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Full text of "Der Dichter in Dollarica; Blumen-, Frucht- und Dornenstücke aus dem Märchenlande der unbedingten Gegenwart"

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WOLTOGEN 


GIFT   OF 
ERNST  A.  DENICKE 


Liiiiiiiiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinimn 


Der  Dichter  in  Dollarica 


l-iiiiiiiihiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii-i 


Verlag  von  F.  Fontane  &  Co.,  Berlin -Grunewald 
Es    erschien   von 

Ernst  von  Wolzogen 

,  Romane 

Ecce  ego  —  Erst  komme  ich 

Die  Großherzogin  a.  D.    |   Die  Entgleisten 

Der  Erzketzer.     2  Bde. 

Novellen 

Was  Onkel  Oskar  mit  seiner  Schwiegermutter  in  Amerika  passierte 

Die  rote  Franz    |   Fahnenflucht   |   Seltsame  Geschichten 
Der  Topf  der  Danaiden  und  andere  Geschichten  aus  der  deutschen 

Boheme 
Da  werden  Weiber  zu  Hyänen    |   Heiteres  und  Weiteres 

Erlebtes  Erlauschtes  Erlogenes 

Das  gute  Krokodil  und  andere  Geschichten  aus  Italien 

Geschichten  von  lieben  süßen  Mädeln 

Verse 

Verse  zu  meinem  Leben  (Selbstbiographie  mit  einer  Heliogravüre 
Wolzogens) 

Theater 

Der  unverstandene  Mann  (Komödie) 

Daniela  Weert  (Schauspiel)   |   Unjamwewe  (Komödie) 

Lumpengesindel  (Tragikomödie) 

Die  Maibraut 

(Ein  Weihespiel  in  drei  Handlungen) 

Essays  usw. 

Des  Schlesischen  Ritters  Hans  von  Schweinichen  eigene  Lebens- 
beschreibung 
(Neu  herausgegeben  von  E.  von  Wolzogen) 
Augurenbriefe.     Bd.  I.   |   Ansichten  und  Aussichten  (Ein  Erntebuch) 
Linksum  kehrt  schwenkt  —  Trab! 


Eheliches  Andichtbüchlein 

Herausgegeben  von  Ernst  Ludwig  und  Elsa  Laura 

von  Wolzogen 

Buchschmuck  von  J,  Martini 


Der 

Dichter  in  Dollarica 


Blumen-,  Frucht-  und  Dornenstücke 

aus  dem  Märchenlande  der  unbedingten 

Gegenwart 


von 


Ernst  von  Wolzogen 


Zweite  Auflage 


Berlin  1912,  F.  Fontane  &  Co. 


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Auf  Grund  des  U.-G.  vom  19.  Mai  1909 
gegen  Nachdruck  geschützt 


Die  erste  und  zweite  Auflage  dieses  Buches 

ist  in  2220  Exemplaren  gedruckt  und  wurde 

im  Jahre  1912  herausgegeben. 


Altenburg 

Pierersche  Hofbuchdruckerei 

Stephan  Geibel  &  Co. 


IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIIII 


The  Germanistic  Society  of  America 


to  whom  I  am  deeply  indebted  for  the 
opportunity  of  seeing  America,  may  kindly 
accept  this  document  of  how  I  saw  America 
as  a  token  of  my  sincere  gratitude,  and  may 
humour  it  as  genially  as  it  was  conceived. 


420575 


Ulllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll'l 


■  ■■■■ ■■■■■■■■■■■■■■■■ ■■ ■■■■■■■■■■■■■■■■■! 


Zur  Verständigung. 


]ch  gehöre  zu  den  Menschen,  denen  das  vorwitzige  Ab- 
y  urteilen  und  nichtige  Klugschwätzen  eilfertiger  Reisender 
über  fremde  Ränder,  Völker,  Einrichtungen  und  Sitten 
durchaus  zuwider  ist.  Wenn  ich  mich  nun  gleichwohl 
verleiten  ließ,  nach  einem  Aufenthalt  von  nur  drei 
Monaten,  dennoch  meine  Reiseeindrücke  aus  den  Ver- 
einigten Staaten  zu  Papier  zu  bringen  und  sogar  in 
Buchform  herauszugeben,  so  muß  ich  wohl  meinem  Unter- 
fangen selber  einen  Passierschein  schreiben,  damit  ernst- 
hafte Leute  ihm  nicht  von  vornherein  den  Zutritt  in  den 
Bereich  ihrer  Aufmerksamkeit  verweigern. 

Ich  wurde  als  Gast  der  Germanistic  Society  of  America 
zu  einer  Reihe  von  Vorlesungen  und  Vorträgen  an  neun- 
zehn Universitäten  und  Colleges ,  sowie  in  zahlreichen 
deutschen  Vereinen  eingeladen  und  hielt  mich  von  Anfang 
November  1910  bis  Mitte  Februar  191 1  in  den  östlichen, 
nördlichen  und  mittelwestlichen  Staaten  auf.  Die  oft 
gerühmte  großartige  und  herzliche  Gastfreundschaft  nicht 
nur  meiner  deutschen  L,andsleute,  sondern  auch  der  für 
deutsche  Kultur  und  insonderheit  deutsche  Dichtung 
interessierten  akademischen  Kreise  des  I^andes,  sorgte  in 
überaus  umsichtiger  Weise  dafür,  daß  wir  —  denn  meine 
reizendere  Hälfte  begleitete  mich  samt  ihrer  tatbereiten 
L,aute  —  in  all  den  zahlreichen  großen  und  kleinen 
Städten,  die  wir  berührten,  möglichst  viel  und  möglichst 
Eigenartiges  und  Bedeutsames  von  dem  wunderreichen 
I^ande  zu  sehen  bekamen.  Nun  ist  man  ja  im  allge- 
meinen, und  zwar  mit  gutem  Recht,  geneigt,  die  pro- 
grammäßigen Vorführungen,  die  liebenswürdige  Komitees 
hastig   vorbei    sausenden    Ehrengästen    zuliebe    von    den 


VIII  -       Zur  Verständigung. 


Sitten  und  Gebräuchen  der  Einwohner  veranstalten, 
nicht  gerade  für  die  sichersten  Quellen  ernsthafter  Be- 
lehrung zu  halten  und  sich  vergnüglich  ins  Fäustchen  zu 
lachen,  wenn  der  also  Gefeierte  hinterher  dankbaren  und 
kindlichen  Gemüts  all  dies  freundliche  Geflunker  für 
bare  Münze  nimmt  und  daraufhin  mit  wichtiger  Kenner- 
miene seinen  begeisterten  Bericht  erstattet.  Selbstver- 
ständlich wurde  ich  wie  jeder  andere  prominente  Reisende 
schon  bei  der  Einfahrt  in  den  Hafen  von  New  York  von 
den  das  Schiff  enternden  Reportern  gefragt,  wie  mir 
Amerika  gefiele;  selbstverständlich  begleitete  mich  diese 
unvermeidliche  Frage  von  Station  zu  Station,  und  selbst- 
verständlich machten  die  Herren  Reporter,  je  nach  ihrem 
Witz  und  ihrer  stilistischen  Begabung,  aus  meinen  ver- 
legenen, dürftigen  Antworten  in  ihren  Interviews,  was  ihnen 
gut  dünkte.  Ich  wurde  auch  gleich  in  den  ersten  Tagen  nach 
meiner  Ankunft  gefragt,  ob  ich  gedächte,  ein  Buch  über 
Amerika  zu  schreiben,  und  habe  diese  Zumutung  damals 
mit  ehrlichem  Erschrecken  weit  von  mir  gewiesen.  So 
lange  ich  unter  dem  verwirrenden  Eindruck  der  täglich 
und  stündlich  in  buntester  Abwechslung  am  Auge  vorüber- 
hastenden, einander  überstürzenden  Erlebnisse  und  Be- 
gegnungen stand,  erschien  es  mir  auch  wirklich  ein  un- 
mögliches Unterfangen,  diese  Eindrücke  auch  nur  be- 
schreibend zu  einem  deutlichen  Bilde  zu  gestalten,  viel 
weniger  darüber  ein  Urteil  von  einigem  Wert  zu  formu- 
lieren. Daß  ich  nicht  völlig  die  Tinte  würde  halten  können, 
daß  vielmehr  unfehlbar  aus  meinen  Betrachtungen  durch 
das  Fenster  des  Expreßzuges  ein  paar  Feuilletons  heraus- 
springen würden,  lag  ja  freilich  bei  meiner  berufsmäßigen 
Zugehörigkeit  zur  Schreiberzunft  nahe;  aber  den  Mut 
und  die  I^ust  zu  einer  erschöpfenden  Bearbeitung  meiner 
Reisebeute  gewann  ich  doch  erst  allmählich  in  der  stillen 


Zur  Verständigung-.  IX 


Beschaulichkeit  meines  fruchtbaren  Darmstädter  Poeten- 
winkels. Ich  schrieb  erst  einmal  kunterbunt  alles  zu- 
sammen, was  mein  Gedächtnis  und  meine  Notizen 
mir  von  Gehörtem  und  Geschau tem  bewahrten,  und 
was  mir  schon  drüben  weiteren  Nachdenkens  wert  er- 
schienen war.  Und  dann  schleppte  ich  mir  einen  Stoß 
guter  Bücher  über  die  Vereinigten  Staaten  zusammen, 
verglich  die  darin  niedergelegten  Anschauungen  einge- 
borener und  ausländischer  Kenner  des  Randes  und  be- 
währter Beobachter  mit  den  Kindrücken,  die  ich  selbst 
empfangen,  und  erst  nach  Beendigung  dieser  klärenden 
Vorarbeit  begann  ich  mich  für  berechtigt  zu  halten,  dem 
großen  Publikum,  das  bei  einer  gerechten  Beurteilung  der 
neuen  Welt  interessiert  ist,  meine  Meinung  aufzutischen. 
Es  versteht  sich  wohl  von  selbst,  daß  ich  mir  trotz 
dieser  gewissenhaften  Vorbereitung  durchaus  nicht  ein- 
bilde, mein  Urteil  könnte  neben  dem  eingeborener  gründ- 
licher Kenner  des  I,andes  oder  ernsthafter  wissenschaft- 
licher Forscher  ausschlaggebend  in  Betracht  kommen; 
darum  habe  ich  schon  im  Titel  meines  Buches  den 
Nachdruck  auf  den  Dichter  gelegt.  Ein  Dichter  ist, 
wenn  anders  er  ein  wirklich  berufener  genannt  werden 
darf,  „zum  Sehen  geboren,  zum  Schauen  bestellt".  Sein 
Schauen  ist  freilich  ein  anderes  als  das  des  gelehrten 
Forschers:  während  dieser  geradlinig  rückwärts  oder 
voraus  sieht  oder  senkrecht  in  die  Tiefe  bohrt,  schweift 
des  Dichters  Auge  über  den  ganzen  Horizont  rund  um  und 
erfaßt  dennoch  im  Vorübergleiten  eine  ganze  Menge  be- 
deutsamer Einzelheiten  der  nächsten  Umgebung.  Sein 
Geist  liebt  es,  Brücken  zu  schlagen  vom  Kleinsten  zum 
Größten.  Mögen  diese  Brücken  oft  auch  luftig  genug, 
mehr  aus  bunten  Regenbogenfarben  als  aus  soliden  Balken 
zusammengezimmert  sein,  wertlos  ist  darum  die  dichterische 


X  Zur  Verständigung. 


Betrachtungsweise  gewiß  nicht;  denn  oft  ahnt  er  mit  dem 
sicheren  Instinkt  des  schöpferischen  Geistes  große,  bedeut- 
same Zusammenhänge,  die  dem  scharfen  Auge  des  Forschers 
verborgen  bleiben,  weil  dem  sein  Gewissen  nicht  erlaubt, 
bei  seinen  Feststellungen  unbekannte  Größen  in  Rech- 
nung zu  setzen.  Den  Vorzug  der  dichterischen  Intuition 
und  den  guten  Blick  eines  geschulten  Beobachters  nehme 
ich  für  mich  in  Anspruch,  ohne  jedoch  Straflosigkeit  für 
dichterische  Freiheit  zu  beanspruchen.  Ich  gehöre  nicht 
zu  den  Leuten,  die  sich  durch  glänzende  Äußerlichkeiten 
leicht  blenden  lassen,  auch  nicht  zu  den  mißtrauischen 
Duckmäusern  und  Leisetretern.  Ich  habe  es  mir  ernstlich 
angelegen  sein  lassen,  drüben  in  dem  merkwürdigen 
Lande  der  unbedingten  Gegenwart,  wo  es  irgend  anging, 
die  Meinung  gescheiter,  mir  zuverlässig  erscheinender 
Menschen  einzuholen,  um  meine  eignen  Beobachtungen 
zu  vervollständigen,  zu  klären  und  zu  berichtigen.  Dabei 
ist  es  mir  nun  allerdings  überaus  häufig  begegnet,  daß  der 
Sachverständige  B.,  der,  sagen  wir  25  Jahre  im  Lande 
war,  den  Sachverständigen  A.,  der  27  Jahre  im  Lande  war, 
für  einen  ausgemachten  Esel  erklärte,  und  daß  der  Sach- 
verständige C,  der  50  Jahre  im  Lande  war,  zur  Ent- 
scheidung aufgerufen,  beiden  als  elenden  Grünhörnern 
jede  Berechtigung  zum  Urteilen  absprach.  Es  ist  nun 
eine  alte  Erfahrung,  die  jeder  mit  einem  klaren  Blick 
begabte  gebildete  Reisende  schon  bestätigt  gefunden 
haben  wird,  daß  sich  der  Eingeborene  eines  Landes  oft 
gerade  der  auffallendsten  Eigentümlichkeiten  desselben 
nicht  bewußt  ist,  weil  ihm  eben  der  Maßstab  zur  Ver- 
gleichung  fehlt  und  weil  ihm  naturgemäß  das  Gewohnte 
als  das  Selbstverständliche  erscheint.  Ebenso  verliert 
auch  der  Einwanderer,  je  länger  er  in  dem  neuen  Lande 
weilt,  desto  mehr  den  Blick  für  seine  Besonderheit.    Ihm 


Zur  Verständigung.  XI 


dünkt  vieles  Neue  bedeutsam,  weil  er  es  unter  seinen 
Augen  erst  entstehen  sah  und  nicht  mehr  weiß,  daß  man 
drüben  in  der  alten  Heimat  vielleicht  schon  längst  über 
den  betreffenden  Zustand  hinaus  gekommen  ist,  während 
ihm  Dinge,  die  dem  Fremden  als  höchst  eigenartig  auf- 
fallen, nicht  mehr  der  Beobachtung  wert  erscheinen,  weil 
sie  für  ihn  Alltäglichkeiten  geworden  sind.  Aus  diesem 
Grunde  können  selbst  des  flüchtigen  Besuchers  erste 
Eindrücke  von  ganz  erheblicher  Bedeutung  werden.  Es 
ist  auch  ganz  verkehrt,  etwa  nur  Zahlen  oder  offizielle 
Dokumente  als  wissenschaftlich  beweiskräftig  anzunehmen, 
denn  mit  Hilfe  der  Statistik  kann  man  bekanntlich  ebenso 
wie  mit  Hilfe  der  Etymologie  alles  Beliebige  beweisen, 
und  daß  behördliche  Urkunden  auch  nicht  immer  direkt 
aus  göttlicher  Inspiration  hervorgehen,  dürfte  wohl  zuge- 
geben werden.  Es  bleibt  also  unter  allen  Umständen  für 
das  dichterische  Schauen  ein  weites  Feld  ersprießlicher 
Tätigkeit  übrig.  Und  der  Forscher,  der  den  Seher  verachtet, 
gleicht  dem  Querkopf,  der  bei  Mondschein  im  Kalender 
die  Iyaterne  zu  Hause  läßt,  auch  wenn  dicke  Wolken  das 
freundliche  Gestirn  dauernd  verfinstern. 

Ein  wie  schwieriges,  unter  Umständen  sogar  lebens- 
gefährliches Unterfangen  es  sei,  auch  mit  dem  ernst- 
lichsten Bemühen  um  Gerechtigkeit  über  Jung- Amerika 
zu  schreiben,  das  sollte  ich  aber  erst  aus  der  Wirkung 
erfahren,  die  meine  Zeitungsfeuilletons  drüben  taten. 
Ich  habe,  was  wohl  niemand  einem  Poeten  verargen  wird, 
ernsthafte  Dinge  ernst  und  minder  bedeutsame  Äußer- 
lichkeiten lustig  behandelt  und  mich  auch  selbstver- 
ständlich nicht  geniert,  in  der  humoristischen  Betrachtungs- 
weise der  heiteren  Wirkung  zuliebe  keck  zu  übertreiben 
und  nötigenfalls  sogar  ein  Weniges  dazu  zu  lügen,  in  der 
sicheren  Erwartung,  daß  der  amerikanische  Humor,  der 


XII  Zur  Verständigung. 


ja  bekanntlich  in  der  grotesken  Übertreibung  sich  am 
besten  gefällt,  gerade  an  diesen  heiteren  Episoden  Gefallen 
finden  würde.  Darin  scheine  ich  mich  jedoch  gründlich 
getäuscht  zu  haben,  und  Henry  F.  Urban,  der  humoristische 
Entdecker  Dollaricas  und  unzweifelhaft  genaue  Kenner 
seiner  Bewohner ,  dürfte  doch  wohl  recht  haben  mit 
seiner  Behauptung,  daß  der  richtige  Dollaricaner  keinen 
Sinn  für  Satire  habe,  wenigstens  nicht  sofern  sie  sich  auf 
ihn  selbst  und  sein  I^and  bezieht.  So  erklärt  sich  auch 
die  für  uns  merkwürdige  Erscheinung,  daß  dieses  so 
humorbegabte  und  zu  derben  Spaßen  aufgelegte  Volk 
noch  keine  politischen  Witzblätter  besitzt.  Der  Dollari- 
caner sieht  eben  fortwährend  vor  seinen  Augen  die  Wüste- 
nei sich  in  üppiges  Fruchtland  verwandeln,  Riesenstädte 
aus  elenden  Ansiedlungen  sich  quasi  über  Nacht  ent- 
wickeln, eine  luxuriöse  Tipptopp-Kultur  urplötzlich,  wie 
den  glänzenden  Schmetterling  aus  der  unscheinbaren 
Puppe,  aus  dem  Chaos  herausschlüpfen  —  da  ist  es  frei- 
lich begreiflich,  daß  sein  Herz  von  unbändigem  Stolze 
auf  sein  Wunderland  und  auf  die  Tatkraft  seiner  Be- 
wohner geschwellt  ist.  Dieser  schöne  Stolz  geht  nun  aber 
so  weit,  daß  er  jeden  für  einen  verleumderischen  Schurken 
erklärt,  der  nicht  alles  und  jedes  für  vollkommen  und 
unvergleichlich  hält,  was  die  Vereinigten  Staaten  her- 
vorbringen, und  daß  er  nicht  nur  dem  ausländischen 
Beobachter,  sondern  auch  seinen  eignen  I^andsleuten  jede 
kritische  Anwandlung  fürchterlich  übel  nimmt.  Die 
englischen  Zeitungen  haben  sich  vornehmlich  an  meine 
Spaße  und  Übertreibungen  gehalten  und  mich  wie  gänz- 
lich humorblinde  Pedanten  auf  kleine  Unrichtigkeiten 
festgenagelt  und  darum  ihrem  Publikum  als  unwissenden, 
leichtfertigen  Verleumder  hingestellt ;  meine  ehemaligen 
deutschen    I^andsleute    aber    haben    sogar    Entrüstungs- 


Zur  Verständigung-.  XIII 


meetings  abgehalten,  weil  ich  mich  der  Feststellung  der 
auffallenden  Tatsache  nicht  enthalten  konnte,  daß  sie  im 
allgemeinen  an  körperlichen  Vorzügen  hinter  den  Yankees 
zurückstehen,  und  daß  sie  nicht  verstanden  haben,  sich 
rechtzeitig  den  politischen  und  gesellschaftlichen  Ein- 
fluß zu  sichern,  den  sie  nicht  nur  durch  ihr  zahlenmäßiges 
Übergewicht,  sondern  auch  als  hervorragendste  Kultur- 
träger rechtens  zu  beanspruchen  gehabt  hätten.  Für 
diese  Missetat  haben  mich  zahlreiche  deutsch-ameri- 
kanische Blätter,  vornehmlich  minder  beträchtliche  Pro- 
vinzorgane, mit  den  liebenswürdigsten  Schmeichelnamen 
bedacht,  unter  denen  wohl  , krummer  Hund'  noch  der 
mildeste  war,  und  zahlreiche  Privatpersonen  haben  mich 
brieflich  ihrer  vorzüglichsten  Tiefachtung  versichert  und 
mir  sogar  mit  Mord  und  Totschlag  gedroht,  falls  ich  die 
Dreistigkeit  haben  sollte,  abermals  in  Hoboken  zu  landen. 
Nun,  ich  darf  mir  wohl  erlauben,  diese  seltsamen  Blüten 
patriotischer  Entrüstung  nicht  allzu  tragisch  zu  nehmen, 
da  außer  solchen  robusten  Kundgebungen  mir  doch  auch 
zahlreiche  bedingte  oder  unbedingte  Zustimmungen  zu- 
gingen, welche  im  Gegensatz  zu  jener  Knüppelpolemik 
durchweg  aus  den  oberen  geistigen  Regionen  herstammten. 
Ich  habe  übrigens  die  in  jenem  Aufsatz  über  die  Yankee- 
rasse, der  so  viel  böses  Blut  gemacht  hat,  niedergelegten 
Ansichten  in  verschiedenen  anderen  Kapiteln  dieses  Buches 
begründet  und  erweitert.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß 
ich  jedem  dankbar  sein  werde,  der  mir  beweist,  daß  ich  da 
und  dort  derb  daneben  gehauen  habe,  und  werde  es  mir 
zur  Pflicht  machen,  Irrtümer  zu  berichtigen,  soweit 
etwaige  Neuauflagen  die  Gelegenheit  dazu  geben  sollten. 
Zusammenfassend  betone  ich  also  noch  einmal,  daß 
dies  Buch  weder  wissenschaftlichen  Wert  beansprucht, 
noch  etwa  ein   Führer  für   Reisende   sein   soll,   dagegen 


XIV  Zur  Verständigung. 


auch  mehr  als  nur  unterhaltendes  Geplauder  zu  geben 
beabsichtigt.  Es  ist  für  uns  Europäer  von  größter  Wichtig- 
keit, uns  klare  Vorstellungen  von  diesem  I^ande  ohne 
Vergangenheit  zu  verschaffen,  das  für  uns  einen  Spiegel 
unserer  eignen  Zukunft  darstellt.  Nach  den  Vereinigten 
Staaten  zu  reisen  bedeutet  für  den  wißbegierigen  Europäer 
soviel,  wie  es  für  die  Unschuld  vom  L,ande  bedeutet,  zur 
Kartenschlägerin  zu  gehen,  nur  mit  dem  Unterschiede, 
daß  das,  was  wir  drüben  über  unsere  Zukunft  erfahren,  kein 
plumper  Schwindel,  sondern  unentrinnbare  Wahrheit  ist. 
Je  mehr  wir  mit  unserer  Vergangenheit  aufräumen,  je  rück- 
haltloser wir  uns  von  dem  reißenden  Strome  der  modernen 
Entwicklung  mit  forttragen  lassen,  desto  sicherer  werden 
sich  unsere  Zustände  und  unser  Charakter  amerikanisieren ; 
und  darum  ist  es  gut,  wenn  wir  uns  das  Wunderland  der 
Gegenwart  so  genau  wie  möglich  betrachten,  und  darum  hat 
jeder,  dem  eine  gute  Beobachtung  und  ein  gesundes  Urteil 
zu  Gebote  steht,  das  Recht  und  sogar  die  Pflicht,  über 
Dollarica  auszusagen,  was  irgend  er  davon  zu  wissen  glaubt. 
Ich  kann  dies  Vorwort  nicht  beschließen,  ohne  meinen 
verehrten  Gönnern  und  neugewonnenen  lieben  Freunden 
da  drüben,  vornehmlich  der  Germanistic  Society,  den 
örtlichen  Veranstaltern  meiner  Vorträge,  den  leitenden 
Persönlichkeiten  der  deutschen  Vereine,  sowie  den  beiden 
so  umsichtigen  und  eifrigen  Managern  meiner  Rundreise, 
den  Herren  Professor  Rudolf  Tombo  jun.  und  Paul  C.  Hol- 
ter,  meinen  aufrichtigsten  Dank  auszusprechen  für  die 
herzliche  Anteilnahme,  die  sie  meiner  Person  und  meinem 
Schaffen  zuteil  werden  ließen,  wie  für  die  große  Mühe, 
die  sie  so  erfolgreich  aufwendeten,  um  mir  in  der  kurzen 
Zeit  diese  reiche  Fülle  von  Eindrücken  zu  verschaffen. 

Darmstadt,  im  Oktober  1911. 

Ernst  Ludwig  Freiherr  von  Wolzogen. 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiii 


3nfialfsverzeichnis. 


Zur  Verständigung VII 

1.  Als  Mauernweiler  in  Dollarica 1 

2.  Die  Yankeerasse' 20 

3.  Der  Yankee  als  Erzieher 32 

4.  Das  Universitätsleben  in  der  Union 41 

5.  Öffentliche  und  private  Moral 64 

6     Liebe  und  Ehe 79 

7.  Die  Dienstbotenfrage 94 

8.  Die  Kochkunst  der  Yankees 110 

9.  Künstlerische  Kultur 122 

10.  Vom  Theater  im  Yankeelande 135 

11.  Die  amerikanische  Presse 149 

12.  Von  der  demokratischen  Gesellschaft 169 

13.  Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht    .  186 

14.  Die  Landschaft 207 

15.  Dollaricas  infamster  Schurke 220 

16.  Baedekereien  für  Amerikafahrer 232 

17.  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 250 

18.  Das  Hirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel 273 

Bücherverzeichnis 284 

Namen-  und  Sachregister 285 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniliiiiiii 


niiniiiiiiin  ii  ii  ii  ii  ii  in  im  iiiii  ii  in  ii  ii  ii  ii  ii  ii  im  im  in  in 

#ls  Mauernweiler  in  Dollarica. 


Ein  rechtschaffener  „teutscher  Tichter"  schlägt  drei 
Kreuze  vor  dem  Gedanken  einer  Auswanderung  nach 
den  Vereinigten  Staaten.  Nikolaus  I,enau,  der  seinerzeit 
aus  Begeisterung  für  die  Freiheit  und  für  die  biederen  Rot- 
häute hinübersegelte,  hat  bekanntlich  das  nächste  Retour- 
schiff benutzt,  und  sein  Entsetzen  hat  ihn  das  Wort  prägen 
lassen  von  dem  I^ande,  in  welchem  die  Vögel  keine  Iyieder 
und  die  Blumen  keinen  Duft  hätten.  (Eine  Behauptung, 
die  übrigens  nicht  einmal  zutrifft.)  Auch  Detlev  v.  I^ilien- 
cron  mochte  kein  intimes  Verhältnis  mit  der  Dame  Dolla- 
rica  eingehen,  weil  sie  gar  keine  Miene  machte,  ihm  von 
ihrem  Überfluß  an  Dollars  etwas  abzugeben.  Ich  vermute, 
daß  sie  ihn  zunächst  hat  Flaschen  spülen  lassen,  eine 
Prüfung  auf  die  männliche  Tüchtigkeit,  die  sie  allen  ge- 
strandeten Offizieren  und  sonstigen  mit  Bildung  oder 
hohen  I^ebensansprüchen  beschwerten,  zu  grober  Hand- 
arbeit jedoch  untauglichen  deutschen  Gunstbewerbern 
zunächst  einmal  auferlegt.  Wilhelm  v.  Polenz,  der  nicht 
mit  den  Hintergedanken  eines  galanten  Räubers,  sondern 
nur  mit  einem  Scheckbuch  bewaffnet  einige  Monate  im 
Iyande  herumreiste,  kehrte  dagegen  zufrieden  und  be- 
reichert heim  und  bescherte  uns,  als  Frucht  seines  fleißigen 
Studiums,  sein  schönes  und  gerechtes  Buch  ,,Das  I,and 
der  Zukunft".  Dafür  war  aber  auch  Polenz  kein  solch 
närrischer  Lyriker,  der  in  zornige  Tränen  ausbricht,  wenn 
ihm  ein  fremder  Weltteil  nicht  den  Gefallen  tut,  Nachti- 
gallen in  Kaktushainen  schlagen  und  Affen  auf  Iyinden- 
bäumen  herumklettern  zu  lassen.    Paul  Iyindau,  der  weit-, 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  1 


Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 


witz-  und  wortgewandte,  ist  durch  das  I^and  geflitzt  und 
hat  eine  Masse  von  Eindrücken  gleich  bunten  Schmetter- 
lingen im  Vorbeifliegen  mit  ,, gewandter  Feder"  feuilleto- 
nistisch  aufgespießt;  gelegentlich  der  großen  Weltmessen 
von  Chicago  und  St.  Iyouis  ist  auch  sonst  wohl  noch  der 
und  jener  aus  unserem  Federvolke  mit  drüben  gewesen, 
um  mit  mehr  oder  minder  leichtsinniger  Wichtigkeit  den 
Maßstab  seiner  kleinen  Person  an  die  Ungeheuerlich- 
keit der  Verhältnisse  da  drüben  zu  legen,  und  sie  sind  alle, 
durch  starke  Kindrücke  bereichert,  heimgekehrt.  Erst 
seitdem  einige  hervorragende  Deutsch- Amerikaner  mit 
Hilfe  der  Professoren  der  germanistischen  Fakultäten  und 
Unterstützung  etlicher  für  deutsche  Kunst  und  Wissen- 
schaft eingenommener  amerikanischer  Mäzene  die  Ger- 
manistic  Society  of  America  gegründet  haben,  ist  es  mög- 
lich geworden,  richtigen  deutschen  Dichtern  und  Ge- 
lehrten, ohne  Rücksicht  auf  Geldverdienst  und  etwaige 
lyrische  Sentimentalitäten,  die  große  Kinderstube  im 
fernen  Westen,  das  Märchenland  der  absoluten  Gegen- 
wärtigkeit, zu  zeigen  und  andererseits  diese  seltsamen 
Tiere  dem  amerikanischen  Volke  lebend  vorzuführen. 
Auf  diese  Weise  sind  Ludwig  Fulda,  Hermann  Anders 
Krüger,  Karl  Hauptmann  und  zuletzt  der  Schreiber 
dieser  Zeilen  dazu  gelangt,  ihren  deutschen  I^andsleuten 
drüben,  sowie  den  für  deutsche  Geistesart  interessierten 
Amerikanern  lebendige  Kunde  vom  deutschen  Dichten 
der  Gegenwart  zu  bringen. 

Ich  habe  im  I^aufe  von  etwa  acht  Wochen  an  neunzehn 
Universitäten  und  Colleges,  sowie  fünfzehnmal  in  deutschen 
Vereinen  gesprochen.  Ich  habe  dabei  teils  aus  meinen 
Werken  rezitiert,  teils  die  letzten  dreißig  Jahre  deutscher 
Literaturgeschichte  in  skizzenhaften  Schilderungen  persön- 
licher Eindrücke  und  Begegnungen  durchgenommen,  oder 


Psychologie  des  Publikums. 


mich  über  das  Theater  der  deutschen  Gegenwart  ver- 
breitet, oder  endlich  mit  Unterstützung  meiner  Frau  die 
Entwicklungsgeschichte  des  deutschen  Volksliedes  be- 
handelt. Und  daß  ich  diese  kleine  Singefrau  mit  hatte, 
war  sehr  gut.  Denn  wo  immer  sie  in  die  Zupfgeige  griff 
und  ihre  Volkslieder  aus  alten  Zeiten  erschallen  ließ,  da 
leuchteten  die  Augen,  da  war  der  Jubel  groß,  und  die 
gewohnten  Redensarten  eines  höflichen  Dankes  bekamen 
einen  echten  Herzensklang.  Sie  haben  mir  ja  auch  die 
Frau  nicht  wieder  herausgegeben,  als  ich  nach  getaner 
Arbeit  heimwärts  strebte;  sie  haben  sie  mit  sanfter  Ge- 
walt da  behalten,  weil  sie  von  ihr  noch  lange  nicht  genug 
hatten.  Das  soll  nun  nicht  etwa  heißen,  daß  ich  mich  über 
eine  laue  Aufnahme  oder  über  Unverständnis  zu  beklagen 
gehabt  hätte.  Ganz  im  Gegenteil :  man  muß  bei  uns  schon 
bis  nach  Wien  gehen,  um  eine  solche  Temperatur  der 
dankbaren  Begeisterung  zu  finden;  aber  ich  merkte  doch 
sehr  bald,  daß  ich  diesen  lebhaften  Beifall  vornehmlich 
meiner  rezitatorischen  Leistung  sowie  dem  Umstände  zu 
verdanken  hatte,  daß  ich  einen  wichtigen  Teil  meines 
Wesens  vorsorglich  unterschlug.  Als  praktischer  Theater- 
mann habe  ich  die  Kunst  gelernt,  unterhaltende  Pro- 
gramme zusammenzustellen,  und  auf  die  Psychologie  der 
Massen  verstehe  ich  mich  auch  einigermaßen;  das  ist  der 
Grund,  weshalb  mir's  drüben  so  gut  gegangen  ist.  Ich 
wußte  schon  vorher  genug  über  den  Geschmack  des 
amerikanischen  Publikums,  um  ungefähr  beurteilen  zu 
können,  welche  meiner  Werke  und  Anschauungen  für  drüben 
möglich  wären  und  welche  nicht.  Und  da  mußte  von 
vornherein  vieles  von  dem  als  unmöglich  ausgeschlossen 
werden,  womit  ich  mir  hier  meine  wertvollsten  Erfolge 
geholt  und  meiner  literarischen  Persönlichkeit  überhaupt 
erst  feste  Umrisse  gegeben  habe.    Die  Natürlichkeiten  der 

l* 


Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 


Erotik  sind  bei  den  Angloamerikanern  ebenso  von  der 
öffentlichen  Besprechung  und  künstlerischen  Gestaltung 
ausgeschlossen  wie  die  heiligen  Stoffe,  und  die  Deutsch- 
Amerikaner,  die  lange  genug  drüben  gelebt  haben,  sind 
immerhin  von  diesem  Puritanertum  soweit  angesteckt, 
daß  die  Grenzen  des  künstlerisch  Erlaubten  bei  ihnen 
nicht  weiter  gehen  als  etwa  beim  deutschen  Familienblatt 
älteren  Stils.  Du  lieber  Himmel  —  und  ich  bin  der  Ver- 
fasser des  ,, Dritten  Geschlechts",  der  ,, Geschichten  von 
lieben  süßen  Mädeln"  und  gar  ,,des  Erzketzers"  und  habe 
niemals  einen  Beitrag  zur  ,, Gartenlaube"  oder  zum  „Da- 
heim" geliefert!  Selbstverständlich  hatte  ich  wohl  aus- 
nahmslos an  jedem  meiner  Vortragsabende  ein  paar 
literarisch  gebildete,  vorurteilslose  L,eute  unter  meinem 
Publikum,  die  sich  gerne  hätten  stärker  beschwören 
lassen;  aber  ich  sollte  mich  doch  der  Mehrheit  erfreulich 
und  nützlich  machen,  den  des  Deutschen  beflissenen 
Studenten  englischer  Zunge  und  besonders  den  aus  allen 
Bildungsschichten  zusammengewürfelten  Deutsch-Ameri- 
kanern. 

Mit  den  Versen  gab's  wenig  Schwierigkeit.  Meine 
Balladen  und  Hymnen  auf  die  moderne  Technik  mußten 
ja  in  dem  Lande  der  technischen  Hochkultur  zünden,  und 
auch  von  den  satirischen  Scherzgedichten  wurde  das 
meiste  verstanden;  aber  mit  der  Auswahl  von  Prosa- 
stücken hatte  ich  meine  liebe  Not,  und  bei  meinen  Streif- 
zügen durch  die  deutsche  Iyiteratur  der  letzten  dreißig 
Jahre  bemerkte  ich  auch  gar  bald,  wie  wenig  davon  selbst 
dem  gebildeten  Publikum  bekannt  war.  Sobald  ich  bei 
einer  meiner  L,ieblingsfiguren  etwas  länger  verweilte  oder 
den  Versuch  machte,  ein  bißchen  in  die  Tiefe  zu  bohren, 
bemerkte  ich,  wie  sich  alsbald  ein  suggestives  Gähnen 
durch  die  Reihen  fortpflanzte  und  die  teilnahmsvoll  ge- 


Humoristische  Lichter. 


spannten  Züge  zu  erschlaffen  begannen.  Da  mußte  ich 
mich  denn  beeilen,  mit  einer  scherzhaften  Anekdote  oder 
einer  satirisch  zugespitzten  Bemerkung  die  entflatternde 
Aufmerksamkeit  wieder  einzufangen.  Wie  in  so  vieler 
anderer  Beziehung,  so  sind  die  Amerikaner  auch  darin 
noch  auf  einem  kindlichen  Standpunkt,  daß  sie,  und 
zwar  nicht  nur  die  Jungen,  sondern  auch  die  Alten,  durch- 
aus lachen  wollen,  wenn  sie  sich  zu  irgendwelchem  Zwecke 
in  Massen  versammeln.  Der  Politiker  muß  so  gut  wie  der 
Universitätsprofessor  und  sogar  der  Kanzelredner  Witze 
machen,  wenn  er  sein  Publikum  fesseln  will.  Kein  Redner 
wird  jemals  in  diesem  L,ande  Erfolg  haben,  der  nicht 
zum  mindesten  die  Kunst  versteht,  selbst  ernstesten 
Gegenständen  humoristische  leichter  aufzusetzen.  Ich 
habe  eine  feierliche  Universitätssitzung  mitgemacht,  bei 
welcher  der  Präsident  der  Universität  eine  ausgezeichnete 
Gedenkrede  auf  eine  verstorbene  Leuchte  derselben  hielt. 
Es  war  ein  kalter,  nebliger  Morgen  und  man  saß  in  Über- 
ziehern und  Galoschen  da,  aber  sobald  der  Vortragende 
eine  drollige  Wendung  gebrauchte,  einen  freundlich  heiteren 
Zug  aus  dem  Lieben  des  Gefeierten  erzählte,  oder  gar  eine 
witzige  Nutzanwendung  machte,  erwärmte  sich  die  frie- 
rende Gesellschaft  an  lautem  Gelächter.  In  dem  ameri- 
kanischen nationalen  Drama,  der  Blood  and  Thunder- 
Show,  muß  die  erbauliche  Abwechslung  zwischen  Iyeichen- 
aufhäufung  unter  Revolvergeknatter  und  sentimentaler 
Rührung  über  unmenschliche  Edelmutsausbrüche  (vom 
obligaten  Tremolo  der  Geigen  begleitet)  in  regelmäßigen 
Abständen  von  derben  Clownspässen  unterbrochen  werden, 
um  dem  guten  Volke  schmackhaft  zu  bleiben,  und  der 
bekannte  kleine  polnische  Jude,  der  auf  die  Frage,  wie 
ihm  der  ,, Tristan"  gefallen  habe,  achselzuckend  erwiderte: 
„Nu,    mer    lacht",    könnte    hier    leicht    manches    Gegen- 


Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 


stück  finden.  Das  ist  nun  etwa  nicht  als  besonderes  Schand- 
mal der  amerikanischen  Unkultur  aufzufassen,  denn  der 
Banause  hat  in  der  ganzen  Welt  der  Kunst  gegenüber 
genau  denselben  Standpunkt:  er  schätzt  sie  bestenfalls 
als  erheiternden  Zeitvertreib.  Die  geistige  Erhebung 
durch  tragische  Erschütterung  vermag  er  ebensowenig 
zu  genießen,  wie  die  rein  ästhetische  Freude  an  der  schönen 
Form;  sein  Interesse  hängt  rein  am  Stofflichen,  am  gröb- 
lich Sinnfälligen,  an  der  handgreiflichen  Moral  oder  Ten- 
denz. Da  in  Amerika  noch  nicht  viele  Leute  und  auch 
diese  erst  seit  kurzem  Zeit  gefunden  haben,  ihre  etwaigen 
ästhetischen  Veranlagungen  zu  pflegen,  so  ist  es  selbst- 
verständlich, daß  es  dort  im  Verhältnis  zur  Einwohner- 
zahl sehr  viel  weniger  ästhetisch  interessierte  Menschen 
gibt  als  bei  uns,  und  unsere  guten  Landsleute  können 
von  dieser  Regel  um  so  weniger  eine  Ausnahme  machen, 
als  sie  ja  zum  weitaus  überwiegenden  Teil  von  gänzlich 
amusischer  Herkunft  sind.  Die  deutschen  Amerikaner, 
die  heute  vornehmlich  sich  eine  Ehrenpflicht  daraus 
machen,  den  Zusammenhang  mit  der  deutschen  Geistes- 
kultur aufrecht  zu  erhalten,  setzen  sich  zusammen  aus 
den  Überresten  der  achtundvierziger  Emigranten  und 
ihrer  Nachkommen,  aus  den  neuerdings  Eingewanderten 
mit  akademischer  Bildung,  die  hier  als  Lehrer  und  Lehrer- 
innen, als  Ärzte,  Künstler  usw.  eine  Lebensstellung  ge- 
funden haben,  und  endlich  aus  einigen  nicht  allzu  zahl- 
reichen Nachkommen  von  Leuten,  die  in  Handel  und 
Gewerbe  hier  ihr  Glück  gemacht  haben  und  daher  im- 
stande waren,  ihren  Kindern  eine  höhere  Schulbildung 
zuteil  werden  zu  lassen.  Die  vielen  deutschen  Vereine 
sind  folglich  auch  noch  nicht  imstande,  sich  rein  künst- 
lerischen und  literarischen  Bestrebungen  zu  widmen. 
Sie   scheiden   sich    mehr   nach   Landsmannschaften    oder 


Was  sie  alles  komisch  finden. 


Gesellschaftsschichten  als  nach  geistigen  Ansprüchen. 
Man  darf  also  nicht  erwarten,  für  irgend  welche  wissen- 
schaftlichen oder  künstlerischen  Darbietungen  in  den 
Vereinigten  Staaten  ein  so  homogenes,  wohlgezogenes 
und  anspruchsvolles  Publikum  zu  finden,  wie  etwa  in 
unseren  deutschen  literarischen  Gesellschaften,  kauf- 
männischen oder  auch  selbst  sozialdemokratischenBildungs- 
vereinen.  Man  kann  aber  sicher  sein,  überall  unter  seinen 
Zuhörern  eine  Anzahl  fein  gebildeter  und  verständnis- 
voller Menschen  zu  finden,  wenn  es  auch  nur  eine  kleine 
Minderheit  sein  mag.  Für  diese  Minderheit  wird  man  dann 
aber,  wenn  man  seine  Mission  ernst  nimmt,  sein  Bestes 
geben  und  die  Kleinen  und  Armen  im  Geiste  nach  Mög- 
lichkeit durch  Konzessionen  an  ihr  Unterhaltungsbe- 
dürfnis mit  zu  ziehen  suchen.  Manchmal  kann  es  einen 
freilich  bei  solchen  überraschenden  Ausbrüchen  kindlicher 
Heiterkeit  kalt  überlaufen.  Im  Hörsaal  der  Universität 
zu  Rochester  wollten  sich  Studenten  deutscher  Abkunft 
halb  tot  lachen  über  die  von  mir  berichtete  traurige  Tat- 
sache, daß  Iyiliencron  im  Feldzuge  von  1870/71  diverse 
Kugeln  in  den  L,eib  bekommen  habe,  von  denen  ihm  alle 
paar  Jahre  eine  im  Operationssaal  der  Universitätsklinik 
zu  Kiel  herausgeholt  wurde !  Und  in  der  High  School  von 
Youngstown  (Ohio)  kreischten  die  Boys  und  Girls  vor 
Vergnügen,  als  ich  ihnen  die  tief  ergreifende  Ballade  von 
der  Großmutter  Schlangenköchin  übersetzte.  Über  die 
Fischlein,  die  die  böse  Hexe  mit  einem  Stock  im  Kraut- 
gärtlein  fängt,  und  gar  über  „The  black  and  tan  Doggie, 
that  burst  into  a  thousand  pieces"  (das  schwarzbraune 
Hündlein,  das  in  tausend  Stücke  zersprang),  bogen  sie 
sich  krumm  vor  fachen,  und  meine  Frau,  die  sie  gerade 
durch  diese  Ballade  zu  Tränen  zu  rühren  gedachte,  war 
blaß  vor  Schrecken,  —  hat  sie  aber  dann  doch  zu  packen 


8  Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 

gekriegt,  diese  robusten  Neuweltler,  denen  die  lieb  herzige 
Einfalt  des  deutschen  Märchenstiles  so  siebenfach  ver- 
siegelt ist. 

Wenn  man  in  den  Vereinigten  Staaten  unter  den 
Auspizien  einer  hochangesehenen  Gesellschaft  reist,  so 
bekommt  man  eine  deutliche  Vorstellung  davon,  wie 
angenehm  und  erhebend  es  sein  muß,  als  Fürstlichkeit 
durchs  Dasein  zu  wallen.  Genau  so  wie  bei  uns  eine  die 
Provinzen  bereisende  bessere  Fürstlichkeit  wird  man 
nämlich  in  den  Vereinigten  Staaten  behandelt,  sobald 
man  offiziell  als  großes  Tier,  als  illustrer  Gast  gemanagt 
wird.  Am  Bahnhof  Empfang  durch  ein  Komitee,  das 
einen  in  das  erste  Hotel  der  Stadt  geleitet,  wo  man  sich 
kaum  des  Reiseschmutzes  entledigt  hat,  als  einem  auch 
schon  die  Reporter  auf  den  I,eib  rücken.  In  der  kurzen 
Zeit,  die  einem  das  Komitee  zum  Säubern  und  Ausruhen 
gönnt,  (meistens  ist  man  ja  die  Nacht  durch  gefahren, 
denn  die  einzelnen  Vortragsstädte  liegen  nicht  selten  so 
weit  auseinander  wie  etwa  Berlin  und  Neapel!)  muß  man 
mehrere  Interviews  über  sich  ergehen  lassen,  bei  denen 
einen  der  stete  Zweifel  nervös  macht,  wer  von  beiden  der 
größere  Esel  sei,  der  Interviewer  oder  der  Interviewte. 
Dann  tritt  das  Komitee  wieder  an,  um  einem  die  Sehens- 
würdigkeiten der  Stadt  zu  zeigen,  wobei  zu  bemerken  ist, 
daß  im  ganzen  Osten  bis  zum  Mittelwesten  der  Union, 
bis  hinauf  an  die  kanadische  und  hinunter  an  die  vir- 
ginische  Grenze  eine  Stadt  genau  so  reizlos  und  uninteres- 
sant ist  wie  die  andere  (mit  vielleicht  einziger  Ausnahme 
von  Boston  und  Washington),  daß  die  Kriegerdenkmäler 
noch  erheblich  fürchterlicher  sind  als  bei  uns,  und  man 
die  berühmtesten  Bauten  meistens  schon  im  Original  in 
Europa  gesehen  hat.  Erfreulich  werden  diese  Besichtigungs- 
fahrten nur,    wenn  sie   aus  den  wüsten   Steinhaufen  der 


Sehenswürdigkeiten  und  Gastfreundschaft. 


Citys  hinaus  ins  L,and  führen  und  man  einen  schönen 
Tag  erwischt.  Architektonisch  interessante  Villenviertel 
mit  reizenden  Schmuckgärten  wie  bei  uns  gibt  es  freilich 
kaum  irgendwo.  Aber  wenn  die  Sonne  lacht,  sind  selbst 
die  zum  Gähnen  einförmigen  gemütlichen  Holzhäuschen, 
mit  denen  auch  sehr  wohlhabende  Amerikaner  glücklich 
und  zufrieden  sind,  eine  Wohltat  zu  sehen.  Nachdem 
der  ästhetische  Graus  der  Städte  dergestalt  überstanden 
ist,  geht  es  zum  Iyunch,  und  der  ist  eigentlich  immer  er- 
freulich und  gemütlich,  gleichviel  ob  man  in  eine  wild- 
fremde Familie,  in  ein  feines  Restaurant  oder  in  einen 
exklusiven  Klub  geladen  ist.  Denn  die  amerikanische 
Gastfreundschaft,  mag  sie  von  Yankees  oder  Deutschen 
ausgeübt  werden,  ist  über  alles  Ivob  erhaben.  Und  wenn 
bei  solchen  Gelegenheiten  das  Menü  nur  nicht  zu  ameri- 
kanisch und  die  Gastgeber  keine  Teatotalers  sind,  so  kann 
man  sich  seines  L,ebens  freuen,  ohne  durch  steife  Förm- 
lichkeit oder  durch  aufdringliche  Protzerei  geärgert  zu 
werden.  Nicht  selten  ist  bereits  mit  dem  Lunch  eine 
kleine  reception  verbunden,  d.  h.  nach  dem  Essen 
treten  mehrere  Dutzend  Menschen,  die  ganze  Fakultät, 
wenn  der  Gastgeber  ein  Professor  ist,  die  ganze  Freund- 
schaft und  Verwandtschaft,  wenn  der  Empfang  inoffiziell 
ist,  in  den  zumeist  winzig  kleinen  Stuben  an,  um  Bekannt- 
schaft zu  machen.  Das  ist  die  mildeste  Form  der  ,, recep- 
tion". Man  hört  alle  Namen,  schüttelt  alle  Hände,  schwätzt 
ein  Stündchen  herum  und  hat  im  Fluge  einen  oberfläch- 
lichen Bindruck  von  dem  Verkehrskreis  des  Gastgebers 
gewonnen,  vielleicht  sogar  eine  wirklich  interessante 
Persönlichkeit  flüchtig  angebohrt.  Ist  man  an  ein  Komitee 
geraten,  das  bereits  Erfahrungen  mit  europäischen  Nerven 
gemacht  hat,  so  darf  man  sich  zu  einem  Ruhestündchen 
zurückziehen,  andernfalls  geht  es  ohne  Gnade  und  Barm- 


10  Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 

herzigkeit  weiter  im  Programm.  Man  wird  zur  Besich- 
tigung der  Universitätsinstitute,  der  Bibliotheken,  der 
Laboratorien,  Museen,  bemerkenswerter  Fabrikbetriebe 
oder  was  es  auch  immer  sei,  mit  Vorliebe  auch  zu  dem 
Gouverneur  des  Staates  oder  doch  mindestens  zum  Bürger- 
meister der  Stadt  geschleppt.  Wenn  man  bedenkt,  daß 
so  ein  Gouverneur  der  konstitutionelle  Regent  eines 
Landes  ist,  das  in  den  meisten  Fällen  größer  als  das  König- 
reich Bayern,  in  einigen  Fällen  sogar  größer  als  ganz 
Deutschland  ist,  so  ist  man  erstaunt  über  die  leichte  Zu- 
gänglichkeit und  jeder  steifen  Förmlichkeit  abholde  Art 
dieser  großen  Herren.  Sie  haben  natürlich  keine  Ahnung 
davon,  wer  man  ist,  aber  sie  beteuern,  über  die  Bekannt- 
schaft entzückt  zu  sein,  und  stellen  sich  aufs  Liebens- 
würdigste unseren  Wünschen  zur  Verfügung.  Mittler- 
weile wird  es  dann  Zeit,  sich  zum  dinner  in  füll  dress  zu 
werfen.  Dabei  geht  es  ohne  mehrere  Toaste  niemals  ab, 
denn  der  Amerikaner  redet  gern  und  hervorragend  gut, 
und  man  muß  sein  bißchen  Witz  gehörig  zusammen- 
nehmen, um  diesem  nationalen  Talente  gegenüber  mit 
seiner  Antwort  zu  bestehen.  Hat  man  den  Abend  frei, 
so  ist  solch  ein  dinner  um  7  Uhr  eine  erquickliche  An- 
gelegenheit ;  denn  nirgends  existiert  in  Amerika  die  deutsche 
Unsitte,  stundenlang  bei  Tische  zu  sitzen,  eine  unmögliche 
Masse  von  Speisen  und  ebenso  viel  verschiedene,  in  der 
Schwere  sich  steigernde  Weinsorten  eingepumpt  zu  be- 
kommen. Große  offizielle  Festessen  dehnen  sich  freilich 
auch  sehr  lang  aus,  aber  nicht  wegen  der  Länge  des 
Menüs,  sondern  nur  wegen  der  nationalen  Sitte,  die 
Schleusen  der  Beredsamkeit  erst  nach  dem  Dessert  zu 
öffnen.  Toastmaster  und  Chairman  regulieren  den  Strom 
nach  parlamentarischer  Sitte,  und  wenn  die  Rednerliste 
erschöpft     ist,     beginnt     erst     der     echt     amerikanische 


Nervös  sind  sie  nicht.  1  \ 


Hauptspaß,  indem  der  Toastmaster  noch  unter  den  be- 
sonders prominenten,  durch  ihre  Eigenart  berühmten 
oder  berüchtigten  Anwesenden  eine  ganze  Anzahl  zu 
Improvisationen  reizt.  Selten  daß  einer  auf  solche  Reizung 
nicht  reagiert.  Natürlich  reitet  bei  dieser  Gelegenheit 
jeder  sein  Steckenpferd,  wobei  aber  erst  recht  viel  witziges 
oder  gedankenreiches  Eigengut  zutage  gefördert  wird. 
Schlimm  ist  es,  wenn  man  unmittelbar  nach  dem  Essen 
seinen  Vortrag  halten  muß,  wie  das  gar  nicht  selten  vor- 
kommt. Und  noch  schlimmer,  wenn  einem,  wie  mir  das 
auch  passiert  ist,  erst  beim  Besteigen  der  Rednertribüne 
vom  Vorsitzenden  zugeraunt  wird,  daß  man  doch  ge- 
fälligst nur  eine  Stunde  lang  sprechen  möge  —  über  ein 
Thema,  das  in  dreien  kaum  halbwegs  gründlich  zu  er- 
ledigen wäre!  Diese  beneidenswert  robusten  Neuweltler 
nehmen  eben  als  selbstverständlich  an,  daß  ein  Mensch, 
der  einen  Beruf,  ein  Geschäft  daraus  macht,  öffentliche 
Vorträge  zu  halten,  jederzeit  und  unter  allen  Umständen 
bereit  sein  müßte,  sie  aus  der  Pistole  zu  schießen.  Daß  wir 
schwächlichen  Ostleute  zu  jeder  geistigen  Leistung  Samm- 
lung und  Stimmung  brauchen,  das  scheinen  sie  nicht  zu 
verstehen.  Dem  nervenlosen  Amerikaner  ist  es  auch 
ganz  gleichgültig,  wie  das  L,okal  ausschaut,  in  dem  er 
seine  Kunst  genießt  oder  seine  Bildung  bereichert;  offene 
Türen,  hin-  und  herlaufende  Menschen,  pfeifende  und 
klingelnde  Lokomotiven  vor  den  Fenstern,  polternde 
Kegel-  unter  und  probende  Gesangvereine  über  dem  Lokal 
genieren  ihn  nicht  im  mindesten.  Ich  ging  an  einem 
Universitätshörsaal  vorbei,  dessen  Tür  sperrangelweit 
offen  stand;  im  Korridor  trappten  laut  schwatzende  und 
lachende  Studenten  auf  und  ab,  aber  weder  der  vortragende 
Professor  noch  die  eifrig  nachschreibenden  Hörer  ließen 
sich  dadurch  auch  nur  im  geringsten  stören.    In  St.  L,ouis 


12  Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 

waren  die  L,eute,  die  mein  Auditorinm  in  Stand  setzen 
sollten,  ausgeblieben.  Infolgedessen  war  das  Iyokal  so 
schmutzig  von  Kohlenruß,  daß  ich  einen  weißen  Hand- 
schuh, der  mir  entfiel,  schwarz  wieder  aufhob  und  das 
elektrische  L,icht  versagte ;  wir  saßen  also  bei  einigen  Not- 
lampen im  Finstern,  und  ich  trug  eine  rührende  Geschichte 
vom  bitteren  Luiden  und  Sterben  eines  schwindsüchtigen 
Mädchens  unter  der  rhythmischen  Begleitung  zweier 
melodisch  knallender  Heizkörper  vor.  Natürlich  war  ich 
nahe  daran,  aus  der  Haut  zu  fahren;  mein  Publikum  aber 
schien  durch  diese  stimmungsmordenden  Umstände  nicht 
im  mindesten  berührt  zu  werden.  Der  Vorsitzende  bat  für 
diese  Übelstände  um  Entschuldigung,  und  damit  war  es 
gut.  Der  Amerikaner  fügt  sich  in  das  Unvermeidliche  mit 
bewundernswerter  Ruhe  und  Geduld.  Wenn  er  gekommen 
ist,  um  für  sein  Geld  Kunst  zu  genießen  oder  Weisheit  zu 
schlürfen,  so  führt  er  diesen  Vorsatz  auch  unter  den 
widrigsten  Verhältnissen  aus,  denn  er  will  auf  seine  Kosten 
kommen.  Und  seine  Nerven  parieren  ihm  so  absolut,  daß 
er  imstande  ist,  durch  einfachen  Willensakt  während  des 
zartesten  Pianissimos  einer  Sängerin  den  knallenden 
Heizkörper  oder  die  läutende  Lokomotive  nicht  zu  hören. 
Die  große  reception,  dieser  Schrecken  aller  Schrecken 
für  berühmte  Mauernweiler,  diese  echt  amerikanische 
„Hetz",  pflegt  nach  dem  Vortrag  des  zu  feiernden  Gastes 
in  einem  möglichst  großen  Saale  stattzufinden.  Der 
Amerikaner  stellt  sich  bekanntlich  nie  selber  vor.  Man 
kann  stundenlang  im  Eisenbahnwagen  miteinander  fahren 
und  sich  angeregt  unterhalten,  man  kann  sogar  wochen- 
lang auf  einem  Dampfer  Tisch-  und  Kabinennachbar 
eines  scharmanten  Menschen  sein,  ohne  daß  es  ihm  ein- 
fallen wird,  sich  selber  vorzustellen.  Und  wenn  der  wackere 
Deutsche  in  seiner  angeborenen  Höflichkeit  sich  bemüßigt 


Nicht  vorstellen!  13 


fühlt,  einer  solch  angenehmen  Reise-  oder  Table  d'hote- 
Bekanntschaft  gegenüber  die  Hacken  zusammenzuschlagen 
und  mit  kommentmäßig  heruntergeklapptem  Haupte  zu 
schnarren:  „Sie  gestatten,  mein  Name  ist  Müller,"  so 
riskiert  er,  daß  der  Angeredete,  ohne  sich  von  seinem  Sitz 
zu  erheben,  ihn  von  unten  herauf  gelangweilt  anschaut 
und  mit  gequetschtem  Nasen  tone  die  impertinent  zweifelnde 
Frage  zurückgibt:  ,,Aoh,  is  that  so?"  Der  Amerikaner 
hat  stets  den  Ehrgeiz,  mit  prominenten  L,euten  bekannt 
zu  werden.  Ausländische  Berühmtheiten  interessieren 
ihn  brennend,  und  fürlyeute  mit  schönen  Titeln  und  langen 
Namen  aus  Buropa  hat  er  eine  besondere  Schwäche,  aber 
niemals  würde  er  sich  einfallen  lassen,  eine  formlose  Vor- 
stellung zu  provozieren.  Man  kann  in  der  guten  Gesell- 
schaft nur  miteinander  bekannt  werden,  indem  man  von 
dem  Gastgeber,  bei  dem  man  sich  trifft,  offiziell  einander 
vorgestellt  wird.  Diesen  Zweck  erfüllen  unter  anderen 
Veranstaltungen  auch  die  berüchtigten  receptions.  Jeder, 
der  nur  irgendwelche  Berührungspunkte  mit  der  gesell- 
schaftlichen Sphäre  oder  mit  dem  Beruf  des  prominenten 
Gastes  hat,  bemüht  sich,  eine  Einladung  zu  solcher  recep- 
tion  zu  bekommen.  Der  Vorgang  bei  dieser  hochnot- 
peinlichen Prozedur,  wie  ich  sie  im  Staate  Wisconsin  in 
musterhafter  Form  erlebt  habe,  ist  folgender:  Man  stellte 
mich  an  eine  Säule  an  der  Schmalseite  des  großen  Saales 
und  meine  Frau  an  eine  andere  Säule  wenige  Schritte 
davon  entfernt.  Mir  zur  Seite  trat  ein  Gentleman- Usher 
und  an  die  Seite  meiner  Frau  eine  Lady-Usher  (Usher 
=  Einführer).  Von  diesen  wird  vorausgesetzt,  daß  sie 
wie  ein  Hofmarschall  alle  eingeladenen  Herrschaften 
nach  Namen,  Rang  und  Stand  kennen.  In  langer  Reihe, 
einzeln  oder  paarweise  hintereinander  nahen  sich  nun  die 
Scharen    derer,    die    unsere    Bekanntschaft    zu    machen 


14  Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 

wünschen,  und  der  Usher  waltet  seines  Amtes.  ,, Erlauben 
Sie  mir,  Ihnen  Mister  und  Missis  John  Dubbleju  Weber 
(sprich:  Uebbäh)  vorzustellen.  Einer  der  prominentesten 
Bürger  unserer  Stadt,  man  kann  sagen  einer  ihrer  Be- 
gründer, denn  er  hat  vor  vierzig  Jahren  hier  in  dem  In- 
dianerdorf, das  damals  auf  dieser  Stelle  stand,  den  ersten 
Ivaden  für  baumwollene  Taschentücher,  Whisky,  Kau- 
tabak und  Schießpulver  eröffnet." 

,,How  do  you  do,  Mister  Uolsogen?"  gurgelt  Mister 
John  Dubbleju  Uebbäh  aus  seiner  respektablen  Speck- 
wampe heraus  und  beginnt  mit  meinem  Arme  wie  mit 
einem  Pumpenschwengel  zu  hantieren.  ,, Komme  Se  mal 
zu  mir,  da  wer'  ich  Se  mal  was  Scheenes  ßeigen;  und 
bringen  Se  auch  de  Frau  Uolsogen  mit,  wenn  se  Anti- 
quitis  gleicht."  (Antiquitäten  gern  hat). 

Und  Missis  Uebbäh,  eine  umfangreiche  Dame  mit 
kolossalen  Brillantboutons  in  den  Ohrlappen,  grinst  mich 
mütterlich  bewegt  an  und  versichert,  entzückt  zu  sein, 
mich  zu  treffen.  Der  Mann  gibt  meine  Hand  an  sie  weiter, 
und  sie  pumpt  die  Behauptung  aus  mir  heraus,  daß  ich 
glücklich  sei,  Persönlichkeiten  vor  mir  zu  sehen,  welche 
die  ganze  Geschichte  dieser  berühmten  Stadt  nicht  nur 
mit  erlebt,  sondern  sozusagen  selber  gemacht  hätten. 

,,Move  on,  please!"  sagt  der  Usher  und  schiebt  das 
imposante  Ehepaar  sanft  weiter,  worauf  er  mich  mit 
Mister  und  Missis  Isaak  O.  Waddlepaddledaddle  (oder 
so  was  ähnliches)  bekannt  macht.  Mister  Waddlepaddle- 
daddle (oder  so  was  ähnliches)  ist  mit  sieben  Cents  in  der 
Tasche  vor  fünfundzwanzig  Jahren  hier  eingewandert 
und  hat  etwa  ein  Dutzend  Mal  seinen  Beruf  gewechselt, 
bis  er  sich  auf  Rattengift  geworfen  hat.  Seit  einigen 
Jahren  steht  er  an  der  Spitze  des  Patent-Ungezieferver- 
tilgungsmitteltrusts    und    ist    elf  Millionen  Dollar    wert. 


Great  reception.  15 


Seine  Frau  ist  tief  ausgeschnitten  und  bedeckt  ihre  wogende 
Blöße  mit  Brillanten  für  etliche  Hunderttausende.  Sie 
ist  so  schrecklich  betrübt  (so  awfully  sorry!),  daß  ihre 
Tochter  mich  nicht  kennen  lernen  kann,  denn  die  ist  ver- 
gangenes Jahr  in  Deutschland  gewesen  und  so  eingenom- 
men von  der  deutschen  Literatur.  Sie  habe  viele  von 
meinen  Büchern  gelesen,  darunter  natürlich  auch  meinen 
entzückenden  ,, Herrgottsschnitzer  von  Oberammergau" 
und  meinen  reizenden  ,, Hüttenbesitzer"  und  überhaupt 
beinahe   alles.      Leider   habe   das   Mädchen   die   Mumps. 

Beschämt  und  tief  gerührt  bekenne  ich,  daß  diese 
genaue  Kenntnis  meines  dichterischen  Schaffens  mich 
zum  ersten  Mal  das  Hochgefühl  einer  wahren  Popularität 
auf  zwei  Hemisphären  voll  empfinden  lasse. 

Mister  Waddlepaddledaddle  (oder  so  was  ähnliches) 
quetscht  mir  bewegt  die  Hand,  und  Missis  Waddle- 
paddledaddle (oder  so  was  ähnliches)  hat  noch  eine 
Frage  auf  den  üppigen  Lippen,  als  mein  Usher  mir 
bereits  einen  ehrwürdigen  Greis  in  weißem  Locken- 
schmucke,  das  glattrasierte  Antlitz  scharf  und  geistvoll 
geschnitten,  als  den  berühmten  Professor  der  Ethik, 
Dr.  James  Cadwalleder  B.  Mapletree  vorstellt.  Der  be- 
rühmte Gelehrte  ist  so  steinalt,  daß  ich  ihm  aufs  Wort 
geglaubt  hätte,  wenn  er  mir  versichert  hätte,  daß  bereits 
George  Washington,  Benjamin  Franklin  und  Henry  Clay 
(welch  letzterer  übrigens  keineswegs  Zigarrenfabrikant  in 
Havanna,  sondern  ein  1852  verstorbener  bedeutender 
Staatsmann  ist)  bei  ihm  Colleg  gehört  hätten.  ,,Froh, 
Sie  zu  treffen,  Baron",  beginnt  der  große  Gelehrte,  mir 
kräftig  die  Hand  drückend,  und  wissend,  daß  ihm  nicht 
viel  Zeit  gegeben  ist,  knüpft  er  gleich  eine  Frage  über  den 
Stand  der  Ethik  in  Deutschland  als  wissenschaftliche 
Disziplin    sowie    als    bewußte    Ausdrucksform    der  Volks. 


16  Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 

seele  an.  Ich  erinnere  mich  zum  Glück,  daß  ich  jahrelang 
eifriges  Mitglied  des  Ethischen  Klubs  im  Kellerlokal  des 
Hofbräu- Ausschankes  in  der  Französischen  Straße  in 
Berlin  gewesen  bin  und  erkläre  ihm,  daß  wir  in  der  Ethik 
durchaus  obenauf,  up  to  date  wären  und  überhaupt 

,,Move  on,  please!"  ruft  der  unerbittliche  Usher,  und 
der  große  Gelehrte  bezähmt  lächelnd  seinen  Wissens- 
durst und  läßt  sich  ohne  Murren  weiterschieben. 

Es  kommen  deutsche  Mitglieder  der  Fakultät  an  die 
Reihe,  mit  denen  ich  im  Fluge  gemeinsame  Beziehungen 
in  der  Heimat  entdecke,  es  kommen  Yankees,  die  wirklich 
im  deutschen  Geistesleben  zu  Hause  sind  und  auch  tat- 
sächlich den  ,,Kraft-Mayr"  gelesen  haben,  es  kommt  die 
Vorsteherin  einer  Mädchenschule,  die  just  meine  ,, Gloria- 
hose" in  ihrer  Klasse  übersetzen  läßt  —  lauter  Menschen, 
mit  denen  man  sich  gern  zum  Warmwerden  in  ein  Eckchen 
zurückziehen  möchte  —  es  hilft  nichts:  „Move  on,  please!" 
kommandiert  die  sanfte  Stimme  meines  Ushers.  Folgsam 
und  wohlanständig  schieben  sich  die  Hunderte  von  Men- 
schen, alte  und  junge,  Zierden  der  Alma  mater  und 
feste  Säulen  der  Bürgerschaft,  prominente  und  uner- 
hebliche Leute,  Männlein  und  Weiblein  langsam  weiter, 
und  alle,  die  mir  mit  größerer  oder  geringerer  Ausgiebig- 
keit die  Hand  geschüttelt  und  versichert  hatten,  daß  sie 
s  o  glücklich  seien,  mich  zu  treffen,  fragen  zwei  Minuten 
später  an  der  nächsten  Säule  meine  Frau,  wie  es  ihr  gehe, 
und  sind  alle  ausnahmslos  so  glücklich,  sie  zu  treffen. 
Zuletzt  kommt  das  junge  Volk  an  die  Reihe:  lustige 
Studentinnen,  die  mit  einem  vergnügten  Knall  in  die 
Hand  einschlagen  und  die  Affäre  mit  dem  sterotypen 
,,How  d'ye  do?"  möglichst  rasch  erledigen,  oder  aber 
kichernd  ihre  deutschen  Brocken  anzubringen  versuchen. 
Unter  den  letzten  ist  ein  lang  aufgeschossener  Student 


Ausgestanden !  \  J 


mit  sehr  großen  roten  und  kalten  Händen,  der  mir  sein 
deutsches  L,iteraturgeschichtsbuch  mit  der  Bitte  über- 
reicht, ihm  da  etwas  hineinzuschreiben. 

,, Stehe  ich  drin  in  diesem  Leitfaden?"  frage  ich  den 
glatten  Jüngling. 

„Ich  bin  betrübt,  nein  zu  sagen,"  lächelte  er  verlegen, 
und  ich  attestiere  es  ihm  schriftlich  in  sein  Buch  hinein, 
daß  das  eine  ganz  miserable  Literaturgeschichte  sei. 

Gott  sei  Dank,  endlich  ausgestanden!  170  Menschen 
sollen  es  gewesen  sein.  Man  darf  sich  endlich  setzen  und 
bekommt  ein  Sandwich  oder  so  etwas  ähnliches  und  selbst- 
verständlich das  entsetzliche  Eiswasser  oder  den  unver- 
meidlichen Icecream  angeboten.  Man  nimmt  sich  einige 
der  Herrschaften  beiseite  und  fragt  sie  auf  Ehre  und 
Gewissen,  ob  sie  etwa  durch  diese  „reception"  glücklich 
geworden  seien.  Die  sind,  mit  uns  völlig  einig  darüber, 
das  solche  Veranstaltungen  der  größte  Blödsinn  von 
der  Welt  seien,  so  ungeeignet  wie  möglich,  den  angeblichen 
Zweck  des  gegenseitigen  Kennenlernens  zu  erfüllen.  Aber 
trotzdem:  wenn  das  nächste  Mal  zur  Besichtigung  eines 
importierten  Dichters  oder  eines  sonstigen  seltenen  Tieres 
eingeladen  wird,  so  sind  sie  doch  alle  wieder  da.  Missis 
Waddlepaddledaddle  (oder  so  was  ähnliches)  mit  ihren 
sämtlichen  Brillanten  und  mit  der  Tochter,  die  inzwischen 
vielleicht  die  Mumps  überstanden  haben  wird,  Mister  und 
Missis  John  Dubbleju  Uebbäh,  der  eigentliche  Gründer 
des  jetzt  so  blühenden  Gemeinwesens,  und  die  sämtlichen 
anderen  Prominenten  der  Stadt,  die  Professoren  mit  ihren 
Damen,  und  auch  der  achtzigjährige  James  Cadwalleder 
B.  Mapletree  wird  sich  wieder  geduldig  in  die  Reihe  stellen 
und  wieder  seine  Frage  nach  dem  Stand  der  Ethik  in 
Europa  nicht  beantwortet  kriegen.  Es  ist  nun  einmal  eine 
Genugtuung    für    den    richtigen    Amerikaner,    sagen    zu 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  2 


"[8  Als  Mauernweiler  in  Dollarica. 

dürfen:  ,,Da  und  da  traf  ich  den  berühmten  X.  und  schüt- 
telte Hände  mit  ihm."  Der  Präsident  der  Vereinigten 
Staaten  hat  das  Vergnügen,  alljährlich  bei  der  großen 
Neuj  ahrsreception  Tausenden  von  Menschen  die  Hände 
zu  schütteln  und  jedem  einzeln  zu  versichern,  daß  er  so 
froh  sei,  ihn  zu  treffen.  Unser  Prinz  Heinrich  soll  sich 
nach  Beendigung  seiner  Amerikatour  in  seine  Kabine 
eingeschlossen  und  48  Stunden  hintereinander  geschlafen 
haben.  Ich  glaub' s  gerne,  daß  er  das  nötig  hatte,  denn  der 
mußte  täglich  Bankette  und  Receptions  mitmachen,  bei 
denen  noch  x-mal  so  viel  Hände  zu  schütteln  und  Trink- 
sprüche zu  beantworten  waren,  abgesehen  davon,  daß  er 
im  Iyaufe  des  Tages  auch  noch  sämtliche  Kriegerdenk- 
mäler, Bibliotheken,  bedeutende  Fabrikbetriebe,  Preis- 
bullen und  Deckhengste  besichtigen  mußte.  Auch  mir, 
dem  bescheidenen  Dichter,  wurde  der  berühmte  arabische 
Deckhengst  von  Columbus  mit  seinen  hochmütig  starren 
Monokelaugen  vorgeführt,  auch  vor  mir  tänzelte  der 
kokette  Racker,  die  x-fach  preisgekrönte  Jerseykuh, 
auch  mir  zu  Ehren  wurden  Hekatomben  von  Schweinen 
in  den  Stockyards  abgestochen;  aber  für  mich  gab  es 
doch  immerhin  Ruhepausen,  stille  Tage  in  befreundeten 
Familien,  zeitweises  Untertauchen  in  Hausrock  und  Pan- 
toffeln. Für  unseren  unglücklichen  Repräsentations- 
prinzen gab  es  das  alles  nicht,  er  war  von  früh  bis  in  die 
späte  Nacht  tagtäglich  im  Geschirr.  Seine  Nervenleistung 
war  so  enorm,  daß  sie  schließlich  sogar  den  Amerikanern 
imponiert  hat. 

Die  erste  Frage  jedes  Eingeborenen  der  Vereinigten 
Staaten  an  den  Fremdling,  und  wäre  er  auch  eben  erst  in 
Hoboken  gelandet,  ist:  „Wie  gefällt  Ihnen  Amerika?" 
Sie  sollten  eigentlich  fragen:  „Wie  halten  Sie  Amerika 
aus?"    Denn  das  ist,  wenigstens  für  den  offiziell  herum- 


Die  reizende  Reporterin.  19 


gezeigten  Mauernweiler,  wirklich  die  Kardinalfrage  da 
drüben.  Mein  Gott,  es  ist  eben  ein  ganz  junges  Volk,  und 
sie  sind  so  ungeheuer  stolz  auf  die  riesigen  Proportionen 
ihres  Landes,  auf  die  erstaunliche  Größe,  Neuheit,  Kühn- 
heit aller  ihrer  Unternehmungen,  daß  jeder  Amerikaner 
den  Kitzel  in  sich  verspürt,  jeden  Fremden,  der  auf  der 
Straße  irgend  etwas  anstaunt,  zu  fragen:  „Na,  was  sagen 
Sie  dazu,  elender  Europäer,  bartbewachsenes  Blaßgesicht, 
kolossal,  was?     Habt  Ihr  drüben  nicht!" 

In  Philadelphia  wurde  ich  von  einer  reizenden  jungen 
Reporterin  interviewt.  Selbstverständlich:  ,,How  do 
you  like  America"  usw.,  und  dann  kam  die  verfängliche 
Frage:  „Und  was  denken  Sie  von  unserer  Kultur?"  Da 
kratzte  ich  mir  den  Kopf  und  sagte:  „Mein  liebes  Fräu- 
lein, in  diese  Mausefalle  spaziere  ich  Ihnen  nicht."  Und 
nun  schlug  das  süße  Ding  seine  wunderschönen  Augen 
mit  einem  so  traurig  enttäuschten,  kindlich  erschrockenen 
Blick  zu  mir  empor  —  ich  werde  diesen  rührenden  Blick 
nie  vergessen!  Und  um  Ihrer  schönen  traurigen  Augen 
willen,  reizendes  Fräulein  von  Philadelphia,  gedenke  ich 
nunmehr  alle  meine  Eindrücke  von  meiner  Amerikafahrt 
unter  dem  Gesichtspunkt  zu  revidieren,  daß  bei  diesem 
großen  Volke  eben  alles  noch  Jugend,  holde,  wilde,  unge- 
zogene, starke,  unanständig  gesunde  Jugend  ist. 


K" Illlllllliniii mi i imiiimmm iii»miimmim 

2* 


Illllllllllllllllllll  Hill  IUI  IUI  Hill  llllllllllllllllllllllllllll 


Sie  Tankeerasse. 


£s  ist  ein  weitverbreiteter  europäischer  Irrtum,  daß 
sich  in  den  Vereinigten  Staaten  Nordamerikas  all- 
mählich durch  energisches  Umrühren  eines  überaus  bunt- 
scheckigen Völkergemisches  die  Bildung  einer  neuen  Rasse 
vollziehe.  Ich  gestehe,  daß  ich  mich,  bevor  ich  selber 
drüben  war,  gleichfalls  in  diesem  Irrtum  befunden  habe 
und  mir  von  jenem  zukünftigen  form-  und  farblosen 
Völkerbrei  nichts  Gutes  versprach.  Wer  aber  mit  offenen 
Augen  und  ohne  vorgefaßte  Meinung  sich  die  Menschen 
in  den  Vereinigten  Staaten  anschaut  und  von  verkeilten 
Theoretikern  sich  nichts  weis  machen  läßt,  der  muß  zu 
der  Erkenntnis  kommen,  daß  es  drüben  (mit  Ausnahme 
der  südlichsten  Staaten)  nur  Yankees  *)  und  Fremd- 
völker gibt.  Der  Yankee  aber  ist  ein  reiner 
Großbritannier  oder,  wenn  man  will,  eine 
Mischrasse  aus  Angelsachsen  und  Kelten, 
in  welcher  das  keltische  Blut  stärker  ver- 
treten ist  als  im  altenBngland.  Durch  die  neuen, 
eigenartigen  Lebensbedingungen,  vor  die  seit  drei  Jahr- 
hunderten die  Auswanderer  aus  den  britischen  Inseln  in  dem 
neuen  Weltteil  gestellt  wurden  —  drei  Jahrhunderte  voll 
harter  Kämpfe,  wilder  Arbeit  und  glänzender  Erfolge  — 
haben  sich  die  guten  wie  die  schlechten  Eigenschaften  des 
angelsächsischen  und  des  keltischen  Blutes  aufs  heftigste 
herauskristallisieren  und  der  neuen,  gut  durchgemischten 

*)  Das  Wort  Yankee  kommt  von  einer  mißhörten  indianischen 
Aussprache  des  Wortes  »english«  her  und  wurde  in  den  Befreiungs- 
kriegen den  Amerikanern  von  den  Engländern  als  Spottname  angehängt. 


Angelsachsen  und  Kelten. 


21 


Rasse  dadurch  auch  einen  neu  erscheinenden  Charakter 
aufzwingen  müssen.  Angelsächsisch  im  Wesen  des  Yankees 
ist  sein  Kolonisationstalent,  seine  Zähigkeit  im  Verfolgen 
des  Zwecks,  seine  nüchterne  Beschränkung  auf  das  Nächst- 
liegende, Nützliche,  Erfolgversprechende;  dagegen  ist 
auf  den  keltischen  Einschlag  zurückzuführen  sein  leicht- 
herziger Optimismus,  sein  wagemutiges  Spielertempera- 
ment, seine  Begeisterungsfähigkeit  und  seine  leichte 
Zugänglichkeit  für  alle  Arten  von  Korruption.  Der  als 
Spieler,  Säufer  und  Raufbold  einigermaßen  berüchtigte 
Irländer  spielt  in  der  Weltgeschichte  gewiß  keine  be- 
sonders sympathische  Rolle,  aber  der  englische  Puri- 
taner aus  Cromwells  Zeiten  war  denn  doch  noch  ein  weit 
üblerer  Geselle.  Mit  den  argen  Schwächen  des  Iren  konnte 
seine  katholisch  gefärbte  Phantastik,  sein  kindlich  liebens- 
würdiger Frohsinn  immerhin  versöhnen,  während  die 
sittenstrenge  Iyebensführung  und  die  ehrenhafte  Ge- 
schäftstüchtigkeit des  Puritaners  doch  noch  lange  nicht 
hinreichen,  um  uns  mit  seiner  niedrigen,  boshaften  Feind- 
schaft gegen  die  Natur,  gegen  alles  Freie,  Frohe,  Schöne 
und  mit  seinem  muffigen  Tugendhochmut  auszusöhnen. 
„Der  Herr  ist  mit  uns",  war  das  Feldgeschrei  der  Pilger- 
väter —  aber  dieser  Herr  war  eben  ein  grimmiger  Spezial- 
gott  für  die  Rechtgläubigen,  d.  h.  also  für  die  blinden 
Anbeter  des  Bibelbuchstabens.  Und  dieser  grimmige 
Spezialgott  begeisterte  sein  auserwähltes  Volk  dazu,  die 
Rothäute  mit  Feuerwasser  und  Feuerwaffen  auszurotten 
und  die  Ketzer  mit  Skorpionen  zu  züchtigen.  Wenn 
drüben  nicht  anfangs  die  Menschen  so  rar  und  die  Hände 
so  notwendig  gewesen  wären,  hätten  diese  europäischen 
Berserker  gerade  so  eifervoll  wie  die  Dominikaner  der 
Inquisition  mit  Folter  und  Scheiterhaufen  gegen  Papisten 
und  protestantische  Sektierer  gewütet,  so  aber  begnügten 


22  Die    Yankeerasse. 


sie  sich  damit,  alle  denkenden  Köpfe,  alle  freien  Geister, 
alle  vornehmen  Menschen  geschäftlich  lahm  zu  legen  und 
aus  ihren  Wohnorten  hinauszuekeln.  Kin  amerikanischer 
Geschichtsschreiber  sagt,  daß  bei  den  Puritanern  außer 
Heiraten  und  Geldverdienen  eigentlich  alles  verboten 
war.  Bei  schwerer  Strafe  im  Nichtbeachtungsfalle  war 
jedem  Bürger  vorgeschrieben,  wie  er  sich  zu  kleiden  und 
zu  benehmen,  was  er  zu  essen  und  zu  trinken,  was  er  zu 
denken  und  wie  er  zu  fühlen  habe.  Selbstverständlich 
wären  diese  Menschen  niemals  die  Begründer  des  größten 
demokratischen  Freistaates  der  Welt  geworden,  wenn 
nicht  ihre  geschäftlichen  Interessen  sie  gezwungen  hätten, 
allmählich  einen  nach  dem  anderen  von  ihren  starren 
Grundsätzen  fallen  zu  lassen.  Die  Kolonie  Rhode-Island, 
von  einem  abtrünnigen,  grimmig  verfolgten  Prediger, 
dem  edlen  Roger  Williams,  gegründet,  war  die  erste, 
welche  religiöse  Toleranz  und  wahrhaft  freiheitliche 
Grundsätze  einführte,  und  gerade  sie  gedieh  so  sicht- 
barlich  besser  als  die  Puritanerkolonien,  daß  die  frommen 
Väter  am  geschäftlichen  Vorteil  ihrer  Strenge  zu  zweifeln 
begannen.  Das  war  das  Ausschlaggebende.  Von  jeher 
hat  der  angelsächsischen  Rasse  der  praktische  Nutzen 
über  allen  Idealen  gestanden,  und  ihr  klarer,  nüchterner 
Wirklichkeitssinn  hat  sie  noch  immer  davor  bewahrt, 
sich  trotz  ihres  Hanges  zum  Spleen  in  unfruchtbare 
Träumereien  und  eigensinnige  Prinzipienreiterei  zu  ver- 
lieren. Das  englische  Denken  ist  durchaus  maller  of 
fad,  und  diese  Eigenschaft  hat  die  Engländer  befähigt, 
die  mustergültigsten  Kolonisatoren  der  Neuzeit,  Handels- 
herren großen  Stiles  und  kaltblütige  Geschäfts- Politiker 
zu  werden.  Für  das  Klima  des  nördlichen  ameri- 
kanischen Kontinents  waren  darum  auch  die  Angel- 
sachsen   die    denkbar    geeignetsten    Besiedler     Die   rote 


Rassestolz.  23 

Urbevölkerung  war  trotz  ihrer  Kriegstüchtigkeit,  trotz 
ihrer  Klugheit  und  Noblesse  ihnen  gegenüber  ver- 
loren, denn  die  Indianer  waren  fromm  naturgläubig  und 
darum  hilflos  abhängig  von  der  Natur,  die  für  die  natur- 
feindlichen Puritaner  nur  ein  Objekt  zur  Ausbeutung 
durch  den  Menschen  bedeutete.  Die  starke  Beimischung 
keltischen  Blutes  hat  nun,  wie  gesagt,  viel  dazu  bei- 
getragen, die  unsympathischen  Charaktereigenschaften 
der  angelsächsischen  Rasse  zu  verwischen.  Das  feurige 
Temperament  der  Kelten  besiegte  die  englische  Steif- 
heit und  langweilige  Ehrpußlichkeit  und  erzeugte  in  der 
Vereinigung  jenes  Geschlecht  von  waghalsigen  Drauf- 
gängern, von  willensstarken  Optimisten,  dem  allein  das 
große  Werk  gelingen  konnte,  durch  die  Steppe,  durch  die 
Wüste  und  über  das  wilde  Hochgebirge  hinweg  bis  zu  den 
üppigen  Gestaden  des  Stillen  Ozeans  vorzudringen  und 
sich  selbst  zu  einer  Herrenrasse  aufzuschwingen,  der  alle 
übrigen  von  Europa  nachdringenden  Völker  sich  ebenso 
bedingungslos  unterwerfen  mußten,  wie  die  unglücklichen 
Eingeborenen.  Die  unwiderstehliche  Kraft  des  Yankee- 
tums  liegt  ohne  Zweifel  in  seinem  unbeugsamen  Rasse- 
stolz. Dem  Yankee  ist  es  so  heilig  ernst  damit,  daß  er 
sich  nicht  einmal  im  Spaß,  d.  h.  im  freien  Verhältnis,  viel 
weniger  in  der  Ehe,  mit  den  Angehörigen  der  zahlreichen 
anderen  Rassen,  die  seinen  riesigen  Kontinent  bevölkern, 
vermischt.  Für  die  lateinischen  Eroberer  Südamerikas 
und  auch  der  südlichen  L,änder  des  nördlichen  Kontinents 
hat  es  immer  einen,  wie  es  scheint,  besonderen  Reiz  gehabt, 
sich  liebespielerisch  mit  Frauen  anderer  Hautfarbe  ab- 
zugeben. Und  was  ist  dabei  herausgekommen?  Kreolen, 
Mestizen,  Quatronen  usw.  usw.,  ein  schauderhaftes 
Gesindel,  das  für  jede  höhere  Gesittung  verloren  ist, 
zuchtlos,  widerstandsunfähig,  in  Leidenschaften  verlottert 


24  Die   Yankeerasse. 


oder  in  Trägheit  versumpft.  Solches  Menschenmaterial 
ist  kaum  durch  Schrecken  zu  regieren,  viel  weniger  durch 
friedliche  Mittel  zu  einer  höheren  Kultur  emporzuführen, 
denn  Mischmasch-Menschen  nehmen  eben 
keine  Vernunft  an;  das  Beispiel  so  mancher  süd- 
amerikanischen Republik  beweist  es.  Der  Yankee-Mann 
dagegen  hat  sich  selbst  in  den  Zeiten,  als  die  Frauen 
der  größte  Luxusartikel  im  Lande  waren,  niemals  mit 
Indianermädchen  beholfen;  seine  Vernunft  begeisterte 
ihn  zu  der  Großtat  edelster  Gerechtigkeit,  die  Sklaverei 
aufzuheben  in  einer  Zeit,  als  diese  Sklaverei  im  Grunde 
doch  noch  die  einzige  Möglichkeit  gewährte,  die  Plan- 
tagenwirtschaft der  üppig  fruchtbaren  Länder  des 
heißen  Südens  durchzuführen.  Dennoch  hält  er  es  bis 
auf  den  heutigen  Tag  für  die  größte  Schande,  die  ein 
Weißer  auf  sich  laden  kann,  sich  geschlechtlich  mit 
den  von  ihm  zu  Menschen  gemachten  Schwarzen  zu 
vermischen.  Aber  er  geht  noch  viel  weiter,  indem 
er  auch  die  aus  Buropa  herübergekommenen  anderen 
weißen  Rassen,  die  Romanen,  die  Slawen,  die  Juden, 
ja  selbst  die  ihm  nächst  verwandten  Deutschen  und 
Franzosen  als  Menschen  zweiter  Klasse  ansieht!  Gewiß 
heißt  er  alle  Völker  der  Erde  vorläufig  noch  gastlich 
willkommen,  weil  eben  noch  recht  viel  Platz  in  seinem 
riesigen  Lande  ist  und  weil  er  die  Arbeitskraft  der  Fremden, 
so  lange  sie  sich  bescheiden  gebärden  und  mit  Eifer  nütz- 
lich machen,  gut  gebrauchen  kann.  Er  gewährt  diesen 
Fremden  das  Bürgerrecht,  er  läßt  sie  an  allen  Vorteilen 
seiner  freien  Einrichtungen  teilnehmen,  er  hat  nichts 
dawider,  wenn  sie  sich  von  dem  Reichtum  seines 
Landes  so  viel  aneignen,  als  ihnen  irgend  möglich  ist, 
aber  er  weiß  sie  überaus  geschickt  von  den  einfluß- 
reichen Staatsämtern  fernzuhalten  und  zeigt  sich  durch- 


Töchter  im  Tauschhandel.  25 

aus  nicht  tibermäßig  beflissen,  um  ihre  schönen  Töchter 
zu  freien  oder  seine  schönen  Töchter  ihnen  ins  Haus 
zu  führen.  Als  im  Februar  dieses  Jahres  die  Tochter 
des  Milliardärs  Jay  Gould —  nicht  etwa  einen  herunter 
gekommenen  deutschen  oder  polnischen  Adeligen,  sondern 
einen  reichen  und  kerngesunden  jungen  englischen  Lord 
heiraten  wollte,  empfingen  sowohl  die  Braut  wie  deren 
Bitern  aus  allen  Rändern  der  Union  entrüstete  Protest- 
kundgebungen, ja  sogar  offene  Drohungen,  daß  das 
Volk  die  Hochzeit  durch  Gewalt  verhindern  werde. 
Denn,  wie  es  in  einem  solchen,  in  allen  Zeitungen  ver- 
öffentlichten Drohbriefe  hieß:  das  gesunde  Blut,  der 
reine  Leib  und  die  starke  Seele  der  freien  Tochter  Amerikas 
sei  viel  zu  schade,  um  an  die  Sprößlinge  entarteter  Herren- 
geschlechter Buropas  verhandelt  zu  werden.  Man  sieht 
aus  diesem  Beispiel,  daß  der  Hochmut  der  neuen  Rasse 
sich  bereits  gegen  das  eigne  Stammvolk  zu  kehren  beginnt. 
Wie  erbärmlich  leicht  werden  bei  uns  in  Deutschland 
Rassen-  und  Standes  Vorurteile  vergessen,  wenn  sich  eine 
Gelegenheit  findet,  den  verblaßten  Glanz  eines  alten 
Wappens  durch  die  Mitgift  einer  jüdischen  Braut  auf- 
zufrischen! Wenn  ein  Yankee  eine  Jüdin  heiratet  — 
der  Fall  dürfte  übrigens  selten  genug  vorkommen  —  so 
tut  er  es  sicher  aus  Liebe,  wie  denn  überhaupt  die  Geld- 
heiraten in  unserem  Sinne  unter  den  Yankees  äußerst 
selten  sind,  weil  es  durchaus  nicht  Sitte  ist,  den  Töchtern 
bei  Lebzeiten  der  Bitern  einen  Teil  des  Vermögens  in 
Gestalt  einer  Mitgift  auszuliefern.  Die  Leichtigkeit  des 
Verdienens  und  das  Zutrauen,  das  jeder  junge  Amerikaner 
zu  seinen  Fähigkeiten  und  zu  seinem  Glück  hat,  macht 
tatsächlich  die  Liebesheirat  zu  dem  normalen  Verfahren, 
und  damit  ist  auch  schon  eine  starke  Gewähr  für  die 
Aufrechterhaltung  einer  kräftigen  Rasse  durch  natürliche 


26  Die   Yankeerasse. 


Zuchtwahl  geboten.  Die  bevorzugte  Stellung  der  Frau  spielt 
selbstverständlich  unter  den  günstigen  Bedingungen  für  die 
Verbesserung  der  Rasse  auch  eine  wichtige  Rolle.  Die 
Frau  ist  in  dem  neuen  Weltteil  Jahrhunderte  hindurch 
von  den  rauhen  Pionieren  wie  eine  Halbgöttin  verehrt, 
wie  ein  Kätzchen  verhätschelt  worden.  Niemals  wurde 
ihr  harte  körperliche  Arbeit  zugemutet,  niemals  wurde 
ihren  Schwächen,  Launen  und  Eitelkeiten  mit  Grobheit 
begegnet,  immer  sah  es  der  Mann  als  eine  gern  geübte 
Pflicht  an,  seine  Kräfte  bis  aufs  äußerste  anzustrengen, 
um  es  der  Frau  zu  ermöglichen,  sich  gut  zu  nähren,  schön 
zu  kleiden  und  in  Muße  ihre  geistigen  Anlagen  zu  pflegen. 
Die  Folge  dieser  Behandlung  war  die,  daß  sich  die  Yankee- 
Frau,  wenigstens  körperlich,  zur  schönsten  der  Welt  ent- 
wickelte. Allerdings  wird  diese  Schönheit,  vornehmlich 
was  die  Gesichtsbildung  betrifft,  von  den  meisten  Euro- 
päern als  kalt  empfunden,  auch  fehlt  ihr  die  weiche,  schmieg- 
same Üppigkeit  z.  B.  der  Wienerinnen  zumeist;  aber 
unbestreitbar  verdient  sie  den  Preis  von  allen  Frauen  der 
Welt  in  bezug  auf  die  Schmalheit  des  Fußes  und  die  edle, 
schlanke  Form  des  Beins.  In  ihrem  Sinn  für  Eleganz,  in 
ihrem  aparten  Geschmack  für  Kleidung  kommt  sie  sogar 
der  Pariserin  mindestens  sehr  nahe.  Da  sich  diese  schöne 
und  verwöhnte  Frau  nur  äußerst  selten  zu  mehr  als  zwei 
Kindern  bequemt,  erhält  sie  sich  lange  jung  und  frisch, 
und  man  sieht  daher  in  den  Vereinigten  Staaten  mehr 
schlanke,  bewegliche,  muntere  und  hübsch  angezogene 
alte  Damen,  wie  sonst  irgendwo  in  der  Welt.  Übrigens 
hat  die  Rasse  von  England  den  Sinn  für  vernünftige 
Körperkultur,  besonders  für  peinlichste  Reinlichkeit  mit- 
gebracht, und  diese  Erbschaft  ist  auch  den  Männern  zu- 
gute gekommen.  Die  Arbeit,  die  die  ersten  Kolonisten 
zu  leisten  hatten,  und  in  den  neuen  Staaten  heute  noch 


Kongreß  deutscher  Mißgeburten.  27 

leisten  müssen,  vollzog  sich  ja  zumeist  im  Freien,  und  der 
stete  Kampf  mit  Hitze  und  Kälte,  mit  wilden  Tieren  und 
Menschen,  mit  den  bösen  Fiebern  der  Sumpfgegenden, 
mit  Hunger  und  Durst  in  den  Wüsteneien  raffte  das 
widerstandsunfähige  Menschenmaterial  hinweg  und  ließ 
nur  die  Stärksten  mit  dem  lieben  davon  kommen.  Diese 
unerbittliche  Auslese  schuf  ein  Kapital  von  Muskel-  und 
Nervenkraft,  wovon  die  Männlichkeit  der  Nation  noch 
auf  eine  gute  Weile  zu  zehren  haben  wird.  Außerdem  ist 
es  durch  Gesetz  streng  verboten,  Kranke  oder  gar  Krüppel 
aus  der  alten  Welt  an  den  Gestaden  der  neuen  landen 
zu  lassen. 

Unmittelbar  nach  meiner  Rückkehr  aus  Amerika  be- 
suchte ich  ein  beliebtes  Kaffeehaus  in  Berlin.  Es  war  die 
erste  größere  Versammlung  deutscher  Menschen,  die  mir 
nach  einer  Abwesenheit  von  ungefähr  vier  Monaten  wieder 
vor  Augen  kam.  Und  ich  muß  gestehen,  ich  war  entsetzt, 
nein,  geradezu  erschüttert  über  den  Anblick  von  so  viel 
Garstigkeit.  Diese  Speckwampen,  diese  Bierbäuche,  Kahl- 
köpfe, X-  und  Säbelbeine,  diese  verpustelten  und  ver- 
pickelten,  grämlich  grauen,  brutalen  oder  schwächlichen, 
gierigen  oder  ärgerlich  verknitterten  Gesichter  gehörten 
also  meinen  lieben  Ivandsleuten!  Und  mit  diesen  in  ihrem 
schwappenden  Fett  schwankend  daher  watschelnden, 
geschmacklos  aufgedonnerten  Madams,  mit  diesen  käs- 
bleichen, blaßäugig  blöden,  stumpfnasigen,  schiefzähnigen, 
feuchthändigen  und  dickbeinigen  Jungfrauen  hatten  sie 
bereits  oder  gedachten  sie  fürderhin  ihren  Nachwuchs  zu 
erzeugen  !  Herzzerkrampf end  schauderhaft !  Gewiß  war 
es  ein  tückischer  Zufall,  der  mich  gerade  bei  meinem 
ersten  Ausgang  auf  diesen  Kongreß  von  Mißgeburten 
stoßen  ließ,  aber  daß  unsere  arg  vermanschte  Rasse  immer 
noch  von  dem  ganzen  Jammer  der  deutschen  Geschichte 


28  Die    Yankeerasse. 


in  ihrer  körperlichen  Erscheinung  Zeugnis  ablegt,  und 
erst  neuerdings  in  der  kultiviertesten  Oberschicht  und  in 
der  Generation,  die  bereits  die  Segnungen  einer  nach 
englischem  Muster  betätigten  Säuglingspflege  und  einer 
Vernunft-  und  naturgemäßen  Lebensweise  genossen  hat, 
sich  deutlich  zu  verschönern  beginnt,  das  scheint  mir 
leider  unbestreitbar.  Drüben  in  den  Vereinigten  Staaten 
ist  der  Deutsche  und  besonders  die  Deutsche  der  ersten 
Generation  meist  auf  den  ersten  Blick  vom  Yankee  zu 
unterscheiden.  Dem  deutschen  Einwanderer  wird  es, 
auch  wenn  er  zu  Wohlhabenheit  und  angesehener  gesell- 
schaftlicher Stellung  gelangt,  im  allgemeinen  doch  recht 
schwer,  sich  die  freie,  selbstsichere  Nonchalance  der 
Haltung  und  die  guten  Manieren  des  gebildeten  Yankees 
anzueignen.  Und  die  deutsche  Auswanderin  lernt  nur  in 
sehr  seltenen  Fällen  Toilette  machen  und  scheint  im 
höheren  Lebensalter  unrettbar  zu  verfetten.  Die  Kinder 
dieser  Einwanderer  sitzen  aber  in  der  Schule  neben  sehnig 
schlanken,  körperlich  glänzend  gepflegten  Yankeekindern. 
Der  vornehmste  Zweck  dieser  Schule  ist,  den  Kindern 
die  Überzeugung  beizubringen,  daß  es  ein  unüberschätz- 
barer  Vorzug  sei,  als  amerikanischer  Mensch  auf  die  Welt 
zu  kommen,  daß  sich  alle  übrigen  Weltteile,  alle  übrigen 
Völker  nicht  im  entferntesten  mit  der  unerhörten  Vor- 
züglichkeit der  Vereinigten  Staaten  und  der  stolzen  Yankee- 
rasse messen  könnten.  Selbstverständlich  lernt  das  Kind 
die  englische  Sprache  sehr  bald  viel  besser  beherrschen, 
als  es  seinen  Eltern  jemals  möglich  wird.  Es  kommt  dazu, 
daß  das  amerikanische  Leben,  die  ganze  Art  der  Er- 
ziehung die  Beobachtungsgabe  der  Kinder  außerordent- 
lich schärft.  Da  können  nun  die  deutschen  Kinder  nicht 
umhin,  Vergleiche  anzustellen  und  sich  darüber  ihre  Ge- 
danken zu  machen ;  zudem  lassen  es  die  Yankeekinder  an 


Die  Kinder  der  Einwanderer.  29 

boshaften  Sticheleien  nicht  fehlen.  Ich  habe  selber  gehört, 
wie  ein  Yankeebübchen  einem  deutschen  Knaben,  der 
bei  irgendeinem  Unternehmen  mitzutun  zauderte ,  weil 
sein  Vater  es  ihm  verboten  hätte,  verächtlich  die  Achsel 
zuckend  entgegnete:  „Ich  würde  mich  doch  nicht  darum 
kümmern,  was  der  olle  Dutchman  sagt."  (,,/  would'nt 
care,  what  that  old  Dutchman  says.")  So  wird  es  selbst- 
verständlich der  Kinder  größter  Ehrgeiz,  in  ihrem  Äußeren 
zunächst  ihre  Abstammung  zu  verleugnen  und  sich  dem 
Wirtsvolk  anzuähneln.  Und  dieser  Ehrgeiz  entwickelt 
sich  naturgemäß  bei  den  geistig  beweglichsten  Kindern 
am  stärksten.  Es  ist  erstaunlich,  wie  rasch  durch  solche 
Selbstzucht  oft  die  deutschen  Kinder  ihren  Eltern  un- 
ähnlich werden.  Die  Söhne  schießen  um  Kopfeslänge  über 
ihren  Vater  hinaus,  und  wenn  sie  zum  ersten  Mal  dem 
amerikanischen  Barbier  unter  die  Finger  geraten  sind,  so 
ist  der  smarte  Yankeejüngling  mit  der  aristokratischen 
Sicherheit  seines  schlottrig  flegelhaften  Auftretens  bald 
fertig.  Zu  Hause  liegen  seine  langen  Beine  auf  allen 
Möbeln  herum,  und  er  trifft  mit  tödlicher  Sicherheit  die 
messingene  Spuckvase  in  der  entferntesten  Ecke  des 
Zimmers.  Das  sechzehnjährige  Töchterchen  aber  kann 
seiner  Mutter  aus  dem  Gesicht  geschnitten  sein  und  wird 
ihr  doch  so  unähnlich  wie  ein  geraubtes  Grafenkind  seiner 
zigeunerischen  Ziehmutter.  Die  Yankee-Miß  führt  in 
ihrer  kecken  Selbständigkeit  ein  so  beneidenswertes 
Dasein,  daß  jedes  deutsche  Mädchen,  wenn  anders  es 
nicht  völlig  auf  den  Kopf  gefallen  ist,  sich  mit  Händen 
und  Füßen  dagegen  sträuben  müßte,  sich  von  einer  törich- 
ten Mutter  gewaltsam  zu  einem  ängstlich  daher  stolpernden, 
unmotiviert  kichernden  und  errötenden,  Sittigkeit  und 
Bescheidenheit  markierenden  Backfisch  dressieren  zu 
lassen. 


30  Die    Yankeerasse. 


So  spornt  das  Beispiel  der  stärkeren  und  gesunderen 
Rasse  die  körperlich  und  geistig  bevorzugtesten  unter 
den  Kindern  der  fremden  Einwanderer  mächtig  zur  An- 
passung an.  Die  zweite  Generation,  vornehmlich  der 
deutschen  Einwanderer,  weist  schon  recht  zahlreiche 
Exemplare  auf,  die  von  echten  Yankees  kaum  oder  gar 
nicht  zu  unterscheiden  sind  —  und  dennoch  verhält  sich 
der  Yankee  selbst  diesen  seinen  talentvollsten  Nachahmern 
gegenüber  in  bezug  auf  die  Ehe  immer  noch  ziemlich  spröde. 
Er  sieht  die  Deutschen  sehr  gern  in  seinem  L,ande,  er 
schätzt  sie  hoch  als  ehrliche,  anständige  Menschen,  die 
der  politischen  Korruption  einen  zähen  Widerstand  ent- 
gegensetzen, die  mit  ihren  geschickten  Händen,  ihrem 
Fleiß,  ihrer  Geduld  zu  allen  feineren  Handwerken  vor- 
züglich geeignet  und  mit  ihrer  Klugheit  und  Gewissen- 
haftigkeit für  allerlei  ruhige  Ämter,  die  dem  Yankee  zu 
langweilig  sind,  und  schließlich  auch  in  der  Kunst  und 
Wissenschaft  ganz  hervorragend  brauchbar  sind  —  und 
dennoch  gibt  er  ihnen  seine  Töchter  nicht  gern  zur  Ehe! 
Nicht  anders  ist  es  mit  den  Angehörigen  der  romanischen, 
slawischen,  mongolischen  und  semitischen  Völker.  Sie 
hocken  alle  in  gewissen  Stadtvierteln  oder  Straßenzügen 
der  Großstädte,  oder  in  kleineren  Ansiedlungen  auf  dem 
I^ande  dicht  beieinander  und  bleiben,  obwohl  mit  allen 
Rechten  des  freien  Bürgers  der  Vereinigten  Staaten  aus- 
gestattet, fremde  Einsprengsel  in  dem  gastlichen  L,ande. 
Die  Juden  z.  B.  haben  es  ebenso  wie  in  Europa  zum  großen 
Teil  zu  bedeutendem  Wohlstand  gebracht.  Sie  entwickeln 
unter  den  freiheitlichen  Grundsätzen  der  Gesetze  und 
Anschauungen  einen  ungeheuren  Ehrgeiz  und  Iyerneifer. 
In  der  Presse,  in  der  Literatur,  im  Theater,  in  der  Rechts- 
anwaltschaft und  im  ärztlichen  Beruf  haben  sie,  geradeso 
wie    in    Europa,    die    Oberherrschaft    erlangt.      Einzelne 


Antisemitismus  ?  31 


ihrer  Mitglieder  sind  als  Inhaber  großer  Bankhäuser  zu 
einem  weltumspannenden  Einfluß  gelangt,  und  dennoch 
haust  die  große  Masse  derselben  noch  immer  im  Ghetto 
beisammen.  Die  meisten  Yankees  würden,  wenn  man 
ihnen  den  Vorwurf  des  Antisemitismus  machen  wollte, 
erstaunt  die  Brauen  hochziehen  und  gar  nicht  wissen, 
was  das  sei ;  nichtsdestoweniger  findet  man  auf  den  gesell- 
schaftlichen Veranstaltungen  auch  schwer  reicher  Juden 
kaum  irgend  welche  Yankees  von  Belang,  und  in  den 
vornehmsten  Badeorten  und  vielen  Hotels  ersten  Ranges 
werden  Juden  überhaupt  nicht  zugelassen! 

Wenn  die  Deutschen  in  der  Zeit  der  großen  Massen- 
auswanderung, als  auf  dem  nordamerikanischen  Kontinent 
noch  weite  Gebiete  herrenlos  und  unkultiviert  waren, 
für  sich  ein  solches  Neuland  erobert,  zäh  festgehalten, 
und  alle  neu  zuströmenden  Iyandsleute  hätten  zwingen 
können,  sich  dort  gleichfalls  anzusiedeln,  dann  hätten  die 
Deutschen  einen  starken  Staat  im  Staate  bilden  können 
und  ihre  Selbständigkeit  zu  wahren  vermocht,  auch  wenn 
sie  sich  dem  Staatenbund  angeschlossen  hätten.  Diese 
Gelegenheit  ist  endgültig  verpaßt.  Aber  damit  sie  in 
den  anderen  jungfräulichen  Weltgegenden  nicht  aber- 
mals verpaßt  werde,  gehet  hin,  ihr  lieben  Iyandsleute, 
und  lernt  von  den  Yankees,  was  das  unerschütterliche 
Kraftbewußtsein  einer  starken,  gesunden  Rasse  vermag 
und  wie  man  seine  Rasse  rein  erhält! 


IIIIIIHIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIJ 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  iniiiiniiiiiiiiiiiiiii  iiiiiimii 

2)er  Yankee  als  Erzieher. 


C7\ie  alte  Erfahrung,  daß  junge  Eltern  sehr  häufig  bessere 
^  Erzieher  ihrer  Kinder  sind  als  ältere  und  reifere, 
findet  im  Yankeelande  eine  auffallende  Bestätigung. 
Die  Yankees  sind  eben  als  Rasse  und  die  übrigen  Bürger 
der  Vereinigten  Staaten  als  Nation  noch  so  kindhaft  jung, 
noch  so  tief  befangen  in  dem  glückseligen  Taumel  des 
Kraftüberschusses,  daß  sie  ihre  klügsten  wie  ihre  dümmsten 
Streiche  mit  der  gleichen  schönen  Begeisterung  verüben 
und  mit  reizender  Naivität  dem  eigenen  Verdienst  gut- 
schreiben, was  sie  oft  doch  nur  glücklichen  Umständen 
zu  verdanken  haben.  Der  leichte  Erfolg,  der  den  kraft- 
vollen und  rücksichtslosen  Ausbeutern  jenes  jungfräu- 
lichen Kontinents  voll  ungehobener  Naturschätze  zu  teil 
wurde,  hat  die  ganze  Rasse  eitel,  prahlerisch  und  sorglos 
wie  Kinder  gemacht,  und  diese  Kindlichkeit  ist  bis  auf 
den  heutigen  Tag  die  liebenswürdigste  Eigenschaft  des 
neuen  Volkes.  Es  lebt  in  den  Tag  hinein,  denkt  kaum  an 
morgen,  grundsätzlich  nicht  an  übermorgen,  kennt  keine 
Gefahr,  erschrickt  vor  keinem  Hindernis  und  tröstet  sich 
über  alle  Schwierigkeiten  hinweg  mit  dem  Gedanken: 
Es  ist  noch  immer  gegangen  und  wird  auch  diesmal  gehen  t 
Weist  ein  Außenstehender  auf  offenbare  Schwächen  hin, 
so  erwidert  der  Yankee  gut  gelaunt:  ,,Nun  ja,  Sie  mögen 
recht  haben;  aber  Sie  sehen  ja,  wir  leben  auch  so,  und 
wir  leben  recht  gut!"  Man  läßt  sich  alle  Unbequemlich- 
keiten lachend  gefallen  und  schickt  sich  in  alles,  da  man 
an  ein  jähes  Auf  und  Nieder  von  Überfluß  und  Mangel, 
von  absoluter  geistiger  Öde  und  raffinierter  I^uxuskultur 
wie  an  die  schroffen  Übergänge  von  eisiger  Kälte  zu  glü- 


Junge  Völker  und  Kinder.  33 

hender  Hitze  gewöhnt  ist.  Aus  dieser  Quelle  entspringt 
der  siegessichere  Optimismus  und  die  heiße  Vaterlands- 
liebe des  amerikanischen  Volkes.  Dem  Yankee  gilt  ganz 
selbstverständlich  alles  Amerikanische  als  das  Beste,  das 
Größte,  das  Schönste  in  der  Welt,  und  das  jünglinghafte 
Renommieren  mit  all  diesen  Superlativen  ist  ebenso 
charakteristisch  für  die  Nation,  wie  ihre  Vorliebe  für 
unsinnige  Kraftproben,  närrische  Wetten,  sensationelle 
Schaustellungen  und  lärmende  Vergnügungen.  Der  Yankee 
bewahrt  sich  diese  jugendlichen  Eigenschaften  bis  in  sein 
hohes  Alter.  Greise,  die  sich  necken,  puffen  und  balgen 
wie  Buben,  alte  Damen,  die  sich  wie  Backfische  anziehen, 
sind  alltägliche  Erscheinungen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  so  geartete  erwachsene 
Menschen  für  das  Denken  und  Empfinden  der  Kindes- 
seele weit  mehr  Verständnis  haben  müssen,  als  das  gesetzte, 
bequemlich  würdevolle  Alter  der  Kulturvölker  unserer 
alten  Welt,  welches  aus  der  Erfahrung  von  Jahrtausenden 
die  vorsichtige  Kritik  und  damit  sehr  häufig  auch  den 
steten  mißmutigen  Zweifel  gelernt  hat.  Die  geistige  Über- 
legenheit hört  auf,  ein  glücklicher  Erziehungsfaktor  zu 
sein,  sobald  sie  zum  geistigen  Hochmut  ausartet,  und 
in  diese  Gefahr  gerät  sie  ja  in  unserer  alten  Welt 
leider  nur  zu  leicht.  Wenn  es  andererseits  richtig  ist, 
daß  der  Einfluß  der  Kameradschaft  die  Jugend  besser 
zu  erziehen  vermöge,  als  das  Beispiel  des  Alters,  so 
sind  zweifellos  junge  Völker  uns  als  Erzieher  über- 
legen. Der  Yankee  vergöttert  sein  Kind.  Erstens  einmal, 
weil  es  überhaupt  ein  rarer  Artikel  ist,  und  zweitens, 
weil  es  den  ungeheuren  Vorzug  hat,  als  Amerikaner 
auf  die  Welt  gekommen  zu  sein.  Man  sollte  eigent- 
lich meinen,  daß  eine  so  stolze,  exklusive  Rasse  wie 
die    der    Yankees    darauf    aus    sein    müßte,    die    Reich- 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  3 


34  Der  Yankee  als  Erzieher. 

tümer  ihres  Landes  und  die  vielen  glänzenden  Leben  s- 
aussichten  lieber  ihrer  eigenen  zahlreichen  Nachkommen- 
schaft zuzuführen,  als  sie  den  einwandernden ,  ihrer 
Meinung  nach  doch  unendlich  minderwertigen  Fremd- 
lingen aus  aller  Welt  zuteil  werden  zu  lassen.  Wenn  der 
Yankee  dieser  nahe  liegenden  Erwägung  zum  Trotz 
Neumalthusianer  ist  und  folglich  selten  mehr  als  zwei 
Kinder  hat,  so  erklärt  sich  das  aus  der  eigenartigen  Stellung, 
die  die  Frau  im  nördlichen  Amerika  einnimmt.  Sie  war 
in  den  ersten  Jahrhunderten  der  britischen  Kolonisations- 
arbeit infolge  ihrer  Seltenheit  ein  Gegenstand  des  be- 
neideten Luxus  und  der  unterwürfigen  Verehrung.  Der 
glückliche  Besitzer  einer  jungen  Frau  nahm  freudig  alle 
Last  der  Arbeit  auf  sich,  um  seiner  Gefährtin  die  Möglich- 
keit zu  gewähren,  ihre  Schönheit,  ihre  geistige  und  körper- 
liche Beweglichkeit  bis  ins  Alter  zu  pflegen.  Die  Ansicht, 
daß  es  für  den  Mann  die  denkbar  größte  Schande  sei,  der 
schwachen  Frau  harte  Arbeit  zuzumuten,  brachten  die 
Kolonisten  ja  schon  aus  der  britischen  Heimat  mit,  und  es 
ist  begreiflich,  daß  sie  unter  den  besonderen  Verhält- 
nissen des  abenteuerlichen  Lebens  im  neuen  Lande  noch 
verstärkt  und  sogar  unvernünftig  übertrieben  werden 
mußte.  So  wurde  also  auch  das  Wochenbett  unter  die 
schweren  körperlichen  Leistungen  gerechnet,  die  ein 
Mann  seiner  Frau  nicht  öfters  zumuten  dürfe,  als  der 
Bestand  und  die  Interessenpolitik  der  Familie  es  unbedingt 
erforderten.  So  ist  es  erklärlich,  daß  bis  auf  den  heutigen 
Tag  Anglo- Amerikanerinnen,  die  ihren  Stolz  darin  suchten, 
viele  Kinder  zu  haben,  äußerst  selten  sind.  Die  wenigen 
vorhandenen  Kinder  profitieren  natürlich  am  meisten 
bei  diesem  Zustand.  Bei  der  ungemein  bevorzugten 
Stellung  der  Frau  und  bei  den  günstigen  Lebensaussichten, 
welche   nicht  nur  das  begüterte,    sondern   auch   das   auf 


Kinderzucht.  35 


seine  Arbeit  angewiesene  Mädchen  in  den  Vereinigten 
Staaten  hat,  erklärt  es  sich,  daß  die  Geburt  eines  Knaben 
durchaus  nicht  höher  eingeschätzt  wird,  als  die  eines 
Mädchens.  Eine  vernünftige  Säuglingskultur  herrscht 
als  gute  englische  Erbschaft  über  den  ganzen  Kontinent. 
Die  Eltern  sind  von  einer  rührenden  Geduld  und  Nach- 
sicht den  Kleinen  gegenüber.  Ein  Kind  zu  schlagen  gilt 
als  unerhörte  Roheit.  Kinderzucht  in  unserem  Sinne 
wird  drüben  wohl  nur  noch  von  manchen  der  eingewanderten 
Fremdvölker,  vornehmlich  in  deutschen  Familien  ver- 
sucht, aber  meist  vergeblich,  denn  schon  die  Kleinsten 
werden  sehr  bald  durch  den  Vergleich  belehrt,  daß  sie  es 
nicht  nötig  haben,  sich  in  dem  freien  Eande  eine  unwürdige 
Behandlung  gefallen  zu  lassen.  Deutschen  Beobachtern 
erscheint  das  Yankeekind  sehr  oft  als  vorlaut,  unziemlich 
respektlos  und  unerträglich  ungezogen,  wogegen  die 
Yankee-Eltern  das  starke  Hervorkehren  des  Eigenwillens 
in  ihren  Kindern  als  einen  Vorzug  ansehen  und  sich  hüten, 
deren  Selbständigkeit  zu  unterdrücken.  Sie  geben  sich 
die  erdenklichste  Mühe,  ihren  Verkehr  mit  den  Kindern 
auf  den  Ton  der  Kameradschaft  zu  stimmen  und  behandeln 
die  unverschämten  Gernegroße,  sobald  sie  aus  dem  Alter 
der  süßen  Kindlichkeit  heraus  sind,  in  dem  man  mit 
ihnen  wie  mit  Puppen  spielen  kann,  wie  Erwachsene. 
Infolgedessen  emanzipieren  sich  die  Kinder  auch  sehr 
frühe  vom  Elternhause,  und  zwar  nicht  nur  in  den  untersten 
Ständen,  wo  die  Notwendigkeit  mit  zu  verdienen  die 
lächerlichsten  Knirpse  oft  schon  zu  selbständigen  Unter- 
nehmern, zu  fixen  kleinen  Handelsleuten  macht. 

Die  öffentliche  Schule  gliedert  sich  in  Kindergarten 
(diese  deutsche  Bezeichnung  hat  man  allgemein  über- 
nommen), sowie  Volksschule  ( Populär-  School),  Grammar- 
School,    High-School    und    Colleges    oder    Universitäten. 

3* 


36  Der  Yankee  als  Erzieher. 

Das  Hauptziel,  namentlich  der  niederen  Schulen,  ist  Er- 
ziehung zum  Patriotismus.  Da  auch  die  Kinder  sämt- 
licher eingewanderter  Fremdvölker  sofort  für  die  Schule 
eingefangen  werden,  so  bekommen  auch  die  jungen,  frisch 
importierten  Deutschen,  Slowaken,  Griechen,  russischen 
Juden,  Syrer  und  Chinesen  zunächst  einmal  den  Grund- 
satz eingetrichtert,  daß  alles  Amerikanische  von  un- 
zweifelhafter Vortrefflichkeit  sei.  Die  Verfassung  der  Ver- 
einigten Staaten  wird  als  höchste  Leistung  idealen  demo- 
kratischen Bürgersinnes  auswendig  gelernt.  (Sie  ist  übrigens 
tatsächlich  nach  Form  und  Inhalt  ein  Muster  von  Klar- 
heit, Sachlichkeit  und  edler,  vernünftiger  Menschlichkeit.) 
Die  kurze,  krause  und  an  erziehlichen  Heldenbeispielen 
nicht  eben  überreiche  Geschichte  des  Staatenbundes 
gilt  als  wichtigster  Gegenstand  des  Studiums,  die  Ge- 
schichte der  übrigen  Welt  dagegen  als  unbeträchtlich. 
So  vernünftig  und  so  schön  nun  auch  dieser  heiße  Eifer 
in  der  Förderung  der  Vaterlandsliebe  ist,  so  verführt  er 
doch  naturgemäß  leicht  zu  ebenso  gröblichen  Fälschungen 
und  Unterschlagungen  von  Tatsachen,  wie  bei  uns  etwa  die 
konfessionell  gefärbten  Darstellungen  der  Kulturgeschichte. 
In  einem  sehr  verbreiteten  und  hochgeschätzten  Schul- 
buch, „History  of  the  American  Nation"  von  Andrew  C.  Mc 
L,aughlin,  Geschichtsprofessor  an  der  Universität  von 
Michigan,  das  ich  mir  zu  meiner  eigenen  Belehrung  an- 
schaffte, kommt  zum  Beispiel  in  dem  28  eng  gedruckte 
Spalten  umfassenden  Index  das  Stichwort  „German" 
gar  nicht  vor!  Der  große  und  rühmliche  Anteil,  den  die 
eingewanderten  Deutschen  sowohl  als  Kämpfer  in  den 
nationalen  Kriegen  wie  auch  als  Kulturpioniere  auf  den 
verschiedensten  Gebieten  geleistet  haben,  wird  völlig  mit 
Stillschweigen  übergangen  und  nur  der  Baron  Steuben 
flüchtig  als  nützlicher  militärischer  Drillmeister  erwähnt! 


Lügner  und  Duckmäuser.  37 

Das  ist  ein  etwas  starkes  Stück  und  will  gar  nicht  dazu 
stimmen,  daß  die  Pflege  der  Wahrhaftigkeit  und  Auf- 
richtigkeit von  dem  Yankeevolke  als  vornehmster  Grund- 
satz der  häuslichen  wie  der  öffentlichen  Erziehungskunst 
laut  verkündet  wird.  Man  darf  es  wohl  den  Amerikanern 
glauben,  auch  wenn  man  nicht  lange  genug  im  Lande 
gewesen  ist,  um  es  durch  die  eigene  Beobachtung  genügend 
bestätigt  gefunden  zu  haben,  daß  es  ihrer  Erziehung 
gelinge,  feige  Iyüge  und  Heuchelei  den  Kindern  schimpf- 
licher erscheinen  zu  lassen,  als  selbst  gefährliche  Streiche 
des  Übermuts  und  sogar  Ausbrüche  der  Roheit.  Der 
erwachsene  Amerikaner  lügt  zwar,  wenn  es  sein  Vorteil 
erheischt,  ärger  als  ein  Gascogner  und  nimmt  es,  nament- 
lich dem  Staate  gegenüber,  auch  mit  seinem  Eide  durchaus 
nicht  genau  —  seine  Lügenkünste  werden  sogar,  wenn  er 
Geschäftsmann  und  Politiker  ist,  als  smartness  bewundert 
—  aber  das  amerikanische  Kind  fühlt  sich  nicht  so  leicht 
zur  Lüge  veranlaßt,  weil  es  nicht  in  steter  Furcht  vor 
Prügeln  und  sauertöpfischen  Mienen  aufwächst.  Auch 
die  Schule  läßt  keinerlei  Duckmäuserei  aufkommen  und 
straft  z.  B.  den  Angeber  mit  Verachtung,  anstatt  ihn 
aufzumuntern.  Die  ganze  Pädagogik  geht  darauf  aus, 
das  Ehrgefühl  zu  verfeinern  und  den  Ehrgeiz  anzureizen. 
Sie  ist  außerordentlich  verschwenderisch  mit  Preisen 
und  schmeichelhaften  Belobigungen  und  sie  straft  vor- 
nehmlich durch  Beschämung.  Dadurch,  daß  sie  die 
Leistungen  körperlicher  Tüchtigkeit  kaum  minder  hoch 
einschätzt  als  die  geistige  Befähigung,  schafft  sie  auch 
für  die  minder  Begabten,  aber  wenigstens  körperlich 
gewandten  und  mutigen  Schüler  eine  Möglichkeit,  ehren- 
volle Auszeichnungen  davonzutragen.  Gute  Schüler,  die 
sowohl  in  den  Athleliks  wie  in  den  Wissenschaften  Hervor- 
ragendes  leisten,    kommen   im   Laufe   der    Schuljahre   in 


38  Der  Yankee  als  Erzieher. 

den  Besitz  eines  kleinen  Museums  von  Ehrenflaggen  und 
Wimpeln,  silbernen  Bechern,  Medaillen,  Diplomen,  Bücher- 
preisen und  dergl.,  und  diese  Trophäen  aus  der  Schul- 
zeit machen  noch  in  höherem  Alter  den  größten  Stolz 
der  Inhaber  aus. 

Sehr  schwer  ist  es  begreiflicherweise,  den  jungen  Republi- 
kanern Disziplin  beizubringen,  denn  die  Abneigung  gegen 
jeden  Zwang  liegt  ihnen  im  Blute.  Dazu  pflegen  sie  im 
Durchschnitt  auch  noch  erheblich  temperamentvoller 
und  lebhafter,  ungebärdiger  und  eigenwilliger  zu  sein, 
als  die  Kinder  der  meisten  anderen  Völker.  Man  stelle 
sich  eine  junge  L,ehrerin  (die  Lehrkräfte  sind  zum  über- 
wiegenden Teil  weibliche)  einer  großen  Klasse  von  tob- 
süchtigen Buben  und  ausgelassenen  Mädels  gegenüber 
vor.  Schlagen  darf  sie  nicht,  auch  wenn  sie  körperlich 
imstande  wäre ,  diese  wilden  Rangen  zu  bewältigen. 
Wüstes  Anschreien  ist  auch  verpönt;  wie  soll  sie  also  mit 
einer  solchen  Gesellschaft  fertig  werden  ?  Georg  v.  Skal 
erzählt  in  seinem  Buche  ,,Das  amerikanische  Volk"  ein 
hübsches  Beispiel,  wie  solch  eine  schon  fast  verzweifelte 
junge  Lehrerin  ihrer  besonders  wilden  Klasse  Herr  wurde. 
Sie  erklärte  nämlich  der  radaulustigen  Gesellschaft,  sie 
habe  es  satt,  sich  die  Schwindsucht  an  den  Hals  zu  ärgern, 
sie  möchten  sich  gefälligst  allein  regieren;  sie  gebe  ihnen 
anheim,  sich  einen  Präsidenten,  einen  Vizepräsidenten 
und  was  sonst  für  Beamte  notwendig  seien,  aus  ihrer 
Mitte  zu  wählen  und  mache  dann  diese  selbstgewählte 
Regierung  für  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  verant- 
wortlich. Und  siehe  da,  der  angeborene  common  sense, 
d.  h.  der  Instinkt  für  das  Vernünftige,  brachte  diese 
schwierige  Gesellschaft  ohne  irgend  welche  Beeinflussung 
von  oben  dazu,  den  besten  und  gesittetsten  Schüler  der 
Klasse  zum  Präsidenten  und  den  stärksten  und  gewalt- 


Schülerverbindungen.  39 


tätigsten  zum  Vizepräsidenten  zu  erwählen.  Der  erstere 
suchte  durch  vernünftige  Überredung  einzuwirken,  und 
der  Vizepräsident,  als  Haupt  der  Exekutive,  verprügelte 
eigenhändig  die  unbotmäßigen  Elemente  dergestalt,  daß 
sie  es  bald  vorzogen,  sich  widerspruchslos  zu  fügen.  Die 
junge  Iyehrerin  durfte  sich  bald  einer  Musterklasse  rühmen. 
Die  Selbstverwaltung  spielt  überhaupt  eine  große  Rolle 
im  amerikanischen  Schulwesen.  Schülerverbindungen  aller 
Art  werden  nicht  wie  bei  uns  unterdrückt,  sondern  im 
Gegenteil  begünstigt.  Die  Iyehrer  unterweisen  diese 
Verbindungen  in  der  Handhabung  der  parlamentarischen 
Formen  und  wachen  nur  darüber,  daß  keine  unziemlichen 
oder  unsinnigen  Ausschreitungen  stattfinden.  Der  schlimme 
Anreiz  zur  frühzeitigen  Nachahmung  eines  studentischen 
Saufkomments  fehlt  den  Schülern  der  amerikanischen 
Mittelschulen  vollständig,  da  ein  solcher  auf  den  Universi- 
täten nicht  existiert.  Und  so  läuft  die  Haupttätigkeit 
aller  Schülerverbindungen  auf  Sport  und  Spiel,  vornehm- 
lich auf  die  Nachäff ung  des  politischen  Uebens  im  kleinen, 
auf  Übung  im  Redenhalten  und  Debattieren  hinaus. 
Der  Erfolg  ist  denn  auch  der,  daß  der  junge  Amerikaner 
des  Durchschnitts  zum  mindesten  die  rethorische  Phrase 
außerordentlich  geläufig  beherrschen  lernt  und  daß  die 
hervorragenden  Intelligenzen  sich  spielenderweise  zu  vor- 
züglichen Rednern  und  schlagfertigen  Debattern  heran- 
bilden. Der  Iyehrplan  ist  in  den  Elementarschulen  durch- 
aus auf  das  Praktische  gestellt;  es  wird  scharf  gedrillt, 
viel  auswendig  gelernt  und  viel  examiniert.  Was  jeder 
Mensch  an  Elementarwissen  zum  lieben  unbedingt  not- 
wendig braucht,  wird  zuverlässig  den  im  allgemeinen 
äußerst  hellen  und  lernbegierigen  Köpfen  eingetrichtert. 
Nebenbei  verrichtet  aber  die  Volksschule  noch  eine  höchst 
wichtige   Kulturarbeit,   indem   sie   auch   die   erwachsenen 


40  Der  Yankee  als  Erzieher. 

Einwanderer  durch  deren  Kinder  erziehen  läßt.  Selbst- 
verständlich erlernen  diese  die  englische  Sprache  sehr 
viel  rascher  und  gründlicher  als  die  Eltern  und  werden 
dadurch  zu  deren  Lehrern.  Aber  sie  werden  auch  zu 
Lehrmeistern  ihrer  Eltern  in  bezug  auf  Körperkultur, 
Hygiene  und  Manieren.  Jedes  Kind,  das  nicht  sauber 
gewaschen  und  in  properem  Anzug  zur  Schule  kommt, 
wird  seinen  Eltern  heimgeschickt  mit  dem  Auftrag,  das 
Nötige  zur  Behebung  solcher  Mängel  sofort  vorzunehmen. 
Die  heimgeschickten  Kinder  fühlen  sich  so  beschämt 
durch  diese  Maßnahme,  daß  sie  es  in  den  meisten  Fällen 
auch  bei  Eltern,  die  einem  Volke  angehören,  dem  die 
Pflege  des  Drecks  ein  Gegenstand  religiöser  Überzeugung 
ist,  durchsetzen  werden,  daß  um  der  Schule  willen  Seife, 
Zahnbürste,  Kamm  usw.  mit  der  der  angelsächsischen 
Rasse  angeborenen  Energie  angewendet  werden.  In  be- 
sonders schwierigen  Fällen  begleiten  wohl  die  Lehrerinnen 
die  armen  Kinder  solcher  Schmutzfanatiker  heim  und 
reinigen  und  bef licken  sie  selbst  vor  den  Augen  der  Eltern ; 
oder  die  Angehörigen  besonderer  sozialer  Hilfsvereine 
unterziehen  sich  dieser  menschenfreundlichen  Aufgabe. 
So  lernen  sich  unzivilisierte  Eltern  vor  ihren  Kindern 
schämen  und  bringen  es  noch  auf  ihre  alten  Tage  über 
sich,  dem  Weidwerk  auf  den  eigenen  Köpfen  nachzugehen 
und  die  ehrwürdige  Patina  des  wärmenden  Drecks,  den 
sie  aus  Europa  oder  Asien  über  das  Weltmeer  mit  hinüber 
gebracht  haben,  den  ungemütlichen  Idealen  moderner 
Hygiene  zu  opfern. 


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2)as  Universitätsieben  in  der  Union, 


\öfer  sich  über  die  tiefsten  Wesensunterschiede  der  ameri- 
f  V  kanischen  und  der  europäischen  Kultur  klar  werden 
will,  der  möge  sich  nur  ordentlich  umsehen  auf  den  Stätten, 
wo  die  geistigen  Werte  in  gangbare  Münze  umgesetzt  und 
die  großen  Wechsel  auf  die  kulturelle  Zukunft  ausgestellt 
werden,  nämlich  —  auf  den  Hochschulen.  Wer  in  Deutsch- 
land akademischer  Bürger  gewesen  ist,  dem  muß  zunächst 
unfehlbar  der  große  Unterschied  zwischen  hüben  und 
drüben  in  der  äußeren  Erscheinung  der  Studenten  und 
Studentinnen  auffallen.  Abgesehen  davon,  daß  selbst- 
verständlich der  groteske  Typus  des  Studiosus  Süffel,  des 
bemoosten  Hauptes  mit  dem  Bierbauch  und  den  auf- 
geschwemmten, kreuz  und  quer  zerhackten  Backen,  sowie 
auch  die  des  hochmütig  blasierten  ultrapatenten  Korps- 
studenten fehlt,  sieht  man  sich  auch  vergeblich  nach  dem 
Typus  unseres  heißbeflissenen  Jüngers  der  Wissenschaft 
um,  nach  den  stubenbleichen  Brillenträgern,  den  ver- 
träumten oder  frühzeitig  zergrübelten  Denkerköpfen, 
deren  Alter  schwer  bestimmbar  und  deren  ungeschicktes, 
weltfremdes  Gebaren  mit  der  Reife  und  dem  Ernst  ihres 
Denkens  und  Redens  oft  in  so  drolligem  Widerspruch 
steht.  Drüben  sieht  man  nur  frische,  derbe  Jungens  und 
Mädels;  die  ersteren  häufig  noch  bärenhaft  tolpatschig, 
die  letzteren  mit  der  ruhigen  Sicherheit  der  früheren  Reife 
ihres  Geschlechts  auftretend.  Die  sozialen  Unterschiede 
der  Herkunft  machen  sich  nur  in  der  Kleidung  bemerkbar 
und  in  der  größeren  oder  geringeren  Zierlichkeit  der  Glied- 
maßen und  Verfeinerung  der  Manieren.  Im  Ausdruck 
der    Gesichter    herrscht    aber    eine    erstaunliche    Gleich- 


42  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

artigkeit.  Die  Studierenden  der  beiden  ersten  Semester 
werden  Freshmen  genannt,  der  zweite  Jahrgang  Sopho- 
mors,  der  dritte  Jahrgang  Juniors,  der  vierte  Jahr- 
gang Seniors.  Alle  zusammen  sind  die  Undergraduates, 
und  was  nach  dem  Graduieren,  d.  h.  also  nach 
dem  Baccalaureats  oder  sonstigem  Staatsexamen,  noch 
weiter  studiert,  Postgraduales;  als  äußerliches  Kennzeichen 
führen  sie  verschieden  gefärbte  Knöpfe  auf  ihren  Oxford- 
baretts oder  gestrickten  Wollkappen.  Von  der  High- 
School  kommen  sie  zwischen  17  und  19  Jahren  zur  Uni- 
versität oder  in  die  Colleges;  aber  nicht,  wie  bei  uns,  tut 
nun  der  junge  Mensch  einen  gewaltigen  Sprung  aus  der 
strengen  Disziplin  in  die  schrankenlose  Freiheit,  sondern 
nur  einen  bedächtigen  Schritt  vorwärts  von  einer  strengeren 
zu  einer  freieren  Schulgattung,  denn  auch  auf  der  Uni- 
versität und  im  College  sind  die  jungen  I^eute  einer  Dis- 
ziplin unterworfen,  die  ihre  persönliche  Freiheit  immerhin 
beschränkt.  Sie  wohnen  in  sogenannten  Dormitories 
( Schlaf häusern),  wo  sie,  je  nach  ihren  Mitteln,  einzeln 
oder  mit  Kameraden  zusammen  hausen.  Die  Mahlzeiten 
nehmen  sie  gemeinsam  in  einer  großen  Halle  ein,  wo  sie 
für  billiges  Geld  eine  einfache,  nahrhafte  Kost,  aber  nur 
Wasser  zu  trinken  bekommen.  An  denjenigen  Hoch- 
schulen, die  beiden  Geschlechtern  gemeinsam  dienen,  sind 
für  die  Mädchen  besondere  Schlafhäuser  und  meist  auch 
Speisesäle  vorhanden.  Ebenso  auch  besondere  Gymnasien, 
d.h.  Sporthallen,  und  besondere  Spielplätze;  dagegen 
häufig  gemeinsame  Klublokale,  wo  sie  Tanzvergnügungen 
abhalten,  Iyiebhabertheater  spielen,  Nachmittagstees  oder 
Abendreceptions  geben.  Von  jeder  Aufsicht  frei  sind  sie 
nur  in  ihren  Vereinen  und  in  ihren  Bruder-  oder  Schwester- 
schaften (Fraternities  und  Sororities).  Diese  letzteren 
nehmen    die    Stelle    unserer   Verbindungen    ein.     Sie    be- 


Studentenverbindung-en.  43 


zeichnen  sich  aber  nicht  nach  Landsmannschaften,  sondern 
mit  Buchstaben  des  griechischen  Alphabets,  welche  die 
Anfangsbuchstaben  eines  Wahlspruchs  sind,  den  sie  meist 
mit  drolligem  Ernst  als  ein  großes  Geheimnis  bewahren. 
Nur  die  wohlhabenden  Studenten  und  Studentinnen 
können  sich  die  Mitgliedschaft  in  einer  solchen  Bruder- 
oder Schwesternschaft  leisten,  denn  diese  Vereinigungen 
besitzen  eigne  Häuser,  in  denen  sie,  zum  Teil  sogar  recht 
luxuriös,  wie  Gentlemen  und  Ladies  der  besten  Gesell- 
schaft zusammen  leben,  essen  und  arbeiten.  Selbst  die 
bescheidensten  dieser  Verbindungshäuser  sind  mit  allen 
modernen  Bequemlichkeiten  behaglich  und  gediegen  aus- 
gestattet. Man  sieht  also  auch  aus  dieser  Erscheinung 
wieder,  wie  das  demokratische  Prinzip  der  Gleichmacherei 
immer  wieder  von  dem  natürlichen  Drange  des  Menschen 
nach  aristokratischer  Absonderung  durchbrochen  wird; 
nur,  daß  es  in  der  großen  Republik  ein  selbstverständ- 
liches Gebot  anständiger  Gesinnung  ist,  Vorzüge  der  Ge- 
burt und  des  Besitzes  nicht  durch  anmaßendes  Wesen 
gegenüber  den  vom  Glück  weniger  Begünstigten  zum 
Ausdruck  kommen  zu  lassen.  Man  wird  schwerlich  jemals 
beobachten  können,  daß  arme  Studenten  und  Studentinnen, 
die  sich  durch  Stundengeben,  Schreiber-  oder  gar  Hand- 
langerdienste mühsam  durchschlagen  müssen,  vor  den 
Mitgliedern  der  reichen  Verbindungen  unterwürfig  kriechen, 
oder  daß  jene  sich  diesen  gegenüber  einen  überheblichen, 
unkameradschaftlichen  Ton  herausnähmen.  In  allen  ge- 
meinsamen Angelegenheiten  halten  die  Studenten  fest 
zusammen,  und  der  Stolz  auf  ihre  Alma  mater  äußert  sich 
bei  allen  festlichen  Gelegenheiten,  namentlich  bei  den 
sportlichen  Wettkämpfen  mit  anderen  Hochschulen,  in 
einem  erfrischend  jugendlichen  Enthusiasmus.  Jede  Hoch- 
schule  hat   einen   besonderen    Cheer,   d.  h.    Hochruf,   nach 


44  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

Rhythmus  und  Melodie  verschieden.  Und  mit  diesem 
Cheer  werden  die  beliebten  Professoren  und  die  sport- 
lichen Siege  gefeiert,  bei  den  großen  Wettkämpfen  muß 
er  gleich  dem  Kriegsruf  wilder  Völkerschaften  zur  An- 
spornung des  Kampfeifers  dienen.  Wer  einmal  —  etwa  gar 
in  dem  berühmten  Stadion  der  zwanzigtausend  Menschen 
fassenden  Arena  von  Cambridge  bei  Boston,  einem 
Fußballmatch  zwischen  Harward  und  Yale  beigewohnt  hat, 
wird  zeitlebens  den  Bindruck  nicht  vergessen.  Jede  der 
beiden  Parteien  hat  ihr  eignes  Musikkorps,  welches  in  den 
Spielpausen  Studentenlieder  und  schmetternde  Märsche 
zum  besten  gibt  und  während  des  Spiels  jede  bedeutsame 
Wendung,  jede  gute  Augenblicksleistung  des  Einzelnen 
mit  einem  Tusch  quittiert.  Vor  jedem  der  beiden  Musik- 
korps sind  Angehörige  der  betreffenden  Parteien  auf- 
gestellt, welche,  mit  riesigen  Sprachrohren  bewaffnet,  den 
College- Cheer  intonieren  und,  wild  mit  den  Armen  fuchtelnd, 
meistens  gänzlich  unrhythmisch  und  unmusikalisch,  den 
Tusch  der  Bläser  dirigieren.  Und  dann  fallen  in  diesen 
Heilruf  nicht  nur  die  Kommilitonen,  sondern  auch  die 
anwesenden  früheren  Studierenden  der  betreffenden  Uni- 
versität und  deren  ganzer  Anhang  von  Freunden  und 
Verwandten  im  Publikum  ein,  und  das  mit  einer  Be- 
geisterung und  einem  Kraftaufwand,  daß  dem  unbe- 
teiligten Fremdling  darüber  Hören  und  Sehen  vergeht. 
Man  springt  auf  die  Bänke,  man  schwenkt  Taschentücher 
und  Kopfbedeckungen,  wildfremde  Menschen  packen 
sich  bei  den  Schultern  und  schütteln  und  stoßen  sich,  um 
einander  aufmerksam  zu  machen  auf  spannende  Momente 
oder  sich  zu  größerer  Begeisterung  für  die  Sieger  auf- 
zurütteln. Und  dabei  sieht  der  Fremdling,  der  von  dem 
Spiel  nichts  versteht,  eigentlich  nur  einen  in  eine  Staub- 
wolke eingehüllten  Knäuel  grotesk  bekleideter  Jünglinge, 


Sportliche  Wettkämpfe.  45 

der  sich  balgend  auf  dem  Boden  wälzt,  wobei  ein  Indivi- 
duum dem  andern  die  Rippen  eintritt,  mit  den  Fäusten 
den  Wind  ausbläst  (to  blow  the  wind  out)  oder  die  schweren 
Sportstiefel  unter  die  Nase  feuert,  bis  sich  einer  mit  dem 
eroberten  Ball  unterm  Arm  aus  dem  wüsten  Menschen- 
salat herausarbeitet  und  in  weiten  Sprüngen,  wie  ein 
junger  Hirsch,  unter  dem  betäubenden  Jubel  von  zwanzig- 
tausend bis  zur  Tollheit  begeisterten  I^andsleuten  über 
den  Kampfplatz  stürmt. 

In  diesen  Wettspielen  der  höchst  kultivierten 
Jugend  Amerikas  erlebt  man  staunend  bei  dem 
traditionslosesten  aller  Gegenwartsvölker  eine  höchst 
eindrucksvolle  Auferstehung  der  Antike.  Die  Schönheit 
und  Anmut  der  nackten  Griechen  fehlt  freilich  völlig  bei 
dieser  unförmlich  wattierten,  mit  L,ederkappen  und  Faust- 
handschuhen ausgerüsteten  Yankeemannschaft,  aber  die 
leidenschaftliche  Teilnahme  des  ganzen  Volkes,  die  diese 
Kraft-  und  Gewandtheitsspiele  seiner  Jugend  zu  einer 
nationalen  Angelegenheit  macht,  kann  auch  im  alten 
Hellas  und  im  alten  Rom  nicht  hinreißender  gewesen  sein. 
Die  amerikanische  Mutter  ist  auf  ihren  Sohn,  dem  beim 
Ballspiel  das  Nasenbein  oder  sonstige  Extremitäten  ge- 
knickt wurden,  so  stolz  wie  die  Spartanerin,  deren  Knabe, 
ohne  mit  der  Wimper  zu  zucken,  sich  mit  Ruten  bis  aufs 
Blut  peitschen  ließ. 

Diese  hohe  Wertschätzung  der  körperlichen  Tüchtig- 
keit, die  übrigens  keineswegs  nur  auf  das  männliche  Ge- 
schlecht beschränkt  ist,  trägt  sehr  viel  dazu  bei,  dem 
amerikanischen  Studentenleben  sein  durchaus  eigenartiges 
Gepräge  zu  verleihen.  Ich  habe  mir  des  öfteren  erlaubt, 
amerikanischen  Studenten  gegenüber  meinem  Zweifel 
Ausdruck  zu  geben,  daß  diese  Helden  der  Arena,  diese 
Champions    der    Ballschläger,    Ruderer,    Wettläufer    und 


46  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

Boxer  auch  in  geistiger  Beziehung  Zierden  einer  wissen- 
schaftlichen Anstalt  seien,  habe  aber  fast  regelmäßig  die 
Antwort  bekommen,  daß  meine  Zweifel  durchaus  un- 
begründet, vielmehr  unter  den  hervorragenden  Athleten 
häufig  auch  die  tüchtigsten  wissenschaftlichen  Begabungen, 
zum  mindesten  aber  die  fleißigsten  Büffler  zu  finden 
seien.  Weit  weniger  sichere  und  selbstbewußte  Antworten 
dagegen  erhielt  ich,  wenn  ich  amerikanische  Studenten 
nach  ihren  wissenschaftlichen  Zielen  oder  gar  nach  ihrer 
Weltanschauung  auszuforschen  versuchte.  Da  hieß  es 
meist:  „Ach,  darüber  zerbrechen  wir  uns  vorläufig  den 
Kopf  nicht.  Wenn  wir  unser  Kxamen  gemacht  haben, 
schickt  uns  die  Regierung  nach  Portorico  oder  nach  Haiti 
oder  sonst  wohin,  da  haben  wir  schon  eine  gute  Stellung 
in  Aussicht."  Bin  anderer  sagt:  ,,0,  ich  trete  einfach  in 
das  Geschäft  meines  Vaters  ein,  da  brauche  ich  keine 
andere  Weltanschauung  als  die  eines  Gentlemans."  Da 
die  englische  Sprache  keinen  präzisen  Ausdruck  für  Welt- 
anschauung kennt,  so  ist  es  überhaupt  sehr  schwer,  einem 
jungen  Amerikaner  begreiflich  zu  machen,  was  man  damit 
meint.  Der  Optimismus  des  jungen  erfolgreichen  Volkes 
sitzt  ihm  so  tief  im  Geblüt,  daß  er  kaum  begreift,  wie  man 
sich  von  Zweck  und  Wert  des  Gebens,  von  der  Vortrefflich- 
keit der  bestehenden  Weltordnung  verschiedenartige  Vor- 
stellungen machen  könne.  Er  fühlt  nicht  den  mindesten 
Drang  oder  Beruf  in  sich,  an  diesen  Dingen  Kritik  zu  üben, 
weil  er  in  der  Anschauung  aufgewachsen  ist  und  sie  inner- 
halb seiner  jungen  Erfahrung  überall  bestätigt  findet,  daß 
für  einen  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  überall  Raum 
und  Gelegenheit  zur  erfolgreichen  Betätigung  seiner 
Kräfte  und  Talente  gegeben  sei.  Eine  solche  Anschauung 
ist  unzweifelhaft  gesund  für  L,eib  und  Seele  —  aber  für 
die    wissenschaftliche    Erkenntnis    ist    sie    nichts    weniger 


Der  letzte  Schliff.  47 


als  förderlich.  Innerhalb  dieser  Zufriedenheit  mit  dem 
Gegebenen  bleibt  eben  kein  Platz  für  den  fruchtbaren 
Zweifel  und  für  die  Unersättlichkeit  des  Forschers.  Den 
amerikanischen  Studenten  im  allgemeinen  interessiert 
nur  jenes  positive  Wissen,  dessen  unmittelbare  praktische 
Verwertbarkeit  ihm  einleuchtet.  Und  wie  der  Zuschnitt 
aller  amerikanischen  Erziehungsanstalten,  von  der  Ele- 
mentarschule an,  darauf  eingerichtet  ist,  dem  jungen 
Nachwuchs  zu  geben,  was  er  braucht,  wonach  seine  natür- 
lichen Instinkte  sich  freudig  drängen,  so  sind  auch  die 
Universitäten  keineswegs  darauf  aus,  Gelehrte  zu  züchten, 
sondern  ihre  Absicht  ist  vielmehr  nur,  dem  Schulwissen 
den  letzten  Schliff,  das  refinement  der  höheren  Kultur  und 
den  Fachstudien  jene  Vertiefung  zu  geben,  die  sie  im 
praktischen  Leben  erst  nutzbar  macht.  Der  amerikanische 
Student  glaubt  an  sein  Lehrbuch  und  schwört  auf  die 
Worte  seines  Lehrers.  Er  lernt  fleißig,  ohne  sich  von 
Zweifeln  beirren  zu  lassen,  und  beschränkt  sich  auf  die 
Fächer,  die  ihm  für  seinen  künftigen  Beruf  als  notwendig 
vorgeschrieben  sind.  Überflüssige  Wissenschaften  nimmt 
er  nur  eben  so  mit,  sofern  er  die  Eitelkeit  besitzt,  als 
Schöngeist  zu  glänzen,  und  um  sich  von  den  Damen  seines 
Kreises  nicht  in  bezug  auf  allgemeine  Bildung  in  den 
Schatten  stellen  zu  lassen.  Seinen  Professor  plagt  auch 
keineswegs  der  Ehrgeiz,  den  Prometheusfunken  schöpfe- 
rischen Instinktes,  der  etwa  in  den  jungen  Köpfen  seiner 
Hörer  schlummern  mag,  zur  hellen  Flamme  aufzublasen 
und  die  Methoden  selbständiger  wissenschaftlicher 
Forschung  diesen  zukünftigen  Bahnbrechern  nahezu- 
bringen. Er  begnügt  sich  meistens  damit,  sein  Fachwissen 
der  Jugend  mitzuteilen,  und  sorgt  durch  Abfragen  und 
Aufgabenstellen  dafür,  daß  sie  sich  dies  Fachwissen 
gründlich  einprägen.    Er  ist  daher  in  weitaus  den  meisten 


48  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

Fällen  nach  unseren  Begriffen  selber  gar  kein  Gelehrter, 
sondern  eben  nur  ein  Reservoir  von  Kenntnissen,  ein 
Experte,  ein  Korrepetitor.  Unter  den  überaus  zahlreichen 
Professoren  deutscher  Abstammung,  die  es  drüben  als 
Universitätslehrer  zu  großem  Ansehen  gebracht  haben, 
finden  wir  daher  so  manchen,  der  sich  niemals  wissen- 
schaftlich betätigt  hat  und  als  einfacher  Töchterschul-, 
Real-  oder  Gymnasiallehrer  ausgewandert  ist.  Erweisen 
sich  solche  bescheidene  Handlanger  der  Wissenschaft 
drüben  als  gute  Pädagogen,  bei  denen  die  Kinder  gern 
und  gut  lernen,  so  haben  sie  es  nicht  schwer,  zu  Hoch- 
schullehrern aufzurücken.  Anstandshalber  pflegen  sie 
dann  einen  Leitfaden,  ein  Kompendium  oder  eine  populäre 
Darstellung  ihres  speziellen  Wissensgebietes  zu  verfassen. 
Im  Colleg  ist  der  freie  Vortrag  von  seiten  der  Professoren 
durchaus  nicht  die  Regel,  sondern  eher  die  Ausnahme. 
Die  meisten  halten  sich  an  ein  L,ehrbuch  eigner  oder  fremder 
Erzeugung  und  pauken  dies  gewissenhaft  den  Schülern 
ein.  Schüler  bleiben  die  Studenten  ja  in  der  Tat,  bis  sie 
ihren  akademischen  Grad  erreicht  haben.  Der  Freshman 
birgt  in  seinem  Schädel  keineswegs  jene  beängstigende 
Masse  verschiedenartigster  Kenntnisse,  deren  Vorhanden- 
sein der  deutsche  Schüler  im  Abiturientenexamen  nach- 
weisen muß.  In  den  philologischen  Fächern,  namentlich 
in  den  alten  Sprachen,  besitzt  er  kaum  das  Wissen 
eines  deutschen  Untersekundaners;  in  den  modernen 
Sprachen,  in  Geschichte  und  Geographie  weiß  er  vielleicht 
so  viel,  daß  er  bei  uns  das  Einjährigenexamen  bestehen 
könnte,  und  in  den  Realien  etwas  mehr.  Wer  also  eine 
humanistische  Bildung  erstrebt,  der  arbeitet  das  Pensum 
unserer  Obersekunda  und  Prima  erst  auf  der  Universität 
durch;  die  übrigen  werfen  sich  von  vornherein  auf  das 
Fach,  aus  dem  sie  später  ihren  Beruf  zu  machen  gedenken. 


Technik  und  Wissenschaft.  49 

Es  gibt  besondere  Drillanstalten  für  Juristen,  für  Medi- 
ziner, für  Theologen  —  die  letzteren  werden  von  den 
einzelnen  Denominationen  (Sekten)  auf  eigne  Kosten 
unterhalten.  Am  stärksten  besucht  und  am  glänzendsten 
ausgestattet  sind  die  Institute  für  die  technischen  Berufe, 
die  chemischen  und  physikalischen  L,aboratorien,  die 
Maschinen-Ingenieurschulen,  die  Museen  und  Samm- 
lungen für  den  Anschauungsunterricht  der  Geologen, 
Zoologen,  Landwirte,  Architekten  usw.  usw.  Weitaus  die 
meisten  Universitäten  sind  im  Grunde  nichts  anderes  als 
technische  Hochschulen,  an  welche  eine  philosophische 
Fakultät,  eine  juristische,  medizinische  oder  theologische 
Fachschule  angegliedert  sind,  ganz  ähnlich  wie  ja  auch 
bei  unseren  technischen  Hochschulen  Vorlesungen  über 
Nationalökonomie,  Literatur  und  Kunstgeschichte,  über 
Philosophie  und  dergleichen,  die  allgemeine  Bildung  be- 
reichernde Gegenstände  gehalten  werden.  Es  ist  ja  sehr 
begreiflich,  daß  vorläufig  noch  die  weitaus  überwiegende 
Mehrzahl  der  geistig  regsamen  jungen  Leute  in  Amerika 
sich  nach  den  Berufen  drängt,  welche  noch  auf  lange  Zeit 
hinaus  die  größte  praktische  Bedeutung  haben  werden.  Für 
Hoch-  und  Tiefbauingenieure,  Elektrotechniker,  Maschinen- 
konstrukteure, Geologen,  Schiffsbauer,  Chemiker  gibt  es 
selbstverständlich  in  dem  Riesenkontinent  mit  den  großen, 
noch  unerschöpften  Möglichkeiten  der  Ausbeutung  viel 
mehr  zu  tun,  als  für  die  Vertreter  der  reinen  Geisteswissen- 
schaften. Man  hegt  trotzdem  eine  an  Ehrfurcht  grenzende 
Hochachtung  für  die  seltsamen  Idealisten,  welche,  anstatt 
ihre  Schöpfkellen  unter  die  zurzeit  noch  üppig  sprudelnden 
Goldquellen  zu  halten,  den  Durst  ihrer  Seelen  mit  trans- 
zendenten Betrachtungen  stillen,  und  statt  nach  blanken 
Metalladern  nach  Regenwürmern  graben.  Es  gibt  auch  in 
Amerika    wunderliche    Käuze,    die   imstande   sind,    sagen 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  4 


50  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

wir  über  das  Alpha  privativum  im  Griechischen  dicke 
Wälzer  zu  schreiben,  oder  lange  Jahre  ihres  Gebens  der 
Erforschung  irgendeines  dunkeln  Winkels  der  Geschichte 
zu  opfern,  an  dessen  Aufhellung  keinem  modernen  Men- 
schen das  Geringste  gelegen  ist.  Man  bezahlt  sogar  solche 
Käuze  —  sie  sind  übrigens  fast  alle  Deutsche  —  sehr  gul 
und  ist  besonders  stolz  auf  ihren  Besitz  —  aus  demselben 
Grunde,  aus  welchem  man  unerhörte  Summen  aufwendet,  um 
allen  möglichen  alten  Trödel  aus  Buropa  neben  wirklichen 
Kostbarkeiten  der  Kunst  in  die  privaten  und  öffentlichen 
Sammlungen  Amerikas  zu  schleppen.  Man  will  eben  der 
Alten  Welt  beweisen,  daß  man  sich  in  der  Neuen  den  I^uxus 
der  Reliquienverehrung  auch  leisten  könne  und  daß  man 
keineswegs  den  Übeln  Ruf  verdiene,  ein  Volk  von  Empor- 
kömmlingen zu  sein,  das  nur  für  materielle  Dinge  Achtung 
und  Verständnis  besitze. 

Es  ist  charakteristisch,  daß  es  drüben  Privatgelehrte 
wohl  überhaupt  nicht  gibt.  Wer  wirklich  gelehrte  Studien 
treibt,  seien  es  auch  solche,  deren  praktischer  Wert  nicht 
ersichtlich  ist,  kann  sicher  sein,  in  einer  Universitäts- 
stellung seinen  Lebensunterhalt  zu  finden,  sei  es  auch  nur 
als  sorgfältig  unter  Glas  verwahrte  Rarität.  Es  gibt  also 
auch  kein  gelehrtes  Proletariat,  und  das  scheint  mir  denn 
doch  ein  Vorzug  zu  sein,  um  welchen  wir  das  junge  I^and 
nur  beneiden  können.  Jeder  akademische  Bürger  ist 
imstande,  die  Kenntnisse,  die  er  sich  auf  der  Hochschule 
erworben  hat,  später  praktisch  zu  verwerten.  Der  Staats- 
beamte braucht  nicht  seinen  Eltern  bis  in  seine  30  er  Jahre 
hinein  auf  der  Tasche  zu  liegen,  der  Arzt,  der  Rechtsanwalt, 
der  keine  Praxis,  der  Geistliche,  der  keine  Gemeinde  findet, 
braucht  deswegen  immer  noch  nicht  zu  verzweifeln,  sondern 
sich  nur  einen  Stoß  zu  geben  und  die  Annehmlichkeiten 
einer  östlichen  Großstadt  mit  der  L,angenweile  eines  wild- 


Postgraduates.  51 


westlichen  Standquartiers  zu  vertauschen,  so  wird  er 
auch  seine  Rechnung  finden;  wenn  nicht,  so  wird  er  eben 
Geschäftsmann,  Farmer  oder  sonst  etwas  Vernünftiges. 
Seine  Bildung  braucht  ihm  dabei  nicht  hinderlich  zu  sein. 
Handel,  Industrie  und  Landwirtschaft  schicken  ihre 
Söhne  scharenweise  auf  die  Universitäten,  um  sich  dort 
allgemeine  Bildung  und  nützliche  Spezialkenntnisse  zu 
erwerben.  Das  für  die  eigentliche  wissenschaftliche 
Forschung  in  Betracht  kommende  Studentenmaterial 
bildet  nur  eine  fast  verschwindende  Minderheit.  Übrigens 
finden  diese  Leute,  die  sich  dann  wohl  meist  der  aka- 
demischen Lehrtätigkeit  widmen  wollen,  als  Postgraduates 
auch  in  Amerika  reichlich  Gelegenheit,  ihre  Studien  zu 
vertiefen  und  zu  erweitern,  denn  es  fehlt  weder  an  hervor- 
ragenden Kapazitäten  in  fast  allen  wissenschaftlichen 
Fächern,  noch  an  Lehrmitteln.  Die  Bibliotheken  zumal 
sind  überaus  reich  ausgestattet.  Sollte  aber  ihr  wissen- 
schaftlicher Eifer  sich  auf  Gebiete  werfen,  die  in  der  Heimat 
noch  zu  wenig  angebaut  sind,  so  finden  sie  sicher  Mäzene, 
die  ihnen  ein  weiteres  Studium  im  Auslande  ermöglichen, 
wenn  die  eignen  Mittel  dazu  nicht  ausreichen  sollten. 
Bs  kann  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
Frische  und  Freudigkeit,  die  uns  bei  der  amerikanischen 
akademischen  Jugend  so  vorteilhaft  auffällt,  die  glück- 
liche Folge  der  Klarheit  und  Sicherheit  aller  Verhältnisse 
drüben  ist.  Der  junge  Mensch  kommt  nicht  als  über- 
füttertes Geistesmastprodukt  auf  die  hohe  Schule;  er 
hat  nicht  seine  schönsten  Jugendjahre  an  eine  erzwungene 
Arbeit  verloren,  deren  Nutzen  er  nicht  einzusehen  ver- 
mochte, und  hat  nicht  seinen  Charakter  verdorben  durch 
ohnmächtiges  Zähneknirschen  wider  ein  verhaßtes  System 
und  deren  lebendige  Vertreter;  er  kommt  mit  echt  jugend- 
lichem Vertrauen  seinen  Lehrern  entgegen  und  braucht 

4  * 


52  Das  Univcrsitätsleben  in  der  Union. 

sieh  nicht  vorzeitig  mit  der  Schicksalsfrage  zu  quälen: 
wozu  büffelst  du  nun  eigentlich  noch  immer  weiter? 
Wird  dir  dein  Wissen  auch  ein  sicheres  Auskommen  ge- 
währen, oder  wird  die  einzige  Vergeltung  für  dein  höheres 
Streben  darin  bestehen,  daß  du  einst  als  abgetriebener 
alter  Karrengaul  an  der  Staatskrippe  ein  dürftiges  Gnaden- 
brot findest?  Wenn  schon  jeder  gewöhnliche  Amerikaner 
durch  das  Bewußtsein,  daß  ihm  alle  Wege  offen  stehen, 
zur  höchsten  Anspannung  seiner  Kräfte  angefeuert  wird, 
so  muß  dieser  Auftrieb  natürlich  noch  viel  stärker  sein  bei 
den  jungen  Auserwählten  der  Nation,  die  ja  den  Wettlauf 
um  die  höchst  erreichbaren  Ziele  bereits  um  viele  Stationen 
näher  an  diesem  Ziele  beginnen.  Der  nicht  akademisch 
gebildete  Amerikaner  schaut  mit  stolzer  Verehrung  zu 
jedem  jungen  Harvard-Yale-Columbia-Cornellman  wie  zu 
einem  höheren  Wesen  auf,  denn  er  weiß,  daß  diese 
strammen  Burschen  einst  die  Richter,  die  Ärzte,  die  Gesetz- 
geber seiner  Kinder  sein  und  daß  ohne  Zweifel  geniale 
Erfinder,  Kulturförderer  großen  Stils,  auch  wohl  Präsi- 
denten der  Vereinigten  Staaten  darunter  sein  werden. 
Die  hohe  Wertschätzung  des  akademischen  Wissens 
findet  vielleicht  ihren  schönsten  Ausdruck  in  der  Bereit- 
willigkeit, mit  welcher  zu  Reichtum  gelangte  L,eute  aus 
einfachsten  Verhältnissen  fürstliche  Stiftungen  für  wissen- 
schaftliche Zwecke  machen.  Sobald  eine  Universität  in 
Verlegenheit  ist,  woher  sie  das  Geld  beschaffen  soll  für 
notwendige  Neubauten,  zur  Bereicherung  ihrer  Biblio- 
theken und  sonstigen  Sammlungen,  so  braucht  der  Herr 
Rektor,  dort  Präsident  genannt,  nur  ein  paar  notorische 
Millionäre  der  Stadt  oder  des  Staates  aufzusuchen,  und  er 
kann  sicher  sein,  binnen  kurzem  die  nötige  Summe  zu- 
sammenzubringen. Unsere  Großindustriellen  spenden  ihre 
Hunderttausende,  um  den  Kommerzienratstitel  und  schöne 


Der  Professor  im  öffentlichen  Leben.  53 

Orden  zu  bekommen ;  drüben  sind  sie  zufrieden,  wenn  ein 
Collegegebäude,  ein  Laboratorium,  eine  Klinik  ihren  Namen 
trägt.  Der  Holzhändler  Cornell  hat  die  nach  ihm  genannte, 
jetzt  hoch  berühmte  Universität  von  Ithaka  ganz  und 
gar  aus  eignen  Mitteln  aufgebaut  und  ausgestattet.  Und 
dieses  Beispiel  hat  so  eifrige  Nachahmung  gefunden,  daß 
heute  schon  die  wissensdurstigen  jungen  Leute  selbst  der 
unkultiviertesten  Bundesstaaten  nicht  mehr  die  engere 
Heimat  zu  verlassen  brauchen,  um  höheren  Studien  obzu- 
liegen. Es  gibt  jetzt  schon  eher  zu  viel  als  zu  wenig  Uni- 
versitäten und  Colleges*).  Die  große  Wertschätzung 
akademischer  Bildung  seitens  des  ganzen  Volkes  äußert 
sich  manchmal  auch  in  einer  Weise,  die  uns  einigermaßen 
naiv  erscheint.  Die  Amerikaner  haben  alle  Resultate  der 
wissenschaftlichen  Forschung  der  ganzen  Welt  fertig 
herüber  genommen,  und  ihre  eigne  Arbeit  lief  fast  aus- 
schließlich auf  deren  praktische  Verwertung  hinaus; 
folglich  erscheint  dem  gemeinen  Mann  jeder  Professor 
als  ein  moderner  Hexenmeister,  dessen  Zauberkünsten 
alles  zuzutrauen  sei,  und  darum  spielt  auch  der  akademische 
Lehrer  in  der  Öffentlichkeit  eine  ganz  andere  Rolle,  wie 
in  Europa.  Während  z.  B.  in  England  der  Gelehrte  noch 
mehr  wie  bei  uns  in  seinem  Wirkungskreis  als  Lehrer  und 
stiller  Forscher  eingeschlossen  bleibt,  wird  er  in  den  Ver- 
einigten Staaten  als  sachverständiger  Berater  und  tätiger 
Mitarbeiter  zu  allen  öffentlichen  Angelegenheiten  heran- 


*)  Der  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Gattungen  ist  schwer 
zu  umgrenzen.  Professor  Münsterberg  von  Havard  definiert  ihn  dahin, 
daß  sich  das  College  mit  der  Ansammlung  von  Wissen,  die  Universität 
dagegen  mit  dessen  kritischer  Würdigung  und  mit  exakter  Forschung 
beschäftigen  soll,  doch  fließen  die  Grenzen  schon  deshalb  oft  ineinander, 
weil  eben  an  den  meisten  Universitäten  auch  noch  nicht  viel  von  selb- 
ständiger Forschung   und   wissenschaftlicher  Systematik   zu  finden  ist. 


54  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

gezogen.  Kr  schreibt  fleißig  für  die  Tageszeitungen,  er 
hält  populäre  Vorträge,  er  beteiligt  sich  an  der  Politik  und 
wird  gern  von  der  Regierung  zu  wichtigen  diplomatischen 
Betätigungen  herangezogen.  Der  Cornell-Professor  Andrew 
D.  White  ist  nicht  der  einzige,  der  von  seinem  Lehrstuhl 
weg  direkt  auf  einen  Gesandtschaftsposten  berufen  wurde. 
Man  sieht  also  nicht  im  Gelehrten  einen  weltfremden, 
in  sich  gekehrten  Sonderling,  sondern  einen  Mann  der  Tat, 
dessen  reiches  Wissen  seinen  Gesichtskreis  notwendig 
erweitert  haben  muß. 

Kine  schöne  Gepflogenheit,  die  wohl  auch  ihr  gutes 
Teil  dazu  beiträgt,  die  geistige  und  leibliche  Gesundheit 
der  studierenden  Jugend  zu  fördern,  ist  die,  daß  man  die 
Hochschulen  mit  Vorliebe  in  Kleinstädte  mit  landschaftlich 
schöner  Umgebung  verlegt.  Mit  Ausnahme  der  altbe- 
rühmten Universitäten  von  Boston,  New  York,  Philadel- 
phia, Baltimore,  Washington  und  Chicago  sind  alle  Hoch- 
schulen auf  dem  Lande.  Der  Campus,  d.  h.  das  Gelände 
der  Universität,  befindet  sich  außerhalb  der  Ortschaften, 
mit  Vorliebe  auf  Anhöhen,  die  die  ganze  Gegend  be- 
herrschen, und  auf  denen  noch  ein  üppiger  alter  Baum- 
wuchs der  schändlichen  Waldvernichtung  der  ersten  An- 
siedler entgangen  ist.  Die  Baulichkeiten  sind  nicht  eng 
aneinander  gedrängt,  sondern  in  den  wohlgepflegten 
Parkanlagen  weit  zerstreut,  so  daß  die  Studierenden  auf 
dem  Wege  von  einem  Colleg  ins  andere  immer  reichlich 
Bewegung  und  frische  Luft  haben.  Gelegenheit  zu  aller 
Art  Sport  ist  selbstverständlich  überall  reichlich  gegeben, 
wie  man  sich  denn  überhaupt  einen  Studenten,  der  nicht 
rudert,  Ball  spielt,  wettläuft  usw.  gar  nicht  vorstellen 
kann.  Die  kleinen  Städte  bieten  so  gut  wie  keine  Ab- 
lenkung oder  gar  gefährliche  Versuchung  für  die  jungen 
Leute.    Was  sie  brauchen  an  edler  geistiger  Zerstreuung, 


Akademische  Vergnügungen.  55 


an  künstlerischer  Anregung,  das  schaffen  sie  sich  selbst 
in  ihren  Vereinen  für  Musikpflege,  ihren  Liebhabertheatern 
und  festlichen  Veranstaltungen.  Studentische  Gesang- 
und  Instrumentalvereinigungen  ziehen  in  der  Nachbar- 
schaft der  Universität  herum  und  verdienen  sich  ein 
hübsches  Geld  mit  Konzerten,  das  sie  nicht  selten  dazu 
verwenden,  hervorragende  Sänger  und  Virtuosen  kommen 
zu  lassen  und  ihren  Kommilitonen  vorzuführen,  ja  wohl 
gar  hauptstädtische  Theatertruppen  und  Sinfonie- 
Orchester.  So  ziehen  beispielsweise  die  Lehrer  und  bevor- 
zugten Schüler  der  Berkley-University  von  Kalifornien 
alljährlich  in  den  Sommerferien  in  den  Urwald,  leben  dort 
wochenlang  in  Zelten  und  Blockhütten,  die  zum  Teil  im 
Geäst  der  riesigen  Mammutbäume  (Sequoia  gigantea) 
errichtet  werden  und  betreiben  während  dieser  Zeit  die 
Einstudierung  und  Aufführung  dramatischer  Festspiele 
unter  freiem  Himmel.  Bohemian  Jinks  nennen  sie  diese 
Freilichtspiele  (etwa  ,, zigeunerische  Luftsprünge"  zu  über- 
setzen), für  die  sie  aus  eignen  Kräften  Dichtung,  Musik, 
Kostüme  und  Darsteller  liefern.  Während  dieser  heiligen 
Zigeunerwochen  ist  das  andere  Geschlecht  strengstens 
verbannt,  und  es  werden  daher  nach  antiker  Weise  bei  den 
Spielen  die  Frauenrollen  von  jungen  Männern  dargestellt. 
Im  übrigen  sorgt  die  an  den  meisten  Hochschulen  be- 
stehende Coeducation  (kurz  Coed  genannt)  dafür,  daß  die 
jungen  Leute  auch  in  den  abgelegensten  kleinen  Nestern 
die  guten  Manieren  im  geselligen  Verkehr  nicht  verlernen. 
Die  Studentinnen  pflegen  ihr  eignes  Gesellschaftshaus 
mit  Schwimmbassin,  Turnhalle,  Ballsaal  und  Drawingroom 
zu  besitzen.  Dorthin  laden  sie  ihre  Freunde  ein,  wie  auch 
umgekehrt  die  jungen  Herren  die  Studentinnen  zu  ihren 
Unterhaltungen  heranziehen.  Fast  jeder  Student  hat 
wohl  unter  den  Kommilitoninnen  sein  best  girl,  mit  dem  er 


56  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

„geht",  wie  man  bei  uns  sagen  würde.  Diese  Kamerad- 
schaften sind  aber  durchaus  harmloser  Natur,  haben 
nicht  die  entfernteste  Ähnlichkeit  mit  der  collage  des 
französischen  Studenten  und  verpflichten  auch  keines- 
wegs zu  standesamtlichen  Folgen.  Amerikanische  Pro- 
fessoren wissen  nie  etwas  von  sittlichen  Gefahren 
dieses  ungenierten  Verkehrs  zu  berichten;  dagegen 
schieben  viele  von  ihnen  die  Schuld  an  dem  niedrigen 
Niveau  wissenschaftlichen  Geistes  der  Rücksichtnahme 
auf  die  weiblichen  Studenten  zu. 

Wo  die  Frauen  unter  sich  sind,  haben  sie  es  noch  viel 
besser  als  an  den  gemischten  Universitäten.  Ich  wüßte 
nicht,  wo  ein  junges  Mädchen  mit  starkem  Bildungsdrange 
in  der  Welt  besser  aufgehoben  wäre,  als  z.  B.  in  Wellesley- 
College  bei  Boston.  Wenn  man  den  Studienplan  dieser 
Frauenakademie  durchblättert,  erstaunt  man  über  die 
schier  fabelhaften  Bildungsmöglichkeiten,  die  hier  den 
Töchtern  der  Neuen  Welt  geboten  werden.  17  männliche 
und  137  weibliche  Professoren,  Dozenten  und  Assistenten 
lehren  an  dieser  überaus  reich  dotierten  Hochschule.  Um 
aufgenommen  zu  werden,  muß  die  junge  Dame  im  Eng- 
lischen 3,  in  Geschichte  1,  in  Mathematik  3,  I^atein  4, 
einer  zweiten  Sprache  3,  einer  dritten  Sprache  1  und  in 
Botanik,  Chemie  oder  Physik  1  Punkt  nachweisen.  Die 
Anzahl  der  Punkte  bedeutet  nämlich  die  Anzahl  der  Jahre, 
die  der  Schüler,  bei  durchschnittlich  5  wöchentlichen 
Stunden,  auf  den  betreffenden  Gegenstand  verwendet 
haben  muß,  und  durch  ein  Abgangszeugnis  oder  ein 
Examen  muß  er  beweisen,  daß  er  diese  Zeit  befriedigend 
ausgenutzt  habe.  Um  einen  Begriff  von  der  Reichhaltig- 
keit der  wissenschaftlichen  Speisekarte  zu  geben,  will  ich 
hier  nur  die  in  der  germanistischen  Abteilung  ange- 
kündigten Vorlesungen  aufzählen: 


Wissenschaftliche  Speisekarte  für  Damen.  57 

I.  Elementarkursus,      Grammatik,     Übungen     im 
Sprechen,     Lektüre,     Auswendiglernen     von 
Gedichten. 
2 — 4.  Vorbereitungskurse      für      deutsche      Literatur- 
geschichte. 

5.  Repetitions-  und  Erweiterungskurs  für  Gramma- 

tik und  Stil. 

6.  Freie  Reproduktion.    Bühnendeutsch.    Übungen 

im  mündlichen  und  schriftlichen  Ausdruck. 
Kritische  Betrachtung  deutscher,  in  Amerika 
erschienener  Texte. 

7.  Übungen    im    schriftlichen    Ausdruck    im    An- 

schluß an  die  Literaturgeschichte. 

8.  Geschichte  der  deutschen  Sprache. 

9.  Umrisse      der      deutschen      Literaturgeschichte 

(Götter-  und  Heldensagen). 

10.  Goethes  Lieben  und  Werke. 

11.  Das  Drama  des  19.   Jahrhunderts. 

12.  Der  deutsche  Roman. 

13.  Literaturgeschichte     vom     Hildebrandslied    bis 

Hans  Sachs. 

14.  Literaturgeschichte  bis  Goethe. 

15.  Mittelhochdeutsch. 

16.  Die  romantische  Schule. 

17.  Lessing  als  Dramatiker  und  Kritiker. 

18.  Schiller  als  Philosoph  und  Ästhetiker. 

19.  Goethes  Faust. 

20.  Schillers  Leben  und  Werke. 

21.  Stilübungen. 

22.  Gotisch. 

23.  Die  deutsche  Lyrik  und  Ballade. 

24  u.  25.   Studien  zur  modernen  deutschen  Sprache. 


58  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

Demgegenüber  stehen  45  Vorlesungen  über  englische 
Sprache  und  Literatur,  21  über  Geschichte,  29  über  Hygiene 
und  körperliche  Ausbildung,  wobei  Tanzen,  Schwimmen, 
Gymnastik,  Massage  und  dergleichen  inbegriffen  sind. 
Ferner  18  Vorlesungen  über  lateinische  Sprache  und 
Literatur,  11  über  reine  und  5  über  angewandte  Mathe- 
matik, 18  über  Musik,  29  über  Philosophie  und  Psychologie, 
19  über  Soziologie  und  Nationalökonomie,  6  über  Astro- 
nomie usw.  usw.  Die  jungen  Mädchen  dürfen  aber  keines- 
wegs nach  ihrem  Belieben  an  all  diesen  Herrlichkeiten 
naschen,  sondern  der  Studiengang  ist  ihnen  vorgeschrieben, 
und  sie  können  nicht  zu  den  höheren  Offenbarungen  vor- 
dringen, bevor  sie  nicht  durch  Examina  bewiesen  haben, 
daß  ihnen  die  niederen  Grade  geläufig  sind.  Damit  sie 
aber  frisch  und  bei  guter  Laune  bleiben,  haben  sie  reichlich 
Gelegenheit,  sich  in  Wald,  Wiese  und  Wasser  zu  tummeln 
und  sich  mit  Tanz,  Mummenschanz,  Theaterspiel  im 
Freien  und  auf  der  eignen  niedlichen  Bühne  des  Shake- 
spearehauses nach  Herzenslust  zu  vergnügen,  auch  nach 
dem  nahen  Boston  in  Theater  und  Konzerte  zu  fahren,  so 
oft  ihr  Geldbeutel  und  ihre  Zeit  es  erlaubt.  Die  jungen 
Damen  aus  reichen  Familien  besitzen,  sofern  sie  Sororities 
angehören,  ihre  eignen  Häuser  innerhalb  des  Campus,  die 
als  griechische  Tempel  oder  als  Cottages  sich  darbieten.  Das 
Gebäude  des  Shakespearevereins  ahmt  sogar  sehr  hübsch 
das  Geburtshaus  des  Dichters  in  Stradford  nach.  Die 
technischen  Fächer  sowie  auch  Medizin,  Juristerei  und 
Theologie  existieren  nicht  an  dieser  Akademie,  die  sich 
also  darauf  beschränkt,  den  jungen  Damen  eine  huma- 
nistische, expansiv  wie  intensiv  gleich  bedeutende  Bildung 
zu  vermitteln.  Wenn  die  Qualität  der  Lehrenden  auch 
nur  einigermaßen  der  landschaftlichen  Schönheit  der  Um- 
gebung  und    der   Vortrefflichkeit   aller   praktischen   Bin- 


Typus  der  Studentin.  59 


richtungen  entspricht,  so  ist  in  Wellesley-College  das 
gegenwärtige  Ideal  wissenschaftlicher  Frauenbildung  ver- 
wirklicht. Und  Wellesley  ist  nicht  einmal  die  einzige  An- 
stalt dieser  Art,  sondern  es  gibt  deren  noch  mehrere,  die 
nicht  minder  reich  ausgestattet  und  stark  besucht  sein 
sollen.  Unter  den  Studierenden  sind  Töchter  fast  aller 
Bevölkerungsschichten  vertreten,  vorwiegend  ist  aber  der 
Typus  der  derb  gesunden,  ein  bißchen  starkknochigen, 
rundlichen  Farmer-  und  Bürgertöchter  der  städtischen 
Mittelschicht  vornehmlich  in  den  Universitäten  mit  Coed. 
Die  reinen  Frauenakademien  werden  dagegen  von  den 
Töchtern  der  vornehmeren  Kreise  vorgezogen.  Es  ist 
auffallend,  wie  selten  selbst  unter  diesen  letzteren  die 
spezifisch  amerikanischen  Schönheiten  sind.  Das  kommt 
daher,  daß  die  Amerikanerin  die  Schönheit  als  einen  Beruf 
für  sich  betrachtet,  als  ein  Kapital,  das  unter  allen  Um- 
ständen sich  reichlich  verzinst.  Die  jungen  Schönheiten 
suchen  ihre  Erfolge  ausschließlich  auf  dem  Parkett  des 
Salons,  und  die  nötige  Fertigkeit  zur  Lieferung  des  seichten 
Salongeschwätzes,  mit  dem  sich  drüben  die  elegante  Welt 
der  Amüsierlinge  begnügt,  kann  man  sich  allerdings  ohne 
die  Kenntnis  antiker  Sprachen  und  ohne  philosophische 
Vorstudien  erwerben.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  das 
amerikanische  Salongeschwätz  kaum  auf  der  geistigen 
Höhe  des  englischen,  dagegen  noch  beträchtlich  unter  der 
des  französischen  und  deutschen  Konversationstones  der 
sogenannten  guten  Gesellschaft  steht.  Dagegen  kann  man 
von  den  Frauen  der  Kreise,  in  denen  Arbeitskamerad- 
schaft zwischen  Mann  und  Weib  besteht,  ohne  weiteres 
voraussetzen,  daß  man  mit  ihnen  wie  mit  gebildeten 
Menschen  reden  dürfe  —  und  man  wird  sich  selten  ent- 
täuscht sehen.  Wohlhabende  deutsche  Eltern,  denen 
daran  liegt,  ihren  strebsamen  Töchterchen,  ohne  sie  gerade 


60  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

zu  Gelehrten  zu  machen,  eine  solide  weltläufige  Bildung 
zu  verschaffen,  täten  gut,  sie  auf  die  amerikanischen 
Frauenhochschulen  zu  schicken.  Selbst  wenn  sie  von 
dort  nichts  anderes  mitbringen  sollten,  als  einen  abge- 
härteten geschmeidigen  Körper,  vernünftige  L,ebens- 
anschauungen  und  eine  Ahnung  von  allerlei  wissenswerten 
Dingen,  so  würde  das  immerhin  wertvoller  für  sie  sein,  als 
was  die  üblichen  Pensionate  der  französischen  Schweiz 
oder  die  Klosterschulen  für  die  vornehme  Welt  ihnen  zu 
bieten  pflegen. 

Mir  persönlich  scheint  überhaupt  das  ganze  amerika- 
nische Unterrichtssystem,  und  besonders  das  der  Uni- 
versitäten, gerade  für  uns  sehr  viel  Nachahmenswertes  zu 
enthalten.  So  will  es  mich  ungemein  vernünftig  bedünken, 
daß  die  Zügellockerung  der  strengen  Schuldisziplin  zwischen 
dem  16.  und  18.  und  nicht,  wie  bei  uns,  zwischen  dem  18. 
und  20.  Jahre  erfolgt,  und  daß  dann  die  überschäumende 
Kraft  des  ungebärdigen  Jünglings  bezw.  des  lebens- 
hungrigen Mädchens  nicht  sofort  in  eine  schrankenlose 
Freiheit  hinausgelassen,  sondern  noch  jahrelang  mit 
echtem  Wohlwollen  und  Verständnis  für  die  Jugend 
geleitet  wird.  Bs  ist  überaus  bezeichnend,  daß,  wie  die 
kürzlich  von  Dr.  Alfred  Graf  veranstaltete  Umfrage  bei 
einer  großen  Anzahl  bekannter  führender  Deutscher  be- 
wiesen hat,  außer  den  späteren  Philologen  und  einigen 
ganz  wenigen  Staatsmännern  und  Theologen,  fast  sämt- 
liche Gefragten  ihre  Gymnasialzeit  für  die  schrecklichste 
Erinnerung  ihres  Gebens  erklärten;  wogegen  umgekehrt 
in  Amerika  schier  ausnahmslos  jeder  gebildete  Mensch  auf 
seine  Schüler-  und  Studentenzeit  als  auf  die  schönste 
seines  Gebens  zurückblickt.  Mögen  unsere  höchsten  Lehr- 
anstalten immerhin  mit  Fug  und  Recht  sich  für  die  besten 
Gelehrtenschulen  der  Welt  halten,  so  darf  doch  nie  außer 


Das  deutsche  System.  61 


acht  gelassen  werden,   daß  von  den  Tausenden  und  Aber- 
tausenden von  Abiturienten,  die  alljährlich  unseren  Uni- 
versitäten   zustreben,     doch    nur    eine     verhältnismäßig 
kleine  Anzahl  den  inneren  Beruf  zum   Gelehrtentum  in 
sich  trägt.    Diesen  wenigen  mag  allerdings  die  deutsche 
Universität    die    denkbar    beste    Anleitung    zum    eignen 
Forschen  geben;  um  dieser  wenigen  Auserwählten  willen 
aber  wird  die  gewaltige  Überzahl  mehr  auf  das  Praktische 
gerichteter  Geister,  aus  denen  zwar  keine  schöpferischen 
Gedanken,  wohl  aber  viel  nützliche  Lebensarbeit  heraus- 
zuholen wäre,   durch  ein   System  vergewaltigt,   das  not- 
wendig in  ihren  Augen  ein  zeitlebens  verhaßtes  Schrecknis 
bleiben  muß.    Dieses  System  züchtet  Nörgler  und  Hasser, 
es  ist  auch  schuld  daran,  daß  jener  garstige  Hochmut  sich 
in  den  Köpfen  der  Auserwählten  einnistet,  der  die  herr- 
schenden Klassen  in  eine  dumme  Volksfeindschaft  hinein- 
treibt und  gänzlich  schiefe  Iyebensanschauungen  in  ihnen 
groß  zieht;    es  ist  aber  auch  schuld  daran,    daß  so  viel 
hoffnungsvolle  Jugend  auf  den  Universitäten  verbummelt. 
Sollte  nicht  schließlich  ein  junges  Geschlecht  von  frohen, 
für  die  höchsten  Berufe  der  Gegenwart  gut  ausgerüsteten 
Akademikern  auch  unserer  Nation  von  größerem  Werte 
sein,    als   die   jetzige    Überfülle    an   wirklichen   und   ver- 
unglückten Gelehrten?    Ich  bin  überzeugt,  daß  wir  durch 
eine    teilweise    Amerikanisierung    unseres    Systems    von 
unseren  alten  Vorzügen  nichts  einbüßen  würden.  Methodik 
und   Systematik  der  exakten  Forschung  werden,   ebenso 
wie     das    künstlerische    Element    im    wissenschaftlichen 
Betriebe,    stets    eine    Besonderheit    des    deutschen    Uni- 
versitätslehrers und   Studenten  bleiben,   einfach  weil  die 
Veranlagung  hierzu  altes  Erbgut  unserer  Rasse  ist.    Die 
Amerikaner  haben  keineswegs  darum  bisher  keine  großen 
Philosophen,    Dichter,    schöpferischen    Forscher    hervor- 


(32  Das  Universitätsleben  in  der  Union. 

gebracht,  weil  ihr  Schulsystem  zu  diesem  Zweck  nichts 
taugte,  sondern  weil  sie  bei  ihrer  Jugendlichkeit  als  Volk, 
bei  der  mangelhaften  Mischung  der  verschiedenartigsten 
Rassenelemente,  bei  dem  Fehlen  einer  kulturellen  Tradition 
und  bei  der  starken  Inanspruchnahme  aller  geistigen 
Kräfte  durch  rein  praktische  Aufgaben  überhaupt  noch 
gar  keine  Möglichkeit  gehabt  haben,  nach  jener  Richtung 
Begabung  zu  entwickeln.  Eine  selbständige  Wissenschaft 
und  eine  nationale  Kunst  werden  erst  zu  verlangen  sein, 
wenn  aus  den  verschiedenartigen  Völkerschaften  der 
Vereinigten  Staaten  wirklich  eine  neue  Rasse  geworden  und 
die  grobe  Arbeit  der  Zivilisation  soweit  getan  sein  wird, 
daß  alle  feineren  Geister  für  die  Beschäftigung  mit  den 
vornehmsten  Kulturaufgaben  frei  werden.  Es  wird  als- 
dann viel  Spreu  hinweggefegt  werden,  aber  an  dem  System 
des  Hochschulbetriebes  schwerlich  viel  geändert  werden 
müssen.  Die  wissenschaftlichen  I^eistungen  der  Stu- 
dierenden werden  selbstverständlich  gleichen  Schritt  halten 
mit  denen  der  Lehrenden.  Der  einzige  amerikanische 
Philosoph,  dessen  Ruf  bisher  durch  die  ganze  Welt  ge- 
klungen ist,  Ralph  Waldo  Emerson,  verdankt  sein  hohes 
Ansehen  bei  uns  mehr  der  fein  geschliffenen  Form  seiner 
vornehmen  Weltweisheit,  als  dem  Reichtum  an  neuen, 
fruchtbaren  Gedanken;  für  Amerika  ist  Emersons  Philo- 
sophie aber  selbst  heute  noch  zu  hoch,  weil  sie  die  beliebten 
demokratischen  Vorurteile  lächelnd  beiseite  schiebt.  Es 
wird  aber  sicher  eine  Zeit  kommen,  wo  diese  demokratischen 
Vorurteile  nur  noch  bei  der  Masse  zu  finden  sein  werden, 
und  wo  die  Freiheit  der  wissenschaftlichen  Kritik  sich 
überhaupt  von  keinem  Vorurteil  mehr  Halt  gebieten  läßt, 
auch  wenn  es  die  Masse  hinter  sich  hat.  Dann  erst  können 
wir  von  dem  amerikanischen  Volke  verlangen,  daß  es 
große    Künstler   und   originale   Denker   hervorbringe.     In 


Bildungsdrang  des  Volkes.  63 

den  regsamsten  Köpfen,  in  den  tiefsten  Gemütern  dieses 
Volkes  ist  schon  jetzt  eine  große  Sehnsucht  lebendig  nach 
jener  Zeit,  in  der  seine  Denker  und  Dichter  nicht  mehr 
nur  die  Resultate  europäischer  Arbeit  nützlich  verwenden, 
sondern  selber  Finder  neuer  Wege  und  Setzer  neuer  Ziele 
werden  können.  Das  beweist  der  ungeheure  Zulauf,  welchen 
die  öffentlichen  Bibliotheken,  die  wissenschaftlichen  Vor- 
träge der  Wanderredner  und  besonders  gemeinnützige 
Institute,  wie  die  Sommerschule  in  Chautauqua  finden, 
wo  zu  Zehntausenden  unter  freiem  Himmel  wissensdurstige 
Menschen  jedes  Standes,  Alters  und  Geschlechts  andächtig 
den  Vorträgen  der  besten  Gelehrten  ihres  Randes  lauschen. 
Wir  Europäer  werden  vielleicht  noch  auf  ein  ganzes  Jahr- 
hundert oder  noch  länger  unseren  Vorrang  des  weisen 
Alters  behalten  und  der  mächtig  emporstrebenden  Neuen 
Welt  die  Leitsätze  für  ihre  eigne  wissenschaftliche  Fort- 
entwicklung liefern.  Aber  wir  wollen  nicht  vergessen,  daß 
man  von  der  Jugend  immer  lernen  kann!  Wenn  wir  das 
tun,  wird  die  neue  Rasse  uns  zwar  einholen,  aber  schwer- 
lich jemals  überflügeln  können.  Wir  werden  an  ihr  alsdann 
keinen  verhöhnten  oder  beneideten  Feind,  sondern  viel- 
mehr einen  guten  Kameraden  besitzen,  der  uns  in  gleichem 
Schritt  und  Tritt  zur  Seite  geht,  denselben  Höchstzielen 
wahrer  Kultur  nach. 


iiiiiiiin im  im iiiiiiiiii iiiiiiiiiininiiiiiiiiiiiiiiiniiiiii 


I.llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll 

Öffentliche  und  private  Moral. 


WVe  deutschen  Zeitungskorrespondenten  in  den  Ver- 
j&  einigten  Staaten  beklagen  sich  allgemein  darüber,  daß 
sie  gezwungen  seien,  ihre  Berichte  den  Vorurteilen  der 
deutschen  Zeitungsleser  zuliebe  zu  färben  und  so  dazu 
beizutragen,  daß  diese  Vorurteile  in  Deutschland  nicht 
aussterben.  Daß  sie  Unglücksfälle  nur  kabeln  dürfen, 
wenn  sich  über  zehn  Tote  ergeben  haben,  ist  ja  eine  ganz 
weise  Beschränkung,  aber  daß  sie  sich  genötigt  sehen, 
immer  nur  sensationelle  Fälle  von  wüster  Korruption  in 
der  Politik,  in  der  Rechtsprechung,  im  Gebaren  der 
großen  Truste,  offenbare  Verrücktheiten  und  groteske 
Reklamemanöver  auf  den  Gebieten  des  Erfindungswesens, 
des  Handels  und  Verkehrs,  ja  selbst  der  Wissenschaft, 
sowie  schließlich  gröbste  Familienskandale  aus  der  Welt 
der  Milliardäre  zu  berichten,  das  ist  doch  recht  bedenk- 
lich. Selbstverständlich  sind  gerade  die  guten  Bürger 
jeder  Nation  überzeugt,  daß  die  allgemeine  Ordnung  der 
Dinge,  die  öffentliche  wie  die  private  Moral  in  ihrem 
I,ande  besser  sei  als  in  irgend  einem  anderen ;  aber  es  tut 
doch  nicht  gut,  diese  natürliche  Neigung  zur  Ungerechtig- 
keit durch  die  Presse,  als  durch  das  berufene  Organ  der 
öffentlichen  Aufklärung,  zu  unterstützen ;  denn  die  Unter- 
schätzung fremder  und  noch  dazu  rasseverwandter  Völker 
kann  unter  Umständen  doch  recht  üble  Folgen  haben. 
Sei  es  mir  als  einem  Amerikafahrer,  der  Augen  und  Ohren 
gut  aufgemacht  und  aufmerksam  zugehört  hat,  wenn  er 
wohlunterrichtete  I^eute  drüben  die  Verhältnisse  be- 
sprechen   hörte,    gestattet,    mein    bescheidenes    Teil    zur 


Geschäftspolitiker.  65 


Aufklärung  über  die  wichtige  Frage  der  öffentlichen  und 
privaten  Moral  in  den  Vereinigten  Staaten  beizutragen. 

Die  Korruption  in  der  Politik  ist  ein  öffentliches  Ge- 
heimnis und  wird  von  niemandem  geleugnet.  Sie  ist  eine 
notwendige  Folgeerscheinung  nicht  sowohl  der  republi- 
kanischen Staatsform,  als  der  ungeheueren  Ausdehnung 
des  Landes  und  besonders  des  Umstandes,  daß  sich  alle  vier 
Jahre  verfassungsgemäß  ein  Wechsel  in  den  Personen  der 
Machthaber  vollziehen  muß.  Daß  jeder  neue  Präsident, 
Gouverneur,  Bürgermeister  usw.  seine  guten  Freunde  und 
Verwandten  in  die  einträglichsten  und  einflußreichsten 
Stellungen  zu  bringen  versucht,  ist  menschlich  begreiflich, 
und  man  braucht  sich  darüber  nicht  weiter  zu  entrüsten ; 
aber  die  ebenso  selbstverständliche  Folge,  daß  der  poli- 
tische Ehrgeiz  durch  den  dauernd  tobenden  Wahlkampf 
fortwährend  in  Atem  gehalten  wird,  macht  es  dem  vielbe- 
schäftigten Staatsbürger  natürlich  unmöglich,  den  poli- 
tischen Angelegenheiten  seine  kostbare  Zeit  zu  opfern.  Er 
muß  notgedrungen  diese  Betätigung  Reuten  überlassen,  die 
daraus  einen  Lebensberuf  machen.  Und  so  ergibt  sich 
mit  Notwendigkeit  die  Existenz  der  Geschäftspolitiker.  Da 
selbstverständlich  diese,  die  sogenannten  Bosse,  nicht  vom 
Staat  oder  von  der  Gemeinde  besoldet  werden  können, 
so  schaffen  sie  sich  ihre  Einkünfte  dadurch,  daß  sie  sich 
für  die  Unterstützung  bei  Wahlen,  für  die  Erlangung 
von  öffentlichen  Ämtern,  von  Privilegien  und  Kon- 
zessionen aller  Art  bezahlen  lassen.  Es  leuchtet  wohl 
ohne  weiteres  ein,  daß  sich  nicht  die  Blüte  der  Nation, 
sondern  nur  machthungrige  und  geldgierige  Streber  zu 
diesem  politischen  Agenturgeschäft  hergeben,  und  daß 
diese  I^eute  nicht  das  geringste  Interesse  daran  haben, 
dem  intellektuell  und  moralisch  hervorragendsten  Kandi- 
daten zum  Siege  zu  verhelfen,  sondern  demjenigen,  der 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  5 


56  Öffentliche  und  private  Moral. 

am  meisten  zahlt.  Da  es  nur  zwei  große  politische  Par- 
teien, Demokraten  und  Republikaner,  gibt,  so  ist  alle 
vier  Jahre  die  Chance  eines  völligen  Systemwechsels 
durch  den  Sieg  der  Gegenpartei  gegeben.  Dann  werden 
alle  kommunalen  Ämter,  die  ganze  Beamtenschaft,  vom 
Präsidenten  bis  zum  Ofenheizer  im  Weißen  Hause,  an 
die  Anhänger  der  siegreichen  Partei  vergeben.  Wer  den 
richtigen  Boß  am  besten  geschmiert  hat,  bekommt  das 
Amt.  Es  ist  klar,  daß  bei  solchem  System  Staat  und 
Gesellschaft  niemals  davor  sicher  sind,  schlechte  Beamte 
für  noch  schlechtere  einzutauschen,  und  daß  die  öffent- 
liche Moral  dadurch  schändlich  verdorben  wird.  Trotz 
alledem  wird  auch  bei  uns  niemand  leugnen  wollen,  daß 
die  Vereinigten  Staaten  bisher  noch  immer  tüchtige,  zum 
mindesten  doch  anständige  Präsidenten  gehabt  haben, 
und  daß  in  die  obersten  Stellungen  wenigstens  sehr 
selten  oder  nie  ganz  minderwertige  Personen  gelangt 
sind.  Dieses  scheinbare  Wunder  wird  begreiflich,  wenn 
man  den  hochentwickelten  common  sens,  den  gesunden 
Menschenverstand  der  führenden  angelsächsischen  Rasse 
in  Betracht  zieht.  Der  anständige  Geschäftsmann  und 
die  höher  gebildeten  Klassen  überhaupt  kümmern  sich 
um  das  schmutzige  Gewerbe  der  Politik  wenig  oder  gar 
nicht  und  ertragen  mit  dem  glücklichen  Gleichmut  und 
dem  guten  Humor  der  Yankeerasse  die  tausenderlei 
offenbaren  Ungerechtigkeiten  und  Widersinnigkeiten,  die 
durch  die  Korruption  entstehen.  Sobald  sie  aber  merken, 
daß  die  Bosse  irgend  etwas  im  Schilde  führen,  was  gegen 
den  guten  Ruf  des  Staates,  gegen  die  Sicherheit  des 
Eigentums  oder  gegen  den  demokratischen  Charakter  der 
Verfassung  geht,  so  tun  sich  ein  paar  einflußreiche  Leute 
von  tadellosem  Leumund  zusammen  —  die  führenden 
Deutschen    sind    immer    bei    dieser    Anstandspartei    zu 


Achtung  vor  den  Gesetzen?  67 

finden  —  und  klären  durch  geeignete  Maßnahmen  die 
Massen  der  Wähler  über  den  Unfug  auf,  der  verübt  werden 
soll.  Und  siehe  da :  immer  gelingt  es  der  Wucht  der  öffent- 
lichen Meinung,  wenigstens  die  gröbsten  Schandtaten  zu 
verhindern,  die  unmöglichsten  Kandidaten  beiseite  zu 
schieben.  Der  Patriotismus  ist  dem  Yankee  angeboren 
und  anerzogen;  die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten 
wird  als  ein  unübertreffliches  Werk  genialer  Einsicht 
verehrt,  und  alle  Gesetze,  die  das  souveräne  Volk  durch 
seine  Erwählten  in  den  Einzelstaaten  machen  läßt,  werden 
für  vorzüglich  gehalten.  Das  ewig  verdrossene  Nörgeln 
an  den  Gesetzen  und  öffentlichen  Einrichtungen,  jenes 
höchste  Vergnügen  des  deutschen  Bierbankpolitikers, 
kennt  der  Yankee  nicht.  Man  respektiert  die  Gesetze 
und  fügt  sich  sogar  in  Unannehmlichkeiten,  wenn  man 
einsieht,  daß  anders  die  Ordnung  nicht  aufrechterhalten 
werden  kann.  Im  übrigen  aber  tut  doch  jeder,  was  ihm 
beliebt,  und  pfeift  auf  die  Gesetze,  wenn  sie  ihm  nicht 
in  seinen  Kram  passen.  Man  weiß,  daß  die  Polizei  nicht 
von  ihrem  Gehalt,  sondern  von  den  Schmiergeldern  so 
rosig  fett  und  robust  wird;  man  weiß,  daß  sogar  die  Binde 
vor  den  Augen  der  Gerechtigkeit  zuweilen  aus  lauter 
zusammengefalteten  Dollarnoten  besteht,  aber  man  sieht 
selbst  an  den  schreiendsten  Mißständen  schweigend  vor- 
bei, weil  es  sich  so  bequemer  leben  läßt,  und  weil  der 
Gentleman  sich  nicht  gerne  die  Hosenränder  beschmutzt 
und  daher  den  Pfützen  lieber  in  weitem  Bogen  ausweicht. 
Solange  sie  seine  persönliche  Bewegungsfreiheit  und 
seine  geschäftlichen  Unternehmungen  nicht  empfindlich 
stören,  ist  der  Yankee  mit  den  Gesetzen  zufrieden  und 
gönnt  den  zahlreichen  Mitbürgern,  die  von  den  Mängeln 
dieser  Gesetze  leben,  also  den  Politikern,  Advokaten, 
smarten    Geschäftsleuten    und    geistvollen    Hochstaplern, 

5* 


68  Öffentliche  und  private  Moral. 

ihr  gutes  Auskommen.  Den  gewaltigsten  Maehthabern 
der  Industrie  und  des  Verkehrswesens,  den  sogenannten 
Königen  der  Eisenbahn,  des  Silbers,  des  Stahls,  des 
Petroleums  können  ja  überhaupt  die  Gesetze  nichts  an- 
haben, wie  es  sich  erst  jüngst  wieder  in  dem  vorsichtig 
weitmaschig  abgefaßten  Urteil  des  obersten  Gerichts- 
hofes in  Sachen  des  Öltrusts  gezeigt  hat.  Mit  jenen  ganz 
großen  Herren,  in  deren  Macht  es  steht,  die  Bundesarmee 
gegen  mißliebige  Nachbarn  mobil  zu  machen,  oder  in 
einer  Anwandlung  schlechter  Raunen  unzählige  Betriebe 
lahmzulegen,  Hunderttausenden  von  Arbeitern  ihr  Brot 
vom  Munde  wegzureißen,  mit  denen  hütet  sich  natürlich 
nicht  nur  der  einzelne,  sondern  auch  die  Justiz  der  Einzel- 
staaten wie  der  Bundesregierung  anzubinden.  Machen 
sich  aber  die  kleineren  Machthaber  irgendwie  lästig,  so 
versteht  man  ihnen  selbst  in  dem  Falle  beizukommen, 
daß  die  Behörde  gegen  sie  ihre  Pflicht  vernachlässigt. 

Ein  hübsches  Beispiel  solcher  demokratischen  Selbst- 
hilfe erlebten  wir  in  St.  Iyouis.  Durch  wochenlange 
Trockenheit  war  die  Rauchplage  daselbst  unerträglich 
geworden.  Im  ganzen  weiten  Mississippi-  und  Missouri- 
tale herrschte  herrliches  klares  Winterwetter.  Die  Sonne 
lachte  frühlingsheiter  vom  wolkenlosen  Himmel  herab. 
Als  der  Zug  aber  in  das  Weichbild  der  Stadt  einfuhr, 
verblaßte  plötzlich  die  Sonne  zu  einem  fahlgelben  trans- 
parenten Fettfleck  in  einer  Wand  gleichmäßig  grauen, 
schweflig  riechenden  Nebels,  der  selbst  die  nächsten  Gegen- 
stände nur  in  verschwommenen  Umrissen  erscheinen  ließ. 
In  den  Häusern  herrschte  eine  erstickende,  verbrauchte 
Luft,  weil  man  kein  Fenster  öffnen  konnte,  ohne  daß 
sofort  eine  dichte  Rußschicht,  wie  von  einer  schwer 
blakenden  Öllampe,  sich  auf  alle  Gegenstände  im  Zimmer 
legte.    Wenn  man  über  die  Straße  ging,   waren  Kragen 


Energische  Selbsthilfe  eines  Damenklubs.  69 

und  Manschetten  geliefert,  und  wenn  man  sich  morgens 
sein  Bad  einließ,  so  schwamm  eine  schwarze  Rahm- 
schicht auf  dem  Wasser.  Die  Zeitungen  waren  voll  von 
Entrüstungsartikeln  über  diesen  schmachvollen  Zustand. 
Überall  erschollen  laut  die  Stimmen  der  Sachverständigen 
mit  Vorschlägen  zur  Beseitigung  des  Übels.  Man  er- 
innerte sich  plötzlich  wieder,  daß  es  im  Staate  Missouri, 
ebensogut  wie  anderswo,  vorzügliche  gesetzliche  Vor- 
schriften gebe,  welche  die  auf  die  einheimische  Weichkohle 
angewiesenen  Industrien  zur  Anbringung  von  Rauchver- 
zehrungsvorrichtungen  und  ähnlichen  Maßnahmen  von 
erprobter  Wirkung  verpflichteten.  Die  Herren  Fabrik- 
besitzer hatten  aber  bisher  keine  IyUst  gehabt,  sich  in 
Unkosten  zu  stürzen  wegen  dieser  ärgerlichen  Gesetze, 
denn  sie  hatten  ja  ihre  Villen  weit  vor  der  Stadt  in  er- 
freulich reiner  L,uft.  Und  wenn  der  Wind  einigermaßen 
günstig  wehte,  und  hin  und  wieder  ein  Niederschlag  den 
in  der  Iyuft  herumfliegenden  Kohlenstaub  band,  so  konnten 
ja  selbst  die  L,eute,  die  in  der  Stadt  wohnen  mußten,  ihre 
jungen  genügend  mit  Sauerstoff  füttern.  Es  mußte  wohl 
immer  noch  billiger  sein,  den  polizeilichen  Aufsichts- 
organen gelegentlich  gute  Trinkgelder  zu  verabfolgen, 
als  die  vorschriftsmäßigen  Umbauten  zu  bestreiten.  Da 
geschah  es  in  den  Tagen  unserer  Anwesenheit,  daß  ein 
vornehmer  Damenverein,  der  Mittwochsklub,  die  Sache 
in  die  Hand  nahm.  Um  ein  möglichst  großes  Damen- 
publikum für  ihre  Zwecke  herbeizuziehen,  kündigten  sie 
mit  gehöriger  Reklame  ein  Konzert  meiner  Frau  an. 
Vierzehnhundert  Frauen  und  Mädchen  aus  den  besten 
Kreisen  wurden  hierzu  zusammengetrommelt  und  nach 
Schluß  der  musikalischen  Darbietungen  ersuchte  die  Vor- 
sitzende die  ganze  Gesellschaft,  noch  da  zu  bleiben,  um 
sich  über  die  Beseitigung  der  Rauchplage  auszusprechen. 


70  Öffentliche  und  private  Moral. 

Es  war  alles  so  gut  vorbereitet,  daß  in  kurzer  Zeit  ein 
leitendes  Komitee  und  eine  große  Anzahl  von  Offizieren 
und  Mannschaften  aus  der  Mitte  der  Damen  heraus  ge- 
wählt und  die  notwendigen  Mittel  zur  Ausführung  des 
Planes  gezeichnet  waren.  Diese  kleine  freiwillige  weib- 
liche Polizeimannschaft  übernahm  es  nämlich,  mit  Iyist 
oder  Gewalt  in  alle  industriellen  Betriebe  mit  Weich- 
kohlenfeuerung einzudringen  und  nötigenfalls  Tag  und 
Nacht  Patrouille  zu  gehen  und  Posten  zu  stehen,  so 
lange,  bis  alle  Mißachter  der  Gesetze  zur  gerichtlichen 
Verantwortung  gezogen,  gebührend  bestraft  und  die  vor- 
geschriebenen Maßnahmen  gegen  den  Rauch  tatsächlich 
ausgeführt  waren.  Das  Mittel  soll  einen  durchgreifenden 
Erfolg  gehabt  haben,  denn  vor  energischen  Frauen  kapi- 
tuliert der  Yankee  immer. 

Die  Zuversicht,  daß  aus  allen  Schwierigkeiten  und 
Übelständen,  wenn  auch  vielleicht  erst  im  Moment  der 
höchsten  Gefahr,  und  wenn  sie  bis  zur  Unerträglichkeit 
gestiegen  sind,  ein  Ausweg  sich  zeigen,  von  irgendwo  die 
Rettung  kommen  muß,  erhält  dem  Volke  seinen  opti- 
mistischen Gleichmut.  Selbstverständlich  erzeugt  die 
Demokratie  nichts  weniger  als  Ehrfurcht  vor  Paragraphen 
oder  Untertänigkeit  vor  Amtspersonen,  ja,  sie  untergräbt 
sogar  recht  bedenklich  die  Disziplin,  ohne  die  schließlich 
keine  Ordnung  irgendwelcher  Art  aufrecht  zu  erhalten 
ist.  Die  Warnungs-  und  Verbotstafeln,  mit  denen  bei  uns 
zu  Iyande  unser  ganzes  lieben  von  der  Wiege  bis  zum 
Grabe  von  den  Behörden  so  rücksichtsvoll  eingezäunt 
wird,  kann  man  sich  drüben  fast  völlig  sparen,  da  sie 
doch  keine  Beachtung  finden  würden;  aber  wo  der  ge- 
sunde Menschenverstand  einsieht,  daß  Vorsicht,  Unter- 
ordnung, Geduld  und  Rücksicht  auf  den  Nebenmenschen 
am  Platze  sind,  da  übt  er  sie  auch  ohne  Warnungstafeln 


Disziplin  im  Straßenverkehr.  7  t 

und  ohne  Einschüchterung  durch  säbelfuchtelnde  Schutz- 
leute aus.  Dem  Europäer  fällt  z.  B.  die  ausgezeichnete 
Disziplin  im  Straßenverkehr  der  Großstädte  sehr  an- 
genehm auf;  nie  hört  man  wild  aufeinander  los  fluchende 
Kutscher  im  Wagengedränge;  nie  werden  Schutzmanns- 
ketten durchbrochen,  wo  eine  Absperrung  notwendig  ist; 
mit  einem  Wink  des  Fingers  dirigieren  die  Posten  an  den 
Straßenkreuzungen  den  kolossalen  Verkehr.  Ohne  Murren 
findet  sich  alle  Welt  mit  der  Einrichtung  ab,  daß  um 
6  Uhr  abends  alle  Geschäfte  geschlossen  werden.  In  den 
Straßen-  und  Untergrundbahnen,  in  überfüllten  fokalen 
jeder  Art  macht  jedermann  bereitwillig  Platz,  so  gut  es 
geht.  Am  Weihnachtsheiligabend  fuhren  wir  in  der  Neu- 
yorker Subway.  Da  es  um  die  Zeit  des  Geschäftsschlusses 
war,  so  waren  die  Wagen  mit  sitzenden  und  stehenden 
Menschen  so  voll,  daß  der  berühmte  Apfel  nicht  mehr 
zur  Erde  fallen  konnte.  Da  drängte  sich  auf  einer  Station 
im  letzten  Moment  noch  eine  alte  Frau  mit  einem  riesigen 
Schaukelpferd  herein.  Die  Männer  auf  der  hinteren  Platt- 
form schufen  der  Frau  mit  kräftigen  Ellenbogen  Platz, 
die  ganze  Menschenmauer  geriet  ins  Schwanken,  man 
trampelte  sich  gegenseitig  kräftig  auf  den  Zehen  herum, 
die  hervorragenden  Spitzen  der  Kufen  des  Schaukel- 
pferdes stießen  einigen  Passagieren  in  die  Bäuche  oder 
gegen  die  Kniescheiben  —  und  dennoch  zeigte  sich  nie- 
mand gekränkt  oder  nervös  gereizt.  Mit  ein  paar  gut- 
mütigen Scherzen  ging  man  über  die  Unannehmlichkeiten 
hinweg;  bei  uns  wäre  ein  Sturm  der  Entrüstung  los- 
gebrochen. Auch  der  eiligste  Geschäftsmann  wartet  ge- 
duldig bei  Verkehrsschwierigkeiten,  bis  die  Passage  frei 
ist,  und  niemals  wird  ein  höher  Gestellter  versuchen,  für 
sich  Ausnahmemaßregeln  durchzusetzen.  Auch  die  strengen 
Polizeivorschriften  im  Interesse  der  öffentlichen  Hygiene 


72  Öffentliche  und  private  Moral. 

werden  bereitwillig  befolgt,  weil  der  Nutzen  jedem  ver- 
nünftigen Menschen  klar  ist. 

Höchst  merkwürdig  ist  die  Art,  wie  der  Yankee  öffent- 
liche Fragen  löst,  die  anderwärts  der  Polizei  die  aller- 
größten Schwierigkeiten  machen  und  über  die  sich  Juristen, 
Verwaltungsbeamte,  Geistliche  und  Laien  vergeblich  die 
Köpfe  zerbrechen.  Solche  Schwierigkeiten  beseitigt  der 
Yankee  nämlich  einfach  dadurch,  daß  er  erklärt,  sie 
existierten  gar  nicht.  Der  Prostitution  z.  B.  ist  im  Ge- 
setze überhaupt  nicht  Erwähnung  getan,  und  in  den 
Zeitungen  wird  nie  davon  gesprochen.  Unter  ernsten 
Männern  nennt  man  die  Prostitution  verschämt  ,,das 
soziale  Übel"  (the  social  evel),  aber  in  der  Öffentlichkeit 
erwähnt  man  diesen  unsittlichen  Gegenstand  niemals, 
weil  die  jungen  Mädchen  nichts  von  seiner  Existenz 
erfahren  sollen,  und  weil  man  annimmt,  daß  der  Ameri- 
kaner überhaupt  viel  zu  anständig  sei,  um  irgendwelcher 
heimlicher  Notbehelfe  für  die  Forderungen  seines  Trieb- 
lebens zu  bedürfen.  Dessenungeachtet  weiß  selbstver- 
ständlich jeder  erwachsene  Mensch,  daß  die  Zahl  der 
Prostituierten,  der  freien  wie  der  kasernierten,  auch  in 
den  Vereinigten  Staaten  ungeheuer  groß  ist.  Die  Polizei 
hat  dafür  zu  sorgen,  daß  die  Öffentlichkeit  von  diesen 
Damen  nichts  merkt;  sie  hat  also  nicht  nur  die  öffent- 
lichen Häuser,  sondern  auch  jede  einzeln  flanierende 
Dirne  wachsam  im  Auge  zu  behalten.  Wenn  die  öffent- 
lichen Gerichtshöfe  sich  sehr  viel  mit  der  Bestrafung 
von  Prostituierten  beschäftigen  müßten,  so  könnte  es 
nicht  ausbleiben,  daß  das  Publikum  auf  diese  Dinge  auf- 
merksam würde,  selbst  wenn  die  Zeitungen  ihrem  Grund- 
satze des  Totschweigens  unverbrüchlich  treu  blieben. 
Folglich  duldet  es  die  Behörde  wissentlich,  daß  die  Polizei- 
organe sich  von  den  Übeltäterinnen  dafür  bezahlen  lassen, 


Die  Prostitution.  73 


daß  sie  sie  nicht  vor  den  Kadi  schleppen,  und  daß  die 
Bordellwirtinnen  hohe  Steuern  an  die  politischen  Bosse 
dafür  entrichten,  daß  sie  sie  vor  Konflikten  mit  Be- 
hörden bewahren.  Selbstverständlich  erhalten  solche 
Häuser  keine  polizeilichen  Konzessionen,  noch  gibt  es 
irgendwelche  offizielle  Kontrolle  der  freien  Prostitution. 
In  den  Adreßbüchern  figurieren  jene  Damen  als  Ladne- 
rinnen, Näherinnen,  Masseusen  und  dergleichen,  und 
die  zahlreichen  Freudenhäuser  werden  von  den  er- 
findungsreichen Bossen  mit  fingierten  Personen  be- 
völkert, und  zwar  vornehmlich  mit  —  wahlfähigen 
Männern !  Man  bedient  sich  zu  diesem  Zweck  der  Namen 
längst  verzogener  oder  gar  verstorbener  Persönlichkeiten. 
Durch  dieses  schlaue  Manöver  wächst  bei  den  Wahlen 
dem  Boß  für  jede  Gefangene  einer  solchen  Lasterstätte 
ein  Wahlzettel  für  seine  Partei  zu.  Eine  Folge  dieser 
unerhörten  Heuchelei  ist  auch  die,  daß  die  Bestrebungen 
des  internationalen  Vereins  gegen  den  Mädchenhandel 
in  den  Vereinigten  Staaten  wirkungslos  bleiben.  Dieses 
schmachvollste  aller  Geschäfte,  der  weiße  Sklaven- 
handel, blüht  im  Gegenteil  in  den  nordamerikanischen 
großen  Hafenplätzen  wo  möglich  noch  üppiger  als 
in  denen  Südamerikas.  Die  dunkeln  Ehrenmänner,  die 
sich  mit  diesem  schmutzigen  Geschäft  befassen,  aus- 
schließlich galizische,  ungarische  und  rumänische  Juden, 
führen  der  Parteikasse  der  Bosse,  die  ihnen  durch  die 
Finger  sehen,  ansehnliche  Summen  zu. 

Es  ist  jüngst  ein  Roman  über  diese  Zustände  erschienen : 
„  The  House  of  Bondage,  by  Reginald  Wright  Kaufmann".  Es 
dürfte  wohl  das  erstemal  sein,  daß  in  dem  L,ande  der  puri- 
tanischen Heuchelei  ein  solches  Thema  von  der  Dichtung 
erörtert  wird.  Freilich  kann  sich  der  Roman,  was  seine 
literarische    Qualität   anbetrifft,   nicht  entfernt  mit   Else 


74  Öffentliche  und  private  Moral. 

Jerusalems  „Der  heilige  Scarabäus"  messen,  und  es  ist 
bezeichnend,  daß  der  mutige  Verfasser  selbst  mit  dem 
größten  Eifer  betont,  er  habe  in  diesem  Werke  nichts 
weniger  als  dichten,  sondern  nur  nackte  traurige  Wahrheit 
berichten  wollen.  Im  Anhang  des  Buches  sind  all  die 
behördlichen  Aktenstücke  abgedruckt,  welche  die  Grund- 
lage zu  den  Behauptungen  des  Verfassers  gegeben  haben. 
Ich  habe  bis  jetzt  nicht  gehört,  ob  die  Zeitungen  an- 
gesichts der  furchtbaren  Anklagen  dieses  Buches  aus 
ihrer  traditionellen  heuchlerischen  Reserve  herausgegangen 
sind,  oder  ob  sich  gar  die  Behörden  zu  einem  energischen 
Eingreifen  entschlossen  haben.  Da  die  Bosse  und  die 
niederen  Polizeiorgane  dadurch  eine  empfindliche  Ein- 
buße an  ihren  Einkünften  erleiden  würden,  so  ist  das  auch 
kaum  anzunehmen.  Aber  einen  schönen  Erfolg  hat  der 
Verfasser  trotzdem  dadurch  erreicht,  daß  der  junge  Herr 
Rockefeiler  sein  Werk  in  alle  unter  den  nordamerikanischen 
Einwanderern  vertretenen  Sprachen  übersetzen  und  in 
vielen  Tausenden  von  Exemplaren  unter  den  unteren 
Volksschichten,  deren  Töchter  ja  hauptsächlich  gefährdet 
sind,  verteilen  ließ.  So  kann  wenigstens  nicht  mehr 
Ahnungslosigkeit  der  Eltern  und  der  Mädchen  dafür 
verantwortlich  gemacht  werden,  wenn  sie  in  die  Schlingen 
der  gewissenlosen  Vogelsteller  geraten. 

Für  uns  Europäer  ist  es  schwer  begreiflich,  daß  in 
demselben  L,ande,  in  welchem  jeder  gesellschaftliche 
Skandal,  jede  pikante  Scheidungsgeschichte  in  den  Zei- 
tungen breitgetreten  wird,  in  dem  kaum  das  Schlaf- 
zimmer vor  den  Reportern  sicher  ist,  aus  Anstands- 
rücksichten  in  der  gesamten  Tagespresse  kein  Wort  über 
ein  so  unendlich  wichtiges  Ereignis  wie  die  Entdeckung 
des  berühmten  Heilmittels  von  Ehrlich-Hata  geschrieben 
werden  darf.  Wir  haben  hier  den  für  uns  überaus  seltsamen 


Sexuelle  Heuchelei  und  Reinlichkeit.  75 

Fall,  daß  selbst  der  indiskreteste  und  von  Amts  wegen 
quasi  zur  Plauderhaftigkeit  verpflichtete  Stand  der  Jour- 
nalisten aus  Patriotismus  eine  verblüffende  Selbstver- 
leugnung übt.  Die  verehrten  Pilgerväter  schon  haben 
das  Dogma  aufgestellt,  daß  in  den  Vereinigten  Staaten 
die  Sicherheit  der  weiblichen  Ehre  absolut  garantiert  sei. 
Und  diesem  Dogma  aus  den  Zeiten  des  fanatischen  Puri- 
tanertums  zuliebe  wird  noch  heute  der  Yankee  als  ein 
untadelhafter  Gentleman  hingestellt,  der  mit  einer  jungen 
Dame  zusammen  baden,  nachts  in  einem  Zelt  schlafen 
oder  auf  einer  einsamen  Insel  wohnen  könne,  ohne  mensch- 
liche Begierden  zu  verspüren.  Der  Yankee  steckt  es 
lachend  ein,  wenn  man  ihm  ins  Gesicht  sagt,  daß  seine 
smarten  Geschäftsleute  die  größten  Gauner  der  Welt 
seien;  aber  selbst  seine  eigenen  bedeutendsten  Schrift- 
steller dürfen  es  nicht  wagen,  einen  Yankee  als  Verführer 
der  Unschuld  hinzustellen.  Die  schärfsten  Sozialkritiker, 
die  realistischen  Romanschriftsteller,  müssen  dieses  natio- 
nale Dogma  respektieren,  wenn  sie  sich  nicht  in  ihrem 
Heimatlande  unmöglich  machen  wollen.  Eine  segens- 
reiche Wirkung  dieses  starr  festgehaltenen  Vorurteils  ist 
unzweifelhaft  die,  daß  es  im  Yankeelande  eine  porno- 
graphische Uiterätur  überhaupt  nicht  gibt,  daß  die  schlüpf- 
rigen französischen  Schwanke  der  Bühne  ferngehalten  und 
der  Import  von  pikanter  Lektüre,  Bildern  und  dergleichen 
höchstens  auf  ganz  versteckten  Schleichwegen  stattfindet. 
Es  muß  auch  unbedingt  zugegeben  werden,  daß  der 
zwanglose  Verkehr  der  Geschlechter  und  die  allgemeine 
starke  körperliche  Betätigung  im  Sport,  verbunden  mit 
dem  Fehlen  ungesunder  Reizungen  durch  schlechte  Lek- 
türe dem  jungen  Mann,  zumal  der  gebildeten  Oberschicht, 
eine  Reinheit  der  Gesinnung  in  erotischen  Dingen  be- 
wahrt,  die  in  Europa  kaum  irgendwo  in  gleichem  Maße 


76  Öffentliche  und  private  Moral. 

vorhanden  sein  dürfte.  Es  ist  richtig,  daß  kein  Yankee 
sich  durch  gewandtes  Erzählen  von  Mikoschwitzen  gesell- 
schaftlichen Ruhm  erwerben  kann,  und  daß  man  selbst 
in  intimer  Herrengesellschaft  und  unter  dem  Einfluß  des 
Alkohols  schwerlich  jemals  die  Sauglocke  läuten  hört.  Es 
ist  auch  richtig,  daß  ein  junger  Mann  von  guter  Familie, 
der  ein  junges  Mädchen  aus  seinem  Gesellschaftskreise 
kompromittiert  und  sitzen  läßt,  der  Ächtung  seiner 
Standesgenossen  verfällt  -^-  aber  dennoch  kann  man 
nicht  aus  ehrlicher  Überzeugung  das  Verhalten  des  Ameri- 
kaners der  Erotik  gegenüber  unbedingt  zur  Nachahmung 
empfehlen;  denn  es  ist  nur  zu  geeignet,  eine  Art  von 
Heuchelei  zu  fördern,  die  den  weniger  vom  Glück  be- 
günstigten Mitmenschen  teuer  zu  stehen  kommt,  und 
außerdem  die  Poesie  der  Liebe  schwer  schädigt.  Wie  in 
allen  gesellschaftlichen  Fragen,  so  wird  nämlich  auch  in 
bezug  auf  die  Erotik  das  demokratische  Prinzip  nur 
allzu  gern  vergessen.  Der  starke  Schutz  wall  der  weib- 
lichen Ehre  wird  im  Grunde  genommen  doch  nur  um 
die  Angehörigen  der  eignen  Kaste  errichtet.  Derselbe 
wohlerzogene  begüterte  junge  Mann,  der  die  größte  Frei- 
heit im  unbeaufsichtigten  Verkehr  mit  jungen  Damen 
seines  Kreises  auch  bei  stärkster  Versuchung  nicht  miß- 
brauchen würde,  macht  sich  doch  schwerlich  ein  Ge- 
wissen daraus,  sich  ein  Chorusgirl,  eine  fesche  Maniküre, 
Typewriterin  oder  sonst  eine  hübsche  Angestellte  aus 
dem  Geschäft  des  Herrn  Papa  als  Geliebte  auszuhalten, 
und  das  wird  ihm  in  seinem  Kreise  auch  keineswegs  übel- 
genommen, wenn  er  nur  von  seiner  Liebschaft  kein  großes 
Gerede  macht  und  nicht  versucht,  etwa  gar  so  ein  Mäd- 
chen unter  falscher  Flagge  in  seine  Gesellschaftskreise 
einzuschmuggeln.  Es  herrscht  also  im  Grunde  in  der- 
jenigen Gesellschaft,  die  sich  die  beste  zu  nennen  beliebt, 


Beurteilung  des  freien  Liebesverhältnisses.  77 

dieselbe  niederträchtige  Doppelmoral  wie  in  der  alten 
Welt,  wo  die  chevaleresken  Brüder  mit  geschliffenen 
Säbeln  und  gespannten  Pistolen  vor  der  Ehre  ihrer  Schwes- 
tern Wache  halten,  aber  vielleicht  selber  auf  das  schmach- 
vollste mit  dem  Glück  und  der  Ehre  anderer  Mädchen 
umspringen.  Der  Unterschied  zugunsten  der  Yankee- 
anschauung ist  vielleicht  nur  der,  daß  drüben  der  Ruf 
des  verfluchten  Schwerenöters  dem  Manne  nicht  so  wie 
bei  uns  zum  Vorteil  gereicht,  und  daß  ein  Mädchen  aus 
den  unteren  Kreisen,  sobald  es  von  einem  Mann  aus  den 
höheren  geheiratet  wird,  es  nicht  so  schwer  hat,  von  der 
höheren  Gesellschaft  aufgenommen  zu  werden,  falls  es 
sich  nur  ladylike  zu  benehmen  versteht;  dagegen  fällt 
der  Vergleich  zu  Ungunsten  des  Yankee  aus,  wenn  man 
die  Gefühlsroheit  in  Anschlag  bringt,  die  in  der  Be- 
urteilung des  freien  Liebesverhältnisses  drüben  herrscht. 
Der  Yankee  hat  für  die  illegitime  Freudenspenderin  nur 
die  rohesten  Worte  seiner  Sprache  übrig.  Selbst  der 
Ausdruck  Sweetheari  hat  einen  verächtlichen  Nebenklang 
bekommen.  Die  amerikanische  Moral  bekreuzt  sich  ent- 
rüstet vor  dem  „Verhältnis"  des  Deutschen  oder  vor  der 
,, Collage"  des  französischen  Studenten.  Die  amerikanische 
junge  Dame  würde  die  selbstlose  Hingabe  des  leidenschaft- 
lich liebenden  deutschen  „Gretchens"  oder  der  französischen 
Grisette  nicht  nur  für  shocking,  sondern  besonders  für  ent- 
setzlich dumm  halten;  denn  sie  ist  gewohnt,  möglichst 
viel  zu  fordern  und  möglichst  wenig  dafür  zu  gewähren. 
In  einem  amerikanischen  Roman  oder  Theaterstück  ist 
folglich  die  poetische  Verklärung  eines  freien  Liebes- 
verhältnisses völlig  unmöglich.  Ein  Autor,  der  dergleichen 
wagen  würde,  und  sei  er  selbst  ein  Mann  von  anerkannter 
Bedeutung,  würde  nicht  nur  den  Absatz  seines  Buches 
schwer  schädigen,  sondern  sich  auch  gesellschaftlich  un- 


78  Öffentliche  und  private  Moral. 

möglich  machen.  Ob  bei  dieser  Anschauung  die  Heilig- 
keit der  Ehe  viel  gewinnt,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden, 
sicher  nur  dünkt  es  mich,  daß  die  Heiligkeit  der  I^iebe 
viel  dabei  verliert.  Manche  Äußerungen  dieser  einseitigen 
christlich  -  pfäffischen  Moralauffassung  erscheinen  uns 
Europäern  ja  geradezu  komisch.  So  kann  z.  B.  ein  Bank- 
defraudant,  wenn  er  Glück  hat,  sein  geraubtes  Schäfchen 
ganz  gut  drüben  ins  Trockene  bringen  und  unter  Um- 
ständen sogar  sich  wieder  zu  allen  bürgerlichen  Ehren 
emporarbeiten;  landet  er  aber  gleichzeitig  sein  Iyiebchen 
in  Hoboken,  so  muß  er  gewärtig  sein,  daß  er  sofort  vor 
die  Wahl  gestellt  wird,  entweder  umgehend  zu  heiraten, 
oder  umgehend  nach  Europa  zurückzukehren.  Auf  jedem 
Ozeandampfer  wachen  scharfe  Yankeeaugen  über  dem 
Benehmen  der  paarweise  Reisenden,  und  wer  da  nicht 
einen  unzweifelhaft  verheirateten  Eindruck  macht,  der 
kann  sicher  sein,  bei  der  Landung  um  Vorlage  seiner  Ehe- 
bescheinigung ersucht  zu  werden.  Sollte  es  der  Yankee- 
rasse gelingen,  die  puritanischen  Unmenschlichkeiten  aus 
ihren  Moralbegriffen  auszumerzen  und  sich  trotzdem  die 
Reinlichkeit  des  Empfindens  den  geschlechtlichen  Dingen 
gegenüber  zu  bewahren,  die  den  größten  Teil  ihrer  Jugend 
jetzt  schon  als  Begleiterscheinung  der  körperlichen  Rein- 
lichkeit und  der  vernünftigen  Erziehung  auszeichnet,  so 
dürfte  sie  vielleicht  wirklich  einmal  den  Rassen  der  alten 
Welt  als  moralisches  Vorbild  gelten.  Bis  dahin  aber 
müssen  wir  uns  doch  erlauben,  diese  gern  betonte  mora- 
lische Überlegenheit  mit  einem  großen  Fragezeichen  zu 
versehen. 


iiimiiiiiiiuii 


niiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  min  ii  HUMUM 


leiebe  und  Ehe. 


Q'o  viele  Kabel  auch  zwischen  Alt- Europa  und  der  neuen 
JkD  Welt  gelegt  sind,  so  viele  Geschäfts-  und  Familien- 
beziehungen die  Völker  diesseits  und  jenseits  des  Ozeans 
miteinander  verbinden,  so  herrschen  gerade  über  manche 
wichtige  grundlegende  Verhältnisse  die  gröbsten  Miß- 
verständnisse. Was  wissen  wir  Deutsche  z.  B.  vom 
Familienleben,  von  leiebe  und  Ehe  der  Yankees?  Wir 
lesen  in  unseren  Zeitungen  alle  Augenblicke  von  sen- 
sationellen Heiraten  zwischen  Milliardärstöchtern  und 
europäischen  Aristokraten,  von  Millionenerbinnen  oder 
Gattinnen  von  Industriekönigen,  die  mit  Chauffeuren, 
Friseuren  oder  Klavierlehrern  durchgehen;  wir  lesen  mit 
moralischen  Schauder  die  ungeheuerlich  hohen  Ziffern, 
welche  die  Statistik  über  die  Scheidungen  in  den  Ver- 
einigten Staaten  nennt,  und  wir  glauben,  aus  allen  diesen 
Erscheinungen  schließen  zu  dürfen,  daß  die  Yankees 
über  die  Heiligkeit  der  Ehe  äußerst  frivol  denken  und 
ihre  Töchter  nur  als  Ware,  als  Tauschobjekt  für  gute 
gesellschaftliche  und  geschäftliche  Beziehungen  betrachten 
müßten.  Zum  mindesten  kommt  wohl  jeder  gute  Deutsche 
mit  einem  starken  Vorurteil  gegen  die  koketten,  herz- 
losen und  anspruchsvollen  Yankeemädchen  nach  Dol- 
larica;  wem  es  aber  gestattet  ist,  unvoreingenommen 
und  aus  nächster  Nähe  die  Frage  der  leiebe  und  der  Ehe 
im  Yankeelande  zu  studieren,  der  dürfte  doch  bald  zu 
einer  anderen  Meinung  gelangen.  Vor  allen  Dingen  wird 
ein  guter  Beobachter  sehr  bald  lernen,  zwischen  den 
Sitten  und  Gewohnheiten  der  paar  Hundert  Multimillio- 


80  Liebe  und  Ehe. 


näre  und  denen  der  überwältigenden  Mehrheit  des  übrigen 
Volkes  zu  unterscheiden.  Es  brauchte  nicht  erst  der  gute 
und  kluge  Carnegie  zu  kommen,  um  uns  die  Weisheit 
zu  offenbaren,  daß  Frauen  desto  unglücklicher,  unzu- 
friedener und  zu  törichten  Streichen  geneigter  sind,  je 
reicher  sie  werden;  das  ist  eine  uralte  Weisheit,  die  wir 
bei  uns  zu  Lande  ebenso  oft  bestätigt  finden  können, 
wie  irgendwo  sonst  auf  der  Erde.  Die  Frau  des  Multi- 
millionärs, die  ganz  in  gesellschaftlichen  Interessen  auf- 
geht, ihre  Nerven  in  einer  sinnlosen  Hetze  von  Ver- 
gnügen zu  Vergnügen,  von  Gesellschaft  zu  Gesellschaft, 
von  bloß  spielerischer  bis  zu  wirklich  angreifender  Tätig- 
keit aufreibt,  dabei  drei-  bis  viermal  täglich  die  Toilette 
wechselt,  unsinnigen  Moden  zuliebe  ihre  Gesundheit  aufs 
Spiel  setzt  und  jede  ihrer  I^aunen  rücksichtslos  befrie- 
digen kann,  die  muß  natürlich,  falls  sie  nicht  einen  un- 
verwüstlich guten  Kern  besitzt,  ihre  Nervenüberreizung 
irgendwie  büßen.  Die  tollen  Streiche  ihrer  L,aune,  ihre 
frivolen  Geschmacksverirrungen  sind  dann  nur  Folge- 
erscheinungen eines  seelischen  Schadens,  der  aus  der 
zerrütteten  körperlichen  Grundlage  erwuchs  wie  der 
Schwamm  aus  einem  faulen  Balken.  Ebenso  begreiflich 
ist  es,  daß  die  Männer  jenes  Kreises,  sobald  der  auf- 
gehäufte Dollarberg  ihnen  bis  über  die  Nase  steigt  und 
sie  zu  ersticken  droht,  bedenkliche  Kongestionen  nach 
dem  Kopfe  bekommen,  die  zunächst  dazu  zu  führen 
pflegen,  daß  sie  ihre  anerzogenen  demokratischen  Grund- 
sätze vergessen  und  mit  ihrem  Überfluß  das  einzige  zu 
erreichen  trachten,  was  drüben  für  kein  Geld  zu  haben 
ist,  nämlich  einen  Abglanz  feudaler  Herrlichkeit.  Da 
sie  nun  bei  sich  zu  Hause  nicht  mit  Fürsten-  und  Grafen- 
kronen auf  dem  Kopfe  herumlaufen  können,  ohne  sich 
lächerlich  zu  machen,   so  kaufen  sie  diese  schönen  Dinge 


Spekulationsheiraten.  81 


ihren  ehrgeizigen  Töchtern  und  füttern  ihre  Eitelkeit 
mit  dem  Bewußtsein,  mit  dem  ältesten  Adel  Buropas 
wenigstens  verschwägert  zu  sein  und  als  Großpapas 
Prinzlein  und  Komteßlein  auf  ihren  Knien  schaukeln 
zu  dürfen.  Und  dennoch  ist  gerade  für  die  Vereinigten 
Staaten  nichts  weniger  kennzeichnend  als  der  Mädchen- 
schacher. Man  darf  getrost  behaupten,  daß  in  keinem 
L^an de  der  Welt  den  Töchtern  eine  größere  Freiheit  der 
Wahl  gelassen  werde,  als  gerade  in  den  Vereinigten 
Staaten,  und  daß  auch  nirgends  das  Spekulieren  der 
jungen  Männer  mit  einer  fetten  Mitgift  weniger  im  Schwang 
sei.  Es  ist  nämlich  durchaus  nicht  Sitte,  den  Töchtern 
eine  Mitgift  zu  geben;  nur  die  ganz  reichen  Leute  machen 
hiervon  eine  Ausnahme.  In  der  überwältigenden  Mehr- 
zahl der  Yankeefamilien,  von  den  untersten  bis  zu  den 
obersten  Gesellschaftsschichten,  denkt  der  Erwerber  eben- 
sowenig daran,  sich  selber  als  Rentier  zur  Ruhe  zu  setzen, 
so  lange  er  noch  imstande  ist,  einen  Brief  zu  diktieren 
und  ein  Telephon  zur  Hand  zu  nehmen,  als  dem  Er- 
wählten seiner  Tochter  in  den  Jahren  seiner  besten  Kraft 
in  Gestalt  eines  Kapitals  eine  faule  Haut  zu  unterbreiten, 
auf  der  Schwiegersohn  und  Tochter  sich  behaglich  räkeln 
dürften.  Die  jungen  Leute  mögen  sich  im  stillen  auf  die 
fette  Erbschaft  freuen,  so  viel  sie  wollen,  inzwischen  aber 
sich  gefälligst  selber  regen  und  sich  den  Zuschnitt  ihres 
Lebens  nach  ihrem  eignen  Verdienst  gestalten.  Dieser 
höchst  vernünftige  und  gesunde  Grundsatz  führt  zu  der 
selbstverständlichen  Folge,  daß  drüben  viel  mehr  aus 
Liebe  geheiratet  wird,  als  bei  uns.  Außerdem  wird  aber 
auch  viel  früher  geheiratet,  weil  schon  die  Kindererziehung 
darauf  ausgeht,  eine  frühe  Selbständigkeit  der  Charaktere 
zu  erzielen,  und  weil  die  Lebensverhältnisse  heute  wenig- 
stens   noch  so  sind,    daß  ein  junger  Mensch,   der  etwas 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  6 


82  Liebe  und  Ehe. 


gelernt  hat,  sei  es  Mann  oder  Weib,  viel  früher  als  bei 
uns  zu  einem  leidlich  anständigen  Einkommen  gelangen 
kann.  Hin  junger  Mann  am  Anfange  der  Zwanziger, 
der  von  seinem  Berufseinkommen  noch  keine  Frau  er- 
nähren kann,  braucht  deshalb  noch  nicht  auf  die  Freuden 
der  Ehe  und  der  Häuslichkeit  zu  verzichten,  denn  er 
kann  sich  ja  ein  Mädchen  suchen,  das  auch  in  einem 
praktischen  Beruf  tätig  ist  und  ein  selbständiges  Ein- 
kommen daraus  bezieht.  Wer  in  der  teuren  Großstadt 
noch  nicht  imstande  wäre,  von  seinem  Einkommen  eine 
dürftige  Etagenwohnung  zu  bestreiten,  der  findet  weit 
draußen  in  den  weniger  besiedelten  Staaten  doch  viel- 
leicht einen  Platz,  wo  er  mit  demselben  Einkommen 
ein  ganzes  Haus  nebst  Dienerschaft  sich  leisten  kann. 
Die  vernünftige  Erziehung,  bei  der  die  beiden  Geschlechter 
stets  auf  dem  Fuße  der  Gleichberechtigung  und  der  guten 
Kameradschaft  miteinander  verkehren,  und  auch  wohl 
ein  wenig  Vererbung  aus  den  Zeiten  puritanischer  Sitten- 
strenge erhalten  den  jungen  Mann  gesund  und  keusch  in 
seinen  Anschauungen  und  lassen  ihn  die  Ehe  als  das 
normale  und  schönste  Ziel  seiner  Sehnsucht  erscheinen 
in  einem  Alter,  in  dem  der  junge  Europäer  sich  auf  seine 
frivole  Weiberverachtung  besonders  viel  einzubilden  pflegt. 
Es  kommt  auch  wohl  noch  dazu,  daß,  wie  gesagt,  ein  sehr 
großer  Teil  aller  jungen  I^eute  in  gottverlassenen  Gegen- 
den seine  Existenz  zu  begründen  beginnt,  wo  er  keinen 
menschenwürdigen  Ersatz  für  die  eheliche  Gemeinschaft 
zu  finden  hoffen  darf.  Und  schließlich  gibt  es  in  Amerika 
noch  eine  ganz  besonders  gute  Vorbereitung  auf  den 
heiligen  Ehestand  durch  eine  bei  uns  kaum  in  den  unter- 
sten Volksschichten  allgemein  eingeführte  Sitte.  Es  gilt 
nämlich  in  der  Yankeefamilie  als  ganz  selbstverständlich, 
daß  der  Sohn   sowohl  wie  die  Tochter,    sobald  sie  selb- 


Rückzahlung  der  Erziehungskosten.  83 

ständig  zu  verdienen  beginnen,  zu  den  Kosten  des  elter- 
lichen Hausstandes  beitragen.  Da  man  bei  den  Yankees 
so  vernünftig  ist,  die  geschäftliche  Behandlung  prak- 
tischer Fragen  auch  in  den  intimsten  Beziehungen  zwischen 
Eltern  und  Kindern,  zwischen  Mann  und  Frau  nicht  für 
gefühlsroh  zu  halten,  so  erwägt  man  im  Familienrate  in 
aller  Gemütsruhe,  wie  viel  jedes  einzelne  Kind  im  Ver- 
hältnis zu  den  Aufwendungen,  die  für  seine  Erziehung 
gemacht  wurden,  von  seinem  Einkommen  billigerweise 
den  Eltern  zurück  zu  erstatten  habe.  Man  hört  selten 
davon,  daß  sich  ein  übel  geratenes  Kind  dieser  Zahlungs- 
pflicht gegen  die  Eltern  entzieht,  noch  viel  weniger  davon, 
daß  die  Herzlichkeit  der  Beziehungen  zwischen  Eltern 
und  erwachsenen  Kindern  unter  solcher  Geschäftspraxis 
leide.  Die  Eltern  spannen  vielmehr  ihre  Kräfte  aufs 
äußerste  an,  um  ihren  Kindern  eine  möglichst  gute  Aus- 
bildung zu  geben,  weil  sie  wissen,  daß  sich  das  aufge- 
wendete Kapital  nicht  nur  ideal  verzinsen  wird.  Und 
die  Kinder  werden  durch  diese  geheiligte  Sitte  von  früh 
an  in  ihrem  Pflichtbewußtsein  und  in  ihrer  selbstlosen 
Schätzung  des  Familienlebens  gestärkt.  Während  also 
unsere  Sitten  den  jungen  Mann  zu  einem  heillos  ein- 
gebildeten Selbstsüchtling  erziehen,  der  sich  kein  Ge- 
wissen daraus  macht,  den  Eltern  noch  Jahre  auf  der 
Tasche  zu  liegen,  und  der  seine  edle  Freiheit  nur  um 
den  Preis  einer  stattlichen  Mitgift  und  auch  erst  dann 
nur  zu  verkaufen  geneigt  ist,  wenn  ihn  der  Suff  und  die 
Weiber  an  Leib  und  Seele  schon  bedenklich  mürbe  gemacht 
haben,  kann  sich  die  amerikanische  Sitte  und  Erziehungs- 
kunst etwas  darauf  einbilden,  das  denkbar  beste  Männer- 
material für  den  heiligen  Ehestand  stets  frisch  und  in 
reichlicher  Quantität  auf  Lager  zu  haben.  Von  nicht 
zu    unterschätzender    Bedeutung    dünkt    mich    auch    der 

6* 


84  Liebe  und  Ehe. 


Umstand,  daß  die  englische  Sprache  keinen  Unterschied 
von  Du  und  Sie  kennt,  indem  nämlich  das  Fürwort  thou, 
also  das  eigentliche  du,  nur  noch  in  der  Poesie  und  im 
Gebet  angewendet  wird,  während  you  —  gleich  Ihr  — 
schon  seit  Jahrhunderten  ausschließlich  als  Anrede  bei 
Hoch  und  Niedrig  in  den  intimsten  wie  in  den  fremdesten 
Beziehungen  verwandt  wird.  Es  fällt  also  auch  im  Ver- 
kehr der  Geschlechter  die  Scheidewand  fort,  welche  das 
förmliche  Sie  bei  uns  errichtet,  und  der  Übergang  zwischen 
einer  bloßen  guten  Bekanntschaft  in  höflichen  Formen 
zur  Freundschaft  oder  Liebe  markiert  sich  äußerlich  gar 
nicht.  Die  jungen  Männer  und  Mädchen,  die  durch  ge- 
meinsamen Schulbesuch  oder  durch  den  gesellschaft- 
lichen Verkehr  der  Eltern  schon  in  der  Kindheit  auf 
kameradschaftlichen  Fuß  gekommen  sind,  behalten  übri- 
gens auch  die  Gewohnheit,  sich  beim  Vornamen  zu  nennen, 
bis  ins  heiratsfähige  Alter  bei.  Ein  junger  Mann  kann 
mit  Dutzenden  von  jungen  Mädchen  seines  Kreises  auf 
diesem  kameradschaftlichen  Fuße  stehen;  ein  junges 
Mädchen  kann  sich  heute  von  ihrem  Freunde  Jack  ins 
Theater,  morgen  von  ihrem  Freunde  Jimmy  zu  einer 
Bootfahrt,  übermorgen  von  ihrem  Freunde  Tom  zum 
Baden  abholen  lassen,  ohne  daß  die  ganze  Freundschaft, 
Verwandtschaft  und  Nachbarschaft,  wie  bei  uns,  darüber 
die  Köpfe  zusammensteckt  und  ein  eifriges  Getuschel 
beginnt.  Die  Verkehrsformen  zwischen  den  jungen  Leuten 
sind  allerdings  nach  den  Begriffen  einer  ehrsamen  deut- 
schen Tantenschaft  sehr  frei,  und  selbst  der  nicht  allzu 
leicht  moralinsauer  reagierende  Beobachter  wird  von  der 
besonderen  Art,  wie  die  junge  Amerikanerin  ihre  Lieb- 
lingsbeschäftigung, den  Flirt,  ausübt,  wenig  erbaut  sein. 
Deutsche  junge  Mädchen,  die  schon  als  Erwachsene  hin- 
über kommen,  finden  auch  meist  diesen  Ton   und  diese 


Unverbindliche  Kurmacherei.  85 

Verhältnisse  wenig  nach  ihrem  Geschmack.  Selbst  wenn 
sie  Talent  zur  Koketterie  haben  und  darin  rasche  Fort- 
schritte machen,  so  ärgert  es  sie  doch,  daß  sie  nie  wissen, 
wie  sie  mit  den  amerikanischen  jungen  Männern  eigent- 
lich daran  sind,  weil  sich  der  Unterschied  zwischen  einem 
frivolen  Kurmacher  und  einem  Anbeter  mit  ernsten  Ab- 
sichten viel  weniger  leicht  bemerkbar  macht,  als  bei 
uns.  Der  junge  Amerikaner  der  höheren  Schichten  kann 
jahrelang  ohne  irgendwelche  Konsequenzen  Freund- 
schaften mit  Töchtern  seines  Kreises  unterhalten,  und 
dennoch  steht  es  ihm  frei,  seine  Gattin  ganz  überraschend 
irgendwo  anders  her  zu  holen.  Kr  wird  sich  auch  nicht 
groß  darüber  wundern,  wenn  eine  seiner  Freundinnen 
seiner  Bedenklichkeit  zuvorkommt  und  ihn  urplötzlich 
mit  der  Frage  überrascht:  „Was  meinst  du,  Jim,  wir 
könnten  doch  eigentlich  Verlobungskarten  herumschicken  ?" 
Der  jungen  Amerikanerin  geht  auch  ganz  die  heimliche 
Angst  deutscher  junger  Mädchen  ab,  als  ob  der  freie 
Verkehr  mit  jungen  Männern  zu  einer  Überrumpelung 
in  einer  schwülen  Stunde  führen  könnte,  denn  sie  weiß 
ganz  genau,  daß  der  junge  Mann,  der  einen  solchen  Ver- 
trauensbruch begehen  würde,  der  lebenslangen  Ächtung 
in  seinem  Kreise  verfallen  würde.  Sie  weiß  ebenso  genau, 
daß  ihr  Freund,  falls  sein  Temperament  ihm  keine  Ruhe 
läßt,  außereheliche  Freuden  bei  den  leichten  Mädchen 
geringeren  Standes  sucht,  und  wird  ihm  das  wohl  meistens 
auch  nicht  besonders  übel  nehmen.  Aus  solchen  An- 
schauungen und  Gewohnheiten  erklärt  es  sich,  daß  in 
den  Vereinigten  Staaten  der  Typus  Don  Juan,  der.  kecke 
Herzensbrecher,  gefährliche  Schwerenöter  und  verfluchte 
Kerl,  durchaus  kein  romantisches  Ideal  von  Männlich- 
keit darstellt,  weder  dem  Geschmack  der  Männer,  noch 
dem    der   Frauen   nach,    sondern    daß   dieses   Ideal   viel- 


86  Liebe  und  Ehe. 


mehr  gefunden  wird  in  dem  ritterlichen  Beschützer  weib- 
licher Tugend,  in  dem  getreulich  ausharrenden,  alle 
Launen  seiner  Schönen  lächelnd  erduldenden  und  stets 
dienstbeflissenen  Liebhaber.  Von  der  Poesie  der  Liebe, 
wie  wir  sie  aufzufassen  gewohnt  sind,  fällt  durch  solche 
Anschauungen  allerdings  sehr  viel  weg.  Die  Lieblings- 
gestalt der  deutschen  Dichtung,  das  unbedenklich  dem 
Zuge  seines  Herzens  folgende,  bedingungslos  sich  hin- 
gebende und  schwärmerisch  sich  aufopfernde  junge  Mäd- 
chen würde  nach  amerikanischer  Auffassung  nur  eine 
leichtsinnige  Person  oder  eine  dumme  Gans  sein.  Und 
dem  männischen  Mann,  dem  rücksichtslosen  Eroberer, 
dem  Schrecken  und  der  süßen  Sehnsucht  deutscher 
Frauenherzen,  würde  einfach  der  Charakter  als  Gentle- 
man abgesprochen  werden.  Bezeichnenderweise  kommen 
diese  Typen  in  der  amerikanischen  Literatur  auch  gar 
nicht  vor.  ,,Das  süße  Mädel",  wie  Schnitzler  und  ich  es 
novellistisch  verherrlicht  haben,  findet  auch  durch  die 
Hintertür  der  Übersetzung  keinen  Einlaß  in  die  ameri- 
kanische Poesie.  Von  meinem  Roman  „Das  dritte  Ge- 
schlecht" liegt  seit  Jahren  eine  ausgezeichnete  ameri- 
kanische Übersetzung  vor;  sie  findet  aber  keinen  Ver- 
leger, weil  die  darin  gepredigte  Philosophie  der  Liebe 
shocking  ist.  Überaus  lehrreich  war  für  mich  die  Bekannt- 
schaft mit  einem  modernen  Thesendrama  „The  easiesf 
way"  (der  leichteste  Weg)  von  einem  sehr  talentvollen 
jungen  Dramatiker  Walter,  der  drüben  als  ein  kühner 
Pfadfinder  gilt.  Das  freie  Verhältnis  eines  reichen  Ge- 
schäftsmannes mit  einer  kleinen  Choristin  steht  im  Mittel- 
punkt der  Handlung.  Das  Mädchen  hat  eine  tiefe  Sehn- 
sucht nach  der  bürgerlichen  Anständigkeit  und  dem  be- 
hördlich approbierten  heiligen  Ehestand.  Der  Verfasser 
jedoch  scheint  es   als   selbstverständlich   anzusehen,    daß 


Die  Liebe  in  der  Öffentlichkeit.  87 

solche  gefallenen  Mädchen  niemals  die  Kraft  finden 
können,  einem  faulen,  eiteln  Genußleben  zu  entsagen. 
Er  läßt  ihren  Aushälter  mit  seiner  trotz  aller  Großmut 
doch  etwas  brutalen  Vernunft  recht  behalten  und  das 
Mädchen  im  Sumpf  zu  Grunde  gehen.  Für  amerikanische 
Begriffe  war  es,  wie  gesagt,  schon  eine  ungeheure  Kühn- 
heit, solch  ein  illegitimes  Verhältnis  überhaupt  auf  die 
Bühne  zu  bringen.  Erträglich  wurde  diese  Kühnheit  für 
das  Theaterpublikum  drüben  nur  durch  den  moralischen 
Standpunkt,  den  der  Verfasser  einnahm.  Sein  grausamer 
Schluß  entsetzte  freilich  die  zarten  Gemüter  nicht  wenig; 
aber  lieber  solche  Grausamkeit,  lieber  auch  die  verlogene 
Sentimentalität  einer  Kameliendame,  als  der  aus  Mitleid 
und  tiefem  Verständnis  für  alles  Menschliche  geborene 
ehrliche  Realismus  der  modernen  europäischen  Dichtung. 
Wie  im  Theater  und  in  der  Literatur,  so  spähen  wir 
Deutsche  auch  in  der  Öffentlichkeit  vergebens  nach  den 
uns  vertrauten  Äußerungen  der  Verliebtheit.  Liebes- 
pärchen,  welche  in  dunkeln  Ecken  von  Biergärten  Hand 
in  Hand  sitzen,  sich  anschmachten,  aus  einem  Glase 
trinken,  von  einem  Butterbrot  abbeißen,  oder  etwa  gar 
im  Eisenbahncoupe  wie  angeleimt  dicht  nebeneinander 
hocken  und  sich  fortwährend  zärtlich  tätscheln  und  heim- 
lich drücken,  dürften  wohl  drüben  zu  den  Unmöglich- 
keiten gehören.  Kaum  daß  man  einmal  auf  den  Bahn- 
höfen Abschied  nehmende  Ehe-  oder  Brautpaare  sich 
küssen  sieht.  Ob  deswegen  die  Amerikanerin  weniger 
zärtlich  oder  gar  feurig  sei,  als  europäische  Frauen,  wage 
ich  nicht  zu  entscheiden,  denn  ich  war  weder  mit  einer 
Amerikanerin  verheiratet,  noch  habe  ich  bedauerlicher- 
weise jemals  ein  Verhältnis  mit  einer  solchen  gehabt. 

Der  Sinn  für  Romantik  in  der  L,iebe  geht  jedoch  den 
Amerikanern    keineswegs   gänzlich    ab,    was   man    daraus 


Liebe  und  Ehe. 


erkennen  kann,  daß  abenteuerliche  Entführungen  viel 
mehr  an  der  Tagesordnung  sind,  als  vermutlich  irgendwo 
sonst.  Aber  freilich,  was  will  eine  Entführung  in  dem 
Lande  der  Freiheit  groß  bedeuten!  Die  Eltern  lassen  ja 
ihren  erwachsenen  Kindern  fast  durchweg  freie  Wahl; 
ihrer  Erlaubnis  zur  Heirat  bedürfen  die  Töchter  in  den 
meisten  Staaten  nur  in  ganz  jugendlichem  Alter,  und 
auch  dann  ist  es  sehr  leicht,  einen  gesetzlichen  Dispens 
zu  erwirken.  Ich  glaube,  viele  sehr  junge  Mädchen  hei- 
raten bloß,  weil  ihnen  das  Entführtwerden  so  viel  Spaß 
macht.  Es  kann  ja  auch  in  allen  Ehren  geschehen,  da 
man  mittags  durchbrennen  und  sich  abends  schon  als 
Ehepaar  den  erstaunten  Eltern  präsentieren  kann.  Man 
braucht  bekanntlich  drüben  nicht  drei  Wochen  zu  hängen 
oder  in  der  Kirche  aufgeboten  zu  werden,  sondern  man 
holt  sich  einfach  von  der  zuständigen  Magistratsperson 
einen  Heiratsschein,  den  man  anstandslos  bekommt,  so- 
bald man  beschwört,  daß  keine  gesetzlichen  Hinderungs- 
gründe vorliegen.  Mit  diesem  Schein  geht  man  zum 
nächsten  besten  Pastor  und  läßt  sich  auf  der  Stelle  trauen, 
bezw.  von  dem  Zivilstandsbeamten  zusammen  geben. 
Glücklicherweise  kann  man  fast  ebenso  leicht  wieder 
auseinander  kommen.  Zwar  sind  in  betreff  der  Schei- 
dung die  Gesetze  in  den  einzelnen  Staaten  sehr  viel 
verschiedener  als  in  bezug  auf  das  Heiraten,  aber  wer 
in  seinem  Staate  auf  Schwierigkeiten  stößt,  der  verfügt 
sich  eben  in  einen  weitherzigeren  und  bequemeren  Staat 
und  riskiert  höchstens,  daß  er  sich  dort  einige  Zeit  auf- 
halten muß,  bevor  er  die  Wohltat  seiner  Spezialgesetze 
genießen  darf.  Es  könnte  wunder  nehmen,  daß  dieselben 
Yankees,  die  vielfach  noch  sehr  puritanisch  streng  über 
die  Ehe  denken,  die  Scheidung  so  überaus  erleichtern; 
der  praktische  Erfolg  hat  aber  gelehrt,  daß  hier,  wie  so 


Die  Scheidung;.  89 


oft,  ihr  gesunder  Menschenverstand  ihnen  den  rechten 
Weg  gewiesen  hat.  Religion,  Gesellschaftsmoral  und  die 
besonderen  Verhältnisse  des  jungen  Landes  begünstigen 
das  frühe  Heiraten;  da  nun  aber  ein  despotisches  Ein- 
greifen des  elterlichen  Willens  durch  die  demokratischen 
Grundsätze  ausgeschlossen  erscheint,  so  kommen  die 
Ehen  fast  allein  durch  die  Leidenschaft  mehr  oder  minder 
unreifer  Menschen  zustande,  welche  durchaus  noch  nicht 
fähig  sind,  sich  über  ihre  eigenen  sittlichen  Kräfte,  noch 
über  die  Kämpfe  und  Hemmungen,  denen  sie  in  ihren 
besonderen  Lebensverhältnissen  entgegengehen,  ein  Ur- 
teil zu  bilden.  Es  werden  sich  folglich  sehr  viele  dieser 
jugendlichen  Wahlen  als  verfehlt  erweisen.  Wäre  nun 
diesen  unglücklich  Gepaarten  ein  Loskommen  voneinander 
unmöglich  gemacht  oder  auch  nur  beträchtlich  erschwert, 
so  würde  bald  das  ganze  Land  überschwemmt  sein  von 
verärgerten,  zähneknirschenden,  entmutigten  Menschen, 
welche  ebenso  viele  fanatische  Prediger  gegen  die  Ehe 
bedeuten  würden.  So  aber  weiß  jeder  beim  Eingehen 
seiner  Ehe:  Habe  ich  mich  gröblich  getäuscht,,  nun  dann 
ist's  auch  weiter  nicht  schlimm;  eine  Scheidung  kostet 
nicht  den  Kopf,  und  das  nächste  Mal  kann  ich  es  ja  besser 
treffen.  Selbstverständlich  wird  die  leichte  Scheidungs- 
möglichkeit aus  bloßer  Veränderungssucht  viel  miß- 
braucht werden,  aber  sicherlich  nicht  so  viel,  wie  ängst- 
liche Gemüter  sich  vorstellen  mögen,  denn  die  liebe  Ge- 
wohnheit vermag  auch  den  brutalsten  Sinnenmenschen 
zu  bändigen.  Das  Anstands-  und  Gerechtigkeitsgefühl 
des  Mannes,  besonders  bei  einer  allgemein  ritterlich  ver- 
anlagten Rasse,  und  die  Liebe  zu  den  Kindern  und  zur 
Häuslichkeit  bei  der  Frau  richten  unter  allen  Umständen 
einen  starken  Schutzwall  wider  den  rücksichtslosen  Leicht- 
sinn auf.    Übrigens  ist  die  Gefahr  der  unglücklichen  Ehen 


90  Liebe  und  Ehe. 


auch  schon  dadurch  herabgemindert,  dai3  die  ganze 
Yankeerasse  nüchterner  denkt  als  wir  und  sich  daher 
über  Liebe  und  Ehe  auch  weniger  Illusionen  macht.  Das 
Denken  ist  überhaupt  dieses  Volkes  Sache  nicht,  es  wird 
daher  um  so  stärker  von  der  Tradition  beherrscht,  ist 
auch  von  den  Einflüssen  der  Erziehung,  der  Schule  ab- 
hängiger und  darum  in  seiner  Masse  viel  gleichartiger 
an  Charakter  und  Gemüt  als  wir.  Durch  diese  Gleich- 
artigkeit fällt  von  vornherein  der  bei  uns  häufigste  Grund 
der  Ehestörung  fort.  Hyperästhetische,  dekadente  Männer 
oder  verzwickte  Ibsensche  Frauennaturen,  wie  sie  bei 
uns  als  schreckhafte  Beispiele  schwierigster  Ehegesponse 
herumlaufen,  dürfte  man  drüben  nur  sehr  selten  an- 
treffen. Ganz  ohne  Zweifel  ist  aber  der  amerikanische  Ehe- 
mann für  die  Frau  bequemer  als  der  deutsche.  Er  fühlt 
sich  durch  ihre  nach  unseren  Begriffen  oft  unverschämten 
Ansprüche  nicht  weiter  gekränkt,  weil  ihm  die  Verehrung 
für  das  zartere  Geschlecht  noch  fest  im  Blute  sitzt.  Es 
dünkt  ihm  ganz  in  der  Ordnung,  daß  einer  für  das  Ver- 
gnügen, mit  einer  hübschen  und  eleganten  Frau  prahlen 
zu  dürfen,  einen  gehörigen  Preis  zahlen,  d.  h.  bis  an  sein 
Lebensende  sich  mächtig  anstrengen  muß.  Wie  der  Mann 
das  viele  Geld  verdient,  ist  der  teuren  Gattin  ziemlich 
gleichgültig,  denn  für  ihr  gesellschaftliches  Ansehen  macht 
es  wenig  aus,  ob  er  mit  Schuhwichse  oder  mit  Juwelen 
handelt,  ob  er  ein  wilder  Spekulant  oder  ein  solider  In- 
dustriekapitän, Beamter,  Anwalt,  Arzt  oder  Künstler  ist. 
Der  gesellschaftliche  Rang  des  Gatten  hängt  vielmehr 
davon  ab,  ob  er  einer  mehr  oder  minder  alten  Familie 
angehört,  die  schon  lange  Wohlstand  und  Ansehen  genießt, 
oder  ob  er  ein  Emporkömmling  ist,  von  dem  man  in  der 
guten  Gesellschaft  noch  nichts  Genaues  weiß.  Eine  ge- 
scheite   und    reizvolle    Frau    kann    die    gesellschaftliche 


Die  Hausfrau  und  die  Dame  der  Gesellschaft.  91 

Stellung  ihres  Mannes  wesentlich  verbessern,  indem  sie 
mit  Kreisen  in  Fühlung  kommt,  die  über  denen  stehen, 
aus  denen  der  Mann  hervorgegangen  ist.  Sie  hält  es 
darum  auch  für  ihre  vornehmste  Pflicht,  sich  ihre  Schön- 
heit zu  erhalten,  ein  elegantes  Haus  zu  machen  und 
feinere  L,eute  in  ihren  Verkehr  zu  ziehen.  Wenn  solche 
gesellschaftlich  geschickten  Frauen  gemütlos  und  geistig 
beschränkt  sind,  dann  können  sie  natürlich  auch  den 
geduldigsten  Mann  durch  ihre  törichten  Ansprüche  zur 
Verzweiflung  bringen;  meistens  sind  sie  aber  doch  klug 
genug,  sich  gerade  dann,  wenn  sie  die  ärgsten  Zumutungen 
an  seinen  Geldbeutel  und  seine  Geduld  stellen,  die  größte 
Mühe  zu  geben,  ihn  bei  guter  Laune  zu  erhalten.  Die 
kleinlich  eifersüchtige,  keifende,  den  Hausschlüssel  ver- 
weigernde deutsche  Philisterfrau  aus  den  ,, Fliegenden 
Blättern''  wird  man  drüben  nicht  oft  finden;  dagegen 
ist  die  putzsüchtige,  mit  dem  Scheckbuch  des  Gatten 
täglich  die  Warenhäuser  heimsuchende  und  ihre  Zeit  in 
nichtigen  Vergnügungen  und  spielerischer  Vereinstätig- 
keit verzettelnde  Hausfrau  sicher  noch  häufiger  zu  finden 
als  bei  uns.  Hs  wäre  aber  doch  wohl  ungerecht, 
deswegen  der  Amerikanerin  im  allgemeinen  die  Fähigkeit 
zu  entsagender  Hingabe  an  strengere  Pflichten  abzu- 
sprechen. Man  hört  sogar  nicht  selten  von  jungen  Mäd- 
chen aus  wohlhabenden  Familien,  die  mit  ihrem  Er- 
wählten in  die  halbe  oder  ganze  Wildnis  ziehen  und  sich 
unter  rauhen  Lebensbedingungen  tapfer  mit  durch- 
schlagen. Auch  versteht  es  die  Amerikanerin  in  be- 
schränkten Verhältnissen  beinahe  so  gut  wie  die  Fran- 
zösin, ihr  Haus  stets  nett  und  freundlich  zu  halten,  sich 
gut  anzuziehen  und  ihren  Körper  trotz  der  Arbeitslast 
frisch  zu  erhalten.  Die  Frau,  die  nur  unter  furchtbarem 
Getöse    die    Haushaltungsmaschine    in    Gang    zu    halten 


92  Liebe  und  Ehe. 


versteht,  immer  seufzt  und  stöhnt,  nie  angezogen  ist, 
und,  sobald  sie  den  Mann  sicher  eingefangen  hat,  ihr 
Äußeres,  ihre  kleinen  Talente  und  ihren  Bildungstrieb 
vernachlässigt,  die  soll  drüben  angeblich  nicht  existieren 
—  auch  nicht  unter  den  Bauern;  denn  die  Gattin  des 
Farmers  ist  eine  I^ady,  der  niemals  der  Mann  schwere 
Feldarbeit  zumuten  würde,  und  ihre  Töchter  spielen 
Klavier  und  besuchen  die  höheren  Schulen.  Die  arbeitende 
Frau  des  Mittelstandes  mag  zwar  nüchtern  und  uninter- 
essant sein,  aber  sie  teilt  doch  meistens  die  glücklichste 
Eigenschaft  ihrer  Rasse,  nämlich  die  leichte  Anpassungs- 
fähigkeit an  die  verschiedenen  Glücksumstände.  Es  wird 
nicht  oft  vorkommen,  daß  eine  Frau  ihren  Mann,  wenn 
er  plötzlich  zu  großem  Reichtum  gelangt,  in  einer  vor- 
nehmeren Gesellschaftsschicht  durch  schlechte  Manieren, 
schlechte  Sprache  und  geschmacklosen  Anzug  blamieren 
sollte.  Das  Talent  zur  I,ady  scheint  wirklich  der  Weib- 
lichkeit der  ganzen  Rasse  eigen  zu  sein,  und  es  macht 
sich  selbst  bei  jenen  armen  Geschöpfen  noch  angenehm 
bemerkbar,  welche  die  Gesellschaft  deklassiert  und  zu 
Freiwild  für  die  illegitimen  Begierden  der  Männer  be- 
stimmt hat.  Einige  gefällige  Amerikaner  veranstalteten 
zum  Vergnügen  des  Gefolges  unseres  Prinzen  Heinrich 
seinerzeit  in  New  York  eine  kleine,  ganz  intime  Abend- 
gesellschaft —  für  jeden  der  Herren  war  ein  gefälliges 
Chorusgirl  eingeladen  worden.  Und  das  Benehmen  dieser 
leichten  Mädchen  war  so  anmutig,  der  Ton  der  Unter- 
haltung so  gesittet,  daß  die  Herren  glaubten,  einer  Ein- 
ladung in  ein  feines  Töchterpensionat  gefolgt  zu  sein 
und  gar  nicht  genug  Rühmens  von  dieser  liebenswürdig 
kaschierten  Frivolität  machen  konnten. 

Man   mag   diese   unzweifelhaften   Vorzüge   als  Äußer- 
lichkeiten  gering   einschätzen   und   ihnen   gegenüber    die 


Heiratslust  ein  Gesundheitszeugnis.  93 

Gemütstiefe,  die  Pflichttreue,  die  enthusiastische  Opfer- 
freudigkeit und  edle  Mütterlichkeit  der  deutschen  Frau 
als  das  Größere  und  Ausschlaggebende  hinstellen,  man 
mag  sogar  die  l,iebesfähigkeit  des  Yankees  in  Zweifel 
ziehen,  aber  man  darf  nicht  leugnen,  daß  durch  Gesetz, 
Sitte  und  Herkommen  für  den  heiligen  Ehestand  drüben 
besser  gesorgt  ist.  Und  ich  glaube,  es  kann  schwerlich 
einem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  allgemeine  Heirats- 
lust der  Jugend  einem  Volke  das  sicherste  Gesundheits- 
zeugnis ausstellt. 


nu ■■■■■■■■■ ■■■■>  a 


riniiiiiiiiiiiiiiiiiiii i  mihi  mim  um  im  im  iiiiinii  im  ii  in 


2)ie  Dienstbofenfrage. 


Es  war  in  Philadelphia.  Mir  gegenüber  im  zweiten 
Stockwerk  eines  netten,  epheuumrankten  Familien- 
hauses  war  ein  jnnger  Nigger  mit  Fensterputzen  be- 
schäftigt. Bekanntlich  gibt  es  in  Amerika  keine  Flügel- 
fenster, sondern  ausschließlich  jene  greulichen  englischen 
Schiebefenster,  welche  ein  behagliches  Hin  ausschauen, 
ein  geschwindes  Kopfherausstrecken  nach  einer  rasch 
vorüber  brausenden  Straßensensation  fast  unmöglich 
machen.  Denn  die  Fenster  sind  fast  durchweg  so  niedrig 
über  dem  Fußboden  angebracht,  daß  die  bewegliche 
untere  Hälfte  einem  ausgewachsenen  Menschen  kaum 
bis  zur  Brusthöhe  reicht.  Wenn  man  also  hinausschauen 
will,  so  muß  man,  um  nicht  etwa  das  Übergewicht  zu 
verlieren  und  kopfüber  hinauszupurzeln,  schon  auf  den 
Boden  hinknien  und  seinen  Hals,  auf  die  Gefahr  hin,  bei 
etwaigem  schlechten  Funktionieren  der  Sperrfedern  ge- 
köpft zu  werden,  unter  die  gläserne  Guillotine  stecken. 
Mein  Nigger  hatte  es  sich  im  Reitsitz  auf  dem  Fenster- 
brett gemütlich  gemacht;  das  eine  Bein  hing  auf  die 
Straße  hinaus,  obwohl  es  empfindlich  kalt  an  diesem 
sonnigen  Januartage  war.  Während  er  sein  Handwerks- 
zeug, Schwamm,  Trockentuch  und  Iyederlappen,  be- 
dächtig auf  dem  Fensterbrett  zurecht  legte,  pfiff  er  sich 
eins,  blickte  cfie  schmale  Seitenstraße  hinunter  und  die 
breite  Avenue  hinauf  (denn  es  war  ein  Eckhaus).  Da 
doch  vorläufig  nichts  Besonderes  zu  sehen  war,  so  stellte 
er  sein  Pfeifen  ein  und  schaute  mit  sorgenvoll  gerunzelter 
Stirn  aufwärts.    Er  dachte  offenbar  angestrengt  über  das 


Der  schwarze  Fensterputzer.  95 

Problem  nach,  wie  er  wohl,  ohne  sein  kostbares  lieben 
zu  gefährden,  d.  h.  auf  dem  Fensterbrett  stehend,  mit 
dem  Oberkörper  rückwärts  hinausgelehnt  und  nur  mit 
einer  Hand  am  Fensterrahmen  in  der  Mitte  sich  fest- 
klammernd, die  obere  Scheibe  von  außen  reinigen  könnte. 
Da  er  zu  diesem  waghalsigen  Turnerstückchen  sich  nicht 
aufgelegt  fühlte,  so  schüttelte  er  seinen  dicken  Wollkopf 
und  versuchte,  wie  weit  er  mit  ausgestreckter  Hand  über 
sich  emporreichen  könnte.  Die  Fingerspitzen  langten  nur 
gerade  ein  weniges  über  die  mittlere  Rahmenleiste  hinaus ; 
das  genügte  ihm  aber  vorläufig.  Br  ergriff  seinen  Eappen 
und  wischte  am  äußeren  unteren  Rande  der  Mittelleiste 
ein  wenig  Staub  hinweg.  Darauf  erhob  er  sich  und  be- 
fummelte im  Stehen  die  innere  Seite  des  hinaufgeschobenen 
Fensters.  Er  ließ  sich  sehr  reichlich  Zeit  hierzu,  ohne 
deswegen  jedoch  die  Sache  gar  zu  ernst  zu  nehmen.  Als 
die  innere  obere  Scheibe  seiner  Meinung  nach  genügend 
sauber  war,  nahm  er  wieder  auf  dem  Fensterbrett  Platz 
und  ließ  sein  linkes  Bein,  dessen  zierliches  Plattfüßchen 
mit  einem  riesigen  Footballstiefel  bekleidet  war,  wieder 
ins  Freie  baumeln.  Nachdem  er  eine  ganze  Weile  untätig 
vor  sich  hingeträumt  hatte,  unternahm  er  den  Versuch, 
die  innere  Fensterhälfte  herunterzuziehen,  um  nunmehr 
das  Glas  von  außen  zu  bearbeiten.  Es  dauerte  sehr  lange, 
bis  es  ihm  gelang,  das  Fenster  aus  seiner  Ruhelage  zu 
bringen,  und  als  er  es  endlich  glücklich  los  hatte  und  nun 
versuchte,  die  schwere  Glasscheibe  auf  seinem  rechten 
Knie  so  zu  stützen,  daß  ein  genügend  großer  Spalt  offen 
blieb,  um  ihm  das  Hantieren  im  Sitzen  zu  gestatten, 
fand  er  alsbald,  daß  er  sich  dadurch  in  eine  höchst  un- 
bequeme Eage  begeben  und  besonders  seinem  zarten 
Kniechen  zu  viel  zugemutet  habe.  Er  schob  also  stöhnend 
und  schnaufend  die   Scheibe  wieder  hinauf,   wischte  sich 


96  Die   Dienstbotenfrage. 


mit  dem  Ärmel  über  den  Schädel  und  fletschte  zornig 
sein  anmutiges  „G'frieß"  gegen  die  Scheibe  hinauf  — 
gerade  wie  es  die  Kinder  machen,  wenn  sie  mit  der  Kom- 
mode böse  sind,  an  der  sie  sich  gestoßen  haben.  Plötzlich 
verklärte  sich  seine  intelligente  Schimpansenphysiogno- 
mie. In  der  Ferne  ließ  sich  Militärmusik  vernehmen. 
Bum,  bum,  tschindara !  Master  Kinkywoolly  wurde  ganz 
Ohr  und  ganz  Seligkeit.  Er  beugte  sich  so  weit  hinaus 
wie  möglich  und  spähte  die  breite  Hauptstraße  hinunter. 
Etwas  ganz  besonders  Herzerhebendes  mußte  da  los  sein, 
denn  mein  Nigger  klatschte  begeistert  in  die  Hände  und 
zeigte,  seine  zierliche  Fresse  weit  aufreißend,  die  lachen- 
den Zähne  im  Leckermaul.  Ich  schob  nun  gleichfalls 
mein  Fenster  hoch,  kniete  auf  den  Boden  nieder  und 
reckte  den  Hals  hinaus,  um  mir  den  seltenen  Anblick 
eines  militärischen  Aufzuges  nicht  entgehen  zu  lassen. 
Aber  es  war  ganz  etwas  anderes,  was  ich  zu  sehen  bekam, 
etwas  ganz  spezifisch  Amerikanisches.  Gassenbuben  und 
Strolche  vorweg,  dann  eine  uniformierte  Kapelle  und 
dann  in  Rotten  zu  vieren  ein  schlotteriger  Parademarsch, 
inszeniert  von  einem  politischen  Boß  und  ausgeführt  von 
einer  Elitetruppe  seiner  Parteifreunde.  Lauter  freie  Re- 
publikaner gesetzten  Alters,  wohl  genährt,  sauber  und 
glatt  rasiert,  alle  mit  den  gleichen  gelben  Gamaschen, 
denselben  Schlipsen,  denselben  Hüten  und  denselben 
Bambusstöcken  mit  vernickelten  Griffen,  die  sie  wie  die 
Gewehre  aufrecht  an  die  Schulter  gedrückt  trugen,  wie 
ehemals  unser  Militär  bei  dem  Griff  ,,faßt  das  Gewehr 
an".  Ein  gerade  zu  Besuch  anwesender  Eingeborener 
erklärte  mir,  daß  die  Parteikasse  die  Ausrüstung  an 
Gamaschen,  Schlipsen,  Hüten  und  Spazierstöcken  stelle 
und  diese  öffentlichen  Umzüge  ansehnlicher,  sichtbarlich 
satter  und  zufriedener  Mitbürger  von  Zeit  zu  Zeit  ver- 


Straßendemonstrationen.  97 

anstalte,  um  dem  Publikum  zu  beweisen,  wie  gut  es  sich 
unter  den  Fittichen  ihrer  Partei  leben  lasse.  Ein  unerhört 
fetter  schwarzer  Schutzmann,  der  an  der  Straßenkreuzung 
postiert  war,  führte  vor  Vergnügen  über  diesen  gelungenen 
Aufzug  einen  veritablen  Cakewalk  nach  dem  munteren 
Rhythmus  der  Musik  aus,  und  mein  Fenster  putzendes 
Niggerlein  jauchzte  vor  Vergnügen  über  solchen  grotesken 
Anblick  und  bewegte  sich  im  Takte  der  Musik,  als  ob  er 
ein  tanzendes  Zirkuspferd  zwischen  den  Schenkeln  hätte. 
Offenbar  gehörten  der  cancanierende  Schutzmann  und 
der  reitende  Fensterputzer  gleichfalls  der  Partei  der 
Demonstranten  an  und  fühlten  sich  durch  den  erhebenden 
Parademarsch  ihrer  Vertrauensmänner  in  ihren  patrio- 
tischen Gefühlen  angenehm  gekitzelt.  —  Bis  der  letzte 
Hauch  der  Blechmusik  verklungen  war,  dachte  selbst- 
verständlich der  farbige  Jüngling  gegenüber  nicht  daran, 
sein  Fenster  wieder  vorzunehmen.  Dann  aber  griff  er 
tief  aufseufzend  wieder  zum  Wischtuch  und  hielt  es  nach- 
denklich in  der  Hand,  während  seine  schwarzen  Sammet- 
augen  sich  bekümmert  an  den  dummen  Fensterrahmen 
hefteten,  der  so  gar  keine  Miene  machte,  von  selber  zu 
ihm  herunter  zu  kommen.  Plötzlich  kam  wieder  lieben 
in  die  schier  erstarrte  Gestalt.  Master  Kinkywoolly 
drehte  den  Kopf  über  die  Schulter  und  äugte  höchst  ge- 
spannt die  Avenue  hinauf.  —  Wahrhaftig,  noch  eine 
Parade!  Mehrere  Dutzend  Geistliche  der  Stadt,  paar- 
weise nebeneinander  in  schwarzen  Talaren.  Und  statt  der 
Bambusrohre  mit  Nickelknöpfen  schulterten  sie  ihre 
Regenschirme.  Die  schwarzen  Herren  waren  auf  dem 
Wege  zum  Oberbürgermeister,  um  feierlich  bei  ihm  vor- 
stellig zu  werden,  daß  er  die  fromme  Ouäkerstadt  be- 
schützen möge  vor  dem  Satansgreuel  der  Salome  von 
Richard  Strauß,   deren  Aufführung  in  Philadelphia  eine 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  7 


98  Die   Dienstbotenfrage. 


fremde  Opern truppe  angekündigt  hatte.  Es  wäre  eigent- 
lich passend  gewesen,  daß  der  fette  schwarze  Schutzmann 
an  der  Straßenkreuzung  bei  dieser  Gelegenheit  den  Tanz 
der  sieben  Schleier  aufgeführt  hätte.  Aber  er  schien  zu 
Richard  Strauß  und  seiner  Kunst  noch  nicht  Stellung 
genommen  zu  haben,  denn  er  ließ  die  Parade  ohne  sicht- 
liche Gemütsbewegung  vorüberziehen  und  sorgte  nur 
dafür,  den  Wagen  verkehr  derweil  zu  bändigen.  —  Mein 
Fensterputzer  stierte  blöd  der  schwarzen  Prozession  nach, 
bis  sie  um  die  Ecke  verschwunden  war;  dann  führte  er 
mit  seinem  kalt  gewordenen  Spielbein  einige  Freiübungen 
aus  und  war  eben  dabei,  tatsächlich  seinen  Schwamm 
ins  Wasserbecken  zu  tauchen,  um  vielleicht  doch  den 
Versuch  einer  flüchtigen  Wäsche  von  außen  zu  wagen, 
als  es  vom  nächsten  Kirchturm  zwölf  schlug.  Der 
Schwamm  flog  ins  Becken,  das  Bein  über  das  Fenster- 
brett und  der  schwarze  Jüngling  davon  zum  schwer  ver- 
dienten Ivunch.  Ich  vermute,  daß  er  am  nächsten  Ersten 
um  eine  Lohnerhöhung  eingekommen  ist. 

Das  Beispiel  dieses  schwarzen  Fensterputzers  dürfte 
einigermaßen  typisch  sein  für  den  Eifer,  mit  dem  häus- 
liche Dienstleistungen  in  den  Vereinigten  Staaten  ver- 
richtet werden.  Gewiß  arbeitet  ein  frisch  von  Europa 
eingewandertes  Hausmädchen  fleißiger  und  gründlicher, 
dafür  ist  es  aber  auch  sehr  viel  anmaßender  und  sehr 
viel  schwieriger  zu  behandeln  als  der  Niggerboy,  der 
doch  wenigstens  freundlich  grinst  und  danke  sagt,  wenn 
er  ein  Trinkgeld  kriegt.  Ja,  die  Dienstbotennot  ist  wirk- 
lich die  Frage  aller  Fragen,  nicht  nur  für  die  Hausfrau 
des  amerikanischen  Mittelstandes.  Die  ganz  reichen  Leute 
freilich  leisten  sich  einen  englischen  Butler  (Haushof- 
meister), einen  französischen  Valet  de  chambre,  einen 
italienischen  Koch,  einige  griechische  Lakaien  von  klassi- 


Pflichten  und  Rechte  des  Dienstpersonals. 


scher   Gesichtsbildung  und  unbezahlbarer  Frechheit  und 
etliche  appetitliche  irische  Mädchen.    Für  Geld,  d.  h.  für 
sehr  viel  Geld  ist  natürlich  auch  eine  aristokratisch  luxu- 
riöse, gut  gedrillte  Dienerschaft  in  den  Vereinigten  Staaten 
zu   haben;    aber  die   Leute   von   mittlerem   und   kleinem 
Vermögen,  also  von  einem  Einkommen,  wie  es  hier  unsere 
armen    Schlucker    von    Regierungspräsidenten,     General- 
majoren, Oberpostdirektoren  und  beliebten  Schriftsteller 
besitzen,  können  sich  eine  perfekte  Köchin  und  noch  ein 
tüchtiges  Stubenmädchen  dabei  schwerlich  leisten.    Denn 
eine  Köchin,  die  etwas  Eßbares  zu  kochen  imstande  ist, 
dürfte  unter   ioo  Mk.   Monatslohn    nicht  zu  haben  sein, 
und  10  Dollars  muß  man  sogar  für  einen  frisch  impor- 
tierten, unerprobten   Besen    schon    anlegen.     Sind    diese 
Damen  bereits  ein  paar  Monate  im  Lande,   so   daß  sie 
sowohl  von  der  Sprache  wie  von  dem  Wesen  ihrer  staats- 
bürgerlichen   Rechte   einigen    Begriff   haben,    so  ■  machen 
sie   mit  ihrer  Herrschaft  einen   Vertrag  mit  zahlreichen 
Paragraphen,    welche   genau   ihre    Pflichten    und    Rechte 
festlegen.    Darin  ist  bestimmt,  daß  sie  außer  dem  Sonntag, 
an   welchem   sie    nur   morgens    die    Schlafzimmer   aufzu- 
räumen   haben,    noch    an    einem    Wochentag    ausgehen, 
ferner    das    Parlor    (Wohnzimmer)    bei    Besuchen    ihrer 
Freunde  und  Verwandte  mitbenutzen  und  selbstverständ- 
lich ohne   Kündigung   abziehen   dürfen,   sobald  es  ihnen 
beliebt.     Irgendwelche    schwere    oder    schmutzige   Arbeit 
verrichten  diese  Damen  grundsätzlich  nicht,  dazu  müssen 
extra  Nigger,  Chinesen,  Polacken  oder  dergleichen  Kropp- 
zeug  gehalten    wrerden.     Verlangt    die    Hausfrau    irgend- 
welchen Dienst  von  ihnen,  der  nicht  kontraktlich  stipu- 
liert  oder  landesüblich  einbegriffen  ist,   so  entgegnet  ihr 
das   Fräulein    achselzuckend:     ,,ThaVs    not    my   business, 
Ma'm"  —  und  fertig.    Ein  Mädchen,  das  für  die  Küche 


100  Die  Dienstbotenfrage. 


angestellt  ist,  wird  beispielsweise  um  keinen  Preis  dem 
Hausherrn  einen  Knopf  annähen;  und  ein  Hausmädchen 
wird  sich  auch  im  Falle  der  höchsten  Not  schwerlich 
herbei  lassen,  ein  Kind  aufs  Töpfchen  zu  setzen.  Einer 
geborenen  Amerikanerin  zumuten  zu  wollen,  die  Stiefel 
zu  putzen,  wäre  ungefähr  gleichbedeutend  mit  schwerer 
körperlicher  Mißhandlung.  Eine  junge  deutsche  Dame, 
die  einen  amerikanischen  Landsmann  geheiratet  hatte, 
erzählte  mir,  daß  sie,  um  den  Schwierigkeiten  der  Dienst- 
botenwirtschaft zu  entgehen,  sich  eine  alte,  treu  anhäng- 
liche Dienerin  mitgebracht  habe,  die  schon  14  Jahre  in 
der  Familie  gewesen  war.  Nach  drei  Wochen  bereits 
habe  sie  ihr  die  Stiefelbürste  vor  die  Füße  geworfen  und 
erklärt,  daß  sie  sofort  heimreisen  werde,  wenn  ihr  solche 
entwürdigende  Zumutung  noch  länger  gestellt  würde. 
An  einer  Frauenuniversität,  an  der  ich  eine  Vorlesung 
gehalten  hatte,  wurde  mir  das  einzige  für  männliche 
Gäste  reservierte  Zimmer  zum  Übernachten  angewiesen, 
in  welchem  der  Herr  Bischof  untergebracht  zu  werden 
pflegte,  wenn  er  zur  Kirchenvisitation  kam.  Ich  ent- 
deckte im  Badezimmer  ein  schön  poliertes  Mahagoni- 
kästchen, und  als  ich  es  neugierig  öffnete,  fand  ich  darin 
ein  komplettes  Wichszeug  vor.  Der  Herr  Bischof  mußte 
sich  also  auch  höchst  eigenhändig  seine  Stiefel  putzen, 
da  es  im  Gebiete  der  Damenuniversität  natürlich  keinen 
öffentlichen  Wichsier  gab.  Daß  gerade  gegen  die  ehren- 
hafte Betätigung  des  Stiefelputzens  ein  solches  Vorurteil 
besteht,  ist  um  so  merkwürdiger,  als  der  freie  Amerikaner 
niederen  Standes  es  sonst  durchaus  nicht  für  unter  seiner 
Würde  hält,  seine  Karriere  als  Inhaber  eines  Straßen- 
wichsstandes zu  beginnen  und  als  nicht  wenige  der  heu- 
tigen Multimillionäre  in  diesem  Geschäft  den  Grundstock 
ihres  Vermögens  legten! 


Karriere  besserer  Dienstmädchen.  101 

Deutsche  Dienstmädchen  gibt  es  schon  lange  kaum 
mehr;  die  meisten  der  Damen,  die  so  anfingen,  fahren 
heute  in  ihrem  eignen  Auto  spazieren.  Denn  wenn  sie 
auch  nur  eine  Ahnung  von  der  edlen  Kochkunst  hatten 
und  einigermaßen  nett  anzusehen  waren,  wurden  sie  mit 
Wonne  von  besser  situierten  Landsleuten  geheiratet.  Auch 
die  einstmals  als  Hausmädchen  besonders  beliebten  Irinnen 
trifft  man  heute  höchstens  noch  in  sehr  vornehmen  Hotels 
in  dieser  Stellung  an.  Im  Westen  soll  es  noch  schlimmer 
sein  als  im  Osten.  In  San  Franzisco  verdient  ein  Maurer 
7  $,  also  gegen  30  Mk.  pro  Tag!  Selbstverständlich 
denken  seine  Töchter  nicht  daran,  in  Dienst  zu  gehen, 
auch  nicht  in  die  Fabrik.  Sie  spielen  lieber  Klavier  und 
gehen  in  echten  Ponypelzen  spazieren.  Gegenwärtig  sind 
Ungarinnen  besonders  gefragt,  und  wer  eine  solche  dralle, 
hochgestiefelte  Pußtadirne  nicht  erschwingen  kann,  der 
nimmt  mit  einer  Kroatin,  Slowakin,  Ruthenin  oder  der- 
gleichen vorlieb.  Wer  aber  dem  ewigen  Ärger  und  der 
ewigen  Angst,  ob  er  morgen  noch  auf  die  Unterstützung 
seiner  Perle  zu  rechnen  oder  abermals  den  Gang  aufs 
Mietsbureau  anzutreten  haben  werde,  seiner  Konstitution 
nicht  zutraut,  oder  als  echter  Demokrat  zu  feinfühlig  ist, 
um  Menschen  seinesgleichen,  freie  Mitbürger  in  unwür- 
diger Abhängigkeit  zu  erhalten,  der  verzichtet  überhaupt 
auf  häusliche  Dienstboten.  Und  zu  diesen  vernünftigen 
Leuten  gehören  fast  alle  Männer,  die  das  Glück  hatten, 
eine  Frau  zu  erwischen,  die  von  Küche  und  Haushalt 
etwas  versteht,  und  der  eine  rege  Betätigung  im  eignen 
Heim  mehr  Freude  macht,  als  das  fade  Gesellschafts- 
leben und  die  Hetze  von  Verein  zu  Verein,  von  Ver- 
gnügen zu  Vergnügen. 

An  einem  sonnigen  Sonntagvormittag  traf  ich  beim 
Spaziergang    durch    eine    der    reizenden    ländlichen    Uni- 


102  Die   Dienstbotenfrage. 


versitäten  des  Nordens  eine  meiner  neuen  Bekannt- 
schaften von  einem  Diner  am  vorhergehenden  Abend. 
Es  war  ein  hochgewachsener,  schlanker  junger  Herr  in 
den  Dreißigern,  der  in  einen  höchst  eleganten  Sealskin- 
pelz  gehüllt,  einen  glänzend  gebügelten  Zylinderhut  auf 
dem  Kopf  und  eine  edle  Havanna  mit  goldfunkelnder 
Leibbinde  zwischen  den  kostbar  plombierten  Zähnen  — 
einen  eleganten  Kinderwagen  mit  Inhalt  vor  sich  her- 
schob !  lebhaftes  Interesse  für  seinen  glücklicherweise 
schlummernden  Sprößling  heuchelnd,  begrüßte  ich  den 
Herrn  Professor.  Er  mochte  mir  wohl  anmerken,  daß 
mir  begriffsstutzigen  Europäer  seine  väterliche  Be- 
tätigung in  diesem  Aufzuge  etwas  sonderbar  vorkomme 
und  erklärte  mir  aus  freien  Stücken  den  Zusammenhang. 
„Look  here" ,  sagte  er,  „wir  sind  jung  verheiratet,  wir 
haben  nur  ein  kleines  Haus  und  ein  kleines  Einkommen; 
wir  können  uns  keine  Dienstboten  halten  —  außerdem 
ziehen  wir  es  vor,  in  unserer  zärtlichen  jungen  Ehe  un- 
beaufsichtigt zu  bleiben  und  wollen  uns  nicht  den  halben 
Tag  den  Kopf  darüber  zerbrechen,  wie  wir  aus  unserer 
Mary  oder  Jane  die  größtmögliche  Arbeitsleistung  heraus- 
ziehen könnten,  ohne  ihrer  Empfindlichkeit  als  Mit- 
bürgerin zu  nahe  zu  treten.  Wir  haben  nur  eine  alte 
Negerin  zur  Hilfe,  die  vormittags  zwei  Stunden  die  gröb- 
lichere Arbeit  verrichtet,  und  einen  Mann,  der  alle  Wochen 
einmal  die  Asche  aus  dem  Zentralfeuerloch  im  Keller 
ausräumt  und  die  Müllkasten  vor  die  Tür  stellt;  alles 
andere  besorgen  wir  selbst.  Sehen  Sie,  heute  früh  z.  B. 
habe  ich  zunächst,  wie  alle  Tage,  das  Feuer  in  der  Zentral- 
heizung geschürt  und  Kohlen  nachgefüllt,  dann  habe  ich 
Kaffee  gekocht,  da  meine  Frau  nicht  ganz  wohl  ist,  und 
das  Frühstück  für  uns  beide  hergerichtet.  Dann  habe 
ich,  weil  es  in  der  Nacht  lustig  geschneit  hat,  vor  unserer 


Der  Professor  als  Mädchen  für  Alles.  103 

Haustür  und  auf  dem  Trottoir  Schnee  geschippt  und 
darauf  mich  wieder  in  einen  Gentleman  verwandelt.  Da 
es  darüber  für  die  Kirche  zu  spät  geworden  war,  habe 
ich  vorgezogen,  meine  Sonntagsandacht  in  Gesellschaft 
meines  vorläufig  einzigen  Sohnes  durch  ein  edles  Rauch- 
opfer im  Sonnenschein  zu  verrichten.  Zum  Uuncheon 
behelfen  wir  uns  mit  kalter  Küche,  und  wenn  meiner 
Frau  bis  abends  nicht  besser  wird,  so  nehme  ich  mein 
Dinner  im  Klub,  nachdem  ich  ihr  eine  Suppe  gekocht  und 
eine  Konservenbüchse  gewärmt  habe.  Vor  dem  Schlafen- 
gehen schütte  ich  dann  noch  einmal  im  Keller  Kohlen 
auf  die  Heizung,  und  damit  habe  ich  alles  getan,  was 
die  Haushaltungsmaschine  braucht,  um  regelrecht  zu 
funktionieren." 

,,Sehr  schön,"  sagte  ich  in  ehrlicher  Anerkennung. 
,,Aber  das  nimmt  Ihnen  doch  sehr  viel  Zeit  weg.  Und 
wenn  Sie  nun  früh  morgens  eine  Vorlesung  haben,  was 
machen  Sie  dann?" 

„Well,  dann  stehe  ich  eben  eine  Stunde  früher  auf," 
lachte  er  vergnügt,  „und  gehe  abends  eine  Stunde  früher 
ins  Bett.  Das  ist  sehr  gesund.  Ich  habe  immer  acht 
Stunden  guten  Schlaf,  und  wenn  die  Frau  wohlauf  ist, 
kostet  mich  mein  Anteil  an  der  Hausarbeit  kaum  mehr 
als  eine  Stunde  am  Tag.  Wir  haben  es  noch  nie  bereut, 
die  Wirtschaft  mit  den  Dienstboten  überhaupt  erst  gar 
nicht  probiert  zu  haben.  Und  dabei  brauchen  wir  noch 
nicht  einmal  auf  Geselligkeit  im  Hause  zu  verzichten. 
Wie  haben  schon  einmal  50  Ueute  eingeladen  gehabt." 

,, Nicht  möglich!    Wie  haben  Sie  denn  das  angestellt?" 

,,0,  sehr  einfach.  Wir  besitzen  Service  für  12  Per- 
sonen, also  waren  wir  12  Personen  zum  Uunch.  Natür- 
lich haben  wir  kein  Eßzimmer,  in  dem  12  Personen  bei 
Tische  sitzen  könnten,   es  mußte  sich  also  jeder  setzen, 


104  Die  Dienstbotenfrage. 


wo  er  gerade  Platz  fand.  Dann  kriegte  jeder  einen  Teller, 
eine  Serviette  und  ein  Besteck,  und  darauf  wurden  die 
Schüsseln,  eine  nach  der  anderen,  herumgereicht  —  alles 
auf  denselben  Teller.  Bei  einigem  guten  Willen  geht  es 
schon,  und  meine  Frau  kann  wirklich  kochen.  Natürlich 
hatten  wir  dabei  Hilfe,  aber  nicht  etwa  bezahlte  Mädchen, 
sondern  zwei  meiner  Studentinnen;  die  machen  das  viel 
intelligenter  und  netter.  Nach  dem  Bssen  kamen  dann 
die  übrigen  38  Personen  —  die  wurden  aber  nur  mit 
geistigen  Genüssen  traktiert.  Ich  las  ihnen  etwas  vor, 
und  eine  meiner  akademischen  Aushilfskellnerinnen  spielte, 
von  meiner  Frau  begleitet,  einige  Flötensolos.  Außerdem 
konnten  wir  sogar  noch  mit  der  berühmtesten  Schönheit 
von    Pawtucket,    Connecticut,    die    sich    gerade    auf    der 

Durchreise  befand,  aufwarten!" 

Und  so  wie  dieser  junge  Professor  halten  es  die  meisten 
vernünftigen  Amerikaner  von  ähnlicher  gesellschaftlicher 
Position  und  Vermögenslage.  Wir  waren  einmal  bei  der 
Dekanin  einer  Frauenuniversität  zu  einem  intimen  Diner 
geladen.  Während  des  Essens  stieß  mich  meine  Frau 
unter  dem  Tisch  mit  dem  Fuße  und  richtete  meine  Auf- 
merksamkeit durch  ihre  Blicke  auf  die  bedienende  Maid, 
die  in  ihrem  weißen  Kleid,  mit  dem  weißen  getollten 
Häubchen  auf  dem  üppigen  Blondhaar  allerdings  eine 
Sehenswürdigkeit  darstellte.  Wir  drückten  der  Gast- 
geberin erst  auf  Deutsch,  und  als  dies  durch  warnendes 
Räuspern  abgelehnt  wurde,  auf  Französisch,  dann  auf 
Italienisch  unsere  Bewunderung  für  dieses  nicht  nur  un- 
gewöhnlich hübsche,  sondern  auch  ungewöhnlich  intelli- 
gent aussehende  Hausmädchen  aus.  Da  aber  fing  die 
ganze  Gesellschaft  zu  kichern  an,  und  die  schöne  Blondine 
bekam  einen  roten  Kopf  und  hastete  in  größter  Ver- 
legenheit hinaus.     Und  nun  wurde  uns  anvertraut,   daß 


Demokratischer  Stolz.  105 


dieses  reizende  Servierfräulein  eine  junge  akademische 
Kollegin  von  Fräulein  Professor  sei,  nämlich  —  die  Privat- 
dozentin für  Sanskrit! 

Das  Merkwürdige  an  diesem  kleinen  Erlebnis  soll  nun 
nicht  so  sehr  der  Umstand  sein,  daß  es  in  der  neuen  Welt 
bereits  Privatdozentinnen  für  Sanskrit  gibt,  welche  oben- 
drein auch  noch  sehr  hübsch  sind,  als  vielmehr,  daß  in 
diesem  angeblich  so  freien  und  vorurteilslosen  Lande 
zwar  die  gebildeten  Menschen  keinerlei  notwendige  Arbeit 
scheuen  und  sich  in  der  liebenswürdigsten  Weise  gegen- 
seitig in  ihren  häuslichen  Schwierigkeiten  aushelfen, 
während  gerade  die  untersten,  auf  körperliche  Arbeit 
angewiesenen  Stände  die  Lohnarbeit  im  Hause  geradezu 
als  eine  Schande  anzusehen  scheinen.  Obwohl  es  in  dem 
Lande,  wo  die  Dienstboten  so  hoch  entlohnt  werden  wie 
nirgends  in  der  Welt  und  mit  zarter  Rücksicht  wie  die 
rohen  Eier  behandelt  werden  müssen,  damit  sie  nicht 
gleich  wieder  fortlaufen,  keifende  Hausdrachen  und  grob 
anschnauzende  Hausherrn  wie  bei  uns  wohl  überhaupt 
nicht  geben  dürfte,  ziehen  doch  die  Mädchen  die  un- 
angenehmste Arbeit  in  der  Fabrik,  den  anstrengenden 
Laden-  und  Bureaudienst  dem  bequemen  Schlaraffen- 
leben als  Haushaltsangestellte  vor.  Gehorchen  zu  sollen 
ist  eben  für  den  Amerikaner  die  furchtbarste  Zumutung, 
die  man  ihm  stellen  kann.  Er  dient  nur  so  lange,  wie 
er  es  absolut  nötig  hat.  Sobald  er  sich  ein  paar  Dollar 
zurückgelegt  hat,  sucht  er  sich  selbständig  zu  machen. 
Bei  dem  elenden  Dasein  eines  kleinen  Handelsmannes, 
der  auf  der  Straße  Ansichtspostkarten,  Popcorn  oder 
Kaugummi  verkauft,  fühlt  er  sich  zehnmal  stolzer  und 
zufriedener,  als  in  der  bequemsten  häuslichen  Stellung, 
in  der  er  sich  einem  fremden  Willen  unterzuordnen  hat. 
Es  kommt  noch  dazu,  daß  dem  Bürger  der  Neuen  Welt 


106  Die  Dienstbotenfrage. 


nicht  nur  jedes  Gefühl  für  die  Schönheit  und  Würde 
des  sich  Einfügens  in  ein  patriarchalisches  Abhängig- 
keitsverhältnis von  Herr  und  Knecht,  von  Meister  und 
Geselle,  sondern  auch  jeglicher  Zunftstolz  abgeht,  jeg- 
liche Liebe  zu  dem  Handwerk  etwa,  in  das  einer  hinein 
geboren  oder  für  das  einer  bei  uns  erzogen  wird.  Im 
Grunde  genommen  sind  die  Menschen  drüben  alle  Spieler 
und  Glücksritter.  Sie  ergreifen  ohne  langes  Besinnen, 
was  sich  ihnen  gerade  bietet,  und  treiben  es  nur  so  lange 
—  until  a  better  job  turns  up  — ,  bis  sich  eine  bessere  Sache 
bietet.  Jeder  junge  Mensch  drüben  fühlt  sich  einfach  zu 
allem  berufen.  Wenn  er  heute  aus  Hunger  zugreifen  und 
sich  in  den  weißen  Anzug  eines  New  Yorker  Straßen- 
kehrers stecken  lassen  müßte,  so  zweifelte  er  darum  doch 
keinen  Augenblick  daran,  daß  er  berufen  sein  könnte, 
übers  Jahr  bereits  Teilhaber  einer  Minenausbeutungs- 
gesellschaft in  Oklahama  zu  sein  und  auf  der  Höhe  seines 
Lebens  in  den  Senatspalast  von  Washington  einzuziehen. 
Es  ist  eigentlich  niemand  etwas  Gewisses  in  diesem  Lande; 
selbst  bei  meinem  Kollegen,  dem  erfolgreichen  Drama- 
tiker, bin  ich  nicht  sicher,  ob  er  nicht  übers  Jahr  Flug- 
maschinen fabriziert  oder  Truthähne  en  gros  züchtet. 
Daher  kommt  es,  daß  auf  dem  Gebiete  der  persönlichen 
Dienstleistungen  und  des  handwerklichen  Betriebs  keine 
fachmännische  Tüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit  existiert. 
In  Madison  (Wisconsin)  ließ  ich  mir  einen  zerbrochenen 
Zeiger  an  meiner  Uhr  durch  einen  neuen  ersetzen.  Als 
ich  nach  Hause  kam,  stellte  sich  heraus,  daß  der  neue 
Zeiger  sich  absolut  nicht  bewegte.  Der  angebliche  Uhr- 
macher, der  ihn  eingesetzt  hatte,  war  vermutlich  vor- 
gestern noch  Verkäufer  in  einer  geräucherten  Fisch- 
warenhandlung gewesen.  In  New  York  wollte  ich  mir 
eine  Kleinigkeit  an  einem  silbernen  Stockgriff  löten  lassen. 


Unstetigkeit  des  Handwerks.  107 

Man  schickte  mich  von  Pontius  zu  Pilatus  über  fünf 
Instanzen  hinweg;  endlich,  in  einer  Silberwarenfabrik, 
erbot  sich  der  Besitzer  nach  vielen  Bedenklichkeiten 
und  Hin-  und  Herreden  über  Wetter  und  Politik,  einen 
seiner  Arbeiter  zu  ersuchen,  die  Kleinigkeit  zu  besorgen. 
Ich  bekam  auch  wirklich  schon  nach  ein  paar  Minuten 
meinen  Stock  zurück.  Der  äußerst  geschickte  Silber- 
arbeiter hatte  das  losgelöste  Monogramm  allerdings  mit 
dem  Lötrohr  befestigt,  dabei  aber  den  oberen  Rand  des 
Stockes  zu  Kohle  verbrannt.  Und  als  ich  mit  dem  re- 
parierten Gegenstand  daheim  anlangte,  mußte  ich  die 
Entdeckung  machen,  daß  das  Monogramm  endgültig  ver- 
loren war,  nachdem  es  14  Tage  lang  doch  wenigstens 
noch  an  einem  Faden  gehangen  hatte.  Man  gibt  sich 
eben  in  diesem  grossen  Lande  nicht  gerne  mit  Kleinig- 
keiten ab.  Was  mit  der  Maschine  nicht  gemacht  werden 
kann,  das  wird  schlecht  oder  gar  nicht  gemacht,  weil 
der  Amerikaner  seine  Menschenwürde  so  überaus  hoch 
einschätzt,  daß  er  die  Handarbeit  und  gar  das  persön- 
liche Dienstverhältnis  verachtet.  Darum  strengt  er  auch 
seinen  hellen  Verstand  auf  das  äußerste  an,  um  immer 
mehr  notwendige  Verrichtungen  durch  die  Maschine  be- 
sorgen zu  lassen  und  die  unumgänglichen  Handarbeiten 
tunlichst  zu  vereinfachen.  Weil  die  Dienstboten  so  rar, 
so  teuer  und  so  überaus  bequem  sind,  lieben  sie  z.  B.  das 
Messerputzen  durchaus  nicht,  folglich  hat  man  fast  aus- 
schließlich Messer  von  Bronze  in  Gebrauch  genommen, 
mit  denen  man  zwar  nicht  schneiden  kann,  die  dafür 
aber  auch  durch  einfaches  Durchziehen  durch  heißes 
Wasser  und  Abtrocknen  zu  säubern  sind.  Da  es  nun  aber 
Messer  mit  einer  scharfen  Schneide  nicht  gibt,  so  kann 
es  selbstverständlich  auch  keinen  Braten  geben.  Das 
Roastbeef  und  das  Geflügel  macht  man  durch  Zerreißen 


108  Die  Dienstbotenfrage. 


zwischen  Gabel  und  Messer  einigermaßen  mundgerecht. 
Im  allgemeinen  aber  richtet  man  die  Speisen  lieber  gleich 
in  einer  breiförmigen  Gestalt  her,  sodaß  sie  nur  einfach  in 
den  aufgesperrten  Rachen  hineingeschaufelt  zu  werden 
brauchen;  man  spart  damit  auch  viel  kostbare  Zeit. 

Vorläufig  findet  ja  noch  ein  starker  Zustrom  von 
slawischen,  südeuropäischen  und  westasiatischen  Völker- 
schaften statt.  So  lange  diesen  noch  nicht  der  Knopf 
aufgegangen  ist,  d.  h.  so  lange  sie  sich  ihrer  Bedeutung 
als  selbstherrliche  Bürger  der  glorreichsten  Republik  der 
Welt  nicht  bewußt  sind,  geben  sie  sich  ja  noch  teils  aus 
Hunger,  teils  aus  angeborener  Knechtseligkeit  zu  Kellnern, 
Hausmädchen  und  dergl.  her.  Aber,  wie  gesagt,  immer 
nur  bis  der  bessere  „Job"  auftaucht,  dann  gesellen  sie 
sich  alsbald  der  stolzen  Klasse  der  selbständigen  Unter- 
nehmer zu.  Wenn  nun  aber  einmal  das  I^and  voll  ist, 
so  daß  es  seine  Tore  vor  den  Einwanderern  zusperren 
muß  —  wer  soll  dann  all  die  häusliche  und  sonstige, 
niemals  völlig  aus  der  Welt  zu  schaffende  Handarbeit 
verrichten  ?  Ich  legte  diese  kniffliche  Frage  auch  meinem 
hochverehrten  Gastfreunde  in  Ithaka,  Andrew  D.  White, 
dem  früheren  Botschafter  in  Berlin,  vor.  Kr  wiegte  be- 
denklich seinen  schönen  weißen  Gelehrtenkopf,  und  dann 
gab  er  mir  verschmitzt  lächelnd  zur  Antwort:  ,,Ja,  sehen 
Sie,  wir  Amerikaner  sind  eben  Optimisten.  Wir  sagen: 
es  ist  noch  immer  gegangen,  und  dies  wird  auch  gehen, 
so  oder  so.  Warum  sollen  wir  uns  die  Köpfe  unserer 
Enkel  zerbrechen?" 

Hm!  allerdings  —  man  hat  schon  Bronzemesser  ein- 
geführt und  auf  Braten  verzichtet;  man  kann  sich  ja  das 
Bett,  das  man  jetzt  schon  allgemein  abends  selber  auf- 
decken muß,  auch  morgens  selber  machen;  man  kann 
auch  seine  Frau  hinten  zuknöpfen,  ohne  an  seiner  Mannes- 


Schwierige  Frage  an  die  Zukunft.  109 

ehre  Schaden  zu  leiden,  aber  man  kann  schließlich  doch 
nicht  auf  Wohnen,  Schlafen,  Essen,  Kinderkriegen  und 
Sterben  im  eignen  Heim  gänzlich  und  unter  allen  Un- 
ständen  verzichten.  Und  alle  diese  Notwendigkeiten 
setzen  doch  wenigstens  unter  gewissen  Verhältnissen  die 
Hilfe  von  beuten  voraus,  die  nicht  gerade  akademische 
Bildung  oder  ein  Scheckkonto  auf  der  Bank  zu  besitzen 
brauchen.  Wo  sollen  die  herkommen,  wenn  alle  Ameri- 
kaner erst  einmal  selbständige  Unternehmer  geworden 
sind? 

Ich  muß  gestehen,  mein  beschränktes  Europäergehirn 
ist,  so  oft  es  über  diese  Frage  nachgedacht  hat,  schließ- 
lich immer  wieder  zu  demselben  Schluß  gekommen: 
Die  selbstlosen  Idealisten  der  Vereinigten 
Staaten  haben  die  Sklaverei  mindestens 
ioo  Jahre  zu  früh  aufgehoben! 


LIIIIIIIIIIIIIIIIIIII-» 


im  iiiiiiniiiniiiiiiiiiiii  im  min  nulluni  iiiniiiiiiiiiiiiin 

Die  Kochkunst  der  Tankees. 


WAa  ich  mich  in  meinem  vorigen  Kapitel  mit  Köchinnen 
j&  beschäftigt  habe,  dürfte  es  angebracht  sein,  im  An- 
schluß ein  wenig  in  die  amerikanische  Küche  hinein- 
zuleuchten. Nach  dem  unzweifelhaften  Wahrwort,  daß 
der  Weg  zum  Herzen  des  Mannes  durch  den  Magen  führe, 
dürfte  es  noch  sehr  lange  dauern,  bevor  Dame  Dollarica 
sich  in  der  kulinarisch  gebildeten  Männerwelt  einer  auch 
nur  annähernd  ähnlichen  Beliebtheit  erfreut  wie  Madame 
Marianne  oder  die  Commare  Italia  oder  die  nahrhafte 
Tante  Austria.  In  Dingen  des  guten  Geschmacks  tut  es 
eben  der  Reichtum  allein  nicht,  sondern  die  große  Ver- 
gangenheit einer  aristokratischen  Kultur,  und  inner- 
halb dreier  lumpiger  Jahrhunderte  entwickelt  sich  keine 
neue  Rasse  von  Fressern  zu  Speisern.  Wie  lange  ist  es  denn 
überhaupt  her,  daß  sich  die  Besiedler  der  neuen  Welt  des 
Segens  sicherer  behaglicher  Häuslichkeit  erfreuen?  Viele 
der  jetzt  üppig  blühenden  Großstädte  sind  ja  erst  ein 
paar  Jahrzehnte  und  nur  ganz  wenige  über  ein  Jahr- 
hundert alt.  Der  wüsten  Raubbau  treibende  angel- 
sächsische Kolonist,  der  meist  unbeweibt  in  selbstge- 
zimmertem Blockhause  hauste,  briet  sich  über  dem  offenen 
Feuer  am  Spieß  seinen  Fetzen  Fleisch  und  manschte  sich 
aus  den  ihm  zugewachsenen  Zerealien  irgend  etwas  zurecht, 
was  einer  genießbaren  Speise  vielleicht  entfernt  ähnlich 
sah.  Als  dann  im  18.  und  19.  Jahrhundert  die  weibliche 
Zuwanderung  sich  hob,  fanden  die  mit  der  Kochkunst 
einigermaßen  vertrauen  Frauen  —  unter  den  Britinnen 
sind  sie  nicht  besonders  häufig  —  eine  Männerwelt  vor, 


Süß  muß  es  sein ! 


die  einfach  mit  allem  zufrieden  war,  was  ihr  vorgesetzt 
wurde.  Erst  in  neuester  Zeit,  als  die  Vereinigten  Staaten 
willige  und  splendid  zahlende  Abnehmer  für  alle  L^uxus- 
produkte  der  alten  Welt  wurden,  begannen  auch  bewährte 
Meister  der  Kochkunst  über  den  Ozean  zu  ziehen;  aber 
die  traten  selbstverständlich  nur  in  den  Dienst  der  vor- 
nehmsten Hotels,  der  teuersten  Restaurants  und  der 
Milliardäre  ein  und  konnten  folglich  nicht  für  die  breite 
Masse  des  mäßig  begüterten  Bürgertums  erziehlich  wirken. 
Die  amerikanischen  Esser  sind  die  dankbarsten  der  Welt, 
weil  ihnen  im  Vergleich  zu  ihrer  barbarischen  Küche 
natürlich  die  Speisekarte  der  Kulturvölker  lauter  über- 
raschende Offenbarungen  bietet. 

Die  unkultivierte  Kindlichkeit  des  Geschmacks  offen- 
bart sich  denn  auch  in  Amerika  nirgends  deutlicher  als 
auf  dem  Gebiete  der  Küche.  Das  Haupterfordernis  der 
Eßbarkeit  ist  für  den  Yankee  die  Süße.  Alles,  was  süß 
ist,  schmeckt  ihm  ausgezeichnet.  Bezeichnenderweise  ist 
es  mir  trotz  größter  Mühe  nicht  gelungen,  irgendwo  in 
den  Vereinigten  Staaten  ein  Mundwasser  aufzutreiben, 
das  nicht  schauderhaft  verzuckert  gewesen  wäre.  So  ist 
Süßigkeit  das  erste,  was  der  Yankee,  sobald  er  sich  dem 
Schlaf  entwunden,  in  den  Mund  bekommt.  Seinem  ersten 
Frühstück  geht  der  Genuß  von  Früchten:  Orangen, 
Grapefruit  oder  Melonen  voran,  die  unter  einem  Berge 
von  Streuzucker  mit  dem  I^öffel  hervorgegraben  werden. 
(Nebenbei  gesagt:  das  Fruchtessen  vor  dem  Frühstück 
ist  die  einzige  nationale  Speisesitte ,  die  ich  Europäern 
zur  Nachahmung  empfehlen  möchte.  Die  wundervoll 
saftige  Grapefruit  mit  ihrem  Chiningehalt  besonders  ist 
höchst  erfrischend  und  bekömmlich.)  In  einem  üppigeren 
Haushalt  ist  schon  der  Frühstückstisch  reicher  gedeckt 
als   bei   uns   manche   Mittagstafel.     Beefsteak,    Hammel- 


112  Die  Kochkunst  der  Yankes. 

kotelette,  Fischgerichte,  kalter  Aufschnitt  verschiedenster 
Art  werden  von  den  Männern  bevorzugt,  während  die 
Frauen  und  Kinder  eine  große  Auswahl  der  zum  Teil 
wunderlichsten  Bier-  und  Mehlspeisen  zur  Verfügung 
haben.  Weizen,  Korn,  Gerste,  Mais,  Hirse,  Buchweizen, 
Hafer,  Reis,  kurz:  alle  erdenklichen  Getreidearten  er- 
scheinen in  der  Form  von  Grütze,  Graupen,  Flocken, 
Fäden  oder  papierdünnen  Schnipfeln,  roh,  gekocht  oder 
geröstet  und  werden  größtenteils  mit  Rahm  und  sehr 
viel  Zucker  angerührt.  Dünne  Eierkuchen  werden  mit 
übersüßen  Fruchtsäften  übergössen,  und  der  Toast  sowie 
die  meist  gleichfalls  süßen  Semmeln  mit  Fruchtgelees 
und  Marmeladen  bestrichen.  Diese  Vorliebe  für  den 
Genuß  von  Süßigkeiten  von  Tagesanbruch  ab  ist  aber 
durchaus  nicht  etwa  auf  die  Frauen  und  Kinder  oder  auf 
die  wohlhabenden  Klassen  beschränkt,  sondern  sie  ist 
ganz  offenbar  eine  nationale  Raserei. 

Es  gibt  in  den  Vereinigten  Staaten  keine  Cafes  im 
Wienerischen  Sinne.  Als  ich  daher  einmal  auf  dem  Broad- 
way ein  Wirtshausschild  mit  der  Aufschrift  „Coffeehouse" 
erblickte,  stürmte  ich  begeistert  in  das  Iyokal.  Es  war 
eine  große  reinliche  Halle,  die  Diele  mit  Sand  bestreut, 
ohne  Tische  und  Stühle,  nur  den  Wänden  entlang  zogen 
sich  Holzbänke,  die  durch  Zwischenwände  in  einzelne 
Sitze  eingeteilt  waren,  und  auf  diesen  trennenden  Seiten- 
wänden waren  genügend  breite,  rund  geschnittene  Bretter 
angebracht,  um  eine  Tasse  und  einen  Teller  darauf- 
stellen zu  können.  Am  Kopfende  der  Halle  befand 
sich  ein  riesiges  Büffet,  auf  dem  die  herrlichsten 
Kuchen  und  Torten  aufgebaut  waren,  sowie  zwei  blitz- 
blanke vernickelte  Samovars  für  Tee  und  Kaffee. 
Das  Publikum  dieses  eigenartigen  Kaffeehauses  bestand 
aber  ausschließlich  aus  Droschkenkutschern,  Chauffeuren, 


Icecream  und  Zahnarzt.  113 


Messenger  Boys,  Policemen  und  Arbeitern.  Keine  Frau 
betrat  das  L,okal.  Kaffee  gab  es  reichlich  und  anständig, 
und  den  ganz  vorzüglichen  und  für  New- Yorker  Ver- 
hältnisse sehr  billigen  Schaum-  und  Fruchttorten,  Apfel- 
kuchen mit  Schlagrahm  und  Minced  Pie  sprach  dieses 
robuste  Mannsvolk  mit  dem  Behagen  schleckermäuliger 
Schuljungens  zu. 

Die  eigentliche  Nationalspeise  ist  keineswegs  das 
Roastbeef  oder  der  hochfestliche  Turkey  (Puter),  sondern 
der  Icecream,  das  Gefrorene.  Icecream  wird  Winters 
und  Sommers  von  mittags  bis  Mitternacht  verzehrt 
von  Alt  und  Jung,  von  Hoch  und  Niedrig;  Icecream 
besänftigt  die  ungebärdigen  Säuglinge;  Icecream  gilt 
als  Vorspeise,  als  Dessert,  als  Kompott  sogar ;  er  kehrt  bei 
großen  Diners  mehrmals  im  L,aufe  der  Speisenfolge  als 
Zwischenaktsmusik  wieder,  er  ersetzt  den  verpönten 
Alkohol  und  bewirkt,  daß  die  Amerikaner  sich  der  besten 
Zahnärzte  der  Welt  erfreuen  —  denn  das  schroffe  Durch- 
setzen siedheißer  Suppen  und  glühender  Breie  mit  Kis- 
wasser  und  Icecream  können  selbst  die  besten  Gebisse 
nicht  vertragen.  Der  Schmelz  springt  ab,  und  die  vom 
ewigen  Zuckerschleimstrom  umspülten,  schutzlosen  Zähne 
sind  der  Karies  rettungslos  preisgegeben.  Infolgedessen 
hat  jedermann  fortwährend  den  Zahnarzt  nötig,  und  man 
braucht  sich  nicht  zu  wundern,  Kanalausräumer  und 
schmierige  Nigger  mit  so  viel  Gold  im  Munde  zu  sehen 
wie  die  köstlichste  Maimorgenstunde. 

Ich  habe  bereits  im  vorigen  Kapitel  darauf  hin- 
gewiesen, wie  durch  den  Mangel  an  Dienstpersonal  die 
Küche  und  die  Tafelgewohnheiten  beeinflußt  werden. 
Ich  bemerkte,  daß  durch  den  Mangel  an  scharfen 
Messern  mit  schwer  zu  putzenden  Stahlklingen  ein  Braten 
zu  einer  schwer  zu  bewältigenden  Speise  geworden  sei. 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  8 


114  Die  Kochkunst  der  Yankees. 

Folglich  kommen  gekochtes  Rindfleisch,  Schmorbraten, 
Sauerbraten,  Kalbs-  und  Hammelsrücken  oder  Schlegel 
so  gut  wie  gar  nicht  auf  den  Tisch.  Das  nationale  angel- 
sächsische blutrünstige  Roastbeef,  drüben  jedoch  nicht 
so,  sondern  Prime  rib  of  Beef  genannt,  muß  man  von 
der  Gabel  mittels  des  stumpfen  Bronzemessers  abzu- 
stemmen versuchen,  wenn  man  nicht  vorzieht,  den  ganzen 
Fladen  in  den  Mund  zu  nehmen  und  mittels  der  Gabel 
oder  der  Finger  durch  die  Zähne  zu  ziehen.  Übrigens 
sind  diese  Ochsenrippenstücke  neben  den  sehr  üppigen 
und  teuren  Rinds-  und  Hammelsteaks  das  einzige  ge- 
bratene Fleisch,  welches  wirklich  schmackhaft  zubereitet 
zu  sein  pflegt,  während  Kalbskoteletten  und  Schnitzel 
meistens  ungenießbar  sind.  Als  niedliches  Kuriosum 
möchte  ich  erwähnen,  daß  ich  einmal  bei  einem  Sonntags- 
diner Honig  als  Kompott  zum  Roastbeef  angeboten  bekam ! 
Geflügel  wird  sehr  viel  mehr  als  bei  uns  gegessen.  Es  wird 
zu  unwahrscheinlichen  Dimensionen  herangezüchtet.  Ich 
habe  Hennen  gesehen,  die  so  hoch  waren  wie  ein  Storch 
und  so  fett  wie  ein  Mops;  aber  das  Fleisch  dieser  abnorm 
großen  Tiere  ist  dafür  auch  wenig  zart,  und  die  Keulen 
besonders  bekommen  einen  ganz  anderen  Charakter  als 
das  Brustfleisch;  es  wird  beim  Braten  braun  und  mürbe, 
während  das  weiße  Fleisch  trocken  und  charakterlos 
bleibt.  Meistens  wird  einem  aber  der  Genuß  selbst  eines 
wohlgeratenen  jungen  Hahns  durch  eine  pappige,  süß- 
liche Mehltunke  verkümmert.  Da  das  Tellerabwaschen 
die  Geduld  des  feinnervigen  Küchenpersonals  auf  eine  zu 
harte  Probe  stellen  würde,  so  muß  man  sich,  wenigstens 
in  Haushaltungen  bescheideren  Stils,  die  ganze  Mittags- 
oder Abendmahlzeit  einschließlich  des  Kompotts  auf  ein 
und  denselben  Teller  packen.  In  dem  Boardinghouse 
bester  Art,  in  dem  wir  in  New- York  wochenlang  lebten, 


Tafellreuden  im  Pensionat.  115 

bestand  die  sonderbare  Sitte,  daß  nach  der  Suppe  warme 
Teller  mit  einem  Kleckschen  Fisch,  etwa  von  Daumen- 
dicke und  -länge,  verabfolgt  wurden,  selbstverständlich 
in  einer  seimig-süßen  Sauce  versteckt.  (Übrigens  sind  die 
Fische  des  Atlantischen  Ozeans  auf  der  amerikanischen 
Seite  wenig  schmackhaft;  wirkliche  Delikatessen  findet 
man  nur  unter  den  Fluß-  und  Süßseefischen.)  Nachdem  der 
Fischbissen  verschluckt,  beziehungsweise  mißtrauisch  auf 
den  hohen  Rand  geschoben  war,  wurde  der  ganze  Tisch  voll 
kleiner  Platten  gestellt:  verschiedene  Fleischsorten  ver- 
wischten Charakters,  unseren  Klopsen,  falschen  Hasen,  Bou- 
letten,  Rouladen  und  dergleichen  ähnlich,  in  irgendeiner 
mehlweißen  oder  kapuzinerbraunen  Schmiere  halb  ver- 
sunken, das  unvermeidliche  Chicken,  dazu  verschiedene  Ge- 
müse, unter  denen  grüne  Erbsen,  L,ima- Bohnen  und  Blumen- 
kohl die  genießbarsten,  sowie  Kartoffeln  in  mehrerlei 
Aufmachung,  in  der  Schale  im  ganzen  gebacken  —  man 
bricht  sie  auf  und  schält  sie  mit  dem  Teelöffel  heraus; 
recht  empfehlenswert  —  oder  als  Brei,  oder  kloßartig, 
oder  gebraten.  Niemals  fehlen  auf  dem  Tische  die  be- 
liebten Sweet  Potatoes,  Gebilde  von  Gurkenausdehnung, 
vor  denen  ich  Fremdlinge  eindringlichst  warnen  möchte, 
denn  sie  sehen  wie  gezuckerte  Glyzerinseife  aus  und 
schmecken  leider  auch  so  ähnlich. 

All  diese  Genußmittel,  noch  um  diverse  eingekochte 
Früchte  vermehrt,  arrangiert  man  sich  nun  nach  Ge- 
schmack und  Talent  auf  seinem  Fischteller,  und  man  kann 
von  Glück  sagen,  wenn  einem  die  Gräten  nicht  in  die 
grünen  Erbsen,  das  Kompott  nicht  in  die  ausgehöhlte 
Kartoffelpelle  und  die  Hühnerknochen  nicht  in  den  falschen 
Hasen  geraten.  Echte  Hasen  gibt  es  überhaupt  nicht. 
Der  Ersatz  dafür,  und  überhaupt  das  einzige  einheimische 
Wild,   ist   das   hasenfarbige   Rabbit  (Kaninchen),    das  die 


116  Die  Kochkunst  der  Yankees. 

Natur  da  drüben  aus  Kautschuk  verfertigt  zu  haben 
scheint  —  möglicherweise  wird  es  aber  auch  aus  Abfällen 
der  Schuhfabrikation  künstlich  hergestellt.  Alles  übrige 
Wild  haben  die  begeisterten  Freischützen  in  den  kulti- 
vierteren Staaten  schon  längst  abgeschossen  —  bis  auf 
die  Ratten  und  die  Klapperschlangen.  Hat  man  die 
eßbaren  Bestandteile  der  wüsten  Speisenaufhäufung  auf 
seinem  Universalteller  herausgefuttert,  so  bilden  die  Über- 
bleibsel ein  ästhetisch  reizvolles  Stilleben.  Sind  sie  end- 
lich entfernt,  so  erscheint  als  eiserner  Bestand  jedes  ameri- 
kanischen Menüs  sowohl  im  Hotel  ersten  Ranges,  wie  auf 
dem  einfachsten  bürgerlichen  Mittagstisch  der  Salat,  der 
niemals  in  einer  Schüssel  herumgereicht,  sondern  immer 
fertig  auf  winzigen  flachen  Tellerchen  einem  vorgesetzt 
wird.  Mich  wundert,  daß  noch  kein  Yankeedichter  diesen 
Salat  besungen  hat,  denn  in  ihm  feiert  die  Phantasie  des 
amerikanischen  Kochkünstlers  orgiastische  Triumphe. 

Ich  glaube,  es  gibt  in  den  drei  Naturreichen  nichts, 
was  nicht  in  solch  einem  amerikanischen  Salat  zu  finden 
wäre.  Den  Grundstock  bilden  ein  bis  drei  große  grüne 
Blätter,  die  nicht  unbedingt  der  Salatstaude  zu  ent- 
stammen brauchen.  Darauf  werden  einige  Tropfen  Essig 
und  Öl  geschüttet  und  auf  dieser  Unterlage  ein  mehr  oder 
minder  kühner  Aufbau  von  allem  möglichen  und  unmög- 
lichen Süßem,  Sauerem,  Salzigem,  Bitterem,  Hartem, 
Weichem,  Flüssigem,  Genießbarem  und  Ungenießbarem 
vollzogen.  In  einem  feinen  Hause,  in  dem  sich  die  Haus- 
frau selbst  auf  ihre  Kochkunst  viel  zugute  tat,  wurde 
beispielsweise  eine  solche  Salatdichtung  mit  außerordent- 
lichem Beifall  beehrt,  deren  Komposition  ich  dem  Augen- 
schein und  der  Zunge  nach  ungefähr  folgendermaßen 
analysieren  möchte:  zwei  Blätter  Salat  mit  je  fünf  Tropfen 
Essig  und  Öl,  darauf  eine  Scheibe  frische  Tomate,  eine 


Amerikanischer  Salat.  [17 


viertel  Scheibe  Ananas,  etwas  weißes  Hühnerfleisch, 
einige  Scheiben  Radieschen,  einige  gepickelte  Brbsen  und 
Karotten,  ein  Klecks  Butter,  mit  Streuzucker  durch- 
gerührt, ein  Teelöffel  Schokoladencream  und  eine  Rum- 
kirsche als  Turmknopf  oben  drauf.  Totaleindruck  auf 
Zunge  und  Gaumen  zauberhaft;  schmeckt  —  wie  mein 
Freund,  der  Rechtsanwalt  in  Landau,  sagen  würde  — 
wie  Öl  und  Werg !  Diese  kulinarische  Offenbarung  erfolgte 
aber,  wie  gesagt,  in  einem  Hause,  dessen  Herrin  ihren 
Xenophon  in  der  Ursprache  zu  lesen  vermochte.  In  minder 
gebildeten  Familien  ist  man  natürlich  weniger  wählerisch 
und  verwendet  zur  Salatbereitung  die  nächstliegenden 
Gegenstände,  also  in  erster  Reihe  die  mehr  oder  minder 
traurigen  Überreste  früherer  Mahlzeiten,  soweit  sie  eß- 
baren Naturprodukten  einigermaßen  noch  ähnlich  sehen. 
Fehlt  es  aber  zum  Beispiel  an  gepickelten  Spargelspitzen, 
so  kann  man  dazu  auch  einen  klein  geschnittenen  Spazier- 
stock verwenden,  da  die  Spazierstöcke  drüben  außer 
Mode  gekommen  sind,  und  statt  der  Fleischbeigaben  die 
Reste  in  Gedanken  stehen  gebliebener  Gummigaloschen, 
die  die  Trüffel  täuschend  ersetzen,  zumal,  wenn  sie  vorher 
in  sauren  Rahm  eingelegt  und  dann  mit  braunem  Zucker 
kandiert  werden.  Salat  von  Fischgräten,  Kalmus  und 
Bananen,  mit  roten  Pfefferschoten  und  Knallerbsen  garniert, 
soll  auch  sehr  gut  sein;  ich  habe  ihn  aber  nicht  gegessen, 
sondern  nur  nach  einer  besonders  anregenden  Mahlzeit  — 
erträumt ! 

Den  Fruchttorten,  die  man  an  Stelle  der  Mehlspeisen 
zum  Nachtisch  reicht,  wird  regelmäßig  ein  derbes  Stück 
Käse  beigefügt;  zu  welchem  Zwecke,  weiß  ich  nicht.  Als 
ich  zum  erstenmal  diese  Zusammenstellung  erblickte, 
steckte  ich  den  Käse  instinktiv  in  die  Westentasche ;  ich 
hielt  ihn  für  ein  Stück  Radiergummi,   den  ich  in  meinem 


118  Die  Kochkunst  der  Yankees. 

Geschäft  immer  brauchen  kann.  Befindet  sich  Obst  auf  dem 
Tische,  so  nehme  man  sich  davon  beizeiten  und  reichlich, 
fülle  auch  womöglich  seinen  Pompadour  damit  an,  denn 
alles  Obst  ist  in  Amerika  von  ganz  vorzüglicher  Qualität  — 
und  man  weiß  j  a  nie,  wie's  kommen  mag !  Was  meine  Person 
betrifft,  so  muß  ich  gestehen,  daß  ich  mich  während  der 
ganzen  Boardinghouse-Periode  kümmerlich  vonAustern  und 
Hummern  genährt  habe,  denn  die  sind  von  unvergleichlicher 
Güte,  Größe  und  Nahrhaftigkeit  und  nebenbei  auch  das 
einzige  amerikanische  Produkt,  das  man  —  neben  Stiefeln  — 
als  billig  bezeichnen  kann.  Europäer  von  noch  nicht  ge- 
nügend fortgeschrittener  Perversität  möchte  ich  jedoch  vor 
den  Clams  warnen,  einer  kleinen,  lachsfarbenen  Muschel- 
art, deren  penetranter  Nachgeschmack  einen  besseren  Neu- 
urastheniker  zum  Selbstmord  verführen  .könnte. 

Die  raffinierten  Schlemmer  unter  den  Yankees  sind 
übrigens  sehr  selten,  und  ihre  Begierde  wandelt  andere 
Pfade  wie  die  des  europäischen  Genießers.  Im  vor- 
nehmsten Hotel  in  Buffalo  „Zum  Irokesen"  sollte  ich 
zum  erstenmal  die  Bestimmung  eines  geheimnisvollen 
Utensils  kennen  lernen,  das  mir  schon  in  vielen  Hotels 
und  Restaurants  aufgefallen  war:  ein  massives,  etwa 
einen  halben  Meter  hohes,  zylindrisches  Silbergerät  mit 
einer  oben  herausragenden,  durch  einen  derben  Quer- 
balken betätigten  Schraube.  Ein  einsamer  Speiser  ließ 
sich  an  einem  Nebentisch  nieder,  dessen  Bestellung  so- 
gleich eine  Menge  Kellner  in  aufgeregte  Bewegung  ver- 
setzte. Offenbar  war  dieser  wuchtige  Geselle  mit  dem 
römischen  Imperatorenkopf  ein  Genießer  höherer  Grade. 
Nach  längerer  Zeit  brachte  man  eine  große  verdeckte 
silberne  Schüssel,  die  auf  ein  Spiritusrechaud  gestellt 
wurde.  Zwei  Kellner  trugen  dann  jenen  rätselhaften 
schweren  Silbergegenstand  herbei  und  schraubten  dessen 


Billige  Speisehäuser.  119 


obere  Hälfte  ab.  Darauf  hob  der  Oberkellner  mit  feier- 
licher Miene  den  Deckel  der  Silberschüssel  auf  und  spießte 
von  den  beiden  darunter  befindlichen,  leicht  angebratenen 
Vögeln  (Enten  waren  es  meiner  Meinung  nach)  einen  auf 
und  pfropfte  ihn  mit  Mühe  in  jenen  Zylinder  hinein, 
worauf  das  Oberteil  wieder  aufgesetzt  und  nunmehr  die 
Schraube  mit  Anstrengung  beider  Hände  betätigt 
wurde.  Aus  einer  Ausflußöffnung  am  Boden  des  Gefäßes 
rann  dickes,  schwärzliches  Blut  in  eine  vorgehaltene 
Schale.  Dieses  Blut  wurde  mit  allerlei  Gewürzen  ange- 
rührt und  schließlich  als  Sauce  über  den  anderen  halb 
rohen  Vogel  gegossen.  Dieses  kannibalische  Gericht  ver- 
zehrte der  Einsame  mit  dem  Gleichmut  eines  Iyukull. 
Ich  erinnere  mich  nicht,  ob  er  Tee  dazu  getrunken  hat. 
Zu  verwundern  wäre  es  weiter  nicht  gewesen,  da  der 
Yankee  auch  die  opulentesten  Mahlzeiten  mit  Eiswasser, 
Tee  oder  Kaffee  hinunter  zu  spülen  pflegt. 

Der  Fremde,  dessen  Mittel  nicht  ausreichen,  in  erst- 
klassigen Hotels  und  Restaurants  zu  speisen,  und  der 
sich  mit  der  Yankeeküche  gewöhnlichen  Schlages  nicht 
zu  befreunden  vermag,  fährt  am  besten,  wenn  er  sich  in 
eines  der  zahlreichen,  meist  billigen  und  einfach  ge- 
haltenen Speisehäuser  begibt,  die  seine  heimische  Küche 
pflegen.  Man  kann  in  dem  teuren  New  York,  und  wohl 
auch  in  den  meisten  der  ganz  großen  Städte,  französisch, 
deutsch,  italienisch,  griechisch,  polnisch,  ungarisch,  chine- 
sisch und  koscher  essen.  Namentlich  an  guten,  sehr  billigen 
italienischen  fokalen,  in  denen  es  noch  einen  trinkbaren 
Wein  gratis  gibt,  ist  in  New  York  wenigstens  kein 
Mangel.  Dagegen  habe  ich  wienerische  Speiserestaurants 
ebenso  schmerzlich  wie  Wiener  Cafes  vermißt.  Ich  meine, 
hier  wäre  noch  eine  Kulturmission  für  die  Einwanderer 
der   österreichischen  Kronländer   zu   erfüllen.     Wenn  ich 


120  Die  Kochkunst  der  Yankees. 

drüben  irgendwo  ein  Stück  Rindfleisch  mit  Beilage,  wie 
bei  Meisl  &  Schaden,  vorgesetzt  bekommen  hätte,  ich 
hätte  es  knieend  verzehrt  und  hernach  stehend  die  öster- 
reichische Nationalhymne  gesungen.  Und  die  Einführung 
des  Berliner  Systems  Kempinski,  nämlich  eine  große  Aus- 
wahl von  Gerichten  in  tadelloser  Qualität  zu  einem  sehr 
billigen  Einheitspreis  zu  geben,  könnte  eine  Revolution  des 
Ernährungswesens  drüben  hervorbringen.  Bis  dahin  muß 
der  deutsche  andachtsvolle  Genießer  mit  heißer  Liebe 
seine  wohlhabenden  L,andsleute  umbuhlen,  denn  es  sind 
drüben  fast  allein  die  Deutschen,  die  den  Schwerpunkt 
ihres  gesellschaftlichen  Ehrgeizes  auf  eine  gute  Tafel  im 
heimatlichen  Stil  verlegen. 

Beim  richtigen  Yankee  scheinen  es  übrigens  nicht  die 
Geschmackswarzen  zu  sein,  welche  ihm  den  Genuß  beim 
Essen  vermitteln,  sondern  vielmehr  die  Kinnbacken  und 
die  Speicheldrüsen.  Das  Kauen  und  das  Schlucken  an 
sich  macht  diese  einfachen  Naturkinder  glücklich.  Wer 
zum  erstenmal  nach  den  Vereinigten  Staaten  kommt, 
kann  sich  nicht  genug  darüber  wundern,  hier  einem  Volke 
von  Wiederkäuern  zu  begegnen.  In  der  Straßenbahn,  in 
den  Geschäften,  in  den  Vergnügungslokalen  wie  auf  der 
Straße  sind  die  Kauwerkzeuge  dieser  seltsamen  Nation 
in  unausgesetzter  Bewegung,  und  ein  Widerschein  von 
Zufriedenheit  überstrahlt  von  dieser  Kinnbackenbetätigung 
aus  die  Gesichter.  Junge  hübsche  Ladnerinnen  kauen, 
wenn  sie  mittags  zum  Lunch  gehen  und  wenn  sie  vom 
Lunch  ins  Geschäft  zurückkehren.  Die  Soldaten  kauen 
beim  Exerzieren;  sie  würden  sicher  auch  kauend  ihre 
Schlachten  schlagen.  Der  gesetzte  junge  Mann  mit  ernsten 
Absichten  kaut,  wenn  er  seine  Liebeserklärung  macht, 
und  seine  Erwählte  erwidert  errötend:  ,,Mum  mum  mum 
—  tschap   tschap,   sprechen   Sie   mit  Mama."    Und   der 


Das  Volk  der  Kauer.  121 


gewaltige,  125  Kilo  schwere  Schutzmann  rennt  kauend 
dem  Dieb  nach  und  packt  ihn  beim  Kragen  mit  dem 
Ausruf:  ,,Dscham  dscham  —  ich  verhafte  Sie  —  mum 
mum  —  im  Namen  des  Gesetzes!"  Bin  Stückchen  ge- 
zuckerter Gummi  (Chewing  GumJ  zwischen  die  Backzähne 
geschoben,  beglückt  alle  diese  I^eute  wie  den  Seemann 
sein  Priemchen  und  wiegt  sie  in  die  freundliche  Täuschung 
ein,  in  der  besten  aller  Welten  zu  leben.  Wäre  Cartesius 
als  Yankee  zur  Welt  gekommen,  er  hätte  sicher  sein  be- 
rühmtes „cogito  ergo  sum"  abgewandelt  in:  „Ich  kaue, 
folglich  bin  ich." 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinminj 


niiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin 


Künstlerische  Kultur. 


Mit  Ausnahme  einer  kleinen  Schar  hochkultivierter 
r  Geister  hat  das  neue  Volk  in  der  Neuen  Welt,  wie  es 
scheint,  noch  keine  Zeit  gehabt,  seinen  Schönheitssinn 
zu  entwickeln.  Was  durch  seine  Dimensionen,  seine  Masse 
imponiert,  was  viel  gekostet  hat,  das  muß  nach  den  Be- 
griffen des  Durchschnittsamerikaners  auch  schön  sein. 
Es  ist  mir  als  höchst  bezeichnend  aufgefallen,  daß 
selbst  hochgebildete  Leute  enttäuschte  Gesichter  machen, 
wenn  der  Fremde,  der  zum  erstenmal  durch  New  York 
geführt  wird,  sich  weder  durch  die  berühmten  Wolken- 
kratzer, noch  durch  die  Verschwendung  herrlichen  echten 
Materials  an  öffentlichen  Prachtbauten,  noch  etwa  durch 
die  glänzende  elektrische  Lichtreklame  für  ästhetisch 
besiegt  erklärt.  Allerdings  vermögen  diese  himmelhohen 
Kasten  mit  den  unzähligen  Fensterlöchern  unter  Um- 
ständen schön  zu  wirken.  Wenn  man  zum  Beispiel  vom 
Hafen  her  ihre  gigantische  Silhouette  aus  der  Dämmerung 
oder  aus  leichtem  Nebel  aufsteigen  sieht,  so  können  sie 
einen  traumhaft  phantastischen  Reiz  entwickeln,  der 
einen  Maler  toll  und  einen  Dichter  selig  zu  machen  ver- 
mag. Kinige  von  diesen  Ungeheuern,  wie  vornehmlich 
das  Gebäude  der  Manhattan-Iyebensversicherungsgesell- 
schaft,  sind  auch  an  sich  hervorragende  Kunstwerke, 
und  kein  Mensch  von  Geschmack  wird  die  ideale  Schönheit 
der  neuen  Staatsbibliothek  in  weißem  Marmor  oder  die 
Genialität  des  neuen  Empfangsgebäudes  der  Pennsyl- 
vaniabahn bestreiten.  Auch  die  lustigen  Spielereien  der 
beweglichen  Lichtreklamen  sind  nicht  nur  als  mechanische 


Planloses  Durcheinander.  123 

Kunststücke,  sondern  auch  als  witzige  Erfindungen  und 
farbiger  Augenschmaus  höchst  amüsant.  Aber  all  diese 
Schönheit,  Größe  und  künstlerisch  idealisierte  Zweck- 
mäßigkeit ist  nicht  einem  vorbedachten  Plan  organisch 
eingeordnet,  sondern  wie  aus  des  Zufalls  Hand  zwischen 
lauter  Banalität  und  entschiedene  Garstigkeit  hinge- 
streut. Die  Umgebung  ist  es,  die  in  weitaus  den  meisten 
Fällen  die  Wirkung  der  Schönheit  des  einzelnen  zerstört. 
Selbst  in  New  York,  das  doch  von  vornherein  nach  einem 
durch  die  geographische  L,age  bedingten  überaus  vernünf- 
tigen und  klaren  Plane  angeordnet  wurde,  und  immerhin 
der  puritanischen  Schönheitsfeindlichkeit  der  Neuengland- 
staaten weniger  unterworfen  war,  scheint  doch  der  künst- 
lerische Instinkt  gefehlt  zu  haben.  Paläste  stehen  neben 
öden  Magazinen,  neben  Wolkenkratzern  halbverfallene 
niedrige  Baracken;  entzückende,  grünbewachsene  gotische 
Kirchen  findet  man  eingeklemmt  zwischen  Metzger-  und 
Grünkramläden,  öffentliche  Gebäude  von  edlen  Pro- 
portionen und  mit  prächtigen  Fassaden  neben  wüsten 
Kasten  für  Bureau-  und  Werkstattzwecke,  an  deren 
Straßenfronten  scheußliche  rotgestrichene  Feuertreppen 
im  Zickzack  hin  und  her  laufen. 

Selbst  in  der  Fünften  Avenue,  der  Straße  der  prunk- 
vollsten Iyäden  und  der  Residenz  der  Milliardäre,  finden 
sich  noch  genug  solcher  barbarischen  Scheußlichkeiten 
unter  der  nagelneuen  Pracht  verstreut.  Und  die  Neben- 
straßen, wo  die  kleinen  Einfamilienhäuser  stehen,  zeigen 
selbst  in  den  besseren  Gegenden  ein  höchst  langweiliges 
Einerlei.  Auch  die  nüchternsten  modernen  Städte  Deutsch- 
lands, wie  Mannheim  und  Karlsruhe,  fallen  den  amerika- 
nischen gegenüber  immerhin  noch  angenehm  auf  durch 
ihre  strenge  Symmetrie  und  musterhafte  Ordnung,  während 
die   enorm   reiche   Kommune  New  York  bis  heute   noch 


124  Künstlerische  Kultur. 


nicht  einmal  eine  anständige  Pflasterung  und  Straßen- 
reinigung durchzuführen  vermochte.  Der  Fahrdamm  der 
Fünften  Avenue  besteht  aus  Iyöchern,  zwischen  denen  hier 
und  da  aus  Versehen  ein  Stück  Asphalt  liegen  geblieben 
ist.  Oberflächliche  Reparaturen  werden  in  der  Weise  aus- 
geführt, daß  man  mitten  auf  der  Straße  zur  Freude  der 
Gassenbuben  in  diesen  Iyöchern  Feuer  anzündet;  dann 
schmilzt  der  Asphalt  ringsherum,  und  das  I^och  bekommt 
wenigstens  abgerundete  Ränder.  Wem  der  Arzt  eine  Vi- 
brationsmassage gegen  Trägheit  der  Unterleibsorgane  ver- 
ordnet hat,  der  braucht  nur  auf  dieser  Fünften  Avenue  — 
oder  besser  noch  auf  den  gepflasterten  Hauptstraßen  des 
nordöstlichen  Teiles  von  Philadelphia  —  eine  halbe  Stunde 
spazieren  zu  fahren,  dann  kann  er  seinen  Blinddarm  bei  der 
Zirbeldrüse  und  seine  Milz  unter  dem  Mastdarm  suchen. 
Es  ist  merkwürdig,  daß  derselbe  Amerikaner,  den  das 
wüste  Durcheinander  in  der  Außenseite  seiner  Städte  so 
wenig  zu  genieren  scheint,  doch  fast  durchweg  einen  so 
guten  Geschmack  in  seiner  Kleidung  und  Wohnungs- 
einrichtung zeigt.  Allerdings  ist  für  die  Herrenkleidung 
England,  für  die  Frauenkleidung  Paris  richtunggebend, 
allein  die  dortigen  Muster  werden  doch  für  den  amerika- 
nischen Geschmack  einigermaßen  abgeändert,  und  was 
dabei  herauskommt,  ist  meist  zweckmäßig  und  apart. 
In  der  Wohnungseinrichtung  zeigt  sich  der  Yankee  außer- 
ordentlich konservativ,  und  der  Kolonialstil  ist  immer  noch 
maßgebend.  Das  moderne  deutsche  Kunstgewerbe  hat 
kaum  noch  irgendwo  Einfluß  ausgeübt;  dafür  sieht  man 
auch  nirgends  in  Amerika,  selbst  im  bescheidenen  Mittel- 
stande, so  stillos  zusammengewürfelte  Einrichtungen  wie 
in  der  Wohnung  des  zurückgebliebenen  deutschen  Spieß- 
bürgers. Man  hält  zäh  fest  an  der  guten  englischen  Tradi- 
tion und  verdankt  ihr  sowohl  die  praktische  Anordnung 


Abenteuer  mit  Schaukelstühlen.  125 

der  Wohnräume  als  auch  die  unaufdringliche  Schlichtheit 
der  Formen,  Harmonie  der  Farben,  die  zusammen  den 
Eindruck  der  Behaglichkeit  hervorrufen. 

Spezifisch  amerikanisch  ist  die  Vorliebe  für  Schaukel- 
stühle. Ich  habe  Zimmer  angetroffen,  in  denen  überhaupt 
kein  einziger  Stuhl  fest  auf  seinen  vier  Beinen  stand,  und 
wo  eine  besondere  equilibristische  Begabung  dazu  gehörte, 
um  beispielsweise  seine  Stiefel  zu  schnüren  oder  seinen 
Koffer  zu  packen;  denn  wenn  man  seinen  Fuß  auf  solch 
ein  ungemein  niedriges  Möbel  setzt,  so  kippt  es  nach  vorn 
und  rutscht  gleichzeitig  nach  hinten,  so  daß  man  also  auf 
einem  Bein  dem  flüchtigen  Stuhl  nachhüpfen  muß,  bis 
er  an  der  Wand  einen  Stützpunkt  gefunden  hat.  Oder 
man  placiert  seinen  aufgeschlagenen  Koffer  auf  die  Iyehnen 
zweier  gegeneinander  geschobener  Rockingchairs  und 
beginnt  vergnügt  das  Packgeschäft.  Sobald  der  sich 
füllende  Koffer  eine  gewisse  Gewichtsgrenze  überschreitet, 
neigen  sich  die  stützenden  Stühle  nach  innen,  der  Koffer 
klappt  zu  und  rutscht  zwischen  den  Iyehnen  durch;  es 
ist  sehr  amüsant,  unter  solchen  Umständen  seinen  Koffer 
zu  packen.  Hin  und  wieder  habe  ich  auch  die  Bekannt- 
schaft mit  einladend  aussehenden  Sitzmöbeln  gemacht, 
die  nicht  nur  vor-  und  rückwärts,  sondern  auch  seitwärts 
schaukelten.  Auf  diesen  heimtückischen  Mokierstühlen 
kann  man  sich  ebenso  famos  für  das  Kamelreiten  trainieren, 
wie  auf  den  einfachen  Rockers  für  die  Seefahrt.  Vermutlich 
haben  die  immer  praktischen  Amerikaner  auch  diesen 
Nebenzweck  im  Auge. 

So  nett  und  gemütlich  nun  auch  eine  solche  amerika- 
nische Durchschnittswohnung  anmutet,  so  wird  sie  doch 
uns  deutschen  Erzindividualisten  recht  bald  langweilig, 
weil  sie  eben  überall  dieselbe  ist.  Ich  spazierte  einmal 
mit    einem    jungen    deutschen    Gelehrten    die    Common 


126  Künstlerische  Kultur. 


Wealth  Avenue  in  Boston  hinunter  —  nebenbei  bemerkt 
eine  der  schönsten  Straßen,  die  mir  überhaupt  in  Amerika 
aufgefallen  sind.  Es  befinden  sich  hier  nur  vornehme 
Familienhäuser,  die  als  besondere  Eigentümlichkeit  große 
Spiegelscheiben  im  Erdgeschoß  aufweisen.  Man  kann  also 
von  der  Straße  aus  in  das  Treppenhaus  und  das  Parlor 
hineinsehen.  Ich  freute  mich  des  schönen  schmiede- 
eisernen Gitterwerks,  das  diese  wohlhabenden  Homes 
von  der  Straße  abschloß,  der  prächtigen  Türen  und  anderer 
reizvoller  Einzelheiten.  Da  unterbrach  mein  Begleiter 
meine  Lobeshymne  mit  den  Worten:  „Was  wollen  Sie 
wetten?  Unter  den  zwölf  nächsten  Häusern  von  hier 
aus  finden  wir  mindestens  sechs,  in  denen  wir  durch  die 
Fenster  genau  dieselbe  innere  Einrichtung  konstatieren 
können/'  Und  richtig,  so  war  es  auch.  Aber  nicht  nur 
in  sechs,  sondern  in  neun  von  diesen  Häusern  stand  überall 
in  derselben  Ecke  am  Parlorfenster  dieselbe  Säule  mit 
demselben  Blumenkübel  darauf  und  derselben  Palme 
darin,  genau  an  derselben  Stelle  derselben  Wand  befand 
sich  in  allen  diesen  neun  Zimmern  das  Ehrfurcht  gebietende 
Sofa  mit  den  Porträts  der  Eltern  oder  Großeltern  darüber 
usw.  usw.  Immerhin  kann  man  sich  diese  ermüdende 
Uniformität  gefallen  lassen,  da  sie  doch  wenigstens  einen 
guten  Durchschnitt  von  solider  Behaglichkeit  verbürgt. 
Groteske  Geschmacklosigkeiten  begegnen  einem  eigentlich 
nur  in  den  Palästen  ungebührlich  rasch  reich  gewordener 
Emporkömmlinge  —  gerade  wie  bei  uns. 

Merkwürdig  ist  auch,  wie  dasselbe  Volk,  das  sich  in 
den  meisten  seiner  Vergnügungen  und  künstlerischen 
Betätigungen  doch  noch  recht  unkultiviert  zeigt,  in  anderer 
Beziehung  wieder  Leistungen  von  feinem  Geschmack 
und  hoher  Vollendung  hervorbringt,  zum  Beispiel  in  der 
Malerei,  in  der  Photographie,  im  Buchgewerbe.    Während 


Die  Nacktheit  in  der  Plastik.  127 

die  amerikanischen  Museen  zum  weitaus  größten  Teile 
noch  das  sehr  zweifelhafte  Kunstverständnis  ihrer  frei- 
gebigen Stifter  verraten  und  ein  stilloses  Durcheinander 
von  Kitsch  und  Kunst  bieten,  begegnet  man  in  den  Aus- 
stellungen moderner  Künstler  einer  sehr  respektablen 
Durchschnittsleistung.  Von  einer  bedeutenden  Entwick- 
lung der  Plastik  kann  selbstverständlich  in  einem  Lande, 
das  die  Scheu  vor  der  Nacktheit  in  der  Kunst  längst  noch 
nicht  tiberwunden  hat,  keine  Rede  sein.  Ich  habe  mir 
sagen  lassen,  daß  auf  der  Weltausstellung  in  Chicago  zum 
erstenmal  in  den  Vereinigten  Staaten  nackte  Frauen- 
körper als  Karyatiden  zu  sehen  gewesen  seien !  Ein  biederer 
Farmer  war  von  diesem  völlig  neuen  Anblick  dermaßen 
gefangen,  daß  er  überhaupt  für  nichts  anderes  in  der 
ganzen  Weltausstellung  Interesse  zeigte,  sondern,  die 
Augen  starr  in  die  Höhe  gerichtet,  von  Saal  zu  Saal  schritt 
und  dabei  kopfschüttelnd  vor  sich  hinseufzte:  ,,0/z  good 
Lord,  what  tits,  what  tits!" 

Selbst  heute  noch  hat  jede  wenig  bekleidete  alle- 
gorische Figur,  die  sich  in  der  Öffentlichkeit  zu  zeigen 
wagt,  einen  heftigen  Kampf  mit  der  Geistlichkeit  und 
den  Tanten  zu  bestehen.  Kann  es  da  wundernehmen, 
wenn  außer  etlichen  anständigen  Porträtstatuen,  natura- 
listischen Kriegergruppen  und  Reitermonumenten  von 
bedeutender  Plastik  in  den  Vereinigten  Staaten  nichts 
zu  finden  ist?  Das  Ulkigste  von  Kitschplastik,  was  mir 
persönlich  in  den  Weg  gekommen  ist,  war  das  Krieger- 
denkmal in  Easton  (Pennsylvania) :  auf  einer  sehr  hohen 
schlanken  Säule  ein  moderner  Militärtrompeter;  und  im 
Schalltrichter  seines  Instrumentes  erglühte  nachts  eine 
elektrische  Birne! 

Allerdings  haben  die  amerikanischen  Künstler  ihre 
Techniken   vom  Auslande   gelernt   und   stark   eigenartige 


128  Künstlerische  Kultur. 


Glanzleistungen  auch  nur  in  den  bildenden  Künsten 
sowie  in  der  Literatur  hervorgebracht.  Ihre  Musik  ist 
ihnen  bis  jetzt  fix  und  fertig  vom  Auslande  geliefert 
worden.  Und  selbst  die  einzige  musikalische  Spezialität, 
die  sich  zurzeit  als  echt  amerikanisch  ansprechen  läßt, 
nämlich  das  Volkslied  der  Neger  und  der  Ragtime  (eigen- 
artig verschobener  synkopierter  Rhythmus  für  Tänze 
und  derbe  Couplets),  ist  doch  auf  schottischen  und  irischen 
Ursprung  zurückzuführen.  Es  läßt  sich  aber  nicht  leugnen, 
daß  für  gute  Musik  heute  schon  ein  recht  großes  und 
verständnisvolles  Publikum  vorhanden  ist.  Wenn  man 
bedenkt,  daß  an  der  Geschmackserziehung  des  amerika- 
nischen Hörers  erst  seit  wenigen  Jahrzehnten  von  europäi- 
schen Künstlern  planvoll  gearbeitet  wird,  so  ist  es  doch 
wohl  ein  erstaunliches  Ergebnis  zu  nennen,  daß  man 
heute  schon  den  „Parsival"  vor  einer  andachtsvoll  er- 
griffenen Zuhörerschaft  geben  kann,  und  daß  Konzert- 
programme, die  ausschließlich  aus  Beethoven,  Brahms,  Hugo 
Wolf  und  ähnlichen  anspruchsvollen  Namen  bestehen, 
große  Scharen  anziehen  und  begeistern.  Allerdings  finden 
bei  einer  großen  Masse  selbst  der  höheren  Schichten  auch 
stillose  Programme,  in  denen  ärgste  Banalitäten  mit 
echten  Meisterwerken  abwechseln,  jubelnden  Beifall  —  aber 
können  wir  das  in  Deutschland  nicht  auch  erleben?  Der 
Unterschied  ist  wohl  nur  der,  daß  bei  uns  kein  Künstler 
von  Bedeutung  sich  so  leicht  dazu  herablassen  würde, 
dem  schlechten  Geschmack  des  Publikums  solche  Kon- 
zessionen zu  machen.  Wir  Deutschen  dürfen  uns  rühmen, 
auf  musikalischem  Gebiet  uns  die  Meistbegünstigung  für 
unseren  Import  von  Kunstwerken,  Künstlern  und  L,ehrern 
erstritten  zu  haben.  Wie  haben  diese  prachtvollen 
deutschen  Musikanten  aber  auch  arbeiten  müssen,  in 
welchen  harten  steinigen  Boden  haben  sie  oft  ihre  Pflug- 


Deutsche  Musikpioniere.  129 

schar  drücken  müssen,  um  überhaupt  erst  den  Boden  für 
ihre  Saat  zu  bereiten. 

Ich  habe  in  der  Person  des  Sängers  Max  Friedrich 
einen  solchen  Veteranen  von  einem  deutschen  Musik- 
pionier kennen  gelernt.  Als  er  vor  20 — 30  Jahren  hinaus- 
zog, um  den  beuten  des  kunstversimpelten  Ostens,  wie 
den  lebenshungrigen  Abenteurern  des  wilden  Westens 
Schubert  und  Schumann,  L,öwe  und  Franz  vorzusingen,  da 
gähnte  und  höhnte  man  ihn  aus.  Aber  er  ließ  nicht  locker, 
er  ließ  sich  als  echt  deutscher  Starrkopf  kein  Titelchen 
von  seiner  heiligen  Überzeugung  wegdisputieren.  Ihm 
und  einigen  Wenigen  seinesgleichen  ist  es  zu  verdanken, 
wenn  heute  ein  ernster  Künstler  mit  einem  vornehmen 
Programm  sich  überall  in  der  ganzen  Union  hören  lassen 
kann,  ohne  fürchten  zu  müssen,  von  entrüsteten  Cowboys 
mit  dem  Schießeisen  vom  Podium  gejagt  zu  werden. 

Talent  und  Iyiebe  zur  Kunst  wuchsen  bisher  nur  recht 
spärlich  aus  amerikanischem  Boden  hervor.  Weder  die 
Zuchthäusler  und  Abenteurer  in  der  Zeit  der  Flegel]  ahre 
der  neuen  Welt,  noch  die  frommen  Pilgerväter  haben 
irgendwelche  Keime  zur  künstlerischen  Entwicklung  mit 
herübergebracht.  Und  bis  die  großen  Kriege  durch- 
gekämpft, die  Naturschätze  erschlossen,  das  ungeheure 
I^and  bebaut  und  durch  Eisenbahnen  in  Zusammenhang 
gebracht  worden  war,  hatte  jeder  Mensch  mit  dem  Kampf 
ums  Dasein  viel  zu  viel  zu  tun,  um  Muße  zu  künstlerischer 
Betätigung  zu  finden.  Gegenwärtig  ist  diese  Muße  frei- 
lich schon  für  viele  vorhanden,  aber  die  Kunst  hat  dort 
noch  keinen  rechnen  Boden,  weil  in  der  Masse  des  Volkes 
noch  kein  wirkliches  Bedürfnis  nach  ihr  lebt.  Eine  Ahnung 
von  der  Wichtigkeit  der  Kunst  als  Kulturfaktor  ist  bis- 
her nur  einer  kleinen  Auslese  von  Höchstgebildeten  auf- 
gegangen, die  große  Masse  jedoch  sieht  in  ihr  nur  einen 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  9 


130  Künstlerische  Kultur. 


schmückenden  Luxus,  einen  angenehmen  Zeitvertreib.  In 
der  alten  Welt  entfaltete  sich  alle  Kunst  auf  dem  Boden 
uralten,  oft  umgeackerten  und  gedüngten  Kulturlandes. 
Sie  wurzelt  in  der  frühesten  Vergangenheit  der  Völker, 
in  deren  untersten  Schichten,  und  ihr  Wachstum  stärkte 
sich  an  den  Hemmungen,  die  sie  zu  überwinden  hatte. 
Außerdem  kann  Kunst  unmöglich  von  einem  Volke 
hervorgebracht  werden,  das  nicht  zum  mindesten  eine 
aristokratische  Vergangenheit  gehabt  hat.  Jeder  wahre 
Künstler  ist  ein  geborener  Aristokrat,  der  zwischen  sich 
und  den  Viel  zu  Vielen,  den  Banausen  und  Philistern, 
eine  hochmütige  Scheidewand  errichtet. 

Die  demokratische  Anschauung  von  der  Gleichheit 
der  Menschen  ist  dem  Instinkt  des  Künstlers  ein  Greuel. 
Und  selbst  jene  naivste  Betätigung  schaffender  Phantasie, 
die  wir  heute  Volkslied  nennen,  bezieht  ihre  Gesetze, 
ihre  Stoffe,  ihre  seelische  Wesensart  von  Mustern,  die  in 
uralten  Zeiten  königliche  Sänger  aufstellten.  In  der  Neuen 
Welt  aber,  in  der  eine  historische  Entwicklung  in  unserem 
Sinne  kaum  vorhanden  ist,  sondern  wo  immer  gegen- 
wärtige Resultate  eines  langsamen  Werdegangs  aus  der 
Alten  Welt  fertig  übernommen  wurden,  ist  das  Entstehen 
einer  originalen  Kunst  vernünftigerweise  auch  noch  gar  nicht 
zu  erwarten.  Die  Yankees,  als  Abkömmlinge  der  britischen 
Einwanderer,  haben  selbstverständlich  eine  angeborene 
Vorliebe  für  die  englische  Kunst  und  werden  die  von  dort 
empfangenen  Anregungen  ausbauen;  ebenso  wie  die 
Nachkommen  der  deutschen  Einwanderer  sich  instinkt- 
mäßig an  die  deutschen  Vorbilder  klammern  werden. 
Die  Besonderheit  der  amerikanischen  Landschaft  wird 
natürlich  ihren  Einfluß  auf  die  Malerei,  die  eigen- 
artigen Lebensbedingungen  der  Neuen  Welt  auf  die 
Architektur  einen  bestimmenden  Einfluß  ausüben.   Darum 


Der  neuweltliche  Poet.  131 

ist  es  selbstverständlich,  daß  in  diesen  beiden  Künsten 
zunächst  eigenartige  Leistungen  zu  erwarten  und  ja  auch 
gegenwärtig  schon  vorhanden  sind.  Dagegen  kann  man 
von  einem  Volke,  das  gar  keine  eigene  Sprache  besitzt,  auch 
keine  originale  Poesie  verlangen,  und  die  Musik  ist,  zum 
mindesten  mit  ihrem  Rhythmus,  so  fest  an  die  Sprache 
gebunden,  daß  allein  schon  aus  diesem  Umstände  der 
bisherige  Mangel  einer  amerikanischen  Musik  sich  ohne 
weiteres  begreifen  läßt.  Das  schließt  natürlich  nicht  aus, 
daß  geborene  Amerikaner  ganz  hervorragende  Leistungen 
auf  Kunstgebieten  vollbringen  können,  deren  ausländische 
Muster  sie  mit  besonderer  Liebe  studiert  haben  und  deren 
inneres  Wesen  ihnen  besonders  nahe  liegt.  Erst  wenn  die 
Völkerwanderung  nach  der  Neuen  Welt  einmal  aufgehört 
und  eine  wirkliche  chemische  Durchdringung  der  ver- 
schiedenen Rassenelemente  stattgefunden  haben  wird, 
kann  sich  so  etwas  wie  eine  allamerikanische  Seele  ent- 
wickeln, aus  der  dann  folgerichtig  auch  eine  originale 
amerikanische  Kunst  hervorgehen  müßte. 

Wie  die  Dinge  heute  noch  liegen,  wäre  aber  beispiels- 
weise ein  jugendlicher  Yankee,  der  sich  freiwillig  dazu  her- 
geben möchte,  das  Hungerleiderdasein  eines  deutschen  oder 
französischen  Poeten  zu  führen,  eine  undenkbare  komische 
Figur.  Der  poetisch  begabte  Jüngling  fängt  drüben  mit  der 
Journalistik  an,  oder  er  betreibt  das  Dichten  neben  seinem 
soliden  Broterwerb.  Hat  er  mit  einem  Genre  keinen  Er- 
folg, so  probiert  er  es  eben  mit  einem  anderen.  Schwer- 
lich wird  es  ihm  einfallen,  sich  trotzig  wider  den  Ge- 
schmack der  Zeit  und  der  großen  Masse  aufzulehnen. 
Auch  wenn  er  Neues,  Eigenartiges  zu  sagen  hat,  wird  er 
sein  Publikum  nicht  rücksichtslos  damit  erschrecken, 
sondern  es  allmählich  vorzubereiten  suchen.  Die  Be- 
schäftigung mit  Literatur,  Kunst  und  anderen  rein  idealen 

9  * 


132  Künstlerische  Kultur. 


Dingen  ist  eben  drüben  ein  vornehmer  Zeitvertreib  für 
Ausnahmemenschen,  besonders  also  für  solche,  die  keine 
Sorge  um  das  tägliche  Brot  mehr  drückt.  Man  setzt  auch 
voraus,  daß  der  Mann,  der  einen  Beruf  aus  dem  Dichten, 
Musizieren,  Malen  usw.  macht,  vor  allen  Dingen  ein  Gentle- 
man sei,  also  ein  gut  angezogenes  Mitglied  der  auserwählten 
Gesellschaft  mit  normalen  Manieren  und  auch  einiger- 
maßen normalen  Gesinnungen.  Es  ist  bezeichnend,  daß 
der  Name  Bohemiens,  der  für  Künstler-  und  Iyiteraten- 
klubs  besonders  beliebt  ist,  mit  Vorliebe  von  Vereinigungen 
recht  wohlhabender  Männer  gewählt  wird,  die  es  sich  leisten 
können,  ihre  festlichen  Sitzungen  in  den  vornehmsten 
Hotels  abzuhalten  und  dazu  nichts  als  französischen 
Sekt  zu  trinken.  Der  richtige  Bohemien  kann  schon  des- 
halb drüben  unmöglich  gedeihen,  weil  es  keine  Kaffee- 
häuser gibt.  Es  kommt  vorläufig  auch  noch  selten  vor, 
daß  künstlerische,  besonders  literarische  Talente  aus  den 
untersten  Volksschichten  hervorgehen,  weil  in  denen  noch 
alles  Sinnen  und  Trachten  auf  materiellen  Erwerb  gerichtet 
ist.  In  New  York  gibt  es  allerdings  einen  hervorragenden 
Dichter,  der  Sattler  und  Tapezierer  ist  —  Hugo  Bertsch 
heißt  er  —  aber  der  schreibt  Deutsch  und  ist  aus 
Reicheisheim  i.   O.   gebürtig. 

Bemerkenswert  ist,  daß  einer  der  wenigen  jungen 
Dramatiker,  die  damit  begonnen  haben,  sich  von  der 
herrschenden  Prüderie  und  Konvention  freizumachen 
und  die  amerikanische  Bühne  für  moderne  Probleme  zu 
erobern,  nämlich  der  anderwärts  von  mir  schon  erwähnte 
Walter  von  unten  heraufgekommen  ist,  gehörig  gehungert 
und  im  Zentralpark  gepennt  hat,  bevor  er  bekannt  wurde. 
Auch  der  ausgezeichnete  Romanschreiber  Jack  Iyondon, 
der  sich  durch  starke  Eigenart  spezifisch  amerikanischer 
Färbung    auszeichnet,    hat    als    Goldgräber    angefangen. 


Diktatur  des  Masseng-eschmacks.  133 

obwohl  er  eine  gute  wissenschaftliche  Bildung  genossen 
hatte.  Bret  Hart  begann  seine  Laufbahn  gleichfalls  als 
Goldgräber  und  betätigte  sich  nacheinander  als  Lehrer, 
Postbote  und  Schriftsetzer,  bevor  er  Professor  der  Literatur 
wurde.  Auch  Mark  Twain  begann  als  Setzer  und  wurde 
dann  bekanntlich  Lotse  auf  dem  Mississippi.  Edgar 
Allan  Poe  war  zwar  reicher  Eltern  Kind,  wurde  aber 
wegen  schlechter  Aufführung  von  der  Universität  und 
der  Militärakademie  relegiert  und  desertierte  aus  der 
Armee,  bevor  er  sich  zu  dem  berühmten  Dichter  ent- 
wickelte. Walt  Whitman,  ursprünglich  gleichfalls  Buch- 
drucker, gewann  seinen  Lebensunterhalt  als  Subaltern- 
beamter im  Ministerium.  Einzig  Longfellow  von  den  be- 
kannteren Dichtern  stammte  aus  höheren  Kreisen  und 
erwarb  regelrechte  akademische  Grade,  aber  auch  er  be- 
tätigte sich  zunächst  als  Rechtsanwalt. 

Es  scheint  also,  daß  auch  im  neuen  Lande  das  alte  Gesetz, 
daß  die  künstlerischen  Kräfte  am  Widerstand  erstarken, 
Geltung  besitze.  In  dem  Paradiese  der  absoluten  Gegen- 
wart, dessen  glückliche  Bewohner  so  gern  alles,  was  ist, 
gut  finden,  wie  der  liebe  Gott  sein  Schöpfungswerk,  haben 
natürlich  nur  die  Narren  Lust,  wider  den  Strom  zu  schwim- 
men. Die  vernünftigen  Kunstbeflissenen  trachten  aber, 
nur  marktgängige  Ware  zu  liefern,  und  marktgängig  ist, 
was  dem  Unterhaltungs-  und  Sensationsbedürfnis  ent- 
spricht. Es  wird  ungeheuer  viel  gelesen  in  Amerika, 
folglich  ist  mit  der  Anfertigung  von  Literatur  ein  gutes 
Geschäft  zu  machen  für  diejenigen,  die  sich  auf  den  Ge- 
schmack des  Publikums  verstehen.  Dieser  Geschmack 
heißt  aber  immer  noch:  Hintertreppengeschehnisse  im 
Gartenlaubenstil  vorgetragen.  Verbrecher  und  Detektivs 
sind  nicht  nur  bei  den  ganz  kleinen  Leuten  die  beliebtesten 
Helden.    Es  müssen  daher  auch  ernste  Schriftsteller,  z.  B. 


134  Künstlerische  Kultur. 


solche,  die  ihr  soziales  Gewissen  auf  das  Gebiet  des  An- 
klageromans verlockt,  auf  sensationelle  Erfindung  und  auf 
strenge  Wahrung  einer  stubenreinen  Reputierlichkeit  be- 
dacht sein.  Sicherlich  würde  die  Entwicklung  des  künstle- 
rischen Geschmacks  bei  dem  amerikanischen  Volk,  das  doch 
wahrhaftig  weder  ängstlich  noch  begriffsstutzig  ist,  viel 
raschere  Fortschritte  machen,  wenn  nicht  die  Tagespresse 
die  mehr  als  kindliche  Oberflächlichkeit  des  Urteils  in 
unverantwortlicher  Weise  nährte.  Aber  das  ist  ein  Kapital 
für  sich. 


■■■!■■»■ ummai 


r  iiiii  1 1  mini  ii  iiiii  ii  im  ii  iiiiii  im  im  im  lim  lim 


Vom  Theater  im  Yankeelande, 


Wer  das  englische  Theater  kennt,  der  kennt  auch  das 
amerikanische.  Die  Yankees  haben  es  mit  all  seinen 
Iyicht-  und  Schattenseiten  herübergenommen,  nur  daß  die 
Qualität  ihrer  besten  darstellerischen  Leistungen  doch  wohl 
noch  um  einiges  hinter  den  besten  englischen  zurückbleibt, 
was  bei  dem  Fehlen  einer  guten  alten  Tradition  nicht  zu  ver- 
wundern ist.  Hüben  wie  drüben  ist  für  das  Drama  hohen 
Stiles  kein  großes  Publikum  vorhanden,  und  darum  suchen 
Bühnen,  die  diese  vornehmste  Dichtungsgattung  pflegen, 
die  große  Masse  durch  raffinierte  szenische  Wirkungen, 
durch  Pomp  und  Massenentfaltung  anzulocken.  Für  das 
moderne  Gesellschaftsdrama  und  das  feinere  Lustspiel 
sind  schauspielerische  Begabungen  besonders  häufig  vor- 
handen, und  da  die  Dichtung  noch  in  keinem  L,ande  eng- 
lischer Zunge  —  mit  verschwindend  wenigen  Ausnahmen  — 
vom  Konventionellen  zum  Individuellen  aufgerückt  ist, 
so  sind  diesseits  wie  jenseits  des  Ozeans  die  besten  Schau- 
spieler, ebenso  wie  die  unbedeutendsten,  Spezialisten  für 
das  Rollenfach,  in  welches  äußere  Erscheinung,  Stimm- 
klang und  Temperament  sie  verweisen.  Sie  alle  spielen 
also  im  Grunde  genommen  nicht  nur  solange  ein  Stück 
läuft,  sondern  ihr  ganzes  lieben  lang  ein  und  dieselbe 
Rolle.  Es  ist  wohl  allgemein  bekannt,  daß  man  drüben 
Theater  mit  wechselndem  Repertoir  bisher  noch  nicht 
kennt.  Für  jedes  neue  Stück  wird  eine  Truppe  zusammen- 
gestellt, und  wenn  das  in  der  Hauptstadt  abgespielt  ist, 
wandert  die  Truppe  damit  in  die  Provinz,  um  sich  aufzulösen, 
sobald  seine  Zugkraft  erschöpft  ist.  Wer  also  drüben  die 
Schauspielerei  zum  Beruf  erwählt,  der  muß  schon  über 


136  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

recht  beträchtliche  Reserven  an  Körper-  und  Geisteskraft 
verfügen,  wenn  er  nicht  der  sicheren  Verblödung  und  der 
unheilbaren  Fettsucht  verfallen  will.  Der  erste  Versuch,  in 
den  Vereinigten  Staaten  ein  vornehmes  Schauspielhaus  mit 
wechselndem  Repertoir  nach  künstlerischen  Grundsätzen 
ins  Leben  zu  rufen,  wurde  im  vergangenen  Jahre  in  New 
York  von  einer  Anzahl  reicher  Theaterfreunde  gemacht 
durch  die  Gründung  des  New  Theatre.  Und  dieser  Versuch 
ist  gescheitert,  obwohl  fast  unbeschränkte  Mittel  und  eine 
auserlesene  Schar  feingebildeter,  sehr  tüchtiger  Schauspieler 
zur  Verfügung  stand,  auch  die  Leitung  in  keineswegs  unge- 
schickten Händen  lag.  Ich  habe  in  diesem  Theater  eine  Auf- 
führung von  Maeterlinks  „Der  blaue  Vogel"  gesehen,  die  in 
bezug  auf  die  darstellerischen  Leistungen  sehr  gut  und  in 
bezug  auf  künstlerische  Inszenesetzung  sogar  ganz  hervor- 
ragend geschmackvoll  war,  und  dennoch  gaben  die  Unter- 
nehmer den  Versuch  schon  nach  Beendigung  der  ersten  Spiel- 
zeit als  vorläufig  aussichtslos  auf !  Bs  wurden  allerlei  Gründe 
für  dieses  seltsame  Fiasko  ins  Feld  geführt;  mir  scheint 
der  erheblichste  und  zugleich  auch  betrüblichste  der  zu 
sein,  daß  für  das  Schauspiel  die  Anzahl  der  künstlerisch 
wohlerzogenen  New  Yorker  noch  zu  klein  ist,  um  ein 
solches  Unternehmen  geschäftlich  halten  zu  können. 
Man  ist  es  einfach  noch  nicht  gewöhnt  in  jenen  Gesell- 
schaftskreisen, die  für  den  Besuch  eines  den  Ansprüchen 
verfeinerten  Geschmacks  gewidmeten  Theaters  in  Frage 
kommen,  täglich  nach  dem  Theaterzettel  zu  sehen  und  sich 
womöglich  gar  wegen  einer  Vorstellung,  die  vielleicht  bald 
wieder  vom  Spielplan  verschwindet,  in  seinen  häuslichen 
Gewohnheiten  und  gesellschaftlichen  Pflichten  stören  zu 
lassen.  Wenn  es  die  große  Oper  gilt,  nimmt  man  freilich 
alle  möglichen  Unbequemlichkeiten  mit  in  den  Kauf;  aber 
das  ist  eben  die  große  Oper,  die  muß  wechselndes  Repertoir 


Die  große  Oper.  137 


haben,  weil  dieselben  Sänger  nicht  alle  Tage  große  Partien 
singen  können;  und  außerdem  gehört  die  große  Oper  auch 
mehr  zu  den  gesellschaftlichen  Veranstaltungen,  denen  man 
seiner  Stellung  wegen  Opfer  bringen  muß,  als  zu  den  bloßen 
künstlerischen  Unterhaltungen.  Bin  vornehmes  Schauspiel- 
haus mit  wechselndem  Repertoir  würde  ohne  Zweifel  ebenso- 
gut möglich  sein  wie  das  Millionen  verschlingende  Metro- 
politan Opera  House,  sobald  es  bei  dem  hohen  Adel  und  den 
Großwürdenträgern  der  demokratischen  Gesellschaft  de 
rigueur  wäre,  auch  in  diesem  Schauspielhaus  eine  Loge  zu 
besitzen  und  sich  dort  mit  seinen  Freunden  zu  treffen.  Bis 
dahin  aber  und  bis  ein  mächtig  aufblühendes  nationales 
Drama  des  Yankeetums  nach  einer  nationalen  Bühne 
schreit,  wird  noch  viel  Wasser  den  Hudson  hinunterlaufen. 
Mit  der  Oper  steht  es  trotz  der  Starwirtschaft  ganz 
erheblich  besser  als  mit  dem  Schauspiel,  weil  die  Oper 
ein  internationales  Unternehmen  ist,  dem  es  vorläufig 
ganz  gleichgültig  sein  kann,  ob  ihm  einheimische  Kräfte 
als  Komponisten  und  als  Sänger  zuwachsen  oder  nicht; 
denn  sie  kann  ihren  Bedarf  durch  die  Meisterwerke  und 
Gesangssterne  Europas  vollkommen  decken.  Im  übrigen 
wird  die  beste  Oper  immer  da  vorhandeil  sein,  wo  das 
meiste  Geld  zur  Verfügung  ist,  vorausgesetzt  daß  die 
Leitung  nicht  gänzlich  unfähig  ist.  Mit  dem  nötigen  Geld 
kann  man  sich  nicht  nur  die  besten  Sänger  und  Sängerinnen 
der  Welt,  sondern  auch  die  genialsten  Kapellmeister  und 
Regisseure  der  Welt  kaufen.  Wo  anders  als  in  dem  Lande, 
wo  die  Greenbacks  (Dollarscheine)  so  leicht  das  Fliegen 
lernen,  wäre  es  möglich,  ein  genügend  zahlreiches  Personal 
von  Sängern  und  Sängerinnen,  darunter  die  berühmtesten 
Künstlernamen  der  Welt,  zusammenzubringen,  um  damit 
die  deutschen  Meisterwerke  der  Opernliteratur  deutsch, 
die   französischen   französisch   und   die   italienischen   ita- 


138  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

Herrisch  darzustellen  ? !  Trotzdem  das  Riesenhaus  immer 
voll  und  die  Eintrittspreise  für  unsere  Begriffe  sehr  hoch 
sind,  ist  doch  immer  ein  Defizit  vorhanden,  das  jedoch 
durch  die  Freigebigkeit  der  milliardenschweren  I^ogen- 
besitzer  immer  gedeckt  wird.  Es  ist  also  selbstverständlich, 
daß  keine  Opernbühne  Europas  an  Großartigkeit  des 
Betriebes  mit  der  New  Yorker  Oper  wetteifern  kann.  Es 
versteht  sich  also  auch  ganz  von  selbst,  daß  man  in  diesem 
Theater  Vorstellungen  erleben  kann,  die  nicht  nur  an 
äußerem  Glanz,  sondern  auch  an  echter  künstlerischer 
Qualität  alles  übertreffen,  was  selbst  Wien,  Berlin,  Mün- 
chen, Dresden,  Paris,  Mailand,  Petersburg  und  London  zu 
bieten  vermögen.  Andererseits  treten  aber  freilich  auch  die 
großen  Gefahren  dieses  amerikanischen  Systems,  bei  dem 
die  starke  Triebfeder  eines  hingebenden  künstlerischen 
Idealismus  durch  eitle  Prahlsucht  und  Geldprotzentum  er- 
setzt werden,  sofort  grell  zutage,  sobald  in  der  Wahl  der 
leitenden  Kräfte  ein  Mißgriff  erfolgt  ist  oder  diese  Kräfte 
die  Lust  verlieren,  für  das  viele  Geld,  das  sie  bekommen, 
wirklich  ihr  Bestes  zu  tun.  Aber  schließlich  wird  überall  mit 
Wasser  gekocht,  und  eine  ununterbrochene  Reihe  wirklicher 
Weihefestspiele  kann  es  eben  nur  unter  Bedingungen  geben, 
wie  sie  Bayreuth  sich  geschaffen  hat.  Es  ist  jedenfalls  un- 
gerecht und  töricht  von  uns  Europäern,  die  glänzenden  Ver- 
anstaltungen der  Metropolitan-Oper  geringschätzig  als  eitel 
Blendwerk  abzutun.  Die  Herren  Milliardäre  bekommen 
für  ihr  gutes  Geld  wirklich  gute  Opernkunst  geliefert. 

Das  Beste,  was  ich  in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Komödienspiel  erlebt  habe,  fand  ich  in  einem  der  fünf 
jiddischen  Theater  an  der  Bowery,  dem  New  Yorker  Ghetto, 
wo  die  frisch  eingewanderten  russischen  Juden  noch  zu 
Tausenden  beieinander  hocken.  „The  Miners"  (die  Berg- 
leute)  hieß   das  Theater,   unansehnlich  von  außen,   eng, 


David  Keßlers  jiddisches  Theater.  139 

schmutzig  und  in  allen  Einrichtungen  veraltet  von  innen. 
Es  wird  nur  zwei,  höchstens  dreimal  die  Woche  gespielt 
an  diesen  kleinen  Dialektbühnen;  aber  obwohl  es  nicht 
Schabbes,  war  das  Haus  gesteckt  voll.  Ganze  Familien 
mit  Kind  und  Kegel  im  Parterre,  die  besseren  L,eute  im 
ersten  Rang,  die  großen  Glaubensgenossen,  die  schon 
ihr  Ziel  erreicht,  in  den  Protzszeniumslogen,  und  auf  der 
Galerie  die  Arbeiter  und  kleinen  Gewerbetreibenden, 
ärmlich  und  schäbig  anzuschauen,  mit  steifen  kleinen 
Hüten  oder  schmutzigen  russischen  Mützen  auf  dem  Kopf. 
Sie  sind  gekommen,  um  den  derzeit  vortrefflichsten 
Schauspieler  ihrer  Zunge,  David  Keßler,  zu  sehen,  der 
zugleich  der  künstlerische  und  geschäftliche  L,eiter  des 
Unternehmens  ist.  Das  Stück  hieß :  ,,  Jankel,  der  Schmied", 
von  David  Pinsky,  einem  jüdischen  Autor,  der  schon 
einmal  bei  Reinhardt  durchgefallen  ist,  eine  naturalistische 
Kleinmalerei  aus  dem  Leben  der  jüdischen  Kleinbürger 
in  Rußland,  ein  bis  zum  Ekel  unerquickliches  Stück  Wahr- 
heit von  einer  Erbarmungslosigkeit,  wie  sie  auf  der  deut- 
schen Bühne  seit  Hauptmanns  „Vor  Sonnenaufgang" 
kaum  mehr  dagewesen  ist.  Und  diese  heimatlosen  Welt- 
wanderer, diese  schwitzenden  und  keuchenden  Arbeits- 
tiere mit  dem  starken  Drange  nach  Ruhe,  Behaglichkeit, 
Schönheit,  laicht  und  Glanz  im  Herzen,  die  in  den  Zwischen- 
akten ein  so  wildes,  mauschelndes  Geschnatter  voll- 
führen, daß  einem  die  Ohren  gellen,  sie  lauschen  andachts- 
voll gebannt,  sobald  der  Vorhang  hochgeht,  als  ob  diese 
ihre  nationale  Kunst,  die  ihnen  kaum  etwas  anderes  bietet, 
als  den  tiefen  Einblick  in  unsäglich  traurige  Familien- 
verhältnisse und  widrige  Menschensee]  en,  sie  nehmen  all 
dies  Häßliche  mit  gelassenem  Ernst  hin  und  begrüßen 
die  derben  Spaße  oder  auch  die  wenigen  idyllisch  gemüt- 
vollen Lichtblicke  in  dieser  trostlosen  Öde  mit  dankbarem 


140  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

Gelächter  und  begeistertem  Beifall.  Was  aber  wirklieh 
an  dieser  seltsamen  dramatischen  Kunst  auch  für  den 
rassenfremden  Zuschauer  des  begeisterten  Beifalls  würdig 
ist,  das  ist  neben  der  scharfen,  treffsicheren  Zeichenkunst 
des  Dichters  die  wirklich  vollendete  Leistung  sämtlicher 
Darsteller;  denn  nicht  nur  das  Haupt  der  Gesellschaft, 
dieser  David  "Keßler,  ist  ein  wirklich  großer  Charakter- 
darsteller, der  ganz  und  gar  in  dem  vom  Dichter  ge- 
schaffenen Menschen  aufzugehen  versteht,  sondern  alle  seine 
Schauspieler  und  Schauspielerinnen  erscheinen  mit  ihren 
Aufgaben  derartig  verwachsen,  als  ob  sie  einfach  sich  selber 
ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Optik  der  Bühne  und  die  Sinne 
der  Zuschauer  darzustellen  hätten.  Im  Zwischenakt  machte 
ich  die  Bekanntschaft  David  Keßlers  und  war  nicht  wenig 
erstaunt  aus  seinem  Munde  zu  hören,  daß  außer  ihm  gar 
keine  Berufsschauspieler  in  seiner  Truppe  vorhanden  seien, 
sondern  daß  er  sich  die  Leute  von  überallher  zusammen- 
gelesen und  zum  Theaterspielen  gedrillt  habe.  Dieser  vor- 
zügliche komische  Bpisodenspieler  handelt  tagsüber  mit 
alten  Hosen,  diese  schlichte  sentimentale  Liebhaberin,  die 
so  ergreifende  Gemütstöne  findet,  ist  vielleicht  Dienst- 
mädchen in  einer  besseren  jüdischen  Familie,  und  diese 
ausgezeichnete  komische  Alte  mit  dem  ewig  verrutschten 
schwarzen  Scheitel  auf  ihrem  ehrwürdigen  grauen  Haar  zieht 
uns  beiseite  und  erzählt  uns  mit  stolz  aufleuchtenden  Augen, 
daß  sie  mit  ihrer  Hände  Arbeit  ihren  einzigen  Sohn  so  weit 
gebracht  habe,  daß  er  nun  schon  als  Advokat  in  dem 
fremden  Lande  eine  geachtete  Stellung  einnehme  und 
einer  glänzenden  Zukunft  entgegengehe.  Am  Schluß  des 
Stückes  bricht  ein  tobender  Beifall  los,  der  sich  sonder- 
barerweise außer  in  Klatschen  und  wildem  Trampeln  auch 
in  gellenden  Pfiffen  äußert,  und  sobald  David  Keßler  auf 
der  Bühne  erscheint,  rufen  ihm  Hunderte  von  Stimmen  zu ; 


Eine  improvisierte  Standrede.  141 

,,  Speech,  speech!"  Der  derbe  vierschrötige  Gesell  steht 
unschlüssig  mit  niedergeschlagenen  Augen  da,  und  dann 
stammelt  er  im  Jargon  ein  paar  Worte  des  Dankes.  Wie 
er  sich  aber  zum  Abgehen  wendet,  wird  von  der  Galerie 
her  der  Ruf  nach  Musik  laut.  Da  macht  er  kehrt,  stampft 
bis  an  die  Rampe  vor  und  hebt  fast  drohend  den  Arm  in 
der  Richtung,  von  wo  der  Ruf  kam.  ,,Wer  Musik  haben 
will/'  ruft  er  in  kaum  unterdrückter  Entrüstung,  „der  mag 
ins  Tingeltangel  gehen,  hier  ist  nicht  der  Ort  für  trivialen 
Ohrenschmaus,  hier  wird  unsere  dramatische  Kunst  mit 
heißem  Bemühen  für  unsere  Leute  gepflegt.  Hier  stehe  ich 
seit  einer  Reihe  von  Jahren  und  tue  mein  Äußerstes,  um 
euch,  meinen  armen  Landsleuten  und  Glaubensgenossen, 
eine  nationale  Kunst  zu  geben,  wie  ihr  sie  braucht,  und  wie 
ihr  sie  versteht.  Schritt  für  Schritt  habe  ich  versucht, 
euch  zum  Kunstbedürfnis  und  Kunstverständnis  zu  er- 
ziehen, mit  dem  Einfachsten  und  Verständlichsten  habe 
ich  angefangen,  um  euch  vorzubereiten  auf  das  Tiefere, 
das  Ernstere,  auf  das  Hohe  und  Heilige,  und  jetzt  schreit 
ihr  nach  Musik!     Dankt  ihr  mir  so?!" 

Es  dürfte  selbst  für  den  abendländischen  Juden  schwer 
sein,  das  russisch-jiddische  Idiom  zu  verstehen,  aber  man 
hört  sich  allmählich  hinein.  Ich  wenigstens  vermochte 
vom  dritten  Akt  ab  schon  ganz  leidlich  zu  folgen,  und  so 
glaube  ich,  daß  ich  auch  den  Gedankengang  dieser  aus 
echter  Leidenschaft  heraus  improvisierten  Rede  ziemlich 
richtig  verstanden  habe.  Ganz  still  und  beschämt  saßen  die 
Zuschauer  da,  und  die  j  üngeren  Leute  besonders  hingen  mit 
Ergriffenheit  an  den  Lippen  des  Schauspielers,  den  das 
Feuer  seines  Zornes  immer  beredter  machte.  Er  sprach 
von  der  Sehnsucht  seines  Volkes  nach  Kunst,  nach  tätiger 
Beteiligung  an  den  höheren  Kultur  auf  gaben  der  Mensch- 
heit, er  wies  voller  Stolz  auf  die  großen  Erfolge  hin,  die 


142  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

jüdische  Dramatiker,  jüdische  Darsteller  vornehmlich  auf 
der  deutschen  Bühne  gefunden  hätten.  Er  nannte  mit 
Begeisterung  den  Namen  Max  Reinhardts,  der  einen  der 
ihrigen,  Schalom  Asch,  aus  dem  Dunkel  hervorgezogen  und 
zahlreichen  anderen  jüdischen  Künstlern  Gelegenheit  ge- 
geben habe,  ihre  große  Begabung  von  dem  anspruchsvollsten 
und  kritischsten  Publikum  Europas  anerkannt  zu  sehen. 
Er  leitete  aus  diesen  ersten  großen  Erfolgen  die  Pflicht  des  ge- 
samten Judentums  ab,  sich  mit  seinen  besten  Kräften  immer 
eifriger  an  der  Aufwärtsentwicklung  der  modernen  Kunst 
zu  beteiligen.  Und  dann  verbeugte  er  sich  stolz-bescheiden 
und  verließ  unter  donnernden  Cheers  die  Bühne. 

Nachdem  ich  gesehen  habe,  was  beliebige  Dilettanten, 
auf  gut  Glück  herausgegriffen  aus  den  unteren  Schichten 
dieser  in  die  westlichste  aller  Kulturen  verschlagenen 
Orientalen,  für  ein  starkes  Talent  zur  Menschendarstellung, 
d.  h.  also  zur  künstlerischen  Selbstentäußerung  besitzen, 
habe  ich  begriffen,  woher  es  kommt,  daß  in  allen  Kultur- 
ländern gerade  das  Theater  von  Angehörigen  dieser  Rasse 
überschwemmt  wird.  Geldgier  und  Ruhmsucht  sind  in 
diesem  Falle  sicher  nicht  die  Triebkräfte;  denn  es  gibt 
genug  jüdische  Schauspieler,  die  nicht  im  hellen  Sonnen- 
lichte des  Glückes  sitzen,  und  die  ebenso  wie  ihre  arischen 
Kollegen  aus  reiner  Begeisterung  für  die  Kunst  frieren 
und  darben.  Denn  gleichwie  diese  Rasse  eine  Neigung 
zur  Spitzfindigkeit  des  Denkens,  zum  kniff  liehen  Problem 
stellen,  eine  besondere  Geschicklichkeit  im  Rätselraten 
und  in  raschen  Kombinationen  des  Witzes  ihr  eigen  nennt, 
die  sie  für  die  Juristerei  besonders  geeignet  erscheinen 
läßt  und  ihren  Handelsunternehmungen  und  Geldspekula- 
tionen so  oft  einen  kühn-fantastischen  Anstrich  ver- 
leiht, so  mag,  im  Verein  mit  solcher  geistigen  Disposition, 
auch  der  jahrhundertelange  Druck,   der  auf  dem  Gemüt 


Niedergang  des  deutschen  Theaters.  1 43 

dieses  Volkes  lastete,  die  naive  IyUst  am  Mummenschanz  zu 
der  starken  Sehnsucht  hinauf  gesteigert  haben,  wenigstens 
gelegentlich  durch  das  Mittel  des  künstlerischen  Selbst- 
betruges über  das  gedrückte  Ich  der  Wirklichkeit  hinaus- 
zukommen und  im  Rampenlichte  Könige,  Helden  und 
glückliche  Iyiebhaber  vorzustellen.  Es  ist  überhaupt 
charakteristisch,  daß  gerade  diejenigen  Völker,  deren 
Einwanderer  sich  in  der  Neuen  Welt  noch  am  fremdesten, 
am  wenigsten  von  der  Sympathie  der  dort  herrschenden 
Rassen  gestützt  fühlen,  am  eifrigsten  und  mit  dem  größten 
Erfolg  ihr  nationales  Theater  pflegen.  Neben  den  Juden 
sind  dies  die  Chinesen,  die  gleichfalls  in  New  York  und 
San  Franzisco  stehende  Bühnen  unterhalten.  Die  Italiener 
und  die  Franzosen  sehen  ja  an  der  großen  Oper  ihre 
nationale  Kunst  glänzend  vertreten,  aber  auch  sie  werden 
vermutlich  ebenso  wie  die  Griechen  und  die  zahlreichen 
Angehörigen  der  verschiedenen  slawischen  Volksstämme 
eifrig  I^iebhabertheater  spielen.  Ich  habe  leider  davon 
nichts  zu  Gesicht  bekommen. 

Aber  seltsam  muß  es  uns  Deutsche  berühren,  daß 
dies  ungeheure  Neuland,  als  welches  Deutschland  es  in 
musikalischer  Beziehung  überhaupt  erst  urbar  gemacht 
und  vollständig  mit  der  Saat  bestellt  hat,  die  in  Gestalt 
der  großen  Oper  und  eines  blühenden  Konzertlebens 
glänzend  aufgegangen  ist,  doch  kein  deutsches  Schau- 
spielhaus von  einiger  Bedeutung  mehr  am  Lieben  zu  er- 
halten vermag.  Wenn  man  bedenkt,  daß  der  herrschenden 
Yankeerasse  mit  ihren  20  400  000  Köpfen  18  400  000 
Amerikaner  deutscher  Abstammung  gegenüberstehen,  daß 
New  York  dem  Prozentsatz  der  Einwohner  deutscher 
Abstammung  nach  die  zweitgrößte  deutsche  Stadt  der 
Welt  ist,  so  muß  man  sich  baß  verwundern,  daß  die  wenigen 
stehenden  deutschen  Bühnen  in  den  Vereinigten  Staaten 


144  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

nicht  nur  künstlerisch  immer  mehr  zurückgehen,  sondern 
auch  meistens  mit  schweren  Existenzsorgen  zu  kämpfen 
haben.  Bei  längerem  Hinschauen  und  ruhiger  Überlegung 
wird  diese  traurige  Tatsache  allerdings  verständlich.  Die 
Nachkommen  der  Einwanderer  beherrschen  fast  aus- 
nahmslos das  Englische  schon  besser  als  ihre  Mutter- 
sprache, in  der  zweiten  Generation  haben  es  die  meisten 
wohl  schon  ganz  vergessen.  Ferner  ist  zu  bedenken,  daß 
die  weitaus  überwiegende  Zahl  der  Einwanderer  den 
wenig  gebildeten  Ständen  entstammt,  bei  denen  natur- 
gemäß von  einem  starken  Pflichtbewußtsein  als  deutsche 
Kulturträger  nicht  die  Rede  sein  kann.  Wenn  nun  schon 
die  Väter  der  fremden  Sprache  und  damit  der  fremden 
künstlerischen  Kultur  kaum  irgendwelchen  Widerstand 
entgegensetzen,  so  wird  dies  bei  ihren  Kindern  und  Kindes- 
kindern erst  recht  nicht  der  Fall  sein.  Es  bleibt  also  von 
den  18  Millionen  als  befähigte  Genießer  und  berufene 
Förderer  des  deutschen  Dramas  nur  ein  verhältnismäßig 
kleiner  Bruchteil  übrig,  dessen  Mitglieder  zudem  über  den 
ganzen  weiten  Kontinent  verstreut  sind.  Nun  wird  freilich 
in  sehr  vielen  der  zahllosen  deutschen  Vereine  nicht  nur 
das  deutsche  Iyied,  sondern  auch  die  deutsche  Poesie  mit 
schönem  Eifer  gepflegt;  es  gibt  auch  reiche  Deutsche 
genug,  die  nicht  nur  zugunsten  eines  L,iebhabertheaters, 
an  dem  ihre  Töchter  und  Söhne  mitspielen,  sondern  auch 
zugunsten  einer  öffentlichen  Bühne  tief  in  ihre  Taschen 
zu  greifen  bereit  sind;  aber  nun  taucht  die  andere 
große  Schwierigkeit  auf:  Für  welche  Gattung  deutscher 
Dramatik  soll  dies  Geld  gespendet,  dieser  rührende  Eifer 
aufgewendet  werden?  Außer  den  paar  akademischen 
Lehrern  deutscher  Literatur  und  einigen  auf  der  Höhe 
der  Bildung  stehenden  berufsmäßigen  Kritikern  haben 
doch  nur  verschwindend  wenige  Deutsch- Amerikaner  ein 


Repertoirschwierigkeiten  der  deutschen  Bühne.  145 

so  starkes  Interesse  an  der  Entwicklung  speziell  des 
Theaters,  daß  sie  dem  wunderlich  sprunghaften  Werde- 
gang unseres  Dramas  in  den  letzten  vier  Jahrzehnten  zu 
folgen  imstande  gewesen  wären.  Die  internationale  Mode 
hat  lediglich  das  Musikdrama  Wagners  und  seiner  Nach- 
folger gestützt.  Die  Schulen  Ibsens  und  der  Naturalisten, 
der  Neuromantiker,  der  Symbolisten,  Satanisten,  und  wie 
sie  sonst  noch  heißen  mögen,  deren  Modeglanz  oft  schon 
verblaßt  war,  bevor  ernsthafte  Leute  sich  noch  über  ihren 
inneren  Wert  klar  geworden  waren,  sie  konnten  zwar  das 
deutsche  Theaterleben  stark  anregen,  besaßen  aber  nicht 
die  Kraft,  zumeist  auch  nicht  einmal  die  Zeit,  fruchtbar 
in  die  Ferne  zu  wirken.  Die  stärkste  Auswanderung 
gebildeter  Deutscher  erfolgte  aber  in  den  Sturmjahren 
um  48  herum  und  in  den  ersten  Jahren  nach  1870.  Die 
Begriffe  vom  deutschen  Drama,  die  also  unsere  wichtigsten 
Kulturträger  mit  herüberbrachten,  stammen  noch  aus 
der  Zeit,  als  auf  unserem  Theater  ein  blasses  Epigonentum 
herrschte.  Von  den  aufregenden  Kämpfen,  die  in  den 
letzten  vier  Jahrzehnten  unsere  dramatischen  Dichter 
nicht  zur  Ruhe  kommen  ließen  und  unseren  Geschmack 
revolutionierten,  hat  das  Deutschtum  überm  Ozean  kaum 
einen  Hauch  verspürt.  Was  ist  begreiflicher,  als  daß  der 
Leiter  eines  deutschen  Theaters  in  Amerika  in  der  Auf- 
stellung seines  Repertoirs  möglichst  sicher  gehen  will? 
Da  er  mit  gutem  Grunde  befürchten  muß,  sein  Stamm- 
publikum durch  allzuviel  Ibsen  und  Hauptmann  zu  lang- 
weilen, durch  Ernst  Hardt  und  Herbert  Eulenberg  vor  den 
Kopf  zu  stoßen  und  durch  Frank  Wedekind  zu  entrüsten, 
weil  die  angelsächsische  Geistesenge  und  Prüderie  bei 
langem  Aufenthalt  im  Lande  schließlich  doch  auch  auf 
die  kecksten  Deutschen  abfärbt,  so  wird  er  sich  darauf 
beschränken,  neben  den  Klassikern  das  harmlose  Familien- 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  10 


146  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

lustspiel  und  das  gesinnungstüchtige  Thesenstück  zu  geben. 
Diese  dramatische  Kost  wird  nun  allerdings  auch  den 
ganz  anspruchslos  und  lammfromm  gewordenen  Deutsch- 
Amerikaner  nicht  zum  entrüsteten  Widerspruch  reizen; 
sie  wird  ihm  aber  auch  nichts  zu  geben  vermögen,  was  sein 
Gemüt  in  gesunde  Wallung  bringen  und  seinem  Kopf 
zu  denken  geben  könnte.  Die  sozialen  Verhältnisse,  auf 
denen  das  deutsche  Familienstück  beruht,  die  Konflikte, 
die  durch  Standesvorurteile  oder  durch  spießbürgerliche 
Beschränktheit  entstehen,  auch  manche  T^ieblingsfiguren 
dieser  Gattung,  der  Schwerenöter  in  Uniform,  der  Back- 
fisch, der  schüchterne  Kandidat  usw.  usw.,  sind  ihm  gänz- 
lich fremd  geworden.  WTie  sollten  ihn  Menschen  und 
Verhältnisse  auf  der  Bühne  interessieren,  die  er  in  seiner 
Umwelt  niemals  gesehen  hat?  Neuerdings  sind  einzelne 
deutsche  Theaterleiter  auf  den  Ausweg  verfallen,  auch  die 
deutsche  Operette  in  ihren  Spielplan  aufzunehmen.  Eine 
unglücklichere  Idee  konnten  sie  wohl  nicht  gut  auftreiben ; 
denn  was  gibt  es  auf  theatralischem  Gebiete  Abschrecken- 
deres und  Jämmerlicheres  als  eine  Operette,  mit  unzu- 
länglichen Mitteln  dargestellt?  Zudem  ist  in  den  Ver- 
einigten Staaten  an  Operettenbühnen  wahrlich  kein 
Mangel,  und  was  Wien  an  Schlagern  produziert,  wird 
unfehlbar  auf  diesen  Bühnen  mit  allem  Pomp  inszeniert 
und  von  den  zugkräftigsten  Spezialisten  dieser  Gattung 
dargestellt.  Die  Besonderheit  der  amerikanischen  Ope- 
rettendarstellung besteht  darin,  daß  in  ihr  keiner  der 
Darsteller  auch  nur  eine  Minute  lang  seine  Gliedmaßen 
ruhig  halten  kann;  jede  Note  schier  wird  mit  einer  Geste 
begleitet,  und  sobald  ein  flotter  Rhythmus  einsetzt,  be- 
ginnen Chor  und  Solisten  mit  allen  verfügbaren  Extremi- 
täten zu  zucken,  zu  schlenkern,  zu  stoßen  und  zu  schleudern 
—  kurz,  es  ist  ein  wirbelndes  Durcheinander  taktmäßig 


Reinhardt  der  Retter.  147 


in  Schwung  gebrachter  Beine  und  Arme,  von  verzweifelten 
Anstrengungen  ausgepumpter  Lungen  und  heiser  ge- 
schriener  Stimmritzen  begleitet.  Wie  arg  nun  auch  dieser 
Stil  einem  gebildeten  Geschmack  auf  die  Nerven  gehen 
mag,  er  ist  einmal  der  herrschende  geworden,  und  kein 
seßhafter  amerikanischer  Bürger  wird  sich  eine  Operette 
anders  vorstellen  können,  denn  als  eine  solche  prunkvoll 
inszenierte,  herrlich  gewandete  Universalzappelei  mit 
Musikbegleitung.  Was  soll  ihm  unter  solchen  Umständen 
eine  deutsche  Operette  bieten,  die  für  den  Mangel  an 
kostspieliger  Inszenierung  und  geschmackvoller  Kostü- 
mierung keineswegs  durch  glänzende  Leistungen  des 
Orchesters  und  der  Sänger  zu  entschädigen  vermag?  Sie 
kann  nur  dazu  beitragen,  seine  Achtung  vor  dem 
deutschen  Theaterwesen  noch  mehr  herabzusetzen,  als 
es  Klassikervorstellungen  mit  dürftiger  Ausstattung  und 
mittelmäßigen  Schauspielern  schon  zu  Wege  gebracht 
haben.  Das  Interesse  für  deutsches  Theater  und  die 
Hochachtung  vor  der  Leistungsfähigkeit  der  deutschen 
dramatischen  Kunst  kann  meines  Krachtens  da  drüben 
nur  dadurch  wieder  erweckt  werden,  daß  von  Deutsch- 
land aus  große  Mittel  aufgewendet  werden,  um  Gast- 
spiele ganz  hervorragender  Truppen  mit  allerersten 
Schauspielern,  bedeutenden  Regisseuren  und  glänzender 
Ausstattung  in  den  deutschen  Hauptstädten  der  Union 
zu  ermöglichen.  Mit  zweiter  Garnitur  und  mit  abge- 
blaßten Sternen  in  Dollarica  zu  arbeiten,  hat  gar  keinen 
Sinn.  Wenn  Max  Reinhardt  seinen  Plan  verwirk- 
licht, seinen  „üdipus",  „Faust"  und  andere  geniale  Insze- 
nierungen nach  Amerika  zu  bringen,  so  wird  er  ganz  sicher 
nicht  nur  gute  Geschäfte  machen  und  persönlich  einen 
großartigen  Erfolg  erzielen,  sondern  er  wird  auch  die  Ehre 
der  deutschen  theatralischen  Kunst  wiederherstellen  und 

10* 


148  Vom  Theater  im  Yankeelande. 

für  die  Zukunft  eine  neue  Möglichkeit  schaffen,  ein  gutes 
deutsches  Theater  ständig  drüben  zu  erhalten.  Die  Ameri- 
kaner wollen  zunächst  einmal  verblüfft  sein;  es  muß  ihnen 
etwas  noch  nicht  Dagewesenes  gebracht  werden.  Eine 
Bombenreklame  muß  auch  das  ganze  gebildete  Publikum 
englischer  Zunge  in  dies  Unternehmen  locken,  und 
dies  gesamte  Publikum  englischer  Zunge  muß  vor  Neid 
bersten  und  zu  dem  Geständnis  gezwungen  werden,  daß 
es  dergleichen  in  seinem  Theater  noch  nicht  erlebt  habe. 
Und  der  Stolz  auf  diesen  Neid  der  Yankees  wird  das 
Solidaritätsgefühl  der  Deutsch-Amerikaner  aufstacheln. 
Die  Schecks  für  einen  deutschen  Theaterfonds  werden  sich 
zu  einem  Berge  aufhäufen,  und  so  gut,  wie  die  jetzigen 
italienischen  Leiter  der  großen  Oper  sich  unsere  ersten 
Sänger,  Sängerinnen  und  Kapellmeister  herüberkommen 
lassen,  werden  in  Zukunft  Unternehmer  großen  Stils  die 
Mittel  besitzen,  sich  unsere  hervorragendsten  Regisseure  und 
Schauspieler  zu  kaufen.  Und  wenngleich  die  große  Sen- 
sation, die  das  deutsche  Theater  in  Mode  bringt,  von 
Sophokles  und  Goethe  ausging,  so  wird  sie  in  der  Folge  doch 
sogar  die  Denkfaulheit  und  die  Prüderie  des  amerikanischen 
Durchschnittsmenschen  besiegen  und  auch  kühnere  Neu- 
töner  unter  den  lebenden  Dramatikern  zu  Worte  kommen 
lassen.  Wenn  dann  gegen  den  Geist  des  deutschen  Dramas 
in  den  Zeitungen  ein  ebenso  lauter  Kampf  entbrennt  und 
ebenso  heftig  von  den  Kanzeln  gedonnert  wird,  wie  es 
gegen  Richard  Strauß'  letzte  Opernwerke  geschah,  so  wird 
manch  ein  geplagter  deutscher  Theaterdirektor  seinen  Kahn 
schmunzelnd  wieder  flott  werden  sehen,  und  es  wird  sogar — 
was  schließlich  doch  wohl  das  Beste  dabei  ist  —  wieder  ein 
tüchtiges  Stück  Arbeit  in  der  Richtung  der  kulturellen 
Germanisierung  Amerikas  geleistet  werden  können. 

ri  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiii  iiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiM  Minna 


r.imiiiiiiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiiiiii  im  iiiii  in  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiu 

2)ie  amerikanische  fresse. 


]n  einer  Ansprache,  die  Professor  Henry  Fairfield 
y  Osborn  von  der  Columbia  Universität  zum  Beginn  des 
Wintersemesters  1910  an  seine  Studenten  richtete,  fand 
ich  folgende  höchst  bezeichnende  Worte  über  die  amerika- 
nische Presse,  die  ich  hier  in  Übersetzung  geben  will: 
,, Einen  guten  Maßstab  für  die  Kultur  Ihrer  Umwelt  bildet 
der  Tiefstand,  bis  zu  welchem  Ihre  Morgen-Zeitung  sich 
dem  Dollar  zuliebe  prostituiert,  ihre  Schattierungen  von 
Gelbheit,  ihre  Frivolität,  ihre  Skrupellosigkeit.  Mir 
scheint  es  manchmal  wirklich  besser,  überhaupt  keine 
Zeitungen  zu  lesen,  selbst  wenn  sie  gewissenhaft  sind,  und 
zwar  wegen  ihres  Mangels  an  Verständnis  für  die  relative 
Wichtigkeit  der  Haupterscheinungen  des  amerikanischen 
Gebens.  Das  Abendblatt,  welches  am  ernsthaftesten  über 
unser  Studentenleben  und  Treiben  berichtet,  widmet 
einem  Fußballspiel  sechs  Spalten  und  einer  großen  wissen- 
schaftlichen Kontroverse  zwischen  zwei  Hochschulen 
sechs  Zeilen !  Das  ist  der  Unterschied  zwischen  dem,  was 
sein  sollte  und  dem,  was  praktisch  ist.  Amerikanische  IyOr- 
beeren  grünen  für  die  gigantischen  Industriehäuptlinge: 
wenn  das  Lieben  eines  solchen  bedroht  oder  gar  ausgelöscht 
ist,  so  müssen  ganze  Morgen  herrlichen  Waldes  fallen, 
um  das  Material  zu  liefern  für  das  Papier,  das  notwendig 
ist,  um  seine  Verdienste  in  das  gehörige  Iyicht  zu  setzen, 
wohingegen  unser  größter  Astronom  und  Mathematiker 
dahingehen  kann  und  vielleicht  die  Schale  eines  einzigen 
Baumes  genügt  für  die  paar  kurzen,  unauffälligen  Sätzchen, 
die  über  seine  Krankheit  und  seinen  Tod  berichten.    Ver- 


150  Die  amerikanische  Press< 


gleichen  Sie  einmal  die  Ausführungen  der  britischen  und 
der  amerikanischen  Presse  über  einen  solch  leicht  wiegenden 
Gegenstand,  wie  ein  internationales  Polo:  die  ersteren 
allein  sind  lesenswert,  weil  sie  von  Fachleuten  geschrieben 
sind  und  unser  Wissen  von  dem  Wesen  des  Spieles  be- 
reichern können.  Über  einen  noch  viel  moderneren  Gegen- 
stand, die  Aviatik,  suchen  wir  in  unserer  Presse  vergeblich 
nach  irgendeiner  soliden  Belehrung  über  die  Konstruktion 
der  Apparate.  Oder  nehmen  wir  das  Thema  der  praktischen 
Politik:  der  britische  Student  findet  jede  bedeutungs- 
volle Rede,  die  in  irgendeinem  Teil  des  Reiches  ge- 
halten wurde,  in  voller  Ausführlichkeit  in  seinem  Morgen- 
blatt; er  bekommt  also  in  seiner  Eigenschaft  als  Wähler 
sein  Material  aus  erster  Hand  und  nicht,  wie  wir,  in  der 
subjektiven  Darstellung  des  Redakteurs." 

Diese  Stichprobe  aus  dem  Munde  eines  hochgebildeten 
Amerikaners  möge  mir  als  Schild  dienen  gegen  die  empörten 
Anfeindungen  amerikanischer  Patrioten,  die  sonst  sicher- 
lich meine  geringe  Meinung  von  ihrer  Presse  als  einen 
Ausfluß  bornierten  europäischen  Neides  hinstellen  würden. 
Jeder  ehrliche  und  geschmackvolle  Mensch  wird  mir  in 
der  Behauptung  beistimmen  müssen,  daß  wir  Europäer 
ein  gutes  Recht  haben,  über  das  kulturelle  Niveau  der 
Bürger  der  Vereinigten  Staaten  bedauernd  die  Achseln 
zu  zucken,  so  lange  sie  sich  eine  solche  Presse  gefallen 
lassen.  Professor  Osborns  Meinung  ist  selbstverständlich 
auch  die  aller  fein  empfindenden  und  für  den  guten  Ruf 
ihrer  Geisteshöhe  besorgten  Amerikaner;  aber  der  Um- 
stand, daß  der  Geschmack  dieser  Elite  bisher  noch  nicht 
imstande  gewesen  ist,  eine  Wendung  zum  Besseren  zu 
erzwingen,  beweist  leider,  daß  der  schlechte  Geschmack 
bei  der  erdrückenden  Mehrheit  zu  finden  sei.  So  lange  der 
Stand  der  Zeitungsverleger  noch  nicht  ausschließlich  aus 


Lesefutter  für  Kinder  und  Unmündige.  151 

reinen  Idealisten  besteht,  denen  kein  Geldopfer  groß 
genug  ist  zur  Hebung  des  geistigen  Niveaus  der  L^eser- 
welt,  so  lange  wird  selbstverständlich  die  Zeitung  nach 
dem  Geschmack  ihrer  Käufer  zugeschnitten  bleiben.  Es 
gibt  ohne  Zweifel  in  den  Vereinigten  Staaten  reichlich 
Journalisten,  die  sowohl  Bildung  als  stilistisches  Geschick 
genug  besäßen,  um  auch  einem  erheblich  anspruchs- 
volleren Publikum  zu  genügen.  Es  dünkt  mich  sogar 
nicht  unwahrscheinlich,  daß  in  dem  L,ande  der  glänzenden 
Redner,  der  scharfen,  witzigen  Beobachter  und  schlag- 
fertigen Debatter  mehr  gute  geborene  Journalisten  vor- 
handen sein  dürften,  als  in  manchen  Iy ändern  der  Alten 
Welt ;  wie  aber  gegenwärtig  die  Dinge  in  der  amerikanischen 
Presse  liegen,  haben  die  skrupellosen  fixen  Reporter  das 
Übergewicht,  und  die  besten  Köpfe  und  Federn  halten 
sich  entweder  der  Tagespresse  fern,  oder  schrauben,  dem 
Zwange  der  Verhältnisse  gehorchend,  ihr  Geistesniveau 
absichtlich  herunter.  Wie  die  amerikanische  Presse  nun 
einmal  ist,  erscheint  sie  in  den  Augen  ernsthafter  ge- 
bildeter Menschen  als  für  Kinder  und  Unmündige  zuge- 
schnitten. Selbstverständlich  ist  drüben,  wie  schließlich 
auch  überall  in  der  Alten  Welt,  ein  erheblicher  Unterschied 
zwischen  den  solid  fundierten,  hochangesehenen  alten 
Blättern  und  der  gelben  Sensationspresse  modernster 
Aufmachung  zu  bemerken;  aber  das  Betrübliche  dabei 
ist  eben,  daß  das  Modernste  auch  das  Schlechteste  be- 
deutet, und  daß  die  gebieterische  Stimme  des  Publikums 
auch  die  besseren  älteren  Blätter  zwingt,  wenigstens  in 
der  äußeren  Aufmachung  sich  immer  mehr  in  jenem 
schlechten  Sinn  zu  modernisieren. 

Das  sicherste  Mittel,  eine  Tageszeitung  herunter- 
zubringen, besteht  darin,  sie  mit  Illustrationen  zu  ver- 
sehen.     Selbst    unsere    außerordentlich    fortgeschrittene 


152  Die  amerikanische  Presse. 

Technik  ist  noch  nicht  imstande,  für  den  Rotationsdruck 
auf  Zeitungspapier  in  Massenauflagen  künstlerisch  wirkende 
Bilder  herzustellen,  abgesehen  davon,  daß  es  auch  nur  in 
sehr  seltenen  Ausnahmefällen  möglich  sein  wird,  von 
Tagesereignissen  im  Laufe  weniger  Stunden  flotte  künst- 
lerische Handzeichnungen  zu  erhalten.  Ks  wird  sich  also 
für  den  Bedarf  der  Tagespresse  immer  nur  um  Photo- 
graphien handeln  können,  die  durch  irgend  ein  billiges 
Verfahren  wiedergegeben  werden.  Was  dabei  für  den 
guten  Geschmack  herauskommt,  wenn  man  den  Tages- 
ereignissen mit  dem  Kodak  nachläuft,  jedes  Festessen 
mit  Magnesiumblitzen  auffängt  und  die  berühmten  Zeit- 
genossen tückisch  im  Vorübergehen  knipst,  das  erleben 
wir  ja  seit  einer  Reihe  von  Jahren  bereits  an  unseren 
Wochenschriften.  Immerhin  geht  es  da  noch  mit  einem 
gelinden  Schauder  ab,  denn  die  verfügen  wenigstens  über 
ein  besseres  Papier  und  mehr  Zeit  für  sorgfältige  technische 
Wiedergabe;  im  Hurrdiburr  des  täglichen  Rotations- 
betriebes wird  aber  aus  einer  festlich  bewegten  Volks- 
menge ein  Chaos  von  Klecksen  und  aus  der  geistvollen 
Physiognomie  eines  erstklassigen  Gentleman  die  Kari- 
katur eines  Raubmörders.  Mit  vollem  Rechte  sehen  wir, 
wenigstens  in  Deutschland,  gottlob  noch  jede  illustrierte 
Tageszeitung  für  ein  Kutscherblatt  an,  und  der  bessere 
Mensch  schämt  sich,  damit  einen  geräucherten  Hering 
einzuwickeln. 

In  der  Neuen  Welt  aber  gibt  es,  so  viel  mir  be- 
wußt, überhaupt  keine  unillustrierten  Tageszeitungen 
mehr;  selbst  die  ernsthaftesten  Blätter,  die  noch  auf  ihren 
guten  alten  Ruf  etwas  halten,  glauben  es  ihren  Lesern 
schuldig  zu  sein,  wenigstens  Porträts  vom  Tage  und 
humoristische  Beigaben  zu  bringen.  In  den  ausdrücklich 
für  den  Geschmack  der  großen  Masse  bestimmten  Blättern 


Ulustrationsunfug-.  153 


aber  sieht  man  vor  lauter  Illustrationen  bald  keinen  Text 
mehr.  Die  eigentliche  Sensationspresse,  drüben  die  gelbe 
genannt,  läßt  auf  ihrer  ersten  Seite  unter  lauter  schreienden 
Aufschriften  und  Bildern  sogar  ihren  eignen  Titelkopf 
verschwinden!  Am  oberen  Rand  der  Zeitung  lese  ich  in 
Riesenbuchstaben:  ,,287  Menschen  verkohlt",  oder  „Raben- 
mutter läßt  sieben  Kinder  verhungern" ,  oder  „Das  Arnold- 
mädchen mit  Liebhaber  in  Neapel  gesehen"  —  wobei  zu 
bemerken  ist,  daß  ,,das  Arnoldmädchen"  die  durch- 
gebrannte Tochter  einer  hochachtbaren  bekannten  Familie 
ist,  die  sich  durch  solch  rohes  Ausbrüllen  ihres  Herze- 
leides wie  öffentlich  geohrfeigt  vorkommen  muß !  Dann 
folgen  große  Porträts  der  Rabenmutter  mit  den  sieben 
Kindsleichen,  wüst  hingekleckste  Darstellungen  der  großen 
Brandkatastrophe,  Aufnahmen  des  Arnoldmädchens  als 
Baby,  als  Schulmädel,  als  junge  Dame,  ihrer  Kitern  und 
ihres  Entführers.  Falls  der  letztere  nicht  wirklich  von 
einem  Detektiv  oder  Reporter  geknipst  werden  konnte, 
tut  es  das  Bild  eines  beliebigen  anderen  jungen  Mannes 
natürlich  auch.  Reporternachrichten,  wahre  und  unwahre, 
Telegramme  über  das  gerade  vorliegende  Hauptereignis 
des  Tages  aus  dem  Bereich  der  Unglücks-,  Verbrechens- 
oder Skandalchronik  füllen  die  erste  und  vielleicht  auch 
noch  die  zweite  Seite  aus;  nötigenfalls  schließen  sich  hier 
die  Schauer-  und  Trauerfälle  aus  den  anderen  Teilen  der 
Union  und  den  anderen  Weltteilen  an.  Jedenfalls  bleibt 
als  blamable  Tatsache  bestehen,  daß  alle  die  Nachrichten, 
die  bei  uns  unter  der  Rubrik  ,, Unglücksfälle  und  Ver- 
brechen" in  möglichst  knappen  Notizen  abgetan  und  nur 
von  den  Armen  im  Geiste  mit  lebhaftem  Interesse  gelesen 
werden,  drüben  an  erster  Stelle  stehen  und  den  meisten 
Raum  beanspruchen,  selbst  in  Blättern,  die  für  anständig 
gelten.    Den  Sportereignissen  werden  tagtäglich,    winters 


154  Die  amerikanische  Presse. 

und  sommers,  viele,  viele  Spalten  und  massenhafte  Illu- 
strationen gewidmet.  Auf  diese  Weise  gelangt  schließlich 
jeder  amerikanische  Junge,  der  sich  auf  dem  grünen  Felde 
in  irgendeinem  Sport  eifrig  betätigt,  einmal  dazu,  seine 
interessanten  Züge  in  der  Zeitung  festgehalten  zu  sehen, 
und  daß  das  der  jugendlichen  Eitelkeit  schmeichelt,  ist 
ja  begreiflich  —  weniger  begreiflich  jedoch,  daß  die  Nation 
es  nicht  müde  wird,  jahraus,  jahrein  seine  Bills,  Bobs, 
Dicks,  Johns  und  Jacks  zum  Frühstück  serviert  zu  kriegen. 
Alle  prominenten  Persönlichkeiten,  die  gerade  irgendwie 
von  sich  reden  machen,  werden  fleißig  interviewt  und 
selbstverständlich  abgebildet.  Mehr  oder  minder  harm- 
lose Indiskretionen  aus  dem  L,eben  der  gerade  im  Brenn- 
punkt des  Tagesinteresses  stehenden  Personen  füllen 
zahlreiche  Spalten,  und  Big  Bill  (der  Präsident  Taft)  muß 
sich's  gefallen  lassen,  ebenso  burschikos  angeulkt  zu 
werden,  wie  irgendein  Brettlstern.  Um  auch  das  meist 
trockene  Gebiet  der  Politik  nicht  ganz  ohne  den  Reiz 
der  Illustration  zu  lassen,  verfällt  man  auf  die  seltsamsten 
Auskunftsmittel.  So  war  um  die  Weihnachtszeit  1910 
unter  den  Nachrichten  aus  dem  Weißen  Hause  The  Spinster 
Aunl  Big  Bills,  d.  h.  die  Altjungferntante  des  Präsidenten, 
im  Bilde  zu  sehen,  welche  ihrem  lieben  Neffen  eigenhändig 
Iyebkuchen  und  andere  Gutsein  gebacken  hatte;  das  Paket 
und  einzelne  Gutsein  waren  gleichfalls  abgebildet!  Die 
Politik  nimmt  in  den  Sensationsblättern  nur  in  Zeiten 
der  Wahlkämpfe  einen  großen  Raum  ein,  und  die  Sprache, 
die  sie  dann  führt,  zeichnet  sich  durch  hahnebüchene 
Derbheit  aus;  jedes  Mittel  ist  ihr  recht,  um  den  Partei- 
gegner zu  verunglimpfen.  Sachlich  gehaltene,  gedanken- 
volle Iyeitartikel  findet  man  nur  in  den  besten  Zeitungen. 
Einen  breiten  Raum  beansprucht  ferner  die  Rubrik,  die 
bei   uns   „Hof  und    Gesellschaft"   überschrieben  zu   sein 


Eitelkeitsmarkt.  155 


pflegt.  Während  aber  bei  uns  nur  die  regierenden  Häuser, 
der  höchste  Adel  und  ganz  wenige  große  Persönlichkeiten 
der  offiziellen  Welt  in  dem  Glashause  der  Öffentlichkeit 
sitzen,  berichtet  die  amerikanische  Presse  tagtäglich  von 
dem  Leben  und  Treiben  nicht  nur  ihrer  höchsten  Beamten- 
schaft, ihrer  Multimillionäre  und  Modeberühmtheiten, 
sondern  über  alle  ihre  besser  gestellten  Mitbürger,  soweit 
sie  ein  Haus  ausmachen.  ,, Mister  und  Missis  Habakuk 
J.  Flips  von  132.  Straße  W.  385  hatten  gestern  abend  zu 
Ehren  ihrer  Tochter  Margaret  Blossom,  die  ihr  sech- 
zehntes Lebensjahr  erreichte,  Gäste  eingeladen.    Unter  den 

prominenten  Persönlichkeiten  bemerkte  man usw." 

So  geht  es  spaltenlang  fort  während  der  ganzen  Saison. 
Wenn  Damen  aus  der  Gesellschaft  für  die  Wohltätigkeit 
irgendeine  Unterhaltung  veranstalten,  so  bringt  die  Presse 
die  Portraits  sämtlicher  Patronessen  und  ausführliche 
Berichte;  ebenso  wenn  ein  bekannter  Bürger  der  Stadt 
eine  große  Reise  unternimmt,  wenn  seine  Tochter  als 
Schönheit  in  der  Gesellschaft  Aufsehen  erregt,  oder  sein 
Sohn  beim  Fußballspiel  einige  Rippen  eingetreten  kriegt, 
oder  sein  zu  drei  Viertel  verkalkter  Großvater  achtzig 
Jahre  alt  wird  —  kurz  und  gut,  der  Markt  der  lieben  Eitel- 
keit wird  reich  beschickt  und  trägt  zu  der  fürchterlichen 
Papiervergeudung,  als  welche  sich  das  ganze  Preßunwesen 
darstellt,  am  meisten  bei.  Über  Theater  und  Musik  kann 
man  unmittelbar  neben  den  brillant  geschriebenen  Artikeln 
feiner  Kenner  in  weit  größerer  Ausdehnung  das  alberne 
Gewäsch  der  Reporter  finden,  ebenso  wie  sich  auch  zwischen 
allen  anderen  Spalten  unmittelbar  neben  dem  sachver- 
ständigen Urteil  des  gereiften  Fachmannes  die  zum  Urteilen 
gänzlich  unqualifizierte  Volksstimme,  das  Gänsegeschnatter 
des  Salons  und  der  blödeste  Tratsch  der  Hintertreppe 
breit  macht.    Hat  man  in  dem  Wirrsal  von  Nichtigkeiten 


156  Die  amerikanische  Presse. 

doch  einmal  einen  wirklich  fesselnden,  bedeutsamen 
Artikel  erwischt,  so  wird  man  wieder  des  Genusses  nicht 
froh  durch  die  abscheuliche  Gepflogenheit,  den  Text  durch 
Geschäftsreklamen  zu  unterbrechen.  Schreibt  da  ein 
feiner  Kopf  über  irgendeine  brennende,  sagen  wir  sozial- 
politische Frage.  Ich  folge  gespannt  den  geistvollen  Aus- 
führungen, bis  plötzlich  in  der  Mitte  der  Spalte  meine 
Augen  vor  einem  Hindernis  stutzen,  denn  da  schiebt  sich, 
dick  und  schwarz  umrändert,  die  Reklame  eines  Apothekers 
für  sein  neues  Abführmittel  hinein;  oder  ich  erbaue  mich 
eben  mit  innerlichem  Schmunzeln  an  den  philosophischen 
Aphorismen  zur  I,ebenskunst,  die  ein  witziger  Kopf  in 
fein  geschliffener  Form  zum  besten  gibt  (eine  Rubrik 
hierfür  befindet  sich  in  allen  besseren  Zeitungen  und 
scheint  sehr  beliebt  zu  sein).  Plötzlich  wird  eine  reizende 
Bosheit  über  die  Iyiebe  durch  das  sich  breit  hereindrängende 
Inserat  einer  Bestattungsgesellschaft  unterbrochen  mit 
der  fett  gedruckten  Überschritt:  ,, Wähle  dir  nie  dein 
I^eichenbestattungsgeschäft  aus  persönlicher  Freundschaft, 
denn  wenn  du  das  tust,"  geht  es  nun  in  kleinem  Druck 
weiter,  ,,so  schädigst  du  erstens  den  Toten,  weil  du  ihm 
nicht  die  erste  Qualität  Leichenbestattung  zukommen 
läßt,  und  lädst  zweitens  den  Hinterbliebenen  eine  Schulden- 
last auf,  für  die  sie  keine  Valuta  empfangen  haben,  weil 
ein  kleines  Unternehmen,  das  jährlich  nur  wenige  Be- 
gräbnisse zu  liefern  hat,  selbstverständlich  nicht  so  reich 
ausgestattet  sein  kann,  wie  ein  großes  von  unserem  Rang, 
und  dennoch  viel  höhere  Preise  berechnen  muß,  weil  es 
ja  auch  davon  leben  will.  Unser  Institut  dagegen  liefert 
ihnen  zu  billigerem  Preise  als  irgendein  anderes  alles, 
was  nur  ein  liebendes  Herz  zur  Erweisung  der  letzten 
Ehre  für  seine  teuren  Verblichenen  sich  wünschen  kann. 
Jedermann  kann  sich  bei  uns  nach  seinen  eignen  Ideen 


Intellektueller  Schlangenfraß.  15/ 

begraben  lassen,  wir  haben  Leute  von  allen  Rassen, 
Glaubensbekenntnissen  und  Bruderschaften  zu  unserer 
Verfügung."  Doppelstrich,  —  und  dann  geht  es  weiter  im 
Text.  So  muß  ich  unglücklicher  Zeitungsleser  mir  meine 
Reflexionen  über  die  Liebe  durch  den  unangemeldeten 
Besuch  der  Leichenwäscherin  stören  lassen;  kann  keinen 
Leitartikel  bewältigen,  ohne  peinlichst  an  meine  ange- 
schoppte  Leber,  meine  verdickte  Galle  oder  mangelhafte 
Darmtätigkeit  erinnert  zu  werden,  und  selbst  wenn  ich 
den  harmlosen  Roman  in  der  Beilage  schmökern  will, 
halten  mir  die  eifrigen  Verkäufer  aller  möglichen  Waren 
fortwährend  ihre  Muster  mit  lautem  Geschrei  unter  die 
Nase. 

Ich  kann  die  aufreizende  Wirkung  dieser  ewigen 
geschmacklosen  Unterbrechungen  nur  mit  den  Gefühlen 
vergleichen,  die  das  Telephon  im  Busen  des  modernen 
Menschen  auslöst,  wenn  es  ihm  rücksichtslos  in  seinen 
Schlaf,  in  seine  Andacht,  in  sein  Nachdenken  und  seine 
Liebesfeier  hineinklingelt.  Man  merkt  auch  aus  dieser 
Aufmachung  der  Zeitung,  daß  der  Durchschnittsamerikaner 
keinen  Anspruch  auf  Schonung  seiner  Nerven  erhebt. 
Kr  scheint  seine  Zeitung  zu  lieben,  so  wie  sie  ist,  denn  er 
widmet  ihr  alle  seine  freien  Augenblicke,  selbst  während 
der  Geschäftsstunden,  und  es  ist  für  den  denkenden  Euro- 
päer höchst  verwunderlich  zu  beobachten,  wie  Leute  der 
verschiedensten  geistigen  Rangklassen,  ohne  Unterschied 
des  Alters  und  Geschlechts,  den  nämlichen  intellektuellen 
Schlangenfraß  geduldig  und  sogar  wohlig  hinunterwürgen. 
Man  traut  seinen  Augen  nicht,  wenn  man  einen  ehr- 
würdigen Greis,  dessen  hohe,  ausgearbeitete  Stirn  beträcht- 
lichen Verstand  bezeugt,  mit  verhaltenem  Gekicher  die 
sogenannte  humoristische  Ecke  seiner  Zeitung  studieren 
sieht.     In   dieser  Abteilung  erscheint  nämlich,   ich  weiß 


158  Die  amerikanische  Presse. 

nicht  seit  wieviel  Jahrzehnten  bereits,  tagtäglich  eine 
Bilderserie  von  absichtlich  unbeholfenen  Karikaturen  im 
Stile  unseres  ,, kleinen  Moritz".  Die  scheußlichen  Fratzen, 
welche  sich  die  amerikanischen  Exzentrikkomiker  des 
Varietes  anzuschminken  pflegen,  fanden  vielleicht  ihre  ersten 
Vorbilder  in  den  tonangebenden  Karikaturenzeichnungen 
der  Tagesblätter,  und  diesen  Fratzen  hängen  Zettel  aus 
dem  Munde,  auf  denen  ihre  erschütternd  witzigen  Aus- 
sprüche verzeichnet  stehen.  Gewiß  können  auch  solche 
grotesken  Kindereien  zur  Abwechslung  einmal  einen 
anspruchsvolleren  Menschen  belustigen  —  die  goldig 
harmlosen  Dollarikaner  aber  lassen  sich  in  fast  all  ihren 
Blättern  tagtäglich  diesen  Infantilismus  gefallen;  Sonn- 
tags kriegen  sie  sogar  ganze  Seiten  davon  in  Buntdruck! 
Bin  wenig  begreiflicher  wird  einem  ja  allerdings  diese 
kindliche  Anspruchslosigkeit  des  Geschmacks,  wenn  man 
das  unbegrenzte  Vertrauen,  das  der  amerikanische  Leser 
in  die  Allwissenheit  seiner  Zeitung  setzt,  beobachtet. 
Wer  kein  Konversationslexikon  im  Hause  hat,  telephoniert 
an  eine  beliebige  Redaktion  und  setzt  voraus,  daß  er  da 
eine  prompte  Auskunft  auf  alle  erdenklichen  Fragen 
erhält.  Die  Naivität  der  guten  Leute  geht  soweit, 
daß  sie  dem  Mister  Editor  sogar  ihre  Herzensgeheimnisse 
anvertrauen  und  ihn  um  guten  Rat  bitten.  Manche 
Zeitungen  haben  eine  eigne  Abteilung  für  solche  ver- 
traulichen Auskünfte,  die  manchmal  in  ganz  ernsthaftem 
Ton  gegeben,  oft  aber  auch  von  dem  spaßhaften  Redakteur 
zur  ironischen  Verulkung  der  Einfalt  benutzt  werden. 
Ich  schlage  eine  angesehene  Chicagoer  Zeitung  auf  und 
finde  unter  der  Rubrik  ,,Die  Frau  und  ihre  Interessen" 
folgende  Anfrage  aus  dem  Leserkreise :  ,, Liebes  Fräulein 
Libbey!"  —  das  ist  die  Redaktrice  dieser  Abteilung  — 
,, Schreiber  dieses  ist  ein  junger  Mann,   welcher  in  einer 


Kopfzeilen.  159 


Landstadt  lebt  und  keine  Erfahrungen  mit  dem  schönen 
Geschlecht  hat.  L,etzte  Woche  begegnete  mir  eine  junge 
Dame,  und  ich  verliebte  mich  ganz  verzweifelt  in  sie,  sie 
machte  mir  aber  nicht  die  geringsten  Avancen.  Mein 
Vater  ist  Besitzer  einer  Iyohnkutscherei  in  der  Stadt,  und 
ich  fahre  den  Omnibus  vom  Bahnhof.  Wenn  diese  junge 
Dame  von  mir  vom  Bahnhof  nach  ihrer  Wohnung  ge- 
fahren zu  werden  wünschen  sollte,  würden  Sie  mir  raten, 
sie  gratis  mitzunehmen?     C.  A." 

Antwort:  ,,Ja,  das  könnte  Ihnen  schon  vorwärts 
helfen." 

Ist    das    nicht    rührend    niedlich? 

Eine  allbekannte  Eigentümlichkeit  der  amerikanischen 
Tageszeitung  sind  die  Head  lines  (Kopfzeilen).  Die 
Redaktionen  haben  einen  eignen  Mann,  welcher  nichts 
zu  tun  hat,  als  die  vorliegenden  Manuskripte  mit 
solchen  auffallenden,  kurz  orientierenden  Überschriften 
zu  versehen,  und  dieser  Mann  wird  gut  bezahlt.  Der 
europäische  I^eser  läuft  anfangs  blau  an  vor  Wut 
über  diese  gräßlichen  Head  lines;  er  fühlt  sich  zum 
Idioten  erniedrigt,  weil  man  durch  diese  Überschriften, 
die  jeden  Artikel  alle  Nase  lang  zusammenfassend  unter- 
brechen, im  Grunde  genommen  doch  nur  ausdrücken 
will,  daß  man  ihn  für  zu  stumpfsinnig  halte,  als  daß  er 
imstande  sei,  sich  selber  über  den  Hauptinhalt  des  Ge- 
lesenen klar  zu  werden.  Er  ärgert  sich  noch  ganz  besonders 
über  die  Gepflogenheit  der  Herren  Headliner,  bei  Be- 
richten über  Äußerungen  hervorragender  Persönlichkeiten 
zu  Tagesfragen  den  Namen  des  Sprechers  weg  zu  lassen. 
Da  steht  also  z.  B.  fett  und  gesperrt  gedruckt:  „Sagt,  Kali- 
frage nicht  schuld" ,  und  erst  in  dem  in  Diamant-  oder  gar 
Perlschrift  ohne  Durchschuß  gesetzten  Text  erfährt  man, 
daß  es  sich  um  den  amerikanischen  Botschafter  in  Berlin 


]  60  Die  amerikanische  Presse. 

handele,  der  die  Mutmaßung  zurückweise,  daß  seine 
Haltung  in  der  Kalifrage  die  Ursache  seiner  Abberufung 
gebildet  habe.  —  Bin  Bericht  über  mein  und  meiner  Frau 
Auftreten  in  einem  Universitätshörsaal  war  beispiels- 
weise überschrieben:  „Tituliertes  Paar  produziert  sich 
vor  erlesener  Hörerschaft".  Oder  ein  Mordbericht  ist  über- 
schrieben: „Pfeift  Signal  aus  Liebestagen,  tötet  sodann 
Frau".  Genug  der  Beispiele.  Aber  derselbe  Europäer, 
der  anfangs  mit  knapper  Not  dem  Schlagfluß  entging 
vor  Ärger  über  so  viel  Kinderei  und  grobe  Geschmack- 
losigkeit, kommt  schon  nach  acht  Tagen  sicherlich  dazu, 
die  Hinrichtung  der  Headlines  zu  segnen,  denn  sie  be- 
deuten tatsächlich  den  Ariadnefaden,  der  allein  einen 
durch  das  L,abyrinth  der  zu  wüsten  Haufen  aufgetürmten 
Tagesneuigkeiten  sicher  hindurchgeleiten  kann.  Mit  Hilfe 
der  Headlines  ist  man  nämlich  imstande,  die  umfänglichste 
Tageszeitung  in  fünf  Minuten  zu  erledigen,  während  man 
reichlich  fünf  Stunden  brauchen  würde,  wenn  man  den 
ganzen  klein  gedruckten  Text  lesen  wollte.  Sie  sind  also 
im  Grunde  eine  ungemein  menschenfreundliche  Ein- 
richtung. 

Es  sei  mir  gestattet,  aus  meiner  eignen  Erfahrung  ein 
kleines  Beispiel  dafür  anzuführen,  was  der  Amerikaner 
unter  journalistischer  Smartness  versteht.  In  St.  I,ouis 
wurde  uns  unmittelbar  nach  unserer  Ankunft  früh  morgens 
ein  Reporter  gemeldet,  der  uns  zu  interviewen  wünschte. 
Ich  merkte  sehr  bald,  daß  der  sympathische,  bescheidene 
junge  Mann  keinen  blassen  Schimmer  hatte,  wer  wir 
waren,  und  er  gestand  auch  lächelnd  ein,  daß  ihn  nur  der 
,, Baron"  veranlaßt  habe,  uns  so  rücksichtslos  zu  über- 
fallen, ehe  wir  uns  noch  den  Schmutz  der  Nachtfahrt 
abgespült  hatten.  Da  in  jenen  Tagen  die  Aufführung  von 
Richard    Strauß'    „Salome"    in   Chicago   viel  Staub   auf- 


Ein  smarter  Reporter.  161 


wirbelte,  und  die  L,eute  von  St.  Louis  mit  Spannung 
darauf  warteten,  ob  ihr  Stadtoberhaupt  die  Aufführung 
dieses  gotteslästerlichen  Werkes  gestatten  werde,  so 
brachte  ich  den  netten  jungen  Mann  auf  die  Idee,  mich 
über  meine  Beziehungen  zu  Strauß  und  meine  Ansicht 
über  „Salome"  auszufragen.  Er  stenographierte  fleißig,  und 
wir  brachten,  wie  mir  schien,  ein  ganz  nettes  Feuilleton 
zustande.  Höchst  vergnügt  zog  er  mit  seiner  Beute  ab. 
Bereits  eine  Stunde  später  wurden  wir  von  seiner  Redaktion 
angeklingelt:  da  habe  ihnen  einer  ihrer  jungen  L,eute  ein 
ganz  blödsinniges  Gewäsch  abgeliefert,  wir  sollten  doch 
die  überflüssige  Belästigung  entschuldigen  und  den  Besuch 
eines  anderen  jungen  Herrn  ihrer  Redaktion  freundlichst 
empfangen.  Bereits  nach  zehn  Minuten  erschien  dieser 
Ins-Reine-Interviewer.  Nachdem  der  schneidige,  elegante 
junge  Mann  seinen  Kollegen  für  einen  Trottel  erklärt 
hatte,  ließ  er  sich  ein  Bild  von  meiner  Frau  geben  und 
fragte  sie,  wie  ihr  die  amerikanischen  Männer  gefielen,  ob 
ihr  die  glattrasierten  Gesichter  lieber  seien  als  die  Schnurr- 
barte, was  sie  von  den  Humpelröcken  halte,  ob  sie  nach 
dem  Westen  zu  gehen  beabsichtige,  ob  sie  sich  nicht  vor  den 
Cowboys  dort  fürchtete  —  und  dergleichen  weltbewegende 
Wichtigkeiten  mehr.  In  der  Nachmittagsausgabe  seines 
höchst  gelben  Blattes  erschienen  bereits  Bild  und  Interview, 
und  es  wurde  uns  nachher  von  vielen  I^euten  bestätigt, 
daß  das  Publikum  tatsächlich  dergleichen  platte  Nichtig- 
keiten sehr  gerne  lese.  Einige  Tage  später  waren  wir  zu 
Gast  bei  dem  Besitzer  jener  Zeitung.  Wir  fanden  ein 
reizendes  Heim  und  eine  aus  belangreichen  Männern  und 
interessanten  Frauen  anmutig  gemischte  Gesellschaft 
und  in  der  Gattin  des  Hausherrn  eine  hochgebildete, 
geschmackvolle  und  fein  empfindende  Dame. 

Ich  glaube,  aus  dieser  und  manchen  ähnlichen  Erfahrung 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  11 


1(32  Die  amerikanische  Presse. 

schließen  zu  dürfen,  daß  der  Tiefstand  der  amerikanischen 
Presse  durchaus  nicht  immer  einen  Rückschluß  zulasse  auf 
mangelhafte  Befähigung  der  amerikanischen  Journalisten. 
Im  Gegenteil:  diese  Damen  und  Herren  verfügen  nicht 
selten  über  eine  sehr  gute  Bildung,  über  eine  höchst  ge- 
wandte Feder,  einen  schlagfertigen  Witz,  und  es  wäre 
sehr  wohl  möglich,  mit  denselben  Mitarbeitern  auch  eine 
nach  unserem  Geschmack  gute  Zeitung  herzustellen.  In 
allem  Technischen  ist  uns  die  amerikanische  Presse  sogar 
vielfach  überlegen.  Die  Schnelligkeit  der  Berichterstattung 
und  besonders  die  Schnelligkeit  in  der  Herstellung  dieser, 
an  Umfang  unsere  Tagesblätter  meist  weit  übertreffenden 
Zeitungen  sind  ganz  erstaunlich,  und  die  Art  und  Weise, 
wie  die  Zeitung  oft  tatkräftig  in  öffentliche  Angelegen- 
heiten von  Bedeutung  eingreift,  und  wie  sich  bei  solchen 
Gelegenheiten  der  Journalist  zum  Volksmanne  großen  Stiles, 
zum  erfolgreichen  Anwalt  der  Verkannten  und  Unter- 
drückten entwickelt,  kann  uns  nur  mit  aufrichtiger  Hoch- 
achtung erfüllen.  Ich  brauche  wohl  nur  die  Namen  New- 
York  Herald  und  Henry  M.  Stanley  zu  nennen!  Es  be- 
tätigen sich  eben  im  Journalismus  nicht  nur  L,eute,  ,,die 
ihren  Beruf  verfehlt  haben/'  nicht  nur  Klugschwätzer  und 
Geistprotzen,  sondern  auch  Tatmenschen,  Willensgenies  — 
weil  sie  wissen,  daß  aus  einem  Journalisten  alles  werden 
kann:  ein  Nordpol-Entdecker,  ein  Sherlok-Holmes,  ein 
Theatertrustmagnat,  ein  Präsident  der  Republik !  Unserer 
deutschen  Eitelkeit  ist  es  besonders  schmeichelhaft,  daß 
unter  den  hervorragendsten  Journalisten  englischer  Feder 
sich  auch  zahlreiche  deutsche  Einwanderer  befinden. 
Der  anerkannt  beste  Musikkritiker  New  Yorks  ist  ein 
Deutscher ;  in  dem  am  Boston  Transcript,  einer  in  geistigen 
Dingen  führenden  Tageszeitung,  angestellten  Redakteur 
für     literarische     Angelegenheiten     entdeckte     ich     einen 


Ideale  Möglichkeiten  für  die  Zeitung.  153 

ehemaligen  Wiener  Feuilletonisten ;  er  schreibt  jetzt,  wie 
viele  seiner  I^andsleute  im  Journalismus  und  im  Mehrfache, 
ein  vorbildliches  Englisch.  Wenn  solchen  reichen  Möglich- 
keiten zum  Trotz  dennoch  das  allgemeine  Niveau  der 
Tagespresse  so  erschreckend  niedrig  ist,  so  sind  daran 
in  der  Hauptsache  doch  wohl  nur  die  Verleger  schuld,  die 
sich  an  das  gefährliche  Goethewort  halten:  ,,Wer  vieles 
bringt,  wird  manchem  etwas  bringen/' 

Eine  Zeitung  für  jedermann  aus  dem  Volke  kann  es 
aber  vernünftigerweise  überhaupt  nicht  geben;  denn 
was  das  Herz  eines  Waschweibes  erfreut,  bedeutet  für 
einen  denkenden  Menschen  eine  schwere  Beleidigung, 
was  eine  weltkluge  Frau  von  reifem  Verstände  lebhaft 
interessiert,  langweilt  vielleicht  einen  aufgeweckten  Iyaden- 
schwung  zum  Gähnen  usw.  usw.  Eine  Zeitung  kann 
ungemein  erziehlich  wirken  nicht  nur  für  den  Geschmack, 
sondern  auch  für  die  guten  Sitten  und  sogar  für  das  Denk- 
vermögen ihrer  I^eser,  indem  sie  allgemein  verständlich 
schreibt,  ohne  sich  jedoch  zu  dem  Geschmack  und  dem 
beschränkten  Begriffsvermögen  der  geistig  Minderwertigen 
herabzulassen,  indem  sie  den  niedrigen  Instinkten  der  Masse 
keine  Konzessionen  macht  und  den  Erbärmlichkeiten 
gegenüber,  die  die  Wogen  des  Gebens  tagtäglich  ans  Ufer 
der  Öffentlichkeit  schleudern,  gewissermaßen  die  Funk- 
tionen der  Gesundheitspolizei  ausübt,  dadurch  daß  sie  alle 
übel  riechenden  Materien  diskret  entfernt  oder  wenigstens 
desinfiziert  und  zum  Nutzen  der  allgemeinen  Moral 
chemisch  verarbeitet.  Die  jämmerliche  Iäebedienerei, 
welche  fast  die  gesamte  amerikanische  Tagespresse  der 
Masse  gegenüber  betreibt,  wirkt  jedoch  als  schweres 
Kulturhemmnis,  geschmacksverderbend  und  sogar  demo- 
ralisierend. Daß  sie,  wie  ich  in  den  Ausführungen  über 
öffentliche  und  private  Moral  bereits  hervorhob,  trotz  ihrer 

11* 


164  Die  amerikanische  Presse. 

indiskreten  Zudringlichkeit,  vor  der  selbst  die  zartesten 
Geheimnisse  des  Familienlebens  nicht  sicher  sind,  ge- 
schlechtlichen Dingen  gegenüber  eine  geradezu  ängstlich 
prüde  Zurückhaltung  ausübt,  verringert  die  moralischen 
Gefahren,  die  sie  heraufbeschwört,  nicht  im  geringsten, 
wenn  anders  man  zugibt,  daß  Moral  keineswegs  im  Nichts- 
wissen um  die  Natürlichkeiten  des  Geschlechtslebens 
besteht,  sondern  darin,  daß  man  seinen  Mitmenschen 
gegenüber  eine  anständige  Gesinnung  betätigt  und  seine 
schlechten  Triebe  in  strenge  Zucht  nimmt.  Wer  den 
Instinkt  der  Masse  zum  obersten  Richter  über  die  Moral 
und  den  gesunden  Menschenverstand  zum  Minister  der 
geistigen  Angelegenheiten  einsetzt,  der  trägt  notwendig 
zur  Verflachung  der  Kultur  bei.  Und  wer  einmal  vor  dem 
Mob  eine  etwas  zu  tiefe  Verbeugung  gemacht  hat,  dem 
setzt  er  sich  leicht  auf  den  Nacken  und  reitet  ihn  in  den 
Sumpf  der  tödlichsten  Trivialität  hinein.  Es  ist  sehr 
schwer,  sich  da  wieder  herauszurappeln. 

Auch  dafür  liefert  uns  die  amerikanische  Presse  ein 
warnendes  Beispiel;  anstatt  daß  nämlich,  um  die  Gering- 
wertigkeit des  täglichen  Massenfutters  auszugleichen, 
die  Wochen-  und  Monatsschriften  nun  erst  recht  auf 
nahrhafte  Qualität  der  von  ihnen  aufgetischten  Geistes- 
speise ausgingen,  sehen  wir  sie  vielmehr  fast  samt  und 
sonders  von  dem  bösen  Beispiel  der  Tagespresse  angesteckt. 
Auch  ihr  Feldgeschrei  lautet:  Sensation  um  jeden  Preis! 
Ich  weiß  nicht,  ob  es  ein  einziges  Blatt  in  Amerika  gibt, 
das  absichtlich  den  Kreis  seiner  I,eser  einschränkte,  um 
zwanglos  zu  einer  Gemeinde  von  Auserwählten  sprechen 
zu  dürfen.  Weil  der  Hunger  nach  Sensation,  durch  die 
schlechte  Presse  geflissentlich  genährt,  nunmehr  bereits 
eine  Charaktereigenschaft  des  ganzen  Volkes  geworden 
ist,  so  glauben  ihm  heute  auch  die  guten,  alten  Wochen- 


Sensationsartikel  ernster  Zeitschriften.  165 

und  Monatsschriften  Rechnung  tragen  zu  müssen,  wenn  es 
auch  nur  mit  einem  einzigen  Artikel  wäre.  Wenn  man  den 
Herausgebern  daraus  einen  Vorwurf  macht,  so  erwidern 
sie  einem  achselzuckend:  ,,Ja,  dieses  einen  Artikels  wegen 
wird  aber  unsere  Zeitschrift  gekauft;  bringen  wir  ihn  nicht, 
so  schnappt  uns  die  Konkurrenz  die  I^eser  weg."  Dieser 
eine  Sensationsartikel,  der  zum  Ärger  geschmackvoller 
Menschen  die  Physiognomie  einer  sonst  vornehmen  Zeit- 
schrift verschandelt  wie  eine  behaarte  Warze  das  Antlitz 
einer  feinen,  liebenswürdigen  Matrone,  wird  bezogen  aus 
dem  Reiche  des  Schwindels,  der  literarischen  Hoch- 
stapelei, er  wird  eingegeben  vom  Neid,  von  der  Rachsucht, 
vom  Cynismus  derer,  die  nichts  mehr  zu  verlieren  haben. 
Während  meiner  Anwesenheit  in  den  Vereinigten  Staaten 
brachte  so  eine  angesehene  Zeitschrift  einen  Artikel,  in 
welchem  behauptet  wurde,  daß  in  New  York  täglich 
etliche  hunderttausend  Stück  faule  Bier  importiert 
würden,  und  daß  sämtliche  Zuckerbäcker  ihre  appetit- 
lichen Süßigkeiten  grundsätzlich  nur  aus  faulen  Eiern 
herstellten!  Und  eine  Monatsschrift  von  noch  älterem 
Rufe  entwarf  ein  schaudererregendes  Bild  von  der  lebens- 
gefährlichen Ignoranz  der  amerikanischen  Ärzte,  insonder- 
heit der  Chirurgen.  Da  wurde  als  Beispiel  erzählt,  daß  ein 
Chirurg  mit  großer  Praxis  eine  Reise  ins  Ausland  unter- 
nehmen wollte  und  seine  Patienten  einem  älteren,  an- 
gesehenen Kollegen  empfahl;  darunter  eine  Dame,  an  der 
er  eine  Blinddarmoperation  ausgeführt  hatte,  die  aber 
neuerdings  wieder  über  Schmerzen  klagte.  Der  ältere 
Kollege  habe  die  Dame  untersucht  und  beim  besten  Willen 
keine  andere  Diagnose  als  Blinddarmentzündung  stellen 
können.  Schließlich  sei  der  Zustand  der  Dame  so  be- 
sorgniserregend geworden,  daß  sie  selber  auf  eine  noch- 
malige   Operation    bestanden    habe.     Dabei    zeigte    sich, 


166  Die  amerikanische  Presse. 

daß  der  Blinddarm,  und  zwar  in  scheußlicher  Verfassung, 
noch  vorhanden  war.  Als  der  jüngere  Kollege  dann  zurück- 
kehrte und  von  dem  sonderbaren  Ergebnis  der  Operation 
erfuhr,  habe  er  totenblaß  ausgerufen:  ,,Mein  Gott,  was 
habe  ich  dann  da  der  Dame  herausgeschnitten!?"  Ich 
müßte  mich  sehr  täuschen,  wenn  ich  diesen  Scherz  nicht 
schon  vor  dreißig  Jahren  in  Deutschland  gehört  hätte; 
aber  er  genügte,  gehörig  aufgefrischt,  um  die  sämtlichen 
medizinischen  Fakultäten,  die  ganze  Ärzteschaft  der 
Vereinigten  Staaten  mobil  zu  machen  und  einen  erbitterten 
Kampf  der  Meinungen  zu  entfachen,  von  dem  jene  tüchtige 
alte  Monatsschrift  schmunzelnd  den  Profit  einstrich. 
Man  sieht  aus  diesen  Beispielen,  daß  sich  der  Sensations- 
gier zuliebe  selbst  die  für  die  geistige  Oberschicht  arbeitende 
Presse  kein  Gewissen  daraus  macht,  mit  der  Ehre  des 
Einzelnen,  eines  ganzen  Standes,  eines  Berufs  oder  gar 
der  ganzen  Nation  ein  frivoles  Spiel  zu  treiben.  Die  Ent- 
schuldigung dafür  klingt  freilich  plausibel  genug:  „Was 
wollen  Sie?"  sagen  einem  die  Herausgeber,  ,,die  Wissenden 
täuschen  wir  ja  doch  nicht  mit  solchem  Bluff,  die  amüsieren 
sich  nur  darüber,  und  im  übrigen  wird  so  unendlich  viel 
gedruckt  und  gelesen,  daß  das  Publikum  es  ja  doch  nicht 
alles  behalten  kann.  Wenn  also  die  ärgsten  laugen  wirk- 
lich einmal  nicht  einwandfrei  dementiert  werden  sollten, 
so  vergißt  sie  das  Publikum  doch  sicher  über  der  nächsten 
Sensation.  Wo  bleibt  also  der  große  Schaden,  den  wir 
stiften  sollen?" 

Es  muß  allerdings  zugegeben  werden,  daß  unter  den 
besonderen  amerikanischen  Verhältnissen  der  Schaden 
vielleicht  geringer  ist,  als  er  bei  uns  in  Deutschland  sein 
würde,  weil  dort  verhältnismäßig  nur  wenige  Menschen 
auf  ein  Blatt  abonniert  sind.  Der  Großstädter  zumal 
kauft  sich  seine  Zeitung  und  selbst  seine  Wochen-  und 


Die  deutsche  Presse.  167 


Monatsschrift  auf  der  Straße,  und  zwar  heute  die  und 
morgen  jene,  wie  es  der  Zufall  will.  Er  lernt  also  die 
politischen  Tagesfragen  heute  in  republikanischer,  morgen 
in  demokratischer  Betrachtung  kennen;  er  sieht  heute 
rot,  morgen  blau  und  übermorgen  gelb  —  wenn  er  noch 
seinen  eignen  grünen  Optimismus  hinzutut,  ergibt  die 
Mischung  nach  dem  Newtonschen  Gesetz  schließlich  doch 
das  Weiß  der  reinen  Wahrheit !  Die  Gefahr  der  Verblödung 
durch  die  Presse  ist  also  schließlich  doch  nicht  so  groß, 
wenigstens  für  den  an  sich  schon  freieren  Geist.  Gesetzt 
aber  selbst  den  Fall,  daß  unter  den  etlichen  90  Millionen 
Menschen,  welche  die  Vereinigten  Staaten  bevölkern,  nur 
wenige  Tausend  noch  auf  dem  kindlichen  Standpunkt 
stehen  sollten,  alles,  was  gedruckt  ist,  für  wahr  zu 
halten,  so  bliebe  noch  immer  die  ungeheure  Blamage  vor 
der  übrigen  gebildeten  Welt,  welche  doch  nicht  gut 
umhin  kann,  die  Intelligenz  und  den  Geschmack  der 
ganzen  Nation  nach  der  Presse  zu  beurteilen,  die  sie 
sich  gefallen  läßt. 

Es  sei  übrigens  nachdrücklich  betont,  daß  wenigstens 
ein  Teil  der  deutschen  Presse  Amerikas,  und  besonders  der 
führenden  Blätter  New  Yorks,  sich  die  redlichste  Mühe 
gibt,  sich  über  den  Standard  der  englischen  Presse  zu 
erheben.  In  den  großen  deutschen  Zeitungen  findet  man, 
besonders  über  das  Ausland,  eine  bei  weitem  ausführlichere 
und  zuverlässigere  Berichterstattung,  als  selbst  in  der 
guten  englischen  Presse.  Und  was  beispielsweise  die 
New  Yorker  Staatszeitung  in  ihrem  Sonntagsblatt  an 
Belehrungs-  und  Unterhaltungsstoff  bietet,  wird  an  Quali- 
tät und  Quantität  von  keiner  unserer  Zeitungen  erreicht. 
Aber  freilich:  die  große  Mehrzahl  der  deutschen  Ein- 
wanderer amerikanisiert  sich  überraschend  schnell  in 
Dingen  des  Ungeschmacks  und  der  oberflächlichen  Neu- 


168  Die  amerikanische  Presse. 

gier,  und  so  zwingt  der  Selbsterhaltungstrieb  auch  die 
deutschen  Blätter,  manchen  betrüblichen  Unfug  mit- 
zumachen. Die  Frage  ist  nun  die :  ist  es  überhaupt  möglich, 
diesem  rapiden  Herabsinken  Einhalt  zu  gebieten  in  einem 
großen  demokratischen  Freistaat,  in  dem  die  Masse  sich 
zum  allmächtigen  Tyrannen  aufgeschwungen  hat?  Ich 
habe  an  anderer  Stelle  ausgeführt,  daß  es  die  natürliche 
Tendenz  jeder  menschlichen  Gemeinschaft  sei,  eine  Aristo- 
kratie aus  sich  heraus  zu  entwickeln.  Nun,  ich  sehe  auch 
die  Vereinigten  Staaten  auf  dem  besten  Wege  dazu.  Die 
Zeit  muß  kommen,  wo  diese  Aristokratie  zahlreich  und 
stark  genug  ist,  um  die  geistige  Führung  an  sich  zu  reißen. 
Eine  aristokratische  Kultur  aber  läßt  sich  eine  kulturlose 
Presse  nicht  gefallen.  Die  gebildete  Welt  wird  die  Ameri- 
kaner erst  dann  unter  die  Kulturvölker  rechnen,  wenn  sie 
eine  Presse  besitzen,  die  es  sich  zur  heiligen  Aufgabe  macht, 
den  Geschmack  der  Masse  zu  vergewaltigen. 


iiiiiii 


r.  1 1 1  ■  1 1  ■  i  n  ■ i  ■  i  ■  1 1  ■  i 1 1 1 1 1 1  ii  1 1  ■  i  ii  ■ mihi 

Von  der  demokratischen  Gesellschaft 


C7\eutsche  Auswanderer,  die  in  den  Vereinigten  Staaten 
&  zu  Wohlstand  gelangt  sind,  und  es  sich  leisten  können, 
von  Zeit  zu  Zeit  die  alte  Heimat  zu  besuchen,  versichern 
einen  in  weitaus  den  meisten  Fällen,  daß  sie  mit  staunender 
Genugtuung  den  großen  Aufschwung  des  Vaterlandes  in 
wirtschaftlicher,  verkehrstechnischer,  wissenschaftlicher 
und  künstlerischer  Beziehung  wahrgenommen,  daß  sie 
mit  stiller  Rührung  so  manche  treu  behütete  Wahrzeichen 
der  Vergangenheit,  liebenswürdige  alte  Sitten  und  Ge- 
bräuche, feuchtfröhliche  Kneip winkel  und  traute  Ge- 
mütlichkeit im  Familienheim  wieder  gefunden  und  ihre 
Heimatliebe  dadurch  gestärkt  hätten.  Wenn  man  sie  aber 
dann  fragt,  ob  sie  denn  das  alles  nicht  in  der  Neuen  Welt 
schmerzlich  vermißten  und  ihr  Leben  nicht  lieber  mehr 
oder  minder  bescheiden,  jedenfalls  aber  in  der  ruhigen 
Behaglichkeit  des  Rentners  in  der  alten  Heimat  beschließen 
wollten,  da  bekommt  man  fast  immer  zur  Antwort:  „Nein, 
Wurzel  fassen  könnte  ich  auch  in  dem  üppigen  modernen 
Deutschland  nicht  mehr.  So  sehr  ihr  auch  fortgeschritten 
seid,  so  habt  ihr  doch  noch  keine  Ahnung  von  der  wahren 
demokratischen  Freiheit.  Ihr  fühlt  euch  immer  noch  als 
Untertanen,  und  es  scheint  euch  vollständig  in  der  Ordnung, 
euch  euer  ganzes  Leben  lang  von  euren  großen  und  kleinen 
Fürsten,  von  Adel  und  Geistlichkeit,  von  euren  ge- 
schwollenen Beamten  und  aufdringlich  neugierigen  Polizei- 
organen grob  oder  sanft  stupfen,  gängeln  und  behüten 
zu  lassen.  Kuer  Dasein  ist  nach  wie  vor  umzäunt  von 
Warnungs-   und   Verordnungstafeln,    der  freie   Entschluß 


170  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

und  die  freie  Meinung  trauen  sich  immer  noch  nicht  recht 
heraus,  ihr  wartet  immer  noch  auf  Erlaubnis  oder  Befehl 
von  oben,  anstatt  auf  Biegen  oder  Brechen  dem  Unheil 
Trotz  zu  bieten.  Die  Disziplin  und  Ordnung  bei  euch  ist 
ja  eine  ganz  schöne  Sache,  aber  die  behagliche  Ruhe,  die 
sie  bieten,  muß  doch  mit  zu  viel  Demütigungen  des  Selbst- 
bewußtseins erkauft  werden.  Hure  gesellschaftlichen  Ein- 
richtungen erscheinen  uns  Republikanern  nun  vollends 
lächerlich  und  unerträglich,  denn  ihr  habt  ja  noch  kaum 
angefangen,  mit  den  unmöglichsten  Standesvorurteilen  und 
dem  engherzigsten  alten  Kastengeist  aufzuräumen.  Das 
sind  die  Gründe,  weshalb  ein  Mensch,  der  etliche  Jahr- 
zehnte lang  die  Luft  echter  demokratischer  Freiheit 
geatmet  hat,  im  alten  Vaterlande  nicht  mehr  heimisch 
werden  kann."  Und  dann  werden  einem  allerlei  blamabel 
komische  Reiseerlebnisse  aufgetischt,  die  dieses  Urteil 
über  unsere  Unfreiheit  erhärten  sollen:  polizeiliche  Melde- 
formulare, welche  nicht  nur  Namen,  Stand  und  Herkunft, 
sondern  auch  Alter,  Religion  und  Zweck  des  Aufenthalts 
des  Reisenden  zu  wissen  begehren,  das  Zusammenknicken 
schnauzender  Beamten  vor  einer  L,eutnantsuniform,  die 
aufgeregte  Wichtigtuerei  des  Mannes  mit  der  roten  Mütze, 
der  mit  Papieren  in  der  Hand  auf  dem  Bahnsteig  hin 
und  her  rennt  und  seine  Lounge  anstrengt  wie  ein  Brigade- 
general, um  einen  harmlosen  Personenzug  abzufertigen; 
die  komische  Angst  der  Gastgeber  vor  Verstößen  gegen 
die  Rangordnung  bei  Einladungen  in  ihr  Haus,  die  Ein- 
beziehung der  Frauen  in  diese  Rangordnung,  die  um- 
ständlichen Höflichkeitsbezeigungen  wildfremder  Menschen 
gegeneinander  —  und  was  dergleichen  niedliche  Reliquien 
aus  jammervoller  deutscher  Vorzeit  mehr  sind. 

Das  stimmt  alles,  und  wir  haben  kein  Recht,  es  dem 
Ausländer  zu  verübeln,  wenn  er  diese  Dinge  bei  uns  mit 


Die  demokratische  Freiheit.  171 

ironischer  Heiterkeit  oder  gar  mit  bitterem  Zorn  bemerkt. 
Die  Frage  ist  für  uns  nur  die:  lebt  man  in  der  demo- 
kratischen Gesellschaft  der  größten  amerikanischen  Re- 
publik wirklich  so  sehr  viel  freier  ?  Und  ist  es  überhaupt 
möglich,  ein  friedliches  Nebeneinanderleben  von  Menschen, 
eine  öffentliche  Ordnung,  Sicherung  des  Lebens  und  Eigen- 
tums, eine  Entwicklung  von  Gesittung  zu  schaffen  ohne 
Gesetze,  welche  die  absolute  Freiheit  des  einzelnen  be- 
schränken und  ohne  Gewaltmittel,  durch  welche  diesen 
Gesetzen  Achtung  verschafft  wird?  Die  republikanische 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  hat  diese  Frage  sehr 
energisch  verneint.  Ich  wüßte  nicht,  wo  in  der  Welt  mehr 
und  eifriger  Gesetze  fabriziert  würden,  als  gerade  in  der 
Union,  wo  nicht  nur  im  Senatspalast  von  Washington, 
sondern  in  den  Kapitalen  sämtlicher  44  Bundesstaaten, 
jahrein,  jahraus  Paragraphen  geschmiedet  werden,  die 
wiederum  durch  die  lokalen  Verordnungen  der  einzelnen 
Gemeinwesen  weitgehende  Ergänzungen  erfahren.  Gewiß, 
unsere  Verordnungswut,  unsere  kleinliche  Polizeischikane 
verderben  uns  manche  schöne  Stunde  und  reizen  die  Galle 
öfter  als  das  Zwerchfell  —  aber  ist  das  drüben  so  sehr  viel 
besser?  Wenn  der  Zug  die  Grenze  eines  Prohibitions- 
staates passiert,  reißt  mir  der  Schwarze  im  Speisewagen 
das  Bierglas  vom  Munde  weg;  in  Wisconsin  mache  ich 
mich  strafbar,  wenn  ich  jemandem  eine  Zigarette  anbiete; 
in  Boston  werde  ich  in  den  Kerker  geworfen,  wenn  ich  auf 
der  Straße  ausspucke,  auf  der  New- Yorker  Untergrund- 
bahn mit  schwerer  Geldstrafe  belegt,  wenn  ich  mich  auf 
dem  Bahnsteig  mit  einer  glimmenden  Zigarre  sehen 
lasse ;  wenn  ich  ein  schönes  Mädchen  bewundernd  anblicke, 
riskiere  ich,  durchgeprügelt  zu  werden,  und  wenn  ich  das 
Opernhaus  anders  als  im  Frack  und  weißer  Weste  betrete, 
werde  ich  durch  verächtliche  Blicke  in  den  Boden  gebohrt. 


172  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

In  der  demokratischen  Gesellschaft  gibt  es  angeblich 
keinen  Unterschied  der  Stände,  und  diese  allgemeine  Gleich- 
heit soll  ihren  deutlichsten  Ausdruck  darin  finden,  daß 
auf  der  Eisenbahn  nur  eine  einzige  Wagenklasse  für  alle 
vorhanden  ist.  Dieser  Grundsatz  ist  aber  in  Wahrheit  nur 
bei  langsamen  L,okalzügen  durchgeführt,  die  der  ,, bessere 
Mensch"  ja  doch  selten  benutzt,  weil  er  sein  eignes  Auto 
hat.  Sobald  ich  aber  weite  Strecken  fahren  will,  denke  ich 
nicht  im  Traume  daran,  mich  mit  Arbeitern,  Chinesen, 
Negern,  gummikauenden  Ladenmädchen  und  Viehtreibern 
in  die  Car  mit  den  gräßlich  engen  Sitzen  aus  schmutzigem 
Strohgeflecht  zu  setzen,  sondern  ich  bezahle  meinen  Zu- 
schlag am  Schalter  der  Pullman-  Gesellschaf t  und  erwerbe 
mir  damit  das  Anrecht,  in  einem  großen  luftigen,  schön 
ausgestatteten  Salonwagen  einen  bequemen  drehbaren 
Polstersessel  zu  benutzen  und  an  den  besonderen  I^uxus- 
einrichtungen,  wie  Wasch-  und  Rauchkabinett,  Speise- 
wagen, Büfettwagen  mit  Schreibgelegenheit  und  reich- 
haltige Journalauswahl  nach  Belieben  teilzunehmen.  Hier 
kann  ich  sicher  sein,  mich  in  Gesellschaft  reinlicher,  gut 
gekleideter,  manierlicher  und  wohlhabender  Menschen  zu 
bewegen,  gerade  so  gut  oder  besser,  als  wenn  ich  in  Deutsch- 
land zweiter  Klasse  führe.  Fühle  ich  mich  aber  so  außer- 
ordentlich prominent,  daß  mir  auch  diese  Gesellschaft 
noch  zu  ordinär  ist,  gehöre  ich  also  nach  deutschen  Be- 
griffen zu  den  erstklassigenMenschen,  so  lege  ich  noch  ein 
paar  Dollar  zu  und  kaufe  mir  dafür  ein  Compartement,  d.  h. 
einen  abgeschlossenen,  bequemen  Raum  innerhalb  des 
großen  Pullmann-Wagens,  in  dem  ich  über  üppige  Salon- 
möbel verfüge  und  nachts  auch  allein  schlafen  kann, 
während  die  Leute  zweiter  Klasse,  Männlein  und  Weiblein 
pele-mele,  der  Länge  nach  hinter  einem  grünen  Vorhang 
übereinander   geschichtet  und  sorgfältig  von  der  frischen 


Die  alte  Tante.  173 


Iytift  abgeschlossen  werden.  Selbstverständlich  kann  man 
es,  ebenso  wie  bei  uns,  einem  Protzenbauer  in  dreckigen 
Schmierstiefeln  nicht  verwehren,  wenn  es  ihm  Spaß  macht, 
für  sein  Geld  erster  Klasse  zu  fahren.  Wenn  aber  drüben 
etwa  ein  Cowboy  in  verwegenem  Räuberaufzug  sich  für 
seine  zerknitterten  Greenbacks  (Dollarscheine)  einen  Platz 
im  Pullman- Wagen  leistet,  so  wird  er  sich  in  der  manier- 
lichen Gesellschaft,  in  der  er  weder  rauchen  noch  spucken 
darf,  bald  genug  ungemütlich  fühlen  und  ganz  bescheiden 
in  den  Rauchwagen  abschieben,  wo  die  Sitten  freier  sind. 
Ist  das  nun  etwas  anderes  wie  unser  Dreiklassensystem? 
Wir  mit  unserer  dünkelhaften  Verachtung  des  Proletariers 
schufen  sogar  noch  eine  vierte  Klasse  für  die  L,eute  mit 
der  ganz  schmalen  Börse  —  die  Eisenbahnkönige  im  Lande 
der  Freiheit  und  Gleichheit  denken  aber  natürlich  nicht 
daran,  diesem  Bettelpack  zuliebe  ganz  billige  Fahrgelegen- 
heiten einzuführen.  Daß  —  in  den  Südstaaten  wenigstens  — 
die  Neger  in  der  Eisen-  und  selbst  in  der  Straßenbahn  im 
besonderen  Wagen  fahren  müssen,  ist  ja  eine  weltbekannte, 
echt  demokratische  Einrichtung. 

Man  sieht  aus  diesen  wenigen  Beispielen,  daß  auch  in 
der  großen  Republik  dafür  gesorgt  ist,  daß  der  freie  Kultur- 
mensch sich  hie  und  da  an  Gesetzestafeln  Beulen  stößt  und 
wegen  lächerlicher  Bevormundung  gerade  so  schön  die 
Kränke  kriegen  kann,  wie  bei  uns.  Wenn  wir  näher  zu- 
sehen, welchen  Mächten  es  denn  zu  danken  sei,  daß  wir 
drüben  nicht  vor  lauter  Freiheit  allzu  übermütig  werden, 
so  stoßen  wir  in  den  meisten  Fällen  auf  —  d  i  e  a  1 1  e  Tante ! 
Ich  für  meinen  Teil  muß  gestehen,  daß  mir  diese  alte  Tante, 
welche,  mit  einer  Axt  und  mit  einer  Bibel  bewaffnet,  Türen 
einschlägt,  Schnapsflaschen  demoliert,  gesetzgebenden 
Körperschaften  die  Fenster  des  Sitzungssaales  einschmeißt 
und   am  liebsten  alle  freie  Fröhlichkeit  durch  ihr  sauer- 


174  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

töpfisches  Geplärr  ersticken  möchte,  bei  weitem  un- 
sympathischer ist,  als  unsere  grimmigsten  Polizeigewal- 
tigen. Das  ist  überhaupt  die  üble  Kehrseite  der  ritter- 
lichen Frauenverehrung  bei  den  Amerikanern,  daß  sie  so 
leicht  vor  den  verrücktesten  Anschlägen  boshafter  und 
beschränkter  alter  Weiber  zu  Kreuze  kriecht,  sobald  sie 
im  Namen  der  Religion  oder  der  Sittlichkeit  unternommen 
werden.  Denn  es  ist  dieselbe  bösartige  alte  Tante,  welche 
mich  zwingt,  mein  gutes  Diner  in  einem  erstklassigen  Hotel 
wie  das  liebe  Vieh  mit  Wasser  hinunter  zu  spülen,  oder  mir 
ein  harmloses  Glas  Bier  durch  eine  Iyüge  zu  erschleichen*), 
dieselbe  auch,  welche  mir  an  meinen  freien  Sonntagen  die 
Theater  vor  der  Nase  zusperrt,  mir  jede  schöne  künst- 
lerische Nacktheit  mit  Feigenblättern  verschandelt  und 
sogar  meine  Lektüre  kontrolliert,  indem  sie  die  Tore  des 
Freistaates  gegen  die  Hinfuhr  ,, freier"  Bücher  verschließt 
und  dem  einheimischen  Schriftsteller  nicht  gestattet, 
seine  Feder  Dinge  und  Gedankenkreise  berühren  zu  lassen, 
die  s  i  e  für  anstößig  erklärt !  Daß  diese  biedere  Tante  mit 
ihrem  frommen  Eifer  weder  die  Trunk-  noch  die  Ver- 
gnügungssucht, noch  gar  Kunst  und  Wissenschaft  gänzlich 
auszurotten  vermag,  versteht  sich  von  selbst;  ihr  Erfolg 
besteht  darin,  daß  sie  eine  scheußliche  und  lächerliche 
Heuchelei  züchtet  und  auf  künstlerischem  und  wissen- 
schaftlichem Gebiete  die  freie  Entwicklung  immerhin 
beträchtlich  hemmt.  Da  es  dem  Bürger  der  Vereinigten 
Staaten  an  so  vielen  Plätzen  verboten  ist,  seinen  Durst 
mit  alkoholischem  Naß  zu  löschen,  so  verlernt  er  die  guten 
Sitten  im  Umgang  mit  geistigen  Getränken  und  berauscht 


*)  „A  drink  with  a  wink"  heißt  das.  In  den  Staaten,  wo  die 
Prohibition  streng-  durchgeführt  ist,  fordert  man  unter  möglichst  un- 
merklichem Augenzwinkern  ein  Glas  Milch  und  bekommt  alsdann  in 
einem  undurchsichtigen  Gefäß  sein  Bier,  wobei  die  weiße  Schaum- 
haube die  Milch  vortäuschen  muß. 


Demokratischer  Kastengeist.  175 

sich  bei  verschlossenen  Türen  an  konzentrierten  Giften. 
Da  ihm  Sonntags  der  Genuß  des  Schauspiels  wie  der  Oper 
versagt  ist,  die  Gesetzgeber  aber  doch  nicht  so  unmensch- 
lich sein  wollen,  um  Leute,  die  nur  Sonntags  Zeit  haben, 
ganz  und  gar  von  dieser  unter  Umständen  sogar  bildenden 
Unterhaltung  auszuschließen,  verfielen  sie  auf  den  Aus- 
weg, theatralische  Vorstellungen  unter  dem  Namen  Sacred 
Concert  zu  gestatten,  wobei  aber  Kostüm  und  Tanz  fort- 
fallen müssen.  Zu  meiner  Zeit  wurde  im  deutschen  Theater 
in  New  York  am  Sonntag  nachmittag  ,, Madame  Bonivard" , 
der  französische  Schwank  von  der  alten  Balletteuse,  als 
geistliches  Konzert  gegeben ! 

Und  wenn  die  Amerikaner  behaupten,  daß  es  einen 
Kastengeist  oder  überhaupt  gesellschaftliche  Vorurteile  bei 
ihnen  nicht  gebe,  so  muß  ich  mir  erlauben,  auch  dahinter 
ein  großes  Fragezeichen  zu  machen.  Die  Abkommen  der 
Knickerbockers,  der  True  Virginians  oder  gar  der  biederen 
Londoner  Handwerker,  die  1620  mit  der  „Mayflower" 
landeten,  entwickeln  einen  Adelstick,  der  unsere  blau- 
blütigsten  ostelbischen  Junker  neidisch  machen  könnte. 
Ganz  natürlich:  denn  ein  Amerikaner,  der  seine  Groß- 
eltern noch  kennt,  ist  schon  ein  leidlich  vornehmer  Mensch, 
da  es  ja  ihrer  viele  gibt,  die  kaum  wissen,  wes  Standes  und 
Landes  ihre  Kitern  waren.  Folglich  rechnen  sich  Iyeute, 
deren  Ureltern  schon  Amerikaner  waren,  schon  zum  hohen 
Adel,  selbst  wenn  diese  Herrschaften  Viehräuber  gewesen 
sein  und  am  Galgen  geendet  haben  sollten.  Die  Nach- 
kommen namhafter  Kolonisatoren  und  Pioniere  genießen 
ganz  folgerichtig  eine  Verehrung,  wie  bei  uns  kaum  die 
Sprossen  königlicher  Häuser.  Da  aber  dieser  Adel  nicht 
durch  Titel  äußerlich  erkennbar  ist,  so  sorgt  er  durch 
strengste  Absperrung  seines  gesellschaftlichen  Kreises 
dafür,  daß  er  nicht  mit  der  Krapüle  verwechselt  werden 


176  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

kann.  Es  ist  schwerer  in  die  Gesellschaft  der  sogenannten 
Vierhundert  hineinzukommen,  als  an  denHöfen europäischer 
Kaiser  und  Könige  Zutritt  erhalten.  Und  geradeso  wie 
unsere  Potentaten  von  den  Hofgeschichtsschreibern 
Fälschungen  und  Unterschlagungen  begehen  lassen,  um 
unangenehme  Eigenschaften  ihrer  Vorfahren  vergessen  zu 
machen,  so  scheuen  die  Vanderbilts,  Jay  Goulds,  Astors 
usw.  keine  Kosten,  um  unangenehme  Veröffentlichungen 
über  ihre  Ahnen  zu  hintertreiben.  Nachschlagewerke  wie 
„Wer  ist  wer?"  spielen  drüben  eine  Rolle  wie  bei  uns  der 
, ,  Gotha* ' .  Die  guten  alten  Familien  schütteln  ihre  Bekannt- 
schaften durch  sieben  Siebe,  bevor  sie  sie  ihres  näheren  Um- 
ganges würdigen,  und  die  Emporkömmlinge,  mögen  sie 
auch  Millionen  schwer  sein,  kennen  kein  höheres  Ziel  ihres 
Ehrgeizes,  als  eine  Einladung  in  eines  dieser  erlauchten 
Häuser  zu  erreichen  oder  wenigstens  irgend  einen  ihrer 
jüngerenPrinzen  oder  Prinzessinnen  bei  sich  zu  sehen.  Orden 
und  Titel  gibt  es  drüben  offiziell  nicht,  dafür  recken  sich 
aber  die  guten  L,eute  in  den  Theater-  und  Konzertsälen  die 
Hälse  aus,  um  die  funkelnden  Dekorationen  der  Herren 
Diplomaten  zu  bestaunen  und  schmücken  ihre  Knopf- 
löcher mit  Vereinszeichen  in  Gestalt  blitzender  Sternchen 
und  Kreuzchen,  die  unseren  Miniaturorden  von  weitem 
wenigstens  sehr  ähnlich  sehen.  Und  jeder  Bürger,  der  durch 
sein  geschäftliches  Glück  oder  durch  eine  gute  Karriere 
unter  die  Prominenten  geraten  ist,  trägt  eifrig  dafür  Sorge, 
so  oft  wie  irgend  möglich  in  den  Zeitungen  erwähnt,  ab- 
gebildet und  interviewt  zu  werden,  weil  das  seine  gesell- 
schaftliche Stellung  ungemein  erhöht.  Die  guten  Republi- 
kaner scheinen  ein  vortreffliches  Gedächtnis  sowohl  für 
die  Zeitungsberühmtheiten  wie  für  die  Familienver- 
hältnisse aller  ihrer  großen  Tiere  zu  haben,  denn  in  den 
besseren  Kreisen  wissen  sie  alle  und  besonders  die  Damen 


Raubritter  hüben  und  drüben.  177 

ganz  genau,  mit  wem  man  anstandshalber  verkehren  kann 
und  mit  wem  nicht.  Sie  haben  ihre  leiste  der  möglichen 
Menschen  so  sicher  im  Kopfe  wie  bei  uns  nur  die  Damen 
der  exklusivsten  Kreise,  deren  Evangelium  die  Rangliste 
und  das  Gothaische  Taschenbuch  ist.  Der  Unterschied  von 
hüben  und  drüben  ist  also  nicht  gar  so  groß  —  nur  daß 
die  europäischen  Raubritter  doch  wenigstens  ursprünglich 
Sprossen  erlesensten  Blutes  waren  und  nur  durch  die  Not, 
die  Rauheit  der  Zeiten  zur  Räuberei  verführt  wurden. 
Drüben  war  aber  doch  meistens  der  Raubinstinkt  das 
Primäre  und  wurde  durch  den  Besitz  eher  gesteigert  als 
vermindert.  Zum  Brwerben  von  ungeheuren  Vermögen 
gehört  neben  hervorragender  Klugheit,  Beharrlichkeit, 
Phantasie  und  Wagemut  noch  immer  eine  große  Portion 
Rücksichts-  und  Gewissenlosigkeit.  In  einer  Gesellschaft 
von  Abenteurern,  Spielern  und  Gewaltmenschen  wurde  das 
Diebsgenie  begreiflicherweise  mehr  bewundert  als  jedes 
andere.  Pluckyness  ist  heute  noch  ein  höchstes  L,ob  für 
einen  Amerikaner,  und  wer  die  Dummheit  anderer  nicht 
ausnutzt,  der  gilt  ihm  für  einen  Schwachkopf.  Wer  diese 
Seite  der  amerikanischen  Lebensauffassung  mit  Hoch- 
genuß studieren  will,  der  lese  die  kürzlich  erschienenen 
Memoiren  des  alten  Gauners  Drew*).  Darin  kommt  eine 
köstliche  Anekdote  vor,  wie  er  einstens  den  alten  ehrlichen 
Jakob  Astor  hineinlegte.  Drew  hatte  eine  gute  Gelegen- 
heit benutzt  und  für  ein  Spottgeld  eine  ganze  Herde  höchst 
minderwertigen  Rindviehs  gekauft.  Er  trieb  sie  selbst 
bis  nahe  vor  New  York  und  ließ  die  armen  Tiere  in  den 
letzten  zwei  Tagen  Salz  lecken  und  erbärmlich  Durst 
leiden.  Dann  ersuchte  er  Jakob  Astor,  hinauszukommen 
und  sich  seine  kapitalen  Tiere  anzusehen.  Eine  Stunde  vor 
Ankunft  des  mißtrauischen  alten   Geschäftsfreundes  ließ 


*)  „The  Book  of  Daniel  Drew"  by  Bouck  White, 
v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  12 


178  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

er  seine  Herde  saufen,  saufen,  saufen,  bis  sie  mit  ihren 
prallen  Wasserbäuchen  eine  unerhört  strotzende  Gesund- 
heit vortäuschte.  Astor  fiel  darauf  herein  und  bezahlte 
ihm  einen  glänzenden  Preis.  Dieses  Schwindelmanöver 
hat  eine  sozusagen  klassische  Berühmtheit  erlangt,  und 
man  nennt  seither  den  Trick,  Aktien  durch  Vortäuschung 
großer  Rentabilität  bei  gesundem  finanziellem  Funda- 
ment in  die  Höhe  zu  treiben  ,,  Walering  the  stock"  die  Herde 
wässern  —  denn  das  Wort  stock  bedeutet  sowohl  Aktie  wie 
Herde.  —  Natürlich  fällt  es  mir  gar  nicht  ein,  den  Yankees 
aus  ihren  undemokratischen  Gelüsten  einen  Vorwurf 
machen  zu  wollen;  ich  sehe  vielmehr  darin  nur  eine  Be- 
stätigung meiner  Überzeugung,  daß  das  Streben  nach 
Züchtung  einer  Aristokratie  ein  Naturgesetz  sei.  Der 
gesunde  Ehrgeiz,  der  zum  Vorwärts-  und  Hochkommen 
anspornt,  saugt  seine  Nahrung  aus  dem  Naturtriebe  aller 
stärkeren,  wertvolleren  Menschen,  sich  von  den  minder- 
wertigen Schwächlingen  abzusondern. 

Es  war  mir  sehr  interessant,  die  Klage  eines  New  Yorker 
Führers  der  Sozialdemokratie  zu  vernehmen,  daß  es  in 
den  Vereinigten  Staaten  so  außerordentlich  schwer  sei, 
die  Partei  hoch  zu  bringen,  weil  die  L,eute  keine  Disziplin 
halten  wollten.  Da  liegt  der  Hase  im  Pfeffer.  Bei  uns 
bekämpft  die  Sozialdemokratie  den  Militarismus  aufs 
grimmigste  —  und  dennoch  verdankt  sie  einzig  und  allein 
diesem  Militarismus  ihren  gewaltigen  Erfolg  in  der  Gegen- 
wart. Der  militärische  Drill  sitzt  seit  etwa  fünf  Gene- 
rationen unserem  Volke  im  Blut  und  hat  es  zum  Disziplin- 
halten erzogen ;  dem  freien  Bürger  der  Vereinigten  Staaten 
aber  ist  nichts  auf  der  Welt  so  verhaßt  als  wie  Disziplin. 
Obwohl  drüben  die  Herdeninstinkte  noch  viel  stärker 
wirken  als  bei  uns,  weil  erst  eine  alte  Kultur  zu  weitgehender 
Differenzierung  der  Persönlichkeit  führt,  so  ist  doch  jeder 


Soldatenwerbung.  179 


Einzelne  als  Republikaner  viel  eifersüchtiger  auf  seine 
persönliche  Freiheit  als  bei  uns.  Schon  im  Kapitel  über  die 
Dienstbotenfrage  habe  ich  diesen  Punkt  berührt.  Fast 
noch  deutlicher  tritt  diese  republikanische  Eitelkeit,  wie 
ich  es  nennen  möchte,  in  der  Frage  der  Rekrutierung  des 
stehenden  Heeres  zutage.  Die  Armee  wird  vom  ameri- 
kanischen Patriotismus  naiv  glorifiziert  und  liebenswürdig 
verhätschelt.  Es  braucht  nur  ein  Bataillon  mit  klingendem 
Spiel  durch  die  Straßen  zu  ziehen,  und  alles  ist  tief  gerührt 
vor  nationaler  Begeisterung  —  aber  dienen  will  niemand, 
und  die  allgemeine  Wehrpflicht  scheint  undurchführbar. 
Die  Regierung  sieht  sich  gezwungen,  an  dem  alten  Werbe- 
system festzuhalten.  Riesige  Plakate  müssen  mit  schrei- 
enden Farben  die  Söhne  des  Vaterlandes  zum  Heeres- 
dienst verlocken.  Da  sieht  man  unter  azurblauem  Himmel, 
im  Schatten  von  Palmen  und  Sykomoren,  ein  lustiges 
Zeltlager  aufgeschlagen  und  liebestrahlende  Offiziere,  den 
Arm  in  väterlichem  Wohlwollen  um  die  Schultern  gemeiner 
Soldaten  gelegt,  in  freundschaftlich  belehrendem  Ge- 
spräch einherwandeln ;  und  auf  den  Schmuckplätzen 
großer  Städte  etablieren  sich  Feldwebel  und  harren  unter 
ähnlichen  vielversprechenden  Plakaten  der  jungen  L,eute, 
die  es  gelüstet,  dem  Vaterlande  als  Soldat  zu  dienen.  Diese 
Werber  müssen  reden  können  wie  die  Versicherungs- 
agenten und  Weinreisenden.  Sie  stecken  voll  lustiger 
Schwanke  und  sind  nicht  so  leicht  unter  den  Tisch  zu 
trinken  —  denn  Freund  Alkohol  muß  meistens  ein  übriges 
tun,  um  den  schwankenden  Heldenjüngling  soweit  zu 
bringen,  daß  er  Handgeld  annimmt.  Übrigens  versprechen 
die  Werber  kaum  zu  viel,  denn  so  gut  wie  der  amerikanische 
dürfte  es  schwerlich  ein  anderer  Soldat  der  Welt  haben. 
Auf  Manneszucht  wird  freilich  streng  gehalten,  und  im 
Dienst  werden  die  Kräfte  gehörig  angespannt,  aber  dafür 

12* 


180  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

wird  auch  der  gemeine  Mann  wie  ein  anständiger  Mensch 
behandelt  und  durch  ausgezeichnete  Verpflegung,  muster- 
hafte hygienische  Einrichtungen  und  Vorkehrungen  für 
Unterhaltung  und  Erholung  dafür  gesorgt,  daß  er  nicht 
von  Kräften  komme  und  bei  guter  Iyaune  bleibe.  Die 
Liebenswürdigkeit  eines  prächtigen,  fein  gebildeten 
Kavallerieobersten  in  Columbus  (Ohio)  ließ  mich  einen 
Einblick  in  das  Kasernenleben  tun.  Jeder  Mann  hat  ein 
blitzsauberes,  behagliches  Bett,  jeder  seine  eigne  Wasch- 
gelegenheit,  sein  Wannen-  oder  Brausebad,  so  oft  er  will,  und 
wenn  er  krank  ist  in  dem  mit  allen  modernen  Errungen- 
schaften ausgestatteten  Hospital  die  denkbar  sorgfältigste 
Pflege.  Sein  Dinner  nimmt  er  abends  um  6  Uhr  in  einer 
eigens  dafür  bestimmten  großen  Halle  mit  den  Kameraden 
ein  und  sitzt  dabei  ordentlich  am  Tisch,  wird  von  hierzu 
kommandierten  Kameraden  bedient  und  bekommt  bei 
jedem  Gang  Geschirr  und  Besteck  gewechselt.  Ich  nahm 
an  einem  solchen  Dinner  teil,  und  da  gab  es  eine  vorzügliche 
Reissuppe,  Hamburger  Beefsteaks  mit  Bohnengemüse 
und  hinterher  anständigen  Kaffee  mit  delikatem  Weiß- 
brot. Selbstverständlich  haben  sie  auch  ihr  eignes  Feld 
zum  Football-  und  Baseball- Spiel.  Mit  ihrem  Griffeklopfen 
und  ihrem  Parademarsch  ist  es  allerdings  nach  altpreußi- 
schen Begriffen  nicht  weit  her,  dafür  wird  aber  die  Ent- 
schlußfähigkeit des  einzelnen  Mannes,  die  Gewandtheit  und 
Ausdauer  im  Felddienst  mit  bestem  Erfolge  anerzogen. 
Daß  die  I^öhnung  eine  ungleich  viel  bessere  ist  als  bei  uns, 
ist  wohl  selbstverständlich.  Der  amerikanische  Soldat 
könnte  also  den  unsrigen  höchstens  in  dem  einen  Punkte 
beneiden,  daß  er  keine  so  bunte  und  blitzende  Uniform 
zur  Schau  tragen  darf.  Dafür  ist  die  seinige  aber  auch  viel 
bequemer  als  die  unsrige  und  außerdem  ein  sichererer  Schutz 
als  der  festeste  Kür  aß,  denn  ihre  staubgraue  Farbe  macht 


Vom  Söldnerheere.  181 


den  Mann  schon  in  einer  Entfernung  von  etwa  300  Meter 
völlig  dem  Erdboden  gleich.  Die  Frau  Oberst  erzählte 
mir,  daß  sie  eines  schönen  Tages  ihren  Gatten  vom  Reit- 
platz habe  abholen  wollen  und  nicht  wenig  erschrocken 
gewesen  sei,  als  sie,  auf  etwa  350  Meter  herangekommen, 
das  Pferd,  das  der  Herr  Oberst  an  jenem  Morgen  bestiegen 
hatte,  reiterlos  im  Karriere  durch  die  Bahn  jagen  sah. 
Von  Angst  beflügelt,  sei  sie  vorwärts  gestürzt  und  —  nach 
ein  paar  Minuten  sei  der  schmerzlich  Vermißte  erst  schatten- 
gleich, dann  immer  deutlicher  und  kompakter  wieder  auf 
dem  Rücken  seines  Pferdes  erschienen.  Es  würde  also  aus 
der  Höhe  eines  beobachtenden  Flugzeuges  zum  Beispiel 
von  einer  amerikanischen  Armee  unter  Umständen  über- 
haupt nichts  zu  sehen  sein.     Doch  dies  nur  nebenbei. 

Die  Frage,  ob  eine  noch  so  wohl  gehaltene  und  gut  aus- 
gebildete Söldnertruppe  einem  großen,  intelligent  geleiteten 
Volksheer  gegenüber  standzuhalten  vermöge,  wird  über 
kurz  oder  lang  doch  einmal  zur  Entscheidung  kommen,  denn 
es  ist  allgemein  bekannt,  daß  die  Japs  ein  äußerst  be- 
gehrliches Auge  auf  Kalifornien  gerichtet  halten.  Als  die 
amerikanische  Flotte  im  Jahre  1910  ihre  Demonstrations- 
fahrt um  das  Kap  Hörn  nach  Japan  unternahm,  erkannte 
der  amerikanische  Admiral  unter  den  ihm  zur  Begrüßung 
entgegengeschickten  hohen  Würdenträgern  des  japanischen 
Marineministeriunis  zu  seinem  nicht  geringen  Schreck 
das  harmlos  freundliche  Gesicht  eines  Mannes,  der  längere 
Zeit  bei  ihm  als  Gärtner  angestellt  gewesen  war !  Sie  sind 
die  verteufeltsten  Spione  der  Welt,  sie  wissen  tatsächlich 
alles  und  verstehen  es  vortrefflich,  ihre  Pläne  von  langer 
Hand  vorzubereiten  und  ganz  versteckt  zu  intrigieren. 
Eingeweihte  behaupten,  daß  die  pacifischen  Republiken 
Südamerikas  schon  alle  durch  die  Versprechungen  der 
Japaner  für  deren  Zwecke  eingefangen  und  bereit  seien, 


182  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

beim  ersten  Versuch  der  Japaner  sich  der  pacifischen 
Küste  zu  bemächtigen,  dem  großen  Bruder  in  den  Rücken 
und  in  die  Flanke  zu  fallen.  Gelingt  es  aber  den  Gelben 
wirklich,  sich  in  Kalifornien  festzusetzen,  dann  würde  es 
eine  überaus  schwierige  Aufgabe  sein,  sie  wieder  hinaus 
zu  jagen.  Denn  es  gibt  über  die  Rocky  Mountains  nur  fünf 
einigermaßen  gangbare  Pässe,  die  militärisch  leicht  zuzu- 
schließen sind.  Nur  angesichts  eines  solchen  nationalen 
Unglücks  würde  die  glühende  Vaterlandsliebe  der  Ameri- 
kaner sich  zur  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht 
hinreißen  lassen.  Ich  glaube,  sie  wäre  ein  Segen  für  das 
Volk;  denn  der  Mangel  an  Disziplin,  an  persönlicher  Opfer- 
willigkeit macht  sich  überall  als  Hemmnis  für  den  Fort- 
schritt wahrer  Zivilisation  bemerkbar.  Eine  Disziplin 
aber,  die  im  Blute  sitzt,  und  nicht  etwa,  wie  in  Rußland, 
durch  Angst  und  Schrecken  mühsam  aufrecht  erhalten 
werden  muß,  schafft  überhaupt  erst  die  Vorbedingungen 
für  das  segensreiche  Wirken  freiheitlicher  Ideen  und  Ein- 
richtungen. 

Die  Freiheit,  welche  die  Bürger  der  Vereinigten  Staaten 
tatsächlich  vor  uns  voraus  haben,  und  um  die  wir  sie  heute 
noch  beneiden  müssen,  besteht  also  keineswegs  in  der 
verlockenden  Disziplinlosigkeit,  in  der  frivolen  Verhöhnung 
der  Gesetze  und  in  der  geringen  Empfindung  für  die 
Wichtigkeit  einer  ängstlich  gewissenhaften  Aufrecht- 
erhaltung der  Standes-  und  Berufsehre,  als  vielmehr  darin, 
daß  drüben  tatsächlich  jede  Energie,  jedes  Talent  freie 
Bahn  zum  Auswirken  besitzt.  Wer  etwas  kann  und  etwas 
weiß,  wer  Arbeitskraft  und  Eifer  an  den  Tag  legt,  wer 
etwas  Neues  zu  sagen  hat,  der  kann  sicher  sein,  ein  Feld 
für  Betätigung  seiner  Kräfte  zu  finden,  Ohren,  die  auf  ihn 
hören  und  Hände,  die  ihm  vorwärts  helfen.  Gute  Zeug- 
nisse,   gute    Familienbeziehungen,    einflußreiche    Gönner 


Demokratische  Tugenden.  183 

und  ererbtes  Betriebskapital  sind  selbstverständlich  auch 
drüben  eine  wertvolle  Vorbedingung;  aber  der  wirklich 
Tüchtige  kann  auch  ohne  all  das  sicher  sein,  vorwärts  zu 
kommen.  Bei  uns  hat  sich  die  offizielle  Welt  mit  dünkel- 
hafter Ängstlichkeit  einen  hohen  Zaun  um  ihren  geheiligten 
Bezirk  errichtet  und  sieht  es  schadenfroh  mit  an,  wie  so 
mancher  temperamentvoll  Einlaßheischende  sich  an  diesem 
Zaun  seinen  guten  Kopf  einrennt  und  gewandte  Kletterer 
sich  wenigstens  die  Hosen  daran  zerreißen;  das  Beste  an 
der  demokratischen  Freiheit  ist  es,  daß  sie  einen  solchen 
Bretterzaun  zwischen  Regierung  und  „Untertan",  zwischen 
Behörde  und  Publikum  nicht  duldet.  Bei  uns  stecken  die 
Regierenden  immer  noch  in  der  Anschauung  fest,  daß  nicht 
sie  des  Volkes  wegen,  sondern  im  Gegenteil  das  Volk 
ihretwegen  da  sei;  dagegen  entspringt  aus  dem  Bewußt- 
sein des  freien  Bürgers,  daß  nicht  er  regiert  werde,  sondern 
vielmehr  sich  für  sein  Geld  eine  Regierung  nach  seinem 
Geschmack  leisten  könne,  jenes  Herrenbewußtsein,  das 
die  wahre  Menschenwürde  erst  zur  rechten  Blüte  bringt. 
Dieses  Herrenbewußtsein  ist  aber  auch  der  grimmigste 
Feind  aller  Duckmäuserei,  Neidhammelei,  Nörgelsucht 
und  aller  sonstigen  I^aster  geborener  Philisterseelen.  Jene 
beiden,  bei  uns  leider  immer  noch  recht  zahlreichen  Typen 
des  Spießertums,  nämlich  einerseits  der  untertänigst  vor 
jeder  Art  Obrigkeit  ersterbende  und  wunschlos  zufriedene 
und  andererseits  der  noch  viel  häufigere,  auf  alles  schim- 
pfende und  doch  nie  zur  Selbsthülfe  greifende  Spießer 
dürften  in  den  Vereinigten  Staaten  nicht  einmal  in  den 
ödesten  Kleinstädten  zu  finden  sein.  In  der  Luft  der 
Freiheit  gedeihen  die  Tugenden  der  wahren  Noblesse: 
Wagemut,  Hochherzigkeit,  Freigebigkeit,  Zutrauen  zum 
guten  Willen  des  Nebenmenschen.  Man  begegnet  diesen 
Herrentugenden  überall  in  der  Öffentlichkeit,   nicht  nur 


184  Von  der  demokratischen  Gesellschaft. 

in  den  großartigen  Organisationen  der  Wohltätigkeit, 
der  Erziehung,  der  Fürsorge  für  die  physisch  und  moralisch 
Kranken,  in  den  königlichen  Stiftungen  der  Milliardäre, 
sondern  in  vielen  kleinen  Zügen,  die  beweisen,  daß  auch 
der  ärmste  dieser  freien  Bürger  an  jenen  Tugenden  teil 
hat.  So  wird  beispielsweise  in  dem  L,ande,  das  für  die 
genialen  Diebe  großen  Stils  so  viel  lächelndes  Verständnis 
übrig  hat,  das  auf  der  Straße  liegende  Eigentum  des 
Nächsten  auffallend  respektiert.  Wenn  der  Zeitungsjunge 
austreten  oder  seinen  IyUiich  einnehmen  will,  so  legt  er 
seinen  Packen  ruhig  auf  das  Trottoir.  Wer  unterdessen 
eine  Zeitung  kaufen  will,  nimmt  sich  eine  von  dem  Haufen 
und  legt  seine  zwei  Cent  oben  drauf.  Man  hört  nie  davon, 
daß  sich  jemand  an  dem  angesammelten  Kleingeld  ver- 
griff; wenn  der  Briefkasten  voll  ist  oder  der  Spalt  für 
Drucksachen  und  dergleichen  zu  eng,  so  legt  man  einfach 
seine  Postsachen  oben  drauf,  und  keinem  kommt  der 
Gedanke,  daß  sie  da  fortgenommen  werden  könnten;  ja 
noch  mehr:  man  sieht  in  den  Straßen  massenhaft  herren- 
lose Automobile  herumstehen,  denn  bei  der  Kostspielig- 
keit der  Dienstboten  können  sich  nur  sehr  reiche  Leute 
einen  Chauffeur  leisten;  im  Winter  sind  die  Vergaser  der 
Maschinen  oft  mit  wertvollen  Decken  und  Teppichen  vor 
der  Kälte  geschützt  —  und  man  hört  selten  oder  nie  davon, 
daß  ein  Auto  oder  auch  nur  eine  solche  Decke  von  der 
Straße  weg  gestohlen  worden  wäre.  Bei  hellichtem  Tage 
bandenweise  in  einen  L,aden  oder  in  einen  Saloon  einfallen 
und  Inhaber  wie  Kunden  ausplündern,  das  ist  guter  Sport, 
das  ist  fesch,  würde  der  Wiener  sagen ;  aber  von  der  Straße 
etwas  fortnehmen,  das  ist  gemeiner  Vertrauensmißbrauch, 
das  tut  nicht  einmal  der  L,umpenproletarier.  Der  Kleine, 
der  sich  von  dem  Großen  geschädigt  und  schlecht  be- 
handelt fühlt,  setzt  sich  energisch  zur  Wehr.    Der  Arbeiter 


Neidlosigkeit.  185 


ist  leicht  mit  dem  Streik  bei  der  Hand,  wenn  er  die  großen 
Geldsäcke  allzu  zugeknöpft  findet.  Aber  es  fällt  ihm  nicht 
ein,  den  Arbeitgeber  zu  hassen  und  grimmig  zu  beneiden 
um  seinen  Überfluß.  Weiß  er  doch  von  so  vielen  dieser 
schwer  reichen  Herren,  daß  sie  ganz  klein  angefangen 
haben;  folglich  nimmt  er  an,  daß  die  Kerle  eben  einen 
guten  Kopf,  Fleiß,  Energie  und  Glück  gehabt  haben  — 
ihm  selber  oder  seinen  Kindern  mag  es  ja  ebenfalls  ge- 
lingen, es  so  weit  zu  bringen.  Warum  nicht  ?  Die  Bahn  ist 
ja  frei!  Das  ist  auch  ein  Grund,  weshalb  der  Weizen  des 
Sozialismus  drüben  nicht  blühen  will. 

Ob  man  wohl  unsere  Regierung  dazu  bewegen  könnte, 
einige  Schiffsladungen  voll  Philister,  Spießer,  Para- 
graphenreiter, Schulfüchse,  Bureaukratsbürsten  und  Ein- 
faltspinsel hinüber  zu  schaffen,  um  bei  Bruder  Jonathan 
einen  mehrjährigen  Kursus  zwecks  Charakterverbesserung 
durchzumachen  ? 


■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■ ■■ 


mi  iiiiiiiiiihiiiiiiiiiiiiiiiihii  im  iriiiiiiiiiiiiin  im  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiii.i 

Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 


£s  war  eine  der  klügsten  Maßnahmen  der  Unions- 
begründer, daß  sie  in  ihrer  Verfassung  die  Trennung  von 
Kirche  und  Staat  aussprachen.  Wie  überall  in  der  Welt, 
so  hatte  auch  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  Besiedelung 
Nordamerikas  die  Verquickung  des  religiösen  Elements 
mit  der  Politik  die  übelsten  Folgen  gehabt.  Die  bischöf- 
liche Kirche  Englands,  die  papistische  wie  die  prote- 
stantische, hatte  natürlich  versucht,  ihre  Herrschaft  auch 
auf  die  amerikanischen  Kolonisten  auszudehnen  und 
dadurch  den  unseligen  Religionshader  in  die  neue  Welt 
verpflanzt.  Die  Pilgerväter,  das  heißt  jene  fanatischen 
Puritaner,  die  in  der  ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts die  sogenannten  Neuenglandstaaten  besiedelten, 
hatten  sich  weit  unduldsamer  erwiesen  als  selbst  die 
römische  Pfaffenherrschaft  in  den  spanischen  Südstaaten. 
Sie  wären  am  liebsten  mit  Inquisition  und  Scheiterhaufen 
gegen  alles,  was  ihnen  ketzerisch  erschien,  vorgegangen. 
Aber  wie  diese  Pilgerväter  über  dem  Psalmsingen  und 
Ketzerriechen  doch  niemals  vergaßen,  ihre  weltlichen 
Geschäfte  als  geriebene  Kaufleute  intensiv  zu  fördern, 
so  ließ  sich  auch  der  vielgerühmte  Common  sence  ihrer 
angelsächsischen  Rasse  selbst  durch  religiöse  Inbrunst 
nicht  völlig  unterdrücken.  Die  stupiden  Glaubensver- 
folgungen hatten  tiefgehende  Spaltungen,  verbitterte 
Feindschaften  zwischen  den  in  dem  jungen  Kolonialreich 
doch  so  sehr  auf  gegenseitige  Hilfsbereitschaft  und  festen 
Zusammenhalt  angewiesenen  Bürgern  erzeugt.  Neuge- 
gründete Städte  und  Staaten  wurden  entvölkert,  ab- 
trünnige Sektierer  fanden  großen  Zulauf  und  gründeten 


Trennung  von  Staat  und  Kirche.  187 

neue  Gemeinwesen,  die  sich  zu  bedrohlichen  Konkur- 
renten der  alten  Puritanersiedelungen  entwickelten.  Als 
nun  gar  der  kleine  Freistaat  Maine,  der  als  erster  völlige 
Religionsfreiheit  eingeführt  hatte,  auffällig  rasch  empor- 
blühte, begannen  doch  auch  den  starren  Puritanern  die 
Augen  aufzugehen. 

Und  so  kam  es,  daß  nach  der  gewaltsamen  Iyosreißung 
vom  alten  Vaterlande  die  Trennung  von  Kirche  und 
Staat  von  der  Bundesregierung  zum  Grundsatz  erhoben 
wurde.  Im  Artikel  i  des  Anhangs  zur  Konstitution  von 
1778  ist  dieser  Grundsatz  festgelegt,  und  seit  dieser  Zeit 
kann  tatsächlich  in  den  Vereinigten  Staaten  jeder  nach 
seiner  Fasson  selig  werden.  Die  Staatsgewalt  schreitet 
nur  ein  in  dem  Falle,  daß  die  Grundsätze  einer  Religions- 
gemeinschaft den  Gesetzen  zuwiderlaufen,  wie  zum  Bei- 
spiel die  Vielehe  bei  den  Mormonen.  Außerdem  hat  sie 
in  weiser  Voraussicht  der  Ansammlung  übermäßigen 
Kirchensvermögen  Grenzen  gesetzt.  Die  Folge  dieser 
Entfesselung  der  Religion  war  eine  Spaltung  des  Protestan- 
tismus in  unzählige  Sekten,  die  aber  keineswegs  eine 
Schwächung,  sondern  vielmehr  eine  Stärkung  des  reli- 
giösen Iyebens  bedeuten.  Philosophisches  und  besonders 
kritisches  Genie  ist  dem  Yankeevolke  durchaus  abzu- 
sprechen, dagegen  besitzt  es  einen  starken  Hang  zur 
Phantastik,  ja  auch  Begeisterungsfähigkeit  und  Inbrunst. 
Das  Volk  ist  in  seiner  Allgemeinheit  heute  noch  kindlich 
denkunreif,  und  so  erklärt  es  sich,  daß  die  Bibel  ihm  noch 
durchweg  als  Offenbarungsquelle  dient.  Natürlich  aber 
liest  jedes  grüblerisch  veranlagte  Individuum  aus  dieser 
Offenbarung  etwas  anderes  heraus.  Und  wer  Beredsamkeit 
und  Zähigkeit  genug  besitzt,  vermag  Anhänger  um  sich 
zu  scharen  und  eine  unabhängige  Gemeinde  zu  gründen. 
Die  Opferwilligkeit,  die  dazu  gehört,  eine  solche  Gemeinde, 


188     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung-  mit  dem  Himmel  macht. 

Sekte  oder  Kirche  (Denomination)  aus  eigenen  Mitteln  zu 
unterhalten,  legt  beredtes  Zeugnis  ab  für  die  Stärke  des 
religiösen  Bedürfnisses.  Freigeister  in  unserem  Sinne  gibt 
es  bei  den  Yankees  nur  sehr  wenige,  und  am  Christentum 
selbst  hat  noch  niemand  von  ihnen  ernsthafte  Kritik  ge- 
übt. Die  Tradition  hat  die  Bibelgläubigkeit  der  Vor- 
väter so  lebendig  erhalten,  daß  es  heute  noch,  ebenso  wie 
in  England,  ein  oberstes  Gesetz  gesellschaftlichen  An- 
standes  geblieben  ist,  seinen  Eifer  für  das  Christentum 
irgendwie  zu  betätigen.  Dieser  Eifer  aber  tut  sich  etwas 
auf  seine  Freiheit  zugute  und  nimmt  daher  oft  die  wunder- 
lichsten Formen  an.  Die  katholische  Kirche  dagegen  hält 
fest  zusammen  wie  überall  und  gibt  kein  Titelchen  von 
ihren  Dogmen  preis.  Sie  gründet  ihre  Macht  auf  das 
irische  Element  und  erhält  ständigen  Zuwachs  durch 
italienische,  polnische  und  slawische  Einwanderer.  Klug, 
wie  sie  ist,  trägt  sie  dem  in  der  demokratischen  L,uft  sehr 
bald  auch  bei  den  geistig  minderwertigsten  Einwanderern 
üppig  ins  Kraut  schießenden  Stolz  auf  die  persönliche  Frei- 
heit Rechnung  und  mischt  sich  nicht  so  aufdringlich  wie 
in  Europa  in  Privatangelegenheiten ;  politisch  dagegen  ver- 
sucht sie  mit  allen  möglichen  Mitteln  Einfluß  zu  gewinnen. 
Die  bedeutsamste  politische  Verbindung  der  katholischen 
Irländer,  die  bekannte  Tammany  Hall  im  Staate  New- 
York,  übt  offensichtlich  eine  große  politische  Macht  aus. 
Ob  es  ihr  aber  wirklich  gelingt,  ihre  Hauptabsicht,  katho- 
lische Irländer  in  die  wichtigsten  Staatsstellungen  zu 
bringen,  in  gefährlicher  Weise  zu  betätigen,  darüber  gehen 
die  Meinungen  bei  den  Amerikanern  selbst  sehr  weit  aus- 
einander. Es  ist  doch  wohl  nicht  anzunehmen,  daß  der 
nüchterne,  praktische  Yankee,  wo  es  sein  staatsbürgerliches 
Wohlbefinden  und  seinen  Geldbeutel  angeht,  sich  von  kon- 
fessionellen Quertreibereien  übers  Ohr  hauen  lassen  sollte. 


Die  Bischöflichen  und  die  Unitarier.  189 

Obwohl  der  Grundgedanke  des  Christentums  ent- 
schieden demokratisch  ist,  so  ist  doch  in  der  demokratischen 
Republik  gerade  die  Kirche  der  Boden,  wo  sich  aristo- 
kratische Absonderungsbestrebungen  am  lebhaftesten  be- 
tätigen. Selbstverständlich  wird  in  sämtlichen  Kirchen 
und  Betsälen  Nordamerikas  —  man  zählt  gegenwärtig, 
wenn  ich  recht  berichtet  bin,  86,  nach  anderer  Quelle 
sogar  gegen  200  verschiedene  Bekenntnisse  —  der  christ- 
liche Grundsatz  gepredigt,  daß  vor  Gott  alle  Menschen 
gleich  seien;  in  Wirklichkeit  ist  aber  beispielsweise  die 
bischöfliche  Hochkirche  nur  für  die  Reichen  und  Vornehmen 
vorhanden.  In  ihren  prächtigen  Kathedralen  kostet  das 
Abonnement  auf  einen  Sitzplatz  sicherlich  so  viel  wie  das 
auf  einen  ersten  Rangplatz  in  der  großen  Oper.  Bin  be- 
liebiger Mensch  der  minder  gut  gekleideten  Klasse,  dem 
es  einfallen  wollte,  im  vorübergehen  in  solch  eine  Kirche 
einzukehren,  würde  nicht  nur  schwerlich  einen  Sitzplatz 
finden,  sondern  sich  auch  durch  die  entrüsteten  Blicke 
der  Stammgäste  energisch  hinausgeekelt  fühlen.  Die 
Geistlichen  dieser  Kirche  sind  feine  Weltleute,  verkehren 
in  der  vornehmsten  Gesellschaft  und  verdanken  ihre 
Karriere  häufig  ihren  glänzenden  Eigenschaften  als  Tisch- 
redner, Bridgespieler,  Musikdilettanten  und  Tänzer.  Die 
Kirche  der  geistigen  Aristokratie,  der  wohl  der  größte 
Teil  der  akademischen  Welt  angehört,  ist  die  Unitarian 
Church.  Diese  hat  alle  Dogmen  beiseite  geworfen  und  nur 
den  ethischen  Gehalt  der  Bergpredigt  als  Richtung  gebend 
beibehalten.  Sie  treibt  keinerlei  Kult  mit  dem  starren 
Bibelwort  und  sucht  die  Themen  für  ihre  Sonntags- 
betrachtungen gerne  bei  den  Dichtern  und  Philosophen, 
vornehmlich  bei  ihrem  berühmtesten  Mitgliede  Ralph 
Waldo  Emerson.  Den  größten  religiösen  Eifer  entfalten 
natürlich  die  kleineren   Denominationen,   deren  Prediger 


190     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

oft  die  seltsamsten  Mittel  zum  Seelenfang  anwenden. 
Die  Berichte,  die  zuweilen  nach  Buropa  dringen  von 
Geistlichen,  die  ihre  Gemeinde  mit  Schokolade  und  Ice- 
creme bewirten,  vergnügte  musikalisch  deklamatorische 
Unterhaltungen  oder  schweißtreibende  Leibesübungen  ver- 
anstalten, beziehen  sich  wohl  nur  auf  solche  Sekten,  die 
auf  den  Geschmack  des  kleinen  Mannes  spekulieren  und 
daher  auch  in  ihrer  Reklame  dem  Hange  des  amerikanischen 
Humors  zu  grotesker  Übertreibung  Rechnung  tragen 
müssen.  Am  spaßhaftesten  muß  es  wohl  in  den  Neger- 
kirchen zugehen.  Wer  jemals  eine  Probe  der  geistlichen 
Gesänge  der  Nigger  gehört  hat,  deren  Eigentümlichkeit 
es  ist,  die  biblischen  Geschichten  sowie  die  Vor- 
stellung von  Himmel  und  Hölle  mit  ganz  modernen 
Zutaten,  aus  dem  Bereich  der  Technik  etwa,  auszu- 
statten, der  wird  sich  auch  eine  Vorstellung  von  der 
Weihe  eines  Negergottesdienstes  machen  können.  Der 
Rhythmus  afrikanischer  Kriegs-  und  Geisterbeschwörungs- 
tänze sitzt  diesem  kindhaft  gebliebenen  Volke  eben 
noch  so  fest  in  den  Knochen,  daß  auch  seine  religiösen 
Gefühle  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  in  diesem  Takte 
schwingen. 

Um  einen  Begriff  von  dem  Ton  dieser  religiösen  Nigger- 
poesie zu  geben,  habe  ich  versucht,  einige  solche  Kirchen- 
lieder zu  übersetzen,  wobei  freilich  zu  bedenken  ist,  daß 
die  Eigentümlichkeiten  des  Negerdialektes  schon  darum 
jeder  Wiedergabe  in  Deutsch  spotten,  weil  wir  ja  bei  uns 
kein  Negerdeutsch  kennen.  Eines  dieser  Lieder  aus  der 
Zeit  der  Sklaverei  lautet  folgendermaßen:  ,,Jossua  fit 
de  battle  ob  de  Jerico". 

Josua,  der  schlug  die  Schlacht  bei  Jericho  —  so  froh! 
Ei,  Josua,  der  schlug  die  Schlacht  bei  Jericho  — 
und  die  Mauern  purzeln  um  —  glatt  um! 


Die  Negerkirchen.  191 


Kommt  Brüder,  in  die  Wildnis,  wo  der  Sturm  heult,  laßt  uns  eilen, 

da  soll  da  heilig  Bibelwort  uns  unsern  Kummer  heilen. 

Wir  wählen  uns  zum  Text  —  die  Deutung,  die  liegt  nah: 

„Der  Herr  rief :  Moses,  Moses !  —  und  der  Mann  sprach :  Ich  bin  da !" 

0  Daniel! 
Ei,  Josua,  der  schlug  die  Schlacht  bei  Jericho, 
und  die  Mauern  purzeln  um,  glatt  um. 

Nu.  oll'  Pbaro  von  Ägypten  —  klüger  war  kein  Mensch  gebor'n   — 
und  er  kriegt  die  Judenkinder  'ran  zur  Arbeit  in  sei'm  Korn. 
Schließlich  ließ  der  Herrgott  sagen  durch  den  Moses,  seinen  Knecht, 
daß  der  Pharo  diese  Juden  schleunigst  laufen  lassen  möcht'. 

O  Daniel  usw. 

Sollt   er  aber  dies  verweigern!  —  o  verdammt  —  dann  ging's  ihm 
Auf  Ägypten  wollt  er  leeren  kübelweise  seinen  Grimm.  [schlimm. 

So  geschah's.     Und  Pharos  Heere  waren  keinen  Dreier  wert. 
Also,  merkt,  mit  seinen  Kindern  heute  noch  der  Herr  verfährt. 

O  Daniel  usw. 

Tolle  Sachen  dreht  der  Herrgott  —  und  nicht  nur  in  alter  Zeit, 
nicht  für  Israel  nur  —  Mitchristen,  nein,  die  Hilfe  ist  nicht  weit! 
Seine  Liebe  reicht  für  uns  noch  ...  so,    nun  lauft  nicht  und  verpetzt 
mich  meinem  Massa,  daß  die  Predigt  euch  zum  Muckschen  aufgehetzt. 

O  Daniel  usw. 

Besonders  interessant  ist  es,  daß,  wie  auch  in  den 
ältesten  Zeiten  des  Volksliedes  der  europäischen  Kultur- 
länder, das  eigentlich  sinnvolle  Gedicht  von  einem  Solo- 
sänger vorgetragen  wird,  während  der  Chor  sich  durch 
ganz  aus  dem  Zusammenhang  fallende  Ausrufe  und  Kehr- 
reime beteiligt.  In  obigem  Lied  singt  also  der  Chor:  so 
froh  —  glatt  um  —  o  Daniel  —  und  wiederholt  am 
Schlüsse  jedes  Verses  die  außer  Zusammenhang  mit  dem 
Inhalt  stehenden  Einleitungszeilen:  ,, Josua,  der  schlug 
die  Schlacht  bei   Jericho". 

Bin  anderes  Iyied,  das  in  einen  festen  Rhythmus  zu 
pressen  ich  mich  vergeblich  bemüht  habe,  lautet  höchst 
charakteristisch : 


192     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

Der  Vorsänger: 
0  der  Gänsekiel  kratzt  in  dem  Kontobuch  des  Herrn  — 
Mein  Herr  schreibt  meine  Zeit  ein. 

Wie  im  Schwänze  des  Opossums,  sind  auf  deinem  Schädel  auch 
alle  Haare  dir  gezählt.     Weißt  du  das  nicht? 
Oder  meinst  du,  daß  der  Herr,  der  sie  schuf,  nicht  einen  Hecht 
von  'nem  Walfisch  unterscheiden  sollte  können?" 

Chor: 
Sündige  also  lieber  nicht,  wenn  du  nicht  magst  Strafe  zahlen, 
denn  mein  Herrgott  schreibt  es  ein. 

Vorsänger : 
Und  das  Hauptbuch,  das  ich  meine,  das  ist  Gottes  Weltgericht  — 
mein  Herrgott  schreibt  meine  Zeit  ein. 

Du  erwarte  nicht  vom  Nachbar,  daß  er  deiner  Seele  durchhilft, 
deine  Sünden  müssen  braten  wie  die  Hühnchen  auf  dem  Hofe. 

Chor: 
Also  sündige  lieber  nicht  usw. 

In  einem  anderen  L,iede  wird  den  armen  Sündern  an- 
geraten, sich  ja  rechtzeitig  einen  guten  Platz  in  dem  Auto- 
bus nach  dem  Himmel  zu  belegen,  denn  der  Andrang  sei 
gerade  in  diesen  Tagen  enorm. 

Es  wäre  aber  ein  großer  Irrtum,  anzunehmen,  daß 
die  groteske  Form  dieser  religiösen  Gesänge  nur  der  I,ust 
der  Nigger  an  kindischer  Spaßmacherei  zuzuschreiben 
sei;  sie  sind  im  Gegenteil  durchaus  ernst  gemeint  und 
werden  von  den  weniger  kultivierten  Schwarzen  auch 
heutige  st  ags  noch  nicht  als  komisch  empfunden.  Die 
meisten  und  eigenartigsten  dieser  Iyieder  stammen  ja 
aus  der  Zeit  der  Sklaverei;  es  sind  Naturlaute  verängstigter 
Seelen  in  armen  gequälten  L,eibern.  Und  die  religiöse 
Inbrunst,  die  aus  ihnen  spricht,  ist  mindestens  ebenso 
echt  wie  diejenige  der  Heilsarmeepoesie.  Übrigens  stellen 
diese  alten  Plantagenlieder  so  ziemlich  das  einzige  dar, 
was  die  Vereinigten  Staaten  an  wirklicher  Volkspoesie 
hervorgebracht   haben,    sowie    auch   die  Negermusik   die 


Die  Heilsarmee.  193 


einzige    originelle    musikalische  Neubildung   auf  amerika- 
nischem Boden  bedeutet. 

Das  weiße  Gegenstück  zu  der  halbwilden  Gottes- 
trunkenheit der  Schwarzen  ist  die  Heilsarmee,  die  Kirche 
der  Aller  ärmsten  und  Untersten.  Zeichnen  sich  ihre  Kult- 
formen schon  in  Europa  nicht  gerade  durch  guten  Ge- 
schmack aus,  so  erreicht  diese  Geschmacklosigkeit  in 
Amerika  schon  geradezu  kannibalische  Dimensionen.  Die 
Nigger  sind  wenigstens  durchweg  musikalisch  und  ver- 
fügen oft  sogar  über  sehr  gute  Singstimmen  und  geschickte 
Instrument alisten.  Außerdem  paßt  der  rasche  Rhythmus 
ihrer  geistlichen  Gesänge,  die  Vorliebe  für  die  alttestamen- 
tarische liegende  und  die  phantastische  Ausmalung  von 
Himmel  und  Hölle  vortrefflich  zu  ihren  schwarzen,  wüsten 
Gesichtern  mit  den  sanften  schwärmerischen  Augen. 
Wenn  aber  weiße  Menschen  unter  einem  nördlichen 
Himmelsstrich  ihre  religiösen  Gefühle  in  der  Form  einer 
mehr  als  barbarischen  Musikübung  mit  grauenhaftem 
Gesang  und  mißtönender  Pauken-  und  Trompeten- 
begleitung auf  offener  Straße  ausüben  und  sich  in  ihren 
Predigten  wie  ihren  Gesängen  eines  Jargons  bedienen, 
der  weder  für  den  hohen  Schwung  der  alttestamentlichen 
Sprache  noch  für  die  schlichte  Tiefe  der  evangelischen 
Darstellung  das  geringste  Verständnis  besitzt,  so  muß 
einen  Kulturmenschen  wirklich  das  Grausen  anwandeln. 
Kein  sozial  fühlender  Mensch  wird  dem  idealen  Zweck 
der  Heilsarmee  seine  Hochachtung  versagen ;  sie  allein  von 
allen  religiösen  Gemeinschaften  hat  es  vermocht,  den  natür- 
lichen Ekel  jedes  gesitteten  Menschen  vor  der  schmutzigen 
Verkommenheit,  dem  stinkenden  I^aster  und  dem 
jämmerlichsten  Elend  zu  überwinden;  sie  allein  wagt 
sich  mutig  unter  den  Auswurf  der  Menschheit  und  ringt 
sozusagen  Brust  an  Brust  um  die  Seelen  der  Verworfensten ; 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  13 


194     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

sie  speist  ihre  Geretteten  nicht  nur  mit  trostreichen  Worten 
ab,  sondern  sie  gibt  ihnen  Brot  und  Arbeit  und  verhilft 
so  manchem  schon  gänzlich  Verzweifelten,  von  der  Ge- 
sellschaft völlig  aufgegebenen  doch  noch  zu  einem 
menschenwürdigen  Dasein.  Der  große  Erfolg,  den  sie 
auf  der  ganzen  christlichen  Erde  aufzuweisen  hat,  be- 
weist, daß  sie  sich  auf  die  Psychologie  jener  alleruntersten 
Schichten,  auf  die  sie  es  abgesehen  hat,  versteht,  und  daß 
die  sinnfälligen  Gewaltmittel,  die  sie  bei  ihrer  Propaganda 
anwendet,  die  richtigen  sind. 

Gerade  diese  Erkenntnis  ist  es  aber,  die  dem  kulti- 
vierten Menschenfreund  so  grausam  ins  Herz  schneidet. 
So  weit  haben  wir  es  also  mit  unserer  gepriesenen  Zivili- 
sation, mit  unserer  Religion  der  L,iebe,  mit  unserer  Auf- 
klärung durch  die  Schule  und  unserer  bewundernswürdigen 
sozialen  Hilfsarbeit  gebracht,  daß  in  unseren  prunkenden 
Weltstädten  überall  noch  Tausende  und  aber  Tausende 
von  Mitmenschen  vorhanden  sind,  denen  nur  mit  fratzen- 
haftem Teufelsspuk  und  mehr  als  kindlichen  Seeligkeits- 
vorstellungen  beizukommen  ist!  In  den  Vereinigten 
Staaten  leistet  zudem  die  organisierte  Wohltätigkeit 
vielleicht  mehr  als  in  irgendeinem  I^ande  der  alten  Welt. 
Die  Legal  Aid  Society  zum  Beispiel  gewährt  den  Ärmsten 
und  Unwissendsten  unentgeltlichen  Rechtsbeistand;  die 
Bemühungen  um  die  Besserung  erblich  belasteter  Ver- 
brechernaturen, um  den  Schutz  entlassener  Strafgefangener 
gegen  das  Zurückgleiten  in  ihr  früheres  lieben  haben 
großartige  Erfolge  aufzuweisen  und  zeugen  von  tiefer 
Menschenkenntnis  und  echter  Menschenliebe  —  und 
dennoch,  dennoch  findet  die  Heilsarmee  mit  ihrer  scheuß- 
lichen Bum-Bum- Reklame  gerade  dort  noch  so  viel  zu  tun! 

Wenn  man  die  Verbreitung  und  die  laute  Betätigung 
der  Heilsarmee  als  Maßstab  für  die  Gesittung  eines  Volkes 


Bankrott  des  Materialismus.  195 

annimmt,  so  müßte  in  dieser  Beziehung  das  Volk  der 
Vereinigten  Staaten  am  tiefsten  von  allen  Völkern  stehen. 
Ich  meine  aber,  daß  dieser  Maßstab  doch  vielleicht  zu 
einem  ungerechten  Urteil  verführt :  nicht  im  Volkscharakter 
als  solchem  liegt  wohl  die  größere  sittliche  Verkommenheit, 
sondern  diese  ist  nur  eine  Folgeerscheinung  des  unerhört 
raschen  Emporschießens  einer  rein  technischen  Zivilisation 
und  des  dadurch  geförderten  unnatürlichen  raschen 
Wachstums  der  Städte.  In  der  kleinen  Iyandgemeinde 
findet  einer  am  andern  Halt,  und  die  unmittelbare  Be- 
rührung mit  der  erhabenen  Natur,  mit  der  zu  Nachdenken 
und  Andacht  stimmenden  Einsamkeit  bietet  auch  dem 
Ärmsten  edle  Freuden  —  Seelenfrieden  wenigstens  — , 
während  in  der  Großstadt  alle  diese  idealen  Güter  nur 
für  die  Besitzenden  vorhanden  sind.  Der  Arme  dagegen 
verliert  in  der  Hetzjagd  des  Daseinskampfes  jene  innere 
Ruhe  und  wird  so  fast  unausweichlich  in  einen  krassen 
Materialismus  hineingetrieben.  Je  mehr  sich  Riesen- 
vermögen in  den  Händen  weniger  zusammenfinden, 
je  mehr  eine  glänzende  Luxuskultur  sich  in  der  Öffentlich- 
keit breit  macht,  desto  sicherer  verfällt  der  Besitzlose  und 
dabei  geistig  Unkultivierte  der  Verrohung.  Es  ist  das  eine 
Tatsache,  die  ein  vernichtendes  Urteil  über  den  Kultur- 
wert des  technischen  Fortschrittes  in  sich  schließt.  Die 
Arbeiter,  die  in  steter  Berührung  mit  den  erstaunlichsten 
Erfindungen  des  Menschengeistes  sind,  die  ihnen  die 
Bändigung  der  Naturkräfte  durch  unseren  Verstand  und 
die  subtilsten  Nachahmungen  eines  lebendigen  Organis- 
mus durch  einen  wunderbaren  Mechanismus  tagtäglich 
vor  Augen  führen,  gewinnen  von  diesem  Umgang  weder 
für  ihre  Verstandesbildung  noch  für  die  Bereicherung 
ihres  sittlichen  Empfindens.  Das  einzige,  was  allenfalls 
dabei  herausspringen  kann,  wäre  für  gut  veranlagte  Köpfe 

13* 


196     Wie  der  Vankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

der  Anreiz  zu  erfinderischer  Kigenbetätigung.  Eben- 
sowenig wird  der  Herr  der  Maschine,  der  Arbeitgeber, 
dem  sie  Reichtum  und  folglich  auch  Macht,  Behagen  und 
IyUxus  schafft,  von  allen  diesen  schönen  Dingen  eine 
seelische  Bereicherung  erfahren,  wenn  es  ihm  an  innerer 
Kultur,  das  heißt  also  an  Idealismus,  an  einem  zeitig 
geweckten    ästhetischen    und    ethischen    Gewissen    fehlt. 

Der  vertierte,  arbeitsscheue  Trunkenbold,  der  sich 
durch  die  Radauversammlungen  der  Heilsarmee  zur  Buß- 
bank locken  läßt,  legt  also  im  Grunde  ebenso  beredtes 
Zeugnis  wider  die  Ohnmacht  der  technischen  Zivilisation 
ab,  wie  der  angeblich  gebildete,  manierliche  und  reputier- 
liche  Mensch  der  Oberschicht,  der  sich  von  dem  religiös 
drapierten  Hokuspokus  raffinierter  Spekulanten  und 
Agitatoren  einfangen  läßt. 

Von  der  öffentlichen  Katzenmusik  der  mit  der  großen 
Trommel  begleiteten  Bußpredigten,  von  dem  rotge- 
strichenen Bettel  topf  am  eisernen  Dreifuß,  vor  dem  die 
wetterharten  Wachposten  der  Heilsarmee  ihre  Schelle 
unablässig  in  Bewegung  setzen,  bis  zu  den  gewaltigen 
Marmorkathedralen  mit  vergoldeten  Kuppeln,  welche 
die  Christian  Science  in  Boston,  Providence  und  vielen 
anderen  Großstädten  des  Ostens  errichtet  hat,  scheint 
es  ein  weiter  Weg  —  und  ist  doch  nur  ein  Katzensprung! 
Wir  Europäer  sehen  die  durch  Misses  Mary  Baker  G.  Eddy 
hervorgerufene  religiöse  Bewegung  als  eine  geistige  Epi- 
demie an,  welcher  religiös  veranlagte,  aber  denkunfähige 
Geister  deshalb  so  leicht  verfallen,  weil  sie  darin  eine 
Wiederherstellung  urchristlicher  Inbrunst  mit  magischer 
Wirkung  erblicken.  Wir  zucken  gleichmütig  die  Achseln 
über  diese  sogenannte  christliche  Wissenschaft  und  ver- 
weisen sie  unter  die  abstrusen  Erscheinungsformen 
moderner  Hysterie. 


Die  Kirche  der  Gesundbeter.  197 

Der  „American  Encyclopedie  Dictionary"  definiert 
die  Grundlage  dieser  Wissenschaft  folgendermaßen:  „Die 
Christian  Science  lehrt  die  Wirklichkeit  und  Allgegen- 
wart Gottes  und  die  Unwirklichkeit  und  Nichtigkeit  der 
Materie,  die  geistige  Beschaffenheit  des  Menschen  und  des 
Weltalls,  die  Allmacht  des  Guten  und  die  Unmacht  des 
Übels.  Christian  Science  will  die  Wahrheit  der  ursprüng- 
lichen Iyehre  Christi  wiederherstellen.  In  der  Wahrheit 
erblickt  sie  das  einzige  Heilmittel  gegen  den  Irrtum; 
Krankheit  ist  auch  ein  solcher  Irrtum,  eine  Folge  der 
Sünde.  Bekämpfe  also  Sünde  und  Irrtum,  so  bekämpfst 
du  Krankheit  und  Tod."  —  Christlich  kann  man  diese 
Ideen  allerdings  nennen,  neu  sind  sie  nicht,  und  ihre  philo- 
sophische Begründung  ist  keineswegs  auf  Misses  Bddys 
eigenem  Geistesboden  gewachsen.  Das  Neue  und  für 
die  große  Masse  der  heilsuchenden  Menschheit  Bestehende 
an  dieser  Lehre  besteht  darin,  daß  sie  Christus  zum 
Magier  macht  und  die  magischen  Kräfte  seiner  Gläubigen 
durch  inbrünstige  Gebetsübungen  dermaßen  stärken  zu 
können  vorgibt,  daß  auch  die  Wunder  zu  wirken  imstande 
sind,  vornehmlich  Heilung  von  Krankheiten.  Der  prak- 
tische Nutzen  der  neuen  Religion  ist  also  der,  daß  sie  an 
die  Stelle  von  Doktor  und  Apotheker  die  Autosuggestion 
als  billigsten  und  probatesten  Heilfaktor  setzt.  Die  Welt 
ist  erfüllt  von  Übeln  und  Schrecknissen  aller  Art,  von 
Sorgen,  Kummer,  Not  und  Tod;  der  Gläubige  aber  be- 
hauptet, alle  diese  Dinge  existierten  nur  in  der  Einbildung 
der  noch  nicht  Erweckten.  Sie  aber  vollziehen  an  sich 
durch  seelische  Dressur  einfach  eine  Art  Selbstblendung; 
sie  zwingen  ihren  Willen,  nicht  mehr  sehen  zu  wollen. 
Und  wenn  sie  es  glücklich  zur  vollendeten  Blindheit  ge- 
bracht haben,  dann  existieren  allerdings  weder  Schmerzen 
noch  Tod  mehr.    Man  begreift,  daß  eine  solche  Lehre  in 


198     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung-  mit  dem  Himmel  macht. 

Amerika,  wo  es  so  wenig  philosophisch  geschulte  Köpfe 
gibt,  ihr  Glück  machen  mußte.  Derselbe  Optimismus 
des  jugendlichen  Volkes,  der  alles  von  ihm  Hervorgebrachte 
für  vortrefflich  hält,  derselbe  glückliche  Leichtsinn,  der 
die  schwierigsten  Fragen  dadurch  löst,  daß  er  einfach 
behauptet,  sie  existierten  nicht  (wie  wir  es  zum  Beispiel 
bei  der  Frage  der  Prostitution  gesehen  haben),  dieselbe 
Leichtgläubigkeit,  die  Geheimmittelfabrikanten,  Somnam- 
bulen und  Horoskopsteller  so  rasch  reich  macht,  haben 
auch  der  Misses  Eddy  Millionen  in  die  Kasse  und  Hundert- 
tausende von  Gläubigen  in  ihre  Kirche  gezaubert.  Das 
eigentliche  Genie  dieser  merkwürdigen  Frau  liegt  viel  mehr 
in  der  praktischen  als  in  der  philosophischen  Richtung. 
Dem  Amerikaner  imponiert  aber  nichts  so  sehr,  als  der 
praktische  Erfolg.  Wer  in  kurzer  Frist  seinen  Mitmenschen 
so  ungeheure  Geldsummen  aus  der  Tasche  zu  locken  und 
mit  ihrer  Hilfe  eine  festgefügte  Organisation  zu  schaffen 
versteht,  der  muß  ein  erwähltes  Werkzeug  Gottes  sein. 
Bs  will  uns  Europäern  schier  unfaßlich  dünken,  daß 
im  zwanzigsten  Jahrhundert  unter  dem  angeblich  nüch- 
ternsten aller  Völker  eine  Frau  zur  Gründerin  einer  neuen 
mächtigen  Kirche  und  von  ihren  Gläubigen  für  heilig, 
unfehlbar,  ja  selbst  unsterblich  erklärt  werden  konnte! 
Misses  Baker  Eddy  war  bekanntlich  schon  zu  ihren  Leb- 
zeiten zur  sagenhaften  Persönlichkeit  geworden.  Man 
wollte  wissen,  daß  sie  schon  seit  Jahren  tot  sei,  und  daß 
in  ihrem  Wagen  eine  Wachspuppe  spazieren  gefahren 
werde,  um  ihre  Anhänger  nicht  in  ihrem  Glauben  an  die 
physische  Unsterblichkeit  ihrer  Päpstin  irre  werden  zu 
lassen.  Und  nun  ist  sie  zu  Ende  des  Jahres  1910  dennoch 
ganz  wirklich  gestorben  und  begraben  worden,  und  die 
Ärzte  wußten  ganz  genau  den  Charakter  ihrer  Krankheit 
und    die    unmittelbare    Todesursache    anzugeben.     Man 


Der  Tod  der  Päpstin.  199 


hätte  nun  meinen  sollen,  daß  mit  diesem  unzweifelhaften 
leiblichen  Tode  der  magische  Nymbus  zerstört  worden  sei, 
der  die  Person  der  Päpstin  außerhalb  der  Menschheit  in 
die  Reihe  der  Götter  stellte.  Aber  das  war  keineswegs 
der  Fall;  denn  alsbald  nach  ihrem  Begräbnis  verkündete 
eine  ihrer  vertrautesten  Jüngerinnen,  sie  könne  den 
Gläubigen  mit  Bestimmtheit  versichern,  daß  nur  eine 
verbrauchte  materielle  Erscheinungsform  der  Misses  Baker 
Eddy  begraben  worden  sei,  sie  selbst  werde  in  erneuter 
Iyeiblichkeit,  vermutlich  verjüngt,  vielleicht  schon  in 
vierzehn  Tagen  wieder  auf  Erden  wandeln.  Vorsichtiger- 
weise setzte  die  Dame  allerdings  hinzu,  es  könnte  eventuell 
auch  länger  dauern,  vielleicht  Jahre,  viele,  viele  Jahre 
lang. 

Die  Christian -Science- Kirche  ist  nicht  mit  ihrer  Grün- 
derin gestorben;  sie  hat  sogar,  bisher  wenigstens,  den 
starken  Erschütterungen  ihres  Ansehens  standgehalten, 
denen  sie  durch  den  höchst  unerquicklichen  Zank  der 
Auserwähltesten  unter  ihren  Getreuen  um  die  Besetzung 
ihres  verwaisten  päpstlichen  Stuhles  und  die  Aufteilung 
ihrer  Millionenerbschaft  ausgesetzt  war.  Für  uns  Euro- 
päer kann  die  Geschichte  dieser  Gesundbeterkirche  nur 
eine  entsetzliche  Blamage  der  modernen  Menschheit  be- 
deuten. In  den  Vereinigten  Staaten  jedoch  ist  es  geradezu 
gefährlich,  über  diesen  Gegenstand,  selbst  in  gut  gesiebter 
Gesellschaft,  eine  ehrliche  Meinung  zu  äußern.  In  der 
gebildetsten  Stadt  Amerikas,  in  Boston,  in  einer  Gesell- 
schaft, die  nur  aus  Professoren,  hohen  Staatsbeamten 
und  sonstigen  geistig  hervorragenden  Herren  bestand, 
war  ich  auf  dem  besten  Wege,  mich  für  ewige  Zeiten  un- 
möglich zu  machen,  indem  ich  das  Thema  von  der  Christian 
Science  anschlug.  Durch  Augen  winken  und  bedeutungs- 
volles   Räuspern    brachten    mich    glücklicherweise    einige 


200     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung-  mit  dem  Himmel  macht. 

wohlmeinende  Mitmenschen  zum  rechtzeitigen  Schweigen. 
Und  hinterher  erfuhr  ich,  daß  mein  Nachbar  zur  lenken 
und  der  bedeutende  Herr  vis-a-vis  tiberzeugte  Anhänger 
der  Misses  Eddy  seien. 

Wie  außerordentlich  verhängnisvoll  dieser  sonderbare 
Fanatismus  auch  für  die  privaten  menschlichen  Be- 
ziehungen sein  kann,  dafür  wurde  mir  ein  Beispiel  aus 
dem  Bekanntenkreise  eines  Freundes  erzählt.  Ein  ge- 
scheiter und  tüchtiger  Geschäftsmann  hatte  eine  recht 
wohlhabende  Frau  geheiratet  und  führte  eine  durchaus 
glückliche  Ehe  mit  ihr,  bis  er  in  die  Netze  der  Gesundbeter 
geriet.  Von  da  an  ließ  er  das  Arbeiten  bleiben  und  be- 
schäftigte sich  nur  noch  mit  Beten  und  Predigen  in  der 
eigenen  Familie.  Es  gelang  ihm  jedoch  nicht,  seine  Frau 
zu  sich  herüberzuziehen.  Die  Nichtexistenz  der  Materie 
mit  ihren  Sorgen  und  die  Allmacht  Gottes  legte  er  sich  so 
aus,  daß  nunmehr  auch  der  Herr  für  die  Bezahlung  der 
laufenden  Rechnungen  zu  sorgen  habe.  Da  dies  nun  trotz 
eifrig  betriebener  Gebetsübungen  merkwürdigerweise  nicht 
der  Fall  war,  so  mußte  seine  Gattin  immer  mehr  und  mehr 
von  ihrem  Kapital  flüssig  machen,  bis  sie  eines  Tages  die 
Geduld  verlor  und  dem  frommen  Eheherrn  die  Existenz 
der  Materie  dadurch  klar  machte,  daß  sie  ihm  ein  Schei- 
dungsurteil vorlegte  und  mit  Sack  und  Pack  sein  Haus 
verließ. 

Wir  würden  den  Yankees  schwer  unrecht  tun  mit  der 
Annahme,  daß  nur  in  ihrem  I^ande  heutzutage  noch  ein 
günstiger  Boden  für  ausgiebigen  Gimpelfang  auf  religiösem 
Gebiet  zu  finden  wäre.  Christian  Science  zum  Beispiel 
hat  auch  in  Deutschland  zahlreiche  Anhänger,  und  zwar 
vornehmlich  in  jenen  erlauchten  Kreisen,  die  auf  die 
,, Kreuzzeitung"  abonniert  zu  sein  pflegen.  In  meinen 
Händen  befinden  sich  zwei  traurige  Beweisstücke  für  die 


Christian  Science  in  Europa.  201 

engen  Beziehungen  zwischen  amerikanisch  organisiertem 
Schwindel  und  deutscher  Strammgläubigkeit.  Annoncierte 
da  in  den  gelesensten  Blättern  der  ganzen  Welt  ein  Mister 
G.  A.  Mann,  Rochester,  New  York,  U.  S.  A.,  Postdepot- 
nummer 1106:  ,, Woher  stammt  diese  wunderbare  Gewalt!" 
Das  ganze  L,and  ist  erstaunt  über  die  wunderbaren  Taten, 
die  Herr  Mann  vollbringt! 

Den  Unheilbaren  wird  wieder  Vertrauen  eingeflößt. 
Ärzte  und  Prediger  erzählen  staunend  von  der  Einfachheit, 
mit  der  dieser  moderne  Wundertäter  Blinde  und  L,ahme 
mit  Erfolg  behandelt  und  zahlreiche  Kranke  den  Klauen 
des  Todes  entreißt.  Seine  Ratschläge  sind  unentgeltlich 
für  alle.  Dieser  Herr  entbietet  sich,  seine  Ratschläge 
unentgeltlich  zu  geben.  Ärzte  suchen  seine  außerordent- 
liche Kraft  zu  ergründen  ..." 

Und  in  diesem  scheußlichen  Reklamestil  geht  es  zwei 
Spalten  lang  fort.  Zahlreiche  Heilerfolge  werden  mit 
Namensnennung  angegeben,  und  zum  Schlüsse  stellt  sich 
Herr  G.  A.  Mann  als  Dr.  med.  und  Professor  der  von  ihm 
erfundenen  Radiopathie  vor.  ,,Die  Radiopathie  hilft  nicht 
nur  bei  gewissen  Arten  von  Krankheiten,  sondern  sie 
nützt  gegen  alle  Krankheiten,  wenn  die  verschiedenen, 
magnetisch  zubereiteten  Tabletten,  nach  unserer  Formel 
präpariert,  rechtzeitig  vom  Patienten  benutzt  werden. 
Wenn  Sie  krank  sind,  es  ist  einerlei,  an  welcher  Krank- 
heit Sie  leiden,  schreiben  Sie  Herrn  Mann,  beschreiben 
Sie  ihm  die  Symptome,  geben  Sie  an,  wie  lange  Sie  krank 
sind,  und  er  wird  sich  ein  Vergnügen  daraus  machen,  Ihnen 
die  Krankheit  zu  nennen,  an  der  Sie  leiden  und  Ihnen  ein 
Verfahren  zu  beschreiben,  das  Ihnen  nützen  wird.  Dieses 
kostet  Sie  absolut  nichts,  und  Herr  Mann  wird  Ihnen  dazu 
ein  Exemplar  des  wunderbaren  Buches:  ,Wie  man  sich 
selbst  und  anderen  helfen  kann'  mitschicken  usw." 


202     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

Herr  G.  A.  Mann  kennt  seine  Pappenheimer.  Für  das 
Postfach  1106  in  Rochester  liefen  aus  allen  Teilen  der 
Welt  die  Briefe  zu  Hunderten  und  Tausenden  ein,  und 
die  Heilsuchenden,  natürlich  lauter  arme,  verzweifelte, 
schmerzensreiche,  meist  von  den  Ärzten  aufgegebene 
Menschen,  erhielten  ein  gedrucktes  Schreiben,  welches 
ihnen  irgendeine  Krankheit  nannte  und  sie  aufforderte, 
10  Dollar,  also  41,80  Mk.  (!)  portofrei  einzusenden,  wofür 
ihnen  die  wunderwirkenden  radiopathischen  Tabletten, 
natürlich  eine  völlig  wertlose  Droge,  zugehen  würden. 
Die  hochwichtige  Broschüre  voll  angeblich  wissenschaft- 
lichen Kauderwelschs  wurde  ihnen  allerdings  gratis  bei- 
gepackt. Und  siehe  da,  Tausende  und  aber  Tausende 
ließen  sich  den  letzten  Hoffnungsstrahl  10  Dollar  kosten 
und  machten  Herrn  G.  A.  Mann  zu  einem  schwerreichen 
Mann.  Selbstverständlich  ist  er  in  Wirklichkeit  weder 
Dr.  med.  noch  Professor,  sondern  einfach  ein  geriebener 
amerikanischer  Schwindler  mit  den  eigenartigen  Ehr- 
begriffen dieser  interessanten  Menschensorte.  Um  seinen 
guten  Freunden  auch  einen  Spaß  zu  machen,  ließ  er  zu- 
weilen besonders  pikante  Zuschriften  aus  seinem  Kunden- 
kreis photochemisch  vervielfältigen.  Und  durch  den- 
selben wackeren  Deutschen,  der  diesem  niederträchtigen 
Schwindler  in  Amerika  das  Handwerk  legte,  wurden  mir 
zwei  solcher  Faksimiles  anvertraut,  in  denen  eine  preußische 
Prinzessin  und  ein  hoher  Offizier  der  Potsdamer  Garnison 
dem  Herrn  Professor  der  Radiopathie  in  Rochester  Ge- 
ständnisse ablegen,  wie  man  sie  selbst  seinem  Hausarzt 
und  seinem  Beichtiger  wohl  nur  im  Zustande  höchster 
Verzweiflung  ablegen  dürfte. 

Herr  A.  G.  Mann  aber  machte  sich,  wie  gesagt,  einen 
Spaß  daraus,  diese  traurigen  Intimitäten  seinen  guten 
Freunden    zu    verraten!     Angeblich    soll    dieser    gemein- 


Aberglaube,  Kirchenwahl.  203 

gefährliche  Schwindler  übrigens  sein  Unwesen  heute  noch 
von  Paris  aus  fröhlich  weiter  betreiben.  Charakteristisch 
ist  es  nun,  daß  die  erwähnten,  sozial  so  hoch  stehenden 
Briefschreiber  alle  beide  Herrn  Mann  gestehen,  sie  hätten 
es  unter  anderem  auch  schon  mit  der  Christian  Science 
versucht!  Lernen  wir  Bescheidenheit  aus  diesem  Beispiel. 
Auch  wir  Europäer  sind  noch  längst  nicht  über  den  Berg 
des  Aberglaubens  hinweg ;  der  religiöse  wie  der  medizinische 
Schwindel  kommen  auf  beiden  Seiten  des  Ozeans  noch 
auf  ihre  Kosten,  und  wenn  sie  vereint  marschieren,  finden 
sie  ihre  Opfer  in  allen  Zonen  bei  den  Angehörigen  aller 
Bekenntnisse,  aller  Gesellschafts-  und  Bildungsstufen. 
Wie  weit  sind  wir  nun  im  Grunde  abgerückt  von  dem 
Glauben  der  Wilden  an  die  Zauberkraft  der  Beschwörungs- 
tänze ihrer  Medizinmänner  ?  Dunkle  Brd teile  gibt  es  nicht 
mehr,  aber  in  den  finsteren  Höhlen  der  Menschenseele 
kann  der  unerschrockene  Entdecker  noch  genug  Fossilien 
aus  dunkelster  Vorzeit  finden. 

Bei  der  völligen  Gewissensfreiheit,  welche  die  Ver- 
fassung der  Vereinigten  Staaten  gewährleistet,  und  der 
großen  Anzahl  der  Bekenntnisse,  die  der  heilsuchenden 
Seele  zur  Verfügung  stehen,  braucht  die  Wahl  der  Religions- 
gemeinschaft, der  ein  erwachsener  Mensch  sich  anschließen 
will,  von  keinen  anderen  als  rein  idealen  Erwägungen 
geleitet  zu  werden;  begreiflicherweise  spielen  aber  den- 
nochNützlichkeitsgründe,  allerlei  komische  oder  betrübliche 
Menschlichkeiten,  just  bei  dieser  Wahl  eine  bedeutende 
Rolle.  Alle  Leute,  die  nicht  selbständig  denken  gelernt 
haben,  und  deren  Zahl  ist  in  Amerika  besonders  groß, 
sowie  alle  L,eute,  die  nicht  von  einer  besonderen  religiösen 
Inbrunst  erfaßt  sind,  werden  entweder  einfach  dem  Be- 
kenntnisse ihrer  Eltern  folgen  oder  aber  sich  einer  Ge- 
meinde anschließen,  durch  die  sie  wertvolle  geschäftliche 


204     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

und  gesellschaftliche  Verbindungen  zu  erwarten  haben. 
Da  es  in  dem  demokratischen  Staat  offiziell  keine  Rang- 
einteilung, keine  Klassen-  und  Kastenunterschiede  gibt, 
der  Mensch  aber  doch  von  Natur  so  geartet  ist,  daß  sich 
immer  gleich  zu  gleich  gesellt,  und  sich  alsbald  bestrebt, 
Schranken  zwischen  sich  und  der  Außenwelt  zu  errichten, 
so  kommen  die  Religionsgesellschaften  der  natürlichen 
Neigung  entgegen.  Sie  stellen  einfach  geschlossene  Vereine 
dar,  die  ihre  Mitglieder  aus  ganz  bestimmten  Gesellschafts- 
und Bildungsschichten  rekrutieren;  also  ein  Seitenstück 
zu  den  Klubs,  die  aber  nur  den  Wohlhabenden  zugänglich 
sind  und  die  Familie  ausschließen.  Der  selbständige 
junge  Mensch  wird  sich  also  unter  den  etlichen  hundert 
verschiedenen  Denominationen,  die  ihm  zur  Verfügung 
stehen,  diejenigen  aussuchen,  in  der  er  auschließlich  seines- 
gleichen in  bezug  auf  Bildung,  gesellschaftliche  Stellung, 
Lebenshaltung  und  allgemeine  Interessen  findet. 

Es  ist  klar,  daß  der  religiösen  Heuchelei,  dem  Drucker- 
und Muckertum  durch  diese  Wahlfreiheit  kein  Vorschub 
geleistet  wird.  Wenn  auch  die  Respektablität  es  erfordert, 
daß  man  einer  christlichen  Gemeinschaft  angehöre,  so 
erleidet  sie  doch  keineswegs  einen  Schaden,  wenn  etwa 
eines  frommen  Quäkers  Sohn  zu  den  Methodisten  über- 
tritt oder  die  Tochter  des  Presbyterianers  sich  den  Bap- 
tisten anschließt.  Religiöse  Überzeugung  wird  unter 
allen  Umständen  geachtet,  auch  wenn  sie  äußerlich  wunder- 
liche Formen  annimmt.  Und  so  fährt  schließlich  das  echte 
religiöse  Bedürfnis  bei  dieser  Zersplitterung  doch  noch 
am  besten.  Und  die  Geistlichen  gar  dürften  in  keinem 
I,ande  der  Welt  so  viel  Freude  an  ihren  Gemeinden  er- 
leben, wie  in  den  Vereinigten  Staaten,  weil  ja  bei  der 
völligen  Freiheit  der  Meinungsäußerung  jeder  Geistliche 
in  seiner  Person  gewissermaßen  eine  eigene  Kirche  dar- 


Eine  konfessionelle  Christenkirche.  205 

stellt,  deren  unfehlbarer  Papst  er  ist.  Verweigert  ihm 
seine  Gemeinde  die  Gefolgschaft,  so  ist  er  deswegen  noch 
lange  nicht  deklassiert  und  infamiert.  Ist  er  ein  begabter 
Seelenfänger,  so  mietet  er  sich  eben  einfach  anderswo  ein 
Lokal  und  versucht  neue  Menschen  hineinzupredigen. 
Hat  er  deren  ein  Häuflein  beisammen,  so  ist  seine  Ich- 
Kirche  wieder  lebendig.  Der  unfähige  Geistliche,  dessen 
Persönlichkeit  der  suggestiven  Kraft  ermangelt,  wird 
dagegen  mit  Recht  unter  das  Proletariat  derjenigen  un- 
brauchbaren Menschen  hinabgleiten,  die  da  brotlose 
Künste  treiben. 

Ich  will  diese  Betrachtung  mit  einem  herzerquickenden 
Ivichtbilde  schließen.  Auf  dem  Campus  der  Cornell- 
University  in  Ithaka  im  Staate  New  York  erhebt  sich 
ein  schlichter  Kirchenbau,  der  von  Andrew  D.  White, 
dem  feinsinnigen  Gelehrten  und  allverehrten  früheren 
amerikanischen  Botschafter  in  Berlin,  gestiftet  wurde. 
Das  Innere  zeigt  eine  wundervolle  Holzarchitektur  in 
Anlehnung  an  norwegische  Muster,  eine  weichgedämpfte 
Farbenharmonie  faßt  die  weitgeschwungene  bunte  Decke 
mit  dem  dunkelbraunen  Holzton  des  Gestühls  mild  zu- 
sammen, und  die  farbigen  Fenster  dämpfen  das  Laicht, 
ohne  jedoch  die  frohe  Heimlichkeit  des  Raumes  in 
mystischer  Dämmerung  zu  ersticken.  Kein  Altar,  keine 
blutigen  Kruzifixe  oder  Marterdarstellungen,  überhaupt 
keine  biblischen  Schildereien  finden  sich  in  diesem,  ich 
möchte  sagen,  lieblich  erhabenen  Gotteshause,  nur  eine 
einfache  Rednerkanzel  und  eine  wundervolle  Orgel.  In 
einer  Seitenkapelle,  die  dem  Charlottenburger  Mausoleum 
einigermaßen  ähnlich  ist,  ruhen  in  herrlichen  Marmor- 
sarkophagen die  Gebeine  des  trefflichen  Holzhändlers 
Cornell,  der  seinen  Namen  durch  die  Gründung  dieser, 
zu    den    allervornehmsten    zählenden    Universitäten    un- 


206     Wie  der  Yankee  seine  Rechnung  mit  dem  Himmel  macht. 

sterblich  machte.  Hier  ruht  auch  die  erste  Gemahlin 
Dr.  Whites,  und  hier  wird  er  selber  seine  Ruhestätte  finden. 
Seine  Kirche  aber  ist  keinem  Bekenntnisse  gewidmet, 
sondern  nur  dem  christlichen  Gedanken,  und  ihre  Kanzel 
steht  jedem  berufenen  Redner  offen,  dessen  Denken 
und  religiöses  Fühlen  sich  irgendwie  unter  dem  Einfluß 
christlicher  Ideen  zu  befinden  glaubt.  Es  predigen  also 
hier  allsonntäglich  abwechselnd  eingeladene  Vertreter 
aller  erdenklichen  Bekenntnisse,  sowie  auch  außerhalb 
alles  Kirchentums  stehende  bedeutende  Denker  und 
Redner. 

Ist  es  nicht  bezeichnend,  daß  die  bisher  einzige  Absage, 
die  Dr.  Andrew  D.  White  auf  seine  Einladungsschreiben 
erhielt,  von  katholischer  Seite  kam?  Allerdings  hätten 
sich  wohl  einzelne  hervorragende  katholische  Prediger 
gefunden,  die  gern  in  diesem  freien  Gotteshause  zu  einer 
freien,  Wahrheit  suchenden  Gemeinde  geredet  hätten  — 
Rom  aber  sprach:   ,,Quod  non!" 


■ ■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■ ■ 


' Illlllllllllllllll Illlllllllllllllllll 


2)ie  leandschaff. 


Schließlich  sieht  es  doch  nicht  tiberall  in  den  Vereinigten 
j&  Staaten  aus  wie  in  der  Gegend  zwischen  Kattowitz 
und  Beuthen,  wenn  auch  freilich  der  Charakter  der  reiz- 
los platten  Ackerbaugegend  und  des  Schönheit  morden- 
den Industriegeländes  in  den  Mittelstaaten  von  den  großen 
Seen  bis  zum  Missouri  vorherrschend  ist.  Man  braucht 
durchaus  nicht  etwa  Tage  und  Nächte  lang  durch  Kohlen- 
und  Petroleumhöllen,  endlose  Steppe  und  Wüste  bis 
zum  Felsengebirge  im  fernen  Westen  hinüberzufahren, 
um  auf  landschaftliche  Schönheiten  zu  stoßen.  Schon  die 
Manhattan-Insel,  auf  der  die  Fünfmillionenstadt  New 
York  auf  dem  solidesten  Untergrund  der  Welt  erbaut  ist, 
liegt  malerisch  genug  in  der  weiten  Meeresbucht  zwischen 
den  grünen  Zungen  Long-Island  und  Staaten-Island. 
Auf  der  Fahrt  am  Ostufer,  von  New  York  nach  Providence, 
glaubt  man  sich  im  südlichen  Schweden  zu  befinden;  die 
liebliche  Wald-  und  Hügelszenerie  mit  ihren  dunklen 
Tälern  und  klaren  Bächen,  welche  zwischen  Boston  und 
Albany  sich  erstreckt,  könnte  ganz  gut  einem  deutschen 
Mittelgebirge  entnommen  sein;  die  Reize  ostpreußischer 
oder  märkischer  Seenlandschaften  finden  wir  wieder  auf 
der  Bahnfahrt  von  Philadelphia  nach  Washington;  in 
den  Alleghanies  und  vollends  im  Adirondak- Gebiete 
mit  seinem  L,ake  George,  sowie  in  dem  nordwestlichen 
Seengebiet  des  Staates  New  York,  am  Lake  Seneca,  Lake 
Cayuga  und  wie  sie  alle  heißen;  in  den  Tälern  des  Delaware, 
des  Susquehanna,  des  Chesapeake  und  gar  des  Hudson  ist 
so    viel    landschaftliche    Schönheit    herben    und    zarten, 


208  Die  Landschaft. 


heroischen  und  idyllischen  Stiles  vorhanden,  wie  ein  from- 
mer Anbeter  der  Natur  sie  nur  irgend  wünschen  kann, 
Schönheit  genug,  um  Millionen  abgehetzter  Kopf-  und 
Handarbeiter  Ruhe  und  Erholung  zu  schaffen.  Aber  der 
europäische  Naturfreund  wird  nirgends  dieser  Schönheit 
froh.  Ich  wenigstens  habe  alle  diese  Herrlichkeiten  nur  mit 
Seufzen  und  Fluchen  an  mir  vorbeifliegen  sehen,  denn  —  es 
fehlt  überall  an  der  kulturellen  Inszenesetzung. 
,,0  lieber  Herrgott,  wie  gut  hast  du's  gemeint!  Pfui 
Teufel,  o  Menschheit,  wie  übel  hast  du  die  Absichten  der 
Natur  verstanden!"  Das  ist  das  Stoßgebet,  das  sich 
überall  in  den  Vereinigten  Staaten  dem  schwergekränkten 
ästhetischen  Bewußtsein  entringt.  Nirgends  hat  die 
Landschaft  einen  eigenartigen  Stil  der  Wohnhäuser,  die 
Feld-  und  Waldwirtschaft  einen  der  Landschaft  ange- 
paßten, von  Gau  zu  Gau  wechselnden  Charakter  ange- 
nommen; überall  dasselbe  tödliche  Einerlei  plattester 
Zweckmäßigkeit.  Wohl  finden  wir  im  Osten  den  schwe- 
dischen Granit  in  mächtigen  Brocken,  die  tiefeinge- 
schnittenen Meeresbuchten  und  hie  und  da  sogar  ein 
Stückchen  Wald,  das  der  erbarmungslosen  Axt  der  ersten 
Ansiedler  entgangen  ist;  aber  wo  sind  die  reizenden,  bunt- 
bemalten Holzhäuser,  in  lustigen  Blumengärten  sauber 
aufgestellt,  darinnen  derbe,  blonde  Dirnen  in  roten  Röcken 
und  grünen  Schürzen  hantieren?  Wo  ist  die  blühende 
Heide,  der  rauschende  Hochwald?  Wo  bleibt  in  den 
Kiefernwald-  und  Seengegenden  das  so  herrlich  dazu 
passende  niederdeutsche  Bauernhaus  mit  seinem  riesigen, 
fast  bis  zum  Boden  hinab  reichenden  Giebeldach?  Wo 
ist  in  den  anmutigen  Flußtälern  auch  nur  eine  einzige 
Ansiedlung  an  den  Ufern  zu  finden,  die  den  Eindruck 
machte,  als  ob  sie  dort  wirklich  zu  Hause  wäre  ?  Wo  sind 
in  den  Glanzstücken  der  Gebirgslandschaft  die  romantischen 


Sommerfrischen.  209 


Wege  für  Fußwanderer,  die  einsamen  alten  Wirtshäuser 
an  der  Bandstraße,  die  verräucherten  alten  Räubernester 
italienischer  Bergdörfer,  oder  gar  die  lustigen  Sennhütten 
unserer  Alpenländer  zu  finden?  Nichts,  nichts  von  alle- 
dem. Wo  man  nicht  mit  dem  Automobil  hinfahren  kann, 
da  ist  überhaupt  schwer  hinzugelangen.  Aber  überall, 
wo  so  viel  zu  sehen  ist,  daß  der  Baedeker  einen  Stern 
dabei  machen  würde,  spreizen  sich  die  lieblosen  großen 
Hotelbauten,  die  den  Mann  mit  dem  kleinen  Geldbeutel 
in  gebührender  Entfernung  halten.  Für  die  reichen 
Sommergäste  ist  selbstverständlich  gesorgt  mit  Polo-, 
Golf-  und  Tennisplätzen,  mit  Motorbooten  und  allen 
neuesten  Mustern  von  Ruder-  und  Segelfahrzeugen,  mit 
eleganten  Restaurants  zu  Weltstadtpreisen,  mit  Icecream 
und  Candy,  und  bei  all  diesen  Futterplätzen  konzertieren 
selbstverständlich  kleine  Musikkapellen,  die  die  beliebtesten 
Operettenmelodien  der  vergangenen  Wintersaison  zum 
besten  geben  und  den  auf  die  Grammophonplatte  ge- 
bannten Caruso  begleiten. 

Der  Amerikaner  allerdings  scheint  es  nicht  besser  zu 
wollen.  Das  Bedürfnis  nach  Einsamkeit  und  Ruhe,  nach 
einfachen  Lebensfreuden,  nach  intimer  Zwiesprache  mit 
der  Natur  kennt  er  wohl  schwerlich,  denn  auch  bei  uns 
sehen  wir  ihn  ausschließlich  die  großen  Hotels,  die  geräusch- 
vollen internationalen  Vergnügungsorte  bevölkern,  wo  er 
von  der  Eigenart  einer  Gegend  und  ihrer  Menschen  niemals 
eine  Ahnung  bekommen  kann.  In  unseren  Gebirgen, 
an  unseren  Flüssen  und  Seen  erscheint  er  mit  seiner  f  ashio- 
nablen  Ausrüstung  von  modernsten  Sportanzügen  und 
neuesten  patentierten  Sportgerätschaften.  Vom  jüngsten 
Bübchen  bis  zum  ältesten  Greise  widmet  er  sich  unter 
jeglichem  Himmelstrich  seinen  nationalen  Spielen,  und  es 
freut  ihn  offenbar  viel  mehr,  kleine  dumme  Bällchen  in 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  14 


210  Dte  Landschaft. 


Gesellschaft  hübscher  Misses  mit  Knütteln  zu  bearbeiten, 
als  mit  dem  Rucksack  auf  dem  Buckel  schwer  zugäng- 
licher Schönheit  nachzusteigen.  Jeder  Boy  und  jedes 
Girl  muß  seinen  Kodak  umhängen  haben,  um  die  Ein- 
geborenen im  Nationalkostüm  oder  das  mitgenommene 
süße  Baby  in  allen  Lebenslagen  knipsen  zu  können.  Aller- 
dings, die  Hochtouristik  findet  auch  unter  den  Amerikanern 
begeisterte  Verehrer,  aber  wohl  nur,  weil  sie  aufregend 
und  gefährlich  ist  und  ihrer  Raserei  für  das  Rekord- 
brechen entgegenkommt.  Die  wein-  und  sangesfrohe 
Wanderlust,  die  sich  mit  einem  Käsebrot  und  einer  Streu 
vergnügt  bescheidet,  den  gründlichen  Wissensdrang,  der 
am  liebsten  die  stillen  Winkel  durchstöbert,  die  fromme 
innige  Naturschwärmerei,  die  den  großen  Menschen- 
ansammlungen und  laut  gepriesenen  Sensationen  aus 
dem  Wege  geht,  die  kennt  er  nicht.  Dem  richtigen  Durch- 
schnittsamerikaner gilt  für  schön,  was  ihm  durch  Dimension 
oder  Quantität  imponiert  und  —  was  viel  gekostet  hat. 
Niemals  habe  ich  einen  Amerikaner  sich  über  die  gräß- 
lichen Reklameschildereien  ereifern  hören,  die  gerade  an 
den  landschaftlich  bevorzugten  Bahnstrecken  sich  breit 
machen  und  einem  im  Iyaufe  einer  Fahrt  von  einigen 
Stunden,  die  recht  genußreich  für  das  Auge  sein  könnte, 
etliche  hundert  Mal  in  der  Gestalt  eines  überlebensgroßen 
rotbunten  Ochsen  entgegenschreit,  daß  Durham  Bull  der 
beste  Rauch-,  Kau-  und  Schnupftabak  sei,  oder  sonst 
irgendeine  mächtig  interessante  Feststellung.  Hält  man 
ihm  die  Poesielosigkeit  der  großen  Hotelbauten  in  seinen 
berühmten  Ausflugsorten  vor,  so  entgegnet  er :  Wem  die 
nicht  gefielen,  der  könnte  sich  ja  ein  Hausboot  auf  einem 
der  Seen  zulegen,  oder  mit  Zelt  und  Canoe  ausgerüstet  in 
die  Wildnis  ziehen.  O  gewiß,  das  würde  auch  unserem 
Geschmack  poetisch  vorkommen,  dieses  neuerdings  unter 


Kostspielige  Ausrüstung  des  Touristen.  211 

den  jungen  Amerikanern  beiderlei  Geschlechts  sehr  be- 
liebte ,, camping  out".  Aber  auch  dieses  Vergnügen  des 
Biwakierens  ist  mit  Kosten  verknüpft,  die  sich  nur  wohl- 
habende Leute  leisten  können,  denn  es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  man  solchen  abenteuerlichen  Auszug  ins  wilde 
Hinterland  nicht  antritt,  ohne  in  bezug  auf  die  Trans- 
portmittel, auf  Kleidung,  Schlafgelegenheit,  Kochgeschirr, 
Angel-  und  Jagdgerät  usw.  auf  das  vollkommenste  mit 
den  allerneuesten  Erzeugnissen  auf  diesem  Gebiete  aus- 
gerüstet zu  sein.  In  den  Vereinigten  Staaten  freilich  gibt 
es  kaum  Leute,  die  so  wenig  Geld  hätten,  daß  sie  sich  nicht 
einmal  so  etwas  leisten  könnten,  oder  wenigstens  kennt 
man  in  besseren  Kreisen  solche  betrübliche  Armseligkeit 
nicht.  Andererseits  würde  wieder  das  geistige  Gepäck, 
das  unsere  kultiviertesten  Naturfreunde  auf  ihren  Wande- 
rungen mitzunehmen  pflegen,  drüben  für  ein  außer- 
ordentlicher Luxus  gelten:  Sprach-  und  Dialektkenntnis, 
geographische  und  ethnographische,  naturwissenschaft- 
liche und  kunstgeschichtliche  gründliche  Vorbereitung. 
Da  im  eigenen  Lande  so  wenig  vorhanden  ist,  was  dem 
historischen  Sinn  Nahrung  geben  könnte,  so  vermißt  der 
Amerikaner  die  edle  Patina  des  Alters  durchaus  nicht, 
sondern  findet  selbstverständlich  alles  Frischgestrichene, 
Neulackierte  erfreulicher  denn  alles  alte  Gerumpel. 

Es  ist  ein  wahres  Wunder  zu  nennen,  daß  die  guten 
Kinder  ihre  Niagarafälle  verhältnismäßig  so  unverschandelt 
gelassen  haben.  Bei  der  kolossalen  Kraft,  die  dort  um- 
sonst zu  haben  ist,  wäre  es  doch  eine  Kleinigkeit,  zum 
Beispiel  über  dem  Horseshoe-Fall  des  Nachts  ein  riesiges 
Stern-  und  Streifenbanner  aus  elektrischen  Glühkörpern 
flattern  zu  lassen !  (Sie  machen  solche  bewegten  elektrischen 
Lichtreklamen  famos).  Und  wie  würden  sich  die  Canadier 
giften,    wenn    sie    jede    Nacht    auf    dem    amerikanischen 

14* 


212  Die  Landschaft 


Ufer  Onkel  Sams  Fahne  flammen  sehen  müßten!  Sie 
würden  vermutlich  nicht  lange  zögern,  auf  ihrer  Seite 
einen  wenn  möglich  noch  größeren,  elektrisch  bewegten 
Union  Jack  zu  hissen.  Und  damit  wäre  sozusagen  das 
Bis  gebrochen :  in  wenigen  Wochen  würde  der  strahlende 
Ochse  Durham  das  L/ob  des  besten  Rauch-,  Kau-  und 
Schnupftabaks  feuerspeiend  in  die  Nacht  hinaus  brüllen; 
über,  unter,  zwischen  und  hinter  den  Fällen  selbst  würden 
in  genial  ersonnenen  Lichtspielen  die  köstlichen  Whiskys, 
die  beliebtesten  Biere,  die  anerkanntesten  Leberpillen 
und  sichersten  Abführmittel  sich  dem  staunenden  Natur- 
freund empfehlen.  Und  es  ist,  wie  gesagt,  nicht  zu  be- 
greifen, daß  nicht  wenigstens  die  Fabrikanten  von  Baby- 
wäsche diese  glänzende  Reklamegelegenheit  ergriffen  haben, 
da  doch  sämtliche  amerikanischen  Brautpaare  ihre  Hoch- 
zeitsreise nach  den  Niagarafällen  zu  unternehmen  pflegen. 
Ich  vermute,  daß  da  irgend  welche  schlechten  Demo- 
kraten die  Freiheit  durch  volksfeindliche  Gesetze  schänd- 
lich unterbunden  haben  müssen ;  anders  ist  dieser  geradezu 
barbarische  und  schamlose  Zustand  gar  nicht  zu  erklären, 
daß  man  hier  die  Natur  so  nackt  und  bloß  wirken  lassen 
konnte,  ohne  jede  zivilisierte  Bekleidung  durch  den  mensch- 
lichen Geschäfts-  und  Erfindungsgeist !  Nur  der  dekadente 
Europäer  kann  so  etwas  schön  finden! 

Und  dennoch  muß  ich  gestehen,  daß  ich  dekadenter 
Europäer  auch  angesichts  der  Niagarafälle  die  feinere 
Regie  vermißte.  Ich  mußte  an  unsern  lieben  Rheinfall 
bei  Schaffhausen  denken.  Wie  ist  da  das  herrliche  Natur- 
schauspiel vorbereitet,  wie  ist  da  geschickt  Stimmung 
gemacht  durch  eine  idyllisch  romantische  Landschaft, 
durch  das  uralt  heimliche  Schaffhausen  mit  seiner  ge- 
waltigen Zitadelle,  seiner  begrünten  Stadtmauer,  seinen 
trauten,    krummen  Gassen  und  behaglichen  alten  Wirts- 


Die  Niagarafälle. 


häusern !  Wie  sind  auf  dem  Wege  nach  Raufen  die  Kraft- 
werke und  Aluminiumfabriken  —  denn  auch  hier  ist  der 
Mensch  nicht  so  dumm,  die  üppigen  Schätze  der  Natur 
aus  reiner  Sentimentalität  ungehoben  zu  lassen  — ,  wie 
sind  sie  so  geschickt  unter  dichtem  Grün  versteckt!  Da- 
gegen dehnt  sich  drüben  von  der  furchtbar  garstigen 
Großstadt  Buffalo  bis  zu  dem  fast  ebenso  scheußlichen 
Nest  Niagara-Falls- City  die  trostloseste  Einöde  am  Gestade 
des  Eriesees  entlang.  Das  Klima  ist  windig  und  regnerisch, 
der  Boden  wenig  fruchtbar,  und  infolgedessen  sieht  man 
überall  verlassene  Ansiedlungen,  Trümmerhaufen,  Öd- 
land. Dazwischen  massenhafte  Fabrikanlagen  mit  ihrem 
schmutzigem  Abfall,  Schlackenbergen  und  mißfarbigen 
Rinnsalen.  Iyange,  trübe  Straßenzüge  mit  garstigen 
Arbeiterhäusern  durcheilt  die  elektrische  Bahn  nach  den 
Fällen,  an  wüsten  Schnapskneipen  und  Tanzsalons  mit 
klirrenden  Drehklavieren  und  kreischenden  Grammo- 
phons muß  man  vorüber,  bevor  man  den  nett  gehaltenen 
Park  erreicht,  den  man  um  die  beiden  Hauptfälle  an- 
gelegt hat.  Dann  gelangt  man  zunächst  an  den  kleineren 
dritten  Fall,  den  die  Industrie  ganz  und  gar  für  sich  in 
Beschlag  genommen  hat.  Dicht  am  Rande  des  senk- 
rechten Felsabsturzes  ragen  die  Mauern  und  Schlote  der 
Fabriken  empor,  und  die  gebändigten  Wassermassen  quellen 
aus  einer  Menge  von  eisernen  Röhren  hervor,  jedoch 
nicht  mehr  im  kristallenen  Naturzustand,  sondern  gar 
lieblich  koloriert.  Es  müssen  wohl  Farbwerke  sein, 
denen  ihre  Kraft  dienstbar  geworden  ist ,  denn  im 
Winter ,  als  ich  sie  sah ,  waren  alle  diese  Abflüsse  zu 
Eiszapfen  gefroren,  die  einen  pittoresken  Behang  über 
dem  ganzen  Abgrund  bildeten  und  abwechselnd  schön 
Chromgelb,  vitriolblau  und  krapprot  gefärbt  waren.  Die 
großen  Fälle    selbst  gehören  ja  ohne  Zweifel  zu  den  ge- 


214  Die  Landschaft. 


waltigsten  Naturschauspielen  der  Welt,  besonders  im 
Winter,  wenn  die  Bäume  im  weiten  Umkreis  in  wunderbar 
funkelnde  Kristallkandelaber  verwandelt  sind  und  wilde 
phantastische  Schneewachten  und  Eisgebilde  die  unge- 
heuren donnernden  und  dampfenden  Wasserschleier  ein- 
rahmen. I^eider  aber  fehlt  es  dem  gewaltigen  Schaustück 
gänzlich  an  Hintergrund.  Der  Niagarafluß  verbindet 
eben  zwei  an  sich  wenig  reizvolle  große  Wasserflächen, 
und  wenn  nicht  zufällig  der  Eriesee  etliche  60  Meter  höher 
als  der  Ontariosee  gelegen  wäre,  so  würde  es  überhaupt 
nicht  zustande  gekommen  sein.  Wenn  unser  Herrgott, 
sagen  wir  mal :  die  biedere  Warthe  in  irgendeinem  preußi- 
schen Kartoffelacker  einen  solchen  Bocksprung  von  40 
bis  50  Meter  ausführen  ließe,  so  würde  das  einigen  Hundert- 
tausenden Deutschen  genügenden  Anlaß  bieten,  um  ent- 
rüstet aus  der  Landeskirche  auszutreten;  in  Amerika  aber 
darf  sogar  der  Weltbaumeister  geschmacklos  sein,  ohne 
sich  Unannehmlichkeiten  zuzuziehen. 

Die  Zeiten,  wo  man  die  absolute  Geschmacklosigkeit 
keinem  Amerikaner  verübeln  durfte,  weil  er  eben  zunächst 
für  das  Allernotwendigste  zu  sorgen,  Neuland  urbar  zu 
machen  und  Weib,  Kind,  Ochs,  Esel  und  alles,  was  sein 
war,  vor  wilden  Tieren  und  roten  Skalpjägern  zu  ver- 
teidigen hatte,  die  sind  doch  jetzt  vorbei,  zum  mindesten 
für  den  hochkultivierten  Osten,  und  die  Zahl  derer,  die 
sich  nach  Schönheit  zu  sehnen  beginnen,  wächst  von  Jahr 
zu  Jahr.  Warum,  ihr  lieben  Yankees,  entnehmt  ihr  nicht 
eurer  neuesten  Schatzkammer  Alaska  ein  paar  lumpige 
Milliarden  und  stellt  L,andschaftsregisseure  mit  unbe- 
schränktem Kredit  an?  Herrgott  Saxendi,  was  ließe 
sich  beispielsweise  aus  eurem  Hudson  machen!  Ich  weiß 
mir  keinen  schöneren  Strom  in  der  Welt.  In  seinem 
langen,  gewundenen  I^auf  von  New  York  bis  Albany  schlägt 


Der  Hudsonstil.  215 


er  leicht  die  gloriose  Rheinstrecke  von  Bingen  bis  Bonn 
und  kann  es  selbst  mit  der  Donau  zwischen  Krems  und 
Melk  und  sogar  mit  der  Elbe  zwischen  Königstein  und 
Schandau  aufnehmen  vermöge  seiner  herrlich  geformten 
Uferberge  und  des  imposanten  Hintergrundes,  den  ihm 
die  Catskillberge  und  noch  weiter  oben  die  Adirondaks 
geben.  Wenn  trotzdem  der  Hudson  nicht  entfernt  so 
stark  wirkt  wie  jene  deutschen  Ströme,  so  liegt  das 
eben  einfach  daran,  daß  ihm  die  Rebenhänge  mit  den 
berühmten  Weinmarken,  die  lieben  alten  Städtchen 
und  ganz  besonders  die  malerischen  Burgruinen  fehlen. 
Der  Regisseur  des  Hudsons  hätte  also  die  Aufgabe, 
das  ganze  städtische  und  dörfliche  charakterlose  Ge- 
rumpel, das  die  Ufer  des  Flusses  verschimpfiert,  nieder- 
zureißen und  durch  Neubauten  im  Stil  des  Hudson- 
tales und  der  Hudsonbewohner  zu  ersetzen.  Das  wäre 
mit  viel  Geld  zu  machen,  wenn  sich  nicht  von  vornherein 
die  Frage  aufdrängte:  Ja,  welches  ist  denn  der  Stil  der 
Hudsonbewohner,  der  Hudsonlandschaft?  Das  weiß 
eben  kein  Mensch!  Die  Hudsonleute  haben  eben  keinen 
anderen  Stil  als  die  Susquehannaleute  oder  die  Michigan- 
leute. Es  war  mehr  oder  weniger  Zufall,  ob  die  ersten 
Kolonisten  sich  da  oder  dort  niederließen,  und  jeder  von 
ihnen  hat  sich  an  seinem  Orte  eingerichtet,  wie  sein  Nutzen 
es  erforderte  und  seine  Mittel  es  erlaubten.  Gewiß  haben 
sich  an  unserem  Rhein  die  Menschen  ursprünglich  auch 
nicht  aus  Bewunderung  für  die  schöne  Gegend  nieder- 
gelassen, noch  haben  sie  ihre  Burgen  auf  die  Höhen  gebaut, 
um  späteren  Geschlechtern  eine  Sehenswürdigkeit  durch 
deren  Ruinen  zu  liefern.  Nie  und  nirgends  ist  eine  Land- 
schaft späteren  Dichtern  und  Malern  zuliebe  stilisiert 
worden,  sondern  das  Notwendige  und  Zweckmäßige  ist 
immer  am  Anfang  der  Entwicklung  gestanden,  in  der  Alten 


216  Die  Landschaft. 


gerade  so  wie  in  der  Neuen  Welt.  Erst  der  Edelrost  der 
Jahrhunderte  und  Jahrtausende  hat  die  Schönheit  dazu 
getan.  Aber  diese  Schönheit  ist  keineswegs  ganz  wild 
gewachsen  aus  der  vollen  Freiheit  des  Individuums  heraus. 
Ein  einheitlicher  Stil  konnte  sich  nur  dadurch  entwickeln, 
daß  der  Wille  einzelner  Überragender  sich  den  Herden- 
menschen aufzwang,  daß  die  künstlerisch  fruchtbaren 
Talente  von  den  Herrschenden  und  Besitzenden  erkannt 
und  mit  großen  Aufgaben  betraut  wurden.  So  konnten 
sie  die  Muster  schaffen,  welche  die  Gedankenlosen  alsdann 
aus  Gewohnheit  immer  wieder  nachmachten.  Die  Zünfte 
mußten  ihren  Zwang  auf  die  Handwerker  ausüben,  die 
Stadtväter  mußten  Bau-  und  Kleiderordnungen  erlassen, 
und  durch  die  Engigkeit  der  Verhältnisse  mußte  ein  konser- 
vatives Philisterium  gezüchtet  werden,  damit  kein  indivi- 
dualistischer Zickzack  die  Gradlinigkeit  der  Entwicklung 
störte.  Die  Frage  ist  nur,  ob  man  das  alles  heutzutage 
noch  in  einer  großen  demokratischen  Republik  nach- 
ahmen könnte.  Gewiß,  ein  genialer  Architekt,  nennen 
wir  ihn  Meyer,  könnte  mit  den  zur  Verfügung  gestellten 
Millionen  den  ganzen  Hudson  in  einem  original  meyerischen 
Stil  bebauen,  und  das  könnte  vielleicht  etwas  sehr  Schönes 
geben,  aber  dann  müßten  auch  drakonische  Gesetze  er- 
lassen werden,  die  die  Anwohner  des  Hudsons  zwängen, 
ihre  notwendigen  Neubauten  immer  wieder  im  meyerischen 
Stile  zu  errichten  und  sich  überhaupt  in  allen  Lebenslagen 
streng  meyerisch  zu  benehmen.  Würden  sich  die  freien 
Bürger  des  Staates  New  York  das  gefallen  lassen  ?  Schwer- 
lich. Sie  würden  jedoch  nichts  dawider  haben,  wenn 
spekulative  Unternehmer  darauf  verfallen  sollten,  auf 
den  schön  geschwungenen  Uferbergen  des  Hudson  künst- 
liche Burgruinen  zu  errichten,  zu  denen  Zahnradbahnen 
oder   Elevators   hinaufführten.      Es   wäre   weiterhin    nur 


Der  Landschaftsregisseur.  217 

vernünftig,  wenn  in  diesen  Ruinen  spekulative  Wirte  sich 
niederließen,  die  auf  den  Plattformen  der  Türme  Flug- 
schiffstationen und  auf  den  Turnierplätzen  Hangars  für 
Äroplane  einrichteten.  Gewiß  würden  es  die  Hudson- 
leute auch  gern  sehen,  wenn  hie  und  da  eine  besonders 
garstige  Fabrik  hübschere  Formen  annähme  und  an  Stelle 
manchen  häßlichen  Gerumpels  reiche  Mitbürger  ihre 
Sommervillen  in  allen  möglichen  bizarren  europäischen 
und  asiatischen  Stilen  anlegen  würden.  Vermutlich  wird 
man  schon  in  naher  Zukunft  Seite  an  Seite  mit  imitierten 
Stolzenfelsen  und  Drachenburgen,  japanische  Teehäuser, 
russische  Datschen  und  Darmstädter  Eigenheime  be- 
wundern können,  aber  ein  origineller  Hudsonstil  wird  sich 
von  selber  auch  in  fernen  Jahrhunderten  schwerlich  ent- 
wickeln. Wir  sehen  es  ja  bei  uns,  wie  schwer  es  die  Vereine 
für  Denkmal-  und  Heimatschutz  haben,  unsere  schönsten 
alten  Städtebilder  vor  Verschandelung  zu  behüten,  und 
wie  auch  die  strengste  Baupolizei  höchstens  unter  Mit- 
wirkung wirklich  feinfühliger  Künstler  einigermaßen  dem 
Eindringen  der  Stillosigkeit  zu  wehren  vermag;  denn  die 
instinktive  Stilsicherheit  unserer  Vorväter  ist  uns  Modernen 
durch  den  Mangel  an  Seßhaftigkeit  der  großen  Masse, 
die  durch  unsere  Verkehrsverhältnisse  erzeugt  wurde, 
schon  sehr  abhanden  gekommen.  Drüben  in  der  neuen 
Welt  aber  hat  solche  instinktive  Stilsicherheit  natürlich 
niemals  bestanden;  der  Künstler,  den  man  zum  I^and- 
schaftsregisseur  ernennen  wollte,  hätte  es  also  mit  Kindern 
und  Barbaren  zu  tun,  denen  man  wohl  neue  Moden  impor- 
tieren und  schmackhaft  machen,  aber  keinen  Stil  auf- 
zwingen könnte.  Die  Yankees  mit  ihrem  wundervollen 
Optimismus  sind  natürlich  überzeugt  davon,  daß  die 
Schönheit  und  der  Stil  in  ihrem  Lande  ganz  von  selber 
sich  entwickeln  müßten  als  eine  Frucht  der  fortschreitenden 


218  Die  Landschaft. 


Geschmackskultur  ihrer  reichen  und  müßigen  L,eute. 
Ich  vermag  diese  Zuversicht  nicht  zu  teilen,  sondern 
glaube  vielmehr,  daß  sich  auch  im  L,aufe  vieler  Jahr- 
hunderte der  große  Unterschied  zwischen  der  alten  Welt 
als  einem  Antiquitätenmuseum  und  der  neuen  als  einem 
Novitätenbazar  nur  wenig  verwischen  wird.  Jahrtausende 
allmählicher  Kulturentwicklung  sind  selbst  im  heutigen 
Fortschrittstempo  nicht  einzuholen. 

So  müßte  ich  also  meinen  Antrag,  L,andschaftsregisseure 
für  die  Vereinigten  Staaten  zu  ernennen,  hoffnungslos 
fallen  lassen?  Vielleicht  doch  nicht  ganz.  Im  weiten 
Süden,  im  äußersten  Norden  und  im  fernen  Westen 
ist  noch  Platz  genug  für  Hunderte,  ja  Tausende  von 
neuen  Ansiedlungen.  Wenn  die  gesetzgebenden  Körper- 
schaften der  betreffenden  Bundesstaaten  es  zur  Be- 
dingung für  neue  Gründungen  machten,  daß  die  Pläne 
nicht  ohne  Hinzuziehung  bewährter  Künstler  entworfen 
und  ausgeführt  werden  dürften,  so  wäre  von  diesen  neuen 
Städten  und  Dörfern  des  20.  Jahrhunderts  doch  wohl 
ein  bißchen  mehr  Stil  zu  erhoffen.  Ich  kenne  das  neue 
San  Franzisko  nicht;  ich  weiß  nicht,  ob  man  bei  dieser 
kostbaren  Gelegenheit  schon  daran  gedacht  hat,  die 
künstlerische  Regie  in  ihre  Rechte  einzusetzen.  Die 
Amerikaner  behaupten  ja,  daß  ihr  neues  Frisko,  ihre  neue 
Handelsmetropole  Seattle  und  andere  nordwestliche 
Gründungen  von  hervorragender  Schönheit  seien.  Nun, 
dann  würde  zum  erstenmal  in  der  Weltgeschichte  das 
Licht  von  Westen  kommen.  Im  ganzen  Osten  der  Union 
sieht  es  bisher  noch  aus  wie  in  einer  Kinderstube,  in  der 
unartige  Buben  alles  durcheinander  geworfen  und  vor 
dem  Schlafengehen  nicht  fortgeräumt  haben.  Von  dem 
großen  Völkerumzug  sind  noch  überall  die  ausgeräumten 
Kisten,    die    Stroh-   und   Papierhüllen,    die   ausgerissenen 


Aufgaben  für  deutsche  Künstler.  219 

Nägel  und  zerschnittenen  Stricke  liegen  geblieben.  Wenn 
erst  der  Osten  sich  vor  dem  Westen  zu  schämen  beginnt, 
dann  findet  er  vielleicht  auch  Zeit,  endlich  einmal  gründ- 
lich aufzuräumen.  Und  in  der  aufgeräumten  Landschaft, 
dem  gesäuberten  Stadtbilde  werden  wenigstens  die  gröbsten 
Scheußlichkeiten  so  unliebsam  auffallen,  daß  man  sich 
um  so  mehr  beeilt,  sie  gänzlich  wegzutilgen  und  durch 
Schöneres  zu  ersetzen.  Dann  wird  es  eine  starke  Nach- 
frage geben  nach  solchen  Regisseuren,  wie  ich  mir  sie 
denke,  und  wir  Deutschen,  die  wir  der  Neuen  Welt  durch 
unsere  Missionäre  den  Geschmack  an  edler  Musik  bei- 
gebracht haben,  werden  dann  auch  vielleicht  berufen 
sein,  als  kostbarsten  Importartikel  Künstler  hinüber  zu 
senden,  die  nicht  nur  Architekten,  sondern  stilistische 
Universalgenies  sind,  so  gut  wie  unsere  modernen  Orchester- 
beherrscher und  Theaterregisseure.  Vielleicht  erlebe  ich 
es  noch,  vor  einer  neuen  amerikanischen  Stadt  eine  schöne 
Tafel  zu  erblicken,  auf  der  unter  ihrem  Namen  an  Stelle 
des  bei  uns  üblichen  Hinweises  auf  Regierungsbezirk, 
Kreis  und  Landwehr-Bataillon  zu  lesen  wäre:  ,, Gestiftet 
von  Carnegie,  in  Szene  gesetzt  von  Johann  Nepomuk 
Huber  aus  München-Pasing." 


i. ......  ■■■.... ■"■■■■" "■■■ '■' 


riiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiii 

2)ollaricas  infamster  Schurke. 


]ch  bin  niemals  ein  Pessimist  gewesen.  Ich  habe  den 
y  zahlreichen  Leuten  gegenüber,  welche  mir  dringend  an- 
rieten, mich  vor  schmerzlichen  Enttäuschungen  dadurch 
zu  schützen,  daß  ich  meine  Mitmenschen  von  vornherein 
jeder  Bosheit  und  Niedertracht  für  fähig  halten  möge, 
stets  mit  Ernst  und  Eifer  die  Meinung  verfochten,  daß 
alle  Kreatur  von  Mutterleibe  an  zur  Ehrlichkeit  und 
Biederkeit  veranlagt  sei,  und  daß  nur  widrige  Umstände, 
zumeist  gänzlich  unverschuldeter  Art,  wie  üble  Her- 
kunft, leibliche  Not  und  ungestillte  Sehnsüchte  der  Seele 
die  bösen  Triebe  gewaltsam  einzuimpfen  vermöchten.  Seit- 
dem ich  aber  in  Chicago  (Illinois)  Dollaricas  infamsten 
Schurken  kennen  gelernt  habe,  muß  ich  gestehen,  daß  meine 
Meinung  von  der  Unschuld  der  Kreatur  um  so  heftiger  er- 
schüttert wurde,  als  dieser  infamste  aller  Schurken  nicht 
einmal  ein  Mensch,  sondern  sogar  ein  Vierfüßler  war, 
jenem  sanften,  geduldigen,  wolletragenden  Geschlecht  ent- 
sprossen, das  der  Mensch  sich  zum  Symbol  demütiger  Er- 
gebung und  verehrungs würdiger  Dummheit  erkoren  hat. 
Der  infamste  Schurke  der  ganzen  Vereinigten  Staaten  ist 
nämlich,  gerade  herausgesagt  —  ein  Hammel,  und 
zwar  der  Leithammel  in  Armour  Sc  Co.'s  Packing  Com- 
pany in  den  Chicagoer  Schlachthöfen.  Wenn  ich  der 
pessimistische  Menschenverachter  wäre,  der  ich,  wie  ge- 
sagt, nicht  bin,  so  würde  ich  diesen  Hammel  eine  ein- 
gemenschte  Bestie  titulieren.  Denn  wer  hätte  es  je 
für  möglich  gehalten,  daß  ein  Schafskopf  so  viel  Nieder- 
trächtigkeit beherbergen  könne  ?  !  Nichts  in  dem  vertrauen- 


Der  Leithammel.  221 


erweckenden  Äußeren  dieses  Hammels  deutet  auf  die 
Schändlichkeit  seines  Berufes  hin.  Sein  stets  vergnügtes 
Schafsgesicht  verklärt  das  satte  Lächeln  eines  gutmütigen 
Pfäffleins  auf  fetter  Pfründe,  und  sein  Gebaren  und  Ge- 
haben ist  ganz  dasjenige  eines  beleibten,  aber  noch 
rüstigen  alten  Herren,  der  unter  Umständen  wohl  noch 
zu  lockeren  Streichen  aufgelegt  ist.  Offenbar  hat  ihm 
diese  so  geschickt  getragene  Maske  der  Bonhomie  zu 
der  einträglichen  Stellung  bei  Armour  &  Co.  verholfen. 
Dieser  ehrenwerte  Beamte  erfüllt  nämlich  die  Aufgabe, 
während  der  Schlachtperiode  Hunderte  und  Aberhunderte, 
Tau  sende  und  Abertausende  seiner  unschuldigen,  nichts 
ahnenden  Familienangehörigen  und  Standesgenossen  der 
Menschheit  ans  Messer  zu  liefern.  In  langen  Eisenbahn- 
zügen treffen  sie  aus  allen  Teilen  der  Union  in  den  Stock- 
yards von  Chicago  zusammen.  Die  Wagentüren  öffnen 
sich,  und  froh,  der  langen  grausamen  Haft  entrinnen  zu 
können,  drängen  sich  die  Scharen  munterer  Hammel  von 
Ohio,  Indiana,  Illinois,  ja  selbst  von  Alabama,  Jowa, 
Kentucky,  von  Texas  selbst  und  Arizona  auf  die  be- 
quemen schiefen  Ebenen,  und  ihren  bedrängten  Busen 
entringt  sich  das  hoffnungsfreudige  „Mäh"  der  Erlösung 
von  langer  Qual.  Weite  Hürden  nehmen  sie  auf,  die 
krauswolligen,  weißen  und  schwarzen  Brüder  und  Schwe- 
stern, Vettern  und  Basen  aus  sämtlichen  Staaten  und  Terri- 
torien der  Union.  Von  vollen  Raufen  lockt  das  duftige 
Heu,  in  langen  Rinnen  der  kräftig  gemischte  Trank.  Und 
doch,  die  rechte  Freudigkeit  kann  nicht  aufkommen,  denn 
alle  diese  Schafsseelen  sind  noch  erfüllt  von  seliger  Er- 
innerung an  blauen  Himmel,  grüne  Weide,  kristallklare 
Bäche  und  muntere  Spiele  unter  der  freundlichen  Auf- 
sicht treu  besorgter  Hunde  und  frommer  Schäfer;  hier 
aber     engen     himmelhohe     rotbraune    Mauern    sie    ein, 


222  Dollaricas  infamster  Schurke. 

statt  lustiger  weißer  Iyämmerwölkchen  wälzen  schwere, 
schwarze  Rauchschwaden  sich  ihnen  zu  Häupten  daher, 
und  statt  des  feierlichen  Schweigens  der  Natur  umtost 
das  dumpfe  Maschinengebrüll  rastlos  gieriger  Menschen- 
arbeit ihre  erschrockenen  Ohren.  Traurig  lassen  sie  die 
Schwänzlein  und  die  Köpfe  hängen,  lassen  sie  die  Trank- 
rinne und  die  Futterraufe  unberührt. 

Siehe,  da  naht  sich  ihnen  alsBote  aus  dieser  beängstigend 
fremden  Welt  mit  freundlicher,  onkelhafter  Vertraulichkeit 
ein  fetter  Hammel  in  den  besten  Jahren:  ,, Munter,  meine 
lieben  Kinder,  munter!"  beginnt  er  in  humoristisch 
gefärbtem  Bockston,  und  alsbald  umdrängt  ihn  ein  dichter 
Kreis  von  Zuhörern.  ,,Jhr  habt  nicht  die  geringste  Ur- 
sache, Ohren  und  Schwänze  mutlos  hängen  zu  lassen; 
oder  ist  es  vielleicht  nicht  eine  große  Ehre  für  euch  un- 
gebildete Prairieschafe,  in  die  große  Millionenstadt  Chi- 
cago zu  Besuch  zu  kommen?  Meint  ihr  vielleicht,  ihr 
wäret  die  einzigen  Schafsköpfe  hier  am  Orte,  mähähähä !  ? 
Hier  geht  es  hoch  her,  das  könnt  ihr  mir  glauben  auf 
mein  ehrliches  Gesicht,  und  die  Zeit  wird  euch  hier  nicht 
lang  werden,  auf  Bh  —  hähähähä  —  re !  Ich  habe  es  zwar 
nicht  nötig,  mich  für  euch  aufzuopfern,  denn  ich  befinde 
mich  Gott  sei  Dank  in  einer  auskömmlichen  und  gesell- 
schaftlich angesehenen  Position,  aber  ich  will  mich  dennoch 
eurer  hilflosen  Iyändlichkeit  annehmen,  weil  doch  nun 
einmal  der  Korpsgeist  in  unserer  Familie  so  stark  ent- 
wickelt ist.  Auf,  mir  nach,  ich  führe  euch  zu  einem  lustigen 
Spielplatz,  wo  kein  Hund  und  kein  Hirte  uns  geniert."  — 
Und  leichtfüßig  tänzelt  der  feiste  Onkel  voran  einen  glatt 
gedielten  Steg  hinauf,  der  so  schmal  ist,  daß  nur  zwei 
knapp  nebeneinander  gehen  können,  aber  sicher  ein- 
geplankt,  so  daß  keines  an  den  Seiten  herauspurzeln 
kann.     Schon  dieser  Anfang  des  Vergnügens  ist  vielver- 


Der  Todessprung  223 


sprechend.    Wie  auf  einer  Berg-  und  Talbahn  oder  einer 
russischen  Rutschpartie  geht's  auf  diesen  engen  Bretter- 
wegen hinauf,  hinab  und  kreuz  und  quer,  und  die  Tausende 
von  leichten  Hammelbeinchen  trippeln  und  trappeln  fein 
langsam  hinauf  und   im  lustigen   Hui   herunter,    daß   es 
klingt,   wie  wenn  in  schwülen  Frühlingstagen   St.   Peter 
Erbsen    siebt.     Bin    Auf-    und    Abschwellen    wie  Hagel- 
rauschen in  launischen  Böen,   ein  dumpfes  Wirbeln  wie 
von  gedämpften  Trommeln,  —  als  sollten  durch  solchen 
Trauermarsch   den   unschuldig   Verurteilten   die   militäri- 
schen letzten  Ehren  erwiesen  werden.    Der  muntere  Leit- 
hammel immer  an   der  Spitze,   tapp  tapp  tapp,   hinauf, 
und  hurrdiburr  hinunter,    und   zuletzt   auf  ein  schmales 
Türchen  in  der  rotbraunen  Mauer  zu.     Gar  im   Galopp 
mit  einem  lustigen  Bocksprung  setzt  er  in  die  Seligkeit 
hinein.     In  einem   Sprungtuch  wird  er  aufgefangen  und 
mit    einem    Ruck    in    ein    gemütliches  Seitenkabinett    in 
Sicherheit  gebracht,   während  seine   Stammgenossen  un- 
aufhaltsam, einer  nach  dem  anderen,  zu  Dutzenden,  zu 
Hunderten,  zu  Tausenden  ihm  nachspringen  in  die  finstere 
Todesnacht.    Ein  eiserner  Haken  erwischt  sie  an  einem 
Hinterschenkel,  an  einer  Kette  fliegen  sie  mit  dem  Kopf 
nach  unten  aufwärts,   ein  gewaltiges  Rad  empfängt  sie, 
hebt  sie  in  weitem  Bogen  hoch  und  läßt  sie  auf  der  andern 
Seite  rasch  abwärts  schweben  der  Stelle  zu,  wo  der  Mörder 
mit  seinem  blutigen  Messer  steht.    Ein  sicherer  Stoß  — 
und   lautlos   haben   sie   ausgelitten.     Derweile  läßt  sich's 
der  erprobte  Beamte  von  Armour  &  Co.  in  seinem  Privat- 
kabinett bei  frischem  Maisschrot   und   duftigen   IyUpinen 
wohl  sein,  bis  man  ihn  abruft,  um  auf  geheimem  Gange 
sich  abermals  zu  den  neu  Angekommenen  in  die  Hürden 
hinunter  zu  begeben  und  seinen  niederträchtigen  Trick 
aufs  neue   auszuführen.     Wenn  er  ein  Mensch  wäre,   so 


224  Dollaricas  infamster  Schurke. 

würde  er  sicher  auf  seine  alten  Tage  fromm  werden,  das 
Gebetbuch  auswendig  lernen,  fleißig  in  geistlichen  Kreisen 
verkehren  und  sein  Vermögen  wohltätigen  Stiftungen 
vermachen;  da  er  nur  ein  Hammel  ist,  hat  er  aber  nicht 
einmal  das  Bedürfnis,  sein  Gewissen  zu  betäuben.  Kr 
bedarf  nicht  des  Alkohols,  um  seinen  Mut  zur  Infamie 
täglich  neu  zu  entflammen,  sondern  sein  eigentümlich 
hammelhafter  Ehrbegriff  läßt  ihn  vielmehr  seinen  Stolz 
drein  setzen,  jahrein,  jahraus  mit  der  gleichen  heiteren 
Selbstverständlichkeit  seine  verräterische,  gemeine  Mord- 
arbeit zu  verrichten,  bis  er  in  Pension  geht  oder  bis  Herz- 
verfettung oder  versetzte  Blähungen  ihm  unversehens 
den  Garaus  machen.  —  Habe  ich  nicht  recht,  diesen 
Oberaga  der  weißen  Eunuchen  von  Chicago  für  den  in- 
famsten Schurken  der  ganzen  Vereinigten  Staaten  zu 
erklären  ? 

Vielleicht,  mein  Herr,  oder  Sie,  meine  schöne  Leserin, 
werden  Sie  mir  entgegnen  wollen,  daß  die  Unschuld  der 
Kreatur  von  Armour  &  Co.  nur  schändlich  mißbraucht 
werde,  indem  der  Leithammel  sicherlich  nicht  wisse,  daß 
seine  von  ihm  verführten  Artgenossen  dem  Tode  verfallen 
seien.  —  Ich  kann  das  leider  nicht  glauben;  denn  ich  bin 
fest  überzeugt,  daß  auch  dem  geistig  mindestbegabten 
Tier  der  Blutgeruch,  der  die  Chicagoer  Schlachthöfe  um- 
wittert, eine  Ahnung  seines  Schicksals  aufzwingen  muß, 
sobald  es  nur  den  Eisenbahnwagen  verläßt.  Und  da  ein 
Leithammel  doch  jedenfalls  die  Blüte  der  Intelligenz  der 
Hammelschaft  darstellt,  so  ist  es  doch  schwer  glaublich, 
daß  gerade  ihm  der  Umstand  nicht  zu  denken  geben 
sollte,  daß  alle  die  von  ihm  angeführten  Herden  auf 
Nimmerwiedersehen  in  dem  Abgrund  verschwinden,  dem 
jener  heiße  Blutgeruch  entströmt,  und  daß  es  immer 
wieder    neue    Bataillone    von    Schafen,    Regimenter    von 


Menschliche  Niedertracht.  225 

Hammeln  sind,  an  deren  Spitze  er  anfeuernd  dem  schwarzen 
IvOche  zu  galoppiert.  Fraglich  könnte  es  nur  erscheinen, 
ob  der  Mensch,  der  sich  solcher  abgrundtiefen  Gewissen- 
losigkeit einer  gemeinen  Hammelseele  zu  seinen  Zwecken 
bedient,  nicht  noch  eine  größere  Kanaille  sei,  als  der 
Hammel  selbst.  Es  ist  ein  beliebter  Trick  des  mensch- 
lichen Genius,  die  garstig  anrüchigen  Handlungen,  die 
im  Interesse  seiner  höheren  Zwecke  verrichtet  werden 
müssen,  nicht  selbst  zu  verrichten,  sondern  sich  dafür 
scheinbar  harmloser  Umwege  zu  bedienen.  So  hat  die 
edle  weiße  Haut  der  roten  Haut  ihre  Spezialkrankheiten 
anvertraut  und  sie  dadurch,  unter  freundlicher  Nach- 
hilfe des  edlen  Feuerwassers,  langsam  aber  sicher  ver- 
nichtet. Ja,  man  hat  es  sogar  schon  verstanden,  eine 
Religion,  die  heiligste  Ausstrahlung  eines  großen  Herzens 
voller  I^ebe  und  eines  tiefen,  weltumfassenden  Geistes, 
in  zweckentsprechender  Umgestaltung  als  wirksamstes 
Mittel  zur  Unterjochung  und  Vernichtung  kraftvoller 
Völker  zu  verwenden.  Solchen  imposanten  Großtaten 
menschlicher  Niedertracht  gegenüber  will  es  moralisch 
nicht  viel  bedeuten,  wenn  die  Herren  Armour  &  Co.  die 
Bestechlichkeit  einer  infamen  Hammelseele  benutzen,  um 
ohne  Tierquälerei  und  unliebsames  Aufsehen  ihren  men- 
schenfreundlichen Zweck  zu  erreichen.  Und  Menschen- 
freunde muß  man  doch  diese  genialen  Unternehmer 
nennen,  welche  ganz  Nordamerika  tagtäglich  mit  leckeren 
Braten  und  die  ganze  bewohnte  Erde  mit  ihren  sauber 
in  Blech  verpackten,  gepökelten  und  geräucherten  Fleisch- 
waren versehen.  Wer  an  einem  glänzenden  Beispiel  lernen 
will,  wie  der  Menschengeist  es  fertig  bringt,  durch  blutigen 
Mord  und  schnöden  Verrat  hindurch  mit  Einsatz  aller 
seiner  Erfindungskraft  und  körperlichen  Geschicklichkeit 
schließlich  dazu  gelangen  kann,  die  Vollendung  des  Zweck- 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  15 


226  Dollaricas  infamster  Schurke. 

mäßigen  sogar  bis  zum  künstlerisch  Erbaulichen  zu 
steigern,  der  sehe  sich  das  Verfahren  in  den  Chicagoer 
Stockyards  an. 

Durch  Upton  Sinclaires  berühmten  Roman  ,,The 
Jungk"  (der  Sumpf)  sind  ja  die  Augen  der  ganzen  Welt 
auf  Armour  &  Co. 's  Packing  Company  gerichtet  worden. 
Ganz  Kuropa  ist  es  nach  diesem  Roman  übel  geworden. 
Es  hat  monatelang  kein  corned  beef  mehr  gekauft,  in  der 
Meinung,  daß  in  den  hübschen,  sauberenBlechbüchsen  mehr 
Rattenschwänze,  abgehackte  Menschenfinger  und  andere 
leckere  Zutaten  vorhanden  wären,  als  solides  Ochsen- 
und  Schweinefleisch.  Wer  aber  selber  in  jüngster  Zeit, 
wie  ich,  die  Schlachthäuser  und  Packräume  Armours 
aufmerksam  durchwandert  hat,  der  wird  doch  sagen 
müssen,  daß  entweder  Mister  Sinclaire  ein  arger  Schwarz- 
seher und  Schwarzmaler  sein,  oder  daß  die  Gesellschaft 
sich  sein  Buch  inzwischen  zu  Herzen  genommen  und 
durchgreifende  Verbesserungen  gemacht  haben  müsse. 
Denn  so  wie  das  Unternehmen  sich  heute  präsentiert, 
bedeutet  es  einfach  einen  bisher  unerreichten  Gipfel  in 
bezug  auf  sinnreichste  Ausnutzung  der  Maschine  und 
der  menschlichen  Arbeitskraft,  auf  Reinlichkeit,  strengste 
Disziplin  und  restlose  Ausnutzung  des  verarbeiteten 
Materials. 

An  einem  schönen  klaren  Wintertage  brachte  unser 
Chicagoer  Gastfreund  mich  und  meine  Frau  zu  Armours 
und  ersuchte  einen  ihm  bekannten  Beamten  der  Firma, 
uns  herumzuführen.  Es  war  zufällig  derselbe  Herr, 
der  auch  unseren  Prinzen  Heinrich  geführt  hatte.  In 
der  stolzen  Haltung  des  freien  Bürgers  der  größten 
Republik  der  Welt,  d.  h.  die  Hände  in  den  Hosentaschen, 
eine  ungeheure  Havannanudel  aus  dem  Mundwinkel 
herauslakelnd,    machte   uns   dieser  Herr  zunächst  einmal 


Der  Mittelpunkt  der  Hölle.  227 

das  Kompliment,  daß  unser  kaiserlicher  Prinz  ein  feiner 
Kerl  —  a  fine  fellow  —  sei.  Man  habe  ihn  vorher  instruiert 
gehabt,  den  hohen  Herrn  mit  ,,Your  Royal  Highness" 
anzureden ;  aber  daran  habe  er  sich  nicht  gewöhnen  können, 
und  es  habe  offenbar  dem  Prinzen  ganz  gut  gefallen, 
einmal  einfach  wie  irgendein  anderer  besserer  Herr  von 
anständiger  Familie  behandelt  zu  werden.  Wir  wurden 
darauf  sofort  in  den  Mittelpunkt  der  Hölle  geleitet.  Sehr 
vernünftiges  amerikanisches  Prinzip:  denn  wer  dieses 
Schrecknis,  ohne  einen  Nervenchok  zu  kriegen  oder  wenig- 
stens in  Ohnmacht  zu  fallen,  aushält,  dem  kann  überhaupt 
auf  dieser  Wanderung  nichts  Schlimmes  mehr  passieren. 
Eine  schwere  schmale  Tür  wird  aufgestoßen;  eine 
heiße  Welle  von  süßlichem  Blutdunst  schlägt  über  unseren 
Köpfen  zusammen,  und  das  furchtbare,  wahnsinnig  ver- 
zweifelte Todesgekreisch  der  Schweine  betäubt  uns  die 
Ohren,  zerreißt  uns  das  Herz.  Wir  stehen  auf  einer  hohen 
schmalen  Holzgalerie,  die  dick  mit  Sägespänen  bestreut 
ist,  und  schauen  zwei  Stockwerke  tief  hinunter.  Dicht 
an  der  Mauer  im  ersten  Stockwerk  unter  uns  dreht  sich 
langsam  eine  riesige,  metallene  Scheibe,  über  die  eine 
schwere,  eiserne  Kette  läuft.  Aus  einem  dunkeln  Raum 
unter  der  Galerie,  den  wir  nicht  übersehen  können,  werden 
die  Schweine  von  riesenstarken  Fäusten  eines  nach  dem 
anderen  gepackt  und  ein  an  der  Kette  schwebender  Haken 
um  einen  ihrer  Hinterschenkel  befestigt.  Im  nächsten 
Augenblick  wird  das  Tier  emporgehoben  und  mit  dem 
Kopf  nach  unten,  aus  Leibeskräften  strampelnd  und 
schreiend,  über  die  große  Scheibe  weggeführt.  Auf  der 
anderen  Seite  dieser  Scheibe  steht  der  Metzger.  In  dem 
Augenblick,  wo  die  unendliche,  sich  langsam  fortbewegende 
Kette  das  Tier  an  seinen  Standort  bringt,  führt  er  den 
Todesstoß  in  den  Hals  aus.    Bin  dicker  Blutstrom  schießt 

15* 


228  Dollaricas  infamster  Schurke. 

heraus.  Der  Mann  ist  über  und  über  mit  Blut  bespritzt; 
er  hat  hohe  Stiefel  an  und  steht  bis  an  die  Knöchel  in 
einem  Bluttümpel.  Hin  zweiter  Mann  in  seiner  Nähe 
hat  die  Aufgabe,  mit  einem  großen  Besen  das  Blut  in  ein 
I,och  im  Estrich  hineinzufegen ;  in  einem  unterirdischen 
Bassin  wird  es  zur  weiteren  Verwertung  aufgefangen. 
Alle  paar  Sekunden  passiert  ein  Schwein  den  Schlächter, 
so  daß  er  in  den  wenigen  Stunden,  die  seine  Arbeitszeit 
dauert,  Hunderten  den  Garaus  macht.  Der  Mann  ist 
der  höchstbezahlte  Arbeiter  des  Unternehmens,  ein  Meister 
in  seinem  gräßlichen  Fache;  aber  unfehlbar  ist  seine 
Hand  natürlich  doch  nicht,  und  manche  der  gestochenen 
Tiere  zappeln  und  schreien  noch  eine  ganze  Weile  weiter. 
Lange  währt  ihre  Qual  jedoch  auf  keinen  Fall,  denn  die 
Kette  führt  sie  in  die  untere  Etage  hinunter,  und  da  werden 
sie  abgeladen  in  ein  gewaltiges  Bassin  voll  kochenden 
Wassers.  Darin  sieht  man  von  oben  die  weißen  Schweine- 
leichen in  dichtem  Gedränge  durcheinanderquirlen,  und 
wenn  sie  an  der  Kette  wieder  nach  oben  schweben,  so 
sind  sie  bereits  so  sauber  abgebrüht,  wie  man  sie  in  unseren 
Metzgerläden  in  der  Auslage  hängen  sieht.  Kein  Unter- 
schied mehr  zwischen  schwarzen,  gelben,  grauen  und 
gescheckten  Schweinen.  Blaßrosig,  starr  und  schwach 
dampfend  kommen  sie  in  Abständen  von  etwa  2  Meter 
wieder  in  die  obere  Etage  her  auf  geschwebt.  Wir  ver- 
lassen die  Schreckenskammer  und  schreiten  auf  unserer 
erhöhten  Schaugalerie  in  einen  großen,  lichten  Saal  hinein. 
Da  stehen  auf  einem  schmalen  Podium  an  der  Fenster- 
seite die  Arbeiter  mit  ihren  scharfen  Messern,  Äxten, 
Knochensägen  und  Iyötlampen  auf  ihren  Posten,  und 
während  die  Kette  in  langsamer  Vorwärtsbewegung  das 
Schwein  an  ihm  vorbeiführt,  verrichtet  jeder  mit  sicherer 
Hand  immer  dieselbe  ihm  zugewiesene  Arbeit.    Der  erste 


Schlachtverfahren  beim  Rindvieh.  229 

führt  einen  Bauchschnitt  der  ganzen  L,änge  des  Körpers 
nach  aus,  der  zweite  rafft  mit  einem  Griff  die  Gedärme 
heraus,  der  dritte  schneidet  den  Kopf  durch  bis  auf  den 
Knochen,  der  vierte  sägt  den  Halswirbel  durch,  ein  anderer 
sengt  mit  der  Iyötlampe  die  etwa  noch  übriggebliebenen 
Borsten  weg  —  und  so  fort.  Am  Ende  des  Saales  be- 
schreibt die  Kette  einen  Bogen,  um  ihn  dann  in  entgegen- 
gesetzter Bewegung  noch  einmal  zu  durchlaufen,  und  am 
Ende  dieses  ganzen  Weges  ist  das  Schwein  sauber  zerlegt, 
die  Speckseiten  herausgelöst,  die  Schinken,  die  Hacksen 
zur  besonderen   Verwendung  beiseite   gepackt. 

Ganz  ähnlich  ist  der  Hergang  in  dem  Riesenraum,  in 
welchem  die  Rinder  bearbeitet  werden.  Aus  einer  Falltür 
werden  sie  von  unten  heraufgehoben  und  durch  einen  Schlag 
mit  einem  Hammer  auf  den  Kopf  betäubt.  Nach  dem 
Grausen  der  Schweineschlächterei  wirkt  diese  Art  des 
Massenmords  geradezu  zart  gedämpft,  man  möchte  fast 
sagen,  liebenswürdig  diskret,  denn  das  Rind  schreit  nicht, 
es  ist  betäubt,  bewegungslos  noch  bevor  es  ihm  zum 
Bewußtsein  kommt,  daß  es  in  den  Tod  zu  gehen  bestimmt 
ist.  Gewaltige  Maschinenkraft  hebt  das  schwere,  bewußt- 
lose Tier  an  den  Hinterfüßen  in  die  Höhe,  und  an  der 
dicken  Ankerkette  bewegt  es  sich  langsam  durch  den 
großen  Arbeitssaal.  Am  Kopfe  hängt  jedem  Tier  ein 
Eimer,  in  dem  das  Blut  beim  Schlachten  aufgefangen 
wird,  und  so  geschickt  verrichten  die  Schlächtergesellen 
ihre  Arbeit,  daß  man  in  diesem  Saale,  mit  den  Augen 
wenigstens,  fast  kein  Blut  gewahr  wird.  Da  in  dem 
mächtigen  Rindskadaver  die  Arbeit  nicht  so  geschwind 
von  statten  geht,  wie  bei  dem  Kleinvieh,  so  hängen  die 
Rinder  in  großen  Abständen  an  der  Kette,  und  jeder 
Arbeiter  geht  dem  ihm  zugewiesenen  Stück  so  lange  nach, 
bis  sein  Anteil  an  dem  Werk  des  Abhäutens,  Zersägens 


230  Dollaricas  infamster  Schurke. 

und  Zerteilens  verrichtet  ist.  Der  Grundsatz  der  Arbeits- 
teilung ist  strikte  durchgeführt.  Ein  Arbeiter  hat  nie 
etwas  anderes  zu  tun,  als  das  Rückgrat  von  oben  bis  unten 
durchzusägen,  ein  anderer  nur  das  Abhäuten  zu  besorgen 
—  und  wehe  dem,  wenn  er  das  wertvolle  Fell  durch  einen 
ungeschickten  Messerstich  verletzt;  sofortige  Entlassung 
ist  seine    Strafe. 

Von  den  Schlachträumen  gelangen  wir  tiefaufatmend 
in  die  frische  I^uft.  Über  hölzerne  Brücken  und  Viadukte, 
auf  denen  vSchmalspurbahnen  laufen,  die  die  verarbeiteten 
Fleischteile  von  einem  Raum  zum  andern  befördern,  gehen 
wir  in  die  Packhäuser  hinüber,  wo  das  gekochte,  geräucherte 
und  eingepökelte  Fleisch  in  die  bekannten  Blechdosen  ver- 
packt wird.  Maschinen  von  fabelhafter  Präzision  verfertigen 
vor  unseren  Augen  die  Tausende  und  Abertausende  von 
Blechgefäßen,  und  die  einzige  Menschenarbeit,  die  hierbei 
in  Anspruch  genommen  wird,  ist  das  letzte  Verlöten  des 
Deckels  und  das  Bekleben  der  Dosen  mit  den  schönen, 
buntgedruckten  Papieretiketten.  Das  Schlußstück  in 
der  seltsam  aufregenden  und  dennoch  bezaubernden 
Schau  ist  der  Saal,  in  welchem  nette  junge  Mädchen  in 
weißen,  steif  gestärkten  Häubchen  und  blendenden  Kleider- 
schürzen an  langen  Tischen  sitzen,  mit  feinen  weißen 
Händen  die  dünnen  Fleischscheiben,  die  die  lautlos  arbei- 
tende Maschine  vor  jedem  einzelnen  Arbeitsplatz  im  un- 
fehlbaren Rhythmus  hinstreut,  in  die  Blechbüchsen  ver- 
packen. Die  tadellose  Sauberkeit  dieser  Mädchenhände 
wird  dadurch  sinnfällig  gemacht,  daß  nicht  nur  reichliche 
Wascheinrichtungen  dem  Beschauer  sofort  ins  Auge 
fallen,  sondern  daß  in  einer  Ecke  des  Saales  auf  einer 
erhöhten  Tribüne  eine  artige  Maniküre  fortwährend  an 
der  Arbeit  ist,  um  die  Fingernägel  zu  säubern  und  streng 
vorschriftsmäßig  im  Verschnitt  zu  halten.    Diese  Maniküre 


Der  Zweck  heiligt  die  Mittel.  231 

und  jener  infamste  Schurke  Dollaricas,  nämlich  der  I^eit  — 
hammel,  stehen  also  als  symbolische  Gestalten  am  Ein- 
gang und  am  Ausgang  einer  der  gewaltigsten  industriellen 
Unternehmungen  der  Erde:  brutalste  Rücksichtslosigkeit 
und  raffinierteste  Delikatesse  reichen  sich  die  Hand  zur 
Vollendung  eines  notwendigen  Men sehen werkes.  Der 
Zweck,  nämlich  die  Versorgung  der  Menschheit  mit  tadel- 
los zubereiteter  Fleischspeise,  heiligt  die  Mittel,  und  die 
Mittel  heiligen  wiederum  auch  den  Zweck;  denn  um  mir 
die  gutgepökelte  Zunge  in  sauberer,  luftdicht  verschlossener 
Büchse  auf  den  Tisch  zu  setzen,  haben  Menschen witz  und 
Menschenfleiß  ihr  letztes  hergegeben  und  durch  geniale 
Ausnützung  des  Materials  und  Hinaufsteigerung  aller 
Energien  zu  äußersten  Leistungen  das  blutige  Chaos  in 
vollendete  und  darum  ästhetisch  wirkende  Harmonie 
verwandelt. 


HUI ■■■■■■■■■■■■■■ 


riiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiii 


Baedekereien  für  Jfoierikafafirer. 


Während  meines  Aufenthaltes  in  New  York  geschah 
es,  daß  ein  aufgeweckter  Marschbauer,  irgend  so  ein 
deftiger  Klaas  Petersen,  oder  wie  er  nun  heißen  mochte, 
mit  der  ganz  gescheiten  Absicht  herüber  kam,  sich  für  die 
etlichen  30  oder  40000  Mark,  die  er  aus  dem  ererbten 
Bauerngut  herausgewirtschaftet  hatte,  im  fernen  Kansas, 
Oklahama  oder  sonst  einem  der  neuen  Staaten,  wo  das 
I^and  noch  spottbillig  ist,  eine  große  Farm  zuzulegen. 
Der  Mann  war  in  der  Vollkraft  seiner  Jahre,  verließ  sich 
auf  seine  derbe  Faust,  seinen  klaren  Dickkopf  und  seinen 
deutschen  Fleiß  und  hatte  guten  Grund,  anzunehmen, 
daß  er  schon  in  ein  paar  Jahren  Frau  und  Kinder  würde 
nachkommen  und  aus  dem  vollen  an  dem  stolzen  Herren- 
leben eines  Großgrundbesitzers  im  L,ande  der  Freiheit 
teilnehmen  lassen  können.  Der  Mann  hatte  in  seiner 
biederen  Offenheit  auf  dem  Schiffe  aller  Welt  erzählt, 
wieviel  er  bei  Heller  und  Pfennig  wert  sei,  und  der  Kapitän, 
der  es  gut  mit  ihm  meinte,  hatte  ihm  für  seinen  Einzug 
in  die  Fünfmillionenstadt  einen  sicheren  Begleiter  in 
Gestalt  eines  seiner  Offiziere  mitgegeben.  Der  nahm 
Klaas  Petersen  freundschaftlich  unter  den  Arm  und  führte 
ihn  zunächst  einmal  die  Kellertreppe  zur  Subway,  der 
Untergrundbahn  hinunter,  welche  unter  dem  Bette  des 
Hudson  hindurch  Brooklyn  mit  New  York  verbindet  und 
dann  in  zwei  Ästen  die  ganze  Manhattaninsel  bis  in  die 
ferne  Vorstadt  Bronx  durchzieht.  Als  aber  Klaas  Petersen 
über  das  Treppengewirr  und  durch  das  Menschengewimmel 
hindurch    in    einen  der  Riesenwagen  hineinbugsiert  war 


Tragikomödien  des  Grünhorns.  233 

und  nun  in  drangvoll  fürchterlicher  Enge,  eingekeilt 
zwischen  hinter  riesigen  Zeitungen  verschanzten  Negern, 
Chinesen,  Italienern,  Russen  und  glattrasierten  Yankees 
stand,  als  der  elektrische  Zug  donnernd  in  die  schwarze 
Felsenhöhle  hineintauchte  und  dort  mit  unheimlicher 
Schnelligkeit  um  die  Kurven  schlingerte,  da  fing  Klaas 
Petersen  aus  Dithmarsen  bitterlich  zu  weinen  an  und 
schluchzte:  „Ick  will  nah  Huus!  dor  speel  ick  nich  mit.  — " 
Und  dabei  blieb's;  er  wollte  keine  Vernunft  annehmen. 
Mit  dem  nächsten  Schiffe  kehrte  er  tatsächlich  wieder 
heim. 

Noch  übler  erging  es  einem  anderen  Grünhorn,  das 
sich  auf  seinen  eigenen  Witz  verließ  und  bei  Brooklyn- 
Bridge  einen  Trambahnwagen  bestieg,  um  über  die  be- 
rühmte Brücke  nach  Brooklyn  zu  fahren,  wo  er  einen 
I/andsmann  aufsuchen  wollte.  Und  er  kam  auch  über  die 
Brücke,  aber  er  verstand  nicht,  was  der  Schaffner  ausrief, 
und  traute  sich  nicht  aufs  Geratewohl  auszusteigen;  und 
ehe  er  sich's  versah,  war  er  wieder  auf  der  Brücke,  denn  die 
Trambahnlinie  bildet  eine  geschlossene  Schleife.  Da  er 
ein  Gemütsmensch  war,  gedachte  er  in  Ergebung  hin- 
zunehmen, was  der  Herr  in  seinem  unerforschlichen  Rat- 
schluß über  ihn  beschlossen  hätte.  Er  fuhr  also  auf  der 
großen  Schleife  hin  und  her,  Tag  und  Nacht,  drei  Tage 
lang.  Schließlich  mußte  man  ihn  aus  Mitleid  erschießen, 
da  er  sonst  verhungert  wäre. 

Wenn  du  mir  diese  traurige  Geschichte  nicht  glauben 
magst,  lieber  I^eser,  so  laß  es  bleiben.  Deswegen  bleibt  es 
doch  als  unumstößliche  Wahrheit  bestehen,  daß  du  in 
Amerika  unmöglich  bist,  sofern  der  Himmel  dich  zu  einem 
Junker  Träuminsblau  geschaffen  oder  deine  Eltern  dich 
mit  der  Zipfelmütze  bis  über  die  Nase  und  einem  schönen 
Brett  vorm  Kopf  in  die  Welt  entlassen  haben.    Bist  du 


234  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

aber  kein  Muttersöhnchen,  das  in  der  Bangbüx  bebbert, 
sondern  ein  gesunder  Frechdachs  mit  offenen  Sinnen  und 
nicht  zu  viel  Vertrauensseligkeit,  so  kannst  du  dich  dreist 
in  das  Abenteuer  stürzen.  Bist  du  ein  armer  Teufel,  der 
drüben  sein  Glück  machen  will,  so  wappne  dich  mit  Humor 
und  Wurstigkeit,  schäme  dich  keiner  Arbeit  und  laß  die 
Ohren  nicht  hängen,  wenn  es  dir  in  einem  Fach  mißlingt. 
,,Let  us  try  another  chance"  sagt  der  Amerikaner  in  diesem 
Falle,  und  das  sag  du  auch  und  pfeif  drauf.  Willst  du  aber 
zu  deinem  Vergnügen  und  zu  deiner  Belehrung  dich  drüben 
umschauen,  so  tue  Geld  in  deinen  Beutel,  viel  Geld  — 
noch  viel  mehr  Geld!  Denn  wisse,  daß  für  den  nicht  seß- 
haften Menschen  drüben  die  meisten  Dinge  doppelt  und 
viele  viermal  so  viel  kosten  wie  bei  uns.  Für  ein  Seidel 
Würzburger  Hofbräubier  oder  Pilsner,  das  nur  4/10  Iyiter 
hält,  mußt  du  einen  Quarter  hinlegen,  das  ist  M  I. — ,  und 
du  wirst  bald  dahin  gelangen,  diesem  Quarter  nicht  mehr 
wehmütig  nachzutrauern;  denn  das  amerikanische  Bier 
enthält  zwar  Wasser,  Malz  und  Hopfen  und  sieht  schön 
braun  oder  goldgelb  aus,  hat  auch  wohl  eine  verlockende 
schneeweiße  Rahmhaube  auf  und  der  erste  Schluck  geht 
dir  lieblich  ein,  aber  bald  merkst  du,  daß  es  doch  kein 
Bier  ist.  Und  dann  wirst  du  auch  bald  finden,  daß  es  sehr 
viel  leichter  ist,  die  schmalen,  schmutzigen,  zerknitterten 
Papierlappen  auf  den  Tisch  zu  werfen,  als  bei  uns  daheim 
ein  schönes  blankes  Zwanzigmarkstück  anzureißen;  du 
mußt  nämlich  schon  sehr  weit  westlich  fahren,  bevor  du 
überhaupt  Gold  zu  sehen  bekommst.  Mache  dir  nur  ja 
nicht  etwa  die  Illusion,  als  ob  du  an  irgendeiner  Stelle 
wieder  hereinsparen  könntest,  was  du  an  anderer  Stelle 
großzügig  verschwendet  hast.  Abgesehen  davon,  daß  der 
Knicker  und  Pfennigfuchser  in  dem  L,ande  der  Milliardäre 
höchst  verächtlich  über  die  Achsel  angesehen  wird,  kommst 


Unangebrachte  Sparsamkeit.  235 

du  auch  schon  aus  dem  Grunde  nicht  zum  Sparen,  weil  die 
guten  Dinge,  die  zum  täglichen  Bedürfnis  des  Gentleman 
gehören,  durch  die  ganze  Union  ziemlich  denselben  Preis 
haben.  Du  kannst  zum  Beispiel  nicht  in  einem  Hotel 
zweiten  Ranges  wohnen  und  in  einem  Restaurant  ersten 
Ranges  speisen,  weil  es  einfach  kein  Hotel  zweiten  Ranges 
gibt.  In  den  großen  Städten  wenigstens  sind  alle  Hotels, 
denen  sich  ein  besserer  Zeitgenosse  überhaupt  anvertrauen 
kann,  nach  unseren  Begriffen  erster  Klasse,  und  was 
danach  kommt,  ist  nach  unseren  Begriffen  gleich  vierter 
Klasse.  Du  kannst  auch  nicht  im  Hotel  erster  Klasse 
wohnen  und  dann  anderswo  billig  essen  gehen,  d.  h.  du 
kannst  es  wohl,  aber  du  wirst  bald  davon  zurückkommen. 
Denn  das  billige  Essen  ist  auf  die  Dauer  unmöglich,  und 
zwischen  den  Preisen  der  Speisekarte  in  einem  guten 
Hotel  und  einem  anständigen  Restaurant  gibt  es  kaum 
einen  Unterschied.  Versuche  um  Gottes  willen  auch  nicht 
mit  Trinkgeldern  zu  knausern,  das  würde  dir  übel  be- 
kommen; nicht  nur  in  der  Welt  der  Kellner,  sondern  in 
der  breitesten  Öffentlichkeit  würde  es  deinem  Renommee 
schaden.  Bin  werter  Freund  und  Kollege  von  mir  hatte 
sich  von  Eingeborenen  sagen  lassen,  daß  der  übliche  Satz 
für  den  Kellnertip,  wie  bei  uns,  bei  kleineren  Rechnungen 
zehn  Prozent  betrage.  Seine  erste  Konsumation  im  Hotel 
bestand  in  einem  belegten  Brötchen  mit  einem  Schnitt 
Bier,  wofür  er  70  Cent  =  M  2,80  bezahlen  mußte.  Ge- 
wissenhaft wie  er  war,  suchte  er  7  Cent  zusammen  und 
schob  sie  reinen  Herzens  dem  waiter  zu.  Der  starrte  erst 
mit  verdächtigem  Grinsen  auf  das  Sümmchen  hin,  dann 
lief  er  zum  Oberkellner,  beriet  sich  längere  Zeit  mit  ihm 
und  kehrte  endlich  zurück,  um  die  7  Cent  zwar  ohne 
Dank,  aber  mit  den  sichtbaren  Zeichen  einer  unange- 
messenen Fröhlichkeit  einzustreichen.    Am  andern  Morgen 


236  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

stand  es  in  sämtlichen  New  Yorker  Blättern,  daß  der 
beliebte  deutsche  Dichter  7  Cent  Trinkgeld  gegeben  habe. 
Und  wo  immer  unser  lieber  Landsmann  erkannt  wurde, 
lachten  ihm  die  Kellner  frech  ins  Gesicht.  Merke  dir  also, 
lieber  Iyandsmann,  besonders  wenn  du  aus  München 
kommen  solltest,  wo  die  Kati  schon  für  drei  Pfennige  danke 
schön  sagt,  daß  man  unter  zehn  Cent  überhaupt  keiner 
Hilfskraft  in  der  Ernährungsbranche  anbieten  darf,  und 
daß  man  das  Trinkgeld  immer  nach  oben  bis  zur  nächsten 
durch  zehn  teilbaren  Ziffer  abrunden  muß. 

Du  darfst  ruhig  Piefke  heißen  und  in  Schmierölen 
machen  und  brauchst  dich  doch  keinen  Moment  zu  be- 
sinnen, in  den  vornehmsten  Hotels  einzukehren.  Wenn 
du  halbwegs  wie  ein  besserer  Zeitgenosse  aussiehst  und 
weder  die  Sauce  mit  dem  Messer  aufschleckst,  noch  den 
Kompotteller  ableckst,  so  wirst  du  auch  in  der  aller- 
prominentesten  Gesellschaft  geduldet  werden.  Für  fünf 
Dollar  bekommst  du  überall  ein  anständiges  Zimmer  mit 
Bad,  und  wenn  du  dich  mit  deiner  Frau  Gemahlin  gerade 
gut  stehst,  kannst  du  für  denselben  Preis  sie  auch  mit 
hinein  nehmen,  denn  die  Betten  sind  immer  reichlich 
zweischläfrig.  Nur  wenn  du  vielleicht  so  weit  gehen 
wolltest,  auch  deine  Kleinen  noch  mit  querzulegen,  so 
würde  man  das  vielleicht  als  einen  Mißbrauch  der  Gast- 
freundschaft betrachten  und  dir  einige  Dollars  extra 
tschardschen.  Aber  wer  reist  überhaupt  mit  Kindern  nach 
Amerika  ? ! 

Das  Hotel  spielt  im  amerikanischen  Stadtleben  eine 
ganz  andere  Rolle  wie  bei  uns.  Es  ist  ein  gesellschaft- 
licher und  geschäftlicher  Treffpunkt,  und  die  Lobby, 
d.  h.  die  Vorhalle  im  Erdgeschoß  mit  ihren  massenhaften 
Schaukelstühlen,  Klubsesseln,  Zeitungs-,  Zigarren-  und 
sonstigen  Verkaufsständen,  spielt  dieselbe  Rolle,  wie  der 


In  der  Lobby.  237 


Barbierladen  im  antiken  Athen  und  Rom  und  wie  das 
Cafehaus  in  Österreich.  In  der  Lobby  befinden  sich  auch 
Sekretariat  und  Kasse  des  Hotels  sowie  Auskunftei 
und  Ausgabestelle  für  die  Post.  Die  größeren  Häuser 
haben  sogar  eine  eigene  Telephonzentrale  für  die  Vermitt- 
lung des  riesigen  Gesprächsverkehrs  innerhalb  des  Hauses 
wie  mit  der  näheren  und  ferneren  Außenwelt,  und  was  man 
dir  nicht  mündlich  durch  den  Draht  ausrichten  kann,  das 
wird  dir  auf  elektrochemischem  Wege  schriftlich  gegeben. 
Selbst  in  den  mittleren  Städten  haben  die  guten  Hotels 
selten  unter  zehn  Stockwerken.  Eine  ganze  Anzahl  von 
Lifts  flitzen  Tag  und  Nacht  herauf  und  herunter  vom 
Keller,  wo  der  Barbier,  die  Maniküre,  der  Wichsier  dich 
bearbeitet,  bis  hinauf  zum  Dachgarten,  wo  du  in  schönen 
warmen  Sommernächten  bei  Musik  und  feenhafter  Be- 
leuchtung dein  Nachtmahl  einnehmen  kannst.  In  der 
Lobby  aber  und  in  den  angrenzenden  Restaurations- 
räumen laufen  fortwährend  kleine  niedliche  Pagen  mit 
Zerevismützchen  auf  den  Kinderschädeln  herum  und 
quarren  die  Namen  der  Leute  aus,  für  die  ein  Besuch  oder 
eine  Depesche  da  ist,  oder  die  am  Telephon  verlangt 
werden  usw.  usw.  Da  sich  in  der  Lobby  jedermann  auf- 
halten kann,  auch  wenn  er  nicht  im  Hause  wohnt,  so  kann 
man  ruhig  bei  bösem  Wetter  dort  hineinflüchten,  sich  eine 
Zeitung  und  eine  Zigarre  kaufen  und  in  einem  Schaukel- 
stuhl Platz  nehmen,  bis  es  sich  ausgeregnet  oder  gar  ein 
Blizzard  sich  ausgetobt  hat.  Man  trifft  sich  dort  morgens 
mit  seinen  Geschäftsfreunden  und  abends  mit  seinem 
Liebchen.  Bauernfänger,  Detektivs  und  Reporter  wimmeln 
in  Scharen  dort  herum.  Die  letzteren  holen  sich  drei 
Viertel  ihres  Stoffes  in  der  Lobby.  Sie  liegen  auf  der  Lauer 
bei  dem  Clerk,  der  das  Fremdenbuch  führt,  in  das  jeder 
neu  ankommende  Gast  sich  einschreiben  muß,  und  stürzen 


238  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

sich  auf  ihn,  sofern  er  nur  irgendwie  prominenz verdächtig 
oder  weit  hergereist  ist  oder  sich  durch  einen  europäischen 
Titel  auffällig  gemacht  hat.  Sie  haben  Augen  und  Ohren 
überall,  stenographieren  in  ihr  Taschenbuch,  was  sie  an 
Gesprächen  der  Politiker,  der  Spekulanten,  der  Welt- 
reisenden und  der  Klatschbasen  erlauschen  können,  be- 
schreiben die  Toilette  und  das  Gepäck  reisender  Künstle- 
rinnen und  konstruieren  sich  ganze  Romane  aus  dem 
bloßen  Mienenspiel  aufgeregt  flüsternder  Iyeute. 

Jeder,  der  es  irgend  af forden  kann,  kehrt  in  den 
großen  Hotels  ein,  selbst  Menschen,  die  man  bei  uns  zu 
den  kleinen  L,euten  rechnen  würde,  und  reiche  Iyeute,  die 
auf  dem  L,ande  oder  in  den  Kleinstädten  wohnen,  aber  oft 
in  der  Hauptstadt  zu  tun  haben,  lassen  sich  sogar  jahrein, 
jahraus  ein  Zimmer  für  sich  reservieren.  Folglich  sind 
die  Hotels  immer  voll  und  amüsant  für  jeden,  der  kein 
Menschenfeind  ist.  An  Bequemlichkeiten  und  I^uxus  wird 
dir  für  deine  europäischen  Begriffe  Fabelhaftes  geboten. 
Bad  und  Telephon  in  jedem  Zimmer  sind  selbstverständlich ; 
ein  Transparent  leuchtet  auf  und  zeigt  dir  an,  daß  Briefe 
für  dich  in  der  Office  sind,  und  was  das  Allererstaunlichste 
ist  —  jeden  Abend  wird  dein  Bett  frisch  bezogen,  als  ob 
du  ein  Milliardär  oder  ein  Erzschweinepelz  wärst!  Nur 
deine  Kleider  mußt  du  dir  selber  reinigen,  wenn  du  nicht 
M  2  extra  dem  Hausschneider  dafür  bezahlen  willst, 
und  die  Stiefel  mußt  du  dir  im  Keller  oder  auf  der  Straße 
putzen  lassen.  Was  aber  das  Schönste  ist:  du  kannst 
ruhig  abreisen  ohne  durch  ein  Spalier  von  Trinkgeld 
heischenden  Bediensteten  Spießruten  laufen  zu  müssen. 
Dem  Hausdiener,  der  deine  Koffer  dir  aufs  Zimmer  schleppt, 
gibst  du  eine  Kleinigkeit  auf  frischer  Tat,  und  wenn  du 
ein  Menschenfreund  bist,  erfreust  du  gelegentlich  den 
Iyiftboy    mit    einem    Tip.     Selbstverständlich    kannst    du 


Das   Astorhotel.  239 


auch  im  Office  dein  Bahnbillett  und  dein  Gepäck  besorgen 
lassen,  und  wenn  du  als  Neuling  Schwierigkeiten  mit  dem 
Zurechtfinden  oder  mit  den  Behörden  hast,  so  wird  dir 
ein  sehr  feiner  Gentleman  zur  Verfügung  gestellt,  der  dich 
sicher  geleitet  und  für  dich  redet,  wo  du  etwa  mit  deinem 
Englisch  nicht  auskommst.  Der  Gentleman  behandelt 
dich  und  du  ihn  wie  seinesgleichen,  und  du  brauchst  ihm 
nichts  in  die  Hand  zu  drücken  —  er  steht  nachher  auf 
deiner  Rechnung.  Alles,  was  du  im  Hause  verzehrst, 
bezahlst  du  bar,  und  es  steht  dir  vollkommen  frei,  deine 
Mahlzeiten  einzunehmen,  wo  du  willst. 

Wenn  du  ein  Deutscher  bist,  so  wirst  du  wahrschein- 
lich bei  der  Ankunft  in  New  York  deine  Schritte  zu- 
nächst ins  Astorhotel  lenken,  und  du  wirst  gut  daran 
tun,  sintemal  du  bei  dieser  Gelegenheit  gleich  erfahren 
kannst,  wie  herrlich  weit  aus  kleinsten  Anfängen  heraus 
es  ein  intelligenter,  tatkräftiger  Deutscher  drüben 
bringen  kann.  In  dem  Hotel  der  GebrüderMuschen- 
heim,  aus  dem  hessischen  Dörfchen  gleichen  Namens, 
findest  du  nicht  nur  all  den  hier  geschilderten  I,uxus 
und  Komfort,  sondern  auch  für  dein  ästhetisches 
Bedürfnis  in  dem  großen  Festsaal  eine  der  schönsten 
Orgeln  der  Welt,  die  täglich  von  Künstlern  ersten  Ranges 
gespielt  wird,  und  im  Grillroom  etwas  für  deinen  histo- 
rischen Sinn,  nämlich  ein  geschmackvoll  zusammen- 
gestelltes Museum,  das  dir  über  lieben  und  Treiben  der 
Indianer  in  Vergangenheit  und  Gegenwart  einen  höchst 
lebendigen  Anschauungsunterricht  erteilt.  —  Kommst  du 
aber  weiter  ins  I^and  hinein,  in  die  mittleren  und  kleineren 
Städte,  so  erkundige  dich  ja,  bevor  du  dich  in  das  Fremden- 
buch einträgst,  ob  das  Haus  in  europäischem  oder  ameri- 
kanischem Stil  geführt  wird;  andernfalls  kann  es  dir  so 
ergehen  wie  mir  in  einer  kleinen  Stadt  Wisconsins.    Ich 


240  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

wurde  mit  meiner  Frau  in  einem  der  besten  Zimmer  eines 
neuen  Anbaues  zu  dem  angeblich  ersten  Hotel  der  Stadt 
untergebracht.  Außer  dem  großen  Bett  stand  kein  Möbel 
in  diesem  Zimmer  fest  auf  seinen  vier  Beinen,  das  vierte 
war  nur  angelehnt,  wenn  überhaupt  vorhanden.  Auf  der 
frisch  gekalkten  Wand  prangten  als  einziger  Schmuck 
zwei  interessant  umrissene  Flecke,  der  eine  vom  Wasser, 
der  andere  vom  Rauch  herrührend ;  ein  Bad  gehörte  selbst- 
verständlich auch  zu  diesem  Staatszimmer,  es  war  aber 
mehr  ein  Badloch  zu  nennen,  und  die  W^anne  darin  war, 
(ich  habe  sie  ausgemessen),  47  cm  lang.  Wenn  man  seine 
Knie  bis  ans  Kinn  hinaufzuziehen  imstande  war,  konnte 
man  allenfalls  sitzend  darin  Platz  finden.  Da  wir  während 
unseres  Aufenthaltes  zu  allen  Mahlzeiten  eingeladen 
waren,  so  verzehrten  wir  nichts  außer  dem  Frühstück  am 
anderen  Morgen,  d.  h.  wir  hätten  dieses  Frühstück  ver- 
zehren können,  wenn  man  es  uns  noch  verabreicht  hätte, 
was  aber  nicht  der  Fall  war,  da  wir  erst  nach  neun  Uhr  im 
Restaurant  erschienen.  Wir  mußten  also  in  die  Stadt 
gehen  und  in  einer  Konditorei  frühstücken.  Die  Rechnung 
betrug  7  Dollar,  also  nahezu  Ji  30. —  für  ein  Bett,  einen 
Tisch  mit  drei  Beinen,  zwei  Flecken  und  ein  Quetschbad! 
Ich  konnte  nicht  umhin,  meinem  Erstaunen  Worte  zu 
leihen.  Da  entgegnete  mir  der  Clerk  im  Office  seelen- 
ruhig: ,,Ja,  warum  haben  Sie  denn  nichts  verzehrt  hier? 
Das  ist  Ihr  Pech.  Sie  hätten  für  die  7  Dollar  essen  können, 
soviel  Sie  wollten,  von  morgens  bis  abends.  Wir  haben 
nämlich  amerikanischen  Plan  hier."  Und  die  ganze  Mensch- 
heit in  der  Iyobby  quietschte  vor  Vergnügen  über  die  lange 
Nase,  mit  der  ich  abziehen  mußte.  Jetzt  also,  lieber  Eeser, 
weißt  du,  was  american  plan  ist. 

Wenn  du  nur  einigermaßen  prominent  bist  oder  durch 
sonst    welche    auffälligen    Eigenschaften     die    Auf  merk- 


Kundenfang  der  Eisenbahnen.  241 

samkeit  der  Reporter  auf  dich  gelenkt  hast,  so  kannst  du 
die  Freude  erleben,  am  Tage  nach  deinem  Einzug  ins 
Hotel  in  den  Morgenblättern  eine  schmeichelhafte  Be- 
schreibung deines  Exterieurs,  eine  Würdigung  der  Vor- 
züglichkeit deines  eventuellen  Schmieröls  und  außerdem 
deine  Ansicht  über  Amerika  zu  lesen.  Unter  anderen  Folgen 
solcher  frisch  gebackenen  Popularität  wird  sich  auch  ein 
Gentleman  in  tadellosem  Anzug  mit  liebenswürdigen 
Manieren  befinden,  der  dir  seinen  Besuch  macht  und  sich 
erbietet,  dir  gänzlich  kostenlos  deine  ganze  Reiseroute 
auszuarbeiten  und  die  nötigen  Fahrkarten  nebst  den 
Beikarten  für  Pullmanwagen  und  Bett  zu  besorgen. 
Du  bist  natürlich  baß  erstaunt  über  diese  fabelhafte 
Zuvorkommenheit,  beschaust  dich  im  Spiegel  und  be- 
greifst, wie  Gretchen  im  Faust,  nicht,  was  man  an  dir 
findet.  Da  läßt  sich  ein  zweiter,  ebenso  eleganter  und 
liebenswürdiger  Gentleman  melden,  erkundigt  sich  eben- 
falls, wohin  deine  Reise  gehen  soll  und  macht  dich  lächelnd 
darauf  aufmerksam,  daß  der  Herr,  der  vorher  da  war, 
dir  eine  sehr  unvorteilhafte  Route  vorgeschlagen  habe; 
mit  seiner  Gesellschaft  würdest  du  schneller,  komfortabler 
und  sicherer  reisen.  Da  hast  du  des  Rätsels  Eösung.  Da 
zwischen  den  bedeutenden  Plätzen  der  Union  fast  überall 
mehrere  Eisenbahnlinien  bestehen,  so  suchen  sich  die 
verschiedenen  Gesellschaften  ihre  Kunden  persönlich 
einzufangen,  obwohl  man  nicht  nur  in  allen  großen  Hotels, 
sondern  auch  in  den  verschiedensten  Stadtgegenden  in 
den  eleganten  Offices  der  verschiedenen  Gesellschaften 
seine  Billette  vorausbestellen  kann.  Diese  starke  Konkur- 
renz hat  für  den  Reisenden  das  Angenehme,  daß  sich 
jede  Iyinie  die  größte  Mühe  gibt,  ihm  so  viele  Bequemlich- 
keiten und  Vorteile  zu  bieten,  wie  irgend  möglich.  Wenn 
du  also  zum  Beispiel  geborener  Berliner  bist  und  als  solcher 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  16 


242  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

Wert  darauf  legst,  deiner  koddrigen  Schnauze  Bewegung 
zu  machen,  so  kannst  du  während  deiner  Reise  alles  be- 
mäkeln, und  wenn  du  dich  irgendwie  zurückgesetzt  fühlst, 
den  erschrockenen  Oberkontrolleur  anfahren:  ,, Wissen 
Sie,  alter  Freund,  mit  Ihrer  verdammten  L,inie  fahre  ich 
nie  wieder,  verstehen  Sie  mich!"  Gegen  L,ange weile  oder 
Magendrücken  ist  eine  solche  Erleichterung  der  Galle 
recht  nützlich.  Übrigens  ist  es  immer  sehr  angenehm, 
einen  reisegewöhnten  Amerikaner  zum  Beistand  zu  haben, 
denn  die  Kursbücher  sind  für  den  Uneingeweihten  sehr 
schwer  verständlich;  außerdem  gibt  es  auch  keine. 
Die  einzelnen  Gesellschaften  legen  ihre  Fahrpläne  in 
möglichst  farbenfreudiger  Ausstattung  in  den  Hotels  auf, 
und  wenn  man  eine  Reise  vor  hat,  die  einen  über  ein 
Dutzend  verschiedener  Linien  führt,  so  stopft  man  sich  also 
zwölf  solcher  schönen  bunten  Büchelchen  in  die  Tasche; 
man  wird  aber,  wie  gesagt,  schwer  klug  daraus,  obwohl 
sonst  alles,  was  das  Verkehrswesen  betrifft,  von  den 
Amerikanern  überaus  praktisch  angepackt  wird.  Wie 
prächtig  glatt  und  rasch  geht  z.  B.  die  Gepäckaufgabe  von- 
statten! Durch  einen  Handgriff  deines  Koffers  wird  ein 
Iyederriemchen  oder  ein  Spagat  gezogen,  an  dem  eine 
Papp-  oder  Blechmarke  befestigt  ist,  welche  eine  Nummer 
und  den  Namen  des  Bestimmungsortes  trägt,  das  Duplikat 
dieser  Marke  wird  dir  ausgehändigt.  Fertig!  Und  kostet 
nichts,  außer, wenn  du  über  einen  Zentner  mit  dir  schleppst. 
An  der  letzten  Station  vor  deinem  Ziel  geht  ein  Mann 
durch  den  Zug  und  ruft:  ,, Gepäck  für  Chicago!",  oder  was 
es  nun  sein  mag.  Du  gibst  ihm  deine  Marke  und  nennst 
ihm  dein  Absteigequartier.  Fertig!  Gibst  du  zerbrech- 
liche Gegenstände  oder  schlecht  verpackte  Kolli  auf,  so 
mußt  du  einen  Revers  unterschreiben,  daß  du  die  Bahn- 
verwaltung  nicht   für   etwaigen   Schaden   verantwortlich 


Im  Pullmanwagen.  243 


machen  willst.  Willst  du  das  nicht,  so  nimmt  man  dein 
Gepäck  nicht  mit,  oder  du  mußt  es  besonders  versichern. 
Das  ist  alles  sehr  vernünftig  und  nicht  zeitraubend. 

Von  den  Bequemlichkeiten  des  Pullmanwagens  hast  du 
sicher  schon  so  viel  gehört,  daß  ich  dir  darüber  schwerlich 
etwas  Neues  erzählen  kann.  Verwunderlich  ist  es  nur,  daß 
in  diesem  I^ande  der  höchst  entwickelten  technischen 
Kultur  doch  noch  schlechte  Gewohnheiten  sich  erhalten 
können,  die  so  fest  sitzen  wie  ein  chinesischer  Zopf.  So 
sind  beispielsweise  auch  die  schönsten  Pullmanwagen 
fast  immer  entsetzlich  überheizt  und  während  des  ganzen 
Winters  sind  die  Doppelfenster  hermetisch  verschlossen. 
Die  einzige  frische  I,uft,  die  hereinkommt,  ist  der  Zug, 
der  auf  der  Station  durch  das  Öffnen  der  Außentüren 
entsteht.  Bevor  du  an  deinem  Bestimmungsort  ankommst, 
nimmt  dich  der  aufwartende  Neger  in  Behandlung,  klopft 
deinen  Überzieher  aus  und  bürstet  dich  von  oben  bis 
unten  sorgfältig  ab.  Das  ist  nun  sehr  hübsch  von  ihm,  und 
du  gibst  ihm  gern  seine  20  Cent  dafür,  aber  —  die  Zurück- 
bleibenden müssen  deinen  Staub  schlucken !  Man  kann 
sich  die  Atmosphäre  am  Ende  einer  langen  Reise  vor- 
stellen !  In  der  Nacht  ist  die  Staub-  und  Hitzplage  natür- 
lich noch  viel  ärger,  weil  da  die  Türen  seltener  aufgemacht 
werden.  Ich  begreife  überhaupt  nicht,  wie  europäische 
Reisende  die  Schlafeinrichtung  der  Pullmanwagen  be- 
wundern können.  Man  liegt  nämlich  nicht,  wie  bei  uns, 
quer,  sondern  längs  in  zwei  Reihen  übereinander,  und  zwar 
ohne  Unterschied  des  Standes,  Alters  oder  Geschlechts. 
Für  die  Ruhe  soll  es  freilich  vorteilhafter  sein,  die  Stöße 
des  Wagens  in  der  Iyängslage  abzufangen,  und  die  Betten 
sind  auch  breiter  als  bei  uns;  aber  man  wird  ganz  und 
gar  hinter  dicke,  natürlich  mehr  oder  minder  staubige 
Vorhänge  versteckt,  deren  Schlitz  man,  wenn  man  glück- 

16* 


244  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

lieh  in  sein  Bett  geturnt  ist,  von  oben  bis  unten  zuknöpfen 
muß.  Ich  fühlte  mich  einmal  dem  Ersticken  nahe  und 
konnte  vor  Atemnot  kaum  noch  nach  dem  Neger  schreien. 
Als  ich  den  um  Himmels  willen  bat,  doch  wenigstens  die 
Ventilationsklappe  zu  öffnen,  erklärte  er  achselzuckend, 
es  sei  eine  Dame  mit  einem  verschnupften  Kind  im  Wagen, 
die  habe  sich  die  Ventilation  strengstens  verbeten.  Gegen 
S.  M.  ,,das  Kind"  gibt  es  keinen  Appell  in  Amerika. 
Wenn  das  Kind  verschnupft  ist  mögen  die  Großen  ersticken 
und  verrecken.  Sehr  zu  empfehlen  ist  es,  wenn  du  dir 
einen  Schlafanzug  anschaffst,  weil  sonst  mehr  Geschicklich- 
keit dazu  gehört,  das  Bedürfnis  nach  Ausgezogenheit  mit 
der  Genierlichkeit  in  Einklang  zu  bringen,  als  der  An- 
fänger zu  besitzen  pflegt.  Allerdings  befinden  sich  an  beiden 
Enden  der  riesengroßen  Wagen  sehr  geräumige  Toiletten, 
in  denen  vier  bis  sechs  Menschen  gleichzeitig  sich  aus- 
oder  ankleiden  können;  aber  wenn  man  nicht  praktisch 
im  american  style  ausgerüstet  ist,  so  weiß  man  doch  nicht, 
wohin  mit  seinen  Sachen,  und  wie  man  im  Nachtzustande 
über  eine  Dame  weg  in  seine  luftleere  Angstkammer 
kriechen  soll,  ohne  den  Anstand  zu  verletzen.  Die  Damen 
haben  das  leichter,  die  ziehen  sich  bis  auf  die  Combinations 
im  Toilettenraum  aus  und  werfen  einen  Schlafrock  drüber. 
Früher  pflegten  sie  die  Strümpfe  anzubehalten  und  ihr 
Geld  darin  zu  verwahren.  Die  schlauen  Niggers  wußten 
das  und  verstanden  mit  leichter  Hand  unter  die  Bett- 
decken zu  fahren  und  tiefschlafenden  Damen  die  Strümpfe 
zu  erleichtern.  Neuerdings  rentiert  sich  aber  dies  Geschäft 
nicht  mehr,  ebensowenig  wie  das  Ausrauben  der  Passagiere 
mit  vorgehaltenem  Schießeisen,  weil  kein  Mensch  mehr 
Geld  bei  sich  trägt  als  er  gerade  für  die  Reise  nötig  hat. 
Heutzutage  hat  jeder  Mensch  sein  Scheckbuch  bei  sich 
und  damit  kann  der  Räuber  nichts  anfangen.    (Wenn  du 


Die  Morgentoilette  des  Tätowierten.  245 

also  nach  den  Vereinigten  Staaten  kommst,  so  sei  dein 
erster  Gang  zu  einem  gut  empfohlenen  Bankhaus,  wo  du 
dein  Geld  deponierst  und  dir  ein  Scheckkonto  eröffnen 
läßt.)  Nebenbei  kannst  du  im  Pullmanwagen  lernen, 
was  amerikanische  Reinlichkeit  ist.  Ich  werde  nie  die 
umständliche  Morgentoilette  eines  herkulischen  Gentle- 
man nach  einer  Nachtfahrt  vergessen.  Der  Mann  war 
sicherlich  weder  ein  Gesandtschaftsattache,  noch  sonst 
ein  Kulturgigerl,  sondern,  seinen  reich  tätowierten  Armen 
und  Händen  nach  zu  schließen,  eher  ein  Metzger  oder 
Viehhändler.  Der  Kerl  wusch  sich  vom  Kopf  bis  zu  den 
Füßen,  rasierte  und  frisierte  sich,  putzte  Zähne,  Ohren, 
Nägel,  daß  es  wirklich  eine  Freude  war,  ihm  zuzuschauen. 
Kr  nahm  sich  eine  ganze  Stunde  Zeit  dazu  und  behandelte 
seinen  ungeschlachten  Leib  mit  der  Liebe  und  Sorgfalt 
eines  Künstlers,  der  die  letzte  Feile  an  sein  Werk  legt. 
Ich  vermute,  bei  uns  gibt  es  Durchlauchten,  die  von  der 
Akkuratesse  dieses  Viehtreibers  profitieren  könnten.  — 
Übrigens  geht  so  eine  amerikanische  Nachtfahrt  auch 
dadurch  arg  auf  die  Nerven  für  jeden,  der  kein  geborenes 
Murmeltier  ist,  daß  die  Glocken  und  Pfeifen  der  Loko- 
motiven fortgesetzt  einen  greulich  aufgeregten  Lärm 
vollführen,  bei  dem  einem  angst  und  bange  werden  kann. 
Sie  müssen  nämlich  alle  Augenblicke  Warnungssignale 
geben,  weil  es  fast  nirgends  Schranken  gibt;  Fahrstraßen 
sowohl  wie  andere  Eisenbahnlinien  kreuzen  sich  auf  freier 
Strecke  ohne  Unter-  oder  Überführung.  Da  wird  der 
nervöse  Europäer  schwer  den  Gedanken  los,  daß  ihm 
plötzlich  ein  anderer  Expreßzug  rechtwinklig  durch 
seinen  werten  Unterleib  fahren  könnte.  Nein,  alles  was 
recht  ist,  aber  Nachtfahrten  sind  nur  in  Rußland,  Schweden 
und  Norwegen  wirklich  komfortabel. 

Am    bequemsten,    sichersten    und    billigsten  reist  du 


246  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

in  den  Vereinigten  Staaten,  wenn  du  den  Vorzug  hast, 
weiblichen  Geschlechts  zu  sein.  Niemand  dürfte  es  da 
drüben  wagen,  einer  Dame  zu  nahe  zu  treten.  Jedermann 
ist  auf  einen  Wink  ihr  zu  jedem  Dienst  erbötig,  und  wenn 
sie  einen  Kavalier  bei  sich  hat,  so  ist  es  seine  verfluchte 
Pflicht  und  Schuldigkeit,  alles  für  sie  zu  zahlen.  Ich  habe 
ein  einziges  Mal  in  Amerika  einen  wilden  Wortwechsel 
erlebt,  der  in  Tätlichkeiten  auszuarten  drohte;  das  war 
in  einem  überfüllten  Straßenbahnwagen  in  New  York. 
Eine  gut  angezogene,  nette  Negerin  des  besseren  Mittel- 
standes versuchte  durch  die  dicht  gedrängt  stehenden 
Menschen  den  Ausgang  zu  gewinnen.  Da  rief  eine  Männer- 
stimme: ,,Let  the  ladys  get  out  firstt"  —  und  eine  andere 
Stimme  höhnte  dagegen:  ,,Let  the  Niggers  get  out  first." 
Und  nun  platzten  über  die  Doktorfrage,  ob  eine  Negerin 
auch  zu  den  Damen  zu  rechnen  sei,  die  Leidenschaften 
wild  aufeinander!  —  Merke  dir  auch,  mein  Freund,  daß 
du  Damen  deiner  Bekanntschaft  auf  der  Straße  nicht 
zuerst  grüßen  darfst,  das  würde  für  eine  Anmaßung  an- 
gesehen werden;  du  mußt  abwarten,  ob  sie  die  Gnade 
haben  wollen,  dich  noch  zu  kennen.  Du  darfst  auch  ein 
Weib  nicht  bewundernd  anstarren,  und  sei  es  noch  so  schön. 
Hast  du  aber  die  Bekanntschaft  einer  Dame  in  Gesell- 
schaft oder  im  Familienkreise  gemacht,  und  würdigt  sie 
dich  ihres  freundlichen  Interesses,  so  brauchst  du  dich 
auch  nicht  so  zimperlich  mit  ihr  anzustellen,  wie  bei  uns. 
Handküsse  sind  nicht  üblich,  wohl  aber  ein  ungeniertes 
festes  Anpacken.  Wird  dir  z.  B.  die  Aufgabe  zuteil,  eine 
Dame  durch  gefährliches  Straßengewühl  zu  geleiten,  so 
packst  du  sie  fest  am  Oberarm  und  schiebst  sie  wie  einen 
Karren  vor  dir  her;  das  ist  sicher  und  für  beide  Teile  an- 
genehm. Hast  du  dir  gar  Freundinnen  in  den  besseren 
Kreisen  erworben,  so  kannst  du  sie  ungeniert  zum  Theater 


Vom  Küssen  und  von  der  Höflichkeit.  247 

oder  zum  Soupieren  oder  zu  einem  Ausflug  und  dergleichen 
einladen,  ohne  eine  Mutter  oder  eine  Tante  als  Begleitung 
befürchten  zu  müssen.  Wenn  du  von  deinen  Freundinnen 
wohlgelitten  bist,  kannst  du  dir  alle  möglichen  Vertraulich- 
keiten herausnehmen,  ohne  daß  sie  selbst  oder  die  Familie 
deswegen  auf  deinen  Antrag  lauert.  Nur  mit  dem  Küssen 
sei  vorsichtig ;  denn  das  Gesetz  mancher  Staaten  betrachtet 
den  Kuß  als  Heirats  versprechen,  als  tätliche  Beleidigung 
oder  Körperverletzung  und  brummt  dir  pro  Stück  eine 
beträchtliche  Geldstrafe  auf.  Natürlich  gibt  es  aber  auch 
nette   Amerikanerinnen,   die  gern  und  gratis  küssen. 

Den  Hut  kannst  du  fast  überall  aufbehalten,  nicht  nur 
in  der  Synagoge,  sondern  auch  in  der  Iyobby  des  Hotels ;  aber 
im  Elevator  mußt  du  ihn  stramm  herunterziehen,  sobald 
eine  weibliche  Person  über  vierzehn  Jahre  hereintritt.  Im 
übrigen  wirst  du  durch  dein  teutonisches  Hutabreißen 
und  beflissenes  Vorstellen  nur  lächerlich.  Mache  es 
dir  zum  Grundsatz,  von  deinen  Mitmenschen,  solange 
sie  dir  nicht  durch  einen  Dritten  offiziell  vorgestellt  sind, 
keinerlei  Notiz  durch  höfliche  Formalitäten  zu  nehmen. 
Wenn  du  einem  Bekannten  oder  Freunde  gar  auf  der 
Straße  begegnest,  so  hast  du  es  auch  nicht  nötig,  deinen 
Deckel  herunterzureißen  und  deinen  Skalp  der  Unbill  der 
Witterung  auszusetzen,  du  winkst  mit  der  Hand  und 
rufst  lächelnd:  „Hallo,  Bobby,  how  do  you  do!",  worauf 
er  gleichfalls  winkt  und  ruft:  ,, Hallo,  Fritze,  how  do 
you  do!"  Das  ist  praktisch  und  macht  einen  guten  Bin- 
druck ;  denn  vermutlich  habt  ihr  alle  beide  keine  Zeit,  und 
ist  euch  auch  beiden  gänzlich  gleichgültig,  zu  erfahren, 
wie  es  euch  geht.  Auch  vor  Hochgestellten  brauchst  du 
keineswegs  in  Wurmgestalt  zu  kriechen;  dafür  verlangt 
man  aber  auch  von  dir,  daß  du  die  sozial  untergeordnete 
Menschheit  nicht  hochmütig  von  oben  herunter  behandelst. 


248  Baedekereien  für  Amerikafahrer. 

Der  Schatz  der  amerikanischen  Umgangssprache  ist  reich 
an  massiven  Deutlichkeiten,  und  wenn  du  dir  heraus- 
nimmst, einen  Bediensteten  anzuschnauzen,  so  kann  es 
dir  leicht  passieren,  daß  du  mit  einer  reichlichen  Blumen- 
lese aus  diesem  Wortschatz  beschenkt  wirst.  Die  Quint- 
essenz der  amerikanischen  Höflichkeit  besteht  darin, 
daß  man  sich  gegenseitig  nicht  im  Wege  ist,  daß  man 
seinem  Nebenmenschen  nicht  seine  kostbare  Zeit  stiehlt, 
dagegen  in  Verlegenheiten  sich  hilfreich  beisteht.  Ich  habe 
gesehen,  wie  blinde  und  andere  hilflose  Personen  sogar 
auf  der  Untergrundbahn  allein  fuhren.  Sie  können  eben 
sicher  sein,  immer  jemanden  zu  finden,  der  ihnen  beim 
Bin-  und  Aussteigen  behilflich  ist  und  sie  vor  Gefahr 
bewahrt.  Man  bekommt  auch  fast  immer  klare  und 
knappe  Auskunft,  wenn  man  sich  an  den  ersten  besten 
Unbekannten  wendet,  und  wenn  man  ein  sympathisches, 
vertrauenerweckendes  Äußere  hat,  läßt  sogar  ein  eiliger 
stark  beschäftigter  Großstädter  seine  Arbeit  liegen  und 
begleitet  einen  bis  an  die  nächste  Ecke.  In  den  kleinen 
Dingen  der  täglichen  Notdurft  des  Verkehrs  darf  man 
auch  ruhig  auf  die  Ehrlichkeit  seiner  Mitmenschen  ver- 
trauen; handelt  es  sich  dagegen  um  größere  Summen,  so 
reiße  deine  Augen  weit  auf  und  halte  deine  Ohren  steif 
wie  ein  Schießhund. 

Willst  du  in  Amerika  ein  Geschäft  eröffnen,  so  miete 
dir  irgendwo  im  neunten  oder  neunundzwanzigsten  Stock- 
werk ein  Zimmerchen  mit  Telephon  und  Schaukelstuhl  und 
engagiere  dir  eine  Typewriterin.  Sie  sind  fast  alle  ungemein 
gewandt  und  vielfach  auch  sehr  hübsch.  Alsdann  ziehe 
deinen  Rock  aus  —  denn  das  tut  jeder  Amerikaner,  sobald 
er  sein  Office  betritt,  sei  es  Winter  oder  Sommer  — ,  zünde 
dir  eine  Importierte  an,  verbreite  deine  Beine  anmutig 
über   Tisch   und    Stühle   und   beginne   zu   telephonieren. 


Hemdärmeligkeit.  249 


Telephonieren  und  Briefe  diktieren  füllt  die  amerikanischen 
Geschäftsstunden  von  10 — 5  Uhr  vollkommen  aus.  Da 
die  Amerikaner  meistens  gute  Geschäfte  machen,  muß  das 
Verfahren  wohl  das  richtige  sein.  Vielleicht  liegt  es  auch 
an  der  Hemdärmeligkeit.  Oberster  Grundsatz  deines 
Verhaltens  aber  sei  und  bleibe  in  allen  Lebenslagen,  so- 
lange du  drüben  weilst:  Nicht  mit  dem  Hut,  wohl  aber 
mit  dem  Scheckbuch  in  der  Hand,  kommt  man  durch 
das  ganze  Land. 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiir 


r.iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiih 

Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 


C7\as  L,and  der  absoluten  Gegenwart  ist  für  alle  Kultur- 
^  Völker  ein  Spiegel,  in  dem  sie  deutlich  ihreZukunf  t  sehen 
können.  Der  Fortschrittsgedanke  marschiert  drüben  in 
Siebenmeilenstiefeln  und  hat  eine  glatte  Bahn  vor  sich, 
während  unsere  Schrittmacher  der  Entwicklung  immer 
noch  auf  Hindernisse  stoßen,  die  die  Vergangenheit  auf- 
gerichtet hat,  Berge  von  Vorurteilen,  Abgründe  von 
Dummheit,  die  nicht  immer  leicht  zu  überklettern  oder  zu 
überspringen  sind.  Wenn  wir  aber  angesichts  der  drohenden 
Überflügelung  durch  die  Neue  Welt  in  allen  Fragen  der 
technischen  Zivilisation  daran  gehen  wollten,  unsere 
Abgründe  auszufüllen  und  unsere  Berge  abzutragen  — 
was  würden  wir  damit  gewinnen?  Eine  trostlose  Ver- 
flachung unserer  Kultur.  Ein  wirklich  gebildeter  Mensch 
mit  historisch  und  philosophisch  geschultem  Denken,  mit 
ästhetischem  Bewußtsein  und  einer  idealistischen  Welt- 
anschauung ausgerüstet,  wird,  mit  offenen  Augen  in  jenen 
Spiegel  hineinschauend,  nur  sagen  können:  Gott  bewahre 
uns  vor  dieser  Zukunft!  Er  wird  einsehen  lernen,  daß 
wir  unseren  wertvollsten  Besitz,  nämlich  unsere  geistige 
Kultur,  nicht  den  materiellen  Errungenschaften  der 
Gegenwart,  sondern  der  fernen  und  fernsten  Vergangen- 
heit verdanken,  und  daß  es  gerade  jene  Hemmungen  des 
Fortschrittstempos  gewesen  sind,  die  den  Untergrund  für 
unser  gegenwärtiges  Empfinden,  Wissen  und  Können  so 
überaus  solid  auf  gemauert  haben. 

Wir  Europäer  haben  von  Amerika  schon  mehr  gelernt, 
als  wir  wissen  und  als  uns  gut  ist.    Seit  nämlich  die  räum- 


Das  Rekordfieber.  251 


und  zeitverkürzenden  Erfindungen  sich  zu  tiberstürzen 
begannen,  also  seit  drei  Jahrzehnten  ungefähr,  ist  von 
Amerika  her  der  Rekordwahnsinn  in  die  Welt  ge- 
kommen. Fast  alle  die  großen  Erfindungen,  vermöge  deren 
wir  jetzt  Wasser,  Erde  und  Iyuft  beherrschen,  sind  in  der 
Alten  Welt  gemacht  und  hätten  unter  allen  Umständen  die 
Wirkung  gehabt,  das  allgemeine  Tempo  des  L,ebens  zu 
steigern;  in  Amerika  aber  haben  diese  Erfindungen,  der 
ungeheuren  Entfernungen  wegen,  doch  die  rascheste  und 
vielseitigste  Anwendung  gefunden  und  dadurch  auch 
stärker  als  bei  uns  auf  den  Charakter  der  Menschen  ein- 
gewirkt. Der  Ehrgeiz,  alles  Neueste  sich  zu  eigen 
zu  machen  und  auf  allen  neuen  Gebieten  das  Voll- 
kommenste zu  leisten,  fand  durch  sie  reichste  Nahrung, 
und  der  amerikanische  Snobismus,  der  ja  wenig  Gelegen- 
heit hat,  sich  auf  dem  Felde  der  Literatur  und  der 
Kunst  auszutoben,  stürzte  sich  mit  Begeisterung  auf  den 
Kultus  der  Schnelligkeit  und  machte  den  Wetteifer  im 
Rekordbrechen  zürn  vornehmsten  Sport.  Da  dieser  Sport 
sehr  teuer  und  sehr  gefährlich  ist,  so  sagt  er  dem  Ameri- 
kaner, der  ja  bessere  Nerven  besitzt  und  aufregende  Ver- 
gnügungen in  viel  größeren  Quantitäten  vertilgen  kann, 
ganz  besonders  zu.  Er  blieb  aber  mit  seinen  verrückten 
Schnellzugs-,  Automobil-,  Wasser-  und  L,uftwettfahrten 
nicht  im  eignen  L,ande,  sondern  begann  an  allen  inter- 
nationalen Wettbewerben  teilzunehmen.  Sein  Sensations- 
bedürfnis und  seine  unverbrauchte  Kraft  haben  das 
Rekordfieber  in  der  großen  Welt  gewaltig  geschürt. 
Die  enorm  gesteigerte  Schnelligkeit,  der  großartige  ge- 
schmackvolle IyUxus  der  transatlantischen  Dampfschiffe 
haben  die  Yankees  in  immer  größeren  Scharen  zu  uns 
hinübergelockt,  und  wo  immer  sie  in  größerer  Menge  auf- 
traten, zwangen  sie  durch  ihren  Reichtum  die  betreffenden 


252  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

Orte,  sich  ihren  Ansprüchen  anzubequemen.  Genau  so, 
wie  ehemals  die  Reiselust  der  Engländer  und  ihr  starres 
Festhalten  an  ihren  nationalen  Gewohnheiten,  ihre  Unlust 
und  Unfähigkeit,  Sprachen  zu  erlernen  und  sich  fremden 
Sitten  anzubequemen,  auf  die  ganze  Reise-  und  Fremden- 
industrie einen  starken  Einfluß  ausübte,  so  geschieht  dies 
jetzt  noch  in  höherem  Maße  durch  die  größere  Kapitals- 
kraft ihrer  amerikanischen  Vettern.  Während  die  ameri- 
kanischen Hotels  sich  allmählich  den  europäischen  Stil 
aneignen,  bemühen  sich  jetzt  unsere  Hotels,  sich  zu 
amerikanisieren.  Die  Engländer  kamen  früher  sehr  häufig 
auf  den  Kontinent,  um  zu  sparen,  zeigten  sich  also  hier 
geizig;  die  Amerikaner  dagegen  sind  viel  großartiger  und 
leichtsinniger,  als  Emporkömmlinge  auch  protzenhafter. 
Das  Geldausstreuen  an  sich  macht  ihnen  das  größte  Ver- 
gnügen; aber  sie  verderben  nicht  nur  die  Preise,  sondern 
auch  den  Stil  bodenständiger  Kultur,  den  guten  Ge- 
schmack, weil  sie  überall  die  Sensation,  das  Äußerste, 
das  Unerhörte  verlangen.  Da  sie  bereit  sind,  es  gut  zu 
bezahlen,  so  sucht  man  es  ihnen  zu  bieten.  Und  so  kommt 
es,  daß  auch  bei  uns  immer  mehr  das  Schönste  und  das 
Bedeutendste,  was  unsere  Natur  und  unsere  Kunst  auf- 
zuweisen haben,  sich  dem  amerikanischen  Snobismus 
anzupassen,  und  was  das  Schlimmste  ist,  zu  einem  Vor- 
recht des  Reichtums  zu  werden  beginnt.  Ich  erinnere  nur 
an  Bayreuth,  Oberammergau,  die  Münchener  Musik- 
feste, die  großen  Bilder-  und  Antiquitätenauktionen, 
die  bekanntesten  Schweizer  Sport-  und  Kurorte.  Nun 
will  sich  aber  der  europäische  Reichtum  nicht  gern  aus- 
stechen lassen.  Er  strengt  sich  darum  aufs  äußerste  an, 
es  dem  amerikanischen  gleich  zu  tun,  und  so  entsteht  ein 
gefährlicher  Wettbewerb  in  verschwenderischem  Luxus. 
Da  ferner  die  tiefste  Bildung  und  der  feinste  Geschmack 


Ansteckungsgefahr  des  Snobismus.  253 

durchaus  nicht  immer  an  den  Reichtum  geknüpft  sind, 
so  machen  sich  Dilettantismus  und  Oberflächlichkeit 
immer  mehr  breit,  und  der  Unbemittelte  findet  es  immer 
schwerer,  sein  Bedürfnis  nach  Kunst-  und  Naturgenuß 
zu  befriedigen.  Wohl  dürfen  wir  Völker  Buropas  uns 
einbilden,  daß  anspruchsvoller  Geschmack  und  tiefere 
Bildung  bei  uns  verhältnismäßig  verbreiteter  seien,  als 
in  der  Neuen  Welt ;  immerhin  sind  doch  aber  auch  bei  uns 
die  Ungebildeten  in  der  Überzahl,  und  diese  Überzahl 
wird  leicht  verführt  durch  die  glänzende  Außenseite,  die 
amerikanischer  I^uxus  auch  den  untergeordnetsten  Be- 
tätigungen seiner  Vergnügungssucht  zu  geben  vermag. 
In  den  Niederungen  der  dramatischen  Kunst,  z.  B.  in  der 
Operette,  im  Vaudeville,  im  Variete,  im  Zirkus  dringt  der 
amerikanische  Geschmack  selbst  in  Deutschland  immer 
mehr  durch.  Das  Vergnügen  an  den  Sentimentalitäten, 
Hintertreppensensationen  und  Clownspäßen  der  L,icht- 
bildtheater,  an  mechanischen  Musikwerken,  oder  gar  an 
den  scheußlichen  sechs  Tage-Rennen  der  Radfahrer,  mutet 
schon  durchaus  amerikanisch  an. 

Der  ausschlaggebende  Einfluß  des  Reichtums  in  Be- 
zirken, wo  eigentlich  nur  die  Autorität  des  Wissens  und 
des  Geschmacks  bestimmen  sollte,  bringt  das  Kultur- 
niveau in  Gefahr.  Die  stete  Aufstachelung  zu  Leistungen, 
die  alles  bisher  Dagewesene  rasch  überbieten  sollen,  hindert 
die  gesunde  Stetigkeit  der  Entwicklung  und  drängt  den 
Tüchtigen  überall  zugunsten  des  Fixen  zurück.  Als 
Vertreter  der  Neuen  Welt  lernen  wir  bei  uns  eine  glänzende 
Auslese  von  flott  und  sicher  auftretenden  geschäfts-  und 
sportgewandten  Männern  kennen,  in  Begleitung  reizender, 
eleganter,  siegessicherer  Frauen.  Das  erweckt  in  uns  die 
Meinung,  daß  diese  beneidenswerten  Neuweltler,  die  es 
in  einer  kurzen  Spanne  Zeit  augenscheinlich  so  viel  weiter 


254  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

gebracht  haben  als  wir,  doch  wohl  in  allen  Dingen  auf  dem 
richtigen  Wege  sein  müßten,  und  wir  beginnen  folglich 
uns  unserer  Langsamkeit,  unserer  bedächtigen  Gründ- 
lichkeit, Sparsamkeit  und  Bescheidenheit  zu  schämen. 
Wir  vergessen  dabei,  daß  gerade  das  Zusammenwirken 
dieser  Eigenschaften  es  ist,  was  uns  heute  immer  noch 
über  die  glänzende  Scheinkultur  der  Neuen  Welt  ein 
beträchtliches  Übergewicht  gibt.  Wenn  wir  uns  auf  den 
atemlosen  Wettbewerb  mit  dem  Riesenkontinent  über 
dem  Ozean  einlassen,  so  werden  wir  sicher  den  Kürzeren 
ziehen.  Die  Quellen  unseres  nationalen  Wohlstandes  sind 
nicht  so  unerschöpflich  wie  die  drüben,  und  wenn  unsere 
Industrie,  unsere  Kunst,  unser  Handwerk  ihr  Haupt- 
streben darauf  richten  wollten,  das  unerprobte  Neue, 
das  Unfertige  also,  nur  möglichst  schnell  an  die  Stelle 
des  Alten  zu  setzen,  um  anderen  Rändern  zuvor  zu  kommen, 
so  würden  unsere  Erzeugnisse  auf  dem  Weltmarkt  bald 
nicht  mehr  die  wichtige  Rolle  spielen  wie  heute.  Der 
Grund,  weshalb  die  Vereinigten  Staaten  trotz  ihrer 
kolossalen  industriellen  Entwicklung  immer  noch  so  viele 
Dinge  von  uns  zu  beziehen  genötigt  sind,  liegt  haupt- 
sächlich darin,  daß  drüben  jenes  Erbinventar  von  Talent, 
Geschicklichkeit  und  Geschmack,  durch  Handwerksstolz 
und  Berufstreue  von  Generation  zu  Generation  bewahrt 
und  verstärkt,  kaum  vorhanden  ist.  Alle  diese  wertvollen 
Vorzüge  würden  uns  aber  verloren  gehen,  wenn  wir  uns 
von  dem  amerikanischen  Snobismus  noch  weiter  an- 
stecken ließen. 

Ich  habe  schon  bei  der  Schilderung  des  ameri- 
kanischen Zeitungswesens  darauf  hingewiesen,  daß  auch 
unsere  Presse  hie  und  da  bereits  recht  bedenkliche  Anläufe 
gemacht  hat,  es  in  skrupelloser  Fixigkeit,  wüster  Sensa- 
tionsgier und  Nachgiebigkeit  gegen  die  schlechten  Instinkte 


Volkstümliche  Bildungsbestrebungen.  255 

der  minderwertigsten  Leserschaft  sogar  der  gelben  Presse 
gleichzutun.  Auch  bei  uns  beweist  die  Erfahrung, 
daß  auf  dem  Gebiete  des  geistigen  Schaffens  die 
Schleuderware,  wenn  sie  nur  recht  billig  und  einem 
ordinären  Geschmack  entsprechend  aufgeputzt  ist,  durch 
den  Massenabsatz  erheblich  mehr  einbringt,  als  das  gute, 
aber  teurere  Erzeugnis.  Die  Massenproduktion  von 
Zeitungen,  welche  nicht  zusammengeschrieben,  "sondern 
einfach  zusammengeklebt,  d.'h.  gestohlen  werden,  beweist 
dies  ebenso  wie  der  Massenabsatz  von  billiger  und  viel- 
fach recht  minderwertiger  Reiselektüre.  Wir  haben  uns 
neuerdings  in  Deutschland  erfreulicherweise  dazu  auf- 
gerafft, gegen  diese  Verflachung  der  Bildung,  gegen  diese 
Herabwürdigung  zumal  der  literarischen  Arbeit  zum 
bloßen  Zeitvertreib  dadurch  anzukämpfen,  daß  wir  überall, 
bis  in  die  kleinsten  Nester  hinein,  eine  überaus  lebhafte 
Vereinstätigkeit  entwickelt  haben,  deren  Ziel  es  ist,  jeder- 
mann aus  dem  Volke  für  ganz  billiges  Geld  wertvolle 
Anregung,  Belehrung  und  gute  künstlerische  Unterhaltung 
zu  bieten,  indem  man  hervorragende  Fachgelehrte  und 
Künstler  zu  Vorträgen  gewinnt.  Außerdem  blühen  überall 
die  Volksbibliotheken  in  erfreulicher  Weise  auf,  und 
wirklich  wertvolle  gemeinnützige  Unternehmungen,  wie 
Reclams  Universalbibliothek,  stehen  schon  nicht  mehr 
vereinzelt  da.  Durch  all  diese  Unternehmungen  wird  der 
Drang  nach  Belehrung,  nach  künstlerischer  Erbauung 
auch  in  weite  Schichten  unseres  Volkes  getragen,  für  die 
früher  die  Quellen  des  Wissens  und  der  Schönheit  uner- 
reichbar waren.  Auch  auf  diesem  Gebiete  sind  wir  natur- 
gemäß erheblich  weiter  als  das  Volk  in  den  Vereinigten 
Staaten,  obwohl  auch  dort,  namentlich  durch  Gründung 
von  musterhaft  eingerichteten  öffentlichen  Bibliotheken 
und   Museen,    durch   die    University    Extension    und    Ge- 


256  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

winnung  von  tüchtigen  Wanderrednern  neuerdings  sehr 
viel  in  dieser  Richtung  getan  wird.  Es  ist  also  wahr- 
scheinlich, daß  uns  in  nicht  allzu  ferner  Zeit  Amerika 
auch  auf  diesem  Gebiete  eingeholt  haben  wird.  Wollen 
wir  uns  nicht  überflügeln  lassen,  so  wird  der  Richtspruch 
unserer  Volksbildner  ebenso  wie  der  unserer  Fabrikanten 
heißen  müssen:  Qualität,  nicht  Quantität;  nicht  vom  Neuen 
das  Neuste,  sondern  vom  Guten  das  Beste;  nicht  das 
Auffallendste,  sondern  das  Originalste,  das  Persönlichste, 
das  Deutscheste  bieten/' 

Wir  haben  es  ja  so  viel  leichter,  persönlich,  original, 
volkstümlich  zu  sein,  denn  wir  sind  ein  Volk,  als  Rasse 
zwar  auch  gemischt,  aber  in  dieser  Mischung  doch  schon 
seit  Jahrtausenden  konsolidiert.  Was  das  alte  Kuropa 
für  den  feinsinnigen  Betrachter  so  unerschöpflich  inter- 
essant macht,  das  ist  die  unendliche  Abwechslung  und 
Differenzierung  im  Charakter  seiner  Völker.  Wie  die 
Mundart  schon  in  verhältnismäßig  kleinen  Bezirken 
wechselt,  um  innerhalb  eines  Gebietes,  das  kaum  so  groß 
ist  wie  der  eine  Unionsstaat  Texas,  so  verschiedene  Ge- 
bilde, wie  etwa  das  Plattdeutsche  und  das  Oberbayrische  zu 
erzeugen,  so  wechselt  auch  von  Gau  zu  Gau  der  Charakter 
der  Bewohner  und  die  Art,  wie  sich  dieser  Charakter  in 
der  Bauart,  den  Sitten  und  Gebräuchen  widerspiegelt. 
Eine  nordamerikanische  Rasse  gibt  es  aber  vorläufig 
noch  lange  nicht,  und  die  Behauptung  vereinzelter  ameri- 
kanischer Gelehrten,  daß  die  Menschheit  drüben  sich 
deutlich  dem  Indianertypus  zu  nähern  beginne,  dürfte 
wohl  als  ein  wunderliches  Hirngespinst  zu  betrachten 
sein.  Die  Menschen,  die  sich  in  der  Neuen  Welt  zusammen- 
gefunden haben,  werden  wohl  noch  auf  unabsehbare  Zeit 
hinaus  Engländer,  Iren,  Schotten,  Deutsche,  Italiener, 
Russen,  Juden,  Neger  usw.  usw.  bleiben.   Ebenso  deutlich 


Zähigkeit  der  Rassen.  257 


wie  z.  B.  die  Neger  in  den  Vereinigten  Staaten  noch  nach 
ein-  bis  zweihundert  Jahre  langem  Aufenthalt  alle  Schat- 
tierungen der  Farbe  vom  Milchkaffee  bis  zur  Schuhwichse 
aufweisen  und  dadurch  immer  noch  deutlich  den  afrika- 
nischen Landstrich  verraten,  dem  ihre  Vorväter  ent- 
stammten, so  wird  man  auch  den  Nachkommen  der  weißen 
Einwanderer  noch  auf  Jahrhunderte  hinaus  ihr  ursprüng- 
liches Vaterland  ansehen,  vorausgesetzt,  daß  sie  nicht 
durch  fortwährende  Mischehen  absichtlich  darauf  aus- 
gehen, ihre  Rassenmerkmale  zu  verwischen.  Es  sind  nur 
die  neuen  Lebensbedingungen  und  allenfalls  die  klima- 
tischen Verhältnisse,  welche  drüben  innerhalb  der  ver- 
schiedenen Rassen  einen  eigenartigen  neuen  Typus  er- 
zeugen. Wenn  ein  Deutscher  ein  oder  zwei  Jahrzehnte 
lang  in  Argentinien  oder  in  Südwestafrika  Farmer  ge- 
wesen ist,  so  vermag  er  sich  auch  in  seinem  Wesen  und  in 
seinem  äußeren  Gebaren  so  stark  zu  verändern,  daß  seine 
Familienangehörigen,  wenn  sie  ihn  nach  so  langer  Zeit 
wiedersehen,  aus  dem  Verwundern  nicht  herauskommen. 
Aber  er  ist  doch  nur  ein  anderer  Typus  von  einem  Deutschen 
und  beileibe  kein  Buschmann  oder  Pampas-Indianer 
geworden !  In  den  Vereinigten  Staaten  ist  überdies  noch 
die  Möglichkeit,  sich  den  Ureinwohnern  zu  assimilieren, 
dadurch  ausgeschlossen,  daß  diese  Ureinwohner  bis  auf 
klägliche  Überreste  vernichtet  sind.  Der  Deutsche  kann 
drüben  dem  Engländer,  der  Jude  dem  Japaner,  der  Neger 
dem  Italiener  dies  und  jenes  abgucken  oder  unwillkürlich 
in  fremde  Anschauungen  sich  hineinfühlen,  fremde  Ge- 
bräuche übernehmen,  aber  aus  seiner  Haut  kann  er  des- 
wegen noch  lange  nicht  hinaus.  Es  wohnt  also  drüben  ein 
Völkermischmasch  ohne  eigne  Sprache  und  ohne  eine 
gemeinsame  Tradition,  der  eben  erst  angefangen  hat,  aus 
den  neuen  Lebensbedingungen  heraus  gemeinsame  Kultur- 

v.  Wolzogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  17 


258  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

ideale  zu  suchen.  Von  einem  amerikanischen  Volke  wird 
man  erst  sprechen  können,  wenn  die  ungeheuren  Iyänder- 
gebiete  drüben  so  gleichmäßig  bis  zur  Sättigung  bevölkert 
sind,  daß  die  Regierung  auf  die  Aufnahme  weiterer 
Einwanderer  dankend  verzichten  kann.  Aber  auch  bei 
verschlossenen  Türen  wird  der  Prozeß  der  Durchrührung 
des  so  verschiedenartigen  Geblütes  viele  Jahrhunderte 
in  Anspruch  nehmen.  Vielleicht  wird  es  im  Jahre  3000 
eine  nordamerikanische  Rasse  geben  —  denkbar  aber 
auch,  daß  bei  der  sich  immer  steigernden  Leichtigkeit  des 
internationalen  Verkehrs  und  der  Interessenassimilation 
der  großen  Kulturwelt  überhaupt  eine  Rassenbildung 
nicht  mehr  möglich  ist,  und  die  ganze  Änderung  darin 
bestehen  wird,  daß  die  alten  Rassen  ihre  charakteristischen 
Eigenschaften  verlieren  und  höchstens  noch,  als  pikante 
Erinnerung  an  die  einstige  schöne  Verschiedenartigkeit, 
P'arbennuancen  übrig  bleiben.  Sollte  dieser  Zustand  in 
ein-  bis  zweitausend  Jahren  wirklich  schon  eingetreten 
sein,  dann  könnte  man  davon  sprechen,  daß  Amerika  uns 
verschlungen  habe,  insofern  als  das  Wesen  des  heutigen 
Amerikas  bereits  allerlei  Wirkungen  jener  Rassen  zer- 
störenden Tendenz  bemerken  läßt.  Die  Gewissensfrage 
ist  für  jeden  einzelnen:  soll  ich  dazu  beitragen,  die  Ent- 
wicklung zum  rassenlosen  Weltbürgertum  zu  beschleunigen, 
oder  soll  ich  mich  mit  all  meinen  Kräften  dagegen  sträuben  ? 
Wenn  man  aus  den  Vereinigten  Staaten  nach  Europa 
zurückkehrt,  so  nimmt  zunächst  das  Auge  mit  wonnigem 
Behagen  den  Eindruck  der  Ordnung,  der  Fertigkeit,  der 
stilsicheren  Harmonie  zwischen  Natur  und  Menschen- 
werk in  sich  auf.  Sei  es  eine  englische  Hügellandschaft 
mit  ihrem  üppigen  Wiesengrün  und  ihren  anmutigen 
Heckenzäunen,  sei  es  ein  französischer  alter  Herrensitz 
mit    wundervollem    Schloß,    umgebet]    von    Weinbergen, 


Heimat.  259 


Blumen  und  Obstgärten,  sei  es  selbst  nur  eine  arme  deutsche 
Flachlandsehaft  mit  ihren  peinlich  nach  der  Schnur  be- 
stellten Feldern,  ihrem  trauten  Dörflein,  so  behaglich  im 
Schatten  alter  Baumgruppen  versteckt,  sei  es  eine  moderne 
Großstadt  mit  imposanten  geraden  Straßenfluchten,  voll 
prunkender  öffentlicher  Gebäude,  oder  sei  es  endlich  gar 
eine  uralte,  winklige,  hochgieblige,  vieltürmige  Klein- 
stadt, noch  durch  alte  Ringmauern  und  Wachttürmchen 
gegen  einen  längst  nicht  mehr  existierenden  Feind  ge- 
schützt. Alles  das  sind  Dinge,  die  wir  jenseits  des  Ozeans 
schmerzlich  vermißt  haben  und  die  man  uns  auch  drüben 
nicht  nachahmen  kann.  Das  ist  Tradition  einer  alten 
Kultur,  das  sind  Instinktleistungen  einer  tief  verankerten 
Disziplin,  ästhetische  Werte,  die  nicht  nur  die  Sinne  des 
anspruchsvollen  höheren  Menschen  erfreuen,  sondern  auch 
ethisch  überaus  fruchtbar  sind,  weil  in  allen  diesen  Dingen 
die  besten  Kräfte  der  Rasse  äußerlich  sichtbar  werden. 
Diese  ethisch  ästhetischen  Werte  sind  es,  die  den  Begriff 
der  Heimat  schaffen,  und  nur  innerhalb  solcher  Heimat 
gibt  es  ein  wirkliches  I,ebensglück.  Wer  gedankenlos  nur 
der  Gegenwart  lebt,  der  kann  leicht  dazu  kommen,  die 
Heimat  zu  unterschätzen,  weil  er  meint,  daß  das  Glück  da 
wohnen  müßte,  wo  die  Mittel  zu  einem  üppigeren  Dasein 
leichter  zu  erreichen  sind,  und  wo  es  weniger  schwer  als 
daheim  sei,  in  weiteren  Bezirken  eine  erheblichere  Rolle 
zu  spielen.  Für  solche  I^eute  ist  es  wohl  angebracht,  nach 
Amerika  zu  gehen;  denn  durch  den  Vergleich  mit  dem 
trostlosen  Einerlei  der  Menschheit  und  der  Menschen- 
werke da  drüben  werden  sie  erst  den  Wert  der  Heimat 
schätzen  lernen  —  es  sei  denn,  daß  sie  zu  den  blinden 
Seelen  gehören,  welche  im  rein  materiellen  Genuß  ihr 
Genügen  finden.  Die  Amerikaner,  deren  geistige  An- 
sprüche eine  vertiefte  Bildung  gesteigert  hat,  kommen  ja 

17* 


260  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

jetzt  mit  ihrem  großen  Hunger  nach  echter  Kultur  zu  uns 
nach  Kuropa,  um  bei  uns  zu  lernen,  wie  man  zu  jener 
herz-  und  sinnerfreuenden  Stilharmonie  gelangen  könne, 
die  ihre  vorläufig  noch  fast  ausschließlich  technische 
Kultur  ihnen  nicht  zu  bieten  vermag.  Sie  bekommen  alle 
eine  ehrliche  Hochachtung  vor  unserer  Wissenschaft, 
vor  unserer  Kunst,  vor  der  Solidität  unseres  Handels  und 
unserer  Industrie,  vor  der  Geschicklichkeit  unserer  Hand- 
werker, vor  der  wohldisziplinierten  Ordnung  unserer 
Ivebensverhältnisse ;  viele  von  ihnen  bringen  auch  als 
Reisegewinn  eine  liebenswürdig  verschämte  heimliche 
Iyiebe  zu  unserer  Romantik  mit  heim  —  nachahmen  aber 
können  sie  auch  beim  besten  Willen  diese  unsere  Vorzüge 
schwerlich,  und  es  bleibt  ihnen  weiter  nichts  übrig,  als  in 
Geduld  abzuwarten,  bis  sie  selbst  ein  einheitliches  Volk 
mit  eigner  Tradition  geworden  sind. 

Umgekehrt  sendet  Buropa  jahraus,  jahrein  eine  gar 
buntscheckige  Gesellschaft  von  L,ebensstudenten  in  die 
Neue  Welt  hinüber:  alle  die  überzähligen  Esser  kinder- 
reicher Familien,  unzufriedene,  verärgerte,  aufsässige 
und  abenteuerliche  Naturen,  verkrachte  Existenzen,  Durch- 
brenner aus  allen  Ständen,  und  diese  schwierige  Gesell- 
schaft lernt  tatsächlich  da  drüben  mehr,  als  sie  irgendwo  in 
der  Alten  WTelt  lernen  könnte.  Der  entschlußunfähige 
Dummkopf,  der  gewohnt  ist,  darauf  zu  warten,  bis  eine 
liebevolle  Obrigkeit  ihn  dahin  stupft,  wo  man  seine  Muskeln 
gebrauchen  kann,  der  langsame,  ängstliche  Philister,  der 
faule  Träumer,  der  vornehme  Müßiggänger,  der  hoch- 
mütige Geld-  oder  Wissensprotz  —  sie  alle  werden  zu- 
nächst einmal  durch  die  gröblichen  Fauststöße  der  harten 
Not  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  Parole  in  der 
Neuen  Welt  laute:  Augen  auf!  nicht  abwarten,  sondern 
zugreifen!    Nicht  genieren!    Wer  essen  will,  muß  arbeiten, 


Arbeit  und  persönliche  Würde.  261 

und  der  persönlichen  Würde  tut  es  keinen  Eintrag,  ob  du 
von  Kartoffeln  oder  von  Filetbeefsteaks  satt  wirst.  Wer 
weder  ein  Betriebskapital  mitbringt,  um  sofort  ein  selb- 
ständiges Geschäft  anzufangen,  noch  ein  Handwerk,  eine 
Kunst,  eine  Wissenschaft  so  praktisch  zu  verwerten  weiß, 
daß  er  in  seinem  Fach  ohne  weiteres  Unterkunft  und 
Nahrung  findet,  der  muß  sich  eben  ohne  Zögern  auf  dem 
großen  Arbeitsmarkt  für  jede  beliebige  Tätigkeit  zur 
Verfügung  stellen,  die  bezahlt  wird.  Ich  habe  drüben 
Trambahnschaffner  getroffen,  die  erst  wenige  Wochen 
im  L,ande  waren  und  bei  uns  maturiert  hatten, 
adlige  Offiziere  in  Mengen  als  Kellner,  Reitknechte, 
Kutscher  und  Chauffeure.  Hat  jemand  kaufmännische 
Veranlagung,  so  bringt  er  es  unschwer  dazu,  Agent  für 
irgendeine  Warenspezialität  zu  werden;  zeigt  er  sich 
hierin  gewandt,  so  ist  der  Schritt  zum  selbständigen  Ge- 
schäftsmann nicht  mehr  schwer.  Das  Gute  bei  dieser 
Härte  ist,  daß  sich  der  Amerikaner  durch  Anmaßung, 
hinter  der  keine  offensichtliche  Kraft  steckt,  nicht  impo- 
nieren läßt.  Der  Yankee  macht  sich  freilich  oft  lächerlich 
durch  sein  übereifriges  Herandrängen  an  unsere  Höfe, 
an  unseren  Adel,  und  der  echte  Republikaner  drüben  ist 
mit  Recht  empört  über  das  Bestreben  seiner  Empor- 
kömmlinge, die  schwere  Mitgift  der  Töchter  gegen  euro- 
päische Titel  und  Stammbäume  einzutauschen;  aber  man 
merkt  bei  näherem  Zusehen  doch  bald,  daß  es  nicht  der 
Titel  an  sich  ist,  welcher  diese  faszinierende  Wirkung  übt, 
sondern  vielmehr  die  mit  altem  Adel  verbundene  vor- 
nehme Sicherheit  des  Auftretens,  die  unnachahmliche 
Grandseigneur-Manier.  Wo  diese  fehlt,  wie  bei  den  meisten 
drüben  ihr  Brot  suchenden,  heruntergekommenen  Adligen, 
da  versagt  der  Zauber  völlig.  Eine  Persönlichkeit,  die  sich 
nicht  kraft  ihrer  ungewöhnlichen  geistigen  oder  physischen 


262  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

Begabung  durchzusetzen  versteht,  muß  unerbittlich  in 
die  Hackmaschine  hinein  und  geht  in  der  großen  Gleich- 
heitswurst auf.  Aber  auch  mit  philiströser  Bedenklichkeit 
kennt  das  amerikanische  lieben  kein  Erbarmen.  Wer  in 
der  kecken  Fixigkeit  des  Gebens  den  Atem  verliert,  der 
kommt  elend  am  Wege  um.  Will  einer  das  rasende  Gefährt 
des  Fortschritts  unterwegs  verlassen,  so  muß  er  schon 
sehr  geschickt  in  der  Fahrtrichtung  abzuspringen  ver- 
stehen —  nach  rückwärts  aussteigen  heißt  unter  die  Räder 
kommen. 

Eine  der  besten  Seiten  der  Demokratie  ist  es  aber, 
daß  sie  selbst  dem  Verbrecher  nicht  den  Rückweg 
zum  anständigen  lieben  verlegt.  Das  Vertrauen  auf  die 
eigne  Kraft  ist  eben  so  stark  entwickelt,  daß  man  sich  vor 
den  Schädlingen  der  Gesellschaft  nicht  so  überängstlich 
fürchtet  wie  bei  uns.  Denn  wer  etwa  im  wilden  Westen 
sich  seinen  Wohlstand  geschaffen  hat,  der  mußte  ja  immer 
gegen  Räuber,  Indianer  oder  Gauner  in  den  eignen  Reihen 
auf  dem  qui-vive  stehen,  und  die  Erfahrung  hat  ihn  gelehrt, 
daß  ein  einziger  beherzter  Mann  mit  einem  Dutzend  feigen 
Gesindels  fertig  werden  kann.  Er  hat  aber  auch  an  zahl- 
reichen Beispielen  gesehen,  wie  ausgemachte  Iyumpen 
durch  den  Zwang  der  Arbeit  und  schließlich  durch  den 
Erfolg  doch  noch  zu  brauchbaren  Menschen  gemacht 
wurden.  Das  Resultat  dieser  Erfahrungen  ist,  daß  man 
sich  des  Verbrechers  zwar  sehr  energisch  erwehrt,  ihm 
jedoch  immer  wieder  Gelegenheit  gibt,  ein  besseres  lieben 
anzufangen,  und  wenn  er  dann  etwas  Ordentliches  er- 
reicht, hält  man  ihm  seine  Vergangenheit  nicht  wieder 
vor.  Das  ist  ein  großer,  edel  menschlicher  Zug,  dem  viele 
durch  falsche  Erziehung  und  angeborene  Charakter- 
schwäche zu  Verbrechern  gewordene  Menschen  ihre  Ret- 
tung verdanken.    Auch  die  amerikanischen  Richter  sind 


Juristen  und  Menschenkenner.  263 

glücklicherweise  bessere  Menschen-  als  Gesetzeskenner. 
Wir  sind  sehr  geneigt,  den  manchmal  grotesken  Humor 
ihrer  salomonischen  Urteile  zu  verspotten,  aber  es  ist 
sicher,  daß  diese  lustigen  Entscheidungen  nicht  halb  so 
viel  Unheil  stiften  und  Erbitterung  zurücklassen,  als  oft 
die  Paragraphentreue  unserer  sattelfesten  Juristen.  Selbst 
der  barbarische  Richter  I^ynch  hat  sich  wohl  noch  nie  an 
einem  Unschuldigen  vergriffen,  und  die  Abschreckungs- 
theorie handhabt  er  jedenfalls  mit  praktischem  Erfolg. 
Der  Verstand  von  Haus  aus  gescheiter  Menschen,  den 
lediglich  das  Lieben  selbst  mit  seinen  Erfahrungen  in  die 
I^ehre  genommen  hat,  ist,  wenn  er  wirklich  gesund  ge- 
blieben ist,  sicher  ein  besserer  Urteilsfinder  als  alle 
Schmökerweisheit  des  weltfremden  Ofenhockers.  Und  unter 
der  gesegneten  Herrschaft  des  Kgl.  Großbritannischen 
common  sense  haben  sich  ja  alle  besten  Charaktereigen- 
schaften der  Neuweltler  so  erfreulich  entwickelt.  Wir 
alten  Europäer  werden  ihnen  freilich  diese  Charakter- 
eigenschaften nicht  ohne  weiteres  ablernen  können,  denn 
ihr  Optimismus,  ihre  prahlerische,  aber  tatkräftige  Zuver- 
sichtlichkeit, ihr  mutiger  Leichtsinn  sind  eben  Tugenden 
der  Jugend,  und  andere  Vorzüge,  wie  besonders  ihre 
schöne  Neidlosigkeit,  sind  durch  die  Gewöhnung  an  Ver- 
hältnisse bedingt,  die  wir  alten  Völker  ebensowenig  nach- 
ahmen können  wie  die  Jugend. 

Es  gibt  sogar  rein  geistige  Gebiete,  auf  denen  wir  von 
den  Yankees  noch  etwas  lernen  können,  nämlich  das 
Kirchen-  und  das  Schulwesen.  Wir  werden  ein  rück- 
ständiges Volk  heißen  müssen,  so  lange  wir  nicht  die 
Trennung  von  Staat  und  Kirche  durchgeführt  haben  und 
so  lange  es  noch  möglich  ist,  daß  ein  Deutscher  seines 
religiösen  Bekenntnisses  wegen  gesellschaftlich  verfemt 
und  um  sein  Brot  gebracht  werden  kann.  Wir  marschieren 


264  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

nicht  an  der  Spitze  der  Zivilisation,  so  lange  bei  uns  ein 
Vater,  der  seine  Kinder  nicht  dem  Christentum  ausliefern 
will,  durch  Polizeistrafen  und  sonstige  behördliche  Schikanen 
drangsaliert  werden  kann,  und  so  lange  ein  staatlich  an- 
erkanntes religiöses  Bekenntnis  vorschriftsmäßige  Be- 
dingung zur  Erlangung  öffentlicher  Ämter  und  Ehren- 
stellen ist.  In  dem  I^ande  der  absoluten  Glaubensfreiheit 
ist  das  religiöse  lieben,  trotz  mancher  blamabeln  Aus- 
wüchse, viel  reicher  entwickelt  als  bei  uns,  und  die  starke 
religiöse  Persönlichkeit,  der  agitatorisches  Talent  ver- 
liehen ist,  kann  eine  Macht  über  die  Seelen  gewinnen,  um 
die  sie  unsere  Generalsuperintendenten  und  sogar  unsere 
Erzbischöfe  ehrlich  beneiden  dürften.  Über  das,  was 
wir  auf  dem  Gebiete  des  Schulwesens  von  den  Yankees 
lernen  könnten,  habe  ich  an  anderer  Stelle  mich  ver- 
breitet. Ein  Volk,  das  Jugend  in  sich  selber  hat,  versteht 
auch  naturgemäß  mit  der  Jugend  besser  umzugehen. 
Übrigens  machen  die  Yankees  ja  andauernd  praktische 
Proben  auf  Exempel,  die  unsere  fortschrittlichen  Theore- 
tiker schon  längst  aufgestellt  haben,  fernen  wir  also  an 
ihren  Erfolgen  und  Mißerfolgen. 

Es  gibt  auch  sonst  noch  Gebiete,  auf  denen  die  prak- 
tischen Erfolge  des  großen  Staatenbundes  uns  als  Vorbild 
dienen  können:  dahin  rechne  ich  in  allererster  Iyinie  die 
politische  Macht,  welche  die  Yankeerasse  entwickelt  hat. 
Die  Yankees,  also  die  Nachkommen  der  Einwanderer 
aus  den  britischen  Inseln,  sind  heute  der  Zahl  nach  den 
Nachkommen  der  deutschen  Einwanderer  nur  noch  um 
etwa  zwei  Millionen  voraus  und  dennoch  haben  sie  es  ver- 
standen, ihrer  Rasse  die  politische  Vorherrschaft  dauernd 
zu  erhalten.  Die  Yankees  allein  haben  nicht  nur  kolo- 
nisatorisches, sondern  auch  staatenbildendes  Geschick 
bewiesen,  während  die  Deutschen  nicht  einmal  die  von 


Die  deutschen  Kolonisatoren.  265 

ihnen  gegründeten  Gemeinwesen  dauernd  in  der  Hand 
zu  behalten  wußten.  Die  Deutschen  haben  die  Staaten 
Pennsylvanien,  Illinois,  Wisconsin,  Michigan,  Missouri 
ihrer  Zeit  förmlich  überflutet.  Germantown,  Milwaukee 
und  einige  andere  waren  einmal  ganz  deutsche  Städte. 
Cincinnati,  Cleveland,  Chicago,  St.  Louis  und  zahlreiche 
andere  Großstädte  zeigten  vorübergehend  ein  Übergewicht 
an  deutschen  Einwohnern,  und  dennoch  haben  sie  sich 
überall  das  Heft  aus  der  Hand  winden  lassen.  Wohl  gibt 
es  noch  hie  und  da  einen  deutschen  Bürgermeister,  aber 
er  versteht  kein  Deutsch  mehr  und  verdankt  seine  Stellung 
den  politischen  Bossen  und  nicht  dem  einmütigen  Willen 
seiner  Rassegenossen.  Die  Deutschen  haben  doch  wahrlich 
nicht  nur  ihren  Ausschuß  über  den  Ozean  geschickt,  die 
große  Mehrheit  bildeten  vielmehr  tüchtige  bäuerliche  und 
handwerkliche  Kräfte,  und  im  Jahre  1848  gingen  sogar  zahl- 
reiche unserer  besten  Intelligenzen  hinüber,  die  den  Beruf 
zu  geistigen  Führern  ihrer  Stammesgenossen  in  sich  trugen. 
Woher  kommt  es  denn  nun,  daß  trotzdem  diese  18  y2  Mil- 
lionen Menschen  es  zu  keiner  politischen  Selbständigkeit 
bringen  konnten  ?  Die  Zahl  j  ener  geborenen  Führer,  die  sich 
am  Ende  der  40  er  Jahre  im  Mississippi tal  niederließen, 
und  die  man  spottweise  die  lateinischen  Bauern 
nannte,  mag  allerdings  wohl  der  erdrückenden  Überzahl 
der  ungebildeten,  politisch  gleichgültigen  Iyandsleute  gegen- 
über zu  gering  gewesen  sein  —  auch  war  der  Vorsprung, 
den  die  britischen  Eroberer  vor  ihnen  voraus  hatten, 
nicht  ohne  weiteres  einzuholen;  das  Schlimmste  aber 
war,  daß  alle  diese  Deutschen  ein  stolzes  Nationalgefühl 
überhaupt  nicht  besaßen,  und  daß  sie  ihren  Partikula- 
rismus, ihre  subalterne  Denkungsart,  ihr  Spießbürgertum 
mit  hinüberbrachten.  Diese  Deutschen  gaben  zwar  sehr 
tüchtige  Bauern,  Handwerker  und  Kleinbürger  ab,  zeigten 


266  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

sich  aber  den  besonderen  Anforderungen  des  amerika- 
nischen Gebens  nur  selten  gewachsen.  Viele  von  ihnen 
waren  nicht  einmal  fähig,  sich  die  englische  Sprache  völlig 
anzueignen,  obwohl  sie  ihre  Muttersprache  verlernten. 
In  Kriegszeiten  übrigens  haben  auch  diese  Deutschen 
Großartiges  geleistet,  wie  denn  ja  auch  die  von  ihren 
edlen  Fürsten  verkauften  Württenberger,  Hessen  usw. 
sich  in  Kriegen,  die  sie  nicht  das  Mindeste  angingen,  wie 
die  Iyöwen  geschlagen  haben.  Im  Sezessions-  wie  im 
Bürgerkrieg  verdanken  amerikanische  Truppen  deutschen 
Heerführern  einige  ihrer  glänzendsten  Siege  —  und  dennoch 
waren  und  blieben  diese  Deutschen  nur  ein  gern  geduldetes 
und  gehörig  ausgenutztes  Gastvolk  innerhalb  der  riesigen 
britischen  Kolonie.  Die  herrschende  Rasse  dachte  selbst- 
verständlich nicht  daran,  diese  bequemen  Biedermänner 
in  ihre  großen  Ehrenstellen  der  Staats-  und  Gemeinde- 
verwaltung hinein  zu  komplimentieren,  da  sie  selber  durch- 
aus keinen  politischen  Ehrgeiz  entwickelten.  Es  hätten 
den  deutschen  Einwanderern  damals  zwei  Wege  offen 
gestanden:  entweder  sie  mußten  resolut  ihr  Deutschtum 
über  Bord  werfen  und  mit  Haut  und  Haaren  Amerikaner 
werden,  oder  aber  sie  mußten  fest  zusammenstehen,  sich 
alle  in  einer  bestimmten,  von  ihnen  zuerst  besetzten 
Gegend  niederlassen,  einen  deutschen  Staat  im  Staate 
gründen  und  diesen  mit  rücksichtslosem  Chauvinismus 
gegen  das  Anglo-Amerikanertum  und  den  Zustrom  anderer 
Rassen  abschließen.  Die  meisten  Deutschen  haben  aber 
keines  von  beidem  getan,  sie  haben  sich  über  das  ganze 
weite  Iyand  zerstreut  und  sich  dann  in  unzähligen  Vereinen 
wiedergefunden,  die  sich  gegenseitig  nicht  selten  aus 
engeren  landsmannschaftlichen  oder  aus  gesellschaftlichen 
Eitelkeitsgründen  aufs  gehässigste  bekämpfen.  Aber  auch 
der  starke  Zustrom  aus  dem  geeinigten  Deutschland  der 


Unsere  mangelhafte  politische  Befähigung.  267 

70  er  und  ersten  80  er  Jahre  hat  keine  wesentliche  Ände- 
rung in  diesen  Verhältnissen  gebracht.  Diese  neuen  Reichs- 
deutschen hätten  doch  alle  Ursache  gehabt,  ihren  frischen 
Nationalstolz  der  herrschenden  Yankeerasse  entgegen- 
zustellen, aber  auch  unter  ihnen  war  der  politische  Ehr- 
geiz eine  seltene  Pflanze.  Wenn  sie  in  Ruhe  ihren  Wohl- 
stand begründen  durften,  waren  sie  zufrieden,  und  selbst 
diejenigen,  die  durch  ihre  Tüchtigkeit  und  durch  ihren 
Besitz  zu  hohem  Ansehen  gelangten,  dachten  nicht  daran, 
sich  in  das  Parteigetriebe  zu  stürzen  —  die  meisten  wohl 
aus  moralischem  Reinlichkeitsbedürfnis,  viele  auch  aus 
reiner  Bequemlichkeit.  Man  muß  also  doch  wohl  sagen, 
daß  ihnen,  einige  ganz  wenige  glänzende  Ausnahmen,  wie 
Karl  Schurz,  abgerechnet,  Temperament  und  Talent  für 
die  Politik  fehlten.  Die  Deutschen  der  heidnischen  Vor- 
zeit haben  kolonisatorisches  Talent  und  Staatsklugheit 
im  hohen  Maße  besessen  und  verdankten  dieser  Eigen- 
schaft die  glänzende  Rolle,  die  sie  während  der  Völker- 
wanderung und  noch  während  der  Staufferzeit  in  der 
Weltgeschichte  spielten.  Der  jahrhundertelange  Jammer 
der  Kleinstaaterei  und  Pfaffenherrschaft  haben  aber  jene 
ursprünglichen  Veranlagungen  vollständig  erstickt.  Hin- 
gegen kamen  die  ersten  englischen  Besiedler  der  neuen 
Welt  aus  einem  I^ande,  in  welchem  die  parlamentarische 
Verfassung  bereits  Zeit  gehabt  hatte,  die  ganze  Nation, 
bis  in  die  untersten  Schichten  hinein,  politisch  zu  erziehen. 
Zudem  waren  es  neben  den  religiösen  auch  zumeist 
politische  Ursachen,  welche  die  L,eute  zum  Auswandern 
veranlaßten,  und  sie  alle,  mochten  sie  Royalisten  oder 
puritanische  Revolutionäre  sein,  brachten  den  Stolz  mit 
hinüber,  Bürger  einer  Weltmacht  zu  sein,  deren  Flagge 
siegreich  und  gefürchtet  in  allen  Meeren  der  Erde  wehte. 
Diese  Auswanderer  hatten  also  alle  Ursache,  sich  als  ein 


268  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

Herrenvolk  zu  fühlen,  sie  waren  sich  aber  auch  der  vor- 
nehmsten Pflicht  bewußt,  welches  dieses  Herrentum  ihnen 
auferlegte  —  der  Pflicht  nämlich,  ihr  Blut  rein  zu  halten. 
Im  Gegensatz  zu  den  romanischen  Eroberern  Südamerikas 
und  Mexikos,  die  nichts  Eiligeres  zu  tun  hatten,  als  mit 
den  eingeborenen  Weibern  eine  recht  bedenkliche  Misch- 
rasse zu  erzeugen,  existierte  für  die  Anglo- Amerikaner  des 
Nordens  das  rote  Weib  überhaupt  nicht;  und  selbst  gegen 
Mischehen  mit  den  besten  europäischen  Einwanderern 
richtete  das  Rassenvorurteil  einen  starken  Damm  auf. 
Das  ist  das  ganze  Geheimnis  der  imposanten  Macht- 
entwicklung der  keltogermanischen  Rasse  in  Nordamerika 
und  das  ist  auch  das  Gebiet,  auf  dem  wir  heute  noch  bei 
den  Briten  diesseits  und  jenseits  des  Ozeans  in  die  L,ehre 
gehen  müssen.  Das  Wort  Chauvinismus  hat  einen  garstigen 
Klang  für  unsere  kosmopolitischen  Doktrinäre,  unsere 
edlen  Friedensschwärmer  und  liberalen  Idealisten,  es  ist 
aber  schließlich  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  Kraft- 
bewußtsein. Denn  bei  allen  wirklich  starken  Rassen  und 
Nationen  ist  der  Republikaner  so  gut  wie  der  Monarchist, 
der  liberale  so  gut  wie  der  Reaktionär  Chauvin. 

Die  Deutschen,  die  nach  1870  eingewandert  sind,  vielfach 
auch  noch  deren  Kinder,  besitzen  nun  allerdings  jenen 
schönen  Nationalstolz,  von  dem  die  vorigen  Generationen 
noch  nichts  wußten.  Sie  lesen  noch  die  deutschen  Zeitungen 
und  freuen  sich  der  Berichte  über  die  großartige  Ent- 
wicklung des  deutschen  Handels,  der  deutschen  Industrie, 
das  Aufblühen  seiner  Weltmachtstellung  zur  See.  Auch 
wenn  sie  die  Zeitungen  nicht  läsen,  würden  sie  von  diesem 
Aufschwung  einen  starken  Hauch  verspüren,,  denn  sie 
können  kaum  in  irgendeinen  I^aden  gehen,  ohne  auf  die 
schmeichelhafte  Inschrift :  „Made  in  Germ  an  y"  zu  stoßen, 
und  die  gewaltigen  Schiffe  der  großen  Reedereien,  allen 


Neuerwachter  Nationalstolz  der  Deutschen.  269 

voran  Hapag  und  Lloyd,  die  sogar  die  englischen  Meer- 
giganten an  solider,  geschmackvoller  Pracht  und  Zuver- 
lässigkeit in  jeder  Beziehung  tibertreffen,  haben  für  die 
Hebung  des  deutschen  Ansehens  über  dem  Ozean  mehr 
getan,  als  selbst  die  himmelhohen  Berge  bedruckten 
Papieres,  auf  denen  der  deutsche  Geist  in  diesen  letzten 
vier  Jahrzehnten  des  gesegneten  Friedens  sich  für  die 
Ewigkeit  zu  manifestieren  trachtete.  Die  Person  des 
deutschen  Kaisers,  als  Symbol  dieser  friedlichen  Welt- 
eroberung durch  deutsches  Wissen  und  deutsches  Können, 
genießt  bei  den  Deutschamerikanern  eine  fast  uneinge- 
geschränkte  Verehrung,  und  auch  das  Vereinsleben  hat 
durch  diesen  neuerwachten  Vaterlandsstolz  neue  Trieb- 
kraft bekommen.  In  New  York,  Brooklyn,  Chicago, 
Indianapolis,  Milwaukee  und  einigen  anderen  Städten 
erheben  sich  schöne  deutsche  Vereinshäuser,  in  denen 
nicht  nur  gekegelt  und  Skat  gedroschen,  sondern  auch 
mit  ernstem  Eifer  deutsche  Musik  und  überhaupt  deutscher 
Kulturbesitz  gepflegt  wird.  In  Cleveland  haben  die 
Deutschen  in  einem  schönen  öffentlichen  Park  eine  Kopie 
des  Weimarschen  Schiller- Goethe-Denkmals  errichtet,  in 
Buffalo  bemühen  sie  sich  mit  rührender  Leidenschaft 
um  denselben  Zweck,  und  selbst  im  fernen  Westen,  in 
Kalifornien  und  Kansas  ist  dieser  fromme  Eifer  rastlos 
am  Werk.  Der  Zusammenhang  mit  dem  literarischen 
Leben  des  Vaterlandes  ist  freilich  nur  lose,  denn  es  ist 
begreiflich,  daß  die  Bestrebungen  einer  ausschließlich  auf 
ästhetische  Kultur  gerichteten  intellektuellen  Oberschicht 
in  dem  neuen  Lande,  wo  die  Sorge  um  Begründung  und 
Aufrechterhaltung  des  materiellen  Wohlstandes  alle  Kräfte 
noch  fast  ausschließlich  in  Anspruch  nimmt,  wenig  Ver- 
ständnis finden  können.  In  dieser  Beziehung  sind  es  noch 
Großväterideale,     welche     die     versprengten     Landsleute 


270  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

drüben  pflegen  und  es  ist  charakteristisch,  daß  die  wenigen 
leidenschaftlichen  Bekenner  zum  modernen  Deutschtum 
in  Kunst  und  Literatur  vorwiegend  eingewanderte  deutsche 
Juden  sind. 

Ks  hat  sich  also  nachträglich  doch  noch  so  etwas 
wie  ein  deutscher  Chauvinismus  entwickelt  —  leider, 
leider  kommt  er  jetzt  um  mehr  als  ein  halbes  Jahr- 
hundert zu  spät,  denn  die  Neue  Welt  ist  fortgegeben !  Es 
hieße  unseren  deutschen  L,andsleuten  einen  schlechten 
Dienst  erweisen,  wenn  man  sie  jetzt  noch  zur  Sonder- 
bündelei mit  prahlerischem  Maulaufreißen  von  uns  aus 
aufstacheln  wollte;  das  wäre  töricht  und  geschmacklos. 
Wie  würden  wir  es  wohl  aufnehmen,  wenn  die  vielen 
Slawen  oder  Juden,  die  bei  uns  zu  Gaste  sind,  uns  fort- 
während ihre  Nationalität  und  Rasse  unter  die  Nase 
reiben,  Fahnen  schwenken,  uns  ihre  nationalen  Gesänge 
in  die  Ohren  schmettern  und  darauf  bestehen  wollten, 
unsere  Sprache  nicht  zu  lernen?  Wir  würden  uns  ihrer 
mit  Fug  und  Recht  irgendwie  zu  entledigen  trachten. 
Auch  die  Yankees,  die  tatsächlichen  Herren  der  Neuen 
Welt,  haben  ein  gutes  Recht,  zu  verlangen,  daß  die  Ein- 
wanderer aufhörten,  Fremdlinge  zu  sein,  indem  sie  sich 
bemühen,  wenigstens  nach  Sprache  und  Sitte  in  der 
Wirtsrasse  aufzugehen.  Pflicht  des  Deutschtums  ist  es 
unter  diesen  Verhältnissen,  sich  stolz  bewußt  zu  bleiben, 
daß  sie  die  Erben  einer  tieferen  und  feineren  geistigen 
Kultur  als  die  ihrer  Wirte,  und  daß  sie  dazu  berufen  sind, 
den  Blütenstaub  dieser  geistigen  Kultur,  den  sie,  rauh- 
haarigen Insekten  gleich,  aus  der  alten  Heimat  mit  hinüber 
nehmen,  in  die  Seelen  der  neuen  I^andsleute-  befruchtend 
abzustreifen.  Deutsche  Denkungsart,  deutschen  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Sinn,  deutsche  Treue, 
deutsches   Gemüt  in  der  neuen  Heimat  zum  ausschlag- 


Heiligste  Pflicht  des  Deutschtums.  271 

gebenden  Kulturfaktor  zu  machen,  das  muß  ihnen  als 
heilige  Pflicht  bewußt  bleiben.  Auf  diese  Weise  lassen  sich 
immer  noch  Siege  gegen  und,  was  noch  wichtiger  ist,  auch 
mit  dem  Yankeetum  erringen.  Die  stolze,  erfolgtrunkene 
Yankeerasse  mit  deutschem  Geiste  zu  durchtränken  und 
so  zu  unseren  innerlichst  Verbündeten  zu  machen,  das 
wäre  ein  Erfolg,  wertvoller  als  selbst  neue  glänzende 
Waffentaten.  Inzwischen  dürfen  sich  aber  die  Deutschen 
der  Vereinigten  Staaten  auch  nicht  für  zu  gut  dünken, 
von  den  Yankees  zu  lernen,  und  ebenso  wir  Deutschen 
im  alten  Vaterlande,  die  wir  solche  Belehrung  noch  nötiger 
haben.  Es  ist  nämlich  leider  nicht  zu  leugnen,  daß  wir 
trotz  des  großen  Aufschwungs  seit  1870/71  es  immer  noch 
nicht  dazu  gebracht  haben,  als  Nation  so  respektiert  zu 
werden,  wie  wir  es  unseren  Leistungen  entsprechend 
wohl  verdienten.  Wenn  die  Diplomaten  anderer  Völker 
irgendeine  bedeutungsvolle  Neugestaltung  der  Dinge  unter 
sich  ausgemacht  haben  und  jemand  unter  ihnen  die  Frage 
aufwirft:  „Ja,  was  wird  aber  Deutschland  dazu  sagen,  wird 
es  sich  das  gefallen  lassen?"  so  wird  ihm  mit  lächelndem 
Achselzucken  die  Antwort:  ,,Ach,  die  Deutschen !  Die  sind 
ja  so  anständig,  friedliebend  und  zuvorkommend,  die 
kriegen  wir  schon  herum."  Es  ist  eben  in  der  Politik  eine 
zweifelhafte  Tugend,  sich  aus  Höflichkeit  die  Butter  vom 
Brot  nehmen  zu  lassen.  Also  lernen  wir  Alten  fleißig  bei 
den  Jungen  die  Fehler  der  Jugend  —  in  der  Politik  werden 
viele  davon  zu  Tugenden,  vornehmlich  die  goldene  Rück- 
sichtslosigkeit. 

Man  wird  einwenden,  daß  jene  nachahmenswerten 
amerikanischen  Tugenden  nicht  nur  in  der  Jugend  des 
Volkes,  sondern  mehr  noch  in  den  freien  Entwicklungs- 
möglichkeiten einer  großen  demokratischen  Republik 
begründet  seien.    Ich  für  meine  Person  kann  jedoch  nicht 


272  Was  können  wir  von  Amerika  lernen? 

glauben,  daß  die  Staatsform  wirklich  diese  ausschlag- 
gebende Rolle  spiele.  Die  aufmerksame  Beobachtung 
hat  mich  gelehrt,  daß  die  demokratische  Theorie  drüben, 
wie  überall,  an  der  aristokratischen  Veranlagung  der 
Menschennatur  scheitert;  ich  habe  zahlreiche  Beispiele 
dafür  beibringen  können.  Der  innerlich  freie  Mensch 
kann  unter  jeder  Staatsform  frei  bleiben,  und  was  uns  in 
Deutschland  speziell  noch  an  unseren  Regierungssystemen 
geniert,  sind  alles  Dinge,  die  sich  bei  gutem  Willen  ab- 
stellen lassen.  Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  daß  die 
Propheten,  die  uns  als  nächstes  Ziel  unserer  politischen 
Entwicklung  die  Vereinigten  Staaten  von  Europa  ver- 
heißen, recht  behalten  werden.  Aber  alsdann  werden  die 
gesunden,  stolzen  Rassen  immer  noch  ein  völkisches 
Sonderdasein  führen  und  auch  ihre  Kaiser  und  Könige 
ebenso  pietätvoll  konservieren  können,  wie  ihre  Eigenart 
auf  allen  geistigen  Gebieten.  Wenn  aber  diese  Vereinigten 
Staaten  von  Europa  ein  vernünftiges,  zukunftsicheres 
Gebilde  werden  sollten,  dann  werden  sie  es  den  Unehren 
mit  zu  verdanken  haben,  die  ihnen  das  I^and  der  absoluten 
Gegenwart  als  untrüglicher  Spiegel  der  Zukunft  gegeben 
hat. 


"""■' ' """ ■■■■■■■ llilHI 


riiiiiiiiin 


2)as  Kirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel. 


Unter  all  den  sonderbaren  und  gewaltigen  Menschen- 
werken der  Neuen  Welt  mag  wohl  keines  so  sehr  den 
Europäer  staunen  machen,  wie  der  Expreßelevator  eines 
Wolkenkratzers,  der  erst  am  elften  Stockwerk  hält.  Woh- 
nungen für  kochende,  Kinder  aufziehende  Menschen 
pflegen  sich  in  diesen  riesigen  Steinkasten  nicht  zu  be- 
finden, sondern  ausschließlich  Geschäftsräume  für  die 
Welt  des  Handels  und  der  Industrie,  Kanzleien  für  Rechts- 
anwälte, für  Konsulate,  für  alle  erdenkbaren  Vermittler 
eines  die  ganze  Welt  beherrschenden  Austausches  von 
Waren  und  Werten  aller  Art.  Das  Herz  Amerikas  schlägt 
in  den  kleinen,  einfachen  Holzhäuschen  der  Vorstädte 
und  ländlichen  Bezirke;  aber  das  Hirn  Amerikas  arbeitet 
fieberhaft  in  diesen  gigantischen  Türmen  und  liefert 
zwischen  8  Uhr  früh  bis  6  Uhr  abends  die  Hochdruck- 
spannung für  den  Betrieb  der  Dollarmaschine.  Hunderte 
von  Telephonleitungen  vereinigen  sich  auf  den  Dächern, 
die  unablässig  von  diesen  eifrigsten  Drahtsprechern  der 
Welt  in  Anspruch  genommen  werden;"  im  Erdgeschoß 
unterhält  eine  der  Telegraphen-  und  Kabelkompanien 
ein  Zweigamt  und  befördert  unzählige  Telegramme  über 
den  ganzen  Kontinent,  wie  nach  allen  bewohnten  Gegenden 
der  Erde,  und  der  gebändigte  Blitz  trägt  Botschaften 
voll  Hoffnung  und  Verzweiflung,  voll  wilder  Gier  und 
wildem  Mut  in  alle  Welt  hinaus.  Millionen  strömen  herein, 
Millionen  strömen  hinaus.  Hier  pendelt  den  ganzen  Tag 
die  große  Wage,  auf  der  die  Gedanken  erfindungsreicher 
Köpfe  mit  Gold  aufgewogen  werden ;  hier  saust  geräuschlos 
der    schwere    Schicksalshammer    nieder,    der    mit    einem 

v.  Wol zogen,  Der  Dichter  in  Dollarica.  18 


274  Das  Hirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel. 

Schlage  Existenzen  vernichtet;  hier  schwirren  die  Web- 
stühle, an  denen  die  schimmernden  Netze  für  den  Gimpel- 
fang fabriziert  werden;  mit  dem  Lokalaufzug  klettert 
der  fleißige,  unentwegte  Streber  langsam  von  Stockwerk 
zu  Stockwerk  hinauf,  und  mit  dem  Expreßaufzug,  der 
erst  am  elften  Stockwerk  hält,  schwingt  sich  das  Genie  über 
die  Köpfe  der  armen  Durchschnittsmenschheit  in  atem- 
benehmendem Tempo  empor. 

In  diesem  Tempo  offenbart  sich  die  Energie  der  jungen 
Rasse,  und  dieser  Expreßelevator  ist  das  bezeichnendste 
Symbol  der  Kultur  dieser  Neuen  Welt.  Nie  und  nirgends 
zuvor  hat  die  Menschheit  so  tolle  Luftschlösser  gebaut, 
wie  in  diesen  Wolkenkratzern  des  amerikanischen  Nordens. 
Ein  gigantisches  Eisengerippe  schießt  starr  und  nackt 
aus  dem  Boden  hervor,  und  der  Ausbau  wird  hoch  droben 
mit  dem  Dach  angefangen.  Von  oben  herunter  beginnt 
man  alsdann  die  Wände  von  Zementguß  zwischen  den 
Rippen  zu  spannen,  also  gewissermaßen  flüssigen  Stein 
vom  Dach  herunter  zu  gießen,  bis  er  endlich  den  Boden 
erreicht  und  nun  mit  Quadern  im  Grundstock  verblendet 
wird,  schwer  und  gewaltig,  wie  für  die  Ewigkeit  bestimmt. 
Wir  Menschen  der  Alten  Welt  aber  haben  zuerst  in  den 
Höhlen  gewohnt,  die  die  Natur  uns  zum  Unterschlupf 
darbot;  dann  haben  wir  gelernt,  uns  in  die  Erde  zu  wühlen. 
Stein  um  Stein,  Balken  um  Balken  haben  wir  herbei- 
geschleppt und  langsam  aneinander  gefügt,  und  Jahr- 
tausende, ja  Hunderttausende  selbst  haben  wir  gebraucht, 
um  den  stolzen,  sicheren  Bau  unserer  Kultur  bis  in  jene 
Höhen  hinaufzuführen,  wo  die  Stickluft  schwitzender 
Mühsal  nicht  mehr  lastet,  wo  der  frische  Wind  der  Freiheit 
weht  und  der  Blick  sich  weitet  in  die  lichte  Ferne.  Die 
kühnen  Abenteurer  dagegen,  die  die  Neue  Welt  besiedelten, 
brachten  die  eisernen  Träger  für  den  Aufbau  ihrer  Kultur 


Kampfloser  Fortschritt.  275 


gleich  fertig  mit.  Es  waren  schwindelfreie  Menschen,  die 
zuerst  das  große  Wagnis  unternahmen;  denn  ängstliche, 
bedächtig  am  Alten  klebende  Ofenhocker  und  Duckmäuser 
gingen  ja  überhaupt  nicht  über  das  große  Wasser.  Die 
Eroberer  brauchten  das  Pulver  nicht  zu  erfinden;  der 
Knall  ihrer  Büchsen,  der  Donner  ihrer  Kanonen  war  ihr 
erster  Gruß  an  die  technisch  hilflosen  Besitzer  des  neuen 
Landes.  Und  als  die  weiße  Besiedlung  in  großem  Stile 
einsetzte,  da  war  die  Zivilisation  des  17.  Jahrhunderts 
das  A,  und  die  Aufgabe,  sich  weiter  hinauf  zu  buchstabieren 
im  Alphabet,  verursachte  keineswegs  mehr  einen  Riesen- 
verbrauch von  Gehirnarbeit.  Jedes  Schiff  brachte  einen 
neuen  Gedanken  von  der  Alten  Welt  herüber,  und  diese 
neuen  Gedanken  brauchten  sich  nicht  in  hartem  Kampfe 
erst  langsam  durchzusetzen  gegen  den  widerstrebenden 
Willen  der  Alten  —  denn  es  gab  keine  Alten  in  diesem 
Lande,  in  dem  Jugend  und  Kraft  allein  regierten.  Da 
brachte  einer  die  Idee  der  Dampfmaschine  herüber,  und 
alsbald  erkannte  man,  daß  die  Riesengröße  des  Landes 
all  ihre  Schrecknisse  verlieren  und  die  zahlreichen  Quellen 
unerschöpflichen  Reichtums  überhaupt  erst  nutzbar  ge- 
macht werden  würden,  wenn  der  rasche  Dampfwagen 
spielend  die  Entfernungen  überwand.  1825  ne^  die  erste 
Eisenbahn  in  England,  1829  gelangte  die  erste  Lokomotive 
nach  den  Vereinigten  Staaten  und  wurde  alsbald  zwischen 
Boston  und  Worcester  in  Betrieb  gesetzt.  Im  Jahre  1840 
waren  schon  2818  englische  Meilen  Eisenbahn  ausgebaut, 
und  im  Jahre  1869  wurde  die  Pacificlinie  vollendet,  die 
den  Atlantischen  mit  dem  Stillen  Ozean  verbindet!  Man 
wartete  drüben  nicht,  wie  bei  uns,  ab,  bis  reich  bevölkerte 
Gegenden  und  große  Städte  die  Mittel  zu  neuen  Bahn- 
bauten aufbrachten,  sondern  man  legte  resolut  die  Schienen- 
stränge  durch  jungfräuliches   Land,   durch   Wüsten   und 


276  Das  Hirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel. 

Einöden  und  veranlaßte  dadurch,  daß  jene  Gegenden 
besiedelt  wurden,  Städte  und  Industrien  über  Nacht  aus 
dem  Boden  wuchsen.  Kleinliche  Bedenklichkeiten  kannte 
man  nicht.  In  jenen  Gegenden  hielt  man  sich  mit  dem 
Anlegen  fester,  kostspieliger  Bahndämme  nicht  lange  auf, 
sondern  rammte  die  Schwellen  so  gut  oder  so  schlecht  es 
gehen  wollte  in  den  Boden  ein  und  ließ  die  schweren  Loko- 
motiven darauf  los  rasen;  auf  ein  paar  Menschenleben 
mehr  oder  weniger  kam  es  dabei  nicht  an.  Was  ist  an 
denen  gelegen,  wenn  nur  die  Überlebenden  den  winkenden 
Dollar  glücklich  erhaschen! 

Und  wie  mit  den  Bisenbahnen,  so  ging  es  mit  allen 
anderen  technischen  Errungenschaften  des  europäischen 
Geistes.  Begierig  wurden  sie  drüben  aufgegriffen  und, 
sobald  ihre  praktische  Verwendbarkeit  feststand,  im 
Nu  über  das  ganze  L,and  verbreitet  und  in  ihrer 
Leistungsfähigkeit  durch  Verbesserungen  bis  an  die 
Grenze  der  Möglichkeit  gesteigert.  Und  genau  so  wie 
mit  den  Resultaten  der  technischen,  verfuhr  man  auch 
mit  denen  der  geistigen  Kultur:  man  importierte  alle 
wichtigen  Axiome  der  Wissenschaft  gleichzeitig  mit 
den  neusten,  kühnsten  Hypothesen  und  flößte  sie  den 
lernbegierigen  jungen  Köpfen  ein.  Von  den  sieben  freien 
Künsten  ließ  man  sich  reichhaltige  Mustersendungen 
kommen  und  erwarb  zum  Schmucke  des  eignen  L,ebens 
was  irgend  dem  unreifen  Geschmacke  eines  noch  nicht 
zu  beschaulicher  Ruhe  gelangten  Volkes  zusagte.  Man 
hatte  auch  nicht  nötig,  aus  dunkler  Angst  und  Er- 
lösungssehnsucht langsam  eine  nationale  Religion  empor 
wachsen  zu  lassen,  sondern  man  ließ  sich  die  Religionen 
schockweise  aus  den  alten  Rändern  kommen  und  von 
einheimischen  Köchen  für  die  amerikanischen  Seelen 
lecker  zubereiten.     So  besaß  man  auf  einmal  Religion  und 


Unbegrenzte  Möglichkeiten.  277 

Kunst,  Wissenschaft  und  Technik  zugleich,  und  alles 
dieses  in  einem  auf  der  Höhe  des  Tages  befindlichen  nagel- 
neuen Zustande.  Es  galt  für  dieses  absolute  Gegenwarts- 
volk niemals,  alte  Kleider  aufzutragen,  mit  alten  Vorräten 
zu  räumen,  alte  Mauern  niederzulegen,  alte  Münzen 
einzuschmelzen.  Und  weil  jeder  Anfang  für  die  Leute 
dieser  Neuen  Welt  ein  Weiterbauen  auf  etwas  bedeutete, 
das  die  Alte  Welt  bereits  als  ein  Vollendetes  geliefert  hatte, 
so  mußte  sich  in  den  Köpfen  dieser  Neuweltleute  die 
Überzeugung  festsetzen,  daß  es  für  ihre  Entwicklung 
keine  Schranken  gäbe.  Der  Himmel  hängt  diesen  Leuten 
voll  unbegrenzter  Möglichkeiten.  Weil  sie  es  niemals 
nötig  hatten,  auf  dunkeln  Wendeltreppen  mit  schmerzenden 
Knien  in  die  Höhe  zu  klimmen,  wie  wir,  so  deucht  es  ihnen 
die  natürlichste  Sache  von  der  Welt,  ihre  zwanzig,  dreißig 
Stockwerke  per  Expreß  mit  höchstens  zwei  bis  drei  Sta- 
tionen hinauf  zu  flitzen.  Und  da  droben,  im  Genuße  der 
schönen  Aussicht  und  der  frischen  Luft,  fühlen  sie  sich 
so  pudelwohl,  daß  sie  es  gar  nicht  merken,  wie  sie  in  der 
Luft  hängen.  Es  muß  schon  ein  gewaltiges  Erdbeben 
kommen,  um  ihnen  begreiflich  zu  machen,  daß  in  ihrer 
Höhe  der  Ausschlagswinkel  der  Pendelschwingung  etwas 
ungemütlich  zu  werden  beginnt  und  daß  man  unten 
zum  mindesten  sicherer  wohnt.  Aus  eben  dem  Grunde 
aber  vermögen  kultivierte  Menschen  der  Alten  Welt  in 
jenen  stolzen  Luftschlössern  niemals  heimisch  zu  werden. 
Sie  finden  es  fußkalt  darin,  weil  die  unteren  Stockwerke 
unbewohnt  sind  und  alle  Winde  frei  durch  das  leere  Eisen- 
gerippe streichen.  Wir  wurzeln  eben  mit  unserer  ganzen 
Seele  in  der  Vergangenheit.  In  den  schweren  Kämpfen 
einer  langen,  langsamen  Entwicklung  sind  unsere  Kräfte 
gewachsen;  an  den  Steinen,  die  uns  in  den  Weg  geworfen 
wurden,  haben  wir  die  Waffen  unseres  Geistes  geschärft; 


278  Das  Hirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel. 

unseren  Göttern  haben  wir  Wohnungen  gebaut  aus  den 
aufgetürmten  Leichnamen  unserer  Märtyrer;  den  holden 
Rausch  unseres  Frühlings  haben  wir  uns  verdient  in  eis- 
kalten Winterstürmen,  aus  Schutt  und  Brand  die  Ideale 
unserer  Schönheit  gerettet  —  aller  Stolz  auf  unsere  Gegen- 
wart, all  unsere  Sehnsucht  in  die  Zukunft  sind  arm  und 
klein,  an  der  heiligen  Iyiebe  zu  unserer  Vergangenheit 
gemessen.  Bin  Mensch  der  Alten  Welt,  der 
keine  Romantik  im  I,  e  i  b  e  hat,  ist  eine  Miß- 
geburt. Und  wenn  die  Kinder  der  absoluten  Gegen- 
wart zu  uns  herüberkommen,  so  wandeln  sie  wie  in 
einem  Museum  einher :  alles,  was  für  uns  lauter  lebendige 
Quellen  ewiger  Werte  bedeutet,  sind  für  sie  ausgestopfte 
Kuriositäten,  patinierte  Schildereien,  bleiche  Spiritus- 
konserven —  sie  gehen  staunend  oder  lächelnd  vor- 
bei und  fragen  hie  und  da:   ,, Wieviel  kostet  das?" 

O  ja,  wir  sind  auch  Gegenwartsmenschen,  sogar 
wir  ehemals  so  verträumten  Deutschen!  Wir  ruhen 
keineswegs  auf  unseren  Lorbeeren  aus,  wir  stellen  immer 
noch  unsere  Welteroberer  so  gut  wie  zur  Zeit  der  Völker- 
wanderung. Diese  neuen  deutschen  Menschen  sind  aber 
die  sonderbarsten  Realisten,  die  die  Welt  je  gesehen  hat. 
Wohl  sind  sie  modern  im  besten  Sinne  und  innerlich  doch 
noch  ganz  und  gar  angefüllt  von  den  ererbten  Eigen- 
schaften ihrer  ritterlichen  oder  spießbürgerlichen  Vor- 
fahren. Ihr  Blut  sträubt  sich  dagegen,  reine  kalte  Ge- 
schäftsmenschen zu  werden ;  sie  ringen  mit  ihrer  rührenden 
Gemütlichkeit,  ihrer  korrekten  Bravheit  und  wohl  auch 
mit  einer  streberhaften  Enge  der  Empfindung,  und  ihrem 
mannhaften  Ringen  blüht  der  Erfolg,  weil  sie  sich  der 
Arbeit  und  der  Disziplin  verschrieben  haben.  Dies  neue 
Geschlecht  der  deutschen  Realisten  bildet  heute  noch 
einen  Staat  im  Staate,   eine  Freimaurerorganisation  mit 


Der  Übermensch  von  Wallstreet.  279 

ungeschriebenen  Gesetzen.  Aber  es  ist  sicherlich  berufen, 
den  Staat  von  Grund  aus  umzuwandeln,  das  Ferment  der 
neuen  deutschen  Gesellschaft  zu  bilden  —  jener  große, 
der  offiziellen  Welt  meist  fernstehende  Komplex  von 
Ingenieuren,  Technikern,  Kaufleuten,  exakten  Forschern, 
voraussetzungslosen  Denkern  und  rücksichtslosen  Künst- 
lern, der  heute  schon  die  eigentliche  Triebkraft  zu  allen 
tüchtigen  deutschen  Taten  hergibt.  Übermenschen  sind 
sie  darum  noch  lange  nicht,  diese  neuen  Deutschen,  aber 
doch  bereits  wieder  ein  prächtiges  Herrenvolk,  unter  dem 
die  Ahnherrn  des  Übermenschen  schon  jetzt  im  Fleische 
wandeln  dürften. 

Drüben  glauben  sie,  wie  es  scheinen  möchte,  den  Über- 
menschen bereits  zu  besitzen,  und  zwar  in  der  Person  des 
Spielers  großen  Stiles,  des  Millionen  aus  der  L,uft  greifenden 
und  auf  eine  Karte  setzenden  kalten  Geschäftsmannes. 
Hören  wir  ein  Stückchen  Yankeephilosophie  aus  dem 
Munde  eines  ihrer  besten  Schriftsteller,  Jacklyondon*): 
,,Zu  Zehntausenden  und  zu  Hunderttausenden  sitzen 
Menschen  die  Nächte  durch  und  planen,  wie  sie  zwischen 
die  Arbeiter  und  deren  Erzeugnisse  sich  hineinquetschen 
können;  das  sind  die  Geschäftsleute.  Die  Kleinen  von 
ihnen,  Krämer  und  dergleichen,  greifen  sich  aus  dem 
Erzeugnis  des  Arbeiters  irgend  etwas  heraus,  woran  sie 
verdienen  können;  aber  die  großen  Geschäftsleute  be- 
nutzen diese  kleinen  Geschäftsleute,  um  die  Werterzeuger 
für  ihre  Zwecke  herzurichten.  Den  ganz  großen  I^euten 
aber  liegt  nichts  daran,  den  einzelnen  Arbeiter  auszu- 
bluten, ihm  seinen  Profit  wegzuschnappen,  sondern  sie 
suchen  sich  zwischen  die  Hunderte  und  Tausende  von 
Arbeitern  und  ihre  Erzeugnisse  hineinzuschieben.     Diese 


*)  Aus  dem  Roman  »Burning  Daylight»,  S.  159  ff. 


280  Das  Hirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel. 

Art  von  Glückspiel  nennt  man  ,die  hohe  Finanz'.  Ur- 
sprünglich bestand  das  Geschäft  nur  darin,  den  Arbeiter 
auszuplündern;  dann  aber  taten  sich  die  großen  Räuber 
zusammen  und  jagten  einander  die  aufgehäufte  Beute 
ab.  Unter  den  Übermenschen  der  Geschäfts-  und  Finanz- 
welt gibt  es,  mit  einigen  seltenen  mythischen  Ausnahmen, 
kein  noblesse  oblige.  Diese  modernen  Übermenschen 
sind  eine  Gesellschaft  von  Banditen,  welche  die  erfolg- 
reiche Frechheit  besitzen,  ihren  Opfern  Gebote  von  Recht 
und  Unrecht  zu  predigen,  an  die  sie  sich  selber  nicht 
kehren.  Bei  ihnen  heißt  es,  eines  Mannes  Wort  soll  gelten, 
so  lange  als  er  gezwungen  ist,  es  zu  halten.  Du  sollst 
nicht  stehlen,  ist  ein  Gebot,  das  nur  den  ehrlichen  Arbeiter 
angeht;  sie  selber  stehlen  selbstverständlich  und  werden 
von  ihresgleichen  der  Größe  ihrer  Beute  entsprechend 
geschätzt.  Obwohl  jeder  Räuber  stets  auf  der  L,auer 
liegt,  um  jeden  anderen  Räuber  zu  berauben,  so  ist  doch 
die  ganze  Bande  wohl  organisiert.  Sie  hat  tatsächlich 
die  Kontrolle  über  den  politischen  Mechanismus  der 
Gesellschaft.  Sie  bringt  Gesetze  durch,  die  ihr  das  Privileg 
zum  Rauben  geben,  und  sie  verschafft  diesen  Gesetzen 
Achtung  durch  die  Polizeiorgane,  die  Gerichte  und  die 
Armee.  Des  Übermenschen  Hauptgefahr  liegt  in  seinem 
Mitübermenschen,  nicht  etwa  in  der  dummen  großen 
Masse  des  Volkes  —  die  kann  man  durch  den  lächer- 
lichsten Bluff  zum  Narren  halten  —  die  zählt  nicht  mit. 
Die  hohe  Finanz  ist  nur  ein  Pokerspiel  auf  höherer  Basis, 
aber  man  kann  sehr  wohl  die  Betrügereien  und  Vor- 
täuschungen dabei  durchschauen,  ohne  sich  sittlich  darüber 
zu  entrüsten.  Es  ist  eben  die  Ordnung  der  Natur,  daß  die 
gigantische  Nichtigkeit  alles  menschlichen  Strebens  von 
den  Banditen  organisiert  und  ausgenutzt  wird.  Auch 
zivilisierte  Menschen  berauben  einander,  weil  sie  eben  so 


Spitzbüberei  als  guter  Sport.  281 

geschaffen  sind.  Sie  rauben,  wie  die  Katze  kratzt,  der 
Frost  beißt  und  der  Hunger  kneift.  Der  große  Finanzier 
lernt  sein  Geschäft  bald  sportmäßig  betreiben.  Arbeiter 
und  kleine  I^eute  beschwindeln,  das  ist  zu  leicht,  zu  dumm, 
das  ist  ebensowenig  ein  Sport,  wie  etwa  die  Jagd  auf  die 
fetten,  in  der  Nudelkiste  aufgezogenen  Fasanen,  wie  sie 
in  England  noch  betrieben  werden  soll.  Der  große  Sport 
besteht  darin,  den  erfolgreichen  Räubern  einen  Hinter- 
halt zu  legen  und  ihnen  die  Beute  wieder  abzunehmen. 
Das  gibt  Aufregung,  das  spannt,  und  zuweilen  setzt  es 
dabei  Klopffechtereien,  an  denen  der  Teufel  seinen  be- 
sonderen Spaß  hat." 

Die  Übermenschen  von  Wallstreet  tragen  mit  ihren 
genialen  Taten  allerdings  dazu  bei,  die  Physiognomie  der 
Neuen  Welt  charakteristisch  auszuprägen,  besonders  wenn 
man  ihr  Treiben  so  auffaßt,  wie  jener  witzige  Engländer, 
der  einem  Yankee  auf  die  Behauptung:  so  smarte  Ge- 
schäftsleute wie  in  den  Vereinigten  Staaten  hätten  sie 
drüben  in  England  doch  nicht,  kaltblütig  erwiderte: 
,,0  ja,  die  haben  wir  auch  —  aber  bei  uns  sitzen  diese 
Herren  alle  im  Zuchthaus."  Der  Amerikaner  hat  eben 
den  guten  Humor,  die  Taten  seiner  großen  Spitzbuben, 
wie  Jack  Iyondon,  mit  sportlichem  Interesse  zu  verfolgen. 
Er  versteht  aber  einen  sehr  feinen  Unterschied  zu  machen 
zwischen  den  großen  Tieren,  über  die  er  sich  amüsiert, 
und  denen,  auf  die  er  stolz  ist.  Es  gibt  einige  sehr  vor- 
nehme Klubs  drüben,  in  deren  Mitgliederverzeichnissen 
man  die  Quintessenz  des  amerikanischen  Genius  suchen 
darf,  xfach  durchgesiebte  Auslesen  von  Herren-  und 
Höhenmenschen.  So  existiert  z.  B.  in  New  York  der  alte, 
hoch  angesehene  Century- Klub,  in  welchen  nur  Männer 
aufgenommen  werden  können,  die  irgendeine  bedeutungs- 
volle Leistung  auf  irgend  welchem   Gebiete  aufzuweisen 


282  Das  Hirn  Amerikas  auf  einer  goldenen  Schüssel. 

haben.  Am  26.  Februar  des  Jahres  1902  aber  ergriff  ein 
Komitee,  dem  ein  Dutzend  der  weltbekannten  Industrie- 
fürsten angehörte,  die  Gelegenheit  eines  festlichen  Früh- 
stücks im  Straßenanzug,  um  unserem  Prinzen  Heinrich 
von  Preußen  das  Hirn  Amerikas  auf  einer 
goldenen  Schüssel  darzubieten.  Ungefähr 
150  Einladungen  ließen  sie  ergehen  an  jene  Captains 
of  Industrie,  wie  Thomas  Carlyle  sie  genannt  hat: 
,,Jene  Ahnherrn  einer  neuen,  wirklichen,  nicht  bloß 
eingebildeten  Aristokratie!"  Bei  diesem  denkwürdigen 
Frühstück  wurde  nicht  die  Schwere  des  Geldsacks  in 
Betracht  gezogen;  ausgeschlossen  waren  die  bloßen 
smarten  Geschäftsleute,  die  tollkühnen  Spieler  des  großen 
Spiels;  ausgeschlossen  waren  auch  L,eute,  die  nur  ver- 
mittels ihres  hohen  Ranges  eine  Augenblicksbedeutung 
haben;  es  waren  vielmehr  nur  wirkliche  Feldherrn  in  dem 
gewaltigen  Heere  der  modernen  Welteroberung  durch 
Wissenschaft,  Technik,  Handel  und  Industrie  zurHuldigung 
entboten.  Dem  Prinzen  wurde  vorher  ein  kleines  ge- 
drucktes Heft  überreicht,  in  dem  die  Eingeladenen  dem 
Alphabete  nach  aufgeführt  und  die  Bedeutung  jedes 
Einzelnen  in  einer  ganz  knapp  gefaßten  Notiz  erläutert 
war.  Die  ,, New  Yorker  Staatszeitung"  sagte  von  diesem 
Frühstück:  ,,Der  erlauchte  Bruder  des  deutschen  Kaisers 
und  mächtigen  Beschirmers  friedlicher  Bestrebungen  hat 
heute  echte  und  wahre  Amerikaner  kennen  gelernt,  L,eute 
von  dem  Schlag  der  Augsburger  Fugger,  Fürsten  des 
Handels,  Baumeister  unserer  Größe.  Es  waren  nicht 
lauter  Millionäre,  die  da  saßen,  aber  sie  gehörten  aus- 
schließlich zu  der  Klasse  jener  Arbeiter,  die  die  unerschöpf- 
liche Produktionskraft  der  Neuen  Welt  in  Millionen  umzu- 
münzen verstehen  und  die  unseren  Nationalwohlstand 
begründen  halfen." 


Die  wahren  Exzellenzen.  283 

Ich  besinne  mich  vergeblich  auf  eine  Gelegenheit,  bei 
der  ein  Fürst  der  Alten  Welt  in  ähnlicher  Weise  gefeiert 
worden  wäre.  Wenn  unsere  gekrönten  Häupter  reisen,  so 
bekommen  sie  tiberall  dieselben  Exzellenzen,  Geheimräte, 
Spitzen  der  Behörden,  Kriegervereine  usw.  zu  sehen; 
zweifellos  lauter  wackere  und  verdienstvolle  Staatsbürger; 
aber  die  wahrhaft  führenden  Köpfe,  die  genialen  Organi- 
satoren, die  Träger  der  modernen  Ideen  —  jene  Exzellenzen 
im  eigentlichen  Wortsinne  —  jene  Hervorleuchtenden  — 
sie  finden  sich  nur  in  vereinzelten  Exemplaren  unter  den 
Aufwartenden.  Und  der  Eifer  der  intimen  Hüter  des 
Thrones,  der  Höflinge  und  Büreaukraten  sorgt  dafür,  daß 
von  wirklich  geistigen  Potenzen  diejenigen  das  Antlitz 
des  Herrschers  niemals  zu  sehen  bekommen,  deren  Ge- 
dankenschwung sich  keck  über  die  Grenzen  des  beschränk- 
ten Untertanenverstandes  erhebt.  Auch  drüben  in  dem 
Märchenlande  der  absoluten  Gegenwart  fehlten  in  der 
leiste  der  Eingeladenen  die  großen  Philosophen,  Künstler 
und  Dichter,  die  Verkünder  einer  neuen  Sittlichkeit  und 
einer  neuen  Religion,  die  kühnen  Um  werter  und  ge- 
fährlichen Fackelträger  —  sie  mußten  fehlen,  weil  sie 
drüben  noch  nicht  vorhanden  sind,  diese  Kulturblüten 
schwer  von  dem  Honig  einer  glorreichen  Vergangenheit. 

Wann  wird  für  Deutschland  die  Stunde  schlagen,  in 
der  ein  Kaiser  vor  seinem  Volke  den  Tanz  der  sieben 
Schleier  tanzt,  wobei  seine  Majestät  eine  Hülle  alter  Vor- 
urteile nach  der  andern  abwirft,  um  schließlich  zum  L,ohne 
das  Hirn  Deutschlands  auf  einer  Schüssel  zu  fordern? 
Vielleicht  wird  diese  Schüssel  nicht,  wie  drüben  in  dem 
L,ande  der  unerschöpflichen  Naturschätze,  von  purem 
Golde  sein  können  —  aber  das  Hirn  wird  sich  sehen  lassen 
dürfen ! 


iiiiiiiin 


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Einige  für  dies  Werk  benutzte  und  empfehlenswerte  Bücher 


Dr.  Otto  Ernst  Hopp,  »Bundesstaat  und  Bundeskrieg-  in  den  Ver- 
einigten Staaten«.     Zwei  Bände.     Verlag  G.  Grote.     Berlin  1886. 

M  c.  Laug  hl  in,  »History  of  the  American  Nation«.  Verlag 
Appleton  &  Co.     New  York  1903. 

Paul  Bourget,  »Outre  Mer«.    Verlag  Alphons  Lemerre.    Paris  1905. 

Georg  von  Skal,  »Das  amerikanische  Volk«.  Verlag  Egon 
Fleischel  &  Co.     Berlin  1908. 

Dr.  Hintrager,  »Wie  lebt  und  arbeitet  man  in  den  Vereinigten 
Staaten?«     Verlag  F.  Fontane  &  Co.     Berlin  1904. 

Wilhelm  von  Polenz,  »Das  Land  der  Zukunft«.  Verlag  F.  Fon- 
tane &  Co.     Berlin  1905. 

Ludwig  Max  Goldberger,  »Das  Land  der  unbegrenzten  Möglich- 
keiten.«    Verlag  F.  Fontane  &  Co.     Berlin  1903. 

A.  von  Ende,  »New  York«.     Verlag  Marquardt  &  Co.     Berlin. 


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iiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin 


Kamen-  und  Sachregister. 


Aberglaube  203. 

Adel  261,  175  ff. 

Akademische  Vergnügungen  55. 

American  plan  (style)  240,  244. 

Angelsachsen  21. 

Antisemitismus  31. 

Arbeit  105,  107,  261. 

Armee  177  ff. 

Armour  &  Co.  218  ff. 

Asch,  Schalom  142. 

Astor  179. 

Astorhotel  239. 

Athletics  37,  45. 

Ausgestanden!  17. 

Avenue,  common  wealth  126. 

Avenue,  fifth  123  f. 

Baker   G.   Eddy,    Mrs.    Mary    196 

bis  200. 
Bauern,  lateinische  265. 
Bayreuth  138. 
Berufstreue  106,  254. 
Bertsch,  Hugo  132. 
Bibliotheken  51,  63. 
Bier  234. 

Bildungsgang  des  Volkes  63. 
Bildungstrieb  63,  255. 
Bischöfliche  Hochkirche  187. 
Blood  and  Thunder-Show  5. 
Bohemian  Jinks  55. 
Bohemians  132. 
Bordelle  72  f. 

Bosse,   die   politischen  65,  73,  96. 
Bret  Hart  133. 
Brooklyn- Bridge  233. 
Bronzemesser  110. 
Buchgewerbe  126. 
Buffalo  118,  211. 

Cafes  112,  119,  237. 
Camping  out  209. 


Campus  54,  205. 

Car  172. 

Carnegie  80. 

Cartesius  120. 

Century-Club  281. 

Chautauqua  63. 

Chauvinismus  28,  266  ff. 

College  Cheers  43  f. 

Chicagos  Schlachthöfe  218—229. 

Christian  Science  196 — 203. 

Clams  118. 

Coeducation  36,  55,  82,  84. 

Common  sense  38,  66,  184,  263. 

Compartement  172. 

Concerd,  sacred  175. 

Confessionslose  Kirche  205  f. 

Cornell  53,  205. 

Denomination  49,  188  ff. 
Demokratischer  Stolz  105. 
Demokratische  Tugenden  181. 
Deutsch-Amerikaner   28  f.,  36,  264 

bis  271. 
Deutsche  Pflichten  6,  271  f. 
Deutsche  Städte  265. 
Deutsche  System,  das  61. 
Dienstboten  94—109. 
Dienstmädchen,  Karriere  besserer, 

101. 
Dienstpersonals,  Pflichten  u.  Rechte 

des  99. 
Disziplin  38,  70  f.,  170,  180,  278. 
Dollarmaschine  273. 
Doppelmoral  77. 
Dormitorys  42. 
Drew,  Daniel  179. 

Ehe  79—93. 
Ehescheidung  79,  88  f. 
Ehrgeiz  37. 
Ehrlich-Hata  74. 


286 


Namen-  und  Sachregister. 


Ehrlichkeit  182. 

Einwanderers,    die  Kinder  des  29. 

Eisenbahn  275  f. 

Eisenbahnen,  Kundenfang  der  241. 

Eiswasser  17. 

Eitelkeitsmarkt  176,  155. 

Emerson  Ralph  Waldo  62. 

Episcopal  Church  187. 

Erotik  75  ff. 

Erziehungskosten  Rückzahlung  der 

83. 
Eulenberg,  Herbert  145. 
Europa,    Vereinigte    Staaten    von 

272. 
Exzellenzen,  die  wahren  283. 
Expreßelevator  273  f. 

Fahrpläne  242. 
Familienhäuser  123. 
Fensterputzer,  der  schwarze  95. 
Festessen  10  f. 
Fische  115. 

Fleischverarbeitung  230. 
Flirtation  84  f. 

Forschung,  wissenschaftliche  46  f. 
Fortschritt,  kampfloser  275. 
Fraternitys  42  f. 
Frauenakademien  56  ff. 
Friedrich,  Max  129. 
Früchte  111,  118. 
Fulda,  Ludwig  2. 
Frauenverehrung   26,   34,   70,   80, 
90,  174,  246. 

Gastfreundschaft  9. 

Geflügel  114. 

Geldheirat  25. 

Ghetto  138. 

Gold  234. 

Gould,  Jay  25,  176. 

Gouverneur  10. 

Germanistic    Society    of   America 

VII  XIV  2. 
Geschäftspolitiker  65. 
Geschlechter,   freier   Verkehr   der 

84  f. 


Gesetzen,  Achtung  vor  den  67. 
Gesetzfabrikation  173. 
Gepäckaufgabe  242  f. 
Gesundbeter  197—200. 
Grünhörner  232  ff. 
Graf,  Dr.  Alfred  60. 

Handwerk  30,  106  f,  254. 
Hapag  269. 
Hardt,  Ernst  147. 
Harward  44. 

Hauptmann,  Gerhart  139,  145. 
Hauptmann  Karl  2. 
Hausfrauen  91  f,  93,  101. 
Head  lines  (Kopfzeilen)  161  f. 
Heilsarmee  193—196. 
Heimatliebe  171,  259. 
Hemdärmeligkeit  249. 
Heinrich,   Prinz   von  Preußen    18, 

226,  282. 
Heirat  88. 
Heiratslust  ein  Gesundheitszeugnis 

93. 
Herald,  New  York  164. 
High  School  von  Youngstown  7. 
Hotel  207,  236  ff.,  252. 
Höflichkeitsbezeugungen    13,    170, 

247  f. 
Hölle,  Mittelpunkt  der  227. 
Hudson  207,  215  ff. 
Humanistische  Bildung  48. 
Humoristische  Lichter  5. 

Icecream  17,  113  f. 
Illustrierte  Zeitungen  151  ff. 
Indianer  23. 

Industriehäuptlinge  149,  282. 
Interviewer  8,  19,  158  f. 
Inquisition  21. 

Jerusalem,  Else  74. 
Judentum  30  f.,  144. 
Juristen  263. 

Kastengeist  172,  177. 
Kaiser,  der  deutsche  269,  283. 
Kannibalische  Gerichte  119. 
Karrikaturen  160. 


Namen-  und  Sachregister. 


287 


Kasernenleben  180. 

Kaufmann,    Reginald    Wright  73. 

Katholizismus  188. 

Kauer,  das  Volk  der  120. 

Kaugummi  121. 

Kelten  21. 

Kempinskis  System  120. 

Keßler,  David  139  ff. 

Kindervergötterung  33  f.,  244. 

Kinderzucht  35. 

Kirchenwahl  203  f. 

Kleidung  124. 

Knickebockers  175. 

Kochkunst  111—120. 

Koketterie  79,  85. 

Komisch  finden,   was   sie  alles  7. 

Kongreß  deutscher  Mißgeburten  27. 

Kontrakte  der  Dienstboten  99. 

Korruption  65  ff. 

Krüger,  Hermann  Anders  2. 

Kunstbedürfnis  129. 

Kunst,  nationale  62,  131. 

Küssen,  vom  87,  247. 

Kurmacherei ,    unverbindliche    85- 

Landschaftsregisseure  212  ff. 

Laughlin,  Andrew  C.  Mc.  36. 

Legal,  Aid  Society  192. 

Lenau,  Nikolaus  1. 

Lehrer  und  Lehrerin  38  ff. 

Leitartikel  154. 

Leithammel  219. 

Lesefutter  für  Kinder  und  Un- 
mündige 151. 

Lichtreklame.  122,  211. 

Liebe ,  die,  in  der  Öffentlich- 
keit 87. 

Liebesheirat  25. 

Liebesverhältnis  77,  86  f. 

Liebe  und  Ehe  79—93. 

Liliencron,  Detlev  v.  1. 

Lindau,  Paul  1. 

Lloyd,  Norddeutscher  269. 

Lobby,  die  237. 

London,  Jack  132,  279  ff. 

Longfellow  133. 


Lügner  37. 

Lynch,  Richter  263. 

Manieren  27,  29,  92. 

Mann,  G.  A.  201  ff. 

Malerei  126,  130. 

Mannszucht  117  ff. 

Mark  Twain  133. 

Massengeschmack  133,  163  f. 

Materialismus  193,  250. 

Mayflower  175. 

Mädchenhandel  73. 

Mäzene  51  ff. 

Menschen,  neue  deutsche  278  f. 

Menschliche  Niedertracht  223. 

Mischlinge  23  f. 

Mitgift  25,  81. 

Modedamen  80,  90  f. 

Monatsschriften  164. 

Moralbegriff  78,  164. 

Morgentoilette     des    Tätowierten 

245. 
Multimillionäre  79  f. 
Muschenheim,  Gebrüder  239. 
Musiker,  deutsche  128  ff. 

Nacktheit   in  der  Kunst  .127,  174. 
Neger  95  ff.,  99,  173. 
Negerkirchen  188  ff. 
Neidlosigkeit  183. 
Niagarafälle  209  ff. 
Niggerlied  128,  188,  191. 
Niggerpoesie  188  ff. 
Nervosität  11. 

Oper  136  ff. 

Operette  146  f. 

Optimismus  21,    32,  108,  215,  263. 

Osborn,  Prof.  Dr.  Henry  F.  149  f. 

Orden  53,  176. 

Pagen  237. 
Papiergeld  234. 
Parsifal  128. 
Päpstin,  Tod  der  198  f. 
Philister  260. 
Photographie  126. 
Pilgerväter  21,  75.  186. 


288 


Namen-  und  Sachregister. 


Pinsky,  David  139. 

Plastik  127. 

Poet,  der  neuweltliche   130. 

Polenz,  Wilhelm  v.  1. 

Politik  65  ff.,  271,  264  f.  154. 

Polizei  67,  72,  74,  171. 

Postgraduates  51. 

Prachtbauten  122  f. 

Presse,  deutsche  167. 

Presse,  gelbe  149, 153, 161, 164,  255. 

Privatgelehrte  50. 

Proletariat,  gelehrtes  50. 

Professor  der  53  f. 

Professor,    der,    als  Mädchen  für 

alles  103. 
Prohibition  171,  174. 
Prostitution,  die  73. 
Prüderie  4,  74,  132,  145,  174. 
Publikums,  Psychologie  des  3. 
Puritaner  21  ff. 
Pullman- Wagen  172  f.  243  ff. 

Quäker  204. 

Radiopathie  199  f. 

Ragtime  128. 

Rasse,  amerikanische  20  ff.,  256  ff., 

268. 
Rassestolz  23. 
Raubritter  179. 
Rauchplage  68. 
Reception  9,  12  ff. 
Redegabe  10  f.,  39. 
Refinement  47. 
Reinheit,    erotische,    der   Männer 

75  f.,  82. 
Reklame  156,  208,  210. 
Rekordfieber  251. 
Rekrutierung  177. 
Reliquienverehrung  50. 
Renommage  33. 
Rentiers  81. 

Reporter  8,  241,  237,  160  f. 
Richter  262  f. 
Rockef eller  jun.  74. 
Romantik  87  f. 
Reinhardt,  Max  142,  147  f. 


Salat  116  f.,  117. 
Schaukelstühle  125. 
Scheidung,  die  89. 
Schlachtverfahren    für     Schweine 

227. 
Schlachtverfahren  für  Rinder  229. 
Schlangenfraß,  intellektueller  157. 
Schliff,  der  letzte  47. 
Schnitzler  86. 
Schönheit,  körperliche  26. 
Schönheiten,  berufsmäßige  59,  104. 
Schule  35  ff. 
Schülerverbindungen  39. 
Schurz,  Karl  267. 
Sehenswürdigkeiten  9. 
Sekten  186  ff. 
Selbsthilfe ,       energische ,       eines 

Damenklubs  69. 
Sensationsartikel  164  ff. 
Sentimentalität  87. 
Sexuelle  Heuchelei  75. 
Sinclaire,  Upton  226. 
Skal,  Georg  v.  38. 
Sklaverei  109. 
Snobismus  251  ff. 
Social  evel,  the  72  ff. 
Soldatenwerbung  179. 
Söldnerheer  181. 
Sommerfrischen  209. 
Sororitys  58. 

Sozialdemokratie  180,  185. 
Sparsamkeit  235. 
Speisehäuser,  billige  119. 
Spekulationsheiraten  81. 
Spießertum  183,  185. 
Spione,  japanische  181. 
Spitzbüberei  als  Sport  281. 
Sport  44  ff.,  54,  281. 
Sportberichte  153  f. 
Sportliche  Wettkämpfe  45. 
Staatszeitung,  New  Yorker  167,282. 
Stanley,  Henry  M.  162. 
Steuben,  Baron  36. 
Stiefelputzen  100. 
Straßendemonstrationen  97. 
Straßenpflaster  124. 


Namen-  und  Sachregister. 


289 


Straßenverkehr  71. 
Strauß,   Richard  97,  98,  148,  160. 
Studenten,  arme  43. 
Studentenverbindungen  43. 
Studentin,  Typus  der  59. 
Subway  232. 
Süßigkeit  111  f.,  117. 
Sweet  Potatoes  115. 

Tafelfreuden  im  Pensionat  115. 
Theater,  amerikanisches  135 — 138. 
Theater,  deutsches  143—148. 
Theater,  jiddisches  138  ff. 
Theatre,  New  136. 
Tammany  Hall  186. 
Tante,  die  alte  173. 
Tauschhandel,  Töchter  im  25. 
Technische  Hochschulen  49. 
Technik  und  Wissenschaft  49. 
Telephon  237,  249,  273. 
Todessprung,  der  221. 
Toleranz  22. 
Touristen  211. 
Transcript,  Boston  162. 
Trennung   von   Staat   und   Kirche 

185,  263. 
Trinkgeld  235  f ,  238. 
Trustmagnaten  68. 

Übermensch,  der,  von  Wallstreet 

279  ff. 
Undergraduates  42. 
Unglücksfälle,    Verbrechen    153  f. 
Uniform  180. 
Unitarier  189. 
Univcrsity  Extension  63,  255  f. 


Urban,  Henry  F.  XII. 
Usher  13,  16. 

Verbrecher,   Behandlung  der  262. 
Vereinsleben  6  f.,  255,  266,  269. 
Verfassung  der  V.  St.  36. 
Virginians,  true  175. 
Volkslied  3,  130. 
Völker,  junge,  u.  Kinder  33. 
Vorstellen,  nicht!  13. 
Vorurteile,  demokratische  62. 

Wahlmanöver  73. 
Walt  Whitman  133. 
Walter,  Dramatiker  86,  132. 
Wedekind,  Frank  145. 
Wehrpflicht  180. 
Wellesley-College  56—59. 
Weltanschauung  46. 
Wettkämpfe  44  f. 
White,  Dr.  Andrew  D.  108, 203, 205  f. 
Wildpret  115  f. 
Williams,  Roger  22. 
Wissenschaftliche  Speisekarte  für 

Damen  57. 
Wohltätigkeit  194. 
Wohnhäuser,  Stil  der  208. 
Wohnungseinrichtung  124  ff. 
Wolkenkratzer  123,  273  f. 

Yale  44. 
Yankee  20. 

Zahnarzt  113. 

Zukunft,  schwierige  Frage  an  die 

109. 
Zwangsheirat  78. 


■■■ ""■■"■ 


iiiiiiiii 


Uli 


nulluni 


Wolzosr'en,  Der  Dichter  in  Dollarica. 


19 


Verlag  von  F.  Fontane  &  Co.,  Berlin/Dahlem 

Wie  lebt  und  arbeitet  man 
in  den  Vereinigten  Staaten? 

Nordamerikanische  Reiseskizzen 
von 

Dr.  Hintrag  er 

Geheimer  Regierungsrat 

Preis:  broschiert  M.  5,—  ;  geb.  M.  6,50 
IL  Auflage 


New  Yorker  Staatszeitung : 

(Aus  einem  mehrere  Spalten  füllenden  Feuilleton.) 

Dr.  Hintrager  hat  in  seinem  Buche:  „Wie  lebt  und 
arbeitet  man  in  den  Vereinigten  Staaten?"  ein  gutes 
Werk  geliefert;  er  hat  geraume  Zeit  in  den  Vereinigten 
Staaten  zugebracht  und  sich  bei  seinen  wiederholten 
Besuchen  des  Landes  nicht  darauf  beschränkt,  die 
Außenseite  der  Dinge  anzusehen.  Er  hat  nicht  nur  auf 
einer  Farm  injowa  gewohnt,  sondern  dort  auch  einige 
Monate  mitgearbeitet.  Er  hat  die  Schulen  gründlich 
studiert,  ist  im  Bureau  eines  Rechtsanwaltes  tätig  ge- 
wesen, hat  die  meisten  der  größeren  Strafanstalten 
besucht  und  geprüft  und  juristische  Vorlesungen  ge- 
halten. Kurzum,  er  hat  einen  Blick  in  das  innere  Leben 
des  Volkes  getan  und  weiß  hübsch  und  interessant  da- 
von zu  erzählen. 

Sehr  gut  und  lesenswert  —  auch  für  Deutsch- 
Amerikaner,  die  über  diesen  Punkt  wenig  unterrichtet 
sind  —  ist  das  Kapitel  über  die  Amerikanerin.  Man 
fängt  doch  an,  einzusehen,  daß  die  amerikanische  Frau 
nicht  bloß  das  Sofakissen  ist,  für  das  man  sie  so  lange 
gehalten  hat. 


Verlag  von  F.  Fontane  &  Co.,  Berlin/Dahlem 


Das  Land 

der 

unbegrenzten  Möglichkeiten 

Beobachtungen  über  das  Wirtschaftsleben 

der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 

von 

Ludwig  Max  Goldberger 

Geheimer  Kommerzienrat 

Preis:  broschiert  M.  5,—  ;  geb.  M.  6,50 
VIII.  Auflage 
0 
Literarisches  Zentralblatt,  Leipzig: 

Unter  der  in  der  legten  Zeit  beträchtlich  an- 
geschwollenen Literatur  über  die  Vereinigten  Staaten 
darf  das  vorliegende  Werk  wohl  den  ersten  Platj 
beanspruchen.  Eingehende  Sachkunde,  erschöpfende 
Gründlichkeit,  genaue  Detailforschung  ohne  jede  Vor- 
eingenommenheit und  Gefälligkeit  der  Darstellung 
zeichnen  dieses  Werk  besonders  aus.  Man  muß  selbst 
auf  den  Spuren  des  Verfassers  in  den  Vereinigten 
Staaten  gewandelt  sein,  um  die  stets  zutreffende  und 
mit  wenigen  Worten  überaus  anschaulich  gezeichnete 
Schilderung  ganz  würdigen  zu  können,  welche  in  diesem 
Werk  vom  Boden  und  den  Menschen,  von  der  Arbeit 
und  den  Werkstätten,  dem  Nationalreichtum,  den 
Eisenbahnen  und  Steuern,  der  Arbeiterfrage  und  dem 
Trustwesen  und  verschiedenem  anderen  gegeben  sind. 
Durch  das  ganze  Werk  zieht  sich  die  nicht  hoch  genug 
zu  veranschlagende  Tendenz,  die  beiden  großen  Na- 
tionen menschlich  und  wirtschaftlich  näher  zu  bringen . . . 


Verlag  von  F.  Fontane  &  Co.,  Berlin/Dahlem 

Das  Land  der  Zukunft 

oder: 

Was  können  Amerika  und  Deutschland 
voneinander  lernen? 

Von 

Wilhelm  von  Polenz 
© 

Preis:  broschiert  M.  6,—;  geb.  M.  7,50 

VI.  Auflage 

0 

St.  Petersburger  Zeitung: 

Polenz  beweist  auch  hier  bei  dem  Studium  fremder 
Verhältnisse  die  glänzende  Beobachtungs-  und  Schil- 
derungsgabe, die  wir  in  seinen  Dichtungen,  besonders 
in  seinem  klassischen  Roman  „Der  Büttnerbauer"  be- 
wundern. Mit  offenen  Augen  hat  er  sich  in  der  ameri- 
kanischen Welt  umgesehen  und  schildert  scharf  und 
klar,  ohne  sich  auf  der  einen  Seite  durch  wirkliche  und 
scheinbare  Erfolge  blenden  oder  aber  durch  das,  was 
dem  Europäer  fremd,  sonderbar  und  vielfach  auch  ab- 
stoßend erscheint,  beirren  zu  lassen. 

Rheinisch- Westfälische  Zeitung,  Essen: 

Nicht  landläufige  Reiseeindrücke  sind  es,  die  uns 
Polenz  wiedergibt,  er  entrollt  vielmehr  vor  uns  ein 
treffliches,  wahrheitsgetreues,  interessantes  Gemälde 
von  kulturhistorischer  Bedeutung,  von  den  Verhältnissen, 
Sitten  und  Gebräuchen  der  heutigen  Welt. 


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MAY    2  1947 


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