähnlich  ist.  Ausser  Hemmung  der  passiven  Beweglichkeit 
und  derber  Anschwellung  in  der  Rhomboideusgegend  findet  man  bei 
Contractur  der  Rhomb.  geringes  Höherstellen  des  Acromion  auf  der 
kranken  Seite,  während  bei  Cucullarislähmung  des  Acromion  nach 
vorn  und  unten  verschoben  ist.  Beim  Erheben  des  Armes  schwindet 
die  durch  die  Contractur  verursachte  Deformität. 

Der  M.  levator  anguli  scapulae  (N.  dors.  scap.  und  Zweige 
vom  PL  cervic.)  hebt  den  inneren  Schulterblattwinkel,  indem  er  die 
Scapula  um  den  äusseren  Winkel  dreht,  und  zieht  das  Schulterblatt 
im  Ganzen  in  die  Höhe,  den  Kopf  leicht  auf  die  Seite  neigend. 

Die  elektrische  Reizung  gelingt  in  der  Regel  von  dem 
Räume  zwischen  Cucullaris  und  Sternocleidom.  aus  (s.  Fig.  45). 

Lähmung  des  Levator  scap.  dürfte  keine  wesentliche  Defor- 
mität verursachen,  da  der  Senkung  des  inneren  Schulterblattwinkels 
die  Rhomb.  entgegenwirken.  Ist  der  Muskel  zugleich  mit  dem  Cu- 
cullaris gelähmt,  so  senken  sich  der  äussere  und  der  innere  Winkel 
des  Schulterblattes  gleichmässig. 

Bei  Contractur  des  Levator  fühlt  man  einen  derben  Wulst 
am  inneren  Rande  des  Cucullaris. 

Der  M.  serratus  anticus  (N.  thoracicus  lateral,  s.  medius, 
s.  longus,  s.  respir.  ext.  Bell,  s.  thoracic,  post.  Henle,  vom  PL 
brachialis)  dreht  das  Schulterblatt  um  seinen  inneren  Winkel,  so 
dass  das  Acromion  erhoben  wird,  hebt  gleichzeitig  das  ganze  Schulter- 
blatt und  zieht  es  nach  aussen  und  vorn,  dabei  den  inneren  Scapula- 
rand an  den  Thorax  andrückend.  Die  Drehung  der  Scapula  ist  vor- 
wiegend Aufgabe  der  unteren  Bündel,  während  die  Bewegung  nach 
vorn  und  aussen,  durch  die  der  Abstand  des  Schulterblattes  von  der 
Wirbelsäule  um  2 — 4  Cm.  vermehrt  wird,  hauptsächlich  durch  den 


Muskeln,  dir  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen. 


295 


mittleren  Tlieil  ausgeführt  wird.  Wie  alle  Muskeln,  die  die  Scapula 
um  den  äusseren  oder  inneren  Winkel  drehen,  sie  auch  im  Ganzen 
heben,  folgt  auf  die  durch  den  Serratus  bewirkte  Drehung-  eine 
Hebung'.  Ist  nämlich  der  untere  Winkel  nach  aussen  und  vorn  be- 
wegt worden,  so  wird  die  weitere  Drehung  durch  Ehomb.  und  Le- 
vator  scap.  gehindert  und  das  Schulterblatt  bewegt  sich  nun  nach 
der  Richtung  des  geringsten  Widerstandes,  d.  h.  nach  oben.  Wenn 
auch  der  Serratus  die  Schulter  hebt,  so  betheiligt  er  sich  doch  nicht 


Fig.  59. 

Stellung  des  Schulterblattes  in  der  Kühe  bei  isolirter  rechtzeitiger  Serratuslähmung. 

(Nach  Bäumler.) 

beim  Tragen  von  Lasten  auf  der  Schulter,  so  lange  der  Arm  dem 
Rumpfe  anliegt.  Er  würde  andernfalls  die  Athmung  stören.  Dass 
der  Serratus  im  Vereine  mit  den  Ehomb.  die  Rippen  zu  heben  ver- 
mag, ist  schon  oben  erwähnt  worden. 

Die  elektrische  Reizung  des  Serratus  ant.  kann  indirect 
durch  Reizung  des  Nerven  vor  dem  Scalenus  med.  (s.  Fig.  45)  oder 
in  der  Mittellinie  der  Achselhöhle,  direct  durch  Reizung  der  Serratus- 


296  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

bündel,  soweit  sie  nicht  von  den  oberflächlichen  Muskeln  bedeckt 
sind,  oder  nachdem  diese  atrophirt  sind,  ausgeführt  werden. 

Lähmung  des  Serratus  ant.  bewirkt  in  der  Buhestellung  nur 
eine  geringe  Verschiebung  des  Schulterblattes.  Der  untere  Winkel 
steht  um  ein  Geringes  der  Mittellinie  näher  und  höher  als  auf  der 
gesunden  Seite  (Wirkung  des  Ehomb.)  und  ist  etwas  abgehoben 
(Wirkling  des  Pectoral.  u.  s.w.).  In  manchen  Fällen  isolirter  Serratus- 


Fig.  60. 

Flügeiförmiges  Abstehen  des  Schulterblattes  vom  Thorax  heim  Erheben  der  Arme  nach  vorn  durch 
Lähmung  des  Serratus  anticus.     (Nach  Bäum ler.) 

lähmung  hat  man  gar  keine  Abweichung  der  Scapula  gesehen.  Man 
muss  dann  annehmen,  dass  es  dem  kräftigen  Cucullaris  gelungen 
sei,  trotz  den  Ehomb.  das  Gleichgewicht  der  Scapula  zu  erhalten, 
oder  dass  die  Antagonisten  geschwächt  gewesen  seien. 

Sind  Serratus  und  Cucullaris  gelähmt,  so  senkt  sich  der  äussere 
Schulterblattwinkel  der  Schwere  des  Armes  nachgebend  noch  mehr 
als  bei  blosser  Cucullarislähmung.  Der  von  der  Thoraxwand  abstehende 


Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen. 


297 


untere  Winkel  steht  dann  in  nahezu  gleicher  Höhe  mit  dem  äusseren, 
der  vom  Levator  gehaltene  innere  Winkel  macht  einen  Vorsprung 
zur  Seite  des  Halses  (vergl.  Fig.  56). 

Sind  Serratus  und  Rhomb.  gelähmt,  so  steht  zwar  der  untere 
Scapulawinkel  vom  Thorax  ab,  ist  aber  der  Mittellinie  nicht  genähert 
und  steht  auf  der  kranken  Seite  etwas  tiefer. 


Fig.  61. 

Der  in  Figg.  59  und  60  abgebildete  Kranke  mit  Serratuslähmung  erhebt  die  Arme.    Rechts  fehlen 
die  Serratuszacken.    (Links  besteht  Radialislähmung.) 

Die  Erhebung  des  Armes  über  die  Horizontale  hinaus  ist  bei 
Serratuslähmung  in  der  Regel  nicht  oder  nur  durch  eine  schleudernde 
Bewegung  des  Arms  bei  rückwärts  gebeugtem  Rumpfe  möglich.  In 
einigen  Fällen  konnte  trotz  der  Serratuslähmung  der  Arm  seitlich 
beinahe  bis  zur  Verticalen  erhoben  werden  (s.  Fig.  61),  es  muss  dann 
diese  Bewegung  durch  den  mittleren  Theil  des  Cucullaris  ausgeführt 
worden  sein,  der  gewöhnlich  dazu  nicht  kräftig  genug  ist. 


298  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

Beim  Gesunden  geschieht  die  Erhebung'  des  Arms  über  die 
Horizontale  durch  die  gleichzeitige  Wirkung  des  Deltoideus,  Serra- 
tus und  Cucullaris.  Letzterer  vermag  jedoch,  wie  oben  bemerkt,  den 
Serratus  ausnahmeweise  zu  ersetzen. 

Bis  zur  Horizontalen  vermag  der  Deltoideus  den  Arm  zu  erheben, 
es  treten  aber,  wenn  der  Serratus  ausfällt,  pathologische  Bewegungen 
der  Scapula  dabei  ein.  Bei  der  seitlichen  Erhebung  des  Arms  senkt 
sich  das  Acromion  und  rückt  der  innere  Kand  der  Scapula  der  Mittel- 
linie näher,  das  untere  Drittel  des  Cucullaris  als  Wulst  vor  sich  her- 
schiebend. Bei  der  Erhebung  nach  vorn  dreht  sich  das  Schulterblatt 
ebenfalls  um  den  inneren  Winkel,  zugleich  aber  dreht  es  sich  um 
seine  Längsaxe,  so  dass  der  innere  Eand  weit  vom  Thorax  absteht 
und  zwischen  diesem  und  der  Scapula  eine  tiefe  Grube  entsteht. 
Dieses  flügeiförmige  Abstehen  des  Schulterblattes  beim  Vorwärts- 
heben des  Armes  ist  das  sicherste  Kennzeichen  der  Serratuslähmung. 
Drückt  man  das  Schulterblatt  fest  an  den  Thorax  an,  so  gelingt  es 
dem  Kranken,  den  Arm  vertical  zu  erheben.  Endlich  erschwert  die 
Serratuslähmung  die  Vorwärtsbewegung  des  Acromion,  beim  Drängen 
mit  den  Schultern,  beim  Fechtstosse. 

Der  M.  deltoideus  (N.  axillaris  vom  5.  und  6.  Cervicalnerven, 
zu  den  vordersten  Bündeln  einige  Fäden  der  Nn.  thorac.  ant.)  abdu- 
cirt  den  herabhängenden  Arm  im  Schultergelenke,  sofern  das  Schulter- 
blatt flxirt  ist.  Das  mittlere  Bündel  hebt  den  Arm  direct  nach  aussen, 
die  innersten  Fasern  schräg  nach  vorn  und  innen,  die  zwischen  diesen 
und  den  äusseren  gelegenen  direct  nach  vorn,  die  hinteren  direct  nach 
hinten.  Bei  maximaler  Contraction  des  Deltoideus  erreicht  der  Arm 
etwa  die  Horizontale.  Dieses  Maximum  der  Hebung  wird  durch  die 
vordere  Hälfte  des  Muskels  bewirkt,  die  hinteren  Bündel  vermögen 
den  Arm  nur  etwa  in  einen  Winkel  von  45 u  zur  Verticalen  zu 
bringen.  Wenn  daher  der  Arm  erhoben  ist,  so  führt  die  Contraction 
der  hinteren  Bündel  ihn  zu  diesem  Winkel  zurück.  Die  Erhebung 
des  Arms  durch  den  Deltoideus  geschieht  kräftiger  und  leichter, 
wenn  jener  nach  aussen  gerollt  ist,  als  wenn  er  nach  innen  gerollt  ist. 

Die  elektrische  Reizung  des  Deltoideus  ist  sowohl  vom 
Nerven  aus  (Erb 'scher  Punkt,  s.  Fig.  45)  als  direct  leicht  zu  be- 
wirken. Bei  isolirter  Contraction  des  Deltoideus  macht  das  Schulter- 
blatt dieselben  Bewegungen,  die  die  Erhebung  bei  Serratuslähmung 
verursacht,  d.  h.  das  Acromion  senkt  sich  und  der  innere  Rand  hebt 
sich  vom  Thorax  ab.  Diese  Bewegungen  entstehen  bei  der  willkür- 
lichen Contraction  des  Deltoideus  am  Gesunden  nicht,  dieser  Muskel 
kann  daher  willkürlich  nicht  allein  contrahirt  werden,  sondern  ist 


Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen. 


299 


immer  in  Gemeinschaft  mit  dem  Serratus  thätig.  Die  isolirte  Con- 
traction  des  Delt,  kann  den  Arm  nicht  über  die  Horizontale  erheben, 
weil  der  Teres  maj.  sich  dem  widersetzt.  Auch  müsste  die  weitere 
Erhebung-  des  Humerus  allein  eine  Subluxation  nach  unten  im  Schulter- 
gelenke verursachen.  Wie  oben  ausgeführt,  geschieht  die  Hebung  des 
Arms  zur  Verticalen  durch  die  Drehung  der  Scapula,  während  der 
durch  den  Deltoideus  gehobene  Arm  in  der  erreichten  Position  durch 
den  Deltoideus  und  den  Supraspinatus  festgehalten  wird. 

Bei  Lähmung  der  mittleren  Bün- 
del des  Delt.  ist  die  Erhebung  des  Arms 
nach  aussen  sehr  beschränkt,  nach  vorn 
kann  der  Arm  bis  zur  Verticalen,  nach 
hinten  bis  zu  einem  Winkel  von  45° 
erhoben  werden.  Sind  die  vorderen 
Bündel  gelähmt,  so  kann  der  Arm  nicht 
nach  vorn  erhoben  werden.  Wollen  die 
Kranken  nach  dem  Kopfe  greifen,  so 
heben  sie  den  Arm  nach  aussen,  beugen 
den  Vorderarm  und  neigen  den  Kopf 
zur  Seite  (z.  B.  beim  Abnehmen  des 
Hutes).  Wollen  sie  die  gegenüberlie- 
gende Schulter  oder  den  Mund  erreichen, 
so  heben  sie  die  Schulter  durch  den 
Cucullaris  und  den  Pector  maj.,  liegt 
dann  der  Arm  schräg  nach  innen  und 
vorn  dem  Thorax  an,  so  beugen  sie 
den  Vorderarm.  Sind  die  hinteren  Bün- 
del des  Delt,  gelähmt,  so  ist  die  Er- 
hebung des  Arms  nach  hinten  gehin- 
dert. Die  Kranken  können  ihre  Hand 
nur  schwer  in  die  Hosentasche  stecken, 

sie  können  sich  nicht  allein  anziehen,  da  sie  zwar  den  Arm  durch 
den  Latissimus  nach  hinten  führen,  die  Hand  aber  nicht  über  die 
Gesässgegend  erheben  können.  Wollen  sie  die  nöthigen  Bewegungen 
ausführen,  so  heben  sie  den  Arm  nach  aussen  und  beugen  den  Vorder- 
arm, ohne  doch  ihr  Ziel  zu  erreichen.  Ist  der  gesammte  Delt.  ge- 
lähmt, so  hängt  der  Arm  schlaff  herab  und  kann  nicht  vom  Sumpfe 
entfernt  werden.  Nur  in  der  Eichtung  nach  vorn  und  aussen  kann 
nach  Duchenne  der  Arm  durch  den  Supraspinatus,  wenn  auch  mit 
geringer  Kraft,  erhoben  werden.  Bei  Bewegungsversuchen  bleibt  der 
Delt.  schlaff,  während  man  ihn  bei  Anclrylose  des  Schultergelenkes 


Fig.  62. 

Bewegung  des  linken  Schulterblattes  bei 
Deltoideuslähmung.  die  eintritt,  sobald 
der  Kranke  sich  bemüht,  den  Arm  nach 
vorn  zu  erheben.     (Nach  Duchenne.) 


300 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


erfolglos  sich  contrahiren  sieht.  Die  passive  Beweglichkeit  ist  er- 
halten. Bei  länger  bestehender  Deltoideuslähmung  (besonders  bei 
gleichzeitiger  Lähmung  des  Supraspinatus)  wird  das  Schultergelenk 
schlotterig  und  man  kann  durch  den  atrophischen  Muskel  eine  tiefe 
Kinne  zwischen  Gelenkkopf  und  Pfanne  fühlen.  Besteht  Lähmung 
des  Delt.  und  des  Serratus,  so  lässt  sich  möglicherweise  letztere  durch 
Fehlen  der  elektrischen  Erregbarkeit  nachweisen.  Auch  muss  dann, 
wenn  die  Schultern  kräftig  nach  vorn  bewegt  werden,  die  an  dem 
Nachaussenrücken  des  an  den  Thorax  gedrückten  unteren  Scapula- 
winkels  kenntliche  Serratuscontraction  ausfallen.  Der  äussere  Winkel 

wird  dann  durch  den  Pector.  nach  vorn  ge- 
zogen, der  innere  Rand  entfernt  sich  vom 
Thorax.  Ist  auch  der  Pectoralis  gelähmt,  so 
bleibt  die  Schulter  vollkommen  ruhig. 

Bei  Parese  des  Deltoideus  suchen  die 
Kranken  die  Hebung  des  Armes  durch  He- 
bung der  Schulter  zu  unterstützen. 

Contractu r  des  Deltoideus  hat  die- 
selbe Wirkung  wie  Faradisation ,  auch  sie 
bringt  die  oben  beschriebene  fehlerhafte 
Stellung  der  Scapula  hervor. 

Der  M.  supraspinatus  (N.  suprasca- 
pularis  vom  5.  N.  cervicalis)  hebt  den  Arm 
schräg  nach  vorn  und  aussen  und  rotirt  ihn 
nach  innen.  Er  ist  demnach  ein  Auxiliar- 
muskel  des  Deltoideus.  Seine  Hauptaufgabe 
aber  scheint  darin  zu  bestehen,  dass  er  den 
Humeruskopf  während  der  Erhebung  des 
Armes  zur  Verticalen  fest  gegen  die  Pfanne 
drückt  und  die  Subluxation  nach  unten  ver- 
hindert. Seine  elektrische  Reizung  ist  nur  bei  Atrophie  des 
Cucullaris  ausführbar.  Ist  er  gelähmt,  so  kommt  die  erwähnte 
Subluxation  leicht  zu  Stande.  Solche  Kranke  können  diese  willkürlich 
durch  Contraction  des  Teres  maj.  bei  hängendem  Arme  herbeiführen. 
Auch  kommt  zwischen  Humerus  und  Scapula  viel  leichter  ein 
Schlottergelenk  zu  Stande,  wenn  ausser  dem  Deltoideus  auch  der 
Supraspinatus  atrophisch  ist. 

Die  Mm.  infraspinatus  (X.  suprascapul.)  und  teres  minor 
(X.  axillaris)  drehen  den  Arm  nach  aussen  (Rotator  hum.  post.),  der 
M.  subscapularis  (X.  subscapularis  sup.  vom  PL  brach.)  dreht  den 
Arm  nach  innen.    Die  Drehung  beträgt  aus  der  Ruhestellung  des 


Fig.  63. 

Fehlerhafte  Stellung  des  rechten 
Armes  und  der  rechten  Schulter 
bei  Contractur  der  vorderen  Del- 
toideusbündel  und  des  Subscapu- 
laris.   (Nach  Duchenne.) 


Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen.  301 

herabhängenden  Arms  ein  Achtel  des  Kreises,  ist  der  Arm  nach  innen 
gerollt,  so  beträgt  die  Drehung  nach  aussen  ein  Kreisviertel.  Ist 
der  Vorderarm  gebeugt,  so  betheiligt  er  sich  wie  ein  Zeiger  an  der 
Drehung  des  Oberarms.  Ist  der  Arm  gestreckt,  so  giebt  die  Bewe- 
gung der  Condylen  ein  Maass  der  Drehung.  Bei  erhobenem  Arme 
kann  der  Infraspinatus  auch  eine  abducirende  Wirkung  ausüben. 

Die  elektrische  Eeizung  dieser  Muskeln  ist  am  Gesunden 
nur  schwer  auszuführen.  Durch  Atrophie  des  Deltoideus  wird  der 
Infraspin.  zugänglicher. 

Sind  die  Auswärtsroller  gelähmt,  so  gewinnt  der  Subscapul. 
das  Ueb ergewicht  und  der  Arm  wird  dauernd  nach  innen  gerollt, 
umgekehrt  sind  die  Verhältnisse  bei  Lähmung  des  Subscapularis. 
Lähmung  der  Eotatoren  beeinträchtigt  Pronation  und  Supination  der 
Hand.  Bei  nach  innen  gerolltem  Arme  kann  der  Supin.  brevis  den 
Handteller  nur  nach  innen,  nicht  nach  vorn  wenden,  bei  nach  aus- 
wärts gerolltem  Arme  können  die  Pronatoren  den  Handteller  nach 
innen,  nicht  nach  hinten  wenden.  Die  Lähmung  des  Infraspinatus 
erschwert  beträchtlich  das  Schreiben.  Die  Kranken  schreiben  ein 
bis  zwei  Worte,  müssen  dann  mit  der  linken  Hand  das  Papier  nach 
links  ziehen  u.  s.  f.  Diese  Lähmung  verhindert  ferner  das  Ausziehen 
des  Fadens  beim  Sticken,  Nähen.  Bei  Lähmung  des  Subscapularis 
können  die  Kranken  die  Hand  nicht  auf  die  andere  Schulter  legen. 

Contractur  der  Einwärtsroller  wird  von  Lähmung  der  Aus- 
wärtsroller leicht  durch  das  Vorhandensein  der  passiven  Beweglich- 
keit im  letzteren  Falle  zu  unterscheiden  sein. 

Der  IL  latissimus  dorsi  (N.  subscapul.  inf.,  s.  longus,  s.  thora- 
cicodorsalis)  zieht  den  herabhängenden  Arm  nach  innen  und  hinten 
und  nähert  das  Schulterblatt,  dessen  Eand  der  Wirbelsäule  parallel 
bleibt,  der  Mittellinie,  neigt  bei  einseitiger  Wirkung  den  Eumpf 
etwas  zur  Seite,  richtet  ihn  bei  doppelseitiger  Wirkung  auf,  zieht 
den  erhobenen  Arm  herab,  oder  bewegt  bei  fixirtem  Arme  den  Eumpf. 

Die  directe  elektrische  Eeizung  des  Latiss.  ist  leicht  aus- 
führbar. 

Lähmung  des  Latiss.  hindert  die  erwähnten  Bewegungen  und 
verursacht  Verlust  der  militärischen  Haltung.  Die  Kranken  können 
die  Schultern  nicht  zurückziehen,  ohne  sie  zugleich  zu  heben. 

Der  M.  pectoralis  major  (Nn.  thoracic!  ant.  vom  PL  brach.) 
zieht  den  erhobenen  Arm  kraftvoll  herab  und  drückt  den  herab- 
hängenden fest  an  den  Thorax  in  der  Eichtung  von  oben-aussen 
nach  unten-innen.  Ist  der  Arm  fixirt,  so  zieht  der  Pector.  den  Eumpf 
heran.  Der  obere  Theil  des  Pector.  zieht  bei  herabhängendem  Arme 


;o2 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


das  Acromion  nach  vorn  und  oben  (beim  Tragen  von  Lasten,  beim 
Ausdrucke  der  Furcht,  der  Demuth,  beim  Frostschauer  u.  s.  w.),  er 
führt  den  erhobenen  Arm  bis  zur  Horizontalen  herab  von  hinten 
und  oben  nach  vorn  und  unten,  er  führt  den  horizontal  ausgestreckten 
Arm  nach  innen.  Der  untere  Theil  des  Pector.  zieht  bei  herab- 
hängendem Arme  das  Acromion  nach  vorn  und  unten,  er  vollendet 
die  vom  oberen  Theile  begonnene  Abwärtsführung  des  erhobenen 
Arms,  zieht  den  horizontal  ausgestreckten  Arm  nach  vorn  und  unten. 

Es  ergiebt  sich,  dass  bei  verschie- 
denen Bewegungen  die  beidenTheile 
des  Pectoralis  einzeln  thätig  sein 
müssen,  ähnlich  wie  dies  beim 
Deltoideus  der  Fall  ist. 


^jf}W* 


Fig.  64. 

Atrophie   der  Pectorales.     Auch,  die   Cucullares 
sind  geschwunden.    Infolge  dessen  ist  die  Schul- 
terecke gesunken  und  die  Brust  nach  vorn  concav 
geworden. 
(Nach  Duchenne.) 


Fig.  65. 
Fehlerhafte  Stellung  der  rechten  Schulter  bei 
einem  10 jähr.  Mädchen.  Die  Schulterecke  und 
das  ganze  Schulterblatt  sind  gehoben  durch  se- 
cundäre  Contractur  des  Cucullaris,  die  Folge 
der  Atrophie  der  Niederzieher  (Latiss.  dorssi  und 
Pectorales)  ist.  Ausserdem  sind  Deltoideus  und 
Oberarmmuskeln  geschwunden. 
(Nach  Duchenne.) 

Die  directe  elektrische  Eeizung  des  Pector.  maj.  ist  leicht 
ausführbar,  zuweilen  gelingt  es,  den  Nerven  über  der  Clavicula  zu 
treffen. 

Bei  Lähmung  des  Pector.  maj.  ist  die  Fähigkeit,  die  Hand 
auf  die  gegenüberliegende  Schulter  zu  legen,  nicht  aufgehoben.  Diese 


Muskeln,  die  die  Schulter  und  den  Oberarm  bewegen.  303 

Bewegung-  ist  vielmehr  eine  Function  der  vorderen  Deltoideusbündel, 
bei  deren  Lähmung  sie  ausfallt.  Die  Lähmung  des  Pector.  hindert 
die  horizontale  Bewegung  des  ausgestreckten  Arms  nach  der  Mittel- 
linie nicht,  der  Deltoideus  kann  sie  ausführen,  sie  ermangelt  dann 
aber  der  Kraft.  Ebenso  kann  der  erhobene  Arm  durch  Nachlassen 
der  Contraction  des  Deltoideus  trotz  Lähmung  des  Pector.  und  des 
Latissim.  gesenkt,  ja  durch  den  Teres  maj.  und  die  Ehomboidei  mit 
einer  gewissen  Kraft  herabgeführt  werden,  immerhin  ist  diese  Kraft 
gering,  wird  ein  kräftiger  Säbelhieb  und  dergl.  unmöglich.  Nach 
alledem  sind  bei  Lähmung  des  Pector.  maj.  noch  alle  Bewegungen 
möglich.  Dem  entspricht,  dass  bei  dem  nicht  selten  beobachteten 
angeborenen  Mangel  des  Muskels  kein  Functionsdefect  deutlich  ist. 
Sind  die  Pector.  und  der  Latiss.  gelähmt,  so  fehlen  die  das 
Schulterblatt  herabziehenden  Kräfte,  die  mittlere  Portion  des  Cucul- 
laris  gewinnt  das  Uebergewicht  und  es  entsteht  eine  abnorme  Schulter- 
haltung,  indem  der  letztere  Muskel  das  Acromion  in  die  Höhe  zieht. 
Krämpfe  des  Latiss.  oder  Pectoralis  werden  der  Diagnose  keine 
Schwierigkeiten  machen. 

Der  M.  teres  major  (N.  subscapul.  med.)  hilft  den  erhobenen 
Arm  herabziehen  und  dann  an  den  Thorax  drücken,  ihn  um  weniges 
nach  hinten  bewegend.  Er  hilft  kräftig  die  Schulter  heben,  wenn 
der  Arm  dem  Thorax  anliegt.  Bei  elektrischer  E  e .  i  z  u  n  g  nähert 
er  die  innere  Fläche  des  Arms  und  den  Axillarrand  der  Scapula 
einander  mit  Erhebung  des  Acromion.  Hieraus  ergiebt  sich,  dass 
er  bei  Mitwirkung  anderer  Muskeln  kräftig  auf  den  Arm  wirken 
kann.  Sein  Gespann  ist  der  Bhomboideus  maj.,  dieser  hält  das 
Schulterblatt  und  nun  kann  der  Teres  maj.  den  Arm  kräftig  bewegen 
(vergl.  S.  294).  Drücken  gleichzeitig  die  unteren  Bündel  des  Pector. 
und  des  Latiss.  das  Acromion  herab,  so  wird  diese  Thätigkeit  des 
Teres  maj.  erleichtert. 

Eine  drehende  Wirkung  scheint  der  Teres  maj.  kaum  zu  be- 
sitzen. Aniscalptor  ist  der  Teres  maj.  nicht,  dies  Amt  versehen  Del- 
toideus und  Subscapularis  gemeinsam. 

Die  Lähmung  des  Teres  maj.  scheint  keine  wesentlichen  Störun- 
gen hervorzurufen,  da  Pector.  und  Latiss.  die  Herabziehung  des  Arms 
auch  ohne  ihn  kräftig  genug  ausführen.  Man  kann  sich  durch  das  Ge- 
fühl überzeugen,  ob  die  Contraction  des  Teres  vorhanden  ist  oder  nicht. 
Bei  den  Bewegungen  im  Schultergelenke  sind  endlich  betheiligt 
das  Caput  longum  niusc.  tricipitis  (N.  radialis)  und  der  M. 
coracobrachialis  (N.  musculocut).  Beide  contraliiren  sich  kräftig 
beim  Herabziehen  des  Arms  und  drücken  das  Caput  humeri  in  die 


304 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


Pfanne  der  Scapula  hinein.  Sie  wirken  dann  dem  Latiss.  und  Pector. 
entgegen,  die  denHumerus  nach  unten  zu  subluxiren  streben.  Auch  der 
Deltoid.  und  der  Supraspin.  nähern  den  Humeruskopf  der  Pfanne,  sie 
sind  aber  Antagonisten  der  Herabzieher.  Sind  die  Herabzieher  des 
Arms  atrophisch,  so  sieht  man,  wenn  die  Kranken  den  emporgehaltenen 
Arm  herabzuziehen  versuchen,  den  Coracobrach.  und  das  Caput  long, 
tric.  sich  contrahiren.  Sind  letztere  gelähmt,  so  wird  bei  kräfti- 
ger Herabziehung  des  Armes  der  Humeruskopf  nach  unten  gezogen, 
noch  stärker  geschieht  dies,  wenn  gleichzeitig  Deltoid,  und  Supraspin. 
gelähmt  sind. 


Fig.  66.  Fig.  67. 

Subluxation  des  Humerus  nach  vorn  durch  isolirte  Wirkung  des  Pector  maj.  (Fig.  66);  Deltoid., 
Supra-  und  Infraspin.,  Teresmin.,  Triceps  sind  complet  atrophisch.  Pector.  maj.  und  Teres  maj.  sind 
erhalten  und  in  Contractur.  Von  den  Armmuskeln  sind  nur  die  Vorderarmbeuger  erhalten.  Treten 
diese  in  Thätigkeit,  so  kehrt  der  Humeruskopf  in  die  Pfanne  zurück  (Fig. 67).   Poliomyelitis  adultorum. 

Sind  Deltoideus  und  Triceps  gelähmt  und  sind  die  den  Humerus 
nach  vorn  ziehenden  Muskeln,  besonders  der  Pector.,  erhalten,  so  wird 
das  Caput  humeri  nach  vorn  subluxirt. 

q.  Muskeln,  die  den  Vorderarm  bewegen. 

Der  M.  triceps  brachii  und  der  M.  anconaeus  quartus 
'<N.  radialis)  strecken  den  Vorderarm  aus.  Die  drei  Theile  jenes  sind 
jederzeit  leicht  direct  elektrisch  zu  reizen,  indirect,  indem  man 


Muskeln,  die  den  Vorderarm  bewegen. 


305 


den  N.  rad.  in  der  Achselhöhle  aufsucht.    Lähmung  dieser  Muskeln 
bewirkt,  dass  der  Vorderarm  nicht  mehr  gegen  einen  Widerstand 


M.  triceps  (caput  longum) 


M.  triceps  (caput  intern.) 


Nerv,  ulnaris 


M.  flexor  carpi  ulnaris 

M.  fies,  digitor.  commun. 
profund. 


M.  Hex.  digitor.  sublim, 
(digiti  II  et  III) 

M.  flex.  digit.  subl.  (digit. 
indicis  et  minimi) 

Nerv,  ulnaris 


M.  palmaris  brev. 

M.  abductor  digiti  min. 

M.  flexor  digit.  min. 

M.  opponens  digit.  min. 


Mm.  lumbricales 


M.  deltoideus 
(vord.  Hälfte) 


Nerv,  musculo- 
cutaneus 

M.  biceps 
brachii 

M.  brach, 
internus 


Nerv,  medianus 
M.  supinator  longus 
M.  pronator  teres 
M.  flex.  carpi  radialis 

M.  flex.  digitor.  sublim. 

M.  flex.  pollicis  longus 
Nerv,  medianus 

M.  abductor  pollic.  brev. 
opponens  pollicis 

M.  flex,  poll.  brev. 

M.  adductor  pollic. 


Fig.  68. 
Motorische  Punkte  an  der  Innenseite  des  Armes.    (Nach  Erb.) 

Und  bei  erhobenem  Arme  gestreckt  werden  kann.  Bei  herabhängen- 
dem Arme  und  ohne  Widerstand  besorgt  die  Schwere  die  Streckung. 


Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.. 


20 


306 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


Die  Beugebewegungen  werden  bei  Lähmung  der  Strecker  brüsk 
und  schiessen  leicht  über  das  Ziel  hinaus.  Bei  partieller  Atrophie 
ergiebt  sich,  dass  die  Streckwirkung  des  Caput  longum  und  des  Ancon. 
quart.  nur  schwach  ist,  so  dass  die  Hauptarbeit  dem  Caput  int.  und 
dem  C.  ext    die  identisch  wirken,  zukommt. 


M.  deltoideus  (hintere 
Hälfte 


M.  extensor  digit.f 
communis        1 

M.  extensor  indicis 


M.  abductor  pollic.  long.  - 
M.  extensor  rollic.  brev. 


M.  inteross.  dorsal.  ( 
I  et  II  1 


N.  radialis 
M.  brachial,  intern. 

M.  supinator  long. 
M.  radial,  ext.  long. 
M.  radial,  ext.  brev. 


M.  triceps  (caput  longum) 


|M.triceps(caput]extern.) 


M.  ulnar,  extern. 
M.  supinat.  brev. 

M.  extens.  digiti  minim. 
M.  extens.  indicis 

M.  extens.  poll.  long. 


M.  abduct.  digit.  min. 

1  M.  inteross.  dorsal. 
/  III  et  IV 


Fig.  69. 
Motorische  Punkte  an  der  Aussenseite  des  Armes.    (Nach  Erb.) 

Der  M.  brachialis  int.  (N.  musculocutaneus  und  N.  rad.)  beugt 
den  Vorderarm  ohne  ihn  zu  drehen,  der  M.  biceps  brachii  (N. 
musculocut.)  beugt  und  supinirt  zugleich  den  pronirten  Vorderarm, 


Muskeln,  die  den  Vorderarm  bewegen. 


307 


der  M.  bracliioradialis  s.  supinator  longns  (X.  radialis)  beugt 
und  prouirt  zugleich  den  supinirteu  Vorderarm.  Der  31.  supinator 
brevis  (X.  rad.),  dessen 
Function  man  bei  ge- 
strecktem Vorderarme 
prüft,  bewirkt  nur  Supi- 
nation.  der  M.  p  r  o  n  a  t  o  r 
t  eres  (X.  medianus)  pro- 
nirt  und  beugt  etwas, 
der  M.pronator  qua- 
d  r  a  t  u  s  (X.  med.)  pro- 
nirt  nur. 

Wegen  elektri- 
scher Eeizung  dieser 
Muskeln  siehe  Figg.  68 
und  69. 

Lähmungen  dieser 
Muskeln  sind  meist 
leicht  zu  erkennen.  Nach 
Duchenne  kann,  wenn 
der  Sup.  brevis  gelähmt 
ist,  auch  bei  gestreck- 
tem Vorderarme  eine 
sehwache  Supination 
durch  den  Biceps  aus- 
geführt w  erden.  Bei 
gebeugtem  Vorderarme 
supinirt  der  Biceps 
kräftig.  Ist  der  Biceps 
allein  gelähmt,  so  kann 
der  Vorderarm  noch 
kräftig  gebeugt  werden ; 
die  Kranken  ermüden 
aber  leicht  und  empfin- 
den Schmerz  in  der 
Schulter,  weil  das  Caput 
long,  bicip.  nicht  mehr 
den  Humeruskopf  gegen 
die  Pfanne  zieht.  Die 
Lähmung  des  Brachio- 
radialis     erkennt     man 


Fig.  70. 

Verbreiteter  Muskelschwund  "bei  einem  jugendlichen  Individuum 
(juvenile  Muskelatrophie).  Die  Mm.  supin.  long,  sind  gänzlich 
gesclrwunden ,  -während  alle  anderen  Yorderarmmuskeln  erhalten 
sind.  Ausserdem  Atrophie  der  Pector.  und  der  Bauchmuskeln, 
der  Cucull.,  der  Serrati,  der  Latiss.  dors.,  des  linken_  Biceps  und 
des  rechten  Triceps,  des  rechten  Deltoid.,  endlich  eines  grossen 
Theils  der  Oberschenkelmuskeln.  AA  =  vorspringender  innerer 
Winkel  des  bei  Hebung  der  Arme  flügeli örmig  abstehenden  Schul- 
terblattes.   Starke  Lendenlordose.    (Nach  Duchenne.) 

20* 


308 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


leicht  daran,  dass  sein  vorspringender  Muskelbaucli  bei  Beugung 
des  Vorderarms  mit  Widerstand  fehlt.  Seine  Atrophie  giebt  dem 
Vorderarme  eine  spindelförmige  Gestalt  (vergl.  Fig.  70). 


r.  Die  Muskeln,  die  die  Hand  und  die  Finger  bewegen.1) 

Der  M.  radialis  longus  s.  Extensor  carpi  long.  (N.  rad.)  hebt 
die  Hand  radialwärts,  der  M.  radialis  brevis  (N.  rad.)  hebt  sie 
ohne  Seitwärtsbewegung,  der  M.  ulnar is  externus  (N.  rad.)  hebt 
sie  ulnarwärts.  Nur  bei  sehr  kräftiger  Streckung  wirken  alle  drei 
gemeinsam. 

Die  Herumführung  der  Hand  in  einem  nach  oben  convexen  Halb- 
kreis, die  durch  successive  Thätigkeit  aller  drei  Muskeln  ausge- 
führt wird,  kann  bei  Lähmung  des  Ead.  brevis  nur  brüsk 
und  stossend  zu  Stande  kommen. 


Fig.  72. 
Fehlerhafte  Stellung  der       Fehlerhafte  Stellung  (Herabhängen)   der  Hand  bei  Lähmung  der  Hand- 
Hand   bei  Atrophie   des  Strecker  durch  Läsion  des  N.  radialis.    (Nach  Seeligmüller.) 
M.  rad.  long. 
(Nach  Duchenne.) 

Bei  isolirter  Lähmung  des  Ead.  long,  oder  Uln.  ext.  fällt 
die  betreffende  Seitwärts-Bewegung  aus.  Bei  Lähmung  des  Ead.  long, 
nimmt  die  Hand  eine  ulnarwärts  geneigte  Stellung  ein,  die  mit  der 
Zeit  durch  Contractur  des  Uln.  ext.  befestigt  wird  (vgl.  Fig.  71). 
Ist  auch  der  Ead.  brevis  gelähmt,  so  nimmt  die  fehlerhafte  Stellung- 
beträchtlich  zu.  Die  isolirte  Lähmung  des  Uln.  ext.  bewirkt  zwar 
auch  eine  entsprechende  Deformität,  aber  bei  Weitem  nicht  eine  so 
wesentliche  Functionstörung  wie  die  Lähmung  des  Ead.  longus.  Sind 
alle  Strecker  gelähmt,  so  kann  die  Hand  gar  nicht  gehoben  werden, 
hängt  herab.    Da  zu  einer  kraftvollen  Beugung  der  Finger  Fixirung 


1)  Bei  der  Hand  heisst  abduciren :  radialwärts  (d.  i.  nach  aussen)  bewegen, 
adduciren:  ulnarwärts  (d.  i.  nacb  innen)  bewegen,  vorn:  palmarwärts,  hinten: 
dorsalwärts. 


Muskeln,  die  die  Hand  und  die  Finger  bewegen.  309 

des  Handgelenks  in  Extension  nöthig  ist,  leidet  bei  Lähmung  der 
Handstrecker  auch  die  Beugung  der  Finger  Noth,  so  dass  die  Kran- 
ken einen  kräftigen  Druck  der  Hand  nicht  ausüben  können. 

Der  M.  radialis  internus  (N.  medianus)  beugt  die  Hand, 
pronirt  sie  etwas  und  neigt  mehr  den  äusseren  Rand,  so  dass  die 
Handfläche  leicht  ulnar wärts  gerichtet  ist,  Der  M.  palmaris  lon- 
gus  (N.  med.)  beugt  die  Hand  direct  ohne  Pronation.  Der  M.  ul- 
naris  internus  (N.  ulnaris)  beugt  die  Hand,  den  ulnaren  Rand 
kräftig  mit  sich  ziehend,  so  dass  die  Handfläche  nach  aussen  ge- 
wendet wird  und  der  fünfte  Metacarpusknochen  aus  der  Reihe  her- 
vortritt (wie  beim  Violinspielen  an  der  linken  Hand).  Je  stärker 
die  Hand  gebeugt  wird,  um  so  weniger  ist  eine  Adduction  oder  Ab- 
duction  möglich.  Letztere  Functionen  kommen  daher  den  Beugern 
der  Hand  nicht  zu. 

Bei  Lähmung  der  Handbeuger  tritt  keine  fehlerhafte  Hand- 
stellung ein,  da  die  Schwere  der  Hand  den  Streckern  Widerstand 
leistet.  Die  Streckung  der  Finger  wird  erschwert  und  verbindet 
sich  mit  Streckung  der  Hand,  sobald  das  Handgelenk  nicht  mehr 
durch  die  Beuger  fixirt  wird. 

Die  Beuger  der  Hand  helfen  wie  alle  Muskeln,  die  am  Condyl. 
int.  hum.  entspringen,  den  Vorderarm  beugen;  sind  die  eigentlichen 
Vorder  armbeuger  gelähmt,  so  vermögen  jene  noch  eine  schwache 
Flexion  im  Cubitalgelenke  zu  bewirken. 

Der  M.  extensor  digitorum  communis  (N.  rad.),  sowie  die 
Mm.  extens.  indicis  und  digiti  quinti  (N.  rad.)  strecken  die 
ersten  Phalangen  der  vier  Finger  kräftig  und  entfernen  die  Finger 
etwas  von  einander,  derart,  dass  der  Medius  direct  gehoben,  der  In- 
dex dem  Daumen  genähert  wird,  der  vierte  und  fünfte  Finger  ulnar- 
wärts  bewegt  werden.  Durch  die  isolirte  Contraction  des  Extens. 
ind.  proprius  wird  das  erste  Glied  des  Zeigefingers  gestreckt  und 
dem  Mittelfinger  genähert,  so  dass  der  Extens.  propr.  adductorisch, 
das  Bündel  des  Extens.  comm.  für  den  Index  abductorisch  wirkt. 
Contrahiren  sich  die  langen  Filigerstrecker  allein  (wie  bei  localisirter 
Faradisation),  so  strecken  sie  auch  das  Handgelenk  etwas  und  es 
werden  die  beiden  letzten  Phalangen,  sobald  die  Strecker  die  ersten 
Phalangen  über  den  Metacarpus  erheben,  durch  die  langen  Finger- 
beuger gebeugt. 

Die  Mm.  flexores  digitorum  sublimis  (N.  med.)  und  p  r  o- 
fundus  (N.  med.  und  N.  uln.)  beugen  die  zweite,  beziehungsweise 
die  dritte  Phalanx,  die  erste  nur  indirect  bei  maximaler  Contraction. 

Die  Mm.  interossei  ext.  und  int.  (N.  ulnaris)  nähern  und  ent- 


310 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


fernen  die  Finger  von  der  Mittellinie,  sie  beugen  die  erste  Phalanx 
und  strecken  gleichzeitig  die  zwei  letzten  Phalangen.  In  letzterer 
Hinsicht  werden  sie  von  den  Mm.  lumbricales  (N.  med.  und  N. 
uln.)  unterstützt,  die  ebenfalls  die  erste  Phalanx  beugen,  die  zweite 
und  dritte  strecken  und  deren  erster  gleichzeitig  abducirend  wirkt. 
Diejenigen  Mm.  interossei,  die  die  Finger  vom  Ulnarrande  der  Hand 
entfernen,  bewirken  diese  Abductionsbewegung  vollständiger  als  die 
Streckung  der  zweiten  und  dritten  Phalanx,  umgekehrt  wird  diese 
Streckbewegung  kräftiger  von  den  die  Finger  adducirenden  Interossei 
ausgeführt.  Die  kleinen  Handmuskeln  können  die  beiden  letzten 
Phalangen  nicht  strecken,  ohne  die  ersten  zu  beugen,  und  umgekehrt. 

Die  Muskeln  des  Hypothenar,  Mm.  abductor,  flexor,  oppo- 
nens  digiti  quinti  (N.  ulnaris),  führen  die  ihren  Namen  entspre- 
chenden Bewegungen  aus. 

Der  M.  palmar is  brevis  (N.  ulnaris)  legt  die  Haut  des  Klein- 
fingerballens in  Falten. 


Fig.  73. 

Wie  man  bei  Lähmung  der  langen  Fingerstrecker  die  ersten  Phalangen  unterstützen  muss ,  um  zu 
zeigen,  dass  die  Streckung  der  zweiten  und  dritten  Phalanx  ungehindert  ist.    (Nach  Duchenne.) 

Bei  Lähmung  der  langen  Fingerstrecker  kann  die  erste 
Phalanx  nicht  gestreckt  werden,  wird  sie  aber  passiv  gestreckt,  so 
geht  die  active  Streckung  der  zwei  letzten  Phalangen  ohne  Schwierig- 
keit vor  sich.  Die  Beugung  der  zweiten  und  dritten  Phalanx  ge- 
schieht kraftlos  und  ungenügend,  vollzieht  sich  aber  ebenfalls  in  nor- 
maler Weise,  sobald  die  erste  Phalanx  passiv  gestreckt  wird.  Die 
Kranken  können  nur  schwer  schreiben  oder  zeichnen,  sie  können  nur 
1  bis  ll/2  Cm.  grosse  Buchstaben  oder  Striche  machen. 

Man  muss  sich  hüten,  eine  Lähmung  der  langen  Fingerstrecker 


Muskeln,  die  die  Hand  und  die  Finger  bewegen.  311 

da  zu  diagnosticiren,  wo  durch  adhäsive  Entzündung  der  Sehnen- 
scheiden am  Handrücken  die  Thätigkeit  der  Streckmuskeln  gehemmt 
wird.  In  dieser  Weise  scheinen  besonders  die  Sehnen,  die  zum  dritten 
bis  fünften  Finger  gehen,  zu  erkranken.  Man  erkennt  diese  Pseudo- 
lähmung  an  der  Geschwulst  am  Handrücken  und  an  der  erfolg- 
losen Contraction  der  betroffenen  Bündel  bei  elektrischer  Reizung. 
Verdickung  und  Anschwellung  der  Sehnen  über  dem  Handgelenke 
findet  man  bei  jeder  älteren  Radialislähmung,  sie  ist  eine  Folge  der 
mechanischen  Zerrung  der  Sehnen  bei  dauernd  herabhängender  Hand 
und  darf  nicht  mit  den  eben  erwähnten  entzündlichen  Veränderungen 
am  Handrücken  verwechselt  werden. 

Die  Lähmung  der  langen  Fingerbeuger  hindert  die  Beu- 
gung der  ersten  Phalanx  nicht,  die  zweite  und  die  dritte  Phalanx 
aber  stehen  in  dauernder  Extension.  Der  Gebrauch  der  Hand  ist  sehr 
behindert.  Die  Kranken  können  z.  B.  bei  Lähmung  des  Flex.  prof. 
keinen  kräftigen  Ton  auf  dem  Ciavier  anschlagen,  die  Feder  nicht 
mit  den  Fingerspitzen  halten.  Jeder  Druck  auf  die  Fingerspitzen 
bewirkt  Hyperextension  der  letzten  Phalangen.  Letztere  tritt  auch 
nach  längerer  Dauer  der  Lähmung  in  der  Ruhe  ein.  Ist  nur  der 
Flex.  sublim,  gelähmt,  so  wird  die  zweite  Phalanx  hyperextendirt, 
während  die  dritte  flectirt  ist. 


Fig.  74. 

Fehlerhafte  Stellung  der  Hand  nach  Durchschneidung  des  N.  uln.  am  Vorderarm. 
(Nach  Duchenne.) 

Sind  die  Interossei  und  Lumbricales  gelähmt  oder  atro- 
phisch, so  wird  die  erste  Phalanx  gestreckt,  die  zweite  und  dritte 
gebeugt,  mit  der  Zeit  wird  die  Deformität  zur  Kralle  (main  en  griffe). 
die  Köpfchen  der  ersten  Fingerglieder  werden  nach  vorn  subluxirt, 
die  Finger  sind  leicht  gespreizt  und  die  Sehnen  der  langen  Strecker 
springen  am  Handrücken,  die  der  langen  Beuger  in  der  Palma  stark 
hervor.  Fig.  74  stellt  den  Anfang  der  Krallenbildung  durch  Läh- 
mung der  Interossei  (bei  Läsion  des  N.  umaris)  dar.  lEan  sieht,  dass 


312  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung1. 

der  zweite  und  der  dritte  Finger  weniger  betroffen  sind  als  der  vierte 
und  der  fünfte,  dort  wirken  der  deformirenden  Thätigkeit  der  langen 
Fingerniuskeln  die  vom  Medianus  versorgten,  gesunden  Lumbricales 
entgegen.  Fig.  75  stellt  die  vollendete  Klauenhand  dar.  Bei  Parese 
der  Interossei  sind  zwar  Streckung  und  Beugung  der  Finger  noch 
möglich,  die  Annäherung  der  Finger  an  einander  aber  nicht. 


Fig.  75. 

Vollendete  Klauenhand  bei  alter,  completer  Ulnarisläsion.    A  =  Narbe  der  Verletzung ,  die  den 
N.  uln.  getroffen  hat.    B  =  subluxirte  erste  Phalanx.    (Nach  Duchenne.) 

Der  M.  extensor  pollicis  longus  (N.  rad.)  bewegt  den  ersten 
Metacarpusknochen  nach  hinten  und  nach  dem  zweiten  Metacarpus- 
knochen  zu,  streckt  beide  Phalangen,  der  M.  extensor  poll.  bre- 
vis  (N.  rad.)  bewegt  den  ersten  Metacarpusknochen  direct  nach 
aussen,  streckt  die  erste,  lässt  die  zweite  Phalanx  gebeugt,  der  M. 
abductor  poll.  longus  (N.  rad.)  bewegt  den  ersten  Metacarpus- 
knochen nach  aussen  und  vorn  bei  leichter  Beugung  der  Phalangen. 
Bei  maximaler  Contraction  bewirken  diese  Muskeln  auch  Bewegungen 
im  Handgelenke,  der  Ext.  long.  Abduction  und  Extension,  der  Ext. 
brev.  nur  Abduction,  der  Abduct.  long.  Abduction  und  Flexion,  es 
contrahirt  sich  daher  antagonistisch  mit  diesen  Muskeln  der  Ulnaris 
externus.  Mit  der  Supination  der  Hand  haben  die  Daumemnuskeln 
nichts  zu  thun. 

Der  M.  flexor  poll.  longus  (N.  med.)  beugt  die  zweite  Pha- 
lanx des  Daumens,  nach  Analogie  des  Flex.  dig.  profundus. 

Die  Muskeln  des  Daumenballens :  M  m.  a  b  d  u  c  t  o  r  b  r  e  v.,  f  1  e  x  o  r 
brevis,  adductor  poll.,  theilen  sich  in  zwei  Gruppen,  je  nach- 
dem sie  sich  an  der  radialen  Seite  der  ersten  Phalanx  und  des  Me- 
tacarpusknochens,  oder  an  der  ulnaren  Seite  ansetzen. 

Die  erstere  Gruppe  (Abductor  brevis  und  äusserer  Kopf 
des  Flex.  brevis  [N.  med.])  bewegt  den  ersten  Metacarpusknochen 


Muskeln,  die  die  Hand  und  die  Finger  bewegen. 


313 


nach  vorn  und  innen,  beugt  die  erste  Phalanx  und  dreht  sie,  so  dass 
ihre  Palmarfläche  nach  hinten  sieht,  streckt  die  zweite  Phalanx. 

Die  andere  Gruppe  (Adductor  pollicis  und  innerer  Kopf 
des  Flex.  brevis  [N.  uln.])  nähert  den  ersten  Metacarpusknochen 
dem  zweiten,  so  dass  jener  sich  diesem  von  vorn  und  aussen  anlegt. 
Dabei  ist  die  zweite  Phalanx  gestreckt,  die  erste  leicht  gebeugt  und 
nach  hinten  innen  gewandt. 

Der  M.  o  p  p  o  n  e  n  s  p  o  1 1.  (N.  med.)  bewegt  den  ersten  Meta- 
carpusknochen nach  vorn  und  innen,  so  dass  dieser  dem  zweiten 
direct  gegenüber  steht,  auf  die  Phalangen  wirkt  er  nicht.  Er  oppo- 
nirt  weniger  kräftig  als  der  Abduct.  brev.  und  Flexor  brev.  externus. 

Demnach  sind  drei  Muskeln  Beuger  und  Opponenten  des  ersten 
Metacarpusknochens :  die  Mm.  opponens,  abductor  brev.  und  der 
äussere  Kopf  des  Flex.  brevis.  Die  Mm.  abductor  und  flexor  brevis, 
der  M.  adductor  wirken  auf  die  beiden  Phalangen  wie  die  Interossei 
auf  die  übrigen  Finger,  indem  sie  zugleich  die  erste  Phalanx  beugen, 
die  zweite  strecken,  ab-  und  adduciren. 


Fig.  76. 
Normale  Stellung  des  Daumens.    (Xach  Duchenne.) 

Die  Extension  der  zweiten  Phalanx  kann  bewirkt  werden  durch 
den  Extens.  long,  mit  Streckung  des  Metacarpusknochens  und  der 
ersten  Phalanx,  durch  den  Adductor  mit  Heranziehung  des  ersten 
an  den  zweiten  Metacarpusknochen  und  Drehung  der  ersten  Phalanx 
nach  innen  hinten,  durch  den  Abductor  und  Flexor  brevis  mit  Beu- 
gung des  ersten  Metacarpusknochens  und  der  ersten  Phalanx,  dem- 
nach bei  jeder  Stellung  des  Daumens.  Die  normale  Stellung  des 
Daumens  wird  durch  den  Tonus  aller  seiner  Muskeln  bewirkt. 

Bei  Lähmung  des  Abductor  long,  und  Extensor  brev. 
steht  der  Daumen  in  Adduction,  so  dass  er  in  die  Hohlhand  fällt 
und  die  Beugung  der  Finger  hindert,    Ist  nur  einer  der  genannten 


314 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung1. 


Muskeln  gelähmt,  so  ist  die  Störung  viel  geringer,  da  sie  einander 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  vertreten  können.  Bei  Lähmung  des 
Extens.brev.  wird  besonders  die  erste  Phalanx  durch  das  Ueberge wicht 
der  Flexoren  gebeugt.  Diese  Lähmung  ist  daher  störender  als  die 
des  Abduct.  longus. 

Bei  Lähmung  des  Exten s.  long,  ist  der  erste  Metacarpus- 
knochen  mehr  nach  vorn  und  innen  gestellt,  die  zweite  Phalanx 
befindet  sich  während  der  Euhe  in  dauernder  Beugung.  Wesent- 
liche Störungen  beim  Schreiben,  Zeichnen  u.  s.  w.  bewirkt  diese  Läh- 
mung nicht.  Nur  beim  Gebrauche  der  Scheere  und  dergl.  sind  die 
Kranken  behindert,  da  die  zweite  Phalanx  nicht  gleichzeitig  mit  der 
ersten  gestreckt  werden  kann. 


Fehlerhafte  Stellung  des  Daumens 
bei  Lähmung  des  Extens.  brev.  und 

Abductor  long.  poll. 

(Nach  Duchenne.) 


Fig.  78. 

Fehlerhafte  Stellung  des  Daumens  bei  Atrophie  der 

Thenarmuskeln  (Affenhand). 

(Nach  Duchenne.) 


Bei  Lähmung  des  Flexor  long,  kann  die  zweite  Phalanx 
nicht  gebeugt  werden.  Ein  Druck  auf  ihre  Pulpa  bewirkt  Hyper- 
extension.  "Während  grobe  Arbeit  wohl  möglich  ist,  treten  Störungen 
beim  Schreiben,  Zeichnen,  Xähen,  Ciavierspielen  u.  s.  w,  ein. 

Sind  die  Muskeln  des  Daumenbällens  gelähmt,  so  ge- 
winnt der  Extens.  long,  das  Uebergewicht  und  der  Daumen  stellt 
sich  in  Extension,  so  dass  der  erste  Metacarpusknochen  in  der  Ebene 
der  anderen  steht  und  seine  Dorsalfläche  gerade  nach  hinten,  wie 
die  der  übrigen  Finger,  gerichtet  ist.  Die  Opposition  ist  nicht  mög- 
lich; ebensowenig  die  Beugung,  trotz  des  Abduct.  long.,  und  die  iso- 
lirte  Streckung  der  zweiten  Phalanx,  denn  bei  jedem  Streckversuche 
bewegt  sich  der  ganze  Daumen.  Durch  den  Adductor  gelingt  es 
noch,  Gegenstände  zwischen  dem  Daumen  und  den  vier  Fingern  fest- 
zuhalten. 

Bei  Lähmung  des  Abductor  brevis  und  Opponens  ist 


Muskeln,  die  die  Haud  und  die  Finger  bewegen. 


315 


die  Opposition  noch  durch  den  Flexor  brev.  und  die  Zurückführung 
aus  der  Opposition  durch  den  Abduct.  long,  möglich,  da  aber  die 
Beugung  des  ersten  Metacarpusknochens  dabei  ungenügend  ist,  kann 
der  Daumen  die  Spitzen  der  anderen  Finger  nicht  mehr  berühren, 
ohne  dass  diese  im  zweiten  und  dritten  Gelenke  gebeugt  werden. 
Diese  Lähmung  erschwert  das  Schreiben  und  andere  Hantirungen 
beträchtlich. 


Atrophie  dos  Abduct.  brev-.  und  Oppon.  poll.    Der  erste  Metacarpusknochen  ist  dem  zweiten  genähert. 

(Nach  Duchenne.) 


Fig.  80. 
Hand  eines  Kranken ,   dessen  Thenarmuskeln  atrophisch  sind  und  der  trotzdem  den  Daumen  den 
anderen  Fingern  opponiren  -will.     Der  Flex.  poll.  long,  beugt  die  zweite  Daumenphalanx ,   die  langen 
Beuger  die  zweite  und  dritte  Phalanx  des  vierten  Fingers,  der  Metacarpus  des  Daumens  bleibt  unbe- 
wegt.   (Nach  Duchenne.) 


Fig.  81. 

Hand  eines  Kranken,   dessen  Abduct.  brev.  und  Oppon.  poll.  atrophisch  sind.    Bei  Streckung  der 

zweiten  und  dritten  Phalanx  des  zweiten  und  dritten  Fingers  kann  die  Spitze  des  Daumens  die  Spitze 

jener  Finger  nicht  erreichen.    Nur  bei  Beugung  der  Phalangen  gelingt  es.    (Nach  Duchenne.) 

Bei  Lähmung  des  Flexor  brevis  ist  die  Opposition  gegen 
den  zweiten  und  dritten  Finger  in  normaler  Weise  möglich,  dagegen 


316  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

nicht  gegen  den  vierten  und  fünften  Finger,  der  Daumen  erreicht 
die  letzteren  nur,  wenn  diese  im  zweiten  und  dritten  Gelenke  gebeugt, 
im  ersten  gestreckt  sind.  Der  Gebrauch  der  Hand  ist  nicht  wesent- 
lich gestört,  die  Kranken  können  schreiben,  zeichnen,  nähen  u.  s.  w. 
Bei  Lähmung  des  Adductor  steht  der  erste  Metacarpus- 
knochen  weiter  als  normal  vom  zweiten  ab  und  kann  diesem  in  der 
Beugestellung  (bei  gleichzeitiger  Lähmung  des  inneren  Kopfes  des 
Flex.  brev.)  nicht  genähert  werden.  Es  gelingt  daher  dem  Kranken 
nicht,  einen  Stock,  den  Säbel  oder  dergl.  festzuhalten.  Ein  Feilen- 
hauer, bei  dem  (durch  Blei)  der  Adductor  und  ein  Theil  des  Flex. 
brev.  der  linken  Hand  isolirt  gelähmt  waren,  konnte  den  Meissel 
mit  der  linken  Hand  nicht  mehr  festhalten,  war  daher  arbeitunfähig. 
Gegen  den  zweiten  und  dritten  Finger  konnte  er  den  Daumen  gut 
opponiren,  gegen  den  vierten  und  fünften  nur  mit  Mühe  und  unge- 
nügend. Der  gegen  den  fünften  Finger  gerichtete  Daumen  Hess  sich 
mit  geringer  Anstrengung  zurückdrängen. 


Die  Muskeln  des  Beines. 

s.  Die  Muskeln,  die  Bewegungen  im  Hüftgelenke 
verursachen. 

Der  M.  glutaeus  maximus  (N.  glutaeus  inf.  vom  PL  sacr.) 
und  die  Mm.  glutaei  medius  und  minimus  (N.  glutaeus  sup. 
vom  PL  sacr.)  bewirken  Streckung,  Abduction  und  Eotation  im  Hüft- 
gelenke. Der  Glut.  max.  streckt  kraftvoll  und  dreht  schwach  nach 
aussen,  ist  der  Schenkel  fixirt,  so  hebt  er  den  Kumpf.  Beim  Gehen 
und  Stehen  contrahirt  er  sich  nicht,  dagegen  ist  er  thätig  beim 
Steigen  der  Treppen  oder  eines  Berges,  beim  Springen,  Tanzen,  beim 
Coitus,  beim  Erheben  aus  sitzender  oder  kauernder  Stellung,  auch 
beim  Gehen  während  des  Lasttragens.  Contrahiren  sich  beide  Glut, 
max.,  so  nähern  sie  die  Hinterbacken  einander,  wie  es  beim  Anhalten 
des  Stuhlganges  geschieht. 

Die  Contraction  des  gesammten  Glut.  med.  (und  des  min.)  ab- 
ducirt  das  Bein  kräftig,  neigt  bei  fixirtem  Beine  den  Eumpf  zur  Seite. 
Die  Hauptaufgabe  dieser  Muskeln  ist,  beim  Gehen  und  Stehen  den 
Kumpf  zu  halten,  besonders  Seitwärtsschwankungen  zu  verhüten. 
Contrahirt  sich  nur  der  vordere  Theil  des  Glut,  med.,  so  wird  das 
Bein  schräg  nach  vorn  und  aussen  bewegt  und  gleichzeitig  kräftig 
nach  innen  gedreht,  der  hintere  Theil  des  Muskels  dagegen  bewegt 
das  Bein  schräg-  nach  hinten  aussen  und  dreht  es  schwach  nach 


Muskeln,  die  Bewegungen  im  Hüftgelenke  verursachen. 


317 


aussen.   Folgt  die  Contraction  des  einen  Bündels  der  des  anderen, 
so  muss  eine  Kreisbewegung  des-  Beins  zu  Stande  kommen. 


Nerv,  ischiadicus 

31.  biceps  fem.  (cap.  long.) 
31.  bicepsfem.  (eap.brev.) 


N.  peroneus 


M.  gastrocnem.  (cap. 
extern.) 


M.  soleus 


31.  flexor  hallucis  longns— 


M.  s'lutaeus  maximus 


M.  adductor  magnus 
M.  semitendinosus 
M.  semimembranosus 


N.  tibialis 

31.  gastrocnem.  (cap.  int.) 
M.  soieus 


31.  flexor  digitor.  comm. 
longus 


N.  tibialis 


Fig.  82. 
Motorische  Punkte  an  der  Hinterseite  des  Beines.    (Nach  Erb.) 

Die  elektrische  Reizung  des  Glut,  max.  ist  direct  leicht  zu 
bewirken  (vergi.  Fig.  82),  der  Glut.  med.  ist  sicher  nur  bei  Atrophie 
des  Max.  erreichbar,  der  Glut.  min.  nur  bei  etwaiger  Atrophie  des 
Max.  und  des  Medius. 

Bei  Lähmung  des  Glut.  max.  ist  das  Gehen  auf  ebener  Erde 
und  das  Stehen  unbehindert,  dagegen  fallen  die  oben  aufgezählten 
Functionen,  bei  denen  eine  Streckung  im  Hüftgelenke  nothwendig 
ist,  als  Treppensteigen,  Aufstehen  u.  s.  w.,  schwer  oder  sind  unmöglich. 


318 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  nnd  deren  Störung. 


Bei  einseitiger  Lähmung  des  Glut,  med.  und  des  min. 
neigt  sich  beim  Stehen  und  Gehen  das  Becken  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite,  während  der  Sumpf,  um  das  Gleichgewicht  zu  er- 
halten, nach  der  Seite  der  Lähmung  gebogen  wird.  Ausserdem  kann 
das  Bein  nicht  abducirt  und  nach  innen  gedreht  werden,  die  Adduc- 
toren  und  Auswärtsdreher  erhalten  das  Uebergewicht,  Beim  Gehen 
schwingt  das  Bein  der  gelähmten  Seite  zu  weit  nach  innen  und  die 
Fussspitze  wird  nach  aussen  gedreht.  Die  Kranken  vermögen  nicht 
mit  dem  Fusse  einen  Kreis  zu  beschreiben. 


C  d 

Fig.  83. 

Aufrichten  der  Kinder  mit  hereditärer  Muskelatrophie  (nach  Genvers).  Die  Schwierigheit,  die  diese 
Kranken  heim  Strecken  des  Hüftgelenkes  und  damit  heim  Aufrichten  finden,  beruht  hauptsächlich 
auf  dem  fast  constant  vorhandenen  Schwunde  der  Glut,  maximus.    Nur  mit  Hülfe  der  Arme  können 

sie  den  Eumpf  erheben. 

Bei  doppelseitiger  Lähmung  wird  das  Stehen  unsicher  und  er- 
müdend, beim  Gehen  neigt  sich  das  Becken  bei  jedem  Schritte  nach 
der  Seite  des  schwingenden  Beines. 

Auswärtsdreher  des  Beines  sind  der  M.  pyriformis  (N.  glu- 
taeus  sup.),  der  M.  obturatorius  internus  (N.  ischiadicus  vom 
PL  sacr.)  und  die  Mm.  gern  eil  i  (N.  ischiad.),  der  M.  obturatorius 
externus  (N.  obturatorius  vom  PI.  lumb.),  der  M.  quadratus 
femoris  (N.  ischiad.).  Der  M.  pyriform.  bewegt  ausserdem  das  Bein 
nach  hinten  und  aussen,  ähnlich  wie  die  hinteren  Bündel  des  Glut. 
med.  und  min.,  deren  Thätigkeit  er  daher  unterstützen  wird. 


Muskeln,  die  Bewegungen  im  Hüftgelenke  verursachen.  319 

Diese  Muskeln  können  nur  bei  Atrophie  des  Glut.  max.  (mit  Aus- 
nahme des  Obtur.  ext.)  elektrisch  gereizt  werden. 

Ihre  Lähmung-  verursacht  Ueberwiegen  der  vorderen  Bündel 
des  Glut.  med.  und  des  min.  und  damit  Drehung  des  Beines  nach 
innen. 

Beugung  im  Hüftgelenke  bewirken  der  M.  iliopsoas  (X.  cru- 
ralis  vom  PI.  lumb.)  und  der  M.  tensor  fasciae  latae  (N.  glu- 
taeus  sup.);  jener  dreht  gleichzeitig  das  Bein  etwas  nach  aussen, 
dieser  dreht  es  nach  innen  und  hebt  damit  erstere  Drehung  auf,  so 
dass  durch  die  Thätigkeit  beider  Muskeln  das  Bein  einfach  im  Hüft- 
gelenke gebeult  wird. 

Die  elektrische  Beizung  des  Tens.  fasc.  ist  leicht  die  des 
Iliops.  am  Gesunden  nicht  ausführbar. 

Ist  der  Tensor  fasc.  gelähmt,  so  wird  beim  Gehen  das  Bein 
nach  aussen  gedreht,  obwohl  die  Kranken  bei  darauf  gerichteter 
Aufmerksamkeit  durch  die  vorderen  Bündel  des  Glut,  med.  die 
Drehung  nach  innen  noch  ausführen  können. 

Bei  Contractur  des  Tens.  fasc.  ist  vollständige  active  und 
passive  Streckung  im  Hüftgelenke  nicht  möglich ,  das  Becken  wird 
nach  vorn  und  nach  der  Seite  der  Contractur  geneigt. 

Parese  des  Iliopsoas  oder  beider  Beuger  macht  das 
Gehen  schwierig,  ihre  Lähmung  macht  es  ganz  unmöglich;  besteht 
nur  Parese,  so  ist  zwar  das  Gehen  auf  ebenem  Boden  möglich,  das 
Steigen  aber.  Laufen  und  Springen  nicht  und  rasch  tritt  Ermüdung 
ein.  Im  Liegen  können  bei  gestrecktem  LTnterschenkel  die  Kranken 
das  Bein  nicht  in  die  Höhe  heben  und  ebensowenig  den  Bumpf 
aufrichten. 

Contractur  deslliopsoas  bewirkt  Beugung  im  Hüftgelenke 
und  Botation  des  Beins  nach  aussen.  Ist  das  Gehen  möglich,  so 
erscheint  das  kranke  Bein  als  verkürzt,  des  Becken  nach-  der  kranken 
Seite  geneigt,  die  Fussspitze  nach  aussen  gewendet.  Die  passive 
Streckung  ist  behindert  und  erregt  Schmerz. 

Der  M.  pectinaeus  (X.  obturat,  vom  PL  lumb.)  und  die  Mm. 
adductores  (X.  obturat.)  adduciren  das  Bein.  Adducirend  wirkt 
auch  der  M.  gracilis  (s.  unten).  Der  Pectinaeus  ist  Flexor-Adductor, 
er  beugt  das  Bein  und  bewegt  es  nach  innen  und  vorn,  es  gleich- 
zeitig etwas  nach  aussen  drehend,  wie  es  beim  Ueb erschlagen'  eines 
Beines  über  das  andere  geschieht.  Die  Mm.  adductores  longus  und 
brevis  sind  Adductor-Flexor,  ihre  beugende  Wirkung'  ist  nur  gering. 
Auch  sie  drehen  das  Bein  nach  aussen.  Der  Adductor  magnus  ist 
nur  Adductor.  er  bewegt  das  Bein  direct  nach  innen.    Sein  oberer 


320 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung-. 


Theil  dreht  das  Bein  nach  aussen,  sein  unterer  aber  dreht  das  aus- 
wärts rotirte  Bein  nach  innen,  so  dass  die  Fussspitze  gerade  nach 
vorn  gerichtet  ist.  Letztere  Thätigkeit  muss  der  Adductor  magn. 
heim  Eeiten  ausüben,  da  sonst  der  Sporn  den  Bauch  des  Pferdes 
berühren  würde,  wie  es  bei  den  des  Eeitens  Unkundigen,  die  festen 
Schluss  der  Schenkel  bewirken  wollen,  nicht  selten  vorkommt.  Der 
Glut.  med.  kann  in  diesem  Falle  den  Adduct.  magn.  nicht  ersetzen, 
da  er  gleichzeitig  abducirend  wirken  würde. 


N.  cruralis 

N.  obturator 
M.  pectinaeus 

M.  adductor  magims 
M.  adduct.  longus 

M.  cruralis 

M.  vastus  internus 


M.  tensor  fasciae  latae 
11.  sartorius 


M.  quadriceps  femoris 
(gemeinschaftl.  Punkt) 


M.  rectus  femoris 


M.  vastus  externus 


Fig.  84. 
Motorische  Punkte  an  der  Vorderseite  des  Beines. 


(Nach  Erb.) 


Die  Adductoren  sind  elektrisch  direct  und  indirect  zu  reizen, 
(vgl.  Fig.  84),  nur  der  Adduct.  brev.  entzieht  sich  der  directen  Eeizung. 

Bei  Lähmung  der  Adductoren  gewinnen  die  Abductoren 
(Mm.  glut.  med.  und  min.)  das  Uebergewicht,  das  Bein  weicht,  wenn 
der  liegende  Kranke  es  hebt,  nach  aussen  ab  und  beschreibt  beim 
Gehen  einen  nach  aussen  convexen  Bogen.  Ausserdem  ist  natürlich 
das  Adduciren  des  Beins  unmöglich  oder  bei  Parese  geschwächt.  Die 
Kranken  können  nicht  ein  Bein  über  das  andere  schlagen. 


Muskeln,  die  Bewegungen  im  Kniegelenke  verursachen.  321 

Duchenne  hat  auf  den  unteren  Tlieil  des  Adduct.  magn.  be- 
schränkte Lähmung  beobachtet.  Jede  Adduction  war  dann  von  Rota- 
tion nach  aussen  begleitet.  Auch  in  der  Kühe  überwogen  die  Aus- 
wärtsdreher,  deren  grosser  Zahl  nur  die  vorderen  Bündel  des  Glut, 
med.  und  des  min.  und  der  untere  Theil  des  Adduct.  magn.  ent- 
gegenwirken. 

Bei  Conti- actur  der  Adductoren  werden  die  Kniee  der 
leicht  gebeugten  Beine  gegen  einander  gepresst,  ist  active  wie  pas- 
sive Abduction  nicht  möglich. 

t.  Die  Muskeln,  die  Bewegungen  im  Kniegelenke  verursachen. 

Der  M.  quadrieeps  femoris  (N.  cruralis)  streckt  den  Unter- 
schenkel. Der  M.  rectus  fem.  genannte  Kopf  dieses  Muskels  bewirkt 
zugleich  eine  Beugung  im  Hüftgelenke,  er  streckt  um  so  schwächer, 
je  mehr  das  Bein  in  der  Hüfte  gebeugt  ist,  um  so  kräftiger,  je  mehr 
die  Streckmuskeln  der  Hüfte  wirken.  Er  dient  bei  brüsker  Streckung 
des  Hüftgelenks  zur  Fixirung  des  Femurkopfes  in  der  Pfanne  und 
ist  bei  gebeugtem  Unterschenkel  ein  kräftiger  Hüftbeuger.  Beim 
Yorwärtsbewegen   des   schreitenden  Beines  betheiligt  er  sich  nicht. 

Bei  elektrischer  Reizung  (vergl.  Fig.  84)  des  Vastus  int. 
(bei  gestrecktem  Unterschenkel)  sieht  man,  dass  die  Patella  nach 
innen  und  oben,  bei  der  des  Vast.  ext,,  dass  sie  nach  oben  und 
kräftig  nach  aussen  gezogen  wird. 

Bei  Lähmung  des  Quaclriceps  ist  das  Stehen  unbehindert, 
da  normaler  Weise  der  Muskel  dabei  nicht  thätig  ist.  Sobald  aber 
Ober-  und  Unterschenkel  statt  eines  nach  vorn  offenen  einen  nach 
hinten  offenen  Winkel  bilden,  d.  h.  bei  der  geringsten  Contraction 
der  Unterschenkelbeuger,  wird  die  aufrechte  Haltung  unmöglich. 
Auch  das  Gehen  ist,  wenigstens  bei  einseitiger  Quadricepslähmung, 
ohne  Unterstützung  möglich.  Die  Kranken  lassen  das  Bein  dauernd 
gestreckt  und  gehen  mit  steifem  Beine,  indem  sie  das  Yorwärts- 
schwingen  des  Beins  unterbrechen,  ehe  die  Beugung  des  Unter- 
schenkels eintritt,  Den  hierdurch  verkürzten  Schritt  suchen  sie  durch 
Yorwärtssekieben  der  Beckenhälfte  der  kranken  Seite  zu  vergrössern. 
Wird  der  Schritt  aus  Yersehen  zu  gross  gemacht,  so  dass  Beugung 
im  Knie  eintritt,  so  fallen  die  Kranken.  Bei  doppelseitiger  Parese 
verfahren  die  Kranken  ähnlich.  Zuweilen  drücken  sie  mit  den  Händen 
auf  die  Kniee,  um  die  gestreckte  Haltung  der  Beine  zu  bewahren. 

Zu  erkennen  ist  die  Quadricepslähmung  am  einfachsten  aus  der 
Schwierigkeit  oder  Unmöglichkeit,  bei  sitzender  Haltung  den  Unter- 
schenkel zu  strecken. 

MöMus,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  21 


322  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung-. 

Ist  nur  der  Vas tu s  int.  gelähmt,  so  zieht  bei  jeder  Streckung 
der  Yast.  ext,  die  Patella  nach  aussen.  Allmählich  kommt  es  zu 
Atrophie  des  Condyl.  ext.  fem.  und  bei  brüsker  Streckung  tritt 
dann  eine  Luxation  der  Patella  nach  aussen  ein,  wie  Duchenne 
beobachtet  hat. 

Bei  isolirter  Lähmung  des  Vast.  ext.  kommt  es  auch  zu 
Atrophie  des  Condyl.  int.,  doch  nicht  zur  Luxation  der  Patella,  da 
der  Vastus  int.  die  Patella  weniger  seitlich  bewegt  als  der  externus. 

Vermöge  der  Muskelfasern,  die  von  den  Vasti  seitlich  zur  Tibia 
gehen,  ist  eine  schwache  Streckung  des  Unterschenkels  noch  möglich 
nach  Unterbrechung  des  Ligam.  patellare. 

Welche  Bedeutung  der  M.  subcruralis  hat,  der  als  Knie- 
gelenkkapselspanner bezeichnet  wird,  weiss  man  nicht  genau. 

Der  M.  sartorius  (N.  cruralis)  spannt,  wie  der  Tensor  fasc. 
den  äusseren  Theil,  den  inneren  Theil  der  Schenkelfascie ,  bewirkt 
Beugung  im  Knie-  und  Hüftgelenke,  dreht  schwach  das  Bein  nach 
aussen.  Er  unterstützt  beim  Gehen  die  Beuger  des  Hüftgelenks, 
doch  ist  er  nicht  im  Stande,  allein  die  nöthige  Bewegung  dem 
schwingenden  Beine  zu  geben. 

Der  M.  gracilis  (N.  obturat.)  adducirt  das  Bein  kräftig,  hilft 
den  Unterschenkel  beugen  und  dreht  ihn,  wenn  er  nach  aussen  ge- 
dreht war,  nach  innen. 

Der  M.  biceps  femoris  (N.  ischiad.)  bewirkt  Beugung  im 
Knie-  und  Streckung  im  Hüftgelenke,  dreht  den  gebeugten  Unter- 
schenkel nach  aussen. 

Der  M.  semitendinosus  (N.  ischiad.)  bewirkt  Beugung  im 
Knie-  und  Streckung  im  Hüftgelenke,  dreht  den  gebeugten  Unter- 
schenkel nach  innen. 

Der  M.  semimembranosus  (N.  ischiad.)  bewirkt  Beugung 
im  Knie-  und  kräftige  Streckung  im  Hüftgelenke,  dreht  den  Unter- 
schenkel nicht. 

Der  M.  poplitaeus  (N.  tibialis  vom  Nerv,  ischiadicus)  dreht 
den  gebeugten  Unterschenkel  kräftig  nach  innen  oder  verhindert 
vielmehr  die  Drehung  nach  aussen,  beugt  schwach  den  Unter- 
schenkel. 

Die  vom  Tuber  ischii  entspringenden  Muskeln  haben  besonders 
die  Aufgabe,  beim  Gehen  die  Vorwärtsneigung  des  Beckens  zu  ver- 
hindern, sie  strecken  beim  Aufsetzen  des  Fusses  kräftig  das  Hüft- 
gelenk. Sind  sie  gelähmt,  so  zeigt  der  Rumpf  Neigung,  beim  Gehen 
vornüber  zu  fällen  und  die  Kranken  verschieben  daher  durch  Rück- 
wärtsbeugung den  Schwerpunkt  nach  hinten.  Die  Beuger  des  Hüft- 


3Iuskeln.  die  den  Fuss  bewegen.  323 

gelenks  müssen  dann  das  Hintenüberfallen  verhindern  und  ermüden 
daher  bald. 

Springen.  Laufen.  Tanzen  wird  bei  Lähmung  der  Muskeln  an 
der  Hinterseite  des  Schenkels  unmöglich.  Beim  Gehen  schleift  der 
Fuss  am  Boden,  die  Kranken  suchen  dies  zu  vermeiden,  indem  sie 
während  des  Vorwärtsschreitens  die  Beugung  im  Sprunggelenke  ver- 
stärken. Der  Extensor  cruris  gewinnt  das  Uebergewicht  und  dehnt 
die  Kniegelenkbänder.  Ruht  der  Körper  auf  dem  kranken  Beine,  so 
wird  dann  die  Streckung  im  Knie  übermässig.  Ist  von  den  Unter- 
schenkelbeugern nur  der  Biceps  erhalten,  so  ist  jede  Beugung  im 
Kniegelenke  mit  Drehung  des  Unterschenkels  nach  aussen  verbunden. 
Ist  umgekehrt  nur  der  Biceps  gelähmt,  so  ist  die  Drehung  nach 
aussen  verloren. 

Bei  Contractur  der  Unterschenkelbeuger  kann  die  Beugung 
so  weit  gehen,  dass  die  Ferse  das  Gesäss  berührt.  Streckversuche 
sind  schmerzhaft. 

u.  Die  Muskeln,  die  den  Fuss  bewegen. 

Die  Mm.  gastrocnemius.  plantaris  und  soleus  (X.  tib.) 
wirken  gemeinsam,  man  kann  sie  als  Triceps  surae  bezeichnen.  Sie 
strecken  (plantarflectiren)  den  Fuss  und  adduciren  ihn  (M.  extensor 
adductor).  Zugleich  dreht  sich  der  Fuss  derart,  dass  die  Spitze  nach 
innen,  die  Ferse  nach  aussen  sieht,  die  Zehen  gerathen  (secundär) 
in  Krallenstellung,  indem  die  ersten  Phalangen  sich  lieben,  die  letzten 
sich  plantarflectiren. 

Der  M.  peronaeus  longus  (N.  peronaeus)  ist  Abductor  Ex- 
tensor, er  senkt  die  innere  Seite  des  Yorderfusses,  so  dass  das  Köpf- 
chen des  ersten  Metatarsusknochens  nach  unten  und  aussen  von  dem 
des  zweiten  steht,  und  hebt  den  äusseren  Fussrand,  wobei  der  innere 
Knöchel  vorspringt.  Durch  seine  Contraction  wird  die  Wölbung  des 
Fusses  vermehrt,  die  Breite  des  Yorderfusses  vermindert. 

Wirken  der  Triceps  surae  und  der  Peron.  long,  gemeinsam,  so 
wird  der  Fuss  direct  gestreckt  (plantarflectirt),  d.  h.  der  letztere 
Muskel  neutralisirt  die  adducirende  Wirkung  des  ersteren.  Eine 
Beugung  im  Kniegelenke  scheint  der  Gastrocnemius  nicht  zu  bewirken. 
Die  Anheftung  des  Gastrocnem.  am  Oberschenkel  gestattet  ein  nütz- 
liches Zusammenwirken  der  Fuss-  und  Unterschenkelstrecker;  beim 
Bergsteigen  z.  B.  contrahiren  sich  beide  gleichzeitig,  der  im  Knie 
sich  streckende  Oberschenkel  zieht  am  Gastrocnem.  und  vermehrt 
dessen  Kraft.  Ist  der  Unterschenkel  gebeugt  und  wird  der  Fuss 
ohne  Anstrengung  gestreckt,  so  wirkt  der  Soleus  allein. 

21  * 


324 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störuns-. 


Diese  Muskeln  wie  die  folgenden  sind  der  elektrischen  Eei- 
zung  sowohl  direct  als  indirect  leicht  zugänglich  (s.  Figg.  82  und  85). 


M.  tibial.  antic. 

51.  extons.  digit.  comin. 
long. 


M   peronaeus  brevis 


M.  extensor  hallucis 
long. 


Mm.  intorossei  dorsalos 


Nerv,  peronaeus 


M.  gastrocnem.  extern. 
M.  peronaeus  longus 


M.  soleus 


flexor  hallucis  long 


M  extons.  digit.  comm. 
brevis 


-  M.  abductor  digiti  min. 


Fig.  85. 
Motorische  Punkte  am  Unterschenkel.    (Nach  Erb.) 

Bei  Lähmung  des  Triceps  suralis  ist  die  Streckung  des 
Fusses  nicht  möglich.  Auch  der  Peron.  longus  vermag  nur  eine 
schwache  Wirkung  auszuüben,  er  bringt  den  Fuss  in  Valgusstellung, 
kann  aber  den  inneren  Fussrand  nicht  kräftig  herabziehen,  da  der 
äussere  Fussrand  nicht  mehr  durch  den  Triceps  festgehalten  wird. 
Die  Kranken  können  sich  nicht  mehr  auf  die  Zehen  stellen,  springen, 
u.  s.  w.,  beim  Gehen  fehlt  das  Abstossen  des  Fusses  vom  Boden,  der 
Gang  wird  bei  einseitiger  Lähmung  leicht  hinkend.  Bei  längerer 
Dauer  der  Lähmung  entsteht  eine  eigenthümliche  Art  von  Hohlfuss 
(talus  pied  creux  tordu  en  dehors,  Duchenne).  Die  Ferse  senkt 
sich,  die  Krümmung  der  Planta  wird  gesteigert,  der  äussere  Fuss- 
rand erhoben  und  der  ganze  Fuss  abducirt.  Secundär  entsteht  Con- 


Muskeln,  die  den  Fuss  bewegen. 


325 


tractur  des  Abduct.  hall,  magii.  und  des  kurzen  Zehenbeugers,  sowie 
der  Plantarfascie. 

Bei  Contractur  des  Triceps  surae  entsteht  die  als  Pes 
varo-equinus  bezeichnete  Deformität  (vergl.  Fig.  89  a). 

Bei  L  ä  h  m  u  n  g  d  e  s  P  e  r  o  n  a  e  u  s  1  o  n g.  ist  Streckung  des  Fusses 
mit  Adduction  verbunden.  Wirkt  man  durch  die  dem  vorderen  Theile 
der  Sohle  aufgelegte  Hand  der  Streckung  entgegen,  so  giebt  der 
innere  Fussrand  dem  leichtesten  Drucke  nach,  während  der  äussere 
die  Hand  kräftig  wegdrückt.  Beim  Stehen  zeigt  sich  Pes  planus 
valgus,  der  ganze  innere  Fussrand  berührt  den  Boden,  beim  Gehen 
aber  berührt  der  Fuss  nur  mit  dem  äusseren  Rande  den  Boden,  der 

Kopf  des  ersten  Metatarsusknochen  bleibt 
1 — 2  Cm.  über  dem  Boden  und  die  grosse 
Zehe  wird  stark  gebeugt.  Gehen  ermüdet 
rasch  und  erregt  Schmerzen  in  der  Gegend 
des  äusseren  Knöchels.  Am  äusseren  Fuss- 


Fig.  86. 

Fehlerhafte   Stellung  des  Fasses  durch 

Atrophie  des  Triceps  suralis  heim  Erheben 

der  Fusspitze.    (Nach  Duchenne.) 


Fig.  87. 
Pes  planus  valgus.    (Nach  Duchenne.) 


rande  und  unter  der  ersten  Phalanx  der  grossen  Zehe  entstehen 
empfindliche  Schwielen.  Stehen  auf  den  Fussspitzen  ist  nicht  möglich, 
denn  in  dieser  Stellung  ist  der  äussere  vordere  Eand  des  Fusses, 
auf  dem  das  Gewicht  des  Körpers  ruhen  soll,  nicht  mehr  in  der 
Richtungslinie  der  Schwere  des  Beins,  die  senkrecht  von  dem  Hüft- 
gelenke durch  die  Mitte  des  Knies  nach  der  unteren  Seite  des  Talus 
geht  und  am  Köpfchen  des  ersten  Metatarsusknochens  endet.  Bei 
einseitiger  Lähmung  ist  das  Stehen  auf  dem  kranken  Fusse  unsicher. 
Bei  längerer  Dauer  der  Lähmung  entsteht  dauernder  Plattfuss 
(Pes  planus  valgus).   Beim  Gehen  werden  die  Nerven  der  Sohle  com- 


326 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung:. 


primirt,  dasselbe  bewirkt  daher  nicht  nur  Ermüdung,  sondern  auch 
Knebeln,  Taubheitsgefühl,  Schmerzen. 


Fig.  SS. 


Fehlerhafte   Stellung   des   Fasses   bei  Contractur  des  M.  peron.  long,    a  Fuss  von  innen  gesehen, 
Senkung  des  ersten  Metatarsusknochens  und  Vermehrung  der  Fussvölbung.   b  Fuss  von  aussen.  Tor- 
springen der  Sehne  des  M.  peron.  long,     c  Fuss  von  unten.    Verschmälerung  der  Sohle ,   Torsion  dos 
Fusses  kenntlich  an  den  Hautfurchen,     d  Fuss  von  vorn.    "Valgusstellung.    (Nach  Duchenne.) 

Contractur  des  Peronaeus  longus  bewirkt  eine  eigen- 
thümliche  Art  von  Hohlfuss  (pied  creux  valgus  par  contracture  du 


Muskeln,  die  den  Fuss  bewegen.  327 

long  peronier.  Ducken  n  e).  Die  Wölbung  des  Fusses  ist  gesteigert, 
die  Breite  des  vorderen  Fusses,  der  etwas  nach  hinten  aussen  ge- 
dreht ist,  verringert,  der  Fuss  steht  in  Valgusstellung  und  die  Sehne 
des  Peron.  long,  springt  über  den  äusseren  Knöchel  stark  hervor. 

Die  Mm.  tibialis  anticus,  extensor  digitorum  pedis 
longus  communis  und  extensor  hallucis  longus  (X.  pero- 
naeusj  beugen  (dorsalflectiren)  den  Fuss.  Der  Tibialis  ant.  (Flexor 
Adductor)  zieht,  wenn  zuvor  der  Fuss  gestreckt  war,  das  Köpfchen 
des  ersten  Metatarsusknochen  nach  oben  und  innen,  dieser  Bewegung 
folgt  der  ganze  innere  Fussrand  und  dann  wird  der  ganze  Fuss 
gleichzeitig  gebeugt  und  adducirt,  während  die  Zehen,  besonders  die 
grosse,  plantarflectirt  werden.  Bei  Beugung  und  Adduction  des  Fusses 
kann  der  Extens.  hall,  den  Tib.  ant.  unterstützen.  Der  Extens.  dig. 
comm.  (Abductor  Flexor)  bewirkt  ausser  schwacher  Dorsalflexion  der 
vier  Zehen  Beugung  und  Abduction  des  Fusses,  dessen  äusserer  Band 
sich  hebt,  dessen  Ferse  sich  senkt.  Der  M.  peronaeus  tertius 
ist  nur  ein  Theil  des  Extens.  dig.  comm.,  mit  dessen  Wirkung  ist 
die  seinige  identisch.  Durch  gemeinsame  Contraction  der  Beuger 
wird  der  Fuss  direct  gebeugt. 

Bei  Lähmung  der  Beugemuskeln  kann  der  Fuss  nicht 
gebeugt  werden,  er  hängt  schlaff1  herab,  sobald  er  vom  Boden  ab- 
gehoben wird.  Beim  Gehen  stösst  die  Fussspitze  an  den  Boden,  um 
dies  zu  vermeiden,  verstärken  die  Kranken  während  des  Yorwärts- 
schreitens  die  Beugung  im  Hüft-  und  Kniegelenke  und  lassen  dann 
die  Sohle  tappend  auf  den  Boden  auffallen.  Man  erkennt  daher  an 
dem  eben  beschriebenen  Gange  ohne  Weiteres  die  sogenannte  Pero- 
neuslähmung. Bei  längerer  Dauer  der  Lähmung,  besonders  bei 
kleinen  Kindern  und  bei  bettlägerigen  Kranken,  gerathen  die  Fuss- 
strecker  in  Contractur,  es  entsteht  Pes  equinus  und,  wenn  der  Peron. 
long,  nritgelähmt  ist,  Pes  equino-varus. 

Ist  nur  der  M.  tibialis  ant.  gelähmt,  so  ist  die  Beugung 
des  Fusses  stets  mit  Abduction  verbunden,  trotz  der  Anstrengung 
des  Extens.  hall,  long.,  der  mit  der  Zeit  hypertrophisch  wird.  Infolge 
letzteren  Umstandes  findet  man  bei  Lähmung  des  Tib.  ant.  die  erste 
Phalanx  der  grossen  Zehe  dauernd  gestreckt  und  sieht  auf  dem 
Fassrücken  die  Sehne  des  Flex.  hall.  long,  einen  Vorsprung  bilden. 
Beim  Gehen  hat  die  Fussspitze  die  Neigung  am  Boden  anzustossen, 
der  Fuss  wird  dauernd  abducirt  und  der  äussere  Fussrand  etwas 
gehoben.  Allmählich  bildet  sich  durch  das  Uebergewicht  der  Strecker 
und  des  Extens.  dig.  comm.  die  in  der  Fig.  S9  dargestellte  De- 
formität aus. 


328 


Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 


Ist  nur  der  Extensor  dig.  comm.  gelähmt,  so  ist  die  Beu- 
gung' des  Fusses  stets  mit  Adduction  verbunden.  Beim  Gehen  schleppt 


a  b 

Fig.  89. 

Fehlerhafte    Stellung   des  Fusses  (Pes   equinus)   durch  Lähmung  des  M.  tib.  ant.,   beziehungsweise 

Contractur  der  Fussstrecker  beim  Versuche,   den  Fuss  zu  beugen  (dorsalflectiren).    Der  Extens.  dig, 

comm.  abducirt  den  in  der  Euhe  leicht  adducirten   Fuss  etwas  (b).    Die   Sohne   des  Extens.  hall. 

long,  springt  vor  (C  auf  Fig.  a).     (Nach  Duchenne.) 

der  äussere  Fussrand  am  Boden. 
Mit  der  Zeit  bildet  sich  ein  Pes 
varus  aus,  der  vordere  Theil  des 
Fusses  krümmt  sich  nach  innen  und 
am  Fussrücken  bilden  Astragalus 
und  Calcaneus  Vorsprünge. 

Die  (primäre  oder  secundäre) 
Contractur  der  Fussbeuger 
bewirkt  Hackenfussstellung.  Sind 
alle  Fussstrecker  und  die  Zehen- 
beuger gelähmt  und  nur  Tib.  ant. 
und  Extens.  dig.  comm.  erhalten,  so 
wird  der  Fuss  direct  gebeugt  und 
die  Fusssohle  abgeplattet.  Ist  der 
Tib.  allein  thätig,  so  entstellt  Hacken- 
fuss  mit  Varusstellung  und  Abplat- 
tung der  Fussohle.  Sind  ausser  den 
Fussbeugern  auch  der  Peron.  long,  und  die  Zehenbeuger  erhalten, 
so  entsteht  ein  Hackenfuss  mit  Hohlfussbildung  und  Drehung  des 


Fehlerhafte  Stellung  des  Fusses  (Hackenfuss 
mit  Varusstellung)  durch  Contractur  des  M. 
tib.  ant.,  beziehungsweise  Lähmung  der  Fuss- 
strecker und  Zehenbeugor,  Parese  des  Extens. 
dig.  comm.    (Nach  Duchenne.) 


Muskeln,  die  den  Fuss  bewegen.  329 

Vorderfusses  (s.  oben).  Sind  ausser  den  Fussbeugern  auch  die  Zehen- 
beuger erhalten,  dagegen  der  Triceps  surae  und  der  Peron.  long, 
gelähmt,  so  entsteht  Hackenfuss  mit  Hohlfussbildung  ohne  Drehung. 

Ist  der  Fuss  dauernd  durch  den  Tib.  ant.  in  Flexion  und  Ad- 
duction  gehalten,  so  kommt  die  Sehne  des  Ext.  dig.  comni.  aus  ihrer 
Lage  und  legt  sich  neben  die  des  Tib.  ant.  Dann  wirkt  auch  der 
Ext.  dig.  conim.  adducirend.  Es  geht  hieraus  hervor,  dass  das  Ab- 
ductions vermögen  letzteren  Muskels  abhängt  von  der  lateralen  Fixa- 
tion seiner  Sehne  im  Ligam.  annual.  tarsi. 

Ist  die  Bewegung  im  Tibio-Tarsalgelenke  aufgehoben  oder  be- 
schränkt, so  wird  die  Bewegung  im  Gelenke  zwischen  Talus  und 
Calcaneus  supplementär  gesteigert.  Da  nun  diese  lateralwärts  grösser 
ist,  als  an  der  inneren  Seite,  verbindet  sie  sich  immer  mit  Abduction 
des  Fusses  und  treibt  daher  zur  Valgusstellung. 

Der  M.  peronaeus  brevis  (N.  peron.)  abducirt  den  Fuss  direct 
und  hebt  den  äusseren  Fussrand  etwas,  ohne  den  Fuss  zu  strecken 
oder  zu  beugen.  Der  M.  tibialis  posticus  (N.  tib.)  adducirt  den 
Fuss,  ohne  ihn  zu  strecken  oder  zu  beugen.  Durch  ihn  wird  der 
innere  Fussrand  concav,  der  äussere  convex,  der  Kopf  des  Talus  und 
das  vordere  Ende  des  Calcaneus  springen  auf  dem  Fussrücken  vor. 
Beide  Muskeln,  Peron.  brev.  und  Tib.  post.,  halten  den  Fuss  zwischen 
Ad-  und  Abduction  und  verhindern  das  „Umknicken"  beim  Gehen 
und  Stehen.  Der  isolirten  elektrischen  Eeizung  ist  der  Tib. 
post.  nicht  zugänglich. 

Bei  Lähmung  des  Peron.  brevis  ist  die  directe  Abduction 
nur  ungenügend  durch  gemeinsame  Contraction  des  Ext.  dig.  comm. 
und  des  Peron.  long,  möglich.  Bei  längerer  Dauer  der  Lähmung 
tritt  Contractur  des  Tib.  post.  ein  und  damit  eine  Art  Varus- 
stellung  mit  Knickung  des  inneren  Fussrandes  und  secundärer  Defor- 
mation der  Fussgelenke. 

Bei  Lähmung  de  s  Tib.  post.  wird  die  Fähigkeit  der  directen 
Adduction  verloren,  der  Peron.  brev.  gewinnt  mit  der  Zeit  das  Ueber- 
ge wicht  und  führt  eine  Art  von  Valgusstellung  herbei. 

Sind  alle  Muskeln,  die  den  Fuss  bewegen,  gelähmt, 
so  kommt  keine  wesentliche  Verunstaltung  des  Fusses  zu  Stande, 
nur  eine  leichte  Valgusstellung  bildet  sich  aus,  da  der  Druck  des 
Körpers  eine  Drehung  des  Calcaneus  nach  aussen  bewirkt,  und  es 
gelingt  leicht  durch  mechanisches  Fixiren  des  Fusses  im  rechten 
Winkel  zum  Unterschenkel,  dem  Kranken  das  Gehen  möglich  zu 
machen.  Bei  Lähmung  einzelner  Muskeln  oder  Muskelgruppen  da- 
gegen entstehen  mit  der  Zeit  die  oben  beschriebenen  schweren  De- 


330  Die  Function  der  einzelnen  Muskeln  und  deren  Störung. 

forinationen,  die  den  Gebrauch  des  Fusses  im  höchsten  Grade  beein- 
trächtigen. Es  ist  daher  der  Verlust  aller  Fussmuskeln  ein  kleineres 
Uebel  als  der  Verlust  nur  einiger. 


v.   Die  Muskeln,  die  die  Zehen  bewegen. 

Der  M.  extensor  dig.  ped.  longus  (s.  oben)  streckt  (dorsal- 
flectirt)  die  ersten  Phalangen  der  Zehen,  das  Gleiche  thut  kräftiger 
der  M.  extensor  dig.  ped.  brevis  (N.  peron.),  indem  er  gleich- 
zeitig die  Zehen  etwas  lateralwärts  neigt.  Der  M.  extensor  h al- 
iud s  longus  (s.  oben)  streckt  kräftig  die  erste  Phalanx  der  gros- 
sen Zehe. 

Die  Mm.  flexor  dig.  ped.  longus  (N.  tib.),  flexor  dig.  ped. 
brevis  (N.  tib.)  und  der  M.  flexor  hallucis  longus  (N.  tib.) 
beugen  (plantarflectiren)  kräftig  die  letzten  Phalangen  der  Zehen. 
Der  M.  flexor  dig.  prof.  dreht  zugleich  die  Zehen  und  zieht  sie  nach 
innen,  eine  Wirkung,  die  gleichzeitige  Contraction  der  Caro  quadrata 
Sylvii  aufhebt. 

Die  Mm.  interossei  pedis.  ext.  et  int.  und  die  Mm.  luin- 
bricales  pedis,  sowie  die  Mm.  abductor  und  flexor  brevis 
dig.  quinti  (N.  tib.)  abduciren  t>der  adduciren  je  nach  ihrer  Lage 
die  Zehen  und  beugen  gleichzeitig  die  erste  Phalanx,  während  sie 
die  zweite  und  dritte  strecken. 

Die  Mm.  adductor,  flexor  brevis  und  abductor  hallu- 
cis (N.  tib.)  beugen  in  ihrer  Gesammtheit  kräftig  die  erste  Phalanx 
der  grossen  Zehe,  strecken  die  zweite.  Die  Bündel,  die  sich  am  in- 
neren Sesambeine  ansetzen  (Abductor  und  Caput  int.  flex.  brev.) 
bewegen  die  grosse  Zehe  medianwärts;  diejenigen,  die  sich  am  äu- 
sseren Sesambeine  ansetzen  (Adductor  und  Caput  ext.  flex.  brev.), 
bewegen  die  grosse  Zehe  nach  aussen.  Wenn  beim  Gehen  der  Fuss 
sich  vom  Boden  abrollt,  contrahiren  sich  alle  kurzen  Muskeln  der 
grossen  Zehe,  um  den  Fuss  vom  Boden  abzustossen,  energischer  noch 
geschieht  dies  beim  Springen  und  Laufen.  Der  Kopf  des  Adduct. 
hall.,  der  als  Transversalis  pedis  bezeichnet  wird,  dient  auch  als 
lebendes  Band,  um  die  Köpfe  der  Metatarsusknochen  bei  einander 
zu  halten,  ihr  Auseinanderweichen  bei  Belastung  des  Fusses  zu 
verhindern. 

Einer  isolirten  elektrischen  Reizung  entziehen  sich  von 
den  Muskeln  am  Fusse  die  meisten  Sohlenmuskeln,  doch  contrahiren 
sie  sich  gemeinsam  bei  Reizung  des  N.  tibialis  hinter  dem  inneren 
Knöchel. 


Muskeln,  die  die  Zehen  bewegen.  331 

Bei  Lähmung-  der  Zehenstrecker  überwiegen  die  Int  eros- 
sei, die  ersten  Phalangen  werden  gebeugt,  die  letzten  gestreckt,  die 
normale  Krümmung  der  Zehen  verliert  sich,  diese  werden  gerad- 
linig-. Sind  umgekehrt  die  Muskeln  der  Sohle,  besonders  die 
Interossei,  gelähmt,  so  entsteht 
ein  Krallenfuss  (pied  en  griffe),  d.  h. 
die  ersten  Phalangen  werden  ge- 
streckt, unter  Umständen  so,  dass 
ihre  Köpfchen  subluxirt  werden, 
während  die  zweiten  und  dritten 
Phalangen  durch  die  Anspannung 
der  Zehenbeuger  flectirt  werden 
(vergl.  Fig.  91).  Eine  wesentliche 
Störung  des  Gehens  wird  durch  diese 
Lähmungen  nicht  verursacht,  nur 
bei  längerem  Gehen  tritt  zuweilen 
schmerzhafte    Ermüdung   ein.    Da-  Fig.  91. 

gegen   sind   Laufen    und   Springen     SäT'fflÄSf  SSSSÄlJS 
wesentlich  behindert,  imdderkÄSed^TZehe' 


ZWEITES  HAUPTSTÜCK. 


Die  Functionstörung,  die  bei  Läsion  der  einzelnen  Nerven 

eintritt. 


I.   Hirnnerven. 

1.  N.  olfactorius:  Aufhebung  des  Eiecli Vermögens  (Anosmia). 
(Vergl.  S.  180). 

Leichte  Reizung  bewirkt  Empfindlichkeit  gegen  Gerüche  (Hyperosmia), 
unangenehme  Geruchsempfindungen  (Parosmia). 

Die  Läsion  kommt  vor  bei  Erkrankung  der  Meningen  oder  der  Schädel- 
knochen in  der  vorderen  Schädelgrube,  durch  Abreissen  der  Endzweige 
(Sturz  auf  den  Kopf),  bei  Tabes,  bei  Erkrankungen  der  Nase. 

2.  N.  opticus:  Aufhebung  des  Sehvermögens.  (Vergl.  167  S. ff.) 
Bei  Läsion  des   rechten  N.  opticus    entstehen   rechtseitige  Amaurose 

und  Verlust  des  Lichtreflexes    der  Pupillen   bei  Beleuchtung   des  rechten 


Fig.  92. 

Schema  des  Vorlaufes  der  Opticusfaserri  im  Chiasma. 

Auges;  bei  Läsion  des  rechten  Tractus  opt.  linkseitige  bilaterale  Hemi- 
anopsie, bei  Verletzung  des  Chiasma  von  vorn  oder  hinten  doppelseitige 
temporale  Hemianopsie. 


Hirnnerven.  333 

Primäre  Erkrankung  des  N.  opticus  kommt  am  häufigsten  vor  bei 
Tabes  (einfache  Atrophie),  bei  multipler  Sclerose,  bei  gewissen  Vergiftungen, 
als  durch  Alkohol,  Blei  u.  a.  (sog.  retrobulbäre  Neuritis),  selten  bei  acuter 
Myelitis  (Neuritis)  u.  A.,  secundäre  Erkrankung  wird  am  häufigsten  durch 
Drucksteigerung  in  der  Schädelhöhle  oder  durch  Druck  auf  den  Nerven 
(Stauungspapille)  bewirkt,  ferner  durch  Meningitis  (Neuritis),  durch  Tu- 
moren und  andere  Erkrankungen  der  Augenhöhle. 

3.  N.  o  c  u  1  o  m  o  t  o  r  i  u  s :  Lähmung'  der  Mm.  sphincter  iridis,  ciliaris, 
rectus  int.,  rectus  sup.,  levator  palp.  sup.,  rectus  inf.,  obliqus  inf. 

Bei  Erkrankung  des  ganzen  Oculom.  ist  das  Auge  durch  Ptosis  des 
oberen  Lides  geschlossen,  ist  der  Augapfel  durch  den  Externus  und  den 
Obliqu.sup.  nach  aussen  unten  abgelenkt,  ist  die  Pupille  weit  und  starr,  die 
Accommodatiou  aufgehoben.  Gekreuzte  Doppelbilder,  starker  Schwindel  bei 
Oeffnung  des  Auges.  Nur  geringe  Bewegung  des  Augapfels  nach  aussen 
möglich,  ausserdem  kleine  Raddrehung  im  Sinne  des  Obl.  superior. 

Ist  der  Nerv  nur  theilweise  erkrankt,  so  kommen  verschiedene  Coni- 
binationen  vor.  Am  häufigsten  ist  Lähmung  nur  des  Internus,  nur  Ptosis, 
Lähmung  nur  der  inneren  Augenmuskeln,  selten  sind  alle  äusseren  Muskeln 
ohne  die  inneren  betroffen. 

Primäre  Oculomotoriuserkrankung  kommt  am  häufigsten  bei  Tabes 
und  bei  tertiärer  Syphilis  vor,  ferner  bei  multipler  Sclerose,  selten  bei 
Polyneuritis,  bei  Diabetes,  als  selbständige  infectiöse  Erkrankung,  bei  Alko- 
hol-, Blei-  und  anderen  Vergiftungen.    Auch  angeborene  O.-L.  kommt  vor. 

Secundär  erkrankt  der  Nerv  am  häufigsten  durch  Tumoren  oder  Me- 
ningitis an  der  Schädelbasis. 

Unbekannt  ist  die  Ursache  der  wiederkehrenden  O.-L.,  die  unter  Kopf- 
schmerz und  Erbrechen  eintritt  und  nach  Tagen  oder  Wochen  wieder 
verschwindet. 

4.  K  troclilearis:  Lähmung  des  M.  obliquus  sup. 

Der  N.  tr.  erkrankt  selten  allein  (am  häufigsten  noch  bei  Tabes), 
meist  mit  anderen  Hirnnerven  bei  Meningitis,  Basistumoren  u.  s.  w.  — 

Die  Localisation  der  Augenmuskellähmungen  ist  dadurch  erschwert, 
dass  hier  der  Nachweiss  degenerativer  Atrophie  nicht  möglich  ist.  Ueber 
Augenmuskellähmungen  centraler  Art  wissen  wir  so  gut  wie  nichts.  Nur 
beobachtet  man  zuweilen  bei  Hemiplegie  eine  leichte  Ptosis  (cerebrale 
Blepharoptose),  wohl  deshalb,  weil  der  Levat.  palp.  sup.  der  einzige  der 
von  den  Augenmuskelnerven  versorgten  Muskeln  ist,  der  in  gewissem 
Grade  willkürlich  einseitig  contrahirt  werden  kann.  Die  Lähmungen  durch 
Läsion  der  Kerne  lassen  sich  in  der  Eegel  von  denen  durch  Läsion  der 
intracerebralen  Wurzelfasern  in  der  Nähe  der  Kerne  nicht  trennen.  Nur 
bei  Tab  es -Paralyse  und  in  den  Fällen,  wo  bei  sonst  gesunden  Personen  eine 
auf  die  Augenmuskeln  beschränkte,  symmetrische,  langsam  fortschreitende 
Lähmung,  offenbar  systematischen  Charakters,  auftritt  und  in  denen,  wo 
zu  der  progressiven  Bulbärparalyse  sich  (ausnahmeweise)  Augenmuskel- 
lähmungen gesellen,  wird  man  eine  Läsion  der  Kerne  selbst  mit  einiger 
Sicherheit  diagnosticiren  können.  Sonst  beschränkt  man  sich  darauf,  eine 
Läsion  der  Kernregion  anzunehmen  und  gebraucht  auch  in  diesem  Sinne 
den  Ausdruck  nucleäre  Lähmungen.  Eine  solche  ist  dann  wahrscheinlich,  wenn 


334      Die  Functionstörung,  die  bei  Läsion  der  einzelnen  Nerven  eintritt. 

associirte  Lähmungen  bestehen  (Aufhebung  der  Convergenz  oder  der  Augen- 
bewegung nach  oben,  unten :  Läsion  der  Kernregion  des  Oculomotorius, 
Aufhebung  der  Augenbewegung  nach  einer  oder  beiden  Seiten:  Läsion 
der  Kernregion  eines  oder  beider  Abducentes),  oder  wo  bei  Lähmung  aller 
äusseren  Muskeln  die  Mm.  sphincter  pup.  und  ciliaris  verschont  sind  (Oph- 
thalmoplegia  externa),  oder  wo  die  zeitliche  Anordnung  der  Lähmungser- 
scheinungen die  örtliche  Gruppirung  der  Kernregionen  abspiegelt.  Aus- 
nahmeweise kommt  eine  Ophthalmopl.  externa  dadurch  zu  Stande,  dass  die 
Endigungen  der  äusseren  Augenmuskelnerven  geschädigt  werden,  während 
die  im  Innern  des  Bulbus  geschützt  verlaufenden  Nervenenden  der  Läsion 
entgehen.  Einzelne  solche  Beobachtungen  mussten  als  infectiöse  Neuritis 
aufgefasst  werden. 

Nur  mit  einem  wechselnden  Grade  von  Wahrscheinlichkeit  lassen  sich 
für  cerebralen  Sitz  verwerthen :  Doppelseitigkeit,  Flüchtigkeit  und  Unvoll- 
ständigkeit,  besonders  der  totalen  Lähmungen,  endlich  die  Combination 
dieser  Zeichen.  Ob  sich  die  Angabe  von  Graefe's  verwerthen  lässt,  dass 
geringe  Fusionstendenz  beim  binocularen  Sehen  auf  cerebralen  Ursprung 
deute,  scheint  sehr  zweifelhaft  zu  sein.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Angabe 
Brenner's,  dass  galvanische  Hyperästhesie  des  Acusticus  für  cerebralen 
Sitz  der  Augenlähmung  spreche.  Für  peripherischen  Sitz  der  Läsion  spre- 
chen im  Allgemeinen  Einseitigkeit  und  Completheit  der  Lähmung.  Oft  er- 
leichtern begleitende  Symptome  die  Diagnose,  die  Zeichen  gesteigerten 
Hirndruckes,  alternirende  Hemiplegie,  anderweite  Hirnnervenlähmungen. 
Die  wichtigsten  Möglichkeiten  sind  etwa  folgende.  Hemiplegie  mit  ge- 
kreuzter Oculomotoriuslähmung:  Herd  im  Hirnschenkel;  Hemiplegie  mit 
gekreuzter  Oculomotoriuslähmung  und  Trochlearislähmung :  Herd  im  Hirn- 
schenkel, der  bis  zum  Velum  medulläre  reicht;  Hemiplegie  mit  Aufhebung 
der  Augenbewegungen  nach  oben  oder  unten:  ausgedehnter  Herd  in  der 
Höhe  des  oberen  Vierhügels;  Hemiplegie  mit  Aufhebung  der  Augenbewe- 
gung nach  einer  Seite :  Herd,  der  den  Abducenskern  trifft ;  totale  Hemiplegie 
und  Augenmuskellähmung  der  gleichen  Seite:  zwei  verschiedene  Herde; 
Zeichen  der  Meningitis  und  Augenmuskellähmung:  Erkrankung  der  Ner- 
venstämme an  der  Hirnbasis  oder  Einwirkung  auf  die  Vierhügelgegend 
durch  meningitische  Veränderungen  im  Gehirnschlitz  (associirte  Lähmungen 
und  Trochlearislähmung),  oder  möglicher  Weise  Läsion  der  Wände  des 
Aquaeduct.  und  des  dritten  Ventrikels  durch  acuten  Hydrocephalus ;  Zeichen 
eines  Hirntumor  und  Augenmuskellähmung :  nur  bei  sehr  intensiven  Allge- 
meinsymptomen und  doppelseitiger  Lähmung  allgemeine  Druckwirkung, 
sonst  örtliche  Einwirkung;  Hirndruck  und  doppelseitige  Abducenslähmung : 
bei  Tumoren  der  hinteren  Schädelgrube;  Hemianopsie,  Trigeminusaffection 
u.  s.  w.  und  Augenmuskellähmung  (multiple  Hirnnervenlähmung) :  Läsion 
an  der  Gehirnbasis ;  die  drei  Augenmuskelnerven  und  der  Rain.  trig.  prim. : 
Fissura  orbitalis;  Exophthalmus  und  Augenmuskellähmung:  Läsion  in  der 
Orbita.  Die  isolirten  Augenmuskellähmungen  bei  Syphilis  können  durch 
selbständige  Erkrankung  der  Nervenzweige  oder  Stämme  oder  durch  gum- 
matöse  Meningitis  an  der  Basis  verursacht  sein,  wohl  nur  selten  durch 
intracerebrale  Gummata.  Die  bei  Tabes,  beziehungsweise  progressiver  Pa- 
ralyse, und  bei  multipler  Sclerose  entstehen  bald  durch  Erkrankung  der 
Kernregion,  bald  durch  die  der  peripherischen  Nervenzweige. 


Hirmierven. 


335 


5.  N.  trige minus: 

a)  Erster  Ast  (N.  ophthalmiciis  s.  orbitalis) :  Anästhesie  der  Haut, 
entsprechend  Fig.  93  (Vi),  der  Conjunctiva,  Cornea,  Iris  und  der 
übrigen  Augenhäute,  eines  Theiles  der  Dura  mater,  eines  Theiles 
der  Nasenschleimhaut,  Störung-  der  Ernährung  des  Auges  (Ophthal- 
mia neuroparalytica). 

b)  Zweiter  Ast  (N.  supramaxillaris) :  Anästhesie  der  Haut,  ent- 
sprechend Fig.  93  (Y-i),  der  Schleimhaut  des  Oberkiefers,  eines  Theiles 
der  Nasenschleimhaut,  des  Gaumens,  eines  Theiles  der  Dura  mater, 
der  Schleimhaut  des  mittleren  Ohres,  Anästhesie  der  oberen  Zähne 
(u.  U.  Ausfallen  derselben  und  Nekrose  des  Alveolarfortsatzes),  Ge- 
schmackstörunsren  auf  den  vorderen  Theilen  der  Zunge. 


Fig.  93. 

Vertheilung  der  Hautnerven  am  Kopfe.  Vt  =  erster  Trigeminusast.  so  N.  supraorbitalis.  st  N. 
supratrochlearis.  it  N.  infratrochlearis.  e  N.  ethmoidalis.  1  N.  lacrymalis.  —  Vo  =  zweiter  Trige- 
minnsast.  smlf.  subcutan,  malae.  —  V3  =  dritter  Trigeminusast.  at  X.  anriculo-temporalis.  b  JS". 
buceinatorius.  m  N.  mentalis.  —  oma  N.  occipitalis  maj.,  omi  N.  occipitalis  min.,  am  N.  auricul. 
magn.     sc  N.  subcut.  colli  (PI.  cervic).  —  B  =  hintere  Aeste  der  unteren  Halsnerven. 


c)  Dritter  Ast  (N.  inframaxillaris) :  Anästhesie  der  Haut,  ent- 
sprechend Fig.  93  (V3),  eines  Theiles  der  Dura  mater,  der  Zunge, 
der  Unterkiefer-  und  Wangenschleimhaut,  der  unteren  Zähne  (u.  U. 
Ernährungstörungen,  vergl.  oben),  Lähmung  der  Kaumuskeln,  des 
M.  tensor  tympäni,  des  M.  mylohyoideus,  des  vorderen  Bauches  des 
M.  biventer,  einiger  Gaumenmuskeln,  eventuell  Störungen  der  Speichel- 
absonderung. 

Bei  Läsion  des  gesammten  Trigeminus  besteht  demnach  An- 


336     Die  Functionstörung,  die  bei  Läsion  der  einzelnen  Nerven  eintritt. 

ästhesie  des  ganzen  Kopfes  mit  Ausnahme  der  vom  B.  auricul.  N.  vagi 
und  von  den  Nn.  occipitales  und  auricul.  magn.  versorgten  Hauttheile, 
mit  Einschluss  der  Gehirnhäute,  des  Auges,  der  Schleimhaut  in  Nasen- 
höhle, Paukenhöhle,  Mundhöhle,  des  Gaumens,  der  Zähne,  ferner 
Lähmung  der  unter  c  genannten  Muskeln,  Geschmackstörung  an  den 
vorderen  Theilen  der  Zunge,  Störungen  der  Absonderung  der  Thränen 
und  des  Speichels.  Unter  geeigneten  Umständen  können  an  den 
anästhetischen  Theilen  Ernährungstörungen  auftreten,  deren  wich- 
tigste die  sogenannte  Ophthalmia  neuroparalytica  und  die  Nekrose 
der  Zähne,  sowie  des  Alveolarfortsatzes  sind,  während  Ulcerationen 
der  verschiedenen  Schleimhäute,  Oedem  u.  s.  w.  eine  weniger  grosse 
Eolle  spielen. 

Die  Chorda  tympani,  die  die  Geschmacksfasern  für  den  vorderen  Theil 
der  Zunge  enthält,  geht  vom  zweiten  Trigeminusaste  zum  Facialis,  trennt 
sich  dann  von  diesem  und  legt  sich  an  den  N.  lingualis  (vergl.  Fig.  94) ; 
je  nach  dem  Sitze  der  lähmenden  Ursache  muss  sie  bei  Trigeminuslähmung 
bald  betheiligt  sein,  bald  nicht.  Vergl.  S.  183.  Vasomotorische  Fasern 
vom  N.  sympathicus  verlaufen  mit  den  Trigeminuszweigen  gemeinsam, 
dies  erklärt  die  bei  peripherischer  Trigeminuslähmung  auftretenden  vaso- 
motorischen Symptome.  Dass  der  Trigeminus  directe  Einwirkung  auf  die 
Irismuskeln  besitze,  ist  unwahrscheinlich.  Ob  Hemiatrophia  faciei,  Glaucom 
durch  Läsion    von  Trigeminusfasern  zu  erklären  sind,   ist  nicht  bekannt. 

Wie  die  Erkrankungen  anderer  sensibler  Nerven  kann  auch  die  der 
Trigeminusfasern  Herpes  zoster  begleiten  (H.  z.  frontalis,  ophthalm.,  la- 
bialis u.  s.  w.). 

Centrale  Kaumuskellähmung  ist  als  Folge  doppelseitiger  Grosshirn- 
herde beobachtet  worden  (vergl.  S.  88).  Centrale  Trigeminusanästhesie 
ist  bisher  nur  als  Theilerscheinung  der  Heinianästhesie  bekannt.  Kern- 
läsionen sind  selten,  der  motorische  Trigeminuskern  wird  zuweilen  bei  der 
progressiven  Bulbärparalyse  ergriffen,  es  tritt  dann  Kaumuskellähmung 
mit  degenerativer  Atrophie  ohne  Sensibilitätstörung  ein.  Herderkrankungen 
der  Brücke  können  u.  U.  auch  die  sensorischen  Trigeminuskerne  treffen. 
Ueber  die  mit  Hemiplegie  oder  Hemianästhesie  gekreuzte  peripherische 
Trigeminuslähmung  als  Symptom  von  Erkrankung  der  Brücke ,  bez. 
Oblongata  s.  S.  83.  In  der  Brücke  sollen  den  Trigeminusfasern  die  Ge- 
schmacksfasern nicht  mehr  beigesellt  sein.  An  eine  Erkrankung  der 
aufsteigenden  Trigeminuswurzel  wird  man  denken,  wenn  zu  Läsionen  des 
Halsmarkes  sich  Trigeminussymptome  gesellen ;  vielleicht  auch  bei  Ta- 
bes, doch  können  hier  auch  die  peripherischen  Zweige  erkrankt  sein. 
Weitaus  am  häufigsten  sind  peripherische  Trigeminusläsionen,  je  nach  der 
Ausdehnung  der  Symptome  wird  man  die  Läsion  in  die  einzelnen  Zweige 
oder  in  den  Stamm,  beziehungsweise  in  dsis  Gangl.  Gasseri  zu  verlegen 
haben.  Dass  die  Läsion  des  letzteren  besondere  Kennzeichen  habe,  ist 
möglich,  da  nach  G au le's  Versuchen  gewisse  trophische  Störungen  von 
der  Reizung  des  Ganglion  abhängen,  doch  ist  klinisch  die  Sache  ganz 
unsicher. 


Hirnnerveii.  337 

Am  häufigsten  ist  die  Läsion  des  Trigeminus  bei  Erkrankung  der 
Gesichts-  oder  Schädelknocken,  der  Meningen,  der  Carotis  interna  (Druck 
auf  das  Ganglion  Gasseri),  bei  Infectionen  und  Intoxicationen. 

Bei  leichter  Reizung  treten  im  Gebiete  der  einzelnen  Zweige  Nerven- 
schmerzen auf,  die  hier  besonders  oft  den  neuralgischen  Charakter  haben. 
Die  Trigeminusneuralgie  (Neuralgia  N.  supraorbitalis ,  infraorbitalis,  men- 
talis, auriculotemporalis  u.  s.  f.)  ist  bei  Weitem  die  häufigste  Neuralgie. 
Gerade  hier  tritt  dieses  Symptom  oft  allein  und  ohne  erkennbare  Ursache 
auf,  so  dass  der  Anschein  einer  selbständigen  Krankheit  entsteht.  Von  der 
Läsion  des  Nerven  sind  zu  unterscheiden  die  ausstrahlenden  Schmerzen 
bei  Organerkrankungen  (Caries  der  Zähne,  Glaukom,  Iritis,  Kiefer-,  Stirn- 
höhlenentzündung u.  s.  w.).  Die  meisten  Supraorbitalis  -  Neuralgien  sind 
Symptome  einer  Stirn höhlenerkrankung. 

6.  N.  abducens:  Lähmung'  des  M.  rectus  externus. 

Die  Läsion  des  Abducenskernes  oder  dessen  Umgebung  ist  dadurch 
kenntlich,  dass  nicht  nur  der  Rectus  ext.,  sondern  auch  der  Rectus  int. 
der  anderen  Seite  gelähmt  ist.  Meist  handelt  es  sich  um  Parese  des 
Rectus  int.,  in  einigen  Fällen  zeigte  sich  diese  nur,  wenn  der  contralaterale 
Internus  mit  dem  gelähmten  Externus  thätig  sein  sollte,  beim  Blicke  nach 
der  Seite  des  letzteren,  in  anderen  Fällen  war  die  Thätigkeit  des  Rect. 
int.  auch  beim  unoculären  Sehen  beeinträchtigt.  Die  Convergenz  ist  immer 
möglich.  Bei  doppelseitiger  Läsion  des  Abducenskernes  sind  beide  Augen 
geradeaus  gerichtet,  weder  nach  rechts  noch  nach  links  ist  Bewegung  mög- 
lich. Bei  extracerebraler  Läsion  des  N.  abducens  ist  der  contralaterale  Rect. 
internus  unbehelligt.  Die  peripherische  Läsion  kommt  vor  primär  bei  Tabes, 
bei  anderen  Infectionen  (selten),  als  angeboren,  secundär  bei  Erkrankung 
der  Schädelknochen  (bes.  des  Felsenbeins),   der  Meningen,  bei  Tumoren. 

7.  N.  facialis:  Lähmung-  der  mimischen  Gesichtsmuskeln,  des 
M.  stylohyoideus  und  des  hinteren  Bauches  des  M.  Mventer,  wenn 
die  lähmende  Ursache  unterhalb  der  Linie  a  (s.  Fig.  94)  sitzt;  ausser- 
dem Lähmung  des  M.  occipitalis  und  des  M.  auricul.  post.,  wenn  die 
Läsion  zwischen  aund/i  sitzt;  ausserdem  Geschmackstörung,  wenn 
die  Läsion  zwischen  ß  und  y  sitzt;  ausserdem  Lähmung  des  M.  stape- 
dius,  wenn  die  Läsion  zwischen  y  und  d  sitzt ;  ausserdem  Lähmung 
des  M.  levator  palati  (dessen  Ast  vom  N.  facial.  durch  den  N.  petr. 
superf.  maj.  zum  Gangl.  sphenopalat.  gehen  soll),  wenn  die  Läsion 
zwischen  ö  und  e  (d.  h.  im  Gangl.  geniculatum)  sitzt ;  alle  genannten 
Störungen,  aber  keine  Geschmackstörung,  wenn  die  Läsion  über  e 
sitzt.  Neuerdings  ist  es  wahrscheinlich  geworden,  dass  der  Facialis 
mit  der  Innervation  des  Gaumens  überhaupt  nichts  zu  tlnm  habe. 
Hinzuzufügen  ist,  dass  zuweilen  Verminderung  der  Speichelsecretion 
eintritt,  sobald  die  Läsion  oberhalb  ß  sitzt :  die  Speicheldrüsenfasern 
sollen  vom  Ursprung  ab  im  Stamme  des  Facialis  verlaufen,  ihn  aber 
mit  der  Chorda  tymp.  verlassen. 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Auü.  22 


338 


Funetionstürune'.  die  bei  Läsion  einzelner  Nerven  eintritt. 


Die  Läsion  des  Facialiskernes  ist  meist  dadurch  charakterisirt ,  da'ss 
die  Zeichen  peripherischer  Lähmung  bestehen  (Atrophie  und  partielle  Ent- 
artungsreaction),  aber  nur  das  untere  Facialisgebiet  gelähmt  ist.  Der  Kern 
der  oberen  Facialiszweige  scheint  demnach  von  dem  für  die  Wangen-  und 
Lippenzweige,  dem  eigentlichen  Facialiskerne,  örtlich  getrennt  zu  sein  und 
nur  ausnahmeweise  mit  dem  letzteren  zugleich  zu  erkranken. 


jismj  G$ 


st(t 


ca. 


Fig.  94. 

(Mit  Benutzung  einer  Zeichnung  Henle's.) 

Vj  V2  V3  KT.  trigem.  1.  2.  3.  Ast.    VII  N.  facialis.   VIII  N.  acust.    G  g  Gangl.  geniculat.    c  p  t  R  com- 

rounie.  c.  plex.  tympan.    sta  N.  stapedius.    ca  N.  communic.  c.  auric.  vagi.    ap  N.  auricul.  post. 

1  N.  lingualis.    G  n  Gangl.  nasale,    v  N.  vidianus.   psmj  N.  petros.  superf.  maj.    c  h  t  Chorda  tympani. 


Die  basale  Facialislähmung  wird  kaum  isolirt  vorkommen,  die  Be- 
theiligung der  benachbarten  Hirnnerven  lässt  die  Diagnose  stellen. 

Ueber  Facialislähmuug  bei  Brückenherden  vergl.  S.  83,  über  centrale 
Facialislähmung  vergl.  S.  67.    Die  peripherische  Läsion  des  Nerven  kommt 


Hirnnerven.  339 

primär  recht  häufig  als  selbständige  infectiöse  Erkrankung  (sog.  rheumat. 
Facialislähmung)  vor.  Dabei  ist  bald  die  Strecke  oberhalb  ß  frei,  bald 
leidet  auch  die  Chorda.  Die  Lähmung  tritt  acut  ein,  oft  bestehen  im  Anfange 
auch  Trigeminusschmerzen.  Sie  ist  ausnahmeweise  doppelseitig.  Selten 
ist  die  Theilnahme  eines  oder  beider  Faciales  bei  Polyneuritis,  sehr  selten 
bei  Tabes. 

Secundäre  Erkrankung  entsteht  am  häufigsten  durch  Otitis  media, 
ferner  von  den  Schädelknochen,  den  Meningen  aus  (dann  meist  zugleich 
Läsion  des  Acusticus).  Partielle  Facialisläbmungen  kommen  bei  Erkran- 
kung der  Parotis,  durch  Wunden  im  Gesicht  u.  A.  vor. 

Bei  leichter  Reizung  des  Nerven  entstehen  Krämpfe  der  Gesichts- 
muskeln. Der  Facialiskrampf  ist  meist  Symptom  der  Hysterie,  oder  er 
tritt  bei  erblich  Belasteten  als  sog.  Tic  convulsif  auf.  Mit  diesem  dürfen 
die  reflectorischen  Zuckungen  bei  Trigeminusneuralgie  nicht  verwechselt 
werden. 

8.  N.  acusticus: 

a)  E.  coclilearis  =  Taubheit. 

b)  E.  vestibularis  =  Schwindel  und  Gleichgemacht  Störungen. 
Primär  erkrankt   der  8.  Nerv  sehr  selten,  zuweilen   bei  Tabes,   bei 

multipler  Sclerose,  möglicherweise  auch  bei  infectiöser  Neuritis.  Secundäre 
Erkrankung  bewirkt  am  häufigsten  die  Cerebrospinalmeningits,  die  bes. 
oft  das  Labyrinth  zerstört.  Tumoren  des  Gehirns  oder  des  Schläfenbeins 
können  natürlich  auch  den  8.  Nerven  treffen.    Vergl.  a.  S.  176  ff. 

9.  N.  glossopharyngeus:  Verlust  des  Schmeckverniögens  auf 
den  hinteren  Theilen  der  Zunge,  am  Gaumen  und  Eachen  (Ageusis), 
nach  Einigen  auch  Lähmung  des  M.  stylopharyngeus. 

Die  Läsion  scheint  fast  nur  bei  Erkrankungen  der  Schädelbasis  vorzu- 
kommen.   Vergl.  S.  184. 

10. — 11.  N.  vago-accessorius: 

a)  E.  externus  N.  accessorii :  Lähmung  der  Mm.  sternocleidomast. 
und  cucullaris. 

b)  Fasern  des  N.  access.,  die  mit  dem  N.  vagus  verlaufen :  Gau- 
men- und  Schlundlähmung,  Lähmung  der  Kehlkopfmuskeln,  Störun- 
gen der  Herzthätigkeit  (letztere  gewöhnlich  nur  bei  doppelseitiger 
Erkrankung). 

c)  eigentliche  Vagusfasern.  Anästhesie  eines  Theiles  der  Ohr- 
haut,  des  Eachens,  Kehlkopfs,  wahrscheinlich  auch  des  Oesophagus, 
der  Trachea  und  der  Bronchen,  möglicherweise  des  Magens  (Ver- 
lust des  Sättigungsgefühles),  Lähmung  des  Oesophagus,  wahrschein- 
lich Störungen  der  Beweglichkeit  des  Magens,  Störungen  der  Herz- 
und  Athniimgsthätigkeit  (letztere  besonders  bei  doppelseitiger  Er- 
krankung). 

Der  N.  laryngeus  sup.  versorgt  die  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  und 
den  M.  cricothyreoid.,  der  N.  laryng.  inf.  s.  recurrens  die  übrigen  Kehl- 

22* 


340  Functionstörung,  die  bei  Läsion  einzelner  Nerven  eintritt. 

kopfmuskeln  und  wahrscheinlich  die  Schleimhaut  unterhalb  der  Stimm- 
bänder. 

Die  primäre  Erkrankung  des  Vagoaccessorius  kommt  am  häufigsten 
bei  Tabes  vor  (theils  Kern-,  theils  peripherische  Läsion).  In  seltenen 
Fällen  sind  die  meisten  Aeste  betroffen,  gewöhnlich  nur  Kehlkopf- (und 
Herz-)  fasern :  Kehlkopf krisen ,  Kehlkopf lähmungen ,  Tachykardie.  Am 
häufigsten  kommt  einseitige  oder  doppelseitige  Abductorlähmimg,  seltener 
einseitige  Lähmung  aller  Stimmbandmuskeln  (sog.  Kecurrenslähmung)  vor. 
Bei  infectiöser  oder  toxischer  Neuritis  scheinen  besonders  die  Herzfasern 
zu  leiden  (Tachykardie  und  Schwäche  des  Herzens),  doch  kommen  auch 
Kehlkopflähmungen  vor. 

Verletzungen  (Schuss,  Stich)  können  den  Nerven  unterhalb  des  Fo- 
ramen jugulare  treffen,  häufiger  sind  Beschädigungen  einzelner  Aeste,  be- 
sonders des  Recurrens  durch  Aneurysmen,  Geschwülste,  bei  Operationen. 

12.  N.  hypoglossus:  Lähmung-  der  Mm.  genio-,  hyo-,  stylo- 
glossus,  der  Binnenmuskeln  der  Zunge,  der  Mm.  genio-,  omo-,  sterno- 
hyoideus,  hyo-  und  sternothyreoideus. 

Primäre,  fast  immer  einseitige  Erkrankung  des  Hypoglossus  (wohl 
meist  Kernläsion)  bei  Tabes,  vielleicht  bei  Neuritis.  Am  häufigsten  wird 
der  Nerv  durch  Geschwülste  der  Schädelbasis  beschädigt,  am  Halse  kön- 
nen ihn  Stich-  und  Schnittverletzungen  treffen. 


II.  Rückenmarksnerven. 

1 .  Bezüglich  der  vieroberen  Hals  nerven  sind  zu  erwähnen : 

N.  occipit.  magn.  (N.  cerv.  II):  Anästhesie,  vgl.  Fig.  93  oma. 

N.  occipit.  min.  (N.  cerv.  III):  Anästhesie,  vgl.  Fig.  93  omi. 

N.  auricul.  magn.  (N.  cerv.  III):  Anästhesie,  vgl.  Fig.  93  am. 

Nn.  subcut.  colli  med.  und  inf.  (Nn.  cerv.  II  und  III):  An- 
ästhesie der  vorderen  und  seitlichen  Halshaut,  vgl.  Fig.  93  es,  und 
Parese  des  Platysma. 

N  n.  s  u  p  r  a  c  1  a  v  i  c  u  1.  (N.  cerv.  IV) :  Anästhesie  der  oberen  Brust- 
und  Schultergegend,  vgl.  Fig.  93  sc,  97  C. 

N.  infraoeeipit.  (N.  cerv.  I):  Lähmung  der  Mm.  rect.  cap. 
post.  maj.  und  min.,  obliqu.  cap.  sup.  und  inf.,  biventer  cerv.  und 
complexus. 

N.  phrenicus:  Lähmung  des  Zwerchfells. 

Die  übrigen,  bisher  nicht  genannten  Zweige  der  oberen  Cervical- 
nerven  versorgen  die  Mehrzahl  der  tiefen  Hals-  und  Nackenmuskeln, 
die  Mm.  scaleni  und  zum  Theil  den  M.  lev.  scapulae. 

Die  Erkrankung  dieser  Nerven  ist,  abgesehen  vom  Phrenicus,  recht 
selten.  Neuralgien  der  Occipitalnerven  kommen  bei  Syphilis  (nächtl.  Stei- 
gerung), bei  Caries  der  Halswirbel,  selten  bei  infectiöser  Neuritis  vor. 
Diese  Ursachen  bewirken  auch  zuweilen  Lähmungen  der  Nackenmuskeln. 


Rückemnarksnerveii. 


341 


342  Functionstörung,  die  bei  Läsion  einzelner  Nerven  eintritt. 

In  vereinzelten  Fällen  hat  man  solche  auch  bei  M.  Basedowii,  bei  Tabes 
oder  ohne  nachweisbare  Ursache  beobachtet.  Viel  häufiger  sind  Krämpfe 
der  Hals-  und  Nackenmuskeln  (Schüttel- ,  Nickkrämpfe) ,  die  zum  Theil 
sehr  hartnäckig  sind  und  über  deren  Natur  man  oft  nicht  in's  klare  kommt, 
wenn  es  auch  zuweilen  gelingt ,  schmerzhafte  Stellen  an  den  Knochen, 
Nervengeschwülste  oder  dergl.  zu  finden,  bei  deren  Beseitigung  der  Krampf 
verschwindet. 

Der  N.  phrenicus  ist  wegen  seines  langen  Verlaufes  Schädlichkeiten 
besonders  ausgesetzt.  Zwerchfelllähmung  ist  nicht  selten  bei  Polyneuritis, 
sie  kommt  ausnahmeweise  auch  bei  Tabes  vor.  Der  Nerv  kann  durch 
Geschwülste,  Entzündungen  der  Umgebung,  Traumata  getroffen  werden. 

2.  Läsion  der  hinteren  Aeste  der  v i e r  unteren  Halsnerven 
bewirkt  Anästhesie  der  Nackengegend  (auf  Fig.  93  mit  B  bezeichnet) 
und  Lähmung  eines  Theils  der  tiefen  Nackenmuskeln. 

Die  vorderen  Aeste  bilden  den  Plexus  brachialis,  d.  h.  fol- 
gende Nerven: 

N.  dorsalisscapulae:  Lähmung  der  Mm.  rhomboidei,  Parese 
des  M.  levat.  scap.  und.  des  M.  serratus  post.  superior. 

N.  suprascapularis:  Lähmung  der  Mm.  supra-  und  infra- 
spinatus. 

N.  axillaris:  Lähmung  des  M.  deltoideus  und  des  M.  teres 
min.,  Anästhesie,  vgl.  Figg.  95  und  97  ax. 

Nn.  subscapulares:  Lähmung  der  Mm.  subscapul.,  teres  maj., 
latiss.  dorsi. 

N.  thoracicus  post.:   Lähmung  des  M.  serratus  anticus. 

Nn.  thoracici  ant.:  Lähmung  der  Mm.  pector.,  vielleicht  An- 
ästhesie der  Haut  über  der  Brustdrüse. 

Nn.  cu tan.  media lis  (N.  cutan.  intern,  min.),  medius  (N.  cutan. 
intern,  maj.):  Anästhesie,  vgl.  Figg.  95  und  97  cmd,  cm. 

Die  Achselhöhle  wird  versorgt  vom  N.  cut.  med.  und  vom  lateralen 
Hautaste  des  zweiten  Intercostalnerven. 

N.  cut.  lateralis  (N.  musculocutaneus) :  Anästhesie ,  vgl. 
Figg.  95  urd  97  cl,  und  Lähmung  der  Mm.  coracobrach. ,  bieeps  br. 
und  brachialis  int.  (mediales  Bündel). 

N.  medianus:  Anästhesie,  vgl.  Figg.  95  und  96  me,  beziehungs- 
weise m,  und  Lähmung  der  Mm.  pronator  teres ,  pronator  quadratus, 
rad.  int.,  palm.  longus,  flex.  dig.  sublim.,  flex.  dig.  prof.  (zum  Theil), 
flex.  poll.  long.,  der  kurzen  Daumenmuskeln  mit  Ausnahme  des  Ad- 
duet.  poll.  (und  wahrscheinlich  mit  Ausnahme  des  inneren  Kopfes  des 
Flex.  poll.  brev.),  der  drei  ersten  Mm.  lumbricales. 

N.  ulnaris:  Anästhesie,  vgl.  Figg.  95  und  96  u,  und  Lähmung 
der  Mm.  uln.  int.,  flex.  dig.  prof.    (zum  Theil),   der  Mm.  interossei, 


Rückenmarksiierveu. 


34:) 


des  vierteil  M.  lumbric,  des  Adductor  poll.  und  wahrscheinlich  des 
inneren  Kopfes  des  Flex.  poll.  brev.,  des  M.  palm.  brev.,  der  Mus- 
keln des  Hypothenar. 

N.  radialis:  Anästhesie,  vgl.  Fig\  95  cps,  cpi  und  ra,  und  Läh- 
mung' der  Mm.  triceps,  ancon.  quartus,  eines  Theiles  des  M.  brach,  int., 
der  Mm.  supin.  long,  und  brevis,  radial,  long,  und  brevis,  uln.  ext., 
extensor  dig.  comm.,  extens.  ind.  und  extens.  digiti  quinti,  extens. 
poll.  long,  und  brev.,  abduct.  poll.  longus. 

Bei  Läsion  des  N.  racl.  an  der  Umschlag- 
stelle ist  die  Anästhesie  auf  die  Hand  beschränkt, 
ist  der  M.  triceps  nicht  gelähmt.  Hier  wie  beim 
Med.  und  Uln.  kann  der,  der  den  Verlauf  des 
Nerven  kennt,  aus  der  Verbreitung  der  Störung 
an  Haut  und  Muskeln  mit  Leichtigkeit  die  Stelle 
der  Läsion  bestimmen. 

Die  Nerven  treten  in  den  Plexus  so 
ein,  wie  sie  im  Rückenmarke  geordnet  sind. 
Läsionen  des  Plexus  haben  daher  einen  ähn- 
lichen Erfolg  wie  umschriebene  Läsionen  des 
unteren  Halsmarkes. 

Bei  Läsionen  des  PI.  brach,  über  der 
Clavicula  zeigen  sich  sehr  verschiedene  Com- 
binationen  der  Lähmung  und  Anästhesie. 


Fig.  96. 

HautnervengelDiet  der  Dorsalseite 

der  Hand,  r  N.  radialis,  m  N.  me- 

dianus.    Ti  N.  ulnaris. 


Unter  ihnen  scheint  die  häufigste  einer  Lä- 
sion  des  fünften  und  sechsten  Cervicalnerven  an 

dem  sogenannten  Erb'schen  Punkte  (Fig.  45)  zu  entsprechen.  Es  besteht 
dann  in  der  Regel  Lähmung  der  Mm.  delt,  biceps,  brach.  int,  sup.  long., 
infraspin.,  zuweilen  Anästhesie  im  Gebiete  des  Medianus. 

Bemerkenswerth  ist  ferner  die  Verbindung  von  Lähmung  der  kleinen 
Handmuskeln,  Anästhesie  an  der  Innenseite  des  Armes  und  Lähmung  der 
sympathischen  Augenfasern  (Verengerung  der  Pupille  und  Lidspalte).  Ihr 
entspricht  die  Läsion  des  8.  Hals-  und  1.  Brustnerven  beim  Austritte  aus 
dem  Wirbelcanale. 

Die  einzelnen  Schulter-  und  Armnerven  erkranken  verschieden  oft, 
je  nachdem  ihr  Verlauf  sie  Schädlichkeiten  aussetzt.  Weitaus  am  häu- 
figsten kommen  traumatische  Lähmungen  (Stoss,  Druck)  vor,  so  die  trau- 
matische Serratuslähmung,  die  etwas  seltenere  Läsion  des  N.  axillaris,  die 
seltene  des  N.  dorsalis  scap.  u.  a.  an  der  Schulter,  die  ungemein  häufige 
traumatische  Radialislähmung  (gewöhnlich  Druck  auf  die  Umschlagstelle 
am  Oberarme,  hie  und  da  Krückendruck  oder  dergl.  in  der  Achselhöhle), 
die  Ulnarislähmung  am  Arme.  In  der  Nähe  des  Handgelenkes  werden 
Medianus  und  Ulnaris  oft  von  schneidenden  Werkzeugen  getroffen. 

Bei  Polyneuritis  werden  die  verschiedensten  Combinationen  beobachtet. 
Sog.  rheumatische  Erkrankungen,  d.  h.  infectiöse  Neuritiden  scheinen  bes. 
am  N.  thor.  longus  s.  post.,  am  Axillaris,  am  Radialis,  am  Ulnaris  vor- 


344  Functionstörung,  die  bei  Läsion  einzelner  Nerven  eintritt. 

zukommen.  Bei  Neuritis  puerperalis  leiden  bes.  die  Endäste  der  Nn.  me- 
dianus  und  ulnaris.  Vorwiegend  Armnerven  erkranken  bei  der  Blei-Neu- 
ritis, deren  charakteristisches  Bild  die  Diagnose  leicht  macht.  Ueber  sie, 
die  Arsenikneuritis  u.  s.  w.  vergl.  unter  „Neuritis"  (S.  349  ff.). 

Es  kommen  übrigens  hie  und  da  Erkrankungen  einzelner  Armnerven, 
besonders  des  Ulnaris  vor,  bei  denen  es  nicht  gelingt,  die  Ursache  zu 
finden. 

Wirkliche  Neuralgien  im  Gebiete  des  PI.  brach,  sind  durchaus  selten, 
man  begnüge  sich  nie  mit  dieser  Diagnose,  sondern  suche  nach  den  Ur- 
sachen der  etwaigen  Nervenschmerzen. 

Eine  besondere  Gruppe  bilden  die  Störungen,  die  durch  Ueberan- 
strengung  der  Hand  oder  des  Armes  entstehen.  Am  häufigsten  kommt  es 
auf  diesem  Wege  zu  krampfhaften  Zuständen:  die  überanstrengten  Mus- 
keln gerathen  bei  der  schädlichen  Beschäftigung  in  Krampf,  ohvvohl  sie 
sonst  gut  beweglich  sind.  So  ist  es  beim  Schreibekrampfe :  sobald  die  Feder 
angesetzt  wird,  ziehen  sich  die  Beugemuskeln  zum  Theil  zusammen  und 
verhindern  das  Schreiben.  Zuweilen  handelt  es  sich  nur  um  eine  lähmungs- 
artige Schwäche,  die  beim  Versuche  zu  schreiben  in  der  Hand  eintritt. 
Die  ergriffenen  Muskeln  sind  schmerzhaft.  Aehnliche  Zustände  sind  bei 
Ciavier-,  Geigenspielern,  bei  Telegraphenbeamten,  Schneidern,  Cigarren- 
wicklern  u.  A.  beobachtet  worden.  Auch  Lähmung  mit  Muskelschwund 
kann  durch  Ueberanstrengung  entstehen,  Daumenlähmung  bei  Trommlern, 
bei  Citherspielern  u.  A.  Ueber  die  anatomischen  Veränderungen  bei  allen 
diesen  Erkrankungen  weiss  man  nichts. 

3.  Dorsalnerven,  hintere  Aeste:  Anästhesie  der  Eüekenliant 
und  Lähmung  der  langen  und  kurzen  Eückenmuskeln,  vordere  Aeste 
(N n.  i n t  e r  co  s  t  a  1  e  s) :  Anästhesie  der  seitlichen  und  vorderen  Brust- 
und  der  Bauchgegend  (Fig.  97),  Lähmung  der  tiefen  Brust-  und 
der  Bauchmuskeln  (u.  U.  Secretionstörung  der  Brustdrüse). 

Bei  Läsion  eines  Intercostalnerven  Anästhesie  des  betroffenen  Inter- 
costalraumes ,  die  nur  bei  gleichzeitiger  Erkrankung  des  hinteren  Astes 
bis  zur  Mittellinie  des  Rückens  reicht.  Die  untere  Grenze  des  Gebietes 
der  Intercostalnerven  ist  veränderlich,  sie  reicht  zuweilen  bis  unter  die 
Crista  ilei. 

Die  Läsion  der  Brustnerven  kommt  vor  bei  Wirbelerkrankungen, 
Aneurysmen,  Tabes,  bei  multipler  Neuritis,  bei  Herpes  zoster  u.  s.  w. 
Reine  Neuralgien  kommen  selten  vor,  wenn  man  auch  oft  von  ihnen 
spricht.  , 

4.  Vier  Lenden  nerven,  hintere  Aeste:  Anästhesie  der  oberen 
Gesässgegend  und  Lähmung  eines  Theiles  der  langen  Eückenmus- 
keln, vordere  Aeste  (Plexus  lumbalis)  sind  folgende  Nerven: 

N.  ilio-hypogastricus:  Anästhesie  in  der  Hüftgegend  und 
im  Hypogastrium  (ih  Fig.  97). 

N.  ilio-inguinalis:  Anästhesie  (vgl.  ii  Fig.  97  und  98)  der 
Haut  über  dem  M.  tensor  fasc.  und  des  Mons  veneris. 


Rückenmarksuerven.  345 

X.  1  u  m  b  o  -  i  n  g  u  i  n  a  1  i  s :  Anästhesie  entsprechend  1  i  auf 
Figg.  97  und  98. 

N.  spermaticus  externus:  Anästhesie  entsprechend  se  auf 
Figg.  97  und  98  und  des  inneren  Fläche  des  Scotuni,  beziehungs- 
weise der  Labia  majora. 

N.  cutaneus  fem.  1  a t e r. :  Anästhesie  entsprechend  cl  auf 
Figg.  97  und  98. 

N.  cruralis:  Anästhesie  entsprechend  er  und  sa  auf  Figg.  97 
und  98  und  Lähmung  der  Mm.  iliopsoas,  epiadrieeps  fem.,  sartorius 
(zuweilen  pectinaeus). 

N.  obturatorius:  Anästhesie  entsprechend  obt  auf  Figg.  97 
und  98  und  Lähmung  der  Mm.  obturat.  ext.,  pectin. ,  adduetores, 
gracilis. 

Die  Grenzen  dieser  Hautnervengebiete  sind  sehr  variabel. 

Läsionen  einzelner  Lendennerven  sind  recht  selten.  Am  häufigsten 
findet  man  diese  Nerven  betroffen  bei  Polyneuritis  und  bei  Verletzungen. 
Der  Cruralis  und  der  Obturatorius  können  gelegentlich  auch  bei  Tumoren, 
Hernien  u.  s.  w.  im  Becken  oder  an  der  Vorderseite  des  Oberschenkels 
beschädigt  worden. 

5.  Der  5.  Lendennerv  und  die  Sacralnerven  bilden  den 
PI.  sacralis  (die  kleinen  hinteren  Aeste:  Anästhesie  der  Haut  über 
dem  Os  sacrum.): 

N.  glutaeus  sup. :  Lähmung  der  Mm.  glut.  med.  und  min.,  pyri- 
formis,  tensor  fasc.  latae. 

N.  glut.  in  f.:  Lähmung  des  M.  glutaeus  maximus. 

N.  cutaneus  fem.  post.:  Anästhesie  des  unteren  Theiles  der 
Hinterbacke,  eines  Theiles  des  Scrotum  und  des  hinteren  Theiles 
des  Oberschenkels,  entsprechend  cp  Fig.  98. 

N.  ischiadicus:  Anästhesie,  entsprechend  cpm,  epe,  per',  per", 
cti,  epp,  plm,  pll  auf  Fig.  98,  Lähmung  der  Mm.  gemelli,  obtur.  int., 
quadratus  fem.,  bieeps  fem.,  semitend.,  semimembr.  (zuweilen  eines 
Theiles  des  Abciuct.  magn.),  der  Unterschenkel-  und  Fussmuskeln. 

a)  N.  peronaeus:  Anästhesie  =  epe,  cpm,  per',  per"  und  Lähmung 
der  Mm.  tib.  ant. ,  extens.  dig.  long.,  extens.  hall,  long.,  peron.  long,  und 
brevis,  extens.  dig.  brev.,  einiger  Mm.  interossei. 

b)  N.  tibialis:  Anästhesie  =  cti,  epp,  plm,  pll,  Lähmung  der 
Wadenmuskeln,  der  Mm.  tib.  post.,  flex.  dig.  long,  und  brevis,  flex.  hall, 
long,  und  brevis,  der  übrigen  Muskeln  an  der  Sohle  und  der  meisten 
Interossei. 

Die  häufigste  Erkrankung  im  Bereiche  des  PL  sacralis  stellt  die  Ischias 
dar :  Nervenschmerzen  im  Verlaufe  des  N.  ischiadicus,  zu  denen  sich  manch- 
mal Parästhesien ,  Anästhesie,  Paresen,  Atrophie,  Oedem  gesellen  und 
die  wahrscheinlich    auf  einer  Perineuritis    beruhen.    Im  Uebrigen  kommt 


346 


Functionstörung,  die  bei  Läsion  einzelner  Nerven  eintritt. 


Läsion   des  Ischiadicus  durch  Verletzung  (von   aussen   oder  vom  Becken 
her),   durch   Erkrankung   benachbarter  Theile   und  bei   Polyneuritis   vor. 

Entzündungen  und  Ge- 
schwülste im  Becken,  Druck 
während  der  Geburt  sind  die 
häufigsten  in  Betracht  kom- 
menden Ursachen,  ausser 
den  Giften.  Besonders  der 
N.  peronaeus  wird  oft  be- 
schädigt, ähnlich  wie  der 
N.  radialis  am  Arme.  Er 
kann  auch  im  Becken  ge- 
troffen werden,  da  seine 
Fasern  über  den  Becken- 
rand vom  PI.  lumbalis  zum 
PI.  sacralis  laufen. 

N.  pudendo-hae- 
morrhoidalis  (s.  pu- 
dend.  communis) :  An- 
ästhesie der  Haut  der 
Aftergegend  (N.  hae- 
morrli.  ext.),  des  Dammes, 
eines  Theiles  des  Scrotum 
(sc.  auf  Fig.  97) ,  bezieh- 
ungsweise der  Labien,  der 
Schleimhaut  der  Urethra 
und  Vagina  (N.  pudend.), 
der  Haut  des  Penis,  be- 
ziehungsweise der  Clitoris 
(N.  dors.  penis,  dp  auf 
Fig.  97)  und  Lähmung 
der  Muskeln  des  Becken- 
bodens, der  Sphincteren 
und  der  Blase. 

Die  Läsion  kommt  am 
häufigsten  bei  Erkrankung 
der  Cauda  equina  vor,  durch 
Verletzungen  oder  Ge- 
schwülste. Nervenschmer- 
zen ohne  nachweisbare  Ur- 
sache zeigen  sich  zuweilen 
als  Neuralgie  des  Hodens 
u.  s.  w. 

6.  PI.  coccygeus:  Anästhesie  der  Haut  über  dem  Steissb eine. 
Nervenschmerzen  nach  Verletzung  oder  ohne  bekannte  Ursache. 


Fig.  97. 

Vt  V-7  V3  =  1.,  2.,  3.  Triareminusast.  C  =  Cervicalnerven. 
B  =  Braehialnerven  :  a  x  X.  axillaris,  c  m  d  X.  cut.  medialis, 
c  m  X.  cut.  medius,  c  1  N.  cut.  lateralis.  J  C  =  Intercostal- 
nerven :  ra  Rami  anteriores,  rl  Rami  laterales.  L=  Lum- 
balnerven: ih  X.  ilio-hypopastricus ,  ii  X.  ilio-ineuinalis, 
li  N.  lumbo-inguinalis ,  so  X.  spermat.  ext.  ,  cl  X.  cutan. 
lateralis,  c  r  X.  cruralis,  o  b  t  X.  obturator.  s  c  =  Xn.  scro- 
tales,  dp  =  X.  dorsalis  penis.  cp  =  X.  cutan.  post.  (letztere 
3  vom  P.  sacralis). 


Rückenmarksnerven. 


347 


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H.5 


o48  Fuiictionstörung',  die  bei  Läsion  einzelner  Nerven  eintritt. 


III.  N.  sympathicus. 

1.  Halst  heil:  Enge  der  Pupille  mit  Verlust  der  reflectorischen 
Erweiterung,  sonst  gut  erhaltener  Beweglichkeit,  Verengung  der  Lid- 
spalte, Zurücksinken  des  Bulbus,  Gefässerweiterung  (zuweilen  Gef  äss- 
verengerung)  auf  der  kranken  Kopfhälfte,  Anidrosis  (zuweilen  Hy- 
peridrosis)  ebenda,  Abflachung  der  kranken  Gesichtshälfte.  Bei  Eei- 
zung  des  Nerven  treten  Erweiterung  der  Pupille  und  der  Lidspalte, 
Vortreten  des  Augapfels,  Gefässverengerung  (zuweilen  Gefässerwei- 
terung), Hyperidrosis  (zuweilen  Anidrosis)  ein. 

Die  im  Halssympathicus  vereinigten  Augenfasern  nnd  Gefässfasern 
sind  nicht  nur  im  centralen  Nervensystem,  sondern  auch  in  den  Rami  com- 
municantes  getrennt,  daher  nur  Pupillen-Lid-Symptome  oder  nur  Gefäss- 
veränderungen  bei  deren  umschriebener  Erkrankung;  bes.  sind  bemerkens- 
werth  die  sympathischen  Augensymptome  bei  Beschädigung  des  R.  com- 
municans  vom  1.  Brustnerven. 

Die  Läsion  des  Halssympathicus  kann  zu  Stande  kommen  durch  directe 
Verletzung  von  aussen,  durch  Druck  von  Geschwülsten,  Uebergreifen  von 
Entzündungen  (von  Lymphdrüsen  u.  s.  w.  aus).  Zuweilen  findet  man  die 
sympathischen  Symptome,  bes.  Hyper-  oder  Anidrosis,  Gefässveränderungen, 
ohne  dass  die  Ursache  nachzuweisen  wäre. 

2.  Brust-  und  Bauchtheil:  nichts  Sicheres  bekannt.  Bei 
Läsion  der  Nn.  cardiaci  ist  Verlangsamung  der  Herzaction  zu  er- 
warten, bei  solcher  der  Nn.  splanchnici  Fuiictionstörung  des  Darms, 
der  Bauchdrüsen  und  Beckenorgane.  Da,  abgesehen  vom  N.  vagus 
und  N.  pudendo  -  haemorrh. ,  die  sympathischen  Bahnen  die  Verbin- 
dung zwischen  den  Organen  der  Bauch-  und  Beckenhöhle  und  dem 
Centralnervensystem  darstellen,  müssen  alle  bei  Erkrankungen  des 
letzteren  vorkommenden  Functionstörungen  jener  Organe  durch  Ver- 
mittelung  sympathischer  Fasern  entstehen. 


Ueber  Neuritis. 


Zur  Neuritis  rechnet  man  gewöhnlich  alle  Erkrankungen  der 
Nerven,  mögen  entzündliche  Veränderungen  da  sein,  oder  nicht.  Dies 
ist  insofern  berechtigt,  als  sich  eine  strenge  Trennung  zwischen 
Entzündung  und  einfacher  Entartung  nicht  durchführen  lässt.  Je 
nach  der  Art  und  der  Menge  des  Giftes  tödtet  es  die  Nervenfasern 
bald  rasch,  so  dass  die  Menge  der  Zerfallsproducte  Entzündung  her- 
vorruft, bald  langsam,  so  dass  die  Zerfallsproducte  hinweggeführt 
werden  können,  ohne  einen  wahrnehmbaren  Keiz  auszuüben.  Bald 
wirkt  das  Gift  nur  auf  die  Nervenfasern  selbst  zerstörend,  bald 
schädigt  es  auch  oder  vorwiegend  das  Zwischengewebe.  Man  kann 
auch  die  Perineuritis  nicht  von  der  Neuritis  scheiden,  ebenso- 
wenig wie  die  Nervenentzündung  von  der  Nervenentartung.  Nur 
die  secundäre  Degeneration  rechnet  man  nicht  zur  Neuritis. 

Da  die  Natur  nicht  nach  unseren  Lehrbüchern  arbeitet,  scheidet 
sie  auch  nicht  streng  die  Erkrankung  des  Gehirnes,  des  Eücken- 
markes  von  der  der  peripherischen  oder  Aussennerven.  Nicht  selten, 
wahrscheinlich  noch  häufiger,  als  man  es  jetzt  weiss,  erkranken 
bei  derselben  Krankheit  centrale  und  peripherische  Fasern  primär. 
A  priori  fit  denominatio.  Man  rechnet  die  Tabes  nicht  zur  Neuritis, 
weil  diese  bei  ihr  nicht  die  Hauptsache  ist,  und  umgekehrt  zählt 
man  die  Bleilähmung  mit  Eecht  zur  Neuritis,  mag  auch  einmal  das 
Eückenmark  miterkrankt  sein.  Decken  sich  die  Gebiete  der  centralen 
und  der  peripherischen  Erkrankung,  so  wird  natürlich  die  erstere 
von  der  letzteren  verdeckt. 

Auch  eine  primäre  Erkrankung  der  Muskeln  kann  neben  der 
der  Nerven  vorhanden  sein.  Wahrscheinlich  sind  vielfach  Neuritis 
und  Myositis  wesentlich  gleich. 


350  Heber  Neuritis. 

Das  Bild  der  Neuritis  ist  begreiflicherweise  je  nach  Ursache 
und  Ort  sehr  verschieden.  Strenggenommen  gehören  zur  Neuritis 
die  Ischias  und  viele  andere  sogenannte  Neuralgien,  der  Herpes  zoster, 
ferner  die  sogenannte  rheumatische  Facialislähmung,  die  sogenannte 
rheumatische  Augenmuskellähmung  und  analoge  Lähmungen  anderer 
Nerven.  Es  ist  üblich,  diese  Dinge  als  besondere  Krankheiten  zu 
beschreiben.  Secundäre  Entzündung  einzelner  Nerven  kann  durch 
Verwundungen  oder  durch  Uebergreifen  der  Entzündung  von  benach- 
barten Organen  aus  entstehen.  Handelt  es  sich  um  eine  directe  Ver- 
letzung des  Nerven,  so  haben  wir  entweder  eine  mechanische  Zer- 
störung mit  secundärer  Degeneration  vor  uns  und  dann  spricht  man 
nicht  von  Neuritis,  oder  aber  es  dringen  mit  der  Verletzung  Ent- 
zünclungserreger  in  den  Nerven  ein,  die  dann  eine  wirkliche  Neuritis 
bewirken  können.  Ebenso  können  die  Entzündungserreger  von  einer 
dem  Nerven  benachbarten  Wunde  aus  in  den  Nerven  eintreten.  Unter 
diesen  Umständen  kann  es  zu  der  sogenannten  Neuritis  migrans, 
beziehungsweise  Neuritis  ascendens  kommen,  von  der  früher  viel 
die  Eede  war,  die  aber  in  Wirklichkeit  recht  selten  ist.  Verläuft 
der  Process  mehr  oder  weniger  acut,  so  werden  heftige  Nerven- 
schmerzen eintreten ;  der  betroffene  Nerv  wird,  wenn  er  dem  Finger 
erreichbar  ist,  höchst  empfindlich  sein,  man  wird  ihn  zuweilen  als 
knotigen  Strang  fühlen;  auch  das  von  ihm  versorgte  Gebiet  wird 
gegen  Druck  sehr  empfindlich,  besonders  bewirkt  schon  geringer 
Druck  auf  die  Muskeln  lebhaften  Schmerz,  später  folgen  Parästhesien, 
Anästhesie,  Parese,  Lähmung,  Muskelschwund  mit  Entartungsreaction, 
zuweilen  Veränderungen  der  Haut  (Oedem,  Blasenausschlag  u.  dergl.). 
Sind  Schmerzen  und  Verdickung  der  Nerven  vorhanden,  ohne  dass 
es  zu  den  Zeichen  einer  Unterbrechung  der  Leitung  kommt,  so  spricht 
man  wohl  von  Perineuritis.  Zu  erkennen  ist  die  Krankheit  leicht. 
Am  häufigsten  wird  sie  mit  hysterischen  Störungen  verwechselt,  d.  h. 
es  wird  oft  eine  Neuritis  ascendens  diagnosticirt,  wo  nur  hysterische 
Erscheinungen,  Schmerzen,  Lähmung,  Anästhesie  vorhanden  sind. 
Die  Unterscheidung  wird  nicht  schwer  sein,  wenn  man  daran  denkt, 
dass  die  Neuritis  sich  an  die  anatomisch  aufzeigbaren  Wege  hält, 
die  Hysterie  nicht,  dass  bei  dieser  degenerative  Atrophie,  Verdickung 
der  Nerven  u.  s.  w.  nicht  vorkommen,  wenn  man  auf  anderweitige 
hysterische  Stigmata  achtet. 

Uebergreifen  der  Entzündung  von  anderen  Organen  auf  die  Nerven 
wird  unter  sehr  verschiedenen  Umständen  beobachtet.  Z.  B.  greift  die 
Meningitis  an  der  Basis  des  Gehirnes  auf  die  Hirnnerven  über,  Wirbel- 
entzündungen können  Neuritis  im  Wirbelloche  verursachen,  bei  der 


Ueber  Neuritis.  351 

sogenannten  Pachymeningitis  cervicalis  entstehen  die  Hauptsymptome 
durch  Einwirkung'  der  entzündlichen  Schwarten  auf  die  Wurzeln, 
eiterige  Pleuritis  kann  Neuritis  der  Intercostalnerven  bewirken,  ver- 
eiternde Lymphdrüsen  können  benachbarte  Nerven  entzünden,  bei 
Gelenkerkrankungen  kann  es  zu  Neuritis  in  der  Nachbarschaft  kom- 
men u.  s.  f.  Das  Bild  wird  im  Allgemeinen  dem  der  infectiösen  Neu- 
ritis bei  Verletzungen  gleichen.  Allgemeine  Angaben  lassen  sich  nicht 
machen. 

Der  Begriff  der  multiplen  Neuritis  umfasst  ebenfalls  ver- 
schiedene Zustände.  Die  meisten  toxischen  Nervenerkrankungen  im 
engeren  Sinne  stellen  eine  multiple  Neuritis  dar:  Alkoholneuritis, 
Bleineuritis ,  Arsenikneuritis ,  Kohlenoxydneuritis  u.  s.  w.  An  viele 
infectiöse  Krankheiten  können  sich  multiple  Neuritiden  anschliessen: 
Diphtherieneuritis ,  Typhusneuritis ,  Pneumonieneuritis ,  Scharlach- 
neuritis,  Influenzaneuritis,  Tuberkuloseneuritis  u.  s.  f.  Bei  einigen 
chronischen  Krankheiten  unerkannter  Natur  kommt  Neuritis  vor, 
z.  B.  beim  Diabetes.  Endlich  kennen  wir  eine  infectiöse  Erkrankung, 
deren  Wesen  eine  fieberhafte  multiple  Neuritis  ist,  die  multiple  Neu- 
ritis schlechtweg  oder  die  Polyneuritis  acuta,  eine  Krankheit,  die 
oifenbar  verwandt  ist  mit  der  als  Kakke  oder  Beriberi  bekannten 
endemischen  Neuritis. 

Da  es  ganz  unmöglich  ist,  alle  einzelnen  Formen  hier  zu  be- 
sprechen, sollen  nur  die  wichtigsten  kurz  geschildert  werden.  Wir 
beginnen  mit  der  selbständigen  Polyneuritis.  Diese  tritt  in 
der  Regel  wie  eine  allgemeine  acute  Infectionskrankheit  auf,  mit 
mehr  oder  weniger  hohem  Fieber,  Kopfschmerzen,  Abgeschlagenheit, 
Benommenheit,  Delirien,  hie  und  da  auch  Milzschwellung,  Albuminurie. 
Von  vornherein  pflegen  heftige  Schmerzen  zu  bestehen,  aber  diese 
sind  im  Anfange  ziemlich  unbestimmt  und  den  Gliederschmerzen  bei 
anderen  Infectionskrankheiten  ähnlich.  Es  kann  daher  die  Krankheit 
in  den  ersten  Tagen  wohl  verkannt  werden.  Da  zuweilen  auch  Gelenk- 
schwellungen  sich  zeigen,  könnte  man  an  Polyarthritis  denken.  Bald 
aber  lassen  die  allgemeinen  Erscheinungen  nach  und  treten  die  ört- 
lichen Symptome  hervor.  Gewöhnlich  zeigt  sich  zuerst  Parese  eines 
Beines  oder  beider  Beine.  Nach  den  Beinen  werden  die  Arme  und 
ein  Theil  der  Rumpfmuskeln  ergriffen.  Die  Hirnnerven  bleiben  in 
der  Regel  frei,  doch  hat  man  auch  ein-  oder  doppelseitige  Gesichts- 
lähmung, Augenmuskellähmungen  beobachtet.  Blasenstörungen  treten 
nur  ausnahmeweise  auf,  am  ehesten  kommt  vorübergehende  Harn- 
verhaltung vor.  Die  gelähmten  Muskeln  sind  gewöhnlich  schlaff,  sie 
nehmen  rasch  an  Umfang  ab,  es  kommt  zu  mehr  oder  weniger  aus- 


352  Ueber  Neuritis. 

geprägter  Atrophie  mit  Herabsetzung  der  elektrischen  Erregbarkeit 
oder  Entartungsreaction.  Die  Lähmimg  ist  keine  gleichmässige,  son- 
dern die  Muskeln  sind  in  verschiedenem  Grade  betroffen,  meist  die 
Strecker  viel  mehr  als  die  Beuger,  zuweilen  bleiben  einige  Muskeln 
im  Gebiete  der  Lähmung  verschont.  Die  Störungen  der  Empfindlich- 
keit bestellen  hauptsächlich  in  Schmerzen  und  Parästhesien.  Die 
Schmerzen  können  im  Anfange  sehr  heftig  sein,  sie  scheinen  manch- 
mal dem  Laufe  der  Nerven  zu  folgen,  mit  der  Zeit  aber  lassen  sie  nach, 
hören  nicht  selten  sogar  ziemlich  rasch  auf.  Prickeln,  Brennen,  Gefühl 
des  Eingeschlafenseins  zeigen  sich  besonders  in  den  Endgliedern  und 
können  lange  andauern.  Eines  der  wichtigsten  Symptome  ist  die 
Druckempfindlichkeit:  die  Nerven,  die  Muskeln,  zuweilen  auch  die 
Haut  vertragen  keinen  Druck  und  die  Kranken  schreien  oft  auf, 
wenn  man  z.  B.  die  Wadenmuskeln  kräftig  anfasst.  Eigentliche  An- 
ästhesie kommt  selten  vor,  meist  besteht  nur  Hypästhesie,  auch 
kann  die  Empfindlichkeit  gar  nicht  vermindert  sein.  Die  Keflexe 
sind  herabgesetzt  oder  erloschen.  Nur  ausnahmeweise  hat  man  Steige- 
rung der  Sehnenreflexe  beobachtet.  Fast  immer  findet  man  Verände- 
rungen der  Haut:  allgemeine  oder  umschriebene  Hyperidrosis,  Oedem, 
besonders  an  Hand-  und  Fussrücken,  zuweilen  Erytheme,  Herpes- 
bläschen,  Unebenheiten  der  Nägel,  Veränderungen  der  Haare.  In 
gewissem  Grade  ist  der  Puls  charakteristisch,  trotz  des  Fieberabfalles 
bleibt  oft  Tachykardie,  nicht  selten  wird  der  Puls  klein  und  un- 
regelmässig. Auch  seelische  Veränderungen  kommen  vor :  die  Kranken 
erscheinen  zuweilen  als  auffallend  vergesslich.  Wenn  nicht  die  Läh- 
mung sich  auf  die  Mehrzahl  der  Athemmuskeln  ausbreitet  und  damit 
Erstickung  bewirkt,  wenn  nicht  Herzlähmung  eintritt,  so  ist  der 
Verlauf  günstig  und  dies  ist  diagnostisch  wichtig.  Im  Gegensatze 
zu  spinalen  Erkrankungen  endet  die  Polyneuritis  in  der  Regel  mit 
vollständiger  Heilung.  Nur  ausnahmeweise  bleiben  einzelne  Mus- 
keln dauernd  gelähmt.  Rückfälle  sind  nicht  allzuselten.  Die  Poly- 
neuritis acuta  ist  eine  leicht  zu  erkennende  Krankheit.  Ist  sie  einmal 
ausgebildet,  so  können  Verwechslungen  für  den,  der  die  Krankheit 
überhaupt  kennt,  kaum  vorkommen.  Freilich  wird  oft  fälschlich  bei 
ihr  Spinallähmung  diagnosticirt,  aber  es  giebt  keine  Rückenmarks- 
krankheit, die  ihr  gliche.  Die  bei  Erwachsenen  seltene,  früher  viel 
genannte  Poliomyelitis  verläuft  ohne  Störungen  der  Sensibilität,  bei 
ihr  tritt  die  Lähmung,  soweit  es  sich  um  Poliomyelitis  acuta  handelt, 
plötzlich  ein  und  geht  dann  langsam  zurück,  während  die  direct 
betroffenen  Muskeln  rasch  gänzlich  zu  Grunde  gehen ;  die  chronische 
Form  entwickelt  sich  von  vornherein  schleichend  und  schreitet  stetig 


lieber  Neuritis.  353 

fort,  schädigt  ausschliesslich  die  Musculatur.  Nur  in  den  Fällen,  wo 
es  sich  um  das  Bild  der  acuten  aufsteigenden  Lähmung  handelt, 
kann  man  zwischen  Polyneuritis  und  Myelitis  schwanken,  denn  bei 
beiden  können  Sensibilitätstörungen  vorhanden  sein.  Immerhin  wird 
die  Betheiligung  von  Blase  und  Darm  bei  spinaler  Erkrankung  kaum 
fehlen  und  wird  der  Verlauf,  sofern  nicht  ein  rascher  Tod  eintritt, 
Aufklärung  bringen.  Gerade  die  acute  aufsteigende  Lähmung  durch 
Neuritis  scheint  eine  rasche  und  vollständige  Genesung  zuzulassen. 
Am  ehesten  wird  die  acute  Polyneuritis  mit  der  acuten  Polymyositis 
verwechselt  werden  können.  Das  Stadium  der  Allgemeinerscheinungen, 
die  Schmerzen,  die  Lähmung  können  bei  beiden  Krankheiten  sehr 
ähnlich  sein,  doch  fehlen  bei  der  Polymyositis  Druckempfindlichkeit 
der  Nerven,  Parästhesien  und  Hypästhesie ,  treten  Erythem  und 
Muskelschwellung  in  den  Vordergrund.  Bekanntlich  gleicht  das  Bild 
der  Polymyositis  dem  der  Trichinose,  Freilich  giebt  es  möglicher- 
weise LTebergangsformen :  Polymyositis  mit  Betheiligung  der  Nerven. 

Häufiger  als  die  selbständige  acute  Polyneuritis  sind  die  secun- 
dären  Formen  der  multiplen  Neuritis.  Unter  den  nach  Infections- 
krankheiten  vorkommenden  Formen  ist  wohl  die  häufigste  die 
Diphtherieneuritis.  Sie  ist  ziemlich  charakteristisch:  Gaumen- 
lähmung,  Aufhebung  der  Accommodation,  Schwäche  der  Beine  mit 
Fehlen  der  Sehnenreflexe,  das  ist  das  Schema.  In  den  leichtesten 
Fällen  besteht  nur  Gaumenlähmung  mit  oder  ohne  Störung  der  Ac- 
commodation. In  den  schwereren  treten  Ataxie,  Lähmung  der  Glieder 
und  Muskelschwund  hinzu.  Ziemlich  ähnlich  soll  der  Diphtherie- 
neuritis  die  seltene  Pneumonieneuritis  sein. 

Zu  der  Tuberculose  tritt  die  multiple  Neuritis  bald  mehr 
acut,  bald  mehr  chronisch  hinzu.  Manchmal  handelt  sich  nur  um 
mehr  vereinzelte  neuritische  Symptome,  zuweilen  besteht  das  Bild 
einer  schweren  Polyneuritis. 

Nicht  gerade  häufig,  aber  charakteristisch  ist  die  Neuritis 
puerperalis.  Im  Wochenbette  oder  nach  ihm  entwickelt  sich  unter 
Schmerzen  Lähmung  im  Gebiete  der  Nn.  medianus  und  ulnaris, 
seltener  im  Gebiete  des  Peronaeus. 

LTnter  den  im  engeren  Sinne  toxischen  Neuritiden  ist  die  wich- 
tigste die  Alkoholneuritis.  Sie  ist  auch  in  diagnostischer  Hinsicht 
besonders  wichtig,  da  ihre  Ursache  begreiflicherweise  oft  verhehlt 
wird  und  der  Arzt  diese  aus  dem  Bilde  der  als  selbständige  Krank- 
heit auftretenden  Neuritis  erkennen  soll.  Die  Krankheit  beginnt  fast 
immer  mit  reissenden  Schmerzen  in  den  Beinen.  Dann  kommen 
Schwäche  und  Unsicherheit  der  Beine,   Schmerzen  und  Schwäche 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiton.    2.  Aufl.  23 


354  Ueber  Neuritis. 

der  Arme.  Mehr  noch  als  bei  anderen  Neuritisformen  ist  der  Alkohol- 
neuritis eigen,  dass  die  Strecker  mehr  als  die  Beuger  leiden.  Hängender 
Fuss  (Foot-drop)  und  hängende  Hand,  das  ist  das  Kennzeichen.  Kann 
der  Kranke  noch  gehen,  so  zeigt  er  wegen  der  Peroneuslähmung 
den  Hahnentritt  (Steppage).  Die  gelähmten  Muskeln  schwinden,  man 
findet  an  ihnen  Entartungsreaction.  Augenmuskellähmungen  pflegen 
nicht  allzu  selten  zu  sein.  Nie  fehlen  neben  den  Erscheinungen  der 
Lähmung  die  Störungen  der  Sensibilität,  ja  diese  treten  zuweilen 
in  den  Vordergrund.  Ausser  den  Schmerzen  ist  gewöhnlich  eine  grosse 
Druckempfindlichkeit  vorhanden,  Berührungen  sind  wie  Brennen  und 
jeder  Druck  auf  die  kranken  Muskeln  ist  äusserst  peinlich.  Die 
Hypästhesie  pflegt  an  den  Unterschenkeln  und  Füssen  am  stärksten 
zu  sein  und  kann  zur  vollständigen  Anästhesie  werden.  Häufiger 
und  stärker  als  bei  anderen  Formen  der  Polyneuritis  ist  hier  die 
seelische  Störung.  Abgesehen  von  den  verschiedenen  Formen  des 
Alkohol-Irreseins,  die  gelegentlich  mit  der  Neuritis  zusammentreffen 
können,  beobachtet  man  eine  eigenthümliche  Gedächtnissschwäche. 
Die  Kranken  sind  über  Ort  und  Zeit  nicht  im  Klaren,  wissen  nicht, 
was  sie  vor  einer  Stunde  gethan  haben,  erzählen  fabelhafte  Ereignisse, 
die  gar  nicht  eingetreten  sind,  halten  Längstvergangenes  für  neu, 
verkennen  die  Personen  u.  s.  f.  Diese  Amnesie  führt  natürlich  zu 
einem  gewissen  Grade  von  Verwirrtheit.  Manchmal  geht  ihr  wohl 
auch  eine  Zeit  verworrener  Erregtheit  mit  Sinnestäuschungen  voraus. 
Wenn  die  beschriebene  Gehirnstörung  zuweilen  auch  bei  der  idio- 
pathischen Polyneuritis,  vielleicht  auch  bei  anderen  Formen  vor- 
kommt, so  ist  sie  doch  der  Alkoholneuritis  besonders  eigen. 

Die  Bleineuritis  ist  charakterisirt  durch  das  bekannte  Bild 
der  Lähmung  der  Hand-  und  Fingerstrecker  mit  Atrophie  und  Ent- 
artungsreaction, ohne  fibrilläre  Zuckungen,  ohne  jede  Sensibilität- 
störung. Den  Beginn  machen  gewöhnlich  die  Strecker  des  vierten 
und  des  dritten  Fingers,  dann  folgen  die  der  anderen  Finger,  dann 
die  der  Hand.  Der  Supinator  longus  bleibt  frei.  Bei  schweren  Läh- 
mungen werden  auch  die  kleinen  Handmuskeln,  der  Deltoideus  und 
andere  Muskeln  ergriffen.  Selten  sind  die  Beinmuskeln  betheiligt, 
am  ehesten  die  Peronaeusmuskeln.  Werden  durch  die  Berufstätigkeit 
besondere  Muskeln  .in  ungewöhnlicher  Weise  angestrengt,  so  können 
diese  zuerst  erkranken  und  dadurch  kann  der  Typus  geändert  werden. 
Z.  B.  erkranken  bei  Feilenhauern  oft  zuerst  die  kleinen  Daumen- 
muskeln der  linken,  den  Meissel  haltenden  Hand. 

Diagnostisch  wichtig  ist,  dass  zu  den  gewerblichen  Vergiftungen 
nicht  selten  Hysterie  hinzutritt.  Man  kann  also  neben  den  neuritischen 


Ueber  Neuritis.  355 

Symptomen  hysterische  finden  und  muss  sich  hüten,  beide  gleichzu- 
stellen. So  kann  neben  Bleilähmung  Hemianästhesie  oder  Zittern 
bestellen.  Das  Zittern  der  Quecksilberarbeiter  soll  immer  hysterischer 
Art  sein.  Bei  Schwefelkohlenstoffarbeitern  kommen  hysterische  und 
neuritische  Symptome  vor  u.  s.  f. 

"Während  die  Bleineuritis  gewöhnlich  durch  Arbeit  mit  Blei,  oder 
durch  sonstige  tägliche  Berührung  mit  Blei  ganz  langsam  entsteht, 
entwickelt  sich  die  Arsenikneuritis  gewöhnlich  rascher,  da  sie 
häufiger  durch  einmalige  Vergiftung  zu  Stande  kommt.  In  diesem 
Falle  treten  nach  einigen  "Wochen,  wenn  die  Magendarmerscheinungen 
vorüber  sind,  sehr  heftige  reissende  Schmerzen  in  den  Gliedern  ein. 
Dann  kommt  es  zu  Lähmung  und  Anästhesie,  die  zwar  den  grösseren 
Theil  der  Glieder  einnehmen  können,  zunächst  aber  und  vorwiegend 
sich  an  den  Endgliedern,  an  Hand  und  Fuss  zeigen  (Akroneuritis). 
Die  gelähmten  Muskeln  schwinden,  man  findet  an  ihnen  Herabsetzung 
der  elektrischen  Erregbarkeit  oder  Entartungsreaction.  Die  Schmerzen 
halten  länger  an  als  bei  anderen  Neuritisformen,  die  Genesung  tritt 
sehr  langsam  ein,  ist  manchmal  nicht  vollständig. 

Im  Allgemeinen  beruht  die  Diagnose  der  Neuritis  auf  dem  Zu- 
sammenbestehen  peripherischer  Lähmung  mit  Störungen  der  Empfind- 
lichkeit, besonders  Schmerzen  und  Druckempfindlichkeit.  Fehlen  die 
Sensibilitätstörungen  wie  bei  der  Bleineuritis,  so  könnte  man  zunächst 
auch  an  eine  Vorderhornerkrankung  denken,  doch  wird  diese  aus- 
zuschliessen  sein,  wenn  vollständige  Heilung  eintritt.  Ueberdem  hat 
man,  wenn  das  Bild  charakteristisch  ist,  sich  auf  den  in  ähnlichen 
Fällen  gelieferten  anatomischen  Befund  zu  beziehen. 

Erwähnt  mag  noch  die  Unterscheidung  zwischen  Neuritis  und 
SyringomyeKe  sein.  Diese  ist  zwar  in  der  Kegel  so  charakteristisch, 
dass  sie  von  dem,  der  sie  überhaupt  kennt,  kaum  verkannt  wird. 
Langsam,  ganz  langsam  eintretende  individuelle  Atrophie,  fast  immer 
zuerst  an  den  Armen,  mit  der  eigenthümlichen  Anästhesie,  d.  h.  Thermo- 
anästhesie  und  Analgesie  ohne  stärkere  Betheiligimg  der  Tastempfind- 
lichkeit.  Schmerzen  und  Druckempfindlichkeit  fehlen  gewöhnlich. 
Die  Anästhesie  deckt  sich  nicht  mit  der  Atrophie  und  entspricht 
nie  Nervenbezirken.  Dazu  tritt  Steigerung  der  Sehnenreflexe  an  den 
Beinen,  beziehungsweise  spastische  Lähmung.  Nur  das  ist  zu  betonen, 
dass  die  Thermoanalgesie  nicht  pathognostisch  für  Syringomyelie  ist, 
sie  kommt  als  solche  auch  bei  Neuritis,  bei  Hysterie,  bei  anderen 
Rückenmarkserkrankungen  vor. 

Man  darf  sich  mit  der  Diagnose  der  Neuritis  nicht  begnügen. 
Zwar  ist  diese  werthvoll,  da  sie  eine  günstige  Prognose  möglich 

23* 


356  Ueber  Neuritis. 

macht.  Aber  eine  wirksame  Therapie  (d.  h.  Beseitigung  der  Schädlich- 
keit) wird  in  vielen  Fällen  erst  möglich,  wenn  die  Art  der  Neuritis, 
d.  h.  die  Ursache,  erkannt  ist.  Diese  specielle  Diagnose  gründet  sich 
einmal  auf  die  Anamnese,  zum  anderen  aber  auf  den  Befund  selbst- 
Schon  jetzt  können  wir  in  vielen  Fällen  aus  dem  Befunde  die  Art 
der  Neuritis  erkennen,  hoffentlich  wird  unsere  Kenntniss  der  Neuritis- 
formen in  Zukunft  noch  wachsen  und  diese  Unterscheidungen  immer 
sicherer  machen. 


DRITTES   HAUPTSTÜCK. 


Localisation  im  ßückenmarke. 

1.  Um  zu  bestimmen,  bis  zu  welcher  Höhe  des  Rückenmarkes 
eine  Querläsion  reicht,  hat  man  die  Anästhesie,  die  Lähmung-,  das 
Verhalten  der  Reflexe  zu  berücksichtigen.  Mit  annähernder  Sicher- 
heit lässt  sich  etwa  Folgendes  sag'en: 

Bei  Zerstörung  des  unteren  Endes  des  Rückenmarkes  (Conus 
terminalis),  von  dem  der  3.,  der  4.  und  der  5.  Sacralnerv  entspringen, 
sind  Blase  und  Darm,  sowie  die  Muskeln  des  Beckenbodens  (bes.  der 
levator  ani)  ganz  gelähmt,  ist  die  Haut  des  Scrotum  und  der  hinteren 
Penishälfte  (der  ganzen  weiblichen  Geschlechtstheile  mit  Ausnahme 
des  Mons  veneris),  des  grösseren  Theiles  der  Hinterbacken  und  eines 
Dreieckes  auf  der  Hinterseite  der  Schenkel,  dessen  Spitze  etwa  die 
Mitte  des  Schenkels  erreicht,  unempfindlich. 

Sind  auch  der  2.  und  der  1.  Sacralnerv  mit  ergriffen,  so  werden 
die  Muskeln  am  Fusse  und  an  der  Wade  gelähmt,  die  Anästhesie 
an  der  Hinterseite  des  Schenkels  reicht  bis  zur  Kniekehle  und  ist 
nach  aussen  verbreitet,  der  Achillessehnenreflex  ist  erloschen. 

Ist  auch  der  5.  Lendennerv  ergriffen,  so  sind  alle  Ischiadicus- 
umskeln  gelähmt  und  die  Wade,  sowie  die  äussere  Hälfte  des  Fusses 
sind  unempfindlich. 

Manche  nehmen  an,  dass  der  Tibialis  anticus  verschont  bleibe,  bez. 
seine  Fasern  aus  der  Höhe  des  4.  Lendennerven  erhalte. 

Ist  auch  ein  Theil  des  oberen  Lendenmarkes  (3.  und  4.  Lenden- 
nerv) zerstört,  so  sind  die  meisten  Beinmuskeln  gelähmt,  nur  das 
obere  Drittel  der  Vorderseite  des  Schenkels  und  ein  schmaler  Streifen 
an  der  Vorder-Imienseite  bis  zum  inneren  Knöchel  sind  noch  em- 
pfindlich, das  Kniephänonien  erlischt. 

Sind  auch  der  2.  und  der  1.  Lendennerv  ergriffen,  so  sind  auch 
die  Hüftbeuger  gelähmt,  die  Anästhesie  reicht  vorn  bis  zur  Leisten- 
beuge und  hinten  bis  zu  den  oberen  Lendenwirbeln,  der  Cremaster- 
reflex erlischt. 

Noch  genauere  Angaben  werden  vielfach  gemacht,  d.  h.  die  einzelnen 
Muskeln  werden  einzelnen  Segmenten  des  Markes  zugetheilt,  doch  sind 
dafür  kaum  ausreichende  Unterlasren  vorhanden. 


358  Legalisation  im  Rückenmarke. 

Bei  Querläsionen  des  Brustmarkes  hat  man  sich  an  die  Anästhesie 
und  die  Hautreflexe  zu  halten.  Die  Grenze  der  Anästhesie  bildet 
einen  Gürtel  und  zwar  verläuft  die  Linie  mit  wellenartigen  Erhe- 
bungen. Sind  von  der  unteren  Bauchhaut  aus  keine  Eeflexzuckungen 
zu  erzeugen,  so  sind  das  11.  und  das  12.  Segment  betroffen,  ist  auch 
vom  Epigastrium  aus  kein  Beflex  zu  bewirken,  so  umschliesst  die 
Läsion  auch  den  Ursprung  des  10.  und  des  9.  Brustnerven.  M.  a.W. 
die  Eeflexe  von  der  Bauchhaut  aus  setzen  das  Vorhandensein  des 
Markesvom  9.  zum  12.  Brustnerven  voraus.  Umfasst  die  Läsion  den 
2.  Brustnerven,  so  reicht  die  Anästhesie  bis  zu  den  Schlüsselbeinen, 
die  Muskeln  des  Bauches  und  die  Strecker  der  Wirbelsäule  sind  gelähmt. 

Vom  1.  Brustnerven  aus  werden  ein  Theil  der  kleinen  Hand- 
muskeln und  die  Haut  am  ulnaren  Bande  der  Hand  versorgt.  Ist 
ausser  dem  Segmente  des  1.  Brustnerven  auch  das  des  8.  Halsnerven 
ergriffen,  so  sind  alle  kleinen  Handmuskeln  und  die  Beuger  des 
Handgelenkes  gelähmt,  im  Uebrigen  die  Arme  frei,  die  Anästhesie 
im  Ulnarisgebiete  reicht  weiter  herauf  und  ergreift  auch  das  Me- 
dianusgebiet. Bei  Läsion  des  7.  Halsnerven  sind  auch  die  Strecker 
der  Hand  gelähmt,  es  soll  auch  das  Eadialisgebiet  der  Hand  ergriffen 
sein.  Bei  Läsion  des  6.  Halsnerven  werden  weiter  Serratus  magnus, 
Triceps,  Latissimus  und  Ter  es  inj.,  Pronatoren,  Subscapularis  ergriffen. 
Das  Bild  wird  nun  sehr  charakteristisch:  Arme  und  Eunipf  sind 
ganz  gelähmt  (bis  auf  das  Zwerchfell)  und  unempfindlich,  die  Arme 
sind  im  Schultergelenke  abducirt,  nach  auswärts  gedreht,  im  Ellen- 
bogen gebeugt,  die  Hände  sind  pronirt  und  gebeugt.  Die  eigenthüm- 
liche  Stellung  der  Arme  entsteht  dadurch,  dass  die  Mm.  Deltoideus, 
Biceps,  Brachialis  internus,  Infraspinatus  noch  thätig  sind.  Empfind- 
lich bleibt  noch  ein  Streifen  an  der  Aussenseite  des  Arms.  Ergreift 
endlich  die  Läsion  auch  das  Gebiet  des  5.  Halsnerven,  so  werden 
auch  die  vorhin  genannten  Schulterarmmuskeln  (Delt,  Bic,  Brach. 
int.,  Infraspin.)  gelähmt,  die  Arme  sinken  schlaff  herab  und  werden 
fast  ganz  unempfindlich. 

Eine  Querläsion  im  Gebiete  des  4.  Halsnerven  oder  weiter  oben 
tödtet  sofort,  weil  zu  der  Lähmung  der  anderen  Athemmuskeln  die  des 
Zwerchfelles  hinzutritt,  der  Kranke  also  erstickt.  Es  können  im  oberen 
Halsmarke  nur  kleine  spinale  Herde  vorkommen,  durch  die  Lähmung 
der  Scaleni,  der  Nackenmuskeln,  der  Ehomboidei,  der  Accessorius- 
muskeln,  Anästhesie  der  Schulter-  und  Nackenhaut,  des  Gesichtes 
(durch  Läsion  der  aufsteigenden  Trigeminuswurzel)  bewirkt  werden. 

Bei  den  Läsionen  des  unteren  Halsmarkes  sind  die  Pupillen  verengert 
wegen  Läsion  der  sympathischen  Augenfasern. 


Legalisation  im  Rückenmarke. 


359 


Die  genauere  Legalisation  der  Halsmarkläsionen  hat  sich  wesentlich 
auf  den  Nachweis  der  Lähmung  zu  gründen.  Auch  hier  sind  unsere 
Kenntnisse  durchaus  nicht  vollendet;  das  Gesagte  dürfte  ungefähr  klinisch 
zuverlässig  sein.  Noch  genauere  Angaben  sind  vorläufig  kaum  vertrauens- 
werth.  Von  der  Anästhesie  wissen  wir  nur,  dass  die  untersten  Halsnerven 
die  Iiand  und  vorwiegend  die  Innenseite  des  Armes,  die  mittleren  die 
Aussenseite  des  Armes,  die  oberen  Schulter,  Hals  und  Nacken  versorgen. 
Im  Allgemeinen  sind  die  Symptome  maassgebend ,  die  auf  die  höchste 
Stelle  im  Marke  deuten. 


Fig.  99.  Fig.  100. 

Schnitt  durch  das  Cervical-  und  durch  das  Lumbal  mark  mit  Einzeichnung  der  ungefähren  Grenzen 
zwischen  den  einzelnen  Abtheilungen,  des  Marktnantels.  Unter  Benutzung  der  entwickelungsgeschicht- 
lichen  Grundlagen  wesentlich  nach  Präparaten  mit  seeundären  Degenerationen  des  einen  oder  anderen 
Systems,  la  Pyramiden  -  Seitenstrangbahn.  1  Pyramiden -Vorderstrangbahn.  2  Grundbündel  der 
Vorderseitenstränge.  3  Fasciculus  anterolateralis.  4  Kleinhirn-Seitenstrangbahn.  5  Seitliche  Grenz- 
schicht der  grauen  Substanz.  6  Aeussere  Burdach'she  Hinterstränge,  sind  im  Lendenmark  nicht  vor- 
handen.  7  Innere  Goll'sche  Hinterstränge.    8  Wurzeleintrittzone.    9  Ventrales  Feld  der  Hinterstränge. 

(Nach  Edinger.) 

2.  Ueber  die  Bedeutung  der  einzelnen  Felder  auf  dem  Quer- 
schnitte des  Rückenmarkes  sind  wir  nur  ungenügend  unterrichtet. 
Wir  kennen  den  Verlauf  der  Pyramidenbahn,  wissen,  dass  die  in  ihr 
vereinigten  Fasern  nach  der  Kreuzung  in  den  Pyramiden  in  den  hinteren 
Abschnitten  der  Seitenstränge  (im  oberen  Marke  auch  an  der  Innen- 
seite der  Vorderstränge)  herabziehen  und  allmählich  mit  den  grossen 
Zellen  der  Vorderhörner  in  Verbindung  treten,  von  wo  aus  die  Erregung 
durch  die  vorderen  Wurzeln  in  die  Nerven  eintritt.  Wir  wissen, 
dass  alle  sensorischen  Bahnen  mit  den  hinteren  Wurzeln  in  das  Mark 
einmünden,  der  Mehrzahl  nach  bald  nach  dem  Eintritte  sich  kreuzen, 
d.  h.  in  die  andere  Hälfte  des  Markes  gelangen  und  dann  theils  in 
den  Hintersträngen,  theils  in  den  Hinterhörnern  aufwärts  führen.  Wir 
nehmen  ferner  mit  Grund  an,  dass  der  Reflexbogen  die  hintere  Wurzel 
mit  den  Vorderhornzellen  der  gleichen  Höhe  verknüpfe.  Demnach 
wissen  wir  von  den  Feldern  der  weissen  Substanz,  welche  Wirkung 
die  Läsion  des  der  Pyramidenbahn  entsprechenden  Feldes  bewirkt 
und  dass  eine  Läsion  der  Hintersträim'e  Fortsetzungen  der  hinteren 


360  Localisatiou  im  Eückenmarke. 

Wurzeln  mit  erbrechen  muss.  Unbekannt  ist  die  Function  der  Yorder- 
stränge  (natürlich  abgesehen  von  den  Pyraniidenfasern  im  Halsmarke 
und  von  den  durchziehenden  vorderen  Wurzeln),  unbekannt  die 
Function  der  Seitenstränge,  soweit  sie  nicht  Pyramidenfasern  ent- 
halten. Nehmen  vir  an,  dass  an  irgend  einer  Stelle  die  ganze  weisse 
Substanz  des  Bückenmarkes  zerstört,  die  graue  erhalten  wäre  und 
ebenso  die  ein-  und  austretenden  Wurzeln  verschont  wären,  so  wür- 
den wir  nur  centrale  Lähmung  des  unteren  Körpertheiles  und  eine 
Störung  der  Empfindlichkeit  in  diesem  zu  erwarten  haben.  Genaueres 
über  die  letztere  aber  können  wir  nicht  angeben;  weder  ihre  Aus- 
dehnung, noch  die  Antwort  auf  die  Frage,  ob  alle  Qualitäten  der 
Empfindung  leiden  würden,  ist  bekannt. 

Mit  grosserer  Zuversicht  kann  man  von  den  Folgen  der  Zer- 
störung der  grauen  Substanz  reden,  da  es  krankhafte  Zustände  giebt, 
in  denen  nur  sie  wesentlich  beschädigt  wird.  Wir  wissen,  dass  Läsion 
des  Yorderhorns  in  der  Hauptsache  so  wirkt  wie  die  der  periphe- 
rischen Muskelnerven,  Lähmung  mit  Schwund  und  Entartungsreac- 
tion  ohne  Yeränderung  der  Empfindlichkeit  verursacht,  dass  bei  Zer- 
störung der  hinteren  grauen  Substanz  nur  Anästhesie,  und  zwar 
Analgesie  mit  Thermoanästhesie,  eintritt,  dass  in  beiden  Fällen  die 
Reflexe  erlöschen,  deren  Bogen  durch  das  lädirte  Stück  führt, 

3.  Krankhafte  Yeränderungen  des  Bückenmarkes  können  auf 
dreierlei  Art  entstehen,  es  kann  primär  erkranken,  Erkrankungen  der 
Nachbarorgane  können  übergreifen,  es  entartet  secundär  bei  Erkran- 
kungen des  Gehirns  und  solchen  der  Aussennerven,  bez.  der  Wurzeln. 

Es  ist  von  vornherein  verständlich,  dass  secundäre  Entartungen 
keine  klinischen  Erscheinungen  machen,  da  eben  diese  schon  mit  der 
Läsion  der  Theile,  von  denen  die  secundäre  Degeneration  abhängt, 
eingetreten  sein  müssen.  Es  haben  daher  sowohl  die  absteigenden 
Degenerationen  bei  Gehirnerkrankungen,  als  die  aufsteigenden  bei  peri- 
pherischer Erkrankung  nur  anatomische,  nicht  klinische  Bedeutung. 
Wahrscheinlich  ist  das  Gebiet  der  aufsteigenden  secundären  Ent- 
artungen grösser,  als  man  früher  glaubte.  Nicht  nur  nach  Beschä- 
digung der  Spinalganglien  und  der  hinteren  Wurzeln  kommen  solche 
vor,  sondern  auch  nach  peripherischen  Zerstörungen  sensorischer  und 
motorischer  Theile.  Wahrscheinlich  ist  die  Hinterstrangerkrankung 
bei  Tabes  als  secundäre  Degeneration  anzusehen.  Wahrscheinlich 
sind  manche  Kernerkrankungen  so  zu  deuten.  Auch  die  Degene- 
rationen im  Nervensystem,  die  in  manchen  Fällen  von  Dystrophia 
musc.  progr.  gefunden  worden  sind,  gehören  vermuthlich  hierher. 

Dadurch   schrumpft  das  Gebiet  der  primären  Bückenmarkser- 


Legalisation  im  Rückenmarke.  361 

krankungen  sehr  ein.  Von  Erkrankung  der  weissen  Substanz  kommt 
eigentlich  nur  die  amyotrophische  Lateralsclerose  in  Betracht.  Neben 
ihr  stehen  gewiss  seltene  Stranger krankungen ,  die  das  Bild  der 
spastischen  Spinalparalyse  zu  liefern  scheinen.  Primäre  Erkrankungen 
der  grauen  Substanz  sind  die  Vorderhorndegenerationen ,  die  theils 
Theilerscheinung  der  amyotrophischen  Lateralsclerose,  theils  ihr  coordi- 
nirte  Erkrankungen  sind,  ferner  die  acute  Poliomyelitis,  die  Gliosis 
spinalis.  Weisse  und  graue  Substanz  leiden  bei  der  multiplen  Sclerose, 
die  freilich  wohl  nie  auf  das  Rückenmark  beschränkt  ist,  und  bei 
der  acuten  oder  chronischen  diffusen  Myelitis,  die  durch  verschiedene 
Infectionen  zu  Stande  zu  kommen  scheint. 

Die  seeundären  Rückenmarkserkrankungen ,  sofern  man  unter 
diesen  die  von  der  Umgebung  her  übergreifenden  versteht,  sind  da- 
durch ausgezeichnet,  class  sie  mit  sog.  Wurzelsymptomen  beginnen, 
weil  eine  von  aussen  auf  das  Mark  zudringende  Erkrankung  zuerst 
die  Wurzeln  schädigen  muss.  Zuckungen  und  umschriebene  peri- 
pherische Lähmungen  einerseits,  Schmerzen,  Parästhesien ,  Hyper- 
und  Anästhesie  andererseits  gehen  den  eigentlichen  Marksymptomen 
voraus  und  begleiten  sie. 

Das  Bild  der  spinalen  Meningitis  besteht  recht  eigentlich  aus 
Wurzelreizsymptomen:  Schmerzhaftigkeit  und  Steifheit  der  Wirbel- 
säule, ausstrahlenden  Schmerzen,  Hyperästhesie  eines  grösseren  oder 
kleineren  Theiles  der  Körperoberfläche,  Muskelspannungen,  besonders 
Spannung  der  Bauch-  und  der  Rückenmuskeln  (Kahnbauch,  Opistho- 
tonus), Steigerung  der  Reflexe. 

Oertliche  Wurzelsymptome  entstehen,  wenn  da  oder  dort  ein 
Druck  ausgeübt  wird.  Wird  der  Wirbelcanal  durch  eine  Verschie- 
bung der  Knochen  oder  durch  eine  Geschwulst  verengt,  so  entsteht 
das  Bild  der  Querläsion  mit  vorausgehenden  und  begleitenden  Wurzel- 
symptomen.  Unter  diesen  treten  besonders  die  Schmerzen  hervor. 
Handelt  es  sich  um  das  Halsmark,  so  beginnen  heftige  Schmerzen 
im  Nacken  und  in  den  Armen,  später  folgen  atrophische  Lähmung 
dieser  oder  jener  Muskelgruppe  und  cervicale  Paraplegie.  Bei  Läsion 
in  der  Höhe  des  Brustmarkes  tritt  besonders  der  Gürtelschmerz  in 
den  Vordergrund.  Je  nachdem  der  Druck  in  sagittaler  oder  in  seit- 
licher Richtung  wirkt,  sind  die  Symptome  von  vornherein  doppel- 
seitig oder  erst  einseitig. 

Acute  Entzündung  der  Meningen  kommt  bei  der  Cerebrospinal- 
meningitis  und  bei  tuberkulöser  Meningitis  vor.  Chronische  Menin- 
gitiden  findet  man  am  häufigsten  bei  Syphilis:  Schwartenbildung. 
Hier  entwickelt  sich  oft  aus  den  Wurzelsymptomen  das  Bild  der 


362  Localisation  im  Eückenuiarke. 

Querläsion,  bes.  der  des  Brustmarkes :  syphilitische  Paraplegie  oder 
Spinalparalyse.  Iu  seltenen  Fällen  hat  man  eine  chronische  Ver- 
dickung- der  Dura  um  das  untere  Halsmark  herum  gefunden,  so  dass 
dieses  von  einer  geschichteten  Schwarte  umschlossen  war,  und  man 
hat  diesen  Zustand  als  besondere  Krankheit  beschrieben:  Pachy- 
meningitis  cervicalis  hypertrophica  chronica,  Dabei  treten  erst  heftige 
Schmerzen  im  Nacken  und  in  den  Armen  ein,  dann  atrophische  Läh- 
mung der  kleinen  Handmuskeln  und  der  Handbeuger,  Ueberwiegen 
der  Strecker,  schliesslich  spastische  Paraparese. 

Läsionen  des  Rückenmarkes  entstehen  oft  durch  Verletzung: 
Brüche  der  Wirbelsäule  durch  Sturz,  Auffallen  einer  Last,  Schuss- 
verletzimg, Degen-,  Messerstiche. 

Grössere  Blutungen  im  Wirbelkanale  sind  sehr  selten.  Sie  könnten 
etwa  bei  Scorbut  oder  bei  Aneurysmabildung  an  den  spinalen  Ar- 
terien vorkommen.  Die  Symptome  müssen  dieselben  sein,  wie  bei 
einer  Verletzung  des  Markes  von  aussen.  Ausserdem  aber  giebt  es 
Blutungen  im  Innern  des  Markes,  die  bei  Verletzungen  der  Wirbel- 
säule durch  Sturz  u.  s.  w.  eintreten  können.  Dann  reissen  die  Blut- 
gefässe in  der  weicheren  grauen  Substanz  und  das  Blut  breitet  sich 
in  dieser  aus,  u.  U.  als  Cylinder.  Auf  diese  Weise  kann  ein  Bild  ent- 
-stehen,  das  ganz  dem  der  Gliosis  spinalis  gleicht  und  von  dieser 
nur  durch  den  acuten  Beginn  im  Anschlüsse  an  eine  Verletzung  und 
durch  den  Mangel  des  progressiven  Charakters  unterschieden  ist. 

Von  Wirbelerkrankungen  kommen  besonders  die  Wirbelcaries 
und  der  Wirbelkrebs  in  Betracht.  Jene  ergiebt  das  bekannte  Bild 
der  Bückenmarkscompression  mit  dem  Pott 'sehen  Buckel.  Bei  Car- 
cinom  wird  gewöhnlich  eine  Infiltration  der  Wirbelknochen  gefun- 
den, die  zu  Verengung  der  Wirbellöcher  führt,  daher  Druck  auf  die 
Wurzeln,  ausserordentlich  heftige  Schmerzen,  Paraplegia  dolorosa. 
Nachweisbare  Veränderungen  der  Wirbelsäule  können  lange  Zeit 
fehlen.  Andere  Neubildungen  (Fibrome,  Sarkome)  gehen  meist  von 
den  Meningen  aus.  Man  muss  an  sie  denken,  wenn  ohne  jede  nach- 
weisbare Ursache  langsam  örtliche  Wurzelsymptome  auftreten,  an 
die  sich  die  Zeichen  einer  Quer-  oder  Halbläsion  anschliessen. 

Ob  das  Rückenmark  überhaupt  erkrankt  ist,  ist  nur  dann  leicht 
zu  sagen,  wenn  entweder  die  Zeichen  der  Halbläsion  oder  die  der 
Querläsion  vorhanden  sind,  oder  aber  ein  bestimmtes  Krankheitsbild 
(etwa  das  der  acuten  Poliomyelitis,  das  der  Tabes)  besteht.  Sind 
nur  Zeichen  da,  die  möglicherweise  auf  eine  Theilläsion  des  Quer- 
schnittes (graue  Substanz,  Seitenhinterstränge)  deuten,  so  muss  nach 
den  früher  gegebenen  Pegeln  verfahren  werden. 


VIERTES  HAUPTSTÜCK. 


Localisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn. 

1.  Das  verlängerte  Mark  enthält  bekanntlich  ausser  den  ab- 
wärts ziehenden  Pyramidenbahnen  und  den  aufwärts  ziehenden  sen- 
sorischen Bahnen  die  Kerne  der  meisten  Hirnnerven.  Die  Hirnnerven- 
lähmung  allein  macht  die  Diagnose  einer  Läsion  der  Oblongata  und 
ihre  nähere  Bestimmung  möglich.  Hat  man  eine  genaue  Vorstellung 
von  der  Lage  der  Kerne,  so  weiss  man  das  für  die  Localisation 
Notlüge  (Fig.  101). 


"&'  ■';■■■■  r  '  '■■     **c?',-> 


tht.  m. 


Fio-.  101. 


Die  Lage  der  HirnnerTOnkerne.    Die  Oblongata  und  der  Pons  durchsichtig  gedacht. 
Die  Ursprungskerne  (inot.)  schwarz,  die  Endkerne  (sens.)  roth.    (Nach  E  ding  er.) 

Bestehen  nur  Hirnnervenlähmungeii,  so  wird  gefragt,  ist  die  Lä- 
sion extra  oder  intra  medullam.  Am  einfachsten  liegt  die  Sache 
bei  der  systematischen  Entartung  der  motorischen  Oblongatakerne, 
der  progressiven  Bulbärparalyse.  Hier  werden  symmetrisch  ganz  all- 
mählich die  Kerne  des  Hypoglossus,  des  Facialis,  des  Vagus  zerstört. 
Die  Symmetrie,  die  strenge  Beschränkung  auf  die  Motilität,  der 
langsame  stetige  Verlauf  machen  die  Diagnose  leicht.  Wie  früher 
erwähnt  wurde,  kann  durch  Grosshirnherde  ein  ähnliches  Bild  ent- 


364  Legalisation  in  der  Oblortgata  und  im  Gehirn. 

stehen,  doch,  fehlen  dann  die  Kennzeichen  der  peripherischen  Läh- 
mung'. 

Sind  nur  einzelne  Kerne  betroffen,  wie  es  bei  der  Tabes  vor- 
kommt, so  ist  eine  sichere  Unterscheidimg  zwischen  Kern-  und  Nerven- 
erkrankung nicht  möglich.  Bei  Erkrankungen  am  Boden  der  hin- 
teren Schädelgrube  fehlen  fast  nie  die  durch  Eeizung  der  Dura  ent- 
stehenden Schmerzen  und  das  Erkranken  mehrerer  Oblongatanerven 
ohne  systematische  Auswahl  leitet  ohne  Weiteres  auf  diesen  Ort. 

Sind  ausser  den  Kernen  auch  die  langen  Bahnen  beschädigt, 
was  durch  Blutungen,  Erweichungen,  entzündliche  Herde,  Ge- 
schwülste geschehen  kann,  so  finden  wir  centrale  Lähmung  mit  Hirn- 
nervenlähmung.  Ueber  die  Localisation  in  diesen  Fällen  ist  früher 
gehandelt  worden  (vgl.  S.  85).  Die  sensorischen  Bahnen  müssen  na- 
türlich im  dorsalen  Theile  der  Oblongata  gesucht  werden,  doch  ist 
Genaues  über  ihren  Verlauf  nicht  bekannt.  Die  Bedeutung  der  Oliven 
und  anderer  bisher  nicht  erwähnter  Oblongatatheile  ist  unbekannt. 

Hervorzuheben  ist,  dass  bei  Läsion  des  Facialiskerns  nur  das  untere 
Facialisgebiet  gelähmt  ist,  dass  bei  Läsion  der  Kernregion  des  Abducens 
gewöhnlich  der  M.  internus  des  anderen  Auges  insoweit  beschädigt  ist,  als 
er  beim  Seitwärtssehen  nach  der  Seite  der  Läsion  als  gelähmt  erscheint, 
während  die  Convergenz  unbehindert  ist.  Ueber  eine  primäre  Erkrankung 
des  Acusticuskernes  ist  so  gut  wie  nichts  bekannt. 

Bei  acuten  Erkrankungen  der  Oblongata  wird  oft  Erbrechen  beob- 
achtet, man  bezieht  es  auf  die  Schädigung  des  Vaguskernes.  Sobald  diese 
doppelseitig  ist,  treten  natürlich  schwere  Störungen  der  Athmung  ein,  daher 
ausgedehnte  Herde  der  Oblongata  rasch  töclten. 

2.  Die  Brücke  enthält  ebenfalls  die  Pyramidenbahnen  (ventral), 
die  sensorischen  Bahnen  (in  der  Schleife),  ausserdem  die  Kerne  des 
Trigeminus.  Eine  Trennung  zwischen  dem  unteren  Theile  der  Brücke 
und  dem  oberen  Theile  der  Oblongata  ist  natürlich  nicht  durchführ- 
bar. Wie  hoch  hinauf  ein  Herd  reicht,  ergiebt  sich  eben  aus  der 
Hirnnervenlähmung.  Primäre  Erkrankung  nur  des  Trigeminuskerns 
scheint  nur  bei  Tabes  (Kaumuskellähmung  ohne  oder  mit  Anästhesie) 
vorzukommen. 

Grössere  Herde  der  Brücke  ergeben  gewöhnlich  alternirende 
Lähmung;  alles  Nöthige  über  Brückenlähmungen  ist  früher  beige- 
bracht worden  (vgl.  S.  83).  Bei  einseitigen  Herden,  die  die  Schleife 
treffen  oder  auf  sie  übergreifen,  entsteht  Hemianästhesie  der  ande- 
ren Seite;  Geschmack  und  Gehör  sollen  fast  immer  frei  bleiben.  Bei 
Herden,  die  über  die  Mittellinie  hinausreichen ,  entsteht  natürlich 
doppelseitige  Anästhesie. 

3.  Der  Fuss  des  Hirnschenkels  wird  zum  Theile  von  der  Py- 


Localisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn.  865 

ramidenbalm  gebildet,  die  Haube  enthält  die  sensorische  Bahn.  Eine 
Läsion  des  Fusses  bewirkt  totale  Hemiplegie,  die  der  Haube  Hemi- 
anästhesie.  Wegen  der  Enge  des  Kauines  begleiten  Störungen  der 
Empfindlichkeit  verhältnissmässig  oft  die  Hemiplegie.  Erkennbar 
wird  eine  Läsion  des  Hirnschenkels  erst,  wenn  auch  die  diesen  durch- 
setzenden Fasern  des  Oculomotorius  beschädigt  sind :  Hemiplegie  mit 
Oculomotoriuslähmung  der  anderen  Seite.  Die  Lähmung  des  3.  Ner- 
ven ist  bei  Herden  im  Inneren  des  Hirnschenkels  gewöhnlich  par- 
tiell. Schädigt  ein  basaler  Tumor  den  letzteren,  so  tritt  erst  totale 
Oculomotoriuslähmung  ein  und  ihr  folgt  die  Hemiplegie.  Begreif- 
licherweise ist  jene  zuweilen  doppelseitig. 

4.  Die  an  der  inneren  Seite  des  Hirnschenkels  austretenden  Ocu- 
lomotoriusfasern  entstammen  einzelnen  Gruppen  von  Nervenzellen, 
die  unterhalb  und  seitlich  vom  dritten  Ventrikel  liegen.  Am 
weitesten  nach  vorn  liegen  die  Kerne  der  Fasern  für  den  M.  ciliaris 
und  den  M.  sphincter  iridis,  dann  folgen  die  für  die  verschiedenen 
äusseren  Augenmuskeln.  Man  vermuthet,  dass  die  einzelnen  Kerne 
folgende  Anordnung  haben: 

Sphincter  iridis       Muse.  eil. 
Levator  palp.  Eectus  int. 

Eectus  sup.  Eectus  inf. 

Obliquus  inf.  ^ 

Nach  hinten  schliesst  sich  der  Trochleariskerii  an.  Alle  diese 
Kerne  stehen  wahrscheinlich  in  vielfacher  Verbindung  mit  anderen 
Theilen.  Bei  der  verhältnissmässig  langen  Kernreihe  ist  es  begreif- 
lich, dass  durch  kleinere  Läsionen  dieser  Gegend  partielle  Augen- 
muskellähniungen  verschiedener  Art  vorkommen.  (Vgl.  S.  334).  Nach 
aussen  liegen  die  Zellen,  aus  denen  die  absteigende  Trigeminuswurzel 
entspringt ;  man  streitet,  ob  sie  sensorischer  oder  motorischer  Art  sei. 
Es  kommen  in  der  Umgebung  des  3.  Ventrikels  systematische  De- 
generationen vor  (reflectorische  Pupillenstarre,  Ophthalmoplegia  interior 
oder  exterior),  ferner  Erweichungsherde;  man  hat  hier  aber  auch  eine 
subacute  sog.  „hämorrhagische  Entzündung"  (bei  Alkoholismus  und  bei  an- 
deren Vergiftungen)  beobachtet  und  in  diesen  Fällen  war  die  Augenmuskel- 
lähmung von  einer  eigenthümlichen  Schlafsucht  begleitet. 

Oberhalb  der  Augenmuskelkerne  liegen  die  Vi  er  hü  gel.  Man 
weiss,  dass  die  Läsion  der  vorderen  Vierhügel  Sehstörungen  bewirkt. 
Natürlich  kommt  es  gewöhnlich  auch  zu  Augenmuskellähmungen, 
ob  aber  eine  auf  die  hinteren  Vierhügel  beschränkte  Läsion  an  und 
für  sich  solche  hervorruft,  das  weiss  man  nicht  sicher.  Die  klinische 
Erfahrung  hat  nur  ergeben,  dass  dann,  wenn  die  Symptome  aus  cere- 
bellarer  Ataxie  und  doppelseitiger  Augenniuskellähmung  bestehen. 


366  Legalisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn. 

man  eine  Erkrankung  der  Vierhügelgegend  erwarten  darf.  Besonders 
Aufhebung  der  Augenbewegungen  in  vertikaler  Richtung  hat  man 
bei  solchen  Gelegenheiten  gesehen.  Es  scheint,  dass  zuweilen  auch 
Herderkrankungen  in  der  Nähe  des  3.  Ventrikels  reflectorische  Pupillen- 
starre, die  sonst  nur  Tabes-Symptom  ist,  bewirken. 

5.  Ueber  die  Wirkung  der  Läsionen  des  Kleinhirns  weiss  man 
recht  wenig.  Anscheinend  macht  Zerstörung  der  Hemisphäre  keine 
deutlichen  Symptome,  während  die  des  "Wurmes  Schwindel  und  die 
sogenannte  cerebellare  Ataxie  (vergl.  S.  106)  bewirkt.  Dabei  besteht 
gewöhnlich  Erbrechen,  das  ohne  nachweisbare  Veranlassung  von  Zeit 
zu  Zeit  auftritt.  Bei  Tumoren  im  Kleinhirn  hat  man  die  Sehnen- 
reflexe fehlen  sehen,  doch  ist  es  zweifelhaft,  ^ob  es  sich  hier  um  ein 
directes  Symptom  handelt.  Von  den  Kleinhirnstielen  lässt  sich  nur 
sagen,  dass  bei  einseitiger  Beschädigung  des  Crus  cerebelli  ad  pon- 
tem  Zwangsbewegungen,  besonders  Drehungen  um  die  Längsachse 
beobachtet  werden,  wenn  die  Läsion  mehr  oder  weniger  acut  eintritt. 

6.  Die  im  Hirnschenkel  vereinigten  motorischen  und  sensorischen 
Bahnen  gelangen  auf  ihrem  Wege  zur  Hirnrinde  zunächst  zwischen 
die  sogenannten  Stammganglien,  in  den  Streifen  weisser  Masse  der 
nach  innen  vom  Linsenkern,  nach  aussen  vom  Thalamus  opticus  liegt 
und  inne re  Kapsel  genannt  wird.  Im  hinteren  Schenkel  der  inneren 
Kapsel  finden  wir  sie  noch  vereinigt.  Man  nimmt  an,  dass  im  Knie 
die  motorischen  Bahnen  zu  den  Muskeln  des  Kopfes,  in  den  vorderen 
zwei  Dritteln  des  hinteren  Schenkels  die  Bahnen  zu  den  Grlieder- 
und  Rumpfmuskeln  liegen,  und  zwar  die  Armbahn  vor  der  Bein- 
bahn, während  im  letzten  Drittel  die  sensorischen  Bahnen  vereinigt 
sind.  Läsion  der  inneren  Kapsel  bewirkt  demnach  totale  Hemiplegie, 
die  mit  Hemianästhesie  verbunden  ist,  wenn  der  Herd  auch  das 
hintere  Drittel  beschädigt  (vergl.  S.  82  u.  202). 

Ueber  die  Wirkung  einer  Läsion  der  Stammganglien  weiss  man 
noch  nichts  bestimmtes.  Ist  die  innere  Kapsel  nicht  beschädigt,  so 
fehlen  Lähmung  und  Anästhesie.  Man  hat  abnorme  Bewegungen 
(Chorea,  Ataxie)  nach  Linsenkernerkrankungen  beobachtet,  aber  die- 
selben Erscheinungen  können  auftreten,  wenn  in  anderen  Höhen 
Herde  der  Pyramidenbahn  so  nahe  liegen,  dass  sie  eine  reizende 
Wirkung  haben,  und  andererseits  hat  man  den  ganzen  Linsenkern 
zerstört  gefunden,  ohne  dass  Symptome  vorhanden  gewesen  wären. 
Manche  glauben,  dass  der  Sehhügel  Beziehungen  zu  den  mimischen 
Bewegungen  habe,  dass  diese  fehlen  bei  seiner  Zerstörung,  gesteigert 
seien  bei  Reizung.  Sicher  ist,  dass  bei  Zerstörung  des  Pulvinar  Hemi- 
anopsie eintritt.  Die  Sehbahn  verläuft  nach  neueren  Untersuchungen 


Legalisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehini. 


367 


vom  Corpus  genicul.  ext.,  dem  Sehganglion,  und  von  dem  Pulvinar  in 
der  Höhe  der  1.  Temporalfurche  und  der  2.  Temporalwindung  nach 
hinten  gegen  den  Boden  der  fissura  calcarina  (Heu sehen).  Mag  sie 
da  oder  dort  beschädigt  werden,  immer  tritt  gekreuzte  Hemianopsie  ein. 


Fig.  102. 

Horizontalschnitt  (nach  den  Seiten  etwas  abfallend)  durch  das  Gehirn.     (Xach  Edinger). 

7.  Yerhältnissmässig  mehr  als  von  den  übrigen  Theilen  des  Ge- 
hirns wissen  wir  von  der  Rinde  desGrosshirns.  Wir  nehmen  mit 
guten  Gründen  an.  dass  die  seelischen  Vorgänge  an  die  Gehirnrinde 
geknüpft  seien,  ohne  sie  nicht  bestehen  können.  Wenn  daher  bei  einer 
organischen  Gehirnkrankheit  seelische  Störungen,  besonders  Ver- 
dunkelung des  Bewusstseins,  auftreten,  schliessen  wir,  dass  die  Gehirn- 
rinde im  Allgemeinen  geschädigt  sei.  Ob  diese  oder  jene  Windungen 
besondere  Bedeutung  in  seelischer  Beziehung  haben,  wissen  wir  nicht, 
man  vermuthet  nur,  dass  besonders  die  Stirnwindungen  den  höheren 
seelischen  Vorgängen  dienen. 

Dagegen  wissen  wir  von  einzelnen  Windungen  bestimmt,  dass 
ihre  Läsion  Störungen  der  Beweglichkeit  oder  der  Wahrnehmungs- 


368 


Localisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn. 


fäkigkeit  bewirkt.  Als  motorische  Region  werden  die  beiden  Central- 
windungen  (aufsteigende  Stirn-,  aufsteigende  Scheitelwindung),  deren 


Fig.  103. 

Seitenansicht  des  Gehirns.    Die  Gyri  und  Lobuli  sind  mit  Antiquaschrift,  die  Sulci  und  Fissurae 

mit  Cursivschrift  bezeichnet. 


Fimbria  r*sp.  fornix. 

Fig.  104. 

Längsschnitt  durch  die  Mitte  eines  Gehirns  vom  Erwachsenen.    Der  hintere  Theil  des  Thalamus, 
die  Hirnschenkel  u.  s.  w.  sind  abgetrennt ,  um  die  Innenseite  des  Schläfenlappens  frei  zu  legen. 


Localisatiou  in  der  Oblongata  lind  im  Gehirn.  369 

Fortsetzung  der  Lobulus  paracentfaüs  ist,  bezeichnet.  Ihre  Reizung 
bewirkt  Krämpfe,  ihre  tiefere  Schädigung-  oder  Zerstörung  Lähmung 
der  gegenüberliegenden  Kürperhälfte.  Das  untere  Drittel  dieser 
Windungen  ist  „Centrum"  für  die  Muskeln  des  Gesichts  und  der 
Zunge,  das  mittlere  für  den  Arm,  das  obere  Drittel  (bei  Hinzurechnung 
des  Lobul.  paracentralis)  für  das  Bein.  Je  nach  der  Ausdehnung  der 
Schädigung  wird  die  Wirkung  verschieden  sein.  Wirkt  ein  stärkerer 
Reiz  auf  das  „Centrum"  ein,  so  entstehen  Zuckungen  in  dem  ent- 
sprechenden Muskelgebiete  der  anderen  Seite.  Dauert  der  Reiz  an. 
so  pflanzt  sich  die  Reizung  auf  die  übrigen  Centra  der  gleichen  und 
dann  auch  auf  die  der  anderen  Seite  fort,  d.  h.  der  örtliche  Krampf 
wird  halbseitig  und  dann  allgemein.  Bei  jedem  Anfalle  partieller 
Epilepsie  (vergl.  S.  124)  ist  besonders  darauf  zu  achten,  wo  der  Krampf 
beginnt,  denn  da  sitzt  die  primäre  Läsion.  Oft  gehen  Parästhesien 
der  zuerst  zuckenden  Theile  voraus,  ja  bei  leichteren  Reizungen 
können  diese  allein,  an  Stelle  der  Krämpfe  auftreten  und  sich  wie 
solche  ausbreiten  (sensorisches  Aequivalent).  Sind  die  epileptischen 
Krämpfe  von  vornherein  allgemeine,  so  ist  auf  eine  Reizung  der 
gesammten  motorischen  Region  zu  schliessen. 

Wird  aus  der  oberflächlichen  Schädigung  eine  tiefere,  so  folgt 
nach  einem  Anfälle  oder  vielen  Anfällen  partieller  Epilepsie  Lähmung, 
oder  diese  tritt  von  vornherein  auf.  Meist  handelt  es  sich  um  Mono- 
plegien (vergl.  S.  87) ;  damit  eine  totale  Hemiplegie  zu  Stande  komme. 
niuss  das  ganze  motorische  Gebiet  zerstört  sein,  ein  Fall,  der  bei 
der  Ausdehnung  dieses  nicht  häufig  ist.  Die  Rindenlähmung  ist  oft. 
aber  nicht  immer  von  Hypästhesie  begleitet,  wie  es  scheint  besonders 
dann,  wenn  auch  die  hintere  Centralwindung  beschädigt  ist.  Genaues 
über  die  Localisatiou  corticaler  Anästhesie  weiss  man  nicht.  Oft 
bestehen  neben  der  Rindenlähmuug  abnorme  Bewegungen:  Chorea. 
Athetose,  einzelne  Zuckungen,  Ataxie.  Auch  können  schon  paretische 
Glieder  noch  zeitweise  von  partieller  Epilepsie  ergriffen  werden. 

In  der  Rinde  des  Hinterhauptlappens  ist  das  „Sehcentrum"  zu  suchen. 
dessen  einseitige  Zerstörung  contralaterale  Hemianopsie,  dessen  doppel- 
seitige Zerstörung  Blindheit  (mit  normaler  Pupillenbewegung  und  nor- 
malem Augenhintergrunde)  bewirkt.  Hauptsächlich  der  Cuneus  (bez.  die 
Umgebung  der  Fissura  calcarina)  scheint  „Sehcentrum';  oder  ..Sehsphäre'- 
zu  sein.  Bei  leichterer  Beschädigung  dieser  Theile  kann  die  Sehfähig- 
keit  nur  vermindert  sein,  insbesondere  hat  man  dann  beobachtet,  dass 
die  Kranken  die  Dinge  wohl  sahen,  aber  nicht  erkannten  und  sich  nicht 
orientiren  konnten.  Bei  Reizung  des  Hinterhauptlappens  treten  wahr- 
scheinlich subjective  Gesichtsempfindungen,  bez.  -Wahrnehmungen  ein. 

Möbius,  Diagnostik  der  ^Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  24 


370  Legalisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn. 

Wird  der  Fuss  der  dritten  (unteren)  linken  Stirnwindung  (die 
Broca'sche  Stelle)  zerstört,  so  kann  der  Kranke  nicht  mehr  sprechen, 
es  besteht  motorische  Aphasie.  Je  nach  der  Ausdehnung  der  Läsion 
kann  er  die  Worte  überhaupt  nicht  finden,  oder  nur  nicht  aussprechen, 
besteht  Agraphie  daneben  oder  nicht  (vergl.  S.  50). 

Ist  die  erste  (oberste)  linke  Schläfenwindung  zerstört,  so  hört 
der  Kranke  noch,  versteht  aber  die  Worte  nicht  mehr,  es  besteht 
Worttaubheit  oder  sensorische  Aphasie.  Auch  hier  giebt  es  Neben- 
formen, die  offenbar  von  dem  Orte  der  Läsion  abhängen  (vergl.  S.  51). 
Durch  die  Läsion  der  Insula  Reilii  soll  Paraphasie  entstehen.  Die 
Unfähigkeit  zu  lesen,  die  Alexie  bezieht  man  auf  Läsionen  in  der 
(regend  des  Gyrus  supramarginalis.  Offenbar  ziehen  zwischen  der 
Broca'schen  Stelle  und  der  1.  Schlaf enwindung,  zwischen  dieser  und 
dem  Sehcentrum  unter  der  Kinde  verschiedene  Bahnen  hin,  durch 
deren  Verletzung  Nebenformen  der  Aphasie,  Schreibe-,  Lesestörungen 
verschiedener  Art  entstehen  können,  ohne  dass  wir  vorläufig  mit 
Sicherheit  aus  dem  klinischen  Bilde  das  anatomische  erschliessen 
könnten.  Ist  sowohl  die  3.  Stirnwindung  als  die  1.  Schläfenwindung 
links  zerstört,  so  kann  der  Kranke  weder  sprechen  noch  verstehen, 
es  besteht  vollständige  Aphasie. 

Ueber  die  Folgen  einer  Zerstörung  der  übrigen,  bisher  nicht 
genannten  Hirnwindungen  ist  nichts  Bestimmtes  bekannt.  Manche 
nehmen  an,  dass  die  Abweichung  der  Augen  nach  der  Seite  des 
Herdes,  die  sogenannte  Deviation  conjuguee,  die  bei  Läsionen  der 
Grosshirnhalbkugeln  oft  eintritt,  auf  eine  Beschädigung  des  Gyrus 
angularis  zu  beziehen  sei.  Auch  glaubt  man  zum  Theil,  dass  Läsionen 
in  dieser  Gegend  Ptosis  des  gegenüberliegenden  Auges  bewirken 
können.  Doppelseitige  Beschädigung  der  Schläfenwindungen  ver- 
ursacht vielleicht  Taubheit.  Im  Gyrus  uncinatus  vermuthet  man  das 
„Riechcentrum"  und  in  seiner  Nähe  das  „Geschmackcentrum". 

8.  Wenn  eine  Läsion  die  Fasern  des  Stabkranzes  zwischen 
der  Rinde  und  der  inneren  Kapsel  trifft,  so  wird  das  Bild  dem  eines 
Rindenherdes  um  so  ähnlicher  werden,  je  näher  die  Läsion  der  Rinde 
ist  (Monoplegie,  partielle  Epilepsie,  Aphasie),  um  so  ähnlicher  dem 
der  Kapselherde,  je  weiter  die  Rinde  abliegt.  Doch  sind  wir  nicht 
im  Stande  eine  Läsion  des  Centrum  ovale  mit  Sicherheit  zu  erkennen, 
da  positive  Zeichen  fehlen.  — 

Je  nachdem  die  Zerstörung  einer  Gehirnstelle  deutliche  Sym- 
ptome macht  oder  nicht,  kann  man  zwischen  differenten  und  indiffe- 
renten Stellen  unterscheiden.  Die  Symptome  müssen  in  directe  und 
indirecte  getrennt  werden,  jene  hängen  nur  von  dem  Orte  der  Läsion 


Localisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn.  371 

ab,  diese  von  ihrer  Art,  von  der  Wirkung-  der  Läsion  auf  die  Um- 
gebung' durch  Druck,  durch  Veränderung  des  Blutlaufes  u.  s.  w.  Gäbe 
es  nur  directe  Symptome,  so  würden  alle  Erkrankungen  der  indiffe- 
renten Hirnstellen  unerkannt  bleiben.  Vermöge  der  Fernwirkung 
der  Läsion  aber  kann  jedes  Symptom  auch  von  indifferenten  Stellen 
aus  bewirkt  werden.  Die  bisher  gegebenen  Regeln  gelten  zunächst 
nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  es  sich  um  directe  Symptome 
handle.  Ob  aber  das  einzelne  Symptom  direct  oder  indirect  ist,  kann 
man  ihm  nicht  ansehen,  das  ergiebt  sich  nur  aus  der  Betrachtung 
des  Falles  im  Ganzen,  besonders  aus  dem  Verlaufe.  Die  krankhaften 
Zustände,  die  im  Gehirne  beobachtet  werden,  sind  Blutungen,  Er- 
weichungen, Geschwülste,  Abscesse,  acute  Entzündungen,  primäre 
Sklerosen.  Erkrankungen  der  Meningen  und  des  Schädels  können 
durch  Druck  oder  durch  übergreifende  Entzündung  das  Gehirn  be1- 
schädigen.  Es  ist  von  vornherein  ersichtlich,  dass  je  nach  der  Art 
des  Vorganges  das  Verhältniss  zwischen  directen  und  indirecten 
Symptomen  verschieden  sein  muss.  Primäre  Sklerosen  werden  fast 
nur  directe  Symptome  machen,  Erweichungen  bewirken  indirecte 
Symptome  nur  dann,  wenn  sie  plötzlich  eintreten  und  dadurch  die 
Circulation  weithin  stören.  Blutungen,  die  plötzlich  beginnen,  üben 
einen  starken  Druck  auf  das  Gehirn  aus,  um  so  mehr,  je  grösser 
sie  sind  und  je  rascher  sie  entstehen,  sie  drücken  im  Anfange  auf 
die  Umgebung  des  Herdes,  machen  sie  ödematös.  Geschwülste  endlich 
und  Abscesse  bewirken  einen  starken  Druck,  der  mit  der  Geschwin- 
digkeit ihres  Wachsthumes  zunimmt  und  gewöhnlich  das  ganze  Ge- 
hirn schädigt.  Aehnlich  wirken  von  aussen  drückende  Gebilde.  Im 
Allgemeinen  kann  man  die  Erkrankungen,  die  indirecte  Symptome 
machen,  in  zwei  Gruppen  scheiden.  Die  einen  beginnen  plötzlich  und 
erreichen  sofort  ihre  grösste  Stärke  (Blutungen  und  plötzliche  Gefäss- 
verschliessungen);  hier  ist  im  Anfange  der  grösste  Theil  der  Sym- 
ptome indirect,  allmählich  aber  verschwinden  im  weiteren  Verlaufe 
die  indirecten  Symptome  und  schliesslich  bleiben  nur  die  directen 
übrig,  ist  aber  eine  indifferente  Stelle  getroffen,  so  können  alle  Sym- 
ptome verschwinden.  Die  andere  Gruppe  bilden  die  Tumoren  (im 
weitesten  Sinne  des  Wortes).  Sitzen  sie  an  differenten  Stellen,  so 
bewirken  sie  anfänglich  nur  directe  Symptome,  allmählich  aber 
werden  diese  von  den  indirecten  überwuchert.  Tumoren  an  indiffe- 
renten Stellen  können  natürlich  nur  indirecte  Symptome  haben,  sie 
schädigen  zuerst  ihre  Nachbarschaft.  In  beiden  Fällen  haben  wir 
einen  progressiven  Verlauf,  indem  die  Fernwirkung  immer  weiter 
reicht,  erweitert  sich  das  Symptomenbild  immer  mehr. 

24* 


372  Legalisation  in  der  Oblongata  und  im  Gehirn. 

Der  plötzlichen  Gehirnläsion  entspricht  der  Schlaganfall  oder 
apoplectische  Insult  (vergl.  S.  25). 

Das  Gegenstück  zum  Schlaganfalle  ist  der  allmählich  wachsende 
Gehirndruck.  Da  ein  Druck,  der  die  weiche  Gehirnmasse  trifft,  sich 
leicht  fortpflanzt,  so  kommt  es,  wo  auch  der  Druck  einsetzt,  ziem- 
lich rasch  zu  den  Erscheinungen  des  allgemeinen  Gehirndruckes. 
Diese  sind  allgemeiner,  heftiger,  gewöhnlich  bohrend  genannter  Kopf- 
schmerz, Erbrechen,  Pulsverlangsamung,  Beeinträchtigung  der  seeli- 
schen Thätigkeiten  (Benommenheit,  Gedächtniss-  und  Urtheilschwäche, 
Verstimmung,  Sinnestäuschungen,  Wahnvorstellungen),  Ohnmächten, 
allgemeine  Krämpfe  und  die  Stauungspapille.  Neben  ihnen  gehen 
die  Herderscheinungen  her  und  je  mehr  sie  ausgesprochen  sind,  um 
so  mehr  ist  eine  Localisation  möglich.  Im  Allgemeinen  lässt  sich 
etwa  folgendes  sagen. 

Tumoren  an  der  Basis  machen  zunächst  Hirnnervenlähmungen  und 
durch  Beschädigung  der  Dura  Schmerzen.  Der,  der  das  Bild  der  Gehirn- 
basis vor  Augen  hat,  kann  nach  den  Nervensymptomen  die  Stelle  der 
Läsion  ziemlich  gut  bestimmen.  In  der  vorderen  Schädelgrube  wird  der 
Olfactorius  betroffen,  der  Opticus,  der  1.  Trigeminusast  und  die  Augen- 
muskelnerven liegen  nahe  bei  einander.  Tumoren  am  Türkensattel  (Hypo- 
physis)  schädigen  zunächst  das  Chiasma,  dann  die  Augenmuskelnerven 
und  den  1.  Trigeminusast.  In  der  mittleren  Schädelgrube  sind  ausser  den 
Augenmuskelnerven  und  dem  Trigeminus  der  Tractus  opticus  und  der 
Hirnschenkel  zu  schädigen.  In  der  hinteren  Schädelgrube  kommen  die 
unteren  6  Hirnnerven  dazu;  in  der  Nähe  des  Felsenbeins  liegen  Facialis, 
Acusticus  und  Abducens  bei  einander,  die  übrigen  liegen  noch  weiter  nach 
hinten.  Die  Hirndrucksymptome  sind  bei  den  meisten  Basistumoren  gering. 

Das  Umgekehrte  ist  bei  Klemhirngeschwülsten  der  Fall.  Durch  Druck 
auf  die  Vena  magna  Galeni  entsteht  weitgreifende  Stauung,  es  kommt  zu 
Hydrocephalus  internus,  frühzeitig  entwickelt  sich  Stauungspapille,  Erbrechen 
und  Kopfschmerz  sind  stark.  Dazu  kommen  die  Kleinhirnsymptome :  cere- 
bellare  Ataxie,  Schwindel,  Fehlen  des  Kniephänomens.  Je  nach  der  Druck- 
richtung werden  ferner  die  Oblongata  oder  das  Vierhügelgebiet  geschädigt. 

Tumoren  in  einer  der  Hemisphären  können,  wenn  sie  an  einer  in- 
differenten Stelle  sitzen,  ausschliesslich  die  Symptome  des  allgemeinen 
Hirndruckes  bewirken ;  häufiger  bestehen  neben  diesen  wenigstens  Zeichen, 
die  auf  Schädigung  einer  Hemisphäre  deuten,  Hemiparese,  aphatische  Stö- 
rungen. Bei  Tumoren  des  Stirnhirns  hat  man  Gleichgewichtstörungen  be- 
obachtet. Die  Regel  ist,  dass  neben  den  Hirndrucksymptomen  von  vorn- 
herein directe  Symptome  vorhanden  sind,  die  nach  den  früher  gegebenen 
Regeln  zu  beurtheilen  sind.  Reizerscheinungen  (Krämpfe,  Spannungen, 
Parästhesien)  gehen  oft  voraus.  Sitzt  die  Geschwulst  an  der  Oberfläche 
oder  dieser  nahe,  so  besteht  örtlicher  Kopfschmerz  (Läsion  der  Dura)  mit 
Empfindlichkeit  gegen  Klopfen.  Nicht  selten  kommen  auch  bei  Hemi- 
sphärengeschwülsten Hirnnervenlähmungen  dadurch  zu  Stande,  dass  die 
Nerven  gegen  die  Schädelbasis  angedrückt  werden. 


Localisation  iu  der  Oblongata  unö"  im  Gehirn  373 

Die  Diagnose  einer  Gehirngeschwulst  kann  sich  natürlich  nur  auf  die 
Ilirndrncksymptome  gründen,  während  die  Herdsymptome  zur  Localisation 
dienen.  Die  eigentlichen  Tumoren  sind  von  den  Abscessen  zu  unterscheiden: 
bei  diesen  besteht  selten  Stauungspapille,  ist  Eiterfieber  mit  Kachexie  vor- 
handen, ist  eine  Quelle  der  Eiterung  (Otitis,  putride  Bronchitis,  Pyämie 
u.  s.  w.)  vorhanden.  Von  den  Neubildungen  sieht  man  am  häufigsten 
Gliome  und  Tuberkel.  Diese  kommen  vorwiegend  im  jugendlichen  Alter 
und  neben  anderen  tuberkulösen  Erkrankungen  vor,  sitzen  oft  im  Klein- 
hirn und  in  der  Umgebung,  der  Brücke,  dem  Hirnschenkel.  Gliome  kom- 
men am  häufigsten  in  den  Hemisphären  vor,  während  ihres  Wachsthums 
werden  oft  apoplectische  Anfälle  beobachtet.  Syphilome  sind  selten,  ander- 
weite syphilitische  Symptome  und  der  Erfolg  der  Behandlung  müssen  zur 
Diagnose  helfen.  Die  gummatöse  Meningitis  an  der  Basis  darf  nicht  zu 
den  Tumoren  gerechnet  werden,  sie  macht  fast  nur  directe  Symptome. 
Die  eigentlichen  (vom  Knochen  ausgehenden)  Basisgeschwülste  sind  fast 
immer  Sarkome.  Auf  manche  Formen  (Carcinom,  Cysticercus,  Echinococcus) 
kann  man  nur  vermuthungsweise  schliessen,  wenn  die  Geschwulstart  an 
anderen  Orten  nachzuweisen  ist.  Psammome,  Angiome  u.  s.  w.  sind  Selten- 
heiten. Adenomartige  Geschwulstbildungen  können  von  der  Zirbel  oder 
dem  Hirnanhange  ausgehen,  an  sie  ist  zu  denken,  wenn  die  Symptome  auf 
die  Vierhügel  oder  auf  das  Chiasma  weisen. 

Als  seltene  Erkrankung  kommt  bei  Erwachsenen  chronischer  Hydro- 
cephalus  ohne  nachweisbare  Ursache  vor.  Er  macht  die  Erscheinungen 
allgemeinen  Hirndruckes  und  wird  u.  U.  kaum  von  einer  Geschwulst  zu 
unterscheiden  sein.  Wie  es  scheint,  sind  doppelseitige  spastische  Paresen 
eine  Hauptwirkung  des  Hydrocephalus. 


DRITTER  THEIL. 


Man  geht  im  Allgemeinen  beim  Diagnosticiren  auf  zwei  Wegen 
vor.  Entweder  man  bestimmt  erst  den  Ort  der  Erkrankung-  (Locali- 
sation)  und  dann  die  Art.  Gegenüber  einem  Muskelscliwunde  z.  B. 
legt  man  sich  die  Frage  vor,  ob  die  Muskeln,  oder  die  Nerven,  oder 
die  Vorderhörner  primär  erkrankt  seien,  und  wenn  etwa  das  Letztere 
anzunehmen  ist,  sucht  man  zu  bestimmen,  ob  es  sich  um  eine  acute 
Entzündung  oder  um  einen  langsamen  Schwund  der  Ganglienzellen, 
oder  etwa  um  eine  mechanische  Beschädigung  durch  eine  Neubildung, 
oder  um  sonst  etwas  handelt.  Dieser  ordnungsmässige  Weg  ist  nicht 
immer  gangbar,  in  vielen  Fällen  sind  wir  genöthigt,  ein  klinisch 
fixirtes  Krankheitsbild  aus  Anamnese,  Befund  und  Verlauf  zu  er- 
schliessen.  Diesen  zweiten  Weg  müssen  wir  gehen,  wenn  die  ana- 
tomischen Läsionen  überhaupt  nicht  bekannt  sind,  oder  doch  die 
Beziehung  der  einzelnen  Symptome  auf  bestimmte  anatomische  Ver- 
änderungen unausführbar  ist,  obwohl  wir  im  Allgemeinen  wissen, 
diesem  Krankheitsbilde  entspricht  jenes  anatomische  Bild. 

Im  Bisherigen  hat  die  Localisation  die  Hauptrolle  gespielt,  es 
bleibt  noch  übrig,  über  die  Diagnose  der  Nervenkrankheiten  einiges 
beizubringen,  bei  denen  die  Localisation  nicht  ausführbar,  oder  doch 
nur  im  Allgemeinen  möglich  ist  und  die  Hauptaufgabe  die  ist,  aus 
dem  Ergebniss  der  Untersuchung  einen  klinischen  Begriff  zu  gewinnen. 
Wenigstens  sollen  im  Folgenden  nur  Diagnosen  dieser  Art  etwas 
eingehender  besprochen  werden,  während  im  Uebrigen  in  der  Haupt- 
sache auf  frühere  Erörterungen  verwiesen  werden  kann  und  hier 
nur  kurze  Hinweise  auf  wichtige  Punkte  angefügt  werden. 

Vollständigkeit  kann  nicht  erreicht  werden.  Es  ist  ja  gar  nicht  mög- 
lich, die  „Nervenkrankheiten"  streng  von  den  anderen  Krankheiten  abzu- 
trennen. Der  Gebrauch  spielt  da  eine  Rolle,  denn  manche  Krankheiten, 
die  früher  als  Nervenkrankheiten  angesehen  wurden  (z.  B.  der  geradezu 
Nervenfieber  genannte  Ab  domin  altyphus) ,  gelten  heute  nicht  mehr  dafür 
und  umgekehrt  werden  manche  Nervenkrankheiten  von  heute  später  anders- 
wo abgehandelt  werden.  Eigentlich  giebt  es  im  klinischen  Sinne  nur  Sym- 
ptome von  Seiten  des  Nervensystems,  im  anatomischen  Läsionen  des  Nerven- 
systems. Weder  befallen  die  „Nervenkrankheiten"  immer  primär  das 
Nervensystem  (die  meisten  Gehirnkrankheiten  sind  nur  Zufälle  im  Laufe 
von  Gef  ässkrankheiten),  noch  beschränken  sie  sich  auf  dieses  (s.  z.  B.  den 


378  Exogene  Xervenkranklieiten. 

Alkokolisinus).  Dabei  ist  der  ganz  willkürlichen  Abtrennung  mancher  Krank- 
heiten, die  man  zur  Toxikologie  zu  verweisen  pflegt,  und  der  im  Grunde 
undurchführbaren  Scheidung  zwischen  Xeuropathologie  und  Psychiatrie 
noch  nicht  gedacht.  Demnach  ist  also  jede  Aufzählung  der  Nervenkrank- 
heiten eine  Auswahl. 

Bei  der  Diagnose  ist  es  wichtig,  dass  der  Arzt  wisse,  an  welche 
Krankheiten  er  zunächst  zu  denken  habe,  welche  oft  vorkommen.  Deshalb 
sind  die  weniger  häufigen  Formen  hier  nur  kurz  erwähnt. 


I.  Exogene  Nervenkrankheiten. 

I.  Metailvergiftungen. 

Bei  Verdacht  auf  diese  ist  nach  dem  Gifte  zu  suchen  (Vergif- 
tungen im  Gewerbe,  durch  Medicamente,  durch  Gebrauchsgegen- 
stände. Selbstmordversuche.  Untersuchung  des  Harns  und  anderer 
Abscheidungen). 

Practisch  kommen  eigentlich  nur  Blei  und  Arsenik  in  Be- 
tracht. Beide  schädigen  besonders  die  peripherischen  Nerven  (siehe 
Neuritis),  bei  starker  langdauernder  Einwirkung  wohl  auch  das 
Eückenmark.  Das  Blei  ruft  ausnahmeweise  Hirnzufälle  hervor  (Kopf- 
schmerzen, epileptische  Anfalle,  Verwirrtheit). 

Die  Diagnose  der  Bleivergiftung  ist  gewöhnlich  leicht,  da 
die  häufigeren  Zufälle  (die  Streckerlähmung  der  Hände  und  die  Kolik 
mit  Verstopfung  und  starker  Spannung  des  Pulses)  sehr  charakte- 
ristisch sind.  Die  gewöhnliche  Bleilähmung  könnte  etwa  mit  einer 
sehr  seltenen  Form  des  Muskelschwundes,  bei  der  auch  die  Strecker 
der  Finger  und  der  Hände  zuerst  erkranken  und  über  dessen  Wesen 
nichts  bekannt  ist,  mit  ähnlichen  Lähmungen  durch  Druck  auf  den 
Vorderarm  oder  durch  Aethereinspritzung  daselbst  verwechselt  werden. 
Bei  abweichenden  Formen  der  Bleilähmung  wird  ohne  den  Nachweis 
des  Bleies  die  Diagnose  selten  möglich  sein.  Bei  Verdacht  achte  man 
auf  den  grauen  Saum  am  Zahnfleische  und  die  gewöhnlich  sehr 
blasse  Farbe  der  trockenen  Haut  bei  Bleikranken. 

Die  Arsenik-Neuritis  ist  ebenfalls  sehr  charakteristisch 
(s.  S.  355).  Man  könnte  sie  etwa  mit  der  infectiösen  Polyneuritis, 
vielleicht  auch  mit  der  Alkoholneuritis  verwechseln.  Das  Gift  ist 
oft  schwer  zu  finden,  wenn  es  in  der  Umgebung  der  Kranken  ver- 
steckt ist  (Tapeten,  Möbelstoffe,  Kleider,  ausgestopfte  Thiere  u.  s.  f.). 
Bei  acuten  Vergiftungen  ist  es  im  Harn  zu  finden.  Die  Kranken 
sind  oft  blass,  etwas  cyanotisch,  schwitzen  leicht,  haben  Hautaus- 
schläge, Haar-  und  Nagelerkrankuno-. 


Alkoholismus.  379 

2.  Alkoholismus. 

Der  chronische  Alkoholmissbrauch  führt  je  nach  seiner  Grösse 
und  der  Widerstandsfähigkeit  des  Trinkers  früher  oder  später  zu 
einer  Erkrankung-  des  Gehirns,  manchmal  zu  einer  der  peripherischen 
Nerven.  Auch  indirect,  d.  h.  dadurch,  dass  er  auf  die  Arterien  wirkt 
und  Atheromatose  hervorruft,  wird  er  Ursache  vieler  Gehirnerkran- 
kungen. 

Das  Hauptsymptom  ist  ein  langsam  fortschreitender  Schwach- 
sinn, auf  dessen  Boden  die  verschiedensten  Formen  seelischer  Störung- 
erwachsen  können  (Jähzorn,  Anfälle  von  Wuth,  von  Angst,  verein- 
zelte "Wahnvorstellungen,  besonders  der  sog.  Eifersuchtwahn,  Delirium 
tremens,  hallucinatorischer  Wahnsinn).  Schnapssäufer  leiden  oft  an 
epileptischen  Anfällen.  Yolksthümlich  ist  das  Zittern  der  Säufer. 
Wegen  der  Alkohol-Neuritis  s.  S.  353.  Eine  seltene  Complication  ist 
die  hämorrhagische  Entzündung  im  Gebiete  der  Augenmuskelnerven- 
kerne  (S.  365).  Bei  der  Diagnose  der  verschiedenen  Formen  des  Al- 
koholismus darf  man  nicht  vergessen,  dass  die  Kranken  gewöhnlich 
leugnen.  Man  darf  sich  also  dadurch  nicht  behelligen  lassen,  muss, 
wTenn  Verdacht  besteht,  die  Angehörigen,  die  Nachbarn  fragen.  In 
der  Eegel  giebt  das  Aeussere  des  Kranken  eine  Andeutung,  doch 
nicht  immer.  Auch  das  Zittern  kann  fehlen.  Man  thut  gut,  wenn 
eins  der  erwähnten  Symptome  vorhanden  ist,  an  den  Alkohol  zu 
denken.  Das  Delirium  tremens  bietet  selten  diagnostische  Schwierig- 
keiten. Massenhafte  Täuschungen  mehrerer  Sinne,  mit  Vorwiegen 
der  Gesichtstäuschungen,  meist  peinlichen  und  erschreckenden  In- 
haltes, häufig  durch  Vielzahl  (viele  kleine  Thiere,  Menschenschaaren) 
und  Beweglichkeit  ausgezeichnet,  versetzen  den  Kranken  in  Auf- 
regung und  verwirren  ihn,  obwohl  gewöhnlich  ein  gewisser  Grad 
von  Besonnenheit  erhalten  bleibt.  Sie  nehmen  am  Abend  und  in  der 
Nacht  zu.  Der  Schlaf  fehlt.  Es  besteht  Zittern  oder  Beben  des 
ganzen  Körpers;  die  Haut  ist  feucht;  Fieber  fehlt  in  der  Eegel,  tritt 
nur  in  besonders  schweren  Fällen  auf.  Wegen  der  Unterscheidung 
des  anderweiten  Alkohol-Irreseins  von  ähnlichen  Formen  muss  auf 
die  Psychiatrie  verwiesen  werden.  Die  Alkohol -Neuritis  wird  oft 
verkannt.  Man  wird  gut  thun,  bei  jeder  Polyneuritis  unbekannten 
Ursprungs  nach  Alkohol-Missbrauch  zu  forschen.  In  seltenen  Fällen 
täuscht  die  Alkohol-Neuritis  Tabes  vor,  meist  kann  das  Verhalten 
der  Pupillen  den  Ausschlag  geben.  Freilich  kommen  auch  Verbin- 
dungen des  Alkoholismus  mit  Tabes,  mit  progressiver  Paralyse,  mit 
Syphilis,  mit  Tuberkulose  u.  s.  w.  nicht  allzuselten  vor. 


380  Exogene  Nervenkrankheiten. 

3.  Nervenkrankheiten  nach  acuten  Infectionskrankheiten. 

Aehnlich  wie  die  anderen  Gifte  können  die  nach  Infectionen 
im  Körper  entstehenden  Giftstoffe  das  Nervensystem  schädigen.  Bei 
diesen  Nachkrankheiten  leiden  gewöhnlich  die  Nerven,  oder  das 
Gehirn,  oder  beide.  Seltener  sind  primäre  Schädigungen  des  Bücken- 
markes (verstreute  Herde,  die  denen  der  multiplen  Sclerose  ähnlich 
sind). 

Manche  Infectionskrankheiten  bewirken  oft  nervöse  Xachkrank- 
heiten, manche  selten ;  diese  sind  zuweilen  charakteristisch,  zuweilen 
nicht.  Nach  der  Diphtherie  kommen  nervöse  Störungen  wohl  am 
häufigsten  vor.  Bald  nach  Ablauf  der  acuten  Krankheit  trifft  man 
dann  die  3  Cardinalsymptome :  Lähmung  des  Gaumensegels,  Verlust 
der  Accommodation.  Fehlen  des  Kniephänomens.  In  leichten  Fällen 
kann  die  Gaumenlähmung  allein  oder  nur  mit  der  Sehstörung  auf- 
treten, in  schweren  gesellen  sich  weitere  Symptome  hinzu:  Läh- 
mungen äusserer  Augenmuskeln,  Schlundlähmung,  allgemeine  Schwäche 
mit  Ataxie,  verbreitete  Lähmungen  mit  Muskelschwund.  Parästke- 
sien,  Hypästhesie.  Hirnsymptome  sind  selten.  Dagegen  kann  neben 
der  Neuritis  die  diphtherische  Herzerkrankimg  bestehen  und.  was 
jene  kaum  thut,  den  Tod  herbeiführen. 

Nach  puerperalen  Erkrankungen  beobachtet  man  am 
häufigsten  Hirnsymptome :  Delirien,  hallucinatorische  Verwirrtheit, 
seltener  die  puerperale  Neuritis  (s.  S.  353). 

Auch  nach  Typhus  sind  Gehirnerkrankungen  häufig,  einfache 
Schwächezustände,  von  Vergesslichkeit  und  Denkschwäche  bis  zu  aus- 
gesprochenem Blödsinne,  Sinnestäuschungen.  Wahnvorstellungen.  Die 
typhöse  Neuritis  beschränkt  sich  bald  auf  einzelne  Nerven  (z.  B. 
Abducens-,  Peronäuslähmung) ,  theils  ist  sie  eine  Polyneuritis.  Bei 
dieser  kann  die  amnestische  Geistesstörung  in  den  Vordergrund 
treten,  sofortiges  Vergessen  aller  Erlebnisse,  Ausfallen  eines  Theiles 
der  Lebensgeschichte. 

Weiter  sind  hierzu  nennen  Schar  lach,  Erysipel,  Polyarthritis 
acuta,  Pocken,  Malaria,  Pneumonie,  Keuchhusten.  Besonders 
zahlreich,  wenn  auch  nicht  charakteristisch  sind  die  nervösen  Störungen 
nach  Influenza;  Nervenschmerzen  scheinen  am  häufigsten  zu  seiu.  Nach 
Tripper  hat  man  Ischias,  Polyneuritis,  auch  Myelitis  beobachtet. 

Bei  der  Diagnose  kann  man  sich  zuweilen  auf  den  Befund  stützen, 
wie  bei  Diphtherie-Neuritis,  in  der  Hauptsache  aber  ist  man  auf 
die  Anamnese  angewiesen.  Man  muss  sich  vor  der  Verwechselung 
mit  Alkoholismus  oder  mit  Tabes  hüten  und  darf  die  Gehirnsym- 


Nervenkrankheiten  durch  primäre  Erkrankung  der  Blutgefässe.         381 

ptome,  die  Wirkung-  der  Vergiftung-  sind,  nicht  denen  gleichstellen, 
die  Ausdruck  angeborener  Anlage  sind  und  die  ebenfalls  nach  In- 
fectionskranklieiten  auftreten  können  (Nervosität,  Hysterie,  melan- 
cholische Zustände  u.  s.  w.). 


4.  Nervenkrankheiten  durch  primäre  Erkrankung  der  Blutgefässe. 

Bei  und  nach  den  verschiedensten  acuten  Infectionskrankheiten 
kommen  auch  Entartungen  der  Gefässwände  vor,  die  zu  Blutung-en 
in  der  Schädelhöhle,  sehr  selten  in  dem  Wirbelkanale  Anlass  werden 
können.  Je  nach  den  Umständen  kommen  auch  Embolien  oder 
Thrombosen  vor.  So  entstehen  Hemiplegien  bei  Diphtherie,  Typhus 
u.  s.  w.  Der  Arzt  steht  natürlich  nur  den  örtlichen  Symptomen  gegen- 
über und  kann  die  Ursache  nur  aus  dem  Zusammenhange  der  Er- 
scheinungen, bez.  der  Anamnese  erkennen. 

Die  weitaus  wichtigste  Gefässkrankheit  ist  die  Atheromatose. 
Ueber  das  Vorkommen  der  miliaren  Aneurysmen  an  den  Hirnarterien, 
über  den  Gefässverschluss  durch  atheromatose  Veränderungen  und 
die  Beurtheilung  der  durch  sie  bewirkten  plötzlichen  Hirnerkrankun- 
gen  ist  schon  früher  einiges  beigebracht  worden  (s.  S.  26  und  S.  67). 
Die  Fragen,  ob  Blutung,  ob  Erweichung,  ob  Embolie,  die  Locali- 
sation  des  Herdes  sind  in  der  Regel  von  geringerer  Bedeutung  als 
die  Frage  nach  der  Ursache  der  Gefässerkrankung :  Unterscheidung 
zwischen  gewöhnlicher  Atheromatose  und  syphilitischer  Arterien- 
erkrankung, ferner  Nachweis  etwaiger  Bleivergiftung,  des  Alkoho- 
lismus u.  s.  w. 

Bei  progressiver  Paralyse  und  seltener  bei  multipler  Sclerose 
kommen  apoplectische  Anfälle  mit  Hemiplegie,  bez.  Aphasie  vor,  ohne 
Blutung  oder  Erweichung. 

In  seltenen  Fällen  hat  man  bei  Nephritis,  aber  auch  bei  Pneumonie 
und  anderen  Krankheiten  unter  Insult  entstandene  Hemiplegien  beobachtet, 
.ohne  dass  nach  dem  Tode  eine  entsprechende  Hirnveränderung  nachzu- 
weisen gewesen  wäre. 

Grössere  Aneurysmen  bewirken  in  der  Schädelhöhle  (Carotis 
int,,  Vertebralis)  Tumorsymptome, .Aortenaneurysmen  können  zu  Ee- 
currenslähmung,  Neuralgien,  auch  bei  Usur  der  Wirbel  zu  Compres- 
sion  der  Wurzeln  und  des  Markes  führen,  ilneurysmen  der  periphe- 
rischen Arterien  können  Neuralgien,  Lähmung  u.  s.  w.  durch  Druck 
auf  die  benachbarten  Nerven  hervorrufen. 

Von  den  Herzkrankheiten  führt  am  ehesten  die  Endocarditis 
als  Quelle  von  Embolis  zur  Schädigung  des  Nerveiisj^stems.    Die 


382  Exogene  Nervenkrankheiten. 

Angina  pectoris  kann  mit  Angstzuständen  bei  Nervösen,  Hysterischen 
verwechselt  werden. 

Eine  merkwürdige  Erscheinung  sind  die  Anfälle  von  Petit  mal  bei  der 
(wahrscheinlich  auf  Atherom  des  Aortaanfanges  beruhenden)  Bradykardie. 

5.  Erkrankungen  des  Nervensystems  bei  chronischen 
Infectionskrankheiten. 

Die  Tuberkulose  kann  sich  kundgeben  als  tnberciüöse  Me- 
ningitis (Fieber,  Kopfschmerzen,  Erbrechen,  Benommenheit,  Nacken- 
starre,  Hirnnervenlähmnngen,  Krämpfe  und  Lähmung  der  Glieder), 
als  Tuberkelgescliwulst  im  Gehirn  (Zeichen  einer  Herdläsion  oder 
eines  Tumor,  vorwiegend  häufig  in  der  hinteren  Schädelgrube),  als 
Neuritis  tuberculosa  (umschriebene  oder  Polyneuritis,  amnestische 
Geistesstörung),  als  Caries  der  Wirbel  (Querläsion  des  Markes  mit 
Gibbus  im  Brust-  oder  Halstheile).  Bei  der  Diagnose  hat  man  sich 
auf  das  Vorhandensein  anderweiter  Zeichen  von  Tuberkulose,  auf 
das  Fehlen  sonstiger  Ursachen,  auf  das  jugendliche  Alter  der  Kranken 
zu  stützen.  Man  versäume  nie,  wenn  die  ersten  Zeichen  einer  Com- 
pression  des  Kückenmarkes  (Wurzelschmerzen,  bes.  Gürtelschmerz 
und  Steigerung  der  Sehnenreflexe  an  den  Beinen)  vorhanden  sind, 
die  Wirbelsäule  genau  zu  untersuchen. 

Wenn  gelegentlich  einzelne  Nerven  durch  tuberculöse  Herde 
beschädigt  werden,  wenn  umschriebene  Knochenherde  Nervenschmer- 
zen vortäuschen,  müssen  die  Umstände  des  einzelnen  Falles  erwogen 
werden. 

Die  Syphilis  bewirkt  in  der  ersten  Zeit  nach  der  Infection 
am  ehesten  Nervenschmerzen  (Gesicht,  Scheitel,  Hinterkopf;  nächt- 
liche Steigerung;  rasches  Verschwinden  auf  Jodkalium  hin),  seltener 
die  sog.  syphilitische  Epilepsie  (partielle  Krämpfe,  bald  auch  andere 
Zeichen  einer  Hirnrindenläsion ;  Einfluss  der  specifischen  Behandlung). 
Diese  Epilepsie  durch  Rindenläsion  darf  nicht  mit  hysterischen  An- 
fällen, die  während  der  secundären  Syphilis  vorkommen  können,  ver- 
wechselt werden. 

Während  der  tertiären  Periode  sind  3  Syndrome  am  häufigsten, 
die  theils  allein,  theils  nach  einander,  theils  zusammen  vorkommen : 
multiple  Hirnnervenlähmung  durch  gummatöse  Meningitis  an  der 
Gehirnbasis,  plötzlich  eintretende  Herdläsionen  durch  syphilitische 
Erkrankung  der  Gehirnarterien,  syphilitische  spastische  Spinalpara- 
lyse durch  Meningomyelitis  (am  häufigsten  des  Brusttheiles).  Ziem- 
lich selten  sind  grössere  Gummata  im  Gehirn  (Tumor-Erscheinungen), 


Der  metasyphilitische  Xervensolnvund  (Tabes  dorsalis  und  Dementia  paralytica).  383 

Erkrankung  der  Wurzeln  im  Wirbelcanale,  einzelner  peripherischer 

Nerven. 

Die  Diagnose  hat  sich  zu  gründen  auf  anderweite  Zeichen  der 
Syphilis,  auf  das  Alter  der  Kranken,  auf  die  Einwirkung  der  spe- 
ciflschen  Behandlung'  und  auf  gewisse  Eigentümlichkeiten  der  Ner- 
vensyphilis. Solche  sind  das  Zunehmen  der  Schmerzen  in  der  Nacht, 
das  Anfallartige,  die  Unbeständigkeit,  das  Schwanken  der  Symptome 
(Insulte  mit  rasch  verschwindender  Lähmung,  vorübergehende,  bez. 
wiederkehrende  Hirnnervenlähmung),  das  Aufeinanderfolgen  der  oben 
genannten  Syndrome  bei  demselben  Kranken.  Bei  der  multiplen 
Hirnnervenlähniung  kommen  ausser  der  Syphilis  fast  nur  bösartige 
Neubildungen,  selten  Tuberkulose  in  Betracht.  Die  syphilitische 
Arteriitis  befällt  bes.  die  Art.  basilaris  und  ihre  Zweige,  etwas  sel- 
tener die  Art.  fossae  Sylvii.  Aus  dem  negativen  Erfolge  der  Behand- 
lung ist  nicht  viel  zu  folgern,  da  nekrotisch  gewordenes  Gewebe 
natürlich  nicht  ersetzt  werden  kann  und  das  schwielige  Gewebe 
mancher  tertiären  Bildungen  der  Behandlung  oft  widersteht. 

Verwechselt  kann  die  tertiäre  Syphilis  des  Nervensystems  werden 
mit  Gefässerkrankung  durch  Atheromatose ,  mit  multipler  Sclerose, 
mit  anderweiten  Neubildungen.  Zuweilen  ist  es  nicht  möglich,  bei 
den  vorübergehenden  Lähmungen  mit  Sicherheit  zu  sagen:  ist  es 
noch  tertiäre  Syphilis,  oder  schon  Metasyphilis,  d.  h.  Tabes,  bez.  pro- 
gressive Paralyse.  Dies  gilt  bes.  von  den  Augenmuskellähmungen 
und  den  leichten  apoplectischen  Anfällen.  Die  Therapie  täuscht 
natürlich,  da  es  ja  in  der  Beschaffenheit  des  Zufalles  liegt,  vorüber- 
zugehen. 

6.  Der  metasyphilitische  Nervenschwund  (Tabes  dorsalis  und 
Dementia  paralytica). 

Die  Ursache  dieser  häufigen  Krankheiten  ist  die  Syphilis,  aber 
es  handelt  sich  um  „Nachkrankheiten",  d.  h.  um  anatomisch  und 
symptomatisch  selbständige  Krankheiten,  deren  conditio  sine  qua  non 
das  Vorausgehen  der  Infectionskrankheit  ist.  Wenn  auch  niemand 
an  Tabes  oder  an  Dementia  paralytica  erkrankt,  der  nicht  früher 
Syphilis  gehabt  hat,  so  sind  doch  offenbar  Nebenbedingungen  erfor- 
derlich. Deren  wichtigste  scheint  Ueberreizung  des  Gehirns  und 
Kückenmarkes  zu  sein.  Besonders  bei  der  Paralyse  spielt  das  LTeber- 
maass  an  intellectueller  und  gemüthlicher  Anstrengung  eine  Eolle, 
daher  sie  vielfach  als  eine  Art  von  Marodeur  der  Civilisation  be- 
trachtet worden  ist.  Bei  der  Tabes  kommen  vielleicht  körperliche 
Anstrengungen  in  Betracht,    Die  früher  viel  genannten  Erkältungen, 


384  Exogene  Nervenkrankheiten. 

die  Traumata  u.  s.  w.  sind  offenbar  nur  xinstösse,  die  die  schon  vor- 
handene Krankheit  zum  Ausbruche  bringen.  Die  Patienten  erkran- 
ken mehrere  Jahre  (etwa  2 — 15,  durchschnittlich  7)  nach  der  In- 
fection,  deren  nächste  Folgen  oft  sehr  mild  gewesen  sind.  Alle 
übrigen  Umstände  erklären  sich  aus  dieser  Thatsache.  Es  erkranken 
in  der  Eegel  Personen,  die  30 — 50  Jahre  alt  sind,  weil  die  Infection 
zwischen  dem  20.  und  dem  40.  Jahre  am  häufigsten  ist,  In  seltenen 
Fällen  von  Tabes  oder  Paralyse  bei  Greisen  handelt  es  sich  um 
Spätinfectionen ,  in  denen  von  Erkrankung  Jugendlicher  um  Früh- 
infection  oder  um  ererbte  Syphilis.  Männer  erkranken  viel  häufiger 
als  Weiber,  weil  sie  häufiger  inficirt  werden  (in  beiden  Fällen  er- 
giebt  sich  ein  Yerhältniss  etwa  von  6  : 1).  Städtebewohner  erkranken 
häufiger  als  Landleute;  Kaufleute,  Soldaten,  Künstler,  überhaupt 
Weltleute  häufiger  als  Geistliche,  Quäker:  immer  ist  die  Ursache 
dieselbe. 

a)  Die  Tabes  ist  nicht  nur  eine  der  häufigsten,  sondern  auch 
eine  der  langwierigsten,  die  an  Symptomen  reichste  und  diagno- 
stisch am  besten  zu  fassende  der  exogenen  Nervenkrankheiten. 

Sie  beginnt  in  der  Kegel  ganz  langsam  und  gewöhnlich  führen 
zuerst  die  Schmerzen  den  Kranken  zum  Arzte,  die  Kranken  klagen 
über  „Rheumatismus"  in  den  Beinen,  doch  kann  schon  jetzt  ein- 
sachverständiger  Arzt  aus  ihrer  Schilderung  das  Richtige  vermuthen. 
Die  tabischen  Schmerzen  treten  in  Anfällen  auf,  sei  es  nach  einer 
Erkältung  oder  ohne  nachweisbaren  Anlass.  Sie  sind  fast  immer 
stechend,  „bald  sticht  es  da,  bald  sticht  es  dort".  Bald  gleichen  sie 
Nadelstichen,  bald  Messerstichen,  bald  elektrischen  Schlägen.  Seltener 
werden  sie  als  brennend,  bohrend,  schnürend  geschildert,  Ihre  Stärke 
wechselt  vom  Geringfügigen  bis  zum  Unerträglichen.  Oft  ist  wäh- 
rend des  Schmerzes  die  Haut  an  seiner  Stelle  überempfindlich.  Selten 
kommt  es  daselbst  zu  Ekchymosen  oder  zu  Herpesausbrüchen.  Der 
Anfall  setzt  sich  aus  secunden-  oder  minutenlangen  Schmerzen  zu- 
sammen und  dauert  einen  Tag,  einige  Tage,  bez.  Nächte.  Ist  er 
vorüber,  so  fühlt  sich  der  Kranke  zunächst  wieder  ganz  wohl.  Oft 
findet  der  Arzt  schon  zu  dieser  Zeit  objective  Symptome.  Das  wich- 
tigste, das  in  der  grossen  Mehrzahl  der  Tabesfälle  vorhanden  ist, 
in  diagnostischer  Hinsicht  das  Cardinalsymptom  ist  die  reflectorische 
Pupülenstarre.  Sie  kommt  ausserhalb  der  Tabes  höchst  selten  vor, 
wahrscheinlich  nur  dann,  wenn  eine  Herderkrankung  in  der  Nähe 
des  3.  Ventrikels  auch  die  Fasern  zerstört,  von  deren  Läsion  die 
Pupülenstarre  abhängt.  Sieht  man  von  diesen  Raritäten  ab,  so  ist 
mit  dem  Nachweise  der  reflectorischen  Pupülenstarre  die  Diagnose 


►   Der  metasyphilitische  Nervenschwund  (Tabes  dorsalis  und  Dementia  paralytica).  385 

der  Tabes  gegeben.  Ausser  der  reflectorischen  Starre  kann  man 
finden :  unregelmässige  (eckige)  Form,  Ungleichheit,  Erweiterung  oder 
Verengung  der  Pupillen.  Die  starke  Verengung  der  Pupillen  (die 
sog.  spinale  Myosis)  entwickelt  sich  gewöhnlich  erst  in  den  späteren 
Zeiten  der  Krankheit.  Dagegen  können  zwei  wichtige  Augensym- 
ptome sehr  früh,  zuweilen  schon  vor  den  Schmerzen  auftreten:  alle 
möglichen  Augemnuskellähmungen,  die  ohne  Anlass  kommen,  nach 
einiger  Zeit  verschwinden,  oft  wiederkommen  und  dann  zuweilen 
dauernd  werden,  und  Sehschwäche  durch  Atrophie  des  Sehnerven, 
die  meist  auf  einem  Auge  beginnt,  dann  auch  das  andere  ergreift, 
mit  Stillständen  bald  rasch  bald  langsam  fortschreitet  und  schliesslich 
zu  Blindheit  führt.  Zu  den  Schmerzen,  den  Augensymptomen  kom- 
men ferner  als  frühe  Hauptzeichen:  das  Erlöschen  des  Kniephäno- 
mens und  die  Blasenstörung.  Das  Kniephänomen  kann  im  Anfänge 
gesteigert  sein,  erlischt  manchmal  erst  an  einem  Beine,  kehrt  wohl 
auch  vorübergehend  zurück.  Die  Blasenstörung  ist  oft  gering,  es 
muss  darnach  gefragt  werden,  aber  sie  fehlt  sehr  selten:  die  Kranken 
müssen  beim  Wasserlassen  drücken,  hie  und  da  verlieren  sie  wider 
Willen  kleine  Mengen,  sie  müssen  eilen,  wenn  der  Drang  sich  meldet. 
Die  Störungen  der  Empfindlichkeit:  Parästhesien  und  Hypästhesie, 
sind  oft  schon  früh  vorhanden,  lassen  in  anderen  Fällen  ziemlich 
lange  auf  sich  warten.  Zuerst  zeigt  sich  gewöhnlich  das  Eomberg'- 
sche  Zeichen:  der  Kranke  steht  nicht  sicher,  sobald  er  sich  nicht 
mehr  durch  die  Augen  im  Eaume  orientiren  kann.  Ameisenkriechen 
und  andere  Empfindungen  werden  in  den  Beinen,  am  Damme,  am 
G-esässe,  im  Ulnarisgebiete  wahrgenommen.  Später  fühlen  die  Kranken 
eine  Einschnürung  des  Leibes,  das  G-ürtelgefühl,  das  gewöhnlich  zu- 
erst in  der  Nabelhöhe  auftritt,  allmählich  sich  nach  oben  verschiebt. 
Manchmal  ist  es  nicht  wie  ein  Gürtel,  sondern  die  Kranken  glauben, 
eine  schwere  Platte  auf  dem  Leibe  oder  der  Brust  zu  fühlen.  Nun 
kann  man  gewöhnlich  auch  Hypästhesie  an  den  Füssen,  Unterschen- 
keln, am  Damme  u.  s.  w.  nachweisen.  Alle  Formen  kommen  vor,  am 
häufigsten  allgemeine  Herabsetzung  mit  Vorwiegen  der  Analgesie, 
reine  Analgesie,  bloss  oberflächliche,  bloss  tiefe  Hypästhesie,  oder 
beide,  Verlangsamung  der  Empfindung,  Nachempfindnng,  Polyästhesie, 
Allocheiria  u.  s.  w. 

Als  Folge  der  Unempfindlichkeit  der  tiefen  Theile,  besonders 
der  Gelenke,  ist  wahrscheinlich  die  Ataxie  der  Tabeskranken  anzu- 
sehen (vgl.  S.  105).  Mit  der  Hypästhesie  der  tiefen  Tlieile  hängt 
wahrscheinlich  auch  die  auffallende  Schlaffheit  der  Muskeln  zusam- 
men.  Endlich  gehören  Darmträgheit  und  Abnahme,  bez.  Erlöschen 

Möbius,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  25 


386  Exogene  Nervenkrankheiten. 

der  Potenz,  der  zuweilen  eine  krankhafte  Steigerung-  vorausgeht,  zu 
den  stets  vorhandenen  Symptomen. 

Vor  oder  während  der  Ataxiezeit  können  ausserordentlich  viele 
andere  Symptome  auftreten,  die  der  Tabes  ein  ungemein  wechseln- 
des Aussehen  verleihen,  während  doch  der  Grundstock  der  Sym- 
ptome immer  derselbe  bleibt  Die  weitaus  wichtigsten  der  weniger 
häufigen  Zeichen  sind  die  verschiedenen  Krisen  und  die  Erkrankun- 
gen der  Knochen  und  Gelenke.  Das  Vorbild  der  Krisen  sind  die 
gewöhnlichen  Schmerzanfälle.  Ziemlich  häufig  sind  die  Magenkrisen 
(reissende  Schmerzen  in  der  Magengegend  mit  unstillbarem  Erbre- 
chen, ausnahmeweise  nur  das  eine  oder  das  andere;  nach  einigen  Ta- 
gen plötzliches  Verschwinden  aller  Symptome).  Seltener  sind  Darni- 
krisen  (unvermuthete  Anfälle  von  Durchfall  mit  oder  ohne  Schmer- 
zen), Kehlkopf krisen  (nach  Kitzel  im  Halse  keuchhustenähnlicher 
Anfall  mit  Erstickungsnoth,  die  zu  Ohnmacht  führen  kann),  Nieren- 
krisen (Xierenschmerzen  mit  oder  ohne  Stockung  der  Harnabsonde- 
rung), Harnröhren-,  Mastdarmkrisen  (reissende,  brennende,  bohrende 
Schmerzen),  Clitoriskrisen  (Orgasmus  mit  Schleimabsonderung).  Die 
Knochen  mancher  Tabeskranken  werden  durch  chemische  Verände- 
rungen brüchig.  Dann  genügen  geringe  Anlässe,  um  einen  Bruch 
herberzuführen  (der  am  ehesten  die  Beine  trifft).  Einigemale  sind 
Sehnenzerreissungen  vorgekommen.  Bei  den  Gelenkerkrankungen 
findet  man  anscheinend  ursachlosen,  plötzlichen  Beginn,  schmerzlose 
starke  Schwellungen,  gewöhnlich  ohne  Böthung,  oft  weit  über  das 
Gelenk  hinaus,  starkes  Krachen,  rasche  Usur  der  Gelenkenden  mit 
ihren  Folgen.  Knie,  Hüfte,  Fuss,  Schulter,  Wirbelsäule,  Ellenbogen, 
Hand,  so  ist  etwa  die  Ordnung  der  Gelenke  nach  der  Häufigkeit  der 
Erkrankung.  Zuweilen,  besonders  nach  Trigeminusschmerzen  und 
bei  Trigeminusanästhesie  tritt  schmerzloser  Zahnausfall,  dem  Schwund 
der  Alveolen  folgt,  ein. 

Weiter  giebt  es  noch  viele,  seltenere  Symptome.  Während  von 
den  Gehirnnerven  der  Opticus,  die  Augenmuskelnerven  sehr  oft  er- 
griffen werden,  der  Trigeminus  ziemlich  oft,  sind  Acusticuserkran- 
kungen  (erst  Ohrgeräusche,  dann  Taubheit),  Störungen  des  Geruches 
oder  Geschmackes  selten.  Umschriebene  Lähmungen  theils  mit  theils 
ohne  Muskelschwund  sind  ebenfalls  selten  (am  Unterschenkel,  am 
Vorderarme,  an  der  Schulter,  Facialis-,  Kaumuskellähmung,  halbsei- 
tiger Zungenschwund).  Am  häufigsten  kommen  ausser  den  Augen- 
lähmungen Kehlkopf  lähmungen  vor  (einseitige,  doppelseitige  Abductor- 
lähmung,  einseitige  Recurrenslähmung).  Erkrankungen  der  Haut  und 
ihrer  Anhänge  werden  liier  und  da  beobachtet:  Ausfallen  von  Nä- 


Der  metasyphilitische  Nervensclnviuid  (Tabes  (Torsalis  und  Dementia  paralytica).  387. 

geln,  von  Haaren,  Mal  perforant,  Herpes,  ekzemartige  Ausschläge; 
Atrophie  der  Haut.  Zuweilen  kommt  Glykosurie  vor.  Nicht  gerade 
selten  ist  Schwindel  (unabhängig  von  Augen-  und  Ohrenerkrankung). 
Das  Gleiche  gilt  von  der  Tachykardie. 

Der  Gang  der  Diagnose  bei  der  Tabes  pflegt  folgender  zu  sein: 
Der  Kranke  kommt  und  klagt  über  irgend  ein  Symptom  (reissende 
Schmerzen,  Doppeltsehen,  Sehschwache,  Blasenstörung,  Magenanfälle, 
Pelzigsein  der  Füsse  u.  s.  f.),  der  Arzt  weiss,  dies  Symptom  kommt 
bei  Tabes  vor,  er  untersucht  die  Pupillen  und  findet  sie  reflectorisch 
starr,  er  findet  das  Fehlen  des  Kniephänomens  u.  s.  f. 

Handelt  es  sich  um  Symptome,  die  nicht  irgendwie  charakteris- 
tisch sind,  wie  die  Parästhesieen,  Impotenz  oder  ähnl.,  so  wird,  wenn 
nur  überhaupt  diese  Symptome  bei  Tabes  vorkommen,  der  Arzt  an 
sie  zuerst  denken,  weil  sie  am  häufigsten  ist,  er  wird  es  um  so  eher, 
wenn  der  Patient  25 — 50  Jahre  alt  ist,  ein  Mann  ist  und  Syphilis 
gehabt  hat,  oder  doch  vielleicht  gehabt  hat. 

Thatsächlich  aber  sind  die  meisten  Symptome  der  Tabes  so  eigen- 
thümlicli,  dass  Eines  schon  den  Verdacht  auf  Tabes  erweckt.  Die 
tabischen  Schmerzen  kommen  fast  nie  in  der  ihnen  eigenthümlichen 
Art  ausser  der  Tabes  vor.  Ueber  die  reflectorische  Pupillenstarre 
ist  schon  gesprochen.  Fehlen  des  Kniephänomens  mit  Schmerzen, 
Parästhesien,  Hypästhesie  kommt  wohl  bei  Neuritis  vor,  aber  dann 
fehlt  die  Blasenstörung.  Diese  finden  wir  bei  multipler  Sklerose, 
bei  beginnender  Myelitis  u.  s.  w.,  aber  dann  sind  die  Eeflexe  gestei- 
gert, die  Muskelspannung  vermehrt.  Die  meisten  Augenmuskelläh- 
mungen, die  meisten  Kehlkopfmuskellähmungen ,  die  meisten  Fälle 
von  Hemiatrophie  der  Zunge  sind  überhaupt  tabisch.  Das  ophthal- 
moskopische Bild  der  tabischen  Papille  ist  durchaus  charakteristisch. 
Die  Magenanfälle  kommen  höchst  selten  als  selbständiges  Leiden 
vor,  fast  ausschliesslich  bei  Tabes.  Auch  bei  den  übrigen  Krisen 
muss  jeder,  der  sie  kennt,  sofort  an  Tabes  denken.  Die  fast  ursach- 
los entstehenden  Knochenbrüche  und  Gelenkerkrankungen  mit  der 
Analgesie  u.  s.  w.  sind  gerade  so  typisch ;  wer  nur  einmal  das  Ent- 
stehen einer  tabischen  Knieerkrankung  gesehen  und  überhaupt  klini- 
schen Sinn  hat,  der  wird  im  nächsten  Falle  die  Wahrscheinlichkeits- 
diagnose ohne  weitere  Untersuchung  machen.  Bei  Gelenkerkrankimg 
an  den  Armen  ist  natürlich  die  Syringomyelie  auszuschliessen,  was 
fast  nie  schwer  ist. 

Verwechselungen  der  beginnenden  Tabes  sind  möglich  mit  Poly- 
neuritis, mit  tertiärer  Syphilis,  mit  Diabetes,  mit  Hysterie.  In  allen 
diesen  Fällen  kann  ein  Irrthum  nur  vorkommen,  wenn  die  reflec- 

25* 


388  Exogene  Nervenkrankheiten. 

torisclie  Pupillenstarre  fehlt.  Der  Polyneuritis  gegenüber  ist  dann 
auf  das  Vorhandensein  anderer  Augensymptome  und  der  Blasenstö- 
rung, bez.  auf  den  Nachweis  charakteristischer  Tabeszeichen  das  Ge- 
wicht zu  legen.  Es  muss  aber  zugestanden  werden,  dass  es  seltene 
Fälle  giebt.  in  denen  zwischen  einer  beginnenden  Tabes  und  etwa 
einer  Alkoholneuritis  nicht  mit  Sicherheit  entschieden  werden  kann. 
Wenn  eine  gummatöse  Meningitis  vorwiegend  die  hinteren  Wurzeln 
und  einzelne  Hirnnerven  schädigt,  so  kann  natürlich  ein  tabesähn- 
liches Bild  entstehen.  Wahrscheinlich  aber  wird  die  Unterscheidung 
immer  möglich  sein.  In  den  bisher  beschriebenen  Fällen  hat  es  sich 
um  das  Nebeneinanderbestehen  von  Tabes  und  von  tertiärer  Syphilis 
gehandelt.  Nicht  oft  wird  man  eine  Tabes  für  Diabetes  halten,  aber 
einer  Glykosurie  gegenüber  kann  wohl  die  Frage  entstehen,  handelt 
es  sich  hier  etwa  um  Tabes?,  und  wenn  charakteristische  Zeichen 
fehlen,  wird  diese  Frage  nicht  immer  sofort  beantwortet  werden 
können.  Auch  scheint  gelegentlich  wirklicher  Diabetes  neben  der 
Tabes  zu  bestehen.  Die  Schwierigkeit,  die  zuweilen  die  Hysterie 
macht,  ist  übertrieben  worden.  Da  durch  Hysterie  weder  reflectorische 
Pupillenstarre,  noch  Augenmuskellähmungen,  noch  Sehnervenschwund, 
noch  Verlust  des  Kniephänomens  u.  s.  w.  entstehen,  kann  die  Hysterie 
kaum  die  Tabes  vortäuschen,  wohl  aber  kann  bei  oberflächlicher 
Untersuchung  eine  ausser  der  Hysterie  vorhandene  Tabes  übersehen 
werden,  kann  es,  wenn  beide  Krankheiten  vorhanden  sind,  zweifel- 
haft sein,  ob  manche  Parästhesieen,  Hypästhesie  und  Aehnl.  zur  einen 
oder  zur  anderen  gehören.  Auch  Gliosis  spinalis  und  Tabes  hat  man 
bei  demselben  Kranken  gefunden,  wie  denn  Combinationen  verschie- 
dener Art  möglich  sind.  Nicht  um  eine  Combination,  sondern  um 
eine  weitere  Ausbreitung  der  Krankheit  selbst  handelt  es  sich  nur 
dann,  wenn  neben  den  Symptomen  der  Tabes  die  der  Dementia  pa- 
ralytica  bestehen,  ein  Fall,  der  bei  Besprechung  der  letzteren  erör- 
tert wird. 

Diagnostische  Schwierigkeiten  und  diagnostisches  Interesse  hat  ge- 
wöhnlich nur  die  beginnende  Tabes.  Ist  einmal  die  Ataxie  vorhanden,  so 
ist  ein  Verkennen  für  den,  der  die  Krankheit  kennt,  kaum  mehr  möglich. 
Dann,  besonders  aber  in  den  späten  Zeiten,  wenn  die  Kranken  bettlägerig 
geworden  sind,  gilt  es,  nicht  etwa  das  zu  übersehen,  was  noch  ausserhalb 
der  Tabes  vorhanden  ist. 

b)  Die  Dementia  paralytica  oder  progressive  Para- 
lyse der  Irren  oder  Paralyse  schlechtweg  hat  nicht  nur  die- 
selbe Ursache  wie  die  Tabes,  sondern  auch  zum  Theile  dieselben 
Symptome.   Beide  Krankheiten  treten  oft  zusammen  auf,  manchmal 


Der  metasyphilitische  Nervenschwund  (Tabes  dorsalis  und  Dementia  paralytica).  389 

so,  class  wenn  die  eine  sicli  entwickelt  hat,  die  andere  hinzutritt, 
1  läufiger  so,  dass  von  vornherein  der  Paralyse  einige  tabische  Sym- 
ptome beigemischt  sind,  oder  der  Tabes  einige  paralytische. 

Das  Hauptsymptom  der  Paralyse  ist  ein  allmählich  beginnender 
und  stetig  oder  stufenweise  zunehmender  Schwachsinn  (vgl,  S.  30). 
Zu  ihm  können  seelische  Eeizerscheinnngen,  Wahnvorstellungen  und 
krankhafte  Verstimmungen,  hinzutreten.  Nahezu  regelmässig  bestehen 
neben  ihm  die  paralytische  Sprachstörung  (vgl.  S.  43  ff.)  und  körper- 
liche Eeizerscheinungen,  d.  h.  Zuckungen  in  den  Muskeln  des  Ge- 
sichts, der  Zunge,  Zittern.  Dem  Schwachsinne  liegt  die  Entartung 
der  oberen  Rindenschichten  des  Gehirns  zu  Grunde.  Offenbar  in  Ab- 
hängigkeit von  der  auch  die  motorischen  Eindentheile  ergreifenden 
Entartung  pflegen  sich  die  Symptome  einer  leichten  centralen  Pa- 
rese einzustellen:  Muskelschwäche,  Steigerung  der  Sehnenreflexe, 
Rigidität  (man  pflegt  diese  Symptome  auf  die  Entartung  der  Seiten- 
stränge  im  Rückenmarke  zu  beziehen,  die  gefunden  wird,  wenn  sie 
vorhanden  sind ;  wahrscheinlich  aber  ist  diese  Entartung  als  secun- 
däre  Degeneration  aufzufassen,  obwohl  die  Pyramidenfasern  im  Ge- 
hirn zum  Theil  keine  sichtbare  Entartung  erkennen  lassen).  End- 
lich giebt  sich  die  Paralyse  durch  die  sogenannten  paralytischen  An- 
fälle (apoplectische,  epileptische,  selten  migränöse  Anfälle)  kund  (vgl. 
S.  27). 

Die  Krankheit  beginnt  fast  immer  ganz  allmählich.  Zuweilen 
bestehen  ziemlich  lange  nur  einige  tabische  Symptome  (leichte  „rheu- 
matische" Schmerzen,  Pupillenveränderungen,  etwas  Ptosis  u. s.w.), 
sodass  man  ungewiss  ist,  ob  sich  eine  Tabes  oder  eine  progressive 
Paralyse  entwickeln  wird.  In  anderen  Fällen  ist  der  Schwachsinn 
das  Erste.  In  wieder  anderen  gehen  neurasthenische  Beschwerden 
voraus.  Es  können  Jahre  vergehen,  ehe  deutliche  Fortschritte  be- 
merkt werden.  Begreiflicherweise  ist  die  Erkennung  der  Paralyse 
im  Anfange  am  schwierigsten  und  am  wichtigsten.  Die  Hauptgefahr 
ist  hier  die  Verwechselung  mit  Neurasthenie.  Es  kann  in  der  That 
das  vollständige  Bild  der  Neurasthenie  der  Paralyse  vorausgehen 
(die  meisten  Fälle  der  sogenannten  „syphilitischen  Neurasthenie"  ge- 
hören wohl  hierher;  man  spricht  dami  von  Vorläufererscheinungen, 
aber  wahrscheinlich  handelt  es  sich  doch  schon  um  den  Anfang  der 
Paralyse  selbst).  Früher  kannte  man  nur  die  entwickelte  Paralyse,  aus 
dieser  Zeit  stammt  die  Meinung,  der  Paralytische  habe  nie  ein  Krank- 
heitsgefühl. Im  Anfange  haben  die  Kranken  nicht  nur  über  alle 
möglichen  Symptome  zu  klagen  (Kopfschmerz,  Kopfdruck,  Schwindel, 
Störungen  des  Schlafes),  sondern  sie  fühlen  auch,  dass  ihre  geistigen 


390  Exogene  Nervenkrankheiten. 

Fähigkeiten  abnehmen,  dass  ihr  Urtheil,  ihr  Gedächtniss,  ihre  Selbst- 
beherrschung' nicht  mehr  dasselbe  leisten  wie  früher.  Der  Neurasthe- 
nische  klagt  ebenso,  dem  Beobachter  scheinen  vielleicht  in  beiden 
Fällen  die  Klagen  ungenügend  oder  nicht  begründet  zu  sein,  der 
Unterschied  ist  nur  der,  dass  der  Paralytische  allzusehr  Recht  hat, 
der  Xeurasthenische  sich  mehr  oder  weniger  täuscht.  Wenn  es  sich 
um  Männer  von  30 — 50  Jahren  handelt,  die  früher  Syphilis  gehabt 
haben,  und  besonders,  wenn  die  gewöhnlichen  Ursachen  der  Nervosität 
nicht  vorhanden  sind,  muss  der  Arzt  mit.  der  Diagnose  Neurasthenie 
vorsichtig  sein.  Wohl  sind  bei  Paralyse  oft  frühzeitig  objective  Sym- 
ptome vorhanden,  sie  brauchen  es  aber  nicht  zu  sein  und  zuweilen 
kann  nur  der  weitere  Verlauf  entscheiden.  Findet  man  auch  nur  ge- 
ringe tabische  oder  direct  paralytische  Andeutungen '),  so  fallen  diese 
doch  schwer  in  die  Wagschale.  Freilich  darf  man  nicht  vergessen, 
dass  auch  ein  Tabischer  neurasthenisch  sein  kann,  darf  daher  nicht 
zu  früh  urtheilen. 

Viel  leichter  ist  die  Diagnose,  wenn  schon  im  Anfange  Symptome 
sich  zeigen,  die  ohne  Weiteres  an  eine  organische  Erkrankung  des 
Nervensystems  denken  lassen.  Wenn  ein  bis  dahin  gesunder  Mensch 
mittleren  Alters  Anfälle  von  Schwindel,  von  Doppeltsehen,  von  Apha- 
sie, von  Ohnmacht  bekommt,  wenn  er  über  plötzliche  Schwäche  eines 
Gliedes  klagt,  unversehens  Harn  oder  Stuhl  verliert  u.  s.  w.,  dann 
muss  man  zuerst  an  Paralyse  denken. 

Gewöhnlich  findet  man  in  der  That  schon  anderweite  Zeichen 
(Pupillenveränderungen,  leichtes  Zucken  im  Gesichte,  Veränderungen 
der  Sehnenreflexe,  Andeutungen  von  Schwachsinn).  Man  vergleiche 
Schriftstücke  aus  alter  und  neuer  Zeit,  lasse  den  Kranken  rechnen, 
befrage  die  Umgebung,  ob  er  nicht  anders  ist  als  früher,  gleichgül- 
tiger, nachlässiger,  ob  er  am  Tage  einschläft  u.  s.  f. 

Leiten  die  Symptome  auf  eine  organische  Gehirnerkrankimg,  so 
können  ausser  der  Paralyse  Blutungen,  Erweichungen,  Gehirnge- 
schwülste, multiple  Sklerose  in  Frage  kommen,  kann  tertiäre  Syphilis 
oder  Alkoholismus  als  Ursache  angenommen  werden.  Von  grösster  Be- 
deutung ist  hier  wieder  die  reflectorische  Pupillenstarre ;  in  zweiter 
Linie  stehen  die  anderen  Tabessymptome.  Herderkrankungen  bewir- 
ken deutlichen  Schwachsinn  gewöhnlich  nur  dann,  wenn  ihre  directen 
Wirkungen  über  die  Diagnose  keinen  Zweifel  lassen.    Der  Alkoho- 


1)  Seltsamerweise  erhielt  ich  wiederholt  in  solchen  Fällen  die  Angahe  der 
Kranken,  sie  fühlten  oherhalh  der  Kniescheibe  nicht  recht  und  fand  da  einen 
handtellergrossen  hypästhetischen  Bezirk. 


Der  metasyphüitische  Nei  venscliwund  (Tabes  dorsalis  und  Dementia  paralytica).  301 

lismus  hat  seine  eigenen  Symptome  (Neigung'  zu  Hallucinationen, 
Bewusstseinsstörungen).  Schwierig  wird  die  Sache  gewöhnlich  nur. 
wenn  neben  dem  Alkoholismus  Tabes  oder  wirkliche  Paralyse  be- 
steht. Dann  kann  oft  nur  längere  Beobachtung  entscheiden.  Beson- 
ders dann,  wenn  angehende  Paralytische  acut  oder  subacut  an  Al- 
kohol-Irresein erkranken,  verdecken  oft  dessen  Symptome  die  der 
Paralyse  und  erst  nach  jener  Ablauf  treten  diese  wieder  deutlich 
hervor.  Ebenso  kann  Gehirnsyphilis  neben  der  Paralyse  vorhanden 
sein.  Dies  ist  gewöhnlich  der  Fall  bei  der  sog.  syphilitischen  Pseudo- 
paralyse. Die  specifische  Behandlung  bessert  dann  die  von  der  ter- 
tiären Syphilis  abhängenden  Symptome,  lässt  die  Paralyse  unver- 
ändert. 

Die  geistige  Störung  kann  mit  wenig  körperlichen  Symptomen 
auftreten.  Ausser  dem  einfachen  Schwachsinne,  dem  schwachsinnigen 
Grössenwahne  und  der  schwachsinnigen  Hypochondrie,  den  häufig- 
sten Formen,  kann  die  Paralyse  zeitweise  auch  eine  andere  Erschei- 
nung darbieten,  sie  kann  sozusagen  die  Maske  jeder  beliebigen  Form 
geistiger  Störung  tragen.  Die  Diagnose  muss  sich  darauf  gründen, 
dass  das  Gepräge  des  Schwachsinnes,  die  Kritiklosigkeit,  der  Mangel 
an  Zusammenhang  und  Beständigkeit,  nachzuweisen  ist  und  dass 
doch  dieses  oder  jenes  körperliche  Symptom  nicht  fehlt. 

In  der  Regel  freilich  ist  die  Diagnose  der  entwickelten  Paralyse 
überaus  leicht.  Ein  Blick  auf  den  Kranken,  einige  von  ihm  gespro- 
chene Worte,  ein  von  ihm  beschriebenes  Blatt  genügen.  Aber  sehr 
schwer  ist  es,  über  den  Verlauf  etwas  vorauszusagen.  Es  giebt  sehr 
rasch  verlaufende  Fälle,  in  denen  schon  nach  1 — 2  Jahren,  ja  nach 
Monaten  der  Tod  eintritt,  und  sehr  langsam  verlaufende  Fälle,  in 
denen  die  Krankheit  10  Jahre  und  länger  dauert.  Es  giebt  Fälle 
mit  stetigem  Verlaufe  zum  Schlechteren  und  Fälle  mit  Besserungen 
(Remissionen) ,  die  sogar  manchmal  an  eine  Heilung  glauben  lassen 
und  jahrelang  andauern  können.  Im  Allgemeinen  hat  ein  relativ 
acuter  Anstieg  üble  Bedeutung,  doch  ist  das  nicht  immer  der  Fall. 
Ganz  unberechenbar  ist  das  Eintreten  der  paralytischen  Anfälle,  die 
oft  rasche  Verschlimmerung  und  frühen  Tod  bringen  können.  End- 
lich ist  darauf  hinzuweisen,  dass  es,  besonders  bei  Tabeskranken, 
abortive  Formen  der  Paralyse  giebt.  Es  treten  dann  einige  para- 
lytische Symptome  auf  (vorübergehende  Lähmungen  cerebraler  Form, 
Ohnmächten,  Migräneanfälle,  ein  leichter  Schwachsinn  mit  Euphorie), 
ohne  dass  doch  eine  vollständige  Paralyse  daraus  würde. 


392  Exogene  Nervenkrankheiten. 

7.  Selbständige  infectiöse  Nervenkrankheiten. 

a)  Die  primäre  infectiöse  Neuritis. 

Wir  haben  guten  Grund,  hierher  nicht  nur  die  selbständige 
Polyneuritis  (vgl.  S.  351)  zu  rechnen,  sondern  auch  die  selbständigen 
Erkrankungen  einzelner  Nerven,  die  gewöhnlich  als  rheumatische 
bezeichnet  werden.  Immer  handelt  es  sich  darum,  dass  bis  dahin 
gesunde  Menschen  nach  unbedeutenden  Anlässen  (Erkältung,  Ueber- 
anstrengung)  mit  den  Symptomen  einer  Neuritis  erkranken. 

Sehr  häufig  ist  die  sogenannte  rheumatische  Facialis- 
lä Innung.  Oft  begleiten  den  Eintritt  der  im  Anfange  fast  immer 
totalen  und  completen  Lähmung  Schmerzen,  die  hinter  dem  Ohre 
sitzen,  oder  sich  als  „  Gesichtsr  eissen"  darstellen,  zuweilen  gering, 
zuweilen  sehr  heftig  sind,  einige  Tage  bis  eine  Woche  dauern.  Manch- 
mal ist  auch  die  Austrittstelle  des  Nerven  leicht  geschwollen  und 
druckempfindlich.  Je  nach  dem  Verlaufe,  bez.  dem  electrischen  Be- 
funde unterscheidet  man  leichte,  mittelschwere  und  schwere  Formen, 
doch  ist  eine  strenge  Trennung  nicht  durchzuführen.  Die  Diagnose 
ist  leicht,  die  Lähmung  könnte  nur  mit  einer  durch  Otitis  entstan- 
denen verwechselt  werden.  Die  centrale  Facialislähmung  ist  durch 
Beschränkung  auf  den  unteren  Theil  des  Gesichts,  durch  das  Er- 
haltenbleiben der  Kenexe,  durch  das  Vorhandensein  anderer  centraler 
Symptome  genügend  gekennzeichnet.  Eine  totale  Facialislähmung 
kann  Brückenherde  begleiten,  dann  besteht  aber  Hemiplegie  der 
anderen  Seite. 

Sehr  selten  sind  rheumatische  Augenmuskellähmungen: 
Eintreten  bei  vorher  Gesunden  nach  Erkältung  unter  Schmerzen,  zuweilen 
mit  Schwellung  der  Lider.  Selten  sind  rheumatische  Eadialis-,  Ul- 
naris-,  Cruralis-,  Peronaeus-Lähmungen,  doch  mögen  sie  und 
noch  andere  hie  und  da  vorkommen.  Ausser  der  Facialislähmung  sind 
wohl  die  rheumatische  Serratuslähmung  und  die  Axillarisläh- 
mung  die  häufigsten  Formen. 

Primäre  Neuritiden  liegen  wahrscheinlich  auch  den  sogenannten 
rheumatischen  Neuralgien  zu  Grunde,  Besonders  beruhen  gewiss 
viele  Trigeminus-  und  Occipitalisneuralgien,  sowie  die  ge- 
wöhnliche Ischias  auf  Infection.  Die  Diagnose  hat  sich  wesentlich 
auf  Negatives  zu  stützen,  Abwesenheit  sonstiger  Ursachen. 

Eine  besondere  Stellung  nimmt  der  Herpes  zoster  ein.  Es 
scheint  sich  dabei  um  eine  eigenartige  Infection  zu  handeln,  die 
bald  nur  die  Haut,  bald  die  Haut  und  sensorische  Nervenzweige 
beschädigt.    Die  Krankheit  tritt  nicht  selten  in  kleinen  Epidemien 


Die  primäre  infectiöse  Neuritis.  —  Poliomyelitis.  —  Encephalitis  acuta.  393 

auf  und  wählt  sich  gewöhnlich  das  Gebiet  der  Intercostalnerven  aus, 
kann  aber  auch  andere  Nerven  (Supraorbitalis,  Radialis,  Ischiadicus  u.a.) 
befallen.  Bis  dahin  gesunde  Leute  bekommen  plötzlich,  oft  unter  all- 
gemeinem Unwohlsein  und  Fieber  einen  gürtelartigen  Herpesausschlag 
und  diesem  folgen,  besonders  bei  älteren  Leuten,  mehr  oder  weniger 
heftige,  mehr  oder  weniger  langdauernde  Nervenschmerzen  und  An- 
ästhesie im  Bezirke  des  Ausschlages.  Die  Diagnose  kann  kaum  irren, 
nur  die  symptomatischen  Formen  bei  Tabes  u.  s.  w.  können  neben 
dem  primären  Zoster  in  Betracht  kommen. 

b)  Poliomyelitis  acuta. 

Die  plötzlich,  gewöhnlich  unter  fieberhaften  Erscheinungen  auf- 
tretende Yorderhornentzündung  der  Kinder  ist  so  charakteristisch, 
dass  sie  immer  leicht  erkannt  wird.  Die  Lähmung  erreicht  sofort 
ihren  höchsten  Grad ;  während  die  dem  zerstörten  Gebiete  angehören- 
den Muskeln  schwinden,  erlangen  allmählich  die  nur  leicht  beschä- 
digten ihre  Contractilität  zurück  (vgl.  S.  77).  Die  Diagnose  kann 
in  den  ersten  Tagen  schwer  sein,  ferner  in  den  seltenen  Fällen,  in 
denen  auch  Hirnnerven  getroffen  werden,  und  bei  Erwachsenen.  Im 
letzteren  Falle  kann  der  Arzt  durch  eine  peracute  Neuritis  getäuscht 
werden,  doch  fehlen  bei  dieser  Sensibilitätstörungen  wohl  nie  ganz. 

Das  Vorkommen  einer  subacuten  Poliomylitis  ist  nicht  bewiesen. 
Man  diagnosticire  sie  nicht. 

Als  chronische  Poliomyelitis  hat  man  eine  höchst  seltene  Krank- 
heit bezeichnet,  die  der  progressiven  spinalen  Muskelatrophie  sehr  ähnlich 
ist,  sich  von  dieser  durch  etwas  rascheren  Verlauf,  mehr  diffuse  als  indi- 
viduelle Atrophie,  u.  U.  durch  Beginn  an  den  Beinen  unterscheidet.  Die 
Diagnose  ist  nur  erlaubt  bei  annähernd  symmetrischem,  langsam  fortschrei- 
tendem Muskelschwunde  mit  Entartungsreaction  ohne  jede  Störung  der 
Empfindlichkeit. 

c)  Encephalitis  acuta. 

Die  Encephalitis  acuta  (cerebrale  Kinderlähmung)  ist,  abgesehen 
vom  Sitze  der  Läsion,  so  ganz  das  Seitenstück  zur  Poliomyelitis  acuta, 
dass  man  die  gleiche  Natur  bei  der  Krankheit  vermuthen  darf. 
Gesunde  Kinder  (gewöhnlich  1 — 5  Jahre  alt)  erkranken  plötzlich  mit 
Fieber,  Kopfschmerz,  zuweilen  Erbrechen,  Benommenheit,  Krämpfen. 
Das  Fieber  dauert  einige  Tage,  seltener  1 — 2  Wochen.  Nach  seinem 
Aufhören  erholen  sich  die  Kinder,  sind  aber  halbseitig  gelähmt. 
Die  centrale  Lähmung  schwindet  zum  Theil  wieder,  die  Aphasie 
gleicht  sich  gewöhnlich  bald  wieder  aus,  unwillkürliche  Bewegungen 
(Hemichorea,  Hemiathetose)  sind  häufig,  die  paretischen  Glieder 
bleiben  im  Wachsthume  zurück.    Nicht  selten  hat  die  Lähmung  die 


.394  Exogene  Nervenkrankheiten. 

Form  der  cerebralen  Paraplegie.  In  einem  Theile  der  Fälle  ent- 
wickelt sich  Epilepsie.  Später  kann  diese  die  Hauptsache  sein,  nur 
•ein  Eest  der  Lähmung  an  den  Anfang  erinnern.  Auch  werden  manche 
der  Patienten  schwachsinnig-. 

Da  bei  Kindern  Hemiplegie  durch  sehr  verschiedene  Ursachen 
entstehen  kann,  darf  man  die  Encephalitis  acuta  nur  dann  diagnosti- 
ciren,  wenn  die  Hemiplegie  bei  einem  vorher  gesunden  Kinde  unter 
Fieber  acut  entstanden  ist. 

In  vereinzelten  Fällen  befällt  die  Encephalitis  acuta  auch  Er- 
wachsene, doch  ist  darüber  noch  wenig  bekannt. 

d)  Chorea  Syäenhamii. 

An  Chorea  erkranken  gewöhnlich  Kinder  zwischen  dem  5.  und 
dem  15.  Lebensjahre,  nicht  selten  jugendliche  Personen  überhaupt, 
besonders  juuge  Schwangere,  nur  ausnahrneweise  andere  Erwachsene, 
Oft  gehen  Gelenkrheumatismus,  Endocarditis,  oder  wenigstens  Gelenk- 
schmerzen voraus.  Zuweilen  befällt  die  Krankheit  durch  anderweite 
Krankheit en  (Scharlach  u.  s.  w.)  geschwächte  Kinder. 

Die  Chorea  beginnt  langsam.  Ihre  Zeichen  sind  die  choreatischen 
Bewegungen  (vgl.  S.  129)  und  leichte  geistige  Störungen,  als  Launen- 
haftigkeit, "Weinerlichkeit,  Aengstlichkeit.  Selten  steigern  sich  die 
letzteren  zu  Verwirrtheit  mit  Sinnestäuschungen.  Die  choreatischen 
Bewegungen  können  auf  ein  Glied,  eine  Körperhälfte  beschränkt 
sein,  oder  alle  willkürlichen  Muskeln  ergreifen.  Sie  werden  durch 
seelische  Erregung  gesteigert.  Als  Abart  wird  Chorea  moilis  be- 
schrieben: lähmungsartige  Schlaffheit  eines  oder  mehrerer  Glieder 
mit  vereinzelten  Zuckungen.  Oft  geht  mit  der  Chorea  Endocarditis 
einher.    Andere  Zeichen  hat  die  Krankheit  nicht, 

Chorea  kann  verwechselt  werden: 
mit  Hysterie  (Anästhesie,  Hyperästhesie,  Einnuss  seelischer  Zustände, 

keine  Herzerkrankung,  keine  Gelenkveränderung), 
mit  choreatischen  Bewegungen  bei  Gehirnherden  (Veränderung  der 

Sehnenreflexe,  centrale  Parese  u.  s.  w.), 
mit  der  als  chronische  Chorea  (Chorea  Huntingtons,  Myoklonie)  be- 
zeichneten Form  der  Entartung  (erbliche  Belastung,  Auftreten  in 
späterem  Alter,  Verbindung  mit  psych.  Schwäche,  bez.  Blödsinn,  pro- 
gressiver Verlauf,  Fehlen  der  Herzerkrankimg). 

e)  Tetanie. 

Die  Tetanie  tritt  nur  in  manchen  Gegenden  und  gewöhnlich  in 
kleinen  Epidemien  auf,  befällt  meist  jugendliche  Personen,  Schuster 


Chorea  Sydenhamii.  —  Tetanie.  —  Tetanus.  —  Lyssa.  395 

und  Schneider,  auch  stillende  Frauen.  Ihr  Hauptzeichen  sind  die  Te- 
■tanieanfälle :  Parästhesien  und  tonische  Krämpfe  der  Gliedermuskeln 
(Schreibstellung).  Während  der  Anfalle  und  meist  auch  zwischen 
den  Anfällen  bestellt  Steigerung  der  electrischen  und  mechanischen 
Erregbarkeit  der  Nerven  (vgl.  S.  157).  Seltenere  Symptome  sindOedeme, 
übermässiges  Schwitzen,  Polyurie,  Verwirrtheit. 

Aelmliche  Zustände  kommen  bei  Magenkrankheiten,  besonders 
Magenerweiterung,  und  nach  Exstirpation  der  Schilddrüse  vor.  Im 
Uebrigen  ist  kaum  ein  Irrthum  möglich,  da  die  Uebererregbarkeit 
der  Nerven  pathognostisch  ist. 

f)  Tetanus. 

Die  Ursache  ist  Eindringen  der  Tetanusbacillen  durch  eine  Ver- 
letzung der  Haut  (Wundtetanus,  Tetanus  neonatorum,  der  sogenannte 
rheumatische  Tetanus,  der  auf  übersehene  Verletzungen  zu  beziehen 
ist).  Nach  Parästhesien  in  den  verletzten  Theilen,  in  Gesicht  und 
Nacken  tritt  Trismus  ein.  Der  Krampf  verbreitet  sich  auf  viele 
Körpermuskeln  und  steigert  sich  anfallweise.  Am  stärksten  ist  er 
an  Kopf  und  Kumpf  (Starrheit  des  Gesichts,  Opisthotonus),  Arme 
und  Beine  bleiben  lange  frei.  Starkes  Fieber.  Keine  Störung  der 
Empfindlichkeit,  erhaltene  Besonnenheit,  Lebhaftigkeit  der  Eeflexe. 
Geht  der  Tetanus  von  Verletzungen  am  Kopfe  aus,  so  werden  oft 
Schlingkrämpfe  und  einseitige  Facialislähmung  beobachtet  (Tetanus 
lrydrophobicus).  Beginnt  die  Krankheit  acut,  so  führt  sie  meist  zum 
Tode;  je  chronischer  der  Verlauf,  um  so  häufiger  tritt  Heilung  ein. 

Höchstens  bei  oberflächlicher  Untersuchung  ist  die  Krankheit 
zu  verkennen  (Trismus  bei  Erkrankung  des  Kiefers,  hysterische 
Zustände). 

g)  Lyssa. 

Eindringen  des  Giftes  durch  Verletzungen  der  Haut,  fast  immer 
durch  den  Biss  wuthkranker  Thiere.  Nach  Tagen,  Wochen,  Monaten 
Schmerzen  und  Schwellung  an  der  Stelle  der  Verletzung,  Verstim- 
mung, Mattigkeit,  Angst.  Dann  Schlingkrämpfe  beim  Schlucken, 
Sprechen,  Athemnoth  und  grosse  Angst,  Fieber.  Anfallweise  Steige- 
rung der  Beschwerden,  besonders  beim  Versuche  zu  trinken  heftige 
Anfälle.  Nach  wenigen  Tagen  Tod  durch  Herzlähmung.  Verwechs- 
lung mit  hypochondrisch-hysterischen  Zuständen,  die  durch  Furcht 
vor  der  Wuth  entstehen,  ist  zu  vermeiden. 

h)  Epidemische  Cerebrospinalmeningitis. 
Unter  Fieber  acutes  oder  peracutes  iUiftreten  der  Menhigitis- 
symptome:  Kopfschmerz,  Schwindel,  Erbrechen,  Benommenheit,  Nacken- 


396  Exogene  Nervenkrankheiten. 

schmerzen,  Nacken-  und  Eückenstarre.  Oft  bestellt  im  Anfange  Herpes 
labialis.  Entweder  rascher  Tod  oder  wochenlange  Krankheit.  Unregel- 
mässiges Fieber,  Delirien,  Opisthotonus,  Zuckungen  und  Contracturen 
der  Glieder.  Hyperästhesie.  Zuweilen  Hirnnervenlähmungen  (Blind- 
heit, Augenmuskellähmungen).  Die  häufige  Taubheit  ist  Folge  einer 
Labyrintherkrankung.  Milzschwellung,  Eiweissharn.  Allmähliche  Ge- 
nesung oder  zunehmende  Entkräftung  und  Kachexie. 

Während  einer  Epidemie  ist  die  Diagnose  leicht.  Vereinzelte 
Fälle  können  Schwierigkeiten  machen:  Meningitis  tuberculosa,  Menin- 
gitis durch  Otitis,  Hirnabscess,  Typhus,  Septhämie  können  in  Betracht 
kommen.  Die  zuweilen  zu  Pneumonie  hinzutretende  Meningitis  ist 
der  epidemischen  sehr  ähnlich ;  ob  die  Erreger  wirklich  verschiedene 
Arten  sind,  ist  nicht  sicher. 


8.  Die  multiple  Sklerose  des  Gehirns  und  Rückenmarkes. 

Die  multiple  Sklerose  befällt  in  der  Eegel  jugendliche  Personen, 
wie  es  scheint  mehr  Weiber  als  Männer.  In  ausgeprägten  Fällen 
sind  die  Haupterscheinungen:  eine  eigenthümliche  Unsicherheit  der 
Bewegungen  (das  sogenannte  Intentionzittern,  vgl.  S.  111),  eine 
langsame,  stockende  (scandirende)  Sprechweise  (S.  49),  Nystagmus  bei 
Bewegungen  der  Augen,  Steigerung  der  Sehnenreflexe.  Ausserdem 
kommen  oft  theils  vorübergehende,  theils  bleibende  Augenmuskel- 
lähmungen  vor.  Besonders  aber  zeigt  der  Augenspiegel  oft  eine  Äb- 
blassung  der  temporalen  Papillenhälfte,  die  sich  mit  der  Zeit  über 
die  ganze  Papille  ausdehnen  kann.  Die  Sehstörung  ist  dabei  oft  un- 
erheblich. Dauernde  Lähmung  an  den  Gliedern  ist  sehr  selten,  dagegen 
sind  vorübergehende  Lähmungen  häufig,  und  zwar  treten  sie  oft 
plötzlich,  schlagartig  ein.  Theils  handelt  es  sich  um  Parese  eines 
Gliedes,  theils  um  Hemiplegie.  Auch  kommen  Ohnmachtanfälle  ohne 
Lähmung,  seltener  epileptische  Krampfanfälle  vor.  Mit  der  Zeit  nimmt 
die  Kraft  der  Muskeln  ab  und  so  kann  sich  allmählich  eine  spastische 
Paraparese  ausbilden.  Störungen  der  Sensibilität  und  der  Blase 
spielen  bei  multipler  Sklerose  keine  grosse  Solle,  doch,  wenn  man 
genau  untersucht,  ist  Hypästhesie  nicht  selten  und  Blasenbeschwerden 
kommen  wenigstens  zeitweise  vor.  Die  Kranken  klagen  oft  über 
Kopfschmerzen,  Schwindel  und  bemerken  zuweilen  selbst,  dass  ihre 
geistigen  Kräfte  abnehmen.  Später  kann  sich  Blödsinn  entwickeln. 
Aufregung  und  andere  geistige  Störungen  (Wahnvorstellungen  u. s.w.) 
sind  selten,  kommen  aber  vor. 

Ist  das  Bild  der  Krankheit  ausgeprägt,  so  ist  die  Diagnose  leicht. 


Die  multiple  Sklerose  des  Gehirns  und  Rückenmarkes.  397 

Es  giebt  aber  auch  verwaschene  Fälle,  die  der  Diagnose  grosse, 
u.  U.  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereiten.  Die  fast  nie  fehlenden 
Symptome  sind  die  Steigerung  der  Seimenreflexe  und  der  Augen- 
spiegelbefund.  Auf  sie  hat  man  sich  in  erster  Linie  zu  stützen,  wenn 
die  charakteristische  Trias,  Zittern,  Scandiren,  Nystagmus,  fehlt. 

Ist  hauptsächlich  das  Brustmark  beschädigt,  so  wird  oft  nur 
chronische  Myelitis,  oder  wenn  Anästhesie  und  Blasenstörung  fehlen, 
eine  Seitenstrangsklerose  angenommen.  Hier  gilt  es  also  auf  die  cere- 
bralen Symptome  (an  den  Augen,  die  apoplectischen  Anfälle  u.  s.  w.) 
zu  achten. 

Ist  besonders  die  Oblongata  Sitz  der  Herde,  so  kann  das  Bild 
an  das  der  progressiven  Bulbärparalyse  erinnern.  Immerhin  fehlen  die 
diesem  eigene  Symmetrie  und  die  Beschränkung  auf  die  motorischen 
Kerne,  fehlen  anderweite  Symptome  (Augen  u.  s.  w.)  fast  nie  ganz. 

Auch  können  die  seelischen  Störungen  in  den  Vordergrund  treten, 
so  dass  man  glaubt,  es  mit  einer  Demenz  aus  unbekannter  Ursache 
oder  mit  Dementia  paralytica  zu  thun  zu  haben. 

Mehrfache  kleinere  Hirnherde,  die  durch  Blutungen  oder  Er- 
weichungen entstanden  sind,  können  begreiflicherweise  ein  der  mul- 
tiplen Sklerose  sehr  ähnliches  Bild  schaffen. 

Mit  Tabes  wird  die  multiple  Sklerose  nicht  leicht  verwechselt. 
Bei  dieser  fehlen  diereflectorischePupillenstarre,  die  charakteristischen 
Schmerzen,  sind  die  Selmenrenexe  gesteigert,  statt  herabgesetzt  oder 
erloschen,  ist  oft  Nystagmus  da  (der  bei  Tabes  nicht  vorkommt),  ist 
der  Augenspiegelbefund  anders  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Am  bedenklichsten  sind  die  Verwechselungen  mit  Hysterie.  Sie 
kommen  besonders  im  Anfange  der  Krankheit  vor.  Es  tritt  etwa 
plötzliche  Lähmung  eines  Beines  oder  Armes  ein.  Diese  bessert  sich 
rasch  und  man  findet  ausser  ihr  nichts  als  Steigerung  der  Selmen- 
renexe. Am  ehesten  hilft  auch  hier  die  Augenuntersuchung  aus  den 
Schwierigkeiten,  da  ophthalmoskopische  Veränderungen  oft  schon 
frühe  vorhanden  sind  und  auch  Augenmuskellähmungen  auf  den 
rechten  Weg  weisen  können.  Die  Steigerung  der  Sehnenreflexe  ist 
bei  Hysterie  immer  massig,  deutliches  Fussphänomen  spricht  ent- 
schieden gegen  Hysterie.  Dagegen  findet  man  bei  dieser  oft  den 
Sohlenreflex  abgeschwächt,  was  bei  multipler  Sklerose  nicht  der  Fall 
ist.  Freilich  darf  man  sich  durch  das  Vorhandensein  hysterischer 
Symptome  noch  nicht  für  berechtigt  halten,  die  multiple  Sklerose 
auszuschliessen,  denn  die  Hysterie  kann  diese  wie  andere  organische 
Krankheiten  begleiten. 


398  Exogene  Nervenkrankheiten. 


9.   Paraiysis  agitans 

(Schüttellähmung.  ParMnson's  Krankheit). 

Die  Paraiysis  agitans  tritt  meist  nach  dem  50.,  sehr  selten  vor 
dem  40.  Jahre  auf  und  hat  2  Hauptsvmptome :  Zittern  (vgl.  S.  112) 
und  Muskelsteifigkeit  (vgl.  S.  63).  Beide  können  zugleich  vorhanden 
sein,  oder  das  eine  geht  dem  anderen  voraus.  Daneben  bestehen 
nervöse  Beschwerden  (Unruhe,  Schlaflosigkeit),  Gefühl  innerer  Hitze 
und  starkes  Schwitzen,  Beschleunigung  des  Pulses,  Muskelschmerzen. 

Die  Diagnose  ist  gewöhnlich  leicht.  Die  Krankheit  kann  über- 
sehen werden,  wenn  nur  die  Rigidität  vorhanden  ist.  Sind  die  Er- 
scheinungen, wie  oft,  halbseitig,  so  könnte  man  an  eine  cerebrale 
Hemiparese  denken.  Doch  fehlt  die  Steigerung  der  Sehnenreflexe 
und  die  Anamnese  ergiebt  die  eigenthümlich  langsame  Entwicklung. 
Es  ist  bemerkenswerth,  dass  das  Zittern  sich  manchmal  so  ausbreitet 
wie  die  partielle  Epilepsie  es  thut;  zuerst  zittert  nur  eine  Hand, 
dann  wird  der  Fuss  der  gleichen  Seite  ergriffen,  dann  der  Fuss  der 
anderen  Seite  und  endlich  die  Hand  der  anderen  Seite.  Freilich 
können  Jahre  darüber  vergehen,  aber  immerhin  deutet  ein  solcher 
Verlauf  darauf  hin,  dass  wahrscheinlich  feinere  Veränderungen  der 
motorischen  Hirnrinde  der  Schüttellähmung  zu  Grunde  liegen. 

Die  Hysterie  kann  das  Zittern  der  Paraiysis  agitans  nachahmen, 
doch  handelt  es  sich  dann  meist  um  junge  Leute,  die  Rigidität  fehlt, 
andere  Symptome  der  Hysterie  sind  vorhanden. 

Mit  der  multiplen  Sklerose  kann  man  die  Paraiysis  agitans  kaum 
verwechseln :  hier  alte,  dort  junge  Patienten,  hier  normale,  dort  ge- 
steigerte Reflexe,  hier  Zittern  in  der  Ruhe,  das  im  Beginne  absicht- 
licher Bewegungen  aufhört,  dort  nur  Zittern  während  absichtlicher 
Bewegungen  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

10.   Die  primären  Degenerationen  der  motorischen  Bahn. 

Ist  die  ganze  Bahn  von  den  Centralwindungen  oder  doch  vom 
oberen  Ende  des  Rückenmarkes  bis  zu  den  Vorderhörnern  (einschl.) 
erkrankt,  so  spricht  man  (im  anatomischen  Sinne)  von  a)  amyo- 
tr  optisch  er  Lateral  Sklerose;  beschränkt  sich  die  Entartung 
auf  die  Vorderhörner,  so  besteht  bei  Beschränkung  auf  die  Vorder- 
hörrier  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  die  b)  spinale  progres- 
sive Muskelatrophie;  sind  die  motorischen  Kerne  der  Oblongata 
betroffen,  die  c)  progressive  Bulbärparalyse.    Die  3  Formen 


Die  primären  Degenerationen  der  motorischen  Bahn.  399 

sind  nicht  streng  zu  trennen,  da  die  beiden  letzteren  neben  einander 
bestehen  können,  bez.  c  zu  b  oder  b  zu  c  hinzutreten  kann  und  die 
Entartung-  der  Pyramidenbahnen  auch  da  vorhanden  sein  kann,  wo 
nach  dem  klinischen  Befunde  nur  b  oder  c  zu  bestehen  scheint.  Alle 
3  Formen  sind  selten,  b  und  c  noch  seltener  als  a. 

Gewöhnlich  entwickelt  sich  zuerst  langsam  fortschreitender,  an 
den  Hand-  oder  Schultermuskeln  beginnender,  annähernd  symmetri- 
scher Muskelschwund  mit  partieller  EaR  und  fibrillären  Zuckungen. 
Dabei  besteht  Steigerung  der  Sehnenreflexe  an  Armen  und  Beinen 
und  allmählich  kommt  es  zu  dem  Bilde  der  spastischen  Paraparese. 
Schliesslich  tritt  die  progressive  Bultärparalyse  hinzu  und  tödtet 
den  Kranken.  Es  kann  auch  von  vornherein  Bulbärparalyse  mit  Re- 
flexsteigerung (Masseterreflex)  auftreten.  Sehr  selten  ist  die  spastische 
Paraparese  das  Erste.  Fehlen  die  spastischen  Symptome,  so  ist  im 
klinischen  Sinne  spinale  Muskelatrophie  oder  Bulbärparalyse  anzu- 
nehmen, aber  es  ist  damit  nicht  gesagt,  dass  die  Seitenstränge  unver- 
sehrt seien.  Wahrscheinlich  hängt  der  Grad  der  spastischen  Erschei- 
nungen von  dem  zeitlichen  und  dem  Stärkeverhältnisse  zwischen 
Vorderhorn-  und  Seitenstrangerkrankung  ab,  sodass  allerlei  Varia- 
tionen möglich  sind. 

Die  Unterscheidung  von  anderen  Krankheiten  ist  nicht  schwer, 
wenn  man  aufmerksam  ist.  Früher  diagnosticirte  man  oft  spinale 
progressive  Muskelatrophie,  jetzt  weiss  man,  dass  es  sich  dabei  in 
der  Regel  um  Dystrophia  musc.  progr.,  oder  um  Gliosis  spinalis,  oder 
um  Neuritis  gehandelt  hat.  Ersteren  Irrthum  verhütet  die  Kenntniss 
der  Dystrophie,  letztere  beide  sind  nicht  möglich,  wenn  daran  fest- 
gehalten wird,  dass  bei  der  spinalen  progressiven  Muskelatrophie 
alle  Störungen  der  Sensibilität  fehlen,  und  wenn  in  keinem  Falle 
die  Prüfung  der  Sensibilität  versäumt  wird.  Die  progressive  Bulbär- 
paralyse kann  durch  Geschwülste  der  Oblongata  vorgetäuscht  wer- 
den; zeitweise  ist  wohl  eine  Verwechselung  möglich,  später  werden 
Druckerscheinungen  auftreten  und  werden  auch  sensorische  Nerven 
ergriffen  werden.  Die  „Pseudobulbärparalyse"  durch  Grosshirnherde 
ist  nicht  zu  verkennen,  da  andere  cerebrale  Erscheinungen  nicht 
fehlen,  die  gelähmten  Theile  nicht  atrophisch  werden  und  ihre  nor- 
male Erregbarkeit  behalten.  An  die  amyotrophische  Lateralsklerose 
erinnern  manche  Fälle  von  Muskelschwund  bei  allgemeiner  chroni- 
scher Gelenkerkrankung,  weil  auch  hier  die  Reflexe  gesteigert  sein 
können.  Die  Anamnese,  der  Nachweis  der  Gelenkerkrankung,  die 
normale  elektrische  Erregbarkeit  und  die  Vertheilung  des  Schwun- 
des sichern  die  Diagnose. 


400  Exogene  Nervenkrankheiten. 


II.  Gliosis  spinalis 

(Gliomatosis,  Syringomyelie). 

Das  Hauptsyinptom  der  Gliosis  spinalis  ist  die  Thernioanalgesie 
(vgl.  S.  209)  als  Ausdruck  einer  Zerstörung  der  hinteren  grauen 
Substanz,  mit  der  sich  gewöhnlich  langsam  fortschreitender  Muskel- 
schwund verbindet,  sobald  die  gliöse  Umwandlung  die  Vorderhörner 
erreicht.  Gewöhnlich  wächst  das  neugebildete  Gewebe  von  der  Um- 
gebung des  Centralcanales  aus  zunächst  in  die  Hinterhörner  hinein, 
dann  folgt,  in  der  Eegel  weniger  ausgedehnt,  die  Erkrankung  der 
Vorderhörner  und  erst  spät  wird  auch  die  weisse  Substanz  beschä- 
digt, sodass  es  zu  spastischen  Erscheinungen  an  der  unteren  Körper- 
hälfte kommt.  In  einzelnen  Fällen  wiegt  die  Wucherung  über  den 
Zerfall  des  neugebildeten  Gewebes  vor,  dann  können  die  spastischen 
Symptome  zusammen  mit  Wurzelreizsyniptomen  sich  früh  zeigen, 
d.  h.  es  kann  das  Bild  eines  centralen  Tumor  im  Kückenmarke  ent- 
stehen. Fast  immer  geht  die  Erkrankung  vom  Halsmarke  aus,  es 
sind  also  die  Arme  und  die  obere  Rumpfgegend  Sitz  der  Anästhesie 
und  des  Muskelschwundes.  Ausser  diesen  Hauptzeichen  findet  man 
oft  Kyphose  der  oberen  Wirbelsäule  und  trophische  Störungen  an 
den  Armen:  Schrunden  an  den  Fingern  und  der  Hand.  Panaritien. 
Blasenausschläge,  Phlegmonen,  Arthropathien,  Knochenbrüche. 

Die  Diagnose  der  Syringomyelie  ist  gewöhnlich,  d.  h.  wenn  sie 
im  Halsmarke  beginnt,  leicht,  da  gar  kein  anderes  Krankheitsbüd 
dieselben  eigentümlichen  Züge  trägt  (natürlich  vorausgesetzt,  dass 
die  Prüfung  der  Empfindlichkeit  nicht  vergessen  wird).  Man  könnte 
vielleicht  an  eine  Neuritis  denken,  aber  die  Form  der  Anästhesie, 
das  Verhalten  des  Muskelschwundes  (fibrilläre  Zuckungen)  und  der 
überaus  langsame,  fortschreitende  Verlauf  sprechen  zu  deutlich  gegen 
Neuritis.  Kommt  es  zu  wirklicher  Geschwulstbildung  mit  Druck- 
erscheinungen,  so  kämen  etwa  noch  andere  centrale  Geschwülste  des 
Halsmarkes  in  Frage,  doch  sind  solche  enorm  selten.  Die  Verwech- 
selung mit  einer  centralen  Blutung  verhüten  die  Anamnese  und  die 
Beobachtung  des  Verlaufes. 

Wichtig  ist  es  zu  wissen,  dass  man  Gliosis  spinalis  mit  Hysterie 
oder  mit  Tabes  zusammen  finden  kann.  Am  leichtesten  kann  dann, 
wenn  die  Symptome  wenig  ausgeprägt  sind,  die  Gliose  übersehen 
werden,  kann  die  ihr  eigenthümliche  Anästhesie  als  Zeichen  der 
Hysterie  oder  der  Tabes  angesehen  werden. 

Bei  ungewöhnlichem  Sitze  oder  Verlaufe  der  Gliosis  kann  die 


Acute  und  chronische  Myelitis.  —  Endogene  Nervenkrankheiten.        401 

Diagnose  sehr  schwer  sein,  doch  sind  solche  Fälle  offenbar  die  Aus- 
nahme und  auch  in  ihnen  wird  früher  oder  später  an  der  Art  der 
Anästhesie  die  Krankheit  zu  erkennen  sein. 

12.  Acute  und  chronische  Myelitis. 

Das  Bild  der  vollständigen  oder  unvollständigen  Querläsion  des 
Rückenmarkes  kann  ausser  durch  Verletzungen,  durch  Compression 
bei  Wirbelkrankheiten,  durch  multiple  Sklerose,  durch  syphilitische 
Neubildung  u.  s.  w.  auch  durch  entzündliche  Herde,  die  einer  noch 
unbekannten  Infection  ihre  Entstehung  zu  verdanken  scheinen,  ent- 
stehen. Man  spricht  in  solchen  Fällen  von  acuter  oder  chronischer 
Myelitis  schlechtweg.  Entstellt  das  Bild  der  Querläsion  acut  oder 
peracut,  so  ist  die  Diagnose  nicht  schwer,  besonders  wenn  Fieber- 
erscheinungen  vorhanden  sind.  Neben  der  entzündlichen  Erweichung 
käme  nur  eine  Blutung  in  Betracht.  Ist  der  Verlauf  dagegen  von 
vornherein  chronisch,  so  ist  es  viel  schwerer,  die  anderen  Möglich- 
keiten auszuschliessen  und  in  vielen  Fällen  ist  die  Bezeichnung  chro- 
nische Myelitis  nur  der  Ausdruck  für  chronisch  entstandene  Quer- 
läsion unbekannter  Natur. 


II.  Endogene  Nervenkrankheiten. 

I.  Nervosität. 

(N  eurastheni  e.) 

Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  hier  alle  Symptome  der  Ner- 
vosität besprochen  werden  sollten.  In  der  Eegel  ergeben  sich  bei 
dieser  Krankheit  keine  diagnostischen  Schwierigkeiten,  aber  auf 
dreierlei  ist  die  Aufmerksamkeit  zu  richten,  die  leichteren  Formen 
dürfen  nicht  übersehen  werden,  die  Nervosität  darf  nicht  mit  exo- 
genen Krankheiten  verwechselt  werden,  sie  ist  von  den  Zuständen 
schwererer  Entartung,  soweit  es  möglich  ist,  abzugrenzen. 

Die  Nervosität  ist  von  den  Zuständen  des  gesunden  Lebens  nicht 
von  Grund  aus  verschieden  und  sie  geht  unmerklich  über  theils  in 
die  sogenannten  Temperamente,  theils  in  die  Erscheinungen  physio- 
logischer Ermüdung.  Absolut  normale  Menschen  treffen  wir  über- 
haupt nicht  und  alle  unter  den  Bedingungen  der  Civilisation  Leben- 
den weichen  von  vornherein  mehr  oder  weniger  von  der  Norm  ab, 
d.  h.  sind  entartet.  Immerhin  haben  wir  Becht,  wenn  wir  den  an- 
nähernd normalen  Menschen   vom  Nervösen   abscheiden   und   eine 

Mob  ins,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten.    2.  Aufl.  26 


402  Endogene  Nervenkrankkeiten. 

..physiologische  Breite"  annehmen.  Diese  freilich  ist  nach  Stand,  Ort 
und  Zeit  verschieden  gross  und  nur  der  Arzt,  der  sogenannte  „Welt- 
und  Menschenkenntniss"  besitzt,  vermag  hier  richtig  zu  urtheilen. 
Bei  den  leichten  Formen  der  Nervosität  unterscheidet  sich  der  Mensch 
in  der  Ruhe  vom  Gesunden  sehr  wenig,  aber  er  reagirt  anders  als 
dieser,  sobald  grössere  Anforderungen  an  ihn  gestellt  werden.  Es 
ist  nun  sehr  wichtig,  ehe  es  zu  krankhaften  Eeactionen  kommt,  die 
Abweichung  von  der  Norm  zu  erkennen  (bei  der  Erziehung,  der 
Berufswahl,  vor  der  Verlobung,  im  Beginne  der  verschiedensten 
Krankheiten  u.  s.  f.).  Die  erste  Frage  ist  die  nach  der  neuropathi- 
schen  Belastung.  Es  ist  ja  nicht  undenkbar,  dass  eine  günstige  Ver- 
knüpfung der  Keimstoffe  die  Nachtheile  des  einen  durch  die  Vor- 
züge des  andern  vollständig  ausgleiche,  aber  man  wird  nicht  fehl 
gehen,  wenn  man  in  9  von  10  Fällen  annimmt,  dass  da,  wo  auch 
nur  von  einer  Seite  der  Mensch  erblich  belastet  ist,  eine  abnorme 
Reaction  trotz  des  Anscheines  vollständiger  Gesundheit  bestehe.  So- 
dann achte  man  stets  auf  die  körperlichen  „Degenerationzeichen". 
Fehlen  sie,  so  ist  daraus  nicht  ohne  Weiteres  die  Gesundheit  zu  er- 
schliessen,  sind  einige  oder  mehrere  von  ihnen  vorhanden,  so  ist, 
man  mag  sagen,  was  man  will,  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  eine 
mehr  oder  weniger  abnorme  Reaction  zu  erwarten.  Es  ist  einfach 
nicht  wahr,  dass  sie  auch  in  der  physiologischen  Breite  vorkommen; 
mag  ihr  Träger  sich  für  ganz  gesund  halten,  der  sachverständige 
Beobachter  wird  krankhafte  Reactionen  finden.  Die  Prüfung  der 
Function  endlich  kann  theils  durch  Beobachtung,  theils  durch  den 
Versuch  ausgeführt  werden.  Besonders  wichtig  sind  das  geschlecht- 
liche Verhalten  (hier  sind  auch  geringe  Abweichungen  bedeutsam), 
die  Tiefe  des  Schlafes  und  das  Bedürfniss  nach  Schlaf,  die  gemüth- 
liche  Reaction  (Neigung  zu  Thränen,  zu  Zorn  u.  s.  w.) ,  die  Ermüd- 
barkeit durch  körperliche  und  geistige  Anstrengungen  (Neigung  zu 
Kopfschmerzen,  rasches  Nachlassen  der  Kraft,  aber  auch  rasche 
Erholung),  das  Verhalten  gegen  Alkohol.  Die  experimentelle  Prü- 
fung hätte  sich  in  erster  Linie  auf  die  Ermüdbarkeit  zu  richten; 
leider  sind  klinisch  verwendbare  Methoden  bis  jetzt  eigentlich  kaum 
vorhanden. 

Die  Verwechselung  der  Nervosität  mit  exogenen  Krankheiten 
ist  am  leichtesten  bei  Patienten  im  Mannesalter  möglich.  Hier 
kommt  besonders  die  Dementia  paralytica  in  Betracht  (vgl.  S.  388). 
In  zweiter  Linie  stehen  leichter  chronischer  Alkoholismus  und  andere 
Vergiftungen,  Diabetes.  Selten  schwankt  die  Diagnose  zwischen  Ner- 
vosität und  Hirntumor   oder  einer  anderen  Herderkrankimg.     Im 


Nervosität.  403 

Kindesalter  können  leichte  Formen  oder  die  Anfänge  der  Chorea  hie 
und  da  ScliAvierigkeiten  machen.  Im  Greisenalter  kann  die  Athero- 
matose  oder  vielmehr  die  von  ihr  abhängige  Gehirnveränderung  ein- 
fache Nervosität  vortäuschen.  In  allen  Fällen  ist  die  Hauptsache 
eine  möglichst  genaue  Untersuchung.  Findet  man  Zeichen  organi- 
scher Erkrankung,  so  können  alle  Symptome  von  dieser  abhängen, 
es  kann  aber  auch  Nervosität  neben  der  organischen  Erkrankung 
bestehen.  Im  letzteren  Falle  darf  der  Arzt  die  Nervosität  nicht  gleich 
Null  setzen,  wie  es  oft  geschieht. 

Es  ist  begreiflich,  dass  alle  möglichen  organischen  Krankheiten 
neben  der  Nervosität  in  Frage  kommen  können.  Bei  Rückenschmerzen, 
Wirbelempfindlichkeit .  Müdigkeit  der  Beine  z.  B.  Krankheiten  des 
Rückenmarkes,  bei  Magendarmbeschwerden  Krankheiten  des  Ver- 
dauungTohres,  bei  Augenschmerzen  und  Augenschwäche  Augenkrank- 
heiten u.  s.  f.  Indessen  entstehen  hier  kaum  ernstliche  Schwierig- 
keiten, denn  die  Abwesenheit  jeder  auf  organische  Läsion  weisenden 
Erscheinung  einerseits,  die  eigenthümliche  Färbung  der  Beschwer- 
den, ihre  Abhängigkeit  von  seelischen  Veränderungen,  das  Vorhan- 
densein charakteristischer  Zeichen  der  Nervosität  (Kopfdruck,  Kreuz- 
beindruck, Angstzustände  u.  s.  w.)  andererseits  machen  fast  immer 
die  Diagnose  ziemlich  leicht.  Am  ehesten  wird  die  nervöse  Dyspepsie 
mit  dem  ..Magenkatarrh"  verwechselt.  Man  muss  festhalten,  dass  jene 
viel,  viel  häufiger  ist,  dass  sie  sich  immer  mehr  oder  weniger  irratio- 
nell  verhält  (Beschwerden  durch  leichte,  verdauliche  Speisen,  Gut- 
bekommen schwer  verdaulicher  Sachen,  unmotivirter  Wechsel  der 
Erscheinungen,  Einfluss  der  Suggestion,  der  Gemüthsbewegimgen). 

Eine  genaue  Untersuchung  bei  Nervosität  ist  auch  deshalb  nöthig, 
damit  leichtere  organische  Störungen,  die  neben  jener  bestehen  und 
zwar  nicht  ihre  Ursache  sind,  aber  sie  verschlimmern  und  örtliche 
Beschwerden  hervorrufen  können,  nicht  übersehen  werden:  Erkran- 
kungen der  Nasenschleimhaut,  der  Ohren,  der  Zähne,  der  Geschlechts- 
theile,  Hämorrhoiden.  Wanderniere  und  Anderes. 

Bei  der  Abgrenzung  gegen  andere  endogene  Krankheiten  kommen 
in  Betracht  Melancholie,  leichte  maniakalische  Erregung,  Hypochon- 
drie,  Hysterie,  Da  alle  Formen  mit  der  Nervosität  durch  allmäh- 
liche Uebergänge  verbunden  sind,  hat  die  Sache  ihre  Schwierigkeiten. 
Einfache  melancholische  Verstimmung  kann  jederzeit  während  der 
Nervosität  auftreten,  handelt  es  sich  aber  um  einen  Anfall  wirklicher 
Melancholie,  so  kann  die  Entscheidung  nur  im  Anfange  schwierig 
sein,  bald  zeigt  die  atoii  äusseren  Umständen  fast  unabhängige,  stetig 
fortschreitende  Verschlimmerung,  dass  eine  schwere  Krankheit  im 

26* 


404  Endogene  Nervenkrankheiten. 

Anzüge  ist.  Leichte  maniakalisehe  Zustände  sind  fast  immer  Theil- 
erscheinung  des  iutermittirenden  Irreseins,  nur  selten  und  nur  für 
kurze  Zeit  wird  einfache  nervöse  Unruhe  diagnostische  Schwierig- 
keiten machen.  Hypochondrische  Anwandlungen,  ungerechtfertigte 
Aengstlichkeit  und  Schwarzseherei  gehören  zu  den  häufigsten  Er- 
scheinungen bei  Nervösen.  Von  ihnen  ist  der  wirkliche  Hypochon- 
der unterschieden  durch  seine  Unbelehrbarkeit,  dadurch,  dass  seine 
Einbildungen  die  Charaktere  der  Wahnvorstellungen  zeigen.  Ueber 
die  Beziehungen  der  Nervosität  zur  Hysterie  ist  bei  dieser  zu  reden. 

2.   Hysterie. 

Das  Wesen  der  Hysterie  besteht  in  einem  eigenthümlichen  Geistes- 
zustände, darin,  dass  seelische  Veränderungen,  d.  h.  lust-  oder  un- 
lustvolle Vorstellungen,  nicht  als  Beweggründe,  sondern  auf  einem 
den  Kranken  unbewussten  Wege,  wie  äussere  Ursachen  tiefgreifende 
Veränderungen  des  körperlichen  und  des  geistigen  Zustandes  her- 
vorrufen können. 

Die  Hauptveränderung,  die  durch  die  seelischen  Ursachen  ent- 
steht, ist  die  Spaltung  des  Bewusstseins,  die  Abtrennung  eines  Thei- 
les  der  seelischen  Vorgänge  vom  wachen  Bewusstsein.  Darauf  be- 
ruhen die  Anästhesie,  die  Amnesie,  die  Abulie,  die  Lähmung,  die 
Contracturen,  die  Krämpfe  der  Hysterischen.  Gewisse  Empfindungen 
gelangen  nicht  zum  wachen  Bewusstsein,  bald  werden  schmerzhafte 
Eeize,  oder  bestimmte  Gerüche  nicht  wahrgenommen:  hysterische 
Analgesie,  partielle  Anosmie,  bald  sind  bestimmte  Körperabschnitte 
anscheinend  unempfindlich:  Hemianästhesie ,  Anästhesie  der  Glied- 
abschnitte im  vulgären  Sinne  des  Wortes.  Der  wache  Wille  kann 
bestimmte  Muskeln  nicht  zur  Zusammenziehung  bringen:  Lähmung, 
oder  die  Muskeln  ziehen  sich  anscheinend  von  selbst,  ohne  bewussten 
Antrieb  zusammen:  Krampf,  Contractur. 

Neben  der  Spaltung  des  Bewusstseins  ist  der  Hauptpunkt  der, 
dass  die  unbewusst  wirkenden  seelischen  Ursachen  viel  grössere  Ge- 
walt über  das  Körperliche  haben,  tiefer  in  die  Leiblichkeit  hinein- 
dringen  als  bewusste  Vorgänge.  Nicht  nur  sind  die  auf  unbewussten 
Vorgängen  beruhenden  Muskelzusammenziehungen  stärker  und  aus- 
dauernder als  die  willkürlichen,  sondern  es  treten  auch  Symptome 
auf,  die  im  normalen  Zustande  nicht  so  durch  seelische  Vorgänge 
bewirkt  werden:  übermässige  Absonderung  von  Schweiss,  Harn, 
Speichel  u.  s.  w.,  Versiegen  der  Absonderungen,  Blutungen  der  Haut 
und  der  Schleimhäute,  Oedeme,  Veränderungen  der  Haare,  der  Nägel 
und  Anderes. 


Hysterie.  405 

Endlich  ist  die  Wirkungsweise  der  seelischen  Ursachen  eine 
doppelte,  theils  wirken  sie  nach  Art  der  Gemüthsbewegungen  im 
normalen  Zustande,  theils  entspricht  die  Wirkung-  dem  Inhalte  der 
ursächlichen  Vorstellung1.  In  jenem  Falle  unterscheiden  sich  die  Er- 
folge von  den  Wirkungen  der  normalen  Gemüthsbewegungen  theils 
durch  Stärke  und  Dauer  (z.  B.  andauerndes  Zittern  durch  Schreck), 
theils  durch  ihre  Form  (d.  h.  es  treten  Erfolge  ein,  die  beim  Ge- 
sunden überhaupt  nicht  vorkommen,  z.  B.  Hemianästhesie).  In  die- 
sem Falle  ruft  z.  B.  die  Vorstellung  des  Schmerzes  Schmerzen  her- 
vor, die  Furcht  vor  Lähmung  Lähmung,  der  Anblick  von  Krank- 
heitserscheinungen Nachahmung  dieser  Erscheinungen. 

Der  gerade  Weg  zur  Diagnose  der  hysterischen  Symptome  ist 
der  Nachweis  ihrer  seelischen  Beschaffenheit.  Zunächst  gilt  es,  den 
seelischen  Ursprung,  die  ursächliche  Vorstellung,  bezw.  Gemüths- 
bewegung  nachzuweisen.  Die  Form  der  Erscheinung  selbst  lässt 
sehr  oft  die  Art  erkennen:  Widerspruch  mit  den  anatomisch-physio- 
logischen Verhältnissen,  anscheinend  ursachloser  Wechsel  des  Zu- 
standes  u.  A.  Genügt  die  einfache  Beobachtung  nicht,  so  führt  der 
Versuch  zum  Ziele:  seelische  Einwirkungen  bewirken  ein  Verschwin- 
den oder  doch  eine  Veränderung  der  Erscheinung  und  durch  geeig- 
nete Anordnungen  lässt  sich  ein  Zusammenhang  zwischen  dem  Be- 
wusstsein  und  den  Sjmiptomen  auf  verschiedene  Weise  darthun. 

Man  trennt  die  hysterischen  Erscheinungen  in  Hauptsymptome 
(Stigmata)  und  in  wechselnde  Zufälle  und  stellt  den  mehr  oder 
weniger  dauernden  Zuständen  die  Anfälle  gegenüber.  Die  geordnete 
LTntersuchung  hat  zuerst  auf  Auffindung  der  Stigmata  auszugehen. 

Das  bei  weitem  wichtigste  Stigma  ist  die  Anästhesie.  Ihre 
häufigste  Form  ist  die  Hemianästhesie.  Eine  vollkommene  Hemi- 
anästhesie (vgl.  S.  204)  kommt  nur  bei  Hysterie  vor;  es  giebt  keine 
organische  Läsion,  die  sie  hervorrufen  könnte.  Das  gleiche  gilt  von 
der  vollkommenen  allgemeinen  Anästhesie  (d.  h.  der  doppelten  Hemi- 
anästhesie). Bei  stückweiser  Anästhesie  ist  in  der  Regel  die  Begren- 
zung charakteristisch.  Nicht  Nervenbezirke  werden  unempfindlich, 
sondern  Stücke  des  Körpers,  die  nach  der  Vorstellung  des  gewöhn- 
lichen Lebens  eine  Einheit  bilden :  eine  Hand,  ein  Fuss,  ein  Arm  bis 
zur  Schulter,  ein  Knie  u.  s.  f.  Während  die  Nervenbezirke  an  den 
Gliedern  Längsstreifen  bilden,  wird  die  hysterische  Anästhesie  von 
Linien  begrenzt,  die  senkrecht  auf  der  Längsachse  des  Gliedes  stehen, 
als  ob  dieses  bis  da-  oder  dorthin  in  die  Anästhesie  eingetaucht  wor- 
den wäre.  Häufig  besteht  die  Anästhesie  mit  anderen  Erscheinungen 
zusammen,  deckt  die  Bezirke  eines  Krampfes,  einer  Lähmung,  einer 


406  Endogene  Nervenkrankheiten. 

Neuralgie  u.  s.  w.,  immer  im  Widerspruche  zu  der  anatomischen  An- 
ordnung". 

Die  Anästhesie  kommt  und  geht  im  Anschlüsse  an  allerhand 
Gemüthsbewegimgen  (Schrecken  u.  s.  w:),  besonders  im  Anschlüsse 
an  die  Anfälle,  Sie  ist  beeinflussbar  durch  alles,  was  den  Glauben 
weckt,  es  habe  Wirkung,  durch  die  einfache  Versicherung,  durch 
Zaubermittel,  durch  Suggestion  in  der  Hypnose,  durch  Elektrisiren, 
Magnetisiren ,  Auflegen  von  Metallen,  Eingeben  beliebiger  Medica- 
mente, Die  letztgenannten  Mittel  hat  man  als  „ästheseogene"  be- 
zeichnet, als  man  lernte,  dass  durch  sie  ein  Ortswechsel  der  An- 
ästhesie (bei  halbseitiger  Anästhesie  eine  Verschiebung  von  rechts 
nach  links  und  umgekehrt,  d.  h.  Transfert)  bewirkt  werden  könne. 

Die  hysterische  Anästhesie  kann  vollständig  oder  irgend  eine 
Theilanästhesie  (Analgesie ,  Thermoanästhesie  u.  s.  w.)  sein.  Oft  ist 
sie  in  dem  Sinne  eine  systematisirte ,  dass  irgend  eine  Gruppe  von 
Beizen  noch  Empfindung  bewirkt,  die  nur  durch  ein  seelisches  Band 
zusammengehalten  wird. 

Auch  vollständige  Anästhesie  stört  die  Hysterischen  nicht  in 
ihren  Verrichtungen,  ja  sie  kommt  ihnen  in  der  Regel  gar  nicht  zum 
Bewusstsein ,  sodass  erst  der  Arzt  sie  findet,  ein  Verhalten,  das  in 
scharfem  Widerspruche  zu  der  organischen,  überaus  lästigen  und 
störenden  Anästhesie  steht  und  dessen  Ursache  der  Umstand  ist, 
dass  die  scheinbar  wirkungslosen  Eeize  unbewussterweise  doch  wahr- 
genommen und  verwerthet  werden.  Weil  die  Kranken  es  zwar  nicht 
wissen,  aber  doch  fühlen,  verhält  sich  die  hysterische  Anästhesie  so, 
als  ob  sie  simulirt  wäre.  Alle  die  Mittel,  die  zur  „Entlarvung"  von 
Simulanten  ersonnen  worden  sind,  taugen  dazu  nicht  viel,  sind  aber 
brauchbar,  um  zwischen  hysterischer  und  organischer.  Anästhesie  zu 
entscheiden. 

Es  muss  jedoch  erwähnt  werden,  dass  zuweilen  die  der  An- 
ästhesie zu  Grunde  liegenden  seelischen  Veränderungen  tiefer  als 
sonst  in  das  Unbewusste  hineinreichen.  Dann  bemerken  die  Kran- 
ken selbst  ihre  Unempfindlichkeit,  diese  widersteht  den  ästheseogenen 
Einwirkungen  und  die  unbewusste  Verwerthung  der  die  empfindungs- 
losen Theile  treffenden  Reize  wird  unvollständig. 

Die  Kennzeichen  der  Hautanästhesie  gelten  auch  von  den  Sinnes- 
organen. Der  Kranke  mit  stärkster  Einschränkung  der  Gesichtfelder 
geht  herum,  als  ob  ihm  nichts  fehlte,  und  der  mit  einseitiger  Amau- 
rose wird  durch  Anwendung  des  Stereoskopes  „entlarvt".  Der  Ge- 
schmacklose schmeckt  etwa  nichts  ausser  Zwiebeln,  der  Schwerhörige 
vernimmt  ein  leises  Ticken,  wenn  es  ein  verabredetes  Zeichen  ist  u.  s.f. 


Hysterie.  407 

Ueberall  und  in  jeder  Weise  kann  die  Anästhesie  durch  Hyper- 
ästhesie vertreten  werden  und  was  von  jener  gilt,  gilt  auch  von  dieser. 

M.  m.  kann  das  von  der  Anästhesie  Gesagte  auch  auf  die 
hysterische  Lähmung  übertragen  werden.  Ihre  Kennzeichen  sind 
schon  früher  besprochen  worden  (vgl.  S.  97). 

Die  örtlichen  Krämpfe  bei  Hysterischen  werden  kaum  mit  Kräm- 
pfen, die  auf  organischen  Läsionen  beruhen,  verwechselt  werden,  da- 
gegen ist  es  zuweilen  schwer,  sie  gegen  die  sog.  Tics  bei  Entarteten 
abzugrenzen.  In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  abnorme  Be- 
wegungen seelischen  Ursprungs,  um  unwillkürliche  Nachahmungen 
von  Willkürbewegungen.  Während  aber  hysterische  Spasmen  meist 
neben  anderen  Hysterie-Symptomen  oder  doch  mit  ihnen  wechselnd 
vorkommen,  bestehen  die  Tics  allein  neben  den  seelischen  Abwei- 
chungen und  während  jene  der  Suggestion  mehr  oder  weniger  zu- 
gänglich sind,  schlägt  hier  jeder  Versuch  der  Beeinflussung  fehl, 
können  die  abnormen  Bewegungen  unverändert  während  des  ganzen 
Lebens  andauern. 

Die  hysterische  Amnesie  kann  mit  der  epileptischen  verwech- 
selt werden.  Bei  dieser  scheinen  in  der  That  gar  keine  Erinnerungen 
vorhanden  zu  sein,  bei  jener  sind  die  Erinnerungen  da,  können  nur 
vom  Bewusstsein  nicht  ergriffen  werden,  kehren  im  Schlafe  oder  im 
hypnotischen  Zustande  zurück.  Meist  tritt  die  Amnesie  bei  einem 
Anfalle  auf,  sie  ist  dann  oft  retrograd,  d.  h.  nicht  nur  der  Anfall, 
sondern  auch  eine  kürzere  oder  längere  Zeit  vor  ihm  wird  vergessen. 
Selten  sind  die  sog.  System atisirten  Amnesien,  d.  h.  die,  bei  denen 
der  Kranke  nur  bestimmte  Classen  von  Erinnerungen,  etwa  eine 
fremde  Sprache  oder  alles,  was  mit  einer  bestimmten  Person  zu- 
sammenhängt, vergisst. 

Auch  die  hysterische  Abulie  ist  nur  scheinbar,  nur  die  Willkür 
ist  gehemmt.  Die  Abulie  ist  im  Psychischen  das,  was  im  Aeussern 
die  hysterische  Lähmung  ist. 

Die  Zahl  der  anderweiten  Hysterie-Symptome  ist  Legion.  Man 
kann  sie  in  solche  trennen,  die  sozusagen  offenkundig  hysterisch  sind 
(z.  B.  die  Astasie -Abasie,  die  Stummheit,  das  Bellen,  das  Hunde- 
Athmen  u.  s.  w.),  bei  denen  also  ihre  blosse  Kenntniss,  bez.  die  des 
Begriffes  der  Hysterie  zur  Diagnose  ausreicht,  und  solche,  die  eine 
Nachahmung  organisch  bedingter  Sjonptome  darstellen,  bei  denen 
also  eine  Verwechselung  möglich  ist  (hysterische  Neuralgieen,  hyste- 
risches Zittern,  Oedem,  Erbrechen  u.  s.  f.).  Zunächst  ist  es  rathsam, 
da,  wo  die  Sache  nicht  von  vornherein  klar  ist,  immer  an  die  Mög- 
lichkeit der  Hysterie  zu  denken.    Geschieht  dies,  so  wird  man  ge- 


408  Endogene  Nervenkrankheiten. 

gebenen  Falles  auf  Grund  der  oben  dargelegten  Grundsätze  immer 
den  rechten  Weg  finden  können,  da  die  Anamnese  und  kleine  Züge 
im  Symptomenbilde  auf  die  seelische  Natur  der  Erscheinungen  hin- 
deuten, der  Versuch  ausführbar  ist,  anderweite  Zeichen  der  Hysterie 
selten  fehlen.  Auf  den  letzten  Umstand  allein  darf  man  sich  freilich 
nicht  verlassen,  denn  zuweilen,  besonders  bei  Kindern,  tritt  die  Hy- 
sterie monosymptomatisch  auf. 

Die  hysterischen  Anfälle  endlich  (vgl.  S.  121)  sind  selten  ein 
Hinderniss  der  Diagnose,  erleichtern  diese  vielmehr.  Nur  dann, 
wenn  sie  mehr  oder  weniger  den  epileptischen  Anfällen  gleichen, 
können  Schwierigkeiten  entstehen  (s.  weiter  unten). 

Ist  die  hysterische  Natur  dieser  oder  jener  Erscheinungen  nach- 
gewiesen, so  ist  damit  nicht  gesagt,  dass  nur  Hysterie  bestehe.  Stets 
ist  eine  genaue  Untersuchung  nöthig,  damit  nicht  Zeichen  einer 
organischen  Läsion  neben  der  Hysterie  übersehen  werden.  Dies  be- 
sonders deshalb,  weil  organische  Läsionen  (allerhand  Verletzungen, 
Krankheiten  des  Nervensystems,  gewerbliche  und  andere  Vergif- 
tungen) zu  den  häufigsten  Gelegenheitursachen  hysterischer  Zufälle 
gehören.  Inwieweit  die  Hysterie  mit  organischen  Nervenkrankheiten 
verwechselt  werden  kann,  ist  bei  Besprechung  dieser  schon  erwähnt 
worden. 

Eine  scharfe  Abgrenzung  der  Hysterie  gegen  die  Nervosität  ist 
nicht  durchzuführen.  Wohl  giebt  es  Formen  der  Nervosität  ohne 
Hysterie,  doch  kaum  Hysterische  ohne  Zeichen  der  Nervosität,  Letz- 
tere ist  eben  der  allgemeinere  Begriff.  Man  wird  dann  von  Hysterie 
sprechen,  wenn  ihre  Symptome  im  Vordergrunde  stehen,  und  wird 
es  auch  dann  mit  Eecht  thun,  wenn  ausser  den  hysterischen  Haupt- 
symptomen hypochondrische,  neurasthenische  Symptome  in  grösserer 
oder  geringerer  Zahl  vorhanden  sind. 

Schliesslich  hat  man  sich  vor  der  voreiligen  Annahme  von  Simu- 
lation zu  hüten.  Es  ist  schon  erwähnt  worden,  dass  viele  hysterische 
Symptome  sich  der  Natur  der  Sache  nach  so  verhalten,  als  ob  sie 
simulirt  wären.  Dazu  kommt,  dass  manche  Hysterische  gemäss  der 
ihnen  eigenen  Geistesbeschaffenheit  halb  unwillkürlich  zu  ihren  Sym- 
ptomen neue  hinzufügen,  also  simuliren,  etwa  bei  Analgesie  sich  Ver- 
brennungen oder  andere  Verletzungen  beibringen  und  als  von  selbst 
entstanden  bezeichnen,  oder  doch  die  vorhandenen  Störungen  über- 
treiben. Die  Erkenntniss  der  thatsächlich  sehr  seltenen  reinen  Simu- 
lation kann  sich  nur  auf  die  Erfassung  des  Bildes  im  Ganzen  und 
psychologische  Erwägungen  gründen.  Erleichtert  wird  die  Sache 
dadurch,  dass  viele  hysterische  Symptome  überhaupt  nicht  willkür- 


Epilepsie.  409 

lieh  simulirbar  sind,  dass  andere  nur  von  Kennern  der  Hysterie 
nachgeahmt  werden  können.  Auf  jeden  Fall  ist  eine  recht  genaue 
Kenntniss  der  Hysterie  von  Seiten  des  Arztes  das  beste  Mittel  gegen 
»Simulation. 

3.  Die  Epilepsie. 

(Fallsucht,  haut  mal,  morbus  sacer.) 

Epileptische  Krämpfe  treten  auf,  sobald  ein  starker  Reiz  auf 
die  Grosshirnrinde  einwirkt ;  wir  finden  sie  bei  den  verschiedensten 
Gehirnerkrankungen  (Encephalitis,  Gehirngeschwülsten,  progressiver 
Paralyse  u.  s.  f.) ,  nach  verschiedenen  Vergiftungen  (durch  Schnaps, 
besonders  Absynth,  Harnvergiftung  u.  s.  f.),  sie  können  durch  mecha- 
nische, chemische,  elektrische  Reizung  der  Centralwindungen  absicht- 
lich hervorgerufen  werden.  Von  der  Krankheit  Epilepsie  sprechen 
wir  aber  nur  dann,  wenn  die  Anfälle  allein  vorhanden  sind,  eine 
der  sonst  bekannten  Gehirnkrankheiten  nicht  anzunehmen  ist.  Man 
rechnet  die  Epilepsie  zu  den  auf  angeborener  Anlage  beruhenden 
Krankheiten.  Thatsachen  sind,  dass  sie  meist  in  der  Kindheit  oder 
Jugend  beginnt,  dass  sehr  oft  Verwandte  der  Kranken  ebenfalls  an 
Epilepsie  oder  an  irgend  einer  Form  der  Entartung  leiden,  dass  sehr 
oft  sie  selbst  körperliche  oder  geistige  Zeichen  der  Entartung  tragen. 
Andererseits  ist  es  wohl  möglich,  dass  ein  mehr  oder  weniger  be- 
trächtlicher Theil  der  Fälle  von  Epilepsie  auf  Infection  beruht,  der- 
art, dass  der  Epilepsie  eine  infectiöse  Gehirnerkrankung  voraus- 
gegangen ist,  die  einen  symptomlosen  Herd  oder  überhaupt  keinen 
groben  Herd  hinterlassen  hat.  Abgesehen  von  den  Erkrankungen 
des  Gehirnes  im  Kindesalter  kommt  die  Syphilis  in  Betracht,  die 
nicht  nur  durch  Gefässerkrankung  und  Gummibildung  epileptische 
Anfälle  hervorrufen  kann,  sondern  auch  als  metasyphilitische  Er- 
krankung eine  der  gewöhnlichen  Epilepsie  ganz  gleiche  Form  be- 
wirken zu  können  scheint. 

Die  Aeusserungen  der  Epilepsie  sind  die  Krampfanfälle  und 
geistige  Störungen,  die  theils  im  Anschlüsse  an  Krämpfe  oder  als 
Vertreter  solcher  auftreten,  theils  für  sich  bestehen. 

Der  epileptische  Krampfanfall  als  Zeichen  der  Krankheit  Epi- 
lepsie kann  verwechselt  werden  mit  Krämpfen  bei  grober  Gehirn- 
krankheit, mit  toxischen  Krämpfen  und  mit  hysterischen  Krämpfen. 
Die  Krämpfe  bei  Herderkrankungen  sind  fast  immer  halbseitig,  oder 
beginnen  doch  halbseitig.  Ist  die  Sache  nicht  von  vornherein  klar, 
so  achte  man  auf  die  Art  der  Aura,  wenn  diese  etwa  in  einer  Hand, 
einem  Fusse  auftritt,  so  handelt  es  sich  wahrscheinlich  um  eine  ort- 


410  Endogene  Nervenkrankheiten. 

liehe  Gehirnerkrankung.  Ist  eine  solche  vorhanden,  so  werden  durch 
genaue  Anamnese  und  Untersuchung  fast  immer  auch  anderweite 
cerebrale  Symptome  sich  nachweisen  lassen:  Monoparesen  bei  alten 
Herden ,  Veränderungen  des  Augenhintergrundes ,  Klopfempfindlich- 
keit des  Schädels,  Kopfschmerzen  und  Erbrechen  bei  Tumoren.  Den 
Aniällen  der  sog.  „genuinen"  Epilepsie  können  die  toxischen  und 
die  metasyphilitischen  Krampfanfälle  vollständig  gleichen.  Wenn  bei 
einem  erblich  nicht  Belasteten  im  Mannesalter  ohne  nachweisbare 
Ursache  Krampfanfälle  auftreten,  so  versuche  man  mit  allen  Mitteln 
der  Untersuchung  und  der  Anamnese  die  Ursache  zu  erkennen,  be- 
ruhige sich  nicht  gleich  mit  der  Diagnose  Epilepsie.  Liegt  eine  Ver- 
giftung (Urämie,  Saturnismus,  Schnapsvergiftung  u.  s.  f.)  vor,  so  kann 
möglicherweise  dem  Kranken  geholfen  werden,  wenn  es  gelingt,  die 
Ursache  der  Krämpfe  zu  beseitigen.  Handelt  es  sich  um  progressive 
Paralyse,  so  ist  die  frühzeitige  Diagnose  aus  verschiedenen  Gründen 
wichtig.  Der  selbständigen  metasyphilitischen  Epilepsie  gegenüber 
fallen  freilich,  ebenso  wie  bei  der  auf  alten  Hirnherden  beruhenden 
Epilepsie,  diese  praktischen  Antriebe  zur  Unterscheidung  von  der 
„genuinen"  Epilepsie  weg,  da  in  prognostischer  und  therapeutischer 
Hinsicht  kaum  Unterschiede  bestehen. 

Die  Unterscheidung  zwischen  Epilepsie  und  Hysterie  ist  ge- 
wöhnlich leicht,  da  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  der  hysterische  An- 
fall gar  nicht  zu  verkennen  ist  (vgl.  S.  121).  Schwierigkeiten  können 
entstehen,  wenn  man  auf  die  Anamnese  allein  angewiesen  ist,  und 
in  den  nicht  gerade  häufigen,  aber  doch  auch  nicht  übermässig 
seltenen  Fällen,  in  denen  der  hysterische  Anfall  eine  getreue  Nach- 
ahmung des  epileptischen  ist.  Das  Erste  ist  immer  der  Nachweis 
anderweiter  Hysterie -Symptome.  Nun  kann  es  zwar  vorkommen, 
dass  ein  Hysterischer  auch  an  Epilepsie  leidet,  aber  dieses  Zusam- 
mentreffen ist  doch  eine  Ausnahme  und  fast  immer  wird  man  mit 
Eecht  aus  der  hysterischen  Art  anderer  Erscheinungen  auf  die  auch 
der  Krämpfe  schliessen.  Mit  Nachdruck  muss  betont  werden,  dass 
es  Zwischenformen,  Uebergänge  von  der  Hysterie  zur  Epilepsie  nicht 
giebt  (Hystero-Epilepsie  ist  ein  unpassender  Wärterausdruck  für 
schwere  Hj^sterie,  den  man  gar  nicht  brauchen  sollte).  Zuweilen 
kann  man  die  Thatsache,  dass  nach  epileptischen  Anfällen  vorüber- 
gehende Albuminurie  auftritt,  zur  Unterscheidung  benutzen.  Giebt 
die  Schilderung  des  Anfalles  oder  gar  sein  Anblick  keinen  Aufschluss, 
fehlen  Stigmata  der  Hysterie,  so  kann  man  die  Hypnose  als  diagno- 
stisches Mittel  anwenden.  Der  leicht  hypnotisirte  Hysterische  be- 
nimmt  sich  oft   im   hypnotischen  Zustande  so  eigenthümlich ,  dass 


Epilepsie.  411 

seine  Art  unverkennbar  ist.  Ein  anderes  Mittel  ist  die  Anwen- 
dung- des  Bromkalium ,  denn  dieses  wirkt  mit  so  grosser  Sicherheit 
hemmend  auf  epileptische  Anfälle,  dass  seine  Wirkungslosigkeit  für 
die  hysterische  Natur  der  Anfälle  spricht. 

Treten  nur  in  der  Nacht  epileptische  Anfälle  auf,  so  können 
sie  leicht  ganz  übersehen  werden,  da  viele  Kranke  früh  nichts  mehr 
davon  wissen ;  besonders  bei  einer  gelegentlich  auftretenden  Enuresis 
nocturna,  bei  in  der  Frühe  bemerkten  Bindehaut-Ekchymosen  muss 
man  daran  denken,  dass  nächtliche  Krampfanfälle  vorausgegangen 
sein  können. 

Viel  häufiger  als  die  Krampfanfälle  geben  die  seelischen  Stö- 
rungen bei  Epilepsie  Anlass  zu  diagnostischen  Bedenken.  Die  ein- 
fachen kurzen  Bewusstseinspausen  des  petit  mal,  in  denen  sich  der 
Kranke  wie  ein  Träumender  oder  ein  Schlafender  verhält,  können 
nur  mit  hysterischen  Zuständen  verwechselt  werden  und  müssen  von 
diesen  durch  die  eben  angegebenen  Mittel  unterschieden  werden. 
Schwieriger  ist  die  Entscheidung  bei  den  seltenen  durch  längere 
Zeit  andauernden  Dämmerzuständen.  Sieht  man  den  Kranken  zum 
ersten  Male  in  einem  solchen  Zustande,  so  kann  es  unmöglich  sein, 
zwischen  hysterischem  und  epileptischem  Somnambulismus,  Trance 
oder  wie  man  diese  Dinge  sonst  nennen  will,  zu  unterscheiden.  Auch 
die  eigentlich  deliriösen  Zustände  können  bei  beiden  Krankheiten  sich 
sehr  ähnlich  sein.  Gewöhnlich  allerdings  sind  dem  Epileptischen 
tiefere  Benommenheit,  grössere  Angst  und  viel  rücksichtloseres 
Beagiren  auf  die  schreckhaften  Sinnestäuschungen  eigen,  während 
im  hysterischen  Delirium  das  Ganze  mehr  theatralischen  Anstrich 
hat,  die  peinlichen  Affecte  von  heiteren  Erinnerungen  abgelöst 
werden,  ernsthafte  brutale  Handlungen  selten  vorkommen  und  Sug- 
gestionen wenigstens  zum  Theil  angenommen  werden. 

Mit  der  Zeit  werden  die  Epileptischen  in  der  Regel  schwach- 
sinnig. Meist  bestehen  die  Anfälle  fort  und  zeigen  ohne  Weiteres 
auf  die  Natur  des  Zustandes.  Doch  kommen  auch  lange  anfällfreie 
Zeiten  vor  und  bei  mangelhafter  Anamnese  ist  man  dann  darauf  an- 
gewiesen, den  Zustand  für  sich  zu  beurtheilen.  Gewöhnlich  sind  die 
Kranken  sehr  reizbar  und  heftig,  vertragen  Alkohol  nicht,  sie  neigen 
zu  Frömmelei  und  gespreiztem  "Wesen,  sind  wortreich  und  .suchen 
ihre  geistige  Schwäche  zu  verdecken.  Schwankt  die  Diagnose  zwi- 
schen Hysterie  und  Epilepsie,  so  spricht  Schwachsinn  für  diese. 

Sehr  häufig  wird  die  epileptische  Geistesstörung  mit  einfacher 
Betrunkenheit  oder  mit  blossen  Charakterfehlern  verwechselt,  hört 
man  von  unbegründeten  Wuthanfällen,  von  sinnlosen  Entweichun^en, 


412  Endogene  Nervenkrankheiten. 

von  rücksichtlosen  Verletzungen  der  Schadhaftigkeit  imdAehnlichein, 
so  denke  man  an  die  Möglichkeit  der  Epilepsie.  Die  epileptische 
Amnesie,  die  nach  anfallweise  auftretenden  Störungen  folgt,  -wird 
oft  für  freches  Leugnen  gehalten.  Sie  ist  diagnostisch  von  grossem 
Werthe,  aber  man  darf  auch  nicht  vergessen,  dass  sie  nicht  immer 
vollständig  ist,  dass  besonders  in  der  ersten  Zeit  nach  dem  Aufalle 
die  Erinnerung  leidlich  erhalten  sein  kann  und  dass  bei  den  Hand- 
lungen, die  nur  in  der  dauernden  epileptischen  Geistesstörung  ihre 
Erklärung  finden,  überhaupt  keine  Amnesie  besteht. 

4.  Migräne  (vgl.  S.  221). 

Die  Krankheit  Migräne  besteht  ausschliesslich  aus  den  Migräne- 
anfallen. Sie  beruht  fast  stets  auf  gleichartiger  Vererbung,  ent- 
wickelt sich  in  der  Kindheit  oder  Jugend.  Sie  kann  verwechselt 
werden  mit  den  seltenen  Migräneanfällen,  die  als  Symptom  der  pro- 
gressiven Paralyse  oder  einer  Herderkrankimg  des  Gehirns  auftreten, 
mit  hysterischen  Kopfschmerzen,  die  sozusagen  die  Migräne  nach- 
ahmen können,  mit  anderweiten  Kopfschmerzen  bei  Nervösen,  bei 
Nasenkranken,  durch  Vergiftungen,  mit  Glaukomanfällen.  Diagno- 
stische Schwierigkeiten  entstehen,  wenn  wirkliche  Migräneanfälle  als 
Zeichen  einer  anderen  Krankheit  auftreten,  oder  wemi  bei  wirklicher 
Migräne  die  Anfälle  so  verwischt  sind,  dass  sie  schwer  erkannt  wer- 
den. In  jenem  Falle  müssen  das  Fehlen  ererbter  Anlage,  der  Be- 
ginn im  reifen  Alter,  das  Bestehen  anderer  SjTnptome  bedenklich 
machen,  in  diesem  sind  das  Vorkommen  von  Kopfschmerzen  bei  den 
Eltern,  in  der  Jugend,  das  Bestehen  von  Erbrechen  oder  doch  von 
Febelkeit  neben  den  Schmerzen,  das  Fehlen  sonstiger  Symptome  zu 
betonen.  Nicht  selten  kann  man  Medicamente  als  Keagentien  ver- 
wenden: Jodkalium  wirkt  bei  Syphilis  und  bei  Xasenkrankkeiten. 
Abführmittel  wirken  bei  Obstipation,  die  Migränemittel  (salicylsaures 
Natron,  Antipyrin ,  Antifebrin  u.  s.  w.)  bei  wirklicher  Migräne .  bei 
Hysterie  wirkt  oft  gar  kein  Medicament. 

5.  Chorea  chronica 

(Chorea  hereditaria,  Chorea  Huntington^). 

Die  Diagnose  hat  sich  auf  den  Nachweis  der  Vererbung,  auf 
den  Beginn  im  reifen  Alter,  auf  das  Vorkommen  geistiger  Störungen, 
'  auf  das  Fehlen  von  Rheumatismus  und  Herzerkrankimg,  von  hyste- 
rischen Symptomen  zu  gründen. 

Der  Chorea  chronica  nahe  verwandt  sind  die  auf  Entartung 


Die  Thomseifsche  Krankheit.  —  Die  Dystrophia  musculorum  progressiva.  413 

beruhenden  chronischen  unwillkürlichen  Bewegungen,  die  als  selb- 
ständige Athetose,  als  Myoclonie,  als  Ticbewegungen  bezeichnet  wer- 
den. Am  seltensten  kommen  die  Athetosebewegungen  als  Symptom 
der  Degeneration  vor.  Von  Myoclonie  oder  Paramyoclonus  spricht 
man,  wenn  die  Muskeln  bald  da,  bald  dort  blitzartig  zucken.  Die 
Ticbewegungen  sind  gleichmässig  wiederkehrende,  sozusagen  ent- 
sprungene Willkürbewegungen  (Grimassiren,  Schütteln  des  Kopfes. 
einer  Hand  u.  s.  f.).  Die  Form  der  Bewegung  ist  nicht  die  Haupt- 
sache, sondern  die  oben  bei  Chorea  chronica  betonten  Umstände  der 
Vererbung  und  der  Verknüpfung  mit  seelischen  Abweichungen  sind  es. 

6.  Die  Thomsen'sche  Krankheit  oder  Myotonia  congenita 

ist  durch  die  myotonische  Eeaction  (vgl.  S.  165)  so  gut  gekennzeich- 
net, dass  sie  bei  genügender  Aufmerksamkeit  gar  nicht  verkannt 
werden  kann.  Man  muss  nur  im  gegebenen  Falle  an  sie  denken, 
damit  die  Kranken  nicht  als  Simulanten  behandelt  werden. 

7.  Die  Dystrophia  musculorum  progressiva 

oder  der  auf  angeborener  Anlage  beruhende  primäre  Muskelschwund 
kann  nur  mit  anderen  Formen  des  Muskelschwundes  verwechselt 
werden.  Bedenkt  man,  dass  alle  sensorischen  Störungen  fehlen,  so 
kommen  zunächst  nur  die  auf  die  Vorderhörner  beschränkten  Kücken- 
markerkrankungen  in  Frage.  Die  Unterscheidung  ist  schon  früher 
(S.  59)  besprochen  worden:  das  familiäre  Auftreten,  das  gewöhn- 
lich jugendliche  Alter,  die  Localisation  des  Schwundes,  seine  Ver- 
bindung mit  H3rpertrophie,  das  fast  ausnahmelose  Fehlen  der  flbril- 
lären  Zuckungen  und  der  Entartungsreaction  sind  die  Umstände, 
die  für  primären  Muskelschwund  sprechen.  Dass  die  seltenen  Fälle. 
in  denen  neben  dem  primären  Muskelschwunde  eine  (wahrscheinlich 
secundäre)  Atrophie  der  nervösen  Bahnen  gefunden  worden  ist,  nicht 
von  den  übrigen  Fällen,  wohl  aber  von  denen  zu  trennen  sind,  in 
denen  die  Symptome  auf  die  primäre  Nervenerkrankung  deuten,  das 
ist  auch  erwähnt  worden. 

In  neuerer  Zeit  hat  man  auch  familiäre  Formen  des  Muskel- 
schwundes kennen  gelernt,  bei  denen  offenbar  nervöse  Theile  zuerst 
erkranken.  Die  häufigste  dieser  seltenen  Formen  hat  man  als  neu- 
rotische oder  neurale  Muskelatrophie  bezeichnet.  Mehrere 
Geschwister  leiden  an  Muskelschwund  der  Endglieder,  der  sich  lang- 
sam centripetal  ausbreitet ;  die  kranken  Muskeln  zeigen  Entartungs- 
reaction; es  bestehen  daneben  Schmerzen,  Parästhesieen,  Hyp- 
ästhesie. 


414  Endogene  Nervenkrankheiten.    Die  Friedreicliiselie  Krankheit. 

Noch  seltener  scheinen  die  Fälle  zu  sein,  in  denen  sich  eine 
chronische  Vorderhornentartung  oder  Bulbärparalyse  bei  mehreren 
Familiengliedern  im  jugendlichen  Alter  entwickelt.  Die  Diagnose 
müsste  sich  zuerst  auf  die  "Wiederholung  der  Krankheit  in  der  Fa- 
milie gründen. 

8.  Die  Friedreichische  Krankheit  oder  hereditäre  Ataxie 

ist  ebenfalls  eine  Faniilienkrankheit.  Die  Kinder  erkranken  mit 
Ataxie  der  Beine,  dann  der  Arme.  Dazu  treten  Nystagmus,  stockende 
undeutliche  Sprache,  die  Sehnenreflexe  schwinden ;  Anästhesie  kommt 
erst  spät  dazu,  Skoliose  entwickelt  sich  oft,  Schmerzen.  Pupillen- 
starre.  Bla  seiist  örung  fehlen. 

Es  kommen  verschiedene  Formen,  die  offenbar  mit  Friedreich's 
Krankheit  nahe  verwandt  sind,  vor.  Bald  erinnert  das  Bild  an  das 
der  multiplen  Sclerose,  bald  sind  es  ganz  eigenartige  Symptomen- 
Gruppirungen. 

Endlich  ist  die  auf  einer  primären  Entartung  der  Pyramiden- 
bahnen  beruhende  chronische  r  eines  pastischeSp  in  allähmung, 
die  einige  Male  als  Familienkrankheit  beobachtet  worden  ist,  hier 
zu  nennen. 

Immer  hat  sich  bei  diesen  seltenen  Formen  die  Diagnose  auf 
die  Wiederholung  in  der  Familie  und  die  frühe,  anscheinend  ursach- 
lose Entwicklung  der  Krankkeit  zu  stützen.  Mögen  die  anatomischen 
Bilder  verschieden  sein,  chronischer  Verlauf  und  TTnheilbarkeit  sind 
immer  vorhanden. 


REGISTER. 


A  b  d  u  c  e  n  s  (nerv)  1  ä  s  i  o  n ,  Functions- 
störungen  durcli  solche  337.  364.  — , 
Kernläsion  64. 

Abulie,  hysterische  407. 

Achillessehnen!' efl  ex,  Prüfung 
dess.  137.  — ,  gesteigerter  138.  — bei 
Querläsion  des  Lendenmarkes  92.  — , 
Reflexbogen  dess.  93. 

Acusticusläsion,  Diagnose  ders.  177. 
— ,  electrische  Untersuchung  bei  ders. 
ISO.  — ,  Functionsstörungen  durch  dies. 
339. 

Adductoren  des  Oberschenkels,  Con- 
tractur  ders.  321.  — ,  Lähmung  ders. 
320. 

Aesthesiometer  zur  Messung  der 
Tastempfindlichkeit  bei  Kranken  186. 

Aetiologie  der  Nervenkrankheiten  5. 

Ageusis,  Diagnose  ders.  183.  —  Lo- 
calisation  ders.  184.  339.  — ,  totale, 
incomplete  184. 

A  g  r  a  m  m  a  t  i  s  m  u  s  Nervenkranker,  Un- 
tersuchung auf  solchen  39.  46.  — ,  Vor- 
kommen dess.  bei  progressiver  Para- 
lyse 45. 

Agraphie  34.  — ,  isolirte  38. 

Akataphasie,  Prüfung  auf  solche  46. 

Akinesia  algera  219. 

Akinesis,  Charakteristicum  derselben 
66. 

Alalie  Nervenkranker  34.  49. 

Albuminurie  nach  epileptischen  An- 
iällen  410.  —  durch  Läsionen  des  Ner- 
vensystems 241. 

Alexie,  Untersuchung  auf  solche  40. 

Algesimeter  188. 

Alkoholismus,  Diagnose  dess.  379. 
— ,  Symptome  dess.:  Amblyopie  mit 
centralen  Scotomen  173,  Bewusstseins- 
störungen  24,  epileptische  Anfälle  126, 
Neuritis  211.  213.  353.  379,  Tremor 
109.  115. 

Allocheirie,  Wesen  ders.  194.  199. 

Amaurose,  anfallsweise  auftretende, 
vorübergehende  doppelseitige  173.  — , 


doppelseitige  mit  Pupillenstarre  175. 
—  durcli  Stauungspapille  169.  170.  — , 
Untersuchung  auf  solche  167 ,  elek- 
trische 168. 

Amblyopie,  einseitige  und  doppelsei- 
tige und  deren  Localisation  173.  — , 
hysterische  172.  204.  205.  —  durch 
Stauungspapille  169.  — ,  toxische  173. 
— ,  Untersuchung  auf  solche  167,  elek- 
trische 168. 

Amnesie  23.  — ,  epileptische  412.  — , 
hysterische  407.  — ,  Unterscheidung 
ders.  von  Paraphasie  42. 

Amyotrophie,  spinale,  Diagnose  ders. 
59. 

A  n  ämie , nervöse  Symptome  ders. :  Dreh- 
schwindel  29,  Kopfschmerz  223,  Ohr- 
geräusche 179.  — ,  locale  der  Haut 
durch  Gefässlähmung  230. 

Anästhesie  198.  — ,  Ausdehnung  ders. 
201.  — ,  Bewegungsstörungen  bei  ders. 
103  (Unterscheidung  dieser  von  Läh- 
mung) 69.  — ,  cerebrale  200.  202.  207. 
— ,  dolorosa  199.  200.  — ,  Ernährungs- 
störungen der  Haut  bei  ders.  201.  — , 
fleckweise,  diffuse  202.  —  der  Genita- 
lien 244.245.  —  des  Geschmacksorgans 
183.  — ,  Grade  ders.  199.  — ,  hyste- 
rische (functionelle)  und  deren  Unter- 
scheidung von  organischer  204.  — , 
organische  207.  —  des  Olfactorius  181. 
— ,  peripherische  200.  210.  — ,  Reflexe 
bei  ders.  201.  —  der  Retina  172.  — , 
spinale  92.  93.  200.  202.  203.  207.  209. 
357.  — ,  totale  203.  204.  — ,  Unter- 
scheidung ders.  nach  dem  Sitze  und 
der  Ausbreitung  199.  —  in  Verbindung 
mit  Lähmung  79.  201  (Brown-Sequard- 
scher)  85.  89.  202.  208  (corticaler)  87. 
95.  203  (functioneller)  98,  mit  Para- 
plegie  91. 

Analgesie  der  Haut  183.  —  bei  Glio- 
matosis  spinal.  209.  — .  Relation  ders. 
zur  Tastsinnlähmung  199.  —  bei  Tabes 
210.  —  in  Verbindung  mit  Anästhesie 


416 


Register. 


200.  mit  Thermoanästhesie  bei  Läsion 
der  grauen  Substanz  des  Rückenmarks 
360. 

Anamnese  Nervenkranker  3.  — durch 
Aufnahme  der  Geschichte  des  Kran- 
ken 4.  — ,  Bedeutung  der  einzelnen 
anamnestischen  Feststellungen  8.  — 
durch  Erforschung  der  Familienge- 
schichte 3.  — ,  Schwierigkeiten  bei  der 
Aufnahme  ders.  5. 

Anarthrie  34.48.  —  aphatica  34.  — , 
centrale  Läsion  bei  ders.  52.  85. 

Aneurysmen,  Veranlassung  zu  ner- 
vösen Störungen  381. 

Angina  pectoris,  diagnostische  Ver- ' 
werthung  ders.  bei  Nervenkranken  237. 
382. 

Anorexia  nervosa  239. 

Anosmie-,  Diagnose  ders.  181.  — ,  cen- 
trale, einseitige,  doppelseitige  181.  — , 
Localisation  ders.  332.  — ,  senile  182. 

Anurie  Hysterischer  241. 

A  phasie  34.  —  mit  Agraphie  37,  ohne 
Agraphie  38.  — ,  Broca'sche  (ataktische 
oder  motorische)  37.  — ,  eigentliche  36. 

—  Hemiplegischer  82.  — ,  Intellect  bei 
ders.  43.  — ,  Localisation  ders.  50.  51. 
370.  —  bei  progressiver  Paralyse  30. 
— ,  sensorische  40.  42.  — ,  totale  42. 

—  in  Verbindung  mit  Paragraphie  38. 
45,  mit  Worttaubheit  42. 

Aphrasia  paranoica,  Unterschei- 
dung ders.  von  Aphasie  47. 

Aphthongie,  diagnostische  Merkmale 
ders.  48. 

Apo  piektisch  er  Anfall  (Insult),  Art 
und  Ort  der  Hirnläsion  bei  dems.  26. 
— ,  Entstehung  und  Erscheinungen 
dess.  25.  372.  —  bei  Kindern  27.  — , 
langsamer  26.  — ,  Vorläufersymptome 
dess.  26 :  Ohnmachtsanwandlungen  29, 
Ohrensausen  mit  Kopfschmerzen  179. 
— ,  Ursachen  dess.  27. 

Apraxia  Nervenkranker  40.  — algera 
219. 

Apselaphesie,  Charakteristicum der s . 
199. 

Are  de  cercle  Hysterischer  121.  122. 

A  r  m  m  u  s  c  u  1  a  t  u  r ,  Bewegungsstörun- 
gen ders.  290.  304. 

A  r  s  e  n  i  k  n  e  u  r  i  t  i  s  ,  diagnostische 
Kennzeichen  ders.  211.  355.  378. 

Arthritis  deformans  der  Gelenke, 
neuritische  Symptome  ders.  234.  —  der 
Wirbelsäule,  Schmerzsymptome  ders. 
339. 

A  r  t  h  r  o  g  r  y  p  o  s  i  s ,  Vorkommen  ders . 
128. 

Arthropathie,  tabische  233.  234. 

Astasie-Abasie  Hysterischer  99.  407. 

Asthenopie  Hysterischer  172. 


Asthma  bronchiale,  Relation  dess. 
zu  nervösen  Störungen  235. 

Ataxie  der  Augenmuskeln  253.  —  der 
Beine  101.  — ,  bulbäre  105.  — ,  cere- 
bellare  29. 105. 106.  — ,  Charakteristica 
ders.  101.  — ,  corticale  105.  — ,  Dia- 
gnose ders.  104.  106.  414.  — ,  echte 
101.  — ,  Entstehung  ders.  105.  —  der 
Hände  101.  — ,  hereditäre  414,  s.  auch 
Friedreichische  Krankheit.  —  an  Kopf, 
Hals  und  Rumpf  102.  — ,  Localisation 
ders.  365.  366.  — ,  locomotorische  103. 
— ,  Mitbewegungen  bei  ders.  129.  — 
Paralytischer  30.  31.  106.  107.  — ,  pe- 
ripherische 105.  — ,  spinale  105.  — , 
statische  103.  — ,  Unterscheidung  ders. 
von  Parese  69,  von  Tremor  110.  — , 
Untersuchung  auf  solche  100.  101.  — , 
Vorkommen  ders.  105. 

Äther  omatose,  Ursache  von  nervösen 
Störungen  235.  381.  —  derHirngefässe, 
Ursache  von  apoplektischen  Insulten 
27 ,  von  Herderkrankungen  des  Ge- 
hirns 235. 

Athetosis  130.  — ,  Entstehung  und 
Vorkommen  ders.  132. 

Athmungsmuskeln,  Krampf  u.  Läh- 
mung ders.  279 — 285.  — ,  Localisation 
der  Lähmung  ders.  94.  358. 

Atrophie  s.  Muskelatrophie. 

Atrypsia  nervosa  bei  Melancholi- 
schen und  Neurasthenischen  240. 

Auge,  Bewegungsstörungen  dess.  249. 
259.  — ,  Prüfung  der  reflektorischen 
Erregbarkeit  dess.  132.  — ,  Unter- 
suchung dess.  bei  Nervenkranken  166, 
auf  Bildungsfehler  246.  — ,  Verhal- 
ten dess.  bei  abnormem  Seelenzustand 
17. 

Augenlider,  Bewegungsstörungen 
ders.  bei  Krampf  und  Lähmung  der 
Musculatur  ders.  249.  250. 

Augenmukelkrämpfe  (der  äusseren 
Augenmuskeln)  253  (der  inneren)  253. 
256. 

A  u  g  e  n  m  u  s  k  e  1 1  ä  h  m  u  n  g  e  n  (der 
äusseren  Augenmuskeln)  249  (der  inne- 
ren) 253.  — ,  conjugirte  (assoeiirte)  250. 
— ,  Diagnose  der  Lähmung  der  äusse- 
ren 252.  — ,  Kopfhaltung  bei  dens.  253. 
— ,  Localisation  ders.  365.  —  bei  pro- 
gressiver Paralyse  30.  —  bei  Tabes 
386.  — ,  rheumatische  392.  — ,  Schwin- 
delgefühl bei  dens.  28.  253. 

A  u  s  d  r  u  c  k  s  f  ä  h  i  g  k  e  i  t  Nervenkranker , 

■  Prüfung  der  bildlichen  19.  33,  der 
schriftlichen  19.  33,  der  musikalischen 
33,  der  sprachlichen  18.  32.  33.  34. 

Autophonie,  Entstehung  ders.  258. 

Axillar  islähmung  342.  — ,  rheuma- 
tische 392. 


Register. 


417 


B ar ä s i  h  esiomet  e r  zur  Messung  der 
Druckempfindlichkeit  der  Haut  187. 

Baralgesimeter  zur  Druckschmerz- 
messung  lsv 

Battarismus  der  Sprache  nervös  Er- 
regter und  dessen  Unterscheidung  von 
Logorrhoe  47. 

.1 ! a  u  c  h  ni u s k e  1  n ,  Krampf  ders.  285.  — , 
Lähmung  ders.  277.  278.  2*4. 

]  5  a  u  c  h  r  e  i'l  e  x ,  diagnostische  Bedeutung 
dess.  144.  — ,  Entstehung  dess.  durch 
Querläsion  des  Bückenmarks  93.  — , 
Prüfung  dess.  133. 

B  e  c  k  enm uske In ,  Prüfung  ders.  auf 
ihre  Functionsfähigkeit  285.  286. 

Bei  n  m  u  s  c  u  1  a  t  u  r ,  Functionsprüfung 
ders.  31(5—331. 

Benommenheit,  geistige  22.  —  durch 
Intoxication  24. 

B  e  r  ü  h  r  u  n  g  s  e  m  p  f i  n  d  1  i  c  h  k  e  i  t  der 
Haut,  extensive  193. 

Beschäftigung,  Einfluss  ders.  auf  die 
Entstehung  von  Nervenkrankh.  9.  10. 

Beweglichkeitsdefecte  der  Arm- 
muskeln 290.  304.  —  der  Augenmus- 
keln 251.  252.  257.  —  der  Bauchmus- 
keln 277.  284.  285.  —  der  Beinmus- 
keln 316.  321.  323.  330.  —  der  Bla- 
senmuskeln 2S9.  —  der  Brustmuskeln 
280.  281.  294.  296.  302.  —  der  Damm- 
muskeln 2S6.  —  der  Eingeweidemus- 
keln 287.  —  des  Gaumens  267.  —  der 
Halsmuskeln  273.  —  der  Kaumuskeln 
263.  —  des  Kehlkopfs  273.  —  der 
mimischen  Gesichtsmuskeln  259.  — der 
Ohrmuskein  258.  262.  —  des  Rachens 
269.  —  der  Zunge  264. 

Bewegungsapparat,  Untersuchung 
dess.  bei  Nervenkranken  53:  Methoden 
54,  der  Motilität  65,  der  Muskelbe- 
schaffenheit 54.  60,  der  Nervenbe- 
schaffenheit 59. 

B  e  vf  e  g  u  n  g  s  c  e  n  t  r  e  n  der  Gehirnrinde , 
Läsion  ders.  u.  deren  Erscheinungen 
369. 

B e w e g u ngsempfind u n g ,  Prüfung 
ders.  bei  Nervenkranken  195.  196. 

B  e  w  e  g  u  n  g  s  av  e  i  s  e  Nervenkranker  1 8 : 
abnorme  99.  —  Paralytischer  30.  —  bei 
spastischer  Spinalparalyse  90.  —  bei 
unvollständiger  Querläsion  desRücken- 
marks  94. 

Bewusstsein  von  der  Lage  der  Glie- 
der, Prüfung  dies.  196.  — ,  Spaltung 
dess.  bei  Hysterischen  25.  404. 

ReAvusstseinsstörungen,  acut  ein- 
tretende 25.  — ■  chronisch  und  subacut 
verlaufende  28.  — ,  Formen  u.  Grade 
ders.  21.  22.  — ,  Vorkommen  ders.  23. 

Blasenfunction,  Prüfung  ders.  bei 
Nervenkranken  242.  289.  290. 
Mübius,  Diagnostik  der  ^STorvcnkrankhoitGii. 


Blas enlä Innung,  Diagnose  ders.  242. 
243.  — ,  Entstehung'  ders.  92.  94.  289. 

Blasenkrampf,  Entstehung  dess.  290. 

Blasenkrisen,  nervöse  243. 

Bleivergiftung,  Augenstörungen 
durch  dies.  173.  — ,"Kolikanfälle  durch 
dies.  239.  — ,  Lähmung  durch  dies. 
65.  — ,  Neuritis  durch  dies.  211.  354. 
378.  — ,  Tremor  durch  dies.  115. 

B 1  e  p  h  a  r  o  s  p  a  s  m u  s,  Untersuchung  auf 
solchen  259. 

Blick  Nervenkranker,  Beachtung  dess. 
bei  der  Untersuchung  18. 

Blödsinn  23.  — ,  paralytischer  30. 

Blutbrechen  Hysterischer  237. 

Blutgefässe,  Untersuchung  ders.  auf 
ihre  Function  bei  Nervenkranken  287. 

Blutgefässk rankheiten,  Schä- 
digung des  Nervensvstems  durch  solche 
381. 

Blutungen  des  Gehirns,  Ursache  von 
apoplektischen  Insulten  26.  — ,  sub- 
cutane bei  nervösen  Störungen  231.  ■ — 
im  Wirbelkanal,  Symptome  ders.  362. 

Bradykardie,  Petit  mal  bei  ders.  382. 

Bradylalie  Nervenkranker  49. 

Bradyphrasie  durch  nervöse  Stö- 
rungen 45.  47. 

B  r  o  n  c  h  i  a  1  m  u  s  k  e  1  n ,  paralytische  u. 
spastische  Symptome  ders.  285. 

Brown  -  Sequard'sche  Lähmung, 
Charakteristicum  ders.  85.  — ,  Sym- 
ptome ders.  202.  208.  — ,  Vorkommen 
ders.  90. 

Brust  mark,  Querläsion  dess.  u.  deren 
Localisation  aus  den  Verletzungser- 
scheinungen 358. 

Brustmuskeln,  Functionsprüfung 
ders.  282.  301—303. 

Bulbärparalyse,  cerebrale  u.  deren 
Symptome  87.  88.  —  progressive, 
Diagnose  ders.  398.  399.  — ,  elektri- 
sche Erregbarkeit  bei  ders.  158.  164. 
— ,  Localisation  ders.  363.  — ,  Pseu- 
dohypertrophie  einzelner  Muskeln  bei 
ders.  57.  — ,  Sprachstörungen  bei  ders. 
52. 

Bulimie  23. 


Caput  obstipum  spasticum  274. 

Carcinomatose,  nervöse  Störungen 
durch  dies.  24. 

Cardialgie,  nervöse  288.  — ,•  Unter- 
scheidung von  Cardialg.  durch  orga- 
nische Läsion  239.  240. 

Cephalaea  s.  Kopfschmerz. 

Cerebrospinalmeningitis,  epide- 
mische, diagnostische  Kennzeichen 
ders.  395.  396. 

Chiasma  nervorum  opticorum,  Läsiou 
2.  Aufl.  27 


413 


Register. 


dess.  n.  deren  diagnostische  Kenn- 
zeichen 175. 

Chordalähniung  durch  Mittelohrer- 
krankung 176. 

Chorea  chronica  (hereditaria.  Chorea 
Huntingtons) .  Charakteristica  ders. 
130,  Diagnose  ders.  412.  —  major, 
minor,  mollis.  praehemiplegica .  post- 
hemiplegica  130.  —  Svdenhamii. 
diagnostische  Merkmale  derselben  130. 
394. 

Choreabewegungen  129.  — .  halb- 
seitige 130.  — .  Mitbewegungen  bei 
dens.  129.  — .  rhythmische  123.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  Ataxie  104, 
von  Tremor  110. 

Circulationsapparat .  Krampf-  u. 
Lähmungserscheinungen  an  dems.  234. 

Clitoriskrisen  tabischer  Frauen  245. 

Colica  nervosa  239. 

Compressio  cerebri,  Symptome  u. 
Localisation  ders.  221.  372.  — ,  spina- 
lis .  Svmptome  u.  Localisation  ders. 
207.  208. 

< '  o  n  g  e  s  t  i  o  n  e  n  als  Ursache  von  Kopf- 
schmerz 223. 

Constitutionsanomalien.  Unter- 
suchung  auf  solche  bei  nervösen  Affec- 
tionen  22s 

Gontracturen  der  Muskeln,  active 
oder  spastische  Gl.  —  eines  Gliedes  64. 

—  Hemiplegischer  86.  — .  hysterische 

120.  —  des  inneren  Ohres  258.  —  einer 
Körperhälfte  64.  — ,  myopathische  61. 

—  des  Oberarmes  301.  —  des  Ober- 
schenkels 319.  321.  — .  paralytische  61. 
— .  passive  61 .  —  des  Rückens  279.  —  der 
Schulter  294.  300.  — .  Sebnenreflexe 
bei  solchen  63.  —  infolge  transversaler 
Rückenmarksläsion  92.  — .  Unterschei- 
dung- ders.  von  Lähmungen  69.  —  des 
Unterschenkels  323.  325".  326.  32S.  — 
infolge  zu  fester  Verbände  58. 

('onus  terminali s  des  Rückenmarks. 

Läsion    dess.    und    deren    Symptome 

357. 
Convulsionen,    Definition   ders.  117. 

— .   epileptische   123.    — .  hysterische 

121.  — ,  urämische  126. 
Coordination  der  Bewegung  100.  — , 

Centren  ders.  105. 

Crampus.  Wesen  dess.  117. 

Cremasterreflex,  diagnostische  Ver- 
werthuug  dess.  145.  — ,  Prüfung  dess. 
133.  —  bei  Querläsion  des  Rücken- 
marks 93. 

C  ruralislähmung,  Erscheinungen 
ders.  345.  — .  rheumatische  392. 

Cucullaris  (Muse,  trapeziusi.  Fune- 
tionsprüfung  dess.  290 — 293.  elektri- 
sche 292. 


J) ä m m e r z u s t  ä n de  des  seelischen Zu- 
standes  21.  — .  Formen  ders.  22.  — , 
Vorkommen  ders.  29. 

Darmkrisen  bei  spinalen  Affectionen 
238.  239. 

Darmlähmung,  nervöse  237.  —  bei 
Querläsion  des  Rückenmarks  92. 

Darmmuskelkrämpfe.  Ursachen 
ders.  289. 

Decubitus,  Entstehung  dess.  bei  cere- 
bralen u.  spinalen  Läsionen  232. 

Degenerationszeichen,  krankhafte 
Reactionen  des  Nervensystems  bei 
solchen  245.  246.  402. 

Delirien  durch  nervöse  Störungen, 
alkoholische  22.  24.  — ,  diagnostische 
Bedeutung  des  Zitterns  für  dies.  115. 
— ,  epileptische  22.  24.  411.  — ,  fieber- 
hafte 24.  28.  — ,  Grad  der  Bewusst- 
seinsstörung  bei  dens.  22.  — ,  hyste- 
rische 22.  — ,  mussitirende  22.  — , 
Delirium  tremens  potatorum,  diagno- 
stische Kennzeichen  dess.  24.  115. 

Deltoideus,  Functionsprüfung  dess. 
298,  bei  Contractur  u.  Parese  300,  bei 
Lähmung  299. 

Dementia  paralytica.  Diagnose 
ders.  388.  390.  391.  — .  Entstehung 
ders.  383;  s.  auch  progress.  Paralyse. 

Deviation,  conjugirte  der  Augen, 
diagnostische  Verwerthung  ders.  253, 
bei  apoplektisckem  Insult  26.  — ,  Lo- 
calisation ders.  128. 

Diabetes.  Symptome  von  Seiten  des 
Nervensystems  bei  dems.  242 :  Augen- 
affectionen  173,  Fehlen  des  Kniephä- 
nomens 148,  Hautaffectionen 232.  Koma 
24.  Neuritis  211.  351.  — .  Unterschei- 
dung dess.  von  der  symptomatischen 
Polyurie  Nervenkranker  241. 

Diagnose  nervöser  Störungen  e  juvan- 
tibus  et  nocentibus  246. 

Di  etatschreiben,  Prüfung  Nerven- 
kranker auf  solches  33. 

Dilatator  pupillae,  Krampf  u.  Läh- 
mung dess.  256. 

Diplegia  66.  —  facialis  87. 

Disposition  zu  Nervenkrankheiten, 
angeborene  5,  erworbene  6. 

Diphtherieneuritis  353.  — .  Dia- 
gnose ders.  380.  — .  Sensibilitätsstö- 
rungen bei  ders.  211. 

Doppelempfindung  194.  — .  Locali- 
sation der  Läsion  einer  solchen  200. 

Doppeltsehen.  Entstehung  dess.  251. 

Dorsalmark.  Querläsion  dess.  und 
deren  Symptome  92.  358. 

D or salner ve n  1  äh mung ,  Symptome 
ders.  344. 

D  r  e  h  s  c h  w  i  n  d  e  1 ,  diagnostische  Kenn- 
zeichen dess.  22-.  — .  Vorkommen  dess.29. 


Register. 


419 


Druckempfindlichkeit  der  Haut, 
Prüfung  ders.  186.  IST.  193.  —  der 
Muskeln.  Prüfung  ders.  196.  —  der 
Muskeln  und  Nerven  bei  peripherischer 
Lähmung  80. 

Druckpunkte  bei  Krämpfen  117. 

1 1  v n a m oraeter.  Anwendung  dess.  bei 
'der  Untersuchung  der  Muskeln  67.  68. 

] )  v  s  1  a  1  i  e  n .  Entstellung  u.  Formen  ders. 
49. 

Dyslexie  durch  nervöse  Störungen  41. 

Dyspepsie,  nervöse  237. — ,  Diagnose 
ders.  240. 

Dysphrasien,  Entstehung  ders.  34. 

Dyspnoe,  nervöse,  Entstehung  ders. 
280.  281.  2S5.  — ,  Legalisation  u.  Vor- 
kommen ders.  235. 

Dystrophia  musculorum  progressiva 
57.  — ,  Anfangsstadium  ders.  54.  — , 
Diagnose  ders.  59.  413.  — ,  elektrische 
Erregbarkeit  der  Muskeln  bei  ders. 
15S.  — ,  Symptome  ders.  57.  58.  210. 
413. 

Echo  spräche  der  Irren  47. 

Eclampsia  parturientium,  Ent- 
stehung ders.  126. 

Eingeweidemuskeln,  Untersuchung 
ders.  auf  ihre  Function  bei  nervösen 
Störungen  287. 

Ekstasebei  krankhaftem  Seelenzustand 
22.  — ,  Visionen  in  ders.  23. 

Elektrische  Untersuchung  150. 
— ,  Apparate  zu  ders.  150.  151.  —  der 
Athemmuskeln  279.  281.  284.  —  der 
Blasenmuskeln  289.  —  nach  Brenner 
151.  —  der  Dammmuskeln  286.  — ,  Ent- 
artungsreaction  bei  ders.  159.  —  durch 
Faradisation  152.  —  durch  Galvani- 
sation 153.  —  des  Geruchapparates  180. 

—  des  Geschmacksorgans  183.  —  der 
Halsmuskeln  274.  —  der  Hautempfind- 
keit  188.  189.  —  der  Hüft-  u.  Ober- 
schenkelmuskeln 317.  319. 320. 321.  — 
des  Kehlkopfs  273.  —  der  Kiefer  264. 

—  der  mimischen  Gesichtsmuskeln  263. 

—  der  Musculatur  im  Allg.  s.  Muskel- 
erregbarkeit, elektr.  —  der  Nerven  s. 
Nervenerregbarkeit,  elektr.  —  des  ner- 
vösen Gehörapparates  179.  258.  —  des 
Oesophagus  270.  —  bei  pathologischen 
Veränderungen  der  motorischenNerven 
u.  Muskeln  157.  —  des  Backens  269. 

—  der  Retina  168.  —  der  Schulter-  u. 
Oberarmmuskeln  292.  293.  294.  295. 
298.  300.  301.  302.  303.  —  der  Unter- 
schenkelmuskeln 324.  329.  330.  — ,  zu 
verwendende  Elektroden  bei  ders.  1 52. 
153.  — ,  Zuckungsgesetz  der  motor. 
Nerven  u.  Muskeln  bei  ders.  155.  156. 

—  der  Zuns-e  266. 


Elektr o cu taue  Sensibilitätsprü- 
fung bei  Nervenkranken  188.  189. 

E 1  e  k  t  r  o  m  u  s  c  u  1  ä  r  e  S  e  n  s  i  b  i  1  i  t ä  t  s  - 
prüfung  bei  nervösen  Leiden  196. 

E  mbolie  derHirngefässe,  Veranlassung 
zu  Apoplexien  25.  26.  381. 

Em  pfindungen,  excentrischeNer- 
venkranker,  Prüfung  ders.  197.  198, 
— .  perverse  194.  199.  200.  — .  sub- 
jeetive  des  Auges  175.  176,  des  Ge- 
ruchapparates 181,  des  Geschmack- 
apparates  182,  des  Ohres  178.  179.  — 
der  tiefen  Tbeile  195. 

Empfindungsapparat,  Unter- 
suchung dess.  166:  des  Gefühls  185, 
des  Gehörs  176,  des  Geruchs  180,  des 
Geschmacks  182,  des  Gesichts  167. 

Empfindungslähmungen,  partielle, 
Charakteristicum  ders.  199.  — ,  Art  der 
Läsion  ders.  200. 

Empfindungsleitung,  verlangsamte 
der  Haut  194:  durch  Anästhesie  200. 

Encephalitis  acuta  (cerebrale  Kin- 
derlähmung), Diagnose  ders.  393.  — , 
epileptische  Krämpfe  im  Beginn  ders. 
126.  393.  — ,  Hemiplegie  durch  dies. 
393.  — ,  Relation  ders.  zum  apoplek- 
tischen  Insult  27. 

E  n  d  o  c  a  r  d  i  t  i  s  als  Quelle  von  Embolis 
zur  Schädigung  des  Nervensystems  381. 

EndocarditischeVeränderungen 
bei  Herderkrankungen  des  Gehirns  235. 

Entar  tu  ngsreaction, elektrische 
159.  — ,  Charakteristicum  ders.  55.  — , 
complete  159.  — ,  Dauer  u.  Verlauf 
ders.  164.  — ,  Entstehung  ders.  5s.  — 
bei  Lähmungen  72.  — ,  partielle  161, 
mit  indirecter  Zuckungsträgheit  161, 
bei  spastischer  Lähmung  75.  — ,  sen- 
sorische 198.  — ,  Vorkommen  ders.  164. 
— ,  Zuckungsträgheit  bei  ders.  163.  — , 
mechanische  150. 

Enuresis  nocturna  nervöser  Kinder 
243. 

Epil  epsie .  Diagnose  ders.  125.  409.  — , 
Jackson'sche  124.  — ,  idiopathische 
126.  —  der  Kinder  126.  — ,  locale  126. 
— ,  Reflexepilepsie  126.  — ,  Symptome 
ders.  409.  411:  Amaurose  (doppelseitige 
173,  Bewusstseinsstörungen  24.123. 125, 
Flimmerscotom  176,  Krämpfe  s.  epi- 
lept.  Anfall,  Ohnmachtsanwandlungen 
29,  Schwachsinn  411.  — ,  syphilitische 
382.  — ,  Unterscheidung  ders.  von  Hy- 
sterie 122.  410. 

Epileptischer  Anfall  123.  — ,  Aura 
dess.  123.  409.  — .  Diagnose  dess.  409. 
— .  halbseitiger  124.  —  Hemiplegischer 
85.  95.  —  Hysterischer  25.  — .  Ohren- 
sausen in  der  Aura  dess.  179.  —  Pa- 
ralytischer 30.  — ,   partieller  124.  — , 


420 


Eegister. 


simulirter  127.  — ,  Stertor  in  dems. 
124.  — ,  vollständiger  123. 

Erblichkeit  der  Krankkeiten  3.  — , 
atavistische,  collaterale,  ciunulative  4. 
— ,  directe  u.  indirecte  3.  — ,  gleich- 
artige u.  ungleichartige  4. —  hei  Ner- 
venkrankheiten 5.  6:  der  Muskelhy- 
pertrophie 56. 

Erblindung,  halbseitige  s._  Hemi- 
anopsie. —  durch  Stauungspapille  und 
deren  centrale  Läsion  (Localisation) 
169. 

Erbrechen,  cerebrales  238.  — ,  mecha- 
nisch hervorgerufenes  133.  — ,  nervöses 
23S.  239. 

Ernährungsstörungen  durch  ner- 
vöse Leiden  201.  231. 

Ernährungszustand,  allgemeiner 
bei  nervösen  Störungen  228.  —  der 
Musculatur:  atrophischer  54.  55, 
hypertrophischer  54,  pseudohypertro- 
phischer 56. 

Erregbarkeit,  elektrische  u.  mecha- 
nische der  Muskeln  u.  Nerven  s.  Mus- 
kelerregbarkeit ,  Nervenerregbarkeit. 
—  reflectorische  132,  s.  auch  Reflexe. 

Erregungsgesetz  sensorischer  Ner- 
ven 198. 

Erytheme  bei  Nervosität  231. 

Erythromelalgie  Nervenkranker  231. 

Etat  de  mal  Epileptischer  124.  — 
Hysterischer  122. 

Etourdissement,  Wesen  dess.  22. 

E  xsp ir  ation s k r  ä mpf  e ,  Formen ders. 
285. 

Extenso ren  (lange)  der  Einger,  Läh- 
mung ders.  310.  —  des  Fusses,  Lähmung 
ders.  327.  328.  331. 

Facialiskrampf  120.  — ,  Symptome 
dess.  339. 

Facialislähmung,  basale,  centrale 
338.  — ,  einseitige  263.  — ,  gekreuzte 
mit  Hemiplegie  83.  —  durch  Kern- 
läsion 363.  364.  — ,  Localisation  ders. 
83.  364.  —  bei  Mittelohrkrankheiten 
176.  — ,  peripherische  263.  338.  — , 
rheumatische  339.  392.  — ,  Symptome 
ders.  337.  338:  Geruchsstörungen  181, 
Geschmacksstörungen  184,  Sprachstö- 
rungen 52. 

Fallsucht  s.  Epilepsie. 

Farbenempfindung,  Prüfung  ders. 
bei  Nervenkranken  167. — ,  Vorkommen 
der  Störungen  ders.  168 :  bei  Stauungs- 
papille^, bei  Sehnervenatrophie  172. 

Fibrilläre  Zuckungen,  Untersuch- 
ung auf  solche  116.  —  Vorkommen 
ders.  116,  bei  degenerativer  Muskel- 
atrophie 74. 

Fieber  bei  Nervenkrankheiten  228.  229. 


— ,  Fehlen  der  Sehnenreflexe  bei  star- 
kem 148.  — ,  Störungen  derHirnthätig- 
keit  durch  solch.  230. 

Fieber frost,  Entstehung  dess.  116. 

Finger  musculatur,  Diagnose  der 
Lähmungen  ders.  309 — 316. 

Fingerstellungen,  abnorme  durch 
Innervationsstörungen  der  Muskeln 
314.  315. 

Flexibilitas  cerea  64. 

Flexoren  der  Finger,  Lähmung  ders. 
311.  314. 

Flimmerscotom,  diagnostische  Vei- 
werthung  dess.  bei  nervösen  Störungen 
175.  176. 

Friedreichische  Krankheit,  dia- 
gnostische Kennzeichen  ders.  414. 

F  u  n  c  t  i  o  n  s  p  r  ü  f  u  n  g  (bei  Nerven- 
kranken) des  Auges  167,  des  Empfin- 
dungsapparates 185,  des  Geschmacks- 
apparates 182,  der  Muskeln  54.  249. 
290.  316,  der  Nerven  (des  Gehirns)  332 
(des  Rückenmarks)  340  (sympathische) 
348,  des  Ohres  176,  des  Olfactorius 
180,  des  vegetativen  Apparates  228. 

F  u  s  s  m  u  s  c  u  1  a  t  u  r ,  Beweglichkeitsde- 
fecte  des  Fussgelenkes  und  der  Zehen 
bei  Innervationsstörungen  der  Muskeln 
des  Unterschenkels  u.  Fusses  323—331. 
— ,  elektrische  Prüfung  ders.  324.  330. 

Fussphänomen  (Fussclonus),  Prüfung 
dess.  138.  — ,  Vorkommen  dess.  bei 
Fussgelenker  krankung  u.  Periostläsion 
der  Unterschenkelknochen  146,  bei  ge- 
steigerter Reflexerregbarkeit  138,  bei 
spastischer  Spinalparalyse  91. 

Fussstellung  bei  Contractur  u.  Läh- 
mung des  M.  tibialis  antic.  328,  bei 
Lähmung  der  Interossei  pedis  331,  bei 
Peronaeuslähmung  325.  326. 

Grähnkrampf  Nervöser  285. 

Gang  Nervenkranker,  Beachtung  dess. 
bei  der  Untersuchung  18.  — ,  ataktischer 
102.  — ,  schleudernder,  stampfender 
102.  —  bei  spastischer  Spinalparalyse 
91,  bei  unvollständiger  Querläsion  des 
Rückenmarks  94. 

Gangrän,  spontane  symmetrische  bei 
Neurosen  232. 

Gaumen muskeln,  reflectorische  Er- 
regbarkeit ders.  132.  — ,  Untersuchung 
ders.  auf  Krampf  und  Lähmung  25S. 
267.  26S,  elektrische  268. 

Geberdensprache,  Untersuchung 
ders.  bei  Nervenkranken  33. 

Gedächtniss,  Abnahme  dess.  bei  Pa- 
ralytischen 30.  — ■,  Prüfung  dess.  bei 
abnormem  Seelenzustand  19. 

Gefässkrampf,  Symptome  dess.  287. 
288. 


Register. 


421 


Gefässlähmung,  Symptome  ders.  230. 
287.  —  durch  Rückenmarkläsion  90. 
94. 

Gefühl,  Untersuchung  Nervenkranker 
auf  dass.  185.  195. 

G  e hir n a t r  o  p h i  e ,  apoplektische  An- 
fälle hei  der  senilen  28. 

Ge hir n druck,  Symptome  und  Locali- 
sation  221.  372. 

Gehirnganglien,  Läsion  ders.  und 
deren  Symptome  95.  366. 

Gehirnkrankheiten,  Auästhesie  hei 
dens.  207.  — ,  Anosmie  durch  solche 
181.  — ,  Bewusstseinsstörungen  infolge 
ders.  (acute)  25  (chronische)  28  (sub- 
acute) 28.  — ,  Fehlen  der  Sehnenreflexe 
bei  dens.  148.  — ,  Krämpfe  durch  dies. 
120  (epileptische)  12(1.  — ,  Lähmungen 
durch  dies.  65.  09.  70  (halbseitige)  81. 
82.  — ,  Localisation  ders.  363.  — ,  Mus- 
kelatrophie durch  dies.  57.  — ,  syphi- 
litische 382.  383. 

Gehirnlähmung  65. 

Gehirntumoren,  apoplektische  An- 
fälle durch  dies.  27.  — ,  chronische  Be- 
wusstseinsstörungen durch  dies.  28.  — , 
Diagnose  ders.  373.  — ,  epileptische 
Anfälleinfolge  ders.  126.—,  Fehlender 
Sehnenreflexe  bei  solchen  148.  — ,  Ge- 
hörsstörungen  durch  dies.  178.  — ,  Lo- 
calisation ders.  372.  — ,  Stauungs- 
papille durch  dies.  169. 

Gehlähmung  Hysterischer  99. 

G  e  h  ö  r  s  s  t  ö  r  u  n  g  e  n ,  nervöse,  Diagnose 
ders.  177.  — ,  Entstehung  ders.  176. 
258.  — ,  Hallucinationen  179.  — ,  sub- 
jective Empfindungen  178.  258. 

Gelenkerkrankungen,  nervöse  233. 
234.  — ,  gesteigerte  Seimenreflexe  hei 
dens.  146.  — ,  Muskelatrophie  durch 
solche  58. 

Genitalien,  Untersuchung  ders.  bei 
Nervenkranken  244,  auf  Bildungsfehler 
246. 

Geruchapparat,  Parästhesien  dess. 
181.  — ,  Ueherempfindlichkeitdess.  181. 
— ,  Unempfindlichst  ders.  181. — Unter- 
suchung dess.  ISO. 

Geschlecht,  Einfluss  dess.  auf  die 
Erkrankung  des  Nervensystems  8. 

Geschlechtstrieb,  Anomalien  dess. 
bei  Nervenkranken  23.  244.  —  bei 
Rückenmarkläsion  92.  —  Tabischer  387. 

G  e  s  c  hm  a  c  k  s  ce  nt  r  um ,  Localisation 
dess.  370. 

Geschmacksempfindung,  Prüfung 
ders.  182,  elektrische  183. 

Gesichtsatrophie,  halbseitige,  Re- 
lation ders.  zur  Nervenläsion  232. 

G  e  s  i  c  h  t  s  a  u  s  d  r  u  c  k  bei  abnormem  see- 
lischen Zustand  17.  18. 


G  e  s  i  c  h  t  s  b  i  1  d  u  n  g ,  neuropathische 
246. 

Gesichtsfeld,  Einschränkung  dess. 
168,  concentrische  172,  bei  Sehncrven- 
atrophie  172,  bei  Stauungspapille  169. 
— ,  Untersuchung  dess.  bei  Nerven- 
kranken 168. 

Gesichtsmuskeln,  mimische,  Unter- 
suchung ders.  auf  Beweglichkeits- 
defecte"  259—263,  elektrische  263. 

G  e  s  i  c  h  t  w  a  h  r  n  e  h  m  u  n  g  e  n ,  subj  e  c- 
tive  s.  Empfindungen,  subjective.  — , 
Verlust  der  Erinnerung  an  solche  in- 
folge nervöser  Störungen  41. 

Gespräch  mit  Nervenkranken  zur  Prü- 
fung des  seelischen  Zustandes  ders. 
18.  32.  33. 

Gewerbe-  ü.  Fabrikbetriebe,  ge- 
fahrbringende Einwirkung  ders.  auf 
das  Nervensystem  der  Arbeiter  10. 

G  i  b  b  u  s ,  Untersuchung  der  Wirbelsäule 
Nervenkranker  auf  solchen  227. 

Gifte,  Wirkung  ders.  auf  das  Nerven- 
system 7.  —  auf  die  Sehnenreflexe  146 ; 
s.  auch  Intoxicationen. 

Glanz  haut  (glossy  skin)  bei  Läsion 
peripherischer  Nerven  231. 

Gleich  g  e  w  i  c  h  t  s  s  t  ö  r  u  n  g  e  n  A  takti- 
scher 103.  Brach-Romberg'sches  Sym- 
ptom ders.  103.  — ,  subjective,  Prüfung 
auf  solche  197.  — ,  Vorkommen  ders. 
28,  in  Gemeinschaft  mit  subjectiven 
Gehörsempfindungen  29. 

Glieder,  Missbildungen  ders.  bei  neu- 
ropathisch  belasteten  Personen  246. 
— ,  Prüfung  des  Bewusstseins  von  der 
Lage  ders.  196. 

Gliomatosis  spinalis,Diagnoseders. 
79.  400.  — ,  Localisation  ders.  361.  — , 
Symptome  ders.  SO.  400 :  Entartungs- 
reaction  164,  Gefühlsstörungen  209. 
400,  Gelenkerkrankungen  234. 

Gliosis,  s.  Gliomatosis  spinalis. 

Glossopharyngeusläsion,  Func- 
tionsstörungen  durch  dies.  339. 

Glutäalmuskellähmung  317.  — , 
einseitige  u.  doppelseitige  318. 

Glutäusreflex,   Prüfung   dess.   134. 

Glykosurie  infolge  nervöser  Störun- 
gen 241. 

Graphospasmus,  Untersuchung  auf 
solchen  bei  Nervenkrankheiten  48. 

Grössenwahn  der  Paralytiker  30. 

Haarkrankheiten  infolge  Erkran- 
kungen des  Nervensystems  232. 

Halbseitenläsion  des  Rückenmarks, 
diagnostische  Kennzeichen  ders.  89. 362. 

Hallucinationen,  Begriff  u.  Formen 
ders.  22.  23.  —  im  epileptischen  Deli- 
rium 24.  —  des  Gehörs  bei  Psychosen 


422 


Register. 


179.  — .  Gesichtsausdruck  li.  Körper- 
haltung- bei  dens.  18. 

Halsmark,  Querläsion  dess.  u.  deren 
Symptome  93.  358,  Localisation  dies. 
359. 

Halsmuskeln,  Innervationsstörungen 
ders.  262.  270.  273—276. 

Halsnerven,  Erscheinungen  der  Läsion 
der  vier  oberen  340,  der  vier  unteren 
342.  — ,  Localisation  spinaler  Herde 
im  Gebiete  ders.  358. 

Handmuskeln,  Bewegungsstörungen 
der  Hand  durch  Lähmungen  ders. 
308—316. 

Handphänomen,  Entstehung  dess. 
139. 

Handstellung,  abnorme  durch  Läh- 
mung der  Vorderarm-  und  Handmus- 
culatur  308.  310.  311.  312. 

Harnapparat,  Untersuchung  dess.  bei 
Nervenkranken  241. 

Harndrang,  vermehrter  durch  Nerven- 
störungen 243. 

Harnröhrenmusc  ula  tur ,  tonische 
Contraction  ders.  290. 

Haut  mal  s.  Epilepsie. 

Hautanomalien  bei  Nervenerkran- 
kungen 230.  246 :  anästhetischer  Theile 
201. 

Hautempfindlichkeit,  Prüfung 
ders.  185. 192.  — ,  abnorme  Phänomene 
bei  ders.  194.  —  durch  Elektricität 
188.189. — durch  Messung  der  Schmerz- 
empfindlichkeit 188.  189,  des  Tast-  u. 
Druckgefühls  186.  187,  des  Tempe- 
ratursinns 187.  188,  der  Zeit  zwischen 
Reiz  u.  Empfindung  189. 

Hautreflexe  132.  — ,  diagnostische  Be- 
deutung ders.  143.  — ,  Fehlen  ders. 
144.  — ,  Formen  ders.  133.  — ,  ge- 
steigerter 143.  —  bei  completer  Läh- 
mung 74.  — ,  Prüfung  ders.  133.  — 
bei  Querläsion  des  Rückenmarks  93. 
— .  verminderte  144. 

Hemiageusis  anterior  183.  ■ —  totalis 
184. 

Hemianästhesie  199.  —  bei  der 
Brown-Sequard' sehen  Lähmung  89.  — , 
cerebrale  202.  207.  — ,  Localisation 
ders.  202.  203.  — ,  totale  202.  — , 
Unterscheidung  organischer  u.  func- 
tioneller  (hysterischer)  204.  205.  —  in 
Verbindung  mit  Anosmie  181.  202,  mit 
Hemianopsie  174.  202.  203,  mit  Schwer- 
hörigkeit 178.  202. 

Hemianopsie  (Hemiopie),  dauernde 
173.  — ,  doppelseitige  174.  — ,  elek- 
trische Untersuchung  des  Auges  bei 
ders.  168.  — ,  Entstehung  u.  Locali- 
sation ders.  173—175.  — ,  gleichseitige 
173.  174.  — ,  homonyme  rechtsseitige 


168.  — ,  indirecte  174.  — ,  linksseitige 

173.  — ,  nasale  168.  175.  — ,  occipitale 

174.  — ,  Prüfung  auf  dies.  168.  — , 
temporale  168. 175.  — ,  Unterscheidung 
ders.  von  Alexie  40.  —  in  Verbindung 
mit  Hemianästhesie  202.  203.  205. 

Hemiathetosis  132. 

Hemichorea,  Erscheinungen  u.  Vor- 
kommen ders.  130. 

H  e  m  i  c  o  n  t  r  a  c  t  u  r  64.  —  in  Verbindung 
mit_  Hemiplegie  86. 

Hemihyperästhesie,  Vorkommen 
ders.  212. 

Hemikranie  s.  Migräne. 

Hemiopische  Pupillenreaction, 
diagnostische  Bedeutung  ders.  174. 175. 

Hemiparesis  66. 

Hemiplegie  66.  —  durch  Apoplexie 
26.  — ,  Choreabewegungen  bei  ders. 
130.  — ,  Contracturen  bei  ders.  86.  — , 
diagnostische  Kennzeichen  ders.  85. 
— ,  elektrische  Erregbarkeit  bei  ders. 
157.  — ,  functionelle  (hysterische)  97. 
9S.  — ,  gekreuzte  oder  alternirende 
66.  83.  86.  — ,  Kraft  der  nicht  ge- 
lähmten Glieder  bei  ders.  86.  — ■,  Lo- 
calisation der  Läsion  ders.  81 — 86.  — , 
partielle  86.  • —  bei  progressiver  Para- 
lyse 30.  — ,  spinale  85.  — ,  totale  directe 
u.  indirecte  82. 

Herderkrankungen  in  der  hinteren 
Schädelgrube ,  tetanieartige  Anfälle 
durch  dies.  128. 

Herpes  zoster,  Diagnose  dess.  392. 
393.  —  durch  Läsion  peripherischer 
Nerven  231. 

Herzklopfen,  nervöses  237. 

Herzthätigkeit,  nervöse  Störungen 
ders.  236.  — ,  Untersuchung  ders.  bei 
Nervenkranken  287. 

Hipp us  durch  Innervationsstörung  des 
Sphincter  pupillae  257. 

Himabscess,  apoplektischer  Insult 
durch  dens.  27.  — ,  chronische  Bewusst- 
seinsstörungen  bei  dems.  28.  —  epi- 
leptische Anfälle  durch  dens.  126.  — , 
Fehlen  der  Sehnenreflexe  bei  dems. 
148.  — ,  Stauungspapille  durch  dens. 
170. 

Hirnblutung,  apoplektischer  Insult 
durch  dies.  25.  26. 

Hirnhauterkrankungen  s.  Menin- 
gitis. 

Hirnnervenkeme,  Läsion  ders.  und 
deren  Symptome  71.  72.  363.  364.  365. 

Hirnnervenläsion,  Functions- 
störungen  durch  dies.  332 :  Hemiplegie 
der  Glieder  S3.  85.  — ,  Localisation 
ders.  85.  363.  364. 

Hirnrinde,  Degeneration  ders.  bei  Pa- 
ralytischen 30.  43.  51.  — ,    Läsionen 


Register. 


423 


ders.  367 :  als  Ursache  von  Ataxie  105, 
vmi  Lähmungen  71.  94  (halbseitigen) 
82.  95,  von  Sprachstörungen  50.  — , 

Localisation  der  Läsionen  ders.  307  bis 
370.  — ,  Reizung-  ders.  als  Ursache  des 
epileptischen  Anfalls  125.  — ,  Unter- 
scheidung einer  functiönellen  Störung 
ders.  infolge  einer  Psychose  von  einer 
organischen  Gehirnaffection  24. 

Hirnschenkelläsion,  Symptome 
ders.  b3.  95.  — ,  Localisation  der  Läsion 
aus  den  Symptomen  304.  305. 

H  ü  f  t  ge  1  e  n  k  bewe  g  ung  en,  Unter- 
suchung der  Muskeln  für  dies.  316. 

H  ü  f  t m u sc ul at u r ,  Untersuchung  ders. 
auf  Beweglichkeitsdefecte  316  —  321, 
elektrische  317.  319.  320. 

Hydrocephalus,  chronischer  der  Er- 
wachsenen 373.  — ,  Kopfform  bei 
solchem  220.  — ,  psychische  Erschei- 
nungen dess.  28.  — ,  Veranlassung  zu 
epileptischen  Anfällen  126,  zu  Gehör- 
störungen 17S,  zu  spastischer  Para- 
plegie  91.  373,  zu  Stauungspapille  169. 
170. 

Hypästhesie,  Wesen  ders.  198. 

H  y  p  e  r  ä  m  i  e ,  locale  der  Haut  gelähmter 
Glieder  230. 

Hyperästhesie,  Charakteristica  ders. 
198.  —  des  Acusticus  180.  —  ge- 
lähmter Muskeln  79.  89.  —  der  Geni- 
talien 244.  245.  —  des  Geschmack- 
apparates 183.  —  der  Haut  198,  Ent- 
stehung imd  Localisation  dieser  211. 
212.  — ,  halbseitige  212.  —  des  Olfac- 
torius  bei  nervösen  Personen  181. 

Hyperalgesie,  Relation  ders.  zur 
Hyperästhesie  198.  — ■  bei  spinalen 
Monoplegien  89. 

Hypergeusis  Hysterischer  183. 

Hyperidrosis  bei  organischen  und 
functiönellen  Nervenkrankheiten  231. 

Hyperosmia  nervöser  Personen    181. 

—  durch  Reizung  des  Nerv.  Olfakto- 
rius 332. 

Hypertrophie  der  Muskeln  s.  Muskel- 
hypertrophie. —  der  Nerven  59. 

Hypnose,  Bewusstseinstrübungen  mit 
Delirien  in  ders.  22. 

Hypochondrie,  Entstehung  ders.  237. 
— ,  Gesichtsphantasmen  bei  ders.  175. 

—  der  Paralytischen  30.  — ,  Schmerz- 
empfindung bei  ders.  219.  — ,  Unter- 
scheidung ders.  von  Neurasthenie  404. 

Hypoglossusläsion,  Diagnose  ders. 
340.  — .  Kernläsion  303.  — ,  Lähmungs- 
erscheinungen ders.  85.  340.  — ,  Sprach- 
störungen infolge  ders.  52.  85. 

Hvpokinesis,  Gharakteristicum  ders. 
66. 

Hysterie  404.  —  Aura  hysterica  121. 


— ,Clownismus  ders.  121.  — ,  Diagnose 
ders.  121.  404.  408.  — ,  „grosse  An- 
fälle" ders.  121.  408.  — ,  Perioden 
ders.  121.  122.  — ,  Stigmata  ders.  405. 
— ,  Symptome  ders.  121.  405:  Amau- 
rose (doppelseitige)  173,  Bewusstseins- 
störungen  25.  407,  Borborygmen  121. 
122,  Choreabewegungen  130,  Empfin- 
dungsstörungen 25.  121.  203.  204.  205. 
200.  212.  219.  224.  405,  Funkensehen 
175,  Geschmacksanomalien  183,  Ge- 
sichtsfeldeinschränkung  172,  Krämpfe 
120  (coordinirte)  128.  407,  Lähmungs- 
erscheinungen 97,  Ovarie  25.  123, 
perverse  Geruchsempfindungen  181, 
Taubheit  178,  Zittern  115.  110.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  Neurasthenie 
408,  von  Neuritis  350.  — ,  Wesen  ders. 
404. 
Hysterogene  Punkte  Hysterischer, 
Lage  ders.  123. 

Jactation,  Wesen  ders.  22. 

Ichthyosis  durch  Läsion  peripheri- 
scher Nerven  231. 

Idiomusculär e  Contraction,  Prü- 
fung ders.  150.  — ,  Steigerung  ders. 
durch  krankhafte  Reactionen  150. 

Idiosynkrasien  Nervöser  23. 

Idiotie,  Entwicklung  der  Sprache  bei 
ders.  47.  — ,  Unterscheidung  ders.  von 
paralytischem  Blödsinn  31. 

Illusionen  Nerverkranker  22. 

Ilio psoas,  Contractur  u.  Parese  dess. 
319. 

I  m  p  u  1  s  i  v  e  A  c  t  e  bei  abnormem  Seelen- 
zustand  23.  — ,  Unterscheidung  ders. 
von  coordinirten  Krämpfen  128. 

Incontinentia  alvi  infolge  Inner- 
vationsstörungen  237.  —  urinae  bei 
Bewusstseinsstörung  242,  epileptischer 
24.  242.  —  durch  Rückenmarksläsion 
92.  —  paradoxa  289.  —  paralytica 
289.  290. 

Infectionen,  ätiologischer  Einfluss 
ders.  auf  das  Nervensystem  7. 

Infectionskrankheiten,  acute,  epi- 
leptische Krämpfe  im  Beginn  ders.  bei 
Kindern  120.  ■ — ,  Gefühlsstörungen  bei 
einzelnen  211.  222.  223.  — ,  multiple 
Neuritiden  im  Anschluss  an  solche  351. 
353.  380.  382. 

Influenza,  nervöse  Störungen  im  Ge- 
folge ders.  380. 

Infraspinatusu.  supraspinatus, Func- 
tionsprüfnng  ders.  300.  301. 

Insula  Reilii,  Paraphasie  durch  Lä- 
sion ders.  51.  370. 

Intentionszittern  110.  — ,  Unter- 
scheidung dess.  von  Ataxie  104.  111. 
— ,  Typus  dess.  111. 


424 


Register. 


I  n  t  e  r  c  o  s  t  a  1  in  u  s  k  e  1  n .  Untersuchung 
auf  ihre  Thätigkeit  beim  Athmen 
280.  281. 

Int  erossei  des  Fusses,  Lähmung  ders. 
331.  —  der  Hand ,  Lähmung  ders. 
311.  312. 

Intoxicationen,  nervöse  Störungen 
durch  solche  7 :  Amblyopie  u.  Amau- 
rose 173,  Anästhesie  207.  211.  — .  Be- 
wusstseinsstörungen  23.  (Teschmacks- 
st  orangen  IS 3.  Koma  21.  Kopfschmerz 
223,  Krämpfe  120,  Myosis  111.  Neu- 
ritis 351.  353.  37S.  379,  Ohrensausen 
(durch  Chinin  u.  Salicyls.)  179,  cen- 
trale Scotome  173,  Zittern  115. 

Iridodonesis  durch  Innervationsstö- 
rungen  257. 

Irritabilität  des  Herzens  bei  reiz- 
barer Schwäche  des  Nervensystems  236. 

Ischiadicusläsion,  Symptome  ders. 
345,  Localisation  dies.  357.  — ,  Vor- 
kommen ders.  316. 

Ischias,  Diagnose  ders.  392. 

Ischuria  paralytica,  Entstehung 
ders.  2S9. 

Kälteempfindlichkeit  der  Haut, 
Untersuchung  ders.  1SS. 

Karus    durch  nervöse  Affectionen  21. 

Kataleptische  Starre,  Symptome 
ders.  64. 

Kaumuskeln.  Krampf  u.  Lähmung 
ders.  263.  264. 

K  a  u  m  u  s  k  e  1  r  e  f  1  e  x ,  Prüfung  dess .  bei 
Nervenkranken  137. 

Kehlkopf,  Untersuchung  dess.  auf  Be- 
wegungsstörungen der  Muskeln  dess. 
272.  273,  auf  sensorische  Störungen 
234. 

Keuchhusten.  Ner  venst  orangen  durch 
dens.  380. 

Kiefermuskeln,  Untersuchung  ders. 
auf  ihre  Bewegungsfähigkeit  262  bis 
264.  271. 

Kinderlähmung,  cerebrale  s.  Ence- 
phalitis acuta. 

Klauenhand,  Lähmungserscheinungen 
ders.  312. 

Kleinhirngeschwülste,  Fehlen  der 
Sehnenreflexe  bei  solchen  14S.  366. 
—  Symptome  und  Localisation  ders. 
372. 

Kleinhirnläsion,  Localisation  ders. 
366.  —  Symptome  ders.  366:  Schwin- 
del 29.  Zwangsbewegungen  12S.  129. 

Kniegelenkbewegungen,  Unter- 
suchung der  Muskeln  für  diese  321 
bis  323. 

Kniephänomen,  diagnostischerWerth 
dess.  147.  148.  — ,  Fehlen  dess.  147. 
14s.  — .  gesteigertes  13S.  —  bei  Ge- 


sunden 136.  —  bei  Greisen  14S.  — 
bei  progressiver  Paralyse  30.  —  bei 
Querläsion  des  Rückenmarks  92.  — , 
Reflexbogen  dess.  93.  —  bei  spastischer 
Spinalparalyse  91.  — ,  Untersuchung 
dess.  135  (durch  das  Jendrassik'sche 
Verfahren)  136. 

Knie  schlottern,  Entstehung  dess. 
109. 

Knochenerkrankungen  durch  Er- 
krankung des  Nervensystems  233. 

Körperhaltung  Nervenkranker,  Be- 
achtung ders.  beider  Untersuchimg  17. 

Körpertemperatur.  diagnostische 
Bedeutung  ders.  bei  Nervenkrank- 
heiten 22S:  gesunkene  229.  230,  ge- 
steigerte  228   (locale  der  Haut)   230. 

Körperzustand,  Untersuchung  dess. 
bei  Nervenkrankheiten  228. 

Koma  im  Anschluss  an  einen  apoplekt. 
Insult  26,  an  einen  epileptischen  An- 
fall 134.  — ,  Formen  dess.  24.  —  bei 
Meningitis  28.  — ,  Wesen  dess.  21. 

Kopfhaltung  bei  Augenmuskelläh- 
mung 253,  bei  Halsmuskelkrampf  275, 
bei  Schultermuskelcontractur  292. 

Kopfhaut,  Untersuchung  ders.  auf 
Narben   bei   Nervenkrankheiten    227. 

Kopfschmerz,  diagnostische  Merk- 
male dess.  220.  — ,  habitueller  224. 
— ,  halbseitiger  221,  s.  auch  Migräne. 
— ,  reflectorischer  223.  — ,  syphiliti- 
scher 222.  — ■  Vorkommen  dess.  220 
bis  224. 

Krämpfe  61.  — ,  Beschäftigungs- 
krämpfe 119.  — ,  cerebrale  120.  — , 
coordinirte  128.  — ,  Diagnose  ders. 
HS.  — ,  directe  118.  — ,  epileptiforme 
nach  Apoplexien  26.  — .  epileptische 
24.  123.  124.  — ,  halbseitige  120.  — , 
hysterische  121.  128.  — .  klonische  116. 

117.  —  gelähmter  Muskeln  74.  — 
durch  Läsion  sensibler  und  motorischer 
Nerven  119.  — ,  Nebenerscheinungen 
bei  solchen  117.  — ,  reflektorische  62. 

118.  — ,  spinale  120.  — ,  tetanische 
127.  — ,  tonische  116.  117.  — ,  tonisch- 
klonische  117.  — ,  umschriebene  119. 
— ,  Unterscheidung  ders.  von  Läh- 
mungen 69.  — ,  Untersuchung  auf 
solche  99. 

Kraft  sinn,  Prüfung  dess.  bei  Nerven- 
kranken 195. 

Kr  allen  fu  ss  durch  Muskellähmung 
331. 

K r  a mp  f zittern ,  Unterscheidung  dess. 
von  paralytischem  Zittern  110. 

Krankengeschichte  Nervenkranker 
4.  — ,  Feststellung  ders.  durch  die 
Beschwerden  des  Kranken  15,  durch 
die    Untersuchung    des    Kranken    in 


Register. 


425 


Bezug  auf  seine  Bewegungsfähigkeit 
53,  in  Bez.  auf  sein  Empfindungsver- 
mögen 166 .  in  Bez.  auf  seinen  seeli- 
schen  Zustand  1".  in  Bez.  auf  seine 
sprachliche  Ausdrucksweise  32. 
Kyphose,  bogenförmige  und  winkel- 
förmige, der  Wirbelsäule,  Untersuch- 
ung auf  solche  227. 


Lähmung,  atrophische  6(3.  72.  75.  — , 
Ausbreitung  deis.  76.  — ,  Brown- 
Sequard'sche  85.  89.  208.  — ,  centrale 
71  (Kennzeichen)  72.  73.  74.  75.  94 
(Localisation)  81.  — ,  centrale  spinale 
90.93.  — .  Charakteristiea  einer  solchen 
65.  — ,  Combinationen  organischer  u. 
functioneller  99. — ,  corticale  71.  94. 
95.  — ,  diffuse  71.  72.  — ,  doppelseitige 
centrale  90.  — .  Entartungsreaction  hei 
ders.  164.  — ,  Entstehung  ders.  69.  — , 
functionelle  oder  seelische  70.  97.  — , 
Grade  u.  Formen  ders.  66.  — ,  halb- 
seitige s.  Hemiplegie.  — ,  hysterische 
97  (Diagnose  ders.)  98.  99.  — ,  indivi- 
duelle 71.  — ,  ischämische  (als  Ursache 
der  Muskelatrophie)  5b.  — .  Kernläh- 
mung  71.   72.   (diagn.  Merkmale)  76. 

77.  — .  organische  70.  — ,  peripherische 
70  (diagn.  Zeichen)  72.  73.  75.  94  (Lo- 
calisation) 76.  SO.  — ,  pseudohypertro- 
phische 66.  — ,  schlaffe  66.  73.  96.  — , 
spastische  66.  75.  — ,  spinale  85.  88. 
90.  92.  93.  — ,  Symmetrie  ders.  71.  — , 
Unterscheidung  centraler  tou  periphe- 
rischer 71. 75,  peripherischer  von  Kern- 
lähmung 76.  81,  rein  musculöser  Läh- 
mung von  peripherischer  Nervenläsion 

78.  — ,  Untersuchung  auf  solche  66. 67. 
— ,  Ursache  u.  Sitz  ders.  65.  — ,  Ver- 
lauf ders.  77. 

Lagophthalmus  paralyticus  259.  — 
spasticus  249. 

Lalopathien  durch  Störungen  des 
Nervensystems  34. 

Laryngeus -Läsion,  Symptome  ders. 
339.  340. 

Larynxkrisen,  A eusserungen  u.  Vor- 
kommen ders.  235. 

Lateralsklerose,  amyotrophi- 
sche, Diagnose  ders.  39S.  — ,  elek- 
trische Erregbarkeit  bei  ders.  158. 
164.  — ,  Localisation  ders.  361.  — , 
Sensibilität  bei  ders.  210.  — ,  Symptome 
ders.  57.  399. 

Latissimus  dorsi,  Lähmungserschei- 
nungen dess.  301. 

Lebensalter,  ätiolog.  Bedeutung  dess. 
bei  Nervenkrankheiten  8. 

Leitungsap hasie,  Entstehung  ders. 
39. 


L  endenmarkläsionen,  diagnostische 
Kennzeichen  ders.  92.  357. 

Lendennerven-Läsion,  Symptome 
ders.  344.  345. 

Lese  Störungen  Nervenkranker,  Prü- 
fung auf  solche  19.  33.  —  der  Para- 
lytischen 30.  46. 

Lethargus,  "Wesen  dess.  21. 

L  i  d  s  p  a  1 1  e  bei  abnormem  Seelenzustand 
17.  — ,  Prüfung  der  reflectorischen 
Erregbarkeit  ders.  132.  — ,  Verenge- 
rung ders.  bei  Lidmuskellähmung  2V.I 
250. 

Localisation  der  Anarthrie  52.  —  der 
explosiven  u.  seandirenden  Sprache  52. 

—  der  Gehirnläsionen  364.  —  der  He- 
miplegie 81.  —  der  Monoplegien  (cere- 
brale) 88  (spinale)  89.  —  der  motori- 
schen Aphasie  50.  — der  Oblongata-Lä- 
sion363.  — der  organischen  Lähmung 
70.  71.  94 — 96.  —  der  Paraphasie  51.  — 
der  Paraplegie  91.  —  der  Rücken- 
marksläsionen  357  (Querläsion)  93.  — 

—  der  Totalaphasie  51.  —  der  Wort- 
blindheit 51.  —  der  Worttaubheit  50. 

L  o  c  a  1  i  s  a  t  i  o  n  s  v  e  r  m  ö  g  e  n ,  Prüfung 
dess.  bei  Kranken  193,  durch  Messung 
189. 

Logorrhoe  nervös  Erregter  47. 

Lord  ose  der  Wirbelsäule,  Untersuch- 
ung auf  solche  227. 

Lu fthunger  bei  Bulbäraffectionen  235. 

Lungenblutungen,  nervöse  Hyste- 
rischer 235. 

L  ymphdrüsenschwellungen,  Ner- 
vensymptome ders.  241. 

Lyssa,  Diagnose  ders.  395.  — ,  Krämpfe 
durch  dies.  127. 

Magenaffectionen  Nervenkranker, 
functionelle  239,  Unterscheidung  von 
organ.  Magenkatarrh  240.  — ,  krampf- 
hafte und  paralytische  237.  288.  — , 
Schwindelgefühl  durch  solche  29. 

Magenkrisen  bei  spinalen  Affectionen 
238.  239. 

Makrocephalie  und  Mikrocepkalie, 
diagnostische  Bedeutung  ders.  für  ner- 
vöse Störungen  226. 

Malaria,  Nervenstörungen  infolge  ders. 
380. 

Mal  perforant  durch  Degeneration 
peripherischer  Nerven  232. 

Mamniareflex,  Prüfung  dess.  133. 

Manegebewegungen,  Char akteristi- 
cum  ders.  128. 

Medianusnerv,  Läsion  dess.  u.  deren 
Erscheinungen  342. 

Medicamente,  diagnostische  Verwen- 
dung solcher  bei  Nervenkrankheiten 
246:  bei  Migräne  412. 


426 


Register. 


Melancholie,  Anästhesie  bei  ders.  20(5. 
—  attonita  s.  cum  stupore  22.  — ,  Ge- 
sichtsausdruck bei  ders.  18.  — ,  Unter- 
scheidung ders.  von  Neurasthenie  403. 

Meniere'scher  Symptomencom.pl ex, 
Ckarakteristicum  dess.  29.  — ,  diagno- 
stiscke  Verwerthung  dess.  178. 

Meningitis  cerebralis,  Bewusst- 
seinsstörungen  durch  dies.  24.  28.  — , 
epileptiscke  Anfälle  bei  ders.  126.  — , 
gummöse  382.  — ,  Kopfschmerz  durch 

.  dies.  220.  — ,  Stauungspapille  bei  ders. 
170.  — ,  tetaniscke  Krämpfe  durch  dies. 
127.  — spinalis,  diagnostische  Sym- 
ptome ders.  225  (Wurzelsymptome)  361. 

Metallvergiftungen,  neuritiscke 
Symptome  ders.  378. 

Meteorismus  Nervöser  240. 

Migräne  221.  — ,  Augenaffectionen 
durch  dies.  173.  176.  222.  — ,  Diagnose 
ders.  222.  412.  —  durch  Eingeweide- 
würmer 237. — ,  idiopathische  u.  reflec- 
torische  222.  — ,  Ohrgeräusche  im  Be- 
ginn ders.  179.  222. 

Milz  Schwellung  bei  Nervenkrank- 
heiten 241. 

Mimik  s.  Gesichtsausdruck. 

Mitbewegungen  101.  — ,  Vorkommen 
ders.  129. 

M  i  1 1  e  1  o  h  r  e  r  k  r  a  n  k  u  n  g  e  n ,  Ge- 
schmacksstörungen bei  dens.  184.  — , 
Nervenlähmung  durch  solche  176. 

Mogigraphie,  Schrift  bei  ders.  48. 

Mogilalie,  Unterscheidung  ders.  von 
Alalie  49. 

Monocontractur  64. 

Monomanien  durch  Nervenstörungen 
23. 

Monoplegie  66.  — ,  cerebrale  87  (bra- 
chialis  u.  cruralis)  88  (facialis)  87.  — , 
functionelle  oder  hysterische  98.  — , 
spinale  (cruralis)  88. 

Morbus  Basedowii,  Graefe'sches 
Symptom  bei  dems.  250.  — ,  Hautver- 
änderungen bei  dems.  231.  233.  — , 
Struma  bei  dems.  241.  — ,  Zittern  bei 
dems.  109.  114. 

Morbus  sacer  s.  Epilepsie. 

Morphinismus,  Tremor  durch  dens. 
115. 

Morvan'sche  Krankheit,  s.  Glioma- 
tosis  spinalis. 

Motilität,  Untersuchung  ders.  bei  Ner- 
venkranken 54.  65.  249,  mittelst  Kraft- 
messer 67. 

Motorische  Punkte  des  Arms  305. 
306,  des  Beins  (Hinterseite)  317  (Vor- 
derseite) 320,  des  Kopfs  261,  des 
Rumpfes  283,  des  Unterschenkels  324. 

Multiple  Sklerose,  Diagnose  ders. 
396.  — ,  Localisation  der  Läsion  ders. 


91.  361.  — ,  Symptome  ders.  396: 
Anästhesie  208,  apoplektische  Anfälle 
27,  Drehschwindel  29,  Intentionszittern 
111,  Sehnervenatrophie  171 ,  Sprach- 
störungen 52.  — ,  Unterscheidg.  ders. 
von  Dementia  paralytica,  Hysterie  u. 
Tabes  398,  von  Paralysis  agitans  112. 

Mundhöhle,  Bildungsfehler  d ers .  bei 
neuropathisch  belasteten  Personen  246. 
— ,  Prüfung  der  Musculatur  ders.  auf 
ihre  Beweglichkeit  260—263. 

Musculatur  Nervenkranker ,  Ernäh- 
rungszustand ders.  54.  — ,  Kraftleistung 
und  -Messung  ders.  67  —  69.  195.  — , 
Motilität  ders.  65.  —  Spannungszu- 
stand ders.  60.  63.  64,  bei  fehlenden 
Sehnenreflexen  146. 

Muskelatrophie  54.  — ,  articuläre  58. 
— ,  circumscripte,  individuelle  56.  — , 
degenerative  55.  58.  59,  chronisch  de- 
generative 57.  — ,  Diagnose  der  ein- 
zelnen Formen  58.  59.  399.  413.  — , 
diffuse  56.  — ,  einfache  57.  58.  —  mit 
Entartungsreaction  s.  degenerative. 
— ,  Inactivitätsatrophie  57.  — ,  juve- 
nile 59.  —  bei  Lähmung  66.  72.  75. 
— ,  neurotische  oder  neurale  59.  413. 
— ,  Sehnenreflexe  bei  ders.  146.  — , 
spinale  progressive  (Diagnose  ders.) 
398.  399.  — ,  Untersuchung  bei  ders. 

55,  elektrische  158.  164. 
Muskelbewusstsein,       Aufhebung 

dess.  bei  Hysterischen  196. 

Muskelerregbarkeit,  elektrische 
54.  55.  150.  152.  196.  — ,  faradische  153. 
159.  — ,  Fehlen  ders.  158.  — ,  galva- 
nische 153.  —  bei  Gelenkkrankheiten 
58.  —  bei  Hysterie  97.  — ,  qualitative 
153.  157.  159.  — ,  quantitative  153.157. 
— ,  Reizmomente  ders.  156.  — ,  Stei- 
gerung ders.  157.  — ,  Verminderung 
ders.  157.  158.  — ,  Zuckungsgesetz 
ders.  155.  — ,  mechanische  54.  55. 
137.  149.  — ,  Steigerung  ders.  150. 

M  u  s  k  e  1  g  e  f  ü  h  1  bei  der  Brown-Sequard- 
schen  Lähmung  89.  208.  — ,  Prüfung 
dess.  bei  Nervenkranken  196. 

Muskelhypertrophie  54.  — ,  ange- 
borene Eigenthümlichkeit  ders.  56.  — , 
Diagnose  der  verschiedenen  Formen 
ders.  57.  —  einer  Körperhälfte  56.  — , 
Pseudohypertrophie  54.  57.  — ,  wahre 

56.  57. 

Muskel  sinn,  Aufhebung  dess.  196.  — , 

Leistungen  dess.  196. 
Muskeltonus  60.  — ,  Aufhebung  dess. 

146.    — ,    reflectorischer   60.    62.   — , 
•    Steigerung  dess.  145. 
Mydriasis  paralytica  141.  142.  —  spa- 

stica  140,  Vorkommen  ders.  141. 
Myelitis  acuta  u.  chronica,  diagno- 


Register. 


427 


stische  Merkmale  ders.  401.  — ,  dif- 
t'n  sii.  EntartungsreactioD  bei  ders.  164. 
—  Krankheitsherd  ders.  361. 

Myosis,  Beobachtung  ders.  bei  Nerven- 
krankheiten 141.  —  paralytica,  Läsion 
ii.  Vorkommen  ders.  142. 

Myositis,  Relation  ders.  zur  Neuritis 
349. 

Myotonia  congenita  s.  Thomsen- 
sche  Krankheit. 

Myot onis che  Reaction,  diagnosti- 
sche Bedeutung  ders.  150.  165. 

N  a c li  e  in  pf  in  d  ung ,  Untersuchung  auf 
solche  194. 

N  a  c  h  s  p  r  e  c  h  e  n ,  Prüfung  Nervenkran- 
ker auf  dass.  33. 

Nackenstarre,  Entstehung  ders.  270. 

N  a  »•  e  1  a  f  f  e  c  t  i  0  n  e  n  hei  peripherischen 
Nervenläsionen  232. 

Nahrungshedürfniss,  abnormes  Ner- 
venkranker 23.  239. 

N  a  s  e  n  m  u  s  c  u  1  a  t  u  r ,  Lähmungserschei- 
nungen ders.  260. 

N  asenunters  u  c  h  u  n  g  bei  func- 
tionellen  u.  vasomotorischen  Störungen 
des  Kopfes  235. 

Nephritis,  nervöse  Symptome  ders. 
242.  381. 

Nervenbahnen,  motorische,  Läsion 
ders.  bei  organischer  Lähmung  69.  70. 
73.  81.  — ,  primäre  Degeneration  ders. 
u.  deren  Symptome  398. 

Nervendegeneration,  Entartungs- 
reaction  bei  ders.  164.  — ,  multiple 
148.  — ,  peripherische  232.  — ,  secun- 
däre  349. 

Nervenerregbarkeit,  elektrische 
150.  198.  — ,  faradische  152.  159.  — , 
galvanische  153.  154.  159.  198.  —  des 
Opticus  168.  —  des  Phrenicus  279.  — , 
qualitative  153.  157.  159.  — ,  quanti- 
tative 153.  154.  157.  — ,  Steigerung 
ders.  157.  — ,  Verminderung  ders.  157. 
158.  — ,  Zuckungsgesetz  155.—,  me- 
chanische 149. 

Nervengeschwülste,  Formen  und 
Symptome  ders.  60. 

Nervenkrankheiten,  endogene 
401.  — ,  ex 0  g  en e  378 :  durch  Alkohol- 
missbrauch 379.  —  durch  Blutgefäss- 
erkrankung  381.  —  durch  Infections- 
krankheiten,  acute  380,  chronische  382. 
—  durch  Metallvergiftung  378.  — , 
metasyphilitische  383.  —  durch  primäre 
Degeneration  der  motorischen  Bahn 
398.  — ,  selbständige  infectiöse  392. 

Nervenkerne,  motorische ,  periphe- 
rische Lähmung  bei  Läsion  ders.  71.  77. 

Nervenlähmung  65. 

Nervenschmerz       (excentrischer 


Schmerz),  Diagnose  auf  solchen  216. 
— ,  Entstehung  und  Charakteristicum 
dess.  215.  — ,  lanziuirender  218;  s. 
auch  Neuralgie. 

Nerven  seh  wund,  metasyphilitscher, 
Diagnose  dess.  383. 

Nervosität  (Neurasthenie),  Diagnose 
ders.  401.  — ,  Entstehung  ders.  237. 
— ,  leichte  Formen  ders.  402.  —  bei 
organischen  Leiden  403.  — ,  Symptome 
ders.  403  :  Kopfschmerzen  223,  Ohren- 
sausen 179,  Schwindelgefühl  29.  — , 
syphilitische  389. 

Neuralgie,  Diagnose  ders.  216.  — , 
echte  216.  —  durch  Geschwülste  der 
Nerven  60.  — ,  primäre  u.  seeundäre 
217.  — ,  rheumatische  392.  — ,  Sitz 
der  Läsion  bei  ders.  218. 

Neuritis  349.  —  ascendens,  migrans 
350.  — ,  Diagnose  ders.  350.  355.  356. 
392.  — ,  Entartungsreaction  bei  ders. 
164.  350.  — ,  Gefühlsstörungen  bei 
ders.  211.  212.  213.  350.  — ,  Hyper- 
trophie der  Nerven  bei  ders.  59.  80. 
— ,  multiple  146.  351.  — ,  primäre  in- 
fectiöse 392.  — ,  puerperale  353.  380. 
— ,  retrobulbäre  173.  — ,  Sebnenreüexe 
bei  ders.  146.  352.  — ,  syphilitische 
382.  3S3.  — ,  toxische  351.  353.  378. 
—  optica,  Entstehung  ders.  171. 

Neuropathische  Belastung  4.  ■ — , 
Relation  ders.  zur  Neurasthenie  402. 

Neurosen,  functionelle ,  diagnostische 
Kennzeichen  ders. :  Ohrensausen  179, 
Rückenschmerzen  225 ,  Verdauungs- 
störungen 237.  — ,  refiectorische  235. 
— ,  traumatische,  Schmerzempfindung 
bei  dens.  226. 

Nickkrämpfe,  Wesen  ders.  276. 

Nierenkrisen  durch  nervöse  Stö- 
rungen 243. 

Niesekrampf  285. 

Nymphomanie  bei  abnormem  Seelen- 
zustand  23. 

Nystagmus  111.  253.  — ,  ataktischer 
102.  —  bei  multipler  Sklerose  112. 

0  b  er  ar  minus  kein,  elektrische  Prü- 
fung ders.  292.  293.  294.  295.  298. 
300.  301.  302.  303.  — ,  Krampf-  und 
Lähmungserscheinungen  ders.  290  bis 
304. 

Ober  schenkelmuskeln,  Contrac- 
turen  u.  Lähmungen  ders.  318 — 323. 

Oblongata-Erkrankung  52.  364.  — , 
Localisation  ders.  363.  — ,  Symptome 
ders. :  Anästhesie  207 ,  anarthrische 
Störungen  52,  Ataxie  105,  Lähmung 
83.  85.  95. 

Obstipation  bei  Gehirn-  u.  Rücken- 
markskrankheiten 237.  240. 


428 


Kegister. 


Obturatorius(nerv)  -Läsion,  Sym- 
ptome ders.  345. 

Occipitalisneuralgie,  Diagnose 
ders.  392. 

Oculomotoriusläsion ,  Erscheinun- 
gen der  Kernläsion  365.  — .  Lähmungs- 
erscheinnngen  ders.  S3.  333. 

0  edem  bei  Neuritis  u.  multipler  Nerven- 
degeneration, diagnostische  Bedeutung 
dess.  81.  231. 

Oesopliaguskrampf.  Diagnose  dess. 
239.  270. 

Oesophaguslähmung,  Symptome 
ders.  269.  270. 

Ohnm  ach  tan  Wandlung.  Bewusst- 
sein  bei  ders.  222.  — ,  diagnostische 
Verwerthung  ders.  29. 

Ohr.  Bildungsfehler  dess.  als  Zeichen 
neuropathischer  Belastung  246.  — , 
Untersuchung  dess.  bei  Nervenkranken 
176.  262,  elektrische  179. 

Ohrenkrankheiten  mit  nervösen 
Symptomen  29. 

Ohrensausen,  diagnostische  Verwer- 
thung  dess.  17S.  179. 

0  h  r  m  u  s  k  e  1  n  (des  Mittelohrs) ,  Prüfung 
ders.  auf  ihre  Beweglichkeit  257.  258. 

0  lfactorinsläsion,  Functions- 
störnngen  ders.  332. 

Oligurie,  Vorkommen  ders.  beiGeistes- 
n.  Bückenmarkskrankheiten  241. 

Ophthalmoskopische  Untersuch- 
ung Nervenkranker  167.  — ,  diagno- 
stisch wichtige  Befunde  bei  ders.  168. 

Opisthotonus  279. 

Opticus,  Atrophie  dess.  171.  — ,  Läsion 
dess.  u.  deren  Erscheinungen  332.  333. 
— ,  Neuritis  dess.  171.  —  Stauungs- 
papille dess.  169.  — ,  Untersuchung 
dess..  elektr.  168. 

Organkrankheiten,  Ursache  func- 
tioneller  Nervenstörungen  6.  7. 

Organ  seh  merz,  diagnostische  Kenn- 
zeichen dess.  215. 

Ort  sinn  s.  Localisationsvermögen. 

Ovarie  (Ovarialhvperästhesie)  Hysteri- 
scher 25.  122.  245. 

Pachymeningitis    cervicalis  hyper- 

trophica  chronic,  Diagnose  ders.  362. 
Papillitis  s.  Neuritis  optica. 
Paraanästhesie  199.  —  Localisation 

der  Läsion  ders.  202. 
Paradoxe    Contraction,    Diagnose 

ders.  140. 
Paradoxe  Reaction   des  Ohres   bei 

elektrischer  Reizung  ISO. 
Parästhesien    119.    — ,    Entstehimg 

ders.  211.  212.  — ,  Formen  ders.  199. 

—  des  Genicks  181.  —  des  Geschmacks 

183.  — ,  halbseitige  infolge  apoplek- 


tischer  Anfälle  27.  —  gelähmter  Mus- 
keln 79.  92.  93.  94.  — .  Unterschei- 
dungen ders.  nach  dem  Sitze  und  der 
Ausbreitung  199. 

Parageusis.  Vorkommen  ders.  183. 

Paragraphie,  Diagnose  ders.  39.  — , 
literale  bei  progress.  Paralyse  44. 

Paralalie,  Charakteristicum  u.  Ent- 
stehung ders.  49. 

Paralexie  bei  Sprachstörungen  39. — 
bei  progressiv.  Paralyse  44. 

Paralysis  agitans,  Diagnose  ders. 
398.  — ,  Symptome  ders.  398:  Muskel- 
rigidität 65,  Zittern  112.  —  circum- 
scripta u.  universalis,  completa  u.  in- 
completa  66. 

Paralytische  Anfälle  30.  — ,  intel- 
lectueller  Zustand  bei  dens.  27.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  idiopathi- 
scher Epilepsie  126. 

Paramyoclonus  multiplex,  Symp- 
tome dess.  117. 

Paranoia,  Anästhesie  bei  ders.  206. 

Paraparesis  66.  —  spinalis  90:  Er- 
scheinungen 90,  Localisation  91. 

Paraphasie,  choreatische  39. — ,  Dia- 
gnose ders.  38.  — ,  Entstehung  ders. 
39.  — ,  isolirte  39.  — ,  literale  38  (bei 
progressiv.  Paralyse)  44.  — ,  Locali- 
sation ders.  51.  — ,  physiologische  38. 
— ,  Relation  ders.  zu  Agrammatismus 
39.  — ,  verbale  38.  — ,  Worttaubheit 
bei  ders.  40. 

Paraphrasie  der  Irren  47. 

Paraplegia  66.  —  cerebralis  88,  cer- 
vicalis 93 ,  hysterica  98 ,  spastica  90. 
91,  spinalis  90,  urinaria  242. 

Paresie  analgesique  s.  Gliomatosis 
spinal. 

Paresis,  Charakteristicum  ders.  66.  — , 
diagnostische  Kennzeichen  ders.  74.  — , 
Localisation  ders.  71.  — ■,  Untersuchung 
auf  dies.  67. 

Parkinson's  Krankheit  s.  Paralysis 
agitans. 

Parosmie,  Prüfung  ders.  181.  332. 

P  a  s  s  i  v  b  e  w  e  g  u  n  g  e  n  zur  Prüfung  der 
Bewegungsempfindung  195,  der  Mus- 
kelspannung 60.  61. 

Patellarclonus  durch  pathologisch 
gesteigerte  Erregbarkeit  138. 

Patellarsehnenreflex  s.  Kniephä- 
nomen. 

Pectoralismuskeln,  Krämpfe  ders. 
303.  — ,  Lähmung  ders.  302. 

Pemphigus  durch  Erkrankung  der 
Nerven  231. 

Perineuritis,  Diagnose  ders.  349. 

P  e  r  i  o  s  t  r  e  f  1  e x  e ,  entfernte  u.  gekreuzte 
139.  — ,  Prüfung  ders.  137. 

Peripherische  Nerven,  Läsion  ders. 


Register. 


429 


u.  deren  Erscheinungen  in  der  Empfin- 
dung 2lo,  in  der  Hautbeschaffenheit 
231,  "in  der  Motilität  96. 

Peristaltik,  Störungen  ders.  durch 
Nervenaffectionen  288.  289. 

Peronäalmuskeln,  Contractur  ders. 
326.  — ,  Lähmung  ders.  325.  329,  rheu- 
matische 392. 

Perversion  der  Empfindung  s.  Em- 
pfindungen. 

P  e  t  i  t  in  a  1 29.  — ,  Diagnose  dess.  3s2. 411. 

Phosphaturie  Nervenkranker  242. 

Phrenicus,  elektrische  Reizung  dess. 
und  deren  Erscheinungen  am  Atheni- 
apparat  27!). 

Plastische  Stellungen  Hysterischer 
122. 

Plexus  brachialis,  Läsion  dess.  u. 
deren  Symptome  99.  342.  343.  — 
c o  cc y g e u s ,  Läsion  dess.  346.  — 
1  u  in  b  a  li  s ,  Verletzungserscheinungen 
dess.  344.  345.  —  sacralis,  Func- 
tionsstörungen  durch  Läsion  dess.  345. 
346. 

Pneumonie,  Bewusstseinstrübung 
durch  dies.  24.  — ,  neuritische  Sym- 
ptome ders.  353.  380. 

Pocken,  nervöse  Störungen  durch  dies. 
380. 

Poliomyelitis  acuta,  diagnostische 
Kennzeichen  ders.  126.  146.  210.  393. 
— , Localisationders.  361.  —  chronica, 
Diagnose  ders.  393. 

Pollutionen  durch  Innervationsstö- 
rungen  244. 

Polyästhesie,  Wesen  und  Prüfung 
ders.  194.  199. 

Polyarthritisacuta,  neuritische  Sym- 
ptome ders.  3S0. 

Polymorphie  mu s  der  Vererbung 
krankhafter  Zustände  4. 

Polymyositis  acuta,  Sensibilität  hei 
ders.  210.  — ,  Unterscheidung  ders. 
von  Polyneuritis  acuta  353. 

Polyneuritis,  acute  351.  — ,  Diagnose 
ders.  352.  — ,  seeundäre  353.  ■ — ,  Sym- 
ptome ders.  351.  352. 

Polyurie  bei  functionellen  und  orga- 
nischen Nervenleiden  241. 

Pons  Varoli-Läsion,  Localisation 
ders.  364.  — .  Symptome  ders.  83.  85. 
95.  212. 

Po  st  epileptische  Erscheinungen 
24. 

Priapism  u  s  bei  functionellen  Neurosen 
244. 

Progressive  Paralyse,  Beginn  ders. 
389.  — ,  Diagnose  ders.  29.  388.  391. 
— .  Entstehung  ders.  durch  metasy- 
pliilitischen  Nervenschwund  383.  — , 
Symptome  ders.  30.  389.  391:  apoplek- 


tische  Anfalle  27.  389,  epileptische 
Anfälle  120.  389,  Geruchsanomalien 
182,  neurasthenische  Beschwerden  389, 
paralytische  Störungen  43.  44,  psy- 
chische Schwäche  30. 389. 390,  reflector. 
Pupillenstarre  141.  142.  390,  tabische 
Symptome  389,  Zittern  30.  115.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  einfacher 
Seelenstörung  31. 

Pseudoataxie,  Diagnose  ders.  104. 

Pseudobulbärparalyse,  diagnosti- 
sche Kennzeichen  ders.  87.  SS.  399. 

P  s  e  u  d  o  h  y  p  e  r  t  r  o  p  h  i  a  museul  orum 
54.  57.  —  lipomatosa  54.  —  progres- 
siva 57:  diagnostische  Kennnzeichen 
59,  Muskelhypertrophie  im  Beginne 
ders.  56. 

Psychische  Störungen,  Formen 
ders.  21.  — ,  Grade  ders.  23.  31.  — 
bei  intactem  Bewusstsein  und  deren 
Unterscheidung  von  den  Erscheinungen 
der  progress.  Paralyse  29.  —  in  Vei- 
bindung  mit  Emphndungsstörungen 
206. 

Ptosis,  organische  u.  hysterische  249. 

Pudendo-haemorrhoidalis-Lä- 
sion,  Functionsstörungen  ders.  346. 

Pulsfrequenz,  nervöse  Einflüsse  auf 
dies.  236. 

Pupillendifferenz  durch  nervöse 
Störungen  142.  143. 

P  upillenreaction  132.  —  bei  ab- 
normem Seelenzustand  17.  —  bei  Am- 
blyopie u.  Amaurose  173.  — .  consen- 
suelle  254.  — ,  diagnostische  Bedeutung 
ders.  140  — 143.  —  bei  progressiver 
Paralyse  30.  — ,  Prüfung  ders.  254. 
—  bei  Stauungspapille  170. 

Pupillenstarre,  reflectorische, 
diagnostische  Bedeutung  ders.  bei  Ner- 
venkrankheiten 143.  147.  — ,  Vor- 
kommen u.  Wesen  ders.  142.  257. 

P  y  r  a  m  i  d  e  n  b  a  h  n  e  n ,  Degeneration 
ders.  u.  deren  Aehnlichkeit  mit  pro- 
gressiv. Paralyse  31.  — ,  Symptome 
der  Läsionen  ders.  im  Gehirn  83.  85. 
95.  304.  306,  in  der  Oblongata  95.  364, 
im  Rückenmark  95.  96.  359.  300. 

Quadriceps  femoris,  Lähmungser- 
scheinungen dess.  321. 

Quecksiltterver giftung,  Zitterbe- 
wegungen durch  dies.  115.  355. 

Querläsion  des  Bückenmarks,  dia- 
gnostische Symptome  ders.  92.  93.  94. 
— ,  Localisation  ders.  357 — 359.  362. 

R  a  c  h  e  n  m  u  s  c  u  1  a  t  u  r ,  Untersuchung 
ders.  auf  Innervationsstörungen  269. 

Radialislähmung,  Erscheinungen 
ders.  343.  — .  rheumatische  392. 


430 


Register. 


Rasseneinf  Risse  auf  das  Nerven- 
system 10. 

I!  a  u  111  g  e  f  ü  li  1  der  Haut.  Untersuchung 
dem  bei  Nervenkranken  186.  193. 

R  e  c  ur  r  e  n  s  1  ä  h  ni  un  g ,  Functionsstü- 
ruugeu  durch,  dies.  273.  340. 

Reflexhogen  der  motorischen  und 
sensorischen  Muskelnerven  öS.  1-47.  — , 
Sehnenreflexe  hei  Unterbrechung  dess. 
146. 

Reflexe  132.  — .  angeborenes  Fehlen 
ders.  14b.  — ,  Einfluss  des  Willens  auf 
dies.  134.  — .  entfernte  139.  —  der 
Haut  s.  Hautreflexe.  — .  Herabsetzung 
oder  Fehlen  ders.  135.   139.  144.  146. 

—  bei  Hysterie  97.  — .  oberflächliche 
132.  — .  Prüfung  ders'.   54.   132.  134. 

—  der  Pupillen  132.  —  bei  Querläsion 
des  Rückenmarks  93.  360.  —  der 
Sehnen  s.  Sehnenreflexe.  ■ — .  Stärke 
und  Ausdehnung  ders.  134.  — .  Steige- 
rung ders.  134.  137.  143.  — .  tiefe  132. 
139.  145. 

Reflexkrampf  HS.  — .  salvatorischer 
12-. 

Reflextaubheit  der  Retina  255.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  reflect.  Pu- 
pillenstarre  255. 

Relaxation  der  Muskeln.  Prüfung  auf 
solche  60. 

Respirationsstörungen,  nervöse 
234.  279—285.  — .  krampfhafte  235. 
280.  2S5.  —  bei  Querläsion  des  Hals- 
marks 93. 

Retentio  urinae  paralvtica  242. 
289.  —  spastica  243.  290.' 

Rhomboidei.  Contraetur-  und  Läh- 
mungserscheinungen   ders.    293.   294. 

Riechcentrum, Localisation  dess.  370. 

Rigidität  der  Muskeln  61,  bei  Para- 
lysis  agitans  65. — .  spastische  61.- — , 
Verbreitung  ders.  63. 

Rollbewegungen.  Diagnose  ders.  u. 
Localisation  der  Läsion  12S.  129. 

Romberg'sches  Symptom,  Nachweis 
dess.  104. 

R  ü  c  k  e  n  m  a  r  k  s  de  g  e  n  e  r  a  t  i  o  n .  se- 
cundäre  ah-  u.  aufsteigende,  diagno- 
stische Bedeutung  ders.  360. 

Rü  ck  en  mar  ks  kr  a  nkheit  en,  An- 
ästhesie durch  dies.  207.  — .  ataktische 
Störungen  bei  deus.  105.  — .  Ent- 
stellung ders.  360.  362.  —  im  Gebiete 
der  grauen  Substanz  360.  — .  Krämpfe 
durch  solche  120.  — .  Lähmungserschei- 
nungen  ders.  88.  95  (bei  Halbseiten- 
läsion)  89.  90  (bei  Querläsion)  92.  93. 
95.  — .  Localisation  ders.  357.  — , 
Schmerzäussernngen  bei  solchen  225. 
— .  secundäre  — ,  360.  361.  —  durch 
Trauma  362. 


Rückenmarkslähmung  65.  SS.  92. 
93.  208. 

R  ü  c  k  e  n  m  a  r  k  s  u  e  r  v  e  n .  Functionsstö- 
mngen  bei  Läsion  ders.  340.  342.  344. 
345. 

Rückenmuskeln,  Untersuchung  ders. 
auf  ihre  Beweglichkeit  276 — 279. 

Rückenschmerz,  diagnostische  Be- 
deutung dess.  224 — 226. — ,  Entstellung 
dess.  224. 


S  acralnerven-Läsion,  Functions- 
störungen  durch  dies.  345.  346.  — , 
Localisation  ders.  357. 

Salemkrämpfe  276. 

S a ty r ia s is  bei  abnormem  Seelenzu- 
stand  23. 

Scapula  reflex,  Prüfung  dess.  133. 

Schädel.  Untersuchung  dess.  bei 
Nervenkranken  auf  Empfindlichkeit 
227.  auf  Form  und  Gestalt  226.  246. 

S  c  h  a  r  1  a  c  h ,  nervöse  Störungen  infolge 
dess.  380. 

Schilddrüse.  Untersuchung  auf  Ano- 
malien bei  Nervenkranken  240.    241. 

Schlaf  bei  abnormem  Seelenzustand, 
Formen  und  Grade  dess.  21.  22. 

Schlafwandeln  s.  Somnambulismus. 

Schlingbewegung.  Untersuchung 
ders.  133. 

Schlinglähmung,  hysterische  9S.  99. 

Schmerzgefühl,  Bewegungslosigkeit 
bei  heftigem  69.  — ,  Diagnose  dess. 
214.  215.  — ,  Entstehung  dess.  213. 
214.  — ;  excentrisches  214.  — ,  func- 
tionelle  oder  seelische  Schmerzen  218. 
—  im  Kopfe  220.  —  bei  Lähmung 
79.  — lanzinirende,  Schmerzen  218.  — , 
physiologisches  u.  pathologisches  213. 
214.  — .  Prüfung  dess.  bei  Kranken 
193,  durch  Messung  188.  189.  —  im 
Rücken  224.  — ,  verspätetes  194. 

Schmer  zhallucinationen.Diagnose 
ders.  214.  — .  Entstehung  ders.  213. 

S  c  h  m  e  r  z  p  u  n  k  t  e .  diagnostischer  Verth 
ders.  216.  — ,  Prüfung  auf  solche  194. 
195.  — ,  Relation  ders.  zu  Druck- 
punkten 117,  zu  sensorischen  Punkten 
198. 
Schreibekrampf,    Entstehung    dess. 

119.  — .  Schrift  bei  solchem  48. 
Schriftblindheit  (Alexie),  Charakte- 
risticum  u.  Diagnose  ders.  40.  — ,  iso- 
lirte  41. 
8  e  h r if tst ö'rungen ,  nervöse  50 :  atac- 
tische  50.  101.  —  bei  multipler  Skle- 
rose 112,  bei  Paralysis  agitans  113, 
bei  progressiver  Paralyse  30.  44.  45. 
— ,  Prüfung  auf  solche  33.  — ,  Zitter- 
schrift 50. 


Ree-ister. 


431 


citri  ft  stücke  Nervenkranker  zur 
Prüfimg-  ihres  Seelenzustandes  19.  .'<2. 

ch  ü  ttelkrampf,  Diagnose  dess.  110. 
— ,  fieberloser  116. 

chüttellähmung,  s.  Paralysis  agi- 
tans. 

c  k  u  1 1  e  r  ni  u  s  k  e  1  n .  Untersuchung 
ders.  auf  ihre  Beweglichkeit  290  bis 
304,  elektrische  292.  293.  295.  298.301. 
302.  303. 

chwachsinn,  Diagnose  dess.  23.  —., 
Paralytischer  30.  389.  390. 

<•  h  w  e  i s  s n  e r v e  n  1  ä  h m u ng ,  diagno- 
stische Verwerthung  ders.  2.'U. 

oh windel,  Entstehung  dess.  22.  — , 
Vorkommen  u.  diagnostische  Bedeu- 
tung dess.  28.  29.  —  in  Verbindung 
mit  Ohrensausen  17$. 

coliose  der  Wirbelsäule,  Berück- 
sichtigung ders.  hei  Nervenerkrank- 
ung 227. 

cotome,  centrale.  Diagnose  und  Vor- 
kommen ders.  IT 3. 

crotumreflex,  Prüfung  dess.  133. 

ecretionsstörungen  des  Magen- 
darmkanals durch  Veränderungen  im 
Nervensystem  237. 

e  e  1  is  c her  Z  u s  t  and ,  Grenze  zwischen 
normalem  und  krankhaftem  20.  — , 
Untersuchung  dess.  hei  Nervenkran- 
ken 17. 

eelenstörung.  einfache.  Diagnose 
ders.  31. 

ehcentrum,  Localisation   dess.  369. 

ehnenreflexe  132.  — .  diagnostische 
Bedeutung  ders.  145.  148.  — ,  Emfluss 
des  Willens  auf  dies.  145.  — ,  Fehlen 
ders.  140.  146.  14$.  — ,  Formen  ders. 
135.  137.  — ,  gesteigerte  63.  137.  145. 
— .  Hervorrufen  ders.  135.  —  Hyste- 
rischer 97.  — ■  hei  organischer  Läh- 
mung 72.  73.  —  hei  Paresen  74.  —  hei 
progress.  Paralyse  30.  31.  — .  Prüfung 
der  Muskelspannung  durch  solche  60. 
63.  64.  —  hei  spastischer  Spinalpara- 
lyse 90.  —  bei  spinaler  Monoplegie 
90.  —  hei  transversaler  Rückenmarks- 
läsion 92.  93.  — .  verminderte  64.  139. 
146. 

ebner  venatrophie,  diagnostische 
Bedeutung  ders.  171.  172.  — .  Vor- 
kommen ders.  hei  multipler  Sklerose 
und  Tabes  171. 

ehstörungen  Hysterischer  172.  — 
bei  Opticusatrophie  172.  —  bei  Stau- 
ungspapille 169.  — .  Untersuchung 
Nervenkranker  auf  solche  167. 

eitenzwangslage,  Localisation  der 
Gehirnläsion  bei  ders.  12S.  129. 

ensibilitätsstörungen  bei  Läh- 
mung  74.    75.    76.   78.  79.  S5.  94.  — . 


Untersuchung  auf  solche  185.  195. 
196. 

S  e n s ib  1  e  N e rv e n ,  elektrische  Unter- 
suchung ders.  198.  — .  neuralgische 
Veränderung  ders.  216.  217. 

Sensorische  Punkte,  Prüfung  auf 
solche  198. 

S  e  r  r  a  t  usl  äh  m  u  n  g .  rheumatische. 
Diagnose  u.  Symptome  ders.  392. 

Sexualempfindung,  conträre  bei 
psychischen  Defecten  23. 

Sil  benstolpern  44.  — ,  Prüfung  auf 
dess.  45. 

Simulation  der  Epilepsie  127.  —  einer 
functionellen  Lähmung  99.  —  der 
Hysterie  40$.  — ,  Prüfung  auf  solche  21. 

Singultus.  diagnostische  Merkmale 
dass.  280. 

Sinnestäuschungen,  Untersuchung 
auf  solche  22.  23. 

Sklera  des  Auges  bei  abnormem  Seelen- 
zustand  17. 

Sohlenreflex,  diagnostische  Bedeu- 
timg dess.  145 ,  bei  Querläsion  des 
Rückenmarks  93.  — .  Prüfung  dess. 
134. 

Somnambulismus,  Diagnose  dess.  22. 

Somnolenz  durch  nervöse  Affectionen 
21. 

Sopor  Nervenkranker  21.  —  durch 
Intoxicationen  24.  —  bei  Meningitis  2$. 

Spannungszustand  der  Muskeln  60. 
— ,  erhöhter  61.  63.  64. — .verminder- 
ter 60.  64. 

Spasmus  61.  — ,  diagnostische  Unter- 
scheidung dess.  von  passiver  Contractur 
62.  —  gelähmter  Glieder  90.  —  nicti- 
tans  259. 

Spastische  Phänomene  Ol.  62.  — 
bei  progressiver  Paralyse  31.  —  bei 
spastischer  Spinalparalyse  90. 

Speichel fluss  Nervenkranker ,  dia- 
gnostische Verwerthung  dess.  237.  239. 

Spermatorrhoe  durch  Nervenaffec- 
tionen  244. 

Sphin c t er  p up il la e ,  Krampf-  u.  Läh- 
mungserscheinungen dess.  256. 

Spinalepilepsie  138. 

Spinalirritation.  Diagnose  ders. 226. 
227. 

Spinalparalyse,  spastische  90.  — . 
Diagnose  ders.  91.  414.  — .  Localisa- 
tion ders.  361. 

Sprache,  Aufhebung  des  Verständ- 
nisses ders.  39.  — ,  explosive  50  (Lo- 
calisation ders.)  52  — .  scandrrende  49 
(Localisation)  52.  — .  Untersuchung 
ders.  bei  Nervenkranken  1$.  19.  32. 
— ,  Versagen  ders.  ohne  krampfhafte 
Bewegungen  4$. 

Sprachlosigkeit,  Diagnose  ders.  47. 


432 


Register. 


Sprachstörungen,  anarthrische  34. 

48.  52.  — ,  dyslogische  (logopathische) 
34.  46.  51.  — ,  Entstellung-  ders.  34. 
—  nach  Liclitlieim's  schein  atischer 
Darstellung  35.  36.  — ,  Localisation 
der  Läsion  ders.  50 — 52.  — ,  parapha- 
tische  38.  39.  43.  — ,  spasmodische  48. 

Sprachtau hheit  s.  Worttaubheit. 

Sprechfähigkeit,  Prüfung  ders.  bei 
Nervenkranken  32. 

Sprechweise,  Prüfung  ders.  bei  Unter- 
suchung des  seelischen  Zustandes 
19.  32. 

Stabkranzläsion,  Erscheinungen 
ders.  370. 

Stapedius-Lähmung,  Gehörstö- 
rungen durch  dies.  258. 

Starrkrampf  s.  Tetanus. 

Statusepilepticus  ,Charakteristicum 
dess.  124. 

Status  praesens,  Aufnahme  dess.  bei 
Nervenkrankheiten  15.  —  durch  Fest- 
stellung der  Beschwerden  des  Kranken 
15.  —  durch  Untersuchung  des  Be- 
wegungsapparates  53.  65,  des  Empfin- 
dungsapparates 166,  des  Schädels  u. 
der  Wirbelsäule  226.  227,  des  seeli- 
schen Zustandes  17,  der  Sprache  32, 
der  vegetativen  Functionen  228. 

Stauungspapille,  Diagnose  ders.  170. 
— ,  doppelseitige  169.  170.  — ,  ein- 
seitige 171.  — ,  Entstehung  u.  Vor- 
kommen ders.  169.  170. 

St ereognostische  Perception 
Nervenkranker ,  Untersuchung  ders. 
197. 

Sternocleidomastoideus,  Krampf- 
u.  Lähmungssymptome  dess.  273.  274. 

Stimm bandlähmung,  Diagnose  ders. 
272.  273.  — ,  hysterische  97. 

Stottern  ,  Diagnose  dess.  48.  — Unter- 
scheidung dess.  von  Battarismus  47. 

Strabismus  paralyticus  251.  — ,  spas- 
ticus  253. 

Stupor,  Charakteristicum  dess.  22.  — , 
epileptischer  24. 

Sy  mpathicusl äsi o n ,  Symptome  ders. 
'Wi. 

Syphilis  des  Nervensystems  382.  — , 
Diagnose  ders.  383. 

Syringomyelie,  Diagnose  ders.  79. 
400.  — ,  Gelenkaffectionen  bei  ders. 
234.  — ,  Hauptsymptom  ders.  400.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  Neuritis  355. 
400. 

Tabak  sv  er  giftung,  chronische  und 
deren  Symptome :  Amblyopie  u.  Amau- 
rose 173,  Tremor  115. 

Tabes  dorsalis,  Diagnose  ders.  105. 
112.  147.  210.  384.  387.  — ,  Entstehung 


ders.  383.  — ,  Kniephänomen  bei  ders. 
147.  385.  — ,  Symptome  ders.  384  bis 
387:  Anästhesie  209,  Ataxie  105.  386, 
Drehschwindel  29 ,  Gefühlsstörungen 
209.  212.  385,  Gehörsstörungen  177. 
178.  179.  386,  Geruchsanomalien  182, 
Geschmacksstörungen  184,  Glykosurie 
241.  38 7, Knochen- u.  Gelenkaffectionen 
233.  234.  386.  387,  Opticusatrophie  171. 
paralytische  Anfälle  27,  reflectorische 
Pupülenstarre  142. 147.3S4,sensorische 
Entartungsreaction  198.  — ,  Unter- 
scheidung ders.  von  Diabetes,  Hysterie, 
Polyneuritis,  tertiärer  Syphilis  387. 388. 

T  a  b  e  s  f  u  s  s ,  Knochenveränderungen  bei 
dems.  233. 

Tachykardie,  nervöse  236.  —  durch 
Vaguserkrankung  340. 

Tast-  od.  Empfindungskreise  186. 

Tastgefühl,  Prüfung  dess.  durch  Be- 
rührung mit  dem  Einger  192 ,  durch 
Bestimmung  der  Baumunterschiede 
186.  193,  durch  Unterscheidung  glatter 
u.  rauher  Flächen  186.  192. 

Tastsinnlähmung  199. 

T  a  üb  he  it.  nervöse,  Diagnose  ders.  177. 
178. 

Temperatur  sinn,  Anomalien  dess. 
194.  200.  — ,  Prüfung  dess.  beiKranken 
193,  durch  Messung  der  Unterschieds- 
empfindlichkeit 187.  188. 

Tensor  fasciae  latae,  Bewegungs- 
störungen im  Hüftgelenk  bei  Contrac- 
tur  u.  Lähmuug  dess.  319. 

Tensor  palati,  Krampf  u.  Lähmung 
dess.  258.  —  tympani,  Functions- 
störungen  dess.  257.  258. 

Tetanie,  Diagnose  ders.  128.  394.  — , 
elektrische  Erregbarkeit  der  Muskeln 
bei  ders.  157.  — ,  Reflexe  bei  ders.  146. 
— ,  Symptome  ders.  127. 

Tetanus  (tetanische  Anfälle  od.  Kräm- 
pfe), Charakteristicum  dess.  117.  — , 
Diagnose  dess.  395.  — ,  Vorkommen 
dess.  127.  128. 

Thermästhesiometer,  Anwendung 
dess.  187. 

Thermanästhesie,  diagnostische  Be- 
deutung ders.  200.  206.  209. 

Thomsen'sche  Krankheit  (Myotonia 
congenita)  117.  — ,  Diagnose  ders.  413. 
— ,  Erscheinungen  ders.  118.  — , 
Muskelerregbarkeit  bei  ders.  150.  165. 
413.  — ,  Muskelhypertrophie  bei  ders. 
56.  57. 

Thränent  räufeln  durch  Innerva- 
tionsstörungen  259. 

Thrombose  der  Hirngefässe,  Veran- 
lassung zu  Apoplexien  25.  26. 

T  i  b  i  a  1  i  s  m  u  s  k  e  1  n ,  Contractur  u.  Läh- 
mung ders.  327.  329. 


Reo-i  st  er. 


433 


Tic  convulsif  203.  —  rotatoire  276. 

T  o  p  o a  1  gie  bei  hypochondrischen  Zu- 
ständen 21'.). 

Transformation  der  Vererbung  von 
Krankheiten  4. 

T  ran m a ,  ätiologische  Bedeutung  dess. 
bei  Nervenkrankheiten  6. 

T  re  mo  r  108.  —  dnrch  Alkoholvergiftnng 

109.  115.  — .  convulsivischer  112.  — , 
diagnostische  Bedeutung  dess.  115.  — ■, 
Entstehung  dess.  110.  114.  —  essen- 
tialis  114.  —  Gesunder  108.  114.  — , 
mercnrialis   115.  — ,  paralysischer  30. 

110.  115.  — .  posthemiplegischer  113. 
— .  seniler  109.  114.  — ,  spastischer 
11  it.  111.  —  der  Stimme  109.  — . 
Untersuchung  auf  dens.  108. 

Triceps  brach  ii,  Functionsprüfung 
dess.  303.  304.  —  surae,  Contractur 
dess.  325.  — ,  Lähmung  dess.  324. 

Tricepssehnenreflex.  Prüfung  dess. 
137. 

Triebe,  krankhafte  bei  abnormem 
Seelenzustand  23. 

Tri  o- eminus  läsion  335.  — .  Sym- 
ptome ders.  181.  336. 

Trigeminusneuralgie ,  Diagnose 
ders.  392. 

Trismus,  Diagnose  dess.  395. — .Ent- 
stehung dess.  264. 

Trochlearis-Läsion.  Functionsstö- 
rungen  durch  dies.  333.  365. 

Trophische  Störungen  der  Haut  bei 
Erkrankung  peripherischer  Nerven  231. 
—  des  Verdauungsrohres  bei  Hysterie 
237. 

Tubercula  dolorosa.  Untersuchung 
auf  solche  60. 

Tnbercnlose-Nenritis  211.  353.  — , 
Diagnose  ders.  3S2. 

Typhus,  Bewusstseinsstörungen  in 
dems.  24.  — .  gesteigerte  Sehnenrefiexe 
bei  dems.  140.  — ,  neuritische  Sym- 
ptome dess.  3S0. 

TJ  e  b  e  r  a  n  s  t  r  e  n  g  u  n  g .  Bedeutung  ders. 
für  die  Entstehung  nervöser  Störun- 
gen 6. 

Ulcerationen  der  Haut  bei  Läsiou 
des  Nervensystems  232. 

Ulnaris-Lähmung.  Functions- 
störungen  des  Arms  u.  der  Hand  bei 
ders.  342.  343.  — .  rheumatische  392. 

Unt e rki ef er ph änomen ,  Untersuch- 
ung dess.  13S. 

Unters  chenkelmuskeln,  Bewe- 
gnngsstörungen  des  Fusses  bei  Con- 
tractur und  Lähmung  ders.  323 — 331. 
— .  elektrische  Untersuchung  ders.  324. 
330. 

Urämie,  nervöse  Symptome  ders.  242: 

Mob  ins,  Diagnostik  der  Nervenkrankheiten. 


Amaurose  (doppelseitige)  173.  Konvul- 
sionen 120.  Dyspnoe  235,  Koma  24. 

Urate  .  Zunahme  ders.  im  Harn  Nerven- 
kranker 242. 

Urethralkrisen,  nervöse  244. 

Ur ti c ar i abil  d  u  n  g  bei  nervöser  Reiz- 
barkeit  231.  288. 

Vag o- ac c e s s or in s-L äsio n ,  Erschei- 
nungen ders.  339.  340.  — ,  Kernläsion 
363.  304. 

Vasomotorische  Störungen  durch 
nervöse  Affectionen  230.  231.  —  bei 
Anästhesie  201.  —  bei  Lähmung  74. 
75,  spinaler  90.  94.  — ,  Untersuchung 
auf  solche  2S7.  288. 

Vastusmuskeln  des  Oberschenkels, 
Lähmung  ders.  322. 

Vegetative  Functionen.  Unter- 
suchung ders.  bei  Nervenkranken  22S. 

Verdauungsstörungen,  Wirkung 
u.  Ursache  nervöser  Störungen  237. 

V  er  s  t  ändni  s  s  Nervenkranker,  Prüfung 
des  bildlichen,  mimischen,  musikali- 
schen, schriftlichen  34,  des  sprach- 
lichen 33. 

Vertigo    a   stomacho    laeso    nervöser 

Personen  29. 
Vierhügel-Läsion,     Erscheinungen 

ders.  221.   365.  — ,  Localisation  ders. 

365.  366. 
Visionen  der  Ekstatischen  23. 
Vitiligo   infolge   nervöser  Störungen 

231.  232. 
Vorderarmmuskeln,   Untersuchung 

ders.  auf  ihre  Beweglichkeit  304 — 308, 

elektr.  307. 
Vorderhörner   des  Rückenmarks, 

Läsion  ders.  u.  deren  Erscheinungen 

306. 

V  o  r  s  t  e  1 1  u  n  g  e  n  bei  abnormem  Seelen- 
zustand 23. 

ua  chsthumsanomalien  an  gelähm- 
ten Gliedern  234. 

Wärmeempfindlichkeit  der  Haut, 
Messung  ders.  188. 

Wahnideen,  Diagnose  ders.  23.  — . 
fixe  23.  — .  beiprogressiver  Paralyse  30. 

Wahrnehmungen  bei  krankhaftem 
Seelenzustand  22. 

Wirbelerkrankungen,  krebsige  u. 
tuberculöse,  diagnostische  Bedeutung 
ders.  für  Rückenmarksaffectionen  362. 
— .  Schmerzäusserungenbei  solchen225. 

Wirbelsäule.  Untersuchung  ders.  auf 
Beweglichkeit .  Empfindlichkeit  und 
Form  bei  Nervenkranken  227.  276. 

Wohnort.  Einfluss  der  geograph. Lage 
dess.  auf  die  Entstehung  nervöser 
Leiden  9. 


2.  Aufl. 


2S 


434 


Register. 


"Wortblindheit.  Legalisation  der 

Läsion  ders.  51. 
"Worttaubheit  39.  — .  isolirte  41.  — . 

Läsion    der   linken   Sehläfenwindung 

bei  ders.  50. 
TTürgbewegung.   Hervorrufen  ders. 

dureb  reflectorisehe  Erregbarkeit  133. 
~\Yu  r  z  e  1  s  y  m  p  t  o  in  e  bei  seeundären 

Rückenmarkserkrankungen  36 1 . 

Z  ahnanomalien,  Untersuchung 
Nervenkranker  auf  solcbe  234. 

Zehengelenke,  Funetionsprüfung  der 
Muskeln  des  Fusses  u.  der  Zehen  bei 
Bewegungsstörungen  ders.  330.  331. 

Zittern  s.  Tremor. 

Zuckungen,  rhythmische .  Diagnose 
ders.  117. 


Zuckungsgesetz     der    motorischen 

Nerven  und  Muskeln  155. 
Zuckungsträgheit  bei  der  elektr. 

Reizung  163. 
Zunge,    Prüfung   der  Geschmacksem- 
pfindung ders.  1S2.  — ,  Untersuchung 

ders.  auf  Atrophie  266,  Krampf  266, 

Lähmung  265. 
Zungenbein,  Untersuchung  dess.  auf 

seine  Beweglichkeit  270 — 272. 
Zwangsbewegungen,  Diagnose  ders. 

128. 
Zwangshandlungen   bei  abnormem 

Seelenzustand  23. 
Zwangsvorstellungen,  Wesen  ders. 

23. 
Zwerchfell,  Lähmung  u.  Krampf  dess. 

279.  2S0. 


Neuer  Verlag  von  F.  C.  W.VOGEL  in  Leipzig. 

Arbeiten  aus  der  medicinischen  Klinik  zu  Leipzig1.  1893.  Herausgegeben  von 
Prof.  Dr.  II.  Curschmann.  Anatomische,  experimentelle  und  klinische  Bei- 
träge zur  Pathologie  des  Kreislaufs  von  H.  Curschmann,  W.  His  jr., 
K.  Kelle,  R  Kockel,  L.  Krehl,  H.  Krumbholz,  E.  Romberg,  W.  Streng.  Mit 
13  Abbildungen  im  Text,    gr.  8°.    1893.    8  Jk 

Arbeiten    aus    dem    Medicinisch- klinischen    Institute    der  Königl.  Ludwig- 
Maximilians-Universität  in  München.   Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  H.  y. 
Ziemssen  und  Prof  Dr.  J.  Bauer  in  München,    gr.  8°.    1893. 
III.  Band  1.  u.  2.  Hälfte.    Mit  9  Abbildungen  im  Text  und  13  Tafeln.    12  Jk 

Günther,  R.,  Dr.  in  Sonnenstein,  Ueber  Behandlung  und  Unterbringung 
der  irren  Verbrecher,   gr.  8°.    1893.   4  Jk 

Handbuch  der  Neurasthenie.  Mit  Anderen  herausgegeben  von  Dr.  Franz 
Carl  Müller  in  Alexandersbad,    gr.  8°.    1893.     12  Jk;  geb.  li  Jk 

Handbuch  der  Ohrenheilkunde.    Mit  Anderen  herausgegeben  von  Hermann 
Schwartze,  Prof.  in  Halle  a.  S.    2  Bände.   Lex.-8°.    55  Jk;  geb.  61  Jk 
I.Band.     Mit  133  Abbildungen.     1892.     25  Ji;  geb.  28  Jk 
II.  Band.     Mit  177  Abbildungen.     1893.    30  Jk;  geb.  33  Jk 

Krehl,  Ludolf,  Professor  in  Jena,  Grundriss  der  Allgemeinen  klinischen 
Pathologie,    gr.  8°.    1893.    6  Jk;  geb.  7  Jk  25  8). 

Karg,  Carl,  Prof.  Dr.  und  Schinorl,  Georg,  Privatdocent  Dr.  in  Leipzig,  Atlas 
der  Pathologischen  Gewebelehre  in  mikrophotographischer  Darstellung. 
Mit  einem  Vorwort  von  Prof.  Dr.  F.  V.  Birch-Hirschfeld  in  Leipzig.  Mit 
27  Tafeln  in  Kupferätzung,  gr.  Fol.  1893.  Vollständig  50  Jk  —  Elegante  Halb- 
franz-Mappe dazu  6  Jk  —  Erschien  in  6  Lieferungen. 

Klinische  Vorträge  von  Prof.  Dr.  H.  v.  Ziemssen  in  München. 

20.  Vortrag.    Uebung  und  Schonung  des  Nervensystems,    gr.  8°.    1893.    60$. 

21.  Vortrag.    Ueber  private  u.  öffentl.  Reconvalescentenpflege.  gr.  8°.  1893.  60  $. 

König,  Willi.,  Dr.  in  Dalidorf,  Ueber  Gesichtsfeldermüdung  und  deren  Be- 
ziehung zur  concentrischen  Gesichtsfeldeinschränkung  bei  Erkrankungen  des 
Centralnervensystems.    gr.  8°.    1893.   4i 

Landerer,  Albert,  Prof.  Dr.  in  Leipzig,  Anweisung  zur  Behandlung  der 
Tuberkulose  mit  Zimmtsäure.     xMit  2  Abbildungen.    8°.    1893.    50$. 

Lesser,  E.,  Professorin  Bern,   Lehrbuch  der  Haut-   und   Geschlechts- 
krankheiten.  Für  Aerzte  u.  Studirende.   2Theile.  gr.  8°.  12  Jk;  geb.  14~/£50$. 
II.  Theil.     Geschlechtskrankheiten.     7.  Auflage.    Mit   7  Abbildungen 
und  4  Tafeln.    1893.    6  Jk;  geb.  7  Ji  25  §. 

I.  Theil.     Hautkrankheiten.     7.  Auflage.    1892.    6  Jk;  geb.  7  Ji  25  ä> 

t.  Leube,  Wilhelm,  Prof.  Dr.  in  Würzburg,  Specielle  Diagnose  der  inneren 
Krankheiten.  Ein  Handbuch  für  Aerzte  und  Studirende.  Nach  Vorlesungen 
bearbeitet.     2  Bände.    Lex.- 8°.    22  Ji;  geb.  24  Jk  50  §>. 

II.  Band.  Nervensystem.  Rückenmark.  Hirn.  Stoffwechsel.  Infectionskrank- 
heiten.  Mit  57  Abbildungen  im  Text.  Erste  bis  dritte  Auflage.  1893. 
YlJk;  geb.  13  Jk  25  c). 

I.Band.     3.  Auflage.     1892.    10  Jk;  geb.  11  Jk  25  §. 

Rieder,  Herrn.,  Privatdocent  Dr.  in  München,  Atlas  der  klinischen  Mikr  o- 
skopie  des  Blutes.  12  Tafeln  mit  48  Abbildungen  in  Farbendruck.  Lex.-8°. 
1893.    8  Jk;  geb.  %  Jk  5  0$. 

Schmorl,  Georg,  Privatdocent  Dr.  in  Leipzig,  Pathologisch-anatomische 
Untersuchungen  über  Puerperal-Eklampsie.  Mit  4  farbigen  und 
1  Lichtdrucktafel.    Lex.- 8°.    1893.    S  Jk 

Schroeder,  Carl, Prof. Dr.,  Die  Krankheiten  der  weiblichen  Geschlechts- 
organe. Elfte  Auflage  umgearbeitet  und  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  M. 
Hofmeier  in  Würzburg.    Mit  186  Abb.  im  Text,   gr.  8°.    1893.    12  J£;  geb.  \AJi 

Verhandlungen  der  Gesellschaft  Deutscher  Naturforscher  und  Aerzte.  65.  Ver- 
sammlung zu  Nürnberg  11. — 15.  September  1893.  Herausgegeben  im  Auftrage 
des  Vorstandes  und  der  Geschäftsführer  von  Albert  Wangerin  und  Otto 
Taschenberg.  —  I.  Theil.  Die  Allgem.  Sitzungen.  Lex.-8°.  1893.  4  Ji 
II.  Theil  (Abtheilungs-Sitzungen)  erscheint  Mai  1894. 


Neuer  Verlag  von  F. C.W.VOGEL  in  Leipzig. 
Klinisolies  HandbiTch. 

der 

Harn-  und  Sexualorgane. 

Bearbeitet  von 

Privatdocent  Dr.  K.  Benda  in  Berlin,  Prosector  Dr.  R.  Beneke  in  Braunschweig ,  Privatdocent  Dr. 
E.  Burckhardt  in  Basel ,   Dr.  Ebermann  in   St.  Petersburg,  Prof.  Dr.  J.  Englisch  in  "Wien.  Prof.  Dr. 

A.  Eulenburg  in  Berlin,  Dr.  Feleki  in  Budapest,  Dr.  E.'Hurry  Fenwick  in  London,  Privatdocent  Dr. 
E.  Finger  in  "Wien,  Dr.  L.  Goldstein  in  Aachen,  Privatdocent  Dr.  E.  Hoffmann  in  Greifswald,  Dr. 
M.  Horovitz  in  Wien,  Prof.  Dr.  E.  Frhrr.  von  Krafft-Ebing  in  Wien,  Prof.  Dr.  Lepine  in  Lyon,  Dr. 
Georg  Letzel  in  München,  Oberstabsarzt  Dr.  v.  Linstow  in  Göttingen,  Prof.  Dr.  M.  Litten  in  Berlin,  Dr. 
C.  Meyer  in  Dresden,  Dr.  F.  M.  Oberländer  in  Dresden,  Prof.  Dr.  Pel  in  Amsterdam,  Dr.  A.  Peyer  in 
Zürich,    Dr.  J.  Prior  in  Köln,   Prof.  Dr.  Eeczey  in  Budapest,   Dr.  E.  Sehrwald  in  Freiburg,  Prof.  Dr. 

B.  Solger  in  Greifswald,  Prof.  Dr.  P.  Strübing  in  Greifswald,   Privatdocent  Dr.  M.  von  Zeissl  in  Wien. 

Herausgegeben  von 

weil.  Prof.  Dr.  MV.  Zuelzer, 

redigirt  von 

Dr.  F.  M.  Oberländer  in  Dresden. 

Vier   Abtheilungen. 

Erste  Abtheilung. 

Mit  45  Abbildungen.     Lex.  8.    1894.    Preis  10  M.,  geb.  12  M. 

Zweite  Abtheilung. 

Lex.  8.    1894.    Preis  10  M.,  geb.  12  M. 

Dritte  Abtheilung. 

Mit  67  Abbildungen.    Lex.  8.    1894.    Preis  10  M.,  geb.  12  M. 
Abtheilung  IV  wird  im  Mai  d.  J.  erscheinen. 

Dr.  A.  Strümpell's  Lehrbuch 

der 

Speciellen  Pathologie  und  Therapie 

der 

inneren  Krankheiten. 

3  Bände. 

Achte  neu  bearbeitete  Auflage. 

Erster  Band.    Mit  38  Abbildungen,    gr.  8.    1894.    12  M.,  geb.  14  M. 

Deutsche 

Zeitschrift  für  Nervenheilkunde. 

Herausgegeben 

von 

Prof.  W.  Erb  in  Heidelberg,  Prof.  L.  Lichtheim  in  Königsberg,  Prof.  Fr.  Schnitze 

in  Bonn  und  Prof.  A.  v.  Strümpell  in  Erlangen. 

1.— 5.  Band,    a  16  Ji 

VOfiLESUMEN 
über  den  Bau  der  nervösen  Centralorgane. 

Für  Aerzte  und  Studirende. 

Von  Dr.  Ludwig  Edinger. 

Vierte  umgearbeitete  Auflage. 

Mit  145  Abbildungen  im  Text.     1893.    Lex.  8.     7  M.,  geb.  8  M.  25  Pf. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  in  Leipzig. 


0041068998