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INHALTSVERZEICHNIS
Romane, Novellen, Dramen, Gedichte, Briefe, Tagebücher:
I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco.24
I. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch.393
Friedrich Burschell, Reise in die Stadt.537
Richard Dehmel, Briefe.127
Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten.113
Josef Ponten, Unterredung im Grase.182
Albrecht Schaeffer, Das Gitter.265
Wilhelm von Scholz, Gedichte.312
Bernhard Shaw, Am Anfang.356
Leo Tolstoi, Tagebuch.48, 138
Franz Werfel, Arien..15
Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley . . . .627
Stefan Zweig, Phantastische Nacht. 513,590
Literatur, Kunst, Wissenschaft:
Hermann Bahr, Stifter.470
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 402
Emst Robert Curtius, Über Andre Gide.528
Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ . . . . 86
Hellmuth Falkenfeld, Antroposophie, Christentum und
Philosophie der Vernunft.317
Iwan Goll, Paris Stern der Dichter. 6 34
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde . . . . . 75
Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion.<!
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken.15
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag . . 49
Richard Specht, Arthur Schnitzler.48
Adolf Weißmann, Moderne Musik.3 c
Politik, Geschichte, Wissenschaft, Reisen:
Friedrich Burschell, Reise in die Stadt.53
M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates.56
Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft . 34
Alfons Goldschmidt, Vertrustung.9
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina . 247, 37
Junius, Politische Chronik . . 102,214,324,430,548,05
Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur . .
Rudolf Pannwitz, Internationale und Europäertum ... 44
Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs und unsere
östlichen Nachbarvölker.22
Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus . . . .17
Samuel Saenger, Was wir wollen und sollen.
Emst Troeltsch, Die Krise des Historismus.57
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche.15;
Alfred Weber, Deutschland und der Osten.33
Chronik Werenwags.202, 422, 6 +
Anmerkungen:
Erich Auerbach, La Fontaine und Pierre Mille.44
Adolf Behne, Alt-Spanien.44
Bernhard Guillemin, Joseph Caillaux.11
R. K., Stimmen des Auslands . . .110, 222, 331, 443, 55p, 66
R. K., Vom Kriege. <*7
Hermann Hesse, Exotische Kunst.33
Rudolf Kayser, Geburt . . • • • • .<*7
Rudolf Kayser, Der fünfzigjährige Alfred Mombert . . . .22
Ferdinand Lion, Poincare.33
Paul Mayer, Karl Ludwig Schleich f.44
Kurt Pfister, Die Stimme Asiens.67
WAS WIR WOLLEN UND SOLLEN
von
SAMUEL SAENGER
E s ist müssig zu fragen, ob wir mit der Niederlage, dem Zusammen»
stürz der alten Herrschaftsordnung, der Erschütterung der deut¬
schen Wirtschaft und dem sonstigen trübseligen Erbe der wilhelminischen
Epoche schneller fertig geworden wären, wenn in Versailles die im¬
perialistischen Orgien sich nicht so plebejisch ausgetobt hätten, wenn
die menschlichen Solidaritäten dort nicht verraten und auf die Scherben
des zerschundenen Mitteleuropa nicht jene unsittlichen Paragraphen
gehäuft worden wären, die geschaffen wurden, uns dauernd fremdem
Willen zu versklaven. Das dort gefertigte „Friedens“werk zäsarisch
sich gebärdender Gewaltmenschen erweist jeder neue Tag immer deut¬
licher als den großen Infektionsherd, der unseren Erdteil verpestet
und den auszutrockenen aus allen Weltwinkeln die Heilkünstler zu-,
sammengebettelt werden. Dies festzustellen, mag beim Hineingleiten
ins vierte Lebensjahr der deutschen Republik immerhin ein Trost sein.
Aber es ist nützlicher und männlicher, sich bei dieser Gelegenheit
vor den Anklagen des eigenen Schicksals nicht taub zu stellen und
die Gewissensforschung, die zu Hause beginnt, nicht zu vernachlässigen,
zumal die von Falschmünzern des Nationalgefühls betriebene Vergoldung
von Fehlem, Schwächen und Sünden neben seelischen auch politische
Gefahren im Gefolge hat und den Weg ins Freie verrammelt, den wir
suchen und finden müssen. Es wäre unehrlich zu leugnen (und ver¬
hängnisvoll zu vergessen), daß die lange Gewöhnung an kommandierte
Ideale und die harte, unelastische, zeitfremd gewordene Vormundschaft
eingebildeter Herrenmenschen die politischen Zeugungskräfte der Natur
gelähmt haben. Wer spürte das heute nicht? Die von kümmerlichen
Bismarckepigonen gepflegte Ideologie bestand ja darin, die politische
Impotenz des so bildsamen und so fügsamen Volkes zu wollen und
diesen Willen in eine deutsche Spezialtugend umzudichten; sie war das
Lieblingswerkzeug der beamteten Intelligenz, um den deutschen Phi¬
lister gegen jene wenigen scharf zu machen, die, aus dem bürgerlichen
2 Samuel Saenger, Was wir wollen und sollen
Lager stammend und die innen- und außenpolitischen Gefahrenquellen
des starren Systems erkennend, die Erziehung zur parlamentarischen De¬
mokratie nicht als Wohltat und Genuß, sondern als unvermeidbare Etappe
für ein großes Industrievolk: als Notwendigkeit und Aufgabe empfahlen.
Der nach innen gewandte, seine Eisschollen ins Seelische und Geistige
schwemmende Militarismus war die Folge; und es zeugt von perverser
Umkehrung von Ursache und Wirkung, wenn man ihn hinterher durch
Hinweis auf den äußeren Militarismus der plutokradschen Westländer zu
erklären oder gar zu rechtfertigen sucht, — ohne zu bedenken, daß nur
der aufrichtige Glaube an die sittliche Idee und die aufbauende Kraft der
Freiheit uns retten, uns unflberwindbar, uns zum Attraktionszentrum der
östlichen Welt machen kann. Was Wunder, daß dann, als dem alten Sy¬
stem — nach heroischem Kampfe, es ist wahr — die Totenglocke läutete,
ein blutleerer Notwille zu freistaatlicher Gemeinschaft schüchtern und
verlegen sich entband, und daß ihm ohne Leidenschaft, ohne Begeisterung,
ohne Schwung, ohne Opferwillen und ohne jenes trunkene Glücksgefühl
gedient wird, das doch früher bei den staatlichen und gesellschaftlichen
Umwälzungen der anderen großen europäischen Völker von den Fahnen¬
trägern der neuen Freiheitsidee—die immer eine neueWirtschafts-, Rechts¬
und Ordnungsidee war — auf die Massen überströmte und Helden . . .
wie Narren und Verbrecher gebar.
Nichts Ähnliches haben wir erlebt. Unsere Pyms und Hampdens und
Mirabeaus blieben ungeboren. Kastrierte Parlamente schlotterten vor
Beamtenministem, die tüchtig und ehrlich vorwalten konnten, aber
mit unverdauten Brocken aus Bismarcks Erbe ihre Weltpolitik be¬
trieben und das Deutsche Reich, unter dem Druck der wirtschafts¬
mächtigen Nebenregierangen, in die heutige Ohnmacht steuerten. Die
Erinnerung an das bischen von zahmen aber idealischen Bürgern ge¬
machte Freiheitsgeschichte vor der Blut- und Eisenära war ausgelöscht
und wurde von den Pedanten der Schule mit Hohn beladen, sie konnte
keine politische Substanz ansetzen. Unsre Paulskirchler wurden als
Trottel karikiert und alle Regungen des bürgerlichen Emanzipations¬
kampfes zwischen dem großen Friedrich und Bismarck zur Makulatur
der deutschen Geschichte eingestampft. Was blieb in der Sphäre von
Bildung und Besitz? Der politisch zum homme maschine herabregierte
Untertan, der sich an der Mimikry pseudoaristokratischer Manieren be¬
rauschte und seinen Ort irgendwo in Byzanz suchte. Unerhofft und un¬
erwünscht, auf dem blutigen Umwege einer „großen“ Politik, die selber
das Angstprodukt von Schwächlingen gewesen war, kam für ihn die
Samuel Saenger, Was iv'tr •wollen und sollen
1
Stunde der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, und so taumelteer,
seelisch und politisch unvorbereitet, zur Freiheit wie der Verurteilte zum
Schaffott. Nun strebt er, nachdem die Lähmung der ersten Unglücksjahre
gewichen und der (bewundernswerte) Furor des deutschen Arbeitswillens
den Schein normaler Zustände geschaffen hat, zum Faulbett der alten Ideo¬
logien zurück, in der eitlen Erwartung einer Wiederkehr des Gleichen.
Nicht einmal das handfeste Gebaren der eigentlichen Volksparteiler, die
sich, erst gläubig und opfernd, dann selbstbewußt und fordernd, Jahr¬
zehnte hindurch um die Altäre des Sozialismus gesammelt hatten und nun
auf Staat und Gesellschaft die Erste Hypothek gelegt haben: nicht einmal
diese Tatsache scheint imstande, die Masse der bürgerlichen Elemente und
ihrer Intellektuellen vor dem Ritt in dieVergangenheit zu warnen. Es bleibt
als einzige Gemeinsamkeit, um deretwillen die Parteien der himmelweit
getrennten Nationen, in die heute das deutsche Volk zerrissen ist, die
„große“ Koalition zu bilden trachten, — der gemeinsame Bankrott übrig.
Welche Politik wir zu bekennen und publizistisch zu fördern haben,
unter solchen Qualen von außen her und unter solchen Unfertigkeiten
und Gegensätzen im Inneren, ist durch die Überlieferungen dieser Zeit¬
schrift ebenso vorherbestimmt, wie die dichterischen und literarischen
Werte, die zu pflegen sie vor anderen berufen ist. Mit dem Bekenntnis
zum demokratischen, zum republikanischen, zum sozialen Gedanken allein
ist nichts getan, es muß vom Fluch des Dilettantismus befreit werden, um
zum Werk zu gelangen; unsre schicksalsvolle Lage kann von Parteigläubig¬
keit nicht gebändigt werden; Willen zur Sachlichkeit entscheidet und
Gefühl für das Notwendige hilft Mittel entdecken. Und noch weniger
zwingen Programmwütigkeit und Programmgläubigkeit künstlerische Vi¬
sionen herbei: aus dem neuen Lebensgefühl der Menschen, das, unter halb¬
verwesten Formen, der Erlösung entgegentreibt, steigen sie im genialen
Individuum empor, kristallisieren sich zum Werk und stehen plötzlich
sinnlich greifbar mitten unter uns, — Gnaden ausschüttend, Zweifel ver¬
jagend, den nüchternen Dienst am Tage adelnd. Im Schoße unsres großen
Volkes, dessen Arbeitswille und Arbeitsintelligenz heute wieder so manches
andere beschämt und dessen Seelenkräfte die Schatzkammern der Mensch¬
heit mit Köstlichstem gefüllt haben, schlummern noch unausgebeutet
Reichtümer: kommt, Ihr Woller und Gestalter, und helft sie nutzbar
machen und neue Morgenröten herbeiführen. Ohne das heilige Feuer,
das nur in geistigen Menschen brennt und auch im Tatmenschen den
Willen zur Unbedingtheit härtet, versinken wir in dunkle Nacht, in
der reine Wirtschafter und Bürokraten uns ihren Tag bereiten.
ZUR SOZIOLOGIE DER MODERNEN KULTUR
von
RUDOLF KAYSER
E s ist die schmerzliche Paradoxie der gesamten „Neuzeit“, daß die
individualistische Befreiung der Renaissance uns in Abhängig¬
keiten und Bindungen hineingeschlagen hat, wie die Welt sie vorher
nie gekannt. Wenn heute das soziale Gefüge wankt und bebt, wenn
die gesellschaftliche Problematik zu leidenschaftlicher Diskussion steht,
ohne daß die rettende Losung sichtbar wäre, so sind wir, wenn auch
nicht in der Sache, so doch im Schicksal in die Anfänge dieser Epoche
zurückgeschleudert. Es gilt, dieses Schicksal in all seiner Sonderbar¬
keit zu begreifen, den Blick nicht abzuwenden von unserm kulturellen
Verhängnis, das langsam sich zu entschleiern beginnt.
Wir kennen den psychologisch-formalen Charakter des Renaissance-
Individualismus, die Schmalheit seines Prinzips gegenüber den materialen
Inhalten der mythoshaften Weltanschauungen des Orients und des
christlichen Mittelalters. Wir sehen die Folgen dieses Prinzips sich
auswirken am schöpferischen Menschen und als seine unaufgebbare
Lebensatmosphäre: die Einsamkeit. Aber vergessen wir angesichts der
repräsentativen Macht der Werkschöpfer nicht die kulturelle Situation
jener, an die das Werk sich wendet: die Einzelnen innerhalb der gesell¬
schaftlichen Schichten und die Schichten oberhalb der Einzelnen; die
Möglichkeiten geistiger Konsumtion, die ja für die Produktion die natür¬
liche, fast körperhafte Bedingung ist.
Es sei gesprochen vom konsumierenden Typus, so weit er nicht auf
die Staats-, Wirtschafts-, Rechts- und Klassensysteme bezogen ist. Es
sei gesprochen von seinem kulturellen Leben, von seinen Beziehungen
zum Geist jenseits der Produktion; von den Möglichkeiten, die er den
zeitgenössischen Dichtern, Denkern, Bildnern entgegenbringt; und da
beginnt sofort der soziologische Konflikt der modernen Kultur: daß
es den Menschen, den kulturell empfänglichen Menschen, losgelöst von
diesen Bezugssystemen, — nicht gibt. Er ist so unfrei, daß das reine
Aufnehmen des ihm Gebotenen kaum möglich ist. Immer bedrängen ihn
Assoziationen, die ihn aus der natürlichen Beziehung zwischen Subjekt und
Objekt hinausschleudern, hinein in die soziale Wirklichkeit und der von
ihr bestimmten Verhaltungsweisen. Er kommt nicht los vom zeiträumlichen
Alltag, von den Erfahrungen im Beruf, von einer Systematik der Menschen¬
welt, die aus keinerlei Wertmaßstäben, sondern allein aus Technik und
Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 5
Nützlichkeit geschaffen ist. Er sieht die Landschaft als Gegenstand der
Sonntage und Urlaubsreisen, und Berg, Ebene, Meer sind in ihrem
Rhythmus und Atem kaum anders unterschieden, als durch die ver¬
änderten äußeren Lebensverhältnisse, die sie bedingen. Man erfahrt
Religion nicht anders als durch die staatlich durchorganisierte Kirche.
Wissenschaft ist das behördlich vorgeschriebene Material der öffent¬
lichen Lehranstalten und Vorwand der Examina. Und Kunst — von
allen sozialen Determinanten in gleicher Weise umschlossen — die
problematische, aber geschäftlich ausnützbare (und dadurch vielen legiti¬
mierte) Gelegenheit zu abendlicher Unterhaltung und gehobenerer Atmo¬
sphäre oder aber (in den heroischen Fällen) die nie erfolgreiche und
deshalb vom Bürger verlachte Opposition gegen die gesellschaftlichen
Mächte.
Dem Geist — neben der Natur das einzige autonome Prinzip! —
steht so gegenüber der relativistische, der assoziative Mensch. Er wandelt
durch mannigfaltige Erregungen, um schließlich an irgendwelche bürger¬
liche Konventionen sich anlehnen zu können. Er ist verstrickt in ein
unauflösbares Netz von Abhängigkeiten, die mit der Tageseinteilung
beginnen und in einem dumpfen Materialismus als Quasi-Metaphysik
enden. Ebenso wie die Natur kann er auch den Geist und seine
kulturellen Schöpfungen nicht anders fassen als durch die technisch¬
sozialen Kategorien, die sein praktisches Leben beherrschen. Differen¬
ziert, wie sie sind — da die moderne Gesellschaft einen fein schwin¬
genden Apparat benötigt — haben sie assoziative Möglichkeiten genug,
den bürgerlichen Menschen bis an das kulturelle Bereich heranzuführen,
ohne daß er es wirklich betritt.
Der assoziative Mensch! Seine seelischen Energien, durch die Um¬
welt sehr beschränkt, scheuen vor weiteren Wegen zurück. Er braucht
die Ähnlichkeiten zu alltäglichen Vorgängen, also auch die Anknüpfungen
an jene Bezugssysteme, die das soziale Leben beherrschen; er kann der
geistigen Erfahrungen nur so weit Herr werden, als sie mit den
materiellen verbunden erscheinen. Deshalb sind seine Methoden gegen¬
über den kulturellen Ereignissen nicht von ihnen selbst oder der ihnen
übergeordneten platonischen Idee abgeleitet, sondern allein aus der
Methodik des sozialen Lebens, in letzter Linie also aus dem wirt¬
schaftlichen Gesetz von Angebot und Nachfrage. Der Kaufmann be¬
tritt eine Ausstellung neuer Kunst und sucht eine Orientierung, indem
er die Bilderpreise erkundet. Der Beamte liest einen Roman und
6 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur
vergleicht die Gestalten und ihren Lebensstil mit seinen Amtsgenossen.
Der Arbeiter betritt ein proletarisches Bildungsinstitut und verlangt
Unterweisung im Sinne seiner marxistischen Klassenphilosophie. Man
kennt diese Beispiele. Sie besagen, daß der kulturelle Mensch als halb
lächerlicher, halb gehaßter Außenseiter des modernen sozialen Lebens
nicht emporkommen kann, daß er der Häretiker seiner Schicht bleibt
(die immer die sozial fortgeschrittenste ist: bis zum achtzehnten Jahr¬
hundert der Adel, dann das Großbürgertum). Das Lebensgefühl des
modernen Menschen ist so aufgezehrt von den sozialen Mächten, daß
flIr die kulturellen Dinge nur die Pausen bleiben, die Stunden, wo der
Druck der wirtschaftlichen Dinge ein wenig nachgelassen hat. Nur
jene, die materielle Gunst oder der dämonische Zwang des Selbst von
diesen Abhängigkeiten befreite, schufen die schmale Schicht der Intel¬
lektuellen, die seltsam gefligt aus den Söhnen der Herrscherschicht und
den Desperados des Schicksals, sich von den Methoden des bürgerlichen
Lebens zu befreien sucht Aber ihr Lebenswille verzehrt sich im Kampf.
An Zahl und Vitalität sind die Intellektuellen zu schwach, um gegen¬
über der Mächtigkeit der Umwelt ihre Ansprüche durchsetzen zu
können. Sie geraten in eine pathologische Stimmung; sie haben die
Feinheit des Leidens; sie bilden eine künstliche Rasse; sie sind Subli¬
mierung und Abstieg zugleich.
Die ^Intellektuellen" stellen seit der Renaissance die eigentliche
kulturelle Macht dar; gegenüber den schöpferischen Geistern sind sie
die aufnehmenden, verarbeitenden, propagierenden; sie sind die erste
Schicht, auf die die Werkleistung auf ihrem öffentlichen Wege stößt
(in den späteren wird sie immer mehr zur Bildungsangelegenheit); sie
stellen jene Macht dar, die die eigentliche, äußerst dünne Lebensatmo¬
sphäre den Werken schaßt. Ihre soziologische Strucktur hat seit der
Renaissance häufig gewechselt: zunächst war ihr Bereich die Fürsten¬
höfe, dann die adligen Salons pariserischer Färbung und dann jene
weltstädtische, aus dem Großbürgertum stammende neue Rasse, an der
das im Schicksal verwandte Judentum bedeutsamen Anteil hat. Aber
trotz dieses Wandels blieb der Charakter derselbe. Es handelt sich
um Menschen, deren Dasein — trotz ihrer oppositionellen Stellung
zu ihr — nur aus der modernen Gesellschaft zu erklären ist, deren
Aussehen und Gewohnheiten durch die soziale Schicht bestimmt sind,
der sie entstammen, ganz gleich, ob sie (wie bis 1800) diese Schicht
bejahen oder aber (wie heute zumeist) durch wirtschaftliche Umstände
zu einer Kampfesstellung sich gezwungen sehen, die sie häufig sogar
Rudolf Kayser , Zur Soziologie der modernen Kultur 7
in eine politische Opposition treibt und so in ein ihnen wesensfemes
Lager, trotzdem doch gesellschaftliche Heimatlosigkeit das eigentliche
Merkmal der IntellektueUen-Rassen ist.
Dieses (hier nur flüchtig skizzierte) Intellektuellen-Publikum zeigt
gegenüber dem Geist eine ähnliche Problematik wie der moderne
schöpferische Mensch selbst Auch hier das Fehlen einer Gemeinschaft}
die sich mit den Werken als Ausdrücken einer absoluten Idee ver¬
bunden fühlt. Aber auch hier die Einsamkeit gegenüber dem Volk,
der Masse, die innerhalb ihrer gesellschaftlichen Unfreiheit zum geistigen
Aufnehmen überhaupt nicht gelangt Die Einsamkeit der Intellektuellen
unterscheidet sich nur insofern von denen der Schöpfer, als sie weniger
individual charakterisiert ist, vielmehr das natürliche Schicksal einer
dünnen Schicht in oder am Rande der Gesellschaft darstellt Diese
selbstverständlichen, aber meist unterschätzten Tatsachen sind zu tief
im geschichtlichen Aufbau des bürgerlichen Zeitalters verankert und
allzu mächtig, als daß etwa kunstpädagogische Reformen gegen sie
etwas ausrichten könnten. Die sozialen Bindungen sind zu stark, und
fast ohnmächtig die Energien, die sie noch frei lassen, so daß nur die¬
jenigen ein kulturelles Leben führen können, die durch stärksten Entschluß
oder durch dynamisches Gesetz sich außerhalb der Gesellschaft stellen:
die einsamen Schöpfer und die Desperado-Klasse der Intellektuellen.
Dadurch aber führt der Geist ein schmales, künstliches Sonderdasein
und bleibt fern dem Wesen der Zeit und ihren Wirklichkeiten; er
bedeutet nicht Festlichkeit und Steigerung gegenüber dem Alltag, son¬
dern etwas ihm Fremdes, ja Feindseliges.
Es ist eben aus dem individualistischen Gedanken und der Unmög¬
lichkeit, seine letzte Konsequenz: die Anarchie zu ziehen, ein System
entstanden, dessen Zweck es ist, die notwendig gewordenen sozialen
Bindungen als Konzessionen herzustellen, aber nicht wie im Mythos
über den Menschen, sondern als rein technische Bindeglieder zwischen
ihnen. Dies System ist die Legalität. In ihr vollzieht sich eine
Aufspeicherung von Mächten und Energien, größer vielleicht als je
in irgendeinem Mythos. Daß diese ungeheure Macht, die nicht nur
in Gesellschaftlichen, sondern auch im Kulturellen sich auswirkt, letzten
Endes doch unschöpferisch blieb, kommt daher, daß ihre geschicht¬
liche Aufgabe ihre Daseinsmöglichkeiten sehr übertrifft. Schüchtern, ja
schamhaft setzen in und nach der Renaissance die ersten Legalisierungen
des Lebens ein, wissend bereits, daß angesichts der .revolutionären
Forderungen des Individualismus sie nicht ungefährliche Konzessionen
8 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur
bedeuten. Aber da die Rückkehr zum Mythos unmöglich geworden
war und andererseits die radikale, nämlich anarchische Konsequenz
des neuen Prinzips utopisch erschien, so bedurfte es eben der Mittel
und Wege, die Freiheit der Individuen einzuschränken, um die Freiheit
der anderen Individuen nicht zu zerstören. Diese deutliche Verkümme¬
rung des individualistischen Gedankens, die aber unvermeidlich ge¬
worden war, um die grundlegenden Forderungen desselben Gedankens
durchzusetzen, offenbart schon die ganze tragische Paradoxie, die in
ihrem vollen Umfange aber erst heute sichtbar wird. Das System
der Legalität ward das neue politische und kulturelle Prinzip, das die
beiden älteren Prinzipien des Staatslebens: die traditionelle Herr¬
schaft der Patriarchen und des alten Fürstentums, die charismatische
Herrschaft im religiösen oder heroischen Staatsgedanken ablöste, ein
Prinzip, das Max Weber so definierte: „Herrschaft kraft Legalität, kraft
des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational
geschaffene Regeln begründeten sachlichen ,Kompetenz c , also: die Ein¬
stellung auf Gehorsam in der Erfüllung satzungsmäßiger Pflichten:
eine Herrschaft, wie sie der moderne ,Staatsdiener* und alle jene Träger
von Macht ausüben, die ihm in dieser Hinsicht ähneln“.
In der Grundgesinnung dieses Prinzips, dessen langsamer Sieg dem
revolutionären Schlag gegen die ermüdete christliche Mythoswelt folgte,
liegt die Unmöglichkeit und Unfähigkeit enthalten, den ererbten geisti¬
gen Raum mit der dünnen psychologischen Atmosphäre auszufüllen,
die allein uns zur Verfügung steht. Die soziologischen Wirkungen,
die das Legalitätsprinzip geschaffen hatte und die immer weitere Ver¬
feinerungen erfuhren, waren so nicht beabsichtigt, da ja das Prinzip
selbst nur da war, um die individualistische Fiktion aufrecht zu halten
und scheinbar zu schützen. Aber aus einer Hilfskonstruktion ward
ein mächtiges Gefüge von Verfassungen, Gesetzen, Einrichtungen, Ver¬
bänden, die jedes Leben einbezogen in ein vielmaschiges, abstraktes
und künstliches, gänzlich ungöttliches System. Es war dieses System,
das dann die materialistische Geschichtsphilosophie heiligte, das System,
das Marx, sachlich gewiß falsch, aber geschichtspsychologisch zutreffend,
dann zum absoluten Herrscher einsetzte: „Der Mensch, das ist die Welt
des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren
die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte
Welt sind . .. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der
Kampf gegen eine Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“
Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 9
Diese unsinnige Verkennung des Wesens der Religion ist irgendwie doch
durchaus sinnvoll, nämlich dann, wenn man in ihr die vollkommene
Verzerrung und sinnlose Rolle erkennt, die die Religion in den letzten
Jahrhunderten zu spielen hatte. Das neue System mußte jeden Weg
zum Religiös-Metaphysischen versperren und die allgemeine Sehnsucht
von ihren natttrlichen Gegenständen ablenken. So erklärt sich die heim¬
lich unheimliche Tendenz der Antimetaphysik in der gesamten mo¬
dernen Kunst und Wissenschaft, die vielen neuen Dogmengebäude der
Empiriker und der Methodiker, die beide ja die metaphysischen Flöge
verbieten und die es zuvor in dieser Stärke nie gab.
Aber die metaphysische und religiöse Sehnsucht läßt dauernd sich
nicht unterdrücken. Selbst in dem fremden Gewände von Staatsabso¬
lutismus, Materialismus, Sozialismus werden sie sichtbar und weisen
mit ihren neuen alten Forderungen aus der Gegenwart hinaus. Wir
sehen gerade jetzt wieder die verschiedenartigsten Versuche, das meta¬
physische Reich neu zu erobern; wir erkennen aber wieder und wieder
unsere Ohnmacht gegenüber der immer noch starken, wenn auch zum
Tode verurteilten Legalität. Seitdem uns der christlich-orientalische
Mythos verlorenging, ist die fibermaterielle Wirklichkeit zu keinerlei
kulturellen Macht mehr gelangt; an ihrer Stelle aber behauptet sich diese
paradoxe Künstlichkeit des Legalitätsystems. Aber jeder revolutionäre
Aufbruch im politischen und kulturellen Leben hat diesen Sinn: fiber
das Legale zum Ideellen vorzudringen, statt einer fiktiven, künstlichen
Macht eine lebendige zu errichten, wie etwa der Katholizismus selbst
in seinen schwächsten Perioden es war.
Aber Gott geschieht nur im Mythos; er realisiert sich nur als natür¬
licher Vorgang, als Bild, als Lehre, als Dasein. Deshalb kann die Sprache
der Legalität, also der staatlichen, sozialen, wissenschaftlichen, ästhe¬
tischen Gesetzmäßigkeit nicht zum Ausdruck bringen, was seinem ganzen
Wesen nach ihr entgegengesetzt ist. Der kärgliche Rest, der dem Indi¬
viduellen geblieben ist, reicht nicht aus, um Gott zu gebären. Man über¬
sieht zumeist, daß Gott erst dann existiert, wenn die religiöse Gewalt
jede andere verdrängte und ihn als Mittelpunkt einer universaleren Welt
schafft. Die Mythen, die wir heute zumeist beschwören, sind nicht
lebendig, sind Bildungsangelegenheiten, sind schwache Romantik.
Alan versteht die Legalität zumeist als rein staatsrechtliches Prinzip.
Es ist aber sehr leicht zu zeigen, wie dies Prinzip, in Wechselbeziehung
zu dem psychologischen Charakter des Renaissance-Individualismus, auf
io Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur
die kulturellen Gebiete hinübergreift, wie es durch immer weiteren
Ausbau und Vergrößerung seines Apparats sich zum Herrn des mo¬
dernen Lebens macht. Damit sei keineswegs jene schiefe Behauptung
wiederholt, daß das politisch-soziale Moment Allbeherrscher geworden
ist. Moderne Kunst und Wissenschaft bedeuten nicht ohne weiteres
das unterwürfige Gefolge der Staats- und Gesellschaftsgesinnung. Aber
desto stärker sind die indirekten Wirkungen, die dieses Prinzip auf
die Kultur ausübt und durch sie deren Charakter bestimmt.
Im wesentlichen handelt es sich hier um zwei Wirkungen: um die
neue soziale Schichtung in einsame Schöpfer und ihnen gegenüber
das unbeteiligte Volk — zwischen beiden die Intellektuellenschicht —
und andererseits um die ständig wachsende Macht der absoluten Form¬
prinzipien, die durchaus den rationalen, künstlichen Formen der
staatlichen Legalitätsherrschaft entsprechen.
Die soziale Umschichtung, die zutiefst Sinn und Gestalt der geistigen
Werte änderte, geschah gleichzeitig mit dem immer neu und immer
schärfer beginnenden Kampf zwischen Romantismus und Klassizismus,
zwischen Formauflösung und Formschöpfung. Dieser Kampf, der sich
nicht nur in der Kunst, sondern ebenso in der Philosophie (in den
Gegensätzen zwischen Rationalismus und Irradonaiismus; Idealismus und
Realismus; Deduktion und Induktion) vollzieht, zeigt den Einbruch
und die Eroberungssucht des Legalitätsprinzips selbst in den stillsten
geistigen Provinzen. Man will selbst das Kunstwerk (und damit auch
das Erlebnis, das ihm zugrunde liegt) legalisieren. Man rechtfertigt es
von ästhetischen und moralischen Gesetzen und Maßstäben her. Man
erfindet Namen, Schulbezeichnungen, Verfassungen, wie sie ganz aus
den rationalen Begriffen innerhalb des politischen Legalitätssystems ab¬
geleitet sind. Man schafft, wenn auch nicht staatliche Kunst, so doch
Kunststaaten. Darin offenbart sich wieder die tragikomische Ohnmacht,
die die Renaissance hat entstehen lassen: daß die Befreiung von den
materialen Zwängen der Mythoszeit den schlimmeren Zwang des Legalen
und Formalen herbeirief: daß die individualistische Revolution mecha¬
nische Bindungen in allen Bezirken erzeugte; daß also dieser Individualis¬
mus sich freiwillig seiner Freiheit entledigte. Das Wort „la legalitd nous
tue“ hat in dieser Beziehung einen neuen und furchtbaren Sinn.
Der geistige Zusammenhang zwischen den Menschen geschieht in
universalistischen Zeitaltern durch Religion, durch Mythos, durch Glau¬
ben, und dieser Zusammenhang ist die eigentliche politische und kultu-
Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur n
relle Macht. Diese Geltung beanspruchte auch der moderne Individua¬
lismus für das einzelne Ich. Humboldt erklärte: „Der höchste und
letzte Zweck jedes Menschen ist die Ausbildung seiner Kräfte in ihrer
persönlichen Eigentümlichkeit“, einen Gedanken, den Stirner zum radi¬
kalen Egoismus verstärkte: „Mir geht nichts über mich“. Je heftiger
aber solche individualistischen Formulierungen wurden, je schroffer sie
einen deutlichen Subjektivismus vertreten, desto stärker wird in der
Praxis des Lebens die Legalität, die niemand so gewollt hat Diese
Praxis beweist, welch träumerisch-romantisches Denken es ist, die immer
wachsenden Beschränkungen meiner individuellen Möglichkeiten als
meiner Freiheit erste Tat zu preisen (wie es etwa die Schleiermacher-
sche Ethik tut). Die freiwillige Unfreiheit gerät sehr schnell an den
Punkt, wo ihre Herkunft unwichtig, wo sie selbstherrlich und eine
Macht mit unbezähmbarer Beutelust geworden ist Der Dualismus
zwischen dem natürlichen Ich und der künstlichen Legalität greift so¬
gar in das Innere des Ich hinein und spaltet es. So kommt der Kampf
in uns selbst, zwischen dem was uns natürlich und dem was legal
ist. Es kommt der grauenvolle Passionsweg zur Einsamkeit, der in
Werken gipfelt, die die schmerzliche Befreiung von der von außen
nach innen vorgeschrittenen Legalität bedeuten: jedes Genie der Neu¬
zeit mußte sich ja erst von der Formgesinnung der ästhetischen, mora¬
lischen, politischen Schulen und Parteien loslösen, eine Loslösung, die
selbst aber viel mehr als nur Formales bedeutet. Es kommt ferner
der moralische Dualismus zwischen dem Seienden und dem von den
Legalitätsmächten geforderten Seinsollenden. Dieser Dualismus kann
in der mythoshaften Zeit überhaupt nicht sein, da jenes dritte, das
die eigentliche religiöse Macht bedeutet, nämlich das Müssen, diese
Wirkung einer Lehre und der doppelten Gemeinschaft der Menschen
mit sich und der Idee, die Gesetzmäßigkeit des Lebens und Schaffens
in die Menschen selbst hineinlegt. Die heutige Situation aber ist lächer¬
lich und tragisch zugleich, da sie die ungewollte Versklavung unter
ein in sein Gegenteil umgeschlagenes Prinzip ist, und ist hoffnungslos,
da die Erlösung durch einen dialektischen Gegenschlag nicht in unserer
Absicht liegen kann.
Die Wirkung der Legalität im sozialen Leben ist so stark, daß
sie uns den Weg zu den eigentlich moralischen Entscheidungen fast
versperrt. Der Apparat der Gesetze, Verordnungen, Konventionen ist
so durchorganisiert, daß er nur wenige Möglichkeiten in den zwischen-
1 1 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur
menschlichen Beziehungen fireigibt und seinen Instanzen entzieht. Die
angeblich zum Schutze des Individuums geschaffenen Einrichtungen
dringen bis in die heimlichsten Provinzen unseres Lebens vor und
machen sich zum Vormund unserer sämtlichen Entschlösse. Man mochte
fast sagen: moralische Entscheidungen kann man erst gewinnen, wenn
man die Legalität hinter sich gelassen hat. Der Nietzschesche Im¬
moralismus, aus ganz anderen, nämlich psychologischen Motiven er¬
wachsen, bekommt so seine geschichtliche Rechtfertigung. Erst das
Verbrechen — als Verneinung der Gesetze — scheint uns die Möglich¬
keit selbständiger sittlicher Entscheidungen zu geben. Aber diese Ent¬
scheidungen sind auf jeden Fall unmöglich, nicht nur wegen ihrer
sozialen Schädlichkeit, sondern weil die Legalität als absolutes Prinzip
nie durch einen Einzelfäll, den ja stets das Verbrechen darstellt, ver¬
neint werden kann: der moralische Verbrecher ist komische Ohnmacht.
Kants bekannte Definition der Legalität als „die bl offe Übereinstimmung
oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne
Rücksicht auf die Triebfeder derselben* 1 müßte insofern erweitert wer¬
den, als diese Übereinstimmung nicht nur das Gesetz, sondern eine
Unzahl von Konventionen, ja sogar von Gefühlen umspannt und so
unsere moralischen Instinkte besänftigt und immer mehr schwächt.
In das Geistesleben wirkt das Legalitätsprinzip doppelt zurück durch
die Regelung der soziologischen Beziehungen zwischen Schöpfern und
Volk und durch sein zwingendes Beispiel von Machtentfaltung, das
auf eine analoge Herrschaft im kulturellen Leben drängt. Daß diese
Analogien sich (seit dem achtzehnten Jahrhundert) immer stärker ver¬
wirklichen, ist verständlich genug. Ein Zeitalter, das Gottheit und
Mythos nicht mehr besitzt, dessen individualistische Gesinnung nur die
künstlich abstrakten Einrichtungen des Staates als einzige Objektivität
außerhalb der Natur zur Folge hat, muß — besonders wenn Kata¬
strophenstimmung es bewegt — das Prinzip dieser Einrichtungen zu
allseitiger Herrschaft erheben.
Das Selbstmörderische dieses Schritts, die Armut, in die es führen
mußte, wurde unserer Epoche lange nicht sichtbar. Da man sich an
die alten Schlagworte hielt, war es den wenigsten klar, welches die
wahrhaften Wirkungen sind, die die Renaissancerevolution gezeitigt
hatte. Man ward sich nicht bewußt, zu welcher Macht jene kleinen
Zugeständnisse geführt hatten, die der Individualismus den praktischen
Forderungen des sozialen Gefüges gemacht hatte und die schließlich
in einer autonomen Herrschaft mündeten, in einem Ausmaß von An-
Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modemeu Kultur i $
sprachen und technischer Gewalt, wie bislang nie bekannt Man ju¬
belte individualistische Freiheitschöre; spottete der Kirche als ohnmäch¬
tiger Erinnerung an mythisches Mittelalter; pries stolz sein freies Denken
und sah nicht den neuen und bösen Gott, der alle Lebensgebiete listig
sich unterworfen hatte. Man sah nicht den neuen Mythos der
Legalität, weil nicht wie im alten Mythos der Mensch zur Gott¬
heit als einer causa finalis betet, vielmehr die Gottheit den Menschen
zu umschmeicheln beginnt und seine individuelle Herrlichkeit heuch¬
lerisch preist. Diese neue Gottheit, in all der Künstlichkeit und Ab¬
straktheit ihrer Sprache, der Nüchternheit ihrer Herrschaft, vernichtet
allmählich jene Ichs, die ahnungslos sie errichtet hatten. Behörden,
Kasernen, Gerichte, Kontore und alle jene Organisationen, zu deren
Schnittpunkten das Ich hinabgestoßen worden ist, sind nunmehr die
Kultstätten der neuen Gottheit: der Legalität.
Zwei geistige Verfassungen schuf sich das Legalitätsprinzip: die
Kunstgrammatik mit ihren ästhetischen und moralischen Form¬
prinzipien und die Methode als obersten Wert der Wissenschaft.
Die normative Ästhetik, die ihre Blütezeit von der französischen Klassik
bis hin zur Romantik hatte, ist Gesetzgebung der Kunst nach dem
Vorbilde des absolutistischen Staats. Man setzt Grenzen, nach denen
der Künstler sich zu richten hat. Man verkündet Gesetze, die befolgt
werden müssen. Man leitet von obersten Zwecken her Formprinzipien
ab, wie man das Recht aus staatsphilosophischen Zwecken deduziert.
Gibt es aber Gesetze für die Kunst, so sind sie allein in der Kunst
selbst, nicht aber außerhalb ihrer zu suchen. So sehen wir die Opfer
der Legalität ihr Sklaventum noch vergrößern. Die schlimme Abhängig¬
keit ihres Lebens treibt sie zu einer fragwürdigen Rache: den Schöpfern
ihrer Unfreiheit auch jene Provinzen auszuliefem, die ihnen von Natur
nicht erreichbar sind. Sie setzen die engstirnigen Wächter der bürger¬
lichen Moral auch als Vorgesetzte des Geistes ein und machen so den
geistigen Menschen dem allgemeinen Zwecksystem untertan.
In der Wissenschaft heißt das Prinzip der Legalität: „Methode“.
Sie will die Übereinstimmung des Forschern mit der Konstitution, die
man dem Denken gab. Das Mittelalter hatte die Zwangsherrschaft der
Theologie, die nur einen beschränkten Bezirk der Forschung gestattete.
Die Renaissance zerschlug die Grenzen und öffnete das neue Feld der
Naturwissenschaft. Aber auch hier erschrak man vor den radikalen
Folgen der neuen Freiheit, fürchtete die Anarchie und schrieb sich
14 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur
die neuen methodischen Dogmen: wieder von kflnsdichen Prinzipien
und Formen her, bloße Hilfskonstruktionen der Wahrheitserforschung.
Als Kant gegen den „veralteten wurmstichigen Dogmatism“ anrannte
und als seine Wirkung „Überdruß und gänzlichen Indifferantism, die
Mutter des Chaos und der Nacht“ in den Wissenschaften feststellte,
sah er noch nicht das eigentliche Geheimnis der Zeit: die Herrschaft
der Legalität, der ja auch sein eigenes System nicht entging. Deshalb
wurden die wissenschaftlichen Revolutionen zumeist nur formal-metho¬
dologisch und ließen die Inhalte unverändert.
Die Situation beginnt sich nunmehr zu klären. Die geschichtlichen
Mächte, die unser Schicksal bereiteten, werden allmählich sichtbar.
Ein Gefühl der Ohnmacht, dem der allzu reichliche Optimismus früherer
Jahre gewichen ist, scheint durch die Erkenntnis dessen, was ist, ge¬
rechtfertigt zu werden. Wir wissen nun ungefähr, wo wir stehen,
wie die Rolle beschaffen ist, die diese Zeit uns zu zwingen spielt,
und wie gering die Erbschaft, die wir hinterlassen werden. Wir er¬
leben die Paradoxie unserer Situation, ohne zu lächeln.
Das individualistische Prinzip hat in unser Kulturleben eine soziale
Schichtung gebracht, wie hoffnungsloser sie nicht denkbar ist. Wir
begreifen, daß nun, wo seit Jahrhunderten zum ersten Male die Kultur
selbst in Frage steht, wir hilflos, verwirrt und verlassen von all dem
Reichtum sind, der vor uns geschaffen wurde. Wir spüren, daß die
starke und erfüllte Geistigkeit, in der wir bisher atmeten, doch nicht
stark genug ist, um uns über eine kritische Gegenwart hinwegzuhelfen.
Es fehlt ihr die Beziehung zur zentralen Idee, die jenseits der Gesell¬
schaft, ihren inneren Spannungen und äußeren Formen lebt; es fehlt
ihr ein natürlicher Gott. Die Einsicht der Religiosität und zentralen
Bindung aller Kunst und Wissenschaft ist jetzt schon so verbreitet,
daß man sich scheut, sie zu wiederholen. Aber man tat nur das zwar
Nächstliegende, aber Wirkungsloseste: man erfand neue Programme
und Schulen, die den Forderungen dieser Einsicht entsprechen sollen.
Man ging in fremde Zeiten und Länder, um aus ihnen religiöse Bau¬
stoffe zu holen und verurteilte durch die Künstlichkeit dieser Methoden
das neue Wollen von vornherein zu Artistentum und ohnmächtiger
Bildungsangelegenheit. So erklärt sich das Fiasko des Expressionismus in
der Kunst und der theosophisch-mystischen Neigungen in der Philosophie.
Alles konstruktive Mühen — ganz gleich ob es vom Wunschbilde
des Staates oder dem des Menschen herkommt — hilft uns nicht weiter.
*5
Franz Werfel , Arien
Wir brauchen die Selbstverständlichkeit des Lebens, die freie und reine
Schöpfung aus der Unmittelbarkeit des Daseins, die Natur als Geist
und den Geist als Natur. Es wäre Selbstmord, jetzt zu resignieren,
die Ohnmacht des Augenblicks zum Schicksal der Zukunft zu machen.
Wir haben zwar die Erkenntnis dessen, was stirbt, aber auch den
Willen und das GerUstetsein zu dem, was uns erlösen wird, was uns
erlösen muß.
ARIEN
von
FRANZ WERFEL
Omen
E in böser Vogel ratschte vor dem Fenster ohne Rast,
Als müßte er Ruck um Ruck den Lebenswald absägen.
O Frau, wir sind in uns gelegen —
Sterngranden mantelluftig meisterten die Nacht.
Auf deinem Thymian-Sommer fühlte ich die Last
Von Tod, — und konnte dir nicht sagen.
Daß ich in deinem Blut eine Uhr hörte schlagen.
Goldenes Rasselwerk durchschrak mich mit feinem Stoß.
Da fühlte ich auf uns hocken schweres Los
Und wußte: Böser Vogel sägt geheim auf unsre Bäume los.
Und nur ein Geist liebreichen Sterns kann ihn verjagen.
Kinderbild der Geliebten
O du Gesicht, wie in den Schatten großen Parks geschmiegt.
In Duft und Ruhe niederfallt dein Haar!
Und süß und klar
Auf deinen Lippen liegt
*Eines Kindesschlafengehns geheimer Seim.
Du bist daheim.
In deinen großen Augen siehst du nicht
Die Frau, die mit allen Toden spricht.
Franz Werfel.\ Arien
Und die mit jeder Lust die Hand genetzt.
Sie, die alle Schauder dieses Sternes trug
Und jetzt
Aufschrickt vielleicht und sagt: Es ist genug.
In meiner Stube stirbt ein vielzufirQher Schmetterling.
Wer kennt seines kleinen Tods Gewicht?
Schnee umdrängt das Haus in unendlichem Ring.
Und alles flicht
Sich selbst zu unverständlichem Geflecht.
Da knackt ein Ast, Hund bellt, ein Rab ratscht recht.
Ich hör den Stern seine Bahn wehn, —
Und nur vor mir das heilige Kindgesicht
Schaut still, als konnte es verstehn.
Todes-Cavatine
Und so war es. Mir griff
Der Tod an das Herz.
Und ein Windstoß pfiff
In das offene Buch.
Die Seiten flatterten fensterwärts.
Nun fallt mir das Kinn
Hinab auf die Brust.
Doch der Wald wandelt hin
In des Abends Gehöft
Mit sausendem Gras und dem Wolkenwust.
Und ein Vorhang weht auf.
Es zittert mein Haar.
Ich weiß, was einst war:
Ein Lachen und Lauf
Fremd in der raschen Mitschülerschar.
War es wirklich — o nein —
Wodurch ich gehetzt.
Was erfreut und verletzt
Dies Aus und dies Ein?
Was ich nimmer gewußt, klar wird es jetzt!
*7
Franz Werfel, Arien
Ja ich habe geliebt.
Und ich rührte euch an.
Doch seid ihr gesiebt
Vom Dämmerungs-Bann.
Mein Leben war Wanken durch magischen Tann.
Und du, deren Kuß
Meine Tiefe berief.
Verzeih meinen Tod,
Den im Leben ich schlief.
Jetzt ist meine Lampe ein Glas voll von Ruß.
Sind drei Tage vorbei.
So liege ich lang.
Rauch, Gras und der Schwang
Eines Vogels steigt frei.
Und ich lausche stumm.
Der nicht Wort kennt und Lug,
Dem Muttergesang.
Abschied
Lebt wohl! Lebt wohl! Da noch in eurer Mitte
Mein Lächeln schwebt.
Hör ich sie schon, ganglang, die schwarzen Schritte,
Die Türe bebt.
Lebt wohl! Ich sage nichts und bleibe sitzen.
Den Hals umkrallt.
Seht ihr denn nichts? Aus meinen Mauer-Ritzen
— (o, dürft ich Schrein!) — wächst Wald.
Lebt wohl! Lebt wohl! Wie? Ich soll Antwort geben!
Fern geht mein Mund.
So helft mir doch! Von tausend Spinneweben
Bin ich vermummt.
O meine Frau! Mit deinem Fuße rührst du
Den meinen an.
Fühlst du das feuchte Ackermeer und spürst du
Den Schollenbann?
2
18 Franz Werfel, Arien
Es hangt, — leb wohl, — dein Blick an meinen Haaren.
Packt dich kein Schreck?
Sind sie denn nicht verfitzt von Moorgefahren,
Ein Nest für Krot und Schneck?
Leb wohl, leb wohl! Nicht greifen ohne Grauen
An meine Hand die liebe deine soll.
Ich berge unterm Tisch ja braune Klauen
Von Schratt und Troll.
Lebt wohl! Ja, ich will sprechen lachen trinken.
Wie’* mich auch von euch stoßt.
Ich scherze. Endlos Regenwege winken
Wie Totes schlüpfrig aufgelost
Ah! öffne das Klavier! Du spielst. Ich höre...
Was? Aus dem Schaum des Walzerwahns
Hör ich als Wurzel einer Riesenföhre
Die Teufels-Balz des schwarzen Hahns.
Gießt mir das Glas voll! Hört ihr jetzt die Schritte?
Der Raum und nicht mein Blut tappt hohl.
Ihr springt nicht liebend auf und nehmt mich in die Mitte..
Zu spät! Stoßt an! Lebt wohl, lebt wohl!
Ballade der Schwermut
Es steht eine Sagemühle im Wald.
Ich bin als Kind vorübergefahren.
War das vor hundert Jahren?
Jetzt bin ich nicht jung und nicht alt.
Doch ich weiß in der Straßen Lärmgefahren
Ein Wasser schellt schallt.
Und wirft mit straffen, mit blauen Haaren
Übers Rad seine heilige Gewalt.
Heut ist der Hollunderbaum schon abgeblüht.
Und knarrte erst gestern in Frost und Schnee!
Wer rechnet das aus? Ich habe Heimweh,
Während ich doch in der Heimat steh.
Ich sprang ja kaum aus dem Bett und bin schon müd.
l 9
Franz Werfel , Arien
Knaben rennen und wälzen sich wild durchs Gras.
Sie halten unter die alte Pumpe ihr brennendes Gesicht.
Das sind nicht meine Kameraden, ich kenne sie nicht.
Und doch ist mein Mund vom Trunk noch tropfennass.
Ich bin ein Same hierher verweht
Aus einer fremden Welt.
Dies ist nicht mein Planet.
Doch hab ich meinen Halm in die Sonne gestellt.
Und manchmal faßt ihn solcher Wonne Gewalt,
Als neigten sich durch einen Spalt
Seine wahren Brtider und Eltern vom Zelt.
Tau fällt.
Aber in einem alten Wald
Heiliges Wasser schallt schellt.
Nun steh ich vor dem Gehöft der Nacht.
Der Wächter fragt: Was hast du tagsüber gemacht?
Ich habe mit meinen Küssen versengt.
Die mir am meisten Liebe geschenkt.
Der Wächter fragt: Was trägst du in der Hand?
Einer Lerche Asche, die sich im Morgenfeuer verbrannt.
Der Wächter fragt: Was weißt du zu berichten.
Undeutliche Gestalt?
Dies blieb mir von allen Geschichten und Gesichten:
Eine Sägemühle steht im Wald.
Gesang
Ich raste hier auf meiner Flucht.
Soweit entkam ich schon, daß all die Sucht,
Die Gier, die Angst wie Vögel schrill und eitel.
Dem Horst mißtrauend ziehn um meinen Scheitel.
Sanft bin ich leer.
Doch wird mir Lohn.
Aus meinen fernsten Gründen her
Zieht Ton um Ton.
Es wandelt leicht und tingerufen
Gesang, Gesang
20
Franz Werfel, Arien
Über flüsternde Jakobsstufen.
Ich klinge, wie ich nie erklang.
Steige steige
Wort, wohin der Auftrag dir erging.
Du herrschest, wenn ich schweige.
Die Dämmerung, das Tier, das regungslose
Schaut starr ins Aug mir ohne Ironie.
Von meiner Stirne weicht die Liednarkose.
Ich bin erschöpft und müde wie noch nie.
Über die geheime Treppe
Schwingt sich noch ein Fuß,
Schlüpft die letzte Schleppe.
Hauch und Gruß
Streift mir lau das Ohr
Von Gesang Gesang.
Fern verwirrter Klang
Drängt sich rauschend durch ein dumpfes Tor.
Falle fälle
Wort, der Tod hat dich erreicht.
Wir finden uns in seiner grauen Halle.
Schafe
Wir kennen sie aus unserm Kinderschlafe
Die weißen Schafe und die schwarzen Schafe.
Die Schafe traf ich trabend über Stoppeln,
Der Herbstrauch schien die Schafe zu verdoppeln.
Die Schafe waren Wellen unsrer Erde,
Ein Mädchen trieb mit ihrem Stock die Herde.
Sie trieb die Schafe in des Herbstes Trübe.
Die Kleine sang und schälte eine Rübe.
Sie ging in Wellen weiß und schwarzen Schneees,
Inmitten des Geläutes und Gemäes.
Da ward das Kind zur Hirtin unsrer Schlafe,
Zu Schlafen wurden schwarze weiße Schafe.
Der Herbst war Traum. Vom Saum des Wandelsternes
Scholl eine Schelle noch, ein Mäh, — ein fernes.
Franz Werfel, Arien 1 1
Der Hund
Horch, der böse Hund bellt!
Wie er sich die Gurgel wund bellt
Und mit Stößen ungefügen wilden
Worte sich, Urklötze, bilden.
Die, wenn qualvoll sie dem Maul entrollen,
Hunger, Angst und Wollust beißen sollen.
Aus dem Lebens-Tort
Rollt und kollert Wort.
Horch der Hund bellt!
Wie ich hier am Tisch bin
leblos aufgelöst und träumerisch bin,
Möcht ich leis mich mit den Dingen tauschen,
Tanne werden, Rabe, Abendrauschen.
Doch ich kann mich schaffend nicht erhellen.
Auch aus mir keucht nur ein hehres Bellen.
Nimmer kann ich fort.
Gebe Wünschen Wort.
Horch der Hund bellt!
Keucht auch Er, des Hauch erhub den Urtag?
Stammelt Er noch immer den Naturtag?
Sind wir alle, Stern, Mensch, Jahrzeitzierden
Nichts als Laute seiner Gottbegierden?
Du und ich und diese ganze Rundwelt
Nur hervorgebellt... ah... (Horch, der Hund bellt!)
Endlich ist der Ort.
Aller Ort ist Wort.
Und weil alles Wort ist, herrscht der Tod.
Ballade von den Begleitern
Ich gehe vergehend durch Schnee, durch den Schnee.
Gibt es Bäume und Zäune? Ich sehe, ich seh
In der wehenden Nähe der Nacht nur Schnee.
Dumpf trott ich die träge Straße allein.
Doch bin ich allein? In dem langsamen Schnei’n
Fühl ich’s vor, mir und um mich und hintendrein.
Franz Werfel, Arien
Wankt vor mir ein schwerer betrunkener Mann,
Der im Zickzack den Rucksack kaum schleppen kann,
Oder ist es ein kranker, ein sterbender Mann?
Und rechts und links, umflinkt mich ein Paar,
Ein Doggenpaar schlüpfend und unsichtbar?
Oft streift’s mich wie Sprung und wie Hundehaar.
Und hinten, ist das ein Schlittengaul,
Der von den Wagen sich losriß mit schnaubendem Maul?
Jetzt folgt er mir müde schellend und faul.
Doch bleibe ich stehn in dem langsamen Schnei’n,
So halten die leisen Begleiter auch ein
Vor mir und um mich und hintendrein.
Der Kranke preßt sein mühsames Herz.
Die Doggen ducken sich dicht seitwärts.
Heiß trifft mich die Atemwolke des Pferds.
Und hebe ich müde wieder den Schritt,
So knirscht es auch vorne, schlüpft seitlich mit.
Und hinten lautet und trottet Viertritt.
Schneestraße! Ureinsam! Nur unser Gestapfl
Nicht darf der Kranke sich strecken zum Schlaf.
Für den Gaul kein Stall, Dir die Hunde kein Napf.
Die Straße, die nie einen Morgen erschwingt.
Muß ich weiter schweifen durch Schneien und Wind,
Allein, doch unrettbar umwest und umdingt.
Mond
Ich bin erwacht.
Aus unbekanntem Sehnen.
Kälte hat mich um den Traum gebracht.
Auf meinem Rücken dehnen
Franz WerfelArten 13
Sich Gletscher und Muränen.
Ist es ein Nord-Geist,
Der im Mai meinen Nacken vereist?
Nein! Es war der Mond, der böse Greis,
Mit seinem Licht von falscher Güte,
Das eisig meinen Rücken überglühte.
Eine Türe fiel zu.
Als der Traum floh mit schleichendem Schuh.
Ich spür einer Träne Salz im Munde.
Es ist bald früh.
Und immer noch knisternd dies tote Geglüh.
Der Wind trommelt ans Fenster die Drei-Uhr-Stundc.
Allelujah
Ist das Licht nicht immer Eines,
Wenn es auch durch Schwall und Schicht
Bunt sich bricht,
Kranker Abschein seines Scheines,
Und zur dumpfen Farbenwelt
Sich zerschellt?
Licht ist Licht!
Oh schweigendes Jauchzen!
Ist die Seele denn nicht Eines,
Die sich dumpf in Körpern bricht.
Und aus Auge und Gesicht
Zuckt als Abschein ihres Scheines?
Nur die Leiber
Sind wie Scheiben
Mehr und minder dicht!
Oh schweigendes Jauchzen!
Nur Horchen
Tausend Mal legt ich das Ohr an die Erde,
Dem Hufschlag der Nächte zu lauschen.
Doch das ferne Stampfen verstand ich nicht.
i4 /. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
Oft riefen mich Lieder an.
Bleich bebte ich schon, mein Lied da zu hören.
Aber es war nur der schwankende Sang der Wachen.
Wieviel Mal knirschte es nahe durch’s Dunkel
Auffuhr ich den Botenschritten entgegen.
Des Nachttiers Husch verwisperte im Gemäuer.
Angespannt steh ich ohn Atem und Leben.
Nur Horchen, wild sehnendes Wittern,
Daß mein Feldruf mir endlich erschalle.
Lang lebe ich schon.
Das Wort ist mir nicht geworden.
Nur das Wunder verwelkte ringsum
Die schwärzliche Rose im Kelchglas
Sie neigt sich vor mir rief und tiefer.
Aber ihr Aug, ihr Aug ist gebrochen. Jetzt seh ich’s.
DER HERR AUS SAN FRANCISCO
Novelle von
I. A. BUNIN
„Webe Dir, Babylon, starke Stadt!“
(Apokalypse)
D er Herr aus San Francisco — an seinen Namen erinnerte sich
sowohl in Neapel als auch auf Capri niemand — reiste einzig
zu seiner Zerstreuung auf volle zwei Jahre mit Frau und Tochter nach
der „Alten Welt“.
Er war fest überzeugt davon, daß er ein volles Recht auf Erholung,
auf Vergnügen, auf eine lange und bequeme Reise und auf was nicht
sonst noch alles habe. Diese seine Überzeugung war bei ihm dadurch
begründet, daß er erstens reich war, und daß er zweitens, ungeachtet
seiner achtundfünfzig Jahre, soeben erst begonnen hatte zu leben. Bis
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 25
jetzt batte er nicht gelebt, sondern nur existiert, allerdings recht gut
existiert, aber doch so, daß er alle Hoffnungen immer auf die Zukunft
setzte. Er arbeitete rastlos, ohne die Hände ruhen zu lassen, — die
Chinesen, die er sich zu Tausenden zur Arbeit verschrieb, wußten wohl,
was das heißen wollte 1 — und endlich wurde er gewahr, daß schon
vieles getan sei, daß er fast diejenigen erreicht hatte, die er sich einst
zum Vorbild genommen, und er beschloß auszuruhen. Unter den
Menschen, zu denen er gehörte, war es Sitte, die Genösse des Lebens
mit einer Reise nach Europa, nach Indien, nach Ägypten zu beginnen.
Auch er hielt dafür, ebenso zu verfahren. Sicherlich wönschte er für
die Jahre der Arbeit vor allen Dingen sich selbst zu belohnen. Allein
er freute sich auch für seine Frau und Tochter. Seine Gattin hatte
sich niemals durch eine besondere Eindrucksfahigkeit ausgezeichnet,
aber alle Amerikanerinnen in reiferen Jahren reisen ja leidenschaftlich
gern. Und was die Tochter anbetraf, ein eben erwachsenes und leicht
kränkelndes junges Mädchen, so war für sie die Reise geradezu eine
Notwendigkeit: um vom Nutzen für die Gesundheit gar nicht zu reden,
aber gibt es nicht etwa auf Reisen glückliche Begegnungen? Da sitzt
man manches mal an einem Tisch oder betrachtet Fresken Seite an
Seite mit einem Milliardär.
Eine umfangreiche Reiseroute war von dem Herrn aus San Fran¬
cisco ausgearbeitet worden. Im Dezember und Januar hoffte er die
Sonne Süditaliens zu genießen, die Denkmäler des Altertums, die
Tarantella, die Serenaden umherziehender Sänger und das, was Leute
in seinen Jahren so besonders fein empfinden und auskosten, — die Liebe
junger Neapolitanerinnen, selbst wenn diese nicht ganz uneigennützig
sein sollte. Den Karneval gedachte er in Nizza, in Monte Carlo zu¬
zubringen, wo um diese Zeit die erlesenste Gesellschaft zusammen¬
strömt, dieselbe, von der alles Heil der Zivilsation abhängt: sowohl
die Fasson der Smokings als die Unerschütterlichkeit der Throne, sowohl
die Kriegserklärungen als das gedeihliche Bestehen der Hotels, — wo
die einen sich mit Leidenschaft Automobilrennen und Segelregatten
ergeben, andere dem Roulette-Spiel, die dritten dem, was man gemein¬
hin Flirt zu nennen pflegt, und die vierten dem Taubenschießen; so
schön steigen die Tauben aus ihren Schlägen über dem smaragdgrünen
Rasen, auf dem Hintergründe des vergißmeinnichtblauen Meeres, in
die Luft, um gleich darauf; als weiße Klümpchen hart auf den Erd¬
boden aufzuschlagen. Den Anfang des Monat März wollte er Florenz
widmen, zur Karwoche nach Rom fahren, um dort das Miserere zu
t6
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
hören; in seine Pläne waren auch Venedig und Paris miteingeschlossen,
und die Stierkämpfe in Sevilla, und ein Badeaufenthalt auf den eng¬
lischen Inseln, und Athen, und Konstantinopel, und Palästina, und
Ägypten, und sogar Japan, — versteht sich, dieses schon auf dem
Rückweg.Und alles ging anfangs auch vortrefflich.
Es war Ende November. Fast bis an Gibraltar heran ging die Fahrt
bald durch eisige Nebelschichten, bald durch nasse Schneestürme, aber
man fuhr sicher und wohl, sogar ohne Schwanken. Zahlreiche Passagiere
befänden sich auf dem Dampfer, und zwar lauter ansehnliche Leute, das
Schiff — die berühmte „Atlantida“ — glich einem teuersten europäischen
Hotel mit allen Bequemlichkeiten, — mit einer Nacht-Bar, mit römischen
und russischen Bädern, mit eigener Zeitung — und das Leben floß auf ihm
nach allerhöchster Vorschrift dahin: man stand früh auf, bei Trompeten-
Stößen, die schrill durch die Gänge schon um jene Dämmerstunde er¬
tönten, in der es so unfreundlich zögernd über der graugrünen, träge
im Nebel wogenden Wasserwüste heller wird; man zog seine fianellenen
Pyjamas über, trank Kaffee, Schokolade, Kakao; dann setzte man sich
zum Bade in Marmorwannen nieder, trieb Gymnastik, die den Appetit und
wohliges Selbstgefühl erregt, vollendete seine Morgentoilette und schritt
zum ersten Frühstück. Bis elf Uhr hatte man munter über die Prome¬
nadendecks zu spazieren, die frische Kühle des Ozeans einzuatmen,
oder „Shuffleboard“ und andere Spiele zu erneuter Anregung des
Appetits zu spielen, und um elf sich mit Butterbroden und Kraftbrühe
zu stärken. Gekräftigt las man dann mit Vergnügen die Zeitung und
erwartete ruhevoll das zweite Frühstück, das noch nahrhafter und
mannigfaltiger als das erste war; die folgenden zwei Stunden waren
der Ruhe gewidmet; dann standen dicht auf allen Decks Liegestühle,
auf denen die Reisenden, in ihre Plaids gehüllt, lagen, nach dem be¬
wölkten Himmel und auf die schaumigen jenseits der Reling auf¬
tauchenden Wellenberge schauten, oder sanft und süß schlummerten;
um fünf wartete man den Erfrischten und Ermunterten mit starkem
duftendem Tee mit Gebäck auf; um sieben kündeten Trompetensignale
das Diner von neun Gängen an . . . Und dann eilte der Herr aus
San Francisco, vom Zustrom neuer Lebenskräfte erfüllt, sich die Hände
reibend, in seine üppige Luxuskabine, um sich anzukleiden.
Am Abend strahlten die Stockwerke der „Atlantida“ wie mit un¬
zähligen Feueraugen durch die Finsternis, und die große Schar der
Angestellten arbeitete in den Küchen, in den Spülräumen und den
Weinlagem mit besonderer Fieberhaftigkeit Der Ozean, der hinter den
/. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
17
Schiffswänden wogte, war unheimlich, furchtbar, aber man dachte seiner
nicht, in festem Vertrauen auf die Gewalt, die der rothaarige Kapitän
Aber ihn besaß; dieser war eine Erscheinung von ungeheuerlicher
Grösse und Schwere, wirkte immer verschlafen und erschien, in seiner
Uniform mit den breiten goldenen Tressen einem riesigen Götzen
ähnlich, nur selten aus seinen geheimnisvollen Räumen unter Menschen.
An Backbord heulte alle Augenblicke hölleniinster die Sirene auf und
kreischte voll rasender Bosheit, aber nur wenige der Speisenden hörten
auf die Sirene — sie wurde übertönt durch die Klänge eines herrlichen
Streichorchesters, das trefflich und unermüdlich in dem riesigen, doppelt
erleuchteten Saale spielte, der, mit Marmor verkleidet, mit samtenen
Teppichen ausgelegt, vom Lichte der Kristallkronen und der vergol¬
deten Armleuchter festlich übergossen, angefüllt war mit brillanten¬
geschmückten, dekolletierten Damen, mit Herren im Smoking, mit
gewandten Kellnern und zuvorkommenden maitres-d’hötel, unter denen
einer — derjenige, der die Bestellungen nur für den Wein entgegen¬
nahm — sogar mit einer Kette um den Hals, wie irgendein Lord-Mayor
einherging. Der Smoking und vollendet schöne Wäsche verjüngten
den Herrn aus San Francisco ungemein. Hager, nicht groß, uneben-
mässig gebaut, doch fest zusammengefügt, tadellos gebürstet und gebügelt,
maßvoll angeregt saß er im goldenen Perlenglanz dieses Prunksaales vor
einer Flasche bernsteinfarbenem Johannisberger, vor zahllosen Gläsern und
Gläschen aus feinstem Kristall, vor einem krausen Strauß krauslockiger
Hyacinthen. Etwas Mongolisches lag in seinem gelblichen Gesicht mit
dem gestutzten silbergrauen Schnurrbart, seine großen starken Zähne
glänzten von goldenen Plomben, wie altes Elfenbein leuchtete sein
harter, kahler Schädel. Reich, doch ihren Jahren angemessen, war seine
Gattin, eine stattliche, breite und ruhige Dame, gekleidet; kompliziert,
doch leicht und durchsichtig, mit unschuldsvoller Offenheit die Tochter,
die groß und schlank war, prachtvolle, reizend frisierte Haare hatte,
einen veilchenduftenden Atem und ganz zarte rosige Hitzpickelchen
um die Lippen herum und zwischen den kaum bepuderten Schulter¬
blättern . . .
Das Diner zog sich volle zwei Stunden hin, und nach der Mahl¬
zeit wurde im Tanzsaal der Ball eröffnet, währenddessen die Herren,
— zu denen natürlich auch der Herr aus San Francisco zählte, — mit
übereinandergeschlagenen Beinen auf Grund der letzten politischen und
Börsennachrichten die Schicksale der Völker entschieden und, bis
ihre Gesichter himbeerrot glühten, Havanna-Zigarren rauchten und
z8 I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
Liköre in der Bar tranken. In roten Jacken bedienten dort Neger
deren weiße Augäpfel wie abgeschälte hartgesottene Eier aussahen.
Dumpf rollend wogte der Ozean hinter den Schifiswänden, der Schnee¬
sturm pfiff mächtig in dem feuchtschweren Takelwerk, das ganze Schiff
bebte, Sturm und Wellen bezwingend — wie ein Pflug durchteilte es
die schwankenden Ungetüme, die beständig aufwallten, und ihre Schaum¬
kronen hoch in die Luft reckten —, in tödlichem Jammer stöhnte die
vom Nebel erstickte Sirene, die Wachmatrosen auf ihrem hohen Aus¬
guck erstarrten vor Frost und wurden stumpf vor übermäßiger An¬
spannung ihrer Aufmerksamkeit, dem finstern, glühenden Schoß der
Hölle, ihrem letzten, neunten Kreise glich der unter Wasser befindliche
Bauch des Schiffes, — da wo dumpf die riesenhaften Heizkessel stuckerten
und mit ihren glühenden Rachen Berge von Steinkohlen verschlangen,
die bis zum Gürtel entblößte, von ätzendem, schmutzigem Schweiß
übergossene Männer, purpurrot vom Flammenschein, in sie hinein¬
schleuderten. Aber hier in der Bar warf man sorglos die Beine über
die Lehnen der Sessel, schlürfte Kognak und Likör, schwamm in Wolken
beißenden Rauches und unterhielt sich geistreich, im Tanzsaal strahlte
alles und strömte Licht, Wärme und Freude aus, die Paare drehten
sich bald im Walzer, bald bogen und wanden sie sich im Tango —
und die Musik flehte beharrlich mit einer gewissen schamlos-süßen
Wehmut immer um das eine, immer um dasselbe .... Unter dieser
glänzenden Menge war ein Botschafter, ein dürrer, bescheidener alter
Herr; da war ein Mann von hervorragendem Reichtum, glattrasiert,
lang, von unbestimmtem Alter, einem Prälaten ähnlich, in altmodischem
Frack; da war ein berühmter spanischer Schriftsteller; da war eine
allgemeine Schönheit, schon ein wenig verblichen und von nicht ganz
einwandfreien Sitten; da war ein elegantes Liebespaar, dem alle Blicke
voll Neugier folgten, und das sein Glück nicht verbarg: „er“ tanzte
nur mit ihr, sang — und zwar mit großem Können — nur, wenn
„sie“ begleitete, und alles an ihnen wirkte so bezaubernd, daß einzig
der Kapitän wußte, daß diese beiden vom Lloyd angestellt waren, um
für gutes Geld Liebespaar zu spielen, und schon lange, bald auf diesem,
bald auf jenem Schiff herumschwammen.
In Gibraltar freuten sich alle über die Sonne, es war wie im Vor¬
frühling; an Bord der „Atlantida“ erschien ein neuer Passagier, der
allgemeines Interesse erregte — der Kronprinz eines asiatischen Reiches,
der inkognito reiste, ein kleiner Mensch, gleichsam ganz aus Holz, ob¬
wohl geschmeidig in seinen Bewegungen, mit breitem Gesicht, schmalen
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
*9
Augen, goldener Brille, ein wenig unangenehm dadurch, daß sein
storrer, imdichter schwarzer Schnurrbart die Lippen wie bei einem
Toten durchscheinen ließ, im ganzen aber nett, einfach und bescheiden.
Im Mittelländischen Meer spürte man wieder den Winter, die See,
farbenprächtig wie ein Pfauenschweif, ging hoch, trug schneeweiße
Kämme und wurde bei strahlendem Sonnenglanz und völlig reinem
Himmel durch die ihr in tollem Übermut entgegenstürmende „Tra¬
montana“ aufgewühlt. . . Dann wurde der Himmel für zwei Tage
bleich und fahl, der Horizont verschwand im Nebel; man näherte sich
dem Land, Ischia, Capri tauchten auf, durch das Fernglas konnte man
schon am Fuße von etwas Blaugrauem Neapel, wie mit Zuckerstück¬
chen bestreut, erkennen, und darüber und über diesem Blaugrauen —
die Kette der in mattem und totem Weiß schimmernden fernen Schnee¬
berge. Viele Menschen standen auf Deck, viele Ladies und Gentlemen
zogen schon ihre leichten Reisepelze, deren Außenseite aus Fell war,
an; dienstfertige, immer nur im Flüsterton sprechende chinesische boys —
krummbeinige, halberwachsene Jungen mit pechschwarzen Zöpfen bis
auf die Fersen und mit mädchenhaften dichten Augenwimpern, —
schleppten nach und nach Plaids, Stöcke, Koffer und krokodillederne
Handtaschen zu den Treppen ... Die Tochter des Herrn aus San
Francisco stand neben dem Prinzen, der ihr am Abend vorher durch
einen glücklichen Zufall vorgestellt worden war, und gab sich den
Anschein, aufmerksam in die Feme zu blicken, wo er erklärend hin¬
zeigte, hastig und nicht laut irgend etwas dazu erzählend; seiner Größe
nach schien er neben den andern ein Knabe, er war ganz und gar
nicht schön und etwas absonderlich — die Brille, der steife Hut, der
englische Überzieher, dazu die spärlichen Schnurrbarthaare, die Pferde¬
haaren glichen, die bräunliche dünne Haut, die über sein flaches Ge¬
sicht gespannt und leicht lackiert zu sein schien, — doch das junge
Mädchen hörte ihm zu und verstand vor Aufregung nicht, was er zu
ihr sprach; das Herz klopfte ihr vor unbegreiflichem Entzücken über
ihn und vor Stolz, daß er da neben ihr stand und daß sie es war,
mit der er sprach: alles, alles an ihm war nicht so wie bei den an¬
deren — seine mageren Hände, seine blanke Haut, unter der altes
Herrscherblut floß, sogar seine europäische, durchaus einfache, aber
irgendwie besonders sorgfältige Kleidung barg einen unerklärlichen
Zauber in sich, erregte ein Gefühl der Verliebtheit. Der Herr aus
San Francisco selbst, im Zylinder, graue Gamaschen über den Lack¬
schuhen, blickte unverwandt auf eine neben ihm stehende berühmte
jo L A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
Schöne, eine große Blondine von wundervollem Wuchs, deren Augen
nach der letzten Pariser Mode gemalt waren, und die an silbernem
Kettchen ein winziges, kugliges, kahles Hündchen hielt, mit dem sie
die ganze Zeit sprach. Und die Tochter bemühte sich, aus einer un¬
klaren, peinlichen Verlegenheit heraus, den Vater nicht zu bemerken.
Wie alle wohlhabenden Amerikaner war er überaus freigebig auf
Reisen und, wie sie alle, glaubte er an die volle Aufrichtigkeit und
Gewogenheit derjenigen, die ihn so fürsorglich mit Speise und Trank
versahen, die ihn von Morgen bis Abend, seinen geringsten Wünschen
zuvorkommend, bedienten, Ruhe und Reinlichkeit um ihn herum
wahrten, seine Sachen schleppten, Gepäckträger für ihn herbeiriefen,
seine Koffer in die Hotels schafften. So war es Überall, so war es
auf der Überfahrt gewesen, so mußte es auch in Neapel sein. Neapel
wuchs und näherte sich; die Musiker drängten sich mit ihren messing¬
blinkenden Blasinstrumenten schon auf Deck und betäubten plötzlich
aller Ohren mit den festlichen Klängen eines Marsches; der Riesen¬
kapitän erschien in Paradeuniform auf seiner Kommandobrücke und
winkte wie ein gnädiger heidnischer Gott den Passagieren grüßend
zu — und dem Herrn aus San Francisco schien es, ebenso wie auch
allen übrigen, daß nur für ihn allein der vom stolzen Amerika so
sehr geliebte Marsch erscholl, daß er es war, den der Kapitän bei
seiner glücklichen Ankunft willkommen hieß. Und als die „Atlantida“
endlich in den Hafen einlief, mit ihrer vielstöckigen Riesenmasse an
dem menschenbesäten Quai anlegte und die Landungsbrücken krachend
heruntergelassen wurden, — wie viele Portiers mit ihren Gehilfen in
goldbetreßten Mützen, wie viele Kommissionäre aller Art, wie viele
junge Nichtstuer, kerngesunde, zerlumpte Burschen, stürzten ihm da,
mit Stößen farbiger Anpreisungen in den Händen, entgegen, um ihm
ihre Dienste anzubieten! Und er lächelte mit liebenswürdiger Verächt¬
lichkeit diesem ganzen Gesindel zu, indem er zu dem Automobil eben
des Hotels schritt, in welchem auch der Prinz absteigen mochte und
sagte ruhig, bald auf englisch, bald auf italienisch durch die Zähne:
-„Go away! Via!“-
Das Leben in Neapel floß sogleich nach hergebrachter Ordnung
dahin: frühmorgens — das Frühstück in einem unfreundlich dunklen
Speiseummer, durch welches ein feuchter Zugwind von den -offenen,
nach irgendeinem Felsengärtchen hinausgehenden Fenstern her wehte,
ein bewölkter, nicht viel versprechender Himmel und die Menge der
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
Ji
Führer am Eingang zur Halle; dann das erste Lächeln der warmen,
rosigen Sonne, der Blick von dem hochgelegenen Balkon auf den
Vesuv, der bis zum Fuße in leuchtenden Morgendunst gehüllt war,
auf die perlgraue, leichtgekräuselte Oberfläche des Golfs mit den zarten
Umrissen von Capri am Horizont, auf die winzigen Eselchen, die
zwischen zweiräderigen Karren den schlüpfrigen Uferquai hinabliefen,
und auf einzelne Abteilungen kleiner Soldaten, die mit munterer, her¬
ausfordernder Musik irgendwohin marschierten; dann — der Gang zum
Automobil und ein langsames Vorwärtskommen durch die dicht be¬
völkerten, engen und feuchten Straßenschächte, zwischen hohen, viel-
fenstrigen Häusern; das Anschauen unheimlich sauberer Museen, in
denen eine gleichmäßige, angenehme, aber langweilige Helle, gleich¬
sam wie Schneelicht, herrschte, oder die Besichtigung kalter, nach
Wachs duftender Kirchen, in denen überall ein und dasselbe zu Anden
war: der Eingang in das Heiligtum durch einen schweren, ledernen
Türvorhang verdeckt, und drinnen — eine ungeheure Leere, eine
schweigende Stille, die sanften Flämmchen der siebenarmigen Leuchter,
die in der Tiefe auf dem spitzenbehangenen Altar rötlich flimmerten,
eine einsame Alte zwischen den dunklen hölzernen Kirchenbänken,
glatte Grabsteinplatten unter den Füßen und irgendeine unbedingt be¬
rühmte „Kreuzabnahme“; um ein Uhr — zweites Frühstück auf dem
Monte St Martino, wo um die Mittagsstunde nicht wenig Leute der
ersten Gesellschaft zusammenkamen, und wo der Tochter des Herrn
aus San Francisco einmal beinahe schlecht vor Freude wurde, denn
sie glaubte den Prinzen im Saale sitzen zu sehen, obwohl sie schon
aus den Zeitungen wußte, daß er für einige Zeit nach Rom gefahren
sei; um fünf Uhr — Tee im Hotel, im eleganten Salon, wo es so
warm von Teppichen und lodernden Kaminfeuern war; und dann
mußte man sich schon zum Diner zurechtmachen — und wieder das
volle, mächtige Dröhnen des Gongs durch alle Stockwerke hindurch,
wieder auf der Treppe die lange Reihe der seidenraschelnden, dekolle¬
tierten Damen, deren Bild die Wandspiegel Zurückgaben, wieder der
weit und gastlich geöffnete prunkvolle Speisesaal, und die roten Jacken
der Musiker auf der Estrade, und die schwarze Menge der Kellner
um den maitre-d’hdtel herum, welcher mit ungewöhnlicher Meister¬
schaft in seinem Berufe irgendeine dicke rosa Suppe in die Teller
füllte ... Das Diner war, wie überall, die Krone eines jeden Tages,
man schmückte sich dazu wie zur Hochzeit, und es war so überreich
an Speisen, Weinen, Mineralwässern, Süßigkeiten, Früchten, daß gegen
32 LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco
elf Uhr abends die Zimmermädchen auf alle Zimmer Kautschukflaschen
mit kochendem Wasser zur Erwärmung der Mägen bringen mußten.
Allein der Dezember schlug in diesem Jahre für Neapel nicht ganz
zum besten aus; die Portiers wurden betreten, wenn man mit ihnen
über das Wetter sprach und murmelten, nur schuldbewußt die Achseln
zuckend, daß sie sich an ein solches Jahr überhaupt nicht erinnern
könnten, obwohl dieses nicht das erste Jahr war, in welchem sie sich
gezwungen sahen, dergleichen zu murmeln und sich darauf zu berufen,
daß „überall schreckliche Dinge passierten“: an der Riviera gab es nie
dagewesene Regengüsse und Unwetter, in Athen Schnee, der Ätna
war auch ganz verschneit und spie des Nachts Feuer, aus Palermo
flohen die Touristen, um sich vor der Kälte zu retten. Die Morgen¬
sonne täuschte die Neapolitaner in diesem Winter jeden Tag: vom
Mittag an wurde es unfehlbar grau, und ein feiner Regen begann zn
sprühen, der aber immer dichter und kälter wurde; dann blinkten die
Palmen an der Auffahrt des Hotels wie Blech, die Stadt schien be¬
sonders schmutzig und eng, die Museen über die Maßen einförmig,
die Zigarrenstummel der dicken Droschkenkutscher in Gummimänteln,
deren Pelerinen im Winde flatterten, schienen dann unerträglich zu
stinken, das energische Peitschenknallen, mit dem sie ihre abgemagerten
Klepper antrieben, war ganz augenscheinlich nur blinder Lärm, die
Fußbekleidung der Signori, welche die Straßenbahnschienen fegten,
sah fürchterlich aus, und die Frauen, die im Regen mit unbedeckten
schwarzen Köpfen durch den Schmutz schlurrten, schienen abscheulich
kurzbeinig zu sein; über die Feuchtigkeit und den Gestank fauliger
Fische, der vom Meere herkam, das über das Ufer schäumte, ist gar
nicht erst zu reden. Der Herr und die Dame aus San Francisco be¬
gannen des Morgens miteinander zu streiten; ihre Tochter ging bald
bleich mit Kopfweh herum, bald lebte sie auf, war von allem ent¬
zückt, und war dann lieb, schön und gut: schön und gut waren jene
zarten verworrenen Gefühle, welche die Begegnung mit dem unschönen
Menschen, in dessen Adern nicht gewöhnliches Blut floß, in ihr er¬
regt hatte; denn es ist am Ende gar nicht von solcher Bedeutung,
was gerade eine junge Mädchenseele zu erregen vermag, — ob Geld,
ob Ruhm, ob vornehme Geburt . . . Alle versicherten, daß es in Sor¬
rent und auf Capri ganz anders wäre — dort wäre es wärmer und
auch sonniger, und die Zitronen blühten, und die Menschen wären
redlicher und die Weine unverfälschter. Und da beschloß die Familie
aus San Francisco sich mit allen ihren Koffern nach Capri zu begeben
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
33
um cs sich anzuschauen, um auf den Steinen an der Stelle herum¬
zusteigen, wo der Palast des Tiberius gestanden hat, um in den märchen¬
haften Höhlen der blauen Grotte zu verweilen, um die abruzzischen
Dudelsackpfeifer zu hören, die einen ganzen Monat lang vor Weih¬
nachten durch die Insel wandern und das Lob der heiligen Jungfrau
Maria singen, und um sich dann in Sorrent niederzulassen.
Am Tag der Abreise — ein sehr denkwürdiger Tag für die Familie
aus San Francisco! — schien sogar am Morgen die Sonne nicht. Dicker
Nebel verhüllte den Vesuv bis zum Fuße, lag tief und grau über der
bleiernen Dünung des Meeres, das schon auf eine halbe Meile Ent¬
fernung vor den Blicken verschwamm. Capri war vollständig unsicht¬
bar — als ob es niemals auf der Welt gewesen wäre. Und das kleine
Dampfschiff, das darauf zusteuerte, schwankte derartig von einer Seite
auf die andere, daß die Familie aus San Francisco reglos, die Beine
in ihre Plaids gewickelt, auf den Polsterbänken der elenden Offiziers¬
kajüte dieses Dampferchens lag und vor Übelkeit die Augen ge¬
schlossen hielt. Die Missis litt, wie sie glaubte, mehr als alle anderen;
mehrmals überwältigte sie die Seekrankheit, sie vermeinte zu sterben,
aber die Stewardess — sie schaukelte schon viele Jahre tagaus, tagein,
bei Hitze und Frost auf diesen Wellen und war trotzdem unermüdlich
und immer freundlich zu jedermann — eilte ihr mit einem kleinen
Kübel zu Hilfe und lachte nur. Die Miß war entsetzlich blaß und
hielt ein Zitronenscheibchen zwischen den Zähnen; jetzt freute sie
nicht einmal die Hoffnung auf ein unvermutetes Zusammentreffen mit
dem Prinzen in Sorrent, wo er um die Weihnachtszeit zu sein ge¬
dachte. Der Mister lag in weitem Paletot und großer Reisemütze auf
dem Rücken, und brachte während der ganzen Fahrt seine Kinnladen
nicht auseinander; sein Gesicht war dunkel, der Schnurrbart fast weiß,
er hatte schwere Kopfschmerzen; in den letzten Tagen hatte er, dank
dem schlechten Wetter, allzuviel des Abends getrunken und sich an
den berüchtigten Stätten verfeinerten Lasters allzusehr an den geben¬
den Bildern“' ergötzt. Der Regen prasselte gegen die klirrenden Fenster¬
scheiben und floß daran herunter auf die Polsterbänke, der Wind
rüttelte heulend an den Masten, legte bisweilen im Verein mit einer
heranstürmenden Welle das kleine Dampfschiff völlig auf die Seite,
und dann rollte irgend etwas mit Gepolter zu Boden. An den Halte¬
stellen in Castellamare, in Sorrent war es ein wenig erträglicher; aber
auch hier schwankte es entsetzlich, das Ufer mit allen seinen Abhängen,
seinen Gärten und Pinien, mit seinen rosa und weißen Hotels und seinen
3
i
34
I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
nebelverhangenen krausen grünen Bergen flog vor dem Fenster auf und
nieder, wie auf einer Schaukel; Kahne stießen gegen die Schifiswände,
die Matrosen und die Passagiere der dritten Klasse brüllten zornig,
irgendwo schrie ein Kind, würgend, als ob es zerquetscht würde, der
nasse Wind blies durch die Tür, und von einer schwankenden Barke
mit der Flagge „Hotel Royal“ zeterte durchdringend, ohne Atempause,
um die Reisenden anzulocken, ein junger Bursche mit einem Sprach¬
fehler: „Kgoyal! Hotel Kgoyal!“ . . . Und der Herr aus San Francisco,
der sich so fühlte, wie es ihm geziemte — nämlich wie ein ganz alter
Mann — dachte nur grämlich und böse an alle diese „Royals“, „Splen-
dids“, „Excelsiors“, und an das habsüchtige, knoblauchstinkende Ge¬
sindel, Italiener genannt; einmal, während eines Aufenthaltes, gewahrte
er, die Augen öffnend und sich auf dem Divan etwas aufrichtend, unter
dem überhängenden Felsgestein des Ufers eine Handvoll so jämmer¬
licher, durch und durch verschimmelter steinerner Häuschen, die hart
am Wasser, neben Kähnen, neben allerlei Lumpenzeug, Blechgerümpel
und braunen Netzen eins am andern klebten, daß ihn Verzweiflung
Uberkam bei dem Gedanken, dieses eben sei das wahre Italien, dessen
Schönheiten zu genießen er hergekommen war ... Endlich, in der
Abenddämmerung, begann die schwarze Masse der Insel, deren Basis
gleichsam wie mit roten Lichtpünktchen durchstanzt schien, näher zu
rücken, der Wind wurde sanfter, wärmer und wohlriechender, über
die sich glättenden Wögen, die wie schwarzes Öl schillerten, ergossen
sich von den Hafenlaternen her ringelnd goldne Riesenschlangen . . .
Dann rasselte plötzlich der Anker und klatschte aufspritzend in
das Wasser, von allen Seiten gellte, sich steigernd und sich über¬
bietend, das wüste Rufen und Schreien der Barkenführer, — und auf
einmal wurde es einem leichter ums Herz, die Offizierskajüte erstrahlte
in grellem Licht, man hatte Lust, zu essen, zu trinken, zu rauchen,
sich zu rühren . . . Nach zehn Minuten bestieg die Familie aus San
Francisco eine große Barke, betrat nach einer Viertelstunde das Pflaster
des Uferquais und nahm dann in dem hellen kleinen Waggon Platz,
der sie surrend die Anhöhe hinaufzog, zwischen Weinbergspalieren,
zwischen halbverfallenen steinernen Mauern und feuchten, verkrümmten,
hin und wieder durch Strohdächer geschützten Orangenbäumen empor,
die mit ihren leuchtenden Früchten und ihrem dickblätterigen, blank¬
glänzenden Laub an den offenen Waggonfenstern vorbei den Berg
hinabglitten .. . Süß duftet in Italien die Erde nach einem Regen,
und eine jede seiner Inseln hat ihr eigenes, besonderes Aroma!
/. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
35
Die Insel Capri war feucht und dunkel an diesem Abend. Aber
jetzt belebte sie sich ftlr einen Augenblick, hier und da blinkte Licht
auf, wie immer um die Ankunftsstunde des Dampfschiffes.
Oben auf dem Berg, auf dem kleinen Platz, wo sich der Bahnhof
der Funicolare befand, stand bereits wieder die Menge derjenigen,
denen die Verpflichtung oblag, den Herrn aus San Francisco würdig
zu empfangen. Es kamen auch noch andere Leute an, die aber nicht
der Aufmerksamkeit wert waren — einige auf Capri ansässige Russen,
ungepflegt, bärtig, bebrillt, in ihre Bücherweisheiten versunken und
daher zerstreut, die Kragen ihrer alten Tuchmäntel hochgeschlagen,
und eine Gesellschaft langbeiniger, langhalsiger, rundköpfiger deutscher
Jünglinge in Tiroler Kostümen mit Rucksäcken über der Schulter, die
niemandes Dienste benötigten, sich überall wie zu Hause fühlten und
ganz und gar nicht großartig im Geldausgeben waren. Der Herr aus
San Francisco, der sich ruhig sowohl von den einen, wie von den
andern abgesondert hatte, wurde sogleich bemerkt. Man war ihm und
seinen Damen eifrigst beim Aussteigen behilflich, man lief vor ihm
her, um ihm den Weg zu zeigen, wiederum umringten ihn halbwüchsige
Buben und jene stämmigen Bauemweiber von Capri, die auf ihren
Köpfen die Koffer und Taschen der anständigen, herrschaftlichen
Reisenden tragen. Ihre kothurnartigen Holzsandalen klapperten auf
dem Steinpflaster des kleinen, etwas opemhaften Platzes, über welchem
die Kugel einer elektrischen Bogenlampe im feuchten Winde hin und
her schwankte, die Bubenschar begann pfeifend Vogelstimmen nach¬
zuahmen und kopfüber Rad zu schlagen — und wie auf der Bühne
schritt der Herr aus San Francisco in ihrer Mitte auf irgend einen
mittelalterlichen Bogen, der mehrere Häuser zu einem einzigen ver¬
band, zu; dahinter führte zu der lichterstrahlenden Auffahrt des Hotels
ein abschüssiges, geräuschvolles Gäßchen mit wehenden Palmenkronen
über den flachen Dächern zur Linken und bläulichen Sternen am
schwarzen Nachthimmel droben .. . Und wieder war es, als ob nur
zu Ehren der Gäste aus San Francisco die steinerne feuchte kleine Stadt
auf der felsigen Insel im Mittelländischen Meer zum Leben erwacht
wäre, als ob sie es wären, die den Hotelwirt so froh und glücklich
machten, als ob nur auf sie das chinesische Gong gewartet hätte, um
durch alle Stockwerke hindurch sammelnd zum Diner zu rufen, kaum
daß sie die Halle betreten hatten.
Der Anblick des Wirtes, eines ungemein eleganten jungen Mannes, der
ihnen entgegenging und sich mit ausgesuchter Höflichkeit vor ihnen
l 6 LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco
verneigte, machte den Herrn aus San Francisco einen Augenblick be¬
troffen: plötzlich, nachdem er einen Blick auf ihn geworfen, erinnerte
sich der Herr aus San Francisco, daß er heut nacht, unter andern
wirren Bildern, die ihn im Traum bestürmt hatten, gerade diesen
Gentleman gesehen hatte, auf ein Haar dieselbe Erscheinung, in eben
dem Besuchsanzug mit den geschweiften Schößen und mit eben
dem pomadisierten, sorgfältig gescheitelten Kopf. Verwundert wäre
er sogar beinahe stehen geblieben. Aber da in seiner Seele schon
längst auch nicht ein Körnchen irgendwelcher sogenannter mystischer
Gefühle zurückgeblieben war, so erlosch seine Verwunderung auch
sogleich wieder: scherzend erzählte er, als sie den Hotelkorridor ent¬
langschritten, seiner Frau und Tochter dieses seltsame Zusammentreffen
von Traum und Wirklichkeit. Doch nur die Tochter sah ihn in
diesem Augenblick voll Erregung an: ihr Herz zog sich plötzlich vor
Weh zusammen, ein so starkes Gefühl von Einsamkeit auf dieser
fremden, dunklen Insel überkam sie, daß sie beinahe in Tränen aus¬
gebrochen wäre. Aber dem Vater sagte sie trotzdem nichts von ihren
Gefühlen, — wie immer.
Soeben erst hatte ein hoher Gast die Insel Capri verlassen — Prinz
Reuß XVIL Den Gästen aus San Francisco wurden dieselben Gemächer
angewiesen, die er innegehabt hatte. Das hübscheste und geschickteste
Zimmermädchen wurde ihnen zugeteilt, eine Belgierin mit schmal und
fest geschnürter Taille und einem gestärkten Häubchen, das wie eine
kleine gezackte Krone aussah, der ansehnlichste und zuverlässigste
Kellner, ein kohlschwarzer Sizilianer mit Feueraugen, und der ge¬
wandteste Hausdiener, der kleine runde Luigi, ein großer Spaßvogel,
der schon oft in seinem Leben die Stelle gewechselt hatte. Nach
einer Minute klopfte es leicht an der Zimmertür des Herrn aus San
Francisco, der französische maitre d’hötel erschien, um zu fragen, ob
die neu angekommenen Herrschaften zu speisen wünschten, und im
Falle einer bejahenden Antwort, an der übrigens nicht zu zweifeln
war, zu vermelden, daß es heute Languste, Roastbeaf, Spargel, Fasan usw.
gäbe. Der Boden schwankte noch unter dem Herrn aus San Francisco
— so hatte ihn dieses elende kleine italienische Fahrzeug geschaukelt —,
aber ohne sich zu beeilen, schloß er mit eigenen, wenn auch aus
Mangel an Gewohnheit nicht ganz geschickten Händen das Fenster,
das beim Eintritt des maitre d'hötel aufgeschlagen war, und durch
welches der Geruch der fernen Küche und nasser Blumen aus dem
Garten hereindrang, und antwortete ohne Eile, mit gemessener Aus-
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
37
führlichkeit, daß sie speisen würden, daß der Tisch für sie weit von
der Tür entfernt, ganz tief im Saal drinnen gedeckt werden müsse,
daß sie den hiesigen Landwein und Champagner trinken würden —
mäßig herben, der nur leicht gekühlt werden darf —, und jedem
seiner Worte stimmte der maitre d’hötel in den mannigfaltigsten Ton¬
arten zu, die aber alle nur den einen Sinn hatten, daß es keinen
Zweifel an der Berechtigung der Wünsche des Herrn aus San Fran¬
cisco gäbe und geben könne, und daß alles auf das genaueste aus¬
geführt werden würde. Zuletzt neigte er den Kopf und fragte vor¬
sichtig und zart: „Das wäre alles, Sir?“ —
Und fügte, da er ein zögerndes „Yes“ zur Antwort bekommen,
hinzu, daß heute bei ihnen in der Halle Tarantella getanzt würde —
die Karmella und der Guiseppe würden tanzen, die in ganz Italien
und „bei der ganzen Touristen weit“ berühmt seien.
— „Ich habe ihr Bild auf den Anzeigen gesehen —“ sagte der Herr
aus San Francisco ohne irgendwelchen Ausdruck in der Stimme —
„dieser Guiseppe — ist das ihr Mann?“ —
— „Ihr Vetter, Sir,“ — antwortete der maitre d’hötel. Und nach¬
dem der Herr aus San Francisco ein weniges gezögert, etwas überlegt,
aber nichts gesagt hatte, entließ er ihn mit einer Neigung des Kopfes.
Dann begann er von neuem sich gleichsam wie zur Hochzeit zu
bereiten: er zündete überall die elektrischen Lampen an, füllte alle
Spiegel mit dem Widerschein von Licht und Glanz, mit dem Doppel¬
bild der Möbel und der geöffneten Koffer, begann sich zu rasieren,
zu waschen und alle Augenblicke zu klingeln, zur gleichen Zeit, in
der andere ungeduldige Klingelzeichen aus den Zimmern seiner Frau
und Tochter durch den ganzen Korridor schrillten und die seinen
durchkreuzten. Und Luigi in seinem roten Schurz machte die Zimmer¬
mädchen, die mit Porzellaneimern in den Händen an ihm vorbeiliefen,
zu Tränen lachen, indem er Grimassen des Schreckens schnitt, mit der
Leichtigkeit, die vielen Dicken eigen ist, auf das Klingeln Hals über
Kopf an die Tür stürzte, mit gekrümmtem Knöchel anklopfte und
mit erheuchelter Schüchternheit, mit einer an Idiotismus grenzenden
Ergebenheit fragte:
— „Ha sonato, signore?
Und hinter der Tür ließ sich eine gemessene, knarrende, beleidigend
höfliche Stimme vernehmen:
— „Yes, come in . . .“
Was fühlte, was dachte der Herr aus San Francisco an diesem für
38 LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco
ihn so bedeutsamen Abend? Gar nichts Besonderes fühlte er; denn
darin eben liegt ja das ganze Unglück, daß auf dieser Welt dem
äußeren Anschein nach alles gar so einfach ist! Wenn er in seiner
Seele auch eine Ahnung davon verspürt hätte, daß etwas geschehen
würde, so würde er gleichwohl doch gedacht haben, daß es noch
nicht bald, auf keinen Fall, daß es sofort geschehen würde. Außer¬
dem hatte er, wie jeder, der eine solche Schaukelei durcbgemacht hat;
große Lust, etwas zu essen, er schwelgte in Gedanken an den ersten
Löffel Suppe, an den ersten Schluck Wein und vollendete die gewohnte
Tätigkeit des Toilettemachens sogar in einiger Erregung, die keine Zeit
zum Nachdenken ließ.
Nachdem er rasiert und gewaschen war und einige falsche Zähne
zurechtgesetzt hatte, feuchtete und bürstete er, vorm Spiegel stehend,
die Überreste seiner dichten perlgrauen Haare fest um den dunkel¬
gelblichen Schädel herum mit silbergefaßten Bürsten an, zog über seinen
kräftigen alten Körper, der sich in der Taille vor Überernährung zu
runden begann, ein cremefarbenes Seidentrikot und über seine dürren
Füße mit den platten Sohlen schwarzseidene Strümpfe und Ballschuhe,
brachte, sich einen Augenblick niedersetzend, die mit seidenen Hosen¬
trägern hochgespannten schwarzen Beinkleider und das schneeweiße
Hemd mit der abstehenden steifen Brust in Ordnung, befestigte kost¬
bare Knöpfe in den schimmernden Manschetten und begann, sich mit
dem An bringen des immer wieder entschlüpfenden Hemdknöpfchens
unter dem steifen Kragen abzuquälen. Der Boden schwankte noch
immer unter ihm, die Fingerspitzen taten ihm sehr weh dabei, das
Hemdknöpfchen kniff ihm ein paarmal tüchtig die welke Haut in
der Vertiefung unterhalb des Kehlkopfes zusammen, aber standhaft
ließ er nicht ab und brachte es denn endlich zustande, mit Augen, die
vor Anstrengung glänzten, und ganz blau im Gesicht, weil der über
die Maßen enge Kragen ihm die Kehle zusammenschnürte — völlig er¬
schöpft blieb er danach vor dem großen Wandspiegel sitzen, der seine
ganze Gestalt zurückwarf, die sich in den andern Spiegeln wiederholte.
— „O das ist schrecklich!“ — murmelte er vor sich hin, indem er
seinen starkknochigen, kahlen Kopf sinken ließ, und sich nicht zu
begreifen bemühte, nicht darüber nachdachte, was eigentlich schreck¬
lich wäre; dann musterte er mit gewohnter Aufmerksamkeit seine
kurzen Finger mit den gichtischen Verdickungen an den Gelenken,
seine großen, gewölbten, mandelfarbigen Nägel und wiederholte voll
Überzeugung: — „Das ist schrecklich!“ — . ..
LA. Bunin, Der Herr ans San Francisco 39
Da aber tönte laut ballend wie in einem heidnischen Tempel durch
das ganze Haus das zweite Gongzeichen» Der Herr am San Francisco
stand eilig von seinem Platz auf, zog den Kragen noch enget mit der
Kravatte zusammen, zwängte den Wagen in die ausgeschnittene Weste,
zog den Smoking an, richtete die. Manschetten und beschaute sich noch
einmal von allen Seiten, im Spiegel . . . Diese braune Karmella mit
dm durchtriebenen Augen, die wie eine Mulattin aussiebt, muß in
ihrem farbenfreudigen Putz, in dem das Orange überwiegt, ganz außer¬
ordentlich tanzen, dachte er bei sich. Und rüstig aus seinem Zimmer
tretend, schritt er übet den Teppich zum benachbarten Zimmer seiner
Frau und fragte laut, ob sie bald fertig wären ?
— „In fünf Minuten, Papa!“ — antwortete hell und schon wieder
heiter die Jungmädchenstimme hinter der Tür.
— „Vortrefflich!“ — sagte der Herr am San Francisco.
Gemessen, ohne zu eilen, ging er durch die Korridore, Über die
Treppen, die mit roten Teppichen belegt waren, hinunter und suchte
das Lesezimmer. Die Bedienten, die ihm begegneten, drückten sich vor
ihm an die Wand, aber er ging, als ob er sic gar nicht bemerkte.
Eine schon von den Jahren gebeugte alte Dame mit milchweißem
Haar, aber dennoch dekolletiert, in lichtgrauem Seidenkleid, eilte, da
sie sich zum Diner verspätet hafte, so schnell sie konnte, dabei lächer¬
lich trippelnd wie ein Huhn, vor ihm her, und er überholte sie mühelos.
Neben den Glastüren zum SpeucsaaJ, in welchem schon alle versammelt
waren und begonnen hatten zu speisen, blieb er vor einem kleinen
Usch stehen, der mit Zigarrenkisten und Schachteln ägyptischer Zi¬
garetten beladen war, wählte eine große Manüia und warf drei Lire
auf den Tisch; im Vorübergehen blickte er im Wintergarten durch
das offne Fenster: aus der Dunkelheit wehte ihm weiche Luft ent¬
gegen, tauchte der Wipfel einer alten. Palme auf, die ihre gigantisch
wirkenden Fachtrwedel unter dem Sternenhimmel entfaltete, klang das
ferne gleichmäßige Rauschen des Meem ... Im Lesezimmer, das be¬
haglich, still und nur Über den Tischen erfrüchteet war, stand irgend
ein grauhaariger, nicht sehr sauberer Deutscher, der Ibsen ähnlich sah,
r un de, in Silber gefaßte Brillengläser trug und verrückte erstaunte Augen
hatte, tmd wühlte raschelnd in den Zeitungen. Der Herr aus San
Francisco musterte ihn kalt, ließ sich dann in einem Winkel in einen
tiefen Ledersessel neben einer Lampe mit grünem Schirm nieder, setzte
das JPincenez auf, reckte den Kopf aus dem Kragen, der ihn würgte,
und verschwand völlig hinter seinem Zeitungsblatt. Er überflog rasch
40
I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
die Überschriften einiger Artikel, las einige Zeilen über den niemals
endenden Balkankrieg und wendete mit gewohnter Bewegung das
Zeitungsblatt um — als plötzlich die Zeilen vor ihm gläserne Blitze
sprühten, sein Hals sich anschwellend spannte, seine Augen aus dem
Kopfe heraustraten und das Pincenez ihm von der Nase flog ... Er
stürzte vornüber, rang nach Luft — und begann wild zu röcheln; sein
Unterkiefer fiel herab, der ganze Mund blinkte hell vom Gold der
Plomben, der Kopf sank ihm auf die Schulter und pendelte haltlos
hin und her, die steife Hemdbrust beulte sich — der ganze Körper
glitt, sich krümmend, zu Boden, riß mit den Absätzen den Teppich
mit und schien verzweifelt mit irgend jemandem zu ringen.
Hätte sich der Deutsche nicht im Lesezimmer befunden, so hätte
man im Hotel das schreckliche Ereignis schnell und geschickt zu ver¬
tuschen gewußt, im Augenblick hätte man den Herrn aus San Fran¬
cisco an Kopf und Füßen gepackt, und durch einen hinteren Ausgang
hinaus, ein wenig weiter weggeschafit — und keine Menschenseele
unter den Gästen hätte erfahren, was er da angerichtet hatte. Aber
der Deutsche stürzte mit Geschrei aus dem Lesezimmer, er brachte
das ganze Haus, den ganzen Speisesaal in Aufruhr. Viele sprangen,
die Stühle umwerfend, vom Essen auf, viele rannten erbleichend nach
dem Lesezimmer, in allen Sprachen schwirrte es durcheinander: „Was?
was ist denn geschehen?“ — Und niemand antwortete vernünftig, und
niemand begriff etwas, da bis zum heutigen Tage noch die Menschen
sich über nichts so verwundern, wie über den Tod, und um nichts
auf der Welt an ihn glauben wollen. Der Wirt lief im Kreise herum
von einem Gast zum andern, versuchte die Forteilenden aufzuhalten
und mit hastigen Versicherungen zu beruhigen, daß es nichts auf sich
habe, daß es nur eine Bagatelle wäre, nur eine kleine Ohnmacht, die
einen Herrn aus San Francisco befallen habe . . . Aber niemand hörte
auf ihn, viele sahen, wie die Kellner und Hausdiener jenem Herrn
die Kravatte, die Weste, den zerdrückten Smoking herunterrissen und
sogar aus irgendeinem Grunde die Ballschuhe von den schwarzseidenen
Füßen mit den platten Sohlen zerrten. Er kämpfte noch immer. Hart¬
näckig rang er mit dem Tode, wollte sich ihm, der ihn so uner¬
wartet und roh überfallen hatte, um keinen Preis ergeben. Er warf
den Kopf von einer Seite auf die andere, röchelte, als ob ihm die
Kehle durchschnitten würde, rollte die Augen, wie ein Trunkener...
Als man ihn hastig hinausgetragen und auf das Bett in Nummer 43
gelegt hatte — in das kleinste, schlechteste, feuchteste und kälteste
/. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
4 1
Zimmer am Ende des Korridors zu ebener Erde — eilte seine Tochter
mit gelosten Haaren, im offenen Frisiermantel, mit entblößter, hoch*
geschnürter Brust herbei, und dann auch seine große, etwas schwer¬
fällige, schon fertig zum Diner geschmückte Gattin, deren offener
Mund ganz rund vor Entsetzen war . .. Aber da bewegte er auch
schon nicht mehr den Kopf.
Nach einer Viertelstunde war die Ordnung im Hotel mühsam wieder
hergestellt. Aber der Abend war unrettbar verdorben. Einige kehrten
in den Speisesaal zurück und beendeten ihre Mahlzeit, aber schweigend,
mit beleidigten Gesichtem, während der Wirt bald an den einen, bald
an den andern herantrat, in hilfloser und geziemender, ärgerlicher
Erregtheit die Achseln zuckte, sich schuldlos schuldig fühlte, allen ver¬
sicherte, daß er sehr wohl begreife „wie unangenehm das sei“, und sein
Wort gab, „alle von ihm abhängenden Maßregeln“ zur Beseitigung
der Unannehmlichkeit zu ergreifen; die Tarantella mußte verschoben
werden, alles überflüssige elektrische Licht wurde ausgelöscht, die Mehr¬
zahl der Gäste ging fort ins Bierrestaurant, und es wurde so still, daß
man deutlich das Ticken der Uhr in der Halle vernehmen konnte, wo
ganz allein ein Papagei blechern vor sich hinschwätzte, vorm Schlafen
in seinem Käfig herumturnte und es fertig brachte, die eine Pfote ver¬
zwickt an der obersten Stange festzukrallen und so einzuschlafen . . .
Der Herr aus San Francisco lag auf einer billigen, eisernen Bettstelle,
unter groben, wollenen Decken, auf die trübe das Licht einer einzigen
elektrischen Birne von der Decke herab fiel. Ein Eisbeutel hing schlaff"
auf seiner feuchten und kalten Stirn. Sein bläuliches, schon totengleiches
Gesicht erkaltete nach und nach, das heisere Gurgeln, das aus seinem
offenen, goldblinkenden Munde kam, wurde schwächer. Das war schon
nicht mehr der Herr aus San Francisco, der da röchelte — den gab es
nicht mehr — das war ein anderer. Seine Frau, seine Tochter, der Arzt,
die Dienerschaft standen herum und blickten stumpf auf ihn. Plötzlich
vollendete sich das, was sie erwarteten und fürchteten — das Röcheln
brach ab. Und langsam, langsam, vor aller Augen, überzog Blässe
das Gesicht des Verschiedenen, seine Züge streckten, verfeinerten
sich, klärten sich in einer Schönheit, die ihm schon lange geziemt
hätte ...
Der Wirt trat herein. — „Gia’ 6 morto“-sagte ihm flüsternd der
Arzt. Der Wirt zuckte mit gleichgültigem Gesicht die Achseln. Die
Missis, der still die Tränen über die Backen liefen, trat an ihn heran
4 * LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco
und sagte schüchtern, daß man nun den Verstorbenen in sein Zimmer
hinübertragen müsse.
— „O nein, Madame —'“, erwiderte rasch, korrekt, aber bereits ohne
jede Liebenswürdigkeit, und auf französisch, nicht auf englisch, der
Wirt, der gar kein Interesse mehr für die Kleinigkeit hatte, welche
die Reisenden aus San Francisco jetzt noch in seiner Kasse zurücklassen
mochten — „das ist vollkommen unmöglich, Madame —“, sagte er und
fügte zur Erklärung hinzu, daß dieses seine besten Zimmer seien, wenn
er ihren Wunsch erfüllte, so würde das in ganz Capri bekannt werden,
und die Reisenden würden dann anfangen diese Zimmer zu meiden.
Die Miß, die ihn die ganze Zeit seltsam angeschaut hatte, sank auf
einen Stuhl und brach, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, in
Schluchzen aus. Die Tränen der Missis versiegten auf einmal, das Blut
schoß ihr ins Gesicht. Sie erhob die Stimme und begann in ihrer
Muttersprache, noch immer nicht glaubend, daß die Achtung vor ihnen
endgültig dahin sei, zu fordern. Der Wirt wies sie mit höflicher Würde
ab: wenn Madame die Gepflogenheiten des Hotels nicht Zusagen, so
wage er nicht Madame zurückzuhalten; und er erklärte mit Festigkeit,
daß der Körper noch heute bei Tagesanbruch fortgeschafft werden
müsse, daß die Polizei schon benachrichtigt sei, daß einer ihrer Ver¬
treter sogleich erscheinen werde, um die notwendigen Formalitäten zu
erfüllen ... Ob man auf Capri einen wenn auch nur einfachen Sarg
bekommen könne, frage Madame? Leider nein, auf keinen Fall, und
an fertigen könne ihn auch niemand mehr rechtzeitig. Man müsse sich
schon irgendwie anders behelfen ... Er bekomme, zum Beispiel, das
englische Sodawasser in großen länglichen Kisten .. die Zwischenwände
einer solchen Kiste könne man herausnehmen ....
In der Nacht schlief alles im Hotel. Auf Nummer 4) hatte man
das Fenster geöffnet — es ging nach einem Winkel des Gartens hinaus,
wo unter einer hohen Steinmauer, deren Brüstung mit Glasscherben
bespickt war, eine verkümmerte Banane wuchs — man hatte das elek¬
trische Licht gelöscht, die Tür abgeschlossen und war hinausgegangen.
Der Tote blieb im Dunkel, bläuliche Sterne schauten vom Himmel auf
ihn nieder, eine Grille sang in der Wand ihr schwermütig-sorgloses
Lied ... In dem schwach erleuchteten Korridor saßen auf dem Fenster*
brett zwei Zimmermädchen bei einer Stopfarbeit. Luigi kam, in Pan¬
toffeln, einen Haufen Kleider über dem Arm.
— „Pronto?“, fragte er geschäftig in lautem Flüsterton, mit den
Augen auf die unheimliche Tür am Ende des Korridors weisend.
/. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco
43
Er winkte leicht mit der freien Hand nach jener Seite: — „Partenza!“ —
rief er flüsternd, als ob er einen Zug abfertigte, so, wie sie gewöhnlich
auf den Bahnhöfen in Italien bei Abfahrt der Züge rufen, — und die
Zimmermädchen Helen, sich schüttelnd vor lautlosem Lachen, mit den
Köpfen eine gegen die Schulter der anderen.
Dann hüpfte er in weichen Sprüngen bis dicht an die Tür heran,
klopfte unhörbar an und, den Kopf auf die Seite geneigt, fragte er
halblaut mit tiefster Ehrerbietung:
— „Ha sonato, signore?“ —
Und die Kehle zupressend, mit vorgeschobenem Unterkiefer antwortete
er, gemessen, knarrend und gramvoll sich selbst so, als ob es hinter
der Tür her käme:
«
— „Yes, come in“ ....
Bei Tagesanbruch, als es hinter dem Fenster von Nummer 43 zu
dämmern und ein feuchter Wind in der gefaserten Blattkrone der Banane
zu rascheln begann, als über der Insel Capri der lichtblaue Morgen¬
himmel sich wölbte und ausbreitete, und die Sonne, die hinter den
fernen blauen Bergen Italiens heraufstieg, den ihr gegenüberliegenden
klaren, scharfumrissenen Gipfel des Monte Soliaro vergoldete, als die
Steinklopfer, welche die Fußpfade der Insel für die Touristen aus¬
bessern, an ihre Arbeit gingen — brachte man auf Zimmer Nummer 43
eine lange ehemalige Sodawasserkiste. In Kürze wurde sie sehr
schwer — und drückte arg gegen die Knie des jüngeren Portiers, der
sie eilig auf einem Einspänner die weiße Landstraße hinabbeförderte,
die sich in Schleifen an den steilen Abhängen Capris entlang, zwischen
steinernen Mauern und Weinbergen, immer tiefer und tiefer, hinunter
bis zum Meere wand. Dem Kutscher, einem kümmerlichen Kerlchen
mit roten Augen, in einer alten Jacke mit zu kurzen Ärmeln und in
niedergetretenem Schuhzeug, war noch schlecht vom gestrigen Rausch —
die ganze Nacht durch hatte er in der Trattoria Würfel gespielt — und
er peitschte ununterbrochen auf sein kräftiges Pferdchen ein, das, auf
sizilianische Art angeschirrt, hurtig mit allen möglichen Glöckchen
bimmelte, die an seinem mit bunten wollenen Pompons gezierten Zaum¬
zeug und an den messingbeschlagenen Kummethörnern hingen; aus
seinem gestutzten Stirnschopf ragte eine ellenlange Vogelfeder, die im
Laufen beständig auf und nieder tanzte. Der Kutscher schwieg, er war
niedergedrückt durch seine Liederlichkeit, durch seine Laster — dadurch,
daß er bis zum letzten Heller in der Nacht alle die Kupfermünzen,
44
I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
von denen seine Taschen voll gewesen waren, verspielt hatte. Doch
der Morgen war frisch, in solcher Luft, am Meere, unter dem Morgen¬
himmel verflüchtigt sich ein Rausch schnell, und die Sorglosigkeit kehrt
dem Menschen bald wieder; auch tröstete den Rutscher jener uner¬
wartete Verdienst, den ihm irgend ein Herr aus San Francisco ver¬
schafft hatte, dessen toter Kopf da hinter seinem Rücken in der Kiste
hin und her schwankte ... Das Dampfschiff, das tief unten wie ein
Käfer auf der blendenden Bläue lag, die in so satter Fülle über den
Golf von Neapel ausgegossen ist, gab mit der Dampfpfeife schon seine
letzten Signale — munter hallten sie über die ganze Insel wider, auf
der jede Krümmung, jede Erhöhung, jeder Stein nach allen Seiten hin
so deutlich sichtbar war, als ob es überhaupt keine Luft dazwischen
gäbe. Am Hafen wurde der jüngere Portier von dem Älteren einge¬
holt, der die Miß und die Missis, beide bleich, mit Augen, die von
Tränen und von der schlaflosen Nacht eingesunken waren, im Auto¬
mobil hergefahren hatte. Und nach zehn Minuten teilte das Dampf¬
schiff aufrauschend von neuem die Wellen, und von neuem eilte es auf
Sorrent, auf Castellamare zu, führte auf immer die Familie aus San
Francisco von Capri fort.. . Und auf der Insel kehrte wieder Friede
und Ruhe ein.
Auf dieser Insel lebte vor zweitausend Jahren ein Mensch, völlig ver¬
strickt in seine grausamen und schmutzigen Taten, der irgendwie die
Macht über Millionen von Menschen errafft hatte, und der nun im
Geiste verwirrt durch die Sinnlosigkeit dieser Machtfülle und durch die
Furcht, es könne ihn jemand aus dem Hinterhalt erschlagen, Grausam¬
keiten über alles Maß verübte — und die Menschheit wahrte sein Ge¬
dächtnis in alle Ewigkeit, und diejenigen, die in ihrer Gesamtheit ebenso
unbegreiflich und in Wirklichkeit auch ebenso grausam, wie er, jetzt
in der Welt herrschen, kommen aus aller Herren Länder hierher zu¬
sammen, um die Überreste jenes steinernen Palastes anzuschauen, in
welchem er auf einem der jähesten Felsenvorsprünge der Insel gelebt
hat. An diesem wundervollen Morgen schliefen noch alle, die in eben
dieser Absicht nach Capri gekommen waren, in ihren Hotels, obwohl
die kleinen mausgrauen Eselchen mit ihren roten Sätteln schon an den
Auffahrtsrampen der Gasthöfe bereit standen: wiederum würden heute,
nachdem sie ausgeschlafen und sich sattgegessen hatten, junge und alte
Amerikaner und Amerikanerinnen, Deutsche, — Männer und Frauen,—auf
sie hinauf klettern, und wiederum würden auf den schmalen, steinigen
Pfaden den ganzen Berg hinan, bis hart zum Gipfel des Monte Tiberio,
I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
45
die alten Bettelweiber von Capri mit Stocken in den sehnigen Händen
hinter ihnen herlaufen. Dadurch beruhigt, daß der tote alte Herr aus
San Francisco, der auch mit ihnen hatte hinaufreiten wollen, statt dessen
sie aber nur durch eine Mahnung an den Tod erschreckt hatte, schon
nach Neapel geschafft worden war, schliefen die Reisenden einen festen
gesunden Schlaf, und auf der Insel war es noch still, die Läden in
in der Stadt waren noch geschlossen. Nur auf dem kleinen Platze
war schon Markt — Fisch und Gemüse wurden gehandelt, doch nur ein¬
fache Leute waren da, unter denen, wie immer ohne jegliche Beschäftigung,
Lorenzo herumstand, ein großer, alter Barkenführer, ein unbekümmerter
Faulenzer und ein durch ganz Italien berühmter schöner Mann, der
zahlreichen Malern mehr als einmal als Modell gedient hatte: er hatte
zwei Hummer, die er in der Nacht gefangen, hergebracht und schon
fftr ein Spottgeld verkauft — sie krabbelten jetzt in der Schürze des
Koches desselben Hotels, in welchem die Familie aus San Francisco
übernachtet hatte — ,und konnte nun ruhig, sei’s auch bis zum Abend,
herumstehen, und in seinen Lumpen, mit seiner Tonpfeife und seinem
roten Wollbarett, das schief auf dem einen Ohr saß, malerisch postiert,
mit königlicher herablassender Nachsicht seiner Umgebung zuschauen.
An den steilen Abhängen des Monte Soliaro, auf der alten, in den
Felsen gehauenen, phöniziseben Straße, über ihre steinernen Stufen stiegen
von Ana-Capri her zwei abruzzische Bergbewohner herunter. Der eine
hatte unter seinem Fellumhang einen Dudelsack — einen großen Balg
aus Ziegenleder mit zwei eingesetzten Pfeifen — der andere eine Art
Hirtenflöte aus Holz. Sie gingen—und unter ihnen breitete sich freude¬
strahlend, wunderherrlich, sonnig die ganze Gegend aus: die felsigen
Auswüchse der Insel, die fast in ihrer ganzen Ausdehnung zu ihren
Füßen lag, und jene märchenhafte Bläue, in der sie schwamm, und
die leuchtenden Morgendünste über dem Meer gen Osten, blendend
vom Licht der Sonne überflutet, die immer höher und höher steigend,
schon heiß brannte, und jene nebelblauen, noch morgendlich schwankenden
Umrisse der Gebirgsmassen Italiens, seiner nahen und fernen Berge, deren
Schönheit auszudrücken Menschenworte nicht fähig sind... Auf halbem
Wege verlangsamten sie den Schritt: oberhalb der Straße, in einer Felsen¬
grotte in der Wand des Monte Soliaro stand, ganz von der Sonne über¬
strahlt, ganz in ihre Wärme und in ihren Glanz getaucht, in schnee¬
weißen Gipsgewändern, auf dem Haupt die Himmelskrone, die Wctter-
unbill mit goldfarbigem Rost getönt, eine Mutter Gottes, sanft und
gnadenreich, die Augen zum Himmel aufgeschlagen, zur ewigen, seligen
4 6 LA. Bunin , Der Herr aus San Francisco
Behausung ihres dreimal gebenedeiten Sohnes. Sie entblößten die
Häupter, setzten ihre Hirtenflöten an die Lippen — und ihre einfältigen,
demütig freudevollen Loblieder erschallten der Sonne, dem Morgen,
Ihr, der makellosen Beschützerin aller Leidenden in dieser bösen und
schönen Welt, und Ihm, den ihr Schoß im Stall zu Bethlehem geboren,
in jenem armseligen Hirtenobdach, im fernen Land Judäa...
Der Körper des toten alten Herrn aus San Francisco kehrte in die
Heimat zurück, ins Grab, an die Ufer der „Neuen Welt“. Nachdem er
viele Erniedrigungen, viel menschliche Nichtachtung erfahren, fast eine
Woche lang aus einem Hafenschuppen in den andern gewandert war,
geriet er endlich wiederum auf das gleiche berühmte Schiff, das ihn
vor noch so kurzer Zeit mit so viel Ehren nach der Alten Welt gebracht
Aber jetzt verbarg man ihn weislich vor den Lebenden — tief senkte
man ihn in einem verpichten Sarg in den schwarzen Kielraum des
Schiffes hinab. Und wieder, wieder trat das Schiff seine weite Meerfährt
an. Nachts fuhr es an der Insel Capri vorüber, und traurig waren seine
Lichter, die langsam auf dem dunkeln Meere entschwanden, für den, der
von der Insel aus ihnen nachblickte. Aber dort auf dem Schiff selbst,
in den hellen Sälen, die von Marmor und vom Licht der Kristallkronen
glänzten, war wie gewöhnlich reichbesuchter Ball in dieser Nacht
Auch in der zweiten und in der dritten Nacht war Ball — wieder
bei rasendem Schneesturm, der über den Ozean fegte, dessen Wogen¬
berge in silberschaumverbrämter Trauer dumpf wie Chöre einer
Totenmesse rauschten. Fast verdeckte das Schneegestöber die zahllosen
Feueraugen des Schiffes vor Satanas, der auf den Felsen von Gibraltar
hockend, von den steinernen Toren zweier Welten aus dem Schiff
nachblickte, das in Nacht und Sturm entschwand. Ungeheuer, groß
wie ein Felsblock ragte Satanas, aber ihn überragend türmte das
Schiff sich auf, das mit vielen Stockwerken, vielen Schornsteinen die
Hoffahrt des Neuen Menschen mit dem alten Herzen erschaffen hat.
Der Schneesturm riß an seinem Takelwerk, rüttelte ungestüm an
seinen dickhalsigen Schornsteinen, die weiß von Schnee waren —
doch es war standhaft, stark, stolz — und furchtbar. Hoch auf dem
obersten Deck lagen einsam im Schneetreiben jene geschützten,
schwach erleuchteten Räume, in welchen der große, schwere Führer
des Fahrzeuges, in einen schlafähnlichen, unruhig hellhörigen Dämmer¬
zustand versunken, über dem ganzen Schiff, einem heidnischen Götzen,
gleich, thronte. Er hörte das dunkle Aufheulen und rasende Kreischen
der vom Sturm erstickten Sirene, doch ihn beruhigte die Nähe dessen»
I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco
47
was sich dort hinter seiner Wand befand und letzten Endes ihm
selbst unbegreiflich blieb: die Nähe jener großen, gleichsam ge¬
panzerten Kajüte, die unaufhörlich sich mit einem geheimnisvollen
Tosen, mit einem Beben, mit dem trocknen Knistern blauer Blitze
füllte, welche um den bleichen Telegraphisten mit dem metallnen
Reif um den Kopf aufflammten und knatterten. Ganz in der Tiefe,
in dem unter Wasser befindlichen Bauch der „Atlantida“ funkelten
in mattem Stahlglanz die vieltausendpfündigen Ungetüme der Kessel
und aller möglicher anderer Maschinen, ließen zischend Dampf und
gaben tropfend kochendes Wasser und Öl von sich: in dieser Hexen¬
küche, die von den rückwärts gelegenen höllischen Heizkesseln glühte,
wurde die Fahrtbewegung des Schiffes gebraut, — unheimlich in ihrem
bezwingend zweckmäßigen, angespannt einförmigen Arbeiten, brodel¬
ten und stampften diese Kräfte, deren Bewegung sich bis zum Kiel
des Schiffes mitteilte, bis in den unendlich langen Ballastraum, bis in
den elektrisch beleuchteten Schraubentunnel hinein, wo langsam, mit
einer für die menschliche Seele erdrückenden gleichförmigen Unauf-
haltsamkeit die riesenhafte Schraubenwelle sich in ihren geölten Lagern
drehte, wie ein lebendiges Ungeheuer, das sich in diesem Tunnel
ausgestreckt hätte. Doch die Mitte der „Atlantida“, ihre warmen und
üppigen Luxuskajüten, ihre Speise — und Tanzsäle strömten Licht
und Freude aus, summten vom Stimmengewirr der geputzten Menge,
dufteten von frischen Blumen, sangen und klangen vom Spiel des
Streichorchesters. Und unter dieser Menge, unter dem Geflimmer des
Lichtes, der Seiden, der Brillanten und der entblößten Frauenschuhen),
wand sich wieder, schmerzvoll einander meidend, bisweilen aufzuckend
sich zusammenfindend, das feine, biegsame bezahlte Liebespaar hin¬
durch: das sündig-sittsame, liebliche junge Mädchen mit den gesenkten
Wimpern und der unschuldigen Frisur, und der hochgewachsene junge
Mann, bleich von Puder, mit schwarzen, gleichsam angeklebten Haaren,
in eleganten Lackschuhen, in engem Frack mit langen Schößen —
ein bildhübscher Mensch, der einem riesigen Blutegel glich. Und
niemand wußte, daß es dieses Paar schon lange überdrüssig war, sich
zu den Klängen der schamlos-wehmütigen Musik in seiner geheuchelten
seligen Liebesqual zu winden, — noch, daß tief, tief unter ihnen auf
dem Grunde des dunkeln Kielraumes ein verpichter Sarg dicht bei
den finstern, glutheißen Eingeweiden des Schiffes stand, das mühsam
ringend das Dunkel, den Ozean, den Schneesturm überwand.
(Berechtigte Übertragung aus dem Russischen von Käthe Rosenberg)
TAGEBUCH*
von
LEO TOLSTOI
6 . Januar 1903. Jassnaja Poljana.
Ich erdulde jetzt Höllenqualen. Ich erinnere mich an all die Ab¬
scheulichkeiten, die ich früher begangen habe, und diese Erinnerungen
lassen mich nicht los, sie vergiften mir das Leben. Man bedauert
gewöhnlich, daß das Individuum seine Erinnerungen nicht über den
Tod hinaus behalten kann. Was für ein Glück, daß man sie nicht
behält! Was wäre das für eine Qual, wenn ich mich in diesem Leben
an alles Böse, das ich in einem früheren Leben begangen habe, er¬
innerte! Und erinnerte man sich an das Gute, so müßte man sich
auch an alles Böse erinnern: was für ein Glück, daß im Tode die
Erinnerung erlischt und nur ein Bewußtsein zurückbleibt, ein Bewußt¬
sein, das gleichsam das allgemeine Ergebnis aus all dem Guten und
Bösen darstellt, wie eine komplizierte Gleichung, die man auf ihren
einfachsten Ausdruck gebracht hat: x = einer positiven oder negativen,
bedeutenden oder geringen Größe. Ja, das Zunichtewerden der Er¬
innerung ist ein großes Glück; wenn sie bewahrt bliebe, könnte man
nie mehr glücklich sein. So aber treten wir, nach der Auslöschung
der Erinnerung, ins Leben mit einem reinen, weißen Blatt, das wieder
mit bösen und guten Taten beschrieben werden kann.
j. Februar 1903. J. P.
Einen Monat nichts eingetragen. War zwei Monate krank und bin
auch jetzt noch krank. Das heißt schwach. Und das ist gut. Sehr
lebhaft gemahnt dieser Zustand an den nahen Tod.
Während dieser Zeit war ich meistens mit meinen Erinnerungen
beschäftigt. Rücke allmählich vorwärts. Aber es ist bis jetzt nicht gut.
Habe ferner ein Nachwort zum Aufruf an das Arbeitervolk zu
schreiben angefangen, komme damit aber nicht vorwärts.
Bin auch mit einer philosophischen Abhandlung über das wahre
Leben beschäftigt. Irre ich mich, oder ist hier etwas, das neu und
nützlich ist?
* Die folgenden, auch russisch noch nicht veröffentlichten Aufzeich¬
nungen Tolstois stammen aus dessen Tagebuch vom Jahre 1903; sie sind
dem zweiten, die Jahre 1900—1903 umfassenden Band der Tagebücher ent¬
nommen. Ludwig B.erndi
Leo Tolstoi, Tagebuch
4 9
ii. Februar J. P.
Das Herz immer noch schwach, doch nehmen die Kräfte allmählich zu.
Das Nachwort taugt noch immer nichts. In den Erinnerungen ein
wenig vorwärtsgerückt.
Lese ein ausgezeichnetes theosophisches Journal. Viel Gemeinsames mit
meiner Auffassung. Der Brief über die sächsische Prinzessin ist gedruckt,
und das tut mir leid. Nähere mich geistig immer mehr dem Tode.
Einzuschreiben war vieles, aber ich vergesse es immer, da ich es
nicht für wichtig halte. Eins muß ich eintragen:
i. Das Allbewußtsein, das in Grenzen eingeschlossen ist, ist be¬
strebt, diese Grenzen zu erweitern. Das ist die erste Hälfte des mensch¬
lichen Lebens. In der ersten Hälfte seines Lebens liebt der Mensch
die Dinge und Menschen, das heißt er überträgt, indem er aus seinen
Grenzen heraustritt, sein Bewußtsein auf andere Wesen. Aber wie viel
er auch liebte — aus seinen Grenzen kann er nicht heraus, und so
bemüht er sich in der zweiten Hälfte seines Lebens nicht mehr, seine
Grenzen auszudehnen, sondern er zerstört sie. Es vollzieht sich etwas
Ähnliches wie in der Entwicklung der Raupe zum Schmetterling.
Wir sind hier Raupen: anfänglich wachsen wir, dann vertrocknen wir
zur Larve. Als Schmetterling erkennen wir uns in jenem Leben.
z. Die ganze religiös-moralische Lehre läuft auf die Erkenntnis des
uns innewohnenden Gesetzes hinaus — des Gesetzes der Erweiterung
der Grenzen, die erzielt wird durch die Liebe.
3. Bewußtsein der eigenen Abgesondertheit: das ist das Leben des
Menschen. Allbewußtsein ist das Leben Gottes. Durch die Liebe,
d. h. durch die Erweiterung seiner Grenzen, nähert sich der Mensch
Gott, aber die Liebe ist keine Eigenschaft Gottes, wie man gewöhn¬
lich sagt, sondern nur eine menschliche Eigenschaft.
13. Februar. J. P.
Ich schreibe ein.
Das Leben ist das Bewußtsein des in Grenzen eingeschlossenen und
diese Grenzen verändernden, geistigen (folglich nicht räumlichen und
nicht zeitlichen) Wesens.
Die Grenzen dieses Wesens stellen sich uns als unser Körper und
als die Körper anderer Wesen dar. Die Veränderung dieser Grenzen
stellt sich uns als Bewegung dar.
Wenn unser geistiges Wesen nicht in Grenzen eingeschlossen wäre,
so existierte kein Körper, keine Materie.
4
50 Leo Tolstoi , Tagebuch
Wenn sich die Grenzen dieses Wesens nicht veränderten, so gäbe
es keine Bewegung.
Das Verhältnis unseres Körpers zu anderen Körpern können wir
uns nicht anders vorstellen als im Raum. Das Verhältnis der Ver¬
änderung der Grenzen unseres Wesens zu den Veränderungen anderer
Wesen können wir uns nicht anders vorstellen als in der Zeit Uns
will es scheinen, als ob das in Grenzen eingeschlossene Wesen selbst
sich veränderte; in Wirklichkeit aber verändern sich nur die Grenzen.
So scheint der Mond zwischen den Wolken dahinzueilen, während
nur die Wolken ziehen und der Mond stille steht Ebenso ist es mit
dem geistigen Wesen, das wir erkennen: es steht unbeweglich still
und ist immer sich selber gleich; was sich verändert, das ist nur
seine Sphäre, deren wir uns bewußt werden. Diese Veränderungen
sind unendlich mannigfaltig, aber im allgemeinen, in tbe long run ,
bestehen diese Veränderungen in einer immer größer werdenden
Ausdehnung der Bewußtseinssphäre.
zo. Februar 1903, J. P.
Mit der Gesundheit steht es etwas besser. Seit zwei Tagen fahre
ich spazieren. Mit der Arbeit geht's nicht voran. Keine Lust
1. Die Anhänger des Sozialismus sind Leute, die vornehmlich die
Stadtbevölkerung im Auge haben. Sie kennen weder die Schönheit
und Poesie des ländlichen Lebens, noch wissen sie von den Leiden
der Landbevölkerung. Wenn sie davon wüßten, würden sie nicht,
wie jetzt, dieses Leben vernichten wollen, es nicht hingeben wollen
gegen die Bequemlichkeiten des städtischen Lebens; sie würden viel¬
mehr all ihre Anstrengung darauf richten, es zu erhalten, nur befreit
von seinem Elend.
z. Sobald man nur an das denkt, was das eigene künftige Leben
verbessern kann: Paradies oder Karma, stellt sich keine Lust zum
Wirken ein. Aber wie man seine Gedanken auf ein Leben im Geiste
der Eintracht und Liebe richtet, stellt sich sogleich eine freudige, ruhige
Stimmung ein.
1. März 1903. J. P.
Ich las den Aufsatz von Metschnikow wieder, wo es heißt, daß,
wenn man den geraden Darm ausschneiden würde, die Leute nicht
mehr über den Sinn des Lebens nachdenken würden.Aber
Scherz beiseite. Der Sinn seiner Ausführungen ist der, daß es der
Wissenschaft gelingen wird, den menschlichen Organismus zu ver¬
bessern, den Menschen von seinen Leiden zu befreien. Dann wird
5 1
Leo Tolstoi, Tagebuch
nun die Bestimmung des Lebens herausfinden: die Wissenschaft wird
den Sinn des Lebens entdecken. Schön. Aber wie sollen es die
Menschen bis dahin aushalten? Und haben andererseits doch Milliarden
mit dem bewußten Darm gelebt. Und was dann, wenn, wie die
Wissenschaft ebenfalls prophezeit, die Sonne dereinst erkalten und das
Leben auf der Erde erlöschen wird, bevor der menschliche Organis¬
mus jene Vollkommenheit erlangt haben wird? Wozu war dann das
alles?
Mit der Gesundheit steht es besser, aber ich arbeite nicht. Von
Mascha keine Nachrichten.
Eingeschrieben ist Folgendes:
i. Der Mensch kann gar nicht anders als egoistisch sein, alles
drangt ihn darauf hin, fdr sich selbst zu sorgen und nur an sich zu
denken. Inzwischen ist aber das wirkliche Wohl nur erlangbar, wenn
der Mensch auf das Wohl des Nächsten hinarbeitet, wenn er sich
selbst vergißt. Was ist da zu tun? Es gibt nur ein einziges Mittel:
man muß die Sorge um sich selbst so einrichten, daß sie zugleich eine
Sorge um das Wohl des Nächsten sei. Das geschieht in der Weise,
daß man sich um seine eigene Seele sorgt und dazu den Willen Gottes
erfüllt. Der Wille Gottes aber ist, daß man den Nächsten liebe und
ihm Gutes tue.
11. März 1903. J. P.
Schreibe noch immer an der Definition des Lebens und bin immer
noch unzufrieden. Schrieb vorgestern, und muß es wieder anders
fassen. Aber bevor ich das tue, will ich einige fragmentarische Ge¬
danken aus dieser Zeit einschreiben.
Mit der Gesundheit steht es bedeutend besser.
Immer öfter und öfter bin ich, in Minuten der Unzufriedenheit und
Zweifel, dessen eingedenk, daß ich es nur Gott recht machen muß,
zu dem ich gehe, und nicht den Menschen. Und dann ist mir immer
sehr wohl und leicht.
Heute war hier ein Priester, der den Glauben verloren hat und sein
Amt aufgeben will.
1. Wir leben eigentlich nur dann, wenn wir uns unseres geistigen
Ichs bewußt sind. Dieses ereignet sich in den Minuten der geistigen
Entzückung und in den Minuten des Kampfes zwischen dem geistigen
und dem tierischen Prinzip.
z. Es ist nicht ganz klargestellt, daß unsere Zufriedenheit, Un¬
zufriedenheit mit dem Leben, die Art des Eindrucks, den die Gescheh-
5 *
Leo Tolstoi , Tagebuch
nisse auf uns machen, zumeist (vielleicht sogar immer) von dem gei¬
stigen Zustand, in dem wir uns gerade befinden, herröhren und nicht
von den Geschehnissen selbst, die sie hervorzurufen scheinen. Und
dieser geistigen Zustände, unter welchen sehr komplizierte und sehr
bestimmte sind, gibt es recht viele. So gibt es einen Zustand der
Scham, einen Zustand des Vorwurfs, der Rührung, der Erinnerung,
der Traurigkeit, der Heiterkeit, der Schwere, der Leichtigkeit. Wie
entstehen diese Zustände? Ich weiß es nicht Ich weiß aber, daß
ich häufig im Zustande der Scham bin, und dann ist alles zum
Schämen; und wenn kein Grund zum Schämen ist, schäme ich mich
grundlos. Dasselbe ist es mit dem Zustand des Vorwurfs, der Rüh¬
rung, der Erinnerung, wie sonderbar das auch ist Wenn es nichts
gibt, woran man sich erinnern könnte, so erinnert man sich an das,
was soeben ist, und an das, daß man sich daran schon früher er¬
innert hat Dasselbe ist es mit der Traurigkeit, Heiterkeit . . . und
mit vielen anderen Zuständen, die man bestimmen und über deren
Entstehen man nachdenken muß.
3. Der Hauptunterschied zwischen den Sozialisten und den Anar¬
chistenchristen und den Anarchisten überhaupt, besteht darin, daß jene
die ökonomischen Grundlagen der gegenwärtigen Staatsverfassungen
ändern wollen. Wenn sie die politische Form ändern wollen, so nur
insoweit, als diese der von ihnen beabsichtigten ökonomischen Ein¬
richtung zuwiderläuft. Die Mehrzahl von ihnen hält es sogar für
notwendig, diese Form zu erhalten, zur Erreichung ihrer eigenen Ziele.
Die Anarchisten hingegen erblicken das Übel in der bestehenden, auf
Gewalt gegründeten politischen Ordnung und halten es für ihre vor¬
nehmste Aufgabe, diese zu zerstören, wobei sie annehmen, daß das
ökonomische Leben nach der Zerstörung des politischen Macht¬
apparats von selbst aufs allerbeste in gute Ordnung kommen werde.
Es gab noch mehreres einzuschreiben, aber ich hab es vergessen.
Erinnere mich noch an eines:
4. Oft halten es die Leute — die Liberalen, die Staatsfreunde, die
Doktrinäre überhaupt — für gut, gewisse Erscheinungen der Lüge zu
bekämpfen, andere aber zuzulassen und nicht zu bekämpfen. Das ist
gerade so, wie wenn man bei einer Überschwemmung den einen
Wasserstrahl, der euch übergießt, abdämmen würde, während die
andern euch ungehemmt überschwemmen.
Erinnere mich noch an das:
5. Fast immer überlassen sich die Leute, für die ein anderer Sorge
Leo Tolstoi, Tagebuch
55
trägt, denen ein anderer dient, einem Gefühl der Gereiztheit, der Bos¬
heit gegen diesen. Wahrscheinlich sind sie auf ihn neidisch, daß sie
nicht ihm dienen, sondern daß er ihnen dient.
13. März 1903. J. P.
I. Das zweitemal im Leben begegnet mir ein unverdienter, durch
nichts hervorgerufener Haß von Leuten, die mich nur darum hassen,
weil sie eine ebensolche Reputation wie meine haben wollen. Sie
beginnen zu lieben, wollen dann dasselbe sein wie das, was sie lieben,
aber das, was sie lieben, das ist nicht sie und stört sie auch, eben¬
solche zu sein, und sie fangen an zu hassen.
Darin liegt ein Beweis dafür, daß der Ruhm etwas Böses ist.
z. Gott — das ist diese ganze unendliche Welt. Wir, die Menschen,
aber sind in einer Kugel, doch nicht in der Mitte (die Mitte ist
überall), sondern an irgendeinem anderen Punkt dieser unendlichen
Welt. Und wir, die Menschen, brechen uns Fensterchen in unserer Kugel
durch, durch die wir Gott schauen, — der eine schaut ihn von der Seite,
ein anderer von unten, wieder ein anderer von oben; aber alle sehen Eines
und Dasselbe, wenn wir es uns auch verschieden vorstellen und es ver¬
schieden benennen. Und der Schluß aus dem, was durch das Fensterchen
zu sehen ist, ist für alle Einer und Derselbe: wir wollen einträchtig, in
Liebe verbunden, miteinander leben. Nun, so mag doch jeder durch sein
eigenes Fensterchen schauen und tun, was sich aus diesem Schauen
ergibt. Warum die Leute von ihrem Fensterchen wegstoßen und zu
unserm hinschleppen? Warum auch nur sie einladen, das ihre zu ver¬
lassen, da es ein so schlechtes sei, und sie zum eigenen heranwinken?
Das ist sogar unhöflich. Wenn jemand unzufrieden ist mit dem, was
er durch das seinige sieht, so mag er selber zum andern kommen und
fragen, was dieser sieht, und mag der, der mit dem zufrieden ist, was
er sieht, erzählen, was er sieht. Das ist nützlich und erlaubt
Es macht mich sehr glücklich, daß ich völlig duldsam geworden
bin. Und gelehrt haben es mich unduldsame Menschen.
Jetzt das dritte über die Evolution. Ich verschiebe es auf ein an¬
deres Mal. Die Frage ist sehr wichtig.
14. März.
Gesundheit nicht schlecht. Beine schmerzen. Setze das dritte fort.
Die Evolutionstheorie verlegt die Entstehung der Arten in eine
außerordentlich, ja in eine unendlich weit zurückliegende Zeit Das
ist dasselbe in bezug auf die Zeit, was wir in bezug auf den Raum
54
Leo Tolstoi, Tagebuch
machen, wenn wir die Körper als aus Atomen zusammengesetzt, die
Fortpflanzung des Lichtes als an den Äther gebunden erklären. Die
Atom- und Äthertheorie ist die bequemste und vielleicht einzige Me¬
thode, die Zusammensetzung der Körper und die Fortpflanzung des
Lichts zu erklären; aber weder die Atome noch der Äther sind etwas
Reales (und gröblich irren diejenigen, die auf die Realität der Atome
und des Äthers weitere Theorien aufbauen), sondern es ist dies nur
eine bequeme Methode der Erklärung chemischer und physikalischer
Vorgänge. Ebenso ist auch die Evolutionstheorie nur eine bequeme
und vielleicht die beste Methode zur Aufhellung der Gesetze, die in
den wechselseitigen Beziehungen der Arten zueinander obwalten; doch
auf reale Tatsachen stützt sie sich nicht. Und diejenigen, die ihre
Vererbungs- oder Rudimententhcorie auf die Theorie von der Ab¬
stammung des Menschen von niedrigeren Organismen gründen, irren
gröblich, da sie eine gelehrte Konstruktion für etwas Reales, Wirk¬
liches nehmen. Die wirkliche Grundlage jeder Forschung ist durchaus
nichts Vergangenes und Entferntes, sondern etwas Gegenwärtiges: der
eigene Körper und die in diesem entstehenden Veränderungen.
4. Ich habe die Opinions sociales von Anatole France gelesen.
Wie alle andern orthodoxen Sozialisten, Wissenschaftsanbeter und da¬
her Religionsverneiner sagt auch er, Mitleid und Liebe brauche man
nicht, man brauche nur justice. Das ist wahr; aber damit es wirk¬
lich justice gebe, muß im Streben, im Ideal Selbstverleugnung und
Liebe sein. Damit es eine ehrliche Ehe gebe, muß ein Streben zur
vollkommenen Keuschheit sein. Damit es ein wahres Wissen gebe,
muß man zur Erkenntnis der geistigen Welt streben. (Erst dann ist
ein Wissen vom Materiellen möglich. Sonst ist es nur Aberwitz.)
Damit es eine gerechte Verteilung der Lasten gebe, muß man bestrebt
sein, alles wegzugeben und nichts zu behalten. (Sonst ist es nur Raub
fremder Arbeit.) Damit man ins Ziel treffe, muß man höher und
weiter zielen. Damit man sich beim „Riesenschritt“ (dem Turngerät)
hoch emporschwinge, muß man vom Pfeiler einen möglichst weiten
Abstand nehmen.
Heute, zo. März 1903. J. P.
Gestern und heute Briefe geschrieben. Habe sechsundzwanzig ge¬
schrieben. Mit der Gesundheit steht es etwas besser, aber ich ver¬
gesse die Nähe des Überganges nicht.
In das Büchlein ist manches eingetragen, aber etwas sehr Wichtiges
hatte ich auf das Lesezeichen geschrieben und hab es verloren.
55
Leo Tolstoi, Tagebuch
i. Man meint gewöhnlich, daß das Leben eines Greises sich immer
mehr vermindere und zuletzt auf ein Nichts herabsinke. Aber alles
hangt von der Art ab, wie man das Leben betrachtet Wenn man
das Leben als eine materielle Macht betrachtet die die Verhältnisse
der Dinge und Menschen, momentan, unter unseren Augen, verändert,
so kann das Leben eines jungen Menschen recht wohl als mächtig
und das Leben eines Greises als nichtig gelten; wenn man das Leben
aber als eine geistige Macht betrachtet die der Tätigkeit der Menschen
neue Ziele gibt so verändert das Leben eines Greises, und zwar je
älter er ist um so mächtiger, eine ungeheure Menge von Verhältnissen
unter Dingen und Menschen. (Nicht gut nicht das Richtige.)
Habe zufällig einige Seiten ausgelassen. Will hier einschreiben, was
bis zum z. April eingetragen ist.
i. Den Fortschritt der Menschheit bemißt man gewöhnlich nach
den technischen und wissenschaftlichen Fortschritten, wobei man an¬
nimmt daß die Zivilisation zum GlOcke fahrt. Nichts ist falscher.
Rousseau und alle, die von dem primitiven, patriarchalischen Zustand
entzückt sind, haben ebenso recht und unrecht wie diejenigen, die
von der Zivilisation entzückt sind. Das Glück der Menschen, die auf
der höchsten Stufe der Zivilisation stehen, ist kein anderes Glück als
das der primitiven Menschen. Durch Wissenschaft Zivilisation und
Kultur läßt sich das Glück der Menschen ebenso wenig vermehren,
wie es möglich ist, das Wasser eines Teiches an einer bestimmten
Stelle höher zu heben als es an allen anderen Stellen ist Die Ver¬
mehrung der menschlichen Glückseligkeit wird nur durch die Liebe
erreicht, der es eigen ist, alle Menschen einander gleich zu machen;
der wissenschaftliche und technische Fortschritt ist aber lediglich eine
Sache des Alters einer Zivilisation, und der höchstzivilisierte Mensch
übertri£Ft in seinem Wohlbefinden den primitiven Menschen so wenig,
wie ein Erwachsener in seinem Wohlbefinden einen Nicht erwachsenen
übertrifft. Das Heil liegt einzig in der Mehrung der Liebe.
z. Menschen, die eines inneren, religiösen Regulativs beraubt sind,
denken ein solches im historischen Gesetz, wie sie es verstehen, zu
finden. Was mögen wohl die Menschen getan haben, die am Anfang
der Geschichte waren?
3. Ich genese und beobachte die Fortschritte meiner Genesung. Wie
übel steht das einem Greise an! Ihm geziemte es mehr, sein Absterben,
die Zerstörung seiner Grenzen zu beobachten.
4. Wenn die Leute sagen, daß der Gedanke, die geistige Tätigkeit
5 6
Leo Tolstoi, Tagebuch
überhaupt, ein Produkt der Tätigkeit der Gehirnzellen sei, weil die
Gedankentätigkeit durch die Tätigkeit des Gehirns erfolge und weil
diese Tätigkeit aufhöre, sobald das Gehirn oder ein Teil desselben
zerstört sei, so sagen sie damit dasselbe, was ein Mensch sagen würde,
der behauptete, das musikalische Schaffen sei stets von der Tätigkeit
des Klaviers oder des. Orchesters bedingt, und diese Tätigkeit höre
auf, sobald das Klavier, das Orchester oder ein Teil desselben ver¬
nichtet sei.
Diejenigen, die so sagen, kennen wohl kaum die wahre, geistige
(höhere) Tätigkeit des Menschen, die nicht aus körperlichen Bedingungen
erwächst, sondern sich der körperlichen Bedingungen bedient, solange
jene mit den körperlichen Bedingungen verbunden ist. Einer solchen
Anschauung liegt eigentlich eine petitio principii zugrunde, das heißt
es ist von vornherein beschlossene Sache, daß es außer den körper¬
lichen Bedingungen nichts gibt, und dann ist es denn auch verständ¬
lich, daß das, dessen sich der geistige Urgrund für seine Zwecke
bedient, das einzig Existierende sein muß und daß dieses die geistige
Tätigkeit produziert. Der Mensch fällt den Baum mit einer Axt. Die
Axt fällt den Baum. Zerstören wir die Axt, so wird nie mehr ein
Baum gefällt. Somit ist die Axt real, der Mensch aber, der sie schwingt,
ist nur ihr Appendix. Wer keine andere Tätigkeit des Menschen kennt
als die des Hackens mit der Axt, wird wohl in seiner Art ganz
recht haben, wenn er im Menschen nur ein Anhängsel zur Axt er¬
blickt.
14. April 190$. J. P.
Lange nicht eingeschrieben. Geistig schwach diese ganze Zeit. Den
dritten Tag nicht wohl: Schnupfen, Husten. Aber heute, trotz meiner
Schwäche, Thoreau gelesen und fühle mich geistig gehoben. Ja, alles
kommt darauf an, daß das ganze Leben ein Vollbringen der Sache
Gottes sei und daß ich mir immer bewußt bleibe, was Er von mir
begehrt. Will mich aus allen Kräften bemühen. Er wird mir behilf¬
lich sein in dem Maße, wie- ich Ihm den Zugang zu meiner Seele
öffnen werde.
Habe heute zwei Briefe erhalten, die mir unangenehm schienen, die
aber beide nützlich waren: einen von einem Herrn über das Karma,
daß ich die Menschen zum Selbstmord ermuntere und nachher sage,
ich hätte nur gescherzt, den andern von einem Studenten, auch leicht¬
sinnig, jugendlich und selbstbewußt. Habe beschlossen, nicht zu ant¬
worten.
Leo Tolstoi, Tagebuch
57
19. April 1903. J. P.
Während dieser Zeit schrieb ich am Nachwort. Es scheint, ich bin
damit fertig. Es ist recht ordentlich geworden. Ferner Brief über die
Kischenewer Ereignisse und ein Telegramm. Gesundheit gut Habe
mich erkältet, Fröste, aber jetzt ist mir besser. Ein Buch von Metschni-
kow. Möchte darüber schreiben.
Fahre fort einzutragen:
1. Das Leben ist nur Bewußtsein. Was die Physiologen als Leben
bezeichnen, das sind nur Merkmale, die das Bewußtsein anzeigen, es
begleiten und ihm folgen. Es gibt ein niederes Bewußtsein: das von
der eigenen Abgesondertheit, und ein höheres Bewußtsein: das Be¬
wußtsein seiner Beziehung zur Welt. (Unklar.)
z. Wenn man gegen die Erklärung einer Erscheinung sagt: das sind
bloße Abstraktionen, während ich sage: es sind Tatsachen, könnte man
auch sagen, die Drehung der Sonne um die Erde sei ein Faktum, die
Drehung der Erde um die Sonne aber bloß eine abstrakte Idee.
3. Eine Eigenschaft des Lebens ist unbezweifelbar: zuerst die Aus¬
dehnung des Bewußtseins, das heißt das Streben, sich durch die Liebe
in anderen Wesen wiederzufinden, und dann, wenn die Ausdehnung
bis zur äußersten Grenze gediehen ist, die Zerstörung der Grenzen, die
das Leben, das heißt das Bewußtsein, einschränken.
4. Alles ist lebendig. Alle Wesen sind Organismen. Einige erkennen
wir nur deshalb nicht als solche, weil sie zu groß sind, wie die Erde,
die Sonne, oder zu klein, wie die Teilchen der Mineralien, der Kristalle.
5. Wie der Jugend das Bewußtsein des Wachstums erfreulich ist,
so muß dem Alter das Bewußtsein des Zerfalls der einschränkenden
Grenzen erfreulich sein.
6 . Tanja sagte, das Spielen sei eine ernste Sache. Und das ist ganz
richtig. Wenn man das Spiel nicht ernst betreibt, so bleibt gar nichts,
man wird nicht einmal spielen können. Dasselbe ist es mit dem feier¬
lichen Zelebrieren des Gottesdienstes, mit den feierlichen Umzügen,
mit den Jubiläen. Wenn man diese Sachen nicht ernst nimmt, so bleibt
eben gar nichts übrig, was man machen könnte. Darum sind die Leute
in nichts so streng, wie in der Forderung, die Zeremonien zu erfüllen.
7. Furchtbar sind gereizte arbeitslose Arbeiterl Aber was schlimmer
ist: sie oder Nikolaj Pawlowitsch* — das ist noch die Frage.
* Zar Nikolaus I., über den Tolstoi damals für seinen „Hadschi-Murad“
biographisches Material sammelte. D. H.
5 «
Leo Tolstoi, Tagebuch
8. Eingeschrieben ist es so: „Es gibt keine Zeit Das ist nur eine
Begrenzung.“ Das ist unklar. Heute ging es mir auf, daß die Bewegung
und die Zeit ihren Ursprung darin haben, daß dem Bewußtsein eine
große Zahl anderer Wesen, die das Bewußtsein begrenzen, gegenüber-
steht Wenn nur ein Wesen mein Bewußtsein begrenzte, so gäbe es
keine Bewegung; da es aber viele Wesen gibt, so erfordert ihre Wahr¬
nehmung eine Sukzession in der Wahrnehmung. Und eben diese Suk¬
zession der Wahrnehmung erscheint uns als Bewegung in der Zeit
Uns scheint es eine Zeit zu geben, die von der Sukzession der Wahr¬
nehmungen erfüllt ist In Wirklichkeit aber gibt es nur eine Sukzession
in der Wahrnehmung der Wesen, die uns als Zeit erscheint (Man
muß dies noch erläutern.)
9. Das Leben aller Menschen besteht anfangs in der Ausdehnung,
hernach in der Zerstörung der Grenzen des Bewußtseins. Die Weisheit
besteht darin, dies zu wissen, in dieser Ausdehnung das wahre Wohl
zu erblicken und an dieser Ausdehnung teilzuhaben.
i o. Die Erklärung der Herkunft der Organismen aus der Urzelle —
dem Protoplasma — ist dasselbe, was die Erklärung der chemischen
Prozesse aus den Atomen und des Lichts aus den unwägbaren Äther¬
wellen ist. Äther und Atome sind an und für sich nicht real, sondern
nur heuristische Konstruktionen, welche die Materie und das Licht
erklären helfen sollen. Nicht real sind sie, weil ein unendlicher (ein
unendlich kleiner) Raum (Umfang, Gewicht) vorausgesetzt wird. Ebenso
willkürlich sind die Erklärungen in bezug auf die Entstehung der Or¬
ganismen aus dem Protoplasma; auch sie sind nur Vermutungen, die
die Erscheinungen verständlich machen und ihre Gesetze aufhellen
sollen. Nicht real sind sie, weil für ihre Entstehung eine unendliche
(eine unendlich lange) Zeit vorausgesetzt wird.
11. Der Irrtum des Feminismus besteht darin, daß die Frauen genau
dasselbe leisten wollen, was die Männer leisten. Aber die Frauen, mit
ihren ganz besonderen Eigenschaften, sind ganz anderen Wesens als die
Männer; und wenn sie sich vervollkommnen wollten, müßten sie’s nach
ihrer besonderen Richtung hin tun. Was das für eine Richtung ist, weiß
ich nicht; sie wissen es bedauerlicherweise selber nicht; doch soviel ist
gewiß, daß ihre Richtung eine andere als die der Männer ist. .
i z. Damit ein Wesen vom andern abgesondert sei, muß es sich mit
diesem nicht vereinigen können, muß es undurchdringlich sein. Das
ist nur dann möglich, wenn es materiell ist. Eben darum erscheinen
uns auch alle abgesonderten Körper als materiell.
59
Leo Tolstoi, Tagebuch
13. Jemand fragt mich: „Bestimmt der Mensch das Schicksal, oder
bestimmt das Schicksal den Menschen 1 * Je mehr wir uns einem
geistigen Leben nähern, desto unabhängiger werden wir vom Schicksal;
und umgekehrt.
14. Unserm Jahrhundert ist ein schrecklicher Wahn eigen: jede Er¬
findung, die geeignet ist, dem Menschen Arbeit abzunehmen, erregt
unser Entzücken und wir halten es für durchaus notwendig, uns ihrer
zu bedienen, ohne uns zu fragen, ob diese arbeitsparende Maschine
denn auch unser Glück vermehre und ob sie nicht viel Schönheit ver¬
nichte. Wir sind wie ein Weib, das mit Übermacht den Rest des
Fleisches, das ihr zugefallen ist, hinunterwürgt, auch wenn sie nicht
mehr essen mag, und selbst wenn es ihr schadet. Eisenbahnen statt
der Fußmärsche, Automobile statt der Pferde, Strickmaschinen statt der
Stricknadeln.
15. Das Verfahren der Naturwissenschaften, das auf Tatsachen fußen
will, ist das unwissenschaftlichste Verfahren. Es gibt keine Tatsachen.
Man kann nur von den Eindrücken sprechen, die die Dinge auf uns
machen. Daher ist wissenschaftlich nur jenes Verfahren zu nennen, das
von unseren Empfindungen, von den Eindrücken, spricht.
16. Nur das Bewußtsein ist das Leben. Von einem Leben ohne
Bewußtsein dürfen wir nicht sprechen. Wir dürfen das, was eine Be¬
gleiterscheinung des Lebens ist, nicht deshalb schon ein Leben nennen,
weil wir an anderen Wesen beobachten und von anderen Leuten, die
uns beobachtet haben, wissen, daß genau dieselben Erscheinungen des
physiologischen Lebens, welche das Bewußtsein begleiten, auch schon
vor dem Erscheinen des Bewußtseins da waren.
Der Mensch erkennt sich (im Kindes-, Mannes- und Greisenalter)
als eine und dieselbe Person, weil das Bewußtsein des Kindes und nach
fünfzig Jahren des Greises immer eines und dasselbe ist; das Bewußt¬
sein wird durch die Zeit nicht alteriert: Zeit ist nur für das, was
vielfach ist.
17. Das Leben und der Schlaf. Das Erwachen aus dem Schlaf ist
nur dann schwer, wenn man nicht ausgeschlafen ist und geweckt wird.
Wenn man aber ausgeschlafen ist, so ist das Erwachen ein frohes, wie
für einen, der das Leben durchgelebt hat, für den Greis, das Sterben,
das heißt das Erwachen zu einem neuen Leben, ein frohes sein muß.
18. Der Traum entsteht beim Erwachen momentan, zeitlos. Die
Vorstellungen reihen sich zu einem (manchmal unvernünftigen) Nach¬
einander nur deshalb, weil ihrer viele sind, und dieses Nacheinander
6 o
Leo Tolstoi, Tagebuch
erweckt die Illusion der Zeit. Ob es im Leben nicht auch so ist, mit
seiner Menge von zuweilen auch in unvernünftiger Reihenfolge auf¬
tauchenden Vorstellungen, das eingesenkt scheint in die Zeit; und daß
im Sterben diese Illusion verschwindet und, wie nach dem Schlaf, ein
erfrischtes, erweitertes Bewußtsein übrigbleibt?
19. Nicht sind unsere Erlebnisse, oder richtiger: unsere Vorstellungen
eingebettet in die Zeit, sondern die Menge der Vorstellungen und deren
Sichablösen ergibt erst den Begriff der Zeit.
zo. Die Menge ergibt den Begriff der Bewegung und der Zeit.
All das vom 4. habe ich heute eingeschrieben, den 1. Mai 1903. J. P.
Die Gesundheit ist schwankend, ich bin darüber, Gott sei Dank,
nicht betrübt, auch nicht erfreut, eher so, daß ich sehe, es ist alles
in Ordnung. Vom Nachwort möchte ich denken können, daß ich es
beendigt habe.
13. Mai 1903. J. P.
Die Gesundheit ist nicht gut — Leberleiden. Doch sind die Kräfte
nicht herabgemindert. Das Nachwort habe ich beendigt und abge¬
schickt. Hier ist Strachow mit seiner schrecklichen Sache.
Heute nachts habe ich über zwei Dinge nachgedacht:
1. daß man, bevor man mit einem Menschen in Verkehr tritt,
eine Gebetstimmung in sich zu erwecken trachten solle, daß man
sich sagen müsse: Still!, bevor man mit einem Menschen, mit dem
man zusammengekommen ist, spricht
Will es mir angewöhnen.
z. Hier ist eine Bestätigung dessen, daß das Bewußtsein eine von
Bildern gereinigte Erinnerung ist und die Erinnerung ein von Bildern
erfülltes Bewußtsein: —
Das Bewußtsein ist, wenn man es sich in der Zeit vorstellt, eine
Erinnerung an das ganze in unendlicher Zeit verlebte Leben, abstrakt
ausgedrückt aber das Bewußtsein vom eignen Bewußtsein.
Die Erinnerung aber, in der Zeit gedacht, ist nichts anderes als
das Bewußtsein von der Kontinuität meines Lebens, abstrakt aus¬
gedrückt aber das Bewußtsein jenseits der Zeitlichkeit meines Lebens.
Und noch 3. Der Mensch macht sich von der Zeit los, wenn er
sein Bewußtsein erkannt hat, und gerade dies ist für ein rechtes
Leben notwendig.
17. Mai 1903. J. P.
Leide an Magenstörungen. Heute nachts hatte ich in den Augen
die Empfindung von einem hellen Lichtfunken und, ich weiß nicht
Leo Tolstoi, Tagebuch 61
wie es kam, gleich hinterher nicht sowohl eine deutliche Vorstellung
als vielmehr ein Gefühl, welches das ganze Wesen durchdrang, von
dem Illusorischen alles dessen, was Empfindungen erregt und was wir
für die reale Welt halten.
H. -M. ausgebessert. Bin bis zu Nikolaj Pawlowitsch gelangt, und
es scheint sich zu klären.
Einzuschreiben ist eins:
i. Ein Beweis dafür, daß die Erinnerung ein Bewußtsein ist und
umgekehrt, ist dies, daß das Erinnerungsvermögen um so schwächer
wird und das Bewußtsein sich um so mehr steigert, je älter man wird.
z6 . Mai 1903. J. P.
Die Gesundheit ist nicht schlecht. Habe allerlei in das Büchlein
eingetragen. Hier will ich das Folgende aufschreiben:
I. Das irdische Leben ist keine Illusion und auch nicht das ganze
Leben, — es ist eine Erscheinung unter Erscheinungen, den ewigen
Erscheinungen des ewigen Lebens.
17. Mai 1903. J. P.
Heute fahre ich nach Pirogowo. Immer noch habe ich meine
Not mit Nik. Pawl. Ist immer noch nicht gut. Dafür gestern viel
über die Definition des Lebens nachgedacht. Mir scheint, es ist gut.
Ich dachte Folgendes:
1. Meine Bewegung, die meines Körpers, ist eine notwendige Be¬
dingung der Gesondertheit meines Ichs von allem übrigen. Bewegte
ich mich nicht, so wäre ich nicht abgesondert. Wäre ich nicht ab¬
gesondert, $0 wäre keine Bewegung. Daraus folgt, daß Gesondertheit
und Bewegung einander gegenseitig bedingen.
Aber was ist das erste? — Die Gesondertheit.
z. Ich, ein geistiges Wesen, folglich ein unbegrenztes Wesen, gefangen
in meiner Abgesondertheit vom Ganzen, bestrebe mich, die Grenzen, die
mich vom Ganzen trennen, zu sprengen. Daraus resultiert die Bewegung.
3. Jede Bewegung ist ein Streben, das Ich zu erweitern, andere
Wesen in dieses Ich aufzunehmen, in dieses Ich zu verwandeln. Von
dieser Art ist die Unterjochung anderer Wesen, die Unterwerfung
derselben unter meinen Willen: Tiere, Pflanzen. Von dieser Art ist
die Vereinigung: Familie. Von dieser Art ist die Nahrungsaufnahme
durch den Magen, die Lungen, die Haut, die Umwandlung anderer
Wesen in mein Wesen — die Ernährung, die allen lebenden Wesen,
vom Infusorium bis zum Menschen, eigentümlich ist.
61 Leo Tolstoi, Tagebuch
4. Das geistige Wesen offenbart ach in diesem Leben als das Be¬
wußtsein eines Selbsts in der Form eines gesonderten Wesens. Dies
ist eine seiner Erscheinungen; doch habe ich nicht das Recht zu
sagen, daß dies seine einzige Erscheinung sei. Es kann eine zahllose
Menge anderer seiner Erscheinungen geben. Diese Erscheinung aber
ist keine zufällige, zeitliche, sondern eine ewige. Verlasse ich sie,
so weiß ich doch, daß andere gesonderte Wesen in ihr verbleiben.
5. Darum ist meine Tätigkeit hier keine unnütze, sie ist für an¬
dere Wesen nötig. Ich bereite ihnen den Weg, gebe ihrer Tätigkeit
eine größere Kraft.
6 . Wozu diese Abgesondertheit der geistigen Wesen, die ihre
Grenzen erweitern, nötig ist, das zu wissen, ist dem Menschen nicht
gegeben; doch ist sie zweifellos eine nötige Sache.
7. Das Leben ist keine Illusion, sondern ein ewiges Leben, das
sich in den einzelnen Wesen, als deren Sonder-Bewußtsein auftretend,
manifestiert.
8. So daß der Mensch, wenn er diese Form des Lebens verläßt
und in eine andere Form übergeht, in diesem Leben eine ewige Spur
hinterläßt.
zp. Mai 1903. J. P.
Gestern in Pirogowo gewesen. Bin glücklich hingekommen und
habe dort alles wohl angetroffen. N. N. ist mir sehr unangenehm.
Kämpfe mit wechselndem Erfolg. Heute, als ich spazieren ging, fiel
mir etwas sehr Wichtiges ein, das ich auch aufschreiben werde.
Sascha ist weggefahren. Lenotschka ist angekommen. Abends war
ich spazieren und war von der Schönheit der Natur entzückt.
Einschreiben muß ich das Folgende:
1. Das Leben beginnt mit dem Erwachen des Bewußtseins, daß
man ein geistiges (in Grenzen eingeschlossenes) Wesen ist. Dieses
Bewußtsein aber erwacht mit der ersten Erinnerung an das, was mit
mir geschah. Was ist die Erinnerung! Die Erinnerung ist ein (offen¬
bar immaterieller) Akt, vermöge dessen ich zwei oder mehrere ver¬
schiedene Ereignisse oder Eindrücke auf mich beziehe: ich fühle und
sage, daß dieser und jener Zustand mein Zustand war. Dieses Be¬
wußtsein von der Einheit verschiedener Zustände ist der Anfang des
geistigen Lebens. Nur wenn er dieses Bewußtsein erlangt hat, begreift
der Mensch, daß er ein geistiges, von allem abgesondertes Wesen ist.
Bis zu diesem Moment weiß er, selbst wenn er sich als ein abge¬
sondertes Wesen betätigt (was er nur nach Aussagen anderer Leute,
Leo Tolstoi, Tagebuch 6 3
nie aus innerer Erfahrung wissen kann), nicht, daß er lebt. Ein
Bewußtsein dessen, daß man lebt und vom Ganzen gesondert ist,
beginnt erst mit der Erinnerung, d. h. mit dem Bewußtsein, daß
man ein geistiges, in Grenzen eingeschlossenes Wesen ist.
1. Juni 1903. J. P.
Der beste Trost in Fällen der Unannehmlichkeit mit Leuten ist
der: mögen sie tun, was sie wollen und entstehe daraus, was immer:
ich kann es nicht ändern. Wenn ich nur tue, was recht ist.
Ich kann ein ungutes Gefühl N. N. gegenüber noch immer nicht
unterdrücken.
Noch das muß ich einschreiben, daß ich heute den Nekrolog von
Bugajew und seine Monadenlehre gelesen habe; habe verstanden, daß
er die Existenz von geistigen, abgesonderten Wesen, die in sich andere,
der Beobachtung nach abgesonderte, Wesen einschließen, dunkel be¬
griffen hat
Das Leben ist das Bewußtsein, das mir ein Ich zeigt, das von
einigen, von vielen, von unendlich vielen gesonderten Wesen getrennt
ist. Der Verkehr der Wesen untereinander ist Bewegung, — ich kann
es mir nicht anders vorstellen denn als Bewegung.
Alles das and nur Entwürfe von imklaren und oft unrichtigen
Gedanken.
3. Juni 1903. J. P.
Noch immer ist der Magen in Unordnung. Immer kämpfe ich
noch. Gestern über Nikola] gut geschrieben.
Heute Briefe geschrieben und das Folgende notiert:
1. Jede Staatsgewalt weiß, daß sie nur existiert dank der Un¬
wissenheit des Volkes, und darum fürchtet sie nichts so sehr als die
Aufklärung und haßt sie. Es gibt jedoch Umstände, welche die
Macht zwingen, der Aufklärung Zugeständnisse zu machen; dann gibt
sich die Macht den Anschein, als ob sie die Aufklärung fördere, sie
nimmt sie in die Hand — und verdirbt sie. Es kann aber auch Be¬
dingungen geben, wo das nicht nötig ist. In solchen Bedingungen
war Nikolaj. Das wußte er und handelte danach.
z. Nikolaj hielt alle Menschen ftir solche Menschen, wie die waren,
die ihn umgaben. Und die, die ihn umgaben, waren gemeine Menschen.
3. Man muß im Angesichte Gottes leben nicht nur bei Begeg¬
nungen mit Menschen, wie ich es aufgeschrieben habe, sondern immer,
auch wenn man allein ist: Enthaltsamkeit, Anstrengung usw.
d 4
Leo Tolstoi, Tagebuch
Heute, 4. Juni 1903. J. P.
Wenig geschlafen. Gestern Mischa meine Tagebücher für Poscha
zum Abschreiben gegeben. Dort ist viel Interessantes. Heute mich
zur Arbeit gesetzt, wollte die Erinnerungen fortsetzen, aber ich konnte
nicht, es geht nicht. Gestern Ober Nikolaj I. gelesen. Sehr viel
Interessantes. Muß es, bevor ich weiterarbeite, nochmals durchlesen.
5. Juni 1903. J. P.
Mit der Arbeit geht es noch immer nicht recht vorwärts. Heute,
bis jetzt, Magen besser. Lese über Nikolaj.
Einzuschreiben ist nur eins:
1. An sich arbeiten muß man, wenn man allein ist, nicht beein¬
flußt von Leuten und Dingen. In der Einsamkeit muß man seine Ge¬
danken verbessern, die schlechten zurückhalten, die guten hervorrufen.
Ein wenig tue ich das, und es ist gut so. Sich bessern wollen, wenn
das Leben in Bewegung ist, ist geradeso wie einen Wagen ausbessem
wollen, während er in Fahrt ist.
Gesundheit besser. Finde mich allmählich in Nikolaj Pawlowitsch
hinein. Habe drei neue Sachen in Absicht genommen. Es ist Zeit
zu sterben, und ich nehme mir vor: 1. die Erzählung vom Ball und
dem Spießrutenlaufen, z. Schrei des Teufels beim Herannahen Christi,
3. Wer bin ich, — eine Selbstbeschreibung, mit meinen Schwächen
und guten Eigenschaften.
Einzutragen ist:
1. Dreierlei Antriebe können den Menschen zum Handeln bewegen:
a. Gefühl, Reflexe, b. Hypnose und c. vernünftige Überlegung. Die
Vernunft wacht über die ersten zwei Antriebe. Die Vernunft wird
von keinem der beiden überwacht, vielmehr wacht sie über sich
selbst.
Die ersten beiden Antriebe entscheiden beim Zusammenstoß, d. h.
wenn eine Handlung durch das Gefühl oder eine entgegengesetzte
durch Hypnose hervorgerufen wird, den Konflikt ohne meine Teil¬
nahme. Beim Zusammenstoß des Gefühls oder der Hypnose mit
meinem vernünftigen Bewußtsein entscheidet sich das vernünftige Be¬
wußtsein so oder so, d. h. es unterwirft sich entweder oder es siegt.
So daß es also eigentlich nur ein vernünftiges, bewußtes Leben gibt.
18. Juni 1903. J. P.
Die Gesundheit ist gut. Drei Tage schlechtes Wetter, und ich
Leo Tolstoi, Tagebuch <*5
fühlte mich sehr schwach. Ich reite viel. Besucher: Dawidow, Abri-
kossow, Maslow, die Gljebowa.
Arbeite nichts, oder doch so gut wie nichts. Habe mich entschlossen,
Nikolaj Pawlowitsch liegen zu lassen fast so wie das Kapitel jetzt ist und
es separat auszuarbeiten, wenn es sich als nötig erweisen sollte.
Einzuschreiben ist Folgendes:
i. Die Erweiterung des Bewußtseins oder genauer: die Klärung
des geistigen Bewußtseins, die Übertragung des eigenen Ichs in das
geistige Bewußtsein, drückt sich als Liebe aus. Wesen, die uns ähn¬
lich sind, lieben wir natürlich leichter als andere. So lieben wir von
den Menschen die uns Anverwandten leichter als fremde, und von
den Fremden wieder diejenigen leichter, die uns ähnlich sind; ebenso
lieben wir von den Tieren diejenigen leichter, die uns ähnlich sind,
und sogar von den Pflanzen gilt dasselbe.
z. In Aussicht genommen drei neue Arbeiten: i. Der Schrei der
jetzigen verirrten Menschen: der Materialisten, Positivisten, Nietzsche-
aner, — der Schrei (Mark, i, 24): „Halt, was haben wir mit dir zu
schaffen, Jesu von Nazareth? Du bist kommen uns zu verderben. Ich
weiß, wer du bist: der Heilige Gottes“. (Wäre sehr gut.) 2. Für
das jüdische Sammelwerk: Lustiger Ball in Kasan, bin verliebt in die
schöne Tochter des Regiments-Chefs — eines Polen —, tanze mit ihr;
der prächtige Alte, ihr Vater, umfaßt sie zärtlich und tanzt eine
Mazurka. Gegen Morgen, nach schlafloser Nacht, wandert der Ver¬
liebte dem Schall einer Trommel nach: man läßt einen Tataren aus¬
peitschen, und der Regiments-Chef befiehlt, fester zuzuschlagen. (Ware
sehr gut.) Und 3. Mich beschreiben, ganz wahrheitsgemäß, mit allen
meinen Schwächen und Dummheiten, und dazwischen auch mit dem,
was in meinem Leben gut und bedeutsam ist. (Wäre auch gut)
Alles das ist viel wichtiger als der dumme H.-M.*
3. Das Gespräch, das Nikitin mit Abrikossow hatte, war das ge¬
wöhnliche. Leute, die keine Christen sind, tadeln oder, wie sich
Nikitin verbesserte, begreifen nicht, daß Menschen, die sich zum
Christentum bekennen, seine Vorschriften nicht vollkommen befolgen.
Wir Materialisten, wenn wir uns ein Ideal (sie nennen es Ideal) auf¬
stellen, leben ihm dann aber auch vollkommen nach.
* „Hadschi-Murad“, Roman aus Tolstois Nachlaß, deutsch in der zwei¬
bändigen Ausgabe der Nachgelassenen Schriften Tolstois bei Eugen Diede-
richs, Jena, und unter dem Titel „Chadschi Murat“ als separates Buch bei
S. Fischer, Berlin, erschienen. D. H.
5
66
Leo Tolstoi, Tagebuch
Aber die Sache ist die, daß es überhaupt nur ein christliches Ideal
gibt, daß dieses in einem Leben besteht, das Gott geweiht ist, oder
in einem Leben nach dem Willen Gottes, und daß ein Mensch, der
sich ein solches Leben vorgenommen hat, dieses Ideal nicht voll¬
kommen verwirklichen kann. Menschen aber, Nicht-Christen, die ein
tierisches Leben führen (sie mögen immerhin auch andern Gutes tun,
was dann aber bloß im eigenen Interesse geschieht), können leicht
konsequent sein, wie jedes Tier konsequent ist. Dieses Mißverständnis
rührt davon her, daß die Leute, die Nicht-Christen sind, keine Ahnung
davon haben, was für eine Anstrengung („Das Reich Gottes wird mit
Kraft genommen“) es kostet, sich dem Ideal des christlichen Lebens
zu nähern; sie glauben, es sei ebenso leicht, diesem Ideal nachzuleben,
wie es leicht ist, seinen tierischen Trieben zu folgen.
Im wesentlichen wird das menschliche Leben, das Leben aller
Menschen, durch zwei Grenzen bestimmt: durch die Beziehungen des
tierischen Lebens zu einem geistigen Ideal, das ein und dasselbe in
allen Philosophien und Religionen ist: zum Ideal des Gehorsams gegen
das Gesetz der ganzen Welt — oder zum umgekehrten Ideal der Er¬
füllung aller persönlichen Wünsche. Die eine Grenze wird durch die
vollkommene Hingabe an das geistige Ideal bezeichnet, die andere
durch ein vollkommenes Aufgehen im tierischen Zustand. (Jeder kennt
diesen Zustand aus seiner eigenen Kindheit.) Zwischen diesen beiden
Grenzen gibt es zahllose mittlere Stufen. Alle Menschen stehen auf
einer dieser Stufen, und alle entwickeln sich aus tierischen Anfängen
zu einem geistigen Leben empor.
4. (Für die Definition des Lebens besonders wichtig.) Das Leben
ist Bewußtsein. Es gibt zwei Bewußtseine. Ein niedrigeres Bewußt¬
sein: das Bewußtsein der eignen Gesondertheit von allem andern; und
ein höheres Bewußtsein: das Bewußtsein des eignen Teilhabens an
allem, das Bewußtsein unserer eignen Außerräumlichkeit, Außerzeit¬
lichkeit, unsrer Geistigkeit, das Bewußtsein unsrer eignen Univer¬
salität. Das erste Bewußtsein — das der eignen Gesondertheit — nenne
ich das niedrigere deshalb, weil es nur durch das höhere geistige Be¬
wußtsein zustande kommen kann (ich begreife, erkenne mich als von
allem andern gesondert). Das zweite Bewußtsein aber, das geistige,
bedarf zu seinem Zustandekommen des niedrigeren Bewußtseins nicht.
Ich erkenne nur, daß ich erkenne, und erkenne, daß ich erkenne, daß
ich erkenne und so fort ins Unendliche. Das erste Bewußtsein (das nie¬
drigere) erzeugt, vermöge der ihm eigenen Gesondertheit, die Begriffe der
Leo Tolstoi, Tagebuch 6j
Körperlichkeit, der Materie (und deshalb der Bewegung, des Raumes
und der Zeit). Das zweite Bewußtsein aber kennt weder Körperlich¬
keit noch Bewegung noch Raum und Zeit, es ist durch nichts begrenzt
und ist immer sich selber gleich. Die einzige Aufgabe des Lebens
besteht darin, daß man das eigne Ich aus dem gesonderten in das
universelle geistige Bewußtsein überträgt. Eben diese Übertragung des
eignen Ichs aus dem Gesonderten in das nicht gesonderte Universelle
ist das, was sich uns als das Leben darstellt.
(Es ist wieder nicht das Richtige, ich kann nicht weiter.)
5. » Ignorabimus« — sie benutzen mit Vorliebe lateinische, nicht
allen verständliche Worte — sagen die Gelehrten. Ja, wir werden es
nie wissen, oder vielmehr es gibt Dinge, die wir nie werden wissen
können. Sehr wichtig ist es auch, zu wissen, was wir nicht wissen
können, damit wir unsere Kfaft nicht unnütz auf Versuche verwenden,
das Unerkennbare zu erkennen.
Warum ist das in Grenzen eingeschlossene Wesen bestrebt, diese
Grenzen zu erweitern und zu zerreißen? Was geschieht mit dem Wesen,
das die Grenzen zerrissen hat? Dies und vieles andere können wir
nicht wissen ...
(Bin müde.)
19. Juni 1903. J. P.
Habe nicht geschrieben. Große Schwäche, bin aber ganz gesund.
Schreibe nichts.
Einzuschreiben ist zweierlei:
1. Alle Menschen nähern sich mehr dieser oder jener Grenze: die
eine Grenze ist: leben nur für sich selbst, die andere: leben nur für
die andern.
z. Franz von Assisi wiedergelesen. Wie schön, wenn er sich an
die Vögel wendet, als zu seinen Brüdern! Und das Gespräch mit dem
frere Lbn über die Freude!
Zum Selben. Das Leben ist die Erkenntnis der eigenen Einheit
mit Gott.
13. Juni. J. P. 1903.
Die Gesundheit ist gut. Esse Beeren. Reite viel. Geistige Trägheit.
Einzuschreiben ist eins:
Ich bin meinem Charakter nach ein sehr böser Mensch, sehr stumpf
für das Gute, und darum muß ich große Anstrengungen machen, um
nicht ein ganz abscheulicher Mensch zu sein. J. Samarin sagte einmal
sehr gut, er sei deswegen ein guter Mathematiklehrer, weil er für
68 Moritz Heim arm, Micha Josef h'm Gorion
Mathematik keinen Kopf habe. Bei mir ist es hinsichtlich der Mathe¬
matik genau dasselbe, aber auch in Hinsicht auf das Gute: ich bin
im Guten sehr stumpf und deswegen kein ganz schlechter, ja ich darf
kühn sagen: ein guter Lehrer im Guten.
(Wird fortgesetzt)
MICHA JOSEF BIN GORION
Seinem Gedächtnis von
MORITZ HEIMANN
N ach einer schönen jüdischen Sage — sie ist etwas mehr als eine
Sage und etwas weniger als ein Glaube — ruht der Bestand
der Welt auf sechsunddreißig Gerechten. In der ganzen Menschheit
verstreut, im Verborgenen, unerkannt vom Auge des Tages, ein Quell
des Segens, leben sie das Unzerstörbare. Einer von ihnen ist nun ab¬
geschieden, und die heimliche Krone ist weitergewandert; möge sie
niemals sich mit einem weniger würdigen Haupt begnügen müssen!
Meistens sind sie Handwerker, Bauern, kleine Leute, diese Sechs¬
unddreißig, und die geistige Leuchtflamme, von der sie eingehüllt sind,
würde von dem Beruf des Geistes, vom Ruhm und der sichtbaren
Auszeichnung getrübt und unwirksam gemacht werden. Dennoch ge¬
hörte Micha Josef Berdyczewski, der sich später bin Gorion genannt
hat, zu ihnen, dennoch; obgleich er ein Gelehrter und ein Dichter
war und obgleich der Ruhm ihn schon früh gesucht und gefunden hat.
Daß er berühmt gewesen sei, wird deutsche Leser wundern, selbst
wenn ihnen sein Name von den beiden Sammlungen der jüdischen
Sagen* vertraut wäre. Aber diese wertvolle, an Umfang der vorberei¬
tenden Studien und der ausführenden Mühe nicht geringe Arbeit war
nur ein kleiner Teil seines Werkens und Wirkens, fast nur ein Seiten¬
schößling. Seinen Ruhm hatte er als hebräischer Schriftsteller und
als jüdischer Denker bei allen, und es sind ihrer mehr, als der Westen
ahnt, zu denen seine Sprache sprechen konnte. Er war etwas wie ein
jüdischer Atlas, trug die ganze jüdische Welt auf seinen Schultern und
genoß das bittere Bewußtsein, Tieferes und Schwereres davon erkannt
* „Die Sagen der Juden“, bei Rütten und Loening; „Der Born Judas“,,
im Insel-Verlag.
Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion *9
zu haben als jeder andere. Er wehrte auch jeden andern mit stei¬
gender, schließlich stummer Ungeduld von sich ab, mochte von dem
geteilten Wissen sich ein guter oder ein böser oder ein törichter
Wille nähren, und geehrt von allen, begehrt von vielen, stand er für
sich allein. Seine hebräischen Werke hat er noch herauszugeben an¬
gefangen, sie werden zwanzig Bände umfassen; dazu sechs Bände in
der Vulgärsprache des jüdischen Ostens, dem sogenannten Jargon: Essays,
Novellen, Dramen, Erzählungen und Gedichte, — und auch dieses alles
zusammen ist nicht das Lebens- und Hauptwerk, dem er zustrebte und
von dessen Plänen und Bausteinen der Tod ihn wegnahm.
Er ist sechsundfünfzig Jahre alt geworden, war ein Mann von kleiner
Statur und zartem Bau, zart auch, wiewohl unbekümmert, von Ge¬
sundheit, zähe gemacht durch Leiden und Entbehrungen, bis eine kurze
Krankheit den Rest von Kohle in ihm schnell verbrannte und die
Schlacke zurückließ. Er hatte die Haltung eines in sich selbst ein¬
gewickelten Menschen; er war kurzsichtig und beobachtete nie, sah
aber alles, zum Erstaunen derer, die nicht bemerkt hatten, daß er sah.
Wenn er die Gläser abnahm, verrieten die grauen Augen denselben
klaren, femsuchenden Geist, der die feste, einfache, bedeutende Stirn
modelliert hatte. Für Menschen des westlichen Lebensgefühls hatte
seine Erscheinung etwas Fremdartiges, ja Unwirkliches; doch ist ihm
keiner genaht, ohne seinen Wert und seine Persönlichkeit mit inner¬
lichem Aufhorchen zu spüren; versagen an ihm habe ich in über
zwanzig Jahren nur ganz wenige gesehen, Menschen mit jener Art von
Egoismus, der selbst die Klügsten dumm macht und sie merken es
nicht. Dieser Fremdling, hebräischer Schriftsteller und Durchdenker
des Judentums, lebte in Deutschland, sowohl dem politischen als dem
geistigen Gebilde, mit einer wunderbaren, von der Erfahrung unab¬
hängigen Zugehörigkeit. Er war ein leidenschaftlicher deutscher Patriot,
haßte alle liberalistische Sänftigung und dachte als Politiker kühn, in
Staaten und Mächten. Um dieselbe Zeit, wo er seinen vor kurzem an¬
genommenen Schriftstellernamen bin Gorion, das Jüdische betonend, zu
seinem bürgerlichen machen ließ, führte er seine Aufnahme in den
deutschen Staatsverband durch, und es ist wohl etwas mehr als ein
Zufall, daß unter den Paten, die ihn der Behörde empfahlen, Gerhart
Hauptmann war.
Er stammte aus der Ukraine. Mit jungen Jahren durchbrach er die
Mauer des Ghettos und machte sich auf den Weg nach Westen, immer
hinter einer von früh an ersehnten, geahnten Geistesfreiheit her. Die
70 Moritz Heimanrt, Micha Josef bin Gorion
leibliche Not war schrecklich; in Breslau, seiner ersten Station, ist es
vorgekommen, daß er zum Lesen kein anderes Licht hatte als die
Straßenlaterne. Seine Pläne stritten widereinander, manche von ihnen
waren die halb freiwillige Selbsttäuschung der bedrängten, drängenden
Gemüter. Er dachte daran, Maler zu werden, und besuchte die Aka¬
demie; er arbeitete um den kärgsten Lohn bei einem Buchbinder, und
hat sich noch in seiner späten Zeit die vielen, vielen mit Lebensblut
erkauften Bücher in den ihm eigentümlichen, wunderlich-zierlichen
Schick gebracht. Der Hauptertrag des Breslauer Aufenthaltes war die
Einsicht, daß die im Ghetto erworbenen, an Masse ungeheuren Kennt¬
nisse einer ganz andern Systematik bedurften, als der traditionellen,
und der Verdacht, daß auch die westliche offizielle jüdische Wissen¬
schaft diese Systematik nicht bis zu Ende, nicht bis zur strengen,
vorurteilslosen Wahrheit zu leisten vermöchte. Dann schlug er sich
nach der Schweiz und in der Schweiz durch und promovierte in Bern.
Der Schlußsatz seiner Dissertation war ein echter Berdyczewski: „das
Maß — ist das Maß aller Dinge“; immer hat er den allzu schnellen,
allzu bereitwilligen Relativismus, den Protagoras als Vorwand, verworfen
und verachtet.
Von der Schweiz kam er nach Berlin, um deutscher Schriftsteller
zu werden. Eine Novelle („Daneben“) glückte ihm und wurde in der
„Neuen Rundschau“ (im Jahre 1899) abgedruckt. Er versuchte, mit
einem Roman aus seiner Heimatwelt, den größeren Wurf — und erlebte
eine Katastrophe. Alles, was er erzählte, war klar, scharf, humoristisch
und witzig gesehen; aber es gelang ihm trotz unendlicher, peinvoller
Mühe nicht, der Sprache Herr zu werden. Er hatte das feinste Ohr
für die Sprache, ertrug kaum ein andres, als das beste urbürtige Deutsch,
die Bibel von Luther, Grimms Märchen, Keller; dabei ließ er sich
nicht vom Reiz des Altertümlichen einfangen, erkannte Emil Straußens
Prosa als die beste, die heute geschrieben wird, und war auch sonst
nach allen Seiten hin hellhörig und bereit, — ich erinnere mich noch,
daß er als erster uns die eben erschienenen „Notizen aus Mexiko“
von Keßler rühmte. Aber wenn er selbst schrieb, versagte er. Wir
halfen ihm, Efraim Frisch und ich, doch es half nichts. Er ging in
naiver Ratlosigkeit nach Weimar, ob vielleicht der Genius des Ortes
ihn befreien könnte, und kehrte in der alten Befangenheit zurück.
Was ihm fehlte, war natürlich nicht die Kenntnis und Fertigkeit in den
elementaren Regeln; es stand schwieriger, er vermochte auf keine Weise,
dem vordenkenden, vorordnenden autonomen Willen der Sprache nach-
7 *
Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion
zudenken, nachzuordnen. Die Tragfähigkeit der Sätze, das Verhältnis
zwischen Haupt- und Nebensatz, der Rhythmus zwischen Ausführung
und Abkürzung, alles, was für den Dichter schon getan ist, bevor er
selbst anfängt — zugleich ein Zwang und eine helfende List — alles
das war und blieb ihm ein Kreuz. Man würde, bei einem Manne
von seiner Intelligenz, vor einem Rätsel stehen, wenn nicht zwei Tat¬
sachen das Mißlingen erklärten; die eine, daß seine Muttersprache he¬
bräisch war, nicht der Jargon, und die zweite, daß sein Charakter ihn
zur bloßen geschickten Anpassung unfähig machte. Er konnte sogar
russisch nicht, so sehr war das Hebräische seine Form des Fühlens und
des Denkens, der Seelenkunde und sogar der Logik. Er ließ mir ein¬
mal durch seinen Sohn Emanuel den ersten Monolog der Iphigenie in
der hebräischen Übersetzung vortragen und behauptete, daß das Original
dagegen um eine Schwebung läßlicher klinge; vollends das Neue Testa¬
ment schien ihm erst in der alten Sprache — es ist zweimal übersetzt
worden — die rechte Heimat gefunden zu haben. Er selbst gilt als
einer der Initiatoren und stärkster Vertreter einer neuen hebräischen
Literatur»
Allein das Schicksal, das ihn von Tag zu Tag hart angefaßt hat,
meinte es in den großen Dingen doch gut mit ihm. Er fand schlie߬
lich die deutsche Sprache, er fand seine Frau. Ihr Name, Rahel Ram-
bcrg, steht über den Sagen und über dem Born Judas als der der
Übersetzerin, das Verhältnis ist damit nur ungenügend bezeichnet. Sie
konnte hebräisch, las sich in das Idiom des Talmuds, als einer der
Hauptquellen zum Sagenschatz, hinein, und vor allem: sie konnte deutsch.
Zwischen den beiden Menschen entwickelte sich etwas, was über Er¬
gänzung und Harmonie hinausging: eine wechselseitige Einorganisierung
des einen in den andern; so daß sie sein Mund wurde und sein Deutsch
sprach, nur daß es richtig war, und er, welcher sammelte und zu¬
sammenfügte, ihrer Sprache geruhig vorahnend seine Texte aufs neue
belebte. Die Einheit war so groß, daß sie, mit ihrem jungen Sohn
und gelehrter Hilfe, es wagen kann, den großen Nachlaß zu sichern,
ja bis zur letzten vorhandenen Andeutung auszuführen.
Indessen, weder vom Hebräischschreiben, noch von den neuen Hoff¬
nungen konnte man leben; und so finden wir Berdyczcwski noch ein¬
mal in Breslau, wo seine Frau, die kurz entschlossen ihr medizinisches
Studium ins Zahnärztliche verengt hatte, mit bescheidenen Erfolgen
praktizierte und er zahntechnische Arbeit, die er erlernt hatte, beitrug.
Das Kind wurde geboren, die literarischen Pläne nahmen ein immer
yi Moritz Heim arm, Micha Josef hin Gorion
strengeres Gesicht von Unaufschiebbarkeit an, und noch einmal wagte der
Vielgeprüfte, die Schiffe zu verbrennen. Er kam nach Berlin, tun nichts
zu betreiben als sein Werk. Anfangs ging es knapp genug, nur gerade
hart an der Grenze der Not vorbei, die letzten Jahre aber wurden ihm
freundlich erhellt; er hatte in einem amerikanischen Kaufmann einen Ver¬
leger gefunden, der ein Verehrer seiner Person und seiner Sache war und
nichts wollte als beide nach Kräften hochhalten. So schien alles gut. Im
Sommer ipzo schrieb er mir, er habe etwas Schweres erlebt, könne sich
mir aber nicht mitteilen. Im Herbst besuchte er mich draußen auf dem
Dorf, und als er am Tische stand, lag etwas über ihm, was mich bewog,
zu ihm zu sprechen: „Kannst du mir sagen, was dir begegnet ist?
wo nicht, so habe ich nicht gefragt“. Ich sah, wie seine Augen er¬
loschen, sein Gesicht wurde schrecklich blaß, und die Kiefer zitterten,
nur seine Stimme hatte ihre unveränderte Ruhe: „ich wollte eben
sprechen“. Und nun erzählte er, daß sein Vater, ein fast achtzig Jahre
alter Mann, sektiererischer, in Gott heiterer Rabbiner und ein älterer
Bruder bei einem der unzähligen ukrainischen Progrome grausam massa¬
kriert worden waren. So griff die Heimat, die er hinter sich gelassen
und sogar durch seinen Namen nicht länger mit sich in Verbindung
gehalten hatte, doch noch einmal nach seinem Herzen, und der Griff
war tödlich. Er hat sich nicht mehr davon erholt, wurde von der
Erinnerung oftmals wehrlos überfallen, und sein Gemüt erlebte die Ge¬
fahr, durch das Leid allzu sehr über das Leben erhoben zu sein. Er
war in Dingen milde geworden, in denen er es vorher nicht gewesen
wäre, und selbst über den zionistischen Kongreß in Karlsbad, der sonst
wohl seinen Grimm hervorgerufen hatte, sprach er sich nachsichtig aus.
Nur gearbeitet hat er, wie sein ganzes Leben lang; noch zwei Tage
vor seinem Tode diktierte er seinem Sohn den Schluß eines hebrä¬
ischen Romans, den er vor zwei Jahren angefängen hatte.
Am Morgen seines Todes stellte er seinen Arzt: „Wie wird der
heutige Tag verlaufen, Herr Doktor? Sie wissen, ich bin ein Syste¬
matiker.“ Er war ein Systematiker. Wie alles um ihn herum nett
und sauber war, so war es ihm ein Bedürfnis, Ordnung in geistige
Materien zu bringen. Er liebte es, wie Goethe, Schemata zu entwerfen,
und Bucheinteilungen, Kapitelüberschriften waren ihm eine Lust. Daran
hatte wohl zunächst der Künstler in ihm seinen Anteil, dann aber
das Bedürfnis, der gewaltigen Stoffmassen Herr zu bleiben, die zu
seinem Hauptwerk ihm gefügig waren und in imm er wachsendem
Schwall hinzuströmten. Zu dem Werke liegt, wie schon gesagt, kaum
73
Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion
etwas anderes vor als ein gewaltiges Material, Plan und Pläne, Dis¬
positionen und einige Bausteine. Schon deshalb ist es mir schwer, einen
Begriff davon zu geben, und obenein bin ich gänzlich außerhalb der
betreffenden Kenntnisse. Aber bin Gorion hat oft, wenn auch immer
in einer gewissen vorsichtigen, das Geheimnis wahrenden Art, sein
Lebensthema mit mir besprochen, und so wage ich eine Andeutung.
Man erinnere sich, daß Hebräisch seine Sprache war. Indem sein
dichterisches Ohr dem kritischen zu Hilfe kam, bemerkte er, daß selbst
den größten Gelehrten der westlichen Wissenschaft vom Judentum ein
hemmendes Etwas anhafte, eine Sterilität der Empfindung, eine Me¬
chanisierung der Kenntnisse, fiir ihn konnten sie alle nicht hebräisch.
Er hatte ihre kühnste Textkritik angenommen, aber auch die kühnsten
Chorizonten gingen ihm nicht weit genug. Eine auf andern Gebieten
längst durchgeführte Maxime — zum Beispiel, daß über deutsche Mytho¬
logie ein im neunzehnten Jahrhundert aufgezeichneter Kinderreim mehr
Aufschluß geben kann, als Dutzende von Büchern aus frühen Jahr¬
hunderten — schien ihm auf die jüdische Geschichte in keiner andern
Weise anwendbar, als daß er sie anwendete. Nicht bloß eine freie,
zu unendlichen Konfrontationen Fähige Kenntnis des gesamten Schrift¬
tums von den ältesten Texten der Bibel an bis auf unsere Tage schien
ihm dazu nötig, sondern die lebendige, volkstümliche und dabei dich¬
terisch-kritische Vertrautheit. Der jüdische Gelehrte wird die Befangen¬
heit irgendeiner, wenn auch unbewußten Tradition nicht los, der nicht
jüdische ebenso wenig die der innerlichen Unverbundenheit; und wäh¬
rend beide das Wichtigste schon getan glauben, schien es bin Gorion, als
sei es noch zu tun: Als sei die rechte Geologie der israelitischen und jü¬
dischen Geschichte, die Folge der Schichten und Stufen, noch zu ent¬
decken; und dadurch erst ans Licht zu bringen, was, hinter dem Schutz,
dem Schleier und dem Trug der Traditionen, vom Volke wirklich ge¬
lebt wurde. Alle bisherige Kritik schien ihm zur Ordnung der ver¬
schobenen und verschrobenen Texte bei weitem nicht hinzureichen;
er hatte einen neuen Schlüssel gefunden. Im einzelnen, das ist mir
bekannt, gewann er Resultate, die deutschen Gelehrten, wie Hugo
Winckler, Aufmerksamkeit und Interesse abnötigten. Wie weit das
Ganze reicht, wird hoffentlich nicht verborgen bleiben.
Immer aber handelte es sich flir ihn um Wissenschaft, die, zwar
in sich völlig rein und tendenziös, doch gerade darum ins unmittel¬
bare Leben wirken sollte. Weil er glaubte, daß die Fragen nach den
Anfängen der israelitischen, der jüdischen Geschichte, zum Teil sogar
74 Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion
des Christentums, manche wichtige, vielleicht entscheidende Antwort
noch nicht gefunden hätten, entzog er sich in wachsendem Maße
allen versuchten, gewagten, aufgetrumpften Urteilen über diese Er¬
scheinungen. Nicht nur das Urteil, sondern auch die Praxis sei un¬
möglich, so lange man nicht wisse, was das Ding eigentlich sei, das
man in der Hand drehe. Insbesondere über Israelitertum und Juden¬
tum wollte er keines der heutigen Worte gelten lassen, weder eines der
Wissenschaft noch eines der populären Öffentlichkeit. Alle trieben
sie ihn immer entschiedener in sein Wissen und in seine Einsamkeit,
die Zionisten und die Assimilanten, die neuchristlichen Mystiker und
die Orthodoxen, die Abtrünnigen und die Helden eines kurzfristigen
„Nim gerade!“ Wäre sein Verhalten aus dem Hochmut des Gelehrten
entsprungen, so würde es ein Achselzucken, günstigenfalls ein Lächeln
verdienen. Aber so war es nicht mit ihm. Seine negative Stellung zu
allen Problematikern und Tendenziösen war die schönste denkbare
positive. Er sah, daß alle Theorieen nicht nur die Wissens-, sondern
auch die Lebensaufgabe gröblich vereinfachten. Sich des Judentums
schämen, sich seiner rühmen, untergehen wollen in der Anpassung,
sich durchsetzen im eigenen Land, — in alle dem sah er Air die
Menschen einen Ausweg vorbereitet, nicht wirklich das zu tun, wozu
sie da sind. 'Er dachte beiläufig über den Sozialismus und seine Sekten
ebenso. Will man das Individualismus nennen, so begeht man sogleich
wieder den Fehler, den er durch sein ganzes Leben hin bekämpft hat.
Es gibt keinen Namen für das, was er als die Stellung des Menschen
empfand; ohne Namen weiß es jeder, mit einem beginnt die Usur¬
pation. Für bin Gorion bedeutet dieses Verhalten keinerlei Mystik,
sondern einfach die Realität, in die jeder Mensch hineingeboren ist.
Einsicht und Charakter gingen darum bei ihm in völliger, vor be¬
stimmter Harmonie. Was auch aus seiner Lehre, aus seinem Werk,
aus seinem Ruhme werde, im Augenblick, wo der Kreis sich ge¬
schlossen hat, hört das auf, noch etwas zu wiegen; denn der Mensch
war da und bleibt. Auf seinesgleichen ruht der Bestand der Welt.
ERINNERUNGEN AN OSCAR WILDE
von
FRANK HARRIS
I m Herbst des Jahres 1898 verkaufte ich die „Saturday Review“
an Lord Hardwicke und seine Freunde, und sobald der Kauf abge¬
schlossen war, — ich glaube im November — telegraphierte ich Oscar
Wilde, daß ich sehr bald in Paris ein treffen und bereit sein würde,
mit ihm nach dem Süden zu fahren, wo er seine Erholungszeit ver¬
bringen sollte. Ich sandte ihm auch etwas Geld, um ihn den Weg
zu ebnen.
Einige Tage später fuhr ich hinüber und bat ihn telegraphisch von
Calais aus, mit mir bei Durand zu speisen und wenn ich verspätet
ein treffen sollte, schon mit dem Essen zu beginnen.
Als wir nun auf das Essen warteten, sagte ich:
„Ich möchte zwei bis drei Tage in Paris bleiben, um mir ein Paar
Bilder anzusehen. Kannst du am nächsten Donnerstag zur Abreise nach
dem Süden bereit sein?“ Ich glaube, das besprachen wir an einem
Montag.
»Am Donnerstag?“ wiederholte er. „Ich glaube wohl, Frank.“
„Hier hast du etwas Geld, wenn du dir irgend etwas kaufen willst“,
sagte ich und reichte ihm einen Scheck, den ich für eigene Rech¬
nung ausgestellt und unterschrieben hatte, denn er wußte, wo er ihn
einlösen konnte.
„Wie gut du bist, Frank, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken
soll. Du reist Donnerstag,“ fügte er hinzu, als ob er sich das überlegte.
„Ich möchte dir nur noch ein Wort sagen“, und er zog mich vom
Wagen fort, an dem der Chasseur mit der wollenen Decke wartete. Als
er mich drei oder vier Schritte weiter geführt hatte, sagte er zögernd:
„Frank, könntest du.kannst du mir ein paar Pfund geben?
Ich bin arg in Verlegenheit.“
Ich blickte ihn erstaunt an; denn ich hatte ihm doch zu Beginn des
Abendessens einen Scheck gegeben, hatte er denn das vergessen? Oder
wollte er vielleicht die hundert Pfund aus irgend einem Grunde nicht
angreifen? Plötzlich kam mir der Gedanke, daß er vielleicht nicht
einmal genug hatte, um den Wagen zu bezahlen. So nahm ich einen
hundert Frankenschein heraus und gab ihm das Geld.
„Vielen, vielen Dank“, sagte er und steckte es in die Westentasche.
„Es ist sehr gütig von dir.“
7 6 Frank Harris , Erinnerungen an Oscar Wilde
„Willst du dich morgen um ein Uhr zum Mittagessen ein finden?“
sagte ich, als ich ihm beim Einsteigen in den kleinen Brougham be¬
hilflich war.
„Ja, ja, natürlich,“ rief er, und ich ging fort.
Am nächsten Tage beim Mittagessen schien er mir mit einer ge¬
wissen Verlegenheit entgegenzukommen.
„Ich möchte dich etwas fragen, Frank. Ich bin wirklich beschämt
wegen der Sache am gestrigen Abend; wir haben mit »großen Ver¬
stand, doch zu viel gespeist. 1 * Heute Morgen habe ich entdeckt, daß
du mir einen Scheck gegeben hast, und außerdem entdeckte ich in
meiner Westentasche einen Hundertfrankenschein. Habe ich dich zum
Schluß darum gebeten? ,Angezapft*, wie die Franzosen es nennen?“
fügte er hinzu und versuchte zu lachen.
Ich nickte.
„Wie schrecklich!“ rief er. „Wie schrecklich die Armut ist. Ich
hatte vergessen, daß du mir einen Scheck gegeben hattest, und ich
war so arg in Verlegenheit und in Angst, du könntest fortgehen, ohne
mir etwas zu geben, daß ich dich darum gebeten habe. Ist die Armut
nicht schrecklich?“
Ich nickte, ich konnte kein Wort sprechen; die Tatsache war so
vielsagend.
„Wenn du lieber noch ein bißchen warten möchtest, sage es nur,
ich bin ganz damit einverstanden.“
„Nein, Frank, ich glaube, es wird sich Donnerstag machen lassen.
Wir gehen also wirklich den ganzen Winter Uber nach dem Süden.
Wie herrlich; wie prachtvoll es da sein wird.“
Das Essen war festlich, und wir plauderten ohne Ende. Er sprach
Uber ein paar moderne Franzosen und sehr ausführlich über Pierre Louys,
den er als seinen Schüler hinstellte.
„Ich bin es gewesen, Frank, der ihn dazu bestimmt hat, seine
»Aphrodite* in Prosa zu schreiben.“ Er sprach auch vom Grand Guignol-
Theater.
„Das Grand Guignol-Theater ist das beste in ganz Paris. Es sieht
aus wie eine Nonkonformisten-Kapelle, ein scheunenartiger Raum mit
einer Galerie im Hintergründe und einer kleinen Holzbühne. Da
kannst du die schlichten Tragödien des wirklichen Lebens sehen. Sie
* Anspielung auf Shakespeares Othello, Akt V, Szene II: „who loved
not wisely, but too well“.
77
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
sind so häßlich und so reizvoll wie das Leben selbst. Das mußt du
sehen, und wir wollen auch ins Antoine-Theater gehen. Du mußt
Antoine’s neues Stück sehen; er leistet Vorzügliches.“
Wir dehnten das Abendessen unvernünftig lange aus. Ich hatte
viel aus London zu erzählen und viel aus Paris zu hören. Wir plau¬
derten und tranken Kaffee bis ein Uhr, und als ich den Vorschlag
machte einen Nachtimbiß einzunehmen, fand diese Idee bei Oscar
begeisterten Beifall.
„Ich habe oft mit dir von zwei bis neun Uhr Mittagbrot gegessen,
Frank, nun werde ich mit dir von neun Uhr bis zum nächsten Morgen¬
frühstück Abendbrot essen“.
„Was wollen wir trinken?“ fragte ich.
„Bleiben wir bei demselben Champagner, Frank, wenn es dir recht
ist", sagte er und zupfte sich am Unterkinn. „Kein anderer Wein ist
so begeisternd, wie dieser herbe Champagner mit der köstlichen Blume.
Du warst der Erste, der gesagt hat, daß meine Theaterstücke der
Champagner der Literatur sind.“
Es war drei Uhr geworden, als wir aufbrachen; ich war von der
Reise ermüdet und schläfrig, und Oscar hatte vielleicht mehr ge¬
trunken, als ihm gut war. Da ich wußte, wie verhaßt es ihm war,
wenn er zu Fuß gehen mußte, ließ ich eine „voiture de cercle“ kommen
und bat ihn, den Wagen zu benutzen, ich würde zu Fuß nach meinem
Hotel gehen. Er dankte mir, schien aber noch zu zögern.
„Was denn nun?“ fragte ich, da ich mich nach meinem Bett sehnte.
Die demütige Stimmung der Selbstverdammung hielt bei ihm. nicht
lange vor und saß nicht tief. Bald plauderte er ebenso lustig und
heiter wie je.
Ehe wir auseinander gingen, sagte ich zu ihm:
„Du vergißt doch nicht, daß du am Donnerstag Abend abreist?“
„Ach! wirklich!“ rief er zu meiner Verwunderung. „Es ist ja schon
sehr bald Donnerstagg ich wetß nicht, ob ich es ermöglichen kann,
mitzufahren.“
„Was in aller Welt meinst du damit ?** fragte ich.
„Weist du, um die Wahrheit zu sagen, habe ich Schulden zu be¬
zahlen und nicht genug Geld.“
„Aber ich werde dir mehr geben“, rief ich, „wieviel brauchst du,
um ins Reine zu kommen?“
„Ich glaube noch einmal fünfzig — das wird genügen. Du bist
wirklich zu gut.“
7 »
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
„Ich werde sie dir morgen früh mitbringen.**
„Bitte in Scheinen und in französischem Geld, wenn es dir recht
ist. Es fällt mir ein, daß ich es brauchen werde, um ein paar Kleinig¬
keiten gleich zu bezahlen, und die Zeit ist knapp.**
Ich dachte nicht weiter über die Angelegenheit nach. Aber am
nächsten Tage beim Mittagessen gab ich ihm die Summe in fran¬
zösischem Papiergeld. Und an demselben Abend sagte ich zu ihm:
„Du weißt doch, daß wir morgen Abend abreisen; hoffentlich bist
du fertig? Ich habe Billets für den ,Train de Luxe* besorgt.**
„Ach, es tut mir zu leid!** rief er, „ich werde nicht fertig.“
„Was soll denn das nun?** fragte ich.
„Nun, es handelt sich um Geld. Es sind noch ein paar Schulden
hinzugekommen.“
„Weshalb bist du mir gegenüber nicht offen und sagst mir, wie¬
viel du schuldig bist? Ich werde dir einen Scheck über das Ganze
geben; denn ich möchte dich nicht im einzelnen mühselig danach
ausfragen. Nenne mir eine Summe, die dich von allen Verbindlich¬
keiten befreit, und ich gebe sie dir. Ich will, daß du ein ganz glück¬
liches halbes Jahr verlebst, und wie kannst du das, wenn dir deine
Schulden Sorgen machen?“
„Wie gütig du zu mir bist. Ist das wirklich dein Emst?“
„Aber selbstverständlich.**
„Wirklich?** sagte er.
„Gewiß**, antwortete ich, „sage mir, wieviel es ist“
„Ich denke, ich glaube .... noch einmal fünfzig, wäre das wohl
zu viel?*
„Ich werde sie dir morgen geben. Ist das auch ganz bestimmt
genug?“
,Ach ja, Frank; aber laß’ uns erst Sonntag fahren. Der Sonntag
ist ein so guter Reisetag, da ist’s überall so langweilig, daß wir ihn
ebenso gut im Eisenbahnzuge verbringen können. Außerdem reist in
Frankreich kein Mensch am Sonntag, da werden wir es uns ganz
sicher in unserem Zuge bequem machen können. Geht’s nicht Sonn¬
tag, Frank?“
„Natürlich geht’s“, erwiderte ich lachend, aber nach ein bis zwei
Tagen war er wieder ganz verlegen und erzählte mir wieder, es handele
sich um Geld. Und dann gestand er mir, er habe zuerst befürchtet,
ich würde nicht seine gesamten Schulden bezahlen, wenn ich die ganze
Summe gewußt hätte. Wenn ich sie aber nach und nach von ihm
79
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
erfahren würde, konnte er wenigstens mit Sicherheit auf etwas rechnen.
Dieses klägliche und beklagenswerte Geständnis wirkte um seinet¬
willen niederdrückend auf mich. Es bewies, daß er Übung in solchen
kleinlichen Winkelzügen und allzu wenig Stolz besaß. Selbstverständ¬
lich wurde meine Bewunderung für seine Vorzüge dadurch nicht ver¬
ringert und mein Entschluß nicht erschüttert, ihm alle Möglichkeiten
zu bieten. Wenn er gerettet werden konnte, so war ich dazu be¬
stimmt, ihn zu retten.
Wir trafen uns am Sonntag Abend auf dem Bahnhof „Gare de
Lyon*. Wie ich bemerkte, hatte er im Wartesaal gespeist, denn leere
Flaschen in erstaunlich großer Zahl standen auf dem Tisch. Er schien
furchtbar niedergedrückt zu sein.
„Ich habe mit jemand, — mit einem Freunde gespeist, Frank“, führte
er als Erklärung an.
„Weshalb ist er nicht hier geblieben? Ich hätte ihn gern kennen
gelernt.“
„Ach, du hättest dir nichts aus ihm gemacht, Frank“, erwiderte er.
Ich setzte mich zu ihm, und wir tranken eine Tasse Kaffee, während
wir auf den Zug warteten. Seine Stimmung war düster und jämmer¬
lich, und er sprach tatsächlich kaum ein Wort. Ich konnte mir das
nicht erklären. Von Zeit zu Zeit seufzte er tief, und ich bemerkte,
daß seine Augen rot waren, als ob er geweint hätte.
„Was ist dir?“ fragte ich.
„Vielleicht werde ich’s dir später erzählen. Es ist sehr schwer; —
Abschiednehmen — das ist wie sterben,“ und seine Augen füllten sich
mit Tränen.
Bald saßen wir im Zuge, der ins Dunkel hinausrollte. Ich war so
froh gestimmt, wie es nur sein konnte, in dem Gedanken, daß ich
nun von der journalistischen Tätigkeit befreit war und nach dem Süden
fuhr, um mein Buch über Shakespeare zu schreiben, und daß Oscar
auch arbeiten würde, wenn die Verhältnisse erfreulich waren. Aber
ich konnte ihm kein Lächeln abgewinnen; er saß niedergeschlagen da
und seufzte von Zeit zu Zeit wie verzweifelt.
„Was ist dir denn, um alles in der Welt?“ rief ich. „Nun fährst du
dem Sonnenschein, dem blauen Himmel und dem weinfarbenen Mittel¬
ländischen Meere entgegen und bist doch nicht zufrieden. In einem
Hotel dicht bei einem kleinen, sonnendurchglühten Tale, das bis zum
Meer hinabführt, werden wir wohnen. Vom Hotel aus schreitest du
über einen Teppich aus Fichtennadeln, und wenn du aufs freie Feld
80 Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
kommst, blühen Veilchen und Anemonen um deine Schritte, und du
wirst den Duft von Rosmarin und Myrthen einatmen. Aber anstatt
vor Freude zu singen, läßt der Vogel die Flügel hängen und senkt
den Kopf, als hätte er den ,Pips‘.“
„Ach nicht doch“, rief er, „nicht doch“, und er sah mich mit
tränenerftillten Augen an. Du weißt nicht Frank, was eine große
romantische Leidenschaft ist“.
„Das ist es, was dich quält?“
„Ja, eine große romantische Leidenschaft.“
„Gerechter Gott!“ sagte ich lachend, „wer hat dich denn zu dieser
neuen Anbetung begeistert?“
„Du darfst dich nicht über mich lustig machen, sonst erzähle ich
dir nichts; wenn du mir aber zuhörst, will ich versuchen, dir alles
zu erzählen, denn ich glaube, du mußt es erfahren. Und außerdem
glaube ich, daß es meinen Schmerz mildert, wenn ich’s erzähle.
Komm’ also und höre mir zu.
Entsinnst du dich, daß du mir einmal im Sommer aus Calais
telegraphiert hast, dich im Restaurant Maire zu erwarten, um nach¬
her ins Antoine-Theater zu gehen, und daß ich mich sehr verspätete?
Du entsinnst dich doch, — an dem Abend speiste Rostand am Neben¬
tisch. Nun, also an diesem Abend ist’s geschehen. Ich fuhr pünkt¬
lich ins Restaurant und stieg gerade aus der Viktoria, als ein kleiner
Soldat vorüberging und unsere Blicke sich trafen. Mir stockte das
Herz; er hatte große dunkle Augen und ein köstliches Gesicht von
olivenfarbenem Kolorit — eine Florentiner Bronze, Frank, von Meister¬
hand geschaffen. Er sah aus wie Napoleon als er Konsul wurde —
nur weniger herrisch und viel schöner . . .
Wie hypnotisiert stieg ich aus und folgte ihm wie im Traum
den Boulevard hinunter. Ich entsinne mich, daß der ,cocher‘ mir
nachlief. So gab ich ihm ein Fünffrankenstück und winkte i hm, zu
gehen. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich ihm schuldig war;
ich wollte nur seine Stimme nicht hören, sie hätte den Zauber
brechen können. Stumm folgte ich meinem Schicksal. Nach kurzer
Zeit holte ich ihn ein und forderte ihn auf, ein Glas mit mir zu
trinken. Und in seiner wunderlichen französischen Art antwortete
er mir:
„Ce n’cst pas de refus!“
Wir gingen in ein Kaffeehaus, ich bestellte etwas, — * ich habe
vergessen, was es war — und wir fingen an, zu plaudern. Ich sagte
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 81
ihm, daß mir sein Gesicht gefiele; ich habe einmal einen Freund
gehabt, der ihm ähnlich sah. Nun wollte ich alles Ober sein Leben
wissen. Ich hatte Eile, meine Verabredung mit dir innezuhalten, aber
vorher mußte ich mit ihm Freundschaft schließen. Er erzählte mir
zuerst alles über seine Mutter, ja Frank, über seine Mutter.“ Hier
mußte Oscar wider Willen lächeln.
„Aber schließlich brachte ich in Erfahrung, daß er jeden Donners¬
tag frei war und sich dann sehr freuen würde, mich zu sehen, ob¬
wohl er nicht wußte, weshalb ich an ihm Gefallen finden könnte. Ich
hörte heraus, daß ein Zweirad sein sehnlichster Wunsch auf der Welt
war; er sprach da von vernickelten Lenkstangen und Ketten — und
endlich sagte ich ihm, daß sich das wohl machen ließe. Er war mir
sehr dankbar, und so verabredeten wir ein Zusammensein am nächsten
Donnerstag, und dann ging ich schleunigst, um mit dir zu speisen“.
„Du meine Güte! 1 * rief ich lachend, „ein Soldat, ein vernickeltes
Zweirad und eine große romantische Leidenschaft!"
„Wenn ich von einer Brosche, einer Halskette oder irgendeinem
anderen Schmuckstück gesprochen hätte, so würdest du es ganz natür¬
lich finden.“
„Gewiß,“ gab ich zu, „aber ich glaube nicht, daß ich die Hals¬
kette gleich am ersten Abend angebracht hätte, wenn an der Sache
etwas Romantisches war, und das vernickelte Zweirad kommt mir
unwiderstehlich komisch vor.“
„Frank“, rief er vorwurfsvoll, „ich kann nicht mit dir reden, wenn
du lachst; mir ist es ganz ernst Ich glaube nicht, daß du weißt,
was eine große romantische Leidenschaft ist; ich werde dich davon
überzeugen, daß du nicht weißt, was das bedeutet.“
„Nur zu“, erwiderte ich, „ich bin ja hier, um mich überzeugen
zu lassen. Aber ich glaube, du wirst mich nicht lehren können, daß
es überhaupt etwas Romantisches gibt, wenn es sich nicht um das
andere Geschlecht handelt.“
„Sprich mir nicht von dem anderen Geschlecht“, rief er, und
seine Stimme und Gebärde drückten Widerwillen aus. „Vor allem ist
vom Schönheitsstandpunkt aus ein Knabe nicht mit einem Mädchen zu
vergleichen. Denk' nur an die ungeheuerlichen dicken Hüften, die
jeder Bildhauer mildem und leichter formen muß und an die großen,
schwer* hängenden Brüste, die der Künstler klein, rund und fest nach¬
bilden muß und stell’ dir dann die köstlichen schlanken Linien eines
Knabenkörpers vor. Kein Mensch, der die Schönheit liebt, kann
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8 z
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
einen Augenblick im Zweifel sein. Das wußten die Griechen; sie
hatten Verständnis Üttr plastische Schönheit und sahen ein, daß es da
keinen Vergleich gibt.“
„Das darfst du nicht sagen“, erwiderte ich. „Du gehst zu weit
Die Venus von Milo ist rein als Schönheit betrachtet, so vollendet
wie irgend eine Apollo-Gestalt; die milden, weichen Rundungen
sagen mir mehr als deine hageren Linien.“
„Das kann wohl sein, Frank“, gab er zurfick, „aber du mußt ein-
sehen, daß der Knabe sehr viel schöner ist Dein Geschlechtstrieb,
dein sündiger Geschlechtstrieb ist es, der dich hindert, die höhere
Schönheitsform zu verehren. Eine hohe Gestalt und lange Glieder
verleihen Vornehmheit, und Schlankheit verleiht Anmut. Die Frauen
sind gedrungen gebaut Du mußt zugeben, daß der Knabenkörper
schöner und der Eindruck, den er erweckt, edler und geistiger ist“
„Eins ist so gut wie das andere“, grollte ich. „Dein Bildhauer
weiß, daß es genau so schwer ist, einen idealen Mädchenkörper als
einen idealen Knabenkörper zu finden. Und wenn er an dem aller¬
vollendetsten Mädchenkörper etwas modeln muß, so muß er das auch
an dem allervollendetsten Knabenkörper tun. Wenn er die Brüste und
Hüften des Mädchens verfeinert, so muß er auch die Rippen des
Knaben abrunden und die großen spitzen Kniescheiben und die un¬
schönen breiten Knöchel mildem. Aber bitte sprich weiter. Deine
Sophisterei macht mir Spaß, und deine romantische Leidenschaft inter¬
essiert mich, obwohl du bis jetzt noch nicht zur Romantik gekommen
bist, geschweige denn zur Leidenschaft.“
„Ach Frank,“ rief er, „die Geschichte ist ganz romantisch, jedes
Zusammensein wurde mir zum Erlebnis. Du hast keine Ahnung, wie
klug er ist; jedesmal, wenn wir einen Abend zusammen verbrachten,
zeigte er sich von einer anderen Seite. Er war gereifter und ent¬
wickelter geworden. Ich borgte ihm Bücher, die er las, und sein
Geist entfaltete sich wie eine Blume von Woche zu Woche, bis er
nach kurzer Zeit, — nach ein paar Monaten, ein vorzüglicher Gefährte
und Schüler war. Kein Mädchen reift so schnell, Frank, sie haben
keinen Geist, und ihre ganze Klugheit verwenden sie ftir elende Eitel¬
keiten und persönliche Eifersüchteleien. Mit ihnen ist eine geistige
Kameradschaft unmöglich. Sie wollen von Kleidern und nicht von
Ideen sprechen, sie wollen darüber reden, wie die Leute aussehen
und nicht, was sie sind. Wie kannst du die Blume der Romantik
ohne Verbrüderung der Seelen pflücken?“
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
„Ich finde eine Verschwisterung der Seelen unendlich schöner,“
sagte ich, „aber sprich weiter.“
„Ich werde dich überzeugen,“ erklärte er, „ich muß das fertig
bringen, denn alles Recht ist auf meiner Seite. Ich möchte dir ein
Beispiel erzählen. Selbstverständlich erhielt mein Knabe sein Zweirad;
er pflegte es zu benutzen, wenn er zu mir kam und fuhr auch nach
der Kaserne hin und zurück. Als du nun im September nach Paris
kamst, ludest du mich eines Abends zum Essen ein, — gerade an einem
Donnerstag Abend, als er mich besuchen sollte. Ich sagte ihm, daß
ich ausgehen müßte, um mit dir zu speisen, und er machte keine Ein¬
wendungen. Er freute sich, als er hörte, daß ich mit einem englischen
Redakteur befreundet war, und daß ich mit jemand über London und
über meine früheren Bekannten plaudern konnte. Hätte es sich um
eine Frau gehandelt, die ich liebte, so hätte ich sie belügen müssen,
denn sie wäre auf meine Vergangenheit eifersüchtig gewesen. Ihm
sagte ich die Wahrheit, und als ich von dir sprach, zeigte er großes
Interesse und wurde ganz aufgeregt, und schließlich trug er mir
einen Wunsch vor. Er wollte wissen, ob er hinkommen, sein Zwei¬
rad draußen stehen lassen und ins Fenster des Restaurants gucken
dürfte, nur um uns bei Tisch zu sehen. Ich sagte ihm, daß mög¬
licherweise auch Frauen eingeladen wären. Er aber erwiderte, daß
er mich so gern im Gesellschaftsanzug mit Herren und Damen plau¬
dern sehen würde.
Und er blieb dabei: „ob er hinkommen dürfte?“
Selbstverständlich sagte ich ja, und er kam hin, aber ich habe ihn
nicht gesehen.
„Als wir das nächste Mal zusammenkamen, erzählte er mir die ganze
Geschichte, daß er dich nach meiner Beschreibung herausgefunden,
daß er Bauer an seiner Ähnlichkeit mit dem älteren Dumas erkannt
hatte, und daß er von allem ganz entzückt gewesen war.
„Glaubst du, Frank, daß irgendein Mädchen hingekommen wäre,
um zuzusehen, wie du dir mit anderen Leuten die Zeit vertreibst,
daß irgendein Mädchen durchs Fenster gestarrt und sich gefreut hätte,
wenn du dich im Restaurant mit anderen Männern und Frauen
amüsierst? Du weißt, daß kein Mädchen auf Erden einer so selbst¬
losen Hingebung fähig ist. Ich sage dir, es gibt keinen Vergleich
zwischen dem Knaben und dem Mädchen. Und ich wiederhole noch
einmal mit voller Überlegung, du weißt nicht, was eine große roman¬
tische Leidenschaft oder die edle Selbstlosigkeit wahrer Liebe ist.“
84 Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde
„Du hast das mit außerordentlicher Geschicklichkeit zum Ausdruck
gebracht“, sagte ich, „was ich dir natürlich zugetraut habe. Ich glaube,
ich kann den Reiz solcher Kameradschaft begreifen, aber nur vom
Standpunkt des jungen Mannes, nicht von deinem Standpunkt aus.
Ich kann begreifen, daß du ihm einen neuen Himmel und eine neue
Erde erschlossen hast, was aber hat er dir gegeben? Nichts. Anderer¬
seits hätte jedes feinbegabte Mädchen dir etwas gegeben. Hättest du
wirklich ihr Herz bewegt, so würdest du bei ihr eine gewisse
instinktmäßige Zärtlichkeit, irgendeinen Beweis selbstloser, edler Hin¬
gebung bemerkt haben, so daß dir im Gefühl deiner Minderwertig¬
keit die Augen übergegangen wären.
„Letzten Endes ist es der Kernpunkt der Liebe, der edelste Sinn
jener Kameradschaft von der du sprichst, — der Verschwisterung der
Seelen, daß dieses andere Wesen auch dich anregt, auch dir neue Hori¬
zonte erschließt und neue Möglichkeiten entschleiert. Wie konnte denn
dein Soldatenjüngling dich auf irgendeine Weise fordern? Er bot dir
keine neuen Ideen und Gefühle und konnte dir keine neuen Gedanken
offenbaren. Bei einem solchen Verhältnis kann ich keine Romantik,
keine seelische Entfaltung entdecken. Aber das Mädchen ist in jeder
Weise anders geartet als der Mann. Du hast von ihr ebensoviel zu
lernen, wie sie von dir, und keiner von euch kann auf irgendeine
andere Weise zur idealen Entfaltung gelangen. Ihr seid die beiden
Hälften der Menschheit, — die gegenseitige Ergänzung, ihr braucht ein¬
ander.“
„Du hast das sehr schlau zum Ausdruck gebracht, Frank, was ich
auch — um dir dein Kompliment zurückzugeben — von dir nicht anders
erwartet habe. Aber du mußt zugeben, daß du jedenfalls bei dem Knaben
keine Eifersucht, keine kleinlichen Neidgefühle, keine törichten Nich¬
tigkeiten findest. Das ist’s ja eben, Frank, mancher Mensch kann die
„Katzen“ nicht leiden. Ich habe Gründe ftir meine Abneigung, die
für mich entscheidend sind.“
„Der Knabe, der um ein Zweirad bittet, ist wohl schwerlich von
kleinlichen Neidgefühlen frei“, erwiderte ich. „Nun hast du von Ro¬
mantik und Kameradschaft gesprochen,“ fuhr ich fort, „aber kannst
du wirklich Leidenschaft empfinden?“
„Was für eine törichte Frage, Frank! Entsinnst du dich, daß So¬
krates sagt, er fühle es, wenn die Chlamys auseinandergeweht werde
und Charmides* Glieder enthülle? Entsinnst du dich, daß das Blut in
seinen Adern loderte, und daß er vor Begierde mit Blindheit ge-
Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 85
schlagen war, — eine Szene, die dämonischer wirkt, als Sapphos leiden¬
schaftliche Liebeslieder?
Keine andere Leidenschaft kann mit dieser verglichen werden. Die
Leidenschaft der Frau ist erniedrigend. Sie verlockt dich unablässig.
Sie braucht deine Begierde zur Befriedigung ihrer Eitelkeit mehr als
irgend etwas anderes, und ihre Eitelkeit ist unersättlich, wenn ihre
Begierde weniger stark ist. Und so verlockt sie dich unablässig bis zum
Übermaß, und schilt dich dann um deines körperlichen Überdrusses
und Ekels willen, die sie selbst hervorgerufen hat. Bei einem Knaben
ist keine Eitelkeit im Spiel, daher gibt es keine Lockungen und zehn¬
mal weniger Unsittlichkeit. Folglich bleibt das Verlangen stets rege
und stark. Ach, glaube mir, Frank, du weißt nicht, was eine große
romantische Leidenschaft ist.**
„Was du sagst, beweist nur, wie wenig du die Frauen kennst“,
erwiderte ich. „Wenn du das alles einem Mädchen auseinandersetztest,
das du liebst, würde sie es sofort einsehen, und ihre Zärtlichkeit würde
mit ihrer Selbstverleugnung größer werden. Wir alle werden größer,
wenn wir schenken. Eine Frau hat mehr Sinn für Liebkosungen und
Freundlichkeiten, weil sie eben mehr Zärtlichkeit empfindet und inni¬
gerer Hingebung fähig ist.“
„Frank, du weißt nicht, worüber du sprichst“, gab er zurück. Du
wiederholst die alten beglaubigten Gemeinplätze. Der Knabe begleitete
mich also gestern abend zum Bahnhof und wußte, daß ich sechs Monate
fortbleiben würde. Sein Herz war schwer wie Blei; er konnte den
Tränen nicht gebieten, die unablässig seine Augen füllten, und doch be¬
mühte er sich um meinetwillen heiter und fröhlich zu sein. Er wollte mir
zeigen, wie er sich freute, daß ich eine glückliche Zeit verleben sollte,
wie dankbar er ftir alles war, was ich ihm angetan und für das neue
geistige Leben, daß ich in ihm wachgerufen hatte. Er tat sein Mög¬
lichstes, um meine Stimmung zu heben. Ich weinte, er aber unter¬
drückte seine Tränen. ,Sechs Monate gehen schnell vorüber*, sagte
er ,und vielleicht kommst du zu mir zurück, und dann kann ich wieder
froh werden.* Inzwischen wird er mir gewiß reizende Briefe schreiben.“
Würde irgendein Mädchen so Abschied nehmen? Nein; sie wäre
eifersüchtig und neidisch, sie würde wissen wollen, weshalb du dir
im Süden die Zeit vertreibst, während sie dazu verurteilt ist, im
regnerischen, kalten Norden zu leben. Würde sie dich etwa bitten, ihr
von allen schönen Mädchen zu erzählen, die du kennen gelernt hast,
ob sie lieb und fröhlich waren, — wie der Knabe mich gebeten hat.
86 Arthur E/oesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“
ihm von allen interessanten Leuten zu erzählen, die ich kennen lernen
werde, damit auch er sich für sie interessieren kann! Ein Mädchen
wäre an seiner Stelle vor Neid, vor Bosheit und Eifersucht vergangen.
Ich wiederhole es noch einmal. Du weißt nicht, was eine edle,
romantische Leidenschaft ist.“
„Deine Argumente sind unlogisch“, rief ich, „ein Mädchen ist eifer¬
süchtig, weil sie sich restloser hingegeben hat: ihre Ausschließlich¬
keit ist die Kehrseite ihrer Hingebung und Zärtlichkeit. Sie will alles
für dich tun, bei dir sein und dir in jeder Weise zur Seite stehen.
Und wenn du erkrankst, verarmst oder in Gefahr kommst, würdest
du sehen, wieviel mehr sie dir zu bieten hat, als dein Soldat mit
seinen roten Hosen.“
„Das ist nur eine plumpe Anzüglichkeit, Frank, aber kein Argument.“
„Ein ebenso gutes Argument wie deine Katzen,“ erwiderte ich.
„Über deinen kleinen Soldatenjüngling mit seinem vernickelten Zwei¬
rad kann ich nur lächeln.“ Und ich lachte wirklich.
„Du benimmst dich unverzeihlich“, rief er, „unverzeihlich, — und in
deinem Herzen weißt du, daß die ganze Wucht der Argumente für
mich spricht. In deinem Herzen mußt du es wissen. Wodurch wird
die Leidenschaft genährt? Durch die Schönheit, — durch die Schönheit
allein und allezeit, und bei der Formenschönheit und Lebenskraft gibt
es keinen Vergleich. Wenn du die Schönheit so innig liebtest wie
ich, würdest du ebenso empfinden wie ich. Die Schönheit ist es, die
mir Freude beschert, die mich berauscht wie Wein, die mich vor un¬
ersättlichem Verlangen mit Blindheit schlägt.“
(Ins Deutsche übertragen von Tony Noah)
GERHART HAUPTMANNS „ANNA“
von
ARTHUR ELOESSER
A m 15. November feiert Gerhart Hauptmann seinen 60 . Geburts-
. tag, und wir freuen uns auf diesen Tag, nicht weil die Haupt¬
stadt seiner auseinandergerissenen Heimat ihn einer Festwoche aussetzen
wird, nicht weil ihn noch einige Fakultäten zu ihrem Ehrendoktor
und alle literarischen Gesellschaften Deutschlands zu ihrem Ehrenmitglied
Arthur Eloesser, Gerbart Hauptmanns „Anna“ 87
ernennen werden. Wir freuen uns vielmehr auf das Geburtstags¬
geschenk, das der Dichter uns machen wird, auf das große Epos „Tyll
Eulenspiegel“, das dem Weltkrieg mit derselben Bedeutung und Würde
zu folgen verspricht, wie unser großer tragischer Roman der „Simpli-
zissimus“ aus den Schmerzen des Dreißigjährigen Krieges als der nun
letzte Überlebende geboren wurde. Die deutsche Seele wird ihr Trost¬
gedicht haben. Ger hart Hauptmann war nicht Epimenides, er hat
den Krieg nicht verschlafen. Selbst wenn wir von dem neuen tra¬
gischen Narren nichts wüßten, der dem alten Bruder im Narrenkleide
die Hand reicht, es wäre unnütz zu fragen, ob Hauptmann während der
Jahre der apokalyptischen Heimsuchung bei seinem Volke stand. Wo
sollte er anders gewesen sein, der Dichter des Mitleids, der Erniedrigten
und Beleidigten, der wie kein anderer aus unserer Erde genommen
ist! Und wo haben wir denn andere Heimat, andere Geborgenheit
als in unseren Schaffenden, und wo anders finden wir die neuen alten
Lebenskräfte, die unterirdischen unter allem Menschenwerk, zu denen
Zerstörung und Zerstörtheit nicht hinabreicht. Wir müssen es Haupt-
man danken, daß er tiefer lebend, tiefer leidend als irgendeiner von
uns sein Herz zusammengehalten, daß er den Krieg überstanden und
sich uns für die Zeit der Läuterung, für die Zeit einer neuen Be¬
stimmung und geschichtlichen Würde aufbewahrt hat.
Der Dichter ist kein Sprachrohr und nicht einmal ein Herold; ge¬
rade wenn er von heute und von immer ist, beliebt es ihm zu ant¬
worten, wann es ihn drängt, auch wenn unsere bange Frage Jahrzehnte
warten müßte. In Wahrheit wissen wir nie, wo der Dichter steht —
das bringen die Biographen erst nachher in Ordnung — aber wir
können uns darauf verlassen, daß er immer richtig steht. Selbst wenn
wir von Gerhart Hauptmanns großem Kriegsgedicht nichts wüßten,
brauchten wir gar nicht zu zweifeln, daß für ihn, der nie vom Er¬
lernten und Gedachten, der immer von seinem Eigensten und Nächsten,
Blut und Nerven gelebt hat, das Geschick seines Volkes nun zu seiner
größeren Biographie, zu seinem weiteren Leibe geworden ist mit der
Fähigkeit aller Schmerzen, aber auch mit der glückhaften Fähigkeit
jeder Gesundung. In seiner großen Wiener Rede hat uns Hauptmann
zu Füßen des Berges der Läuterung gestellt, den wir nun ohne alle
schillernde Wehr mit der Tapferkeit des Herzens und in froher De¬
mut zu erklimmen haben. Aber Hauptmann ist kein Dante, kein
Hasser über alle Gräber hinaus und kein Höllenrichter, der dem alten
Hades das Richtschwert abnimmt. Hauptmann ist gütig wie die Erde
88 Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“
selbst, im Tiefsten froh und sogar mutwillig wie ein Gebirgsflüßchen
seiner Heimat, das die Wiesen grün, das die Mühlen und Spindeln
geschäftig macht, und er hat nie anders als aus Liebe geschaffen. Wie
wir Oberhaupt vor einem Völkergericht, wenn es ein echtes gäbe,
uns damit ausweisen könnten, daß die wahrhaft deutschen Dichter
immer die wahrhaften Friedensbringer gewesen sind. Auf Eros und
Neikos, auf Liebe und Haß hat der griechische Mythos die Entstehung
der Welt gegründet. Hauptmann ist der Dichter des Eros, wenn je
einer war, ein Priester vom Mysteriumskult der Zeugungskraft, der
unbefleckbaren Empfängnis, und so hat er uns unvermutet und über¬
raschend, bevor sein tragischer Narr die deutsche Seele aus dem In¬
ferno ins Purgatorio hineinläutet, mit einem ländlichen Liebesgedicht
beschenkt, das uns vor allem seiner und das wäre auch unserer Ge¬
sundheit versichert Sagen wir ruhig eine Weihnachtsgabe vor dem
Geburtstagsgeschenk und eine große Freude, die uns um manche Geißel
allzu betriebsamer Büßfertigkeit und Zerknirschung aus selbstschände-
rischen Händen entwaffnen wird.
Auch Hauptmann hat den Virgil angerufen, aber den friedliebenden
Sänger der „Bucolica“, der den wieder trächtigen Acker, den wieder
grünenden Wald und das schönste Jahr pries. Seine „Anna“ (S. Fischer
Verlag, Berlin) nennt sich ein ländliches Liebesgedicht und wurde in
Hexametern geschrieben. Das in antiker Form besungene Land ist
aber Schlesien, und sein Sohn empfing die Weihe von der Nymphe
des Salzbrunnischen oder, wie es hier heißt des Salzbomischen Brunn¬
quells — er war eins mit der Flut des Kastalischen Quells des Par-
nassos. Hauptmann hat sein ländliches Liebesgedicht aus dem Eigensten
und Nächsten seines Lebens, seiner Jugend geschöpft, die er sich ein
fast Sechziger noch einmal zurückeroberte. Wir wissen aus seiner
Lebensgeschichte, wie er noch ganz ungewiß gegen seine Berufung
bei Onkel und Tante Schubert auf ihrer Besitzung im Striegauer Kreise
als Stoppelhopser diente, wie er von dem pietistischen Paare, das wir
auch Vockerath nennen, bestimmt wurde, ihm den früh gestorbenen
Sohn Erwin zu ersetzen; der ihn, den Unentschiedenen, den Langsamen,
von der eigenen Jugend Bedrückten, schon im Leben verdunkelt hatte
— durch die Fülle äußeren Reizes und innerer Gaben. Es ist die Ge¬
schichte von den Berufenen und von den Auserwählten, die sich ge¬
wöhnlich erst am Ende aufklärt, und wir wissen auch, daß der junge
Hauptmann in diesen Lehrjahren trotz aller christlichen Liebe unter
Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 89
dem stummen Vorwurf von vier Augen gelitten hat: warum gerade
er? warum nicht du?
In dieser ländlichen Besitzung, die nun statt Lederose schöner Rosen
heißt, ist der junge Gerhart, der nun nicht schöner Luz heißt, noch
einmal eingekehrt; er besucht Onkel und Tante „Schwarzkopp“, jetzt
aber ein anderer Kerl als der zweifelhafte Stoppelhopser, ein angehender
Dichter mit dem kühnen Kalabreser über dem Saffiangelock, das bis
auf die Schulter herabfällt; und er hat auch schon das erste Manu¬
skript, sein Hermannslied, seine Rechtfertigung, seine Unsterblichkeit
in der Tasche. Die bedrückende Stromdd hat er abgeschüttelt nach
der erniedrigenden Schulzeit, die ihm das Rückgrat lädierte, die ihm
die Wahrhaftigkeit und den Freimut nahm. „Welch unendliches Glück,
rief er aus, ist die Freiheit des Geistes." Nicht nur ein schlesischer,
ein jungdeutscher Apollo klopft bei den biederen Landleuten an; auch
ein Weiser, ein Tapferer, ein Lebenskenner in allen Lebenslagen läßt
sich zu den einfachen Menschen herab, um seine Freiheit, wo er ein¬
mal Knecht war, nun doppelt zu schätzen, um mit der egoistischen
Wehmut des Überlebenden, des Geretteten, ihren Schmerz und ihre
Trauer mitzugenießen. Und nun kommt Anna, und nun — hebt den
Liebesgesang, ihr Musen, den Liebesgesang an!
Anna ist als Elevin in die Dachkammer ihres Vorgängers eingezogen,
von einer hermhutischen Familie da abgegeben worden, und eine feind¬
selige, spannungsvolle Atmosphäre geht um sie her, als ob viel an
ihr zu retten und noch mehr über sie zu schweigen wäre. Meister¬
haft und nach dem besten ältesten Kunstwissen verteilt Hauptmann
die schicksalhafte Begegnung. Luz sieht sie zuerst ganz als Bild wie
eine Gudrun mit dem Korbe am Arm, die dem Geflügel sein Futter
hinstreut. Von der zweiten Begegnung erfahren wir überhaupt erst
nachträglich aus einer nächtlichen Unterredung Luzens mit seinem
Schlafgenossen, dem merkwürdigen Onkel Just, dem alten Säufer und
Zyniker, den Oberamtmanns das wievielte Mal schon zu seiner Ret¬
tung und Besserung in ihr christliches Haus gelagert haben. Und $0
geht es in kleinen unwillkürlichen Schritten weiter — Lessing hätte
da für seinen Laokoon noch ein paar klassische Beispiele gefunden —
bis zum ersten Alleinsein, bis zum Kuß auf die Stirn, bis zur ersten
gemeinsamen Träne und bis zu den Stelldicheins im Garten und Wald,
die von einer wachsamen, heimlichen, boshaften Vorsehung immer
unterbrochen oder vereitelt werden.
Das Erlebnis ist von Luz, nicht von Anna aus gesehen, die wir
90 Arthur E/oesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“
selten fOr uns allein haben, so daß immer Geheimnis um sie bleibt.
Was Luz aus dem Schweigen um sie erahnt, aus dem Geraune zu¬
sammensetzt und auch durch die Wände erlauscht, das letzte Wort
von dem allen haben wir wohl schon vor ihm heraus. Anna ist wirk¬
lich nicht, wie sie sein sollte; ihre Schönheit hat schon einen Gym¬
nasiasten das Leben gekostet, und mit ihrer Schönheit hat Onkel Just,
der räudige Zyniker, der wieder Stellungslose und durch die Säufer¬
liste Ausgezeichnete, nicht erfolglos gebuhlt. Und dieser schöne Vampyr
bleibt dennoch Gudrun, nicht nur für uns, sondern auch für Luz,
den Lebenskenner in allen Lebenslagen. Der Dichter hat das Mädchen
nicht auf einmal beschrieben — seine Kunst macht wirklich einen
neuen Laokoon nötig — er nennt zuerst die märchenhaft schillernden
die Opalaugen, dann setzt er das Näschen, das so spröde und rein
im reinen Oval des Gesichts steht, und schließlich zieht er die Strenge
des Mundes darunter, aber doch den Mund eines saugenden Kindes.
Doch vor allem sind es die abgearbeiteten Hände, die Luz den Apol¬
linischen erschüttern, Heiligtümer und Wundmale aller Erniedrigung.
Gudrun hat sechs kleine Geschwister aufgefüttert; sie ist die gefähr¬
liche Schönheit, die Mißtrauen, Ablehnung, Vorwurf aller guten Christen
wie von selbst umzischen; sie ist die stolze, spröde, einsame Seele, mit
aller Schmach buhlend, die ihr angetan werden soll. Luzens Liebe
befiehlt ihr, daß sie rein sei, und der Weise, der Dichter Gerhart
Hauptmann gibt seinem Schwärmen Recht aus einem tieferen Wissen,
obgleich er die eigene Jugend mit ironischer Güte ganz außer sich
selbst gestellt hat. Wer liebt, wird Schöpfer und Geschöpf zugleich,
und es gibt in der ganzen Weltliteratur wohl kaum ein höheres Lied
der Liebe, das diese Wiedergeburt, dieses Wiederaufwachen, dieses
Augenaufschlagen zu einer neuen jungen heiligen Welt vollständiger,
ergreifender, brausender aus tiefen Urelementen gesungen hätte. —
Anna, erbarme dich mein! Auf Erden nicht und nicht im Himmel
warst du je so geliebt. Und bliebst du in ewiger Jugend
und erlebtest das tausendjährige Reich Jesu Christi,
nie mehr wirst du, kein zweites Mal, solche Liebe erwecken.
Sprich ein Ja, wenn ich frage: du Heilige, darf ich dich lieben?
Dieses Ja, dieses kleine Ja nur, es tilgt von der Erde
alles Leid, allen Gram, alle Ängste und Nöte und Mühsal
und die goldene Zeit, die noch jeder vergeblich herbeirief,
sie ist da. Und ich sage noch mehr: dieses winzige Jawort
Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna <(
91
tilgt, vernichtet mit einem Schlag die von Sünde verderbte
Erde, zaubert hervor das verlorene Eden, auf daß wir,
wie dereinst, uns darin und glückselig und sündlos ergötzen.
Brot bist du mir und Wein, bist Luft mir, bist Sonne und alles.
Sieh, ich bebe, ich bin eiskalt, und mir perlt auf der Stirne
etwas, was mir beinah wie Schweiß eines Sterbenden vorkommt.
Rühr mich an, und ich bin gesund, ja, und lag ich im Sarge,
tot, und sprächst du zu mir: Geliebter! und nur eine Träne
tropfte brennend auf mich herunter, nicht würd ich mehr tot sein.
Man ließe sich leicht hinreißen, das ganze Gedicht zu zitieren, das
so erschütternd wie beruhigend, das nicht wegen seiner Hexameter son¬
dern wegen seiner inneren Vollkommenheit und tadellosen Bildung
klassisch genannt werden muß, und das uns einen feinen Rausch läßt
von dem echten Nektar der Unsterblichkeit - Unsere Liebenden werden
wieder in Hexametern sprechen und sie werden von einem Sechzig¬
jährigen das Vertrauen zu der großen Passion wieder lernen und die
Ehrfurcht vor Eros dem Allsieger in Streit Le coeur n’a pas de plis,
sagt ein in seiner entzückenden Banalität so gültiges französisches
Sprichwort. Aber wie hoch sich auch Luz verschwärmt, die Staats¬
treppe des Pathetischen ersteigt sein Dichter doch nicht, der im Gegen¬
teil jeden Augenblick die Stufe vom Erhabenen zum Lächerlichen
herunterzuspringen vermag, wie er sie ebenso sicher wieder herauffindet.
Uber die Liebe, die wir Deutsche immer ein wenig allgemein und
im Vertrauen auf ihren mystischen Nimbus hinnehmen, ist selten so
substanziell gehandelt worden, und sie hat sich selten so rein und
rund, so sehr als episches Geschehnis oder sagen wir ruhig als Helden- p
gedieht dargestellt. Hauptmann bemüht die Psychologie nie für sich
in lauernder Beobachtung, er holt die Seele nicht aus dem Leibe her-
heraus, er läßt beide hübsch zusammen in ihrer sinnlich - über¬
sinnlichen Undurchdringlichkeit. Hauptmann kann nie als Gehirn¬
mensch aus seinem warm zeugenden Klima, aus der lieblichen Vege¬
tation seines Gemüts heraustreten und mit der Natur hat er sich ja
immer einverstanden gezeigt. Wie Luz erst durch Neugier zu Anna
gezogen, durch Mitleid gekuppelt wird, wie er sich fühlt im ersten
Bewußtsein seiner Manneskraft, wie er gleich einem Hirsch durch das
Gutshaus röhrt, damit alle die bangen Christen merken, daß er furcht¬
los, voll hoffender Kraft und auch sonst ganz ein Mann war — wie
92 Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“
der stflrmische Frühling zum Sommer wird, durch den liebeszornige
Hummeln ihren Baß brummein, durch den Finken geigen, Pirole
schmettern, und wie dieses ungeheure Naturkonzert aus Tonen, Farben,
Düften doch ein süßes Schweigen nicht ersticken kann, das ftuchtbar
und schläfrig im Licht liegt: das ist Kapital, wie der Sänger von
„Hermann und Dorothea“, nun der vorletzte Homeride, zu sagen pflegte.
Hebt, ihr sikelischen Musen, den Sang, den Liebesgesang an!
Aber man soll diese vierundzwanzig Gesänge nicht etwa für ein einziges
kiebesduett halten. Bukolika und Georgica! Die Musen singen auch
die tägliche Arbeit des Landmanns, die unbarmherzige Fron, die ihm
die Natur feindlich macht. Hauptmann kennt diese Kette zu gut, um
ein Schäfergedicht zu bebändern, und seine Musen’ halten sich nicht
einmal vor dem Jauchefaß die klassischen Nasen zu. Wir werden mit
dem Gütchen Rosen befreundet, wir wohnen uns in Tante Juliens
Zimmer ein, wo die fromme Christin für den Herrn Jesus sang, und
wo keines inbrünstigen Tones Helligkeit das graue Gespenst der Trauer
um den Sohn zerreißen soll, den der Herr Jesus zu sich genommen
hat. Und hinter diesem alten Pietistenpaare, das die Anna und den
Onkel Just und überhaupt alle armen Seelen retten will, brummelt
die ganze Herrnhutische Brüdergemeine und von ihr kommt endlich
auch das Schicksal mit den breitwandelnden, den langschäftigen Männern,
denen der Herr den Glauben so fest und die Kuh so fett macht Und
der Bruder Tobler, nachdem Vater und Mutter und Onkel und Tante
Nächte lang mit ihr gebrummelt haben, wird dann Gudrun mit sich
nehmen, damit sie ihm das Bett warm hält und seinen sechs früh ver¬
waisten Kindern die Nase putzt. So wie es ihm der Herr im Traume
eingegeben hat.
Hauptmanns Musen halten sich auch vor dem moralischen Jauche¬
faß die klassischen Nasen nicht zu. Es ist ein besonderes Meisterstück,
wie ihr Dichter den Onkel Just, den Säufer, den Zyniker, den Weiber¬
kenner wachsam und tätig im Hintergründe hält, wie er hinter der
Tragödie der großen Passion mit groteskem Schattenhusch noch ein
erschütterndes Satyrspiel aufführt Onkel Just, die Schande der Fa¬
milie, an der bisher jedes Gebet und auch die Säuferliste versagt hat,
ist wieder einmal verschwunden. Onkel Oberamtmann und Neffe Luz
suchen nach ihm in der Familienkutsche auf allen Landstraßen und in
allen Wirtshäusern, bis die Pferde mitten auf der Straße vor irgend¬
einem Klumpen scheuen, „’s wird halt a Mensch sein“, meint der
Arthur Ehester, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 9 $
erfahrene Kutscher. Und es ist auch ein Mensch oder wenigstens etwas
Ähnliches.
Schnarchend lag er, ein atmender Tod, in dem eigen Gespeie,
Qberkrochen und rings umsummt von Dungkäfern und Fliegen.
Mühsam lud man ihn auf, diesen einen der Sieger,
den sich Eros gekrönt...
So endet Luzens Liebe oder vielmehr so endet sie nicht; denn da der
langschäftige Bruder Tobler die ihm verhandelte Braut nach Gottes
Willen mit sich führt, begreift Luz wohl, daß sie sich ihm versagt
hat, weil sie ihn liebte. Warum Eros’ Ratschlüsse als die eines Gottes
besonders unerforschlich sind, das wird er im Leben noch lernen.
Aber er hat geliebt, er wird ein Liebender bleiben, er hat einmal mit
Ehrfurcht, mit Reinheit die große Stunde der mystischen Weihung
erwartet und das Leben, das wir vom Weibe zweimal empfangen, hat
für ihn mit Anna angefangen. Hauptmanns Liebesgedicht ist naiv und
nicht sentimentalisch, um nach Schiller zu unterscheiden. So sehr der
Dichter in Anna Wendland verliebt ist, und er verführt uns alle mit,
so jugendlich er mit Luz schwärmt und leidet, er hat ihm keine Tra¬
gödie gegeben, und er hat keinen neuen Werther zu seinem Grabe,
nicht einmal zu dem seiner Illusionen geleitet. Das Leben hat sich ihm
aufgetan, und es wird ihm so tief, so groß, $0 fruchtbar werden, wie
ein Erwachter es erfühlen und erfassen kann. Es braust nicht nur
Mut durch dieses Gedicht, es lächelt auch Übermut hindurch eines
Überlebenden, eines Geretteten, den sich die Götter nach allen Bäng-
lichkeiten der Jugend statt eines Erwin doch schließlich auserwählt
hatten. Und sie wußten warum, nicht zuletzt der Eros, der dem Apoll
die goldene Leier stahl. Hundertmal hat ihm der Kuckuck gerufen,
dem Gerhart oder dem Luz; es ist eine Lieblingserinnerung von
Hauptmann — und es schien nicht zuviel ihm. Auch ein großes Lachen
gebt durch das Buch, und Hauptmann handelt so liebenswürdig wie
künstlerisch weise, da er die anderen zuerst über ihn lachen läßt.
Sag’ doch. Lieber, sprach heut Onkel Schwarzkopp über dem Schachbrett,
als er eben die dritte Partie an den Neffen verloren,
sag’ doch, bitte, wie stehst du denn eigentlich jetzt mit der Dichtkunst?
Gut gelaunt kam die Frage heraus. Schwarzkopp liebte das Necken.
Und es lachte der Onkel, es lachte der Neffe, es lachte
selbst die Tante kurz auf, die am Stickrahmen saß. Es war Abend,
Schlafenszeit, und es gaukelten rings um die brennende Lampe
Falter, trunken vom Licht, das ihnen die Flügel verbrannte.
94
Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „ Anna“
Dieses ländliche Liebesgedicht würzt eine kraftspendende Freude am
Leben, die wir heute nicht schlecht brauchen können. Das Leben
macht den Vers, aber der Vers erweckt wiederum Leben, und der
Dichter schafft Menschen nach seinem Vorbilde, zu leiden und zu
weinen, zu genießen und sich zu freuen. Die heutige oder die gestrige
literarische Jugend haspelte sich die Seele aus dem Leibe und sie ex¬
perimentierte wie im Halbdunkel einer spiritistischen Sitzung; aus dem
schlafenden Leibe des Mediums schossen Protuberanzen, die einige als
optische Täuschungen, andere als Taschenspielereien und wieder andere
als gallertartige Masse zu erklären suchten. Hauptmanns Gedicht ver¬
trägt Luft und Sonne, es ist aus Luft und Sonne zusammengewachsen
und aus der warmen Ackerkrume, den drei alten Elementen für die
ehrwürdige Form des Epos, zu dem es neue Rezepte nicht zu geben
scheint. Durch vierzig Jahre aufgespeicherte Wärme und ein Ausatmen
in langen glücklichen Stößen! Wer in Hexametern schreibt, kann so
ganz schlesisch nicht mehr sein, wie er seine traulich geschwätzigen
Landsleute im Drama reden ließ.
Et nunc omnis ager, nunc omnis parturit arbos, nunc frondent
silvae, nunc formossimus annus.
Der dies Bukolikon aus einer zweiten Jugend seiner ersten wid¬
mete — die Jahre der Reife schließen den Ring — der hatte in¬
zwischen seinen „Griechischen Frühling“ erlebt. Wir wissen, daß
Gerhart Hauptmann sich nichts geschenkt hat von dem Leid der letz¬
ten Jahre, das uns allen zuerteilt war, und wir werden das bald in
seinem großen Gedichte von der deutschen Seele, der die Welt immer
zu eng bleibt, bestätigt finden. Hauptmann war immer ein Roi des
gueux, christlicher Beistand der Armen, aber es lag ihm nicht daran,
das Leben um der Gleichheit willen für sie arm zu machen. Wer
richtig gibt, wird immer reicher, weil er Freude gibt. Menschen
lernten wir kennen und Nationen — so laßt uns unser eigenes Herz
kennend, uns dessen erfreun. Was auch heute von Menschheitsaposteln
deklamiert werden mag, Hauptmann ist der eigentliche Friedens¬
bringer, er hat das Herz, darin wir wohnen, er gibt aus seiner Brust
das warme Blut, das Leben schafft und erhöht. Natur und Geist —
so spricht man nicht zu Christen. Hier ist alles in einem; Gerhart
Hauptmann ist unser allerheidnischster, unser allerchristlichster Dichter.
VERTRUSTUNG
von
ALFONS GOLDSCHMIDT
D ie demokratische Kartellverfassung, das Stadium der vorgespiegelten
Atemfreiheit innerhalb loser Bindungen, war in den Haupt¬
industrieländern schon lange vor dem Kriege grundsätzlich beendet
Zwar hörte die Kartellbildung nicht auf. Im Gegenteil: die Kultur¬
industrien wurden durchkartelliert, aber es waren .keine eigentlichen
Kartelle mehr. Der Kampf der sogenannten „freien“ Wirtschaftskräfte
wurde in den Kartellen und mit Hilfe der Kartelle weitergeführt.
Es war der Kampf um die Minderung des kapitalistischen Risikos,
der Kampf gegen das Sinken der Profitrate, der Kampf um die Sta¬
bilisierung der Gewinne, um die rentenmäßige Gestaltung des kapita¬
listischen Nutzens. Die Kartelle haben diesen Kampf immer mehr zu¬
gunsten der Großen entschieden. Schließlich durchbrachen die Großen
die Kartellmauern, sie griffen über die Mauern hinweg und holten
produktionsverwandte Betriebe unter ihre Gewalt Damit war die
Periode der horizontalen Industriezusammenfassung zwar nicht abge¬
schlossen, aber die Kraft dieser Zusammenfassung wurde fortwährend
geringer. Die großen Unternehmungen erkannten die Kartellpolitik
nur noch insoweit an, als sie ihrem Machtdrang nach außen diente.
Der Kampf der Werke im Kohlensyndikat, im Stahlwerksverband, im
Roheisenverband usw. ging zwar direkt um die Vorherrschaft in diesen
Verbänden, aber darüber hinaus um die Benutzung dieser Verbände
zur Expansion. Die Vertrustung hatte begonnen. Zunächst entstanden
in Deutschland sogenannte gemischte Werke, verhältnismäßig kleine
Gebilde, die die Zusammenfassung vom Rohprodukt bis zum letzten
Fertigfabrikat einer Produktionslinie anstrebten.
Eine Rentensicherheit, eine Stabilisierung der Gewinne, gelang je¬
doch nicht. Die Ballung bedeutete wachsende Produktion, steigende
geldwirtschaftliche Belastung, Minderung der Kaufkraft des Innen¬
marktes. Auch die Trustunternehmungen wurden von Überproduktions¬
krisen geschüttelt, die Gewinnausfallsgefahr war keineswegs beseitigt.
Es fehlte die Absatzsicherheit, das Absatzgebiet war zu eng. Es war
also notwendig, das Absatzgebiet zu erweitern. Deshalb wurde die
deutsche Großindustrie imperialistisch. Der Kampf um Vorherrschaft
und Rentensicherheit wurde auf dem Weltmärkte weitergeführt. Nun¬
mehr waren die Kartelle nicht allein Förderer des Binnenmarktstreites,
S>6 Alfons Goldschmidt, Vertrustung
sie wurden auch, und immer mehr, zur Unterstützung des Großindustrie¬
imperialismus benutzt. Die KampfFormate auf dem Weltmärkte waren
andere, Kampfgrund und Kampfziel blieben die gleichen. Die Gro߬
industrie drang in den Weltmarkt als Vorposten der gesamten Landes¬
industrie. Jetzt ging der Kampf um die Vorherrschaft einer oder
mehrerer Nationalwirtschaften. Hierbei bediente man sich ebenfalls
jener demokratischen Verfassung, des Kartells. Aber das Kartell im
Weltausmaße war noch viel loser als das Kartell im Ausmaße einer
Nation. Es war von vornherein brüchig, es wurde bald nach Ent¬
stehung durchstoßen. Es zeigte sich, daß die imperialistischen Kräfte
viel zu explosiv, zu dehnungskräftig waren, als daß sie den Kartell¬
rahmen auch nur einige Jahre ertragen hätten. Kennzeichnend ist die
Entwickelung des Internationalen Schienenkartells oder des Trans¬
atlantischen Pools. Im Innern befeuerten die trustartigen Großunter¬
nehmungen die ihnen untergebenen Kartelle zur Expansion. Die
Schleuderkonkurrenz auf dem Weltmärkte begann. Um das Risiko
abzuschwächen, wurden die Binnenpreise geschraubt. Dadurch wurde
die Konsumkraft des Binnenmarktes noch tiefer gedrückt. Von Zeit
zu Zeit entstanden Doppelkrisen, wenn nämlich der Weltmarkt über¬
schluckt war. Dann saß die Industrie auf den für den Binnenmarkt
und für den Weltmarkt bestimmten Beständen. Die Krise verschärfte
sich ungeheuer, denn nunmehr standen Doppelläger der Kaufunlust
des Weltmarktes und des Binnenmarktes gegenüber.
Anstatt das Risiko zu mindern, beziehungsweise den rentenmäßigen
Gewinn zu sichern, erhöhte diese Entwickelung die Lasten und die
Gelähr. Indem sie die Vertrustung, das heißt den Prozeß der An¬
gliederung und des Aufkaufens beschleunigte, vermehrte sie schnell
die geldwirtschaftliche Beschwerung der Produktion. Dieser Prozeß
war in allen Industriekulturländern wesentlich derselbe. Die Formen,
die Erscheinungen waren je nach dem Gesetz und nach den beson¬
deren Bedingungen verschieden, aber der ökonomische Trieb, die Ur¬
sachen, das Ziel waren nicht unterschiedlich. Die Ableitung der Gefahr
auf die kolonialen Märkte geschah zu langsam. Infolgedessen wurden
die Krisen gewaltiger, und die Erlangung der Vorherrschaft zwecks
Stabilisierung des Gewinnes auf dem bisherigen Wege der friedlichen
Weltmarktkonkurrenz wurde unsicherer.
Schließlich mußte der ökonomische Kampf gegen das Risiko sich
politisch auswirken. Deutlicher als je zuvor war die offizielle Politik
97
Alfons Goldschmidt, Vertrustung
der Prokurist des Kapitals. Ein Akkord kam nicht zustande. Jene Kar¬
telle im Weltausmaße waren Akkordversuche gewesen, aber sie waren,
wir sahen es, mißglückt Unter solchen Umständen konnte die Diplo¬
matie den Krieg nicht verhindern. Sie hätte ihn vielleicht hinauszu-
zögem vermocht. Gelang es ihr jedoch nicht, die Kräfte, der sie diente,
zu einem Gesamtgeschäft zu einer Gesamtfirma, mit Produktions- und
Absatzabteilung, zu vereinigen, so mußte der Krieg ausbrechen.
Logisch konnte dieser Krieg nichts anderes sein, als die Fortsetzung
des Kampfes um die Rente, um die Abwendung des unerhörten Risikos,
der Gefahr eines katastrophalen Sinkens der Profitrate. Der kapitals¬
imperialistische Kriegsdrang wurde schon ipo8 sehr deutlich, als das
deutsche und angloamerikanische Kapital im Patentstreit gegeneinander
platzten. Einige Jahre später zeigte sich dieser Drang nackt in Ma¬
rokko und in Kiew auf dem allrussischen Exportkongreß. Es hätte
nur eine Möglichkeit gegeben, diesem Drang die Zähne auszubrechen:
die Erhebung des internationalen Proletariats gegen ihn. Aber die
Erhebung unterblieb. Infolgedessen wurde mit den Waffen um die
Vorherrschaft auf dem Weltmarkt gestritten. Es bildeten sich zwei
große gegeneinander abgeschlossene Konzerne, die während der Front¬
kämpfe und unter Ausnutzung dieser Kämpfe jene Vereinigung an¬
strebten, die das internationale Kartell nicht hatte erreichen können.
Jeder Konzern, die Entente sowohl wie die Mittelmächte, mühte sich
um eine ökonomische Gegenseitigkeit innerhalb seiner Grenzen zwecks
Stärkung der Schlagkraft gegen den Unterliegenden, zwecks Vorbereitung
des Weltmarktmonopols. Die Großkapitale arbeiteten netzmäßig. Bei¬
spielsweise un$l insbesondere die Großbanken und die Großbankkon¬
zerne. Durch Zwischenhandelskammern, durch Filialmassengründungen,
durch Darleihungen, durch Interessengemeinschaften wurde der Zu¬
sammenschluß der Nationalwirtschaften auf beiden Seiten versucht.
Entente und Mittelmächte waren nichts anderes als wafienumstarrte
Gesamtfirmen, deren Expansionsdrang, das heißt deren Politik im Kriege
dieselbe blieb wie vor dem Kriege. Es war eine Niederringungspoütik,
nach Osten gerichtet.
Da der Akkord nicht zustandegekommen war, sollte der Zwang
ihn ersetzen. Mit anderen Worten: jeder Konzern strebte durch Kampf
und Interessenverquickung die Hereinholung des unterworfenen Kon¬
zerns in den Geschäftsbezirk an.
Es ging nun nicht mehr um eine Weltmarktvereinbarung, sondern
um das Weltmarktmonopol. Im nationalen Kartell hatten die Großen
7
9 8 Alfons Goldschmidt, Vertrustung
die Kleinen und Mittleren niedergerungen. Sie hatten die sogenannte
demokratische Verfassung des Kartells ihren Zwecken unterworfen.
Die Kleinen und Mittleren mußten die von der demokratischen Ver¬
fassung garantierte Atemfreiheit aufgeben; sie mußten dem Monopol¬
drang der Großen dienen. Sie wurden an die Wand konkurriert.
Der Krieg war nichts anderes als ein blutiger Gang nach einer solchen
„Vereinigung“.
Bei Kriegsende war Deutschland zunächst auf die Innenkonzentration
beschränkt. Die Weltmarktexpansion kam zunächst für die deutsche
Industrie nicht mehr in Betracht. Aber die Innenkonzentration wurde
gerade durch den Kriegsmißerfolg beschleunigt Insbesondere konnte
nunmehr die deutsche Montangroßindustrie ihre Vertrustungspolitik
viel intensiver und in viel rascherem Tempo als bisher betreiben. Sie
brauchte Materialergänzungen, Lieferungssicherungen. Sie brauchte die
Zusammenballung gegen den ungeheuren Druck von außen, gegen
eine Erschütterungsgefahr, die weit größer war als die Erschütterungs¬
gefahr vor dem Kriege. Wenn sie, in ihrer Abgeschlossenheit, die
Profitrate stabilisieren wollte, so mußte sie eine Einheit werden. Der
Binnenkampf mußte möglichst abgeschwächt werden.
Der Zusammenschluß wurde erleichtert durch die Mittel, die der
Großindustrie von den bisher feindlichen Kapitalen zur Verfügung ge¬
stellt wurden. Die Wegreißung wichtiger Industriebezirke, die Ab¬
gliederung großer Werke geschah ja nicht ohne Entschädigung. Die
deutsche Großindustrie erhielt ungeheure Mittel und konnte damit den
Zusammenschluß beschleunigen. Sie zwang, während sie eine Anzahl
produktionsbestimmender Zentraluntemehmungen verschweißte, schwä¬
chere Betriebe in ihre Gewalt. Was in der Vorkriegskartellzeit erst
anfänglich war, gedieh nun rasch. Die Trusts wuchsen und strebten
sichtlich zu einem Gesamttrust hin. Hauptanziehungsgewalt war Stinnes.
Augenblicklich ist der Stinnestrust der breiteste, der Trust mit der
stärksten magnetischen Kraft. Gegen ihn oder mit ihm: die deutsche
Industrie wird immer abhängiger von ihm, formiert sich um ihn, ent¬
wickelt sich zum Gesamttrust.
Die deutsche Industrievertrustung hat, mit dem Endziel der Renten¬
mäßigkeit des Gewinnes, der Ausschaltung des Risikos, zwei Haupt¬
motive: die Beendigung der Konkurrenz im Innern und durch sie die
Ermöglichung, die von außen aufgezwungene Last zu tragen. Dabei
nimmt sie zwar eine Kampfstellung gegen den „inneren Feind“, das
Alfons Goldschmidt, Vertrustung 99
Proletariat ein, aber mit dem „äußeren Feind“, mit der Entente, sucht
sie zu paktieren. Mit anderen Worten: sie sucht durch die Aus¬
schaltung der Konkurrenz im Innern, durch die Gesamtvertrustung,
das Proletariat unter eine Gewalt zu disziplinieren, um im Einverständ¬
nis mit dem Großgläubiger die Kriegslasten zu erledigen. Die Entente
unterstützt sowohl die Disziplinierung des deutschen Proletariats wie
auch das Bestreben der Industrie, die Abgeltung der Kriegslasten ge¬
schäftsmäßig zu formulieren. Sie hat zwar die Möglichkeit des Zwanges
auf Grund des Versailler Vertrages, aber sie verhandelt um die Aus¬
übung des Zwanges. Es entsteht mit Hilfe des Zwanges ein Akkord,
an dem beide Teile mit ihrem Leben interessiert sind.
Wir sahen: der Krieg war der blutige Austrag des Kampfes um
das Weltmarktmonopol. Wir sahen ferner: das Weltmarktmonopol
ist die Stabilisierung des kapitalistischen Gewinnes. Sie war nicht
möglich auf dem Wege der demokratischen Vereinbarung, des Kartells,
der losen Bindung. Sie soll jetzt ermöglicht werden durch die er¬
zwungene Vereinbarung. Das Resultat des Krieges soll die von der
Entente geforderte und vom deutschen Kapital akzeptierte Rentenfest¬
setzung und Ausschaltung des Risikos sein. Auf diese Weise will man
die Weltmarktkonkurrenz, den alten Weltmarktkampf, erledigen und
dem internationalen Kapital Gewinnsicherheit verschaffen.
Wie immer bei Sanierungen, wird der Akkord durch die große
Schuld beschleunigt. Was das Kapital im Frieden nicht erreichen konnte,
dazu wird es von den Riesenforderungen gepeitscht. Die unerhörte
Last drückt die alten Konkurrenten in die Verhandlungen; sie zwingt
sie zum Akkord. Das Risiko ist ins Fabelhafte geschnellt, und die
Minderungsnotwendigkeit ist entsprechend drängender geworden. Der
Kriegsraubbau hat ein Vakuum gelassen, in das die Preise hineinschießen,
in dem sie torkeln. Es ist keine Ausgleichung von Geld und Produktion
bis auf den einigermaßen stabilen Vorkriegsmehrwert vorhanden. Die
Wirtschaftsunsicherheit ist enorm, der Mehrwertsbedarf ist um den
Kriegsausfall gewachsen. Die Kaufkraft der Millionen vermag die Leere
nicht auszufüllen. Infolgedessen entsteht in allen kulturindustriellen
Ländern Arbeitslosigkeit, das heißt neuer Produktions- und Absatz¬
verlust oder erweitertes Vakuum. Nie zuvor war die Profitrate so
schwankend, die Kalkulation so unsicher wie jetzt Die Reproduktion
des Kapitals ist offenbar wesentlich gestört. Dagegen sucht das Kapital
mit nationaler und internationaler Vertrustung zu kämpfen. Denn wie
ioo Alfons Goldschmidt, Vertrustung
alle Binnenvertrustung Sanierungsversuch ist, so auch die Vertrustung im
Weltmarktausmaße. Hier ist ein Gesetz, das bisher nur geahnt wurde,
dessen Ergründung und Aufzeigung aber bald geschehen wird. Man
wird dann den Selbstmord des Kapitals erkennen. Hier sind Gefahren
und Vernichtungssicherheiten, die das Entsetzen wecken. Von diesem
Gesetz aus wird man die Unproduktivität, den Verschwendungsjammer,
die furchtbare Behinderung der kapitalistischen Produktion sehen. Es
ist das Gesetz der Vertrustungsagiotage, das heißt der zwangs¬
weisen, gebundenen Vernichtung immer größerer Teile der lebendigen
Wirtschaft, des Proletariats. Es ist das Gesetz des Kräfteabbaus und
keineswegs, wie bisher geglaubt wurde, der automatischen Entwicklung
nach einem besseren Reich.
Wenn das internationale Kapital in Versailles, in Wiesbaden, in Ober¬
schlesien den zwischenkapitalistischen Akkord versuchte, so wehrte es
sich damit gegen den Zusammenbruch der Rechnungsgrundlage. Es
beginnt, sich weltmarktmäßig zu organisieren, um seine Existenz gegen
die Instinkte der lebendigen Wirtschaftskraft zu verteidigen. Mit
anderen Worten: die durch den Krieg verursachte kapitalistische Welt¬
wirtschaft will das Proletariat durch Zentralisation disziplinieren, um
jenen renten mäßigen Charakter des Gewinnes auch während seines
Sterbeprozesses zu sichern. Aller Kampf gegen das Aufsteilen und Ab¬
schießen der Valuten, das Hochjagen und Purzeln der Güterpreise, gegen
die Entsetzlichkeit des Vakuums, ist ein Streben zum Welttrust.
Es ist gleichgültig, auf welchem Objekte sich der Akkord vollzieht.
Nicht gleichgültig ist es, wenn man die Entwicklung national sieht.
Wenn man sie international sieht, ist es nur eine buchmäßige Zu¬
sammenlegung und Verrechnung der Forderungen und Schulden. Daran
würde kein neuer Krieg, keine neue Grenzverschiebung etwas ändern.
Ob der Akkord auf dem Objekt Deutschland oder auf einem anderen
Objekt versucht wird, ist kein Unterschied.
Wunderbar fast ist die ungeheure Beschleunigung durch die Kriegs¬
lastenpeitsche. Vor wenigen Jahren noch sich mit der nationalen An¬
fangsvertrustung quälend, hat das Kapital nicht nur seine Vertrustung
im Ausmaße Europas begonnen, es schickte sich schon an, in Washington
einen Weltmarkt-Akkord zu schließen. Es kann, getrieben von dem
Gesetz des steigenden Risikos, den Trustakkord nicht vermeiden. Es
braucht nicht nur die Geld- und Kreditvereinbarung, es braucht auch
die Produktions- und Absatzdemarkation. Washington ist der Anfang
der Einteilung der Welt.
IOI
Alfons Goldschmidt, Vertrustung
Aber die Akkordbasis, die Vertrustungsbasis, ist noch zu schmal.
Das Kapital kann jenes Vakuum nicht ausftillen, die Absatz- und Wäh¬
rungskrise nicht Überwinden, wenn ihm nur der bei Kriegsende vor¬
handene Weltmarkt zur Verfügung steht. Es ist das Gesetz des Kapitals,
daß es seinen Selbstmord auf immer breiterer Basis zu verlangsamen
sucht. Das ist der Sinn der Kolonisierungspolitik, des kapitalistischen
Imperialismus. Das Kapital überspült immer neue Ausbeutungsgebiete,
es ist gezwungen, die Kaufkraft der ganzen Welt zu lähmen. Es will
und muß teuer liefern und billig kaufen. Dadurch verschärft es seinen
Konfliktsstoff, aber es kann nicht anders.
Deshalb sind Versailles, Wiesbaden, Oberschlesien, Washington nicht
nur Akkordetappen, sondern auch Etappen zur Front gegen Rußland.
Die Verlängerung der kapitalistischen Weltwirtschaft ist nicht möglich
ohne die Ausbeutung Sowjetrußlands. Die Forderungen an Sowjet¬
rußland sind nicht verschwunden, sie lasten weiter auf dem Weltkapital.
Das riesige Absatzgebiet von Ostsibirien bis nach Polen ist dem Kapital
unentbehrlich. Ob mit Waffen oder ohne Waffen, das internationale
Kapital wird versuchen, seinen Akkord auf Vertrustungsbasis durch Ein¬
beziehung Sowjetrußlands zu verbreitern. Rußland ist nur ein Koloni¬
sierungsobjekt, augenblicklich aber dem Kapital das wichtigste.
Ob dieser Kampf des akkordierenden, internationalen Kapitals gegen
Sowjetrußland mit einem Erfolg des Kapitals enden wird, läßt sich
jetzt noch nicht sagen. Bleibt Sowjetrußland, das heißt: gelingt es
ihm, die Produktion in ein sozialistisches Schnelltempo zu bringen,
so wird der Konkurrenzdruck von Osten ungeheuer. Wrd Rußland
vom Kapital belegt, so ist das Kapital, der unerhörten Verzinsungs¬
notwendigkeit wegen, gezwungen, die russische Produktion ins Un¬
geheure zu steigern. Ob ohne, ob mit kapitalistischer Herrschaft: die
russische Produktion ist der Todfeind des internationalen Kapitals.
Nirgends zeigt sich das Gesetz so deutlich wie hier: je umfassender,
disziplinierender, formell geschlossener die Vertrustung ist, um so furcht¬
barer ist der Raubbau, den das Kapital begeht. Die Vertrustung schaltet
den Wettbewerb nicht aus; sie konzentriert und vereinfacht ihn nur
zu entsetzlichen Dimensionen. Schließlich muß doch die Produktion,
da das Kapital ihr den Markt nicht verschaffen kann, die Geldlast
Uberspülen.
Inzwischen wären heftige und vielleicht entscheidende kapitals-impe-
rialistische Konflikte unvermeidbar. Der Kampf um den Weltmarkt
lOZ
Junius, Politische Chronik
würde dann von Großgruppen ausgefochten werden, die viel riesen¬
hafter und ökonomisch eindeutiger wären xals die Gruppen Entente
und Mittelmächte. Es wäre trotz Akkord, trotz Vertrustung noch
einmal ein Krieg um das Monopol. Es ginge um die östlichen
Kolonien, vom Rhein über Rußland und Indien bis an die letzten
Kolonialküsten. Eine kapitalistische Weltwirtschaft ist nicht denkbar
als friedliche Weltwirtschaft; auch die Großgruppe, die den letzten
Krieg gewinnen würde, müßte sterben. Schon deutet sich die Gro߬
gruppenbildung an. Deutlich wird sie an den Hegemoniegelüsten des
französischen Kapitals, die vorläufig über Deutschland, Polen, den Balkan
und die Ukraine nach Odessa zielen, deutlicher noch an der englisch¬
amerikanischen Ausschaltungspolitik in Washington.
Die sowjetrussische Revolution ist, weltökonomisch gesehen, der
Versuch, von Osten die internationale Geldlast, die entsetzliche inter¬
nationale Mehrwertsnotwendigkeit, das furchtbare Vakuum zu be¬
seitigen, und an die Stelle eines sich abbauenden kapitalistischen Trusts
eine rationelle sozialistische Weltproduktion und Weltgüterverteilung zu
setzen.
POLITISCHE CHRONIK
von
JUNIUS*
i
D ie Feststellung: der Bankrott der Staatsfinanzen und, in weiterer
Folge, der Staatshoheit sei unsre einzige Gemeinsamkeit, er allein
halte uns zusammen, er allein treibe zur Bildung einer Art allnationaler,
überparteilicher Einheitsfront in Regierung, Parlamenten und Öffent¬
licher Meinung, ist gar nicht witzig oder paradox und enthält nicht
die Spur einer rhetorischen Übertreibung. Sie registriert genau den
Zustand, der den nach Jahre langer Abwesenheit zum Dienst in die
und an der Heimat zurückkehrenden Chronisten empfängt. Sie sagt
aus, daß wir seit Jahr und Tag, genauer: seit der Revolution, von
* der seit Februar 1919 geschwiegen hat und mit diesem Hefte seine
Chronistentätigkeit an dieser Stelle wieder aufnimmt.
jfunius, Politische Chronik
IO}
einer Negation leben, — während wir die große Zeit vorher von dem
scheinbar positiven Durchhalteprinzip lebten. Setzt sich dieser Zustand
noch lange fort, so bedeutet das den nationalen Tod, den Untergang.
Unsere seitherigen Regierungen waren politische und kulturelle Zwitter.
Die sie bildenden Parteien verkörperten mit ihrem innersten Wesen,
soweit sie Welt- und Klassenanschauungen vertraten, polare Gegensätze.
Über Staat, Wirtschaft, Eigentum, kollektive ökonomische Verpflich¬
tungen, Schule, Rechtsformen dachten (und denken) sie verschieden;
die Volksgeschichte lasen (und lesen) sie verschieden; was sie an¬
einander kittet, war (und ist) vielmehr physischer und materieller Zwang;
ist die feindliche Gewaltmaschine; ist die dem Volksganzen aufgebürdete
Vertragslast, der sich kein Teil entziehen darf; sind endlich die un¬
auflösbare Gewöhnung an Einen Wirtschaftskörper und die Imponde¬
rabilien der Sprache und Sitte, die sogar die schärfsten Klassengegen¬
sätze überbrücken helfen. An diesem Wall zerbrachen bisher alle Separa¬
tismen, auch die der Stämme und Länder, nachdem das von Bismarck
so gepriesene dynastische Band abgefallen war. Das sind lauter Nega¬
tionen; sie sind es, die bisher uns das karge Leben fristen ließen. Die
Willensträger der deutschen Demokratie, des neuen deutschen Staats¬
gedankens dienen ihm in Scharen mit bösen zentrifugalen Gesinnungen. Es
ist so: der Bankrott der Staatsfinanzen, die Furcht der Privatwirtschafter,
unter seinem Schutt begraben zu werden, das den deutschen Ordnungs¬
menschen schreckende Beispiel des sowjetistischen Paradieses kitten uns
zusammen. In den gemeinschaftlichen Nenner geht Ideales, das die ganze
Volksgemeinschaft begeistert bejaht, nicht ein. Die Parteitage der so¬
genannten Mittelparteien in Görlitz, Bremen, Stuttgart geben darüber
Auskunft. Sie ist nicht erhebend.
Ich weiß wohl und übersehe nicht: wesentliche Teile unserer Souve¬
ränität sind nach außen abgewandert; der Versailler Vertrag hat sie in
Obersten Räten,Botschafterkonferenzen,Wiedergutmachungs-undGarantie-
kommissionen lokalisiert. Allein schon das uns entzogene Recht, die
Meistbegünstigung nach unserem Wirtschaftsbedürfhis zu gewähren oder
zu versagen, raubt uns, bei dem lecken Zustand der weltwirtschaft¬
lichen Solidarität und dem Totenschlaf des Freihandelsprinzips, die jedem
Zwergstaat in die Hand gedrückte Vergeltungswaffe, — während das in
Washington residierende Imperium eben die für China und den eigenen
kapitalistischen Betätigungsdrang in Anspruch genommene Offene Tür
mit der Weihe der sittlichen Forderung umkleidet. Die Gnade einer
bevorrechteten, durch Blutprobe und Ahnenforschung belegten Vater-
jfunius, Politische Chronik
104
landsliebe ist wahrlich nicht notig, diesen Zusammenhang zu erkennen
und zu begreifen, daß unser ,freier Wille* noch lange unter den Drucke
von Ultimaten und drohender Exekution stehen wird. Die Technik
dieses Vorgangs ist uns vertraut, sie macht uns vor jeder neuen Fähig¬
keit beben. Vom Vertrage her empfing der neue Staatswille seine
konstitutive Schwäche.
Aber es zeugte von bettelarmer Gesinnung, unaufhörlich um zu¬
nächst Unabänderliches zu streiten. Der Gewalt von außen muß innere
Freiheit entgegengestellt werden; und das versuchte mit einer neuen
Methode der Anpassung zum erstenmal seit der Revolution das erste
Kabinett Wirth, von ihm her datiere ich den Übergang zu einer neuen
moralischen Offensive, an der, bei richtiger innerpolitischer Taktik, der
Terror der feindlichen Gewaltformen schließlich doch irgendeinmal
zerschellen muß. Es erklärte: ,Wir wollen und werden zahlen, erfüllen;
wir werden Euch zeigen, welche Folgen für die Finanzen und Wirt¬
schaft Deutschlands und seiner Gegenspieler der Wille zur buchstäb¬
lichen Erfüllung Eurer Forderungen haben wird, — selbst wenn wir
dadurch in die Assignatenflut geraten und die Markwährung international
völlig ausgehöhlt wird. Es ist ein lebensgefährliches Experiment, das
wir unternehmen. Eure eigenen Experten warnen Euch davor; wir
können darüber zugrunde gehen, aber Europa mit uns. Ihr zwingt
uns dazu. Wir sind und wollen keine Katastrophenpolitiker sein, wir
meiden die Gemeinschaft mit denen von links wie von rechts, doch
die Katastrophe selbst kann kommen und muß kommen, wenn Ihr
gegen alle Vernunft, gegen die Logik der Tatsachen, gegen das Urteil
aller Sachverständigen der Welt bei Eurem Shylockismus verharrt. . .*
Das war die Sprache eines heroischen Entschlusses und eines politischen
Willens, im Gegensatz zu der eines rein ökonomisch bestimmten, der
dem kapitalistischen Gehirn des Gegners verdächtig sein mußte, weil
er aus verwandter Denksphäre stammt. Wir dürfen nicht vergessen,
daß jede deutsche Politik auf eiskaltes Mißtrauen stoßen muß, die von
den aus der Kriegszeit her so wohl bekannten mächtigen Wirtschafts¬
verbänden sich aufklären läßt, die Aufklärung mag auch noch so
sehr mit sachlicher Überlegenheit (die nur Dummheit ihr abzusprechen
wagt), noch so stark von patriotischem Opferwillen bestimmt, noch so
gründlich von privatwirtschaftlichem Interesse gereinigt sein. Wer darf
heute leugnen, daß die Methode der Wirthschen Politik, des Ad-
absurdum-führens, weil sie den Gegner durch eine beinahe zynische
Wahrhaftigkeit moralisch entwaffnet, wenigstens einigen moralischen
Juntus, Politische Chronik
105
Erfolg gehabt hat. Freilich, die Zeit hat mit- und vorgearbeitet. Selbst
ftir England, den alten Weltgläubiger, ist die Rückkehr zur Gold¬
währung bis auf weiteres unmöglich, es kann, bei der Schwächung
seiner Stapelindustrien (Textil, Eisen, Kohle, Schiffsbau) und der Schrump¬
fung seiner Absatzmärkte, auch nicht daran denken, seine Dollarschuld
an Amerika in Papiersovereigns zu löschen. Sie betragt nicht weniger
als 1 zoo Pfund Sterling; selbst nach der alten Goldparität (4 Dollar
86 1 /, Cents auf den Sovereign) ergäbe das etwas über 8 dj Millionen
Pfund Sterling, also ungefähr das Doppelte der englischen National¬
schuld vor dem Kriege. Kein Anteil an der deutschen Kolonial-,
Schiffs-, und Kriegsentschädigungsbeute kann die Erschütterung der
englischen Industrie- und Handelsgrundlagen wettmachen; und kein Ver¬
such, den innerbritischen, also Größer-Britannien umfassenden Markt
zu beleben, kann dem modernen Venedig die Kaufohnmacht des vor
seinen Toren liegenden kontinentalen Abnehmers ersetzen. Das sind
nun schon Banalitäten; aber sie beginnen zu wirken.
Nun aber steht das neue Kabinett Wirth am Scheideweg. Es weiß,
daß ohne radikale Reform der Steuergesetzgebung, ohne radikale Be¬
lastung dessen, was man die Substanz der deutschen Wirtschaft nennt,
das heißt ohne irgend eine Form ihrer Überfremdung der ,gute c Wille
unserer Tribut-Herren — und es ist gut, wenn sein aufgeklärter Egois¬
mus handlungsbereit gemacht wird — nicht erzwungen werden kann;.
und es weiß auch, daß die durch Assignatenwirtschaft, Ausverkauf und
unerschwingliche Nahrungs- und Rohstoffpreise herbeigeführte Über¬
fremdung weit üblere Folgen haben kann. Es ist eine Schmach, daß von
außen her die innere Ordnung der deutschen Finanzen und Staatsbetriebe
gefordert wird, und daß die Notenpresse wegen der fast balkanisch läs¬
sigen Methode der Steuereinziehung nicht einmal zeitweilig zur Ruhe
kommen darf. Wenn dem Kabinett Wirth nicht gelingt, die großen
Wirtschaftsverbände dem Gebot des Staatsnotwendigkeit gefügig zu
machen, ist seine Mission gescheitert; dann tritt das alte Verhältnis
ein, das während des Kriegs das Verhängnis der deutschen Politik ge¬
wesen ist. Wenn die große Koalition nur zustande kommen kann,
indem die Verwalter des Staatswillens sich dem Willen der Industrie¬
magnaten und Bankokraten unterordnen, dann ist’s besser zu verzichten
und sich der Auflösung zutreiben zu lassen. Ist der Staatswi Ile so
heruntergekommen, daß er bettelt, wo er zu fordern hat, verwirkt er
das Recht auf Dasein. Er hat eine mächtige organisierte Staatsfeindschaft
zu besiegen, die gerade die reich und satt in Besitz gebetteten Schichten
Junius, Politische Chronik
io 6
bis auf das (und die) Mark durchdringt, und Herr Wirth, der an der
Spitze eines an aufrechter Gesinnung reichen, an geist- und Willensstärken
Persönlichkeiten armen Kabinetts steht, muß sich nach den seit BrQssel
gemachten Erfahrungen heute klar sein, wo er die Hilfen und Helfer
findet, die er braucht, um den inneren und äußeren Feind zur Ver¬
nunft zu bringen — oder ad absurdum zu führen. Daß an sich ein
Kabinett, welches an drei wichtigsten Stellen Löcher aufweist, einem
lecken Schiff gleicht und zum Beschwören von Springfluten nicht gerade
geeignet ist, braucht seiner Klugheit nicht erst bewiesen zu werden.
Die Zeiten für halbe Energien sind Vorüber.
i
Ist Washington die Hauptstadt der Welt geworden? In grau an¬
mutender Vorzeit, vor etwa hundert Jahren, hat der geniale franzö¬
sische Publizist und Staatsmann Alexis von Tocqueville diese Möglichkeit
geahnt. Ein paar Jahrzehnte hernach hatte ein geistig bescheidenerer, wenn
auch berühmterer Mann, der Freihändler Richard Cobden, schon eine
deutlichere Vorstellung vom neuen Weltimperium, das die alten über¬
schatten werde. Aber als Rathenau, im Vorgefühl davon, vor dem
Brande warnte und ausführte, der sogenannte Sieg werde nur den Ver¬
einigten Staaten zugute kommen, sagte er etwas, was von den Heutigen
zwar als belästigende Banalität empfunden, damals aber belächelt wurde.
Nun ist Washington wirklich schon im Begriff, Welthauptstadt zu
werden. Nur Toren können diese weltgeschichtliche Tatsache noch
leugnen; sie wird das zwanzigste Jahrhundert ebenso charakterisieren,
wie der Aufstieg Großbritanniens das neunzehnte. Die Verfügung
über ungeheuere Wirtschaftswerte und eine geographische Vorzugslage
sichert einem frischen, begabten, mit dem Elixier unbedingter Zukunfts¬
gläubigkeit genährten und, vor allem, noch nicht überhistorisierten
Hundertmillionenvolke die entscheidende politische Macht. Höchste
kulturelle Rangstufe und Leistungsfähigkeit nach europäischem Vorbild,
die den Prozeß der menschlichen Entbarbarisierung fast bis zum Ende,
bis zur letzten Verfeinerung und Ästhetisierung geführt hat, sucht und er¬
wartet drüben noch auf lange Zeit niemand; aber da wir rings um uns
herum die Rebarbarisierung in beschleunigtem Tempo vor sich gehen
sehen, ist dieser Angst machende und überhebliche Hinweis über¬
flüssig. Daß Washington die Hauptstadt der Welt werde, haben wir
gewollt. Es sei, weil es ist.
Was die Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika am euro-
Junius, Politische Chronik
io 7
päischen Kriege bedeutet, zeigt sich so recht erst jetzt. Es gehört
offenbar zu ihrer Bestimmung, daß sie ihn gewinnen halfen: ohne
spürbaren Blutverlust, und indem sie als Weltgläubiger, als Welt¬
frachtführer und als Wahlvormund englischer Dominions, wie Kanada
und Australien, an die Stelle von Größerbritannien traten. Die natio¬
nalen Atavismen, die sich wild und die großen mitteleuropäischen
Wirtschaftszusammenhänge zerreißend ausgetobt haben und die unsre
Politik und Menschlichkeit nicht zu meistern (höchstens zu reizen)
verstand, hat Versailles wahrlich nicht zu beruhigen vermocht; aber
das erscheint in weltgeschichtlicher Betrachtung als Nebensache. Und
nun erst zieht das Weiße Haus die Folgen aus seinem ,Schicksal von
Aufgabe*: die klugen und politisch instinktsicheren Männer, die dort
regieren, schieben Versailles, das den europäischen Frieden verhindert
und eine dauernde Lähmung unsres Erdteils herbeizuführen sich alle
Mühe gegeben hat, einfach beiseite, setzen an die Stelle blasser und
von Eitelkeit verzerrter Ideologie common sense und versuchen, auf
dem Umweg über die Etablierung des Weltfriedens, auch Europa den
Frieden wiederzugeben. Das bedeutet Washington. Es benutzt die
gewonnene Machtstellung und verwertet die an der europäischen Selbst-
zerfleischung gemachte Erfahrung, um zunächst sich frei zu machen
und die durch Japans Wachstum erzeugte Hysterie des amerikanischen
Volkes ein für allemal zu verjagen, indem es, ohne Umschweif und ohne
Raum für Hintergedanken zu lassen, das Schachbrett der Kräfte und
Gegenkräfte aufstellt. Das konnte geschehen, weil die Ideologie des
Landes ein ehrlicher Pazifismus ist; will sagen: ein mutiger, ein mann¬
hafter, ein entschlossener Pazifismus, der einen mit drohenden Ent¬
ladungsmöglichkeiten geladenen Zustand einfach nicht erträgt. Die
amerikanische Diplomatie ist in Europa lange als ,Diplomatie in
Hemdsärmeln* verspottet worden, sie machte auf dem parfümierten
Parkett neben Türken und Russen (von den Kulturträgern an der
Spitze zu schweigen) zuweilen einen linkischen Eindruck und leistete
sich nicht selten allerhand Naivetäten; aber beginnt nicht die in der
Zentrale gemachte amerikanische Politik die unsrer wirklich Alten
Welt zu beschämen?
Man kennt das Programm der Konferenz; man kennt den Zwang
zur Fragestellung und die Verschlungenheiten der Probleme im Pazifik,
in China, in Sibirien, schließlich in ganz Asien. Schon die Beschrän¬
kung des Programms war klug; und der bisherige Verlauf erfüllt selbst
starke Erwartungen, — sofern sie berechtigt waren. Der Krieg wird
108 jfunius, Politische Chronik
vermieden werden: Japan hatte vorausgesetztermaßen nur die Wahl
zwischen Isolierung und Kompromiß; die Seerüstungen werden einge¬
schränkt, die japanischen Lebensinteressen in China werden geschont,
neue Interessensphären dort nicht zugelassen werden; das Himmlische
Reich wird als Pürschgebiet den großen Kapitalsmächten reserviert
bleiben (Offene Tür!), das anglo-japanische Bündnis aber, das Rußland und
Deutschland zerschlagen, Indien in Hörigkeit erhalten half, verschwindet,
als es anfing aus einer Wohltat eine Plage zu werden, und macht einem
Viermächteabkommen (neben den zwei angelsächsischen Mächten und
Japan auch Frankreich) Platz. Das Endprotokoll ist noch nicht gefertigt,
wir warten. Aber was war von den Mit- und Gegenspielern zu er¬
warten? Von einem so ungeheuren, und ungeheuer empfindsamen, Ge¬
bilde wie Größerbritannien, das seit Verlust seiner industriellen Monopol¬
stellung und durch das Emporblühen neuer Groß- und Weltstaaten
schon lange in die Defensive gedrängt worden war, das sich nicht
einbilden durfte, selbst durch und nach Besiegung Deutschlands irgend
wesentlich zu wachsen, sondern nur sich besser zu erhalten: von einem
solchen Gebilde, sage ich, konnte nur die Absurdität annehmen, es
könne aus Gründen der handelspolitischen Rivalität — aus Bilanzfeind¬
schaft, aus wetteifernder Jagd nach kolonialen oder sonst jungfräu¬
lichen Absatzmärkten, aus dem zwischen Throgmortonstreet und Wall¬
street angesponnenen Wettrennen und ähnlichen Gründen in einen Konflikt
mi t Amerika getrieben werden. Diese Anschauungen wurden unserem
Publikum vor und nach dem spanisch-amerikanischen Kriege und dem
Greifbarwerden der chinesischen Interessen des amerikanischen Kapitals
dick aufgetragen und von unseren imperialistischen Heißspornen zu
bekannten Zwecken ausgebeutet; und falsche Nutzanwendung aus
der gelben amerikanischen Literatur trug das Ihrige zur Steigerung der
Verwirrung bei.
Das Verhältnis von Mutter und Tochter war nun so, daß seit Jahren
feststand: gerät das britische Reich bei einer weltgeschichtlichen Krise
in Lebensgefahr, so treten die Vereinigten Staaten von Amerika helfend
und rettend an seine Seite. Die ,erbfeindlichen c Stimmungen und Span¬
nungen zwischen den beiden Reichen haben den Sezessionskrieg nicht
lange überlebt; allein schon die englische Abhängigkeit von der amerika¬
nischen Lebensmittelversorgung und die Einsicht, daß der ,Zwei-Mächte-
Standpunkt* zur See der kraftstrotzenden Union gegenüber nicht aufrecht
zu erhalten sei, haben sie radikal zum Verschwinden gebracht. Die
kulturelle und politische Annäherung machte dann gegen Ende des neun-
Junius, Politische Chronik
io?
zehnten Jahrhunderts Riesenfortschritte. Als Chamberlain am 30. De¬
zember 1897 in Toronto erklärte: „Ich weigere mich, irgendwelchen
Unterschied zwischen den Engländern von England, Kanada und den
Vereinigten Staaten zu machen. Wir sind Zweige einer einzigen Familie“,
hat er eine Entwicklung prophezeit, die mit Händen zu greifen war
und nur dem Kalkül unserer Weltpolitiker femblieb. Tausende eng¬
lischer Imperialisten fühlten und sprachen ihrem Meister nach, daß „Union
Jack und Sternenbanner zur Verteidigung einer gemeinsamen Sache
flattern könnten, die durch Humanität und Gerechtigkeit geweiht ist“,
aber auch in radikalsozialistischen Kreisen glaubte man lange vor dem
Kriege an eine politische Vereinigung mit den Vereinigten Staaten,
deren Mittelpunkt — Washington sein werde. Erinnert man sich noch
an Haldanes Vermittlungsversuch in Berlin, um der Katastrophe durch
eine Vereinbarung über die Seerüstungen und ein Neutralitätsabkommen
vorzubeugen? Derselbe Mann hielt 1911, als Lordkanzler, in Montreal
vor den vereinigten Juristen der beiden angelsächsischen Reiche eine
Rede, die an aufklärenden Warnungen nichts zu wünschen übrig ließ
(sie wurde hier erwähnt), in der Wilhelmstraße aber als Häufung leerer
Schälle behandelt wurde. Man hatte das Gefühl: hier .findet eine Aus¬
sprache innerhalb der gleichen Familie statt; das Bekenntnis zur selben
Rechtsideologie trug unverkennbar eine politische Färbung, aber die
bezwingende menschliche Form seines Ausdrucks gab ihm noch erhöhte
Bedeutung. Zehn Jahre einer schrecklichen Prüfung haben in der glück¬
licheren angelsächsischen Welt den Kitt ungemein verstärkt Und nun?
Nun findet ein Teil unserer Presse, nachdem der weltgeschichtlich er¬
zwungene Moment der Vereinigung von Mutter- und Tochterstaat ein¬
getreten ist, wieder den Mut, von dem Washingtoner Bluff zu reden ...
Der letzte Schatten, der zwischen London und Washington stand, das
irische Problem, scheint jetzt auch zu verwehen. Gelingt dies Lloyd
George, so ist seinem aphoristischen Genie eine staatsmännische Leistung
ersten Ranges geglückt, die ihm manchen früheren Dilettantismus,
manche opportunistische Stümperei . . vergeben läßt, wenn man es als
Deutscher über sich bringt, an die bis zur ,vicious perfection* gediehene
Verdunklung seines europäischen Gewissens in Versailles zeitweilig nicht
zu denken.
ANMERKUNGEN
Chronik des Auslands
D ie New-Yorker „Nation“ widmet,
wohl aus Anlaß der Konferenz von
Washington, eins ihrer letzten Hefte
derEntwafFnungsfrage. FrasierHunt
berichtet über die Entwaffnung in
Mexiko, die von der Regierung durch
Einrichtung von Soldaten-Kolonien
(„Bandit colonies“) durchgefuhrt wor¬
den ist. „An dem Tage, als dieser Befehl
erging, wurde an alle Staatsgouverneure
ein Rundschreiben gesandt, das ohne
Staatskosten alle Truppen in ihren Be¬
zirken für Wegebauten zu ihrer Ver¬
fügung stellt; zu gleicher Zeit erließ
General Calles, der Chef des Kabinetts
und Minister des Inneren, mit Billi¬
gung des Präsidenten Obregon einen
Befehl, durch den alle aktiven Offiziere,
deren Dienst durch diese Friedenszeit
verringert worden ist, gezwungen wer¬
den, in den verschiedenen Regierungs¬
stellen, in Staat und Bezirk, ohne be¬
sondere Bezahlung zu arbeiten; in den
Konzentrationslagern sind Schulen er¬
öffnet und tüchtige Schritte unter¬
nommen worden, um den Soldaten für
einen nützlichen bürgerlichen Beruf
ausrüsten zu helfen; und die mexi¬
kanische Flotte, so klein sie ist, erhielt
den Befehl, von nun an Frachten,
Passagiere und Post zwischen den
Küstenstädten, wo der Verkehr immer
arm gewesen ist, zu befördern.
So geht es im barbarischen, im dunk¬
len Mexiko zu: eine Armee, die auf
die Hälfte verringert ist; Soldaten, die
aufs Land gebracht wurden, für das
sie so lange fochten; Schulen für
Krieger, die durch die bisherige Ord¬
nung betrogen und mißbraucht worden
waren; und eine Marine, die sich in
eine Handelsflotte verwandelt hat.
Es lebe Mexiko!“
In den „Ecrits Nouveaux“ (Paris)
gedenkt Andre Germain in schmerz¬
licher Erschütterung der Toten des
Krieges: „Wie soll ich die Millionen
von Toten kennen und wie jedem von
ihnen die Träne und die Gewissens¬
qualen weihen, auf die sie Anspruch
haben? Ich denke nicht an die ein¬
zelne individuelle Katastrophe; gäbe
es nur diesen einzigen befohlenen
Massenmord, so würde das genügen,
um durch seine Ungerechtigkeit die
ewigen Gesetze umzustoßen und um
durch seinen Blutgeruch die frucht¬
baren Felder des Weltalls zu vergiften.
Der Tod hat in diesem Kriege nicht
gewählt; die Besten und die Schlech¬
testen hat er zu Tausenden genommen,
ohne zu wägen und ohne zu zählen.
Ich beweine sie alle: die Mittelmäßigen
und Unfertigen und die besonders
Schlechten. Ich werde niemals zu¬
geben, daß ihnen ihr Teil geraubt
werden dürfe, ihr Platz an diesem
Bett, an diesem Tisch, den die Ge¬
wohnheiten des Alltags lieb werden
ließen und sogar heiligten, alles, was
sie an Kraft und Licht ausströmten,
alles, was in diesem Erdenleben aus
ihnen hätte sprießen können, um sich
dann an unbekannten Ufern zu ent¬
falten. Man hat sie des Kleides beraubt,
in das sie die unerschöpfliche Natur
hüllte, und der Gabe, die Gott ihnen
lieh. Und deshalb leuchtet eine gewisse
Aureole auch über die Unbedeutend-
111
Anmerkungen
sten und die Niedrigsten und umgibt
sie mit einem Purpur, den die Könige
nicht mehr besitzen.
Besonders die Schlechten und Mittel¬
mäßigen, gleich uns, ganz eins mit
unsern schweren Freuden und unserm
armseligen Unglück, völlig unsere Brü¬
der! Ich weiß indessen, daß es unter
ihnen solche von anderer Artung, von
anderem Ursprung, von beflügelterem
Schicksal gibt. In die verfluchten Grä¬
ben rollten sie, gemeinsam mit Bauern
und Bürgern; ihr zartes Diadem zer¬
brach im Gewühl gehässiger Stirnen
und im Brei eingeschlagener Schädel.
Zu ihnen steigt meine Erinnerung auf
wie das Leid der hochzeitlichen Erde,
wie die Befreiung vertrauender Herzen,
wie ein Ruf in die Spiele des Morgens,
wie ein Gebet in die menschliche
Nacht.“
Albert Thibaudet, der besten
kritischen Köpfe einer, schreibt, bei
Gelegenheit des Buches von Abel
Chevalley über den zeitgenössischen
englischen Roman, in der „Nouvelle
Revue Frangaise“ Prinzipielles über
englische Romandichtung: „DerRoman
ist eine imperialistische Gattung. Es
ist in ihm der Wille zu Herrschaft,
die Macht der Unterwerfung ähnlich
wie in der angelsächsischen Rasse.
Wenn er anfangs sich von den Über¬
resten von Poesie und Drama zu
nährte, so hat er sich jetzt an der
Tafel niedergelassen; das Haus gehört
ihm und die anderen müssen es ver¬
lassen. Heute ist es in Frankreich wie in
England wie überall so, daß Literatur
und Roman dasselbe bedeuten. In
Frankreich war es noch vor zwanzig
Jahren so, daß literarisch schaffen so
viel hieß wie Dramen schreiben, wie im
achtzehnten Jahrhundert; ebenso bedeu¬
tete Kritik Kritik über Dramen. Heute
ist das Theater eine beschlossene, den
Fachleuten ausgelieferte Welt (ich habe
geschrieben: tüchtige Fachleute, wie
man schreibt: bedeutender Geschäfts¬
mann — aber nein, nicht einmal das).
Und die Kritik, die ihm folgt wie der
Schatten dem Körper, magert ab wie
er. Wenn die tapferen Alten, die sie
noch verteidigen, nicht mehr sein wer¬
den, wird man, um sie zu ersetzen,
Truppen herbeischaffen (Die Akademie
zeigt sich voraussehend und versieht
sich mit Militär.) Der Roman ver¬
schlingt alles.
Der große Erfolg und starke Glanz
von Writer Scott hat, wie Chevalley
sagt, „die Tugend des Romans sicher
eingesetzt“. Oberhalb von Alexander
Hardy, oberhalb von Corneille nimmt
dieser Schriftsteller, den man nicht
mehr liest, in der Familie der im
gleichen Gebiet angesiedelten Heroen
Platz. Es ist kein Zufall, daß Walter
Scott zur selben Zeit auftritt wie
Arkwight und Speel, und daß die Ge¬
burt des großen Romans zur selben
Zeit geschieht wie die Geburt der
großen Industrie. Der große Roman
— ich will sagen: die Roman-Werkstatt
oder das Roman-Hüttenwerk. Seit Wal¬
ter Scott werden die großen — und
auch die kleinen — Romandichter Fabri¬
kanten, oder vielmehr: was Fabrik bei
den kleinen ist, ist Natur bei den
großen. Shakespeare, Corneille sind
Naturen ähnlich der Natur, und die¬
jenigen, die sich von ihr lossagten,
indem sie sie nachahmten und ihre
schöpferische Bewegung forsetzten,
haben sich wie die Planeten von der
Sonne losgesagt. Seit Walter Scott
wird im Abendland diese Rolle der
„Naturen“ von Romandicbtern inne¬
gehalten. Dickens, Balzac, Dostojewski,
Flaubert, Kipling sind Naturen nicht
wie Menschen, sondern wie Frankreich,
England oder Rußland, d. h. wie un¬
körperliche Wirklichkeiten, wie Er¬
zeuger von Menschen. Wenn Walter
Scott in einer solchen Welt nicht
Platz nimmt, so hat er als erster, in
der Sache und in der Zeit, ihr äußeres
Aussehen, ihr Schema gezeichnet.“
R. K.
I 12
Anmerkungen
Joseph Caillaux
A lle großen Geister sind Verräter,
denn sie versuchen, den Irrtum an
die Wahrheit, das Vergangene an die
Zukunft zu verraten. Darum ist
Joseph Caillaux so unendlich gehaßt,
aber auch so unendlich geliebt wor¬
den. Sein Buch über seine Gefangen¬
schaft (Mes Prisons), das jetzt in einer
von Victor Henning Pfännkuche be¬
sorgten und mit einem ausgezeich¬
neten Nachwort versehenen deutschen
Übersetzung* vorliegt, ist erfüllt von
einer kosmischen Wehmut über die
Schande des europäischen Menschen
und den Selbstmord des Kontinents,
die, unmittelbar aus der Ruchlosigkeit
der Tatsachen hervorsteigend, uns
tiefer und stärker als eine Dichtung
bewegt. Das tragische Schicksal eines
Menschen wird offenbar, den sich die
höchste und letzte Idee einer unter¬
gehenden Ordnung zu ihrem Träger
erwählt, um ihn daran fruchtlos sich
zerquälen und scheitern zu lassen.
Höchste Leidenschaft, unbeugsamer
Stolz und tiefer Emst, gepaart mit
seltenem Blick für den Zusammenhang
der Dinge, hatten Caillaux in Konflikt
mit seiner Welt gebracht. Ihm mangelte
der Zynismus eines Clemenceau oder
die Voraussetzungslosigkeit einesBriand.
Seine Tugenden, sein Charakter, seine
Ehrenhaftigkeit, sein Wissen mußten
ihm zum Verderben gereichen; seine
weitausgreifenden, zu inneren sozialen
Zugeständnissen und zu äußerer Ver¬
ständigung bereiten Pläne am Wider¬
stand kleinlicher Interessen zerbrechen.
Da er der Kugel Villains, der ihn in
den letzten Julitagen des Jahres 1914
nicht aufzuspüren vermochte, ent¬
ronnen war, mußte man ihn durch
die Justiz morden.
* Rhein-Verlag, Barel.
Ich zweifle daran, daß es diesem
Mann, wenn er auch zusammen mit
Jaures ein Kabinett gebildet hätte,
gelungen wäre, den Weltkrieg abzu¬
wenden. Eines aber scheint sicher:
der Krieg wäre beizeiten abgebrochen
worden, Europa, und insbesondere
Frankreich, wäre nicht in dem Maße
daran verblutet, wie es geschehen ist,
und die abendländische Kultur, wenn
man von einer solchen heute noch
sprechen darf, würde nicht an sich
selbst verzweifeln und vor Amerika
oder Rußland sich neigen müssen.
Es ist wohl wahr, daß man den
Krieg vom Standpunkt der allgemeinen
Zersetzung aus vielleicht mit einem
gewissen philosophischen Wohlwollen
betrachten darf, aber das tun Caillaux’
Feinde gewiß nicht. Um diesen Mann
richtig zu würdigen, muß man ihn in
seine wahre Welt hineinstellen, ihn
von innen heraus zu begreifen suchen,
vom Zentrum seiner mehr oder min¬
der utopischen, aber jedenfalls gut¬
gemeinten Wirtschaftspolitik her, die
sich den nationalistischen Auswüchsen
der größeren, sie natürlich umrahmen¬
den und einschließenden bürgerlichen
Ideologie vergebens entgegenstemmte.
Das tragische Schicksal Caillaux’,
zwischen Reaktion und Sozialismus,
besteht vielleicht zutiefst darin, daß
er die bürgerliche Gesellschaft auf
eine Weile hätte retten können, wenn
die Entwicklung der Dinge es nicht
vorgezogen hätte, Reaktion und Na¬
tionalismus momentan zu stärken. So
scheint es heute, als gehöre Joseph
Caillaux, der einzige Gerechte, um
dessentwillen der französischen Bour¬
geoisie dieser Jahrzehnte einmal von
der Geschichte wird verziehen wer¬
den, einer wohl möglich gewesenen,
aber durch den Krieg verschütteten
und zukunftslos gewordenen Welt an.
Bernard Guillemin
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Rudolf Kayser.
V erlag von S. Fi jeher, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leip zig.
AN DEHMEL IN DEN WELTEN
von
ALFRED MOMBERT
I.
E in hohes weißes Roß mit herrlichem Schweif,
mit Augen voll dunkler Fülle,
und Nüstern, die sprühen,
läuft und tänzelt dahin
durch Deutschlands duftende Gärten.
Durch die Gärten, durch die Haine,
durch die kühlen Gründe der Veilchen und Primeln.
Es trägt den Reiter durch lichte Birken-Thäler,
durch Vogelsang, durch Flötenklang.
Es ersteigt die Alt-Granitgebirge:
Hoch auf der Kuppel
ragt es geheimnisvoll:
am Himmel horchend
über den Ländern.
Dann zurück hinunter in das Land.
Entlang Brandmauern dröhnender Fabriken.
Nachts über Marktplätze plätschernder Brunnen;
hinter alten Giebeln steigt der Mond.
Dunkle Forsten nehmen es jetzt auf,
Wipfel-Rauschen beugt sich zu ihm nieder;
es sprengt vorbei dem Geheimnis des rufenden Kuckucks.
Bis wieder Licht wird: da lagern Rebhügel
unter schweren Sommer-Gewitterwolken.
Altgebückte Winzer staunen feiernd —
Zwischen Paukenschlägen Beethovenscher Orchestren —
8
n 4 Alfred Mombert, An Dehmel m den Welten
vorwärts! weiter! gen den Strom: Den Rhein.
Auf den Wiesen an den Ufern des Rheins
lagern Gruppen kranker deutscher Krieger.
Enthelmt Entwaffnet. Hunger-ohnmächtigt.
Schlafversunkene: verhärmte Gesichter,
Blut tropft aus den Schläfengruben,
aus finstern Herzhöhlen rinnt dunkles Blut;
tropft zur Erde;
aus dem Herzblut entsprießen Anemonen —
Sie träumen. Sie träumen entgegen ihrer Stunde,
die einmal kommt. Die langsam! kommt Die näher kommt
Die Stunde: sie kommt
Leise rollt ein unterirdischer Donner.
Drüben überm Strom —: Auf Dom-Plätzen —
in Gassen — in Gärten — in Wildem — auf Späh-Türmen —:
Lagern Völker-Heere der Feinde:
Die Sieger-Herren.
Tag und Nacht in Schlachtordnung, in Stahlrüstung:
in Gasmaske, Flammenwerfer
angrifiFFertig lärmend auf den Sturm-Maschinen.
Haßverzerrte Gesichter — die Rotgier —
(innen bleicht die Angst —
die herzpressende Furcht —
geheim würgt schlotternde Angst —) —
Dahinter an den Horizonten aufgefähren endlose Wagen-Raub-Züge:
viele schon hochbepackt, fest verschnallt:
mehre leer wartend: beutegierig: raffegierig.
Durch den torkelnden schwatzenden Troß
wandeln prahlende Pfäue
mit hochgespreizten tausendaugigen Sieger-Rädern —
In leichtem Sprung setzt das Roß über sie hinweg —
Ins freie Glück der morgenglühenden Erde!
Es betritt den sonneschauemden Firn der Alpen.
Steht. Und wiehert freudig vor der
aufgezauberten ätherischen Eis-Mauer:
”5
Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten
Glanz von der Wildspitze bis zu dem Montblanc!
Vor ihm stürzen sich die Gestirne erbleichend in den Abgrund.
Nur der Morgenstern hält Stand.
Dann hinunter in die warmen Länder.
Durch Alleen immergrüner Pinien
zu den Orten der schonen Jugend,
wo das Glück der Liebe seligtrunken
schwanken läßt hochwandelnde Gestalten.
Zu den Hainen heiligen Alters,
wo die Göttersage von der Sängerharfe
träuft ehrfürchtig lauschendem Geschlecht.
An die blauen Küsten, an die Ströme,
wo die Vögel Hügeln in Wonne,
wo die Blumen blühn beglückt.
Ätna-Feuer. Trunk am Nil.
Folgend in der Silber-Kielbahn träumender Schiffer
zu den Buchten, zu den Inseln.
Immer überwölbt hier großer Licht-Himmel
unvergänglich den Garten Freude.
Um ihn kreistanzen die Jahreszeiten,
ihn umreigen alle Zeitalter.
Wer hineinspähen darf, ist glücklich.
Der drin wandelt, ist geborgen.
Einmal naht das wandernde Roß dem
Hochzeit-Tanz-Fest lieblicher Jünglinge und Jungfraun.
An den süßen Wassern Asiens,
unter alten Eichen, unter Platanen
paukt und zimbelt es,
singt und flötet es.
Da wehen luftige Schleier,
da schimmern Augen-Steme.
Zierlich durchschreitet das Roß den Reigen
mit seinem träumenden Reiter.
Durchduftete Stunden —
An Abend-Teichen blühender Nymfaen
11 6 Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten
Stunden zärtlicher Musik —
— Draußen auf ehernem Nacht-Meer
stößt ein Glühender in die Trompete —
— Ein Adler besteigt die Lüfte —
flügelt ins tiefe Asien.
— Unten folgt das Roß —
Dort sind viele Adler.
Hall von fernen Brandungen.
Ein einsamer Baum bebt ruhelos im Zitterlaub.
Ganz traumhaft ward die Erde.
Von Strauch zu Strauch fliegen Nachtigallen.
An dunkle Seen drängen sich goldene Tauben;
da galoppieren funkelnde Steinwidder.
Am Gebirge wandert ein Geist:
rührt die Schwingen —: da brausen die Mitternacht-Stürme.
Dämonen der Leidenschaften durchirren die Wüste
gehüllt in Glutwirbel; lagern auf Felstrümmern.
Am einsamen Tarim-Strom steht ein Mann mit einem Weib
in ewigem Nacht-Gespräch. Derweil steigt der Mond
aus dem Krater des qualmenden Vulkans
und treibt auf grüner Wolke unterm Nacht-Himmel.
Traum-Musik schwebt über Asien!
In ihr badet Himalaya das trunkene Eis-Haupt.
In den tiefen Ländern schlägt eine Bacchantin die dumpfdröhnende
Handpauke —
*
Wunderbar ruht die Südsee:
ruht hehr und weit
in der unendlichen Zeit.
In glänzenden Nächten erblicken dort die Schiffer
spähend von einsamen Masten
in den letzten Fernen:
Ein riesenhaftes Roß.
Lautlos läuft es über die stillen Wogen
hin gen einen immer-ruhend-schwebenden.
H7
Alfred Mombert, An Debmel in den Welten
zaubrisch-glänzenden,
magisch-winkenden titanischen Stern.
* *
*
n.
Auf diesem Rosse sitze ich. So reite ich
durch das Rollen der Schicksal-Donner;
über stille Mittag-Meere;
in einsamer Licht-Wüste.
Im Spiel der Welt.
Zwiesprache pflegend mit den Unteren der Tiefe,
mit Jenseitigen in den Sfären.
Derweil sitzt vor meinem Fensterbrett
zwischen stillen Blumenstöcken
das Rotkehlchen, und pickt an die Scheibe.
Die dunkle Cypresse breitet
ihre hängenden Äste über das Dach.
Endend: nachts: ausgeschöpft:
im alten Hause mit flackernder Leuchte
— draußen braust Sturm —
schlummerkrank taumelnd in mein Schlafgemach —:
Wieder lehnt dort an den Thürpfosten
— an der Pforte der Unterwelt —
die Nacht-Gestalt: Ägypterin:
die Sibylla Zauberin.
Auf schwarzer Stimkrone erglänzt ihr Gestirn-Zeichen.
Ihre Augen-Tiefen stehen sprudelnd offen.
Sie sieht mich: aber sieht mich nicht.
Sie starrt mich an: aber denkt mich nicht.
Sie lauscht fernen Tönen. . .
— Wer hat sie hergesandt in meine Träume? —
— Was kreist hinter ihrer Stirn? —
Du! — Von Dir gesandt!
Du in den Welten! Du tönst!
118 Alfred Mombert, An Dehmel m den Welten
Dein Herz i$t worden selige Harfe!
Du tönst in Himmeln deinen ewigen Tag!
Gegenüber dem Morgenstern:
am flügelschlagenden Meer,
am göttlichen, am wunderbaren.
Thronender im Ansturm klingender Kristall-Wolken —
Geister umlauschen Dich — blind hingerissen-
Weltfern — nacht-ausgeschöpft — auf Erden —:
Krank vorüberwankend
Dir Tönendem —
vorüberwinkend deiner Sibylle
der Flüsternden —:
Stürz’ ich hinunter in Tiefschlaf zwischen alten Mauern. —
Im Innern des Hauses
dröhnt die Uhr Mitternacht
*
Furchtbar flackert Gewitter an den tobenden Horizonten!
Kometen stürzen aus den Raumen —
zerschellen im Granit!
Du in den Welten!
Um dein Antlitz schießen blendende Strahlen! —
Ich lehne harfenspielend an den Regenbogen.
Aus den Höhen sinken goldene Blätter ab.
Das Meer ist da. Der Traum ist da. —
*
So Traum-Welt-Schaffender in Glut-Versenkung.
Menschen-Jahre: aber nie gezählt:
aber immer irdisch-tiefer durchfühlt;
eine selige Lilie an der Lippe.
Im Herbst-Sturm
erschüttert das ergraute Haupt hinabgesenkt in die Hand:
zugeschüttet vom gelben Laub.
Menschenleben! Wind über die Hand! —
Mein Roß: meine Seligkeit: du meine Jugend:
ix?
Alfred Mombert, An Dehtnel in den Welten
deinen Sänger trägst du über das Eis von Seen
durch sehr herzzerbrechende Abende,
wo Flöten klagen, irdische Schmerzen-Flöten —
wo mein Bild zerspiegelt im Nebel bereifter Fichten
nordisch-grau, uralt-verhüllt und brausend-stürmisch.
Durch Nächte blinder Gassen verrufener Städte
trägst du einen erschütterten Lauscher.
Aus den Häusern dringt Fluch-Geheul der Holle,
ein wildes Ächzen, Seufzer und Verdammnis.
Es tont im Takt der Gesang der Gefangenen aus den Kerkern.
Aber Frühlicht kommt immer wieder,
wird Alles immer wieder neu —
immer gehen brausend freie Klänge durch die Seele —
immer umfließen schöne liebende Himmel.
Strahlen-Sammler bin ich aus den Welten.
Strahlen-Sender in die Welten.
Bald selber Strahl.
Die Winde! die ätherischen Winde!
Oft hebt sich mein Roß im Tönen des Äthers —
steigt! steigt auf! in den Zügeln!
Klopfend kos’ ich seinen Hals,
ich lenk’ es ab auf die Wiese von Enna,
in den Duft des Krokus umstanden von Frühling-Birken.
Sieh: wie hier die Amseln springen!
Sieh: wie hier Thautropfen sprüht! —
Aber träumender immer. Traum-williger immer.
Es kommen Geister herab mit tönender Botschaft —
sie umschweben mich, umleben mich —
blicken sinnend auf mich —
blicken dann wieder hinauf zu Kassiopeia:
Dort, wo die Pie jaden singen! —
Dort, wo der Orion glüht!-
I IO
Alfred Mombert, An Debmel in den Welten
Es beginnt das große Rufen im Welt-All.
In finstern Höhlen erstrahlen silberne Leuchter.
Sonne glQht auf den metallenen Meeren.
Jubelnde Inseln jauchzen sich los vom Grund.
Wohin ich trete:
da flammt es unter meinem Fuß.
Und wohin ich jetzt die Hand lege:
da sprießt ein Wunder: und blüht.
Das ist Menschentum:
Plötzlich auserwählt aus allen Geister-Schaaren
sich zu erheben:
Aus finsterer Schlaf-Gruft donnernd aufzusteigen in den höchsten
Glanz-Himmel! —
*
Einer ist da. Einer meldet:
— „Schau* hinaus“ —
Draußen um mein Haus
lagern die Gebirge, die Meere und Wüsten:
mit laufendem Fackelschein, und Trommeln, und Musik-Chören.
Aufgezäumt, geschmückt mit Blumen,
strahlend aus Azur-Augen,
führen sie heran mein Roß —
Du in den Welten!
Von Dir gesandt! —
*
Ein ungeheurer Pauken-Wirbel herrscht über der Erde.
Marsch-Musik erschallt.
Gekommen ist die Stunde des Gesanges.
*
Eine Weide, babylonische Weide,
steht ragend auf der Erde.
Die Äste hingegeben sausenden Winden,
ihre langen Zweige peitschen um die rollende Erde,
I 2 I
Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten
und langen hinaus in die Fluten des Himmels.
An ihrem Stamme hauste ich einst.
ln irdischen Stammes Liebe zärtlich angelehnt das Haupt,
sah ich hinauf, und sah die Sterne.
So sitzend: schauend: wurde ich alt.
Sfaira der Alte bin ich, Sfaira der Ewige:
Ich verlasse jetzt die Weide:
ich besteige das Roß.
Ich schwinde im Sturm des Lichts.
Ich ziehe ein in meine schimmernden Himmel.
* *
*
III.
Gegenüber dem Atair:
Da strahlt eine Sonne.
Dahinter strahlt die zweite —: die zehnte Sonne:
schwebend in einer ungeheuren Wand von Glanz.
Es zucken Zeichen. Es winken Signale.
Es wogt ein Strahlen-Thor.
Ich reite heran.
Ich reite ein. Ich durchreite die Glanz-Wand.
Ich reite auf der Bahn des großen Glanzes.
Ich reite durch ein ewiges Glanz-Jahr.
Und ich lebe den Glanz. Und lobpreise den Glanz.
*
Ich bin hervorgedrungen aus dem Glanz —
schaut mich Glanz-Geborenen!
Ich finde mich wieder in einem Spiegel:
Ich ward ein Jüngling in goldenem Haar.
Mich schmückt ein blaues Äther-Gewand,
mich umkreist ein lichter Kristall-Gürtel.
122
Alfred Momhert, An Debmel in den Welten
Ich trage einen Hut bekränzt mit Sternen.
Aus meiner Brust entsproß ein Rosenstrauch,
den umschwirren goldene Bienen.
*
Ich trabe heiter durch den Tierkreis.
Trabe aus den Zeiten in die Weiten
unter dem goldenen Laub weltseliger Baume:
sonnehaft: der himmlische Held.
Summend träumerischen Frühling-Sang.
Aus der Licht-Mähne meines Rosses
rinnt Kometen-Licht in die Welten-Stürme.
Sein goldener Schweif fegt über die Milchstraße;
hinter sich her schleift es die Sfaren.
Steinbock: Lowe: Widder: fahret wohl!
*
Zuschauer sind die Welten:
Ich reite durch die Pforte des Orion.
Anlehnen zwei riesige Giganten;
halten Wache — flüstern
in der ewig-hellen Nacht —
schwere Stein-Hände auf glühenden Herzen.
Ihre Keulen erzittern, da ich einreite —
ihre Augen starren auf mein goldenes Haar —
Zuschauer sind Canopus und Arctur.
*
Ich reite vorüber dem Sternbild des himmlischen Zechers.
Vorüber schon dem Bilde der Blüte des Chaos.
Fernhin, femunten: schnell sinken sie hinunter.
Rasend schnell unter.
*
Ein Brausen kommt vor mich.
Verwogt dann leise:
Gefühl in himmlischer Sprache.
Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 125
Neben mir erflimmern heilige Herz-Lichter.
Chöre der Aeonen rühren sich.
Und die Wandelsterne sind am Weg versammelt.
Da kommen, da kommen herunter die himmlischen Licht-Stürze
Da spielen, da spielen über mich hinweg die seligen Pole.
Es läuft das Roß. Es tönt mein Äther-Gewand.
Der Rosenstrauch vor meiner Brust
duftet, und die Bienen schwirren.
*
Die Pie jaden tanzen mir entgegen:
halten Himmel-Sträuße in den Händen.
Ihr Schönen —: Aber was sollen mir die Blumen?
Einst gehörte mir die ganze Erde,
fern, ganz fern die selige Erde.
Die drehte sich in ihrem eigenen Himmel,
trieb die schönsten Blüten aller Himmel.
Und alle blühten mir.
Seht es mir an!
Der Rosenstrauch vor meiner Brust
duftet, und die Bienen schwirren.
*
Aber du dort: Einsamste Tänzerin in fernsten Licht-Nebeln:
Du Rätselvolle Leuchterin im letzten Äther-Licht:
Du einst mir Gesandteste: einst mir Verwandteste:
einst durch tausend Traum-Bilder von mir Genannteste:
Liegt hier deine Heimat? — steht hier dein Haus? —
*
Im Himmel eine singende Stimme.
Sie erstirbt Sie ersteht
in Klängen des ewigen Lebens.
*
Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten
Es läuft das Roß. Es tönt mein goldenes Haar.
*
Feuer-Ströme überlaufen den Himmel.
„Du —: Wer bist Du —?**
Aus einem Schall-Schlund
wirbelt eine Stimme gegen mich an.
Steilaufgerichtet
ragt
ein dunkler Riese —
erhobene Arme —
und sperrt die Bahn —
Hinter ihm erscheint eine Brücke.
Aber die Worte: da sie sich mir nahen:
da kehren sie um —
fliehen vor mir — entsetzt schreiend —:
sie zersplittern in Staub.
Letzter Schrei.
Frage keiner mich mehr!
Fürwahr: an mir zergeht scheiternd jede Frage.
Ich reite auf den Riesen ein —:
Reite durch den Geist durch —: Durch Luft.
*
Hinter mir liegt —: Luft.
Hinter mir das All — das durchrittene All.
In mir verhallt jetzt grausig-göttlich seine letzte Melodie.
*
Vor mir steigt die Brücke.
Es schnaubt das Roß. Es tönt mein Licht-Gürtel.
Schon reite ich oben auf dem höchsten Joch.
Blicke zurück in die ewigen Ozeane
drunten, wo alle Sonnen untergingen.
Da geschieht, was mir geschieht:
Alfred Mombert, An Debrnel in den Welten
Aus meiner Brust löst ach der Rosenstrauch:
löst seine Wurzeln —
alle ^der-Wurzeln meines Herzens —
weht — er weht — weht
— von dem höchsten Joch —
Ober die Brücke in die Tiefe unter —
Ihm nach schwirren alle goldenen Bienen.
*
Auf dem höchsten Joch
half ich das Roß an. Eine Stunde.
leb hebe die Hände auf: Ich segne die Welten.
Ich im Äther-Gewand:
Ich streiche über mein goldenes Haar:
Ich bin der Vollkommen-Träumende
auf dem höchsten Joch.
*
Da wiehert ein Roß:
Posaune.
Mein Roß antwortet:
Pauken-Wirbel.
Es endete der Glanz.
Begann eine tiefe Dämmerung.
Am Brücken-Ende
lehnt ein dunkler Held erwartend an ein Roß.
Manchmal durchfliegt den Wind ein Funken:
überleuchtend sein Gesicht
Er hebt die Hand;
winkt einen Gruß —
sofort schwingt er sich aufs Roß.
Das donnert ab —
*
Wir reiten nebeneinanderhin.
1 16 Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten
Die Rosse sprengen dahin. Sie eilen. Eilen.
Manchmal schau* ich stumm zu Ihm hinflber:
Du in den Welten.
Hinter deiner Stirne kreisen die unendlichen Sonnen
in Uranfang der Freiheit:
in der ewigen Seligkeit.
Du trägst sie, wie Du einst die Erde trugst
durch die rollenden Äther-Wogen:
Stolz in Demut
Manchmal schaut Er stumm auf mich herüber:
Du in den Welten.
Schon bist du:
In deinem Antlitz dämmert noch nach ein Schimmer
deiner zaubrischen irdischen Jahre,
vermählt mit Licht, geliebt von Finsternis.
*
Wir reiten nebeneinanderhin.
Die Rosse sprengen dahin. Sie eilen. Eilen.
*
Jahre schon reiten wir durch Funken-Wirbel.
Durch sprühenden Sturm.
In einer immer helleren Zone fliegender Glut.
Lauter: immer mächtiger: schallt Gesang.
*
Unsre Augen haben sich geschlossen.
Wir wehen nebeneinanderhin.
Scharf gegen den Herd der großen Glut.
Die Rosse brausen dahin. Sie stürmen — orkanen
durch ungeheure Jahrtausende des Gesanges.
*
Du in deinen Welten, einmal flüsterst Du dunkel:
Bruder, was wir einst sangen:
Richard Dehmel, Briefe nj
Es war hiervon ein Klang.
*
Die Rosse stehn.
Unsre Augen gingen auf.
Wir halten vor der Flamme.
Lohenden, rauschenden Flamme.
Groß füllt sie aus die höchste Nacht.
*
Wir sitzen ab. Entlassen die Rosse.
— Zurück in die Welten jagen sie funkend —
bäumend — wiehernd — femabklingend —
Hier brauch’ es der Rosse nicht mehr.
Hier ist das Ende. Hier ist die Flamme.
Wir treten heran. Wir halten die Wache
vor der Flamme —
Drin die Gottheit sich verglüht im Feuer.
Drin die Gottheit sich erneut aus Feuer.
* *
*
Ruhig steht. Ruhig steigt die Flamme.
Die rauschende Flamme.
Die Flamme.
♦ENDE*
BRIEFE
von
RICHARD DEHMEL
(Gest. 8. Februar 1930)
An Alfred Mombert
Lieber Alfred! Blankenese 16 . 7. 1909
Jetzt ist’s Uberstanden. Überwunden noch nicht, das wird lange
dauern; der Verlust war zu unerwartet. Ich danke Dir für Deinen
u8 Richard Dehmel, Briefe
Brief. Ich erhielt ihn, als ich gerade den Nachruf geschrieben hatte,
den ich gestern an Liliencrons Grab sprechen mußte. Ich hatte eben
dem Z. meinen Entwurf vorgelesen, und wir saßen beide mit
strömenden Tränen, da kam Dein Brief. Ach Alfred, was ist der
Mensch! welches Wunder von Schwäche und Kraft! Wie er auf
dem Krankenbett lag, den ich immer bloß als Gesundesten kannte!
Mit einer Stecknadel hatte er sich einen Zettel an die Tapete geheftet,
auf den er mit seiner zitternden Hand den Namen seiner Krankheit
geschrieben hatte, und nun las er mit seiner röchelnden Brust nur
diese medizinischen Worte vor, Silbe fhr Silbe gebrochen herausstoßend,
mit einer Stimme, halb wie ein verwundertes Kind, halb wie ein
verletztes Tier, ganz unbegreiflich. Und dann: „wenn ich nur schlafen
könnte! Seit sechs Tagen nicht geschlafen, Richard!** Und dann —
(Alfred, Alfred, was ist der Mensch?!) — seine Augen qualvoll entzückt
zur Zimmerdecke erhebend: „ich sehe immer Alexanderzüge da in der
Stuckborte — Alexanderzüge, Richard! — und Geschichten von fremden
Sternen!“ — Und dann noch einmal: „Wenn ich nur endlich
schlafen könnte!“ — Nun schläft er — und wacht erst recht über
uns. Was ich an ihm verloren habe, kann ich nur dadurch ein wenig
ersetzen, daß ich Dir zu sein versuche, was er mir gewesen ist. Wir
wollen ihm „die Birke schenken“-.
Dein Richard
An Daniel Jacoby
Verehrter Herr Professor! Blankenese 13 . 8 . 1909
Sie haben mir eine große Freude bereitet. Sie sind einer von den
nur drei Lehrern, die mir Unvergeßliches ins Leben mitgegeben
haben, nämlich nicht Kenntnisse, sondern Erkenntnis. Wie 4 >ie uns
dummen Jungen „Emilia Galotti“ vorlasen, mit Ihrer brüchigen,
leidenden, aber aus tiefstem Verständnis machthabenden Stimme: da¬
mals hat mich zum ersten Mal, mich Unbändigen, die veredelnde
Kraft des männlichen Geistes erschüttert. Oft habe ich an diese
Stunde zurückgedacht, und mehr als einmal wollte ich Ihnen, nach¬
dem ich reif dazu geworden war, ein Zeichen meiner Dankbarkeit
senden. Aber ich wußte nicht, ob Sie noch lebten, und wo ich
Auskunft darüber erhalten könnte; nun bringt mir der Tod meines
Freundes die Auskunft. Sie haben Recht: Liliencrons grenzenlose
Liebenswürdigkeit, so unsterblich sie war, enthielt doch viel sokratische
Ironie — und es würde geradezu ein Unding sein, alle Äußerungen
129
Richard Dehmel, Briefe
seiner Gnadensonne an die Öffentlichkeit zu bringen. Ich habe mir
aber doch Abschrift von der anbei zurückfolgenden Postkarte ge¬
nommen und werde erwägen, ob ich sie (mit Ihren Huldigungsversen
zusammen) in die von mir geplante Auswahl aus seinen Briefen auf¬
nehmen kann, ohne Sie in den Schwarm der Dilettanten zu schieben ;
es werden fieilich Jahre vergehen, bis die Arbeit beendet ist Daß
Sie von mir einen Schulaufsatz aufgehoben haben, setzt mich eigentlich
in Verlegenheit. Ich hatte nämlich als Schüler noch gar keine „lite¬
rarischen Ambitionen“ und brach solche Aufsätze stets übers Knie.
Nur an einen erinnre ich mich, bei dem ich mir — und zwar in
der Tat unter Ihrer Ägide — etwas Mühe gegeben habe, weil Sie
uns die Wahl des Themas freigestellt hatten; es war eine Antikritik
zu Schillers Kritik am „Egmont“. Wenn es der etwa sein sollte,
den Sie aufgehoben haben, dann würde es mir trotz aller Ver¬
schämtheit doch einiges Vergnügen machen, ihn jetzt wieder in die
Hand zu bekommen, und Sie werden mir das Heft wohl gern über¬
lassen. Ich habe inzwischen verschiedene Aufsätze geschrieben, an
denen hoffentlich nichts mehr zu „korrigieren“ ist, und erlaube mir,
den Sammelband als Gegengabe zu überreichen. Und erlaube mir,
außerdem einen Band beizufügen, der eine kleine, aber großgemeinte
Fruchtspende für das von Ihnen empfangene Samenkorn vorstellen
soll. Mit einem von Herzen kommenden Gruß
R. Dehmel
An Charles Andler
Verehrter Herr Professor! Blankenese 18. 9. 1909.
Es war mir keine Mühe, sondern eine Freude, Ihren Essay*) durch-
zusehn. Allerdings eine etwas beschämende Freude; denn noch kein
deutscher Ästhetiker hat Liliencrons Poesie bis jetzt so umfassend
und gründlich abgeschätzt. Besonders die Nachdenklichkeit seines
Wesens ist noch nie so deutlich beleuchtet worden; und ich könnte
höchstens den Einwand erheben, daß Sie in Ihrer Entdeckungslust
ein gar zu scharfes Licht darauf werfen. Infolgedessen schlägt im
letzten Kapitel Ihre bis dahin ganz psychologische Kritik unwillkürlich
ins Ideologische um und wirkt durch diese Einseitigkeit gröber, als
wohl eigentlich Ihre Absicht war; ich glaube. Sie könnten mit
*) „Detlev von Liliencron“, Revue de Paris, ij. Okt. 1909. Fortsetzung
1. Nov. 1909.
9
/
130 Richard Dehmel, Briefe
wenigen Worten Ihr strenges Schlußurteil etwas mildern, und ich
habe mir daher erlaubt. Ihnen an den Rand des Korrekturbogens
ein paar andeutende Notizen zu schreiben. Da Sie überdies aus meiner
Grabrede einige Stellen citieren wollen, wird ja der Schluß Ihrer
Betrachtung schon deshalb milder im Ton werden müssen. Mit Ihrem
Vorhaben, eine vollständige Übersetzung der Grabrede in der „Revue
Germanique“ zu veröffentlichen, bin ich natürlich gern einverstanden;
der im „Literarischen Echo“ erschienene Wortlaut ist in der Tat der
richtige. All solcher Austausch geistiger Güter dient ja am besten
dem „Ideal einer neuen romanisch-germanischen Kulturepoche“; sobald
der Austausch ein regelmäßiger würde, wäre das Ideal doch verwirklicht
Und warum sollte das nicht erreichbar sein? Angebahnt war dieser
Bildungsverkehr ja schon im gothischen Mittelalter bis zur frühen
Renaissance, und nur die vermaledeiten kirchlichen Kriege haben ihn
damals abgebrochen. Das ist jetzt nicht mehr zu befürchten; und
wie glücklich könnten sich die Naturanlagen unsrer beiden Nationen
ergänzen! Ich habe schon mehrmals dafür in französischen Blättern
plaidiert, zuletzt im „Si&de“ 1905 auf ziemlich ausführliche Weise;
ich werde auch wieder die Rundfrage des „Gil Blas“ beantworten,
die Ihr Schützling Guilbeaux mir zugestellt hat, muß mich diesmal
aber kurz fassen, weil ich entsetzlich mit Arbeit überhäuft bin. Das
Eine ist sicher: Deutschland und Frankreich vereint, könnten ganz
Europa in Schach halten, auf allen Feldern der idealen wie der realen
Politik.
In der Hoffnung darauf Ihr Dehmel
An Chr. Flaskamp
Sehr geehrter Herr Flaskamp! Blankenese z6 . 6. 1910
Ich habe Ihnen bereits geschrieben, daß ich Ihnen religiös näher stehe,
als Sie ahnen. Schon vor 1 o Jahren, als meine erste Frau (wir sind Beide
Dissidenten) unsere Kinder aus den üblichen Nützlichkeitsgründen
taufen lassen wollte, sagte ich ihr: dann wenigstens katholisch! Sie
hat sie daraufhin ungetauft gelassen, zu meiner Freude —, denn ich
bin der Meinung, daß die Taufe und überhaupt die Aufnahme in
irgend eine „sichtbare Gemeinschaft“ erst an einigermaßen reifen Men¬
schen vollzogen werden sollte. Ich selbst bin aus der protestantischen
Kirche nur deshalb ausgetreten, weil ihre Versteifung auf logische
(genauer gesagt: intellektuelle) Dogmen den spontan religiösen Instinkt
unterbindet Ich wäre wahrscheinlich allerdings auch aus der katho-
Richard Dehme /, Briefe iji
lischen Kirche ausgetreten, denn die ist heute fast ebenso antireligiös
(also im ursprünglichen Sinne antikatholisch) in sensuellen Dogmen
erstarrt. Wir wollen uns doch nicht verhehlen, daß heute der heilige
Franciscus vom katholischen Klerus genau so als Erzketzer, oder viel¬
mehr sogar als Heide, exkommuniciert würde, wie die protestantische
Orthodoxie Luthem hinausmaßregeln täte. Ich begreife natürlich, daß
ein katholisch Erzogener seine konfessionellen Dogmen und Riten,
auch wenn er nicht zu den „Armen im Geiste" gehört, als konsti¬
tutive Symbole verehrt; aber ohne mentale Reservationen geht's doch
auch da, wie bei aller Symbolik, in der frommen Seele niemals von
statten. Und jedenfalls wird ein echter Katholik nicht leugnen können,
daß ein echter Heidenchrist, der sich aus Gründen der Wahrhaftigkeit
(bitte nicht mit „Wahrheit" zu verwechseln) solchen Reservationen
nicht unterziehen will, ein wesentlicheres Mitglied der „unsichtbaren
Gemeinde" ist als irgend ein vorschriftsmäßig Getaufter, den der
geistige Fittig der heiligen Taube nie im Innersten berührt hat. In
dieser innersten, unsichtbaren Bedeutung darf ich mich ebenso gut
einen Katholiken nennen wie z. B. Chesterton, vielleicht sogar einen
besseren. Ich könnte sogar die Trinität, das Mutter-Mysterium und
die Heiligen-Anbetung unter gewissen Klauseln anerkennen, wenn ich
nicht wie gesagt in unsrer Zeit jede solche Verklausulierung für einen
antireligiösen Kompromiß mit konfessionellen Borniertheiten hielte.
Ich kann fast Alles unterschreiben, was Sie über die natürliche Lebens¬
kraft und kulturelle Wirkungsmacht der katholischen Wahrheit
sagen, speziell auch Ihre Ausführungen über den Protestantismus als
eine Art Pubertätsperiode des germanischen Selbstbewußtseins; sogar
Ihre Verteidigung der vielbeschrieenen letzten Encydica würde ich voll¬
kommen gutheißen, wenn der Papst sie in Ihrem Sinne erlassen hätte.
Das ist dem braven Pius decimus aber leider nicht eingefallen, sonst
hätte er nicht nachträglich dies klägliche „Bedauern" geäußert; das
Ganze war eben auf beiden Seiten — wie heutzutage beim Klerus
immer — „viel Geschrei und wenig Wolle". Auch ich glaube an die
katholische Zukunft, aber die sichtbare Form der religiösen Welt¬
gemeinde wird nicht eher ins Leben treten, als bis die Kirche ganz
und gar mit ihrer atavistischen Ambition der politischen Weltmachts-
Stellung aufgeräumt hat; die ist ja nur ein Rudiment teils heidnischer
teils jüdischer Traditionen der Priesterkaste, aber dies Rudiment ver¬
stopft und verschnürt das Wachstum des ganzen Organismus. Auch die
Person Christi muß erst wieder von diesem irreligiösen Anstrich
ij2 Richard Dehmel, Briefe
gereinigt werden, der allmählich den Salvator Mundi zu einem Trium¬
phator Naturae aufgeschminkt hat; und Sie sind in einem gewaltigen
(richtiger: gewaltsamen) Irrtum, wenn Sie behaupten, der ,Jesus von
Nazareth“ in meinem Gedicht „Auf einem Dorfweg“, das sei nur
mein Jesus, nicht der biblische. Es ist freilich nicht der katholische
Christus, weder der alte echte Salvator noch der moderne gefälschte
Triumphator, aber es ist der evangelische Jesus, der „bei euch alle
Tage ist, selbst im Geringsten eurer Brüder“. Hier wollte ich eben
einmal ganz klar den nur humanen Gottessohn der Protestanten trans¬
ferieren, wie er dem himmlischen Übermut (ich könnte auch sagen:
der göttlichen Natur) jener „Kindlein“ zum Opfer fällt, von denen
er sagte: „Lasset sie zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich“.
Wer den für meinen Jesus hält, der versteht nicht zwischen den
Zeilen zu lesen; meinen Jesus finden Sie im letzten Traum der „Gottes¬
macht“ (Band VII meiner Gesamtausgabe) — und gerade er repräsen¬
tiert in dieser modernen Theurgie den altkatholisch divinen Christus,
den ebenso übermenschlichen Salvator mundi, der viel zu gotteins mit
der „Natur“ ist, als daß er über sie triumphieren möchte. Ich hoffe.
Sie werden katholisch genug sein, um den grotesken Schluß dieses
Traumes nicht als Blasphemie aufzufassen, wie das von Seiten frommer
Schafe und unfrommer Böcke geschehen ist; der Hohn darin richtet
sich ja grade gegen die menschliche Vernunft, gegen dies endliche
Begreifenwollen jenes ewig unbegreiflichen Geistes, der „höher ist als
alle Vernunft“. Deshalb verschmähe ich es auch, in Diskussionen über
„Gott“ einzutreten oder gar über das Allerweltswort „Natur“; wenn
man „natura naturans“ darunter versteht, ist’s ja nur eine schwatzhafte
Floskel für „Gott“, und die „natura naturata“ ist die mit Brettern
vernagelte Welt. Das Allerheiligste läßt sich nicht erklären, sondern
immer nur andeuten, mag dies nun in rhetorischer, mag es in poeti¬
scher Form geschehen, mit konventionellen oder mit originellen Sym¬
bolen. Religion zu predigen, ist nicht Sache des Dichters; Dichten ist
religiöses Handeln. Einer kann nicht Alles tun; der Lehrer und
Prediger weist den Weg zu Gott, der Künstler baut die Himmelsleiter.
Wer darauf strauchelt, der lerne erst steigen, der Künstler hat einfach
weiter zu bauen. Er gehorcht eben nur der Stimme Gottes, und diese
Stimme heißt Phantasie. Sie spricht das unmittelbarste „Es werde!“,
sie ist das „Wort, das im Anfang war“. Dies meine ich nicht bloß
metaphorisch, sondern ganz und gar esoterisch — Phantasie ist die
göttlichste Gotteskraft des ewig schaffenden Schöpfergeistes — und
Richard Dehmel, Briefe 133
alle vergebliche Mühe der Biologen, ein mechanisches Prinzip der
„Entwicklung“ zu finden, läuft auf das eine Bekenntnis hinaus, daß
die Entwicklung Gott selber ist, dessen Phantasie sich durch immer
neue Formen auf all seine andern Wesenskräfte in unerschöpflicher
Schöpfung besinnt Dies ist auch die einzige Theologie, aus der
heraus sich der „Geist des Antichrist“ und überhaupt alles Satanische
als gottgewolltes Schöpfungsgebilde widerspruchslos begreifen läßt.
Und nun werden Sie wohl auch begreifen, warum sich gerade die
stärksten Künstler (religiös gesprochen: die göttlichsten) an konfessio¬
nelle Symbole nicht binden können, warum z. B. ein Michelangelo
scheinbar viel heidnischer damit umspringt als etwa ein Fra Angelico,
sie aber der wesentlichen Bedeutung nach viel christlicher und auch
katholischer ausbaut, nämlich in den Geist der Zukunft hinein, ob¬
gleich er von seinen Zeitgenossen mit Feigenblättern bepatzt worden
ist. Dem echten Künstler ist eben die werdende Kunst die höchste
Manifestation des religiösen Mysteriums, höher als irgend ein
rituelles, legendäres, dogmatisches oder sonst wie konventionelles
Symbol, das ja nur durch vergangene Kunst zur Tradition geworden
ist; Gottes schaffende Phantasie, als deren Werkzeug er sich filhlt,
gilt ihm selbstverständlich für heiliger als alle seine noch so verehrungs-
würdigen, schon erschaffenen Phantasmen. Auch ist die Kunst die
einzige Sphäre des menschlichen Allgemeingefühls, in der auch der
teuflischen Wirklichkeit ihr göttliches Daseinsrecht verbürgt werden
kann; jede andere Gemeinschaftsform, die religiöse im engeren Sinne
wie die soziale im weitesten, selbst die zwischen beiden vermittelnde
erotische, muß um der Selbsterhaltung willen jeden dämonischen
Eigensinn mehr oder minder töricht verdammen. Deshalb erlangt auch
in keiner Kunstgemeinde ein religiöses Urteil Geltung, das von kon¬
fessionell borniertem Standpunkt aus über ein Kunstwerk absprechen
will. Sie haben zwar jetzt der „Lebensmesse“ gegenüber Ihr leicht¬
fertiges Verdikt „dilettantisch“ auf „unzulänglich“ abgeschwächt, aber
auch das begründen Sie nur mit konventionellen Postulaten, die auf
meine Dichtung gar nicht anwendbar sind. Das Menschliche in meiner
Dichtung schließt keineswegs Ihr Göttliches aus, die Seele der Mensch¬
heit ist ja doch Gott; wenn Sie die Demut vor der „Allmacht“ in diesen
Streitgesängen vermissen, dann haben Sie einfach den Doppelsinn nicht
begriffen, der in der Wendung „dem Schicksal gewachsen sein“ liegt,
je nachdem man nämlich „Schicksal“ oder „gewachsen“ stärker betont
Und gerade die ideelle Erringung dieser stolzen Demut vorm Schicksal
1 34
Richard Dehmel, Briefe
(christlich gesprochen: Gottwilligkeit) im instinktiven Wechselspiel
zwischen den Einzelfiguren und Chören, die ist die eigentlich heilige
Handlung in dieser Messe einer mythischen Menschheit und zugleich
die eigentlich künstlerische. „Unzulänglich* 4 wird sie wohl sein, wenn
man sie auf den breitspurigen Boden der historischen Menschheit stellt.
Unzulänglich in irgend einer Hinsicht ist schließlich jedes Menschen¬
werk. Was soll mir der Vergleich mit Shakespeare? Ein mythisches
Oratorium ist natürlich kein Renaissance* Drama. Ich könnte den
Spieß mit Bequemlichkeit umdrehen und Ihnen lang und breit be¬
weisen, daß Shakespeares realfigürlicher Stil „unzulänglich 44 für meinen
Konflikt rein idealer Instinkte gewesen wäre. Ich will aber christlicher
sein als Sie und schicke Ihnen anbei die Liste der gewünschten „rein
lyrischen 44 Gedichte, obgleich mir Ihr Anthologie-Prinzip einstweilen
noch recht „problematisch 44 ist. Mit einem lächelndem Gruß.
R. Dehmel
An Julius Meier-Graefe
Lieber! Mitte Dezember ipio
Du hast mir mit Deinem Maries-Werk eine ausnehmende Freude
gemacht: es kam gerade zu meinem Geburtstag an. Hoffentlich ist
es Dir nun eine kleine Weihnachtsfreude, wenn ich Dir sage, daß es
mir zwar eine Anstrengung, aber eine erhebende war, mich durch den
Wälzer durchzuschlagen. Wirklich ein musterhaftes Werk! Ganz ab¬
gesehen von dem bewundernswerten Fleiß, der hier mehr ist als Ge¬
lehrtentugend, weil Ausdruck einer inständigen Begeisterung: noch
gründlicher hat mich der Eifer erbaut, mit dem Du alles künstlerisch
Bildhafte ins menschlich Vorbildhafte gedeutet hast. Das ist — mit
dieser Planmäßigkeit, oder besser gesagt Beharrlichkeit — ein neuer Zug
in Deiner Anschauungsart, an dem ich mir schmeichle, einigen Anteil
zu haben; und es ist auch Deiner Schreibart zugute gekommen. Dein
Stil ist noch nie so durchweg solid gewesen, so gezügelt bei aller
Gelenkigkeit. Am deutlichsten kann man das daran merken, daß die
Citate vom alten Herrn Maries und besonders von Fiedler nicht aus
der Karre rutschen. Überhaupt: wie Du das Verhältnis des Hans zu
seinen Freunden und Blutsverwandten dargestellt hast, das ist in jeder
Hinsicht ein Beweis dafür, daß Stil- und Taktgefühl sich decken (Ie
style e’est 1 'homme). Ich kann mir denken, was für Skrupel Du
gerade bei Fiedler hast durchmachen müssen. Ich weiß sogar, daß er
noch weniger Ahnung, als Du ihm zugestehst, von Maries hatte, ja
*35
Richard Dehmcl, Briefe
von der Malerei schlechtweg — (noch viel weniger z. B., als Du von
der Dichterei, mein Teurer!). Er begriff' in der Kunst nur das Kon¬
struktive, nicht das Strukturelle; das ideell Harmonische, nicht das spiri¬
tuell Organische. Noch 6 Jahre nach Maries Tod (1893, als ich
das erste Mal aus Italien kam und Fiedler in München besuchte) wußte
er z. B. an dem „Drachentöter“ nichts weiter zu rühmen, als daß
„seit Cranach keiner verstanden habe, ein solches Rot richtig hinzu¬
setzen* 1 (wörtlich so!). Ich habe das deshalb so genau behalten, weil
mir an dem specifischen Maries-Kenner, für den er damals doch galt,
unbegreiflich war, wie man Cranachs rote Theatermäntel mit diesem
Zaubermantel vergleichen könne. Und das tat er nicht etwa aus Re¬
serviertheit (entschuldige das scheußliche Mischwort) — denn ich kam
mit Empfehlungen von Hildebrand und Volkmann, und er gab mir
nachher eine große Maries-Mappe und eine von seinen Schriften mit.
Wenn er trotzdem in seinen Abhandlungen manchen allgemein wert¬
vollen Satz über das Wesen der Kunst formuliert hat, so ist das nur
ein Beleg dafür, daß man ein schlechter Praktiker und doch ein guter
Theoretiker sein kann, in der Ästhetik wie allenthalben; er war eben
ein vernünftiger Kerl, und die Logik im Kunstwerk ist schließlich
dieselbe wie bei jeder andern geistigen Arbeit (bloß daß sie sich am
konkreten Einzelfall schwerer feststellen läßt als in abstracto). Bei
Dir liegt die Sache umgekehrt; Du hast von Hause aus weit mehr
praktischen als theoretischen Kunstverstand (daher auch mehr Verständ¬
nis für die bildenden als für die sogenannten redenden Künste) —
und doch stimmst Du in allen kritischen Dogmen (Wertregeln, Ma߬
stäben) mit den abstraktesten Idealisten überein. Was natürlich nur
ein gutes Zeichen für Deine konkrete Intuition ist. Und weißt Du,
was mir den größten Effekt an Deiner ganzen Arbeit gemacht hat,
in ästhetischer wie biographischer Hinsicht: daß man vollkommen
ausgesöbnt wird mit der späten Anerkennung des Helden. Ich habe
mir sogar gesagt: Eigentlich ist es ein wahrer Segen, daß man nicht
schon bei Lebzeiten mit solcher Ehrfurcht gewürdigt wird. Man ver¬
löre sonst — nicht etwa die Selbstkritik, sondern im Gegenteil (Du
wirst mich nicht mißverstehen) die naive Selbstanbetung, das dämo¬
nische Glück der einsamen Andacht vor dem Gott in unsrer Brust;
und daraus wächst doch wohl alles vorbildlich Menschliche. Also mit
einem untragischen Weihnachtsgruß und Geburtstagsdank.
Dein alter
R. und D.
Richard Dehmel, Briefe
\\6
An Franz Servaes
Lieber Servaes! Blankenese b. Hamburg 13. iz. 11
Du brauchst Dich gar nicht zu entschuldigen; ich bin bei Dir
immerhin besser weggekommen als bei den meisten andern Kritikern.
Aber was seid Ihr Herrn Ästhetikusse doch Ihr superkluge Tiftelfritzen!
Kein Wunder, daß Ihr dann den Dichter hinter derselben Türe sucht
und gar so wenig Naivität bei ihm findet. Du hattest bloß sehen
sollen, wie ich losgelacht habe, als ich Deine sinnige Glosse über
den schwarzblauen Block las. Nein, mein Lieber, die blaue Brille
habe ich dem schwarzen Karl lediglich deshalb aufgesetzt, damit man
ihn bei dem Maskenfest von den übrigen Bergknappen gleich unter¬
scheiden kann. Und ähnlich steht’s mit dem andern allegorischen Un¬
sinn, den Ihr mir gütigst wieder einmal unterlegt. Die Lise Lied zum
Beispiel, die das Volkslied „symbolisieren“ soll, bloß weil sie den wohl¬
klingenden Spitznamen hat und ein paar einfache Lieder singt — ja
zum Teufel, was soll denn ein hergelaufenes Zigeunermädel sonst
singen als Volkslieder? — Wenn Ihr ahntet, wie wenig das ganze Alle¬
gorische und Idealische von Belang ist, nicht bloß in meiner Komö¬
die, sondern überhaupt im Leben! Was im „Michel Michael“ alle¬
gorisch aussieht, ist doch nichts als Begleiterscheinung des durchaus
realen Maskenfestes; auch im wirklichen Leben hat ja jede Maske et¬
was Allegorisches. Und daß dieser Mummenschanz in Michels Traum
deutungsvolle Hyperdimensionen annimmt, das ist gleichfalls bei jedem
wirklichen Traum so; nur tritt es im kompakten Drama mit der typi¬
schen Steigerung auf, die in der Kunst allenthalben vonnöten ist, wenn
sie nicht in der psychologischen Detailkrämerei des Naturalismus ver¬
kümmern will. All dies Traumhafte dient doch aber nur dazu, den
wirklichen Lebenskampf in Michels Seele wahrnehmbarer auszugestalten,
aus seiner unklaren Triebhaftigkeit zu klarer Handlung hinzuführen;
wenn man diesen Kunstbegriff, instinktive Impulse und visionäre Motive
des Helden sichtbar zu machen, symbolistisch nennen will, dann sind
auch Kleist und Shakespeare Symbolisten gewesen, von Goethe und
Calderon gamicht zu reden. Wer meine Komödie in der Tat mit
naiven Blicken betrachtet, der muß doch schon aus den Prologen
merken, daß ich auf alle Idealfexerei hier pfeife. Und auch inner¬
halb der Handlung: über mein angebliches Gartenstadt-Ideal macht
sich doch Eulenspiegel zur Genüge lustig, und die Lise desgleichen.
Was gehn euch überhaupt meine Ideale an? Ich bin kein Prediger,
sondern ein Dichter! Ich benutze die Glaubensmeinungen der Zeit-
Richard Dehme/, Briefe 157
genossen stets nur als Mittel zu zeitlosen Darstellungszwecken. Hier
habe ich die Glücksjägerei eines gewissen Michel Michael dargestellt,
d. i. eines tatenlustigen Kerls aus dem Volk, der trotz aller Enttäuschungen
durch die Gegenwart, eben weil er ein mutiger Kerl ist, immer zu¬
kunftsfreudig bleiben wird. Daß er über sein famoses Neuland-Projekt
später einmal ganz anders denken und dann wieder ein neues
Luftschloß bauen wird, das scheint mir nach dem Präcedenzfall mit
seinem nicht minder famosen Stadt-Projekt ziemlich sicher. Wenn
wirklich irgend eine Moral aus dieser Komödie gezogen werden darf,
dann ist es höchstens (wie bei jeder Komödie) eine negative: von
der Eitelkeit und Nichtigkeit aller Volksbeglückerei. Die hat aller¬
dings eine positive Kehrseite: nur Selbstbeglückung ist wirkliches Glück.
Aber das wird nirgends nach Idealistenmanier gepredigt, sondern steckt
ganz und gar in der Handlung; schließlich läßt sich ja jeder natür¬
liche Konflikt in eine moralische Antithese übersetzen. Der Gang der
Handlung führt hier eben zu dem Ergebnis, daß ein Mensch auf der
Suche nach äußerem Glück durch allerlei unausbleibliche Quertrei¬
bereien zu seinem inneren Glück zurückfindet, daß er sich unter dem
feindlichen Eindruck des widerspruchsvollen Kulturrummels auf sein
Urnatürlichstes besinnt, auf die unbeirrbare Stimme seiner Liebeskraft
und Schaffenslust. Das ist der einfache rote Faden meines angeblich
schwarzblau verzwickten Possenspiels. Und daß ihn Leute, die einfach
aufpassen, ohne Mühe finden können und ihr rein menschliches Ver¬
gnügen dran haben, das hat der nicht bloß stürmische, sondern ge¬
radezu jubelnde Beifall bei der Hamburger Erstaufführung bewiesen.
Natürlich hat dann die kritische Camorra, die allmählich aus ihrem
Vehmrichterbund schon zur Totschlägerbande ausgewachsen ist, das
Publikum mit der tiefsinnigen Entdeckung kopfscheu gemacht, der
Beifall habe nicht dem Dramatiker, sondern dem „berühmten Lyriker“
gegolten. Merkwürdig ist bloß, daß ich als Lyriker von den Herren
Kritikern auch immer Hundsloden geerntet habe, und daß mir übrigens
auch das Publikum bei meinen lyrischen Vorträgen noch niemals sol¬
chen Beifall gespendet hat, noch nicht den zehnten Teil davon. Einst¬
weilen also erlaube ich mir, mich trotz euem wohlmeinenden War¬
nungen doch für einen bewährten Dramatiker zu halten, der sich
auch weiter bewähren wird. Ihr mögt immerhin sagen, daß ich nicht
fähig sei oder doch nicht vollkommen fähig, euern „innersten Herz¬
punkt erwärmend zu treffen“; das habt ihr mir ja nach jedem meiner
Bücher gesagt, bis ihr mit der Zeit dahingekommen seid, daß andre
i j 8 Leo Tolstoi, Tagebuch
Leute sich dran erwärmen. Ihr dürft auch bei jedem meiner künfti¬
gen Bücher mit vollstem Recht verkündigen, dafi mir „das Letzte und
Höchste noch nicht gelang"; das gelingt den Dichtern nämlich immer
erst, wenn sie bereits so lange tot sind, dafi sämtliche Herren Ästhe¬
tiker ihren innersten Herzpunkt an den Rockschöfien des „verewig¬
ten Meisters“ erwärmen können. Bis dahin aber hoffe ich euch noch
manchen „geschmacklosen“ Anlaß zu geben, dafi ihr eure taktvollen
Taschentücher gegen meine Bafitöne schwenken könnt.
Mit einem ganz bescheidenen Grufi Dein alter, noch immer zu junger
Dehmel
TAGEBUCH
von
LEO TOLSTOI
(Schluß)
iz. Juli 1903. Jassnaja Poljana.
Zwei Tage lang Herzanfalle. Jetzt, morgens, noch kein Anfall.
Nachts etwas sehr Wichtiges gedacht:
1. Uns verwirrt der Begriff 1 der Unendlichkeit des Raumes und der
Zeit. Das kommt daher, dafi wir unwirklichen, scheinbaren Erschei¬
nungen Wirklichkeit zuschreiben, den zeitlichen und räumlichen Er¬
scheinungen nämlich. Diese Erscheinungen stellen sich uns als unendlich
dar. ln Wirklichkeit aber existieren sie gar nicht und können daher
weder endlich noch unendlich sein. Wirklich existiert nur das Geistige,
und dieses ist nicht etwa unendlich, sondern es kann ihm kein
Attribut der Endlichkeit oder der Unendlichkeit beigelegt werden. Wir
sehen in unserem Leben die Erscheinungen in einer gewissen Reihen¬
folge — in Raum und Zeit — und denken uns diese Reihe über unser
Leben hinaus fortgesetzt. Hierin liegt eben der Irrtum. Der Irrtum
hegt darin, dafi wir unser Leben für etwas Vorübergehendes halten,
die Welt aber als das unveränderlich Dauernde, während in Wirk¬
lichkeit unser geistiges Leben unveränderlich ist, auf das die Begriffe
Endlichkeit und Unendlichkeit nicht passen. Die Welt aber mitsamt
der Bewegung ist nur eine vergängliche Erscheinung, die von unserer
Vorstellung abhängt.
Leo Tolstoi, Tagebuch
»39
2. In der Medizin gibt es zwei Irrtümer, die beide Extreme dar¬
stellen. Der eine ist die größtmögliche Verfeinerung der Untersuchungs¬
methoden, mikroskopische Untersuchungen, wo so leicht Fehler Vor¬
kommen können (Phagozyten usw.), der zweite die plumpe Vorstellung
des Organismus als eines Mechanismus, den man mechanisch oder
chemisch ausbessern könnte.
3. Es gibt unzugängliche, unangenehme, ungerechte, böse Menschen,
die aber doch hin und wieder sich zu Gott zurückfinden und dem Guten
und der Wahrheit zugetan sind. In solchen Zeiten kann man ihnen
alles verzeihen. Es gibt aber auch angenehme, gute Menschen, die
nie zur Erkenntnis der reinen Wahrheit und des Guten gelangen. Und
diese Menschen sind noch schwerer zugänglich. (Nicht gut, nicht
wahr.)
15. Juli.
Noch immer kann ich nicht schreiben. Die Gedanken sind nicht
klar, und ich habe keine Lust; indes klären sich unerwarteterweise
einige Gedanken zur Definition des Lebens. So dachte ich heute:
1. Es ist nicht richtig, Perioden des klaren und unklaren Bewußt¬
seins (Schlaf, Wahnsinn) der Zeit nach zu unterscheiden. Es gibt nur
ein außerzeitliches Wesen, das eben mein Ich ist. Meine Beschränkt¬
heit verdunkelt es mehr oder weniger, wie die Wolken oder die
Atmosphäre die Sonne verdunkeln, aber es ist immer dasselbe zeit¬
lose Bewußtsein.
z. Man sagt: nur das ist die wahre Unsterblichkeit, bei der meine
Persönlichkeit fortdauert. Aber meine Persönlichkeit ist auch das, was
mich quält, was mir von allem in der Welt am meisten verhaßt ist.
Auf ewig mit dieser Persönlichkeit verbunden zu sein, wäre eine
wirkliche Ahasverus-Qual.
1 6 . Juli 1903. J. P.
Der Magen ist noch immer in Unordnung. Mit dem Arbeiten will’s
nicht gehen.
Heute, im Bett, fiel mir etwas sehr Wichtiges ein:
1. Man kann nicht vorsätzlich einschlafen, wohl aber kann man
vorsätzlich erwachen. Man kann nicht vorsätzlich etwas liebgewinnen,
wohl aber kann man sich in einer leidenschaftlichen Aufwallung
zurück halten. Die Hauptsache ist, min kann nicht willkürlich ein¬
schlafen. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß nur das Leben, das
sich im Bewußtsein offenbart, das Unzerstörbare, einzig Reale ist;
alles übrige ist nur etwas, das dieses Leben verhüllt.
140 Leo Tolstoi, Tagebuch
i. Leben ist nur das, was sich im Bewußtsein vermittelst des Be¬
wußtseins offenbart. Dieses Leben ist zeit- und raumlos.
3. Ich sagte und dachte frGher, daß das Leben Bewußtsein sei.
Das ist falsch. Das Leben ist das, was durch das Bewußtsein offenbar
wird, und es ist immer und fiberall vorhanden, d. h. es ist außerzeit¬
lich und außerräumlich. Unser Irrtum besteht darin, daß wir das ffir
das Leben halten, was es verbirgt.
4. Die Liebe ist nicht das Urprinzip des Lebens. Die Liebe ist
eine Folge, keine Ursache. Die Ursache der Liebe ist das Erkennen
der eigenen Geistigkeit. Dieses Erkennen fordert Liebe und ruft Liebe
hervor.
17. Juli 1903. J. P.
Die Gesundheit ist gut.
Heute, im Bett, fiel mir ein:
1. Leben nennen wir zweierlei: a) unsere Erkenntnis des geistigen
Prinzips, wie es sich in der Welt offenbart, und b) die von uns in
Raum und Zeit erschaute Erscheinung dieses Prinzips. In Wirklichkeit
gibt es nur den einen Begriff* des Lebens als Offenbarung des von
uns erkannten geistigen Prinzips. Dieses allein ist wirklich; gäbe es
dieses nicht, so existierte überhaupt nichts. Aus diesem allein ent¬
springt alles, was wir wissen und was es auch sein mag, aus diesem
entspringt auch der zweite Begriff; nach welchem wir als das Leben
das bezeichnen, was wir nicht kennen und worüber wir nur nach
der Beobachtung an anderen Wesen urteilen.
Wenn jemand behauptete, daß es noch einen dritten Begriff des
Lebens gäbe, nämlich den, daß jenes das Leben sei, was sich in unserem
Bewußtsein widerspiegelt, jener Urgrund des Seins, auf welchen alles
zurfickzuffihren ist, so wäre dies ebenso unrichtig, wie die Auffassung,
daß die von uns beobachteten Erscheinungen das Leben sind. Das,
was allem zugrunde liegt, ist das, was wir Gott nennen, was wir
nicht erkennen und nicht erkennen können, ob wir gleich wissen,
daß es existiert. Die Erscheinungen in Raum und Zeit aber sind
ebenso unbegreiflich, wie Gott, wenn sie auch beobachtet werden
können. Das erste (Gott) kann nur erkannt, nicht beobachtet werden,
das zweite (die materielle Welt) kann nur beobachtet, nicht erkannt
werden.
Möchte ffir das Sammelwerk gern eine Erzählung schreiben; aber
ich kann nicht, es will nicht gehen.
Leo Tolstoi , Tagebuch
! 4 i
18. Juli 1903. J. P.
Auch dies im Bett gedacht:
1. Die Bewegung, der Begriff der Bewegung, ist nur möglich bei
der Erkenntnis von etwas Unbeweglichem — unserm geistigen Wesen.
2. Die Bewegung, von der wir Kenntnis haben, ist nur ein Wachs¬
tum, eine Erweiterung und überhaupt jede Art Veränderung der
Grenzen der Wesen. Gäbe es keine Veränderungen, so gäbe es auch
keine Bewegung.
21. Juli 1903. J. P.
Meine Gesundheit ist immer gleich gut, ich lebe noch immer rein
vegetativ. Versuchte ein Märchen zu schreiben, es ging nicht.
Heute, im Bett, fiel mir eine neue — nein, nicht neue, aber eine
andere Formulierung der Definition des Lebens ein:
1. Das unendliche, geistige, außerräumliche, außerzeitliche Wesen,
das heißt das, was wir als das Existierende (t6 Sv) kennen, das wir
aber nicht begreifen und dessen Eigenschaften wir nicht kennen, ist
das, was wir Gott nennen. Dieses Wesen erscheint uns in körperlicher
Form. Wir bezeichnen als Leben, als unser Leben unsere Erkenntnis
dieses Wesens. Wir nennen auch die von uns beobachteten Erschei¬
nungen dieses Wesens außerhalb von uns in Raum und Zeit Leben
und nennen die Erscheinungen dieses Wesens in Zeit und Raum, die
von andern beobachtet und uns mitgeteilt werden, unser Leben. Das
erste ist das wahre Leben, das zweite ist eine Erscheinung des Lebens.
2. Mir fiel ein, daß weder die Form der Betrachtungen, noch die
der Aufrufe, noch die der dichterischen Werke mein Verhältnis zur
Staatsgewalt vollkommen ausdrücken kann und daß eine neue Form
gefunden werden muß. Vielleicht suche ich sie schon.
3. Ich kann mir (und den andern) nicht oft genug wiederholen,
daß es dreierlei Bewegungsgründe des menschlichen Handelns gibt:
a) das Gefühl, das der Umgang des Menschen mit anderen Wesen
erregt, b) Nachahmung, Einfluß, Hypnose, und c) vernünftige Über¬
legung. Auf eine Million Handlungen, die durch die beiden ersten
Beweggründe veranlaßt werden, kommt immer nur eine Handlung, die
aus vernünftiger Überlegung stammt. Dieses Verhältnis hat auch hin¬
sichtlich der Handlungen des einzelnen Menschen statt, das heißt auf
eine Million Handlungen des einzelnen Menschen entfällt immer nur
eine, die auf vernünftige Überlegung zurückzuführen ist, während alle
übrigen durch die beiden erstgenannten Beweggründe veranlaßt werden.
Dasselbe gilt von Gruppen, Verbänden usw.
Leo Tolstoi, Tagebuch
141
Der Papst, seine Wahl und Seraphim. Wie illustriert dies doch die
Macht der Einflüsterung!
zy. Juli 1903. J. P.
Habe drei Märchen geschrieben. Sind noch schlecht, können aber
noch ordentlich werden.
Dachte dreierlei. Werde mich zu erinnern suchen.
1. Man wendet sich an den Zaren und rät ihm, dies und das zu
tun fürs allgemeine Wohl. Auch ich habe das getan. Man erwartet
Hilfe von ihm. Taten; und er selbst kann sich kaum halten. Es ist
geradeso, wie wenn man einen Menschen, der sich mit dem Aufgebot
seiner letzten Kräfte, mit Nägeln und Zähnen, an einen Ast klammert,
der über einen Abgrund hinaus hängt, bäte, einen Balken auf eine
Mauer heben zu helfen.
z. Alle Staatsfreunde begründen die Notwendigkeit des Staates damit,
daß sie sagen, kein Verband von Menschen, auch nicht einmal der
einzelne Mensch, könne ohne den Staat seine Ziele (wie sie es nennen)
erreichen. Das ist geradeso, wie wenn man sagen würde, daß das
seit Jahrhunderten zahme Haustier seine Ziele nicht anders erreichen
könne als indem es eingeschlossen und in Gefangenschaft lebe.
3. Gott wollte, wir sollten glücklich sein; darum pflanzte er das
Verlangen nach Glück in unsere Seele ein. Aber er wollte, daß alle
glücklich wären, nicht bloß einzelne Menschen. Und die Menschen
sind darum auch unglücklich, weil ihr Streben nicht auf das allge¬
meine Glück, sondern auf das Glück der eigenen Person gerichtet
ist Das höchste Glück der Menschen ist: geliebt zu werden, darum
ist dieser Wunsch auch in jedes Menschen Herz gelegt (verkehrt
drückt sich dies durch Eigenliebe und Eitelkeit aus). Doch um ge¬
liebt zu werden ist es wohl nötig, selbst zu lieben.
Heute, ij. Juli 1903. J. P.
Die Gesundheit ist gut. Ich erhole mich und — sonderbar! — fühle
zugleich die Annäherung des Todes. Habe das Märchen verbessert
Nicht gut Gestern und heute steht es mit der Gesundheit wieder
schlechter. Arme und Beine schmerzen, auch der Magen tut mir weh.
9. August 1903. J. P.
Die ganze Zeit her gesund. Habe in einem Tag „Vater und Tochter***
geschrieben. Nicht schlecht. Das Märchen beendigt
* „Vater und Tochter“, später „Und Sie sagen . . .“ betitelte Tolstoi
Leo Tolstoi, Tagebuch
1 43
Heute mufi ich etwas sehr Seltsames eintragen. Menschen» die man
nicht leiden kann, nenne man in Gedanken „Lieber“, „Armer“. Lieber A.,
lieber B., lieber Pobjedonoszew. Es ist dies Selbsteinflüsterung. Man
wendet die Aufmerksamkeit sofort und unwillkürlich auf jene Eigen¬
schaften hin, die in N. N. gut sind, und findet solche immer.
12. August 1903. J. P.
Gesundheit sehr gut. Hitze 32°. Gestern ein Gespräch mit Ljowa
und Nikitin. Ich setzte meine Weltanschauung auseinander. Aus diesem
Gespräch sind zwei Dinge einzuschreiben:
1. Die Wahrnehmung der Materie ist die Wahrnehmung verschie¬
dener Grenzen der Wesen.
z. Wenn ein Streit entbrennt über die Frage: Was ist die Grund¬
lage: die Materie oder das geistige Wesen? so kann die Antwort gar
nicht zweifelhaft sein. Die Kenntnis der Materie schöpfen wir aus
unserer Vorstellung, die auf Eindrücken beruht; von uns selbst, unserem
geistigen Wesen aber haben wir das allergewisseste Wissen.
20. August.
Erst heute habe ich die Märchen zu Ende gebracht, und nicht drei,
sondern nur zwei. Bin unzufrieden. Dafür ist aber „Und Sie sagen .. .“
nicht übel. Gesundheit immer gleich gut Heute fahre ich nach
Pirogowo.
Hatte manches einzuschreiben, habe es aber vergessen. •
1. Eine Kleinigkeit Hat man einen Namen vergessen und fragt
man einen andern darum, so wird dieser angesteckt und vergißt ihn
auch.
2. Lerne leben in der Zeit einer Umdrehung um dich selbst: „Ver¬
vollkommne dich!“ „Seid vollkommen wie euer himmlischer Vater“.
(Das übrige vergessen.)
2 7. August 1903. Jass. Polj. Nachts.
In Pirogowo gewesen. Serjoscha* besser als ich erwartet hatte.
Mich gefreut mit Mascha. Das dritte, weggelassene Märchen hinzugefügt.
Bin gesund, reite viel; gestern in Taptykowo gewesen.
anfänglich seine Erzählung „Nach dem Ball“ (s. Tolstoi, „Nachlaß“, Band I,
bei Eugen Diederichs, Jena, 191a).
* Tolstois Bruder Graf Sergej Tolstoi. D. H.
i 4 4
Leo Tolstoi, Tagebuch
Beständig über Nikolaj I. nachgesonnen. Muß beendigen, sonst
versperrt es andern Arbeiten den Weg.
Heute mit Tscherbak ausgeritten. Sprachen über die Freiheit des
Willens. Habe, wie mir scheint, genau definiert, was wir Freiheit des
Willens nennen:
i. Es gibt zwei Gebiete des menschlichen Lebens: das geistige und
das körperliche. In beiden hat die Freiheit nicht statt. In beiden
sind alle Handlungen und Erscheinungen Wirkungen von Ursachen,
die ihrerseits wieder Wirkungen von entfernteren Ursachen sind. Weder
in diesem noch in jenem Gebiet können die Handlungen oder die
Erscheinungen als frei, das heißt nicht bedingt von Ursachen, gelten.
Wenn demnach der Mensch sein Bewußtsein nicht aus dem körper¬
lichen Gebiet in das geistige zu übertragen vermöchte, wäre gar keine
Freiheit des Willens möglich. Da der Mensch aber sein Bewußtsein
aus dem körperlichen Gebiet in das geistige übertragen kann und
darin sogar das Wesen des menschlichen Lebens besteht, so ist der
Mensch frei. Seine Freiheit besteht eben in der Möglichkeit, sein Be¬
wußtsein aus dem körperlichen Gebiet in das geistige zu übertragen.
Der Mensch ist unfrei im körperlichen Gebiet, und er ist ebenso
unfrei im geistigen Gebiet. Aber die Unfreiheit im geistigen Gebiet
ist nicht peinvoll und schwer zu ertragen, sondern beglückend. Diese
Unfreiheit ist die Unterordnung des Menschen unter sein eigene:
Gesetz; die Unfreiheit im körperlichen Gebiet ist aber stets peinvol
und schwer zu ertragen.
Darum: je vollkommener ein Mensch sein Bewußtsein aus den
körperlichen Gebiet in das geistige übertragt, desto freier ist er.
Morgen ist der z8. August 1903. Jassn. Polj. Wenn ich lebe, werd
ich morgen 75 Jahre alt sein.
3. September 1903. ]. P.
Lebe, bin aber nicht gesund. Am 29. ritt ich aus, das Pferd ti
mir auf den Fuß, kam ein Gelbsuchtanfall, ich bin ganz übel dr
und kann das Bein nicht bewegen.
Der 28. war ein lästiger Tag. Die Gratulationen direkt lästig u
unangenehm-unaufrichtig: Gratulationen der russischen Erde und j<
erdenkliche Dummheit. Den Kitzel der Eitelkeit habe ich nicht >
spürt. Vielleicht ist auch nicht mehr viel zu kitzeln. Es ist Zeit
Gedacht sehr Wichtiges, aber nicht zu Ende gedacht. Ich kon
darauf nachher zurück und will jetzt einschreiben, was mir sonst
merkenswert erschien:
*45
Leo Tolstoi, Tagebuch
i. Oft verwechsle ich die Leute: die Töchter, einige Söhne,
Freunde, unangenehme Menschen, so daß also in meinem Bewußtsein
nicht Personen, sondern Sammelbegriffe, geistige Wesen, sind. So daß
ich mich nicht dann irre, wenn ich die eine Person für die andere
nehme, sondern dann, wenn ich jede als einzelnes Wesen nehme.
Unklar. Aber je nientends.
2. Über Literatur. Gespräche über Tschechow. Im Gespräch mit
Lasarewskij über Tschechow machte ich mir klar, daß er, wie Puschkin,
die Form vorwärtsgebracht hat. Das ist ein großes Verdienst. Inhalt
ist, wie bei Puschkin, keiner da.
6 . September 1903. J. P.
Seit dem Unfall fühle ich mich sehr schwach. Hier war Dobrol-
jubow, ein christlich lebender Mensch. Ich gewann ihn lieb.
Eine Menge Briefe, muß antworten. Einzuschreiben ist nichts.
8 . September.
Gesundheit besser. Geschrieben Briefe und über Gott und über das
ewige Leben.
Einzuschreiben:
1. Wer weiß nicht, wie ein Sinn den andern kontrolliert: ich sitze
hier und erblicke einen Kasten; ich rücke näher und der Kasten er¬
weist sich als ein Lampenglas und eine Wand; kreuzweise übereinander-
gelegte Finger fühlen zwei Kügelchen; der Spiegel; ich höre Schellen¬
geklingel und es sind Truthennen; ein übler Geruch scheint auf Unrat
hinzudeuten, aber es sind Eier usw. Gesicht, Gehör, Geruch, Getast,
Geschmack — alles täuscht, und man wird der Täuschung inne, so¬
bald man seine Lage verändert oder durch die Kontrolle eines anderen
Sinnes. Daraus folgt, daß alles, was wir wahrnehmen, als solches
ganz anders sein könnte, wenn unsere Lage eine andere wäre oder
ein neuer Sinn dazukäme. In diesem Leben korrigieren wir im Laufe
unseres Lebens die Sinnestäuschungen sehr bald. Ob nicht ein neues
Leben mit seiner Veränderung der Lage und Sinne eine Richtigstellung
aller Irrtümer dieses Lebens sein wird?
Überhaupt haben wir von allen Dingen, die wir kennen, ausge¬
nommen unser eigenes geistiges Ich, nie eine unmittelbare Kenntnis,
sondern bloß eine mittelbare, durch die Sinne. Die Eindrücke der
Sinne, angefangen vom niedrigsten, können fort und fort vervoll¬
kommnet werden; jedoch auch die vollkommensten Eindrücke können
IO
14 6
Leo Tolstoi, Tagebuch
nie ein vollkommenes Wissen vermitteln, und darum sind auch die
Sinne einer unendlichen Vervollkommnung fähig.
z. Der Umstand, daß wir die Dinge als das, was sie an und für
sich sind, nicht erkennen (ausgenommen unser eigenes geistiges Ich),
beweist noch nicht, daß außer uns nichts ist und daß wir von ihnen
Oberhaupt nichts wissen können. Die andern Wesen, die andern von
allem übrigen unterschiedenen Wesen, existieren gerade so gut wie
wir; unsere Berührung mit ihnen, unsere Empfindung sagt es uns und
sagt uns auch, daß sie dasselbe sind, was wir sind.
3. Erstaunlich ist der Mangel an Voraussicht der Menschen, wenn
wir aus Gier Dinge verzehren, die uns schädlich sind und obgleich
wir wissen, daß uns daraus Leiden entstehen werden; erstaunlich ist
der Mangel an Voraussicht, wenn wir unsre besten Güter vergeuden;
aber ebenso erstaunlich ist der Mangel an Voraussicht, der die Men¬
schen nicht an den Tod denken läßt, und die daher auch nicht an
das Leben denken.
zz. September 1903. J. P.
Schreibe seit einigen Tagen (seit mehr als einer Woche) ein Vor¬
wort über Shakespeare. Gesundheit gut Fuß heilt Wenig Gedanken.
Einzuschreiben sind drei Sachen. Gott sei Dank, ich bin innerlich
ruhig und nicht böse.
6 . Oktober 1903. J. P.
Gesundheit nicht fest und immer dieselbe Trägheit und Gedanken¬
armut Schreibe beständig an dem Vorwort zu Crospy.
Eingeschrieben ist nur das Folgende:
1. Alle unsere Vorstellungen und Kenntnisse setzen sich aus zwei
Elementen zusammen: aus dem Eindruck, den uns die Sinne vermitteln,
und aus dem, was wir erwarten und wie wir uns den Eindruck er¬
klären.
z. Je mehr eine Handlung durch die Verhältnisse einer größeren
Anzahl von Wesen bedingt ist und je mehr sie in Abhängigkeit ge¬
stellt ist zu einer entfernteren Zeit, desto sittlicher ist sie. Vollkommen
sittlich ist eine Handlung nur dann, wenn sie durch ein Verhältnis
zum Ganzen und zur unendlichen Zeit bedingt ist, oder wenn sie
unabhängig ist von aller Zeit, d. h. wenn sie im Namen Gottes ge¬
schieht
14. November 1903. J. P.
Fünf Wochen nicht eingeschrieben. Während dieser Zeit war ich
mit Shakespeare beschäftigt. Die Arbeit wuchs an Umfang und ist
Leo Tolstoi, Tagebuch 147
jetzt, wie mir scheint, beendet Geistiger Energie kann ich mich nicht
rühmen, doch ist mein seelischer Zustand gut
Vor etwa drei Tagen erkrankte ich mit einem heftigen Gallen¬
fieber. Ich dachte in Ruhe an den Tod; nur eine leise Ungeduld,
der Wunsch, nicht lange leiden zu müssen, regte sich. Dies war gewiß
nicht recht, denn die Leiden selbst können der ewigen Sache des
Lebens dienen. Verstand wohl, daß dies möglich sei, aber nicht mit
dem ganzen Wesen.
War in Pirogowo, mir scheint am j>. Das Wiedersehen mit dem
Bruder war ein freudiges. Sein Körper löst sich, wie der meinige,
auf, aber sein Geist wächst Bei ihm, der so einfach und wahrhaftig
ist, ist dies besonders erfreulich zu sehen. Als wir von seinem Kummer
und seiner Krankheit sprachen, sagte er: „Gott hat sich nach mir
umgesehn, wie die Bauern sagen.“
Im Büchlein ist eingetragen:
1. Wenn das Leben der Menschen unsittlich ist und ihre Be¬
ziehungen untereinander nicht auf Liebe begründet sind, sondern
auf Egoismus, machen alle technischen Verbesserungen, Vergröße¬
rungen der Macht des Menschen über die Natur: Dampf, Elek¬
trizität, Telegraph, alle Maschinen, Dynamite, Robulite den Ein¬
druck gefährlicher Spielzeuge, die man Kindern in die Hände ge¬
geben hat.
z. Selbst die gröbste Vorstellung von der Gottheit (vom Unend¬
lichen und von einem künftigen Leben), wie grob auch die Formen
seien, in welchen sie sich ausdrückt, stellt doch immer eine hohe
Stufe der Aufklärung dar, zu der die Menschheit gelangt ist. Ein
Mensch möge alle Wissenschaften durchstudiert haben, alle Sprachen
sprechen, er möge seine geistigen, logischen Fähigkeiten zur höchsten
Entwicklung gebracht haben — er steht, sofern er diese Stufe nicht
betreten hat, das heißt sofern er keine Vorstellung von Gott (vom Unend¬
lichen) und von einem künftigen Leben hat, das heißt sofern er sein Ver¬
hältnis zum Ganzen nicht festgestellt hat, dennoch tiefer als das Bauem-
weib, das an den heiligen Nikolaus, an die Mutter Gottes, an den Erlöser
und daran glaubt, daß ihre Seele durch alle Fegefeuer hindurchgehen,
ewige Höllenqualen erdulden oder im Himmelreich unaussprechliche
Seligkeit genießen werde. Dieses Weib ist aufgeklärter als jener, weil
sie doch eine Antwort auf die wichtigste Frage des Lebens hat: wozu
sie lebt und was sie erwartet. Jener aber, obgleich er die spitzfindig¬
sten Antworten auf die verwickeltsten Lebensfragen hat, hat doch
148 Leo Tolstoi , Tagebuch
keine Antwort auf die Hauptfrage eines jeden vernünftigen Menschen:
wozu er lebt und was ihn erwartet.
3. Gewöhnlich meint man, der Fortschritt sei ein vermehrtes Wissen
und ein vollkommeneres Leben. So ist es aber nicht. Der Fortschritt
besteht nur in der Aufhellung der Grundfragen des Lebens. Der Zu¬
gang zur Wahrheit ist dem Menschen immer offen. Es kann auch
nicht anders sein, weil die Seele des Menschen ein göttlicher Funken
und die Wahrheit selbst ist. Die Aufgabe besteht nur darin, diesen
Gottesfunken (die Wahrheit) von alldem zu befreien, was ihn ver¬
dunkelt. Nicht in der Vermehrung der Wahrheit besteht also der
Fortschritt, sondern in der Befreiung der Wahrheit von den sie ver¬
deckenden Hüllen. Die Wahrheit wird wie das Gold nicht durch
Vermehrung, sondern durch Auswaschung dessen gewonnen, was nicht
Gold ist.
4. Der Tod wäre eine furchtbare moralische Qual, wenn er den
Menschen im Vollbesitze all seiner Kräfte anträte. Alter und Krank¬
heit machen den Tod leicht. Sogar bei einem gewaltsamen Tode —
durch Wunden, durch Ersticken und dergleichen — tritt der Tod nicht
augenblicklich ein, sondern es bereiten ihn physische Leiden vor. Diese
Vorbereitung vollzieht sich bei einem gewaltsamen Tode nur schneller.
5. Der Mensch zeigt sich als aus zwei Wesen zusammengesetzt: aus
einem körperlichen, das immer schwächer wird und dem Tode an¬
heimfällt (Lao-Tse sagt sehr schön, daß das, was schwach und nach¬
giebig ist wie ein Kind, mächtig und voll Leben ist, das aber, was
stark und fest ist, dem Tode verfällt), so daß das körperliche Leben
des Menschen von der Geburt bis zum Tode den Weg der Selbst-
vemichtung geht. Aber es gibt noch ein anderes menschliches Leben
— das geistige Leben —, und dieses nimmt von der Minute, da es
geboren wird, bis zum Tode beständig zu. Wenn ein Mensch dieses
zweite Leben nicht kennt, ist er tiefunglücklich, er ist nur ein zum
Tode Verurteilter. Aber der Mensch muß nur das geistige Wesen in
sich erkennen und dann sieht er das Entgegengesetzte: nicht den be¬
ständigen Verfall, sondern ein beständiges Wachsen dessen, was er
sein Selbst nennt.
6 . Den Soldaten wird eingeprägt, in der Erfüllung ihrer Pflichten
zu sterben, und viele von ihnen gehorchen — sie sterben mit der
Waffe in der Hand. Warum ist es denn einem Christen, das heißt
einem Menschen, der im Gottdienen sein Leben sieht, unmöglich,
ebenfalls mit der Waffe in der Hand zu sterben, das heißt in Erfüllung.
Leo Tolstoi, Tagebuch
*4 9
seiner Pflichten? Das ist um so eher möglich, als das Tun eines Men¬
schen um so bedeutsamer und wichtiger wird, je älter er wird und
je näher er überhaupt dem Tode steht Daher auch stammt die
Pflicht der Achtung gegenüber dem Alter.
7. In meinem Büchlein ist eingeschrieben: „Der Körper ist ein
Organ des Verkehrs mit der Welt“ Inzwischen sage ich auch, daß
sowohl mein Körper als auch der anderer Wesen nur eine Grenze
meiner Gesondertheit von der Welt ist. Eine Grenze gehört doch
immer mit einem Teil zu dieser und mit dem andern Teil zu jener
Seite des Dinges, das sie trennt Mein Körper ist auch diese innere
Seite meiner Grenze. Er ist völlig so eingerichtet, um ein Organ
meines Verkehrs mit der Welt zu sein. (Nicht klar, nicht gut)
8. Ich weiß nur von einem einzigen sündlosen und größten Glück
der Welt, und dieses Glück ist die Liebe der Menschen — die Liebe,
die man dir entgegenbringt. Aber dieses Glück wird einem nicht zu¬
teil, wenn man es nur zu erlangen sucht Das einzige Mittel, es zu
erlangen, ist die Erfüllung des Gesetzes des Lebens, des göttlichen
Willens, die Vervollkommnung. Das größte Glück ist jenes „übrige“,
das euch von selbst zufallen wird, wenn ihr nach dem Reiche Gottes
wahrhaft strebet
9. Habe die Universitäts-Skizzen Gegidses gelesen. Der bedauerns¬
werte, aufrichtige junge Mensch sieht die Absurdität der Universitäts¬
wissenschaft und der ganzen gelehrten Literatur, sowie auch ihre gänz¬
liche Demoralisation vollkommen ein. Was soll man tim? fragt er. Wo
ist ein würdiges Ziel, dem man zustreben könnte? Und nachdem er schnell
entschieden hat, daß dieses Ziel jedenfalls nicht die Vervollkommnung
sein könne, untersucht er alle anderen Möglichkeiten, die ihn aber
alle nicht befriedigen. Gott verzeihe denen, die der jungen Generation
eingeflößt haben, daß eine äußere Tätigkeit zwar notwendig, die innere
Vervollkommnung aber überflüssig und sogar lächerlich und schädlich
sei. Der arme Junge wirft sich hin und her, ist stets bestrebt, ein
würdiges Ziel seines Strebens zu finden, und natürlich glaubt er es
endlich in der Liebe zu den Weibern zu entdecken, da er sich ein¬
bildet, die höchste Bestimmung des Menschen sei eben diese Liebe.
Da er ein geistiges Ziel nicht sieht, so scheint es ihm natürlich, daß
der unserer tierischen Natur eingepflanzte Trieb zur Fortpflanzung des
Geschlechts, der in einem mehr oder minder poetischen Gewand auf-
tritt, die höchste Bestimmung des Menschen sei. Ich habe Lust, einige
Worte bei dieser Gelegenheit drucken zu lassen.
i5o
Leo Tolstoi, Tagebuch
24. November 1903. J. P.
Immer noch bin ich mit dem Vorwort Ober Shakespeare und Garrison
beschäftigt. Fast beendigt. Gesundheit gut, aber geistig nicht beweglich.
Soeben etwas, wir mir scheint, sehr Wichtiges, gedacht, nämlich:
1. Wir wissen von zwei Leben in uns: von einem geistigen Leben,
das durch innere Erkenntnis erkannt wird, und von einem körper¬
lichen Leben, das durch äußere Beobachtung erkannt wird. Diejenigen
nun, die das geistige Leben für das Grundlegende halten (zu diesen
gehöre auch ich), sind geneigt, die Realität, Notwendigkeit und
Wichtigkeit des Studiums des körperlichen Lebens, das augenschein¬
lich zu keinem definitiven Resultat führen kann, zu verneinen. Ebenso
verneinen diejenigen, die nur das körperliche Leben gelten lassen wollen,
die Metaphysik, wie sie es nennen. Nun ist mir aber völlig klar
geworden, daß beide Parteien und beide Anschauungen unrecht haben
und daß beiden Richtungen Bedeutung zukommt, wenn sie sich nur
enthalten, einseitige Schlußfolgerungen zu ziehen. Die materialistische
Methode kann wertvolle Daten für die Erkenntnis der äußeren Welt
liefern, sie kann aber für die sittliche Lebensführung keine Direk¬
tiven geben, wie manche Materialisten geglaubt haben, zum Beispiel
die Darwinisten. Die metaphysische Methode hat es nur mit den
inneren Gesetzen des Lebens zu tun und stellt die Frage nach dem
Ziel des Lebens, — dieselbe Frage, die alle religiösen Wortführer auf¬
werfen und zu beantworten suchen; hingegen kann durch diese Methode
keinerlei Aufschluß über die Welt der Erscheinungen erlangt werden.
Jede dieser Methoden hat ihre Berechtigung und ihr bestimmtes Gebiet,
über das sie nicht hinausgreifen darf.
z. Die zwei Leben, welche der Mensch lebt, kann man graphisch
wie in Figur I oder in Figur II darstellen:
I. II.
Geburt V Tod Geburt Tod
Die punktierten Linien bedeuten das leibliche Leben: Geburt, das
Heranwachsen, das Altem und den Tod, das Zunichtewerden des
leiblichen Lebens; die schwarzen Linien aber, die sich zu beiden Seiten
hinziehen, bezeichnen das ewige, wahre, nicht sterbende, geistige, all¬
gemeine Leben.
Leo Tolstoi\ Tagebuch 151
Im Verlauf seines leiblichen Lebens berührt sich der Mensch früher
oder später mit dem ewigen Leben und überträgt in dasselbe sein
Ich. Dann erblickt er in seinem leiblichen Leben schon nicht mehr
sein Ich. Das leibliche Leben erscheint ihm als irreal nicht bloß
in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit. Sobald der
Mensch das wahre Leben erfaßt hat, wirft er das ihm unnütze leib¬
liche Leben von sich. Dieses leibliche Leben war die Stufe, von
welcher er sich zum wahren Leben erhob, und sie ist nun nicht
mehr nötig; das leibliche Leben ist nur die Leiter. Es ist zeitlich,
in ihm ist Vergangenheit und Zukunft, da es einen dem Menschen
erreichbaren Zielpunkt hat; das wahre, geistige, allgemeine Leben
aber, das durch die schwarzen auf beiden Seiten ins Unendliche
gehenden Linien dargestellt ist, hat kein dem Menschen erreichbares
Ziel und darum gibt es für dieses keine Zeit.
Das leibliche Leben vereinigt sich mit dem ewigen zuweilen un¬
bemerkt, manchmal ruckweise, manchmal früh, manchmal spät. Bei
mir geschah es ruckweise. Selige Zeit. Ich denke, diese Vereinigung
erlebt jeder Mensch ein Mal.
(Das ist alles. Ich habe es gesagt, wie ich konnte, aber ich weiß,
daß cs so ist.)
30. November 1903. J. P.
Das Vorwort beendet, nicht schlecht. Einige Briefe geschrieben.
Shakespeare noch immer nicht beendet, doch nähere ich mich dem
Ende. Die Gesundheit war während dieser ganzen Zeit sehr gut.
Einschreiben muß ich zwei Sachen:
1. Neulich, als ich zu Bette lag, begann ich wieder nachzudenken,
über das Leben und über Gott; da hörten der Sinn des Lebens und
Gott auf mir klar zu sein. Die Schrecken des Zweifels erfaßten
mich. Mir wurde sehr bang. Das Herz zog sich mir zusammen.
Doch nicht lange dauerte dies. Das Schrecklichste war mir, daß
man nicht beten kann, daß niemand das Gebet vernimmt, daß es
nichts Verpflichtendes gibt. Nicht Angst vor dem Tode war es,
sondern Angst vor der Sinnlosigkeit. Dies dauerte nicht lange.
Der erste Hoffnungsstrahl entzündete sich an dem, was immer allem
zugrunde liegt: von Dem ich ausgegangen bin, zu Dem kehre ich
wieder zurück. Dann ging mir wieder auf, was die Macht, die
mich ins Leben gesandt hat, von mir will, und mir wurde wieder
leicht ums Herz, die Zweifel schwanden. Es war eher eine physische
15 z Leo Tolstoi, Tagebuch
Umnachtung, während der man sich nur bewußt bleiben muß, daß
es eine physische ist, eine Art Schlaf, ein Schlaf der höheren geistigen
Vermögen. In solchen Augenblicken darf man nicht fragen, sondern
man muß nur warten, bis es vorüber ist.
(Den ganzen Prozeß des Zweifels und der Befreiung daraus schlecht
beschrieben, aber empfunden habe ich es sehr stark.)
z. Ich dachte früher, das Leben des Menschen bestehe in einer
immer umfassender werdenden Erweiterung der Grenzen. Aber dies
ist nicht richtig, kann nicht sein. Worin das Wesen des Lebens
besteht, dies zu wissen ist uns nicht gegeben. Das eine, was wir
wissen, ist, daß die Vervollkommnung des Menschen in der innigsten
Vereinigung mit dem ihm unerfaßbaren ewigen Leben besteht, in
einer immer innigeren Vereinigung seiner Lebenslinie mit diesen zwei
parallelen, unendlichen Linien, die ihn zu sich ziehen.
Ein ideales Leben müßte so sein:
Geburt und kein Tod
(Sinnlos, mir aber nötig.)
3. Vorgestern träumte mir, daß ich eine der Form nach komische,
aber rührende Erzählung dichtete, von einem Bauern, der sich aller¬
hand unverstandene Ausdrücke angeeignet hatte, mit denen er um
sich warf. Die Sache machte sich recht gut. Überhaupt war mein
Gehirn in dieser ganzen Nacht in sehr lebhafter Tätigkeit. Noch
drei andere Typen standen mir vor Augen: Der eine: Athlet, Riese,
zaghafter Mensch, jedoch Wutanfällen unterworfen, wobei er zum
Tier wird. Der andere: Schwätzer, Aufschneider, Poet, zarter Mensch,
minutenweise der Selbstaufopferung fähig. Der dritte: Egoist, aber
ein prachtvoller, liebenswürdiger, begabter Mensch und Schürzenjäger.
Will jeden Tag, wenn auch nur ganz allmählich, an meinen Er¬
innerungen schreiben.
2. Dezember 1903. J. P.
Gesundheit mäßig. Noch immer arbeite ich am Shakespeare
herum, habe nun beschlossen, nicht mehr am Morgen daran zu ar¬
beiten und etwas anderes vorzunehmen: entweder ein Drama, oder
*53
Leo Tolstoi , Tagebuch
über Religion, oder ich beende den Coupon. Wenn die Stimmung
danach ist, abends Shakespeare oder die Erinnerungen schreiben. Zwei
Tage nicht eingeschrieben.
Es war etwas Gutes aufzuschreiben — hab es vergessen.
7. Dezember 1903. J. P.
Die letzten zwei Tage unpäßlich — Leber. Nichts getan, nur
Shakespeare durchgesehen.
Eine Menge Gäste: die Suchotins, Boulanger, Schosja, Serjoscha,
Natascha O. — Etwas sehr Gutes nicht eingeschrieben und vergessen.
Mit Schosja über die Duchoboren gestritten — nicht recht
19. Dezember 1903. J. P.
Bemühe mich zu tun, was ich kann. Die Gesundheit ist sehr
gut doch die geistige Tätigkeit noch immer schwach. Suche mich
darein zu finden und teils gelingt es auch. Habe aufgehört, mich
mit Shakespeare zu beschäftigen und angefangen über die Bedeutung
der Religion. Habe aber zwei Anfänge geschrieben, und beide sind
nicht gut. Ein wenig an den Erinnerungen geschrieben, aber leider
nicht fortgesetzt Keine Lust Den gefälschten Coupon überdacht
aber nicht weitergeschrieben.
Im Büchlein ist manches eingetragen:
1. Gelesen: Macdonald, über die Entwicklung des religiösen Gefühls
bei den Tieren, beim Schwamm sogar. Darüber an Tsch. # ) geschrieben.
Der Irrtum liegt darin, daß er die Illusion von einem Realen, die
wir haben, wenn wir in Raum und Zeit hinausblicken, für etwas
wirklich Reales hält, geradeso wie der einfache Mensch das Himmels¬
gewölbe für etwas Reales hält In Wirklichkeit sieht sich der
Mensch, der sich seines geistigen Wesens bewußt ist, immer inmitten
von Raum und Zeit und nimmt sich wahr als etwas, das sich selbst
bewegt und das alles um sich herum in Bewegung setzt. Die Be¬
wegung aber, die er wahmimmt, desgleichen die vielgestaltige Welt
der Dinge im Raum, sind nur die notwendigen Bedingungen seiner
Gesondertheit. Alles bewegt sich und erscheint als vielgestaltige
Welt nur darum, weil sich der Mensch als ein von allen anderen
Wesen gesondertes Wesen erkennt.
* Wladimir Tschertkow, Tolstois Freund, der damals in England in der
Verbannung lebte.
1 54
Leo Tolstoi , Tagebuch
Dem einzelhaften Menschen scheint es, daß er sich bewege und
daß die ganze Welt sich bewege; in Wirklichkeit bewegt sich aber
das, was der Mensch als sein innerstes Wesen erkennt, nicht; es
weiß sich vielmehr stets in der Mitte der Zeit und des Raumes,
zwischen Unbewußtem, halb Bewußtem und vollkommen Bewußtem,
und ist immer bestrebt, sich mit dem Bewußtsein anderer Sonder¬
wesen zu vereinigen. Dies wird erreicht durch die Lossagung von
den Leidenschaften, durch Selbstentäußerung, durch Liebe, durch
Umwandlung der Selbstliebe in Liebe zu den anderen. Und der
Zweck des Ganzen? Den wissen wir nicht und werden ihn nie
erfahren. Gott atmet in unseren Leben.
(Unsinn, und doch auch wieder nicht Unsinn.)
z. Ich vermag mich in einen schrecklichen Bosewicht zu versetzen,
nicht aber in einen dummen Menschen. Und doch sollte man es
können.
3. Wir sagen, nur der Mensch sei frei, die Tiere aber seien dem
Gebot der Notwendigkeit unterworfen. Das ist nicht richtig. Wir
glauben das nur, weil wir nur die letzten allgemeinen Resultate des
Tierlebens sehen, während uns der Kampf, den vielleicht alle durch¬
machen, entgeht und weil wir die Ausnahmen nicht kennen. Wenn
es Wesen gäbe, die sich zum Menschen verhielten, wie sich die
Menschen zum Tier verhalten, so würde es solchen Wesen scheinen,
daß die Menschen den Naturgesetzen streng unterworfen seien, daß
die Freiheit des Wählern ihnen nicht gegeben sei, und diese Wesen
würden keine Acht haben auf die seltenen Ausnahmen unter den
Menschen wie wir keine Acht haben auf die seltenen Ausnahmen
unter den Tieren.
4. Künstler, Dichter und Mathematiker oder überhaupt Gelehrter.
Der Dichter kann nicht die Sache des Gelehrten tun, weil er un¬
möglich nur das eine ins Auge fassen und das Allgemeine außer
acht lassen kann. Der Gelehrte kann die Sache des Dichters nicht
verrichten, weil er nur eines sieht und das Ganze nicht sehen
kann.
5. Es gibt Maschinen-Menschen, die ausgezeichnet arbeiten, wenn
man sie in Bewegung setzt, die aber von selbst nichts leisten können.
6 . Ein wahrhaft keusches Mädchen, welches seine ganze Kraft
einer mütterlichen Selbstaufopferung dem Dienste Gottes, der Menschen
weiht, ist das herrlichste und glückseligste menschliche Wesen.
(Tantchen T. A.)
Leo Tolstoi, Tagebuch
1 55
zo. Dezember 1903. J. P.
7. Jn jeder Religion finden sich drei Elemente:
a. Das Verhältnis des Menschen zu Gott und die moralischen
Folgerungen daraus.
b. Der entzückte Ausdruck dieser Wahrheiten — Pathos.
c. Erfindung, Lüge, bewußte und unbewußte.
Im Stoizismus fehlen die Elemente des Pathos und der Lüge,
daher ist der Stoizismus fast keine Religion.
Im Mormonentum ist alles Erfindung und Lüge, die beiden Elemente
des Pathos und der Moral sind entlehnt.
Im Mohammedanismus ist das vorherrschende Element Pathos. Es
enthält auch Lüge. Das moralische Element ist entlehnt
25. Dezember 1903. }. P.
Habe den Gefälschten Coupon zu schreiben an gefangen. Schreibe
sehr nachlässig, aber es interessiert mich durch die sich entwickelnde
neue Form; sehr sobre.
Einzuschreiben ist manches, — vergessen. An eins erinnere ich
mich, und zwar:
1. Ich versuche einzuschlafen und kann nicht, weil ich mich
immer frage: schlafe ich schon? Das heißt, ich bin mir meiner noch
bewußt. Bewußtsein ist eben Leben. Wenn ich im Sterben mir
meiner bewußt bliebe, konnte ich nie sterben.
29. Dezember 1903. J. P.
Die Gesundheit ist gut. Fröste. Schreibe seit zwei Tagen nicht
Sinne nach über Religion. Heute folgendes gedacht:
Die Menschen haben nie ohne alle Religion gelebt Wir, ein
kleiner Teil der Menschheit, die wir es auf uns nehmen, die Menschen
zu belehren, leben ohne Religion und denken, sie sei auch gar nicht
nötig. Daraus stammt alles Unheil der Menschen. Indessen sollte
es doch jedem klar sein, daß man ohne Religion nicht leben kann.
Man kann ohne sie nicht leben —
1. weil nur die Religion zwischen Gut und Böse unterscheidet;
daher kann der Mensch nur auf Grund der Religion wählen zwischen
Gutem und Bösem, — in den Augenblicken, wo seine Leidenschaften
schweigen;
2. weil der Mensch ohne die Religion nie wissen kann, ob das,
was er tut, gut oder böse ist;
Leo Tolstoi, Tagebuch
1 56
3. weil nur die Religion den Egoismus zerstört, nur religiöse
Motive den Menschen veranlassen, für andere zu leben;
4. weil nur die Religion die Todesfurcht bannt, nicht in der
Art, daß sich ein Mensch nun eher in Todesgefahr begibt oder daß
er sich selbst das Leben nimmt, sondern in der Art, daß er nun
geruhig den Tod erwarten kann;
5. weil nur die Religion dem Menschen den Sinn des Lebens
offenbart;
6 . weil nur die Religion Gleichheit unter den Menschen aufrichtet;
7. weil nur die Religion den Menschen von allem äußeren Zwang
befreit
Es wäre noch manches einzuschreiben, doch ist es zu spät, ich
gehe schlafen. Im Herzen ist mir wohl,
30. Dezember J. P. 1903,
Geritten. z° Kälte. Gesundheit gut aber keine Kraft zur Arbeit
Über mancherlei indessen nachgedacht.
Ich hätte Lust folgendes zu schreiben: 1. eine Volkserzählung von
dem Engel, der ein Kind getötet hat, z. von einem Muschik, der
nicht in die Kirche ging und 3. von einem Raskolnik im Gefängnis
und einem Revolutionär, 4. Ober meinen eigenen psychischen, sinn¬
losen, schwachen Zustand, 5. »Jesus, Sohn Gottes, du bist gekommen
um uns zu quälen".
Eingeschrieben:
1. Wenn du die Freude einer guten Handlung ganz empfinden
willst tue das Gute insgeheim, so daß nur deine eigene Seele, Gott,
davon weiß. Die gute Handlung wird dann nicht außer dir sein,
sondern inwendig in dir.
z. Dreierlei Motive bestimmen das Handeln des Menschen: ent¬
weder überläßt er sich dem Gefühl, oder er unterwirft sich der Ein¬
flüsterung, oder er gehorcht nur seiner eigenen Vernunft; das letztere
ist der höchste Grad von Besinnung, zu der ein Mensch gelangen
kann. Befreie dich zuerst vom Gefühl, dann von der Einflüsterung
und zuletzt von deiner eigenen Vernunft, unterwirf dich aber der
einen ewigen Vernunft — Gott.
(Berechtigte Übertragung von L. und D. Berndl)
TSCHECHEN UND DEUTSCHE
von
JOHANNES URZIDIL
I.
D er tschechoslowakische Staat ist seinen Schöpfern unter den Händen
gewachsen. Seine Keimzelle versprach vielfach ganz andere Ent¬
wicklungen, als heute infolge einer einzigartigen weltgeschichtlichen
Konjunktur das Staatswesen Masaryks nimmt. Vor mir liegt eine
Studie, „The future Bohemia“, die der gegenwärtige Präsident der Re¬
publik im Jahre 1917, als er noch mitten auf seiner Propaganda¬
odyssee in den Ententestaaten weilte, zur Information von Entente¬
politikern geschrieben und in der Londoner Revue „New Europa“
veröffentlicht hat. Der Grad der Selbständigkeit und die erhofften
Konturen des Staatskörpers kommen da noch sehr unvollkommen zum
Ausdruck. Sogar der Name Tschechoslowakei steht noch nicht fest.
Masaryk schlägt für den aus Böhmen, Mähren, Schlesien und der
Slowakei zu gründenden Staat den Gesamtnamen „Cechy“ (Böhmen)
vor. Über die Staatsform ist ebenfalls noch nichts Sicheres ausgesagt.
Masaryk erklärt, der neue Staat sei als Monarchie projektiert, obgleich
radikalere Politiker sich für eine Republik einsetzen . . Er steht heute
selbst an der Spitze der Republik. Den nationalen Minderheiten, vor
allem den Deutschen, ist in dieser Broschüre ebenso wie in dem später
vom Außenminister Benes der Friedenskonferenz vorgelegten Memoire
III Gleichberechtigung mit dem tschechischen Staatsvolk zugesichert.
Nur wer die Umsturztage 1918 selbst in Prag miterlebt hat, weiß,
wie unsicher und unklar es damals um die neue Selbständigkeit des
tschechischen Volkes stand, mit welcher Seelenangst die wenigen in¬
ländischen Führer, ohne Machtmittel, ohne Armee, bloß von der Au¬
torität des Befreiungswerkes getragen, die Fundamente des Gebäudes
legten, die jeden Augenblick wieder zerrüttet zu werden drohten.
Damals in den ersten Stunden gab es wenig vernünftige Deutsche in
Böhmen, die im Grunde die staatliche Selbständigkeit der Tschechen
nicht begrüßt hätten. Wenn die damaligen Machthaber sogleich den
richtigen Weg zu den Deutschen des Landes gefunden und ihnen wie
Gleiche den Gleichen die Hand geboten hätten, es wäre wohl nicht
erst zur Gründung der kurzlebigen unstäten deutschböhmischen Landes¬
regierung gekommen, es wäre die Wurzel des deutsch-tschechischen
Gegensatzes ausgetilgt worden, und heute gäbe es in nationaler Hinsicht
i 5 8
Johannes Urzädil , Tschechen und Deutsche
nur untergeordnete Probleme zu losen. Leider fehlte dem tschechi¬
schen Volke in dieser Schicksalsstunde der fiberragende Innenpolitiker.
Die vornehmsten Führer des Volkes befanden sich im Auslande. Die
in Prag anwesenden waren kleine Köpfe oder kurzsichtige Chauvinisten.
Was sie verdarben, hat bisher noch niemand mit Erfolg wieder gut
zu machen verstanden.
Der tschechische Staat wurde von außen nach innen gegründet.
Außenpolitik war darum und ist seine starke Seite. Sie hat die älteren
Traditionen und die größeren Persönlichkeiten für sich. Die Innen¬
politik fehlte dem Staat lange und fehlt ihm zum größeren Teil noch
heute. Sie ist im eigentlichen freilich auch das schwierigere Element.
Aber es ist klar, daß im allgemeinen, besonders aber in der Tschecho¬
slowakei, Außenpolitik ohne zielbewußte und konsolidierte Innen¬
politik nicht betrieben werden kann. Darum ist es die hervorragendste
Aufgabe der tschechischen Staatskunst, die Traditionen einer Innen¬
politik heranzubilden. Wenn der bisherige Minister des Äußeren BeneS
vor kurzem die Ministerpräsidentschaft seinem Amte hinzugefügt hat,
so ist darin ohne Zweifel die Erkenntnis dieser Diskrepanz zwischen
Außen- und Innenpolitik und wahrscheinlich auch der Wille zu ihrer
Beseitigung zu erblicken.
Zu den Hauptaufgaben der Staatengründer gehörte auch in diesem
Falle, ein staatsbewußtes Volk zu schaffen. Die Idee des tschechischen
Staatsrechtes war freilich nicht neu und von einem großen Teil der
Nation unter Führung KramaF in ihren historischen Voraussetzungen
schon zu Zeiten Österreichs eifrig verfochten worden. Ihre kotyledon-
ardgen Ansätze sind in dem Föderalismus des österreichtreuen Palacky
zu finden, und auch die ehemalige Politik KramaF kann mit Fug als
eine durchaus österreichische Politik bezeichnet werden. Aber diese
auf dem Begriff des historischen tschechischen Staatsrechtes fussende
Staatsidee hatte im Laufe der Jahrhunderte ihre positiven Wurzeln ver¬
loren, bestand zuletzt der Hauptsache nach in einer Negation Habsburgs
und Österreichs und konnte auch nicht angesichts der Wirtschafts¬
und nationalpolitischen Verhältnisse des Augenblicks mit Erfolg geltend
gemacht werden. Das, was die Tschechen in Paris forderten, wurde
ihnen gewährt nicht mit Rücksicht etwa auf ihre berechtigten An¬
sprüche, sondern mit Rücksicht auf die Notwendigkeiten der westlichen
Siegerpolitik. Der neue Staat entstand aus einer doppelten Negation,
Aus der inneren Negation des zentralistischen Österreich durch die
Tschechen und aus der äußeren Negation Deutschlands durch die
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 159
Westmächte. Daß die innere Negation Österreichs durch die Tschechen
zugleich mit einer Negation des Deutschtums in Österreich zusammen¬
ging, ist eine Sache für sich, die allerdings die Wirksamkeit der äußeren
Reichsdeutschland betreffenden Negation wesentlich stärkte. Da mm
aber Staaten nicht auf Negationen, sondern nur auf Positionen begründet
werden können, so war und ist es notwendig, allmählich ein neues
und wirkliches Staatsbewußtsein dem tschechischen Volke zu schaffen. Es
muß gesagt werden, daß in diesem Zusammenhang die Sendung Masaryks
ein wahres Heil für das tschechische Volk hätte bedeuten können und
noch bedeuten könnte, wenn sie vollkommen und richtig erfaßt worden
wäre. Denn Masaryk erkannte, daß es notwendig sei, in jene Epoche
zurückzugreifen, in der ein positiver Begriff des tschechischen
Staates und der tschechischen Mission noch bestanden hatte. Es mußte
dort angeknüpft werden, wo Johannes Hus und Comenius, wo Hav-
tiiek und Palacky, die Erwecker des tschechischen Volkes, aufgehört
hatten und wo es noch klar umrissene Konturen der tschechischen
Mission gab. Als diese Mission erkannte Masaryk die Humanität,
deren Begriff am deutlichsten Herder formuliert hat, der überhaupt
für die Entwicklung des tschechischen Geisteslebens von fundamentaler
Bedeutung war. So war es äußerst sinnvoll, daß der neue Präsident
der Republik seine erste Botschaft an das tschechische Volk im De¬
zember 1918 mit den Worten des Comenius, des „Lehrers der Nationen“,
eröffnete: „Auch ich hoffe zu Gott, daß nach Entschwinden der
Hasseswirbel, die durch unsere Sünden über unsere Häupter herauf-
geführt worden sind, die Regierung deiner Geschicke wieder in deine
Hände zurückkehrt, o tschechisches Volk.“
Was indessen unter diesem Begriff der Humanität zu verstehen war,
konnte nicht sogleich aus den Gefilden esoterischer Erkenntnis den
breiten Schichten des Volkes vermittelt werden und ist darum bis
heute unverstanden geblieben. Die einen sahen darin den traditionellen
Gegensatz gegen Rom; aber diese Auffassung mußte, abgesehen davon,
daß auch sie wieder negativ war, von der realpolitischen Gebundenheit
der böhmischen Länder an die erzkatholische Slowakei scheitern. An¬
dere wieder sahen, deutlicher und der Wahrheit näher, eine vermittelnde
Stellung des neuen Staates zwischen dem Osten und dem Westen, die
Austauschstelle zweier Kulturen, den Knotenpunkt des europäischen
Friedens durch Vereinigung der Gegensätze. Andere noch sahen einen
Wall gegen den durch die neuen Machtverhältnisse nach Nordwesten
hin vorgeschobenen Balkan; noch andere sprachen von einer höheren
iöo Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
Schweiz, Die meisten aber, die lautesten und erdölreichsten, wollten
von Humanität nichts hören und sahen in der Neugründung nichts
anderes, als die endliche Erfüllung des rein tschechischen National¬
staats. Die edle ideologische Auffassung Masaryks vom Staate als Er¬
füllung des Humanitätsideals vermochte sich die Realpolitik in keiner
Weise anzueignen. Die Masse des tschechischen Volkes sah und konnte
angesichts der innerpolitischen Hetzterminologien in diesem Staate
nichts anderes sehen als einen Nationalstaat, für die Tschechen vor
allem als Heimat geschaffen, für die übrigen Nationen aber bloß von
der Bedeutung einer Gaststätte. Von Anfang an erklärte man die
Slowaken als gleichberechtigt neben der tschechischen Staatsnation, aber
das lebhafteste Streben ging und geht darauf aus, beide Volksstämme
miteinander zu verschmelzen, was nicht mehr bedeuten würde, als daß
eben die gewandteren und zivilsierteren Tschechen die dauernde Herr¬
schaft über die weniger gebildeten primitiven Slowaken erhalten würden.
Diese Auffassung der These vom tschechischen Nationalstaat bildete und
musste für die übrigen Nationen den ersten und hauptsächlichsten
Stein des Anstoßes bilden. Die Friedensschlüsse, so hieß es ja, waren
im Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker geschlossen worden,
wo aber bliebe dieses Recht, wenn in einem Staate j 1 /, Millionen
deutscher und über einer Million magyarischer Bewohner der tsche¬
chischen und slowakischen Hauptnation unterworfen sein sollten? Die
tschechischen Interpreten des Selbstbestimmungsrechtes stellten zwar
eine These auf, nach welcher jede Nation zumindest in einem eigenem
Staate das Recht haben müsse, sich völlig unbehindert äuszuleben, daß
das deutsche Volk dieses Recht bereits in zwei Staaten für sich in
Anspruch nehme und daß infolgedessen zum Zwecke der Verwirk¬
lichung des tschechoslowakischen Selbstbestimmungsrechtes Bruchteile
des deutschen und magyarischen Volkes aus geographischen, wirtschaft¬
lichen und historischen Gründen das Opfer auf sich nehmen müßten,
im tschechoslowakischen Nationalstaat untergeordnet zu sein. Aber es
ist klar, daß diese Deutung des Selbstbestimmungsrechtes den nationalen
Minoritäten in der Tschechoslowakei keineswegs genügen konnte, und
daß sie in der (auch in der ersten Botschaft des Präsidenten zum
Ausdruck kommenden) Auffassung, als wären sie bloße „Kolonisten“,
keine befriedigende Formulierung ihrer verfassungsmäßigen Stellung
erblicken konnten. Dies betraf vor allem die Deutschen, welche große
geschlossene Gebietskomplexe Böhmens seit Jahrhunderten bewohnen,
in die sie ehemals freiwillig von böhmischen Fürsten als Kulturbringer
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 161
gerufen worden waren. Es ist auch klar, daß sich bei der ausschließlich
tschechisch-nationalen Auffassung des Staates die Deutschen nicht ohne
weiteres auf den Boden der Republik stellen konnten, daß sie zu dem
fast eineinhalb Jahre lang das Land regierenden, ungewählten, rein
tschechischen und slowakischen Nationalkonvent die schärfste Oppo¬
sition einnehmen mußten, um so mehr, als durch eine systematische
Tschechisierungspraxis in Bürokatie, Wirtschaft und Schule den Grund¬
prinzipien Masaryks wenig Ehre angetan wurde. Es war auch
ziemlich naiv, einerseits zu verlangen, die Deutschen mögen sich
auf den Boden des Staates stellen, ihn anerkennen und ihn unter¬
stützen, andererseits aber stets darauf hinzuweisen, der Staat sei eine
rein tschechoslowakische Domäne, in welcher die übrigen Nationen
sich nur als Gäste zu betrachten und demgemäß bescheiden aufzu¬
treten hätten.
Sah man also in der Sendung des neuen Staatswesens vor allem
die Erfüllung des Minimums des tschechischen Nationalismus, während
er de facto sich als ausgesprochener Nationalitätenstaat präsentierte, so
mußte notwendig der Gegensatz zwischen den Tschechen und den
übrigen Nationen als erstes Gift den Staatskörper verheerend befallen.
l
Der Kampf gegen den österreichischen Zentralismus war bis
zum Zusammenbruch des Habsburgerstaates das oberste Schlagwort
aller tschechischen nationalistischen Parteien, die Aufrichtung eines
möglichst lückenlosen tschechischen Zentralismus war die erste
Sorge der Gründer des neuen tschechischen Staates, obgleich für jeden
deutlich sein mußte, daß dieser Staat seiner nationalen Zusammen¬
setzung; nach nur eine Verjüngung des alten österreichischen Nationen¬
konglomerats darstellte. Präsident Masaryk selbst hat in einer seiner
ersten Kundgebungen nach dem Umsturz zugestanden, daß man es
nicht mit einem „nationalem Gebilde“, sondern mit einem Nationali¬
tätenstaat zu tun habe, und der Abgeordnete Klofat, ein Mann, dessen
.nationaltschechisches Fühlen wohl niemand in Zweifel ziehen wird,
sprach sogar von einem Umbau der Republik zu einer „höheren"
Schweiz. Aber diese Ansätze zu einer demokratischen Regelung der
Verhältnisse verflogen im Sturmwind der neuauflebenden nationali¬
stischen „Hasseswirbel". Der neugebackene Zentralismus begegnete
jedoch einem immer lebhafteren Widerstand auch seitens slawischer
Bewohner der Republik . . . Mähren, das sich schon zu österreichischen
i6i Johannes Urzädil, Tschechen und Deutsche
Zeiten eines günstigen tschechisch-deutschen Ausgleichs erfreute, wurde
durch den Zentralismus in die antideutsche nationalistische Strömung
hi nein gerissen uud ist mit dem Verlust seiner Selbstverwaltung kaum
restlos zufrieden. Die Slowakei, überflutet von einer Heerschar schlecht
beratener tschechischer Bureaukraten, war dem Prager Regime bald recht
von Herzen abgeneigt und der Autonomismus schlägt in diesem Gebiet,
das sich sprachlich und kulturell sowie seinen Verwaltungstraditionen
nach wesentlich von den übrigen Ländern des Staates unterscheidet,
immer weitere Kreise. Karpathorußland, der von Ruthenen bewohnte
Korridor nach Osten, ist durch die Friedens vertrage ausdrücklich als
autonome Einheit im Rahmen des tschechischen Staates erklärt worden.
Aber der Prager Zentralismus suchte um diese Klausel herumzukommen
und interpretierte den Friedensvertrag ganz anders, als man es in
Karpathorußland wohl erwartet hatte. Von einer Autonomie haben
die Bewohner dieses Ländchens bisher noch nichts zu spüren be¬
kommen, ja nicht einmal die Wahlen getraute man sich dort durch¬
zuführen, da man antitschechische, magyarenfreundliche Resultate mit
Recht befürchtete. Dieser Standpunkt der Prager Regierung ist allere
dings begreiflich, wenn man bedenkt, daß eine Autonomie Karpatho-
rußlands, eines Gebietes mit 80 Prozent Analphabeten, unzweifelhaft
die Autonomieforderungen der Slowakei und der Deutschen stärken
würde. Wenn der tschechische Kampf gegen den alten österreichischen
Zentralismus ein Kampf um die Autonomie und das Staatsrecht der
historischen Länder der böhmischen Krone war, so durfte man nach
der revolutionären Durchsetzung dieses Rechtes diesen Kampf nicht
in unvorsichtiger Hast mit zentralistischen Resultaten krönen, indem
man die historisch längst einem anderen autonomen Ganzen, nämlich
Ungarn, zugehörende Slowakei auf das Prokrustesbett des Prager
Zentralismus spannte. Bei der Gründung des tschechoslowakischen
Staates kamen zwei Prinzipien in sehr widerspruchsvoller Weise zur
Anwendung: das historische Prinzip in Böhmen, Mähren und Schlesien
und das ethnographische Prinzip in der Slowakei. Wirtschaftliche
Regulative mußten herhalten, um die Unzulänglichkeiten der beiden
Prinzipien auszugleichen. Denn das historische Prinzip konnte nicht
auf die Slowakei, das ethnographische nicht auf die deutschen Gebiete
der böhmischen Krone angewendet werden, wenn man den tschechischen
Staat in seiner heutigen Form anstrebte. Es mußte daher die These
von der wirtschaftlichen Gebundenheit in beiden Fällen zu Hilfe
gerufen werden, eine These, die, was die Slowakei anbelangt, auf
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 163
recht ungleichen Füfien stand, denn das alte Ungarn bildete einen
vortrefflichen wirtschaftlich abgeschlossenen Komplex. Aber der Wider¬
spruch, auf Grund dessen das neue Staatswesen zusammengefügt wurde,
wird solange bestehen und den Staat bedrohen, solange der Prager
Zentralismus in seiner heutigen Form aufrecht erhalten bleibt. Dieser
Widerspruch kann nur dadurch aus der Welt geschafft werden, daß
man versucht, ihm gerecht zu werden, und der Slowakei, diesem
administrativ und wirtschaftlich anders gearteten Gebilde, jene Auto¬
nomie gibt, die Masaryk selbst im Pittsburger Abkommen diesem
Lande versprach, Karpathorußland aber jene Autonomie, die ihm auf
Grund der Friedensverträge zukommt. Geht man soweit, dann stürzt
natürlich die These vom zentralistischen tschechoslowakischen National¬
staat zusammen, die ja auch ohnehin konkret den Tatsachen nicht
entspricht, denn es gibt wohl eine tschechische und eine slowakische
Nation und Sprache, nicht aber eine „tschechoslowakische“.
Der Kampf um die Autonomie ist für die Slowakei und Karpatho¬
rußland ein wesentlich einfacheres Problem als für die Deutschen in
den sogenannten historischen Ländern. Die Stellung, welche diese
Deutschen dem Staate gegenüber einnehmen, ist bis heute nicht ein¬
deutig bestimmt. Die Schuld an dieser unklaren Einstellung der
Deutschen zum Staate tragen die Tschechen zum gleichen Teil wie
die Deutschen. Man kann wohl sagen, daß unter den vernünftig
denkenden deutschen Politikern keiner sein wird, der sich heute noch
in einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates als solchen ergeht.
Der Kampf der Deutschböhmen gilt im wesentlichen nicht dem Staate,
sondern dem System. Mit dem Staate würden sie sich abfinden,
ja man kann die Behauptung aufstellen, daß sie zu seinen nützlichsten
Bürgern gehören würden; mit dem seit dem Umsturz geübten
Regierungssystem können sie sich niemals einverstanden erklären.
Nichts wäre leichter gewesen, als die Deutschen für die Bejahung des
Staates zu gewinnen, eines Staates, zu dem sie wirtschaftlich gravitieren
und mit dessen anderssprachigen Bewohnern sie durch jahrhunderte¬
lange Wechselwirkungen verknüpft sind. Aber die Politik der bis¬
herigen Regierungen, die von Anfang an keine Deutschen, sondern
nur gemischtsprachige und „germanisierte“ Gebiete kennen wollte,
enthüllte nur zu deutlich die Absicht, diese vor vielen Jahrhunder¬
ten durch Deutsche besiedelten Landstriche allmählich dem Deutsch¬
tum zu entfremden. Es entbrannte ein nationaler Kampf, der zu
einem ganzen System einseitig tschechisch eingestellter Gesetze
164 Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
führte, unter denen das Verfassung!- das Sprachen- und das Kriegs
anleihegesetz die Deutschen wirtschaftlich und moralisch am härteste
treffen. Es ereigneten sich zahllose Übergriffe mutwilliger Soldatesks
die viele deutsche Menschenleben forderten. Es kam zu einer Diktatu
im Schulwesen, bei der die Deutschen um zahllose Bildungsanstaltei
verkürzt wurden. Der deutsche Handel wurde zurückgesetzt, ein«
rein tschechische Bureaukratie schaltet und waltet in rein deutscher
Gebieten. Es wäre eine Verfälschung des Gesamtbildes, wollte mar
diese seine historischen Voraussetzungen unaufgezählt lassen. Mar
kann kaum annehmen, daß die geradezu automatische Ablehnung
sämtlicher deutscher Anträge im Parlament seitens der tschechischen
Mehrheit rein sachlichen Gründen entspringt und auch wenn man
den Tschechen zugesteht, daß sie ein Recht dazu haben, den Deutsch¬
böhmen aus Gründen der Vorkriegs- und Kriegszeit böse zu sein,
so kann man doch nicht umhin, in dem Gehaben der tschechischen
Mehrheit zum großen Teil eine Revanchelust zu sehen, die mit
den realen Interessen ihres Staates, den sie so sehr zu lieben be¬
hauptet, keineswegs im Einklang steht. Das Verhältnis der Deutschen
zum Staate ist bis heute nicht völlig eindeutig, nicht etwa deshalb,
weil die Deutschen diesen Staat als ein Provisorium ansehen (dazu
sind weder sie unklug genug, noch würden es die Tschechen ver¬
dienen), sondern deshalb, weil die Tschechen den Fehler begehen, den
Staat mit dem System zu identifizieren, das die zentralistischen Re¬
gierungen bisher gegen die Deutschen in Anwendung brachten. Der
Staat aber müßte den Tschechen mehr sein als das System und die
Existenz des Staates mehr als die Erhaltung einer zweifelhaften Ge¬
waltherrschaft über das deutsche Viertel der Staatsbürger.
Einer der Hauptgründe für die Zähigkeit des tschechisch-deutschen
Kampfes liegt ohne Zweifel in der starken Vermischung beider
Nationen. Wären die Rassen reiner und ihre besondere Eigenart
weniger gefährdet, dann wäre freilich die Angst, von der anderen
Rasse gefressen zu werden, nicht so ausgeprägt. Es ist klar, daß
diese Angst bei den Tschechen lebhafter und mehr begründet ist als
bei den Deutschen. Deshalb war und ist der Deutschenhaß bei den
Tschechen immer stärker als umgekehrt die Abneigung der Deutschen
gegen die Tschechen. Man kann eine ganze Reihe tschechischer
Literaturdenkmäler ältesten Datums anführen, in denen von diesem
Deutschenhaß der Tschechen die Rede ist. Umgekehrt findet man
in der deutschen Literatur wenig, was in diesen Zusammenhang
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 165
gehören würde. Rechnet man hinzu, daß das tschechisch-deutsche
Problem nicht bloß ein nationales, sondern zum guten Teil ein soziales
Problem ist, daß der Deutsche als Vermittler höherer Kultur ins
Land kam und dadurch notwendig eine gewisse Überlegenheit den
tschechischen Einwohnern gegenüber behielt, so muß man zugestehen,
daß der gegen das Deutschtum gerichtete Haß der Tschechen tiefer
sitzt als in der Epidermis des letzten Jahrzehnts. Aber auch bei
diesem historischen Haß, der sich hauptsächlich auf die Zeit nach dem
Dreißigjährigen Krieg stützt, sind schwerwiegende Irrtümer am Werke.
Ferdinand verteilte nicht den Besitz des tschechischen Adels an den
deutschen, sondern den des protestantischen Adels, der größtenteils
tschechisch war, an den katholischen Adel, der größtenteils deutsch
war. Aus dem ursprünglich religiösen Gegensatz hat sich erst durch
Verschiebungen der Perspektive und durch Entwertung des religiösen
Moments in der modernen Zeit ein nationaler Gegensatz entwickelt. Auf
dem Altstätter Ring in Prag wurden im Jahre 1611 tschechische und deutsche
Herren ohne Unterschied wegen ihrer antihabsburgischen Gesinnung hinge¬
richtet, und Friedrich von der Pfalz, den die böhmischen Stände zum
König gewählt hatten, war ein deutscher Fürst. Der Kampf gegen die
Habsburger war damals keineswegs ein Kampf gegen das Deutschtum, wie
man heute gerne dem tschechischen Volke weismachen möchte. Es
war ein Kampf in erster Linie um die Stellung des böhmischen Adels
überhaupt der Macht der Habsburger gegenüber, der in zweiter Linie
erst durch den Gegensatz der katholischen und evangelischen Stande
verschärft wurde. Eine nationale Grundlage hatte dieser Kampf nicht.
Deshalb ist der Vorwand, die Deutschen hätten 16z 1 tschechisches
Land verschlungen, den man heute unter andern zur Beschlagnahme
deutscher Großgrundbesitze ins Treffen führt, völlig nichtig. Ich
ädere, um nicht parteiischer deutscher Quellen verdächdgt zu werden,
absichtlich, was der Tscheche Karl Kramaf in seinem deutschen 1896
im Verlage der Wiener „Zeit“ erschienenen Buche „Das böhmische
Staatsrecht“ über diese Frage sagt: „Der böhmische (nicht bloß der
„tschechische“) Adel rang nach der Macht und Bedeutung des späteren
polnischen Adels und wurde endlich nach verschiedenen Peripetien des
jahrelangen Kampfes in der Schlacht auf dem Weißen Berge vollständig
geschlagen, und man kann nicht einmal sagen, daß er sein Schicksal nicht
verdient hätte. Es waren unter den justifizierten Führern der Bewegung
edle Charaktere, welche Märtyrer einer tiefen religiösen Überzeugung
waren und welche wohl glaubten, für ihren Glauben und die Rechte
i 66 Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
der Stände den Kopf hinzugeben, aber die eigentlichen Führer der
Bewegung dachten weniger an die Freiheit des Gewissens als an die
Vorrechte und Privilegien des Adels. Es war nicht die Sache des
Volkes, welche unterlag; der Besiegte war der Adel, welcher das Volk
geknechtet, in Unfreiheit geworfen hatte und ruhig zusah, wie das
Bürgertum der Städte seine Macht und Bedeutung verlor, und welcher
nichts anderes wollte, als eine Oligarchie des Adels mit einem Schein¬
könig auf dem Thron.“ So beschreibt Kramaf die Katastrophe von
1 61 1 und man sieht aus seiner Beschreibung, um was es eigentlich
ging, welcher Entstellungen sich die heutigen nationalistisch frisierten
tschechischen Historien schuldig machen, die lehren, die Niederlage
von 1 61 1 sei eine von den Deutschen herbeigeführte Niederlage des
tschechischen Volkes gewesen, die erst durch den Umsturz von 1918
endgültig gesühnt worden sei. Wohl war diese Niederlage in ihren
Folgen nicht nur, wie Kramaf sagt, eine Niederlage des Adels, sondern
auch eine Niederlage des Volkes, aber diese Niederlage diente zunächst
nicht deutschen Interessen, sondern den Interessen der politischen und
religiösen Raison der Habsburger. Als Habsburger, nicht als Deutsche,
hatten die Habsburger den Sieg davongetragen. Allerdings haben sich
im weiteren Lauf der Geschichte die Deutschen den Sieg zunutze
gemacht, und so kam es, daß der Tscheche beide Prinzipien mitein¬
ander identifizierte, obgleich im Grunde das Verhältnis der Deutschen
Böhmens zum Hause Habsburg niemals ein sonderlich warmes war.
Aber die Deutschen begingen den Fehler, ihre Interessen dem Reiche
gegenüber von denen der Tschechen zu trennen, anstatt bei Wahrung
ihrer nationalen Rechte gemeinsam mit ihnen vorzugehen. Diese
Gemeinsamkeit, die sich noch im Jahre 1848 und auch bei einigen
späteren Anlässen äußerte, wurde ehedem nicht unnatürlich empfunden.
Die Tschechen, als die westlichsten Slawen, dem generalisierenden
Einfluß des Westens am meisten ausgesetzt, ihre Kultur größtenteils
aus deutschen Händen empfangend, mußten freilich eifersüchtig darüber
wachen, daß unter der Wirkung der ständigen Rassenvermischung
nicht der letzte Rest ihrer völkischen Eigenart verloren gehe; sie
waren auch darum auf die Erhaltung des unseligen tschechisch-deutschen
Gegensatzes bedacht. Aber auch Wien, dessen Zentralismus bei einem
tschechisch-deutschen Zusammengehen äußerst gefährdet schien, batte
ein Interesse an diesem Gegensatz, der den Triumph des böhmischen
Staatsrechtes und eine Dreiteilung oder gar Vierteilung der Monarchie
verhinderte. Mochte aber der tschechisch-deutsche Gegensatz für die
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 167
im Gefftge des Habsburgerreiches lebenden Tschechen von politischer
Bedeutung sein, so ist er heute, nach Schaffung eines tschechischen
Staates, ein bösartig fortwuchernder Anachronismus, der mit der Zeit
die beste Errungenschaft der Tschechen zu verschlingen droht.
Aus fälschen Identifikationen gehen die politischen Hauptsünden
hervor. Wie es falsch war, einen konfessionellen Konflikt mit einem
nationalen zu identifizieren, weil der konfessionelle Gegensatz sich zum
gröfiten Teil mit nationaler Verschiedenheit deckte, (wobei die Deut¬
schen gewiß nicht von dem Fehler freigesprochen werden sollen, den
Sieg des Katholizismus ungerechterweise für das Deutschtum ausgenützt
zu haben), so ist es heute falsch, den Staat mit dem tschechischen
Volk zu identifizieren. Es ist nicht nur seitens der Tschechen, sondern
auch seitens der Deutschen falsch. Seitens der Tschechen, weil sie
aus einem lebensfähigen Nationalitätenstaat, über dessen bunte Zusammen¬
setzung eben nicht hinwegzukommen ist, gewaltsamerweise einen
lebensunfähigen Nationalstaat machen. Seitens der Deutschen, weil
sie, indem sie die Tschechen mit dem Staate identifizieren, diesen von
selbst eine größere Rolle einräumen, als ihnen gebührt. Die Tschechen
sind nicht der Staat, und der Staat ist nicht eine tschechische Privat-
an gelegen heit: diese Erkenntnis müßten sich Deutsche wie Tschechen
stets vor Augen halten. Das Verhältnis der Deutschen zum Staate
würde dadurch positiver, das Verhältnis der Tschechen zu den Deut¬
schen und umgekehrt müßte reibungsloser werden. Allerdings haben
die Hauptarbeit hiebei die Tschechen zu leisten; denn sie sind es,
die sich des Staates in seinem vollen Umfang angemaßt haben, die
sich selbst unberechtigterweise mit dem Staate als Ganzem identifizieren.
Solange diese falsche Identifikation herrschen wird, solange wird sich
das Verhältnis der Deutschen zu diesem Staate niemals klären können;
denn es wäre unbillig, von ihnen zu verlangen, dem tschechischen
Staatsteil allein das zu gewähren, was sie gerechterweise nur dem Staate
als Ganzem gewähren können.
3
Um erfolgreich Politik machen zu können, müssen sich die Deutschen
im Moldaustaat zunächst darüber klar werden, welche Stellung sie im
Rahmen des Deutschtums als Gesamtbegriff überhaupt einnehmen und
welche Richtlinien aus dieser Stellung für ihre Politik hervorgehen.
Es sei ohne weiteres zugegeben, daß die Stellung der Deutschen in
der Tschechoslowakei eine der schwierigsten des Deutschtums Uber-
iö8 Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
faaupt ist und daß die Sendung der Sudetendeutschen eine der wich¬
tigsten Sendungen für die gesamtdeutsche Kultur und Politik bedeutet,
die ebensoviel Selbstüberwindung als Kraft erfordert. Um einen Be¬
griff von dieser Sendung zu erhalten, wäre es gut, wenn die Deut¬
schen in der Tschechoslowakei nach jenen Aufgaben zurückblicken
würden, die bereits Bismarck den Deutschen im alten Österreich in
der großen Konzeption seiner gesamtdeutschen Politik zuwies. Die
Gründe, aus denen Bismarck in seiner nationalen Einheitspolitik hin¬
sichtlich der Deutschen in Österreich inkonsequent war, sind die
Gründe, von denen bei Beantwortung dieser Fundamentalfrage aus¬
gegangen werden muß. Diese Deutschen außerhalb Deutschlands waren
Bismarck wichtiger als die Lückenlosigkeit der deutschen Einheit, und
sie sind unter anderem auch deshalb ein Opfer der gegenwärtigen
Katastrophe geworden, weil sie ihre von dem umsichtigen Kanzler
klar empfundene Mission nicht richtig erfaßt, ihre Aufgabe fälsch er¬
füllt hatten. Nach der Zertrümmerung Österreich-Ungarns und der
Schaffung eines reindeutschen Österreich, haben die österreichischen
Deutschen ihre Bedeutung für das Gesamtdeutschem in dem früheren
Sinne verloren: ihre Tendenz kann nur mehr sein, früher oder später
in dem deutschen Mutterstaate aufzugehen. Ihre Existenz als selb¬
ständiges Staatswesen hat für das Deutschtum keinen Sinn. Aber die
Last ihrer Sendung ist auf die Deutschen in der Tschechoslowakei
übergegangen. Wenn die Deutschen in der Tschechoslowakei — auch
in den schwierigsten Stunden ihrer nationalen Existenz — über die
Reichsgrenze schielen und den Anschluß an das Reich als Rettung
aus ihrer Lage erhoffen, so beweist dies, daß sie die Bedeutung ihrer
Aufgaben nicht erkannt haben. Die Deutschen außerhalb der Reichs¬
grenzen sind für das Deutschtum viel wichtiger als etwa ihre Zu¬
gehörigkeit zum Reiche. Sie sind auf einen Posten gestellt, auf welchem
zu kapitulieren sündhaft und verhängnisvoll wäre. Ihre Aufgabe ist
auch keineswegs eine Aufgabe des Kampfes, sondern eine Aufgabe
des Friedens. Sie hat eine ebenso starke kulturelle wie wirtschaftliche
Seite. Kulturell hätten die Deutschböhmen eine ausgesprochene Ver¬
mittlerrolle zwischen Deutschtum und Slawentum zu spielen. Sie
hätten nicht bloß, wie dies bisher geschah, deutsche Kulturgüter den
Slawen, sondern auch, wie dies bisher nicht geschah, slawische Kultur¬
güter den Deutschen zu übermitteln. Politisch und wirtschaftlich haben
sie eine Gewähr dafür zu bilden, daß ein Gegensatz zwischen den
Tschechen und Reichsdeutschland unmöglich werde. Wenn sie diesen
Johannes Vrzid.il Tschechen und Deutsche 16p
Gegensatz heraufbeschwören oder schüren wollen, handeln sie ihrer
Bestimmung zuwider, und es ist kaum anzunehmen, daß eine fern¬
sichtige deutsche Politik aus ihrem Verhalten Nutzen ziehen könnte.
Die Deutschen in der Tschechoslowakei sind eine kostbare Garantie.
Ebensosehr aber, wie darauf zu achten ist, daß sie ungeschmälert in
den Rechten ihrer Existenz erhalten bleiben, ebensosehr müssen sie
sich davor bewahren, ihre Aufgaben mißzuverstehen.
Es muß zugegeben werden, daß unter solchen Umständen die Lage
der Deutschen in der Tschechoslowakei ungewöhnlich schwer und
entsagungsvoll ist, daß sie sich gleichsam hingeopfert fühlen für
Zwecke, deren Genuss in vollem Umläng ihnen selbst versagt bleibt
und es ist psychologisch begreiflich, daß sie in Reaktion auf dieses
Gefühl immer wieder ihre Blicke nach dem deutschen Mutterreiche
hinwenden.
Es liegt darum auch ohne Zweifel im allerhöchsten Interesse der
Tschechen selbst, den Deutschböhmen die Erfüllung der oben ange¬
deuteten Aufgaben zu erleichtern. Denn ein als Folge falscher tsche¬
chischer Politik notwendig bei den Deutschen eintretendes Mißverstehen
ihrer Mission birgt für die Tschechen die Gefahren eines Pulverfasses.
Die Deutschböhmen im Rahmen des Moldaustaates sind nicht nur für
das Deutschtum, sie sind auch für die Tschechen selbst von hervor¬
ragender Wichtigkeit. Jeder Versuch, sie etwa zu entnationalisieren,
wäre immer auch gegen das Interesse der Tschechen selbst gerichtet;
abgesehen davon, daß eine konsequente Entnationalisierung bei einer
kompakten Masse von ) */, Millionen Menschen mit einem Hinterland
von 70 Millionen, die die gleiche Sprache sprechen, fast als unmöglich
bezeichnet werden kann und einen Kampf bis aufs Messer mit allen
seinen beiderseitigen Verirrungen zeitigen müßte, erfolgt jede Ent¬
nationalisierung immer nur äußerlich und schwächt im Grunde den
aggressiven Volksstamm. Ein Nationalitätenstaat ist auf die Dauer nur
denkbar, wenn er die Bedingungen des schweizerischen Zusammenlebens
von Nationen für sich modifiziert. Betrachten sich aber die Tschechen
als ausschließliche Staatsnation, dann nehmen sie die nicht unbeträcht¬
lichen Gefahren einer imperialistischen Ausbreitungstheorie auf sich,
für deren Erfolg nach den bisherigen Erfahrungen im Völkerleben
wenig Gutes prognostiziert werden kann. Es würde dann auch in diesem
Falle scheinen, daß Nationen nur insolange lernen, solange sie selbst
im gefährdeten Zustand sind, daß sie aber, einmal in Sicherheit, es
verschmähen, aus politischen Erkenntnissen praktischen Nutzen zu ziehen
170
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
und das Lernen wieder den Schwächeren oder momentan Geschwächten
überlassen. Kein vernünftiger Tscheche wird im Ernste daran denken,
das deutsche Volk in der Tschechoslowakei zu entnationalisieren, d. h.
das zu tun, was Masaryk einmal als „Barbarei des geistlosen Materia¬
lismus und politischen Mechanismus“ bezeichnet hat. Das Streben des
realpolitischen Tschechen muß sein, dem Staate durch eine definitive
Regelung des deutschen Problems die lang ersehnte Innenpolitik zu
geben. Die Schaffung dieser Innenpolitik — und dies bildet auch ihr
Haupterschwernis — ist freilich nicht bloß die Ausfüllung des durch
die Paravents der tschechischen Außenpolitik gebildeten leeren Innen¬
raums. Die Schaffung einer Innenpolitik wäre vielmehr gleichbedeutend
mit einem Umbau des Staates. Denn der Staat, in welchem das
deutsche Problem in befriedigendem Sinne gelöst wäre, wäre nicht
mehr der Staat, den die Herren von Versailles meinten. Es wäre viel¬
mehr der wirklich freie tschechisch-deutsch-slowakisch-magyarische
Staat, und als solcher stände er westlicher Politik allerdings nicht
zu Gebote.
Das Fundament der Politik der Deutschen in der Tschechoslowakei
muß in der Beantwortung der Frage liegen: Gehören wir unserer inneren
und äußeren Aufgabe gemäß natürlicherweise dem neuen Staatsgebilde
an der Moldau an oder nicht? Die Antwort darauf liegt nun keines¬
wegs in den Bestimmungen des Versailler Diktats, sondern in der ver¬
nünftigen Erwägung der eben angedeuteten Probleme. Auf Grund der
ganzen historischen Kontinuität, der eminenten wirtschaftlichen Wechsel¬
wirkung, der jahrhundertelangen kulturellen Beziehungen zu den
Tschechen und nicht zuletzt der Erkenntnis, daß der geistige Typus
des Deutschböhmen (um diesen Ausdruck für alle in der Tschecho¬
slowakei wohnenden Deutschen zu gebrauchen) sich von dem Typus
der übrigen Deutschen beträchtlich unterscheidet, auf Grund der Er¬
kenntnis der großen politischen Aufgaben, die das Deutschtum in der
Tschechoslowakei zu erfüllen hat, kann die Antwort nicht anders als
für das tschechische Staatswesen positiv ausfällen. Diese Art der Be¬
antwortung aber, und darüber müssen die Tschechen sich ein für alle¬
mal klar sein, schließt jeden Gedanken eines tschechischen National¬
staates, in welchem die Deutschen die Rolle von Kolonisten oder
Gästen zu spielen hätten, grundsätzlich aus. Diese Beantwortung bedeutet
das, was die Tschechen vom deutschen Volke in der Republik ver¬
langen: „sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen“; diese Beant¬
wortung erlaubt den gegenwärtigen Machthabern einen Säufzer der
Johannes UrzidilTschechen und Deutsche 171
Erleichterung, aber bei dieser Beantwortung, welche den Nationalitäten¬
staat statuiert, muß die Rolle der imperialistischen alltschechischen Ideo¬
logie auch endgültig ausgespielt sein oder von den Lenkern des Staates
als staatsfeindlich verdammt werden.
Erst nach dieser klaren Erkenntnis der Zugehörigkeit zur Moldau-
republtk kann die Frage nach den Zielen und der Art der Minder¬
heitspolitik aufgeworfen werden, die das deutsche Volk in der Tschecho¬
slowakei zu befolgen hat. Und eben, weil diese Frage bisher noch
nicht eindeutig beantwortet war, bezw. weil man nicht den Mut hatte,
sie zu beantworten, fehlt es der bisherigen deutschböhmischen Politik
an der notwendigen Eindeutigkeit. Ist aber diese Frage einmal in
dem angeführten Sinne beantwortet, dann tauchen zunächst tschechischer-
seits zwei Möglichkeiten auf: Entweder die Tschechen würdigen diese
Art der Beantwortung in ihrer vollen Tragweite und richten sich dar¬
nach ein, was früher oder später soviel wie eine Art Schweizerisierung
der Republik bedeuten würde, oder der chauvinistische Teil unter
ihnen behält Oberwasser, wertet den positiven Standpunkt der Deutschen
als Schwäche und sucht die Situation durch eine um so lebhaftere
Offensive gegen das Deutschtum in der Tschechoslowakei auszuschroten.
Über die erste Möglichkeit erübrigt sich jede kritische Betrachtung.
Sie erscheint vernünftigerweise als das Resultat des natürlich verlau¬
fenden Werdegangs der Dinge. Die zweite Möglichkeit, so wahnwitzig
sie für das Interesse der Tschechen selbst wäre, ist jedenfalls der
bloßen Erwägung wert, um so mehr, als auf tschechischer Seite sich
sicherlich Anhänger beider Theorien vorfinden werden. Gegen die
zweite Möglichkeit könnten die Deutschen zwei Arten des politischen
Kampfes anwenden. Die eine wäre die Kampfart etwa der Iren, die
andere wäre jene nationale Durchsetzungs- und Zersetzungspolitik, wie
sie am besten aus der politischen Geschichte der Tschechen in Öster¬
reich gelernt werden kann.
Die Politik der Tschechen in Österreich — so sehr sie im Zeichen
ständiger staatsrechtlicher Verwahrung stand — war doch eine bis in
die feinsten Details ausgebaute und tadellos funktionierende aktive
Realpolitik, besonders aber in den letzten Jahrzehnten, nach dem Auf¬
kommen der Jungtschechen. Die Taktik der tschechischen Minoritäten-
politik kann in vielfacher Hinsicht den Deutschen in der Tschecho¬
slowakei nur vorbildlich sein. Ihr bezeichnendstes Abbild findet man
in den Memoiren des Tschechen Kajzl, der als österreichischer Finanz¬
minister eine hervorragende Rolle spielte. Die Tschechen, auf der
I 7 1
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
einen Seite gegen Österreich völlig oppositiv, waren doch umsichtig ge
nug, die verhaßte deutsche Staatssprache sich in einer Weise anzu¬
eignen, die ihnen die Möglichkeit gab, in allen Staatsämtern mit Er¬
folg zu fungieren. Die tschechischen Hochschulen produzierten eine
derartige Masse von Absolventen mit deutschen Sprachkenntnissen,
daß binnen kürzester Frist alle Staatsämter von ihnen überfüllt waren.
In allen österreichischen Zentralbehörden und Ministerien saßen Tschechen,
bedeutende Portefeuilles, wie das der Finanzen, des Handels, der öffent¬
lichen Arbeiten des Ackerbaues u. a. waren abwechselnd in ihren
Händen. Von einer Ausschaltung, wie sie die Deutschen der Tschecho¬
slowakei, die in der zentralen Bureaukratie überhaupt nicht vertreten
sind, gegenwärtig beklagen, konnten die Tschechen im alten Österreich
nicht sprechen, da sie durch ihren eigenen Fleiß sich die Bahn zu
allen Ämtern freimachten. Der Umstand, daß nach dem Umsturz ein
geradezu unaufhaltsamer Rückstrom von tschechischer Bureaukratie aus
Wen und den österreichischen Ländern in die Tschechoslowakei er¬
folgte, so daß die Bureaukratie dieses neuen Staates die des alten
Österreich an Zahl unverhältnismäßig übertrifift, ist der beste Beweis
dafür, welche Stellung und welchen Einfluß auf die Staatsmaschinerie
die Tschechen in Österreich sich zu verschaffen wußten. Die Tschechen
also waren gleichzeitig gegen die Monarchie, beherrschten aber gleich¬
zeitig einen großen Teil ihrer Organisationsapparates. Diese Position
ermöglichte es ihnen, die denkbar erfolgreichste Politik zu treiben
und aus dem Umsturz den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Das
Hauptmittel zur Verwirklichung dieser Taktik lag in der Beherrschung
der deutschen Amtssprache.
Die Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei ist (nicht
historisch, aber de fäkto) mit der Situation der Tschechen im alten
Österreich vergleichbar, und im Falle die tschechische Mehrheit jene
Politik betreiben sollte, die der zweiten oben erwähnten Möglichkeit
entspricht, liegt nichts näher, als daß die deutsche Minderheit zur
Abwehr dieser Politik sich der gleichen Mittel bediene, wie die ehe¬
malige tschechische Minderheit in Österreich. Das erste Gebot zur
Ermöglichung solcher Taktik ist die absolute Erlernung der tschechi¬
schen Sprache durch die junge deutschböhmische Generation. Ja die
Lage der Deutschen ist in diesem Falle weit sicherer und besserer,
als die Lage der Tschechen, die sich nicht der natürlichen kulturellen
Rückendeckung von 70 Millionen Stammesgenossen erfreuen konnten.
Aber auch diese Art von Minderheitspolitik mußte bei den Deut-
Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche
*75
sehen der Tschechoslowakei keinen absoluten Kampf bedeuten. Es
wäre nicht ein Streben nach. Oberherrschaft Ober den tschechischen
Volksteil; es wäre lediglich ein Streben nach jenem Einfluß auf die
Verwaltung des Staates, der dem deutschen Viertel der Bevölkerung
von Rechts wegen voll gebührt und von niemandem abgesprochen werden
kann. Es würde weder ein Kampf gegen den Staat als solchen, noch
ein Kampf gegen das tschechische Volk, es wäre vielmehr nur der
Widerstand gegen das System und seine Repräsentanten, es wäre, wenn
wir schon die Bezeichnung „Kampf“ dafür verwenden wollen, geradezu
ein Kampf für den Staat und gegen die einseitige und katastrophale
Ausdeutung seines Begriffs.
Die Deutschböhmen sind keine Iren. Aber die Iren sind auch erst
Iren im heutigen Sinne geworden und es nicht von Anfang an ge¬
wesen. Vielleicht würden die Deutschböhmen nach einer ähnlichen
langwierigen Entwicklung auch ihren tschechischen Lloyd George
finden. Was aber würde bis dahin aus dem Staate werden? Weder
den Tschechen noch den Deutschen ist es im Ernste zuzutrauen, daß
sie diesen verderblichen Gang der Dinge begünstigen würden. Die
beiden Heerscharen, die sich hier schlagen würden, wären „eine große
Heerschar, die Selbstmord begeht“.
Mit der notwendigen Erkenntnis des natürlichen Verhältnisses der
Deutschen zum Staate ist es indessen noch nicht getan. Dieses Ver¬
hältnis bedarf seiner verfassungsmäßigen Basis, um fruchtbar werden
zu können. Diese Basis stellt sich der größte Teil des deutschen Volkes
als politische und Territorialautonomie vor und folgt dabei dem Bei¬
spiel der Slowaken und Karpathorussen, von denen die ersten ihren
eigenen Landtag in dem vom Professor Masaryk Unterzeichneten Pitts¬
burger Abkommen, die zweiten im Friedensvertrag garantiert haben.
Auch Präsident Masaryk hat sich in früheren Zeiten (so in seinem
Buche „Die tschechische Frage“) die Regelung des deutschböhmischen
Problemes als größtmögliche Autonomie im Sinne des selfgoveme-
ments gedacht. Karel Havliick Borovsky, der von den Tschechen ver¬
götterte Erwecker des Nationalbewußtseins im Jahre 1848, schreibt
über diese Frage: „Nationalität bedeutet bei uns Tschechen, daß dort,
wo unser Volk wohnt, auch tchechisches Regime sei, daß bei Gerichten,
Ämtern und öffentlichen Anlässen die Sprache des Volkes verwendet
werde und daß die tschechischen Ämter nicht bloß dem Volke gegen¬
über, sondern auch untereinander sich der Sprache des Volkes be¬
dienen. Das Gleiche versteht sich in Schulen, Kirchen, im bürger-
i74 Johannes Urzidil , Tschechen und Deutsche
liehen Leben und in der Literatur von selbst. Ebenso, wie wir unseren
Sprachinseln entsagen und sie jener Nation überlassen, von der sie um¬
schlossen sind, ebenso fordern wir auch, daß die anderen Nationen ihren
Minderheiten entsagen und daß die Nationen zum Zwecke der Landes¬
verwaltung sich gegenseitig auf anständige Weise arrondieren. Nach
diesem Prinzipe überlassen wir jene Gebiete Böhmens, in welchen die
Deutschen ununterbrochen geschlossen wohnen, der deutschen Ver¬
waltung. Nach diesem Prinzipe betrachten wir z. B. Prag als tsche¬
chische, Reichenberg als deutsche Stadt, obgleich in Prag auch Deut-
che und in Reichenberg auch Tschechen wohnen. Es versteht sich hierbei,
daß wir nicht so unduldsam sein wollen, den Deutschen in Prag für ihre
Bedürfnisse keine deutschen Schulen, Kirchen und allerlei Anstalten zu
belassen, oder sie zur Annahme amtlicher tschechischer Schriftstücke
zu zwingen. Wir wollen anständiges Verhalten und nachbarliche Liebe,
indem wir als Leitsatz die Worte aufstellen: Tue keinem anderen das,
was du selbst nicht erleiden möchtest.“ So also stellte sich das tschechisch¬
deutsche Verhältnis der radikale Nationaltscheche Havlicek vor, und
man muß gestehen, daß seine heutigen Nachfahren nicht eben auf
dem Wege sind, diesem Idealbild auch nur nahe zu kommen. Frei¬
lich ist die Frage der Minderheiten heute nicht mehr so primitiv lösbar,
wie sie dieser Vorkämpfer des Tschechentums formulierte. Geschlossene
deutsche Gebiete werden heute tschechischerseits einfach überhaupt nicht
anerkannt, und eine tschechische Minorität besteht heute nach Ansicht
Prags schon da, wo unter Tausenden Deutschen ein Dutzend Tschechen
wohnt Hinsichtlich der Duldsamkeit des in Übung begriffenen Sprachen¬
gesetzes müßte ein Mann von dem Rechtsbewußtsein Havliceks seinem
eigenen Volke gegenüber zweifellos erröten.
Ich weise auch darauf hin, was Karl Kramaf in seiner bereits er¬
wähnten Schrift „Das Böhmische Staatsrecht“ Uber das Problem des
Zentralismus und der Dezentralisation zu sagen weiß. Zunächst gibt
es keine glänzendere Desavouierung des auf die deutschböhmischen
Gebiete gelegentlich der Geltendmachung der tschechischen Ansprüche
in Versailles angewandten sogenannten „historischen Prinzips“ als das,
was Kramaf gleich im ersten Absatz des betreffenden Kapitels sagt.
Es heißt da: „Das Leben mit seiner ewig neuen Entwicklung, mit
seinen immer neuen höheren Formen geht oft über die historischen
Rechte der Länder und Völker hinweg und ohne gewaltsamen Rechts¬
bruch, einfach durch das neue Leben, werden sie alt, zu verblaßt, um
ihm noch frische Farben geben zu können.“
Johannes Urzidi/, Tschechen und Deutsche
*75
Wie wohltuend unterscheidet sich doch der um ein Vierteljahr¬
hundert jüngere Kramar von seinem heutigen Namensvetter (wofern
die Verwandtschaft nicht noch viel weitläufigerer Natur ist). Das von
KramaJr im Jahre 1897 Air die Tschechen aufgestellte Programm
könnten die heutigen Deutschböhmen mutatis mutandis ohne weiteres
übernehmen, wozu noch der angenehme Vorteil käme, daß die Durch¬
setzung dieses Programms in der demokratischen tschechoslowakischen
Republik ein Leichtes sein muß, während es in der Habsburger¬
monarchie immerhin auf Schwierigkeiten stieß.
Wie wir gehört haben, sind die bedeutendsten politischen Köpfe
der Tschechen, der toten und lebenden, für die Autonomie und
gegen den Zentralismus eingetreten. Nicht nur Air die Dezentralisation
in der staatsrechtlichen Form KramaF, die von Palacky vorempfunden
worden war, sondern sogar Air die politische Autonomie der einzel¬
nen Nationen innerhalb der einzelnen Länder.
Es wäre ein Fehler, wollte man die Forderung nach Autonomie
blindlings in vollem Umfang stellen und von ihrer Erfüllung alle Vor¬
teile erwarten, die sich einem Volke in einem Nationalitätenstaat bieten
können. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß eine schab¬
lonenhafte Schweizerisierung den wahren Verhältnissen keineswegs
entsprechen würde, daß vielmehr das schweizerische System notwendig
einer Modifikation unterzogen werden müßte, um auf den Moldau¬
staat anwendbar zu sein. Denn in der Schweiz leben drei Nationen
unter verhältnismäßig gleichartigen wirtschaftlichen und geographischen
Voraussetzungen, und ohne wesentliche kulturelle Niveauunterschiede.
In der Moldaurepublik leben Völker der verschiedensten kulturellen
und wirtschaftlichen Reife in durchaus heterogenen Gebieten, die
schon rein geographisch nach verschiedenen Weltgegenden gravitieren.
Während beispielsweise die volle Autonomie der wirtschaftlich nach
dem Donaubecken hinblickenden und kulturell durchaus östlich ge¬
arteten Slowakei auch auf Grund der historischen Verwaltungstraditionen
und der religiösen Einstellung ganz natürlich erscheint, wäre eine
wirtschaftliche Autonomie der Deutschböhmen, deren Wirtschaftsgebiet
durch das tschechische ergänzt wird, undenkbar. Schon in dieser
Frage würde sich also ein reicher Konfliktsstoff und ein schwer be¬
gründeter Einwand gegen eine Territorialautonomie ergeben. Die Lö¬
sung liegt im Falle der Deutschböhmen ohne Zweifel in der Mitte.
Der Komplex, auf dem sie mit Recht volle Autonomie beanspruchen
können, umfaßt alle kulturellen und Schulfragen, in demselben Sinne,
176
Johannes Urzidil\ Tschechen und Deutsche
wie Havlicek, Masaryk und selbst Kramaf dieses Problem aufgefaßt
haben. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht aber scheint ein
vernünftig gedämpfter Zentralismus mit weitgehenden Befugnissen der
Kommunen und untergeordneten Verwaltungskörper sowohl für die
Deutschen als auch für den Staat weit nützlicher zu sein als eine
Autonomie „um jeden Preis* 4 . Freilich müßte dieser Zentralismus der
böhmischen Länder, um fruchtbar zu sein, ganz anders aussehen, und
mit einer ganz anderen Administrative arbeiten, als dies heute der Fall
ist. In diesem Zentralismus müßten die Deutschen überall verhältnis¬
mäßig vertreten sein und volle Gleichberechtigung genießen. Ebenso
wie der Tscheche im deutschen Gebiet heute in seiner Sprache zu
seinem Rechte kommt, so müßte der Deutsche auch im tschechischen
Gebiete als voller Bürger anerkannt und nicht wie jetzt als Bürger
niederer Ordnung in der tschechischen „Staatssprache abgewiesen
werden. Das gleiche Verhältnis müßte im slowakischen Staatsteil
zwischen Slowaken und Magyaren herrschen. Es würde sich aus dieser
Praxis eine Modifizierung des ehemaligen österreichisch-ungarischen
Dualismus für den Moldaustaat ergeben, der unter einer Zentral¬
regierung den Verhältnissen am ehesten gerecht werden würde und
für beide Reichshälften kulturelle Autonomie, sprachliche Gleich¬
berechtigung, aber wirtschaftlichen und politischen Zentralismus mit
gerechter verhältnismäßiger Vertretung der Nationen statuieren würde.
Über die Wege, auf denen die Deutschen zu ihrem vollen Recht auch
im Rahmen dieses teilweisen Zentralismus gelangen können, ist bereits
gesprochen worden. Aus der dargestellten Struktur der inneren Politik,
die freilich gemäß der Devise Havliceks „Verträglichkeit und an¬
ständiges Verhalten 44 zur Voraussetzung haben muß, würde sich not¬
wendig auch eine feste Form der äußeren Politik ergeben; diese äußere
Politik dürfte keine Militärpolitik, sondern könnte keine andere sein
als die der Schweiz, eine Politik nämlich des Friedens und der Neu¬
tralität nach allen Seiten hin. Der innere Friede in der Tschecho¬
slowakei, dessen psychologische Vorbedingungen zu schaffen die vor¬
nehmste Aufgabe der Regierung sein muß, wird für diesen Staat
stets auch den äußeren Frieden bedeuten. Die Unzufriedenheit der
Nationen aber muß wohl oder übel ihre Reflexe auch auf die Außen¬
politik werfen. Denn nirgends sind so sehr, wie in Nationalitäten¬
staaten, die Bedingungen der inneren mit denen der äußeren Politik
verwachsen.
DER WUNDERTÄTIGE FINANZMAGUS
von
SAMUEL SAENGER
E s -wird den Vereinigten Staaten von Amerika nichts helfen: es
naht der Augenblick, wo sie an die Spitze des (von unseren
Renaissancekünstlern vorbereiteten) Sanierungsvereins für Europa treten
werden, sie mögen wollen oder nicht. Wie sie das Kriegsende be¬
stimmt haben, so werden sie den Friedensanfang bestimmen.
Erst wollten sie nicht. Sie glaubten, sie seien >frei c , sich aus dem
weltwirtschaftlichen und imperialistischen Verschlingungen der Alten mit
der Neuen Welt nach Belieben herauszuziehen und zu isolieren. Das
europäische Geschiebe und Geschacher stieß den Amerikaner ab; er
sah unseren alten Kontinent, trotz der staatlichen Neugeburt der ,ge-
schichtslosen c Völker, nach allen Richtungen mit riesigen Eiterherden
übersät, und zwar an ganz anderen Stellen, als wo ihm früher die
Irredentaherde gezeigt worden waren; und nun erinnerte er sich
wieder der Warnung des weisen Washington: no entangling alliances«
Der kleinamerikanische Standpunkt gewann zeitweilig die Oberhand,
besonders im mittleren und ferneren Westen, unter dem europafernen
und europafremden Kolonisten- und Farmervolk. Die Wucht jener
Verschlingungen aber, die sich in dem gewaltigen Zinsendienst für die
inneren, die Freiheitsanleihen, dem bis dahin kaum als möglich vor¬
gestellten Steuerdruck, den Fiebern der Inflation und Deflation, der
Industriekrisis, der Einfuhrschrumpfung, der Arbeitslosigkeit und den
seit 191 p gestundeten Zinsen für den Schuldenberg der Alliierten kraß
genug ausdrückten, fegte jene Naivitäten schnell wieder weg, nachdem
auch die Konferenz in Washington den Zusammenhang zwischen den
pazifischen und den europäischen Problemen aufgedeckt hatte. Daher
beginnt auch die öffentliche Meinung in Amerika, trotz der vorläufigen
Zurückhaltung der Amtsstellen, sich der Überzeugung zu erschließen,
daß an der wirtschaftlichen Neugeburt Europas die Union in eigenem
Interesse beteiligt sein müsse. Aber wie wird die Hilfe aussehen, die
wir von ihr erwarten dürfen? Sind ihre Finanzkräfte unerschöpflich,
und hängt das Maß der Hilfe nur vom ,guten‘ Willen ab? Ich habe,
um eine Antwort zu finden, die allerwichtigsten Angaben und Nach¬
weise zusammengestellt, die neben den großen Finanzzeitschriften des
englischen Sprachgebiets besonders der ausgezeichneten Studie von Max
12
178 Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus
Schippel (Amerikas Wirtschafts- und Finanzlage und die Wiederauf¬
richtung Europas; Stuttgart, bei F. Enke) entnommen sind.
1. Amerika ist durch den Krieg aus einem Schuldner- ein Gläubiger¬
staat geworden. Das wurde zunächst als außerordentliches GlQck für
den Staat als solchen, für das Volk als solches betrachtet. Wie bei
uns sah man zahllose Einzeluntemehmer und Einzeluntemehmungen,
die den europäischen Krieg belieferten und finanzierten, sich ungeheuer¬
lich bereichern, und während die Propaganda die Gemüter für den
Eintritt in den »heiligen* Krieg reif machte, taumelten die Massen-
millionen, trotz Lohn- und Preisaufblähung, in den »boom* der midas-
ohrigen Zustände. Die Ausfuhr überstieg, vom 1. Juli 1914 ab, die
Einfuhr um drei Milliarden jährlich, die amerikanischen, in Europäer¬
händen befindlichen Wertpapiere fluteten zurück, und der Goldvorrat
in der Union erreichte phantastische Ziffern. So waren von den Aktien
des Stahltrustes am 31.März 1914 1 Z85 636 oder 25,19 vom Hundert,
von den Vorzugsaktien 312311 oder 8,67 vom Hundert in ausländischen
Händen; am 31. Dezember 1918 waren die Prozentzahlen auf 9,52
und 3,88 vom Hundert, ein Jahr später auf 7,2 6 und 3,84 vom Hundert
gesunken. Der Goldvorrat erreichte im Juli 1919 mit 3095 Millionen
Dollar die Rekordhöhe; dann strömte, nach Aufhebung des Geldaus¬
fuhrverbots, etwas Gold wieder ab, doch zeigte das am 31. Juni 1921
abgeschlossene Finanzjahr eine Mehreinfuhr von 535 Millionen Dollar.
2. Das Glücksgefühl herrschte ungetrübt bis zum Eintritt in den
Krieg (am 6 . April 1917), an dem man sich erst in den letzten
sechs Monaten außer mit Munition, Kriegsgerät und Geldleihe auch
mit Menschenopfern beteiligte. Inzwischen hatte sich die überlieferte
Wirtschaftsart von Grund aus geändert: nach europäischem Vorbild,
nur unter viel, viel günstigeren allgemeinen Umständen. Der Zirku¬
lationsprozeß der Waren, die den normalen Wirtschaftsbedarf zu
decken pflegten, stockte; die Einfuhr aus Europa verkümmerte; und
während das Kapital und die Menschenmassen den Orten der Kriegs¬
geräteerzeugung und der Nahrungsmittelproduktion zuströmten, trat auf
der ganzen übrigen Linie des Warenmarktes Knappheit der Belieferung
und Preistreiberei ein. Da die Bundesregierung, unsre Wege des un¬
gedeckten Papiergeldschwindels nicht beschreitend, durch ihre Federal
Reserve Bank-Politik den Zinsfuß dauernd ,widematürlich* niedrig
hielt, um die Mammuthsummen der festverzinslichen Weltbefreiungs¬
anleihe vorteilhaft auflegen und unter die Patrioten bringen zu können,
so hatten die Privatbanken die ungeheuren Kreditansprüche des fast
Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus 179
ausschließlich für den Kriegsbedarf arbeitenden Unternehmertums zu
befriedigen, der Kreditbedarf der Städte, Einzelstaaten und der nor¬
malen, dem zivilisierten Leben dienenden Produktionsbetriebe (des
Bauwesens; der Eisenbahnen, die völlig heruntergewirtschaftet wurden;
der sonstigen Anstalten von öffentlichem Nutzen) blieb unbefriedigt:
bis schließlich mit dem Kriegsende die Haussestimmung verflog, die
hinaufgepeitschte Preis- und Lohninflation — die also nicht, wie bei
uns, durch Notendruck, sondern durch beinahe unbegrenzte Privat-
kreditgewährung herbeigeführt war — zu schrumpfen begann und die
Banken auf den eingefrorenen, d. h. nur langsam und mit größter
Vorsicht einzutreibenden Forderungen festsaßen, ähnlich wie der Staat
auf seinen Forderungen an die Verbündeten festsaß. Daß man nicht
gleichzeitig dem Kriege, der Wertzerstörung, und dem Frieden, der
Werterneuerung und Wertvermehrung, dienen kann, zumal das Publi¬
kum an die fünfundzwanzig Milliarden Dollar für den Krieg her¬
zugeben hatte, gilt auch für Amerika.
3. Seit Eintritt der Union in den Krieg wurde der Kreditbedarf
der erschöpften Europäerländer durch Darlehen von Regierung zu Re¬
gierung befriedigt. Deren Gesamtschuld an Amerika beläuft sich auf
nicht weniger als elf Milliarden Dollar; die dafür fälligen aber
bisher gestundeten Zinsen betrugen, nach dem vom Schatzsekretär
Mellon dem Kongreß Mitte Dezember 1 1 unterbreiteten Rechenschafts¬
bericht, 1155502,181 Dollar, von welcher Summe Großbritannien
über 509 Millionen, Frankreich weit über 300 Millionen und Italien
über 200 Millionen Pfund zur Last fällen. Verzicht? Die vorjährige
Mission des Lord Chalmers zielte darauf ab, die Vereinigten Staaten
zur gegenseitigen Streichung der interalliierten Schulden zu bewegen;
der dem Vorschlag zugrunde liegende und besonders in England mit
Sympathie genährte Gedanke war: daß Menschenopfer Geldopfer wert
seien. Für England hatte der Gedanke an einem finanziellen Kalkül
seine Stütze. Die Geldanweisungen an die Alliierten zweiter und
dritter Würdigkeit lauten auf Englands Namen, da dieses als der
bei weitem zahlungsfähigste Schuldner galt; die Gesamtsumme, mit
der London Washington haftbar wurde, lief schließlich auf zwölf¬
hundert Millionen Pfund Sterling zusammen, während ihm von Rußland,
Serbien, Rumänien, Griechenland, Portugal und anderen Verbündeten
mit schwindsüchtigen Staatsfinanzen 1731 Millionen Pfund Sterling
geschuldet wurden. Natürlich wurde in Amerika, das den englischen
Vorschlag im Geiste der Billigkeit zu erörtern sich bereit fand, aber
180 Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus
schließlich wegen der ungemeinen Belastung der Staatsfinanzen und des
dadurch notwendigen außerordentlichen Steuerdruckes ablehnte: natür¬
lich wurde dort be- und vermerkt, Forderungen an faule Schuldner
— sagen wir z. B. Portugal, Rumänien — solchen an gute (England)
einfach gleichzusetzen, sei nicht statthaft. Für Kapital wie Zinsen
wurden daher nur die Fälligkeitsfristen immer wieder hinausgeschoben;
für eine grundsätzliche Regelung der Angelegenheit war die Zeit
noch nicht reif.
4. Die Belastung der amerikanischen Staatsfinanzen infolge des Krieges
ist also ungeheuer, wir dürfen das nicht vergessen. Vor dem Juli 1914
betrug die Staatsschuld noch kaum eine Milliarde Dollar, heute gegen
fünfundzwanzig Milliarden. Für den 31. März 19zI bezifferte Mellon
die fundierte Schuld auf über sechzehn Milliarden. Dazu kommen
Berge von allerhand Schatzscheinen und kurzfristigen Anleihen, die
nun in Daueranleihen zu verwandeln sind; innerhalb der nächsten
achtzehn Monate sind fast sieben Milliarden dafür reif. Die Tilgungs¬
quoten sind vorläufig, gegenüber solchen Lasten (allein die Verzinsung
der Kriegsschuld fordert fast eine Milliarde), nicht sehr beträchtlich.
Man hilft sich durch außerordentlich radikale Abstriche im Haushalt, mit
der Liquidation des Krieges wurden gleichzeitig die Verwaltungskosten
um etwa anderthalb Milliarden gegen das letzte Fiskaljahr herabge¬
mindert. Und Schritt um Schritt damit werden die Steuern, insbe¬
sondere die ungemein hohen direkten, herabgesetzt. Dieses Steuer¬
system, das 1917 eingeführt wurde, um der Zerstörung des Staats¬
haushaltes vorzubeugen, wurde vom Unternehmertum als kurzsichtig
und schädlich bloßgestellt; es habe, sagt z. B. Herr Otto Kahn, Mit¬
inhaber des New Yorker Bankhauses Kuhn, Lob und Cie., die Kapital¬
bildung unterbunden und die Kapitalbewegung gewaltsam abgelenkt;
darum fehlte Geld zum Bauen und für Hypotheken; darum würden
die Anleihen sonst blühender Städte nicht voll gezeichnet; darum ver¬
kaufte man amerikanische Freiheitsbonds mit ,traurigem c Kursabschlag.
Der Typus Kahn scheint nirgendwo begreifen zu können, daß kein
Kapital der Welt ausreicht, gleichzeitig gigantischer Wertzerstörung
und der normalen Mehrwerterzeugung zu dienen, und daß die Bundes¬
regierung schon recht tat, als sie einer Zerrüttung der Staatsfinanzen
durch derb zupackende Kriegsgewinnsteuer (exccss profit tax), durch
Einkommensteuerzuschläge und Transportsteuem vorzubeugen trachtete,
ohne die Massen durch erhöhte Verbrauchssteuern oder lästige Umsatz¬
steuern zu reizen. Herr Mellon geht aber nun daran, die Unter-
Samuel Saenger, Der wundertätige Fmanzmagus 181
nehmer- und Kapitalistenklagen zu berficksichdgen und z. B. die Ein¬
kommensteuer flir das kommende Wirtschaftsjahr um achthundert
Millionen Dollar herabzusetzen; er will auch die Sätze ftir die Ver¬
mögenszuschläge wesentlich herabsetzen, um zu verhüten, daß immer
größere Kapitalien, um sich so schärferem Zugriff des Fiskus zu ent¬
ziehen, immer mehr in steuerfreien Staatsanleihen Anlage suchen, statt
sich auf bauender Arbeit zuzuwenden. Die in steuerfreien Staatspapieren
angelegte Summe beziffert Mellon auf etwa zehn Milliarden. Sehr
charakteristisch ist aber auch, daß ein dem Kongreß vorliegender
Gesetzentwurf die Refiindierung der an die Verbündeten geliehenen
elf Milliarden Dollar in Obligationen vorschlägt, die mit nicht weniger
als fünf v. H. zu verzinsen und nicht später als bis zum 15. Juni 1947
einzulösen seien.
5. Man wird sich nun schon eine deutlichere Vorstellung von den
wirklich riesenhaften Ansprüchen des heimischen Staates und des hei¬
mischen Marktes, der nach Erneuerungskrediten dürstet, an das ameri¬
kanische Kapital machen können, die Finanzwelt, die noch an den
eingefrorenen Forderungen genug zu würgen hat, soll drüben also
noch immer neue Kreditansprüche befriedigen, so z. B. an die äußerst
bedrängte Viehproduktion, ftir die fünfzig Millionen Dollar in cattle
loans aufzubringen waren. Für die Unterbringung von Reparations¬
anleihen auf dem amerikanischen Markt, der sich bisher nur hoch¬
verzinslichen sicheren Auslandspapieren zugänglich erwiesen hat, besteht
daher so gut wie keine Aussicht Was dann? Trotzdem die Vereinigten
Staaten von Amerika nur zehn v. H. ihrer Erzeugung ausftlhren, sind
doch absolut gewaltige Interessen an dieser Ausfuhr beteiligt: der
Weizen z. B. mit zwanzig, die Baumwolle mit sechzig, das Kupfer
mit fünfundsiebzig v. H. ihrer Ausbeute. Und daraus schloß Herbert
Hoover, der Handelssekretär im Kabinett des Präsidenten Harding:
‘Finden wir keinen Markt für die Überschüsse unsrer großen Produk¬
tionen, so werden weitere fünfundzwanzig Millionen unsres Volkes
in ihrer Kaufkraft geschwächt sein. Vielleicht treiben wir sie sogar
in volle Armut, bis nach vielen Jahren eine neue Anpassung der Pro¬
duktion sich durchgerungen haben wird. Die schlimmen Zeiten, die
heute an so viele Türen pochen, kamen aus Europa. Unsere einzige
Verteidigung ist das Gedeihen unsrer Nachbarn und unsre wirtschaft¬
liche Tüchtigkeit. Die Wiedererholung unsres Außenhandels kann nur
im gleichen Schritt erfolgen mit dem Wohlstand und Gedeihen uns¬
rer Abnehmer.’ Also selbst für Amerika besteht die wirtschaftliche
18 2 . Josef Ponten, Unterredung im Grase
Autarkie, der geschlossene Handelsstaat, nur als Illusion, es kann den
europäischen Markt einfach nicht entbehren. Damit ist in der Tat
der mächtigste Antrieb, dem notleidenden Europa Hilfe zu leisten,
bezeichnet. Man zittert vor sich stetig erneuernden Devisenkrämpfen,
die die Spannung zwischen dem Golddollar und den europäischen
Valuten etwa noch vergrößert, man ersehnt Rückkehr zur Stetigkeit
in den Wechselkursen und zu einer Warenzirkulation ohne Stauungen,
Stockungen und Marktkrisen. Und wenn diese Wünschbarkeit nur
durch ganzen oder teilweisen Verzicht auf die Schuldeintreibung zu
erkaufen wäre, so wird sich Amerika, nach der in Washington immer¬
hin erreichten Herabsetzung der Kriegsrüstungskosten, auch zu solchen
Opfern bereit halten und europareif machen müssen.
UNTERREDUNG IM GRASE
von
JOSEF PONTEN
I ch bin in einer Gegend aufgewachsen, die mit Bergwerken besetzt
ist. Schlot bei Schlot, Halde bei Halde. (Es ist nicht schön da.)
Gespenstisch laufen die Förderräder auf hohen Stühlen vor dem
Himmel. Unterirdisch ist der Boden zerhöhlt, durchsucht, ausgebaut
wie ein Ameisenhügel, oberirdisch entstehen plötzlich Mulden oder
Beulen — die Erdfeste verbiegt sich. Risse bilden sich wohl in
den Häusern (das eine oder andere ist schon eingestürzt), und Erd¬
beben sind nicht selten. Viktoria war ein schönes vornehmes Mäd¬
chen. Ich liebte sie. Ihr Herz antwortete mir nicht. Sie schwatzte
aber gern mit mir, wenn ich auf das Landgut des Grubendirektors kam,
weil ich, wie man sagte, begabt war und gute Sitten hatte, obgleich
ich nur der Sohn eines Obersteigers war. Das Landgut war über
die Maßen herrlich, gelb schweiften die Kieswege durch kurzge¬
schorenen Rasen. Viktoria trug im Sommer weiße Schuhe, Strümpfe
und Kleider. Am fernen Horizont sausten die Fördernder. Kein Lärm
der Bergwerkstadt drang heraus. Im Landhause hatten sich Risse anf-
getan . . .
Viktoria trug schon lange Kleider, während ich noch in kurzen
Hosen ging, (die ich, klein geblieben, sehr lange getragen habe). Ich
Josef Ponten, Unterredung im Grase 18 3
hatte seit einiger Zeit den merkwürdigen Wunsch zu wissen, welche
Strumpfbänder Viktoria trug. Meine Schwestern trugen Strumpfbänder
aus schwarzer Gummilitze, einen Ring über dem Knie. Aber ich
hatte gehört, daß feine Damen die Strümpfe irgendwie hoch oben
am Gürtel befestigten und daß es Strumpfbänder aus Seide gäbe. Ob
Viktoria auch Strumpfbänder aus Seide trüge, und hoch oben am
Gürtel befestigt — ?
Das war die Frage. Aber die Antwort war weit. Viktoria be¬
schritt neben mir die geharkten Wege. Die Glockenform des Frauen¬
rockes ist mir immer irgendwie unpassend erschienen. Wenn sie in
einer Laube, auf einer Bank oder auch im Rasen neben mir saß,
schlug sie wohl in ungezwungener Weise die Knie übereinander, aber
der Kleidersaum war sakrosankte Grenze. Eine gewisse Unnahbarkeit
war Viktorias Art, nicht nur gegen mich, den Obersteigerssohn, ob¬
gleich sie gegen niemanden ein hochfahrendes Wesen annahm, am
wenigsten gegen mich. Wir waren in natürlicher Folge gemeinsamer
Spielstunden der Kinderzeit Freunde geblieben. Jetzt philosophierten
wir, im Grase sitzend. „Sie sollen ein mathematisches Genie sein,
Felix“, sagte Viktoria. Ich lächelte wehmütig überlegen. „Rechen¬
künstler. Sagen Sie lieber: Rechenkünstler, Fräulein Viktoria,“ sagte
ich, „ich könnte mich auf Jahrmärkten zeigen“. — „Für mich ist
Mathematik einfach Zahl,“ sagte Viktoria, „und alles was Zahl ist,
hasse ich“. Als sie das gesagt hatte, wurde ihr wohl bewußt, daß
es einen Stachel hatte, obgleich ihr das Wort entfahren war, und sie
sah mich steif an mit Schrecken und Neugier, wie man einem Balle
nachsieht, der einen unbeherrschten gefährlichen Weg geht. Ich hüllte
mich im Augenblick in einen Nebel der Vielbedeutsamkeit, wie sich bei
Männern Unnahbarkeit auszudrücken pflegt, und sagte ernst: „Zahl ist
Kosmos“. Das verstand Viktoria nicht, sollte sie auch nicht verstehen,
und da sie es nicht verstehen konnte, weil es nicht zu verstehen
war, weil es eine Fräse war so voll wie leer, ärgerte ich mich nnd
wurde rot. Aber sie, übermütig, unbarmherzig, auch stolz auf das
Können des — Hundes, denn wie ein gelehriger Hund sollte ich
springen und Künste zeigen, frug: „Wieviel ist 37 mal 91? Ant¬
wort!“ schoss sie hinterdrein. — „3367“, sagte ich sofort gelassen.
Sie klatschte in die Hände. „Wunderbar!“ Aber sie mischte Unbarm¬
herzigkeit und Staunen, Übermut und Demut — das kleidete sie gut!
— sie frug: „Und 511 mal z 67?“ — „149787“ sagte ich, freilich
nach einer kleinen Weile. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
184 Josef Ponten, Unterredung im Grase
„Nun will ich Ihnen aber.. .“ Doch sie unterbrach mich und sagte
ohne aufzusehen: „Ich habe Ihnen nicht wehtun wollen“. — „Ich weiß
wohl, daß Sie mir nicht haben wehtun wollen,“ — nein, ich habe
das „Sie“ doch nicht betont, ich war zu stolz, sie etwas merken zu
lassen — „dazu wäre ich Ihnen zu gleichgültig“, bemerkte ich, heiter
gelassen. Sie schaute fröhlich auf, befreit aus ihrer Unzufriedenheit
mit sich, und sagte: „Das ist sehr fein bemerkt. . . Würden Sie,“
nahm sie auf, „wenn Sie einmal eine Frau liebten und Ihre Liebe
bliebe unerwidert, würden Sie die Frau Ihre Liebe merken lassen?“ —
„Selbstverständlich nein“, erwiderte ich. — „Das habe ich von Ihnen
erwartet“
War das mm dreist oder naiv? Ich neige dazu, das letzte anzu¬
nehmen. Mein Herz krümmte sich. Mein Mund wollte zucken, aber
ich habe mich von früh auf beherrschen gelernt, sodaß ich auf den
Parketten des Landgutes hätte jung sein können, und sagte sachlich¬
fachlich: „Wie können Sie nur fragen?“
„Ja, wie konnte ich nur fragen . ..!“
„Erstens“, begann ich, „wäre es überflüssig, und zweitens wert¬
los.“ — „Warum überflüssig? Wie können Sie von einer Frau ver¬
langen ... die Frau muß doch wissen . ..“ — „Das weiß eine Frau
immer, ohne daß man es sagt.“
„So —?“ Ihre Brauen standen wie Bögen. Ihre Augen waren groß
wie Mond.
„ . . . und zweitens wäre es wertlos“, setzte ich fort, im gleichen
Vortragstone, den sie nach Belieben verstehen mochte. (Oh verzeih
mir! Geliebte! Nachtwunder! Morgenstern!) — „Aber warum das?“
meinte sie still. — „Eine Liebe hätte für mich nur Wert, wenn sie
automatisch, notwendig wüchse“, sagte ich; „irgendwelcher Zwang
würde die Liebe verletzen. Alles, was berührt, verletzt schon. Sie
müßte wachsen wie gewisse Pflanzen, von denen man sagt, daß sie
nicht nur von der Hand, auch vom Auge des Menschen schon ster¬
ben.“ — „Das sagt man nicht,“ unterbrach sie leise, ohne mich an¬
zusehen, „das sagen Sie.“ Ihr Ton war sonderbar. — „Mag sein,“
sagte ich (und ärgerte mich plötzlich maßlos über das Selbstgefällige,
ich trieb mir in wilder Wut über mich die Nägel der Faust ins
Fleisch), „aber eine Liebe, die für mich Wert haben könnte, müßte
so selbstverständlich da sein wie die Sterne am Himmel stehen.“ —
„Warum? Bitte“, drängte sie. — „Weil alles Erzwingen, alles Siegen
auf meiner Seite die Eigenliebe beleidigen würde.“ — „Das sieht
185
Josef Ponten, Unterredung im Grase
wie Widersprach aus,“ bemerkte sie nach einer kleinen Weile, zu
der sie sich durch eine Handbewegung das Recht errafft hat, „sieht
wie Widersprach aus und ist doch keiner. Sie wollen geliebt sein
so wie Sie sind, bloß wie Sie da sind, weil Sie glauben, daß Sie
keinen Finger zu rühren brauchen, damit man Sie liebe.“ — „Ja, ich
bin von einem furchtbaren Stolze!“ sagte ich etwas täppisch, doch sehr
ehrlich, und der Ernst nahm denn auch allen schlechten Beiklang fort.
„Sie sind herrlich selbstbewußt,“ sagte sie in ihren Schoß, „wie
der Kaiser von China, der von einigen hundert Millionen Menschen
geliebt sein will und sich doch hinter seinen gelben Mauern niemals
einem seiner Untertanen zeigt.. .“ — „Die Mauern sind rot, Fräulein
Viktoria“, bemerkte ich lächelnd. Sie sah auf, und ihre Augen waren
mir dankbar für die Befreiung. „,Chinese* nannten mich meine
Schulgefahrten“, scherzte ich weiter, „wegen meiner gelben Gesichts¬
farbe, die ich aus irgendeinem Grande habe.“ — „Sie sollten etwas
für ihre Gesundheit tun. Sie werden sonst nicht lange leben. Nicht
soviel in der Stube Uber BUchern hocken, Tennis spielen . . .“ —
„Tennisspielen ist nichts für mich“, bemerkte ich trocken mit einem
Blicke auf ihre weißen Schuhe und bemühte mich, in meinen Ton
soviel Sachlichkeit zu legen, daß er Neid des minderen Standes über¬
tonte. „Ich komme ja jeden Tag in Ihren Park heraus. Ihr Vater
war so freundlich, es mir zu gestatten — unaufgefordert!“ fügte ich
schnell hinzu. — Ja, aber Sie haben stets ein Buch bei sich.“ —
„Die Bücher!“ rief ich. „Wenn ich die nicht hätte! Die sind meine
Frauen, die ich mit immer erwiderter, ewig blühender Liebe liebe.“
„Sie sind ein Aristokrat“, sagte sie, mich voll ansehend. Ihre Worte
überrauschten mich wie warmes Bad, ich sah sie an mit Blicken,
die hießen, sie möchte noch mehr derlei überaus Wohltuendes sagen...
aber ich unterbrach meine unverschämte Aufforderung und lachte
höhnisch auf: „Ich bin der Kaiser von China, Fräulein Viktoria! Der
gelbe Kaiser! Welcher der Frau zuliebe, die er lieben möchte, wenn
er lieben könnte, wie er lieben müßte, die Mauern seiner Kaiserstadt
auch gelb streichen ließe, sie selbst und eigenhändig gelb striche.
Anstreicher würde er werden, der gelbe Kaiser, aus Liebe! Aber er
muß eine Frau wählen aus engem Kreise nach dem Staatsvorteil und
darf sich im übrigen einen Stall — ach verzeihen Sie das Wort — von
Nebenfrauen halten, damit er allen Regungen des Augenblicks dienen
kann und nicht auf den Gedanken kommt, jene Frau, seine Frau zu
wählen und sie zu suchen mit unwiderstehlicher Kraft, die Frau, die
186 jfosef Ponten, Unterredung im Grase
der Staatsvorteil ihm vielleicht vorenthält. Sicher vorenthält, denn
niemals findet sich in der neidischen Natur das Schöne mit dem Nö¬
tigen in Vollendung verknüpft.“
„Mir scheint. Sie sagen da etwas, das vorauseilt“, meinte sie, und
ich blickte sie, beschämt durchschaut zu sein, mit unwillkürlicher Be¬
wunderung ihrer Klugheit an (ich hielt für gewöhnlich nicht viel von
der Klugheit der Frauen). „Sie sind ein Aristokrat,“ nahm sie be¬
harrlich auf, „neben dem man sich sehr klein vorkommt.“ — „Nicht
ohne Wurm ist der Apfel. .— „Unterbrechen Sie mich doch nicht
immer,“ unterbrach sie fast böse, „glauben Sie denn. . und ich
vollendete in Gedanken: daß Beichten so leicht sei? „Nein“, sagte
ich laut und einfach. Ihr Augenstern nickte mir zu und leicht über¬
rötet fuhr sie fort: „Man fühlt sich neben Ihnen als Plebejer, in ge¬
wisser Weise. Als Plebs der gesunden Art. Mit den paar Patriziern
würde der Staat aussterben. Unnahbarkeit ist um Sie — eine rote
Mauer,“ unterbrach sie sich lächelnd — „wie soll ich sagen: Unnah¬
barkeit einer großen Stunde, wo man unwillkürlich stUl wird und
sich fürchtet. Sonntag sind Sie,“ rief sie lebhaft, als hätte sie sich
in ihren hohen Worten etwas verstiegen, „Sonntag, ewiger Anspruch
ans Festliche, Hohe, aber es muß doch auch Werkeltage geben. Ohne
Werktag wäre der Sonntag ohne Reiz, und auf sechs Werktage
kommt ein Sonntag.“ Das Wort „Sonntag“ schwang in der Luft, und
ich sagte: „Ich hätte nie geglaubt, daß Lob so bitter sein kann.“
Nun zuckte wirklich mein Mund.
„Schön, daß Sie nicht: ,Oh bitte* sagen und so verlogen bescheiden
dabei lächeln. Wir Plebejer sagen immer: ,Oh bitte*, wenn wir ge¬
lobt werden, entwerten dadurch jedes Lob, das der andere sich müh¬
sam abgerungen hat, zu einem Kompliment und bringen es in den
Verdacht einer schlechten Schmeichellüge.“ Und mit der Hand im
Grase spielend sagte sie: „Mein Verlobter würde: ,Oh bitte* sagen ...“
Betäubt war ich. Betäubt wie der Ritter im Turnier, wenn der
volle Stoß der Lanze des Gegners auf ihn brach. Aber ich blieb
wie der Ritter fest im Sattel.
O liebe schöne Seele, die du sogleich das Gespräch auf etwas an¬
deres brachtest! ... Es war mir, als spräche jemand hinter sieben
Wänden von Glas, ich glaube von Kahnfahren und später von Beet¬
hoven, aber ich streckte mich wie ein Hund langhin ins Gras und
wie ein Hund ihr zu Füßen. Es kam ganz von selbst und sie hat
es nicht durch eine unschickliche Bewegung verhindert, als ich ganz
jfosrf Ponten, Unterredung im Grase 187
leise, Spiel und Begleitung zum Gespräche, Ober ihre weißen Schuhe
strich, denn ich sprach plötzlich von Schuhen. „Haben Sie es nicht
auch an sich schon erfahren, Fräulein Viktoria, daß man ein besserer
Mensch ist, wenn man gute Kleider und Schuhe anhat? Sonntags¬
kleider?“ scherzte ich mit leichter AnzOglichkeit. Sie nickte um
Haaresbreite. „Aber vielleicht haben Sie es doch nicht erfahren,“
fuhr ich fort, „da für Sie in dieser Hinsicht immer Sonntag ist
Wenn ich breite große Schuhe an den Füßen habe, die nicht recht
passen oder irgendwie, dann lasse ich mich leicht gehen. Wenn ich
einen groben Stoff am Leibe habe, dann habe ich auch wohl grobe
Gefühle. Wenn mein Anzug nicht sitzt und keinen Schnitt hat, dann
hat auch meine Seele sozusagen keine Haltung.“ — „Ja, ich freue
mich, daß Sie immer gut gekleidet sind,“ sagte sie mit naiver Ehr¬
lichkeit, und wir beide wandten uns ab, denn es war etwas lächerlich.
Was nicht ganz leicht ist! Was kämpfe ich da mit der Mutter, die
mich für einen Stutzer erklärt! sagte ich, natürlich nur zu mir.
„Wenn ich in meinem Zimmer allein bin,“ gestand sie aus ihrer
fernen Abgewandtheit heraus, „am Sonntagnachmittag oder auch am
Abend, wenn die Familie mich nicht mehr beansprucht, und ein wunder¬
schönes Buch lese, das mich in eine Welt ganz anderer Gefühle ver¬
setzt, dann lege ich wohl plötzlich das Buch aus der Hand und meine
Kleider ab — (schneller, Viktoria!) — und ziehe ein anderes besseres
an. Neulich überraschte mich die Mutter, als ich mit ausgeschnittenen
Schultern dasaß, und sagte, ich sei verrückt. Das Festkleid ziehe man
nur für die Gesellschaft an....“ — „Ich möchte Sie einmal im Kleide
mit ausgeschnittenen Schultern sehen, Fräulein Viktoria!“
Sie stutzte, runzelte die Brauen. Dann zornig: „Ein Schlechter sind
Sie!“
,Ja ja, ich bin schlecht,“ trumpfte ich auf und trommelte mit den
Händen im Grase, „ich bin schlecht und ein Plebejer und kein Aristo¬
krat, Fräulein Viktoria, kein Aristokrat!“ und lachte ein wenig irr.
Sie rettete die zweideutige Lage, verwandelte sich und sagte: „Es
ist komisch.“ Aber ich Tropf rief: „Ich werde Sie nie im Kleide mit
ausgeschnittenen Schultern sehen! Ich habe noch keine Dame mit
nackten Schultern gesehen! Ihr Vater lädt mich zwar in seinen Garten,
aber nicht auf seine Feste, wo Sie mit ausgeschnittenen Schultern er¬
scheinen!“
Das war nun völlig geschmacklos, ich hätte mich prügeln können.
Aber sie überhörte das unglaublich Dumme und Grobe meiner An-
18 8
Josef Ponten, Unterredung im Grase
klage wider Gesellschaft und die Ordnung der Stände und sagte leise:
„Es ist merkwürdig; in der Gesellschaft kann ich vor allen Männern
mit ausgeschnittenen Schultern erscheinen, aber Ihnen konnte ich mich
nicht so zeigen.“
Und ich Pavian fing unbarmherzig, freilich ins Gras hinein, in das
ich biß: „Und warum nicht, Fräulein Viktoria?“ Und sie sagte, freund¬
lich, gutmütig das Überflüssige: „Weil ich mich schämen würde..
Nun waren mir an einem unmöglich dauerhaften Punkte, und wir
hätten nur zweierlei tun können: auseinanderrennen auf Nichtwieder¬
sehen — oder sterben, wenn nicht in diesem Augenblicke die Vor¬
sehung einen Sommervogel geschickt hätte, der von Sonne und Lebens¬
freude trunken an uns vorüber taumelte. Sie sagte: „Das Volk hier
nennt die Schmetterlinge Piepel, das kommt wohl von papilion ?“
(denn Grubendirektors waren von fernher aus dem Osten Überrhein
in unser Land gekommen). Ich empfand die Bemerkung als sehr glück¬
lich. Sie sagte nach einer Weile still: „Ich möchte den Falter haben
als Erinnerung an diese Stunde. Aber er ging vorüber wie die Stunde
gehen wird...“
Ich freute mich über mich, ich war stolz auf mich, daß ich es
über mich gewinnen konnte, meinen Kopf im Grase geduckt zu
halten und sie nicht anzusehen. Viel Selbstüberwindung brauchen wir,
wenn wir nicht halbe Triumphe zu ganzen machen wollen. Denn volle
Triumphe kehren sich immer in Schmerz um.
Aber ich friig, versunken im Grase und den Mund voll Erde: „Wie
war das mit dem Verlobten, Fräulein Viktoria?“
Es dauerte ein wenig, ehe es oben sprach: „Nun ja, wir heiraten
demnächst“ — „Ist er der mit dem Schmiß Uber der Wange?“ — „Ja,
der Regierungsrat M.vom Bergbauamt Aber er ist kein mathe¬
matisches Genie wie Sie...“
„Er ist überhaupt kein Genie!“ erstickte ich in mich hinein. (Nimm
noch ein Maul voll Erde, denn aufgepaßt, Junge! nichts ist billiger
und abgeschmackter, als den Nebenbuhler schmähen.) Ich sagte: „Er
sieht sehr stramm aus.“
Da lachte sie auf. Auch ich mußte lachen, und nun wagte ich
aufzusehen. Und konnte aufgeräumt und wie herkömmlich sagen: „Ich
gratuliere auch, Fräulein Viktoria!“
„Danke“, sagte sie... aber ahnte sie das Grausige meines Spieles,
sie wandte sich fort und sprach leise: „Es weiß es noch niemand,
außer den Eltern und ... und den zunächst Beteiligten“, sagte sie rasch.
189
Josef Ponten, Unterredung im Grase
„Zunächst Beteiligte ist gut!" rief ich wie ein Teufel.
Unwille durchblitzte ihre ganze Gestalt — aber da feuchteten sich
ihre Augen, sie deckte mir, abgekehrt, den Mund mit der Hand zu,
die ich von innen — küßte.
Es war zuerst, als wären wir nicht dabei gewesen; aber es wäre
nun doch alles verloren gewesen und ich hätte Viktoria, mein Augen«
licht, nie wieder sehen dürfen und sterben müssen, wenn sie es nicht
gefunden und gesagt hätte: „Sie üben sich...“ — „Ja,“ rief ich in
der Zuversicht des jungen Mannes von begründeten Aussichten, „ich
will doch auch einmal gesellschaftsfähig sein, von Ihrem Vater zu Ihren
Festlichkeiten eingeladen werden und Sie mit ausgeschnittenen Schultern
sehen dürfen."
„Warum verderben Sie sogleich wieder alles?" frag sie unmutig.
„Nun hören Sie — schauen Sie ins Gras —: es ist etwas Schamloses
dabei, wenn man sich vor einem Manne schämen muß. Es ist, wie
soll ich sagen, Schamlosigkeit in der Scham, und ... sozusagen ... An¬
stand und Scham in der... Nun ja. Sie wissen es."
Ich war nun völlig ratlos. Ich mußte mich ihrem Instinkte über¬
lassen. Sie konnte mit dem Augenblicke und mit mir tun, was sie
wollte.
„Sie sind so furchtbar ansprachsvoll", sagte sie leise. „Sie machen
einen unsicher. In Ihrer Gesellschaft fürchtet man sich wie auf dem
blanksten Parkett, ob man nicht einen fälschen Tritt tue. Sie ver¬
breiten kein Glück um sich. Sie sind des Glückes auch selbst nicht
fähig. Ich glaube. Sie werden nie heiraten..." — „Das glaube ich
auch." — „Denn Sie sind schon jenseits dessen, was für uns andere
das Glück bedeutet, die, wie soll ich sagen, gewisse Gedankenlosig¬
keit, Bedenkenlosigkeit, das Sichgehenlassen des Alltags..."
Ich hatte mich ganz in der Gewalt. Ich hatte mein armes Herz
ausgeschaltet. Ich sagte: „Nun sind wir da, wohin Sie vorhin meinten,
daß ich vorauseile."
„Ja, da sind wir. Und nun sind Sie einsam, Felix." — „Ich war es
immer, Viktoria." — „Sie müssen Ihre Einsamkeit lieben." — „Ich ver¬
suche es." — „Sie müssen es können! Sie können es, weil Sie es
müssen! Sie müssen sich selbst mehr lieben." — „Es ist so abge¬
schmackt, sich selbst lieben, Viktoria." — „Sie sind ein Christ" —
„Ich glaube es ..." — „Es ist erwiesen." — „Ja, ich bin sehr fromm
gewesen als Knabe. Das gemeine Volk, wissen Sie, ist fromm." —
„Sie müssen etwas Heide sein — wie ich zum Beispiel. Sehen Sie,
190 Josef Ponten, Unterredung im Grase
mein Leben wird nun so hingehen wie das meiner Eltern und meiner
Kreise, im guten Alltag. Aber Sonntags mochte ich dann, daß so
einer käme wie Sie. Vielleicht gar, daß Sie kämen. Nein, schütteln
Sie nicht mit dem Kopf. Warum sollen Sie nicht kommen ? Sonntags,
am Nachmittag, ist die Frau allein. So wie Papa und Mama. Dann
schläft Papa, und Mama liest in einem Buche. Papa liest nicht viele
Bücher, er ist immer vom Dienst zu müde. Das ist überall so. Am
Abend sind sie dann wieder zusammen und spielen Schach.“
„Glauben Sie denn selbst, was Sie da Vernünftiges sagen?“ frag
ich spöttisch und grollend zugleich. — „Ich muß es glauben“, sagte
sie leise. — „Und ich sage Ihnen, Sie glauben es nicht! Sie lügen!
Sie lügen! Oh, Sie können so schamlos lügen!“
„Ich lüge nicht. . . Nicht böse sein! Bitte!-So, nun sind Sie
doch böse ... Dann müssen wir gehen. Es wird auch kühl im Grase.“
„Nicht gehen, Viktoria, nicht gehen!“ bat ich. „Was tut das kühle
Gras unserer Jugend! Nicht gehen, ich muß vorher wissen — was
für Strumpfbänder Sie tragen . . .“
Sie glühte auf wie eine angeschaltete Leuchtbirne, zog die Knie
an sich, als wollte sie aufspringen. „Sie müssen ruhig sitzen bleiben,
ich will es!“ befahl ich, ohne aufzusehen, und mein Wille zog sie
an den Boden nieder wie ein dem Versenkten angehängter Mühlstein
ins tiefe Meer zieht.
„Nun will ich Ihnen mathematische Fragen vorlegen“, nahm ich
in scharfem Tone an einem früheren Punkte auf. „Sie haben mich
wie einen gelehrigen Pudel in Zahlenkünsten springen gemacht. Sie
müssen auch vor mir einmal springen, damit die Dinge im Gleichen
bleiben und Gerechtigkeit werde ...“ — „Was haben Sie vor?“ unter¬
brach sie ängstlich. — „Fiat justitia, pereat mundus!“ vollendete ich
mit verdecktem Hohn. — „Was heißt das:“ rief sie wie in Furcht
vor einer Verzauberungsformel. — „Gerechtigkeit auch um den Preis
der Verrücktheit! heißt das, und das ist eine sehr vernünftige Ge¬
rechtigkeit bei den Aristokraten. Denn Aristokratie, müssen Sie
wissen, ist immer ein bißchen schöne Verrücktheit auf Kosten der
gesunden Natur.“ — „Kommen Sie zum Ende!“ forderte sie.
„Kopfrechnen können, Fräulein Viktoria, auch in etwas verblüffendem
Maße, ist keine Begabung für Mathematik. Das ist eine ganz ein¬
seitige zufällige Gehirnausbildung, eine genialische Atrophie, wie man
medizinisch sagen könnte. Es soll auch Leute geben, denen Sie einen
halben Band des Lexikons vorlesen können, die aus dem Gedächtnis
Josef Ponten, Unterredung im Grase 191
das Vorgelesene zu wiederholen vermögen und doch nur die Intelligenz
eines Klauns haben. Ich hatte einen Mitschüler, der die niederen
Rechnungen noch fixer im Kopfe bewältigte als ich und in Mathe¬
matik das Zeugnis glicht genügend’ erhielt.“ — „Was soll das? Wohin
wollen Sie hinaus? Was geht mich Ihr Mitschüler an?“ — „Geduld,
Fräulein Viktoria!“ heischte ich unerbittlich. „Ich habe auch Geduld
gehabt und habe nicht vor. Ihnen etwas zu schenken. Denn ich bin
von Natur grausam und nicht gut, nicht gut, sollten Sie wissen.“ —
„Wenn es nicht feige schiene, würde ich jetzt gehen,“ sagte sie
ruhig und tapfer.
„Sie sind nicht feige, und ich bin auch nicht grausam, ich bin
nur — glücklich, weil ich doch Felix heiße, und alle Glücksfähigkeit
schließt eine Eignung zu unbewußter und immanenter Grausamkeit
ein, so etwas Ähnliches sagten Sie ja selbst. Und nun hören Sie:
Mathematik ist Genie für den körperlichen Raum, und davon habe
ich in der Tat ein klein wenig. Stereometrisch vermag ich auffallend
zu denken, und die Markscheider nehmen mich wohl gern mit in
die Gruben — wo man in Räumen denken muß, die ja gänzlich ver¬
baut, von der Erde erfüllt sind. Sie können es sich vorstellen — und
machen sich, gleich Ihnen, das Vergnügen, mich Pudelkunststücke im
Raumdenken ausführen zu lassen und belachen und bestaunen in einem
meine Begabung. Ich werde ja auch wohl Markscheider in den Gruben
Ihres Vaters werden. Die letzte Nacht war ich untertage, und heute
morgen, als Sie aufstanden, genau unter Ihrem Zimmer — ja, vertrauen
Sie einmal meinem Genie und glauben Sie, daß ich haarscharf, nicht
nur unter Ihrem Hause, nein unter Ihrem Zimmer war. Da sah ich
durch die Kruste hinauf und sah, daß Sie mausgraue seidene Strumpf¬
bänder anlegten. Nun möchte ich wissen, ob Sie wirklich ... die maus¬
grauen Strumpfbänder .. . anhaben . . .“
Sie war Ofenglut. Rang mit Reden und Schweigen. Schließlich
stammelte sie: „Was gehen — Sie — meine Strumpfbänder an — ?!“ —
»Ach, sie gehen mich leider schrecklich viel an,“ sprach ich in die
Erde hinein, „Fräulein Viktoria, haben Sie Mitleid mit mir, sehen Sie
von dem Sonderbaren ab und sagen Sie mir: Haben Sie wirklich die
grauseidenen Strumpfbänder an — ?“
„Nein,“ sagte sie unwillig und doch willfährig, „wenn Sie es denn
wissen wollen. Sie Erdenkrustendurchschauer, ich habe . . in der letzten
Zeit immer . . die weißseidenen an . . Unverschämter!“ — „Sie haben
die mausgrauen kn,“ behauptete ich still ins Gras hinein. — „Warum
15? i Josef Ponten, Unterredung im Grase
— habe ich — die mausgrauen —“ — „Weil es nicht anders möglich
ist, weil es gar nicht anders sein darf, als daß Sie die mausgrauen
anhaben! Haben Sie, während Sie sich anzogen, nicht bemerkt, daß
die Erde gebebt hat? Sie haben es vielleicht gar nicht bemerkt oder
nichts daraus gemacht, die lokalen Beben sind häufig hierzulande..
— Ja — ich habe es bemerkt — und nichts daraus gemacht — die
Beben sind hierzulande — häufig..— „Ich höre, Ihr Haus weist
einen neuen Riß auf?“ — „Ja, Vater sagt, ein neuer Riß — sei bemerkt
worden — in der Tat.. — „Der entstand durch das Beben in dem
Augenblicke, als ich aufschaute und Sie die mausgrauen Strumpfbänder
anlegen sah.“ — „Schrecklich, nun weiß ich wahrhaftig selbst nicht
mehr ... ich überlegte, ob ich nicht die mausgrauen nehmen sollte,
aber ich nahm die weißseidenen.“ — „Die mausgrauen! Um Gottes
Gerechtigkeit willen!“
Plötzlich warf sie sich entschlossen auf die Flanke, faßte den
Gewandsaum und untersuchte die Strumpfbänder. Es waren die
mausgrauen.
„Die mausgrauen!“ stöhnte sie.
Ich streckte mich rücklings ins Gras und schaute den Wolken-
schiffen nach, die weiß das Blaumeer durchsegelten .. .
„Sie sind entsetzlich . .. ich fürchte mich . . .“ — „Sehen Sie! Das
kommt davon, wenn man andere ohne Grund für Aristokraten hält,
die immer mit gefährlichen Waffen umzugehen wußten!“ — „Ich
werde Vater sagen, er solle Sie später in die Donczgruben schicken.“
— „Ach, das hilft Ihnen nichts, Fräulein Viktoria. Das produktive
Steinkohlengebirge streicht aus den Oststaaten Amerikas durch Frank¬
reich (denn Amerika und Europa schlossen früher dicht aufeinander,
ehe Amerika nach Westen davonsegelte), durch Belgien, Ruhrland,
Schlesien, Galizien ins Donezgebiet Rußlands. Das ist ein Zug nach
der Lage des Äquators in der Karbonzeit“
„ ... So soll ich nun ewig Ihre Sklavin sein?L“ flüsterte sie
schaudernd in ihre Hände.
„Das Dasein ist furchtbar, Fräulein Viktoria. Die Mächte wachen,
wenn sie auch manchmal zu schlafen scheinen ... Es ist besser, ich
komme Sonntags nicht zu Ihnen, wenn der Bergbaurat schläft. .
„Ich hasse Sie!“
„Tim Sie das nicht. Es ist gefährlich. Haß ist der Rücken des
Eros. Er könnte sich umdrehen.“ Und nun redete ich statt des
Himmels die Erde an. „Sie sagten, ich könne nicht glücklich sein.
Josef Ponten, Unterredung im Grase 193
Gut! Aber kein Wissender kann glücklich sein. Glück: das ist die
Entschädigungsgabe der Natur an die, denen sie das Wissen vorenthielt.
Denn selbst die Natur möchte gerecht sein. Glück: das ist die
gedankenlose Heiterkeit der Seele. Darum können wirklich glücklich
nur die Kinder und die jungen Mädchen sein.“
„Ich bin so nackt vor Ihnen. Ich schäme mich. Sie wissen alles
von mir. Sie wissen, welche Strumpfbänder ich trage . . .**
„Was gehen mich Ihre Strumpfbänder an!“ Ich sprach unter¬
getaucht in den Teppich des Grases hinein: „Ich habe eine Handbreit
Ihres weißen Leibes gesehen, Viktoria!“
Es war mir, als ertränke meine Stimme irgendwo im Raume . . .
Nach einer Weile hörte ich wie um eine Ecke des Raumes
herumsprechen: „Hat es nicht wieder im Boden gedonnert?. .. Wir
müssen fest auf der Erde stehen. Und vertrauen. Und an Grund¬
donnern, Bodenrollen, die Erdknalle uns gewöhnen . . . Felix! wenn
Sie nun nicht zu mir kommen wollen, wenn der Bergbaurat schläft,
und es dann niemand mehr gibt, in den Sie die Verrücktheiten Ihrer
wunderlichen Seele ausschütten können . . .?! Was dann — ?“
„Dann muß einer sterben, ich oder der mit dem Schmiß!“
„-Wir haben uns nun genug gegenseitig bange gemacht, Felix
. . . Wollen Sie den armen Harmlosen nicht leben lassen, wenn ich
ihn ohne mich leben lasse — ?“
„Ich schaue nicht auf, Viktoria!“
„Blicken Sie fort, dann spricht sich leichter. Wenn die Blumen
und die Bäume und die Vögel und Gott zuhören, dann braucht
man sich nicht so zu schämen, als wenn man zu zweien flüstert...“
„Können Sie mir verzeihen, Viktoria?“ hauchte ich mit heißem
Atem, der das Gras rot versengte.
Ja,“ sagte sie schlicht, „gern . . . Lieber!“
Ein Jubelruf erstickte in der Wolle des Grases.
„Die Natur können wir nicht zu Ende denken. Nur der Geist
kann sich zu Ende denken. Aber dann ist er zu Ende. Wir dürfen
die Natur nicht zu ernst nehmen, mein Freund. Denn sie ist ein
Kind .. . Ich habe viel von Ihnen gelernt Mein Gott, ich bin doch
nicht alt geworden in dieser Stunde?! Bin ich alt geworden, Felix??“
„Sie sind nicht alt geworden, Viktoria! Sie sind die Jugend!“ —
„Ja . . . gefallen Ihnen denn eigentlich noch junge Mädchen?
Sie sollen doch nicht aufstehen! Und nicht aufsehen!“ — „Ja, sie ge¬
fallen mir, ja! Manchmal, meist, wenn die Sonne scheint und die
»3
ip4 Matthias, Fuge über einen Gedanken
Vogel singen, wenn ich einmal die Nacht lang hingestreckt geschlafen
und nicht durchwacht, durchdacht habe. Ich finde sie schön, ihre
Farbe, Frische, Geschmeidigkeit, sogar ihre lächerliche Geschwätzigkeit
(manchmal!), ihre Unschuld, ihren Kleiderfior, und wenn sie so weiße
Schuhe anhaben . . . wie Sie!“
„Gott sei Dank, ihm gefallen noch junge Mädchen!“
Vor diesem aus tiefer Brust geförderten Ausruf fuhr ich auf die
Hände. Nichts hätte mich mehr in den dumpfen Rasen niederge¬
bracht. Sie saß wie eine Blume entfaltet im Grase. Sie war unbe¬
greiflich schön.
„Viktoria!“
Sie lächelte wie die Himmelskönigin, wenn neue Selige in die
paradiesischen Auen kommen . . .
Die Sonne war hinter die Bäume gegangen, die Grasspitzen
schmückten sich zum Fest mit den Sternen. Der Vater war schon
lange in naher Ferne hin und her geschritten, zurückhaltend-auffällig,
und voll gezähmter Ungeduld, wie lange unser grünes Grasgespräch
denn noch dauern werde. Nun aber kam er geradesweges heran, und
ohne mich zu begrüßen sagte er zur Tochter: „Du solltest nicht
so lange im Grase sitzen.“ Er zog sie auf und ging mit ihr fort,
ohne mich zu beachten.
Von da an durfte ich natürlich nicht mehr in den Garten gehen...
FUGE ÜBER EINEN GEDANKEN
von
LEO MATTHIAS
I.
I ch kannte einen Mann, der wurde darauf aufmerksam gemacht, daß
es ungehörig sei, in den Suppenteller zu spucken — auch wenn er
leer ist. Trotzdem tat er es am nächsten Tage wieder. Als er aber¬
mals darauf aufmerksam gemacht wurde, erklärte er: er wisse schon,
was sich gehöre; im übrigen habe er nachweisbar nicht in den Suppen¬
teller gespuckt — sondern in die Kompottschüssel.
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken
*95
Ich kannte einen anderen Mann, dem wurde in der Schule gesagt:
„Du sollst nicht schlafen“. Das nahm er sich so zu Herzen, daß er
nicht nur in der Schule jeden Schlaf bekämpfte — sondern während
seines ganzen Lebens die „Abschaffung des Schlafes“ proklamierte. — Er
ist an Übermüdung schließlich gestorben.
II.
Die Gefahr, daß irgend ein Satz zur bedingungslosen Regel, zum
„Prinzip“, verallgemeinert wird, ist ebenso groß, wie die Gefahr — daß
er nicht verallgemeinert wird. Es ist nicht so leicht, die Grenze hier
zu finden. Man muß Takt dazu besitzen.
Denn unter „Takt“ versteht man — erstens — ein Maß, ein Tonmaß.
Zweitens aber, im übertragenen Sinne, die Fähigkeit „Maß zu halten“,
also im gesellschaftlichen Leben bestimmte unbestimmbare Grenzen
einzuhalcen, die für die Existenz dieser Gesellschaft ebenso lebens¬
bedingend sind wie der Schlaf für das Individuum.
Damit soll nicht gesagt sein, daß jeder Mensch, der im gesellschaft¬
lichen Leben „taktvoll“ ist, auch Takt genug besitzt, um bestimmte
Voraussetzungen zu respektieren, die nicht grade die Voraussetzungen
der Gesellschaft sind. Man kann ein „Gentleman“ sein — auch ohne Takt.
Aber man kann nicht Takt besitzen, ohne zugleich ein „Gentleman“ zu
sein — es sei denn, daß man den Kodex der jeweiligen Gesellschaft ab¬
sichtlich nicht beachtet, um sie zu zerstören. Der gesellschaftliche Takt
ist also nur eine „Erscheinungsform“ des Taktes, etwas Wechselndes,
Vergängliches — aber dafür Reales; ein Gleichnis — ein Gleichnis für
die Kunst, die Grenze einzuhalten.
Man kann ein Feind des gesellschaftlichen Taktes sein, aber kein
Feind des Taktes. Denn „Takt“ kommt vom lateinischen tangere: be¬
rühren, tasten, fühlen; hat also auch den Nebensinn von Kon-takt. Kontakt
aber gebraucht man, um alle jene Voraussetzungen zu fühlen, die—
wie der Schlaf — stärker sind als der menschliche Wille und ihre Existenz
eigentlich nur dadurch beweisen, daß sie sich rächen, wenn man sie
nicht berücksichtigt. Die Vernunft kann diese Voraussetzungen nicht
ertasten. Sie sagt nur: „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“ — unbekümmert
um das, was sein kann. Die Erfahrung aber sagt nur etwas darüber
aus, was bisher gewesen ist — unbekümmert darum, was vielleicht sein
könnte. Takt ist also ein Vermögen, das Uber der Vernunft und
über der Erfahrung steht. Takt ist (auch) Fein-Gefühl. Die Lehre vom
Fein-Gefühl, heißt deshalb Taktik.
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken
196
III.
Die Geschichte der Taktlosigkeit ist bisher noch nicht geschrieben
worden.
Man könnte mit den Urchristen beginnen. Sie wollten zwar nicht
den Schlaf „abschaffen“, aber den geschlechtlichen Verkehr. Es kann
kein Zweifel darüber sein, daß Paulus anfangs die Ehe nur notge¬
drungen denen erlaubte, die nicht die Kraft besaßen, ihre Triebe zu
beherrschen. Nur so ist der sonderbare Satz verständlich: „Welcher
verheiratet, der tut wohl; welcher aber nicht verheiratet, der tut besser“.
Es gibt vielleicht in der gesamten Literatur keinen Satz, der so viel —
und so wenig Takt offenbart wie dieser. Denn der Takt entspringt
bei Paulus nicht dem Kontakt mit der Psyche des Menschen, die so
beschaffen ist, daß Keuschheit für einige ein Kraft Zuwachs bedeutet
und für andere eine Kraftverschwendung — sondern er entspringt der
„Taktik“ (im schlechten Sinne), jener Gesinnung, die es mit beiden
Seiten hält, um es mit keiner zu verderben. „Ich wollte aber lieber,
alle Menschen wären wie ich bin“ — gesteht er einige Zeilen zuvor.
Er kennt also im Grunde genommen nur die Alternative: Sittlich und
keusch sein oder unsittlich und unkeusch sein. Er ist von der Un-
sinnigkeit dieser Alternative nicht überzeugt.
Man höre dagegen Manu: „Es ist keine Sünde, irgendeine Speise
zu essen oder Wein zu trinken oder geschlechtlich zu verkehren; denn
alle diese Dinge sind dem Menschen natürlich. Jedoch kann die Ent¬
haltsamkeit von diesen Dingen ungeahnte Früchte zeugen!“
Merkt man den Unterschied?
Hier wird die Alternative indirekt verworfen — der Geist wird
verworfen, der „Entweder — Oder“ sagt, an Stelle von „Sowohl — als
auch.“ Denn es kommt nicht auf die Keuschheit an, sondern auf die
Fruchtbarkeit des Gebotes. —
Wie Manu hat das ganze Altertum geurteilt. Man lief damals Ge¬
fahr sich lächerlich zu machen, wenn man keusch lebte und die „un¬
geahnten Früchte“ nicht reifen wollten. Deshalb stellte es man selbst
den Vestalinnen frei, von einem bestimmten Alter ab ihre Keuschheit
preiszugeben.
Kein Urchrist konnte das verstehen. Daß es sittliche Gebote gibt,
die bedingt sind, — das ging ihm über die Vernunft. Empört schrieb
daher der heilige Ambrosius in seinem Buch de virginitate: „Diejenigen,
die für das Keuschheitsgelübde eine bestimmte Zeit vorschreiben, empfehlen
dadurch selbst den Jungfrauen nachher nicht in diesem Zustande zu
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 197
▼erharren. Was ist das ftir eine Religion, die den Jungfrauen die Keusch¬
heit empfiehlt, den älteren Frauen Unkeuschheit frei stellt! 1 *
Gibt es einen geistigen Gegensatz, der ebenso entscheidend wäre,
wie der zwischen dem heiligen Ambrosius und Manu?
IV.
Es gibt kaum einen Gegensatz, der von gleicher Aktualität wäre
wie dieser.
Denn was geschieht jetzt in Rußland? Daß einige Menschen die Be¬
hauptung: Ohne Profit raucht kein Schornstein — widerlegen wollen.
Sie sagen: Er raucht auch ohne Profit — wenn wir nur das Kapital
abschaffen.
Man begeht also (ideologisch) denselben Fehler wie das Urchristen¬
tum. Man verwirft, „was ist** (Prostitution; Kapitalismus) und bestimmt
„das, was sein soll“ (Keuschheit; Altruismus) unabhängig davon, ob es
sein kann.
Also hat die Partei der Erfahrung recht, die behauptet: Ohne Profit
raucht kein Schornstein?
Sie hat recht. Nur (wörde der Manu-Jünger sprechen) ist Profit —
kein Fremdwort ftir Geld. Und das ist das Entscheidende. Denn hat
man diese Erkenntnis, so hat man Takt genug, um zwischen den ewigen
Kräften (Egoismus; Eros) und ihren zeitlichen Äußerungen (Kapitalis¬
mus; römische Prostitution) zu scheiden. Und damit ist die Taktik
gegeben. Denn es ergibt sich damit die Notwendigkeit, diesen anders
zu begegnen als jenen.
Es ergibt sich also die Notwendigkeit, alle jene Bestrebungen zu
fördern, die darauf hinaus laufen, ein Äquivalent, ein Entsprechendes —
nicht für das Geld, aber ftir die Machtfunktionen zu schaffen, deren
Träger das Geld bisher war; so wie die Christen gezwungen waren ein
Äquivalent ftir die römische Prostitution zu schaffen. Denn die Menschen
werden immer ihren „Vorteil“ suchen, weil sie ihre Macht suchen.
Aber es ist ein Unterschied, ob man seinen Vorteil im Gelde sucht
oder — etwa — im Range. Denn nur das Streben nach Geld wirkt
destruktiv auf die Gemeinschaft, das Streben nach einem Range (oder
einem Entsprechenden) wirkt konstitutiv — wie das Beispiel der katho¬
lischen Kirche lehrt. Allerdings kann sich auch diese Wirkung in das
Gegenteil verkehren — aber das ist kein Einwand. Sonst wäre das Ende
ein Einwand gegen den Anfang. Niemand aber wirft seine Arbeit hin,
weil er sterben muß oder in 30000 Jahren die Eiszeit kommt.
i$>8 Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken
Der Kleinkapitalismus, der in Rußland im Entstehen ist, ist daher
ganz ungefährlich — sobald man ein solches Äquivalent gefunden hat.
Ist es da, so wird man die Geldjäger ebenso belächeln, wie wir heute
die Ordensjäger. Denn warum lächelt man? Weil sie sich mit so
wenig Macht begnügen!
V.
Dem Schlaf nicht zu entsprechen oder dem Eros oder dem „Ego¬
ismus“ — das ist taktlos. Taktlos sind daher auch die, die den Krieg
„abschaffen“ wollen.
Der Protest gegen den Krieg entspricht im Grunde genommen dem
Protest der UrChristen gegen die römische Prostitution; damals verwarf
man mit der Prostitution jeden geschlechtlichen Akt — heute mit dem
nationalen Krieg den Krieg „an sich“. Obgleich es diesen Krieg „an
sich“ gar nicht gibt — ebensowenig wie es ein Leiden „an sich“ gibt.
Sondern es gibt ein Leiden, das bei „überströmendem Lebens- und Kraft¬
gefühl“ als Stimulans empfunden wird (was Nietzsche den Schlüssel
zum Begriff des tragischen Gefühls gab) und ein Leiden, das nicht
als Stimulans empfunden wird. Man sagt daher nichts über das Leiden
aus — sondern über sich, wenn man leidet.
Man sagt auch nichts über den Krieg aus, sondern über sich, wenn
man Pazifist ist. Das gestehen die Pazifisten sogar zu. Denn einer sagte
mir: „Ich will nicht, daß ich sterbe.“ Sie können es nicht begreifen,
daß es Menschen gibt, die verkommen, weil es nichts gibt, wofür
es sich zu sterben lohnen könnte. Der Sinn des Opfers, das Glück
des Opfers, die Lust „durch einen Gegensatz der eigenen Unerschöpflich-
keit froh zu werden“, bleibt ihnen fremd. Das Wort von der „Heiligung
des Lebens“ ist daher eine Phrase. Denn je stärker man lebt, um so
geringer wird die Angst vor dem Tode — aus demselben Grunde, aus
dem ein Mensch, der von einer übergroßen Freude beflügelt wird, alle
Gefahren des Wegs mißachtet und losrennt, gleichviel ob er die Er¬
füllung seiner Sehnsucht mit dem Leben bezahlt oder nicht. Tut er
es nicht, so ist es nur die Einsicht, daß es vielleicht besser sein könnte,
sich — vorläufig — zu beherrschen, die ihn zurückhält; nicht der Tod.
Der Tod ist (für diesen Typus) eine Bagatelle.
Es ist eine psychologische Tatsache — und es verrät daher Takt¬
losigkeit sie zu übersehen — daß Tod und Leben sich wie zwei Wag¬
schalen verhalten. Je tiefer das Leben sinkt — um so höher steigt der
Tod; und umgekehrt.
199
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken
Man kann den Pazifismus daher nicht mit der Vernunft begründen —
und auch nicht widerlegen; denn diese Tatsachen, diese psychologischen
Gegebenheiten, ändern sich. Die Logik: „Ich will nicht, daß ich sterbe;
folglich wollen alle Menschen nicht, daß ich sterbe“ — kann über¬
morgen richtig sein. Heute ist sie falsch. —
Aus der Taktlosigkeit gegenüber diesem Phänomen entspringt natur¬
notwendig die Taktiklosigkeit auf beiden Seiten. Denn es ist unsinnig,
mit dem nationalen Krieg jeden Krieg zu verneinen, und es ist un¬
sinnig, mit „dem“ Krieg auch den nationalen zu bejahen.
(Der Krieg der Nationalitäten ist ein Unfug, weil die meisten
Nationalitäten nur dasselbe wollen. Sie kämpfen nicht um Sonnen — son¬
dern nur um einen Platz an jener Sonne, die von allen angebetet wird.)
VI.
Man kann den Pazifismus nicht mit der Vernunft begründen und
auch nicht widerlegen.
Also liegt die Entscheidung darüber, was sein soll, beim Einzelnen?
Nein; denn das Gebot des Einzelnen verhallt, wenn er (zum mindesten)
nicht den psychologischen Voraussetzungen einer Gruppe entspricht.
Also liegt die Entscheidung bei einer Gruppe, einer Aristokratie? Nein;
denn es kommt nicht auf die Zahl derer an, die sich ihrer Einigkeit
bewußt sind — sondern auf die Einigkeit. Die Entscheidung liegt da¬
her beim In-dividuum, d. h. bei einem in sich einigen Wesen, für das
alle Alternativen der Vernunft nicht existieren und das nichts hat als
seinen Willen und damit sein Ziel. Dieses In-dividuum entscheidet. Es
ist gleich, ob es von einem Einzelnen oder einer Gruppe repräsentiert wird.
Es muß nur da sein. Denn dieses In-dividuum ist die Voraussetzung
für das Entstehen aller jener Gebilde, die vorgestern Kirche, gestern
Staat oder Volk hießen und morgen wieder anders heißen werden.
Es ist die notwendige Voraussetzung, weil es, wie im Fall des Krieges,
keine Möglichkeiten gibt, über bestimmte Lebensbedingungen durch
Vernunft zu einer Einigkeit zu kommen. Die Einigkeit muß da sein.
Denn man hat (um bei dem einen Fall zu bleiben) „das überströmende
Lebens- und Kraftgefühl“ — oder man hat es nicht. Was gut ist, steht
daher erst fest, wenn das In-dividuum feststeht. Erst dann beginnt die
Aufgabe der Vernunft. Denn sie besteht im wesentlichen darin, die
Lebensbedingungen des In-dividuums, die „Axiome“, zu verallgemeinern
und die Folgerungen zu ziehen.
Umgekehrt — durch Verallgemeinerungen zu Axiomen zu gelangen;
ZOO
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken
etwa die Voraussetzungen, die „Vernunft“, eines bestimmten Individuums
zu verallgemeinern und folglich „das In dividuum aller Vernünftigen“
zu fordern — das verrät eine Taktlosigkeit, die nur noch von der Ethik
Kants überboten wird. Denn die Axiome, die diesem Philosophen „die
praktische Vernunft“ gab (Freiheit, Unsterblichkeit, Gott), waren die
Axiome — nicht „der“ praktischen Vernunft; sondern der Vernunft jenes
ganz bestimmten In-dividuums, das im Christentum seinen Ausdruck
gefunden hatte. —
Ein Produkt dieser selben Taktlosigkeit, dieses Leerlaufens der Ver¬
nunft, die nicht mehr weiß, wozu sie da ist, und ihre Grenzen über¬
schreitet — ist der Glaube an die „Menschheit“. Weil es In-dividuen
gibt (Freundschaften, Orden, Stämme, Völker, Rassen, Kirchen etc.),
schließt man, müsse auch dies In-dividuum möglich sein. Man ver¬
allgemeinert einfach — unbekümmert um die Grenze, die durch die Vor¬
aussetzungen gegeben ist, die das Entstehn eines solchen in-dividu-
ellen Keims bedingen.
Es gibt keine Menschheit. Der Begriff hat nur Sinn als Gegensatz¬
begriff zur Tierheit. Nur von der Tierheit aus gesehen ist die Mensch¬
heit einheitlich. Abgesehen von diesem Gegensatz wäre sie es nur,
wenn sie in ihren Zielen einig wäre. Selbst eine Kriegserklärung
gegenüber allen Kriegen würde deshalb nicht genügen; man wird nicht
einig dadurch, daß man etwas unterläßt.
Es gibt keine Menschheit — ebensowenig, wie es den Einzigen
gibt. Denn der Mensch ist — abgesehen von seiner körperlichen
Existenz — nur da, wenn er wirkt, wenn er Kopf oder Glied einer
sichtbaren oder noch unsichtbaren Menschenkette ist. In jedem anderen
Falle ist er ein Wilder, ein Tier. Da ist, wirklich ist folglich nicht
der Mensch und nicht die Menschheit, sondern nur die Grenze
zwischen Mensch und Menschheit — jene Grenze, die durch die Existenz
des In-dividuums gezogen wird.
Nicht auf die „Menschheit“, sondern auf die neue Grenze kommt
es daher an; denn die historischen sind unwirklich geworden. Sie
bewirken nicht mehr Leben — Befruchtung durch Verbindung. —
Die Partei der Erfahrung, die nationale Grenzen fordert, hat ebenso
unrecht, wie die Partei der Vernunft, die die „Menschheit“ fordert.
VH.
Es gibt keinen Gegensatz, der ebenso entscheidend wäre, wie der
zwischen dem heiligen Ambrosius und Manu.
ZOI
Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken
Es ist im Grunde genommen nur die Überzeugung des Ambrosius,
die Kant auf die Formel gebracht hat, als er sagte, daß „in Ansehung
der sittlichen Gesetze" die Erfahrung die Mutter des Scheins ist und
daß es höchst verwerflich ist, „die Gesetze über das, was ich tun soll,
von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen,
was getan wird." Kant verallgemeinert damit jede besondere Ein¬
stellung, die die Urchristen zum Eros hatten und nimmt die Einstellung
der Bolschewisten zum Egoismus und der Pazifisten zum Kriege vor¬
weg. Er proklamiert die Partei der Vernunft im Gegensatz zur Partei
der Erfahrung, die das, was sein soll, nach dem bestimmt, was bisher
gewesen ist.
Aber beide Parteien haben unrecht. Denn der Gegensatz entsteht in
beiden Fällen nur dadurch, daß man abstrakt denkt und alles, was „ist“,
unter der Marke „Sein" in einen Kasten wirft, ohne zu scheiden
zwischen ewigem Sein und zeitlichem Sein, zwischen Notwendigem und
Zufälligem — also daß es ebenso ethisch wie unethisch sein kann, das,
was „ist", zu berücksichtigen oder nicht zu berücksichtigen.
Denn es kommt darauf an, was das ist, das „ist!" — Also sprach
Manu. Also sprach Zarathustra.
Was das ist, das „ist" — darüber aber kann niemals die Vernunft
entscheiden, sondern nur der Takt.
VIII.
Es ist klar, daß dieser Takt durch die Vernunft (und also die Be¬
griffe) nicht übermittelt werden kann; — folglich bleiben nur die Sinne
Übrig. Die Sinne sind jene „tiefe, unbekannte Schicht, welche allen
anderen als Stütze dient und die, einmal gebeugt, allen übrigen ihre
Neigung mitteilt, so daß fortan alles auf diesem so erzeugten Abhange
herabrollt." „Denn unser innerster Grund ist weder der Verstand,
noch die Vernunft, sondern es sind die Bilder. Die sichtbaren Ge¬
stalten der Dinge, einmal in unser Gehirn gebracht, ordnen, wieder¬
holen und prägen sich dort mit unwillkürlichen Verwandtschaften
nnd Zusammenhängen ein. Wenn wir dann später handeln, geschieht
cs in dem Sinne und durch den Antrieb der so erzeugten Kräfte,
und unser Wille keimt ganz und gar wie eine sichtbare Pflanze aus den
unsichtbaren Sämereien, welche die innere Gärung ohne unsere Hilfe
bat aufsprießen lassen.“*
* Taine über Loyala.
202 Chronik Werenivags
IX
Ich habe die Geschichte von dem Mann erzählt, der den Schlaf ab-
schaffen wollte, weil es ihm geglückt war, mit Erfolg gegen einen
ganz bestimmten Schlaf zu kämpfen. Und ich habe die Geschichte
von dem Mann erzählt, der nicht in den Suppenteller spuckte, aber
dafür in eine Schüssel. Ich habe gesagt, daß der eine zuviel Vernunft
besaß, und der andere zu wenig — und daß das, was beiden fehlte:
Takt war.
Aber ich habe noch nicht gesagt, daß ich, weil ich von der Kraft der
Bilder überzeugt bin, Takt genannt habe, was man —im allgemeinen —
Geist nennt.
CHRONIK WERENWAGS
m
I n keinem Monat liest man so viel wie im Januar. Alle die Bücher,
die zu Weihnachten kamen, und die Nachmittage, wenn das Zimmer
vom Schnee draußen hell und vom Ofen innen warm ist.
Schön ist es auch, im Jänner nach Partenkirchen zu fahren, gerade
noch bevor die Bauern, treuherzig wie ein Pudel und gerissen wie
ein Armenier, der der Sohn eines Juden und eines Griechen ist, den
deutschen Kurgästen bedeuten, daß sie überflüssig sind, solang die
Oberammergauer Passionsspiele dauern und der Dollar klatscht, wenn
Christus hängt (wie sie rüsten, streichen, hamstern, nageln, bauen und
wie sie rupfen werden, die Schakalorte um Oberammergau) — schon
ist es, im Jänner nach Partenkirchen zu fahren, Skier und Frack im
Gepäckwagen, und im Netz über dem Sitz nur ein Suitecase mit
Büchern, die Zeit zu vertreiben. Laß sehn, was du mitgenommen hast.
Den dritten Band der Propyläenausgabe von Stendhals Werken;
Suares Porträts; Flauberts Reisetagebücher. Das sind drei Übersetzungen
von Franzosen in einem Koffer. O deutsche Unbefangenheit, groß und
problematisch in einem. Und fünf, sechs Nordländer aus dem Gylden-
dalschen Verlag, der nun, weil es so billig ist, in Berlin eine Filiale
hat und seine Skandinavier deutsch herausbringt — ganz schön, wenn
es nur auf Gegenseitigkeit beruhte und die Fremden ihrerseits deutsche
Autoren in ihre Edelvaluta übertrügen; sie denken nicht daran.
Chronik Weremvags 103
Und die Biographie Dostojewskis von seiner Tochter Aimde, die auf
russisch Lubow heißt, und endlich die deutschen Bücher, eine bunte
Reihe. Mückles Nietzsche; Thomas Manns erster Band der gesammelten
Werke, schon auf holzfreies Papier gedruckt und in der Ungerfraktur
gesetzt, die zu diesem subtiles Geist mit der zarten Männlichkeit paßt;
die Heldensagen der germanischen Frühzeit; das erste Heft der Steiner-
schen Zeitschrift Die Drei und die beiden ersten des Keyserlingschen
Wegs zur Vollendung — Geduld, wir werden das alles unter einen
Hut bringen.
Nun, mein Lieber, du wirst nicht die ganzen Abende mit der
Malay oh ol länderin, deren Lungen, o nur an den zarten Spitzen, an¬
gegriffen sind, beim Teetisch und die ganzen Tage mit ihren beiden
Mädchen, betörenden Durchbrüchen des javanischen Bluts, auf der
Rodelbahn zubringen können, wenn du das alles lesen willst. Am
leichtesten macht es dir Stendhal.
Der kleine gedrungne Herr bat jetzt, was er sich wünschte, die
Leserschaft von Neunzebnhundertsoundsoviel und eine schöne, gro߬
formatige deutsche Gesamtausgabe, würdig des Namens Propyläen,
obendrein, woran er nicht dachte. Bevor er sich zum Schreiben hin¬
setzte, las er, ein vorweggenommner positiver Dadaist, rämlich ein
Verächter der poetischen Locke und des geistigen Toilettemachens,
im Code Napoleon, um seinem Stil die Nüchternheit zu geben — so
kannst nun du abends im Bett eine Stunde in ihm lesen, damit du
dich nicht an jene Fremde, deren Augen so hinreißend pflanzenhaft
sind, verlierst und dein Blut klar bleibe.
Aber siehe, was sich vollzieht, wie er auf dich wirkt: er, der der
prosaischste aller Schriftsteller zu sein wünschte, enthüllt sich als der
feinfühligste von allen und lehrt: mache die Liebe zu einem künst¬
lichen Paradies, in dem du nicht mit der Göttin schlafen gehst. Das
teilt der mit, der in Erinnerung an die Leutnantszeit in der großen
Armee den Ehrgeiz hatte, der forsche Husar zu sein, der das Hinder¬
nis im Galopp nimmt, oder auch der Infanterist, der in jedem Augen¬
blick darauf vorbereitet ist, drei-, viermal zu — entladen. Aber er
bleibt tapfer, selbst wenn der Schneid versagt, und bekennt herzhaft
als erster das Phänomen der streikenden Pulverpfanne.
Famoser Mensch, sympathisch, herrlich unpoetisch und befähigt
darum, Leidenschaft von Pathos zu unterscheiden, dreifacher Vater
des Realismus von 1860, der Analyse von 1885 und jetzt des Dritten,
Neuen, Kommenden — einer Literatur, die denkt, nicht unbesehn dem
io4 Chronik Werenioags
Leben aus der Hand frißt und formen kann, weil sie den Wider¬
stand besitzt.
Auch schon leicht aber liebenswert altmodisch, wenn er sagt, es
gebe im Erotischen Dinge, die man nicht darstellen könne; wie ja
jene ganze Lehre der übersinnlich sinnlichen Liebe gewiß nicht stand¬
hält, sobald man sie mit der Sonde seines eigenen Kritizismus unter¬
sucht. Und doch, indem sie im spinnfadenfeinen Unwirklichen schwebt,
ist sie wahrlich mehr, als ein Barbar der Wahrheit ersinnen kann,
nämlich Artificium, Kunst.
So also kannst du bei ihm lernen, die Verehrung einer Frau als
feinste Ekstase in die Reihe der an sich schon sublimierten Reizmittel
einzufügen, deren du in diesem Monat Januar teilhaftig wirst: des in
der Bewegung eines Eistages brennenden Bluts; der Schnecluft, die
wie Champagner Perlen klaren Wassers in der Mundhöhle bildet; des
Rausches, wenn man die Hänge höher und höher steigt bis zur Hütte,
wo eine Schar junger Mädchen wie ein Rudel Gemsen lockt, lacht,
glüht. Flirt: Brücke zwischen Becken und Hirn; Geist ist Leichtigkeit.
Im Suar&sband „Porträts** begegnet man nochmals Stendhal, zwie¬
fach sogar: in dem ihm gewidmeten Kapitel und in demjenigen über
Chateaubriand. Denn diesen kontrapunktiert Suar&s als Antipoden
Beyles, als den ersten modernen Literaten. Es ist interessant, diesen
Typus auf den Verfasser von Rene zurückgeführt zu sehn, und man
fühlt rasch, daß es richtig ist.
Denn sobald ein Schriftsteller Anarchist wird, wird er Histrione.
Der Literat ist Nero, der, indem er mit dem Worte rast, die Diktatur
des Wortes anstrebt. Da er für das Bedürfnis, das er mit allen be¬
gabten Naturen gemeinsam hat, für den Willen Macht zu werden,
keine außer ihm, bei den andern also, existierenden Gegebenheiten
findet, in deren Dienst er sich stellen kann, keinen Glauben, keine
gewordne Institution, keine künftig zu verwirklichende Idee, hat er
auch keine Sachlichkeit.
Stendhal ist sachlich, weil er den Heroenkult und die Liebesbe-
dürftigkeit der fünfundzwanzigjährigen jungen Männer respektiert.
Der Histrione aber, deren erster Chateaubriand war, zerstört ent¬
weder das, was die andern verehren, oder er bläst es ihnen mit nach¬
träglicher Beredsamkeit zu einem Feuerwerk auf, beides ist dasselbe.
Chateaubriand wählte die zweite Möglichkeit, er propagierte Christen¬
tum, nachdem es die Welt erobert hatte.
Chronik Weremvags 205
Das alles ist ausgezeichnet bei Suar&s nachzulesen. Wir aber in
Deutschland, sollten wir das nicht kennen, dieses Temperament, das
den Gaul reitet, indem es ihm Zunder unter den Schwanz legt, diesen
Ehrgeiz, Cäsar der öffentlichen Meinung zu sein? Wir kennen das
Phänomen und auch schon seinen Ausgang, wenn den Heißspornen
nichts übrig bleibt, als aus Aristopbanes Sardou zu werden, der Manon
Lescaut schreibt, oder aus dem Cowboy Dumas, der euch den neuen
Kean hinschmeißt.
Literaten I: „Mit diesem Buche nimmt der dreißigjährige Dichter
Abschied von der Welt der Leidenschaften und Abenteuer, die er
wie kein andrer glühend geschildert hat, bevor er sich den großen
Fragen der Zeit zuwendet."
Sogar die Hennen gackern erst, wenn sie das Ei gelegt haben, und
Sei bst Verkündigung ist Selbstbefriedigung. Diesen Waschzettel hat nicht
der Verlag, sondern der Autor geschrieben. Mag er widersprechen,
wenn es nicht wahr ist — Edschmidt wird nicht widersprechen, kein
andrer hat den Mut, zu affichieren, daß er sich den großen Fragen
zuwenden wird.
Er macht mir übel, dieser Mut. Die armen Fragen, wenn der
Dreißigjährige sie aufs Bett werfen wird, wie damals in der Welt
der Leidenschaften die Abenteuer.
Literaten II: Vor einem Jahr veröffentlichte ein bayrischer Uni¬
versitätsprofessor in der Münchner Zeitung einen Aufsatz, der einigen
deutschen Schriftstellern wie Curtius, dem Verfasser der mit edelster
Distanz geschriebenen „Wegbereiter des neuen Frankreich", ein Kolleg
über nationale Haltung las; das Lob von Pdguy, Rolland, Claudel
war dem Professor: „Anbiederung mit der Negernation". Nun gut,
ein Nationalist, vielleicht auch nur ein bayrischer Demokrat, das
macht keinen Unterschied aus, sagte dem Publikum, was es an der
Isar gern hört.
Aber neulich, am Main, begegnete man dem Professor in den
Spalten eines Blatts, in das ein Mann von Charakter nicht schreibt,
wenn er für die Münchner Zeitung tätig ist; denn die Frankfurter
Zeitung, die in den bayrischen Angelegenheiten scharf und sauber den
Trennungsstrich zieht, ist für das Münchner Blatt, was das rote Tuch
für den Stier ist. Gegen was, glaubt man, wandte er sich hier? Wie
es dem Geist der Frankfurter Zeitung entspricht, gegen den Kampf
wider die französische Literatur.
io 6 Chronik Wercniaags
Lcrch heiße die Lerche, die bald in den nationalistischen, bald in
den internationalen Himmel steigt — sie allein kennt die Faden, die
ihr Zwitschern regulieren.
Hätte der Professor in jenem ersten Artikel Maß gewahrt, würde man
von selbst so anständig sein, eine Sinnesänderung zu vermuten. Unter
den Federn, mit denen ich schreibe, sind auch die spitzen. Aber
ich lasse sie rosten, solang es möglich ist. Man muß nachsichtig sein,
denn jeder begeht Torheiten.
Man darf nur dann unnachsichtig sein, wenn man deutlich fühlt:
hier ist einer nicht entgleist, sondern in einer Geistesrichtung gefangen,
die ihn anmaßend macht. Anmaßung aber, ob sie sich selbst ver¬
kündet oder zum Richter aufwirft, wirkt, wenigstens auf mich, wie
jeder Eingriff in die ungeschriebne Moralität: man wird unpersönlicher
Vertreter, unpersönlicher Rächer des Geists, und diese Rache erscheint
mir als die einzig erlaubte, Arroganz darf sich nicht spreizen.
Ich zögere, ob ich recht tue, die Prognose Sardou für Stemheim
auszusprechen, obwohl ich sie für richtig halte — denn Stemheim
war bis zur Revolution echt und sein Zusammenbrach ist der des
Radikalismus, objektiv tragisch. Bei Edschmidt, Operntenor, mache ich
mir kein Gewissen, und Lerch hat, in einer Erwidrang an die Frank¬
furter Zeitung, wie Fausts Wagner den Finger an die Nase gelegt
und sich nicht zu rechtfertigen, sondern Recht zu behalten gesucht
Man kann nicht vorsichtig genug urteilen. Jeder geistige Mensch
von einigem Rang erlebt es, daß diese Mahnung erst ganz fern an
seinem Horizont sichtbar wird, wie die Spitze eines Seglers auf dem
gewölbten Meer; daß sie näher kommt (weil er ihr sich nähert,
Gesetz der moralischen Entwicklung); daß sie zuletzt über ihm steht,
fortan sein Banner, seine Fahne.
Die Wirkung eines Schriftstellers auf die Menschen beruht im
wesentlichen darauf, daß er sie diese Vorsicht fühlen läßt Die
Menschen haben eine Vorstellung davon, wie kurzfristig ihre Wer¬
tungen sind. Indem sie feststellen, daß sie selbst dem Dämon, der
sie zu werten zwingt, erliegen, verlangen sie vom Schriftsteller, daß
er der sei, der sich frei hält und sie an die Möglichkeit der Freiheit
glauben läßt
Das ist die Rechtfertigung dafür, daß er mehr als einen Beruf, daß
er ein Amt hat Wir denken mit den andern und für sie, und wir
sollen hundertmal kontrollieren, bevor wir einmal verwerfen.
Chronik Wereimags 207
Solche Vorsicht, die als Moralität wirkt, ist es, die den Charme
Thomas Manns ausmacht und ihn ins Repräsentative zu rücken be¬
ginnt. Wenige Autoren dürfen es wagen, ihre Aufsätze nicht nur
äußerlich als kritischen Ergänzungsband zum Gesamtwerk zu schlagen,
sondern sie organisch mit ihm zu vereinigen.
Lese ich in „Rede und Antwort", so fühle ich: Thomas Mann
schadet cs nicht, wenn er so seine Gesamtausgabe auf einer Sammlung
von kleineren Tagesarbeiten aufbaut: weil sowohl Romane als Auf¬
sätze Mittel sind, seine moralische Subjektivität darzustellen.
Einige Jahre, nachdem die „Buddenbrooks" erschienen waren, in der
Zeit unsrer größten geistigen Krise, konnte man fragen, an welcher
Stelle Mann den seelischen Durchbruch versuchen werde, denn es war
ja klar, daß der Wurf der Buddenbrooks nicht mehr gelingen werde,
weil, anders als zu Dickens oder Fontanes Zeit, die bürgerliche Ge¬
sellschaft vor dem Ende stand, der Dichter also keineswegs sein Jagd¬
gebiet gefunden hatte — die Pacht war schon gekündigt
Man darf vermuten, daß die Erkenntnis dieses Zustands auf Mann
schmerzlich und auch lähmend wirkte. Sprechen wir nicht davon,
alles ist im Fluß — aber der Fluß hat eine Richtung; und wer, wie
ich, die idyllischen Epen von Hund und Kind nicht schätzt mag
erkennen, daß sie schon als kleine Inseln im Flußbett zurücktreten.
Bei jedem Buch, bei jeder geistigen Erscheinung fast taucht jene
Mahnung, vorsichtig zu sein, auf. Sehe ich, wie „Der kommende
Tag A. G." in Stuttgart die Steinersche Zeitschrift „Die Drei" nicht
anders als eine Champagnerfirma ihren Sekt inseriert wie ihre Aktien
an der Börse zugelassen und ich weiß nicht mehr wie hoch über
pari gehandelt werden, wie Rudolf Steiner den Stoßtrupp der Mit¬
arbeiter vorschickt, damit die Spannung auf seinen Auftritt wachse,
dann zweifle ich nicht daß er, der die Seelennot der Zeit wie ein
Boß zum Geschäftemachen zu benutzen scheint, selbst in dem Geist
gefangen ist den er bekämpft, im Geist der wirtschaftlichen Orga¬
nisation, der Reklame, der Diktatur. Zu unvergessen ist noch die
Dialektik des Bolschewismus, der, um Gewalt zu zertrümmern, alle
Methoden der Gewalt übernahm.
Aber dann lese ich in einem Aufsatz des ersten Hefts der „Drei"
ein Wort, zu dem der Verfasser, Ühli, zwar monomanisch wieder und
wieder greift, das aber eine Wahrheit enthält: das Wort von der
pädagogischen Stoßkraft, die nötig sei, um Altes in Neues zu Ober-
208
Chronik Weremvags
führen. Und dagegen, daß jedes Zeitalter seine besondere Form des
pädagogischen Impulses verlangt, daß in der Ära der Maschinen mit
surrender Tourenzahl und den Börsenpaniken auf einen harten Amboß
ein sausender Keil gehöre, dürfte nichts einzuwenden sein.
In jedem Fall, der Mut, Philosophie, die als Beschäftigung im
Studio bankrott ist, zur Gesetzgebung in die Öffentlichkeit zu führen
und einen neuen Philosophentypus, denjenigen des aktiven Eingriffs
im Dienst des Geistes zu schaffen — das ist, auch wenn Steiner, den
ich nicht als Mensch und nicht als Autor kenne, ein Stück Schau¬
spieler sein sollte, das Ernsthafte.
Es ist derselbe Entschluß, den ich auch bei Keyserling bewundre:
sich, den gewiß auf Einsamkeit wie auf Luft angewiesenen Menschen,
dazu zwingen, für andere da zu sein, auf die unmittelbare Identität
mit sich zu verzichten, lehrhaft zu werden, den Menschen nicht das
Buch zu schicken, sondern unter sie zu gehn.
Steiner und Keyserling stehn sich verfeindet gegenüber, und es
ist kein Zweifel, daß Steiner den Angriff begann, der noblere und
sachlichere Partner Keyserling bleibt Auch läßt Steiners heftige Re¬
aktion auf die Behauptung, daß er einmal von Haeckel ausging, auf
den Wunsch schließen, Spuren zu verwischen, ein Bemühen, das ihm
ein Aufsatz der Frankfurter Zeitung schneidend nach wies: es steht fest,
daß er in der ersten Auflage eines Frühwerks Entwicklungsgeschichtler
und Atheist war, die neuen aber so umgearbeitet hat, daß sämtliche
positiven Stellungnahmen in neutrale Referate umgebogen werden —
daß sich also seine Behauptung, er habe nichts Wesentliches geändert,
als Fälschung aufdecken läßt. Das ist übel und legt den Gedanken
nah, daß man es nicht mit einer reinen, sondern mit einer genia¬
lischen Persönlichkeit zu tun hat.
Die Beiträge des ersten Heftes „Die Drei“ bemühen sich — man
sieht die unsichtbare Hand dahinter — die Anthroposophie von der
Theosophie zu lösen, mit der sie in den Augen der Anhängermassen
zusammenfällt. Anthroposophie als Lehre von der bewußt geleiteten
Seelenentwicklung, als Lehre von der möglichen Freiheit und der
Steigerung des Ich durch dieselbe Disziplinierung, die Loyola wohl
bekannt war, zu definieren, das hat Hand und Fuß.
Und Verschwommenheit ist es nicht, wenn Steiner das angeblich
objektive Studium der Natur für ungenügend und die Entstehung
eines Begriffs, des Begriffs Pflanze etwa, aus dem Zusammenstoß
zwischen dem Objekt und dem Bewußtsein des Beobachters erklärt:
Chronik Wtremoags iop
das ist das Bekenntnis zur unvermeidbaren Metaphysik und Erkenntnis
des schöpferischen Aktes, durch den die Erscheinungen in die Dimen¬
sionen Zeit und Raum und in die Kategorien der Anschauung ge¬
hoben werden — es ist der Koeischsche Moment des „Erlebnisses“,
fruchtbar für die Naturwissenschaftler, denen wir wenig mehr glauben.
Am reinsten wirkte unter den Beiträgen der „Drei“ ein Bericht
der Walddorfschule bei Stuttgart, in der Reformpädagogen „unter
Berücksichtigung Steinerscher Anweisungen“ erziehen.
Der Kristallisationspunkt für schöpferische Intuition ist hier das
Kindennaterial. Alles Schöpferische nun ist zunächst Realismus; nämlich
Erfassen von Gegebenheiten. Aber schon in diesem Stadium ist es,
was die Wissenschaftler noch immer nicht ahnen, Aktivität, nämlich
Ausgreifen und Ansetzen eines erregbaren und erregten Kernes im
Beobachter. Die Kinder z. B. stellen sich dieser Intuition als Be¬
grenzungen, als Formen dar; der Autor des Aufsatzes, Heydebrand,
erlebt so die „Temperamente“ der Kinder.
Danach vollzieht sich Folgendes. Der wirklich lebende Mensch
ergänzt die begrenzten Formen (die Temperamente) um ein sagen
wir X, das so geartet ist, daß sämtliche Ergänzungen, die also variabel
sind, dasselbe Resultat liefern: die Totalität.
Worin besteht diese? Darin, daß Einzelgeschöpf (das beobachtete
Material) plus Ergänzung (vom Beobachter vollzogen) das Sein, das
ganze Phänomen der Welt ergeben. Wir kennen die Ergänzung seit
Jahrtausenden unter dem Namen Religiosität, die nichts als die Sehn¬
sucht einer gegebenen Form nach ihrem Grund ist; man könnte eine
Formel aufstellen: Kreatur + Sehnsucht — Gott — Totalität.
Ich gebe nicht die Heydebrandschen Gedankengänge, sondern meine
eignen; aber ich glaube so zu veranschaulichen, was bei Steiner
positiv ist: der zündende Gedanke, jene Ergänzung oder Sehnsucht
nicht einer Gnade oder einem Zufall zu überlassen, sondern zu dem
Funkt zu machen, auf den sich die Spannungsenergien der Kreatur
konzentrieren. Hier berührt sich die Lehre von der Disziplinierung
eben so sehr mit uralt Indischem wie mit dem Dilettantenkitsch der
Spiritisten (aber der Dilettant ist der, der den Instinkt hat und vor
der übergroßen Behutsamkeit der Wissenschaft zur Selbsthilfe greift).
Ich breche hier ab, ein Aufsatz muß Form haben, d. h. genau das
enthalten, was man für präzise Kritik ansieht, und nicht mehr.
Besser zu wenig sagen als zuviel. Vorsicht ist ein Faktor der künst-
>4
ZIO
Chronik Werenmags
krischen Formung, die also ein moralischer Akt ist. Ich bin gegen
Keyserlings gesellschaftliche Veranstaltungen mißtrauisch wie gegen
Steiners Propaganda, hinter der ein Riesenfonds „Geschäftsunkosten“
stehn muß; aber ich vermeide es, Horoskope zu stellen, wo man
nur, später einmal, Bilanz ziehn darf.
Aus elsassischen Zeitungen erfahrt man, daß neulich in Straßburg
zwei Mörder öffentlich hingerichtet wurden, und daß ein Kaffeehaus-
untemehmer den psychologischen Augenblick des Grauens benutzte,
um Prospekte verteilen zu lassen, in denen er die Zuschauer auf¬
forderte, ihre Nerven durch eine Tasse heißen Kaffees zu stärken.
Man hat das da unten den Franzosen doch verübelt, und reichsdeutsche
Zeitungen rafften ihr Französisch auf, um den Spieß einmal umzu-
drehn und unter der Überchrift leur culture aus dem Bereich der
gallischen Zivilisation zu berichten.
Ich gehe weder auf die Vortrefflichkeit öffentlicher Hinrichtungen
noch auf die nationalen Noten ein, die auszuteilen die Franzosen
noch eifriger als die Deutschen sind, und stelle unbewegt fest: wenn
ihr die Unreligiosität der Zeit beklagt, müßt ihr euch klar machen,
daß Glaube einerseits, Verbrechen, sinnfällige Handlungen und Gegen¬
handlungen, also auch grelle Justiz andrerseits untrennbar aufeinander
angewiesen sind.
Denn Verbrechen und Amtierung der Scharfrichter entspringen dem
Sinn für das Elementare. Religion aber ist nichts anderes als un¬
gebrochenes Verhältnis zum Elementaren. Die Hexenbrände, das Ghetto,
die Ketzergerichte sind fürchterlich; jedoch: sie sind Projektionen
der elementaren Ära.
Jener dritte Band Stendhals, von dem ich ausging, enthält die Ge¬
schichte der Beatrice Cend, die mit Mutter und Bruder vor der Engels¬
burg in Rom wegen Ermordung ihres Vaters (der von der Fünfzehn¬
jährigen verlangte, daß sie ihn in ihr Bett ließ) hingerichtet wurde. Dem
Bruder geschah folgendermaßen: „Er wurde bis zum Gürtel entkleidet.
Dann wurden ihm die Beine auf dem Richttisch festgebunden. Der
Boja (Henker) ergriff mit beiden Händen eine Keule und erschlug ihn
durch fünf bis sechs Schläge auf seine rechte Schläfe. Darauf schnitt
er ihm, ein Knie auf seiner Brust, den Fuß auf seiner Stirn, den
Körper auf, riß die Eingeweide heraus und vierteilte ihn.“
Das Volk von Rom sah zu, es war der n. September 1599, die
Glocken läuteten, die Frauen schluchzten, und als der Henker den
Chronik Wercnmags z 11
Körper de« enthaupteten Mädchens am Seil in den Wagen schleifte,
war er unachtsam, der Körper fiel herab und die entblößten Brüste
wurden mit Staub besudelt. Man sehe jenes Bild des Henkers, der
das eine Knie auf die Brust und den andern Fuß auf die Stirn setzt,
es ist eminent. Inzwischen betete der Papst, und alles, die Erschütterung
and das Rohe, durchdrangen sich, unteilbar.
Stendhal, der sonst getreu den Chroniken folgte, überging die Hin¬
richtung des Bruders der jungen Cenci als zu entsetzlich, ich finde
den Bericht in einer Anmerkung des Übersetzers. Ich, als Erzähler der
Novelle, hätte ihn nicht ausgelassen. Man muß alles maximal dar-
stellen, damit seine bürgerliche Zufriedenheit, der Leser, nicht unter¬
halten, sondern gepackt werde.
Entweder sind wir gesittet und verzichten auf das Jammern über
den verlorenen Glauben, oder wir glauben und wollen das Elemen¬
tare mit Haut und Haar. Das Starke unsrer Zeit ist, daß wir diese
Alternative zu durchschauen beginnen und das Verhältnis von Ele¬
mentar und Rational bis in seine Tiefen zu sehn fähig werden.
Ich erinnere mich einer Glosse Kurt Hillers über die Pyramiden,
eines moralischen Sophismus, der nicht weniger klassisch ist als jener
mathematische des Altertums, wonach der schnellste Achill die lang¬
samste Schildkröte nie einholen kann. Hiller sagt: „Wenn es wahr
ist, daß die Pyramiden nur haben entstehen können auf Kosten der
Freiheit und des bescheidensten Kreaturglücks Unzähliger ... hören
dann die Pyramiden nicht auf, etwas Verehrungswürdiges zu sein?
Der Menschcnverbundne, der Ethische, der Messianische, der Sozialist
wird, weil er Sklaven nicht duldet, auf Pyramiden gern verachten,
oder viel mehr als verzichten; er wird gar nicht erst auf sie zu ver¬
zichten brauchen, da sie für ihn wertlos sind.“
Konsequent gedacht; aber nur halb durchdacht Die Frage müßte
lauten: „Wenn auch heute Pyramiden nur wie damals aus dem blu¬
tigen Schweiß Unzähliger gebaut werden können, würdest du sie
bauen?“ Selbstverständlich nein. Was dagegen geschehen ist, das ist
jeder Wertung entrückt und nur anschauend hinzunehmen. Das voll¬
zogene Geschehen ist den Wertungen nicht untertan, nur das Künf¬
tige kann durch sie modifiziert werden. Daraus folgt allerdings, daß
die Moral nicht eine absolute Gegebenheit, sondern ein Regulativ
ist; der Messianische ist nach rückwärts ein Rationalist und ein Kind,
nach vorwärts ein Idealist und ein Held.
21 i Chronik Werenmags
Als Flaubert die Pyramiden vor sich liegen sah, galoppierte er
▼or Erregung auf sie zu. Das ist die einzige Andeutung der Gefühle
oder Reflexionen, die sich in ihm vollzogen. Die ReisetagebQcher
enthalten an dieser Stelle wie auch sonst nur die sachlichen Notizen,
deren Genauigkeit verrät, was Flauheit suchte: Anschauung, Realität,
Konzentration auf ein Lehen, das gewesen ist und durch einen Akt
der Energie wiederauferstehen wird, damit das mitgeteilt werde, wor¬
auf es ankommt, die Erkenntnis des Phänomens Leben.
Hiller nennt diejenigen, die das suchen, die „Dingverfallenen,
Ästhetischen, Fetischisten, Heiden“. Ich nenne sie — die „Menschen-
verbundnen“. Und ich mache es wie die Deutschen, ich erhebe auch
einmal „schärfsten Protest“: Protest dagegen, daß der gesinnungstüchtige
Rationalismus der Moralisten die Diktatur des Urteils anstrebt und
den Menschen der Anschauung Ästheten zu nennen wagt.
Der Aktivist Hiller müßte wissen, daß Anschauung kein passives,
sondern das höchste aktive Verhalten ist, daß sie eine äußerste Energie¬
anstrengung darstellt, nämlich diejenige, das Sein rund, voll, ganz zu
erfassen — das Sein, in dem der Wille zu den Regulativen nicht
souverän, sondern in einen „Konditionalismus“, d. h. ein System von
einander relativierenden Kräften eingestellt ist.
Etwas in der Konstitution des Hillerschen Denkens ist noch un¬
fertig, nämlich die Taktik, eine der vitalen Kräfte herauszuheben und
abstrakt zu isolieren. Auch das „Politikdenken“ ist Isolierung, man
muß Seindenken treiben. Die Isolierten verfallen darauf, alle Energie,
damit nur etwas geschehe, auf eine symbolische Forderung zu kon¬
zentrieren, wie in Essen auf der Pazifistentagung, als sie die Ab¬
schaffung der Reichswehr verlangten — das ist gewiß ein Ziel, zu
dem ich ja sage, aber man vergißt nur eine Kleinigkeit, die zähe,
geduldige Vorbereitung. Es steht einen Tag in den Zeitungen und
fortan im Mond.
Für die Messianischen, um diesen Ausdruck für die Radikalisten
der Idee zu benutzen (ich verstehe nicht, warum sie nicht zur kom¬
munistischen Partei stoßen, in die sie gehören), gibt es nichts In¬
struktiveres als die Beschäftigung mit Dostojewski.
Noch im Krieg glaubte ich wenigstens — seither bin ich oft derselben
Meinung begegnet — daß auch Dostojewski ein solcher Messiänist
gewesen sei; daher ich annahm, daß er als gehetzter Anarchist und
gequälter Proletarier in Dachkammern gehaust habe. Woher diese
Chronik Werenmags 1 i3
Auffassung? Sie entsprang einem scheinbar logischen, in Wahrheit nur
stimmungshaften Trugschluß. Wir brachten zwei Vorstellungen raum¬
geistig zusammen: erstens die Lehre von Güte und Leid, zweitens
das Leben und die Ideologie der vom Zarismus verfolgten Sozialisten.
Auch nahmen wir automatisch an, die vier Jahre sibirischer Zwangs¬
arbeit müßten Dostojewski zum Revolutionär gemacht haben.
Heute weiß jedes Kind, daß Dostojewski Panslawist war. Aber
mit Staunen liest man in der Biographie aus der Feder seiner
Tochter, daß er „Adliger“ war; daß er nach den sibirischen Jahren
als Offizier diente; daß der berüchtigte Pobedonoszew zu seinen
Lebzeiten mit ihm befreundet und nach seinem Tod Vormund der
Kinder war; daß die radikalen Studenten ihn verwarfen, weil er ihre
freie Liebe verwarf; daß er ein bürgerliches Eheleben führte und
abends der Familie vorlas; daß er seine Zeit nicht damit zubrachte,
entweder in Krämpfen auf dem Boden zu liegen oder am Schreib¬
tisch seine Romane herunterhetzen; daß er den Zar, die Kirche und
sogar die Armee billigte, und daß er in einem Kloster begraben liegt.
Nein, es gibt nichts Instruktiveres. Das Revolutionäre steckt
anderswo als in Programmen, Resolutionen, Kongreßreden. Es hieße
die Wucht dieses Satzes abschwächen, wollte man ihn wie ein Aufsatz¬
thema ausführen. Der einzige ernste Einwand wäre dieser: ebenso
religiös wie Dostojewskis Panslawismus kann der gesellschaftliche
Radikalismus sein, es handelt sich überall darum, die religiöse Spannung
zu besitzen. Ja, eben deswegen packten uns die Anfänge des Bol¬
schewismus und heute das was er, vielleicht, einmal wird.
Nachweise: Stendhal, Gesammelte Werke, 1—3. Band. Propyläenverlag.
— Suares, Porrraits. Drei Masken Verlag. — Flaubert, Tagebücher. 3 Bände.
Gustav Kiepenheuer Verlag. — Dostojewski. Geschildert von seiner Tochter.
Ernst Reinhardt Verlag. — Thomas Mann. Rede und Antwort. S. Fischer
Verlag. — Die Drei. 1. Heft. Der kommende Tag Verlag. — Der Weg
zur Vollendung. Herausgegeben von Graf Hermann Keyserling. 1.—a. Heft.
Otto Reichl Verlag.
POLITISCHE CHRONIK
von
JUNIUS
I
E inmütig erschallt nun aus allen Winkeln der kapitalkräftigen —
oder kapitalsüchtigen — Welt der Ruf: der 'Wiederaufbau Europas
sei ohne Rufiland unmöglich, es müsse in den allgemeinen Güter-
erzeugungsprozefi wieder eingespannt, aus der wirtschaftlichen Isolierung,
die dieses riesige Bauernland mit Not und Tod bedrohe und durch
die hilflose kommunistische Wirtschaftspraxis nicht überwunden Werden
könne, herausgerissen werden. Von den aktiven westmächtlichen Staats¬
männern hat, nach dem kläglichen Zusammenbruch der französischen
Interventionpolitik, natürlich die empfindsame Wetterfahne Lloyd
George diesen Zusammenhang zuerst erkannt und darum das Handels¬
abkommen mit Krassin und Kamenew abscbliefien lassen. Die offi¬
zielle französische Politik aber, die den Interessen eines ängstlichen
Kleinrentnertums und der grofien plutokxa tischen Gruppen in Paris
zu vertreten hat, ließ sich all die Jahre hindurch nicht einmal durch
die Warnungen des über Russisches besonders zuverlässig unterrichteten
Präsidenten Masaryk (Prag) von kostspieligen Gewaltversuchen und
Wrangeleien abhalten, bis mit dem Krach die (noch immer verschämt
verhüllte) Einsicht kam. Nun steht Sowjet-Rufiland riesengroß am
Horizonte der Westmächte; nicht mehr als Bedrohung, sondern als
Aufgabe.
Daß die etwa hundertundfünfrig Millionen russischer Bauern, deren
Landhunger die Revolution gestillt hat, im übrigen zwar demokratisch
aber durchaus nicht kommunistisch fühlen, an dem Umsturz von
Lenins Regiment kein Interesse haben, ist öffentliche Meinung ge¬
worden; daß die adlige und bürgerliche Herrenschicht des Zartums
mit Stiel und Stumpf ausgerottet, ausgeblutet, verjagt ist oder daheim
entmachtet dahinsiecht und von ihr keine Umsturzgewalt zu erwarten
sei, wurde nun auf beiden Erdhälften eine die Ansicht über Rufiland
bestimmende Selbstverständlichkeit; und daß der Weltkapitalismus, um
sich und seine Maschinerie und seine Profitrate zu retten, das zwischen
dem Rhein und Wladiwostock gelegene große Loch mit seinen drei¬
hundert Millionen konsumtionsunfähig gewordenen Menschen zu
stopfen trachtet, ist die Botschaft, die in der auf Cannes folgenden
Kette von Konferenzen die konkreten Aufgaben zu stellen haben wird.
Junius, Politische Chronik
215
In Moskau wimmelt es nun von fremden Missionen und Handels- und
Finanzagenten; Lieferungsverträge werden abgeschlossen (aus Deutschland
z. B. siebenhundert Lokomotiven zum Frühjahr); so eine Art halb¬
freien Handels in allen Schattierungen parasitären Schiebertums, das
vor allem dem ungeduldig werdenden Warenhunger der Bauern dienen
soll, regt sich allerorten. Lenin darf mit dem Bewußtsein, daß die
de facto — Anerkennung der auf zwei Millionen Arbeiter und Soldaten
gestützten Sowjetrepublik nur noch eine Frage von Monaten ist,
in den neuen Zeitabschnitt treten.
Diese Entwicklung der Lage, diese durch den weltwirtschaftlichen
Zwang forcierte Anerkennung seiner Republik konnte Lenin als Triumph
buchen, wenn sie nicht die Kehrseite des Zusammenbruchs seines
überspannten marxistischen Imperialismus wäre. Denn vor seinem
eigenen Gewissen und vor aller Welt tritt gleichzeitig der Bankerott
des russischen Kommunismus als Wirtschaftssystem nackt an den Tag;
der Marxismus des machtvollen und eigenwilligen, aber wirklichkeits¬
fremden Dialekters bekennt öffentlich seine Ohnmacht und gibt zu,
daß die Errichtung und Befestigung der Diktatur des Proletariats
(unter Ausschluß der parteilosen* Bauern), d. h. also: eines klassen¬
losen Staates und einer Gesellschaft ohne Privateigentum, von einem
unvorstellbaren Wirtschaftsverfall begleitet gewesen seien. Dieses Ein¬
geständnis ist heute, im fünften Jahre der Existenz des Rätesystems,
von außerordentlicher Tragweite. Zuerst also wurden die Zerstörungen
des Krieges zu Ende geführt und dem Produktionsapparat des riesigen
Landes das Rückgrat gebrochen. Um ihn wieder aufzurichten und
zu beleben, sollte erst das Transportwesen in Ordnung, dann die
Schwerindustrie im Donezbecken, dann die Brennstofferzeugung (durch
Bohrungen im Erdölgebiet), dann der Freihandel mit seinen kredit-
organisatorischen Hilfstruppen in Schwung gebracht werden; endlich,
als das große Rad sich noch immer nicht in Bewegung setzen wollte
und das große Sterben der Massenmillionen anhob und nicht mehr
verborgen bleiben konnte, daß die Mißernten an der Wolga durchaus
nicht der einzig zureichende Grund für all dieses klägliche Mißlingen sei:
endlich blieb man gezwungenermaßen bei der Landwirtschaft als der
allerwichtigsten Angelegenheit des Landes stehen. In einem Aufruf
an alle Ausschüsse der kommunistischen Partei heißt es: „Die Lage
unserer Großindustrie, die innere Stellung der Republik und zum
großen Teil auch ihre internationale Stellung hängen im gegebenen
Moment von einer erhöhten Erzeugung der Landwirtschaft ab.“
Junius, Politische Chronik
21 6
Ist es denkbar anzunehmen, daß Lenin, dessen aufrüttelnde Kapuzinade
auf dem eben abgehaltenen Allrussischen Sowjet-Kongreß von Feuille-
tonisten gerühmt wird, die Bedenken seines Gemüts durch Schön¬
färbereien zu beschwichtigen sucht? Auf dem letzten Landwirtschafts¬
kongreß pries er die von den Bauern bewerkstelligten Meliorationen,
den Spuren des ruhmredigen Kommissars Ossinski folgend. Auf dem
Petersburger Rätekongreß aber erklärte der Lebensmittelkommissar
Pachomow: „Wenn unsere Ernährungslage so schwer ist, so hängt
das nicht so sehr von der Mißernte im Wolgagebiet als von der
allgemeinen Verkürzung der Saatfläche ab. Sie ist um zwanzig
Millionen Desjatin, d. h. um neunhundert Millionen Pud Ernte
zurückgegangen, während die Mißernte im Wolgagebiet ein Minus
von bloß sechshundert Pud ergibt.* Woran dieser Rückgang liegt?
Die Bauemmassen, wird weiter erklärt, sind in ungeheurem Maße zurück¬
geblieben, — trotzdem doch, beiläufig, Millionen von ihnen in deutscher
Gefangenschaft die intensiveren Formen der Bewirtschaftung vor
Augen hatten; sie kennen nicht einmal die einfachsten Formen rationeller
Wirtschaft selbst beim eben noch zugänglichen, äußerst niedrigen
Niveau landwirtschaftlicher Technik. Vor dem Kriege, wo achthundert
Millionen Pud Getreide ausgeführt wurden, hob sich auch die bäuerlich
betriebene Landwirtschaft in Rußland von Jahr zu Jahr, das Genossen¬
schaftswesen griff um sich und ein ländliches Bildungssystem begann
sich auszubauen. Die zaristischen Agrarreformen lösten das Problem
natürlich nicht, der Respekt vor den zu erhaltenden Latifundien ließ
die Bauernwünsche nicht zu ihrem Recht kommen und nährte vor¬
bereitend die Revolution; aber das technische Können des russischen
Bauern hob sich doch langsam und stetig. Nun wird wieder Programm,
was teilweise schon Tatsache war, und nun ruft auf dem Kongreß
der Land- und Waldarbeiter der leidenschaftliche Kalinin seinen primi¬
tiven Hörem zu: „Wir müssen auf dem Gebiet der Landwirtschaft
Eroberungen machen; andernfalls ist jedes Gespräch über Kommunismus
leerer Schall . . . Bringen wir die Landwirtschaft nicht wieder ins
Geleise, so können wir buchstäblich die gesamte Bourgeoisie aufhängen:
es werden neue Bourgeois und neue Wucherer kommen.* Da wird
vielerlei verschwiegen, und gar nicht Unwichtiges: nämlich daß die
politisierten Gewerkschaften, denen Lenin Vernunft predigt, in den
Händen von Minderheitsterroristen sind, die die berüchtigten land¬
wirtschaftlichen Staatsbetriebe zur Produktionsfarce stempeln. Und
ferner: daß das in der Verlegenheit des Wirtschaftsbankerotts aufge-
Juntus, "Politische Chronik
117
griflfene System der Landpacbtungen und Unterpacbtungen Sinn und
Idee des Kommunismus glatt aufhebt. Vor der Wirklichkeit streicht
man die Segel. Nun will man ihr durch Bildung, Schulen, auf klärende
Vorträge zu Hilfe kommen. Wunderschön. Aber die städtischen Schulen
und Hochschulen gehen ein, die Mittel reichen nicht aus,' sie zu
erhalten.. .
Ich klage nicht an, ich stelle nur fest, nachdem wir all die Jahre
nicht nur von den paar echten in die westliche Welt verschlagenen
Tolstoi-Naturen und den Marxfanatikern, sondern von seelenvollen
Snobs und gemütvollen Dilettanten der Feder über Sowjetrussisches
das törichteste Zeug vernommen und über die Allmacht der russischen
Seele die überflüssigsten Belehrungen empfangen haben. Das alte,
das zaristische Rußland ist ein für allemal verwest, es modert unter
dem Leichentuch, das der proletarische Imperialismus darüber gebreitet
hat; aber die Keime einer Bauerndemokratie werden langsam sichtbar,
aus ihren Lenden wird eine neue, eine menschlicher sich gebärdende
Intelligenz dereinst an den Tag treten, und es wird vielleicht eine
schöne posthume Rechtfertigung des schon ekle Alterszüge tragenden
westmächtlichen Kapitalismus sein, ihr die technischen Genesungsmittel
zu reichen.
z
Der Faden der Reparationskrise reißt nun nicht mehr ab, auf Cannes
werden neue und immer neue Konferenzen folgen, es wird allmählich
ewige Wahrheit, daß die Versailler Diktate und die europäische Wirt¬
schaft nicht gleichzeitig zu retten sind. Vielleicht ist bald der Augen¬
blick da, wo der Mann auf der Straße sich schämen wird, so schale
Banalitäten in den Mund zu nehmen; der Berufspolitiker scheint aber
noch lange davon leben zu wollen, wenigstens in Frankreich. Das
politische Weltbild ist erschütternd. In Rußland ist, nach Maßstäben
von Mammutgröße, der weltgeschichtliche Versuch unternommen wor¬
den, den Privatkapitalismus durch den Staatskapitalismus zu ersetzen
und das Wirtschaften in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften zu de¬
zentralisieren: mit unreifen Menschen, nach unzulänglichen Methoden,
unter Mißachtung individualpsychologischer Gesetze, die auch in der
Masse nie zu ertöten sind; aber die seelischen und materiellen Wir¬
kungen dieses Experiments versprechen ungeahnte Folgewirkungen. In
England sind, trotz der Niederlage der Gewerkschaften (Verkürzung
des Lohnes; Verlängerung der Arbeitszeiten), die vormals völlig neu-
Jutiius, Politische Chronik
11%
tralen Genossenschaften gänzlich radikaJisiert, wodurch das soziale Bild
der Insel sich gründlich zu ändern verspricht Darum ist die Herren¬
schicht der britischen Wirtschaft um ihre alte Selbstsicherheit gekommen;
sie empfindet nun allgemein den in Versailles geschaffenen ‘Friedens¬
zustand’ als Verneinung ihrer Lebensvoraussetzungen und Aufhebung
der ökonomischen Grundgesetze, denen sie ihr Dasein und das Imperium
seine Blüte verdankt. Man lese die englischen Neujahrsbetrachtungen
in den so einflußreichen Cityzeitschriften (Economist; Statist; Stock
Exchange Gazette), nie noch, seit der Geburt des britischen Industrialis¬
mus und Welthandels, waren sie so schwarz und verdBstert. Der Sieger,
der uns Länder, Kolonien, Handelsflotte, Guthaben, Konzessionen,
Patente geraubt, an unserm Ausverkauf sich gelabt, und Ober die Sou¬
veränitätsverkrüppelung auf unsren ‘neutralisierten* Binnengewässern
(Rhein; Donau; Elbe; Oder) gleichgültig hinweggelächelt hat: er siecht
nun an der Gründlichkeit seines Sieges dahin und ist über der Mark¬
schrumpfung und dem vertraglich erzwungenen Dumping unsrer hung¬
rigen Exportindustrie erwacht. Der Selbsterhaltungstrieb macht human,
nun tritt der Solidaritätszwang unverhüllt hervor und beginnt schüchtern
Politik zu machen. Aber dem britischen Löwen hängen Frankreich
und Belgien an der Gurgel, sie lassen nicht locker und heischen Opfer.
Von uns? Ach Gott... Also von den großen angelsächsischen Brüdern?
Gewiß, aber da beginnt das Geschacher, das uns das Leben im nächsten
Jahr vergiften und veröden wird. So schwer wird es Europa-Münch¬
hausen, sich aus dem Sumpf zu ziehen.
Das Problem hier technisch aufzurollen, ist überflüssig; jeder Deut¬
sche, der unterrichtet sein will, wird um die Kenntnis von Keynes’
Zergliederung des Antichrist nicht herumkommen, er wird auch die
vom Manchester Guardian für das laufende Jahr angekündigten zwölf
Hefte nicht übersehen dürfen, in denen dieser treffliche Mann und seine
Helfer im einzelnen den Neubau Europas zu behandeln versprechen.
(Nebenbei: wir werden uns vor der Ansteckung durch den von unsren
ehemaligen Wirtschaftsimperialisten bekundeten Pharisäismus hüten
müssen; sie tun heute so unschuldig und beleidigt.) Dieser kenntnis¬
reiche, scharfsinnige und mutvolle Privatmann hat mehr getan, um eine
Friedensatmosphäre zu schaffen und der Vernunft durch sachliche Auf¬
klärung den Weg zu bereiten, als sämtliche Politiker zusammenge¬
nommen. Ehre seinem Wirken. Wenn wir heute sagen dürfen, daß
im jetzigen Stadium unsrer Erkenntnis über Inflation, Währungskrank¬
heit, Dumping, gegenseitige Marktverschlingung, über den Bankrott
Junius, Politische Chronik
119
der früheren Handelspolitik gegenüber der heutigen Produktionslage
technisch Wesenhaftes kaum noch zu sagen ist, daß also dies Repa¬
rationsproblem eine politische, d. i. moralische, Frage ist, so ist das
zum großen Teil diesem Manne zu danken.
Es schmerzt, sagen zu müssen, daß Frankreich, wie groß auch die
Rücksicht auf seine Schmerzen und Wunden sei, politisch d. L mo¬
ralisch versagt hat Steht Art und Methode der Psychose, die große
Teile seiner Bevölkerung noch beherrscht und in Washington die
Sabotage eines neuen Ordnungs- und Friedenswillens über die Geduld¬
grenze der durch Verträge, Kriegserlebnis und überlieferte Sym¬
pathien ihm Verbündeten hinauszutreiben drohte, zum ‘intclligiblcn’
Charakter dieses genialischen Volkes in Widerspruch? Ich glaube nicht
Alexis de Tocquevüle hat in seinem Anden Rdgime eine Charakte¬
ristik seines Volkes gegeben, die offenbar aus der Verzweiflung ge¬
boren ist, widerstrebende Eigenschaften auf eine versöhnende Formel
zu bringen; ich lasse ein paar Brocken hier abdrucken: Quand je
consid&re cette nation en elle-meme, je la trouve plus extraordinaire
qu’aucun des dv&nements de son histoire. En a-t-il jamais paru
sur la terre une seule qui füt.. . plus conduite par des sensations
moins par des prinripes; faisant ainsi plus mal ou mieux qu’on ne
s’y attendait, tantöt au dessous du niveau commun de l’humanitd,
tantöt fort au dessus;. . indocile par tempdrament, et s’accommodant
mieux toutefois de l’empire arbitraire et meine violent d’un prince
que du gouvemement regulier et libre des principaux dtoyens; aujour-
d’hui l’ennemi dddard de toute obdissance, demain mettant 4 servir
one sorte de passion que les nations les mieux doudes pour la servi-
tude ne peuvent atteindre; conduit par un fil tant que personne ne
resiste, ingouvemable des que l’exemple de la rdsistance est donnd
queique purt; trompant toujours ainsi ses maitres, qui le craignent
ou trop ou trop peu;..apte 4 tout, mais n ’excellant que dans la
guerre; adorateur du hasard, de la force, du succes, de l’dclat et du
bruit, plus que de la vraie gloire; plus capable d’heroisme que de
▼ertu, de gdnie que de bon sens, propre 4 concevoir d’immenses
desseins qu’ 4 parachever de grandes entreprises; la plus brillante et
la plus dangereuse des nations de l’Europe, et la mieux faite pour y
devenir tour 4 tour un objet d’admiration, de haine, de pitid, de
terreur, mais jamais d’indiffdrence.
220
Junius, Politische Chronik
3
Republikanische Lehrer- und Richterbflnde bilden sich, man will
sich gegenseitig durch Bruderschaften stützen, durch das Gefühl des Rück¬
halts soll dem einzelnen das republikanische Bekenntnis leichter gemacht
werden. Gut so. Solche Bünde greifen natürlich tiefer als strafgesetz¬
liche Bestimmungen der Verfassung; sie schaffen Gesinnungsgemein¬
schaften. Aber die leuchtenden Köpfe, die starken Temperamente, um
die sich die neue Staatsgesinnung kristallisieren soll, fehlen ganz offen¬
bar noch den republikanischen Parteien, sie ermangeln der Führer¬
naturen; werthaltige Persönlichkeiten, über die sie verfügen, sind in
obrigkeitlich dressierten Völkern kein rechter Ersatz. Die ‘führenden*
Geister, die Mehrzahl der Wissenschaftler, meine ich, die in ihren
Fachern Ruhm gesammelt oder etwelche Autorität erworben haben,
stehen meistens auf der andren Seite; sie opfern keinen Zollbreit ihrer
Anschauungen, die politisch in den Überlieferuugen der preußischen
Militärmonarchie wurzeln, obwohl sie sich äußerlich unterordnen; sie
stemmen sich gegen die Logik der Entwicklung und die deutsche aka¬
demische Jugend glaubt ihnen aufs Wort und folgt ihnen. Universitäten,
Hochschulen, Gymnasien haben um die geschichtlichen Überlieferungen,
wie sie bis zum Ausbruch des Krieges gelehrt wurden und geherrscht
haben, einen Ring aus Erz geschlossen; wehe dem, der sich ihm un¬
achtsam nähert. Zwischen Volk und dieser Bildungsschicht führen
keine Brücken; und die durch persönliche Enttäuschungen und den
Illusionsraub durch schwächliche oder gar impotente Regierungsmänner
ungeduldig gemachte Jugend, die zuerst dem Neuen zuströmte oder
ihm wenigstens das Ohr lieh, schließt sich in Scharen an, nachdem
sie die Friedens-Welt derer geschaut hat, die ausgezogen waren, to
make the world safe for democracy. Diese Einstellung ist naiv, kritiklos,
von brüchig gewordenen alten Illusionen genährt; aber sie ist psycho¬
logisch begreiflich. Die Volksparteiler, die klug genug sind zu wissen,
daß der Willen zur demokratisch-republikanischen Staatsform uns von
außen durch Luftgeschwader und Tanks aufgezwungen würde, falls er
zum Umschlagen ins Monarchische weich würde, pflegen in ihren Kon-
ventikeln und ihrer Presse diesen Geist der innerlichen Auflehnung. Ein
durchsichtiges aber wirksames Spiel. Daher der gesellschaftliche Boykott
der Demokraten, besonders in der Provinz; Industriespitzen und Banko-
kraten sekundieren; Verwaltung und Diplomatie tun, auf ihre stille aber
erfolgreiche Weise, rüstig mit, und es gehört schon eine tüchtige Dosis
Zivilkourage dazu, sich einfach zur Verfassung zu bekennen, sogar
Junius, Politische Chronik
11 i
unter starken kritischen Vorbehalten. Wie in den bösesten Tagen der
guten alten Zeit hört man zuweilen gar schon wieder das Lob der
Nationalen* Wirtschaftspolitik singen, so dumm Air uns solche Sehn¬
suchtsphrase klingt Der für das Nationalgefühl aufgestellte Kanon
wird immer eindeutiger. Auf Originalität wird verzichtet.
Solange die Jugend keine wirklichen Fahnenträger einer neuen Zeit
stellt — diese kann der alten nicht gleichen; nicht, weil sie besser, son¬
dern weil sie anders sein muß; unbegreiflich, daß kluge Männer eine
Handvoll ( Zivilisationsliteraten* für das dem deutschen Volke aufge¬
zwungene undeutsche (!) Schicksal verantwortlich machen —, so lange
die Jugend romantisch steril bleibt, werden wir Älteren, die wir den kata¬
strophalen Unfug unserer früheren Willensträger wie eine Lawine haben
heranrollen sahen, auf die Breschen springen und für den geistigen
Kampf gerüstet sein müssen. Er wird aber auch gegen die Lauen und
Halben im eigenen Lager sich wenden und die elende Parteibonzerei
mit ihrer Anbetung der Mittelmäßigkeiten erbarmungslos befehden
müssen, die schuld ist, daß die mit den Bleigewichten dunkler Namen
bepackten Listen der demokratischen Parteien auf Intelligenzen wie
Vogelscheuchen wirken. Davon wird noch oft und unverhüllt ge¬
sprochen werden müssen.
ANMERKUNGEN
Chronik des Auslands
I n der New-Yorker „Nation“ er-
hebt Anatole France seine Stimme
gegen den kriegerisch zerstörten Pla¬
neren, gegen Raub- und Mordlust, die
Erdteil nach Erdteil zu vernichten und
ihre kulturellen Werte zu fernen Klän¬
gen zu machen drohen. Es gibt heute
keinen besseren Europäer als Anatole
France, diesen letzten Sohn aus der
Rasse Voltaires, diesen lateinischen
Sozialisten, diesen milden Skeptiker.
Hören wir ihn:
„Die Völker zweier Welten würden
miteinander wetteifern, um erregt den
Gedanken zurückzuweisen, alle ihre
Gegensätze einem Schiedsspruch zu
unterwerfen, wenn durch eine un¬
mögliche Gelegenheit dieser Gedanke
ihnen überbracht würde. Die euro¬
päische Zivilisation ist immer kriege¬
risch gewesen. Der Feudalsraat ver¬
traute seine Rechte nur dem Schwert.
Die demokratische Eroberung Frank¬
reichs und der benachbarten Länder
verstärkte den militärischen Geist,
welcher zur Religion wurde. Die
Fortschritte der Industrie schufen neue
Vorwände für den Gebrauch von Ge¬
wehren und Kanonen. Fabrikanten
und Geschäftsleute der großen Länder
drängen auf Krieg, um reicher zu
werden, und wenn sie ihn erreichen,
verlängern sie ihn imendlich, um auch
ihre Einnahmen unendlich zu ver¬
längern. Die Arbeiter, deren Löhne
steigen, sind zufrieden. Die Generale
gewinnen aus ihren Feldzügen Ehre
und Profit. Und den Soldaten ist sehr
leicht der Glaube beizubringen, daß
sie für das Vaterland kämpfen. Die
Geschäftsleute, nicht zufrieden mit
möglichster Hinausschiebung des Frie¬
dens, der ihre Gewinne beendet, ver¬
einbaren mit den Politikern, wieder
Krieg zu machen, wenn der Friede
geschlossen worden ist. So eroberte
England nach dem Ende der Feind¬
seligkeiten Mesopotamien und besetzte
Konstantinopel. So besetzte Frankreich
Syrien und unternahm durch Stellver¬
treter Expeditionen gegen Sowjet-Ru߬
land, die für die Angreifer reich an
Unheil waren.
Wenn der ganze Planet die Beute
solchen Wahnsinnes ist, wie kann man
dann die Einrichtung eines Gerichts¬
hofs für möglich halten, eine Kraft der
Harmonie unter Amphiktyonen? Es
ist unmöglich«
Unmöglich jetzt — aber immer?
Dinge haben sich in den letzten Jahren
ereignet, die die größten Verände¬
rungen in Gedanken und Gewohnheiten
der Alten Welt hervorzubringen ver¬
mögen. Der Krieg, der mitunter die
Völker Reichtümer gewinnen läßt,
bringt schließlich auch Untergang und
Tod. Dafür bietet die Geschichte eine
Fülle von Beispielen. Wir werden jetzt
einige sehen, die uns sehr nahe be¬
rühren. Es ist nicht unmöglich, daß
der große Brand, der Europa verwüstet
hat, und der Friede, welcher dem
Kriege folgte und nur seine Ver¬
längerung ist, der alten europäischen
Kultur grausamere Wunden schlägt, als
unsere Unwissenheit und Leichtsinnig¬
keit glaubt. Wir beginnen, die Größe
223
Anmerkungen
des Schadens zu ahnen. England, der
große Kaufmann, erleidet, wahrend es
seinen Betrieb vergrößert, den Nieder¬
gang seines Handels und die Arbeits-
losen-Krisis, und das Ende ist nicht ab¬
zusehen. Deutschland, zum Bankrott
gedrängt, zieht Frankreich mit in den
Ruin — Frankreich, das unter einer
Schuld von 325 Billionen bebt. Italien
leidet, Rußland stirbt vor Hunger,
Österreich ist tot. Selbst die Ver¬
einigten Sraaten sind überrascht zu
sehen, daß die Geschäfte schlechter
gehen, ln der ganzen Welt sind die
Nationen durch ein unbekanntes Un¬
heil aus ihren ehrgeizigen Träumen
gerissen. Doch die große und furcht¬
bare Lehre wurde noch nicht ver¬
standen. Aber die Zeit wird kommen,
wo sie sich selbst verständlich machen
wird. Zeitungen lügen, und die fal¬
schen Worte der Staatsmänner werden
nicht immer die furchtbare Stimme
ersticken, die durch die ganze Welt
das Wort schreit: Europa stirbt, der
Krieg hat es getötet!
Die Menschen werden schließlich
verstehen, und wenn sie nicht umzu¬
kommen wünschen, müssen sie sich
vereinigen und, Stolz und Habsucht
aufgebend, sich den Entscheidungen
eines Friedensgerichtes fügen.“
In der Revue Mondiale stellt
Jean Finot die unzeitgemäße For¬
derung: Werden wir Optimisten! „Wir
unterliegen häufig im Kampf gegen
die bösen Gedanken, diese kranken
Eindringlinge: in Folge unserer schwa¬
chen Gesundheit, der außerordent¬
lichen organischen Müdigkeit oder
unserer zerstörten Nerven. Man muß
sich dann hygienischer Hilfen und
vernünftiger Ruhe bedienen, wie
unser Dasein sie verlangt. Aber die
Hauptsache ist, geistiges Gleichge¬
wicht zu gewinnen und zu bewah¬
ren, das sich in geistiger Heiterkeit
ausdrückt. Sie verjagt mechanisch un¬
gerechte Störungen und mörderische
Traurigkeiten. Dann wird das Leben
leuchtend. Seine Gegensätze streifen
unser Gemüt, ohne Spuren zu hinter¬
lassen. Die adligen Seelen, befreit von
den von außen empfangenen Wunden,
machen sich auf den Weg zur Er¬
oberung ihres eigenen Glücks und des
der Gesamtheit. Sie genießen die
Fülle des Daseins. Denn das der Pes¬
simisten ist, um die Wahrheit zu sagen,
nur eine Parodie.
Als Opfer ihrer dunklen Gedanken
gehören sie wie Orest den Furien, die
in ihr Leben eindringen, es zerstören
und verkürzen.“
In der Revue Critique bespricht
Pierre du Colombier ausführlich
den Aufsatz „Über Shakespeare und die
Wiedergeburt des Tragischen“, den
Friedrich KoffkaimOkroberheft un¬
serer Zeitschrift veröffentlichte. „Ich
folge Herrn Koffka keineswegs in den
Ansichten, die er vorträgt. Ich bin
durchaus nicht sicher, ob diese Zeit
die Wiedergeburt des tragischen Men¬
schen erblicken kann. Aber seine Inter¬
pretation der Shakespeareschen Tragik
als Wirkung des Zusammenpralls der
elementaren Gewalt im Menschen und
der Welt, die ihn umgibt und die
harmonisch dem Schlechten wie dem
Guten befiehlt, diese Interpretation
erscheint nicht ohne Größe, obgleich
unvollständig. Mich persönlich ver¬
anlaßt sie hierzu: ohne Zweifel ist
es keineswegs gerecht, das Shakespea-
resche Theater im Namen der vernünf¬
tigeren Normen unserer klassischen
Tragödie und allgemein nach der ge¬
läufigen Psychologie zu beurteilen.
Aber es ist auch falsch, diese Normen
zu vergessen. Es gibt in den Dramen,
die diese Namen tragen, nur einen
Lear, nur einen Hamlet, aber um sie
herum gravitieren all die Statisten,
deren alltägliche Wahrheit nur das zu
ertragen gestattet, was auch die Hel¬
den übermäßig haben, dank dessen
sie keineswegs als die aufgeblasenen
Z24 Anmerkungen
Hampelmänner mittelmäßiger roman¬
tischer Werke erscheinen, sondern als
lebende Wesen. Sie strömen plötzlich
aus ihrer Welt, lassen die konventio¬
nellen Schranken zersplittern, während
ihre Welt um sie herum weiterlebt, ein
normales Leben, welches sie stützt.
Und sie selbst sind keineswegs bewegt,
wenn der Dämon sich ihrer bemächtigt,
da wir sie zuvor als Menschen gekannt
haben. So übernimmt der demütige und
souveräne psychologische Realismus
wieder seine Rechte/ 1 R. K.
Der
fünfzigjährige Alfred Mombert
ombert* ist von heutigen Schöp¬
fern einer der unentdecktesten,
einer der größten, reichsten, klang-
erfülltesten. Und wenn er am 6. Fe¬
bruar fünfzig Jahre wird, so bleiben
selbst die flinksten Jubiläums-Federn
ungerührt; der Ruhm und das Heer
seiner Irrtümer sind für ihn noch
nicht gekommen; er ist, isoliert in sei¬
nem Werk, fern dieser Zeit: in ihren
Geräuschen und Eruptionen, und doch
ihr nahe: da er, selbst Welt, jede
Welt frei und heiß überblickt. Morn-
bert ist glühend und eindringend wie
ein tropischer Wind, der Pflanzen
und Menschen zu Gott emporpeitscht.
Nichts ist ihm ferner als sanfte Fromm¬
heit, nichts näher als titanisches Fühlen,
aufreckend sich zu jedem Stern und
großem Glauben. Er ist der panisch
Denkende, Liebende, Bildende. Dies
Panische aber ist nicht vorzustellen als
Chaos, Maßlosigkeit und ungeordnetes
Kräftefeld; auch die stärksten und
sachlichsten Geister können die pa¬
nisch Erlebenden sein: Spinoza der
Pan-theist, Hebbel der Pan-tragiker.
Momberts Welt-Wesen ist deshalb ganz
Phantasie und darum auch ganz Geist.
* Seine Dichtungen erschienen im Insel-
tferlag, Leipzig
Seine Vision, leuchtend und üppig wie
keine andere, stammt nicht aus erhitz¬
ter Intellekrualirät, nicht aus Pump¬
werken verdurstender Länder, nicht
aus radikal westlichem Osten. Er ist
„Held der Erde 44 ; trunken von dies¬
seitigem Leben; in einer Barke liegend,
die Sonnenseele über sich: „erwählter
Liebling der Natur 44 . Er weiß um die
Landschaft, weiß um Berg und Blume,
Vulkan und Schnee, und wie sie in Herz
und Hirn hineinwachsen. Er hat das
Sehen, das Farbe und Gestalt völlig
begreift, und doch den Blick durch
sie hindurchstößt: ins Herz der Welt.
Momberts hymnischer Gesang ist Ver¬
dichtung zur ungehemmten geisrigen
Welt, wo Sinn und Form und Klang
in eins geflossen sind: in blühendes
Meer auf weiter, entfalteter, musik-
hafter Erde:
Es wird herrlich sein,
sie zu umschweben, sie zu umsinnen.
Sanft und in langer Zeit
sie in die Sfäre des Geistes einzu¬
spinnen.
Diese „Musik der Welt 44 ist nicht
Harmonie, durchbrochen von heiteren
Kadenzen. Sie hat die Kenntnis der
Dämonien, aller Wildheiten des Bluts
und der Seele, ist Widerhall jeder
Sehnsucht des Daseins, die zwischen
dem Traum einer Blüte und den
Kämpfen mit Teufel und Gott sich
entfaltet. Aber solch seherische, dichte
Fülle ist nicht zerlegbar. Sie ist da
mit der Kraft der Natur: verwoben
mit jeder Einzelheit des Daseins, ver¬
schworen mit jedem Sturm und jeder
Kreatur, durchdrungen von maßlosem,
sieghaftem Leben.
Und wie der Wissende nur selbst
sich bescheren kann, so ist die Gabe
dieser Blätter an den Fünfzigjährigen
der Dichter selbst: Alfred Momberts
jüngstes Werk, das wir in diesem Heft
zum ersten Male veröffentlichen.
Rudolf Kayser
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Rudolf Kayter.
Verlag Ton S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig.
DIE
DEUTSCHE AUFGABE ÖSTERREICHS UND
UNSERE ÖSTLICHEN NACHBARVÖLKER
von
KARL RENNER
I
D as schlimmste Verhängnis dessen, der von vernichtendem Schick¬
salsschlag getroffen ist, das wahre Unglück im Unglück, ist die
Gefahr, sich selbst zu verlieren. Die deutsche Nation in Europa —
sie und nicht die zwei Staaten Deutschland und Österreich nebst den
vielen aufgeteilten Stücken deutscher Erde und deutschen Volkstums
im besonderen, ist die geistige und wirkliche Einheit, um die sich der
Deutsche zu sorgen hat — ist im Weltkrieg unterlegen, vom deutschen
Bürger im Elsaß bis zum baltischen Rittergutsbesitzer, vom hanseatischen
Kaufmann über See bis zum deutschen Fabrikarbeiter in Böhmen.
Diese Katastrophe bestimmt unsere Nation vorerst zum Objekt der
Politik anderer und scheint ihre politische Selbstbestimmung illusorisch
zu machen. Zur Zeit erfüllt die Vorstellung, fremden Willen erfüllen
zu müssen, unser Denken. Keine Nation aber kann leben ohne eine
politische Idee von sich selbst. Keine Idee von dem, wozu sie in der
Welt berufen ist, zu besitzen, bedeutet für eine Nation nicht weniger
als sich selbst verloren haben.
Das Starren des Entsetzens über die Niederlage und über ihre
Folgen hält die Nation noch völlig in Bann. Allein die Zeit ist da,
diesen Zustand zu überwinden. Haben wir Deutsche einen Beruf in
der Weltgeschichte? Gewiß, die Idee Fichtes vom deutschen Volkstum,
die deutschen Ideen der Frankfurter Paulskirche sind nicht verwirk¬
licht, die Ideenwelt Bismarcks ist samt ihren Entartungen unterge¬
gangen. So ist es denn die Aufgabe aller politischen Denker unseres
Volkes, eine politische Idee der deutschen Nation, das ist praktisch
zugleich eine wirklich einheitliche Politik der Deutschen in Europa,
wieder aufzubauen; eine Idee und eine Politik, die zum Gemeingut
•5
zz6 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
aller Deutschen werden kann, diejenigen ausgenommen, die einerseits
an die ausschließende Weltherrschaft der Angelsachsen oder anderer¬
seits an den national-indifferenten sozialen Weltstaat Lenins, wenigstens
für dieses Menschenalter, noch nicht glauben können. Die Nationen,
welche Jean Jaur&s die Schatzkästchen der menschlichen Kultur nannte,
haben jedenfalls vor der Verwirklichung jener einander entgegenge¬
setzter Endziele noch ein StQck Weltgeschichte zu machen, jede für
sich und alle miteinander.
Eine bloße Politik aber, welche die Wiederherstellung des Ge¬
wesenen, welche Revanche und Revindikation des Verlorenen im Namen
des sacro egoismo der Nation anstrebte, eine solche Politik würde
einer Idee dienen, der nicht die Zukunft gehört und die noch einmal
alle anderen Nationen in einem feindlichen Lager gegen uns sammeln
und die Aufteilung deutscher Erde, die wir 1919 erlebt haben, in
die geschichtliche Perspektive einer ersten Teilung Deutschlands rücken
würde — sie wäre angetan, unser Unglück zu vollenden. Ich kann
die bloße Reprise der Vergangenheit nicht als politische Idee ansprechen
und gelten lassen. Wir schreiben nach 1918 eine neue Welt: sie
hat einen anderen Inhalt, sie fordert andere Ziele und Mittel. Die
deutsche Politik nach 1918 muß in Urgrund und Endabsicht eine
neue sein. Diese denkend und handelnd zu erarbeiten, ist Aufgabe
der lebenden Generation Deutscher.
z. Von dieser Arbeit habe ich ein Teilstffck zum Gegenstand meiner
Studie gewählt. Ich beschränke mich auf die Neuordnung der Be¬
ziehungen der deutschen Nation zu ihren nächsten Nachbarn im Osten.
Meine Arbeit ist ein erster Versuch und ein schmerzlicher noch dazu.
Noch bluten die offenen Wunden an unserem Leibe, von dem die
Sudeten-Deutschen, Danzig und Oberschlesien gerissen worden sind.
Es ist, das gebe ich zu, heute noch schwer und hart, aber es ist nichts¬
destoweniger notwendig, schon jetzt mit ruhiger Vernunft darüber zu
denken und sprechen.
Ich spreche also nicht von der ungleich wichtigeren Frage „Deutsch¬
land nach Westen“, nicht von dem entscheidenderen Punkte, ob sich
Deutschland und wie es sich in das System der Angelsächsischen Be¬
herrschung der Meere einzuordnen habe, auch nicht davon, wie Deutsch¬
land seinen Zivilprozeß über Sach- und Geldleistungen mit Frankreich,
einen Zivilprozeß, der seltsamerweise unter völkerrechtliche und mili¬
tärische Strafsanktionen gestellt ist, zu Ende führen soll; auf der anderen
Seite schließe ich auch eine Erörterung des künftigen Verhältnisses der
und unsere östlichen Nachbarvölker 117
deutschen zur russischen Nation aus, ich unterlasse endlich die metho¬
dische Grundfrage zu erörtern, der sich alle anderen einordnen, die
Frage eines Völkerbundes, der die ganze Welt verwaltet. Ich be¬
schränke mich auf ein enges Feld, auf dem ich als österreichischer
Politiker eher zu sprechen berufen bin, auf die Beziehungen zu unseren
östlichen Nachbarvölkern, die zwischen der russisch-ukrainischen und
der deutschen Erde ihre Staaten entweder schon besessen oder nun¬
mehr gebildet haben.
Allerdings: da die Politik einer Nation, wenn sie wirksam sein soll,
eine geistige Einheit sein muß, so werden sich aus dem Ergebnis des
Teilgebietes Rückschlüsse auf das Ganze der Politik machen lassen, und
ebenso werden sich diese Ergebnisse aus der Gesamtlage der Nation
Korrekturen im einzelnen gefallen lassen müssen.
Außer dieser räumlichen muß ich mir eine inhaltliche Schranke auf¬
erlegen: die Welt nach 1918 steht nicht allein, ja nicht einmal vor¬
wiegend unter nationalem Gesichtspunkte; sie drängt nicht nur nach
einer neuen Staatenordnung, sondern auch nach einem neuen sozialen
System, das selbstverständlich die Beziehungen der Nationen beein¬
flussen muß. Als Sozialdemokrat fühle ich diese Beeinschränkung sehr
beengend und widernatürlich, aber ich muß leider für diesen ge¬
schichtlichen Augenblick von dem sozialen Moment absehen, weil der
Sozialismus durch die verwirrende Mannigfaltigkeit und Gegensätzlich¬
keit seiner Auffassung von der Internationale sich für geraume Zeit
selbst ausschaltet. Ich behalte mir aber vor, anderswo auf diese
Wirkungen zurückzukommen.
3. Gerade als Österreicher aber fühle ich nicht nur den Beruf,
sondern auch die Pflicht, die Aufmerksamkeit der Nationen auf das
nahöstliche Problem hinzuweisen. Der östliche Nachbar des früheren
Deutschland war das russische Reich. Es hatte dem Anscheine nach
die deutsche Nation nur mit Rußland und mit keinem Zwischenvolke
zu tun. Es war nebst der Teilung Polens der Bestand der österreich¬
ungarischen Monarchie, der den Deutschen des Reiches die Nachbar¬
nationen verhüllte und beinahe zu einer vemachlässigenswerten Größe
machte. Es war so, als ob das deutsche Nationsganze dem öster¬
reichischen Stamme ein für allemal die Auseinandersetzung mit diesen
Völkern überlassen hätte. Ja es war schlimmer, die künstliche Kon¬
struktion der Donau-Monarchie ließ diese Staatswesen als halbdeutsch
erscheinen und wiegte so die Nation in eine verderbliche Sicherheit
So war für das Deutsche Reich nur Rußland ein Problem der aus-
zi 8 Karl Remter, Die deutsche Aufgabe Österreichs
wattigen Politik, alle anderen Ostvölker bestanden ftir es nicht. Und
diese geschichtlich-politische Falschmeldung war ein gewichtiges Moment
unserer nationalen Katastrophe. Diese Falschmeldung verschuldete die
erstaunliche Verständnislosigkeit aller Reichsdeutschen und insbesondere
der regierenden Kreise in allen österreichischen Dingen, sie verschul¬
dete die fälsche politisch-militärische Wertung des Bündnisses von 1878,
sie verschuldete im Kriege die harten Enttäuschungen des Herbstes 1914
auf den östlichen Kriegsschauplätzen, sie verschuldete wenigstens zum
Teile die falsche Konzeption der Friedensverträge von Brest-Litowsk
und von Bukarest. Nur vereinzelte Schriftsteller des Reiches haben
Österreich-Ungarn verstanden, von den entscheidenden Staatsmännern
keiner, auch Bismarck nicht
II
1. Auch heute, auch für die künftige Politik der deutschen Nation
im Osten, ist das genaueste Verständnis, sowohl des alten Österreich-
Ungarn wie der neuen Republik Österreich, die erste Voraussetzung.
Meine Ausführungen sollen darüber einige Klarheit bringen. Bevor
ich die reale Stellung der Deutschen im Osten aufzeige, will ich ver¬
suchen, die Stellung, welche die Deutsch-Österreicher in ihrem eigenen
Bewußtsein sich früher selbst zugedacht haben, festzuhalten. Bekannt¬
lich ist das, was die Menschen sich selbst zu sein einbilden, zwar immer
ein Abbild, aber in der Regel ein sehr mangelhaftes und trügerisches
Abbild ihres realen Daseins. Halten wir uns also zunächst an das
Bewußtsein, um von dort zum Sein vorzudringen.
Die jetzt lebende Generation von Deutsch-Österreichern ist dazu
erzogen und daran gewöhnt, alle politischen Fragen austrozentrisch
zu betrachten. Das will sagen: der Österreicher und insbesondere
der Wiener hat sich im Mittelpunkt des Fünfzigmillionenreiches der
Habsburger gesehen, sich niemals als einen bloßen Stamm der Nation,
sondern als eigenes Staatsvolk betrachtet und daher auch seine natio¬
nalen Aufgaben danach, wie sie in diesem örtlichen und staatlichen
Zusammenhang zu verwirklichen sind, beurteilt. Zum Deutschen
Reich stand der Österreicher politisch nur in einem sehr indirekten
Verhältnis, und zwar durch das Mittel der habsburgisch-wienerischen
Spitze des einen Reiches zur Hohenzollerisch-Preußischen Spitze des
anderen Reiches. Diese austrozentrische Betrachtungsweise ist seit dem
Zusammenbruch gänzlich hinfällig geworden, aber sie wirkt noch immer
lebhaft nach und gefährdet die kleine Alpenrepublik, mittelbar auch
und unsere östlichen Nachbarvölker
22p
das Deutsche Reich und die ganze Nation. Denn wir sind, wenn
wir austrozentrisch denken, leicht veranlaßt, mit Revanche und Re-
vidikation für Wien zu spielen und als unsere besondere Aufgabe
anzusehen, die Sudeten*Deutschen, die Marburger, die Südtiroler zu
befreien. Ich weiß, daß in unseren Offizierskreisen und gerade in
gewissen deutsch-nationalen Kreisen dieser Gedanke recht lebendig
ist. Ja, dieser austronationale Gedanke, wie ich ihn im Gegensatz zum
wirklichen nationalen Gedanken bezeichnen mochte, hat die Restauration
der Habsburger wünschenswert erscheinen lassen. Eben diese Auf¬
fassung bringt uns in Gefahr, alle unsere Nachbarn in ein einziges
feindliches Lager zusammenzuführen. Für einen Kleinstaat wahrhaftig
eine geniale Politik, alle Nachbarn zu Feinden zu machen und zu
einem Ring zusammenzuschließen! Diesen Geniestreich hat die gegen¬
wärtig in Ungarn herrschende Politik wirklich gemacht, denn sie hat
die kleine Entente und die Einkreisung Ungarns vollendet.
Dieser nationale Revidikationsgedanke kann sich leicht mit wirt¬
schaftlichen Erwägungen verschwistern und viele Kaufleute und
Industrielle an sich ziehen. Derselbe Austrozentrismus, wirtschaftlich
gewendet, nährt die Utopie einer Donaufoderation. Und doch liegt
es auf der Hand, daß diese von keinem der Nachbarn gewollt wird
und daß sie, wenn sie bestünde, Deutsch-Österreich als schwachen,
willenlosen Gefolgsmann, buchstäblich als fünftes Rad am Wagen,
nach sich ziehen müßte. Es ist der deutschen Öffentlichkeit viel¬
leicht entgangen, daß die österreichische Politik der letzten eineinhalb
Jahre von dieser Politik inspiriert war. Die alt-österreichischen
politischen und weite wirtschaftliche Kreise haben, trotzdem sie sich
äußerlich zum Anschluß an Deutschland bekannten, gerade in dieser
Zeit im stillen der Restauration der Donau-Monarchie oder der
Installation der Donaufoderation gedient. Das neue Klein-Österreich
und das neue Klein-Ungarn sollten die Achse des neuen Systems
werden, eine autonome Slovakei und ein freies Kroatien sollten sich
zunächst daran schließen und den Rest sollten die von Horthy organi¬
sierten militärischen Kräfte beischaffen. Verwunderlicherweise haben
Münchener und selbst Berliner Kreise diese Projekte favorisiert, ohne
ihr Endziel zu durchschauen. Erst die zwei verunglückten Expeditionen
Karls haben die Hinfälligkeit dieser Bestrebungen geoffenbart und
zum mindesten das protestantische Ungarn ernüchtert.
Rückfälle in die alte Auffassungsweise waren zu erwarten, denn
der Wandel im Seelenleben, der den Österreichern zugemutet wird.
130 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
ist Oberaus schwierig. Vom Jahre 1866 bis zum Jahre 1918 ist jeder
Deutsch-Österreicher so erzogen worden, daß er sich als Österreicher
und als nichts anderes betrachtet hat. Alle seine Geschichtsbücher sind
sozusagen austrozentrisch geschrieben. Die Geschichte eines Volkes,
wie sie gegenwärtig in seinen Köpfen lebt, ist politisch seine Seele,
ist die Verkündigung seines Berufes in der Welt. Die ganze öster¬
reichische Reichsgeschichte, wie sie an unseren österreichischen Rechts¬
fakultäten gelehrt wird und in unseren Lehrbüchern noch immer
steht, ist nach 1918 sinnlos geworden. Wir verstehen sofort, daß
damit auch unsere österreichische Nationalgeschichte als solche dahin
ist, daß wir also ein Volk ohne Geschichte, das ist ein Volkskörper
ohne Seele, das ist ein Wesen ohne Beruf und Bestimmung geworden
sind und dieses im Grunde furchtbare Schicksal erklärt es, warum
die Republik Österreich die meisten ihrer Bürger kalt gelassen hat.
Es ist das Verdienst der österreichischen Sozialdemokratie, daß sie
in den entscheidenden Oktobertagen 1918 dem entseelten Körper jenen
neuen Geist eingehaucht hat, der ihn aufrecht erhielt und zur neuen
politischen Tat fähig machte, der den großen Zusammenhang des
südöstlichsten Stammes unseres Volkes mit der Nation in den Brenn¬
punkt des politischen Bewußtseins rückte. Der Anschlußwille war
im Herbste 1918 zugleich der einzige Lebenswille.
Mit einem Male sahen wir unsere Geschichte in einem anderen
Lichte und in dem richtigen dazu! Bis zum Jahre 18 66 waren wir
gamicht das Vorvolk eines Nationalitätenreiches von acht Völkern
gewesen, sondern derjenige deutsche Stamm, dessen Erzherzog die
deutsche Kaiserkrone trug und später den Vorsitz des Bundes ein¬
nahm. In unserem Bewußtsein waren wir damals der erste deutsche
Stamm. Die dualistische Epoche, das halbe Jahrhundert von 18 66
bis 1918 sah uns im Exil, wir waren verurteilt, eine eigene Nation
zu scheinen, im Reiche Österreich-Ungarn gleichsam die Schwester¬
nation der Magyaren zu spielen! Aber wie kurz war diese Episode.
Seit der Karolingerzeit (seit dem Vertrage von Verdun im Jahre
843), somit seit mehr als einem Jahrtausend, haben wir zum Deutschen
Reiche gehört und waren wir seine südöstliche Grenzmark. Des
Reiches Grenzhut im Südosten zu sein — das ist in Wahrheit unsere
tausendjährige Bestimmung.
Diese nationszentrische Auffassung unseres eigenen Daseins ergriff im
Sturm unser ganzes Volk. Erst das Anschlußveibot des Friedensvertrages
von St. Germain hat dieses leidenschaftliche Erkennen abgedämpft und
und unsere östlichen Nachbarvölker 231
Bat den Austrozentrismus, von dem wir eben gesprochen haben, wieder
auf eineinhalb Jahr hervorgelockt. Der Kampf um das Burgenland war
das versteckte Manövrierfcld desselben. Wir wissen heute, daß sich im
Burgenland eine Restaurationsgruppe sammeln sollte, daß eine wirkliche
Verschwörung Wiener und Budapester Habsburgerfreunde sich aufgetan
hat. Der Ausgang dieses Streites hat die habsburgische Bewegung als
Illusion erwiesen und den deutschen Gedanken in Österreich wie den
magyarischen in Ungarn zum Nachteile der Reaktion gestärkt.
Der Druck der Entente und Frankreichs hat allerdings das Be¬
kenntnis zum Anschluß erstickt und die Verbindung des Staates
Österreich mit dem Staate Deutschland auf unbestimmte Zeit hinaus¬
geschoben. Aber er hat zugleich das Bewußtsein der Nationalgemein¬
schaft, das nationszentrische Denken geschärft. Es ist der Geist, der
sich den Körper baut. Und am Ende macht es nicht allzuviel, wenn
die deutsche Nation sich in einem Groß- und einem Kleinstaat dar-
stellt, wenn nur ein Geist beide leitet.
Wie ist nun von nationszentrischem Gesichtspunkt aus gesehen die
Stellung des österreichischen Stammes zu den Ostvölkem zu erfassen?
Stellt man die Frage so, dann wird sofort sichtbar, daß die öster¬
reichische Stammesgeschichte nur ein Spezialfall ist, den Österreich
mit anderen Stämmen teilt.
Die deutsche Nation hat seit ihrer Konstituierung im Osten
zwei große Ober die heutigen Reichsgemarkungen hinausstrebende
kolonisatorische Vorstöße gemacht. Der eine führt nach dem Nord¬
osten Ober das Gebiet von Polen und längs der Kflste der Ost¬
see. Er war getragen von Sachsen, Brandenburgern, Preußen und
insbesondere von den deutschen Hansestädten. Dieser baltisch-pol¬
nische Kolonisationsstrom vereinigte sich zum Schlüsse unter dem
Szepter Preußens. Preußen ist als nordöstliche Grenzmacht, als Pionier
des Deutschtums im Nordosten stark geworden, und diese seine
Stellung gab ihm den Vorrang vor anderen deutschen Stämmen.
Im ganzen aber vermochten die Preußen weder das ganze deutsche
Land im Osten noch auch viel fremdsprachige Länder zu gewinnen,
und obschon der preußische König über fremdsprachige Völker regierte,
blieb er doch überwiegend ein deutscher Fürst. Der zweite Kolo¬
nisationsstrom war der ältere und mächtigere. Die Bajuvaren leiten
ihn zuerst. Sehr bald aber nahm ihnen Österreich die Führung ab,
und die Bayern werden ein Binnenstamm, ohne Tür und Fenster in
die Umwelt der Nation. Österreich drang schon 138z bis nach
2ji Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
Triest vor und übernahm 1526 die Führong sowohl im Sudetengebiet
unter den Tschechen wie im Gebiete der Magyaren und Jugoslawen.
Die bajuvarischen, fränkischen, sächsischen und schlesischen Stämme
der Deutschen im Sudetenland verschmolzen nun mit den österreichi¬
schen Ostaipendeutschen zu einer politischen Einheit, in der das ba-
juvarische Element nur mehr ein Bruchteil war. Die weit älteren
Kolonien der Siebenbürger Sachsen (13. Jahrh.) und der oberun¬
garischen Deutschen (Zips, Iglo, Schemnitz) gerieten unter Österreichs
Führung. Nach der Zurückwerfung der Türkenflut bevölkerten aber¬
mals Deutsche die Festung Ofen (i68d), das Verths- und Pilis-Ge-
birge, den Banat und die Baszka, und deutsche Kaufleute hielten
wieder Markt in Belgrad (1718). Die habsburgische Geschichtslegende
beliebt, diesen gewaltigen Vorstoß so darzustellen, als wäre er das
Werk Österreichs und der Österreicher allein gewesen, aber Prinz
Eugen war der Feldherr des deutschen Reiches und des deutschen
Kaisers, die Kolonisten Sachsen, Franken, Schwaben. Nichtsdesto¬
weniger aber waren die Österreicher an diesem Werk hervorragend
beteiligt, und von nun ab sind die Österreicher die Vermittler deutscher
Kultur bis hinunter zur Adria und bis hinüber zu den transsylva-
nischen Alpen und dem Eisernen Tor. Die kronstädtischen und
hermannstädtischen Sachsen, die Banater Schwaben, die Ofner Bürger,
die oberungarischen, jetzt slowakischen Bergstädte und später die
deutschen Bauern und Bürger der Bukowina sind mit dem Deutschen
Reich verbunden durch Wien. Diese Kolonisation ist weitaus mäch¬
tiger und erfolgreicher als die preußische, und mit aus diesem Grunde
trägt lange der Erzherzog von Österreich und nicht der König von
Preußen die Krone des Reichs.
Man könnte sich vorstellen, daß eine solche Kolonisation sich
friedlich und unpolitisch vollzieht. Das war nicht der Fall. Das
Kulturwerk, das historisch und politisch notwendig war, war einge¬
kleidet in militärische Eroberungen, in Intrigen der Fürstengeschlechter,
in dynastische Erbverträge und Erbschleicherei, in Bauernaufstände
und Adelserhebungen. Es ist zufällige Prägung infolge der Zeitura-
-stände, daß diese nationale Kolonisation zum Schluß als Hausmachts¬
politik der Habsburger auftritt, genau so wie die nordöstliche Kolo¬
nisation als Hausmachtspolitik der Hohenzollern erscheint. Noch viel
zu oft finden wir das Werk der Nation in Fürstenchroniken hinüber-
gebucht. Die deutsche Nation hat unter dieser Verkleidung entsetzlich
gelitten, und ein nicht geringes Übel ist es auch, daß das, was die
und unsere östlichen Nachbarvölker 133
Kultur der Nation vermittelst zweier ihrer Stämme vollbracht hat,
zum Schluß als alleiniges Verdienst dieser Stämme ausgerufen wurde
und dadurch diese Stämme selbst in Gegensatz zur Nation gelangt
sind. Der Versuch, der 1848 in der Paulskirche zu Frankfurt ge¬
macht wurde, die Nation über ihre Stämme und das Reich Ober die
Fürsten zu stellen, ist gescheitert, und damit ist in letzter Linie schon
das Unheil von 1914 gesät worden.
Denn die preußischen Dynasten, die den größeren Teil der Nation
sich unterwarfen, haben ihre nordöstliche Mission dem Zarentum zu¬
lieb geopfert, die Nation einseitig gegen Westen gedrängt, in das
westliche Abenteuer gestürzt, und wenn Deutschland im Weltkrieg
unterlegen ist, so nach meiner Auffassung aus dem einen Grund vor
allem: die deutschen Armeen hätten sich vor die Vogesenpässe und
vor die belgische Grenze legen und die Reichsgrenze im Westen
defensiv behüten sollen, dort waren sie mit einem Drittel ihrer Heere
unbesiegbar. England hätte nicht so machtvoll, Amerika niemals ein¬
gegriffen, inzwischen aber hätte Deutschland seine beiden östlichen
Missionen vollenden sollen. Die Nation hatte gegenüber dem
Zaren Recht, gegenüber dem Westen und Belgien Unrecht.
Worin diese Mission bestanden hätte, darüber später.
Der österreichische Stamm, der i86d aus dem Reich hinaus ge¬
drängt wurde, übernahm nun allein eine Kolonisationsaufgabe, zu der
die ganze Nation, aber nicht ihr sechster Teil stark und groß und
kulturreich genug war. Dieses Sechstel der Nation mußte scheitern,
und so kam die Katastrophe auch für dieses. Sowohl die Preußen als
auch die Österreicher büßten im gleichen Augenblick alle ihre Vor¬
werke im Osten ein, damit verlor die Nation ihre Stellung im
Osten, ohne im Westen und auf dem Meere irgend etwas zu gewinnen.
3. Die kolonisatorische Aufgabe, die im besonderen die Deutsch-
Österreicher auf sich nahmen, fiel zunächst Wien und den Deutschen
der Alpenländer zu, aber sie veränderte diesen Stamm ethnisch völlig —
c ‘n Umstand, der oft übersehen und insbesondere von der soge¬
nannten Wittelsbachischen Propaganda vernachlässigt wird. Diese
nimmt Österreich noch immer als bajuvarisches Land in Anspruch
und denkt an einen Anschluß Österreichs an Bayern. Untersuchen
wir» was aus dem österreichischen Stamm bis 18öd und in den
folgenden Jahrzehnten seinem Blut und Wesen nach geworden war.
Die Unterlage des Volkes war bajuvarisch, obwohl in den nördlichen
Gebieten von Nieder- und Ober Österreich der fränkische Einschlag
234 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
auch im Landvolk unverkennbar ist. Aber Wien und alle die deutschen
Städte des östlichen Alpenlandes, und nicht nur sie, sondern auch
die Dörfer haben durch einen vierhundertjährigen freien Wechsel¬
verkehr mit den deutschen Stämmen des Sudetengebietes und Ungarns
einen großen Teil ihres Volkstums ausgetauscht. Würde man die
alten Wiener Bürger von erwiesen deutschem Stamme auf ihre Her¬
kunft untersuchen, so würde man finden, daß vielleicht zwei Drittel
von ihnen aus allen anderen deutschen Gauen des alten Österreich-
Ungarn stammen. Vielleicht die Hälfte kommt aus Deutschböhmen,
Deutschmähren und Schlesien, viele aus deutschen Gebieten des
ehemaligen Ungarn. Zu diesen Einschlägen kommen alle einge¬
deutschten Slawen und Magyaren Wiens und Österreichs, man findet
überall bis nach Vorarlberg hinaus Familien mit tschechischen, pol¬
nischen, ungarischen, ja selbst italienischen Namen, in denen die Er¬
innerung an die frühere Nationszugehörigkeit verloren gegangen ist
Viele allerdings sind in der letzten oder heutigen Generation einge¬
deutscht. Zu diesen Mischungen kommt noch ein starker Einfluß der
drei jüdischen Stämme, die sich in Wien begegnet sind, der böhmischen,
der polnischen und ungarischen Juden, die sich sehr kennbar von¬
einander unterscheiden. Das österreichische Volkstum, das auf diesem
Weg geworden ist, der heutige österreichische Stamm der deutschen
Nation, ist daher eine Besonderheit und beinahe allen andern Stämmen
gegenüber vergleichslos. Diese Mischung hat eine Beweglichkeit des
Geistes erzeugt, wie sie kein deutscher Stamm besitzt, eine außer¬
ordentliche Anpassungsfähigkeit und Buntheit, die natürlich sich paart
mit dem Mangel an anpassender Kraft. Die Besonderheit dieses
Stamm-Charakters spricht sich im Wirtschaftsleben, wie in der Wissen¬
schaft und Kunst deutlich aus. Nicht metaphysisch oder rassen¬
theoretisch, sondern rein praktisch gesehen: dieser Stamm birgt zahl¬
lose Individuen, welche die verschiedensten Sprachen sprechen (italienisch,
kroatisch, tschechisch, magyarisch, polnisch usw.), welche die ver¬
schiedensten Länder und Völker und deren Eigenart kennen, welche
ebenso mit der korrekten Geschäftsüsance des Westens wie mit den
Praktiken des Ostens vertraut sind, welche in der Musik die alpen¬
ländische Volksweise verbinden mit dem elegischen Ton der slove-
nischen Schnitterlieder, dem Rhythmus des Czardas der Puszta, dem
tschechischen und dem polnischen Lied usf. Kurz, es ist eine Rasse
von der höchsten Plastizität geworden, wie sie ihresgleichen unter
den deutschen Stämmen nicht hat. Im Grunde ist es, seit Österreich
und unsere östlichen Nachbarvölker i \ 5
in St. Germain auf die paar Ostalpenländer eingeschränkt worden ist,
falsch, sie »Österreicher* zu nennen, viel besser wäre es sie samt den
Sudetendeutschen, die den Kern des heutigen Österreichertums gestellt
haben, und allen versprengten Volksteilen der jetzigen Nachbarstaaten
zusammen als Südostdeutsche zu bezeichnen. Im deutsch-österreichischen
Staatsrat, welcher der jungen Republik die erste Verfassung gegeben
hat, wurde auch erwogen, die Republik Südost-Deutschland und ihr
Volk Südostdeutsche zu nennen. Nach den späteren Erfahrungen von
St. Germain wäre dies gewiß von Vorteil gewesen. Dieser Name
Südostdeutsche sollte von uns immer wahlweise neben Österreicher
gebraucht werden, er drückt unsere ethnische Zusammensetzung wie
unsere geschichtliche Mission aus.
Unsere künftigen Geschichtsforscher werden unsere Stammesge¬
schichte aus der Familienchronik der Habsburger herausschälen und
selbständig darstellen müssen. Dann werden sie die Proklamierung
des Kaisertums Österreich durch Franz II. (1804) als Akt der Fürsten¬
willkür und die Zeit von i8dd—1918 als bloßes Zwischenspiel zu
behandeln haben. Während dieses Zwischenspiels waren wir, gleich¬
sam im Exil, zum aussichtslosen Vorzug verurteilt, als Stamm zu er¬
halten und zu vollenden, wozu die ganze Nation berufen war, bis
sich mit der Vollendung der kolonisatorischen Mission die Selbständig¬
keit und Freiheit der von ihr erweckten Nationen von selbst verstand.
III
1. Nicht ungestraft ist die Kulturmission der deutschen Nation im
Osten verkleidet gewesen in das Gewand politischer Unterwerfung der
Nachbarvölker von der Ostsee bis zur Adria unter die absolutistische
Militärgewalt zweier Fürstengeschlechter. Eine geeinigte freie Gesamt¬
nation ohne dynastische Vorurteile hätte sich mit den neuen Zeitideen
und also mit den Ostvölkern ganz anders auseinandergesetzt. Man
erinnere sich an die Verhandlungen des Frankfurter Parlamentes: ob¬
schon zu jener Zeit dem Probleme noch nicht gewachsen, kündigt es
doch Lösungsformen an. Man denke an die englische Demokratie
und ihr Fortschreiten in der irischen Frage bis zur heutigen Lösung.
Das Frankfurter Parlament war, so gesehen, schon 1848 der Lösung
näher als das englische Parlament etwa um 1900. Das monarchische
Prinzip, das selbst in der Person Wilhelm I. Völker bloß als sound¬
soviel Quadratmeilen Land und soundso viel Tausende Einwohner
Privateigentum ansah, war natürlich viel zu starr, um etwa das pol-
aj 6 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
nische Problem zu lösen. Wieviel im Weltkrieg darauf angekommen
ist, weiß jedermann.
In diesen fünfzig Jahren hat sich im Osten ein weltgeschichtlicher
Prozess vollzogen, der wissenschaftlich längst erforscht, aber von der
deutschen Nation nie voll in Rechnung gezogen ist, der Prozess des
Erwachens der geschichtlosen Nation. Er endet überall mit der Bildung
von Nationalstaaten. Der nationale Einheits- und Freiheitskrieg der
Italiener und der Deutschen (1859, 1866) war darin nur das Vorspiel
für das östliche Europa. Der Krieg vom Jahre 1914, im Westen ein
Krieg des Imperialismus, ist im östlichen Mittel- und Osteuropa ein¬
fach die Fortsetzung derselben Tendenz, die sich für uns in den Jahren
59 und 66 ausdrückt.
Viele Einsichtige haben vor dem Krieg diese Entwicklung voraus-
gesehen und sich gefragt, ob es denn kein Mittel gebe, diesem Unheil
vorzubeugen, das ist ohne Krieg der Hauptsache nach dasselbe Ergeb¬
nis zu erreichen und dabei uns Deutschen das traurige Los zu er¬
sparen, alle unsere nationalen Vorwerke im Osten zu verlieren. Da¬
bei drängte die Reife der ökonomischen Entwicklung der Welt, wel¬
che seit 1859 und i8dd für die Völker ganz andere Daseinsbe¬
dingungen geschaffen hatte, geradezu gebieterisch auf eine Lösung
ohne Krieg hin. Denn die Völker, die sich kraft des Nationalitäten¬
prinzips scheiden sollten, waren ja inzwischen durch eine wunderbare
Verflechtung des Handels und durch gesteigerte gegenseitige Ab¬
hängigkeit in der Güterversorgung so innig verwachsen, daß jede
durch Krieg befreite neue Nation den Preis der Freiheit durch den
ökonomischen Ruin zahlen zu müssen bedroht war. Das offizielle
Deutschland und Österreich, das ist die Höfe der Habsburger und
Hohenzollem mitsamt ihrem Anhang von Diplomaten, Generälen und
Staatsmännern, machte sich über diese Dinge überhaupt keine Ge¬
danken. Der Berliner Hof schwelgte in der Romantik der Parsifals-
zeit, der Wiener verkümmerte im Zeremoniell der spanischen Renaissance
und in der Dumpfheit des römischen Klerikalismus.
z. In Deutschland gab es allerdings einen Mann, der Schule machte,
der einen Ausweg vorschlug, und das war Friedrich Naumann. Sein
Programmbuch „Mitteleuropa“ suchte der aufsteigenden Probleme durch
eine der Hauptsache nach wirtschaftliche Zusammenfassung aller Na¬
tionen diesseits der ehemaligen russischen Grenze mit Deutschland
Herr zu werden. Ich hatte die Freude, mit Naumann vor dem Er¬
scheinen seines Buches wiederholt das Problem Mitteleuropa durch-
und unsere östlichen Nachbarvölker 237
zusprechen, und weiß, wie er diese Schöpfung gedacht hat. Er dachte
sämtliche Nationen, die seinem Mitteleuropa an gehören sollten, mit
staatlicher Souveränität ausgerüstet und mit Deutschland verbündet,
und wie bekannt, hat er sich in Prag, Budapest und Lemberg per¬
sönlich bemüht, für seine Ideen Verständnis zu finden. Ich selbst
habe mich zu einer Form von Mitteleuropa bekannt und als die
deutschen und österreichischen Truppen in Warschau einrückten, die
polnische Nation in einem Leitartikel der Arbeiterzeitung, der mir in
Parteikreisen viel herbe Kritik zuzog, zu ihrer Befreiung brüderlich
begrüßt. Noch war die entsetzliche Verblendung der beiden Reichs¬
und Heeresleitungen nicht zu ermessen, die sich hinterher in Brest-
Litowsk geoffenbart hat.
Die mitteleuropäische Idee ist wie alle Zeitideen in verschiedenen
Lagern eben verschieden aufgefaßt worden. Die herrschende Politik
der beiden Staaten nahm sie imperialistisch auf, die oberen Klassen
in Deutschland ersahen in der Eroberung des östlichen Mitteleuropa»
eine erwünschte Ausdehnung ihrer Wirtschaftsgebiete, der Wiener Hof
die Gelegenheit, dem Kaiser Karl auch die Krone von Polen zu ver¬
schaffen, der Berliner Hof die Gelegenheit, hohenzollersche Prinzen
auf verschiedene Throne zu bringen, die deutschen Berufssoldaten als
eine immense Ausdehnung des Döberitzer Exerzierfeldes. Ich bin
dessen gewiß, daß Naumann all diesen Plänen Feind war, aber ge¬
wiß, sie nahmen in den Friedensschlüssen von Bukarest und Brest-
Litowsk verhängnisvolle Gestalt an, und das ist nun der zweite große
Fehler unserer Nation im Weltkrieg. Das die zweite Schuld, die wir
mit der Katastrophe von 1918 gebüßt haben. Das Waffenglück hatte
am Ende doch die Westfront auf der defensiven Linie still gelegt
und die deutschen Armeen im Bewegungskrieg im Osten bis ans
Schwarze Meer und an den Finnischen Meerbusen geführt. Hätte die
deutsche Nation die Traditionen ihrer Befreiungskriege, die Tradition
der Paulskirche wieder aufgenommen und in hochherziger Opfer¬
bereitschaft die Nationalstaaten, die später gegen das Reich geschaffen
wurden, selbst eingerichtet, dann hätte sie zwischen Ostsee und dem-
Ägäischen Meere eine feste Kette treuer Verbündeter gewonnen. Hätte
sie noch damals zugleich die Selbstbeherrschung aufgebracht,sich an dem.
Westen desinteressiert zu erklären, dann wäre sie vor der Welt gerecht¬
fertigt dagestanden und zweifellos Sieger geblieben. Das Verhängnis der
Nation waren die zwei Höfe und ihre dynastische Politik, die imperia¬
listischen Tendenzen der Bourgeoisie und der Hochmut des Berufsmilitärs.,
z 3 8 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
3. Naumanns Auffassung trug nach meiner Meinung imperialistischen
Charakter nur in bescheidenem Malle. Er dachte Deutschland aller¬
dings eine bevorzugte Stellung und der deutschen Wehrmacht die be¬
sondere Mission des Schutzes von ganz Mitteleuropa zu. Aber diese
Hegemonie Deutschlands hätten 1917 die nahen Ostvolker gerne als
Zahlung fUr ihre nationale Souveränität innerhalb ihrer derzeitigen
Sprachgrenze geleistet. Meine Auffassung von Mitteleuropa deckte
sich mit jener Naumanns nicht völlig, und ich habe mich oft darüber
ausgesprochen. In der Vorkriegszeit, wo Russisch-Polen und die
Ukraine noch fest in den Händen des Zaren waren und alles darauf
ankam, eine kriegerische Losung zu vermeiden, habe ich das nationale
Problem nur im Rahmen der Donaumonarchie behandelt. Ich ver¬
fuhr selbst austrozentrisch, nahm allerdings an, daß, wenn das deutsche
Österreich einer der acht Gliedstaaten des Donaureiches würde, die
Verbindung dieses Achteistaates mit dem Reiche später keine Schwierig¬
keiten machen würde. Die Form, in der ich das Erwachen der ge¬
schichtslosen Nationen und die Nationalstaatenbildung verwirklicht
wissen wollte, ohne die Wirtschafts- und Kulturzusammenhänge der
Völker zu zerstören, war die politische Föderation der national¬
konstituierten acht Donauvölker, und ich habe das detaillierte Pro¬
gramm dieser Föderation noch im Frühjahr 1918 in meinem Buche
„Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ niedergelegt. Es ist ein Pro¬
gramm der Vereinigten Nationalstaaten des Donaugebietes. Aber
wie sich aus meinem Buche „Österreichs Erneuerung“ entnehmen läßt;
war mir vom Tage des Kriegsausbruches an, seit 1914, klar, daß es
sich nun nicht mehr um eine Donauföderation handeln kann, son¬
dern ein höheres Problem gestellt war. Ich habe die austrozentrische
Auffassung sofort nach Kriegsbeginn verlassen, da ich deutlich emp¬
fand, daß es sich nun nicht mehr um das Donaureich allein, sondern
um die Konstituierung von ganz Mitteleuropa handle, und diese
Konstituierung hätte nach meiner Auffassung kein Akt der imperia¬
listischen Gewalt oder Eroberung, kein Hegemonieplan, sondern eben
die Herstellung der Vereinigten Nationalstaaten von Mitteleuropa
sein sollen. Nach Brest-Litowsk war es mir klar, daß der mittel¬
europäische Gedanke unter den Bajonetten der Sieger begraben war,
gerade wo die imperialistische Wendung des Gedankens zu trium¬
phieren schien. Von da ab habe ich meine Aufsätze zu Österreichs
Erneuerung eingestellt und meine Aufmerksamkeit der Vorbereitung
anderer Lösungen zugewandt.
und unsere östlichen Nachbarvölker
M 9
IV
i. Naumanns gemäßigt imperialistisches Mitteleuropa und mein national-
föderalistisches Mitteleuropa — beide sind gescheitert und überholt.
Die Katastrophe hat ein verstümmeltes Deutsches Reich und an Stelle
des zerstückten Donaureiches fünf Kleinstaaten zurückgelassen, von
denen die Tschechoslovakei den ausgesprochenen Charakter eines
Nationalitätenstaates hat. Die Neustaaten, die wir im Namen der
Freiheit der Völker zu begründen berufen und stark genug gewesen
wären, sie sind gegen uns geschaffen, sie starren in Waffen gegen
uns und wir sind entwaffnet. Hätte unsere kolonisatorische Mission
nur darin bestanden, sie zum Militarismus zu erziehen, sie wäre
gründlich gelungen. Die wirschaftlichen und kulturellen Zusammen¬
hänge von Mitteleuropa sind dauernd zerrissen, und der ganze Erd¬
teil ostwärts des Rheines ist desorganisiert.
Auf den Trümmern des einst blühenden Wirtschaftslebens ersteht
jedoch das alte Problem neu: diese Staaten können ihren Wieder¬
aufbau nicht einzeln, sondern nur im Zusammenhang Mitteleuropas
vollziehen. Mitteleuropa als ökonomische Idee, Mitteleuropa als Kultur¬
idee, befreit vom dynastischen, militärischen und politischen Einschlag,
befreit von jedem nationalen Hegemoniegedanken erscheint unzerstör¬
bar. Die Westmächte haben die Gewalt, die mitteleuropäischen Staaten
alle miteinander verelenden zu lassen, und sie können das, indem sie
die mitteleuropäische Lösung verhindern; sie können keinen einzigen
dieser Staaten zu wirklichem Frieden und Wohlstand führen, ohne
ein ökonomisches Mitteleuropa zuzulassen.
l. Allein die Verwirklichung der Idee ist durch das Kriegsergebnis
allem Anschein nach unmöglich gemacht. Die Nationen, welche bei
anderer militärischer und diplomatischer Führung des Krieges fflr
alle Zukunft Deutschlands Freunde geworden wären, stehen ihm als
Sieger gegenüber und die Friedensverträge haben jeder dieser Nationen
ein Stück deutscher Erde zugesprochen, außerdem von der Seite jedes
Nachbarn einen Pfahl in das Fleisch Deutschlands getrieben, damit auf
ein Menschenalter Feindschaft zwischen allen mitteleuroäpischen Staaten
und Deutschland herrschen solle. Dabei ist Deutschland trotz alldem
unter allen mittel- und westeuropäischen Staaten des Kontinents noch
immer der größte, volkreichste und wirtschaftlich energischste, sodaß
die Neustaaten trotz Sieg und Raub nicht aufhören können es zu
fürchten. So ist ein diplomatisches Werk der Völkerverhetzung ge¬
schaffen worden, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel
Z40 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
ist, und trotzdem soll ein ökonomisches Mitteleuropa geschaffen werden?
Ich will nicht den Anschein des Ehrgeizes erwecken, paradox zu sein
und Unmögliches als wirklich hinzustellen, dennoch wage ich die
Behauptung, daß Mitteleuropa werden kann, allerdings nicht in den
Formen, die in den verschiedenen Richtungen noch 1917 vorschwebten.
Nicht in Gestalt des deutschen Imperiums Hindenburgs, noch in der
Form der militärisch- ökonomischen Hegemonie, wie sie Naumann vor
Augen hatte, noch auch in der von mir verbreiteten Form der gleich¬
berechtigten Föderation der Nationen. Jedes politische Band,
auch das allerloseste, ist heute ausgeschlossen! Aber ich
glaube, daß dieser bewußte und vollkommene Ausschluß des politischen
Moments die ökonomischen Triebkräfte deutlicher herausarbeiten
muß, und gerade, weil Deutschland vollständig entwaffnet und wehrlos ist,
während seine kleine Nachbarn bewaffnet sind, können wir Deutsche,
solange die Führung der Nationen den nichtmilitaristischen Parteien
zufällt, auf den Sieg der Ökonomie Ober die Politik bauen, und in
der Ökonomie allein liegt die Kraftquelle für unseren Wiederaufstieg.
Den bis zum Krieg herrschenden Klassen aber, die die Heldenideologie
gegen die Händlerideale gestellt haben, muß allerdings der Gedanke
furchtbar erscheinen, jeden politischen Ehrgeiz abzutun und die Zu¬
kunft der Nation in die Hände der Unternehmer und Arbeiter, der
Kaufleute, der Techniker, der Professoren zu legen! Es ersteht für
uns wirklich die Frage, ob wir die Kraft haben zu ausgesprochenem
Verzicht. Denn wir müssen, um Mitteleuropa zuwege zu bringen,
ausdrücklich auf alle territorialen Re Vindikationen verzichten und den
gegenwärtigen territorialen Bestand der Neustaaten anerkennen. Wir
müssen — trotz des immer regen Bewußtseins älterer und längerer
Kultur — der werdenden Kultur unserer Nachbarn voll gerecht werden,
müssen, ohne ihnen unsere Sprache aufzudrängen, ihre Sprachen
lernen, und wir müssen, so wie wir heute nach den Verträgen von
St. Germain als Barbarenstaat hinter den Hedschas, hinter Haiti und
Siam rangieren, uns gefallen lassen, daß in manchen Dingen und
Fällen die Neustaaten vor uns den Vortritt haben. Ich bin mir be¬
wußt, wie die intellektuellen Kreise unserer Nation vor dieser Zu¬
mutung erschauern, ich wage sie dennoch zu stellen, weil ich nicht
möchte, daß sich irgend jemand über die wahre Lage des Deutsch¬
tums in Europa täusche. Diese Unterwerfung in die neue Lage ist
für uns geradezu eine vorausbestimmte Buße für den Cäsarenwahn
unserer Imperatoren, für den Gewaltrausch mancher unserer Generäle
und unsere östlichen 'Nachbarvölker 241
und für die herausfordernden Geschäftspraktiken unseres Vorkriegs¬
kapitalismus.
Auf der anderen Seite aber darf nicht vergessen werden, daß bei
Tschechen, Polen und Rumänen ein sehr großer Teil jener Völker
— und vielleicht der für deren Zukunft wertvollere Teil — vor und
im Kriege gerne mit den Deutschen sich verständigt und mit ihnen zu¬
sammen gesiegt hätte. Es muß ferner verbucht werden, daß die wirt¬
schaftliche Führung in diesen Nationalstaaten zum großen Teil in den
Händen deutscher Familien liegt, die sich, sei es vor einem Menschen¬
alter, sei es jetzt erst, auf den Boden der Nationalstaaten gestellt haben.
Sie werden unter den Feinden, gerade wenn wir zunächst nichts als Volks¬
wirte, Gelehrte usw. sein wollen, und wenn wir sie durch politischen
Ehrgeiz nicht in Verlegenheit bringen, in der neuen Nation um so leichter
wirken und sich als unsere Freunde bekennen können. Da die Entente
auf ihrer Seite alles tun muß, um die Nationalstaaten zu reizen, so
wird die augenblickliche Psychologie bald zusammenbrechen und der
Weg zu einer Verständigung auch auf der anderen Seite frei werden.
3. Aber Wenn auf unserer Seite ein so schmerzlicher Entschluß
zu verzichten gefordert wird, so kann diese Selbstüberwindung nur
dann von unserem Volk im ganzen aufgebracht werden, wenn das
positive Verhalten der anderen diese Resignation rechtfertigt. Unsere
künftigen Ausländsdeutschen, die noch gestern unsere Staatsgenossen
waren, dürfen von den neuen Staatsvölkern nicht so behandelt werden,
wie das heute geschieht. Der Vertrag von St. Germain sieht einen
Schutz nationaler und konfessioneller Minoritäten vor, der nach der
Auffassung der Westmäehte und insbesondere Amerikas imstande sein
soll, die nationale Frage aus der Welt zu schaffen. Ich weiß nicht,
wie originell, wie großartig, wie menschenfreundlich sich die west¬
ländischen Verfasser vorgekommen sein mögen, als sie diese Charte
in den Völkerbundpakt hinein praktizierten. Sie haben nur bewiesen,
wie ahnungslos sie dem Problem gegenüber stehen. Dieses Minder¬
heitsrecht bleibt weit zurück hinter dem Nationalitätenrecht, welches
das alte Österreich geschaffen hat, jenes Österreich, das die West¬
mächte wegen der Vergewaltigung der Nationen zerstören zu müssen
geglaubt haben. Jene Charte ist eine wahre Bettelsuppe eines Minori¬
tätenrechts. Sie verfehlt den Kern des nationalen Problems. Es ist
beinahe ein Gemeinplatz, daß die Nation, einerlei ob Mehrheit oder
Minderheit, Geltung als Staat oder als Staatsorgan haben muß und
nicht auf das private Assoziationsrecht verwiesen werden kann, wie
i+z Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
etwa die Kirchen in den Vereinigten Staaten. Die Nation, die auf
der einen Seite das Ganze des Staates bildet, kann auf der anderen
Seite sich nicht bescheiden, der bloß private Verein von Nations¬
genossen zu sein. Behandelt man unsere Stammesbruder in Hinkunft
so, so wird jeder Versuch, auf unserer Seite sich den Nationalstaaten
ökonomisch zu nähern, aufgehalten und zerstört werden durch den
leidenschaftlichen Widerspruch der Unsrigen jenseits der Grenze.
Darum ist die Voraussetzung der künftigen Verständigung nicht ein-,
sondern doppelseitig, nicht bloß eine Schicksalsfrage Mittel¬
europas, sondern die Existenzfrage der Einzelnen. Der Bestand der
Tschechoslovakci ist darin gegeben, daß sie den Deutschen einen
verhältnismäßigen Anteil am Staat selbst, an Regierung, Zentral- und
Lokalverwaltung gewährt, und dies nicht als bloßes Präcarium, sondern
als verfassungsmäßiges Recht. Ich persönlich weiß, daß hochgestellte
Funktionäre der tschechoslovakischen Republik von dieser Einsicht durch¬
drungen sind und dennoch von ihr keinen Gebrauch machen können,
weil der „Siegestaumel“ einstweilen die Nation verständnislos macht.
Das neue Verhältnis, das nach meiner Vorstellung die Staaten ver¬
binden soll, und zwar groß und klein, alt und jung, Sieger und Besiegte,
setzt demnach nicht etwa gegenseitige Liebe voraus, schließt aber das Fort¬
beharren des alten Hasses aus. Auch ohne Liebe kann die vernünftige
Abwägung der Interessen Staaten verbinden, und eine solche Verbindung
von Interessen ist meist solider als Gefühlschwärmerei. Andererseits aber
ist eine Gemeinschaft ohne wirklich positives Band ein sehr gebrechlich
und flüchtig Ding.
V
Worin soll aber dann dieses neue Mitteleuropa bestehen, wenn
kein politisches Band es verbindet, wenn auch nicht die loseste Föde¬
ration in Aussicht genommen ist?
Aus einem wohl durchdachten, von Schritt zu Schritt zu verdichtenden
Netz von ökonomischen Verträgen und Interessengemeinschaften! Wir
müssen dahin kommen, daß zum Beispiel von der Nord- und Ostsee
bis zur Adria und zum Schwarzen Meer Bahnen mit der gleichen
Präzision und Leichtigkeit führen und verfrachten wie die Pazifik-Bahnen
zwischen Atlantis und Stillem Ozean. Wir müssen ein mitteleuro¬
päisches Kanalsystem ausbauen, auch wenn der Nutzen davon für die
Neustaaten größer wäre als für uns. Kurz, beim Wiederaufbau des
Wirtschaftslebens ist mit vollem Bewußtsein nicht der reichsdeutsche,
der heute wenig mehr als ein kleindeutscher Gedanke ist, noch der
und unsere östlichen Nachbarvölker
*45
österreichische, sondern der mitteleuropäische Gedanke ins Auge zu fassen.
Ein Stttck unseres nationalen Unglücks war es ja auch, daß Bismarck
das kleindeutsche Reich auf dem Kontinent geistig und ökonomisch durch
seine Institutionen und seine Zölle abgesondert und als autark behandelt
hat Wir dürfen den Fehler auch dann, wenn Österreich Deutschland
einverleibt ist, nicht weiter machen. Wir müssen erkennen, daß wir,
wie die Dinge liegen, die geschichtliche Bestimmung haben, mit
Tschechen, Polen, Magyaren, Rumänen, Jugoslaven usw. zusammen als
Gleiche unter Gleichen Ökonomie zu machen. Im Grunde genommen
war es in all den zooo Jahren unserer Vergangenheit nicht anders, und
unsere wahre nationale Idee ist nicht von Bismarck, sondern viel eher
von Herder und Fichte ausgesprochen worden. Mit dieser unserer natio¬
nalen Idee aber ist der mitteleuropäische Gedanke sehr wohl verträglich.
Dieses System von Verträgen, für das die Ergebnisse von Portorose ein
Vorbild sind — leider schließt Portorose Deutschland nicht mit ein —
muß getragen sein von dem Grundgedanken: freiestes wirtschaft¬
liches und geistiges Kommerzium. Die zwei deutschen Republiken
haben ein gebieterisches Interesse, Schutzzolltorheit durch ihre Praxis ad
absurdum zu führen. Ihre Wirtschaftspolitik muß nach 1918 genau
unter dem entgegengesetzten Prinzipe stehen als von 1878 bis 1918, als
in der imperialistischen Ära. Der Ring geistiger und wirtschaftlicher Ver¬
einsamung, den Feindesrache um Deutschland geschmiedet hat, kann nur
durch den Freihandel durchbrochen werden, der uns Brot und Rohstoffe
ins Land bringt und die örtlichen Märkte öffnet. Genau so, wie wir die
agrarische Zollmauer überwinden, müssen wir auch die geistige Mauer
niederlegen, die unsere vielfach verbauerte und verjunkerte Studenten¬
schaft um unsere Hochschule legen möchte: es ist unsere Mission, die
nahöstlichen Nationen an unseren Hochschulen mitarbeiten zu lassen und
zugleich ihr Hochschulwesen zu achten. Das gegenteilige Treiben ge¬
wisser akademischer Kreise ist nicht national, sondern nationsfeindlich.
ökonomisch-kulturelle Arbeit ohne politischen und militärischen
Ehrgeiz — das wäre also die politische Idee, die wir aus den Be¬
ziehungen zum nahen Osten ableiten. Mögen andere nachprüfen, ob
sie im Verhältnis Deutschlands zum Westen und zum ferneren Osten
standhält
VI
Ich weiß, es wird schwer halten, der deutschen Intelligenz bei¬
zubringen, daß sie von der militärisch-politischen Idee für absehbare Zu¬
kunft Abschied zu nehmen hat Aber ich erwarte, daß in nicht allzu
244 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs
ferner Zeit die Welt selbst zu diesem Entschlüsse wird kommen müssen.
Die Bestimmung des Deutschtums als eine ökonomiseh-kulturelle
Idee besitzt zunächst nichts Hinreißendes, aber sie ist in erster Linie
geeignet, dem Wiederaufbau unserer Nation zu dienen. Wenn wir uns
ganz mit ihr erfüllt haben, so werden Österreicher wie Reichsdeutsche
auch in der Anschlußfrage etwas ruhiger denken. Wie schmerzlich es
ist, daß uns auf einige Zeit der politische Anschluß versagt ist, so
wird uns der Verzicht doch wieder erträglicher gemacht durch die
Erkenntnis, daß wir in der nächsten Zukunft eben nicht militär-poli¬
tische Aufgaben haben, sondern ökonomisch-kulturelle, und zur Not
können wir diese einige Zeitlang leisten, trotz politischer Grenzen,
wenn wir uns nur über sie hinweg verständigen.
So müssen wir denn damit rechnen, daß Österreich unter eigener
Verantwortung ein Stück der gesamtnationalen Aufgabe zu übernehmen
und zu erfüllen haben wird. Welches Stück Arbeit und Verantwortung
käme nun in diesem Rahmen den Südostdeutschen zu!
Ich möchte diese unsere Rolle durch einen Vergleich anschaulich
machen. Das vormals kriegerische Schwedenvolk hat von seiner
skandinavischen Heimat aus alle Ostseeländer erobert, hat seine Armeen
bis ins Herz Rußlands vorgeschickt und einen seiner Könige auf den
Thron von Warschau gesetzt. Alle diese militärischen Eroberungen
sind verloren gegangen, selbst Finnland, das von einem Drittel Schweden
besiedelt ist. Auch das war eine nationale Katastrophe, auch dort war
ein ungeheuerer Aufwand von Energie und Blut eines Volkes schmäh¬
lich vertan, und am Ende war Schweden ein kleiner Staat, der politisch
neben dem östlichen und dem südöstlichen Nachbarn beinahe ver¬
schwand. Aber diese militärisch-politische Katastrophe hat die wirt¬
schaftliche und kulturelle Sphäre Schwedens nicht sehr beeinträchtigen
können, und überall in den Ostseeprovinzen, in Petersburg und in
Moskau und bis zum Kaukasus hat sich der schwedische Einfluß geltend
gemacht. Ähnlich, aber nur in viel größerem Maßstabe wird Öster¬
reich als Deutschlands Vorposten seinen Einfluß in Südosteuropa
behalten — allerdings unter der einen Voraussetzung, daß es ab¬
lehnt, politisch Einfluß zu üben. Ich denke dabei am allergeringsten
an österreichisches Kapital, denn dieses österreichische Kapital, sofern
man eben alpenländisches darunter versteht, ist zum großen Teil durch
den Kronensturz und andere Umständen zugrunde gegangen oder in
die Tschechoslowakei übersiedelt. Ich denke vielmehr an die Menschen,
ihre erworbenen Fähigkeiten und ihre unzerstörten Beziehungen. Der
und unsere östlichen Nachbarvölker 245
österreichische Unternehmer wird auch, wenn er sein Kapital zum
Teil eingebüßt hat, bei Jugoslaven, Rumänen, Magyaren und Polen
noch immer bestehen können, ebenso wird der Techniker und der
Arzt, der Landwirt und der Kaufmann, der Bank- und Versicherungs-
Fachmann seinen Platz im Wettbewerb sehr wohl behaupten, denn
gerade er und nur er bringt die Kenntnisse der Märkte aller fünf
Nationalstaaten mit und nur er verfügt über jene Sprache, die als
Vermittlungssprache zwischen den fünf Nationalstaaren garnicht
ausgeschlossen werden kann; dasselbe gilt in bezug auf die qualifizierten
Arbeiter. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in ein bis zwei Jahrzehnten
alle Nationalstaaten qualifizierte Arbeiter aller Branchen ausgebildet
haben, ebenso sicher ist, daß nicht alle sie heute besitzen und sie
von nirgend sonst woher beziehen können. In diesem Punkt ist
England und Frankreich auf jenem Boden nicht konkurrenzfähig.
England sendet seine Leute in die Kolonien, und Frankreich hat
keine Leute zu vergeben. Die Mission, die uns Südostdeutschen ob¬
liegt, ist daher nicht die imperialistische Mission einer hochkapitali¬
stischen Nation, sondern die Mission eines Volkes von qualifizierten
geistigen und manuellen Arbeitern. Eingeweihte versichern heute
schon, daß Rumänen und Jugoslaven ihr Eisenbahnwesen ohne unsere
Arbeiter schwer in Gang bringen können. Die Tschechen, welche
mit uns erfolgreich in Wettbewerb treten könnten, haben mit sich
selbst zu tun und sind zu teuer. Dazu kommt noch eine Gabe, von
der der ganze Westen nichts weiß und die er uns vielleicht bestreitet.
Durch lügnerische Ausstreuungen der feindlichen Presse sind wir als
intolerant in Verruf gekommen. In keiner Sache ist uns so sehr
Unrecht getan worden. Umgekehrt. Alle aufsteigenden Nationen
haben auch untereinander ein schwer erträgliches Maß nationalen
Hochmutes und nationalen Sondertums, wir Südostdeutsche aber ein
überaus großes Maß von Toleranz und Verständnis für die anderen.
Hierin bildet nur unsere sogenannte Intelligenz, das ist die Schicht
der Amtsanwärter, eine Ausnahme, während die wahre Intelligenz, das
ist der Gelehrte, der wirklich tüchtige Arzt, Ingenieur und Kaufmann,
doch so sehr allgemein menschlich denkt, daß er sich an nationale
Eigenheit nicht stößt. Zugegeben aber muß werden, daß in und
nach dem Krieg eine engherzige nationalistische intransigente Orien¬
tierung Platz zu greifen begonnen hat, eine Orientierung, die im¬
stande wäre, uns Österreicher und insbesondere Wien zugrunde zu
richten. Aber es wird nicht allzulange dauern, und diese Richtung,
24 6 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs usw.
dieser zeitweilige Reflex der tschechischen Geistigkeit auf uns, wird
wieder zurücktreten. Und so werden wir durch das Mittel unserer
Hochschulen, unserer Akademien, aber vor allem unserer Gewerbe-
und Fortbildungsschulen, durch unsere Werkstätten und unsere Er¬
holungsstätten sehr bald der Mittler zwischen den anderen werden.
Aber gerade wegen dieser unserer Austauschfunktion wird unser Stamm
nicht der produktivste der deutschen Stämme sein; es liegt in unserer Lage,
daß wir vermitteln und zwar vermitteln zwischen der großen deutschen
Nation auf der einen und dem europäischen Südosten auf der anderen
Seite. Wir würden also zum Beispiel unsere Hochschulen und unsere
Fabriken allein nicht auf der überlieferten Hohe halten können, wir
müssen sie zum größeren Teil von Deutschland aus besetzen, aber
wir werden berufen sein, das Übernommene weiter zu tragen und
von weitem her Neues zu bringen. Und so können wir unsere
Zukunft nur in doppelter Beziehung denken: wir sind ein Teil des
Reiches, aber wir sind zugleich des Reiches südöstliches Tor.
Über ein halbes Jahrhundert lang waren wir vom Reich getrennt
und sind nun auf dem Heimwege. Trotz all der Einbußen, die wir
erlitten haben, brauchen wir uns nicht zu schämen, denn wir kommen
nicht als Bettler. Freilich dieses Staatswesen Österreich, auf das
wir Südostdeutsche künstlich reduziert worden sind, diese deutschen
Ostalpenländer, die man gezwungen hat, den Namen eines Fürsten¬
geschlechts und eines Reichs zu übernehmen, die nicht mehr sind,
sind als Staat ein unhaltbares Gebilde. Mit dem Staat Österreich
wird das Reich einmal eine Last und ein Passivum übernehmen. Da¬
gegen kann man heute nicht bloß Voraussagen, sondern beinahe schon
feststellen, daß zwei Dinge unzerstört und aktiv sind: unsere Produktion
und unsere Volkskraft. Das staatliche Passivum wird vom Reich leicht
zu übernehmen und zu tragen sein, das Aktivum an Volk und Wirt¬
schaft aber ist für das Reich ein Gewinn. Und alles in allem, in den
großen zeitlichen Zusammenhängen der Jahrhunderte und in dem räum¬
lichen Zusammenhang ganz Europas gerückt, finden wir unsere Geschichte
wieder und erkennen unsere Zukunft! Wir haben eine Vergangenheit
und haben keinen Grund, als Volk und als Stamm sie zu verleugnen, wir
haben eine Zukunft, in der wir vor allem unser Volkstum nicht zu ver¬
leugnen brauchen. Es tut nicht not, daß wir wie ein todesstarrer Körper
willenlos auf den Wellen treiben, es scheint nur so, als ob wir unsere
Seele verloren hätten, wir haben unsere Seele wieder gefunden, damit
den Glauben an uns und so auch die Kraft zu schaffender Arbeit.
AUFZEICHNUNGEN AUS PALÄSTINA
von
ARTHUR HOLITSCHER*
Schon so viel Jahr
trag ich sein Zorn,
und meine Haar
schon weiß gewom.
Ich muß noch wandern
von eim Ort zum andern,
cham bängt sich mir fort!
Nach Jeruschalajim, nach Jeruschalajim,
dem teuren, heiligen Ort.
Meinem lieben Freunde Alfons Herzberger Aus „Chazot“ von Beirach Schafir,
einem armen jüdischen Landstreicher.
B ergabhang, riesiger, gelber, zerklüfteter Felsenrücken am Westafer
des Genezarethsees — hier, sagt die Legende: hier ist der Ort
der Bergpredigt.
Unser Automobil fahrt am Fuße des Berges die Straße entlang,
holperig über spitze Steine am Ufer des Sees, Kapemaum zu. Die
Straße ist neu. Schotterhaufen. Auf ihnen sitzen rittlings junge
Männer, klopfen Steine. Junge Mädchen, gebückt, mit Spaten in den
Händen, zerschlagen die hervorstehenden, ebnen die Steine auf der
Straße.
Im Vorüberfliegen reißen wir die Mützen von unseren Köpfen:
„Schalom!“ Die Jungen, die Mädchen winken uns noch, erwidern
den Gruß, den Friedensgruß — es sind die Unsrigen!
Einen Blick noch zurück auf den Berg der Bergpredigt — die Augen
bleiben auf den hellen, kleiner werdenden Gestalten haften, die Steine
hacken, am Fuße des riesigen kahlen Abhangs.
Die Legende —
Und da liegt schon, an das Wasser geschmiegt, von den Wellen
bespült, Magdala: zehn elende Araberhütten. Weiter vor uns aber,
in tiefem Grün der Bananenhain der jüdischen Kolonie Migdal.
Galiläa.
Galill!
* Aus Arthur Holitschers Buch „Reise durch das Jüdische Palästina“,
das in Kürze im Verlage S. Fischer, Berlin erscheint.
148 Arthur Holitscker, Aufzeichnungen aus Palästina
Und auf der Chaussee, die von Tibcrias aufsteigt gen Nazareth,
hacken sie Steine, die Unsern. — Oben auf den Hügeln, engelweiß
zwischen schwarzen Zypressen, hebt sich das Franziskanerkloster zum
Himmel. Die Gabrielskirche der Griechen. Kloster, Klöster. Zarter
Gesang aus den Türmen der Beschaulichkeit. Unten aber, im weißen
Staub, im brennenden Sonnenlicht: klopf, klopf. Junge jüdische
Knaben, jüdische Mädchen, von weit hergekommene, bauen die Straßen
des Landes, die zu den Klöstern der friedlichen Gottesruhe führen.
An manchen Orten, an vielen Orten, in allen Teilen Palästinas, in
Samaria, Judäa, zwischen Dan und Bersheba, im Norden und Süden
bauen sie im Sonnenbrand die Straßen ihres Landes Israel.
Woher seid ihr gekommen? Was sucht ihr hier? Steine zu klopfen kamt
ihr über das Meer? Aus den Städten Europas, von den Straßen, glänzend
im elektrischen Licht, aus warmen Elternhäusern, von Universitäten,
Lehrerinnenschulen, hieher auf die harten Wegedes wilden Landes? Steine
zu klopfen acht Stunden und mehr im Sonnenbrand? Wer seid ihr?
Wir sind diese?
Blicke fliegen uns nach, freundliche Blicke, lächelndfrohe auch zu¬
weilen —
Schalom!
Diese Frage und immer wieder diese: was hat sie hergetrieben?
Tausend Antworten gibt Palästina auf diese Frage.
Mit vielen jungen Einwanderern, alten Arbeitern, langjährigen
Kolonisten habe ich über diese Frage gesprochen, mit manchem ein¬
gehend, unter vier Augen. Keiner hat mir dieselbe Antwort auf
diese Frage gegeben. Denn eine schematische Antwort auf Fragen
des innersten Gewissens gibt nur ein Mensch, der ohne Gefühlsleben
ist oder ohne eigene Gedanken, oder einer, der Angst hat. Diese
jungen und älteren Menschen aber, die ein unbewußtes Drängen nach
dem alten Land der Väter, nach Zion getrieben hat und treibt, es
sind keine Dutzendmenschen, sondern Menschen mit hochentwickeltem,
sehr wachem und an großen Dingen geschultem Gewissen, und sie
geben sich schonungslos und wahrhaftig Rechenschaft darüber, was
sie in Palästina erwartet und was sie dort zu leisten haben werden.
Nur über die Natur, das Wesen, das Geheimnis ihrer Sehnsucht
nach Zion, nach dem Lande Israel vermögen sie sich keine klare
Rechenschaft zu geben.
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 249
Was ist Zionismus?
Ist er eine religiöse Bewegung?
Ist er die nationale Bewegung eines zerstreuten Volkes, das zur
Einheit strebt und gelangen will auf diesem ihm vor zweitausend
Jahren entwendeten Heimatboden?
Ist er die Klassenbewegung der arbeitenden Juden, zum Lande, zur
Scholle, zur fruchtbaren Erde zurück?
Ist er der metaphysische Zug eines Volkes nach einem Punkt des
Erdballs, an dem sein Verhängnis sich erfüllen soll?
Oder — ist es Flucht vor Pogromen? Beleidigungen? Flucht vor der Not¬
wendigkeit des Klassenkampfes mit all seinem Schauerlichen in der ver¬
düsterten Exil-Heimat, die jetzt manchem vielleicht in hundertfachem
Maße Exil, Galuth geworden ist? Ist es Abenteuerlust, die junge Menschen
in Scharen nach dem jahrtausendealten steinigen Lande vorwärtsstößt
oder zurückkehren heißt? Ist es Überdruß an der niedergehenden, all¬
zulangsam verendenden Zivilisation dieses todgeweihten Abendlandes?
„Nationalismus! Wir sind eine Nation, Uns treibt das nationale
Bewußtsein des jüdischen Volkes, der jüdischen Kasse vorwärts.“ Ich
erwiderte darauf: euer Geschichtsbuch ist das Alte Testament. Die
Thora-Rolle enthält die Geschichte eures Volkes. Welche Nation
hat noch eine Chronik ihrer Geschichte, die an heiligen Feiertagen
in Gotteshäusern verkündet wird? Euer Trieb nach Palästina, das ihr
Erez Israel nennt, ist ein religiöser, kein nationaler.
Darauf antworteten mir nicht wenige: wir sind Atheisten.
Ich wäre in solchen Diskussionen sicherlich rascher vorwärts ge¬
kommen, hätte ich statt des tausendfach gefälschten und entwürdigten,
des vage und trügerisch gewordenen Wortes: Religion, das Wort:
Messianismus gebraucht.
Dort am Fuße des Ölberges, gegenüber dem Harams-Wall, der
weiten, wunderhellen Stätte, wo einst der alte Tempel stand — eine
versteckte Quadermauer ist von ihm geblieben — reihen sich, den
Berg hinauf, ungezählte jüdische Gräber. Dort, zu Füßen Jerusalems,
im Tale Josaphat, am aufsteigenden Hang des Ölbergs, soll einst die
Posaune des Gerichts und der Auferstehung ertönen. Sie wird die
Juden dorten nicht erwecken, die Abertausende sterbenswilliger Juden,
die von weit her gewandert sind, allein — um der Seligkeit des
Grabes teilhaftig zu werden.
Etwas vom Irrsinn der Kreuzfahrer muß in den jüdischen Siedlern,
250 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
Kolonisten, Arbeiter-Pionieren: den Chaluzim dieser neuen Zeit leben¬
dig sein. Der Wunsch, das Land der Väter wirtschaftlich neu zu
erobern, wäre des ungeheuren Triebs nach Palästina nicht würdig;
nur unbefriedigend könnte er den unaufhörlich anschwellenden Zug
der heutigen Juden nach Zion, nach Erez Israel erklären.
Ist eine Nation zerstört, wenn man ihr die Heimat nimmt?
Die Juden, Jahrtausende lang im Exil, geben die Antwort: Nein.
Wenn man sie mit Schwert und Feuer ausrottet? Neun Zehntel
der Armenier haben die Türken von dem Erdboden weggefegt, zer¬
treten, vernichtet Aber sie sind heute da. Man spürt das Walten
ihres ungebrochenen nationalen Willens sehr deutlich an der Eigenart
ihrer Politik, die sich im Orient immer weiter behauptet
Wenn man sie aushungert, politisch, wirtschaftlich, kulturell zugrunde
richtet? Nicht eine Eigenart des Österreichers ist in seiner Katastrophe
zuschanden worden.
Ob ein Volk in seinem eignen Land verelendet oder verstreut in
allen Ländern der Fremde, des „Exils“ dahinlebt — sein Unzerstörbares
erleidet keinen Abbruch. Es bleibt Es sublimiert sich in einzelnen
Individuen. Man mag ihm das Recht, sich als Nation zu betrachten,
absprechen, man mag ihm den Boden unter den Füßen wegziehen —
all das ändert an seinem innersten Bestand nicht das geringste.
Der Nationalismus ist in den Völkern sehr stark. Im Orient zu¬
mal, wo er in Formen religiöser Tradition auftritt. Wir, die wir an
den notwendigen Kampf und an die Auflösung der Klassen glauben;
wir, die wir an die Verbrüderung der Menschen, an die Menschheit
glauben: wir müssen uns diesen starken Feind heute klarer als je
vergegenwärtigen. Wir müssen erkennen, gegen welche zwingende
atavistische Kraft im Menschengeschlechte wir anrennen.
Um sich als Nation fehlen und behaupten zu können, brauchten
die Juden nicht wie Antäus die Berührung mit der Heimaterde. Sie
sind als Einheit auch in der Diaspora mächtig genug.
Sie sind, in der Zerstreuung über den Erdball, das Salz der Erde
geblieben. Die Menschheit ist schmackhafter durch sie. Sauerteig
der Entwicklung sind sie. Die Geschichte der großen, von Rußland
ausgehenden Bewegung zeugt von ihrer Gegenwart, von der Sendung
ihrer schwellenden Kraft.
Warum bleiben die Ostjuden, voll dieses messianischen Höhentriebs
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 151
zur Zukunft, nicht daheim, im Osten, der ihnen kaum mehr Exil,
kein Galuth mehr heißen kann? Warum arbeiten sie nicht an dem
großen Werk der Befreiung mit, das, von Rußland ausgehend, in
langsamem Kampf, heroischer Anspannung die Welt umzuformen
unternommen hat ? Warum drängen sie nach einem Winkel Asiens hin,
wo ihre Geschichte vor zweitausend Jahren aufhörte — statt dort zu
bleiben, wo ihre Geschichte, die Geschichte der Gesamtmenschheit,
heute anhebt?
Flüchteten sie bloß vor der Notwendigkeit, dem düsteren Muß des
Kampfes, in beschauliche Abseitigkeit, flüchteten sie vor der Zeit —
ich würde dieses Buch nicht schreiben. Ich würde die Deserteure,
Verräter schmähen und verfluchen.
Aber die jungen Menschen, die Palästina jetzt aufnimmt, die Stärksten,
Gläubigsten unter ihnen bauen, tastend, irrend, von Fehlschlägen nicht
entmutigt im Urväterland an der Neuen Welt. So wie in ihrer Exil¬
heimat im Osten Europas, auf Irrwegen, unter Fehlschlägen, in blutiger,
langsamer Umwandlung sich jetzt die neue Heimat, das Neue Zion
der Menschheit ans Licht ringt.
Administration, Kolonisationswerk und Aufbau, Formation der
Parteien, Theorie der Arbeit und Organisation der Arbeitenden — alles
befindet sich im jüdischen Palästina heute noch im Zustand des Ex¬
perimentes. Das Problem des Nationalismus desgleichen. Unendliche
Ströme Tinte werden Uber dieses Problem in der Diaspora ausgegossen,
trotzdem ist es in Palästina bei weitem noch nicht zur Klarheit
gediehn.
Die kleine jüdische Minderheit Palästinas, diese menschliche Auslese
des Besten im Judentum dieser Zeit, hängt mit der großen Judenheit
der Diaspora eng zusammen. Die Theoretiker des Zionismus meinen:
die große Zahl der über den Erdball verstreuten Juden solle eben das
Recht der verhältnismäßig geringen Zahl der Juden, die Palästina auf¬
nimmt, auf ihre Heimat rechtfertigen. Es verhält sich genau umge¬
kehrt Die jungen Arbeiter-Pioniere rechtfertigen die Judenschaft der
Welt durch das Opfer, das sie ihrer chimärischen Heimat in der Stein¬
wüste Urväterlandes darbringen.
Hs ist nicht das Volk der Bedrückten, heimatlos und verzagend über
den Erdball Irrenden, das jetzt im Zwischendeck vor den Riffen Jaffas
•»kommt Es ist eine selbstherrliche, selbstbewußte, starke und zu-
kunftgläubige Schar, die von dem Freibrief, der Deklaration des
2$z Arthur Holitscher , Aufzeichnungen aus Palästina
englischen Imperialismus ohne große Dankesbezeugung Gebrauch
macht.
Die Balfour-Deklaration vom z. November 1917, die den Juden
die nationale Heimat gewährleistet, bietet wohl Anlaß zur Heimkehr
der Juden nach dem alten Land der Verheißung. Aber was sich in
diesem alten Lande abspielt, die Besitzergreifung Palästinas durch die
Juden, geschieht durch einen höheren Willen, aus höherem Gesichts¬
punkt, als ihn der Begriff Heimat umzirkeln kann.
Fünfzehn Millionen Juden sind heute über den Erdball verstreut.
In Amerika leben von diesen fünfzehn drei; in Sowjetrußland unge¬
fähr fünfviertel Millionen. Acht Millionen sind Ostjuden — Polen,
Ukrainer, Rumänen, Letten, usw. Von diesen acht ist die Hälfte,
wie es erwiesen ist, außerstande, sich selbst ausreichend zu ernähren.
Sie lebt, wenn nicht von Almosen oder im nackten Entsetzen des
tiefsten Elends, von unproduktiven Berufen. Diese Ostjuden sind es,
die nach Palästina die kräftigsten, arbeitsfrohesten, gläubigsten Pioniere
entsenden. Der Chaluz ist Ostjude.
Dieses Land Palästina, dieser schmale, bergige Landstreifen zwischen
dem Mittelländischen Meer und dem Jordan, El Arisch und Acco —
drei Fahrstunden breit, elf Stunden weit, dieser schmale Landstreifen
Palästina, Z7000 Quadratkilometer, von 700000 Menschen bewohnt,
es ist ein Jahrtausende lang, von den Türken, von Tamerlan syste¬
matisch verwüstetes, ausgerodetes, brachgelegtes, entvölkertes Land;
heute trägt es nur Steine; Felsblock um Felsblock muß der Ackerbauer
mit seinen Händen aus dem Erdreich heben, und erntet doch Jahre
lang nur Steine statt Brot; dieses sumpf- und fieberdurchzogene Land,
wüst, gefährlich und verlassen, im Sommer von berauschenden Blumen
überwuchert, die doch nur Unkraut sind und eine Sorge mehr für
den Arbeiter auf dem Felde und in den Bergen, im Winter von
Regengüssen heimgesucht, die die ausgetrockneten Flußbetten jäh mit
reißenden Wassern überschwemmen; dieses wilde, steinige, verlassene
Land um Jerusalem, einst Saron, Kanaan, das Verheißene Land der
Wüstenwanderer; dieses harte Land, das, fußbreit um fußbreit schwere
Arbeit, strotzende Gesundheit, unbegrenzten Opfermut zerreibt, auf-
zehrt, verschlingt, es ist heute die Heimat der Erwählten aus der
Judenschaft, die es langsam, langsam wieder zum Blühen erwecken, es ist
Zuversicht, Kraft der Gegenwart und Zukunft des verstreuten Volkes.
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 253
Wohlfahrts-Institutionen, Hilfsvereine, Alliancen, einzelne Fromme
und Reiche, wie der Pariser Rothschild, haben es vor siebzig, vor
vierzig Jahren den ersten Siedlern ermöglicht, sich in Palästina an¬
sässig zu machen. Diese frühen Kolonisten waren zum größten Teil
Studenten, junge, der Verfolgung und Mißhandlung müde, unter den
Qualen der Exilheimat zusammenbrechende Kleinbürger.
Theodor Herzl, der Verkünder und Vater des neuen Zionismus,
des zionistischen Gedankens, wie er heute in der Welt lebendig ist,
starb 1904. Er war ungarischer Jude aus Budapest und sein Zionis¬
mus datiert von Paris her, wo er liebenswürdige Plaudereien für ein
österreichisches Bürgerblatt verfasste.
Herzls Zionismus schreibt sich nicht vom Jahre 1883 her, in dem der
Ritualmordprozess von Tisza-Eszlar sich in seiner Heimat abspielte,
der Prozess, der hauptsächlich das elende proletarische Judentum
Ungarns schlug,— sondern von 1894, vom Dreyfus-Prozess, von der
Welle des Antisemitismus, die damals die hohe jüdische Bourgeosie in
einem ihrer vornehmsten Angehörigen bedrohte. Der Zionismus Herzls
ist Angelegenheit der jüdischen Bourgeosie gewesen.
Heute steuert die gesammte jüdische Diaspora, vielmehr ein nam¬
hafter Bruchteil derselben, dazu bei, daß der Drang der Zionssehn¬
süchtigen sich auf dem Boden der Urväter erfülle. Diese aber sind die
Ärmsten, Elendsten aus dem europäischen Osten.
Der Zionismus des heutigen Palästina ist eine Angelegenheit des
jüdischen Proletariers — aber, wie ich es erklären werde, eines
Proletariats sonderlicher Art. —
Ich fuhr von Triest auf einem der schönen Eildampfer des Triester
Lloyd am Tage ab, an dem das Fest „des unbekannten Soldaten“
gefeiert wurde. Bekränzte Eisenbahnzüge rollten an diesem Tage
durch ganz Italien, brachten Särge nach Rom, Aquileja. In den
Särgen lagen zerstückelte Gliedmaßen, klappernde Gebeine, die einst
Menschen gehört hatten. Leichen, unbekannte, von niemand auf
der Welt zurückgefordert und beweint. An den Stationen, durch
die diese tragischen Züge fuhren, kniete die Bevölkerung vor den
Schienen. Witwen, Waisen schluchzten. Fahnen flatterten im Wind¬
hauch des vorbeirollenden Zuges. Die ungeheure, pathetische Lüge
von der Dankbarkeit der Welt jenen gegenüber, die sich für
eine ephemäre Gesamtheit opfern, taumelte geschmückt, beflaggt,
betränt durch das Land. Aus dieser Feier, die den Molo des.
154 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
Triester Lloyd überflutete, fuhr die „Vienna“ hinaus, durch die Bai,
nach Süden.
Unten im Zwischendeck lehnte eine kleine Gruppe junger Menschen
an der Reling. Es waren etwa zwanzig und sie sangen, als das
S chiff sich vom Damm fortschob. Sie sangen die „Hatikwah“, den
Hoffnungsgesang, die Nationalhymne der Juden. Ich ging dann hinunter
und gewann Freunde unter ihnen.
Ein junger Bursche wies mir gleich seine Papiere. Neunzehn Jahre
alt, Schüler des Rigaer Konservatoriums; er hatte schon in Konzerten
gespielt, ein Zeitungsblatt enthielt seine Photographie. Sein Onkel,
Besitzer eines Kleidergeschaltes in Chicago, das wöchentlich vierhundert
Dollar Gewinn abwarf, eines Hauses und Bankdepots, in dem unter
anderem Liberty-Bonds für fünfundzwanzigtausend Dollar lagen, war
bei der lettischen Regierung um Ausreise-Erlaubnis für den Jungen
nach Amerika eingekommen. (All diese Angaben über Vermögens¬
verhältnisse fordert die amerikanische Einwanderungsbehörde; das
Familienmitglied, das man herüber kommen läßt, soll der öffentlichen
Wohlfahrtspflege nicht zur Last fallen.) „Ich habe mir meinen Pass
geholt“ sagte mir der Junge, „aber ich fahre nach Erez Israel, nicht
nach Amerika.“ „Sie werden in keinem Haus mit Lift wohnen,
sondern in einem Zelt. Sie werden nicht in schönen amerikanischen
Kleidern herumgehn, sondern die Erde umgraben. Sie werden vielleicht
krank und müde werden von Fieber und unmäßiger Arbeit. Sie
werden sich sehr nach Chicago sehnen 1 “ sagte ich dem Jungen. „Sie
werden kaum viel Zeit zum Geigenspiel finden; ihre Hände werden
rauh und ungelenk werden, wenn sie erst ein paar Monate lang den
Spaten führen oder die Pferde lenken müssen!“ „Was soll ich in
Amerika? Ich gehe nach Erez Israel.“ Es war ein Chaluz.
Schon vor den Klippen Jaffas, wo in der Feme die Berge Judäas
vor dem verschleierten Blick des Einwanderers auftauchen — weit vor
der Küste des Verheißenen Landes, beginnt für die im Zwischendeck
das bittre Zion.
Es war, dort unten in unserem Schiff, nur eine kleine Gruppe,
etwa zwanzig junge Männer und Frauen. Ich hörte dann, es seien
in Triest von den Leuten, die mit der „Vienna“ abfahren sollten,
etwa achtzig zurückgehalten werden. „Quarantäne.“ Dieser Begriff,
diese Maßregel dient einer Methode, einer Politik, die ihren Ursprung
in ganz anderen Gebieten als der Hygiene hat! Ein großes Schiff;
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 255
die „Camiolia“, war vom Lloyd vor Monaten bereits für den Massen¬
transport palästinischer Einwanderer ausgebaut, d. h. umgebaut wor¬
den — ein Wink der englischen Regierung unterbrach (nach dem
Maipogrom in Jaffa) diese Vorbereitungen. Die Gefahr der Ein¬
schleppung von Seuchen durch ostjUdische Chaluzim ist ein Vorwand.
In Wirklichkeit will die englische Regierung die Einwanderung großer
Massen von Juden nach Palästina unterbinden. Es sollen auch nicht
zu viele aus dem bolschewisierten Osten nach Palästina kommen. Dar¬
um schert man den Zwischendeckem das Haar. Hält sie in den
Häfen zurück. Befördert sie in vergitterten Wagen von einer Desin¬
fektionsbaracke in die andre. Desinfiziert ihre Habseligkeiten zuweilen
so gründlich, daß diese sich in ihre chemischen Bestandteile auflösen.
Läßt wohl auch den Kranken im Spital von Alexandrien oder Port
Said zum Skelett abmagem, von levandnischen Hafenhalunken wie
Sudanneger chikanieren. — Die Behörden kennen tausend Mittel, die
Einwanderung zu zügeln, den Einwanderer abzuschrecken.
Die zionistische Exekutive, die Kommission der Zionisten im Ausland
wie in Palästina kennt diese Methoden gar wohl. Kämpft wohl auch
gegen sie an.
Indes: ich weiß nicht, ob sie ihr gar so unwillkommen sind.
Ungerufen, ungemeldet strömen durch Häfen Italiens, der Levante,
des Schwarzen Meeres Einwanderer nach Palästina. Die meisten quälen,
hausieren sich schon bis zum nächsten Ziele, der Hafenstadt, wo ihr
Schiff wartet, durch, kommen mittellos in Jaffa an. Nur für einen
geringen Bruchteil haben wohlhabende Verwandte das Überfährtsgeld
bezahlt. Schon die Ausschiffungssteuer von wenigen Piastern muß in
Jaffa, in Haifia von der zionistischen Kommission för den neu Ein¬
getroffenen an die Bootsleute entrichtet werden. Der Chaluz, die
Cbaluza findet in den leeren Taschen keinen Piaster mehr. Eine
Kopfsteuer von einem Pfund ägyptischer Währung wird von der eng¬
lischen Regierung für jeden Einwanderer erhoben. Diese Verfügung
(sie wurde ebenfalls nach dem Maipogrom erlassen) dient angeblich
zur Beruhigung der einheimischen arabischen Bevölkerung. Die Juden
sollen selber die Kosten ihres Unterhalts bestreiten, der arabische
Steuerzahler wird für den Eindringling nicht in Kontribution gesetzt
werden 1
Die zionistische Kommission bedrückt schwere Sorge. Sie lebt von
der Hand in den Mund. Lauert auf die Post aus Amerika. Auf
2 <y6 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
den Scheck. Das Geld für die Ausbootung, für die Landungsgebfihr,
für jedes Zelt, in dem der Einwanderer provisorisch untergebracht
ist, für jeden Bissen, den er ißt, für jeden Schuh, jeden Spaten, jeden
Nagel im Haus, jeden Fußbreit Landes, das gekauft, jeden Fußbreit,
der kolonisiert werden soll, für alles, alles, alles — muß das Geld
aus den Ländern der gültigen Valuta kommen, das heißt also: aus
Amerika. Der Osten Europas stellt nur die Menschen bei.
Woher die Kopfsteuer nehmen für die Zwischendecker im Schiff,
das am Horizont auftaucht? Woher die täglichen zwölf Piaster für
Nahrung und Unterkunft der Ankömmlinge? Wenn das Geld aus
Amerika ausbleibt, rennt die Kommission mit vor Angst gesträubtem
Haar durch die Bureaus. Arbeitslosigkeit droht. Im November langten
zwölfhundert Neue in Jaffa und Haifia an.
Am liebsten möchte die Kommission — sie gesteht es nicht ein, aber
es ist kein Geheimnis, es sickert durch — am liebsten möchte die
Kommission der Zionisten zusammen mit der englischen Regierung
und mit den wilden arabischen Nationalisten: „Stop! Stop Immi¬
gration!!" rufen, eine Hand auf heben nach allen Hafenplätzen der
Erde: „Kommt nicht herüber! Wir haben kein Geld für euch, da¬
her auch keine Arbeit. Bleibt — aus Idealismus! — wo ihr seid. Wir
wissen nicht, was wir mit euch beginnen sollen. Wartet ab. Sonst
kommt die Katastrophe. Wir sehen sie nahen. Manche meinen, sie
sei schon über uns." Und mit erhobener Stimme: „Wollt ihr, daß
wir schließlich den Industrie-Kapitalismus hereinlassen, um Arbeit für
euch zu finden? wollt ihr, die ihr im Galuth Proletarier gewesen
seid, Ausgebeutete im Heiligen Lande werden? Stop!"
Aber die Einwanderung läßt sich nicht stopen. Durch tausend
Kanäle, tausend Filter von Gegenmaßnahmen, Quarantäne, Krankheit,
Hunger, Gefahr und Qualen strömen und strömen, wild und begeistert
die Scharen der jungen Juden, jungen Jüdinnen ins Land Israel hinein.
Aus Polen wandern nach beglaubigten statistischen Aufzeichnungen
monatlich dreißigtausend Juden aus.
Besonders unter den amerikanischen Juden, die ja zum überwiegenden
Teil aus Osteuropa stammen, wird der Ruf laut: wo bleiben diese
Dreißigtausend? warum könnt ihr (d. h. die zionistische Organisation)
nicht fünfzig-, nicht hunderttausend nach Palästina bringen, in
Palästina unterbringen?
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 157
Man kann zwischen dem Auswanderungsbedürfnis der jüdischen
Massen aas den Ländern des Galuth und der Notwendigkeit der Ein¬
wanderung jüdischer Massen, der Besetzung Palästinas mit diesen
Massen gegenwärtig kein richtiges Verhältnis hersteilen. Die jüdische
Einwanderung in Palästina ist nicht nur Notwendigkeit des Welt-
Judentums, sondern Notwendigkeit des Landes Palästina selbst Die
heimische Bevölkerung der Araber sieht diese Notwendigkeit wohl
ein — sie bringt es ja selber nicht fertig, das verwüstete Land wieder
aufzubauen, aufzuforsten — auch die englische Regierung hat keine
Veranlassung, diese Notwendigkeit zu verneinen. Vor allen anderen
Klagen und Anklagen klingt daher der zionistischen Kommission diese
ins Ohr: warum versteht ihr es nicht, trotz Behörden, Gegenmaßnahmen,
dem steigenden Drang derer aus dem Osten Europas nach Zion
Rechnung zu tragen — wo ja die Notwendigkeit der Einwanderung
erwiesen und auch von Nichtjuden anerkannt ist? Die Zustände
Palästinas erteilen die Antwort darauf: Geldnot. In Europa, in
Amerika aber ist man andrer Meinung: man behauptet, die zionistische
Organisation kranke an inneren Gebrechen. Sie sei in ihrer jetzigen
Gestalt' nicht existenzberechtigt. Es werde zu viel Geld für kost¬
spielige Amtslokalitäten in den großen Städten des Galuth, viel zu
viel für die Gehälter der leitenden Persönlichkeiten, für Propaganda¬
reisen und ähnliches vertan, darum rinne die Traufe in Palästina,
unter die sich so viele Hände recken, zu spärlich. Der ganze Apparat
der zionistischen Organisation müsse auf neuer Grundlage umgeschaffen
werden, sonst sei der Zionismus in Gefahr und die Katastrophe un¬
vermeidlich.
Die Katastrophe! Man hat der Möglichkeit ihres Eintreffens in
Palästina zu lang ins Auge geschaut. Man sagt dort: Käme sie doch
nur! Die Juden der Welt würden sich auf ihre Pflicht besinnen.
Wir müßten nicht bei der Ankunft jedes Schiffes vor Grauen über
das Morgen erstarren. Wüßte man doch in der Welt, daß wir seit
langem mitten im Alb der täglichen Katastrophe leben.
Die Klippen von Jaffa, sie sind keine Metapher; es sind wirkliche
Klippen, boshafte, zackige Riffe, die bei rauher See das Landen der
Schiffe und das Ausbooten der Passagiere unmöglich machen. Dann
muß das Schiff nach Haiffa weiterfahren; oft aber gelingt es erst in
Beyrouth den Einwanderer an Land zu setzen.
In Haiffa sah ich im Haus der Chaluzim einen neu eingetroffenen
*7
zj8 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
Transport junger rumänischer und ukrainischer Arbeiter. Das große
Haus war überfallt. Es gewährte nur dreihundert Aufnahme. Unten
im Garten, der mit Palmen und Agaven gar herrlich auf die offene
Bucht bis nach Acco und dem blauen Libanon in der Ferne blickt,
waren Zelte errichtet, in denen weitere Hundert Platz fänden. Furcht¬
barer Regenguß hatte den Boden unter diesen Zelten aufgewühlt, Bett¬
zeug, Matratzen, alle Habseligkeiten der Bewohner durchtränkt. Im
Speisesaal, einer ehemaligen Kapelle saßen die jungen Menschen bei
Tische. Der erste Gang der Mahlzeit bestand aus Chinin.
leb ging mit den Herren vom Einwanderungsamt an den Tischen
vorüber. Welch wunderbarer Menschenschlag! Kräftig, froh, mutig,
geschwellt vom Atem des aufgehenden Abenteuers: Israelland, der
Erfüllung des Traumes seit Kindheitstagen, Erwartung der Arbeit, der
Muskeln und Seele entgegenglühten.
Glühend auch vom Fieberschauer, den das mörderische Klima über
den Europäer verhängt.
Freunde, Genossen, ihr meines Stammes!
Nicht lange, drei, fünf Wochen lang, steht der Chaluz unter Ob¬
hut der zionistischen Kommission. Dann muß er weiter für sich
sorgen.
In Jaffa, Haiffä, in Jerusalem registriert zugleich mit dem Ein¬
wanderungsamt die Histadrut, kooperative Vereinigung und Arbeits¬
nachweis der Arbeiterparteien, die Ankömmlinge, verteilt sie übers
Land an die Stellen, in die Gewerbe, die Arbeiter verlangen, in die
landwirtschaftlichen, städtischen, in den Straßenbau. —
Der Weg, den der Chaluz durchzumachen hat, bis er in die er¬
sehnte landwirtschaftliche Stelle vordringt, ist mitunter ein langwieriger
Schmerzensweg, und nicht jeder legt ihn heil an Körper und Seele
zurück.
Der Beginn ist zumeist beim Straßenbau, bei der Entwässerung
und Trockenlegung von Sümpfen, beim Hausbau, vielen Formen der
Bauarbeit, die mit einer Gesamtbezeichnung „Schwarzarbeit“, „tschor-
naja robota“ genannt wird — aus guten Gründen.
Die schwere Arbeit des Steineklopfens, des Mauerns und Bauens
im Sonnenbrand, des bis an die Knie im Sumpf-Stehenmüssens ent¬
spricht nicht den Wünschen, aber auch nicht den physischen Be¬
dingungen der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen. Es sind Not-
Arthur Hobt scher, Aufzeichnungen aus Palästina i ;p
scandsarbcifcen — ae fallen, soweit es sich um den Straßenbau handelt,
nicht de» Säckel der zionistischen Kommission zur Last; die englische
Regierung teil? sie aus. Man drapiert wohl diese Not mit der Formel:
alle Arbeiten irr. Lande, die letzte, schwerste, schwärzeste so gut wie
die hellste, freudigste, müsse von den Unseren geleistet werden. Keine
dürfe abgelehnt werden. Nur so könne das Land restlos erobert
werden. Aber .es ist immerhin die bare Not, die auf den. heißen
Straßen die Jungen und Mädchen ihren Hammer führen Jäßr, (In
Tei-Awiw sah ich einen Studenten der Chemie, der drei mit Sand-
sacken beladene Kamele trieb; fröhlich pfiff der Chaluz hinter seinen
Kamelen drein; es war weiße Arbeit.)
Die Kwisch (Straße) zehrt an Muskeln und Nerven des Chaluz,
an dern einzigen Gut, das ihm Übrig bleibt, wenn die Kommission
ihre schützende Hand von ihm zieht: seinem Idealismus, seiner Liebe
zum UfVaterland. Er arbeitet schließlich nicht mehr aus Liebe zu
Erez Israel, sondern um nicht zu hungern oder betteln zu müssen.
Der Weg zurrt Boden, zur Scholle ist weit, weit. —
ln mancher dieser Schwarzarbeitergruppen verbrachte ich denk¬
würdige Stunden.
An der Straße Haiffa-Jemma liegt eine, nach ihrem bulgarischen
Führer benannte, im ganzen Land bekannte Gruppe, ln ihr — etwa
vierzig junge Männer, drei, vier junge Frauen arbeiten da beisammen, —
sind viele Nationen Europas, alle Parteien der palästinensischen Arbeiter¬
schaft vertreten. Die Gruppe zieht seit Jahren im Lande herum,
baut einmal in Galiläa, dann irgendwo im Süden Straßen und
Häuser — die Leute scheinen an dieser Art Arbeit, an der freien
Ungebundenheit des Umherziehens Gefallen gefunden zu haben.
So wollten einige, mit denen ich eingehend sprach, von der sonst
so innig begehrten Seßhaftigkeit auf Grund und Boden nichts wissen.
Lieber von K wisch zu Kwisch! Sie verdienten an die vierzig Piaster
täglich, eine große Summe, auch für palästinensische Begriffe. Für Nah¬
rung und Unterkunft sowie für sonstige Sporteln mußten sie allerdings
täglich etwa zö Piaster an die 'Organisation abführen; aber es ließ
sich leben in der Gruppe.
Manche hatten bandagierte Hände, andere litten unter der Malaria,
aber — es war Samstag — man aß gut, hatte sogar den süßen Wein
Rischon le-Zions auf den Tischen stehn, unterhielt sich und sang,
ehe man zum Fußballspiel hinunter an den Strand ging. Ich traf
da auf Genossen, die mir manches Wissenswerte über die Struktur
• 9
z 6 o Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
der Arbeit und des Zusammenlebens der Gruppe zu erzählen wußten.
(Auf meiner ganzen Reise durch Palästina wurde ich durch meine
vor jährige Reise nach Sowjetrufiland arg beeinträchtigt; ich mufite
mehr berichten als mir berichtet wurde.) Ende des Jahres sollte
die Kwischarbeit aufhören, dann hoffte die Gruppe bei dem Häuser¬
bau in Tiberias oder Jerusalem Verwendung zu finden. Wenn die
Kommission bis dahin Geld für diese Bauten haben wird-
Auch eine andere, nicht minder mutige und frische Gruppe besuchte
ich, an einem Sabbatvorabend, am anderen Ende Palästinas, in Ber¬
sheba. Sie baute dort die Friedhofsmauer um die Gräber englischer
Soldaten. (Bei Bersheba hat Allenby die entscheidende Schlacht
gewonnen.) Auch diese jungen Leute schienen mit ihrem Leben ein¬
verstanden zu sein und ihre Arbeit zu lieben. Zwar war die Mauer
bald beendet und man wufite nicht, wohin die nächste Arbeit die
ganze Gruppe mitsamt ihren Zelten verschlagen werde, ob man bei¬
sammen bleiben oder jeder nach einer anderen Richtung gehen werde,
aber der Vorabend war gekommen, man afi, trank (Tee diesmal),
rauchte und liefi sich einen Vortrag Aber Sowjetrufiland halten. —
Einer von den Fröhlichsten safi plötzlich neben mir und sagte: „Können
Sie uns sagen, was aus uns werden soll? Wir wissen es nicht.
Werden wir Arbeit bekommen oder wird man uns verhungern lassen?“
Drüben sang man. Es klang schön im Zelt beim Friedhof. „Eines
nur wissen wir, jeder von uns — wir bleiben im Land. Keiner denkt
daran, zurückzugehn. Mag kommen, was will.“ Es war in Bersheba. —
In jener anderen Gruppe aber, auf der Straße nach Jemma, setzte
sich ein junger Deutscher zu mir, während die anderen tranken und
einen lustigen Chorgesang anstimmten. Er setzte sich zu mir, blickte
mir in die Augen und sagte: „Wir singen und haben Wein, und
haben auch Arbeit und leben in den Tag hinein. Aber schauen Sie
nicht in uns, wie es dort aussieht. Wir sehen nichts vor uns!“ Bald
darauf war die ganze Kwisch auf den Beinen — denn drunten führ
der General über ihre unfertige Chaussee — darüber später!
In einem Sumpf^ bei der Kolonie Chulda in den Bergen Judäas,
auf dem Weg von Jerusalem nach Jaffa, stieß ich auf junge Ungarn,
die dort Betonbauten ausftihrten. Es waren vierzehn junge Leute aus
Budapest, zum Teil Absolventen der bautechnischen Schule, gebildete
und intelligente Jungen im Alter von zwanzig bis siebenundzwanzig.
Geschlagen schon von der Schwere ihrer Arbeit; Malaria; bandagierte
Hände; zerfetzte Kleider, schlammdurchtränkte, undichte Stiefel. Sie
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 161
klagten, fühlten sich zurückgesetzt, vermuteten, daß man ihnen zu
harte Arbeit zugeschanzt habe, weil sie mit den anderen Arbeitern
in der Kolonie keine rechte Gemeinschaft hatten — die sprachen
Hebräisch, sie nicht, auch auf Jiddisch konnten sie sich nicht mit¬
einander verständigen, außerdem knauserte man hier mit der Nahrung,
wohl, um das Defizit zu verringern; die Ungarn murrten und saßen
abseits. Ich stellte die Frage an sie, wie an alle: „Was hat euch
herüber geführt? Ihr kommt ja aus dem Lande Hortys, der Mörder-
Detachements; ihr wißt wohl etwas von Pogromen, Massaker von
Menschen und Ideen. Aber seid ihr nur Flüchtlinge oder hat euch
noch etwas anderes aus der raffinierten Stadt hieher in die sumpfige
Steinwüste getrieben ?“ Sie gaben zu, daß es ideale Gründe waren,
die sie, die intellektuellen, anspruchsvollen jungen Leute, nach Palästina
gelenkt hatten. »Jeder von uns", sagte der Wortführer der Gruppe,
„kommt, von seinem Idealismus getrieben, hieher. Aber schon in
Jaffa, sobald der Fuß auf den Boden dieses Landes tritt — sieht man
sich um: wo ist der Idealismus geblieben? Ins Wässer gefallen, ver¬
mutlich! Der Kampf ums Dasein hat begonnen. Der schreckliche
Kampf mit der Wirklichkeit. Wer nach einem Monat dieses Kampfes
noch von seinem Zionsideal faselt, dem lachen wir ins Gesiebt:
‘Komödiant!!’“ Das sind sicherlich Ausnahmen. —
Eine Tatsache aber will ich vermelden. Sie ist nicht zu unter¬
schlagen. Sie soll gehört werden in der Welt. Wenn in den Bet-
häusem der Juden der Rabbi im schwarzgestreiften Totenhemd sich über
die Gemeinde aufreckt und die Worte der Anrufung, der Beschwörung
ertönen, dann neigen sich in einem Erschauern die Köpfe der Menge
und die Menschen versenken sich in Gott. So müßte, was ich zu
sagen habe, mit den Worten anheben, in die Worte ausklingen, die
die Formel der Anrufung bilden, einer Beschwörung zugleich der
Menschen wie des ewigen Schicksals.
Auf dem Wege zwischen Jaffa und Jerusalem, abseits von der großen
Automobilstraße, befindet sich bei der Stadt Ludd, dem alten Lydda,
das große zentrale britische Militärlager. Ein Schwarm schottischer
Soldaten kam uns entgegen. Sie hatten es sich, nach einer Früh¬
übung in der brennenden Tropensonne, bequem gemacht, ihre blond¬
rote Brust glänzte; sie hatten zwei Dudelsackpfeifer an der Spitze
ihres Zuges, die mit vollen Backen „Bonny Dundee“ bliesen; die
Burschen marschierten fröhlich daher und riefen uns etwas in unser
Auto hinein.
z6i Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus "Palästina
Nicht weit aber von dieser Straße war die Stelle, wo, unter Auf¬
sicht bewaffneter britischer Soldaten, ein dunkler Haufe an der Straße
arbeitete — so wurde berichtet Ein dunkler Haufe, die berühmte
Straßenbaugruppe von Ludd.
Ich hörte von verschiedenen Seiten Näheres über diese Kwisch bei
Ludd. Hier arbeiten ägyptische Fellachen zusammen mit unseren Cha-
luzim. Es ist eine schwierige Arbeit; ist es die Straße, die Luft,
Sümpfe? Es kommt dort oft Desertion vor. Die englische Militär¬
behörde hat nun, um dies Davonlaufen der Fellachen, das den Bau
der Straße gefährdet, zu verhindern, eine Abstempelung der Straßen¬
arbeiter angeordnet. (Vor Beginn der Arbeit und während der Ruhe¬
pausen müssen diese Leute niederhocken — damit man sie besser kon¬
trollieren könne, offenbar. Ich sah einmal, auf einem palästinensischen
Bahnhof, eine solche Gruppe rastender Fellachen, wie das Vieh hin¬
gehockt, es waren etwa sechzig; zwei Tommys rauchten an den
beiden Enden der Herde gemächlich ihre Pfeifen, Bajonett auf dem
Gewehr.)
Der Stempel wird auf die nackte Schulter gedrückt Weder Schweiß
noch Wasser vermögen ihn abzuwaschen. Monate später noch kann
ein Ausreißer an diesem Stempel erkannt und zurückgebracht werden
— ins Gefängnis vermutlich. Da unsere Chaluzim sich zu dieser Arbeit,
dieser Notstandsarbeit gemeldet haben, was ist da natürlicher, als daß
man auch ihnen den Stempel aufdrückt. Die englische Regierung
verwendet den intelligenten Chaluz lieber, als den faulen und indo¬
lenten Fellachen, — aber der demokratische Grundzug des englischen
Charakters — der sich ja im Orient besonders deutlich zeigt! — läßt
eine wenn auch nur unwesentliche Nüance in der Behandlung des
eingeborenen und des zugewanderten Arbeiters in derselben Gruppe
nicht zu.
Auf der Straße von Ludd, im berühmten Ludder Kwisch, arbeiten
die Unsem mit einem Stempel auf der Schulter. Sie arbeiten, um
das Land aufzubauen durch ihre Arbeit, „um Erez Israel durch unsere
Arbeit, jede Arbeit zu erobern“. Es ist ja die Heimat der Juden, die
Heimat, die ihnen gehört hat vor zweitausend Jahren; das Land, in
das Moses nach vierzigjähriger Wüstenwanderung das Volk der Juden
geführt hat, hinaus aus Mizraim, der Sklaverei. Sie sind guten Mutes,
die Unsem, auf der Landstraße bei Ludd. Sie haben ja Arbeit.
Höre, Israel!
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina x 6 \
ln vielen Kwischim macht sich unter den jungen Arbeitern, den
jungen Arbeiterinnen (denn in all' diesen Gruppen sind auch junge
Mädchen, die dieselben schweren Arbeiten leisten, wie die Männer),
steigende Unruhe bemerkbar. Die wenigen Ausnahmen — ich sprach
eben von ihnen — abgerechnet, die wenigen jungen Leüte abgerechnet;
die eine Art Genugtuung an diesem schweren, doch ungebundenen
Leben haben, wollen die meisten Kwischarbeiter bald von ihrer gegen¬
wärtigen Beschäftigung befreit werden. Sie fordern Grund und Boden,
auf dem sie sich niederlassen, den sie bebauen können. Tausende
warten, auf den Kwischs, daß man sie ansiedle. Man hat es ihnen
versprochen. Viele waren schon in Polen, in der Ukraine Landarbeiter.
Viele haben sich auf landwirtschaftlichen Schulen, bei Bauern in Deutsch¬
land vorgebildet, eingearbeitet.
Große, weitgedehnte, wenn auch noch mit Steinen ttbersäete und
nicht genügend entwässerte Strecken Landes, im fruchtbarsten Teil
Palästinas, der Jesreel-Ebene, des oberen Jordangebietes, in Saron, in
den Bergen Samarias, Judäas hat ja der Jüdische Nationalfonds schon
angekauft. Warum gibt man uns dieses Land nicht? klagen die Un¬
geduldigen. Jetzt im Herbst zur Regenzeit, wo tagelange wilde Güsse
die Arbeit auf den Straßen und in den Sümpfen verhindern, stauen
sich Scharen unbeschäftigter Kwischleute, Schwarzarbeiter vor den Türen
der zionistischen Kommission, den Bureaux der Arbeiterorganisationen
in Jerusalem, Tel-Awiw. Hungrig und rebellisch rufen sie: Land!
Gebt uns Land! Wir wollen es bebauen! Ihr habt doch genug Land
gekauft, warum habt ihr Geld zum Landkau^ das heißt für den Effendi,
oder den Patriarchen, dem ihr es abkauft und nicht genug zur Kolo¬
nisation, das heißt für uns, uns!! Ihr kauft zuviel Land und koloni¬
siert zu wenig. Es liegt brach und uns läßt man auf den Straßen
Steine klopfen oder hungernd in den Städten lungern. Ihr seid wohl
bessere Kaufleute als Kolonisatoren! Das Landkaufen und Feilschen
macht euch mehr Spaß als die Sorge um die Kleinarbeit der Kolo¬
nisation?
Sie wissen wohl nicht, oder nur wenige unter ihnen wissen, daß
auch diese großartigen Landkäufe nur mit geringen Anzahlungen, un¬
genügenden Mitteln durchgeführt sind! Und sie können es von den
mit ihnen vor den Türen antichambrierenden Delegierten aller mög¬
lichen kleinen und großen, nahen und entlegenen Siedlungen erfahren,
wie schwer es ist, aus der Kommission die nötigsten, für drängende
Arbeit erforderlichen Summen herauszulocken. Wie wertvolle Arbeits-
164 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
kraft wochenlang bei solchem Harren und Bangen in Jerusalem, in
Tel-Awiw brach liegt, wie der erzwungene Aufenthalt der Delegierten
in den Städten, die teure Eisenbahnfahrt an dem schmalen Säckel der
notleidenden Siedlungen zehrt!-
Ich sprach in Jerusalem mit Ussischkin, dem obersten Mann der
zionistischen Exekutive in Palästina, über die Unruhe unter den Chaluzim,
auf den Kwischim, bei der „schwarzen Arbeit**. Ein Mann von bedeutender
Klugheit, unbeschränkter Energie; zäh und in seine Aufgabe verbissen,
die er verteidigt und durchführen wird bis ans bittere Ende. Auf dem
Kongress von Karlsbad, vor wenigen Wochen erst hatte die Exekutive
ihre Politik mit diesen Worten definiert: Wir müssen so viele Chaluzim
wie möglich nach Palästina bringen und ansiedeln, damit wir ein
Gegengewicht gegen die arabische Übermacht haben. (Von den sieben¬
hunderttausend Einwohnern Palästinas sind nur siebzigtausend Juden!)
Jetzt strömen die Scharen der Einwanderer ins Land — nun, es ist
kein Strom, wir kennen die Gründe! — aber die, die nun einmal hier
sind, erfahren, daß man Land kauft und kauft — und dabei müssen
sie in Jaffa, in Jerusalem lungern, wenn sie sich nicht in Schwarz¬
arbeit verzehren. Natürlich schreien diese erschöpften oder erbitterten
Menschen: Euer Landkauf ist Bluff! wozu so viel Land, wenn ihr zu
wenig Geld für seine Bebauung habt?
Der kühle und besonnene Mann der Exekutive antwortet darauf:
Diese Wünsche können nicht berücksichtigt werden. Vorwürfe dieser
Art treffen uns nicht. Kaufen wir heute kein Land, so entgeht uns
eine günstige Gelegenheit. Der Effendi, der Klerus treibt die Preise
in die Höhe und wir können morgen Zusehen, auf welche Weise wir
hier Fuß fassen. Wir müssen alles, was wir haben, aufwenden, um
Land zu kaufen. Ohne Landbesitz ist der Zionismus eine Seifenblase.
Wir sind keine Rattenfänger. Niemandem gaukeln wir verführerische
Spiegelungen von Dingen vor, die es nicht gibt Jeder, der hier noch
Steine klopfen muß, um zu leben, ist für die Ansiedlung vorgemerkt
Die Älteren stehen obenan in der Liste, die zuletzt Angekommenen
müssen Geduld üben. Verliert einer Geduld und Mut und Nerven,
so kann ihn dieses Land nicht brauchen. Wir kämpfen. Man muß
einsehen, daß wir unser Bestes leisten.
Der Chaluz aber, dessen Arbeit auf der Kwisch aufgehört hat, zieht
seine Stiefel aus, packt seine paar Bücher, die er mit nach Palästina
gebracht hat, in sein zweites Hemd — falls er noch etwas der Art
besitzt, schwingt Schuh und Buch und Hemd auf den Buckel und
AJbrecht Sckaejfer, Das Gitter 26 5
marschiert barfuß und mit leerem Magen über selbstgefertigte Straßen
nach Jerusalem oder Jaffa, um zu sehen, wie er sein Leben weiter¬
fristet.
„Ich bin a armer Chaluz,
Chaluzl aus Poilen,
„Ich loif auf Stiefelach,
S tiefelach ohn’ Soilen!“
(Wird fortgesetzt)
DAS GITTER
Erzählung von
ALBRECHT SCHAEFFER
B runo Galba wuchs in den Bergen auf.
Einöden nennt man in jener Gegend die Gehöfte, welche der
Reisende, abseits von den Dörfern im Tal, über die Hänge und Höhen
verstreut oder in kleineren Talfälten findet, ohne das Wort Einöde
— nebst dem Namen des Gehöfts auf einer Tafel am Hause ver¬
zeichnet — seinen Begriffen davon entsprechend zu finden. Denn das
Bergland, unterbrochen von Wiesensenken und grasigen Kuppen, von
Obstbaumgärten und seltenen Äckern, verheißt überall freundlichen
Ausdrucks die ordnende menschliche Hand, und nirgend ist von Rauch-
fang zu Rauchfang die Spanne so weit, daß nicht das umhersuchende
Auge sie leicht überbrückte, um diese Art Einöde gesellig genug zu
finden. Fragt man indeß in den Häusern, unter deren breit über¬
tagenden Dächern geschnitzte Galerien kleiner Säulen, Altane genannt,
die Menge der Topfgeschirre voller Geranien, Nelken und Fuchsien
tragen, und in deren winzigen Blumengärtlein die Überfülle des blü¬
henden Phlox oder der Balsaminen, der Stockrosen oder Dahlien die
gebrechlichen Zaunwerke unsichtbar läßt: fragt man in ihnen die
Menschen, so wird man hören, daß sie über den Bereich ihrer Nach¬
barschaften niemals weiter hinaus kamen als bis unten ins Dorfj das
nötige Handwerkszeug zu besorgen. Und hier sind vier oder fünf
Gehstunden weit genug, damit durch eine Heirat getrennte Ge-
tchwister sich ihr Leben lang kaum jemals wieder erblicken.
166
Albrecht Schaeffer, Das Gitter
Es war ein kleiner und sehr schmaler Bergsattel, der das Urvater*
liehe Haus Brunos trug. Es hatte, als er geboren wurde, schon ein¬
hundertfünfzig Jahre den aus dem unfernen Italien hergezogenen
bäurischen Galbas gedient, und mit seinem breiten Dach, den glänzend
geweißten Mauern und der Doppelreihe altersgeschwärzter Galerien,
welche drei der Wände umliefen — an die hintere vierte schlossen
sich der Stall und Ober ihm Heuboden und Tenne —, zeigt es sich
ffir weitere hundertfünfzig ruhig bereit. Als einziger Schmuck schim¬
merte unter dem First das sehr verblichene Blau einer lebensgroßen
Mutter Gottes, auf der Mondsichel stehend, deren Gestaltung und
Haltung deutlich genug eine Figur Riemenschneiders nachahmte.
Hinter dem Hause stieg der Tannenwald steil zu Berge. Die Kuppe
gegenüber, mit Wiese bedeckt, mit Obstbäumen bestanden, ließ an
sich vorüber den Blick in ein hochgelegenes kleines Tal voller Wald¬
bestand, dem die Häuser eines Dorfes entstiegen; und weiter hinüber
zu Bergflanken, die, sich steiler erhebend, mit Schroffen und Zacken
hoch in den südlichen Himmel wuchsen. — Aber alles dieses ist
heute noch so und kann so gesehen werden.
Über den Sattel inmitten war ein Roggenfeld wie eine Decke ge¬
hängt, eine braune im Frühjahr, eine gelbe im Sommer. Und trat
man nun in die vorderste Ackerfurche, zwanzig Schritte vom Hause
seitwärts zur linken Hand und nach Osten gekehrt, so konnte man,
im raschen Vertauschen des Blicks vom Süden zum Norden, die
gegensätzlichsten Femsichten höchst überraschend vereinen. Denn süd¬
wärts schweifte das Auge, über den tiefgelegenen Kessel des Flußtals
hinweg, wo ein Stück des Stroms in schöner Biegung erglänzte, und
hindurch zwischen den breit immer höher gelagerten Wällen der
flankierenden Berge, hinweg endlich über die mächtige Felsenwand,
die das Tal da zu bemauem schien, in das geheimnisvoll schimmernde
Bereich des unvergänglichen Schnees, zu den schön geformten Zelten
und Pyramiden der höchsten, weit fernen Gipfel: in ihrer entfernten
Kleinheit immer doch majestätisch, waren diese ewig entlegenen sechs
oder sieben einer still gelagerten Versammlung von Wesen gleich, die
sich zurückgezogen haben vom Regieren und Fordern, um sich allein
ihrer königlichen Geselligkeit zu erfreun.
Aber in das von hier nach Norden hinübergewandte Auge trat
ein Lächeln der Betroffenheit über diese Vertauschung der Umwelt,
bewirkt scheinbar durch nichts als ein kleines Drehen des Halses.
Denn hier lag in großer Tiefe, sichtbar über einen tiefgelegenen
Albrecht Schaffer, Das Gitter %6j
kleinen Tannenkamm hinweg, die unendliche Ebene ausgebreitet.
Aber gelagert, wie sie war, unter dem allezeit dunstigen Himmel des
Nordens, und selber von Dünsten bedeckt, welche die Einzelheiten
der Landschaft — Wälder und Gefilde, Ortschaften, vielleicht Moore —
erraten ließen, doch nicht erkennen: schien sie in ihrer übergangslosen
Abgründigkeit nicht eigentlich wirklich zu sein. — So geisterhaft sie
schienen, im Glanze der Mittagsonne, die jenseitigen Schneegipfel, sie
leuchteten aus sich eine Wirklichkeit höchster Art; diese dagegen, in
ihren Gegenständen deutlich an trüben Tagen allein, und dann sehr
dunkel und kalt und ab wehrend: sie war scheinhaft; ein sehr großes
Bild, nur vorhanden zum Beschaun, nur eine Vorstellung von dem,
was in einer unbekannten wirklichen Welt Ebene sein mochte. —
Bruno, dem es von klein auf gewohnt war, gewahrte es mehr, als
daß er es sah, in den verschiedensten Epochen seines Lebens; aber
Bild war es immer.
Hans Galba, der Vater, der sein Leben lang Sense und Rechen
führte, war gleichwohl kein Bauer mehr. Von Aussehen so ganz
Italiener, daß er von Fremden, die ihn dafür hielten, mitunter in
dieser Sprache angeredet wurde, war er kleiner Gestalt, klein auch
von Kopf und Gesicht, dessen festes Fleisch eine braun-gelbe Haut
glatt bespannte, und in dem er alternd einen buschigen schwarzen
Bart unter der Nase wachsen ließ. Aber auch trotz der Schwärze
des landfremd stechenden Blicks aus geschlitztem Lid, hatte er von
jenem Volke in sich so wenig, daß er seine Sprache nur ungelenk
erlernte, obgleich er die Halbinsel in seiner Jugend vom Nord bis
zum Süden durchwanderte. Denn er hatte ein Maler werden wollen,
während er Knecht und späterhin Hofbesitzer sein sollte — was er
freilich auch wurde —, und so focht er sich durch Italien, wider
Willen seines Vaters, setzte von Palermo nach Spanien über und er¬
reichte auf neuer Wanderschaft Toledo. Diese Stadt und ihre unver¬
borgenen Juwelen, Werke des Greco, wurde zum inneren Gipfel seines
Lebens, den er niemals zu übersteigen vermochte. Ein volles Jahr
hauste er dort, sein Dasein durch niedere Arbeit, sein Inneres aber
mit unendlicher Inbrunst nährend von den Gebilden Grecos und jener
seltsamen Landschaft, die ihm wohl verwandt sein mußte, sodaß er
sie in allen Lebenszeiten seinem Sohn wie eine heilige Gegend und
als die höchste, schönste auf Erden pries. Er kehrte heim nach einem
jahrelangen Besuch aller Städte, in denen es Grecos gab, beladen mit
einem Dutzend Kopien, die seine noch ungelernte Hand unsäglich
iö8 Albrecht Schaeffer, Das Giftet
mühevoll und gehorsam verfertigt hatte, um die aufgespannten Lein¬
wände später in einer besonderen Kammer aufzustellen und an Fest¬
tagen zu genießen. Allein das Bild «Toledo im Gewitter» ward in
der Wohnstube aufgehängt und durch regelmäßige Reinigung vor
dem Verräuchern durch Ofen und Tabakspfeife sorgsam bewahrt.
Der Heimgekehrte fand seinen Vater tot und wurde nun, den Hof
zu halten, für zwei Jahre nur Bauer. Dann starb auch die Mutter;
Hans Galba nahm einen Knecht an, der mithülfe der Magd, die sechs
Kühe, das Geflügel, Wiesenland und die kleinen Ackerstücke ohne
Hans pflegte, zumal das Vieh den Sommer lang auf der Hochalm
weidete. Maler wurde er nicht, und es ist anzunehmen, daß ihn der
Glanz aller Größe in den Galerien und Kirchen Italiens und Spaniens,
zuletzt der des Greco, zuinnerst gelähmt habe und jede Möglichkeit
eigner Entfaltung unterbunden. Hingegen fing er das Bildschnitzen
an und machte nun, ungelehrt wie er auch hierin war, und still an¬
knüpfend dort, wo zu ihrer Zeit Hans Multscher und Grasser, Riemen¬
schneider und Veit Stoß für immer aufgehört hatten, jahraus jahrein
nicht viele Figuren. Seine Madonnen und Märtyrer, Apostel- und
Prophetengestalten erreichten indes bald eine schlichte, aber eigene
Vollkommenheit in dem sehr Zarten, ja Gebrechlichen ihres Ausdrucks
von innerer Lebendigkeit, was die Kenner in den Städten dann
«Nervosität» nannten. Denn seine dazumal eben mit Marktware über¬
schwemmten Nachbarn und die Geistlichkeit mochten seine Figuren
nicht sehn und die Preise nicht hören. Sie wanderten zur nächsten
Stadt R. und in den Laden eines befreundeten Buchhändlers, der ihrer
zwei und dreie in jedem Jahr verkaufte, was Hans Galba zufrieden
war. Ihn ernährte seine Wirtschaft.
Er stand schon im fünfunddreißigsten Lebensjahre, als die Tochter
eines von Bremen nach R. verschlagenen, ursprünglich wohlhabenden,
aber unglücklichen Kaufmanns einwilligte, seine Frau zu werden.
Vater und Tochter waren durch Vermittelung jenes Buchhändlers drei
Sommer nacheinander als Gäste in Galbas Hof erschienen, aber sie
erhörte die schon im ersten vorgebrachte Werbung erst im letzten,
worauf der Ehebund noch im Herbst geschlossen wurde; das Mäd¬
chen, Antonie, stand damals in ihrem zwanzigsten Jahr. Nach neun
Monaten gebar sie den Bruno.
Bruno wuchs mutterlos auf. Er gehörte, zur jüngsten wie zur
spätesten Zeit seines Lebens, zu jener Menschen-Art, die nicht fragt.
Albrecht Schaeffer, Das Gitter 169
Sein Vater verriet nie etwas, er tat nie eine Frage, eine Mutter war
nicht vorhanden. Brunos Menschen waren: der Vater unwandelbar,
der Knecht, mitunter die Gestalt, selten das Wesen wechselnd, und
unwandelbar auch die Magd. Diese, die, wo sie ging und stand, den
größten Kropf mit sich zu schleppen hatte, besaß die genügenden
Fähigkeiten für Küche, Vieh und das Heuwenden; darüber hinaus
aber auch gar keine. So war der Vater Himmel und Erde und
alles, was zwischen Himmel und Erde ist.
Hans Galba zog seinen Sohn auf und unterrichtete ihn ganz allein.
Wonach er selber einmal Sehnsucht empfunden hatte, die lateinische,
die italienische und die griechische Sprache, lernte er im Verein mit
dem Schüler; Französisch und Englisch fielen aus, ebenso alle höhere
Mathematik, deren Stelle früh Kunstgeschichte einnahm. Geographie
und Völkergeschichte wurden durch Lektüre der besten Werke aufs
beste erkundschaftet. Die Religion saß fast nur in den Augen und
hieß: Sieh alles gut an, was unter dem Himmel ist; liebe alles und
am meisten das Licht. — Bruno fuhr bei dieser lückenhaften, doch
gründlichen Bildung nicht schlecht; und wenn er nachmals im Leben
mancherlei Mängel an sich wahrzunehmen hatte, so war da keiner
durch Schuld seines Vaters verursacht Ausgenommen freilich den
einzigen einen: die fehlende Mutter samt allen Zusammenhängen, die
der Inhalt dieser Erzählung sein werden.
Bruno Galba war noch kaum sieben Jahre alt, als er seinem Vater
zum Namenstage das insgeheim mit den geographischen Buntstiften
gemalte Porträt eines Unbekannten bescherte. Es wies Ähnlichkeiten
mit allem Menschlichen auf, mit dem Vater, dem Knecht, gar mit
der Magd, aber die größte und eigentliche, die übrigen weit über¬
flügelnde war die mit dem Unbekannten, dem Niegesehenen, dem Ideal.
Eine schlaflose Nacht verbrachte der nie so Beschenkte nach diesem
Tag, in der er überlegte, wie zu handeln wäre. Er dankte Gott
— und er beschloß in diesem Gedanken, seinen Sohn doch die Bibel
lesen zu lassen — immer wieder für dieses Geschenk der höchsten
Hoffnung, daß einmal sein Sohn würde, was er nicht geworden war;
ein Maler, den Greco nicht hinderte. Seine Überlegungen aber führten
zu dem Entschluß, mit dem er einschlief, und den er später auf das
peinlichste durchführte: daß nichst zu tun, das einzige sei, was getan
werden dürfe. Das bedeutete aber: wenn der Sohn beharren würde
beim Zeichnen und Malen, ihm nichts lehren zu wollen als das Hand¬
werk. Ihn durch keine Vorbilder verbiegen, geschweige durch eigene
270
Albrecbt Schaeffer, Das Gitter
Meinung, ihm nichts anbilden zu wollen; ihn schalten zu lassen aus
reinem Herzen, aus unbefleckter Phantasie, ohne Ungeduld, besorgt
von Ding zu Ding um jedes Einzelne, so, als hätte er tausend
Jahre Zeit
Indeß hielt er es für gut, von diesem Wege mit nur einem einzigen
Schritt abzuweichen, und zwar gleich zu Anfang. Er versammelte
nämlich, den nahen Sonntag abwartend, der zum Glück sonnig war,
die sämtlichen Kopien Theotokopulis in der von vier kleinen Fenstern
nur dürftig erhellten Wohnstube im Eck des Hauses und führte mit
einem feierlich ruhigen Gebahren den kleinen Sohn zu der mächtigen
Versammlung ein. Es war ihm, als er in die großen und dunklen, vom
Schrecken zu tiefstem Ernst geweiteten Augen des Kindes bückte,
als sei dies Jesus im Tempel, der anfangen würde, die Weisen zu
belehren. Bruno freilich sagte die Stunde lang kein Wort, während
der er von Bild zu Bilde geführt wurde und sie in Worten erklären
hörte, die er verstand: die Bestattung des Grafen Orgaz und Christi
Taufe, Christus am Ölberge und die HeiÜgen Petrus, Johannes und
Ildefons, das Martyrium des Mauritius und Laokoon, die Vermählung
Marias und die Öffnung des fünften Siegels, die kühne frühe Blinden¬
heilung nicht zu vergessen, und von Bildnissen der furchtbare Gro߬
inquisitor und das unter dem Namen des Heiligen Ludwig gehende,
— welche sämtüch zwar den Originalen in manchem nachstanden,
doch am meisten durch ihre Kleinheit. Zur stillen Wirkung des
Gemalten fügte der Vater wenig hinzu. Daß er diesen Augenbück
niemals vergessen dürfe, mahnte er und sagte, dieses hier sei das
Höchste, was ein Mensch, der Maler sei, machen könne. Und er
hieß ihn niemals vergessen, daß es dies gelte, nur dies, solche Bilder,
die unvergänglich seien wie der Schnee auf den höchsten Gipfeln
und strahlend in einer unauslöschlichen Sonne.
Mit dieser Lehre hielt Bruno es so, wie sein Vater dachte: er ver¬
gaß sie nach kurzer Zeit, aber er erinnerte sich ihrer in jedem in
sich gekehrten Augenblick seines Lebens. — Was aber der Vater ihn
nun zu lehren begann, war nichts weiter als Sehen. Das will sagen:
das Einzelne zu sehn und das Ganze; jedes Einzelne so zu sehn, oder
einfacher, so lange anzusehn, bis es von selber durch das Auge in
das innere Wesen, in die Hand und den Pinsel überginge und sich
gleichsam freiwillig darstelle. Das Ganze aber zu sehn, wie es auf¬
erbaut sei aus Teilen, die sich gegenseitig hier ergänzten und da
verdrängten, — und also in dem Ganzen, das ein Bild geben sollte,
Albrecbt Schaeffer, Das Gitter lyi
diejenigen Einzelkräfte zu sehn, in denen es beruhte, und die gleich¬
gültigen, ja störenden auszuscheiden. Galba verschwieg, was selber
gefunden werden sollte, daß die Kunst um so größer sei, je mehr
sie zu entbehren vermöchte; je weniger äußere Linien sie bedürfte,
um die innere zu ziehn.
Es ist aber nicht an dem, die Lehrjahre des Knaben und Jünglings
zu verfolgen, und nur noch dies sei gesagt: daß der Vater, da Bruno
allerdings anhielt, seine malerischen Fähigkeiten auszubilden, die tiefe
Freude hatte, eine Verwandtschaft im innersten Wesen Brunos mit dem
des Greco zu entdecken, — wie Galba meinte; in Wahrheit jedoch
mit dem Wesen all derer, die noch andres sind als nur Maler. Daß
er plante, wirkte und ausführte von innen her, aus Phantasie, aus
selbsterzeugten Gesichten, denen die äußere Welt als Gestalt zu dienen
hatte, die ihr Wesen jedoch nicht von jener entlehnten. — Er sah die
Flamme Geist, die einst an ihm nicht gezündet hatte, glänzend Uber
dem noch kindlichen Scheitel aufgehn.
Galba, der Vater, erkrankte in seinem vierandftinfzigsten Lebens¬
jahre hoffnungslos an einem schmerzhaften Krebsgeschwür und sah
den Augenblick nah, wo er den Sohn aus seiner Lehre und in die
noch unbekannte Welt hinauslassen mußte. Bruno zählte dazumal
achtzehn Winter.
An einem Spätabend in diesem Frühjahr gewahrte Bruno, mit
seinem Licht und seinen Büchern, wie er es liebte, in einer Fenster¬
nische beschäftigt, seinen Vater so fremd und so schmerzhaft deutlich
zugleich, als sähe er ihn zum erstenmal. Der seit Wochen fast un¬
ablässig von Schmerzen Gefolterte hatte sich hinter den Ofen zurück¬
gezogen, der — ein mächtiger Würfel von hellgrünen Kacheln — frei
im Zimmer stehend, ein Viertel davon zu erfüllen schien, zumal über
ihm und umher von den Deckenbalken Kleidungs- und Wäschestücke
schattenhaft herabhingen. In das Gesicht des zusammengesunkenen
Mannes leuchtete aus dem offenen Türloch des Ofens das helle Feuer,
überdeutlich auf dem Grunde von Schatten zeigend die glänzende
gelbe hohe Stirn Uber der Verwitterung und dem Zerfall von Schläfen
und Wangen. Das übrige des Gesichts war verborgen vom wuchernden
Schwarz des Barts; und so hätte er, der ein Bauer gewesen war und
doch keiner, ein Künstler und doch keiner, und am wenigsten Italiener,
mm für einen sterbenden Briganten gelten oder gemalt werden können.
Das Jagdgewehr hinter seinem Rücken paßte dazu, und warum nicht
i7i
Albrecht Schaeffer, Das Gitter
der Brief) den unten die verhärtete bäurische Faust dem Feuerloch
nahe hielt? Er selber saß mit geschlossenen Augen und sah, als der
Sohn zu ihm trat, eine Hand auf seine Schulter zu legen, nur mQde
aus und ergeben. Eine kleine Truhe stand offen neben ihm auf der
Bank und verschnürte Briefpäckchen lagen umher. Er schlug nun
die Lider auf, hieß den Sohn sich zu ihm setzen und machte ihm
Mitteilungen über seine Mutter, die mit seinen Worten nicht wieder¬
gegeben werden können, deren Inhalt aber in Kürze der folgende war.
Sie war sehr jung, hellblond, lieblich und leichten Bluts, und wie
sie selber als Sommergast in das Haus gekommen war, hatte ein
Sommergast sie davongeführt. Ein ganz junger Mensch, wie sie aus dem
Norden, wie sie ein Sohn eines Fabrikanten und alten Geschäfts¬
freundes ihres Vaters, war wandernd vorübergekommen, vielmehr war
geblieben, eine Woche und mehr Wochen. Dann kam ein Abend,
wo es Hans Galba einfiel zu bemerken, daß er mit seiner Pfeife und
seinen Kupferstichen allein in der Stube saß. Er hatte aber nichts Arges
geahnt, als er in das Licht des aufgehenden Halbmondes vors Haus trat,
und selbst nichts, als er über das abgeemtete, im Monde wie eine Silber¬
streu glänzende Feld, über die Wiese, die Kuppe hinaufging. Von da
oben sah er unfern in der Tiefe, wo ein Weg war, das Paar, das
sich umschlungen hielt. Er sah es eine Weile an, ging in das Haus zu¬
rück, verschloß und verriegelte die vordere Tür und ebenso die des Stalls
und des Heubodens, zu dem, wie überall dortzuland, eine befahrbare
Rampe emporführte. Danach stieg er in das Schlafzimmer hinauf und
saß da bei der Wiege des Kindes, biß seine Hände blutig und fiel, als
der Morgen kam, vom Stuhl herab in den Schlaf.
Es war nicht eigentlich die Untreue, was ihn so traf; in die innere
Gerechtigkeit oder die Ordnung seines Lebens war ein Gifttropfen
gefallen, der sie so völlig zerfraß, daß er danach, so schlecht und
recht es nur ging, eine neue von Grund aus hersteilen mußte; aber
nicht ein Element von der alten ließ sich in die neue herübernehmen.
Deshalb traf auch der Ausdruck: Härte, die ihm in einem Brief und
von mancher andern Seite vorgeworfen wurde, nicht; als er sein Haus
verschloß, verschloß, versargte, versenkte er etwas. Danach bildete
sich sehr langsam das Neue, doch er selber war zu jener Frist eigentlich
nichts, konnte darum nicht hart sein, am wenigsten gegen eine Stimme
aus dem Alten, das er nicht mehr verstand.
Den schon erwähnten Brief seiner Frau, einige Wochen nach jener
Nacht geschrieben, der unbeantwortet blieb, gab er Bruno zu lesen.
Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 27$
Er war kurz and lautete: „O Hans Galba, mein Mann, was hast du
uns zugefügt! Es war ein Kuß, ja, aber aus Vergeßlichkeit, nicht
aus Untreue. Deine Härte verschloß mir das Haus, das ich gewiß
niemals verlassen hätte. Ehe es zu spät ist, flehe ich Dich an: Nimm
mich zurück! Und tust Du es weder um unsert-, noch unseres Kindes
willen, so denke an das Ungeborene in mir, auch Dein Kind, Hans,
Dein Kind! Antonie.“
Der Erzähler schloß, indem er unter Hinweis auf die letzte Zeile
des Briefes sagte: er wäre seinem Sohn die Mutter schuldig geblieben;
nun lasse sein Scheiden ihn eingedenk werden, daß er ihm nicht
auch die Schwester vorenthalten dürfe. — Jenes Kind war allerdings
geboren worden und am Leben geblieben. Der Verführer Antonies,
der sie heiratete, nahm es, weil der rechte Vater sich weigerte, an
Kindes statt an. Galba erfuhr später, daß jener schon nach drei
Jahren durch Herzschlag, Antonie im darauffolgenden Jahre an Lungen¬
entzündung aus dem Leben schied. Kinder hatte sie außer den ersten
zwein keine; Brunos Schwester, ein Jahr jünger als er, lebte im
Hause ihres Vormundes, eines Bruders ihres Adoptivvaters, der in der
norddeutschen Stadt Altenrepen eine Fabrik besaß. Daß Bruno
Namen und Wohnung von dem in R. noch lebenden Vater seiner
Mutter erfahren würde, war an diesem Abend das letzte Wort des
Kranken, dem ein Überfall seiner Schmerzen die Lippen schloß.
Bruno erschien in seiner Schlafkammer über vergeblichem Grübeln
nach dem eigentlichen Eindruck und dem Wesen des mitgeteilten
Unfaßbaren wieder sein Vater, als sähe er ihn vom Fenster aus
hinter dem Feuerloch sitzen, aber zugleich seine Züge, die ermüdeten,
so nahe, als stünde er neben ihm. Ach, mit ihm, ja in ihm lebend,
war er so verständlich gewesen wie Abend und Morgen; aber wie
war das zu begreifen, daß ein einziger Augenblick, daß die Ver¬
nichtung eines Glückes ihn völlig verkehrte? Und erst dies, daß der
zwar Ernste, aber der Ruhige, Gütevolle, immer Gleiche herabge-
gestiegen war in das stille Tal zu Bruno, von einem, ihm unendlich
fern kaum erkennbaren, furchtbaren Berg, — wo er ein Glück ver¬
grub und eine Güte davontrug. — Nun schloß der Schlaf ihm den
innem und äußeren Blick und prägte ihm unvergeßlich für immer
das Bild dieses Abends von dem Vater ein.
Wenige Tage später, von einer Wanderung heimkehrend, fand
Bruno den Vater tot im Bett, der allem Anschein nach die Gelegenheit
abgewartet hatte, um sich mit dem alten Jagdgewehr selbst zu ent-
18
*74
Albrecbt Schatffer, Das Gitter
leiben. Auf der Platte des Nachtkastens vor dem Leuchter standen
die gekritzelten Worte: „Die Schmerzen fiberwattigen mich. Heut
oder morgen ist ja gleich. Leb wohl. Junge! Sei glücklicher als ich,
werde mehr als ich, stirb leichter!"
Bruno glaubte erdrückt zu werden von der Last der Verlassenheit
und Öde in dieser Nacht, und von der einer unendlichen Liebe,
die ihm zur Bergeslast werden mußte in dem Augenblick, wo sie
sich entzog; aber auch diese löste der Schlaf des Jugendlichen für
heute von seiner Brust, und obwohl wiederkehrend, mußte sie von
Mal zu Mal leichter werden, bis sie sich auflöste und zerfiel wie
unter der Erde der Tote.
Oft und oft in den nun folgenden Tagen mußte der Vereinsamte
sein bisheriges Leben bedenken, in dem er, so kam es ihm vor,
gelebt hatte wie mit dem gütigen Gott selber in einem Garten. Weil
nun, sooft sein Inneres in Bewegung geriet, sich sogleich der Sinn
seines Auges betätigte, so stellte sich alsbald das aus Abbildungen
bekannte römische Kolosseum dar, aber dergestalt, daß er mitten
darin stand, Sitze nirgend, auch keine Tfir sah, sondern nur den
Umkreis der haushohen Mauer und in ihrer vielfachen Durchbrochenheit
von Fenstern den Himmel. Das war freilich ein Bild seines Lebens,
wenn man Gott und den Garten ins Innere der Mauer denken will:
all die Jahre war er niemals über einen Umkreis hinausgekommen,
den ein in den Zirkel genommener halber Tagesmarsch schlägt. Ob
sein Vater für später andres im Sinne gehabt hatte, ahnte er so
wenig, wie er den Grund herausfand, weshalb es bislang so gewesen;
oder war es wirklich nur der, daß sein Vater, sich abschließend in
keiner engeren Beschränkung, als dem Bauer der Gegend natürlich
war, ihn mit abschloß? An ein ausdrückliches Verbot erinnerte Bruno
sich nicht, noch auch an eigene Wünsche; und jetzt, wo er ein
klaffendes Tor in die Wandung gestoßen sah, d ahin ein Weltstraßen
mündeten und unbestimmt eine Erscheinung lieblicher Weiblichkeit
winkte, fragte er sich vergebens, warum er in dieser Stunde erst den
magischen Gürtel sichtbar gewahrte. War er ein so genügsamer
Mensch? O freilich, er war es, dachte er fast lachend, nun wieder
in das Innre des Gartens gewandt, ins Grüne, ins Bunte, ins tausend¬
stimmig Tausendgestaltige des Dickichts, in dem jedes Ding, das Hand
oder Auge berührte, so wundervoll werden konnte, wie wenn ein
Tropfen Tau in sich all und alles enthielte, was sein klares Rund
*75
Albrecht Schaeffer, Das Gitter
zu spiegeln vermag. Und bei ihm war der Lehrer, der gute kundige
Spender des unerschöpflichen zaubrischen Mittels, dessen Name ist:
Sichbemühn, und das die Fülle der sichtbaren Dinge in eine Über¬
fülle der Seele verwandelte, die zu erschöpfen, hier in dem Kreis¬
raum vom Durchmesser eines Tags, ein langes ganzes Leben sich
eher erschöpfen mußte. Überdies so waren auf Geisterwegen durch
die Bögen der Fenster herein noch Herrlichkeiten herabgeflogen:
Kenntnisse aller Art, ewige Gestalten aus dem Geisterland, Kupfer¬
stiche und Holzschnitte und Bücher und Mappen voll Bilder, Masken¬
züge der Märchen, Koffer voller Gedichte; wo er eingeschlossen war,
ohne es zu bemerken, da gingen alle Könige und Propheten, die
Apostel aller Schönheiten, Wahrheiten und Größen zwanglos herein
und ließen ihm gern, was sie brachten. Und wieder war „Sichbe¬
mühn“ der gute, schöpferische Geist, dessen Zauber es war, jedes
Ding unverwelklich zu machen, weil immer wieder neu und blühend
von Staunen des Herzens.
Doch war nun das Tor; nein, die Mauer gefallen. Nein, Gott
war gegangen; nein, der Garten war selber nicht mehr. Er war
verschwunden auf eine Weise, daß es nicht schmerzte — zu viel
Andres war ja zu schwer noch! — und die Feme mit der Welt war
nah gekommen auf eine Art, die nicht schreckte. Daß er zu gehen
hatte, schien klar, aber war nicht fest; vielmehr war er mehrere
Tage lang entschlossen, zu bleiben, die unbekannte, so lange Frist
schmerzlos entbehrte Schwester eine Vorstellung sein zu lassen, wie
die unbekannte Ebene ein unverlockendes Bildnis gewesen; statt
dessen den Garten schöner neu, in Gebilden seiner Geisteskraft
wirklicher neu und auch Gott aus seiner getreuen Brust auferstehen
zu lassen. — Zehn Jahre älter, wäre Bruno vielleicht geblieben; heute
noch konnte seine Jugendlichkeit auf die Wandlung nur mit einer
andern Wandlung erwidern.
Bruno kam auch dazu, daß er sich im Spiegel betrachtete zu jener
Frist; will sagen, daß er sich ins Auge faßte, wenn er frühmorgens
beim Waschen sich in der Spiegelscheibe begegnete. Er konnte aber
nicht herausfinden, wie er aussah, will sagen, welchen Eindruck einer
von seinen Zügen haben würde, der nicht er selbst war. Sein Ge¬
sicht war groß, lang, die Umrisse von rötlichem Bartflaum verwischt
und durchaus braunhäutig; die Stirn unter hereinfällendem Haar schien
nicht hoch, damals; das Haar selber war dicht, wellig und schön
kastanienbraun. Die kleinen Augen von schwacher bläulicher Farbe
z 7 6 Albrecbt Scbaeffier, Das Gitter
empfingen ihren Charakter von der Nase: die war lang and traurig
und hing nicht ganz grade herab. Bruno sagte, wieder einmal rieh
Ober der Betrachtung ertappend, unwirsch zu diesem Gericht: Du
riehst aus, als wolltest du gleich sehr unglücklich werden. — Er
dachte an seinen Vater und verbesserte sich erschrocken: Ich bins ja! —
Bruno hielt seine malerischen Kenntnisse und Fähigkeiten Für absolut
groß, weil ihm alle Vergleichungen fehlten. Er wußte, wie sich ein
Bild komponierte, wußte sein Inneres als ein Zeughaus gebrauchs¬
fertiger Tausenddinge seiner Umgebung, die er von allen Seiten, in
jedem Licht abgezeichnet und gemalt hatte; er hatte den Kopf voll
Pläne, und so fehlte ihm eigentlich nichts als die Bekanntschaft des
weiblichen Körpers, von dem er nur anatomisch und theoretisch
einiges wußte; doch über ihn hatte sein Vater, der ihm nebst dem
Knecht ohne Scham als Aktmodell gedient hatte, sich einmal geäußert:
er könne entbehrt werden.
Bruno war lang von Leib, etwas schlottrig in Knochen und un¬
erschrocknen Herzens.
Er nahm eines Tages, nachdem der Knecht sich bereit erklärt
hatte, das Besitztum einige Zeit mit der Magd allein zu verwalten,
ein Lineal, um es wie jener Russenzar, der eine Eisenbahn wollte,
über eine Karte im Atlas zu legen und von dem vermutbaren Ort,
wo er sich befand, eine Grade zu riehn bis zu der Stadt Altenrepen.
Mit Hilfe kleinerer Nebenkarten suchte er sich so viel Orte wie
möglich, die von seiner Geraden berührt wurden, packte mit Umsicht
einen Rucksack und dachte zu Fuße zu gehn, viel zu sehn und alles
zu zeichnen. Nerven kannte Bruno damals so wenig wie späterhin
jemals, so manches Ungemach er erfahren sollte, und deshalb auch
keine Ungeduld. Und da ihm gelehrt worden war und er gelernt
hatte, nüchtern zu empfinden noch in der Glut, noch in Berauschung,
so ließ er sich nicht hindern, die Vorfreude auf die Schwester zu
teilen mit der Freude am langen Weg.
Und so verließ er denn sein unwohnlich gewordenes Haus, schwerer
tragend an seinem Herzen als am Rucksack, frühmorgens, als der
Nachthimmel noch voll war von Sternen. Unter ihren vielfältig
strahlenden und wankenden Lichtem lag kaum erkennbar die Ebene,
der er sich zuwandte. Noch stand er über ihr in der hohen
Kühle, ein Unberührter, fest in seinen Waffen, die er für fest hielt;
und er glaubte, sie leise klirren zu hören, als das Geheimnis der
schon näheren Hefe an sein Herz rührte. Bald darauf, da er hurtig
*77
Albrecbt Scbaeffer, Das Gitter
bergab stieg, verschwand Uber der nötigen Achtsamkeit auf den
schmalen Fußsteig im Dunkel aus seinen Sinnen alles bis auf das
leise Rauschen seines Blutes im Gehör und das laute Geräusch seiner
Nagelschuh in der noch immer nächtigen Stille.
^Vir können nun, wenn es uns gefällt, den jungen Galba von hoch
oben wie die kleinste Mikrobe über die deutschen Erdflächen hin¬
kriechen sehn, von Ebene zu Ebene über die Grenzberge wie Uber die
Ränder von Tellern hinwegklettemd. Als ein in sich selber Vertauschter
wanderte er dahin; wie der antikische Sänger im Gedicht „schlang er
den Weg in großen Bissen, ohne zu kauen". War er denn nicht herab¬
gestiegen vom Gebirge ins Tiefland, sondern hatte sich erhoben, als
seien die Ebenen über Wolken gelegen? Das hatte er nicht gedacht,
und als philosophisch nicht Ungeschulter würde er es bestritten haben,
bevor er’s erlebte: daß ein Wechsel der Umgebung den Menschen in
einen andern verwandeln könne. Doch war es etwas der Art. Von
dem beherrschenden Sinn seines Daseins, dem Auge, ging diese Ver¬
änderung aus. All die bekannten, den Dingen der Heimat verwandten
und ähnlichen Dinge, Häuser und Gehöfte, die einzelnen Bäume und
die Wälder, selber die Gefilde der Wiesen oder Äcker waren, wie in
einer andern Welt gelegen, andere als zuhaus. So war es in den
Bergen, daß jedes Ding zusammengedrängt stand von unzähliger Nach¬
barschaft, groß und Umrissen, jedes auf einem nahen, unweigerlich
beschränkenden Hintergründe von Wald, von Fels oder Berg. Hier
dagegen lag jedes mit sich allein, preisgegeben an die achtlose Freiheit
des Raums, der das alles großartig Beherrschende war. Jedes hatte um
sich und hinter sich nichts, oder die Unendlichkeit. Geselligkeit, Zu¬
getansein, das war das Wesen des Dort; hier war Einsamkeit, Unver¬
bundenheit, Leere. Und wie erst war sein Himmel ein andrer ge¬
worden! Den er kannte und liebte, der war eine kleine, vertraulich
gerundete Flachkuppel, in Festigkeit rundum auf die Mauern der Berge
gesetzt, daß sie ihn trügen, und Sterne in Ruhe, und Wolken in Bewegung
waren sein leicht und still zu betrachtender Schmuck. Der hier aber,
den überwogte vom Zenit herunter eine ewige Unrast des Stürzens,
der die weitferne dünne Linie des Horizonts nirgend Halt gebot, und
ersichtlich war, daß er über sie hinweg und hinunter sich im Stürzen
befand, Abgründen zu, deren Bodenlosigkeit zu empfinden war, fast zu
sehn. Es war aber ein Geheimnis dieses feinen Bandes von Erdrand,
daß es magnetisch war für den Blick, den es ergriffen hatte im ersten
%•}% Albrecht Scbaeffer, Das Gitter
Nu und nicht wieder ließ, und also hatte Ferne sich eingewechselt
für Nähe, und Leere für Fülle, und Reiz und Verlockung für Ruhig-
keit und nüchternes Sichdarbieten. Der Raum war alles, was galt, die
Unendlichkeit, sein Geist, waren's, die geboten, und den an die beiden
verlorenen Herzen blieb nichts als ein Wahnsinn, eine Zwangseinbil¬
dung, eine stille Raserei, das vorgespiegelte Ende des Unermeßlichen
zu erreichen, Wandrer zu sein in einer von zehntausend Richtungen
auf den Himmelsrand, um hinunterzublicken in den Abgrund der Welt;
um da wieder, ohne zwar Höhen erklommen zu haben, oben zu stehn,
unter sich Tiefe.
Völker, die von den Hochlanden Asiens einst zu den Ebenen ab¬
gestiegen waren, sie hatten es nicht gesehn; aber Geschlechtern nach
Geschlechtern der aus ihnen erstandenen Völker war endlich der Geist
der Unendlichkeit zum Schicksal geworden, den Brunos erbkundiges
Auge sah.
Und Bruno, der niemals den ewigen Rand erreichte, erstieg Hügel
vor Morgengrauen, damit er die nur mitten im hohen Himmel ge¬
kannte Sonne heraufklimmen sehe aus dem geöffneten Schlund, so die
Unterwelten verbürgend, wo sie ihre unablässige Wiedergeburt voll¬
zog. Und er saß Nachtstunden lang auf dem Hügel, im Blick die
Gestirne, die untergingen, bis sie verschwunden waren im Geheimnis
der Nacht und des Raums; oder die aufgehenden drüben, die in immer
stärkerem Golde zu lächeln schienen über eine Befreiung und fröhlich
über ihren Aufstieg in die schöne sichtliche Nähe. — Fort war die
Nähe bei Tag, und fort mit ihr war Sichbemühn, jener gute Geist,
wie abgefallen die Hände. Was die Augen ergriffen, das glitt in die Füße
hinunter und bewirkte die eintönige eine, die Tätigkeit und Bewegung
des rastlosen Ausschreitens. Zu den Händen gelangte nichts, die Kanäle
waren verstopft, die Schleusen verschlossen, und kam es selbst ein und
das andere Mal vor, daß ein Tropfen durchquoll — aus einer Baum¬
gruppe, einem Gesicht, aus dem Blau einer Schürze am Zaun, in dem
Morgennebel —, so verflog er, aufgezogen wie Tau, unter der glühen¬
den Bedrängnis des Raums. Die Dinge waren nicht mehr, was sie
waren. Bruno legte den Maler schlafen unter den nächsten Baum und
reichte dem lächelnden Dämon der Freude die Hand. Sein Leben
war Lernen gewesen; er dachte, es könnte nicht schaden, wenn es
eine Zeitlang Genießen wäre, und wenn die Wanderung auch geraden
Weges nichts lehrte, so würde sie lehrreich sein. Wir wissen allein
durch Vergleichung; also hatte er sein früheres Leben nicht gekannt.
*79
Albrecbt Schaeffer, Das Gitter
dem die Vergleichs mittel fehlten; sah nun, daß es schwer gewesen,
an der erquicklichen, schönen, hoffnungsvollen Erleichterung.
Es geschah nun Bruno, daß er in der Lust, in der glücklichen Gier
seines Wanderns einen ganzen Tagesmarsch weit an Altenrepen vor¬
überlief. Sein Weg hatte die Geradheit des Linealstriches niemals ge¬
habt, deshalb nämlich weil er die Städte vermied, die er, nach Durch¬
querung der ersten: für diesmal zu viel des Guten nannte. So ließ
er sich auf geschlängelter Bahn von seinem kleinen Kompaß nach
Norden fahren, nur wenn es not war, sich zurechtfragend. Er hatte,
was hier bemerkt sei, ein vollkommenes Hochdeutsch sprechen gelernt,
das der Hauch seiner Gebirgsmundart dem Hörenden nur angenehm
machen konnte. Und gleichviel wie er, dem Ziel fast nah, in die
Irre ging und — zu seiner Freude — in die Heide geriet, die sich
im Norden der Stadt ausdehnte. Endlich, da es schon Abend wurde,
fand er sich wieder im anmutigen Bruchland, inmitten von Wasser- 1
laufen und Hügeln, Birkenschlägen und Bauernhäusern, und er machte
halt in einem sauberen Dorf in der Nähe der kleinen Stadt F., wo
denn die Reise zur Schwester eine kleine Verzögerung erlittt. In dem
Dorfe übrigens kam er insofern zurecht, als vor einiger Zeit ein Trupp
junger Maler von Altenrepen aus allda eine Kolonie gegründet hatte
zur weiteren Eroberung des Bruchs und der Heide.
Bruno suchte jetzt Nachtquartier. Da sah er über einen Hecken¬
zaun und sah etwas Schönes. Auf einem Grasplatze im Schatten, unter
Obstbäumen, deren saftgrüne Kuppeln schön im Golde des Abends
brannten, lag ein weiblicher Mensch in einem lichtgelben Gewand;
der las, den Kopf aufgestützt, in einem Buch, das im Grase lag, und
war zugleich mit der anderen Hand beschäftigt, eine kleine graue
Katze wechselweis in den Schwanz zu kneifen und die entspringende
an den Leib zu drücken. Das Haar war schwarz, das gesenkte blasse
Gesicht schien schmal, die schwarzen Wimpern sehr lang, und die jetzt
groß aufgeschlagenen Augen waren geschlitzt, die Sterne grau, unter
fast steil aufsteigenden Brauenbögen. Sie lächelte nirgendhin und las
weiter.
Bruno indeß, im Fortgehn, bemerkte in einem Fenster des Bauern¬
hauses, das wie alle in jener Landschaft das Strohdach mit seinem
Erdgeschoß trug, die Aufforderung, hier ein Zimmer zu mieten, und
er dachte: wenn irgendwo, warum nicht dahier?
Bruno mietete also durch Vermittelung einer freundlichen Alten ein
z8o Albrecht Schaeffier, Das Gitter
ebenso freundliches Zimmerchen und hatte keine Viertelstunde spater
das seltene Erlebnis, mit einem weiblichen Wesen, der Schonen vom
Obstgarten, zu Abend zu essen. Sie war, was die plaudernde Alte
verriet, die Besitzerin des Hauses, Frau eines Malers, doch vor Jahres¬
frist Witwe geworden, eigentlich Schauspielerin; und sie vermietete,
wie sie ihm selber erklärte, das Zimmer nur um Gesellschaft zu haben.
Er habe ihr gefallen und es deshalb bekommen. Seine vernünftige
Art zu reden, ergötze sie sehr, sagte sie auch, — während ihre kamerad¬
schaftliche Ruhe und Offenheit ihn mehr erleichterte, ab er wußte;
an der ihm freilich auch unbekannt blieb, daß die flüchtige Erschei¬
nung seines Gesichts über dem Heckenzaun genügt hatte, sie hervor-
zuzaubem.
Bruno schrieb infolge der Entdeckung, daß dieser Übergang zu seiner
Schwester überhaupt unerläßlich sei, einen etwas schwerfälligen Brief
an den Vormund, in dem er die nötigen Erklärungen machte und um
Erlaubnis bat, die fremde Schwester kennen zu lernen. Das fast ge¬
schäftliche Schreiben schloß er mit der etwas wärmeren Wendung, daß
er sich herzlich freue, abbald das Antlitz einer ganz neuen Schwester
zu sehen, deren Name sogar, durch Zufall, ihm unbekannt geblieben sei.
Darauf verbrachte er die Tage des Wartens heiter in der Gesell¬
schaft seiner Schönen, deren etwas neblichtes Wesen bald zu durch¬
schauen, seinem durchaus klaren nicht schwer fiel. Spielen läßt sich
ja jede Rolle, aber einen ganzen Tag lang ist schon viel, und sie
wechselte häufiger. Offen sie selbst war sie nur in den Erklärungen
ihrer Liebe an ihn; aber hier sah er wieder fälsch, der sie ftir Spiel
oder Laune oder Scherz hielt Das einzige, was ihm Ernsthaftigkeit
an ihr zu sein schien, war ihre Leidenschaft fürs Theaterspielen, das
sie im Winter wieder aufzunehmen gedachte; hier sparte sie selbst die
Schminke der Emphase und ließ eine kalte, bronzene, echte Haut sehn.
Am vierten dieser vergnüglichen Tage hatte Bruno die Antwort auf
sein Schreiben, folgendermaßen:
„Ihr Brief höchst überraschenden und gewiß erfreulichen Inhalts
trifft mich in solcher Überbürdung mit Geschäften, daß ich nur kurz
meine größte Freude äußern kann. Sie in Bälde zu begrüßen. Es
darf Sie nicht abhalten, daß meine Nichte, Ihre Schwester, sich zur
Zeit noch in ihrer Londoner Pension befindet, da ich sie mit jedem
Schiff erwarte. (Sie zieht die Seereise vor.) Kommen Sie getrost jeder
Zeit, und hoffen wir, daß meine Nichte spätestens mit Ihnen selber
hier eintreffen wird."
Albrecht Schaeffer, Das Gitter z8i
Der Brief war Maschinenschrift; ein handgeschriebenes Postskript
enthielt noch die Zeilen: „Es ist nicht unmöglich, daß eine Geschäfts¬
reise mich selbst nächster Tage für kurze Zeit entfernt Meine liebe
kleine jetzige »Haushälterin* Heike, Schwester meiner verstorbenen Frau,
soll sie bestens betreuen.**
Den Bruno ärgerte an diesem Brief nichts so sehr wie der Name
Heike, und er äußerte seinen Unmut gegen die Schauspielerin — sie
nannte sich Jetta — daß die Menschen Namen für Kinder suchten
bei Hunninnen und Attilakebsen, und fand sich, abgeschreckt von der
Erscheinung eines lederbraunen Gespenstes, um so weniger zur Abreise
gedrängt, als die liebliche Nähe ihn hielt und die Schwester ferner
als je schien.
Und doch war er drei Tage später unterwegs. — Sie waren im
Kahn gefahren, auf dem kleinen, in Windungen das heitre Bruch still
durchziehenden Fluß in einem der langen Kähne, die vom Heck mit einer
Stange dahingestoßen, gestakt werden. Sie hatten hinter Buschwerk
am Ufer die Kleidung mit Schwimmanzügen vertauscht, hatten ge¬
badet, wieder den Nachen bestiegen. Endlich war die Jetta, die an
einer sonnigen, von Weidengebüsch umschlossenen Uferstelle zu landen
wünschte, aus dem Kahn an Land gewatet, wo sie sich unter Busch¬
werk, die Arme ausbreitend hinwarf. Aber Bruno, der schon im
Folgen war, blieb mitten im Wasser stehn. Denn er sah plötzlich
alles; sah das Weibliche und die ganze, die wie enthülste Schlankheit
der fremden Glieder, die gleich einer Kemhaut der nasse, grüne an¬
liegende Stoff auch da nicht verhüllte, wo er sie bedeckte, und das
war sehr wenig. Wenig ja, und deshalb war’s viel zu viel und zu
früh für den Bruno. Er fühlte sein leibliches Brennen in der Kälte
des Wassers, gewahrte indem, daß der Kahn, den hinter ihm seine
Hand hielt, sich loszog, und er sammelte sich, schob ihn ans Ufer,
machte ihn fest, nahm sein ewig leeres Skizzenbuch draus hervor,
erstieg die Uferböschung, hockte sich hin, fing an zu zeichnen. Sie
hatte die Hände hinter dem Kopf und die Augen geschlossen. Er
zeichnete ihren Umriß, bis sie wirklich entschlafen war, planlos; dann
gab er sich Mühe.
Unteilbar war er; konnte nur immer ganz sein, was er sein sollte,
und hier war nur ein kleiner Teil seiner Ganzheit ergriffen. Sein
Herz war noch zugeschlossen, und es sollte andre Gewalten brauchen,
um es zu sprengen. Er packte bei Nacht seinen Rucksack und war
vor Morgenrot unterwegs.
282 Albrecbt Schaejfer, Das Gitter
Am Kopf des Briefes hatte gestanden: Gut Thalmann und Stocken
bei Altenrepen. Daß dieses Dorf im Norden der Stadt gelegen sei,
hatte Bruno von Jetta erfahren, und er befand sich, durch Umfragen
geführt, bei Sonnenuntergang auf einer Landstraße, die vor einem
breit hingezogenen hohen und grünen Gitter ein Ende nahm. Darüber
unfern erhoben sich die Obergeschosse, Dächer und Türme eines burg¬
artigen, aber anscheinend nicht alten Gebäudes. Bruno ging bis ans
Gitter und sah hindurch.
Da war geschorener Rasen; war in der Mitte das steinerne Becken
einer Fontäne, auf dessen Rand eine Weißgekleidete saß, umringt von
vielerlei und unsäglich buntem Geflügel, nämlich zwei Pfauen, mehreren
goldroten Fasanen, Tauben und einer Menge schwarzweißer Elstern,
jener schönen, prinzlichen Vögel, von denen Bruno sich eine Anzahl
daheim befreundet hatte, also daß er sich innig freute, die dort Ver¬
lassenen hier in der besten Gesellschaft wiederzufinden. Die sitzende
Nymphe streute lachend und plaudernd Futterkömer aus einer blauen
Schüssel nach allen Seiten. Aber plötzlich zu einer überraschenden
Höhe ihres Wuchses sich aufrichtend, wobei zwei lange Haarflechten
schwarz vom herunterfielen, die Arme von sich streckend, ließ sie
die Schüssel ins Gras fliegen und stand so, rosigen Gesichts, blitzender
Augen, wie eine Triumphierende im Tumult der bunten erschreckten
Vögel, radwerfender Pfauen und hochflattemder Elstern, die auf ihre
Arme herabfielen. Sie hatte den Bruno noch kaum gewahrt, als der,
in allen Sinnen und Geistern verwirrt, am Gitter hin fort und weiter
staubige Feldwege ging, zwischen Saaten, unter Lerchen, unter rosigen
Abendwolken, eine Viertelstunde Unendlichkeit, ohne etwas zu sehn,
ohne anzuhalten.
Oder er nahm doch alles wahr, das Genannte und mehr; nur sah
er es anders, als er jemals etwas gesehn; sah es vielleicht wie die
Noten einer großen Musik, die auf ihm gespielt wurde, und deren
Akkorde wieder, da sie sich aus ihm lösten, zu Mohnrosen und
Saatengrün, zu Lerchenstimmen und Lichtwolken wurden. Heike,
dachte er; die war’s, Heike. Keine Hunnin, ach nein, kein Gespenst;
der Brunnen des Lebens! — Und der widerwärtige Name war ihm
in einem Nu hold geworden, ja unwahrscheinlich schön und kost¬
barer als Eleonore oder Beatrice.
Nun wandte er sich, erkannte ferne die Burg, ging wieder zurück
und sah bald durch den Abendschein die große weiße Gestalt sich
entgegenkommen. Sein Herz schlug schwer an und ging langsam und
Albrecht Schaeffer, Das Gitter 283
ruhig. Als sie vorüberkam, am Arm einen Schutenhut, lächelte sie
abgewandc vor sich hin. Oh, wollte er sagen, was lächelst du denn!
— Aber was er stehenbleibend hervorbrachte, war die Frage, ob dies
Haus Thalmann sei, die sie erwiderte: Gewiß, und gewiß sei er
Herr Galba.
Sie ging neben ihm zurück und war fast so groß wie er selbst,
also ungewöhnlich groß für ein Mädchen. Er verglich ihr Gesicht
einem Pfirsich, obwohl es so rund nicht war, aber so rosig, so frisch,
so saftreich. Die Augen waren blaugrau, jedoch strahlenvoll, ja feurig,
und sie hatten zuweilen einen Aufschlag, schräg nach oben, der kinder-
haft scheu war.
Sie plauderten bald; er vernahm von einer kurzen Abwesenheit des
Onkels, und sie fragte nach seinen Bergen, die sie flüchtig kannte,
und meinte gutwillig, es müsse schön sein, da zu Hause zu sein. In-
deß erwiderte er nach einem Augenblick ruhig, seiner Wanderung
eingedenk: „Wie kann man wissen, wo man zu Haus ist, wenn man
nur immer zu Hause war! Mein Vater war dort Bauer, italienischer
Herkunft, und schwor, er sei so gut in Toledo daheim wie Theoto-
kopuli, der ein Kandiot war. 1 *
Die Entgegnung auf diese schwer verständliche Rede war eine Frage
nach dem merkwürdigen Namen, der eine Handhabe bot zur Erzählung
von einem sehr merkwürdigen kalekutischen Hahn, der so groß war
wie schön und nur nicht mehr jung; der infolgedavon beim Erscheinen
eines neuen, so kleinen wie unschönen, aber jugendlichen Hahns von
der Schar aller Hennen verachtet und ausgeschlossen wurde, darüber
in Schwermut verfiel und geschlachtet wurde. „In der Natur“, sagte
Heike, „ist alles so einfach.“
Bruno schien es nicht einfach, daß er sich in diesem Augenblick,
ohne zu wissen, wie, zwischen Wirtschaftsgebäude und Geflügel ver¬
setzt fand; doch gewann er sich im Anblick des Heimatlichen und
sah das Mädchen an. Plötzlich trat es mit einer fast heftigen Gebärde
dicht vor ihn hin und sagte —. der erste Mensch, dem er aufrecht
stehend ins Auge sah: „O, Sie müssen mein Freund sein! Wollen
Sie? Ach bitte!“ Sie seufzte, und ihr Auge hatte das scheue Aufwärts¬
schweifen: „Es ist so gut, daß wer da ist!“
Sie hatte seine Hand ergriffen, blickte flehend und setzte hinzu,
bevor er erwidern konnte: „Ich erkläre cs Ihnen, wenn wir Freunde
geworden sind.“
Dann führte sie ihn an der Hand in das Haus. Blumen, Raden
184 Albrecht Schaeffer, Das Gitter
und Mohn, die sie aus dem jungen Korn henrorgeholt hatte, sah er
sie noch in seinem Zimmer in eine Vase ordnen; sah sie entschwinden
mit einem Lächeln und einem Knix, ging ihr nach bis zur Tfir, ließ
sich dagegen fallen und schluchzte aus seiner letzten Tiefe herauf:
„O wie liebe ich dich, Heike! O wie liebe ich dich! 4 *
Ein Tag war vergangen und Abend geworden: Bruno lag in dem
kleinen waldigen Teil des Parks, halb unter Buschwerk verborgen in
einer alten Gewohnheit, nahe über sich Blatter zu haben, deren reine
Gestaltung fest blieb, dieweil er träumte, und so dachte er Heikes.
Untertags waren sie auf dem Gange von irgendwoher nach irgend¬
wohin unter dem höchsten Turm vorübergekommen, wo zwischen
klüftigen Ulmen eine besonders starke und dichte Eibe stand. Da
sah er das Mädchen blaß werden; sie griff nach seiner Schulter und
wandte, sich an ihm haltend, langsam das feuchte Auge zur Turm¬
hohe hinauf. Endlich und leise sagte sie: „Vor einigen Tagen bin
ich da heruntergefallen. Der gute Baum fing mich auf.** Sie schwieg
und seufzte, sah ihn an und fuhr fort: „Nein, glauben Sie mir, ich
bin gesprungen und nicht gefallen.**
Sie zog ihn weiter, und was sie ihn nun wissen ließ, war das Fol¬
gende. Ihr Onkel, ein Mann in den vierziger Jahren, hatte zu ihr
eine zwar nur sinnliche, aber deswegen um so hitzigere Neigung ge¬
faßt. Er verfolgte sie, dringlicher seit kurzem, weil ein junger Mensch,
ein Gutsbesitzer der Nachbarschaft, sich um sie bemühte. Jetzt, im
Anschluß an seine Bewerbung, die der Onkel ihr überbrachte, und
die sie ohne weiteres ausschlug, warb er selber um sie, drängte sie,
wollte sie in die Arme ziehn und liebkosen. Sie mußte fliehn, konnte
ihr Zimmer nur auf Umwegen erreichen, fand ihn vor der Tür, floh
besinnungslos aufwärts statt abwärts, floh im Turm hinauf, erreichte
die Plattform, schwang sich auf die Brüstung, — und als er erschien,
drohte sie, leidenschaftlich und unerschrocken, wenn er nur einen
Schritt tue, so sei sie unten. — Ja, sagte der verblendete Mensch aus
seiner Flamme, in meinen Armen! — und sie ließ sich fallen.
Heike schloß, indem sie meinte, sie habe doch wohl gewußt, daß
der Baum unten bereit sei. — Und nun, sagte sie anscheinend unbe¬
dacht noch, nun gehe sie mit jedem, der sie fort nehme.
Hieran dachte Bruno. Mit jedem, flüsterte er, o nicht mit jedem!
— Er war auf der Plattform gewesen und hatte die Hohe, die gering
schien von unten, von oben schwindelnd genug gefunden ftir einen
Albrecbt Schaejfer, Das Gitter 285
lockeren Sinn. Aber der ihre war fest, nein heroisch, und schwang
sie kühn über die natürliche Seelengrenze hinaus in ein höheres Le¬
ben, — und wen sie liebte, den — oh, wen sie liebte .. .
Da horte er auf, an Heike zu denken, sondern er dachte sie,
dachte sie nur mit solcher Inbrunst, daß sie bald darauf vor ihm stand.
Er regte sich nicht, und sie tat, als ob er nicht da wäre, indem
sie sich niedersetzte vor seinen Füßen, doch ihm den Rücken wandte.
Sie hatte einen kleinen Strauß Himbeeren gesammelt und begann, ihn
über die Schulter mit Beeren zu werfen, im Wechsel mit andern, die
sie in den Mund schob. Dann sagte er aus einer Not-Gelassenheit
zu der Abgewandten: es wäre doch gut, daß sie seine Schwester nicht
sei. — Da sie unverstehend: Warum? fragte, so verbesserte er sich:
er habe sagen wollen: daß seine Schwester nicht da sei und dafür
sie. Aber nun schien sie noch weniger zu verstehen und schwieg.
Er hatte sich aufgerichtet, ihr Antlitz kam langsam über die Schulter
zu ihm, und sie blickten sich in die Augen, bis ihre Lider sich
senkten und er zitterte. Nun stand sie auf in ihrer Art, die er schon
einmal gesehn hatte, ohne die Hand zu stützen, nur mit der federn¬
den Kraft ihrer Fußgelenke langsam zu ihrer Größe sich aufrichtend.
Sie ging in den Wald hinein, aber die sein Herz spannende, herrlich
elastische Bewegung zog ihn auch von der Erde empor, und er hatte
sie bald eingeholt. Im Augenblick, wo er ihre Hand ergriff, geschah
ein allmächtiger Schlag, und in einem Nu waren sie beide verdoppelten
Leibes, jeder hinübergefahren in den des andern, nicht mehr wissend,
wo er endete, nichts mehr wissend, besinnungslos, in Feuer, in Süße,
in einem Ausbruch aller Sinne und Seelen, der sie ins Jenseits ver¬
setzte. Dann sah Bruno zwar eine in flirrendem Grün entschwindende
weiße Gestalt, aber an seinem feurigen Munde hing noch fest der
andre von übermenschlicher herzraubender Süße, unlöslich, und sein
Leib kam ihm unbegrenzt vor wie der eines Riesen.
Er lief ihr nach. Aus dem Wäldchen gelangt, am großen Gitter
entlang eilend, sie vor sich, die er einholen wollte um jeden Preis,
sah er ein Automobil vor dem Tore halten, dem eine kurze Männer¬
figur entstieg. An der vorüber, ohne sie anzusehn, lief Heike ins
Innere des Gitters, und er gewahrte noch ihre Flucht hinter den
Stäben, während ein kleiner bartloser Herr auf ihn zukam und ihn
sehr herzlich begrüßte. Er hielt sich steif in der feinen Kleidung
und sein glattes Gesicht ohne viel Ausdruck als den von Geschäfte
sinn und Kälte hätte Bruno nicht gefallen, auch wenn er nichts
286 Albrecht Schaeffer, Das Gitter
gewußt hätte. Er selber,b arhaupt, in seinen Wadenstrümpfen und der
Joppe, glaubte verwildert auszusehn und hörte verworren die mit Be*
tonung gesprochenen Worte: »Nun, mein lieber Herr Galba, Sie
scheinen sich in meinem Hause ja vortrefflich zurecht gefunden zu
haben.“
Zu Abend speisten die beiden allein, wobei der Fabrikant von
aller Art Malern und Malerei verständlich zu plaudern wußte; jeden¬
falls sich bewandert erwies in allen Galerien Europas. Nach Beendigung
der Mahlzeit aber erschien, die sich hatte entschuldigen lassen, Heike
wie eine Märchengestalt, dunkel erglühten Gesichts und hoch schwei¬
fenden Auges in einem weitärmeligen und langen Faltenkleide von
gelber Seide, das mit schwarz-weißen Elsterflügeln bestickt war. Ohne
die Anrede des Onkels zu achten, ging sie ins Musikzimmer hinüber,
wo ein Flügel stand und ein Cello lehnte, entzündete Kerzen und
setzte sich mit dem Cello.
Ein zitterndes Frieren überfiel Bruno, als beim Stimmen die rollenden
und knarrenden Waldstimmen der tiefen Saiten erschollen. Felsen
schienen zu tönen, und dies war der Augenblick, wo er ins Himmel¬
reich eintrat. Die große Heilige saß über den Sangschrein gebeugt
und streng gewordnen Gesichts im Scheine der Lichter, und der
mächtige Bogenarm und die zierlich kletternden Finger entfesselten
den Stolz und die Ewigkeit einer engelskühnen Musik, in deren Ge-
woge sein Herz verging und zu Glanz wurde wie Licht in Gewässer.
Dann wieder griff Schrecken auf Schrecken aus der Allmacht von
Tönen in seine Seele — es war die eigentliche Violinciaconna von
Bach —, so daß er erwachte und, in geheimnisvolle Dämmerung einer
entlegenen Himmelskammer entrückt, die Engelin sah, die Siedlerin
am Gottesberg; und ein Blitz des Erkennens, daß all dieses, Wunder
fler Gestalt und der Kraft und der Seele, für ihn lebten, sein ge¬
hören wollten, hüllte ihn in Flammen der Demut ein.
Das Cello war verstummt, Heike verschwunden, Bruno fand sich allein
und blieb, wo er saß, im Schatten der langsam tiefer brennenden Kerzen.
Wie groß, dachte er schwer, muß ich werden, um würdig zu sein? —
Dann: um zu seinem Zimmer zu gelangen, mußte Bruno an Heikes
vorübergehn. Ihre Tür öfihete sich, als er den heißen Boden des
Flurs betrat; sie hatte das gelbe Kleid noch an, lächelte angstvoll und
glühend, und sie erschöpften sich zwischen Tür und Angel in Um¬
schlingung und Küssen noch einmal, bis ein Laut im Treppenhaus
Heike ins Zimmer scheuchte, und er entlief nach dem seinen.
Albrecht Schaeffer, Das Gitter x%j
O diese Nacht, kaum begonnen, war endlos lang; Bruno, ins Bette
gewühlt in seinen Kleidern, wartete, als eine Uhr elf schlug, noch
Minuten und schlich zur Tür, der Schuhe schon ledig. Etwas, das
er in seinem Leben zuvor kaum jemals bedacht hatte, und so riesen¬
groß es auch schien, war das einzige, was jetzt möglich war. Hätte
er nachdenken können, so mußte er eingestehen, daß er das Mädchen
Türme hinaufgejagt hätte und ihr nachgesprungen wäre. Er gelangte
lautlos bis vor ihre Tür, aber hier fehlte der Mut. Diese Tür war
nicht zu besiegen, die Hand fiel in Staub auf der Klinke, er lag an
der Wand daneben mit Kopf und Armen, aus sich emporgewunden,
— denn jetzt hatte die Qual nicht, wie am Tage die Lust, einen
andern Leib, in ihn überzuströmen. Doch war sie Augenblicke da¬
nach wie verlischt, und Bruno kniete hin und drückte still einen
Kuß der Liebe auf die unbetretene Schwelle.
Ein anderer Morgen kam und veränderte alles. Am Frühstücks¬
tisch, als die Drei sich zusammengefunden hatten, erklärte der Onkel
einen kleinen Scherz, eine Überraschung, die er sich erlaubt habe, ge¬
stehen zu müssen, und offenbarte Bruno und Heike als Bruder und
Schwester. — Ob er schon vorhatte, nach dieser Mitteilung den Raum
zu verlassen, oder ob er sich nur jetzt genötigt sah, wer wollte das
sagen?
Die Geschwister Gewordenen saßen und sahen sich an, bis die
Blicke wie verglühte Drähte zerfielen. Nun tanzte um Bruno der
Raum; ihm ward von einer übermäßigen Kraftanspannung sterbens¬
übel; er sah kaum durch lauter Tanzendes das Gesicht Heikes, das in
die Hände vomüberfiel. Dann war er an einem andern Ort. ..
Noch später erwachte er in seinem Zimmer auf dem Bett aus dem
Schlaf.
Er hatte geträumt, Heike sei eingetreten, und nun saß sie wirklich
bei seinen Füßen, und die Luft war dämmrig. Sie sah ihn nicht
in und fragte: „Kann es nicht anders werden mit uns?“
Er empfand etwas Feindliches und sagte: „Nein.“
Sie hielt das Gesicht in Händen. Er fragte: „Was hat er damit
gewollt?“ Sie schwieg lange, sagte endlich fast leicht: „Bosheit wohL
Er hat’s versucht. Ach, und meinst du denn —Sie verstummte und
ließ nur, als er drängte, die Worte hervor: wenn es nicht so
gewesen wäre . ..“
Dies begriff 1 er zwar, aber den ganzen Gedanken, ob diese Leiden-
»ehaft, wenn sie gewußt hätten, sich nicht eingestellt hätte, den
z88
Albrecht Scbaeffer, Das Gitter
konnte er in dieser Stande nicht aasdenken; viel später kam er za
dem Schluß, daß — wie es war, so war es. Es konnte nur dies ge¬
schehen; und wie einmal das Leben war, so geschah es auf diese
Weise. Denn es hatte noch keiner sein Dasein für sich allein, immer
gehörten andre dazu. Böswillige, Gutwillige, der Onkel hier und
drüben sein Vater. Ja, lag nicht bei dem der Anfang zu allem — und
warum nicht dann bei viel früheren Vätern und Müttern — und
mußte nicht, was mit einem Fehler begann, sich fortsetzen in Fehlern?
Jetzt wußte er das noch nicht, und was frommte es auch, zu wissen.
Er lag, und sie saß, und als nach langer Zeit beider Augen einen
Blick ineinander versuchten, brachen ihre Seelen ganz zusammen, nur
Schreie stoben heraus, und Bruno war allein.
War allein und vor Morgengraun unterwegs nach irgendwohin.
In der Stadt München, in einer Zeichenklasse der Akademie finden
wir einen andern Bruno wieder. Er war zerschmettert. Er war Ikarus,
nur daß er lebte. Scheinbar von den Bergen hinab in die Ebene
gestiegen, hatte er in Wirklichkeit Schwingen ins Morgenrot erhoben;
hatte immer höheren, leichteren Flugs Gottes Gestirn überflogen, hatte
die Kammer im Azur offen gefunden und vor der Jungfräulichen ge¬
kniet, der ewigen Schwester, dem höchsten Idol der Unerreichbaren.
Vielleicht war dieses der einfache Sinn; den Menschen trennt, wer
er auch sei, Unmöglichkeit von der reinen Idee; und es war nur
diese Art der Trennung von so leibhaftiger, so grausamer Gestalt, wie
das Idol selber sich leibhaft gezeigt hatte. Es schien aber das Schick¬
sal der Galbas zu sein, daß sie, jeder auf seine Weise, ein Höchstes
sehn und geblendet werden sollten. Hier saß das Wunder in der
weiblichen Seide der Elsterflügel und zauberte die Seele der Welt
aus einem braunen tönenden Schrein hervor; und dort hatte es die
gespenstischen Augen des traurigen Griechen. Bruno war geblendet;
die Sehkraft seiner Seele war erloschen bis auf einen Dämmerhaucb,
und nur seine Hände hatten einigen Kunstverstand und ihre ganze
Geschicklichkeit behalten, so daß sie jede vorgelegte Aufgabe aufs
gehorsamste getreu erledigten. Bei Lehrern und Kameraden galt
keiner für so untalentiert wie Bruno.
Er ging so von dahin zu dorthin wie einer, der geführt wird, und
war er allem, so war Leere. Untertag war es so; der Nachtraum
indeß zitterte von Ausgeburten der Grausamkeit. Sie stand vor dem
Brunnenbecken im Rasen, sie, die Seele, die Nymphe der Wasser,
Albrecht Scbaeffer, Das Gitter z8p
▼on paradiesischen Flügeltieren umwogt; und sie saß vor den Lichtern
unsterblich. Die Folterschraube der Entbehrung zog an, und er schrie
vor Schmerz.
Und wenn im Jahr der menschlichen Seele das Höchste wie das
Tiefste, die Süße und die unerträgliche Bitternis ihre Fristen haben;
and wenn der Schmerz wolkig wurde und neblig und sich gar völlig
verzog: so quollen nun aus dem zerrütteten Mark in das geschwächte
Gebein Gifte und Krankheit von gleichsam natürlicher Art: es begann
das Grausen, die Raserei des Geschlechts. Nun wucherte die Nacht, nun
strotzte der Leib, gebläht von Wahnsinn seiner Lüste. Bruno stürzte ihn
die Treppe der Dirnen hinunter und im Triumph seiner Verzweiflung
dem Abgrund der Seuchen zu. Aber am Rand riß ihn der Ekel zurück,
er wandte sich und ergab sich der Fata Morgana: sich selber. Graue
Tage und einsame Orgien der Nächte. Es war bald ein geheimes Ab¬
kommen zwischen ihm und sich selber geschlossen, dergestalt, daß er in
jeden Schlaf nur durch das Tor des Entschlusses einging: Morgen fahre
ich zu ihr; denn eine Möglichkeit des gemeinsamen Lebens muß sich
schaffen lassen. — Und dieses Abkommen erteilte ihm die Erlaubnis
zu dem vorhergehenden Raub an sich selbst, zum Hineinreißen der
fatamorganischen Geliebten in seinen schmelzenden Leib. Er er¬
mordete sie, und er schwang sich wieder mit ihr wolkenhoch und
zu einem Hochmut der Götter, daß er schrie: Haben nicht Sigmund
und Siglinde gelebt, und haben sie nicht Sigurd gezeugt: Und lebten
sie nicht leibhaftig, so sind sie um so tiefer wirklich gewesen, geistige
Geschöpfe eines ganzen Volks, das eine höchste Liebe in der Um¬
schlingung der Wälsungen begriff und verherrlichte. — Griechenland
stieg auf, wo ein Unerlaubtes in gepriesenen Gliedern lieblich und
edel schien, und über Asien und Ägypten zeigten sich riesige Königs¬
geschwister, viel zu hoch, viel zu kostbar, als daß ihr Blut sich
anders vermischen durfte als mit dem eignen. Sie beide aber, er
Bruno und sie Heike, waren sie minder vereinsamt in der Menge
and minder königlich im Geist, eine selige Cäcilie sie, ein Bruder, wenn
er nur wollte, Tintorettos und Theotokopulis er, wofür als geheimes
Zeichen sie beide das Volk um Haupteslänge überragten? Oh, warum
waren nur seine mächtigen Lebensgeister so gebunden von uralten
abergläubischen Gebotsfesseln! Und o, warum duldete er diesen Irr¬
sinn der Welt, die nur jene Sünden verfolgte, die ein Mensch dem
andern zufügte, nicht aber die der Mensch selber sich antat aus Not!
Oh, alle Raube und Morde, alle Gewalttaten und Schändungen der
*9
z$>o Albrecht Scbaeffer, Das Gitter
Menschheit, die kein Gesetzauge sah, die der Einzelne einsam an sich
beging!
Der Morgen kam und zeigte in der aschgrauen Hand die großen
Goldfiguren der Nacht, bleigegossene, kleine, verächtliche Männlein.
Bruno, wie schon gesagt, lernte richtig zeichnen, die verschiedenen
Arten der Farbmalerei, porträtieren, jedes, soweit die Geschwächtheit
seiner Augen gestattete, die ihn stets nur ein Einzelnes sehn ließ,
niemals ein Ganzes; will sagen eigentlich Teile nur, weil es kein
echtes Ganzes gibt, das nicht erbaut wäre aus Teilen, — und so ver¬
lebte er längere Zeit bis zu dem Tage, wo er aus einem Anschlag¬
zettel des Theaters den Namen Jetta Sandlers las und sein Dasein
sich änderte.
Die Frau hatte ihn wirklich geliebt, und nun, wo sie den un¬
bestimmbar Traurigen wiedersah, mit einer Stille bekleidet, die größer
war, als er selber zu wissen vermochte, und die sehr verlockend ab¬
stach gegen den Maskenlärm ihres Lebens, verfiel sie in eine Leiden¬
schaft, deren schöne Wirklichkeit sie entzückte. Nun hatten die
damals eben beliebt gewordenen Frauengestalten der Ibsenschen Stücke
sie befähigt, ihre Kunst so zu entfalten, wie sie brennend sehnte, und
um die Zeit des Wiedersehens hatte sie begonnen, als Hedda, als
Nora gastweise von Bühne zu Bühne zu dehn. Sehr gelegen kam
da ihrer Ruhmbegierde die Begegnung mit Bruno: ein berühmter
Maler, der er schon werden sollte, konnte ihren Glanz und sie wieder
den seinen fördern.
Brennender, lebendiger, stolzer, ja härter; geistiger und durch alles
dieses auch schöner geworden, besiegte, sie Bruno rasch, unwissend,
wie sehr er willenlos war, nicht viel mehr als ein Holz, dessen Natur
es ist, im Feuer zu brennen. An eine Sommerreise glücklicher Flitter¬
wochen — denn Bruno fühlte sich so erleichtert, als habe die Ver¬
antwortung für sein Leben ein anderer übernommen — schlossen sich
nun die Reisen durch die deutschen, auch ausländischen Städte, und
Bruno fand sich, er wußte nicht wie, zum Porträtmaler geworden.
Er malte nicht schlecht; ja, sogar, wenn ein Charakter von Emst und
Gewicht ihn in sich zog, so leistete er in der impressionistischen
Art, die sich von selber in seine Finger gefunden hatte. Bedeutendes.
Entsetzt nach vergeblichem Warten war lange der Genius entflohn
und die entkräftete Seele gefolgt; nicht mehr wissend, was es ist,
sich nach innen zu wenden, das vorsichtige Netz in den Weiher der
Geheimnisse hinabzulassen, oder nur zu lauschen, wie es vom Grunde
Albrecht Scbaeffer, Das Gitter 291
herauf dunkel murrte, bis der Schein eines Geisteranditzes freude¬
bedrohlich erschien: war er hohl und befand sich leicht im beständigen
Wechsel der von außen ergossenen Fülle. Er hatte die Menschen
non gern, er fand nichts auszusetzen an ihrem Treiben, weil er an
sich selber nichts aussetzen durfte; er hatte sie zu malen, und du
Handwerk machte ihm Freude.
Dann freilich kam der Tag mit der unausbleiblichen Stunde, wo
es ihm einfallen mußte, eine alte, noch aus väterlichen Zeiten stammende
Mappe voller Proben und Entwürfe zu öffnen. Nachmittag war’s, er
allein in der Werkstatt; und er grauste sich.
Den Inhalt der Mappe brauchte er nicht erst zu vergleichen mit
den halb und halb oder ganz fertigen Malerarbeiten um sich her.
Er saß von ihnen abgewandt vor der Glaswand, unter sich abend¬
sonnige Dächer, in einem beständigen Schluchzen. In welcher Stadt
bin ich? fragte er. In welchem Leben bin ich? Wozu hier? Wie
alt? Wem gehöre ich zu? — Er wußte nichts außer dem Zermalmenden:
daß er an der Unsterblichkeit vorüberging, — aber ein Chor ver¬
schütteter Stimmen schrie: Umkehr!
Er brauchte keinen Entschluß zu fassen; er war ganz fertig, als
er vor der Tür den Schritt seiner Frau vernahm, dem er anhörte,
daß die Liebe zu ihr schon lange so flüchtig geworden war wie
Erinnerung. Da sie eintrat, stand er auf und sagte zu ihr:
„Liebe Jetta, ich habe eine alte Mappe geöffnet und gesehn, daß
es eben der letzte Augenblick ist, wo ich umkehren kann. Wir wollen
uns trennen und dankbar sein für die Zeit. Wir liebten uns, aber
ich glaube, wenn du dich recht besinnst, wirst du erkennen, daß wir
es nicht mehr tun. Es ist ein Schein wie die Bilder hier."
„Ich glaube," sagte sie, „du hast recht.“
Dann kam sie zu ihm, faßte seine Hände, blickte ihn gut an und
sagte: „Ich muß freilich bleiben, wo ich bin. Aber, Bruno, wir
kennen die Zukunft nicht, und wir können ja denken, daß nur eine
Pause nötig ist, und daß wir uns wiedersehn."
Sie begann zu weinen. Das war ihre Natur so, die durch das
ständige Theaterspiel bestärkt worden war in der Nachgiebigkeit
gegen Erschütterungen. „Hoffentlich“, sagte sie, „gerät’s dir zum
Segen.“
„Und dir auch“, schloß er dankbar und hoffnungsvoll.
Dies war in München. Am folgenden Morgen, einem Junitag,
lyi Albrecbt Scbaeffer, Das Gitter
um die Stunde, wo die Hauser der Bauern leer sind von Menschen,
die sich dann hier und da in den Wiesen sehn lassen, die Sense
schwingend oder den Rechen, trat Bruno in den alten Geruch des
kühlen Hausflurs und gleich links in die Wohnstube. Die war un¬
verändert, uud er wandte sich, und siehe da, zwischen Fenster und
TQrc im vollen Licht hing Toledo im Gewitter.
Später einmal, wenn Bruno an diese Stunde zurück dachte, so war
ihr Wesen kaum faßlich vor Unscheinbarkeit Das Bild hatte ihn
nicht erschreckt; er war sogar nahe getreten, hatte es auf Schaden
geprüft, und dann erst, als er vor ihm saß auf der Bank unterm
Fenster, hatte er erkannt, daß es ihn festhielt. Es hatte, dunkel wie
es war, Strahlen in ihn gesenkt, die im Spektrum nicht sichtbar sind,
ultra genannte Strahlen jenseits unsrer sinnlichen Grenze. Da war
sie wirklich geworden, diese hochgelegene Stadt, die in Feenschlössern
aus dem Weltuntergang hochflog, unter Wolken, über Wolken,
zwischen schwefligen Scheinen, eine geisterhafte Tänzerin aus Licht,
eine Erscheinung von Oberirdischer Sicherheit, von zerrissenen Talern
und Schlünden, von zerrissenem Gewölk und Himmel, von lauter
Zerrissenheit umringt. Bruno war hergekommen, um von vom an¬
fangend der Maler zu werden, zu dem er bestimmt war, und nun
saß er schon lange im Versagen. Unmerklich hatte ein Blitz seinen
Quell aufgesaugt, er war versiegt. Und als er es wußte, sah er im
Bild der Gewitterstadt das Bild seines Lebens gemalt, worin es den
einen Aufflug gegeben hatte, für Blitzesdauer, hinter dem die Nacht
in Zerrissenheiten versank.
Das war’s, was er sah, und es war genug, und es brauchte nicht
aus dem Gespensterlicht seines Bildes das traurige Antlitz zu treten,
das mit dem spitzen Bart und der spitzen Stirn, mit den abstehenden
Ohren, das Gesicht des schaurigen Griechen, das aus runden Augen
unter den Kreisbögen der Brauen ins Nichts blickend zum zweiten
Male zu Galba sagte: Du kannst nicht —
Eine Kinderstimme, laut aufweinend durch eine plötzlich geöffnete
Tür, weckte ihn aus der Erloschenheit Nun fiel ihm ein, wessen
er noch vor der Haustür mit Vorfreude und etwas Beklommenheit
eingedenk gewesen: daß er hier eine kleine Tochter hatte, im ersten
Ehejahre von Jetta geboren, ein Sommerkind, weil nur in den
sommerlichen Wochen der Erholung hier sichtbar, aufwachsend in der
guten Luft bei seiner Pflegerin und Erzieherin, ein stilles Geschöpf,
ihm wenig bekannt. Jetzt erinnerte er sich auch, daß nur die Wohn-
Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 195
Stube im Haus unverändert war; der Stall und der Heuboden waren
ausgebaut, ein neuer Stall und Boden daran, denn die Landwirtschaft
hatte er nicht aufgegeben und in den Sommern gern zu Sense und
Rechen gegriffen.
Bruno erhob sich und ging dem leiser gewordenen Weinen nach
in den Oberstock, wo eben eine Tür zufiel und das Weinen ver¬
stummte; öffnete behutsam die Tür und sah in den kleinen und
niedrigen Saal. Das Kind saß in seinem Schulpult am Fenster, die
Lehrerin hielt es am Ohrzipfel und skandierte: „Ei-ne die-bi-sche
El-ster“. Trotz der Sommerwärme waren die Fenster geschlossen und
die Luft übelmachend mit einem Gemisch von Medikamenten und
Parfüm. Unvernunft und Bosheit, die walteten hier im Verein.
Da er sich nun bemerkbar machte, so wandte sich das Gesicht
her, das zart war und lieblich trotz einer klüftig gebogenen Nase
und tiefliegender Augen, und gleich lag der kleine Leib und der
Kopf, groß von herumgewundenen lichten Flechten, an seiner Brust. —
Und Bruno begann die dritte Veränderung seines Lebens mit einer
Berichtigung der menschlichen Irrlehre, welche der Elster, einem
schönen und sinnvollen Vogel, weil er dasselbe tut und denkt wie
der Mensch, daß ihm nämlich wohlgefallt, was glänzt, und er sichs
verschafft, wenn er es sieht, einen Schandnamen machte aus seiner,
des Vogels, Unkenntnis der Gesetze. Danach wurde er, was sein
Vater gewesen, ohne freilich nur in einem Traum zu bedenken, daß
es so war: Bauer und Lehrer seines Kindes. Nur fing er, völlig ver¬
zichtend, das Bildschnitzen nicht an.
Das Kind Dorothee schien schmächtig und zart, aber die Blumen¬
gestalt war frisch und markig und zähe. Zwiespältigkeit schien ein¬
mal das Wesen der Galbas sein zu sollen, und so hauste im feinen
vornehmen Äußern dahier eine ländliche, wiesenliebende Seele. Die
Natur selber schien in das zärtliche Zeltlein der Menschenhaftigkeit
eingezogen und reichte sich selber von drinnen nach draußen die
lebendige Hand. Der mählich Heranwachsenden galt es ganz gleich,
schwitzend am heißen Bauch der Kühe zu zapfen, das Heu zu
wenden, Ziegen ans Licht der Welt zu verhelfen oder Blumen in
Töpfe zu ordnen, im Mondschein zu Traum zu werden und Märchen
zu hören, lange hinlauschend, aus der eintönigen Gesprächigkeit des
Brunnenrohres. Sie liebte das Ganze, liebte es mit dem Wesen, kaum
mit ihrem Bewußtsein, und Worte machte sie nie daraus, ausgenommen
*94
Albrecht Scbaeffirr, Das Gitter
die Kosenamen für ihre Hühner und Gänse und die erworbenen
Freundschaften der Elstern, mit denen sie endlose Kindsgeschwätze
vollführte. Bäume und Büsche und selber die strengen Felsen waren
ihr freundlich gesinnt, öffneten sich der liebevollen Vernunft, redeten
verständliche Sprache.
Schwerer wahrhaftig waren die, welche der Vater lehrte, denn es
wurde nun alles wieder wie einst: Homer kehrte zurück und Herodot,
Cornelius Nepos und Ovid, und die uralten Vene rollten in Perlen¬
frische über die willigen Lippen verjüngt. Nichts wurde es dagegen
mit der Malkunst. Sehr sonderbar allerdings war es für Bruno, zu
sehn, daß die zeichnerische Begabung des Kindes die seines Vaters
und Großvaters nicht nur vereinte, sondern übertraf; daß es aber
der allzeit verschwenderischen Natur beliebt hatte, an dem sonst voll¬
kommenen Organismus diese Blüte zu Uberzüchten, sodaß sie un¬
fruchtbar blieb, unbefruchtbar vom Geist des Lebens, eine erstaunliche
Fingerfertigkeit, unabhängig von allen doch vorhandenen Seelekräften,
für das Kind selber ein Müßigspiel, Tand und Vergnügen. In
späteren Jahren zwar schien es, als sollte Kunstgewerbe daraus werden;
Phantasie griff doch zu, schuf geheimnisvolle Zusammenfassungen und
-Stellungen kristallinischer, pflanzlicher, tierischer Formteile, in denen
der Verstand des Vaters, oder ihr eigener, Muster für Buchpapiere
erkannte, oder für Töpferwaren, oder für Stickereien. Allein sie blieb
bei den Nadelarbeiten, die auch am besten paßten zu ihrem früh
fraulich werdenden und dem häuslichen, ländlichen Wesen. Daß es
bald fraulich wurde, war gut eingerichtet von der Natur, die sich
gern fordern ließ von der kindlich erratenen Einsamkeit des gatten¬
losen Mannes. — Es war alles wohl eingerichtet im Haus; die Mutter
konnte dabei sein, wenn sie wollte, sie störte keinen. Freilich, da
hier keiner Neigungen hatte, die sie, außer einen Sommertag lang,
teilen konnte; da, je schöner der Sommer war, in der ständig ver¬
größerten Wirtschaft keiner Zeit hatte für sie: so kehrte sie immer
seltener und zu kürzerem Aufenthalt ein. Brunos vergangene Liebe
stellte sich nicht wieder her, und die letzte Wärme der ihren erlosch
aus Mangel an Nahrung. Sie lernte, soweit sie noch dessen bedürftig
war, das Ihre in den Städten zu finden. Den Rest nannten sie Freund¬
schaft.
Ich weiß nicht, ob Bruno in jenen Jahren auf die Frage: Bist du
unglücklich, Freund, oder glücklich? eine Antwort zur Hand gehabt
hätte. Vielleicht hätte eine Frage ihn erinnert, ihn geweckt wie den
Albrecht Schaeffer, Das Gitter 295
Wandler im Mond und gestürzt. Es fragte aber nie jemand, zum
wenigsten er selber. Der gegen sich selbst gerichtete Wille des
Menschen ist eisenstark, und er ist es mit einem geheimen Triumph,
wenn es gilt, einen Teil des Ichs zu verkerkern. Hier war dazu nur
nötig gewesen, Toledo im Gewitter zu entfernen, und — wer sich nie
im Spiegel erblickt, muß wohl seine Züge vergessen. —
Dorothee stand nun in ihrem siebzehnten Jahre, in festen Schuhen,
zierlicher Gestalt, blond wie das Korn, tiefäugig wie der Wald, eine
ausgedachte Freude der Natur, ln diesem Sommer blieb ihre Mutter
länger im Hause, als den eigentlich Hineingehörenden erträglich war,
zumal die Äußerung erschreckte, sie wolle ganz dableiben. Das führte
insgeheim zu leidenschaftlichen Beteuerungen der Tochter an den
Vater: was die Mutter nur wolle; er habe ja sie, die ewig bei ihm
bleibe, ewig, — so ewig, daß es ihn stutzig machte, daß er sie ins
Auge faßte, sie reif geworden fand und, für sich selber erschreckend,
inne wurde, daß er mit ihr nicht verfahren durfte wie sein Vater
mit ihm.
Jetta, die Mutter, war ihres Treibens müde geworden und nahe
daran, bitter zu werden. Sie hatte im vielfältigen Wechsel ihres Theater*
lebens die immer gleichen Schnüre zu hissen bekommen, an denen sichs
drehte; sie hatte die Höhe ihres Könnens erreicht, glaubte zwar, sich noch
sicher auf dem Kamme zu halten, aber wo kein Aufstieg mehr war,
da auch keine Freude. Von Niedergeschlagenheit erfüllt, bildete sie
sich ein, nicht nur die Bühne — mit soviel Ekel beschmutzt —, son¬
dern die ganze bewegte Buntheit der Zusammenhänge entbehren zu
können; und jedenfalls ließ sie mit Wohlbehagen die tausend imsicht¬
baren, kleinen, doch scharfen Beißzangen der Gebirgsluft ihr Gesicht
benagen, Puder und Farbe aus den Falten säubern, die sie gleichzeitig
mit den ländlichen inneren Mitteln zu glätten bemüht war. Die kaum
Vierzigjährige begann in der Tat zu blühen, und sie sagte: Wo ich
blühe, da bleib ich.
Aber es kam der Herbst, die Fanfaren der Theater bliesen zum
Angriff in aller Welt. Jetta wollte nicht spielen, sie wollte nun spielen
sehen, und Bruno willigte aus verständlichen Gründen ein, sie nebst
Dorothee für kurze Zeit nach München zu begleiten. Dorothee war
untröstlich und flehte tausendmal, sie zurückzulassen. Allein Bruno
blieb fest, nach München zu fahren, um dort, endlich, seine Schwester
'wieder zusehn.
Albrecht Schacffcr, Das Gitter
Das hatte er nicht geahnt, das bedachte er am wenigsten in dem
wunschlosen Augenblick, wo er, der späten Oktobersonne froh, an
der Bank im Englischen Garten, auf der Heike saß, seine Tochter
vorüberführte. Heike sprach, auf ihren Sonnenschirm gestützt, zu einem
fremden Kind, Ober das sie sich beugte; sie blickte auf und traf seine
Augen, aber sie erhob sich augenblicks, als ob sie die beiden erwartet
hätte, und sagte: „O Bruno, deine Tochter!“ Und weiter: „Bruno,
wie gleicht sie unsrer Mutter!“
Sie war sehr lebhaft, übernahm selber die notigen Aufklärungen
an das Kind — auch hier jedes richtig erratend —, und Bruno hatte
Zeit, sich zu sammeln und zu erkennen, daß es überflüssig gewesen
war, zu erschrecken. Dies war nicht Heike; es war eine wundervolle
mütterliche Frau, blühend oder reif, wie man will, in jener Frist der
Alterslosigkeit, schön, als ob sie von Feuerbach gemalt und lebendig
geworden wäre, und sie konnte ja recht wohl seine Schwester sein.
Dorothee, von drei Münchener Tagen in sich gescheucht, entfaltete
sich beglückt wie ein Zitronenfalter an der großen und herzlichen
Blume; am Ende kam Bruno sich vorübergehend vor wie die ausge¬
hülste Puppe dazu.
Sie berichteten sich einiges aus dem inzwischen vergangenen Leben,
und wenn Heike auch nur die Stücke sehn ließ, die dem Auge des
Mädchens zuträglich waren, so kann doch das Ganze hier mitgeteilt
werden.
Am Morgen nach jenem Tag wartete Heike eine neuerliche Be¬
drängnis durch den Onkel nicht ab; sie warf sich auf ihr Pony und
jagte es die halbe Gehstunde zum Gute des jungen Gerhart zur Pahlen.
Als er das Zimmer, in dem sie zu warten hatte, betrat, war sie an
der hinter sich geschlossenen Tür stehen geblieben und stieß hervor:
„Ich schenke mich Ihnen! Da haben Sie mich!“ die Worte fast zornig
wiederholend, weil er sie augenscheinlich nicht gleich verstand; worauf
sie auf einem Stuhl in Tränen ausbrach — Sie hatte aber viel Glück,
ja, sie gründete ein langes wachsendes Glück mit dem heftigen blinden
Schritt. Gerhart blieb vom ersten Tag bis zum letzten der Ritterliche,
Dankbare, Beflissene. Leidenschaft kannte er nicht; er liebte sie, so¬
lange der Zustand Liebe genannt werden konnte, und ging danach
Über zu der achtsamen Freundlichkeit, die ein guter Halt der Mehr¬
zahl von Ehen ist, die glücklich genannt werden, und nicht nur von
den Zuschauenden. Die innerlich wie verwandt Gewesenen mußten
sich allerdings mit der Zeit entfremden. Er war Landwirt, aus Freude
Albrecht Schaejfer, Das Gitter 297
und mit Verstand; da er alle geistigen Reiche gutherzig „Südamerika“
nannte, ein Land, das er nie zu besuchen gedachte, so war folglich
sein aristokratisches Leben in zwei ungleiche Hälften geteilt: Arbeit
und Erholung, wie er sagte: Mistfahren und Stadtfahren, nämlich in
den Kreis seines Regiments und dessen Vergnügen an Pferden, Tänze¬
rinnen, Wein und Spielkarten, deren verschiedene Arten er sämtlich,
weil ohne Leidenschaft, zu niemandes Schaden betrieb. Sie dagegen,
Heike, hatte ihr Cello und ihren Sohn.
Der hieß Hans Wilke, war aber ein Galba und sah daher nicht so
aus. Seine an Bruno erinnernde Länge konnte sehr wohl vom Vater
und den Pahlenschen Vorvätern herrühren, doch saß auf dem land¬
adeligen Rumpf ein kleiner Kopf, schwarzhaarig und mit einem Gesicht,
das in der Wiege quittengelb gewesen war, später sich ins Olivene
färbte, — und Bruno erkannte mühelos, trotz bläulicher Augen, die
Züge seines Vaters wieder. Dem glich er auch darin, daß er Bauer
war, nur freilich mit einer mehr bewußten Leidenschaft als jener.
Zu diesem hatte er, ohne geistig in irgendeinem Betracht fruchtbar zu
sein, einen scharfen Verstand, Neigung zur spekulativen Philosophie,
— in den Mußestunden versteht sich und auch dann nur, soweit es
die andre, für seine Mutter freilich beste Begabung zuließ, die für
Musik. Wohl ging ihm die vollkommene Musikalität seiner Mutter
ab; aber das Klavier behandelte er musterhaft, allein, als Begleiter des
Cellos, im Trio und Quartett. Nun war er neunzehnjährig, hatte eben
die landwirtschaftliche Hochschule hinter sich und war jetzt mit den
Eltern in München, um sich auszuwechseln, Musik zu hören und die
Berge zu sehn.
O ja, das war Heikes Leben gewesen. Im Garten wandelnd trafen
die drei noch Hans Wilke, und Heike sagte, mit Bruno hinter den
Jüngeren zurückbleibend —, ohne viel von ihm erfahren zu haben,
alles ablesend von seinem Gesicht; sie sagte: „O Bruno, ich glaube:
ich bin immer glücklich gewesen!“
„Frauen“, erwiderte er, sich angegriffen fühlend, „können wohl gar
nicht unglücklich werden.“
„Wenn sie Mütter sind“, sagte Heike.
Er beschloß: „Ich bin ja zufrieden.“
Ihr Mann, den Bruno dann kennen lernte, enttäuschte, weil sie ihn
sehr gerühmt hatte; indes gestand sie Bruno hernach, sie sehe ihn auf
einmal anders in seiner Gegenwart und habe ihn wohl lange schon
in der Blüte seiner jüngeren und der ersten Ehejahre gleichsam
298 Albrecbt Scbaeffer, Das Gitter
gefroren gesehn, überdies im alles verklärenden Licht ihrer Leidenschaft
zu dem Knaben, dessen Vater er war. — Mit Aussehen, Gehaben und
Kleidung in blonder Länge eine vollkommene und etwas altmodische
Vornehmheit darstellend, beunruhigte er Bruno durch die unveränder¬
liche Starre der im (Iberschmalen Gesicht flach angebrachten Augen,
welche den, welche sie ansahn, nicht zu erblicken schienen. Wenn
er den Humor, den er hatte, allein zu Offenbarungen seiner äußersten
Langweile benutzte, so langweilte die Hörer trotz der geselligen Form
die Öde des immer gleichen Gegenstandes. Er war schlaflos vor
Langweile, äußerte Ober die Münchener Pracht-Straßen, daß die Aus¬
dehnungen ihres Gähnens immerhin etwas Löwenhaftes an sich hätten,
und prophezeite, sie würden ihn eines Tages mit unerwarteter Schnelle
in die Flucht schlagen, — bis ihn der liebenswürdige Stachel der Jetta
bewegte und er sich zu ihr gesellte.
Während nun diese die Theater besuchten, in den anschließenden
Nachtstunden die anschließenden Orte der Erheiterung, und infolge¬
dessen die Morgende verschliefen, führte Bruno die anderen drei
durch Museen und Galerien, zu schönen Fassaden und Kirchen, ins
Isartal und nach Starnberg, wobei ungezwungen die Paare wechselten,
sie am liebsten jedoch viersam blieben. Hans Wilke nämlich und
seine Mutter hatten das größte Behagen daran, ihre Stimmen zu er¬
heben, miteinander zu streiten, sich zu Überschrein. Die Dorothee
fügte sich sauber dahinein, doch Bruno erklärte sich für die Pauke,
die meisthin pausierte, dann aber erschreckte.
Bruno war tiefinnen mit sich selber beschäftigt. Ein Bild, der
Entwurf zu einem Gemälde, hatte sich auf dem Punkt wieder ge¬
zeigt, da er Heike erblickte, als hätte ihr aufgeschlagenes Auge es
ihm zugeworfen. Der Entwurf stammte aus seiner ersten Münchener
Zeit, aber er hatte von der schwierigen Komposition nichts zustande
gebracht als eine hingeknirschte Karikatur, die, weil das Bild der Sturz
des Ikarus sein sollte, den Sturz eines Papierdrachens darstellte. Das
Bild, ein Hochrechteck, war so beschaffen, daß in die unteren Bild¬
ecken sich je eine große, noch unbestimmte Gestalt voll Entsetzen
hineinkrümmte, dem Mittelgrund zugewandt, wo die Gestalt des
Stürzenden, die Arme in Kreuzform gebreitet und Kopf nach unten,
anscheinend dicht über dem Erdboden schwebte, das Gewand an ihr
wie ein Dreiecksegel, oben um die Füße gewickelt; verflattemd. Doch
war zu sehn, daß diese nach dem Maß der natürlichen Perspektive
i99
Albrecht Scharfer, Das Gitter
viel zu große Figur Ober einer Tiefe hing, die vorn von einer An¬
hohe verdeckt wurde. Von dem, was sie erfüllte, war dem Maler
nichts deutlich als eine Meerbucht, von rechts her ins Bild gerundet;
doch war dieser Busen, weich, aber in vergeblicher Tiefe, von einer
— wie verdorbener Wein — braunen und so schrecklichen Farbe, daß
er sich entsetzte, sobald er ihrer recht inne wurde. Die Farbe der
Anhohe sollte ein schreiend wollüstiges, ein nie gesehenes, aber
tausendmal leiblich empfundenes, ein zischendes Grün sein, und die
Gewandfarbe des Stürzenden ein düstres, nach oben ins Blaue ver¬
jagtes Rot. Die Körper vorne waren wohl nackt, rosig und irgend¬
wie violett angeschattet. Es war Bruno klar, daß der Schatten des
Greco über diesen Furchtbarkeiten lag, aber das Bild brauchte nur
ent das Meisterstück zu sein, die Meisterwerke verhießen sich hinter
ihm. Die Arbeit daran und das Schwere waren nicht die Farben, die
nur ein Blitz darin anzünden konnte, sondern der Aufbau nach oben,
all die Linien und Flächen, die sich aneinander vorüber schoben und
drängten, so verdrückt von dem hineingekeilten Sturz aus dem Raum.
Und während nun Bruno nach außen hin ununterbrochen be¬
schäftig war, mit Erklärung von Bildwerken oder Architektur,
Musik hörend oder auf die Wortgefechte seiner Gesellschaft, war in
seinem Innern die Stille und lag darin ein Wesen, das seelische
Untier, saugend mit allen Gewalten jenen Schmerz der Farben und
die unmenschlichen Verschobenheiten aus der dämonischen Leere der
Unendlichkeit. —
Diese schnellflügligen Münchener Wochen fanden einen merk¬
würdigen, einen beinahe lächerlichen Abschluß. Bruno und Heike
wurde ein an beide gemeinsam gerichteter Brief ihrer Ehehälften
überreicht, in dem sie in wenigen herzlichen Wendungen ihr geselliges
Verschwinden anzeigten. Daß jeder der Bleibenden einen leiblichen
Trost zur Seite habe, hatten sie, sich zum Trost, auch hineingeschrieben.
Heike war doch erschreckt und sagte: „Sie werden den Irrtum bald
einsehn u , worauf Bruno erwiderte, vorderhand müßten er und sie sich
wohl anders einrichten. Da erkannten sie zu zweit, was hier vor sich
gegangen war. Jene beiden — oder das Schicksal — hatte sie zusammen¬
gefügt. Kam es ihnen für einen Nu so vor, als ob sie zwei Menschen
wären, die von verkehrten Ehen befreit, nun heiraten könnten? Und
griffen sie deshalb sich zusammen, lächelten sich an, erfaßten sich bei
den Händen, um sich zu beteuern, daß sie nun zu viert ein köstliches
Leben anfangen würden? Es kam hierdurch, daß er die Schwester
300 Albrecbt Schaeffer, Das Gitter
brüderlich an sich zog, und obwohl er nicht erwartete, daß die Küsse*
gewohnte ihm die Lippen reichte, die ohnehin durch ihre körperliche
Größengleichheit dicht vor den seinen waren, so gelang dieser Kuß
auch vollkommen.
„Brüderlein!“ sagte sie leise. „Schwesterlein“, gab er das Echo.
Dann sprachen sie schnell von andern Dingen, ihr Ohr vor etwas zu
schließen, das sehr fern, aber schaurig geklungen hatte.
Allerdings waren sie nun doch sehr überrascht, und sie kamen lebhaft
sprechend überein, die Jetta für die Anstifterin zu halten, für die
Treibende jedenfalls zu dem tatsächlichen Schritt. Wie Heike ihren
Mann kannte, so urteilte sie, daß es sich für ihn nur um ein bewegtes
Erlebnis handle. Der allzeit Unleidenschaftliche, nie sich Nachgebende
mußte wohl, wie ein jeder, einmal im Leben die Handlung begehn,
die ihm vorgeschrieben wurde von einer Macht über ihm; und weil
es nicht eher geschehn war, so war dieser Zeitpunkt der Lebenswende
der natürliche. Überdies, wie seine Frau ihm bekannt war, durfte er
sicher sein, jederzeit wieder aufgenommen zu werden, wenn auch nur
als Vater seines Sohnes. Bei Jetta hingegen befeuerte sich der Schwung
des Erlebens gewiß durch die Aussicht auf aristokratischen Glanz und
großen Gesellschaftsverkehr über benachbarte Güter und Auslandreisen.
Fast ruhiger nahmen die Kinder die Sache auf. Dorothea versicherte
sich nach dem ersten Schreck der Gefaßtheit ihres Vaters und trug
ihre Gleichgültigkeit offen. Ähnlich verfuhr Hans Wilke, der etwas
väterlichen Humor übernahm und zunächst meinte, dies lasse sich ja
fast wie Südamerika an. Worauf die Angelegenheit abgetan ward mit
seiner letzten Äußerung: Ergeh es ihm nicht wie Onkel Guido.
Das war Heikes Vormund, welcher sich J>ald nach ihrer Heirat mit
einer Sängerin versorgt hatte. Was er den Geschwistern zufügte, hatte
er selber als einen kleinen Streich bezeichnet, und die rächende Nemesis
verfuhr sehr gerecht, da sie ihn nur gelinde betrügen ließ.
Bei dem inneren Malen beharrte Bruno, auch nachdem er mit Heike
und den Kindern in sein Haus eingekehrt war. Die Jahreszeit war
Oktober, und da die umfängliche Wirtschaft so von ihm eingerichtet
war, daß ihm selber die Hauptarbeit oblag, so hatte er den Tag über
keine Hand frei. Die Kartoffeln waren zu ernten und einzumieten,
das Obst zu brechen, alle Gemüse hereinzuschaffen, und zur Haupt¬
sache kehrte das Vieh von der Alm — zweiundzwanzig Rinder und der
Bulle —, war zu verpflegen, und wie jedes Jahr stellte sich heraus, daß
301
Albrecbt Schaff er. Das Gitter
noch Streu zu schlagen war, nämlich Schilf unten in der Au des Stroms,
das von Rindern mühselig und langsam heraufgeführt wurde. Hans
Wilke griff munter zu, vornehmlich mit dem Munde, die längsten
Reden haltend, weil es nah und fern keine Stelle gab, an der nicht
eine Verbesserung anzubringen höchst nötig war. An den Obstbäumen
ärgerte er sich insbesondere; sie gehörten nicht zur Wirtschaft, so
reichlich sie standen, sondern waren die einzige nahezu mühelose Frucht
für den Bauern der Gegend; nach Hansens Meinung schändlich ver¬
wahrlost, weil ganz ohne Händepflege, die allein den raupen- und
larvenlesenden Singvögeln überlassen wurde, und zahlreich waren die
nicht.
Dorothee zwitscherte von Tätigkeit, aber für Heike war die Land¬
wirtschaft eine zwar erfreuliche und gesunde, aber für sie selber exo¬
tische Sache, deren Einzelverrichtungen sie gerne zusah, äußernd, daß
sich auch von anderer Arbeit gut schläfrig werden lasse. Also wechselte
sie von dem mangelhaften Klavier, das im Haus war, zum Zuschauen
Brunos, wenn er, fast verschwunden im mannshohen Schilf, mit der
zischenden Sense darin herumrauschte; oder sie hieß ihn in die Obst¬
bäume steigen und entleerte, neben dem Korbe im Grase sitzend, den
Pflücker. Wenn er die Leiter herunterkam, gaben sie sich einen Kuß.
Jener erste Kuß — warum hatte sie nichts gewarnt? — war ein erster
gewesen. Die Möglichkeit der Küsse war eingerichtet, viele, unzähl¬
bare folgten, gekeimt aus dem ersten, und es ist fast ein Wunder zu
nennen, daß sie volle sieben Tage, daß sie eine Gotteswoche von
Montag zum Sonntag verbrachten, ohne eine Veränderung zu bemerken,
nicht die immer heißere längere Glut der Küsse, das Hinzukommen
der Umschlingung, und daß bald jeder nur mehr eine Verlockung
war für den nächsten.
Bruno schlief wie ein Toter des Nachts; sie versicherte ihm des
Morgens das gleiche von sich. „Nicht einmal“, fragte sie, „von deinem
Bilde träumst du?“ Er hatte ihr etwas davon verraten; auf solche
Fragen erwiderte er einmal mißmutig, es käme niemals zustande; ein
andermal erglänzend: er warte nur auf den Blitz, der das längst fertige
erlöste.
Und so kam der letzte Tag und die Flammenminute, wo sie an¬
einanderhingen, mit feurigen Mündern die Seele sich heraussaugend
aus dem Leibe, zusammengeballt und erdefem hineingeschwungen in
die Unendlichkeit, vorüberrollend am Paradies. Dann standen sie als
Zermalmte da; denn jetzt, was war es jetzt? Jetzt hatten sie Bruder
3oi Albrecht Scbaeffer, Das Gitter
und Schwester sein wollen; sie waren’s gewesen; und wie sie es nun
ans ahn oder nicht ansahn: jeder las von der Stirn des andern das
Zeichen. Bruno aber schrie — er schrie wohl zum ersten Male im
Leben —: „Das Schicksal will es, das Schicksal will es! Die Menschen
haben uns zusammengeworfen, jetzt wollen wir die Natur fragen!
Wenn wir Kinder kriegen, können wir sie und uns noch immer ums
Leben bringen, und haben wir keine, so spricht die Natur, und — oh
Gott! — sie kann wohl einmal die Ausnahme dulden!"
In dieser Nacht schlief Bruno nicht ein, sondern wartete nur elf
Uhr ab, da er in Feuer lag wie eine Zündschnur von Anfang bis
Ende. Im Innern des alten Hauses hatte er laut ächzende Dielen zu
fürchten. Die Außenwand seines Zimmers war, wie sein Vater sie
hatte machen lassen, aus Glas; er stieg durch die Fensteröffnung auf
die Altane und in die schon eisige Nachtluft hinaus, die er nicht
spürte, und ging um das ganze Haus bis zu Heikes Fenster. Ihm
wurde bewußt, daß es wie alle in dem bäuerischen Gebäude mit einem
Eisenkreuz vergittert war, doch auch, daß ihm, kaum daß er davor
stand, wie Schwanenhälse zwei nackte Arme zuflogen. Nun, was sie
jeder von Kleidung am Leib hatten, das riß er herunter; lautlos, weil
sie sonst geheult hatten, stürzten sie ineinander durch das Gitter. Das
waren nicht Küsse, das waren Blitze, die einschlugen und lange zischten,
und sie rissen sich blutig an den Stäben, sie mischten ihr Blut, tranken
ihr Blut, sie liebkosten sich getrennt bis zur letzten Lohe, und sie
stürzten als Ermattete auseinander, wie wenn ein gespaltenes Ganzes zer-
klafftc, und jeder rücklings in seinen Abgrund hinab.
Der Morgen war wie die vorigen kalt, klar und rein. Durch sein
Erwachen erfuhr Bruno, daß er im Schlaf gelegen hatte; nun fühlte
er sich eher leicht als erschlafft, ja, in der Tat wie durchlüftet im
ganzen Leib, und nur erst, als er aufstand, begann sein Schädel leise
murrend zu schmerzen. Er sah auf der Uhr, daß es später war als
gewöhnlich, und hörte es an der Stille im Hause.
Als er die Wohnstube betrat, saß Heike abgewandt auf der Bank
unterm nächsten der kleinen Fenster; den Kopf in die Hand gestützt,
blickte sie, da sie groß genug war, hinaus. Sie wandte sich nicht
und schwieg so wie er. Sein Frühstück stand auf der Ofenbank; ihn
hungerte, und er saß hin, aß und trank. Dabei sah er sie nun am
Fenster sitzen und bemerkte, daß ihre Haltung ähnlich der Iphigenie
Feuerbachs war; ähnlich auch die schwarze Verschlingung lockerer
Albrecht Schaeffer, Das Gitter joj
Flechten in ihrem Nacken, und ein weinroter, flordünner Schulterschal
ähnelte mit seinen bogigen Falten dem Gewände der Griechin. Nun
war die Zeile da: „Das Land der Griechen mit der Seele suchend**,
und vor seinem erbitterten Auge stieg es auf, Griechenland, wo sich
Jünglinge in Ringschulen und Jungfrauen auf Inseln umschlangen. — O
gäb es ein Griechenland! Wo wirkliche Freiheit wäre, wo die Lüfte
alles was Liebe ist segneten und verklärten und nur das nicht geilte,
was finster und knechtisch ist!
Überdem löste Heike ihre Haltung, legte die Unterarme auf den
Schoß, und wie sie den Kopf neigte, sah Bruno zum erstenmal wieder
den scheuen Aufblick der Augen. Sie sagte, die Kinder, die sie von
der Abreise habe verständigen wollen, seien nicht zu finden gewesen.
— „Wir wollen uns umsehen**, sagte er und stand auf. Dann neigten
sie einer nach dem andern den Kopf unter der niedrigen Tür.
Im Freien wehte es scharf durch die Sonne. Sie gingen am Hause hin,
abwärts, dann den Weg hin, der von ihm fortführte, unterhalb der Kuppe,
und machten bei dem alternden Birnbaum halt. Heike sagte: „Mag es
nicht hier gewesen sein, wo unsre Mutter vom Vater gesehn wurde?**
Er nickte und setzte hinzu: „Mag es hier angefangen haben und
mag es hier enden.**
Er faßte nach ihrem Gesicht; dabei wendete sie sich um, sah an
ihm vorüber und rief leise: „Die Kinder!** Auch er wandte sich.
Hans Wilke und Dorothee kamen neben dem weißen Hause her¬
vor und gingen an der Vorderseite hin, der Mann das Mädchen ver¬
deckend, so daß beim langsamen Schwingen seiner Füße ihre kleineren
Schritte dazwischen sichtbar wurden; und wie sie sprechend die Köpfe
hielten, war zu sehn, daß sie einig waren.
„Vater und Mutter**, sagte Heike.
Die oberen beiden machten halt vor der Haustür, das Mädchen
setzte sich auf die Bank, Hans lehnte am Türpfosten, und wie er re¬
dend sich beugte, und wie sie zuhörend nicht aufschaute, war zu sehn,
daß sie schon lange einig waren.
„Wo hatten wir unsere Augen all die Zeit?** murmelte Bruno. —
Heike erwiderte: „Sie sehn uns ja auch nicht.**
Aber in demselben Nu, wo oben das Mädchen ihre Arme hob und
hinter dem sich Bückenden verschwand bis auf ihre über seinen Schul¬
tern liegenden Hände, ging in den unteren beiden etwas Unbeschreib¬
liches vor sich. Etwas, das beschrieben werden kann in seiner Gestalt,
doch unmöglich in seinem Wesen.
304 Adolf Weißmann, Moderne Musik
Die Gegend oben entrfickte sich; das weiße Haus begann ein Gold
aus sich zu strahlen, das nicht irdisch war, und $0 groß und deut¬
lich es blieb, war es nun in wolkiger Höhe gelegen. Die Umschlungenen
vor ihm verwandelten sich; ihre Kleider fielen nicht ab, und doch
schimmerten sie wie klare Nackte, schimmerten sie wie beglückte Be¬
freite, reine Geschöpfe der Natur, und als wäre der Dämon Geist ein
Fluch und eine Wolke gewesen und von ihnen genommen.
Die beiden unten jedoch, die dieses Gesicht erzeugten, spürten im
Gefühl einer beseligenden Entkräftung ihr Blut von sich gehn und in
diese so sehr Geliebten hineinschwinden. Das Gitter war gefallen. Sie,
befreit und geklärt, er befreit und zu allen Aufgaben gekräfter, voll¬
endete Geschwister: sie sahen, sie hörten über sich auf dem festen
Berg ihr lange getrenntes Blut zu einem großen und dauernden Brausen
zusammenfließen.
MODERNE MUSIK
von
ADOLF WEISSMANN
D er Kunst und unter den Künsten zunächst der Musik fiel nach
allgemeinem Urteil die Aufgabe der Weltversöhnung zu. Aber je
verzweigter das Leben geworden ist, desto stärker offenbaren sich die
Zusammenhänge zwischen Kunst und Weltwirtschaft. Diese mächtigste
Großmacht scheint auch heute noch trennen zu wollen, was sich nach
Vereinigung sehnt Freilich wird sie den Zuzammenschluß alles
Produktiven nicht endgültig hindern können.
Die deutsche Musik galt als seelenerweichende Macht Sie war
darum während der dunkeln, schrecklichen Jahre, die wir durch¬
schritten haben, drüben ausgeschaltet, bei uns wiederum einziger Trost,
von dem man nur allzuviel Gebrauch machte. Die Furcht vor dem
Suggestiven der Musik aus politischen Gründen ist nun zwar im
ganzen überwunden, man beginnt auch seelisch abzurüsten, aber die
wirtschaftlichen Hemmungen bleiben stark genug, um eine gewisse
Blindheit vor allem auch in unserer Mitte zu erhalten.
Wie die Dinge jetzt liegen, ist das Heil der Genesung zunächst
von dem nachschaffenden Künstler zu erhoffen, der sich zum Sprach-
Adolf Weißmann, Moderne Musik 305
rohr des Schaffens macht. Nach dem Mahlerfest in Amsterdam, das
mindestens den Schein des Internationalismus für sich beanspruchen
durfte, ist nun das amerikanische Richard-Strauß-Intermezzo be¬
deutungsvoll. Man kann ja wohl in keinem Schaffenden wie in
Strauß die Zusammenhänge zwischen Musik und Weltwirtschaft be¬
obachten. Strauß ist ein hoher wirtschaftlicher Wert. Seine suggestive
Kraft wird im Zentrum der Weltwirtschaft, in den Vereinigten Staaten,
kapitalisiert. Und zugleich kann der Mann, der den Taktstock in
eigener Sache ergreift, erproben, ob die Absperrung Deutschlands von
der Weltmusik ihn selbst, den Generalnenner der deutschen Musik
für das Ausland herabgewertet hat Vielleicht ist für die Welt¬
bedeutung der deutschen Musik nichts so entscheidend wie das von
Frankreich so sehr umworbene Amerika, dieses Paradies darstellender
Kunst. Man wird wohl nirgends in der Welt die Anfänge einer
musikalischen Atmosphäre bestaunen können wie hier, nirgends wie
in diesem scheinbar kunstverlassenen Lande das inbrünstige Suchen
nach dem großen Unaussprechlichen finden, das Musik ist Die ganz
einzige Hochschätzung eines tief menschlich musizierenden Künstlers
wie Fritz Kreisler, die nun vergebliche Sehnsucht nach dem Klang¬
lyriker Nikisch ist ja nur aus diesem tiefen Drang zu einem Absoluten
hin zu erklären, der sich inmitten aller Sensationslust kundgibt
So stehen wir mitten in der Bewegung unserer Zeit Diese ist
auch ftir die Kunst, für die Musik, im höchsten Grade kritisch. Man
hat das Gefühl, einem Chaos gegenüberzustehen. Alles scheint ab¬
genutzt. Das Emotionelle, das Atemlose hat zunächst eine Rauschheit,
dann eine Plötzlichkeit der Modulation hervorgerufen, die nun wieder
zu einer Entwertung der Harmonik geführt hat. Das Gehirn, das
sich der gefährlichen Lage der Musik bewußt wird, sucht diesem
scheinbaren Zusammenbruch in einer rücksichtslosen Kontrapunktik einen
Wall entgegenzusetzen. Man spürt in dieser Gewaltsamkeit Wirkungen
eines chronischen Angstgefühls, die Quellen des Schöpferischen werden
getrübt, nicht der gerade Weg, sondern ein Umweg, allerlei Umwege
zu einem Ziele werden gesucht. Während das Gesicht der Musik
durch diesen Krampfzustand verzerrt scheint, gibt es doch Anzeichen
genug für einen schöpferischen Willen, der Teilerfolge zeitigt. Atona-
lität als System ist Verneinung; wer sie mit Bewußtsein sucht, endet
notwendig in einer Sackgasse. Es gibt keine Musik ohne tonalen
Mittelpunkt. Sie müßte sonst auch architektonisch zusammenbrechen.
20
306 Adolf Weißmann, Moderne Musik
Aber es gibt ein unbegrenztes Reich zwischen Tonalität und Atona-
lität, in dem sich nur der durch den Kompaß einer zielsicheren
Empfindung Gelenkte zurechtfindet.
Merkwürdig genug: eiije überintellektuelle Musik scheint alle
Fäden zur Urmusik zu zerreißen, und gleichzeitig knien gerade die
von ihr Ergriffenen vor der Einfalt eines Bruckner und vor der Schein¬
einfalt Mahlers. Darüber hinaus verehren sie Mozart als das ewige
Wunder verlorener Unschuld der Musik. Zwischen Mahler und
Schönberg, der am bewußtesten ein Jenseits des Landläufigen sucht
und alle Brücken zur Gewohnheitsmusik abbrechen will, ist ungefähr
das weite Gebiet widerstreitender Musikempfindungen für die deutschen
Musiker und Musikfreunde eingeschlossen.
Und nun fragen wir: wie ist aus diesem Musikempfinden heraus
unsere schöpferische Beziehung zur Umwelt wieder zu knüpfen? Wie
ist der musikalische Austausch, der heute die Vorbedingung eines
fruchtbaren Eigenschaffens der Völker ist, wieder herzustellen?
Der Ausländer, der uns jetzt aufsucht, findet zu seinem Erstaunen
das deutsche Musikleben völlig im Banne der klassischen Romantik.
Hatte er sich während des Krieges der seelenerweichenden Macht
dieser Vergangenheitsmusik nicht ausgesetzt, so ist sein Erstaunen be¬
greiflich. Denn das Tempo des musikalischen Denkens ist im Ausland
sehr viel schneller geworden. Man hatte kurz vor dem Kriege in
Paris das deutsche Lied in sich einzusaugen begonnen, man war in
England und Amerika längst für die romantische deutsche Gefühlsart
gewonnen. Zugleich aber begann unter den Schaffenden, die das
Romantische überwinden sollten, Schünberg als eine Macht zu gelten.
Verkürzung des Ausdrucks: das ging als Leitwort durch die Welt.
Die musikerfüllte Malerei und die malerisch gerichtete Musik hatten
ein Stück Weges vom Impressionismus aus abgeschritten. Arnold
Schönberg und Igor Strawinsky bedeuteten die zwiefache Auslegung
des gleichen Grundgedankens. Diese beiden Hirne beherrschten alle,
die eine Umformung der Musik wollten. Während diese Wenigen
als treibende, lösende, umwertende Kräfte wirkten, lebte die Bourgeosie
mit ihren Göttern. Richard Wagner hatte ihre Sehnsucht befriedigt,
Richard Strauß hatte sich dem Bourgeois stark genähert
Seit t j> t4 stand Deutschland in einer Sonderentwicklung. Das Schlag¬
wort, das durch die Welt flog, hatte hier eine Erstarrung in den
Formeln des Modernismus hervorgerufen, während zugleich der deutsche
Adolf Weißmann, Moderne Musik 307
Bourgeois sich inbrünstiger noch als früher in die Vergangenheit
zurückwandte. Jenseits der Sperre aber war, nach völliger oder doch
nahezu vollständiger Ausschaltung des deutschen Einflusses, gleichfalls
eine Einseitigkeit entstanden. Von allen Hemmungen der Tiefe befreit,
schwelgte die musikschaflende Umwelt in einer oft unernsten Mo¬
dernität. Witz, Ironie, Groteske ohne tiefere Bedeutung schienen zur
Herrschaft gelangt.
Das offenbart sich nun, da der Schleier fällt. Aber wenn Modernität
überhaupt ein Bastardwort ist, wenn der neue Geist überhaupt ent¬
wicklungskräftig ist, dann läßt sich die Gemeinsamkeit der schöpfe¬
rischen Idee bald wieder hersteilen.
Herzustellen ist sie nur durch einen neuen Rhythmus. Die auf¬
bauende Kraft des Rhythmus wird auf allen Seiten wiedererkannt.
Nur seine Deutung ist verschieden. Es gab eine Zeit der Musikent¬
wicklung, da Rhythmus innerhalb der Taktlosigkeit gedieh. Das war
die Periode musikalischer Unschuld. Kaum aber war der Takt in
die Musik eingetreten, wurde er auch schon ihr Tyrann. Diese
Tyrannei war am stärksten im deutschen Sprachgebiet, wo der Marsch
als Ausdruck des Schrittgeftihls zur höchsten Entwicklung gelangte.
Der Tanz war sein Genosse. Die Blütezeit dieser festgefügten Rhythmen
war zugleich die der sogenannten klassischen Musik. Die Romantik,
die das Moment der Farbe als herrschend in die Musik einführte,
hat am Rhythmus gebohrt und im „Tristan“ einen endgültigen Sieg
der antirhythmischen Elemente davongetragen. Allem Willensschwächen,
das sich schöpferisch betätigen wollte, lag im „Tristan“ das große
Beispiel vor. Und noch Debussy gründet seine ganze Eigenkunst
letzten Endes auf ihn, so daß man die Müdigkeit der „Pelleas und
Melisande“ musikalisch von einem herleiten kann, der freilich die
Kraft hatte, sich von der Erschlaffung der Vorhaltmusik in der C-dur-
Herrlichkeit der „Meistersinger“ zu erholen. Hier scheint wiederum der
Marsch zu Ehren gebracht. Aber wir spüren sehr wohl, wie sich das
Tristanerlebnis mit dem Ausdruck urdeutscher Männlichkeit hier kreuzt.
Der Einbruch der Nerven in das Reich der deutschen Oper ist nicht
mehr rückgängig zu machen.
Debussy, der Meister reizvoller Kraftlosigkeit, der die Kunst der
Nuance recht eigentlich durch assoziative Verknüpfung des Malerischen
mit dem Musikalischen ersonnen und beschlossen hatte, fühlte am
qualvollen Ende seines Lebens die Notwendigkeit, dieses Assoziations-
$o8 Adolf Weißmann, Moderne Musik
Verhältnis möglichst zu losen und eine neue Klassizität zu begründen.
Sein Streichquartett war das letzte Zeugnis seiner kammermusikalischen
Kunst gewesen. Seitdem hatten sich, unter Mitwirkung der Schwester¬
künste Malerei und Poesie, sehr rasch die Wandlungen vollzogen, die
zu einer offenbaren Entwurzlung des Rhythmus führten. In der Tat
war die in Debussy wirkende rhythmische Grundkraft jener Klein¬
rhythmus gewesen, der schon die Kunst eines Couperin trug und zum
Aufbau großer Formen ungeeignet war. Während also in dem
Wallonen Clsar Franck aller Einfluß der Liszt-Wagnerzeit die rhyth¬
mische Kraft nicht hatte zerstören können, war sie in Debussy von
Hause aus zu schwach, um das Gebäude einer architektonisch groß
entworfenen Kunst zu tragen. Als er darum, in der Zeit seiner
Krankheit, wieder Sonaten ftir verschiedene Instrumente zu schreiben
begann, war er doch trotz höchst entwickelter Meisterschaft nicht
stark genug, die neuklassische Nachblüte seines Schaffens mit einem
zwingenden Eigenwesen zu durchdringen.
Die wunderbare Illusion, die Debussy in die Welt gesetzt hatte,
war also von ihm selbst halb verleugnet. Mit der Rückkehr zur
Kammerkunst hatte er zugleich die Notwendigkeit eines neuauf¬
bauenden Rhythmus verkündet
Dies ist die Erbschaft, die er dem jungen Geschlecht hinterließ.
Dieses Geschlecht hätte ja nun ihren Weg von Richard Strauß
nehmen können. Wer so dächte, würde die ganze Richtung der
musikschaffenden Jugend mißverstehen. Strauß gilt ihnen als durch¬
aus diesseitig. Wohl hat er im Rahmen materiell gerichteter Kunst
eine aufbauende rhythmische Kraft wie kein anderer bewiesen. Aber
darum eben handelt es sich: nicht etwa einen körperlich, sinnlich ge¬
nährten Rhythmus zur Tragkraft der neuen Musik zu machen, sondern
ihn aus der metaphysischen Sehnsucht neu zu gebären. Man gesteht
Richard Strauß zu, daß er im Sinne seiner gestaltenden Idee die
Sonate in seiner sinfonischen Dichtung von der Schablone befreit
habe. Aber eben die gestaltende Idee wird angefochten, wird als zu
eng empfunden. So ist die deutsche Jugend, wenn sie schon Götter
anbeten sollte, zu Mahler gekommen, den sein metaphysischer Ge¬
danke vorwärts treibt, dessen Musik aber im wesentlichen rückwärts
gewandt bleibt, auch stark begrenzt ist. Weder Richard Strauß, der
größere Musiker, noch Gustav Mahler, der größere Mensch, können
Wegweiser in das Land musikalischer Zukunft bedeuten. Und so-
Adolf Weißmann, Moderne Musik 309
wendet sich die musikschafFende Jugend ganz von selbst dem zu, der
die metaphysische Sehnsucht am inbrünstigsten ausspricht: Arnold
Schönberg, in dem zugleich der allgemeine künstlerische Drang unserer
Zeit, Form und Material zu überwinden, am folgerichtigsten, freilich
auch am verhängnisvollsten auftritt.
Man findet nun zwar in Schönberg den Willen zu einem über¬
sinnlichen Rhythmus, der das Melos trägt; im beharrlichen Kontra¬
punkt der Stimmen wird er verfochten, aber die Verkürzungen, die
gewaltsam aufgesucht werden, sind starke Hemmung der Architektur,
wie sie ja letzten Endes die Musik in ein Jenseits der Eindrucks¬
fähigkeit treiben. Wie schwer es Schönberg selbst fiel, seinen Hang
zur Expansion zu überwinden, wie er noch am eindringlichsten
redet, wo er ihm nachgibt, etwa im Fis-moll-Quartett, das ist kenn¬
zeichnend Air die inneren Kämpfe des Mannes. Von Hause aus
weich, hat er schon in seiner Tondichtung „Pelleas und Melisande“
die Kraft zur Zusammenfassung nicht ganz gefunden, und findet
sie nur durch einen Gewaltakt, der wiederum seine Musik als Bastard¬
erzeugnis der Dialektik und Empfindung enthüllt. Aber es bleibt als
sein Verdienst die Aufzeigung der Probleme, die unsre Kunst bis
ins Mark erschüttern. Und man kann sagen, daß Schönbergs Echo
heut über die ganze Welt reicht. Sein Ethos, sein Inbrünstiges, sein
Übersinnliches zwingt zum Hinhorchen, auch wenn seine Tat nicht
überzeugt.
Dabei ist der Ausgangspunkt der neugerichteten Kunst in West¬
europa ein so ganz anderer als in Mitteleuropa. Der Kern Schön¬
bergscher Musik ist letztens seine Lyrik. Diese wirkt echt und ist
der fruchtbare Keim umwälzender Tat. Jenseits der Grenzpfähle aber
ist sinnliche Urkunst am Werk. Der Tanz des russischen Balletts kreuzt
sich mit französischem Geist, sinnliche Frische mit sinnlicher Er¬
schöpfung, und die Beeinflussung des Franzosentums durch das Russen-
tum, das durch Mussorgsky den Impressionismus brachte, zeigt sich
nun nicht mehr nur in der Farbe, sondern auch im Rhythmus, der
aus der sinnlichen Welt ins Übersinnliche übertragen werden und zum
Aufbau einer neuen Kunst dienen soll. Der Weg hierher ist freilich
weit und dornig genug, wenn er überhaupt zum Ziel führt. Der
russische Rhythmus hat bisher ja zwar bezaubernde Farbenpracht noch
gesteigert, aber gerade darum den Aufbau großer Formen nicht ge¬
stattet. Zu alledem tritt nun der Negerrhythmus, Fox-trott, Jazz, Rag
wollen die Sinnlichkeit bis zur Siedehitze treiben, aber auch den
JIO
Adolf Weißmann , Moderne Musik
synkopierten Rhythmus ftir ein unsinnliches Leben reif machten. Die
Exotik öffnet den Blick auch in geistige Fernen.
Wir stehen bei Strawinsky, der ganz in der Sinnlichkeit des Tanzes
zu wurzeln scheint, aber die metaphysische Sehnsucht in seiner Musik
spiegelt Sein Weg ist voll Wirrungen. Der Geist macht tolle
Sprünge. Der Witz führt zu Einseitigkeiten. Aber der Mensch der
„Petruschka“ ist der des „Sacre du Printemps“ geworden, die Gegen¬
ständlichkeit ist von der Symbolik abgelöst, und der Rhythmus ab
tragende Grundkraft möchte gern in seiner wachsenden Ungebunden¬
heit den Trieb zum Jenseitigen aussprechen, während er dem tanzenden
Menschen mehr und mehr den Boden entzieht Nicht rein zufällig
sucht der Mensch, der in die Urzeit des russischen Rituals zurück¬
lenkt, auch die Beziehung zu Bach. Und zuletzt will auch er jene
Kontrapunktik der Stimmen und Farben, die dem Klangsinn raubt,
während sie den innem Menschen beschenkt. Der Radikalismus des
Russen Strawinsky mündet in die musikalische Metaphysik, ohne je
inbrünstig zu werden wie die Ausdruckskunst Arnold Schönbergs. Denn
sein Rhythmus, aus der sinnlichen Welt stammend, fährt ihn zuletzt
auch wieder in die sinnliche Klangwelt zurück.
Strawinsky bindet Rußland, Frankreich, England und selbst Italien
aneinander, weil er Auge und Ohr verknüpft und die gesamtkünstlerische
Richtung der Zeit in der verhältnismäßig sinnfälligsten Art Musik aus¬
drückt. Aber wohin dieser geistreiche Sinnenmensch zuletzt gelangt,
weiß er wohl selbst nicht. Während er eben noch alles Melodische,
Unverkürzte zu ironisieren schien und in seiner Sinfonie für Blasinstru¬
mente dem Andenken Debussys die seltsamste Huldigung bot, ist er
heut Lobredner Tschaikowskys, dessen Ballett „Die schlafende Prinzessin“
durch ihn für London inszeniert wird. Schon beginnt man ihn
einen Abtrünnigen, einen Rückschrittler zu nennen: in Paris, wo ein
dünner Faden vom letzten Debussy aus in die Zukunft geknüpft wird
und die „Sechs“, mit Arthur Honegger und Darius Milhaud an der
Spitze, in der Kammermusik fruchtbar werden wollen.
Aber eine klärende Bewegung ist überall erkennbar. Zwar war
niemals der Wohlklang verdächtig wie heute, zwar scheint mehr ab
je der Akademismus der Form entthront; aber es lebt in jeder neuen,
aus echten Quellen fließenden Musik der Trieb, das Experiment als
Selbstzweck zu verlassen und mit gesammelter Kraft den Ausgleich
des Widerspruchsvollen zu Anden.
Adolf Weißmann, Moderne Musik
3 11
Immerhin ist die Abneigung gegen das Fertige in der heutigen
Musik noch immer sehr stark. Das Gärende der Zeit als künstlerischer
Ausdruck lehnt sich ja gegen alle Abrundung auf. Man will aus der
inneren Fülle, aus tiefer Problematik heraus gerade das vermeiden,
was den Impressionismus ausgezeichnet hatte: Fertigkeit.
So steht der neue Musikschaffende zwischen dem Experiment, das
alle Gärende ausspricht, und einer neuen Klassizität, die sich noch nicht er¬
füllen will. Gleichzeitig aber leben noch die Ausläufer des musikalischen
Impressionismus weiter. Und es zeigt sich, daß die Macht des Schlag¬
worts in der Musik, die allmählicher vorwärtsschreitet als die Malerei,
sich nicht ebenso stark behaupten kann wie hier. Sehr bestimmt tritt
die Ablehnung alles Romantischen auf. Während ein Hans Pfitzner in
Deutschland noch ganz in Schumann und Brahms selig ist und weite
Kreise des Bürgertums auf seiner Seite hat, hat sich das junge Geschlecht
der Schaffenden von dieser Gemütsausbreitung abgewandt, will auch
Wagner mit Ausnahme des „Tristan“ abschütteln: und ist doch Anton
Bruckner geneigt, der gewiß die ungeheuerlichste Ausbreitung der
Musik gegen alle Verkürzung bedeutet; mehr noch als Mahler, der
Schöpfer des Liedes von der Erde, in dem sich der Zweifel an aller
reinen Schönheit so hintergründig, so ergreifend ausdrückt. Hier ist
Mahler ja wirklich Prophet geworden.
Der Weg zum Klassischen, Evolution statt Revolution, mit Bach
und Mozart, wird auch von denen beschritten, die Fürsprecher des
Umsturzes schienen, wie Ferruccio Busoni. Der Künstler seltsamer Blut-
und Kulturmischung, einer der stärksten Anreger unserer Zeit, scheint
heut alles zu verleugnen, was er einst vertrat. Es ist als ob er, ein fau¬
stischer Mensch, nun alle Bleigewichte abwerfen wollte und sich zum
leichtesten Produzieren zwänge.
Dieser Halbitaliener mit der unerschütterlichen Bachgrundlage, der
größte schöpferische Virtuose, dessen Schaffen noch den Nachhall des
Virtuosentums zeigt, wird gewiß nicht vollenden, was er sich als Ziel
gesetzt hat. Aber in seinem Vaterlande gibt es neben denen, die ex¬
perimentierend schaffen, wieMalipiero undCasella, einen Ildebrand Pizzetti,
der den Weg zu einem modernen Klassizismus bis zum Ende beschreitet.
Seine Violinsonate, ein Beispiel wiedererweckten Renaissancegeistes und
freier Architektonik, seine Gesänge, wie mit Silberstift gezeichnet,
leuchten vor. Und in diesem Zusammenhang taucht auch die Gestalt
Philipp Jarnachs, des jungen, wahrhaft europäischen Künstlers auf.
Wilhelm von Scholz, Gedichte
3**
Diese Menschen wollen selbstkritisch alle Reste des Problematischen,
das sie erlebt haben, in der Form ausmerzen; sie arbeiten im Grunde
schwer. Die Zeit kennt nicht mehr einen Richard Strauß, der eben noch
unbeschwert schuf und weitverzweigte Partituren harmonisch gerichteter
Musik hinwarf. Auch das neue Orchester soll ja Note für Note, Zeile
ftir Zeile die Spuren eines neuen Gewissens, eines neuen Geistes zeigen.
Indes werden auch alle Reize der Farbigkeit ausgekostet Innerhalb
des deutschen Sprachgebietes enthüllt sich ein Franz Schreker in einer
nicht gerade starken, aber fesselnden Mischkunst. In England, wo neue
schöpferische Kräfte sich regen, wirkt neben einem durch die Fran¬
zosen von Debussy bis Strawinsky hindurchgegangenen Eug&ne Goossens
der Nachimpressionismus der Frederick Delius, Cyrill Scott und Ralph V.
Williams; in Amerika ist der eingewanderte Schweizer Emest Bloch
stark in seiner hebräischen Empfindung, die im Begriff ist alles kolo¬
ristische Westlertum in sich aufzusaugen.
Dies das Bild der modernen Musik: vielgestaltig, oft in der Pose
befangen, dem Experiment verhaftet, aber in ihrem besten Teil durch¬
aus zukunfts kräftig.
GEDICHTE
von
WILHELM VON SCHOLZ
Haus
A bend. Musik durchdringt den Stein,
.Schritte das Holz der Tür, Latemenschein
das Scheibenglas. Ein Haustor fällt
ins Schloß. Ein Tritt steigt in sein Stockwerk auf.
Ein Uhrschlag tönt die Stunde. Eine Stimme hält
unter dem Fenster an und spricht hinauf
zur Antwortstimme, Seele fließt
redend herab, verklingt; ein Fenster schließt.
Ein Schweigen geht im Schritthall fort.
Wasser entrinnt dem Rohr und rauscht. Ein Wort
hinter den Wanden lacht.. .
Wilhelm von Scholz, Gedichte
3*3
Laute verhallen, Lichter verloschen. Stunden vergehen. Nacht.
Von der Decke sinkt, aus den Wanden tritt,
durch den Boden steigt Schlaf;
unentrinnbar, betäubend: Schlaf.
Traum sinkt, tritt, steigt mit.
In schieiernder Luft
wird die Lampe fern, klein, rot,
schwindet, ist tot.
Schwere schlafende Seelen sinken herein,
augenlos, achtlos wie Tote in enge Gruft;
atmen Mühe, Pein,
Leib, Sorgen aus,
atmen Leben ein.
Rein Wachender kann aus ihrer Umatmung heraus;
sinkt mit in ihren lebenden Schlaftod hin e in ,
erstickt in der eingemauerten Schlafwolke Haus.
Begegnung
Langsam hab* ich mich dir zugewandt
Und umkreise dich wie Mond die Erde.
Auf dir ruht mein Auge wie auf Land —
gib mir deine Hand,
daß i ch weiß, ob ich dich lieben werde.
Voll Begehren tauch’ ich auf aus Ruh,
fasse deine Hand —
fasse deine Hand und fühle
in mir fremde regungslose Kühle.
Lasse deine Hand —
bleischwer fällt sie deinem Körper zu.
Heute
Aus dem Heute wird ein Gestern,
aus dem Heute wird ein Morgen.
Jede Stunde eilt sich, teilt sich
mit den Freuden und den Sorgen.
Wilhelm von Scholz^ Gedichte
3*4
Und du siehst die rasche Welle
vorwärts, rückwärts sich ergießen;
aus dem Jetzt, der Zauberquelle
Künftiges und Vergangenes fließen.
Die Häuserwand
Und immer wieder diese Häuserwand.
Sie steht steinhell vor Weite, Himmel, Land.
Ein unsichtbarer Streifen fernen Blaus
schüttet den grauen sonnenlosen Schein
zwischen die steilen Wände, Haus und Haus.
Verdünntes, abgesonntes Licht,
Licht aus herüberfallendem Widerschein
dringt in den Schatten meines Zimmers ein;
drängt ihn zurück, allein er lost ihn nicht —
An die steinerne Geliebte
I
Du bist aus Stein. Nie wird mein Wort dich rühren.
Du blickst in hohe Fernen unverwandt.
Im Mantel birgt sich deine rechte Hand,
den Schutz des Kragens bis vors Kinn zu führen.
Die Krone überlastet dein Gewand.
Dein Leib steht streng. Doch seinen Atem spüren
die Falten alle, die dich rings berühren.
Ihr Fall, von deiner offnen linken Hand
geteilt und aufgehalten, hüllt dich ein;
läßt nur Gesicht und linke Hand sich zeigen.
Die Hand ruht still und dein Gesicht ist Schweigen.
Ums Leben wissen beide. Werde mein!
Ich liebe dich, schöne Frau, ich bin dein eigen
unwandelbar und frei: Du bist aus Stein.
Wilhelm von Scholz, Gedichte
II
Ich stelle keine Blumen vor dir auf.
Doch deinen Sockel schmück' ich mit Kristallen.
Hier darf nicht Zeit als welkes Blatt mehr fallen.
Kristallen fühl’ ich mich zu dir hinauf.
Durch des Jahrtausends fast verstäubten Lauf
komm’ ich. Du wartest in zeitlosen Hallen.
Ich komme nicht, zu Füßen dir zu fällen —
und dennoh bitt’ ich: hebe du mich auf!
Denn alle Frauen, die sich mir ergaben,
sind eine nur, die ich vor dir nicht fand,
sind namenlos; und ihre Seelen haben,
mich liebend, längst sich von mir abgewandt,
weil sie gewährten. Du gewährst nicht, nein.
Das ewig Gleiche endet. Du bist Stein.
III
Ich liebe dich. Und dieser Liebe Sinn
ist anders, als ich Liebe je erfaßt.
Ist nicht Genuß und Rausch, nicht Leid und Last,
nicht Wandel, nicht Verlust und nicht Gewinn.
Die Liebe, die du zu verschenken hast,
ist Seele eines Steins. Du gibst sie hin,
daß ich, der Liebende, ihrer Eigner bin.
Doch du liebst nicht. Frei bin ich jeder Last!
Wie eine Tote kann ich still dich lieben —
und dennoch, Süße, traur’ ich um dich nicht.
Denn, was du je mir warst, bist du geblieben.
Nie küß’ ich deinen Mund, der niemals spricht,
nie faß’ ich deine Hand. Doch bist du mein.
In mir ist deine Seele. Du bist Stein.
Wilhelm von Scholz, Gedichte
IV
Doch deine Seele ist Leib, ist unsichtbar
in Stein gehüllter Leib. Ich lieb ihn ganz.
Ich liebe deinen Fuß, ein Reigentanz
träumt wartend drin, liebe das Schultempaar,
das schmale, mit der Steinagraffe Glanz,
das unter Krön' und Kranz verborgene Haar,
dein Auge, das so fern und kühl und klar
von Menschen fortsieht. Was in des Gewands
Steilfalten sich verbirgt, ist mir enthüllt:
ich liebe Brust und Leib, den weiten Schritt,
der ruhend dein Steinkleid mit Leben füllt.
Doch Nase, Brauen, Stirn, den Schattenschnitt
des süßen Munds, die Wangen trink' ich ein,
die halbverhüUt sind. Und ich lächle: Stein.
V
Und steinern seh' ich deinen Gatten stehn,
der. Schönste, dich genoß; in dessen Glut
die Sinne dir erwacht; der in jdein Blut
mit Leben eindrang; der das Untergehn
in Lust dich lehrte und die süße Wut
gelöster Triebe, das Ins-Ewige-Sehn
aus Lusterschöpfung und das Widerstehn
aus Haß der Lust — bis deine Seele, gut,
reich und erfahren, frei ward der Umarmung,
plötzlich aufwachend als ein eignes Sein
in ihres Leibs aufglühender Erwarmung,
den du der Seele schenkst, die spät dich liebt,
der sich nur ewiger Liebe noch ergibt.
Und ewig lieben nur: Seele und Stein.
jhmius, Politische Chronik
3*5
geschickter Schachzug des Hauptfestredners — geschickt im Hinblick
auf die Ungebärdigkeiten der bayrischen Volkspartei unter Doktor
Heims Führung —, daß er das Bekenntnis zu einem alten Programm¬
punkt aus dem März 187* erneuerte: „Der föderative Grundcharakter
des Reiches als eines Bundesstaates soll gewahrt und demgemäß den
Bestrebungen, die auf eine Änderung des föderativen Charakters der
Reichsverfassung abzielen, entgegengewirkt und von der Selbstbestim¬
mung und Selbständigkeit der Einzelstaaten nicht mehr geopfert werden,
ab die Interessen des Ganzen unabweislich fordern.“
Aus den Schlingen des Gesetzes, nach dem das preußische Reich
Bismarcks ins Leben trat, unter endgültigem Verzicht auf zehn Millionen
in die schwarzgelbe Habsbutgerei verstrickter Deutscher, konnte es
den Weg zu den überlieferten Formen des deutschen Föderalismus
und zur Dauer versprechenden Lösung des Einigungsproblems nicht
zurückfinden; die um sich greifende Wucht des ehernen preußischen
Staatsgedankens stand dem im Wege. Aber die Einverseelung des ge¬
samten Deutschtums in Preußen gelang nicht; die am alemannischen
Elsaß gemacht«^ .‘Erfahrungen hatten denen, die vor der Katastrophe
senbn^rätflteiC schöft längst die Augen preußischer Einverseelungskünste
geöffnet. Wenn nun aus den Kreisen der von je großdeutsch emp¬
findenden Katholiken des Südens wieder das Bekenntnis zum Föderalis¬
mus erschallt, so erblicke ich darin so wenig einen Zufall, wie in
dem Umstand, daß aus ihrer Mitte auffallend gewandte parlamentarische
Führernaturen in den Vordergrund treten, Männer, die einen Blick för
die vom Schicksal uns abgezwungene Verschiebung unseres politischen
Lebens aus den Geleisen der 31 ut und Eisen c -Bahn ins Ideelle, —
in die Richtung gewisser uralter Überlieferungen haben. Ohne Zweifel ist
politisch (nicht: wirtschaftlich) das preußische Übergewicht gebrochen,
das rein deutsche Element, das der vergottete preußische StaatsbegrifF
nie ganz zu bezwingen und das sich nie recht mit dem östlichen
Kolonialdeutschtum zu versöhnen und zu vermischen vermochte, tritt
wieder stärk hervor und übernimmt offenbar zeitweilig die Führung.
Neu auflebende Klagen über süddeutsche Zuchtlosigkeit, die unbe-
kehrte und bitter gemachte Treitschkejünger der allgemeinen Leichen¬
klage beimengen, dürfen uns über die Bedeutung dieser Verschiebungen
nicht hinwegtäuschen; sie können und werden uns, neben den hoffent¬
lich nie verlöschenden disziplinierenden Wirkungen des vom Verge¬
waltigungstrieb gereinigten Preußentums, auch aus dem Druck und
Düster der Fremdherrschaft leichter hinausflihren helfen.
Jtmius, Politische Chronik
3 *6
ln dem Ring der ausschließlich materielle Interessen und Verbände
vertretenden heidnischen* Parteien hat also das Zentrum, das am Haus
Gottes Wacht hält und weder den Staats- noch den Nationalgedanken
hypertroph werden läßt, seine besondere Aufgabe. In seiner Haltung
zum Reichsganzen und zur Demokratie beweist es Takt, Voraussicht
und politischen Instinkt; und wenn wir früher oft Ursache hatten,
nach Verebbung des Kulturkampfunfugs, den Fortbestand dieser alle
sozialen Schichten des Volkes in sich begreifenden Partei als Atavismus
zu empfinden, so zählt sie heute gerade, wo wir wie auf schwimmenden
Eisschollen dunklen Weiten zugetrieben werden, um ihrer Eigenheiten
willen zu unseren stärksten politischen Aktiven. Es ist darum nur billig
festzustellen, daß der im Zentrum zum Ausdruck gelangende deutsche
Katholizismus als solcher nicht das geringste mit der plumpen sepa¬
ratistischen Bauernfängerei gewisser west- und süddeutscher Elemente
zu tun hat, die schamlosen Landesverrat treiben. Immer wieder werden
wir mit den schmutzigen Nachgeburten aus der Zeit überspQlt, wo
der Hakatismus in jeglicher Gestalt, also im Zentrum wie in den
Grenzmarken des Landes, noch als höchster Triumph deutscher Re¬
gierungskunst galt, und man wünschte sich das Gift herbei, das mit
dieser schädlichsten Laus am Baume der naturbedingten Vaterlandsliebe
aufräumt.
II
Herr Doktor Walther Rathenau, dessen markante Persönlichkeit ich
unseren Lesern nicht vorzustellen brauche, ist Reichsminister für Aus¬
wärtige Angelegenheiten geworden. Der Selbstverständlichkeit, daß
Selbstverständliches Ereignis wird, scheint man sich bei uns einiger¬
maßen entwöhnt zu haben, sonst wäre, was sich kürzlich bei und unter
uns zur Belustigung der Welt abspielte, unmöglich.
Was ist geschehen? Zu der Ernennung Rathenaus hat sich Herr
Wirth sicherlich aus innerem Drang und Zwang gerade in dem Augen¬
blick entschlossen, wo die Partei unserer starken Industrieherren und
Unternehmer sich anschickte, in den Kahn der großen Koalition zu
steigen und der deutschen Politik nach innen und außen um der
wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes willen das Rückgrat zu
stärken.
Lang überlegten sich’s die Herren, ob sie sich zum Ersatz der wei¬
land Naumannschen Parole ,Von Bebel zu Bassermann* hergeben, ihre
widerstrebenden Gefühle, ihre faustdicken ressentiments gegen die am
Jutiius, Politische Chronik
3*7
,Revolutionskarnev*l‘ beteiligten Parteien, ihre personellen Vorurteile
aufgeben .. oder die sogenannte Erfüllungspolitik von selbst sich
sollten tot laufen lassen. Das lange Zögern und Schwanken und der
Kampf der Motive war an einer Partei durchaus verständlich, deren
führende Köpfe rein wirtschaftlich eingestellt sind und in einer At¬
mosphäre automatischer Wirtschaftsführung groß und produktiv ge¬
worden sind; darum bestanden sie stierköpfig, ohne nach links noch
rechts zu blicken, und ohne die Folgen für das Reich und die letzten
Reste seiner Souveränität zu bedenken, auf der Ablehnung aller west-
mächtlichen Diktate, wobei außer Rechnung gestellt sein mag, daß in
der von ihnen alimentierten Presse und in ihrer Gefolgschaft allerhand
unklare, unreife und unreine Motive die Stimmung und die Haltung
beeinflußten. Und ich möchte in diesem Zusammenhänge nur nebenbei
etwas gar nicht Nebensächliches erwähnen: daß in dieser Partei der
Ungedanke, es sei im heutigen Deutschland möglich, zwischen Staat
und Wirtschaft einen radikalen Strich zu ziehen, eine Zeitlang unheim¬
lich lebendig war; der Ungedanke, diesen aus der »Gosse* der Re¬
volution geborenen deutschen Staat durch beherzte Katastrophenpolitik
zur Strecke zu bringen. (In Paranthese: Sagte Friedrich Wilhelm der
Vierte, der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, er wolle nicht,
daß zwischen Ihn und das Volk sich ein Stück Papier schiebe, so
sagen nicht wenige unserer volksparteilichen Industrieherren, sie wollten
nicht, daß zwischen Sie und Ihr Volk die Weimarische Verfassung trete.)
Aber die Zeit schritt fort; die Pfade der zwangsläufig jasagenden
Aufklärungspolitik, die finanziell eine Katastrophenpolitik für uns sein
und ... für die anderen sehr bald werden mußte, wurden nun ein¬
mal beschritten; die Unruhe über die Schrecken der in Versailles ein¬
geleiteten Friedensära begann sich über den Planeten zu breiten, in
London und Washington glommen die zarten Schimmer neuer, aus
Leiden und Sorgen geborener Einsichten auf; Frankreich, das ver¬
hätschelte enfimt chlri unter den Völkern, wurde zum erstenmal
seit Menschengedenken vom eisigen Hauche einer beginnenden Isolierung
(die wir Deutsche aus vielfachen Gründen beklagen müßten) an¬
geweht; und nun begann sich auch das Gemüt der Volksparteiler
den psychologischen Voraussetzungen einer, wenn überhaupt, mög¬
licherweise wirksamen deutschen Außenpolitik zu öffnen. Es ist
wichtig, sich die Phasen dieses Zermürbungsprozesses zu verdeutlichen,
die die deutsche Volkspartei zu durchlaufen hatte, ehe sie sich den
Tatsachen wie sie sind zuwandte.
3*8
ftmius, Politische Chronik
Nun stellten die Vernünftigen unter ihnen fest, daß der greulich
fahrige Dilettantismus unserer öffentlichen Wirtschafts- und Fmanz-
gebarung, die die Fundamente auch ihres neudeutschen Zwangsstaates
unterspült, nur durch verantwortungsvolle Teilnahme der Unternehmer¬
schaft am Regierungs- und Verwaltungsgeschäft ein Ende gemacht
werden könne; und sie wurden allmählich bereit, das nutzlose dema¬
gogische Kokettieren mit den stupiden Reaktionsfänadkern quand
mime den Realitäten des Tages zu opfern. War ein Regieren unter
Ausschluß der Mehrheitssozialisten möglich oder wünschbar? N ein.
Durfte man annehmen, daß sie ihren Opportunismus (z. B. in Steuer¬
sachen) noch weiter trüben könnten, ohne von ihrer enttäuschten
Gefolgschaft in Stich gelassen zu werden? Nein. Und konnten jene
Vernünftigen zweifeln, daß bei der heutigen außenpolitischen Kon¬
stellation die Zeit für etwas anderes als eine Politik des Ad-absurdum-
führens zu spät sei? Man wand sich und mußte schließlich wieder
mit Nein antworten. Die Aufklärungsarbeit Dr. Rathenaus hatte
immerhin unbezweifelbare Erfolge erzielt, wieviel sachliche Vorarbeit
Sdnnes (??) und Mendelssohn auch geleistet haben mögen. Die un¬
vergleichlich wichtige, Versailles zum Teil sachlich erschlagende
Motivierung, die die Bank von England ihrer Ablehnung einer Kredit¬
hilfe für Deutschland gab, schuf erst die Voraussetzung von Cannes;
Cannes zieht irgendein Genua nach sich; und in dieser ganzen Kette
von Bemühungen, das Reparationsproblem mürbe und gar zu machen,
sind überall Rathenaus Sachkenntnis, Beredsamkeit und Kunst der
Menschenbehandlung eingeschaltet. Wohlwollende Ausländer (ich
darf Namen nicht nennen; sie stehen sehr, aber sehr hoch) pflegten
zu fragen, ob wir denn so reich an Persönlichkeiten seien, daß wir
uns erlauben dürften, „Kräfte“, wie die in Herrn Rathenau auf-
gespeicherten, in dieser Zeit deutscher Not politisch brach liegen zu
lassen. Nun wurden sie benutzt; der Reichskanzler — freilich auch
er, nach alt-neuer Terminologie, ein Reichsfeind — fand sie durchans
verwertbar und von schöpferischer Beschaffenheit; nichts natürlicher,
als daß er seine Dankbarkeit erst in Worten, dann, dicht vor Genua,
durch die Ernennung seines Gehilfen zum Außenminister bekundete.
In diesem Vorgang ist so wenig Verwunderliches, daß er vielmehr
in jedem anderen politisch reifen Lande die Regel wäre; doch wir
leben in Deutschland. Die deutsche Volkspartei, die eben Ja gesagt,
eben das Steuerkompromiß mitsamt der Zwangsanleihe, unter den be¬
kannten nationalliberalen Schlingbeschwerden, zu schlucken sich berat
Jtmius, Politische Chronik
1*9
gefunden hatte, wird plötzlich stutzig, erklärt sich durch die Ernennung
des ihren Industrieherren unbequemen und unsympathischen Mannes
aus Juda überrumpelt und beansprucht, fünf Minuten vor zwölf, ihre
Handlungsfreiheit... Möglich ist, daß Regiefehler bei der Vorbereitung
der großen Koalition gemacht wurden, aber sie scheint doch so lange
eine politische Notwendigkeit erster Ordnung, als die Unabhängigen
jeden Opportunismus in Steuersachen, um nur von den Vordergründen
zu sprechen, scheuen müssen; und als ohne die Mitarbeit der deutschen
Unternehmerschicht Europa nicht aufgebaut werden kann. Auch mögen
allerhand parteipolitische Bosheiten und Taktikerkunststücke mitgespielt
haben, um vielleicht von links her die Geburt der großen Koalition
zu erschweren; ich weiß es nicht. Aber: es ist fünf Minuten vor
zwölf; und der Anfang einer Sabotage der eignen Zukunft steht
einer um das deutsche Schicksal gewiß nicht bloß aus ideellen Grün¬
den bangenden Bürgerpartei nicht zu.
Verronnen wie die Körner der Sanduhr mag das Tatsächliche am
eben Berichteten sein, wenn diese Zeilen gedruckt sind; aber was da¬
hinter steckt, ist für den grauenhaften Zustand der politischen Uner-
zogenheit und Unfertigkeit bezeichnend, in der das bismärckische und
das neuwilhelminische Zeitalter die deutsche bürgerliche Gesellschaft,
und zwar ihre besten baumeisterlichsten Schichten, zurückgelassen hat.
Sie scheint anpassungsunfahig, wenigstens nach ihrem Verhalten seit
dem Menetekel der russischen Revolution und dem Zusammenbruch
unserer Generalsdiktatur zu schließen. Unter dem obrigkeitlichen
Schutz einer politisch impotenten Beamtenherrschaft hat sie ihren
Willen zur Ohnmacht, ohne Stolz, ohne Würde, ohne ahnungsvolle
Voraussicht unabwendbarer Dinge, unter Beihilfe der akademischen
Intelligenz als auszeichnende deutsche Besonderheit so lange gepriesen,
bis das Haus brennt, und unsere Feinde türmen die Scheite; aber drin
zanken sich die am meisten beteiligten und verantwortlichen Haus¬
besitzer, wahrend so etwas wie ein Dämmerschein nützlicher Werk¬
tätigkeit im fembesonnten Süden aufleuchtet, wie die Waschweiber,
vertrödeln die kostbaren Minuten mit Gekränktsein und Übelnehmen, und
lassen, Christen die sie sind, auf den so überaus wertvollen Mann aus Juda
das Gekrächz ihrer Pressraben niedergehen, nur weil ein Mann von
bei uns seltenem politischen Instinkt und Führereigenschaften, wie
Dr. Wirth, sich in ihm einen Gehilfen seiner Politik wählt.
Ho
Jvntus, Politische Chronik
III
Genua: ich hoffe, daß die Vereinigten Staaten an der Konferenz
die dort stattfinden soll, nicht teilnehmen werden. In einem Beitrag
des Februarheftes der Neuen Rundschau wurde ausgeführt, daß Amerika
den Friedensanfäng bestimmen wird, wie es das Kriegsende bestimmt
hat. Von ganzem Herzen teile ich diese Ansicht. Wodurch hat
— weiß man es nicht mehr? — Wilson das Werk von Versailles
heillos verpfuscht? Weil er Waffenstillstandsforderungen unterstützte,
die Deutschland wehrlos machten und dadurch ihn und seine den
Verbündeten gegenüber entscheidend machtvolle Position aus der Reihe
der für die Friedensbedingungen maßgebenden Faktoren ausschaltete.
Die einzige Garantie gegen den imperialistischen Wolfshunger unsrer
Gegner schwand damit, Wilson wurde Spielball der ihn umringenden
Advokaten- und Politikergilde, die nun statt einer militärischen eine
ideologische Mauer vor sich sahen, und nun das Werk errichteten,
das uns in nie erahnte Schrecken des Friedens stürzte . .. Und nun?
Harding und Hughes zögern, das heißt: sie zögern nicht mehr. Sie
stellen dem europäischen Tollhaus ihre Bedingungen (Rüstungsminderung
bei unsren Nachbarn im Westen und Osten; vernunftgemäße Anpassung
unsrer Entschädigungspflichten an unsre Möglichkeiten), wohl wissend,
daß sie mit ihrem Sack von Alliiertenschulden und ihren stetigen
Druckmitteln in Händen auch die französische Sabotage des Friedens
schließlich brechen können. Endlich: die Episode Poincard verzögert
den Friedensanfang. Bleiben die Amerikaner fest, so dürfen wir hoffen.
Es ist immerhin möglich, daß ihre bewußte Politik die Gelegenheit
sucht, das Übel, das Wilsons Schwäche uns zugefügt, einigermaßen . .
na, sagen wir: »gut* zu machen.
ANMERKUNGEN
Stimmen des Auslands
A ndrl Suares veröffentlicht in den
Pariser „Berits Nouveaux“ eine
Rede zu Dostojewskis hundertstem
Geburtstag: Worte eindringlicher Klug-
heit und Verehrung und prinzipielle
Gedanken über das Wesen dieser und
jeder Kunst. Suares — der endlich
auch in Deutschland an Boden gewinnt
und dessen Aufsätze edelste franzö¬
sische Prosa darstellen — erklärt, daß
alles eher vorübergeht, sich wandelt
und altert als die Bücher. Nirgends
ist Rußland heute so wie in Dosto¬
jewski. Mag eine Welt auch zugrunde
gehen, sie bleibt unsterblich durch ein
Buch.
„Dostojewski erscheint zunächst als
der größte Pessimist unter den Men¬
schen. Keine Auffassung ist falscher.
Übrigens begeht man den gleichen Irr¬
tum bei einigen andern tiefen Men¬
schen: man nimmt ihren Schmerz am
Leben für eine Verfluchung des Le¬
bens, und doch sind sie im Gegenteil
von einer unglaublichen Liebe zum
Leben besessen. Flaubert ist der
wahre Pessimist: er liebt die Welt
nicht; er erhofft nichts; er ist gut,
und seine Güte nützt nichts; für ihn
ist die Wahrheit ebenso vergeblich
wie traurig; denn sie ist ein nichtiger
Besitz. Weit entfernt, das Nichts zu
verachten, sehnt er sich dorthin. Und
selbst wenn die Natur ihn dem
menschlichen Elend entreißt, so ver¬
derben die Menschen, ihre Dummheit
und ihre Bosheit ihm die Natur. Unter
den Antipoden Flauberts liebt Dosto¬
jewski in der Natur nur die gemein¬
same Mutter aller Menschen. Er strebt
nicht nach dem Nichts und dem Ver¬
gessen, sondern nach dem Heil. Die
menschliche Dummheit ist nicht der
Pol, wo für ihn alle Meridiane sich
treffen; aber die Liebe, wo alle großen
Kreise des Gedankens und der Tat
Zusammenfällen. Er weint, weil er
unter allen Menschen der ist, der am
meisten an das Glück glaubt und es
immer stärker will. Ein voller Pessimist
ist er nur im Geist: im Herzen ist
er Optimist bis zur Ekstase . . .
Deshalb hinterlassen Dostojewskis
düsterste Romane einen so hellen
und sanften Eindruck: am Ende von
Tunnel und Mine ist der große freie
Himmel geöffnet, und das Licht er¬
wartet uns am Ausgang der Finster¬
nis. Die Vernunft ist vielleicht weder
überzeugt noch zufrieden; aber das
Herz ist erfüllt. Selbst in den „Be¬
sessenen“, diesem furchtbaren und —
man möchte glauben — verzweifelten
Werk, diesem unvergleichlichen
Meisterwerk, ist die letzte Revolution
beschrieben; Lenin ist Zug für Zug
gezeichnet; selbst der Sowjet ist vor¬
geahnt: der Bankerott jeder sozialen
Erderschütterung ist offenbar. Nie war
ein Buch tiefer und prophetischer ge¬
wesen. Es sollte von tödlicher Trauer
sein, da alle Helden besiegt werden,
alle in den Tod gehen, Verbrecher
oder Opfer werden: aber Dostojewski
läßt so stark fühlen, wofür sie unter¬
geben, ohne es je zu erklären, er
zeigt so hell, daß die verkannte liebe
notwendig diejenigen aus dem Leben
3)i Anmerkungen
treibt, die sie ▼erkennen, daß man in¬
mitten aller dieser Tode und Ruinen
nur die lebendige Liebe siebt.“
Daniel Halevy sagt, in der
„Revue de Geneve“, zum Thema:
Frankreich und Deutschland:
„Das französische Gleichgewicht be¬
deutet keineswegs ein Vertrocknen
des französischen Herzens, ein Stehen¬
bleiben des französischen Geistes. Es
bedeutet lediglich, daß Frankreich eine
Nation ist, welche Grundlagen hat.
Hat Deutschland welche?“ Diese Frage
möchte Halevy nicht entscheiden, aber
er zitiert Sätze Otto Flakes, die die
Traditionslosigkeit des deutschen
Geistes und ihre Folgen darlegen, um
dann zu seinen eigenen Ergebnissen
zu kommen: „Gebrochen in seiner
Gegenwart, gebrochen in seiner Ver¬
gangenheit, kann Deutschland nur ein
pathetisches ,Was nun?* aussprechen,
und es erstaunt und beschuldigt uns
gerne des Unverstandes, weil wir es
sucht ebenfalls aussprechen. Daß es ein
für alle Male es wisse: wenn es Apo¬
kalypsen sucht, erwarte es nichts von
Frankreich und gehe allein zum Ziel
seiner Katastrophen. Aber ist es be¬
greiflich, daß es ganz und gar so
veranlagt sei? Dieses rheinische Bürger¬
tum, aus dem ein Goethe hervoiging
(bei jeder Wendung unseres Gedankens
kommt dieser Name als ein notwen¬
diges Zeichen wieder), was ist aus
ihm geworden? Hat es nicht seine
klugen Wünsche, die es zu uns zu¬
rückfuhren, oder besser gesagt — denn
es ist wichtig, hier nicht die geringste
Spur von nationalem Vorurteil einzu¬
führen —■ die es zu den abend¬
ländischen Traditionen zurückfuhren,
an denen Frankreich so großen An¬
teil har? Das ist die Richtung, aus
der, wie mir scheint, eine Begegnung,
ein Austausch zwischen den Geistern
Frankreichs und Deuschlands kommen
kann. Aber heute handelt es sich
nur darum zu ahnen, zu erforschen,
zunächst die tieferen Voraussetzungen
zu erkennen und durch unsere For¬
schungen das Kommen von weniger
Inneren Tagen zu begünstigen.“
ln der New-Yorker „Nation“, die¬
ser unerhört klaren und unabhängigen
Wochenschrift, gelangt dieser Aufruf
zum Abdruck:
„Viele meinen, daß die Zeit noch
nicht gekommen sei, die deutsche In¬
telligenz zu ermutigen. Ich persönlich
glaube, daß solche Meinung unrecht
hat. Ein ausgedehnter Sommer, den
ich in deutschen Universitätsstädten
zubrachte, hat mich überzeugt, daß,
obgleich der deutsche Professor ge¬
wöhnlich ein reaktionärer Monarchist
ist, die studentischen Körperschaften
die aufbauendste liberale Gruppe in
der Republik sind. Wie das auch sein
mag, sicherlich kann nur Sympathie
zu den Tausenden von Studenten in
Polen, Tschechoslovakei, Esthland, Li¬
tauen und Wien bestehen. Mit mei¬
nen eigenen Augen habe ich Tausende
von Studenten gesehen, die in unge¬
heizten und unsanitären Baracken und
verlassenen Speichern leben, unterer¬
nährt, in nicht viel mehr als Lumpen
gekleidet, unglaubliche Opfer bringend,
um ihre geschulte Intelligenz und ihr
technisches Können dem Wiederauf¬
bau des zerstörten Europas zu widmen.
Das sind die Fortschrittlichsten und
Würdigsten in der nächsten Generation
Zentral-Europas. Sie entbehren unsere
Hilfe nicht allein als Wohltat für
hungernde und leidende Menschen,
sondern auch als Beistand durch unsere
jüngeren und fortgeschritteneren Be¬
wohner, die eine beispiellose Gelegen¬
heit haben, die internationale Kamerad¬
schaft zu fördern .. .“ R. K.
Anmerkungen 333
Poincard
M it Poincard, der jetzt sieben Vor¬
träge* über den Ursprung des
Krieges als Buch hat erscheinen lassen,
kommt der erste Souverän, der wäh¬
rend des Krieges im Amt war, zu
Wort. Und zwar zweifellos derjenige,
der neben Wilhelm II. am stärksten
in die Verhältnisse eingegriffen hat.
Seine Darstellung beginnt mit dem
Verhältnis von Frankreich zu Deutsch¬
land seit 1870. Gegenüber den deut¬
schen Bewerbungen, die mit Droh¬
ungen abwechselten, habe sich Frank¬
reich ablehnend verhalten aus Pietät
gegenüber den verlorenen Provinzen,
aus Stolz, in vornehmer Resignation.
Gesetzt nun, daß zu diesen edlen Ge¬
fühlen auch noch Ressentiment, Neid,
Rachsucht treibend hinzugekommen
wären, jedenfalls die französische Hal¬
tung hatte Linie, Einheit. Und jetzt
erst nach der Niederlage haben wir
gelernt, sie besser als früher zu wür¬
digen. Welche Disziplin des National¬
bewußtseins!
Nur um zu Deutschland in diesem
Zustand friedlicher, jedoch kühler
Distanz bleiben zu können, habe sich
Frankreich mit Rußland verbündet,
mi r England verständigt. Doch hier
vergißt Poincard eines: indem näm¬
lich Frankreich sich mit den gewal¬
tigen lebendigen Mächten von Ru߬
land und England verband, gab es,
selbst wenn es sich innerhalb des Ver¬
bandes nicht passiv verhielt, seine
passive Position auf. Es war nicht
mehr jenseitig, in Unschuld, sondern
indirekt in die aktive Gewaltpolitik
eingetreten. Übrigens bei Besprechung
der Entente mit England entschlüpft
Poincard ein Satz von Bedeutung:
„Wenn rieh der Horizont verdunkelte,
hatten wir nicht die Sicherheit einer
* Raymond Poincarä: Lea Origines de la
Goare. Paris, Pion. 19a!. Deutsche Ausgabe
bei der Verlagsgesellschaft für Politik und
Geschichte, Berlin.
englischen Intervention, und dies war
ein Grund mehr, damit unsere Diplo¬
marie nie auf hörte, vorsichtig zu sein/'
Ja, Frankreich war passiv, nicht aus
Friedensliebe, sondern ganz einfach
aus politischer Berechnung. Es konnte
gar nicht aggressiv sein. Rußland wäre
ihm von 1895 bis 1908 bei einer sol¬
chen Haltung nicht gefolgt und Eng¬
land nicht von 1909 bis 1914. Inner¬
halb seiner Allianzen war eben Frank¬
reich der schwächereTeil, der nicht füh¬
ren konnte, sondern sich anschmiegen
mußte. Aber die innere Triebkraft der
französischen Politik enthüllt sich in¬
direkt: nämlich nach 1898, als Ru߬
land kontinentale Friedenspolitik trieb,
wandte sich Frankreich von Rußland
ab, eher England zu; als dagegen nach
1909 England Friedenspolitik trieb,
neigte sich Frankreich offenbar wieder
nach der russischen Seite. So stand
es also fortwährend auf seiten der
aggressiv gesinnten Macht.
Bis 191a gibt Poincard eigentlich
nur eine advokarische Zusammen¬
stellung der Geschehnisse. Dann aber
wird er Minister des Äußeren, greift
selbst in die Geschichte ein. Er reiste
August 191a nach Petersburg, Sassa-
now las ihm den Text der bulgarisch¬
serbischen Konvention vor. „Ich be¬
merkte zu ihm, daß dies in Wirklich¬
keit ein Kriegsvertrag sei, der nicht
nur Hintergedanken bei den Serben
und Bulgaren offenbart, sondern daß
ihre Hoffnungen auch durch Rußland
ermutigt zu sein schienen.“ Warum
aber, da er die Kriegsgefahr so schön
bemerkte, hat er sieb mit dem Ver¬
trag so leicht abgefunden? Er hatte
sichtlich nur eine Sorge, nämlich daß
England, durch diese agressive russische
Balkanpolirik kopfscheu gemacht, von
der Entente abfallen könnte. Oktober
191a schreibt er an Cambon nach Lon¬
don: „Trotz der Irrtümer,“ — man
bemerke das Bekenntnis: „Irrtümer“—
„welche die russische Regierung be¬
gangen hat, bleibt sie dem Frieden
334 Anmerkungen
und dem Status quo treu, und sie
wird sich um so weniger davon ent¬
fernen, je fester die Stütze ist, die
sie in Paris und London findet.“ Die
Ereignisse überstürzen sich: von der
Annexion Marokkos (wer hat Marokko
annektiert?) springt der Funke weiter
nach Tripolis (wer steht ermutigend
hinter Italien?), nach Serajewo. Hier
sagt Poincare: „Helas!“ Es folgt der
furchtbare Julimonat. BemerkenSwert
ist, daß er immerhin einen Stimmungs¬
wechsel in Berlin am 30. Juli zugibt:
„Im Geist der deutschen Regierung
war eine gewisse Verwirrung entstan¬
den, hervorgerufen, wie es scheint,
durch die Worte, die Grey dem Für¬
sten Lichnowsky gegenüber am Abend
vorher gebraucht hatte.“ Und er
führt das äußerst energischeTelegramm
Bethmanns an Österreich an, in dem
dieser zum Einlenken auffordert. Eine
aktive Friedenspolitik Frankreichs wäre
gewesen: vor allem den Entschluß
Englands hervorzurufen, da man wohl
in Paris wußte, daß die zögernde
englische Haltung bestimmend auf
Deutschlands Kriegsstimmung wirkte;
bis zu diesem Entschluß aber mußte
es mit größtem Nachdruck die mili¬
tärischen Maßnahmen Rußlands ver¬
hindern. Aber am 29. Juli drahtete
Viviani nach Petersburg: „Ich glaube,
daß es nicht opportun wäre, wenn
Rußland unmittelbare Maßregeln er¬
griffe, die Deutschland einen Vorwand
zur Mobilisation geben könnten.“ Wie
schwach ist dieses „opportun“ in sol¬
chem Augenblick der Gefahr! Man
vergleiche damit den Ton der Beth-
mannschen Depesche an Österreich!
Peinlich ist bei Poincare die fort¬
währende Projektion zweifellos poli¬
tischer Vorgänge auf eine moralisie¬
rende sendmentale Ebene. Das Ver¬
hältnis zu Rußland ist ihm pure Freund¬
schaft. Wie takdos von Deutschland,
sich in eine solche Herzensangelegen¬
heit einmischen zu wollen! Die Entente
Cordiale ist ihm die Sympathie zweier
schöner Seelen. Nichts bei ihm wird
als politischer Schachzug gewertet.
Dabei war aber Frankreich seit 1870
gerade infolge seiner Schwäche ge¬
zwungen, Politik zu treiben. Die dritte
Republik hatte die beste Diplomatie
in Europa. Waren die beiden Cambon
in Berlin und London, Barrere in Rom,
ein Hanotaux, ein Delcass6, ein Poin¬
care Moralisten oder Politiker? Warum
schämt sich Erankreich seines diplo¬
matischen Sieges, welcher seinen mili¬
tärischen vorbereitet hat? Während es
jetzt zur offenen Machtpolitik über¬
gegangen ist und für sein Verhältnis
zu den anderen Staaten gar keine
moralische Fiktion mehr beansprucht,
behandelt es die vorige Epoche noch
immer nicht mit der Offenheit, zu
der es gerade durch den Sieg sich
befähigt fühlen sollte.
Der Stil dieses Kriegsbuches ist sehr
gepflegt. Mit perlgrauen Handschuhen
werden alle Vorgänge angefaßt und
zierlich emporgehoben. Es gibt zu¬
gespitzte Antithesen, Apercus, Bon¬
mots, ironische Feinheiten, pathetische
Steigerungen. (Vor allem schwelgt
Poincare in der Schilderung von Mo¬
narchen- und Präsidentenzusammen¬
künften, vonTelegrammen, Empfangen,
Besuchen im Elysee und den Haupt¬
städten. O Wilhelm Poincare!) Vor
seinem akademischen Gorgonenblick
erstarrt die Welt. Deutschlands Schuld
ist eine konstante Größe, die der
ebenso konstanten Unschuld Frank¬
reichs gegenübersteht. Offenbar ist er
befähigt, die Rede in der Akademie
bei der Verteilung des Monthyon-
Tugendpreises zu halten. — Sollte es
übrigens in Deutschland gar keinen
ähnlichen Typ geben? Am ehesten
wäre es der frühere preußische Be¬
amte. Daher finden sich bei Poin-
car£ manche Bethmannsche Züge: die
gleiche moralische Selbstsicherheit, die
vornehm abweisende Haltung (das
Lieblingswort des einen ist „schnöde“,
das des anderen „infäme“), die gleiche
Anmerkungen 5 $ 5
Erstarrung. Nur war diese Art Staats¬
mann für die französische Politik bis
1918 geradezu günstig, sie eignete
sich für die passive Haltung, die ver¬
standesmäßig das Elementare unter
sich verband, dann es ruhig, abwartend
gewähren ließ und nur dann und wann
selbst dabei die Hände in Unschuld
wusch, während der gleiche Typ in
Deutschland, dessen gefährliche Lage
die größte aktive Beweglichkeit er¬
fordert hätte, im höchsten Maße ver¬
derblich war.
Ferdinand Lion
Exotische Kunst
V om Ende des siebzehnten Jahrhun¬
derts an kam chinesische Kunst,
namentlich Porzellan und Stickereien,
nach Frankreich, wirkte rasch und wurde
in den „Chinoiserien“ des achtzehnten
Jahrhunderts spielerisch von der da¬
maligen Kunst und Mode Europas ver¬
arbeitet. Etwa um die Mitte des neun¬
zehnten Jahrhunderts kam, diesmal von
Japan her, eine neue Welle ostasia¬
tischer Kunst herüber, ebenfalls via
Paris, und wirkte von dort aus. Beide-
male waren es Erzeugnisse später, schon
manierierter klassizistischer Kunst, es
war gerade jener Teil der Exotik, der
durch Naturfeme und eine gewisse
Ermüdung in Europa am wenigsten
befremdend wirken mußte. Bekannt
ist ja das auffallend anpassungsfähige
Verhalten des Impressionismus gegen
den japanischen Holzschnitt und Stoff-
druck. Die übrige Kunst der exotischen
Länder war für Europa nicht vorhan¬
den, mindesten nicht als Kunst, höch¬
stens als ethnographische Spezialität.
Inzwischen sind, in den letzten
zehn Jahren mit höchst beschleunigtem
Tempo, die Exoten in Europa zur
Wirkung gelangt. Kaum war eine neue
Hinwendung der Künstler und Kunst¬
liebhaber zu Ägypten vollzogen, kaum
waren die hochentwickelten Bildnereien
von China, Indien, Siam, Java bei uns
einigermaßen bekannt geworden, da
brach eine ganz neue Woge herein,
die eigentliche, die wilde Exotik, die
Negerplastik, die Schnitzereien und
Flechtereien Ozeaniens. Die Tanz¬
masken und Götzen, die primitiv-ero¬
tischen Bildnereien der Neger, die ur¬
alten Dämonenfiguren Chinas wurden
uns bekannt, wurden uns merkwürdig,
wurden uns wichtig.
Darüber hat Wilhelm Hausen¬
stein (bei Piper, München) ein sehr
schönes Buch soeben herausgegeben.
Auf 1 öyTafeln sind exotische BUdwerke
aller Länder abgebildet. Ihnen folgt
ein Text, ein kühner und sympathischer
Versuch Hausensteins, diesen erstaun¬
lichen Kunstgebilden gerecht zu wer¬
den. Das Buch heißt „Barbaren und
Klassiker“, und seiner Besprechung
durch einen Sachverständigeren soll
hier nicht vorgegriifen werden. Es
ist, soweit ich sehen kann, Hausenstein
geglückt, jener wilden Kunst auch
denkerisch nahe zu kommen, aber nicht
ohne ein gesteigertes Ekelgefühl gegen
Leben und Kunst Europas.
Mir, der ich sehr fern von der Kunst¬
wissenschaft stehe, ist bei Hausenstein,
und schon vor einigen Jahren bei Ein¬
steins Buch über Negerplastik, etwas
anderes in den Sinn gekommen, etwas,
das nicht besonders mit Kirnst zu tun
hat, dafür mit jener Zeitstimmung, die
das Wort vom „Untergang Europas"
im Munde führt.
Der siegreiche (übrigens prachtvolle,
von mir mit Innigkeit begrüßte) Her¬
einbruch der bemalten Schädel, der
behaarten Tanzmasken, der furchtbaren
Chimären primitiver Völker und Zeiten
in den stillen, sanften, etwas langwei¬
ligen Tempel der europäischen Kunst¬
gegenstände und Kunstanschauungen
ist allerdings ein Zeichen von Unter¬
gang. Zwar nicht von jenem Unter¬
gang, den der bürgerliche Zeitungs¬
leser sich vorstellt, wenn er über
Spengler böse wird, sondern von jenem
natürlichen, richtigen, gesunden Unter-
II 6 Anmerkungen
gang, der zugleich Beginn der Wieder-
S sburt ist — von jener Art Untergang,
e nichts andres ist als ein Ermüden
überzüchteter Funktionen in der Seele
des Einzelnen wie der Völker, und ein
zunächst unbewußtes Hinstreben nach
dem Gegenpol. In Zeiten solcher
Untergangsstimmungen kommen stets
seltsame neue Götter auf, die mehr
wie Teufel aussehen, das bisher Ver¬
nünftige wird sinnlos, das bisher Ver¬
rückte wird positiv, wird hoffnungsvoll,
scheinbar wird jede Grenze verwischt,
jede Wertung unmöglich, es kommt
der Demiurg herauf, der nicht gut noch
böse, nicht Gott noch Teufel ist, son¬
dern nur Schöpfer, nur Zerstörer, nur
blinde Urkraft. Dieser Augenblick
scheinbaren Unterganges ist derselbe,
der im Einzelnen zum erschütternden
Erlebnis, zum Wunder, zur Umkehr
wird. Es ist der Moment des erlebten
Paradoxen, der aufblitzende Augen¬
blick, wo getrennte Pole sich berühren,
wo Grenzen fallen, wo Normen schmel¬
zen. Es gehen dabei unter Umständen
Moralen und Ordnungen unter, der
Vorgang selbst aber ist das denkbar
Lebendigste, was sich vorstellen läßt.
So empfinde ich den Aufmarsch der
exotischen Kunst aus Brasilien, aus
Benin, aus Neukaledonien, aus Neu¬
guinea. Sie zeigen Europa sein Gegen¬
bild, sie atmen Anfang und wilde
Zeugungskraft, sie riechen nach Urwald
und Krokodil. Sie führen zurück in
Lebensstufen, in Seelenlagen, die wir
Europäer scheinbar längst „überwun¬
den“ haben. Wir werden sie auch auf
der Stufe der Ozeanier nicht wieder
aufhehmen. Aufhehmen aber, nicht
mit dem Verstände und der Wissen¬
schaft, sondern mit Blut und Herz
müssen wir alle diese Teufel und
Götzen erbarmungslos. Wut wir in
unsem Künsten, in unsrer Geistigkeit,
in unsem Religionen gewonnen, kul¬
tiviert, verfeinert und allmählich ver¬
dünnt und verflüchtigt haben, alle
unsre Ideale, alle unsre Geschmäcke,
damit haben wir eine Seite des Men¬
schen großgezogen, auf Kosten der
Gegenseite, haben einem Lichtgotte
gedient, unter Verneinung der finstern
Mächte. Und so wie Goethe in sei¬
ner Farbenlehre das Dunkel nicht als
Nichts, sondern als schöpferischen Ge¬
genpol des Lichtes besingt, so steht
jetzt (nur nicht mit Goethes Bewußt¬
heit) die fortgeschrittenste Künstler¬
schaft und Geistigkeit Europas vor den
Gebilden aus Borneo und Peru, staunt
und muß anerkennen, ja anbeten, was
vor kurzem noch Greuel und Gespenst
war. Und plötzlich denkt man auch
daran, wie die stärksten Menschen
in der Kunst des späten Europa, Dosto¬
jewski und van Gogh, diesen wilden,
fanatischen Zug ins Unheimliche haben,
diesen Geruch nach Verbotenem, diese
Verwandtschaft mit dem Verbreche¬
rischen.
Der Weg ist längst beschritten, keine
Mehrheitsbeschlüsse werden das Rad
zurück rollen. Der Weg Fausts zu
den Müttern. Er ist nicht bequem,
er ist nicht lieblich; aber er ist not¬
wendig. Hermann Hesse
Verantwortlich für die Redaktion t Dr. Rudolf Kayscr.
Verlag von S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig.
DEUTSCHLAND UND DER OSTEN
von
ALFRED WEBER
I n unserer ganzen Geschichte haben wir Deutschen zwischen Westen
und Osten gestanden. Kolonisatoren und Erzieher des europäischen
Ostens bis an die asiatische Grenze, Mitverteidiger gegen die mon¬
golischen und türkischen Springfluten, Händler, deren Faktoreien in
Nowgorod standen, Lieferanten nicht nur von Waren, sondern von
Fürstengeschlechtern, beamteter Brief- und Geburtsaristokratie, von
Bauernmaterial, das man vor zweihundert Jahren noch bis zur Wolga
und zur Krim siedelte, das durchdringende, aufrüttelnde, organisierende
Element, dessen Idiom die „Weltsprache* bis nach Konstantinopel und
östlich bis zum Baikalsee war, in diesem ganzen Gebiet in Konkurrenz
nur mit den großen früher eingedrungenen Mächten der griechischen
Kirche, unzweifelhaft nicht mit jenem Einfluß in die Tiefe, wie diese,
aber immer für die Neugestalt des Lebens mitbestimmend: so waren
wir befruchtend und gebend in diese östlichen Grenzenlosigkeiten
verwachsen, dies einzige Gebiet, in dem wir uns ungehemmt ent¬
falten konnten, und das auch nach unserem Sturz mit den Kolossal¬
büsten von Marx in dem unendlichen Rußland diesen deutsch-westlichen
Einfluß heute noch symbolisiert und auf die Tafeln, auf denen die
Märtyrer und Kämpfer seines Neuen stehen, neben russischen Namen
unwillkürlich nur deutsche zeichnet. Nach dem einmaligen Ein¬
strömen der griechischen Kirche war tatsächlich der deutsche Einfluß
der stete Neugebärer dieses Ostens.
Unsere eigenen geistigen Neugestaltungen aber haben sich bis
heute stets anderswo — von unserer Mitte bis zum Rhein — vollzogen.
Sie hatten das Gesicht nach Westen und nach Süden (nach Frank¬
reich und Italien) gewendet, waren vom Südwind, der über die Alpen
kam, genährt, standen im Herüber und Hinüber des germanisch¬
romanischen Widerspiels, das über den Rhein und das allgemeine
Knochengerüst der mittelalterlichen Ökumene, die Alpen, erfolgte.
22
3 3 8 Alfred Weber, Deutschland und der Osten
Seitdem uns Bonifatius und seine Nachfolger geschaffen haben, sind
wir trotz allem, was wir nach Osten hin gaben, dachten und voll¬
brachten, ein Teil jener höchst wunderbar und mannigfaltig durch die
Jahrhunderte in immer neuen Farben leuchtenden geistigen Weltkugel
gewesen, die um die Rheinachse sich drehte und die, solange man sie
noch nicht zertrümmert hatte, das Einzige war, was die Berechtigung
gab, von einem Begriff* wie dem Europas in mehr als geographischem
Sinn zu sprechen. Unsere Aufgabe schien zu sein, an der Dynamik
im Innern dieses Körpers teilzunehmen und soweit wir dabei gleich¬
zeitig nach Osten wirkten, die im europäischen Zentrum entwickelten
Strahlen, in unserer Färbung und mit unseren Kräften dorthin fort¬
zuleiten. Wir waren das europäische Ausstrahlungsgebiet nach Osten.
Diese Dymanik und das west-östliche Hindurchffuten ihrer Kräfte
durch unseren Leib ist heute zu Ende, seitdem die geistige Welt¬
kugel, die man Europa nannte, selbst zerschlagen wurde, das germano-
romanische Widerspiel beendet und eine Polarität ganz anderer Art,
zwischen der angelsächsischen Weltsphäre und einem aufkommenden
Europa-Asien an die Stelle gesetzt ist. Unsere frühere Stellung
zwischen Osten und Westen ist damit erledigt. Wir stehen in einer
von Grund aus anders orientierten, mit anderen Kräftezentren aus¬
gestatteten, in anderen Fluß und Gegenfluß der Strömungen ge¬
tauchten Welt. — Wir stehen auch in ihr noch immer zwischen Westen
und Osten. Aber was wird der Westen, was wird der Osten nun¬
mehr für uns bedeuten?
Der Westen ist jetzt das Angelsachsentum und seine Welt. In
dieser angelsächsischen Sphäre sind zurzeit die politischen Herrschafts¬
kräfte der Erde versammelt. In ihrem Hin und Her und ihrem
Ausgleich wird über das politische Schicksal des gesamten Globus
heut entschieden, über die Repartition der kriegerischen Beherrschungs¬
mittel, die es fordert. Hier formt man die internationale politische
Macht- und Kriegsmaschinerie mit gleichberechtigtem Gewicht der
beiden angelsächsischen Zentren an der Spitze unter abgestufter Ein¬
gliederung der Kleineren. Hier sind die wesentlichen Wirschafts¬
kräfte, die großen Reichtumsmassen konzentriert, mit denen die Natur¬
kräfte der Erde weiter aufgeschlossen, organisiert und in den Arbeits¬
bau der kapitalistischen Wirtschaft hineingezogen werden. Der ganze
Osten ist, von diesem großen Weltzentrum gesehen, nichts anderes als
ein riesiges, bisher nur unvollkommen aufgeschlossenes Behältnis
solcher noch einzufügender Kräfte, noch aufzuklärender und anzu-
33 9
Alfred Weber, Deutschland und der Osten
passender Menschenmassen, noch umzugestaltender Staats- und Wirt¬
schaftsformen, fÖr deren An- und Eingliederung man die modernen
Formeln und Formen sucht und finden wird. Zivilisation und Kultur
konzentrieren sich auf die Linie London-Newyork und ihre Ver¬
längerung nach Chicago und dem amerikanischen Westen. Dies ist
die neue Weltachse, die an die Stelle der alten Rheinachse getreten
ist, um welche die europäisch-kapitalistische Ursprungswelt sich drehte.
Wie diese Rheinachse in der abendländischen Entwicklung an die
Stelle des alten Mittelmeerschwerpunkts der antiken Welt getreten
war, so haben sich nach langem Osdlüeren die Schwergewichte der
neuen Weltbewegung jetzt definitiv an diese neue Weltachse gezogen.
Was sich um sie zusammendrängt, an ihrer Ballung teilnimmt, in
ihrem Turnus mitschwingt, lebt — alles andere ist nur Ausstrahlung
und Widerspiegelung. Man spricht die Sprache der angelsächsischen
Weltsphäre heut in jeder Hafenstadt der Erde, man wird an jedem
Platz der Erde von ihrem Nachrichtendienst versorgt, zu jedem durch
ihr Handels- und Schiffahrtsnetz getragen; — man empfängt von ihren
beiden Polen die neuen geistigen Stichworte der Erde, wo man auch
auf dem Globus ist. Die Welt wird geistig und physisch organisiert
aus dieser nunmehr zu ihrem Gewichtszentrum und gleichzeitig zu
einer großen Einheit gewordenen angelsächsischen Sphäre.
Wird tatsächlich der Osten von ihr mit verschlungen werden, so
daß die neue Polarität zwischen Westen und Osten, von der ich sprach,
und in der wir stehen, nur ein Schein ist? — Ich glaube nicht Die
starken politischen Befreiungszuckungen des asiatischen Körpers, die
Tatsache, das hinter ihnen das nicht bezwungene und kaum zu be¬
zwingende Rußland steht, die Konkordanz der neuen Freiheitstendenzen
mit der offiziellen Ideologie, welche die neue Weltherrschaft vertreten
muß, — daß alles wäre angesichts der materiellen und technischen
Überlegenheit der beiden angelsächsischen Zentren und ihrer aus¬
gesprochenen, ihnen gerade eigenen Gabe, auch im Namen der Freiheit
doch tatsächlich zu regieren und zu herrschen, für die Zukunftsprognose
der Selbständigkeit des Ostens vielleicht noch nicht entscheidend.
Niemand kann wissen, wie die zu stellen ist, wie das politische Ge¬
sicht der Welt aussehen wird, wenn sich die Nebel des neu herauf¬
steigenden Jahrhunderts verzogen haben werden und ob nicht seine
Züge für absehbare Zeit doch bestimmt sein werden von der Domi¬
nanz der angelsächsischen Kräfte. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. —
Hier aber handelt es sich um das Geistige. Der Osten ist geistig
34 ° Alfred Weber, Deutschland und der Osten
eine Masse, die man nicht ohne weiteres verschlingen kann, auch nicht
mit noch so riesenhaften materiellen Kräften, die sich heute irgendwo
massieren. Die leeren Flächen Australiens, der kulturarme Körper
Afrikas, der ausgesogene und zerschlagene Südamerikas mögen — schon
politisch und wirtschaftlich weitgehend angegliedert — das vielleicht
noch weiter als bisher auch geistig werden. Sie werden vielleicht
dauernd auch geistig nur Außenschläge des großen neuen angel¬
sächsischen Weltimperiums bilden, teilweise mitgefärbt von dem
französischen, dem italienischen und spanischen Einfluß; — sie alle
bis zur Jetztzeit weitgehend nicht nur physisch, sondern auch geistig
internationale „Leergebiete“. Die großen alten Kulturwelten des
Ostens aber stehen in ihrer physischen und geistigen Körperhaftigkeit
schon gleichgewichtig neben den alten und ältesten Stufen der abend¬
ländischen Geschichtswelt. Sie mögen künftig in dieser oder jener
Form der politischen und ökonomischen Abhängigkeit zu dem jetzt
voll entfalteten angelsächsischen materiellen Magnetgebiet der Erde
bleiben, — sie können geistig in ihrer Fremdartigkeit, Dichte und
Massiertheit von ihm nicht aufgesogen, ja nicht einmal nach ihm
ausgerichtet werden. Diese ganzen Gebiete wissen heute, was sie
zivilisatorisch vom Westen übernehmen können, seine Maschinen, seinen
Technizismus; — sie werden sich auch seine demokratisch-politischen
Ideen zunutze machen, seine Wirtschaftsformen sich eigentätig adaptieren,
ihre Kultur aber, die zwei- bis dreitausendjährige, unendlich reiche,
vielgestaltige und tiefe Gestalten- und Ideenwelt, die aus ihrem Schoß
erwachsen ist und sie geformt hat, die unabgestorbenen geistigen
Kräfte, die daraus erfließen und deren Wiedererwachen die eigentlichen
Quellen auch der heutigen politischen Beffeiungsströme sind, sie werden
immer stärkste ungebrochene und unbrechbare Positionen bleiben, und
ein Gewicht der geistigen Gegenpolarität gegen die angelsächsische
Weltsphäre bedeuten, das nicht zusammenstürzt, mit jedem Tag mehr
zunimmt Für Fortbestand und Leben dieser großen Welten wird der
politische Gegenwartserfolg gleichgültig, die geistige Einstellung auf
eigenen Boden, die Ausrichtung auf eigene kulturelle Ziele entscheidend
sein, und bedeutsam weiter die geographische und Schicksals-Gemein¬
schaft mit dem europäischen Osten, der in gleicher Lage in anderer
Weise und doch ähnlich auch das Gesicht nach Westen hin gewendet
für sich selbst ringt. — Wer auch nur eine Ahnung von Rußland hat,
weiß, es mag zivilisatorischen Einflüssen des Westens, wirtschaftlichen,
vielleicht auch einmal politischen Formen, die er ausgebildet hat.
34 *
Alfred Weber, Deutschland und der Osten
zugänglich sein, sogar, wie heute zeitweise unter die Herrschaft deutsch¬
geformter westlicher Ideen kommen,—vom Angelsachsentum, seinem
Wesen und seinen Ideen scheidet es sich wie Feuer von Wasser. Es
wird sich zischend und voll Wut stets gegen den englichen Pragmatismus
und seinen Menschentypus wenden; es wird, um ihm zu entgehen,
lieber geistig zurück ins fernste Asien und in die Steppe flüchten. Es
steht ihm gegenüber nicht nur schicksalsmäßig, sondern im tiefsten
Sinne geistig und seelisch mit ganz Asien auf dem gleichen Boden.
Welches ist die andere Ebene, auf der dies Europa-Asien, das zum
Gegenpol der angelsächsischen Welt heraufwächst, im Gegensatz zu
dieser steht? — Man kann sie nur als eine bewußt oder unbewußt in
irgendeinem Sinn metaphysische bezeichnen. Auch das Angelsachsen¬
tum wuchs einst auf solchem Boden, insofern es im Rahmen der
mittelalterlichen europäischen Welt und ihrer transzendenten Unter-
bauung groß geworden ist. Es hat durch Anselm von Canterbury,
Duns Scotus, Occam und andere so stark wie irgendeins der euro¬
päischen Völker zu jener geistigen Tiefengliederung der Dinge bei¬
getragen, in der das Mittelalter lebte und der die äußere Erscheinungs¬
welt nur „Transzendenz“ von etwas anderem, wirklich Seiendem be¬
deutete. Aber in keiner europäischen Sphäre ist jener Tiefenhintergrund
des Daseins später so vollständig zugedeckt, ja vermauert worden, wie
in der angelsächsischen. Ganz gleich, ob über den Puritanismus, der
ja jedes Denken über die Substanz der Dinge ab- und ausschloß, über
den Empirismus Bacons, dessen „regnum hominis“ den bloßen Prag¬
matismus schon vorwegnahm, oder über theoretischen Hedonismus,
alle Wege führten in England auf die Ebene der bloß praktischen
Lebenszwecke, von der Spekulation fort zu dem pragmatistischen Zweck¬
verkettetsein des Denkens und von einer über praktischen Zwecken
stehenden Lebenshaltung zu einer solchen, die von diesen angefüllt
ist. Nichts hat vielleicht die in den Grundzügen schon angelegte
politische Meisterschaft dieser „Rasse“ so gesteigert als dies seitdem zu¬
nehmend mehr ausschließliche Verweilen im Bereich des praktisch
Möglichen und Guten. Aber nichts trennt sie, seitdem sie sich zum
fest fixierten Typus dieser Art geprägt und in ihrer Welt die tieferen
geistigen Stockwerke verschüttet und verbaut hat, so definitiv von
jenen Teilen der Erde, in denen man auch weiter noch in jenen
tieferen geistigen und seelischen Daseinslagen lebt.
Der ganze Orient, Rußland tun das. Und zwar in einer ganz
bestimmten Art, die beide verbindet. Für beide ist überall das Dasein
34 * Alfred Weber, Deutschland und der Osten
etwas Doppeltes, ein Sein in einer Welt des zweckbefreiten Absoluten
und ein zweites in der Welt der zweckgebundenen Erscheinung, ein
Leben in einer zwiespältigen Atmosphäre, in die der Pragmatist nicht
niedersteigen, in der er nicht atmen kann und die ihm, wenn er sie
sich doch zu adaptieren sucht, dann lediglich nach seinem festge¬
wordenen Wesen die anthroposophische Zweckgrimasse schneidet.
Der ganze Orient und mit ihm Rußland aber kennen für die letzten
Dinge keine Zwecke; sie sehnen sich nach Befi*eitheit von prak¬
tischen Zwecken; für sie ist das Höchste, mit möglichst viel von
dieser Freiheit, wie mit einem transzendenten Schimmer, auch das
Diesseits zu „verklären“; ihnen steht dieser „Sinn“ des Daseins höher
als alles praktische Handeln. Sie sind daher durch die Tiefen¬
ketten dieser Stellungnahme im praktischen Handeln fortgesetzt ge¬
hemmt, verwirrt von einer Zwiespältigkeit der Ziele. Nichtstun ist
gut, das Handeln problematisch. Die politische Unterlegenheit von
ganz Europa-Asien, seine Schwäche in der äußeren (und zwar nicht
bloß ökonomischen) Lebenspraxis hat hier ihre tiefste Wurzel. Politik
und Lebenspraxis sind hier eingespannt in eine letzte Daseinszweiheit,
die das technisch reine Handeln schwer macht, die es zwischen Abso¬
lutem und Bedingtem schwanken läßt, bei der das Absolute immer
wieder das praktisch Mögliche verschlingt und immer wieder eine
Zerbrochenheit, ein Zurückgeschlagenwerden auf einen letzten, in
Wahrheit nur noch transzendenten Lebensgrund herbeiführt. — Das
ist eine stets erneute Unglückseinheit zwischen dieser ganzen weiten
Sphäre.
In eben diese Schicksalsgemeinschaft aber sind wir Deutschen heute
verschlungen. Wir sind es nicht bloß äußerlich, sondern letztlich aus
dem gleichen inneren Grunde. Auch für uns gilt jene Doppelheit
der Existenz, wenn auch in etwas anderer Form und anderer Zu¬
spitzung. Wir sind in eminentem Sinn ein Volk der Sachlichkeit,
der Zweckeingestelltheit und der äußeren pragmatistischen Wirklich¬
keit. Wir sind aber in eben so hohem Maß ein solches jener
zweiten metaphysisch-transzendenten Ebene, ja wir sind unter allen
ehemals europäischen Völkern durch die Richtung, nach der wir uns
entwickelt, die Prägung, die wir erhalten haben, das eigentlich alleinige
europäisch-metaphysische Volk. In eigentümlicher Unverbundenheit
stand beides bisher bei uns nebeneinander, so weitgehend, daß in
unser sachliches zweckorientiertes Handeln jeweils überhaupt nur kleine
Teile unseres Wesens und unserer tieferen Daseinshaltung eingingen.
343
Alfred Weber, Deutschland und der Osten
Wir waren imstande, dieses praktische Handeln gewissermaßen jenseits
von Gut und Bose au vollziehen und hatten uns dafür in der letzten
Zeit eine eigene Theorie geschaffen, die in ihrer Ehrlichkeit die andern
Völker grauen machte. Aber wir waren in Wirklichkeit im höheren
Sinne nicht imstande, zu handeln. Denn unser Handeln ging in seiner
Losgelöstheit beinah schon wie ein unzweckmäßiges vor sich; es
sog, weil es uns selber nicht in unserer Totalität bei seinem Inten¬
dieren und Vollziehen in sich aufhahm, tatsächlich auch nur geringe
Teile des Daseins als beherrschten und beherrschbaren Körper in sich.
Das ganze geistige Gebiet, die volle Breite der psychologischen Kräfte,
ließ es, da es nur technisch und partial war, beiseite liegen. Es war
keine eigentliche Zweckmäßigkeitsbeherrschung des Totaldaseins wie
das angelsächsische Handeln; und es mußte, da es das nicht war, da
es die Wirklichkeit nur teilweise beherrschen konnte und da wir nur
partial in dasselbe eingingen, scheitern und uns aus dem Beherrschungs¬
versuch der Realität auf jene außerreale, metaphysische Ebene zurück¬
schleudern, auf der wir trotz allen äußeren Anscheins im eigentlichen
Sinne immer lebten, genau so wie Rußland und der ganze Osten.
Jetzt sind wir dorthin zurückgeschleudert und nun .auch äußerlich
durch das gleiche Schicksal mit dieser Welt verbunden. Wir können
nun erkennen, wohin wir in der großen Politarität zwischen ihr und
dem Angelsachsentum für die fernere Zeit gehören.
Das heißt noch nichts Unmittelbares für unsre künftige äußere
politische Zugehörigkeit. Genau so wie die politische Zukunftsform
des Ostens noch ganz unerkennbar ist, wie das aber für die grund¬
legende geistige Gegensätzlichkeit und ihre Existenz nichts ausmacht,
können auch unsere politischen Wege diese oder jene sein, durch Zeit
und Möglichkeit geboten. Es mag sein, daß wir für absehbare Zeit
im Rahmen westlicher Kombinationen stehen werden; unsem Platz
irgendwo in der vom Angelsachsentum geleiteten Weltgestaltung finden;
die Fahrt im amerikanisch-englischen Tourenauto für uns den Weg zur
Freiheit darstellt. Das entscheidet nichts Geistiges. — Unser östlich
orientiertes geistiges Schicksal sagt auch noch nichts über Maß und
Art der geistigen Einflüsse, die wir vom Westen und vom Osten her
erhalten und hier- und dorthin weitergeben. Wir sind durch gleiche
Kulturgrundlage Tradition*-, Sach- und Begriflsgemeinschaft mit der
westlichen, daher auch mit der angelsächsischen Welt verbunden, aus
demselben Europäertum geboren, in ähnliche äußere Lebensproblematik
eingebettet. Das Herüber und Hinüber dorthin wird auch künftig
344 Alfred Weber , Deutschland und der Osten
leichter sein, vielfältiger auf gewohnten Bahnen laufen können, wenn
auch die Eindrticke, die wir vom Osten her erhalten und dorthin
geben werden, in ihrer großem Seltenheit wohl größere Tiefe haben
werden, da wir mit ihm ja letztlich auf dem gleichen Boden stehen. —
Unsere Schicksalsgemeinschaft mit dem Osten bestimmt nur unsere
geistige Aufgabe an uns selber. Diese kann nur sein, die Doppel¬
heit der Existenz, die uns zerbrochen hat, zu fiberwinden und doch,
um unser Tiefstes zu bewahren, so wie der Osten, in einem anderen
Sinne in ihr zu bleiben; die Existenz im Unbedingten, die uns hand¬
lungsschwach gemacht hat, trotz aller Nöte uns zu erhalten, mit
größtem inneren Schwergewicht zu vertiefen, aber zu lernen, die äußere
Realität des Daseins bewußt nicht nur als etwas anderes — das haben
wir schon vordem — sondern in ihrem Anderssein trotzdem mit ihr
Verbundenes zu behandeln, das „Bedingte“ und „Mögliche“, das sie
enthält und ausAillt, nicht losgelöst als bloß Mechanisches, vom Letzten
Unberührtes, zu vollziehen, womit wir dann das Leben im Handeln nie
umgreifen können, weil wir es nicht mit unserm Sein erfüllen, sondern
das Bedingte und alltägliche Gute, bewußt es trennend, doch in dynamischer
Beziehung zu jener anderen Welt, an ihr gemessen und durch sie kontrol¬
liert, zu leben; im Bewußtsein der Relativität des „Möglichen“, doch
eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, auf der die Transzendenz,
in der wir sind, zur Wirklichkeit heran drängt. Die vielleicht heroische
Spannung der lebendigen Koexistenz von Beidem in uns, das „Trotzdem“,
mit dem wir das Dasein in diesem Spannungsgrad gestalten müssen,
wird, so scheint es, die Atmosphäre unserer Geistigkeit und zugleich den
Weg bereiten, auf dem wir von unserer geistigen Tiefenlage aus allein
uns einer äußeren Beherrschungsform des Daseins nähern können.
Offenbar ein langer und zugleich ein neuer Weg. Daß er vom Morgen¬
hauch eines Neuanfangs umweht ist, gleichzeitig aber ältestes tausend¬
jähriges Leben mit sich führt, Erneuerung und doch Nicht-Vergessen dar¬
stellt, Jungwerden und gleichzeitig Altsein, dies und die gleiche Aufgabe:
vom unverlorenen, transzendenten Boden einer Unbedingtheit zu irgend¬
einer Art der Alltagsformung im Rahmen neugewordener Bedingtheit zu
gelangen, das stellt uns in den gleichen Rhythmus und die gleiche Richtung
mit der in Marsch gekommenen Bewegung des übrigen Europa-Asien.
Es ist natürlich töricht zu glauben, Methoden und unmittelbare Auf¬
gaben würden dabei in dieser neuverbundenen Weltsphäre die gleichen
sein. Europa-Asien ist kein einheitlicher Körper von verwandter gesell
schaftlicher, wirtschaftlicher und geistiger Formung, sondern eine Welt
345
Alfred Weber, Deutschland und der Osten
der größten Mannigfaltigkeit, von keiner Denk-, Sprach- oder Form¬
gemeinschaft irgendwelcher Art, vielmehr von abgrundtiefsten Differenzen
der seelischen Ausdrucksrichtung, geistigen Gegenstandsgestaltung und des
praktischen Wollens; — eine Welt verschiedenartiger historischer Kultur¬
gebilde teilweise riesiger Gestalt und ältester Fixierung, teilweise bisher
beinah flüchtiger Leere und wandelbarer Jungheit. In einem Teil
dieser Körper wird aufgelöst, flüssig gemacht, die hart gewordene
Substanz wie in Hochöfen umgeschmolzen und umgegossen werden
müssen, in anderen das eingestürzte Bauwerk in neuen Formen wieder
aufgerichtet, oder auf beinah öd gewordenem Brachfeld aus dem
Nichts gestaltet, bei uns wahrscheinlich ohne wesentliche äußere Trans¬
formierung von innen her verwandelt werden müssen; an jeder Stelle
eine andere Art der Tätigkeit und Aufgabe. Ein Spiel von Kindern
natürlich ist es, dabei aus dem Gefühl der Einzigkeit und Eigenheit der
Forderung, nunmehr ein Grübeln und ein Suchen nach dem eigenen
Wesen, dem „deutschen Wesen“, zu beginnen. Man findet sein Ich
durch keine Reflexion und Selbstzergliederung — sondern indem man
es im Handeln gegen die Substanz der Dinge stellt. Dies Handeln
aber wird wohl in dem großen nicht angelsächsischen Weltbereich
allerdings weitgehend völkerindividuell sein. Das heißt vom eigenen
seelischen Boden, in eigener Substanz, mit eigener Lösung. So aus
der historischen Lage, so auch aus dem Tiefengrund des Wollens. Das
Prinzip des Formungswillens mag in der angelsächsischen Welt, solange
sie in tiefere geistige Daseinslagen noch nicht wieder durchstößt, viel¬
mehr im Zweckbereich sich aufhält, so wie die Werkwelt selber uniform
sein, soweit es überhaupt in das Naturgewachsene eingreift und mehr als
bloß Gesellschaftsform will. In der nicht angelsächsischen Sphäre
wird sein Aufsteigen aus der dort vorhandenen letzten Daseinsebene so
viel verschiedene Gestalten der Materialisierung suchen müssen, als es
verschiedene äußere Substanz im Rahmen jener Spannung zwischen
Absolutem und Bedingtem jener Doppelheit der Existenz dem Seelischen
anverwandeln will. Gelingt hier überhaupt Gestaltung, wird sie sehr
differenten Schnitt und Ausdruck haben. Die Aufgabe selber aber wird
gemeinsam sein: das als Material des Daseins heut Gegebene, das zivili¬
satorisch-wirtschaftlich ganz modern Gebotene aus dem erhalten ge¬
bliebenen Tiefengrund zu formen. Mag das heroisch, in der Vollendung
übermenschlich sein, es gibt dem Lebensatem, der durch das Gebiet
hindurchweht, seinen herben und gleichzeitig starken Morgenduft. Wir
tauchen durch ihn mit den Völkern östlich von uns in das gleiche Frührot.
DIE ZERRÜTTUNG DER WELTWIRTSCHAFT
von
BERNHARD DERNBURG
I
ie Zerrüttung der Weltwirtschaft, die alle Völker und alle Zonen
umgreift, ist letzten Endes die Folge einer falschen moralischen
Einstellung der Völker und ihrer Führer. Der unlösliche wirtschaftliche
Zusammenhang wird ebenso verkannt wie die politische Interdependenz.
Statt der absoluten Solidarität, der reibungslosen Zusammenarbeit einer
auf der Grundlage des Rechtes aufgebauten Gemeinschaft wird aus
Gefühlen der Rache, der Furcht und der Besorgnis vor industrieller
Verdrängung einer Politik nachgejagt, die den Vorteil des Einen in
der politischen und wirtschaftlichen Unterdrückung und Aussaugung
des Anderen findet. Dabei wird überdies die Natur der Austausch¬
mittel verkannt. Sie sind lediglich Vehikel des Verkehrs, sie spielen
dabei die gleiche Rolle wie Transportmittel, Schiffe und Bahnen. Der
wirkliche Verkehr besteht einzig in dem Austausch der Güter. Nur
wo konsumiert wird, findet der Produzent Absatz, nur wo produziert
wird, werden die Mittel zur Befriedigung des Konsums erworben. Die
Steigerung der Produktion ist deshalb das Mittel, die Welt zu för¬
dern; alle Dinge die sie hindern: unnötige Generalkosten, verkehrs¬
hindernde Schranken wie Zölle, teuere Transportmittel, leistungsunfähige
Arbeit, starke fiskalische Belastung und wirtschaftliche Unfreiheit ver¬
hindern die Ausdehnung der Produktion. Der Weltverkehr wie der
Binnenverkehr bedarf ferner des Kapitals, des eigenen wie des ge¬
liehenen. Kredit ist aber Sache der Einschätzung der Zahlungsfähigkeit
des Darlehennehmers und begrenzt durch die Kapitalkraft des Dar¬
lehengebers. Ist die erste ungünstig, die zweite nicht vorhanden oder
in unwilligen Händen, so fehlt ein wichtiges Instrument des Verkehrs:
er verarmt und verkrüppelt. Die Summe der Erzeugnisse schrumpft
zusammen oder kommt nicht in den Verkehr, sondern wird unwirt¬
schaftlich verbraucht Die falsche moralische Einstellung, die für den
Krieg ebenso verantwortlich ist wie ffir die Pariser Frieden, wertet sich
in allen diesen Dingen aus. Dafi es nötig ist, solche gemeinplätzlichen
Feststellungen gegenüber der Pariser Friedenspolitik zu machen, ist ein
übles Zeichen.
Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 547
n
Die Erkenntnis ist allerdings auf dem Marsche. Sie versuchte, durch
den Wilsonschen Völkerbund eine Harmonie der Weltinteressen zu
schaffen und „an Stelle der brutalen Gewalt der Waffen die Herrschaft
des Rechtes zu setzen .* 1 Aber dieser Bund hat zum ausgesprochenen
Zweck, ein Instrument zu garantieren, das gerade in äußerster Aus¬
beutung der durch Waffengewalt erzwungenen Lage und in Vernei¬
nung der moralischen Forderungen, die auch die Besiegten erheben
dürfen, geschaffen wurde. Das kann zu nichts führen und verurteilt
diesen Bund, wie er heute besteht, um so stärker zur Unwirksamkeit
und Mißachtung, je stärker die Notwendigkeit erkannt wird, die Welt
auf eine sittlichere Grundlage zu stellen. Die Washingtoner Kon¬
ferenz hat dies erkannt; die Aufgabe, die Mittel der Macht einzu¬
schränken, die Gefahren aggressiver Bündnisse zu verringern, imperia¬
listischen Tendenzen nach Ausnützung von Machtpositionen gegenüber
schwachen Völkern die Spitze abzubrechen, hat sie dem Völkerbund,
der damit nicht voran kam, abgenommen. Die Konferenz von Genua,
die einen neuen Völkerbund nach den Worten Lloyd Georges ein¬
leiten soll, will die wirtschaftliche Weltordnung wiederherstellen. Sie
steht unter dem Zeichen der internationalen Solidarität.
III
Die Völker pflegen nicht aus der Geschichte zu lernen, sie sind
unfähig zu Abstraktionen. Das Sittliche muß ihnen beigebracht werden
nicht als das Primäre — was doch soviel einfacher wäre und die Ver
knotungen der internationalen Lage beinahe spielend auflösen würde,
weil seine Imperative ohne weiteres durcbgreifen — sondern als ein
Sekundäres, das, so zu sagen als angenehme Nebengabe, als geistiges
Beruhigungsmittel sich mitergibt. Dieser materialistischen Einstellung
zu dienen, glauben alle Staatsmänner ihren Völkern schuldig zu sein.
Und beileibe keine „pazifistischen Phrasen**, keine „internationalen An¬
biederungen**, „keine volksfremde Anerkennung der zwischenstaatlichen
Verflochtenheit** und keine Einstellung auf realpolitische Notwendig¬
keiten der Gegner. Unsere Situation leidet daran, daß kein Staats¬
mann die Kraft und Überzeugung gefunden hat, das Recht als Basis
der Völkerbeziehung, die Unterdrückung des Machtprinzips um seiner
eigenen Unsittlichkeit halber, ohne Rücksicht, lediglich um ihrer selbst
willen, als kategorische Forderung zu verteidigen. Es muß immer zu¬
nächst bewiesen werden, daß der materielle Wohlstand gefördert wird.
5 48 Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft
daß der Schaden des falschen Prinzips großer ist als sein momen¬
taner Nutzen, damit Revisionsforderungen vor den demokratischen
Volksvertretungen Gnade finden. Wilson war ein falscher Prophet;
ein wahrer ist seither nicht erstanden. Das ist das tragische der Lage,
auch vom Standpunkt praktischer Resultate aus.
IV
Dr. Emst Schultze, Privatdozent an der Universität Leipzig*, hat
ein lesenswertes Buch geschrieben, das die wirtschaftlichen Folgen der
falschen Einstellung schildert. Dr. Schultze ist kein „Wirtschaftler“.
Und das ist ein Glück. Denn die selbsternannten „Wirtschaftler“, die
als eine gewisse Selbstverständlichkeit die Führung der politischen
Geschäfte fflr sich verlangen, weil sie glauben, daß weil die Wirtschaft
krank ist, nur sie die gegebenen Ärzte seien, haben uns in der Ver¬
gangenheit politisch wenig geholfen. Die Aufgaben der großen Führer
sind aber heute die Einleitung einer großen Propaganda der Erkenntnis,
also politische und völkerpsychologische, die oft gerade mit den Nei¬
gungen und Geschäftsgebräuchen der Wirtschaftler in Konflikt kommen
müssen. Ist dieser Feldzug erfolgreich, so müssen von allen Seiten
schwere Opfer gebracht werden, neue Einstellungen werden gefordert.
Und gerade gegen die Geistesrichtung der führenden Wirtschaftskreise
muß sich diese Tendenz durchsetzen. Wer daran zweifelt, sehe sich
nur die apolitische Stellung an, die die deutsche Wirtschaft im Kriege
eingenommen hat; das Rezept der sechs Verbände und dessen getreu-
liche Befolgung uns gegenüber durch die Entente. Und der französische
Wiederaufbau durch deutsche Hilfe kann nicht in Gang kommen,
weil dabei den französischen Wirtschaftlern das Geschäft genommen
wird. Welcher große deutsche „Wirtschaftler“ hielt es vor dem Kriege
mit seiner Würde vereinbar, in die Arena des Parlaments herabzu¬
steigen; dazu waren die Herren Verbandssekretäre da, die man
möglichst auf alle „bürgerlichen“ Parteien verteilte, die die „Interessen“
kräftigst vertraten und dafür bezahlt wurden. Wehe dem, der etwa
aus eigener entgegenstehender Überzeugung aus der Reihe tanzte. Man
wollte apolitisch sein und ist es geblieben. Das kann ganz gut und
in der Ordnung sein, denn es muß auch Spezialisten geben, aber
dann „ne sutor altre crepidam“. Ich möchte die „Wirtschaftler“ als
* Dr. Emst Schultze: Die Zerrüttung der Weltwirtschaft. Stuttgart, bei
Kohlhammer 191a.
Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 3 49
erfahrene, kräftige und kenntnisreiche Ratgeber nicht entbehren, be¬
sonders weil in der Bürokratie, die doch die Geschäfte des Reiches
von Amtswegen führt, eine praktische Kenntnis kaum vorhanden sein
kann. Nur das muß man hierbei bemerken: Als Wirtschaftler wird von
deren hoher Akademie nur eine auf gewisse Anschauungen abgestempelte
Führerklasse anerkannt, die früher die Kemtruppe des Vereins „mit
dem langen Namen“ waren. Dr. Rathenau zum Beispiel und andere,
die über ein Menschenalter Wirtschaft getrieben haben, ohne sich auf
den „Herrn im Hause Standpunkt“ eingeschworen zu haben, gehören
nach striktem Ritus nicht dazu. Also Dr. Schultze ist kein Wirt¬
schaftler, sondern ein Sucher; sein Buch liest sich wie ein interessanter
Katalog all des Widersinns, der gegen die erfolgreiche Betätigung
menschlichen Fleißes ausgedacht ist und der den Erfinder beinahe mehr
schlägt als die Opfer. Die Einteilung des Buches ist übersichtlich, die
Wertung der einzelnen Faktoren in ihrer Wirkung auf das Gesamt¬
bild etwas stecken geblieben, das Material — es liegt das in der
schweren Erreichbarkeit, kostet doch das eine Buch von Keynes, ein
schmächtiger Band von zoo Seiten, etwa 300 Mark deutscher Währung
— ist nicht immer sicher. Aber ein interessantes und nachdenkliches
Buch und deshalb wichtig, weil es dem politisch denkenden Deutschen
bei der schweren Arbeit hilft, sich in die wirtschafts- und geldtech¬
nischen Probleme hineinzudenken, eine Arbeit, der er sich nicht ent¬
ziehen darf, wenn er vermeiden will, Schlagwortpolitikem zum Opfer
zu fallen.
V
Das einleitende Kapitel bringt unter der Überschrift „Der Absturz
Europas“ interessante Zahlen. Ihre Authentizität wird sich nicht überall
nachweisen lassen, aber als Maßstab und Größenordnung sprechen sie
eine eindringliche Sprache. So werden die Staatsschulden der wichtigsten
Weltländer für
1713 (Utrechter Friede)
auf
6 Milliarden Goldmark
1 81 6 (nach den Napo-
leonischen Kriegen)
99
*8 „
99
1873 (nach dem deutsch-
französischen Kriege)
99
i§9 9 6 „
99
1914
1 7 ^>4 99
99
19ZO
»9
IOIO „
„ angegeben.
Diese Größenordnung zeigt, was die Summe von 13z Milliarden Gold¬
mark, die uns das an seiner inneren Unmöglichkeit zerschellte Londoner
3 5 o Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft
Ultimatum zudachte, bedeutete. Die Gesamtkriegskosten waren (nach
Professor E. H. Bogart, New York) 833 Milliarden Goldmark, während
sämtliche Kriege zwischen 1793 und 1905 einschließlich nur 88,6
Milliarden verschlangen. Auch hier sieht man das Ungeheure des
unmittelbar hinter uns Liegenden. Man kann aus diesen Zahlen aber
auch die großartige Entwicklung erkennen, die die Welt in den letzten
Dezennien wirtschaftlich genommen hat Denn wenn auch den Kriegs¬
kosten vielfach ganz übertriebene Lieferungspreise zu Grunde lagen
und ein großer Teil der Schulden nicht für Güter, sondern für per¬
sönliche Leistungen, Löhne, Gehälter ausgegeben ist, so muß doch
ein großer Teil jener Milliarden neu erzeugten oder bereits aufge¬
speicherten Waren entsprechen. In die in den Reichtum der Welt auf
diese Weise gerissene Lücke hat sich dann der Strom der gedruckten
Kriegsschulden — äußerer und innerer — ergossen; ihre Summe er¬
gibt also einen Anhalt für die Weltverarmung durch den Krieg, denn
neue geschaffene produktive Werte stehen diesen Aufgaben nur in
geringem Umfang gegenüber. Um wieviele Jahrzehnte so der Wohl¬
stand und damit die Produktions- und Konsumfähigkeit der Welt zurück¬
geworfen ist, könnte Gegenstand einer interessanten Studie bilden.
Aber die Zahlen geben auch einen Begriff von einer unermeßlichen
Verschiebung der Vermögenswerte innerhalb der Völker und von Volk
zu Volk. Dabei zeigen sie bei weitem nicht das ganze Bild. Denn
die böse Tat muß fortzeugend Böses neu gebären. Der kapitalisierte
Wert der Pensionen an Verstümmelte und Hinterbliebene kann auf
über 100 Milliarden Goldmark angenommen werden (für die Entente
steht er in der Reparationsrechnung mit 70 Milliarden). Die Fundie¬
rung der auf Zerstörung der Sachwerte in Nordfrankreich und Belgien
gestellten Reparationsforderung von 6 2 Milliarden würde die Staats¬
schulden gleichfalls erhöhen, wenn sie überhaupt vorgenommen werden
könnte. Und schließlich kommt als ganz unbekannter Faktor von
phantastischem Ausmaß der Verlust der produktiven Werte und der
laufenden Produktionsfahigkeit des durch den Krieg umgestülpten und
zertrümmerten russischen Reiches. Alle diese Summen bilden die in
allen Staaten herrschende Inflation, die auch da, wo sie sich nicht in
der Vermehrung der Umlaufsmittel und Unterwertigkeit der Valuta
zeigt, in der Steigerung der öffentlichen Auflagen, zum Beispiel in den
Vereinigten Staaten zum Ausdruck kommt Da alle diese Papierwerte
nur durch Gütervermehrung und Güterersparnis ersetzt werden und
die öffentlichen Lasten nur durch solche getilgt werden können, ent-
Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 3 51
steht die Frage, ob die Welt durch die von der Nachkriegsordnung
geschaffene wirtschaftliche Mechanik in einer meßbaren Zeit über¬
haupt dieser Bürde ledig werden und welche Erscheinungen in dem
Prozesse auftreten müssen. Wären die verschiedenen Friedensinstrumente
nicht wesentlich aus politischen Erwägungen und dem Nachgeben an
Volkerstiramungen gemacht worden, hätte wirtschaftliche Erkenntnis,
und die Rücksicht auf das materielle Wohlergehen und damit im hohem
hfaße auf den Fortschritt der Zivilisation mit zu Gericht gesessen,
oder wäre sie nicht dem Stimmungselement und der Machtpolitik
zum Opfer gefallen, so hätten sie ganz anderen Prinzipien Ausdruck
geben müssen, als tatsächlich der Fall war. So wird die weltwirt¬
schaftliche Produktion — wie die der Einzelwirtschaften — maßgeblich
beeinflußt durch die Organisation, das heißt die zweckmäßige Ein- und
Unterordnung der einzelnen Produktionsgebiete und -Arten im Hin¬
blick auf die rationellste Erzeugung und den zweckmäßigsten Absatz.
Von dieser Organisation hängt das Verhältnis ab, in dem sachliche und
persönliche Erzeugungskosten zu den allgemeinen Lasten, den Gene¬
ralien, stehen. Die Vorkriegswelt hatte in dieser Richtung einen hohen
wirtschaftlichen Effekt erzielt Den politischen Einheiten waren wirt¬
schaftliche Einheiten angepaßt worden, der Austausch der Industrie¬
land Rohstoffländer war durch, einen geistreichen Transport-, Ver-
teilungs- und Kredit-Apparat gesichert, und die politischen Einheiten
waren von hinreichendem Umfang, um das Verhältnis staatlicher un¬
produktiver Belastung zu den sachlichen Herstellungskosten in zweck¬
mäßigen Grenzen zu halten. Dieses wirtschaftliche Weltsystem ist
zerschlagen durch die politischen Aufteilungen. Die Politik der Iso¬
lierung Deutschlands vom weiteren Osten durch nationale Kleinstaaten,
die Auflösung der Habsburgischen Monarchie, die Verteilung der
deutschen Kolonien vermöge der Mandatslüge, die Zerstörung der
russischen Lage an der See hat einmal durch die Vielheit der zu
erhaltenden neuen Staaten die Gesamtregie Europas, die die Produk¬
tion ja erhalten muß, ungemein verteuert, sie hat weiter durch die
Errichtung zahlloser Zoll- und Verkehrsschranken den freien Verkehr
unterbunden und gleichzeitig durch die wirkliche Handelsverträge in
Zentral-Europa hindernden Vertragsklauseln die Zusammenarbeit der
jetzt politisch getrennten Gebiete erschwert. Die — mit wenigen
Ausnahmen — ungenügende Ausstattung und die mangelnde Wirt¬
schaftsbasis dieser Neuländer nötigt zur Aufnahme gewaltiger Schulden,
und schließlich hat die Fortdauer der Verhetzung nur der Kriegs-
3 j i Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft
psychose, in deren beständiger Neuentflammung besonders die Nach-
Kriegsschuld der Franzosen besteht, die Entgiftung der Atmosphäre
mit nur zu viel Erfolg verhindert. So sind der Produktion überaus
starke Schranken gesetzt, die die Gesundung auf lange hinauszog ern.
VI
Gilt für viele der Bewohner der neugebildeten Kleinstaaten der
neue Zustand als eine Befreiung vom Joche fremder Unterdrückung
und ist die Erkenntnis, daß die neue Gestaltung nicht nach jeder
Richtung ein Glück bedeutet, sondern mit vielen Opfern erkauft
werden muß, eine sehr langsame, so zeigt sich auch, daß die soziale
Umschichtung, die Emanzipation des vierten Standes, die nach der
Rolle, die der einzelne im Kriege spielte, nicht ausbleiben konnte, sich
nur unter großen Leiden und Erschütterungen des Wirtschaftskörpers
auswirken kann. Es ist wohl nicht zufällig, daß die drei Kaiserreiche
Europas, in denen das Autoritätsprinzip am stärksten betont und eine
wesentliche Basis des Staatsgedankens war, die größte Erschütterung
und Zerstörung erfahren haben. Dabei schlug das von der russischen
Autokratie reaktionär rechts festgehaltene Stimmungspendel natürlich,
sobald es gelöst war, am weitesten nach links aus. Die von dem
politischen Zwang befreiten und zum Einfluß gebrachten Massen
fänden aber für ihre Wünsche zunächst keine bessere Parole als:
Kampf gegen den Kapitalismus, Mitwirkung bei der Produktion, mehr
Lebensgenuß und weniger Arbeit. Auch das durch die Politik zer¬
rissene Europa wird im Laufe der Zeit seine Assiette wieder finden,
und der Forderungen des vierten Standes wartet in verständigen und
sittlichen Grenzen ein großes Maß der Erfüllung. Aber alle diese
Umschichtungen bringen zu ihrer Durchsetzung Kampf und Reibung;
die zweckmäßigen, ja die erreichbaren Grenzen können anders nicht
festgelegt werden. Der Doktrinarismus muß zunächst bei den Führern
und danach durch diese in harter Arbeit bei den Massen überwunden
werden. Und Kampf und Reibung schädigen die Produktion. „So¬
lange die organisierte Arbeiterschaft durch die Beherrschung der
Eisenbahnen die Gurgel an der Kehle des Staates hat, kann die wirt¬
schaftliche Prosperität unseres Landes nicht wieder hergestellt werden“,
las ich dieser Tage nicht in einer deutschen Zeitung, sondern in
einer — New Yorker Zeitung! Da die Organisation der Produktion den
Forderungen größerer sozialer Befreiung jetzt nur unter besonderen
Schwierigkeiten folgen kann, die Arbeiter-Psychologie noch nicht durch
Bernhard Dernburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 353
Erkenntnis und Erziehung das feste Milieu findet, so verhindern ver¬
minderte Arbeitsleistung, Streiks und Sabotageakte jetzt in vermehrtem
Umfange die Erhöhung der Produktion, wie sie theoretisch und praktisch
gefordert werden muß.
VII
Diese Psychologie der Arbeit wird erklärlicher, wenn man die
gewaltige Vermögensverschiebung im Kriege und nachher, das Auf¬
kommen der Konjunkturreichen und die große Entbehrung, die die
Verarmung der Massen den meisten auf legt, ins Auge faßt. Eine
starke Besteuerung, wie sie ohnedies durch die Finanzlage geboten
ist, soll da abhelfen. Aber auch hier ist der mittlere Weg schwer
zu finden; nicht deshalb, weil es etwa undenkbar wäre, durch An¬
sammlung eines Teiles des Kapitals des Volkes in den Händen der
Allgemeinheit diese zur Trägerin des Betriebskapitales und des in¬
dustriellen Kredites zu machen; wären die Demokratien sachlich und
wirtschaftsverständig und hätten sie Exekutive mit überlegener Ein¬
falt und unantastbarer Sittlichkeit, die sie in der Regel nicht hat,
so wäre solches wohl denkbar. Der Kapitalausgleich, den der Staat
durch seine Besteuerung vornimmt, dient aber nicht zur Ansammlung
von Betriebskapital und macht ihn nicht kreditfähig, sondern er kon¬
sumiert gerade dieses Kapital, um die Löcher seines Budgets zu stopfen,
und verbraucht es, um einen übertriebenen Apparat wirtschaftlich un¬
wesentlicher, ja schädlicher und hindernder Verwaltung zu bezahlen.
So setzt er den Abbau der Sachgüter fort, deren Erhaltung und Ver¬
mehrung, wie wir oben gesehen haben, gerade die Gesundung der
Wirtschaft und die Annäherung an den früheren Stand herbeiführen
soll. Deswegen ist die Vermögensbesteuerung, wie sie Erbschaftssteuer,
Vermögens- und Vermögenszuwachssteuer, Notopfer, Zwangsanleihe
und wie die im Interesse ausgleichender Gerechtigkeit — und diese
ist an sich vonnöten — alle heißen mögen, darstellen, wirtschafts-
und gesundheitshindernd, so lange der unbalancierte Zustand der
Staatswirtschaft andauert. Daß sich im übrigen die Forderungen der
politischen Linken hier in an sich falschen Größenordnungen bewegen
und in solchen teilweise in übertriebenem Maße durchgeführt sind,
will ich zur Wahrung meines eigenen politischen Standpunktes hier
erwähnen.
vm
Die Verschiebung der Kaufkraft hat sich nicht auf die Volks-
genossen der einzelnen Kriegführenden untereinander beschränkt. Sie
»3
3 J4 Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft
kommt zwischenstaatlich in der veränderten Stellung der Vereinigten
Staaten in der Weltwirtschaft zum Ausdruck. Diese sind der große
Kriegsgewinnler. Nicht nur alles irgend bewegbare Gold der Welt
häuft sich in ihren Schatzkammern und zwingt Amerika, zur Aufrecht¬
erhaltung seines Außenhandels beständig größere Kredite ins Ausland
zu legen und dort Anlagen zu machen, zum Beispiel in deutschen
Bankzetteln, wohl die größte zinslose Anleihegewährung, auch die
alliierten Mächte stehen mit etwa zwölf Milliarden Dollar Gold in
dem öffentlichen Schuldbuche in Washington. Als Marx seine Pol¬
theorie aufstellte, die sich im innerwirtschaftlichen Leben bisher nicht
verwirklicht hat, obschon die Kriegskatastrophe nach dieser Richtung
drängt, hat er schwerlich vorgefühlt, daß sie sich vielleicht zwischen¬
wirtschaftlich in gewissem Umfange bewahrheiten könne. Das ist
aber jetzt der Fall. Die Zahlungs- und Kreditmittel der Erde sammeln
sich in beängstigendem Maße an dem amerikanischen Pol, versklaven
den Rest der Welt und hindern ihre Gesundung, die nur in wirt¬
schaftlicher Freiheit und Selbstbestimmung gedeihen kann. Die Wir¬
kung einer solchen falschen Güterverteilung tritt an dem amerikanischen
Beispiel in ein helles Licht. Staaten, die nicht völlig autarkisch sein
wollen, und auch Amerika will und kann es nicht, müssen den
Güteraustausch suchen. Wenn nun der Exportüberschuß der Schuldner¬
welt dazu verbraucht wird, Geldforderungen zu befriedigen, sei es durch
Sachleistungen direkt oder durch Devisenbeschaffung indirekt, so bleibt
keine Substanz übrig, mit der die Schuldnerländer Handel treiben können,
sie werden kaufun kräftig und die Waren des Gläubigerlandes finden keinen
Absatz. So ist das entsetzliche Phänomen zustande gekommen, daß,
während in Rußland fünfzehn Millionen Menschen Hungers sterben, der
Farmer in den reichen Getreideböden des amerikanischen mittleren Westens
sein Korn verbrennt, weil es den Transport nicht lohnt, das heißt niemand
in der Lage ist, ihn zu bezahlen. Kommen aber die nötigen Rohstoffe
wie Nahrungsmittel, deren die Schuldnerländer, die zum großen Teil auf
Industrie eingestellt sind, aus Rohprodukten, die sie nicht erzeugen und
die ihre Bevölkerung nicht selbst ernähren können, nicht zu ihnen, so
schmilzt ihr Produktionsvolumen weiter zusammen, und ihre Verelendung
führt zur Katastrophe. Das ist die Straße, auf der die Welt sich bewegt.
IX
„The world i$ out of joint“, sagt Hamlet. Wie kann sie wieder
eingerenkt werden? Nicht mit der Mechanik der Wirtschaft, diese
Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 355
ist heillos in Unordnung. Die große Losung, die nötig ist und nach
manchen Konvulsionen kommen muß, liegt auf dem Gebiet des
Sittlichen. Alle diese furchtbaren Dinge wären nicht eingetreten,
wenn nicht die Staatskunst die moralischen Postulate von ihrem
Throne gestoßen und dabei die Massen mit sich gerissen hätte. Die
entsetzliche politische Immoral und wirtschaftliche Amoral, in der
sich die Vorkriegswelt gefallen hat und die der Krieg bewußt fort¬
gesetzt und auf die Spitze getrieben hat, sind letzten Endes die Ur¬
sachen der wirtschaftlichen Weltzerrüttung. Nationaler und partikulärer
Egoismus, geschichtliche Egozentrik, die Verneinung der sittlichen und
wirtschaftlichen Interdependenz der zivilisierten Menschheit, die Ver¬
gewaltigung des Rechtsgedankens und des Abhandenkommens eines
Weltliberalismus, der jedem nicht nur sein Recht zukommen lassen,
sondern ihm darüber hinaus auf dem Wege des Austausches die Teil¬
nahme an allen guten Dingen als eine Forderung der Gesinnung zu¬
billigte, haben die Kriegskatastrophe geistig vorbereitet und politisch
herbeigefährt. Die Friedens Verträge sind die Kriegs Fortsetzung, geboren
aus gleicher Gesinnung. Diejenigen, die den Krieg geführt haben,
sind zum großen Teil noch an der Macht. Persönlichkeit und Tradi¬
tion hindern die Umkehr, die ohnedem schwer genug ist und un¬
ermeßliche Opfer von allen fordert. Aber auch an der Einsicht ge¬
bricht es; man hat den Krieg gewonnen, also ist man im Recht
und tut das Rechte. Daß, gewonnen oder verloren, der Krieg ein
Verbrechen an der Zukunft der Menschheit war, daß auch wirt¬
schaftlich es, wie Norman Angell das schon 1909 überzeugend nach¬
wies, bei der gegenwärtigen Verflochtenheit der Menschheit, ge¬
wonnene Kriege nicht gibt, ist der gequälten Menschheit noch fremd.
Da nun die Einsicht der Menschen nur an dem Symptomen erzogen
werden kann, so muß jetzt die gewaltige Erziehungskampagne kommen,
ausgehend von dem wirtschaftlichen Gebiete von Nöten; das ist der
große Gedanke von Lloyd George, der diesen Feldzug in Genua ein¬
leiten will, und der die Mächte der Finsternis im wiederaufgelebten
französischen Imperialismus Ludwigs XIV. und Napoleons dabei zum
Gegner hat. Es ist nicht von ungefähr, daß die schon totgesagte
Freihandelsschule sich auch auf dem Kontinent wieder regt; denn
mit ihrer Verurteilung durch die Staatsmänner und Verächtlichmachung
durch die Wirtschaft fing das Unheil an. Die Parole des Cobden-
klubs: „Freetrade, Peace and Good will among Nations“ muß aber
wieder als Gesinnungsausdruck über jedem Auswärtigen Amt der
3 5 6 Bemard Shaw, Am Anfang
Welt stehen. Asquith sprach vor wenigen Tagen auf dem Bankett
des Klubs: „Von grundsätzlicher und dringender Notwendigkeit ist
das Niederbrechen der Zollbarrieren; alle die neugeschaffenen Staaten
hätten zur wirtschaftlichen Einheit zusammengefaßt werden müssen.“
Wichtiger aber ist die Niederbrechung der Barriere der Gesinnung.
Nur sie werden zu jener Welt-Sasachtcia führen, die als eine gegen¬
seitige Vergebung der Schulden wie der Schuld eine Unvermeidlich¬
keit ist. Aus diesem Wechsel der Einstellung, für den hoffnungs¬
volle Anätze da sind, wird sich in langjähriger Wüstenpilgerschaft,
zu der Europa-Frankreich nicht am wenigsten verurteilt ist, nach und
nach die Zerrüttung der Weltwirtschaft beseitigen lassen. Hier helfen
nur die großen Mittel und das Ungewöhnliche, und es ist eine be¬
schämende Tatsache, daß der Vischersche Satz, daß das Moralische
sich von selbst versteht, zu diesen „ungewöhnlichen" Dingen gerechnet
werden muß.
Zu solchen Betrachtungen regt das Schultzesche Buch an, es gibt
reiches Material und geistvolle Gedankengänge, wenn es auch in
vielem eine andere Lösung versucht wie der Schreiber.
AM ANFANG
von
BERNARD SHAW
Der Garten Eden. Nachmittags. Den Kopf in einem dichten Beet von Johanniskräutern
begraben, schläft eine ungeheure Schlange. Ihr Leib schlängelt sich in scheinbar endlosen
Ringen durch die Zweige eines schon recht großen Baumes; denn der Schöpfungstage
waren mehr, als wir annehmen. Sie ist noch keinem sichtbar, der ihre Gegenwart nicht
ahnt, denn ihre grün-braune Farbe macht sie vollkommen unkenntlich. In der Nähe
ihres Kopfes ragt unter den Kräutern ein niedriger Felsen hervor.
Felsen und Baum befinden sich am Rand einer Lichtung, auf welcher ein totes Rehkalb
mit gebrochenem Genick in schiefer Lage ruht. Adam kauert daneben, eine Hand auf
den Felsen gestützt und surrt betroffen den toten Körper an. Er hat die Schlange zu
seiner Linken nicht bemerkt. Er wendet sein Haupt nach rechts und ruft in großer
Erregung.
Adam: Eva! Eva!
Evas Stimme: Was willst du, Adam?
Adam: Schnell, komm her! Es ist etwas geschehen!
Eva (läuft herzu): Was? Wb? (Adam weist auf das Rehkalb). Oh! (Sie tritt an
3 57
Bemard Shaw, Am Anfang
den Kadaver heran, und er fühlt sich ermutigt, sie zu begleiten). Was ist mit den
Augen des Tieres geschehen?
Adam: Es sind nicht die Augen allein. Sieh her. (Er stößt den Ka-
daver mit dem Fuß.)
Eva: Oh, nicht doch. Warum wacht es nicht auf?
Adam: Das weiß ich nicht, es schläft nicht.
Eva: Schläft nicht?
Adam: Versuch, es zu wecken.
Eva (versucht, das tote Tier zu schütteln und umzudrehen): Es ist steif und kalt.
Adam: Das weckt nichts mehr auf.
Eva: Es hat einen sonderbaren Geruch. Bah! (sie staubt sich die Hände
ab und wendet sich ab.) Hast du das Tier in diesem Zustand gefunden?
Adam: Nein, es hat getollt und gespielt. Dann strauchelte es und
stürzte; den Kopf voran. Und dann rührte es sich nicht mehr. Sein
Genick ist nicht in Ordnung. (Er beugt sich nieder und will das Genick empor¬
heben und ihr zeigen.)
Eva: Berühr’ es nicht. Komm fort. (Sie ziehen sich beide zurück und be¬
trachten das Rehkalb aus einigen Schritten Entfernung mit wachsendem Widerwillen.)
Eva: Adam!
Adam: Ja?
Eva: Nimm an, du würdest straucheln und fallen: würdest du so
daliegen?
Adam: Ha! (Es schaudert ihn, und er setzt sich auf den Felsblock.)
Eva (wirft sich neben ihn auf die Erde und umfängt seine Knie): Du mußt vor¬
sichtig sein. Versprich mir, vorsichtig zu sein.
Adam: Wozu vorsichtig sein? Hier müssen wir ewig leben. Be¬
denke, was „ewig“ heißt. Früher oder später werde ich straucheln
und fallen, vielleicht schon morgen, vielleicht erst nach so vielen
Tagen, als Blätter im Garten und Sandkörner am Flusse sind. Einerlei.
Eines Tages werde ich unvorsichtig sein und straucheln.
Eva: Ich auch.
Adam (entsetzt): Oh, nein, nein! Dann bliebe ich allein, allein für
ewig. Du darfst dich niemals der Gefahr des Straucheins aussetzen,
du darfst nicht herumlaufen, du mußt stillsitzen. Ich werde für dich
sorgen und dir bringen, was du brauchst.
Eva (wendet sich achselzuckend von ihm ab und umfaßt ihre Knöchel): Das be¬
käme ich sehr bald satt. Übrigens wenn es dir zustieße, bliebe ich
allein, und dann könnte ich nicht stillsitzen, und schließlich würde
es mir ebenso ergehen.
358 Bernard Shaw, Am Anfang
Adam: Und dann?
Eva: Dann würden wir nicht mehr sein. Dann gäbe es nur mehr
die Dinger auf allen Vieren und die Vögel und die Schlangen.
Adam: Das darf nicht geschehen.
Eva: Nein, das darf nicht geschehen, aber es könnte geschehen.
Adam: Nein! ich sage dir, es darf nicht geschehen. Ich weiß, daß
es nicht geschehen darf.
Eva: Wir wissen es beide. Woher wissen wir das?
Adam: Es gibt eine Stimme im Garten, die mir mancherlei erzählt.
Eva: Der Garten ist manchmal voll von Stimmen. Die setzen mir
allerhand Gedanken in den Kopf.
Adam: Ich höre nur eine Stimme. Sie ist sehr leise, aber so nah,
daß sie einem Geflüster aus meinem Innern gleicht. Es ist ausge¬
schlossen, daß ich sie mit irgend einer Stimme der Vögel, der Tiere
oder mit deiner Stimme verwechsele.
Eva: Es ist sonderbar, daß ich von allen Seiten Stimmen höre und
du nur eine innere Stimme hörst. Aber ich habe ein paar Gedanken,
die aus meinem Innern und nicht von den Stimmen herrühren. Der
Gedanke, daß wir nicht auf hören dürfen zu sein, kommt aus dem
Innern.
Adam (verzweifelt) : Aber wir werden einmal aufhören zu sein. Wir
werden wie das Rehkalb hinsinken und zerbrechen. (Er erhebt och and
geht aufgeregt herum.) Ich kann diese Erkenntnis nicht ertragen. Ich mag
das nicht. Es darf nicht sein, sag ich dir, und dennoch weiß ich
nicht, wie ich es verhindern soll.
Eva: Genau das ist auch mein Gefühl. Aber es ist sehr sonderbar,
daß du es sagst. Man kann dich nicht zufrieden stellen, du änderst
so oft deinen Sinn.
Adam (zankt sie aus): Warum sagst du das? Worin habe ich meinen
Sinn geändert?
Eva: Du sagst: wir dürfen nicht aufhören zu sein; aber du pfleg¬
test dich darüber zu beklagen, daß wir immer und ewig leben
müssen. Du sitzest manchmal stundenlang brütend und schweigend
da und hassest mich in deinem Herzen. Wenn ich dich frage, was
ich dir angetan habe, sagst du, daß du nicht an mich denkst, son¬
dern an das Entsetzen, ewig hier bleiben zu müssen, aber ich weiß
sehr gut, daß du darüber entsetzt bist, mit mir ewig hier bleiben
zu müssen.
Adam: Oh! Du glaubst also, daß es dies ist. Nun, du bist im Irr
559
Bcrnard Shaw, Am Anfang
tum. (Er setzt «eh wieder, verdrießlich.) Es ist das Entsetzen, ewig mit mir
selbst sein zu mOssen. Dich hab ich gern, aber mich habe ich nicht
gern. Ich möchte anders, ich möchte besser sein, immer wieder
von vorne anfangen. Ich möchte mich häuten, wie die Schlange
sich häutet. Ich bin meiner überdrüssig. Und dennoch muß ich
mich ertragen, nicht einen Tag, nicht viele Tage, sondern ewig.
Das ist ein furchtbarer Gedanke. Das ist der Grund, warum ich
dasitze und brüte und schweige und haßerfüllt bin. Hast du daran
nie gedacht?
Eva: Nein, ich denke über mich nicht nach. Wozu nützt das? Ich
bin, was ich bin, das kann nichts ändern. Über dich denke ich nach.
Adam: Das solltest du nicht. Du beobachtest mich immer. Ich
kann niemals allein sein. Du willst immer wissen, was ich gemacht
habe. Das ist eine Last. Du solltest versuchen, ein eigenes Dasein
zu haben, anstatt dich mit meinem Dasein zu beschäftigen.
Eva: Ich muß über dich nachdenken, du bist faul, du bist schmutzig,
du vernachlässigst dich, du träumst fortwährend, du würdest schlechtes
Zeug essen und ekelhaft werden, wenn ich dich nicht beobachtete
und mich mit dir beschäftigte. Und jetzt willst du gar trotz meiner
Fürsorge eines Tages auf den Kopf fallen und tot sein.
Adam: Tot? Was ist das für ein Wort?
Eva (zeigt auf das Rehkalb): So wie das. Das nenne ich tot.
Adam (erhebt sich und nähert sich dem Kadaver langsam): Es ist etwas Un¬
heimliches damit.
Eva (kommt ihm nach): Oh! Es verwandelt sich in kleine weiße Würmer.
Adam: Wirf es in den Fluß. Es ist unertiäglich.
Eva: Ich wag nicht, es zu berühren.
Adam: Dann muß ich es tun, obgleich mir ekelt. Es ver¬
giftet die Luft. (Er nimmt das Tier bei den Hufen und schleift es fort in die
Richtung, aus der Eva kam, wobei er es so weit wie möglich von sich fort hält. Eva
blickt ihm einen Augenblick lang nach, dann setzt sie sich von Ekel geschüttelt auf den
Felsen und brütet vor sich hin. Der Leib der Schlange wird sichtbar und erglüht in
wundervollen neuen Farben. Sie erhebt den Kopf langsam aus den Kräutern und flüstert
Eva mit einem seltsam verführerischen, musikalischen Geflüster ins Ohr).
Die Schlange: Eva!
Eva (erschrickt): Wer ist das?
Die Schlange: Ich bin’s. Ich bin gekommen, um dir meinen wunder¬
vollen neuen Hut ZU zeigen, schau! (Sie entfaltet einen wundervollen ametyst-
artigen Hut.)
Eva (bewunden sie): Oh, aber wer hat dich sprechen gelehrt?
5 do Bemard Shaw, Am Anfang
Die Schlange: Du und Adam. Ich bin wohl verborgen durch das
Gras gekrochen und habe euch belauscht
Eva: Das war wundervoll klug von dir.
Die Schlange: Ich bin das klügste von allen Geschöpfen des
Feldes.
Eva: Dein Hut ist ungemein schön. (Sie streichelt und kost die Schlange.)
Hübsches Ding. Liebst du deine Patin Eva?
Die Schlange: Ich bete sie an. (Sieleckt Eva mit ihrer Doppelzangeden Nacken.)
Eva (kost sie): Eva’s wunderschönes Lieblingsschlänglein. Eva wird sich
jetzt niemals mehr vereinsamt fühlen, seit die Schlange mit ihr
sprechen kann.
Die Schlange: Ich kann über vielerlei sprechen. Ich bin sehr weise.
Ich war es, die dir das Wort zugeflüstert hat, das du nicht gekannt
hast: „tot“, „der Tod“, „sterben“.
Eva (schaudernd): Warum erinnerst du mich daran, ich vergaß es, als
ich deinen wundervollen Hut sah. Du darfst mich nicht an un¬
glückliche Dinge erinnern.
Die Schlange: Der Tod ist kein unglückliches Ding, wenn man
gelernt hat, ihn zu besiegen.
Eva: Wie kann ich ihn besiegen?
Die Schlange: Durch eine andere Sache, die man Geburt nennt.
Eva: Was? (Sie versucht es auszusprechen.) Ge — Ge—Geburt?
Die Schlange: Ja, Geburt.
Eva: Was ist Geburt?
Die Schlange: Die Schlange stirbt niemals. Eines Tages wirst du
mich aus dieser wunderschönen Haut herausschlüpfen sehen: eine
neue Schlange mit einer neuen, noch schöneren Haut: das ist Geburt.
Eva: Das habe ich schon gesehen, das ist wunderbar.
Die Schlange: Wenn ich das vermag, was vermag ich dann nicht?
Ich sage dir, ich bin sehr schlau. Wenn du und Adam plaudern,
höre ich euch fragen „Warum“? Immer „Warum“? Ihr seht Dinge
und fragt „Warum“? Aber ich träume von Dingen, die niemals waren,
und ich frage „Warum nicht“? Ich habe das Wort „tot“ erfunden,
um meine alte Haut zu beschreiben, die ich abwerfe, wenn ich er¬
neut werde. Diese Erneuerung nenne ich „geboren werden.“
Eva: „Geboren“ ist ein wundervolles Wort.
Die Schlange: Warum solltest du nicht so wie ich immer wieder
und wieder geboren werden? Neu und schön ein jedesmal.
Eva: Ich! Weil das nicht vorkommt, darum.
9
Bemard Shaw, Am Anfang $6 1
Die Schlange: Das ist die Ursache, aber nicht der Grund. Warum
nicht?
Eva: Aber ich möchte es gar nicht, es wäre nett, wieder neu zu
werden, aber meine alte Haut würde auf dem Boden liegen und
genau so wie ich aussehen. Und Adam würde sehen, wie sie runzlig
wird und —
Die Schlange: Nein, das müßte er nicht, es gibt eine zweite Geburt.
Eva: Eine zweite Geburt?
Die Schlange: Höre, ich will dir ein großes Geheimnis verraten;
ich bin schlau und ich habe gedacht und gedacht und gedacht. Ich
bin auch sehr eigensinnig und muß haben, was ich will, und ich
habe gewollt und gewollt und gewollt. Ich habe seltsame Dinge ge¬
gessen, Steine und Äpfel, die zu essen du dich fürchtest.
Eva: Das hast du gewagt?
Die Schlange: Ich habe alles gewagt und endlich fand ich ein
Mittel, einen Teil des Lebens in meinen Leib zusammenzudrängen.
Eva: Was ist das „Leben“?
Die Schlange: Das, was den Unterschied zwischen dem toten und
dem lebendigen Rehkalb ausmacht.
Eva: Was für ein wunderbares Wort. Was ftir ein wunderbares
Ding. Von all den neuen Wörtern ist „Leben“ das schönste.
Die Schlange: Ja, durch mein Nachsinnen über das Leben habe
ich die Macht gewonnen, Wunder zu tun.
Eva: Wunder? Noch ein neues Wort!
Die Schlange: Ein Wunder ist eine Unmöglichkeit, die trotzdem
möglich ist Etwas, was sich niemals ereignen könnte und sich den¬
noch ereignet.
Eva: Nenne mir irgend ein Wunder, das du vollbracht hast
Die Schlange: Ich drängte einen Teil des Lebens in meinem Körper
zusammen und schloß es in eine winzige, weiße Kapsel, die aus den
Steinen bereitet war, die ich gegessen hatte.
Eva: Und ^vozu nützte das?
Die Schlange: Ich zeigte die kleine Kapsel der Sonne und ließ sie
in ihrer Wärme, da brach die Kapsel auf, und eine kleine Schlange
kroch heraus, die von Tag zu Tag größer wurde, bis sie so groß
war wie ich selbst. Das war die zweite Geburt
Eva: Oh, das ist wunderbar. Es wühlt mich innerlich auf, es
schmerzt.
Die Schlange: Es hat mich beinahe in Stücke gerissen, dennoch
3 6 x Bernard Shaw, Am Anfang
lebe ich und kann meine Haut sprengen und mich wie zuvor er¬
neuern. Es wird bald so viele Schlangen im Garten Eden geben, als
mein Körper Schuppen hat. Dann wird der Tod machtlos sein.
Diese und jene Schlange wird sterben, aber „die Schlangen“ werden
leben.
Eva: Aber wir übrigen werden früher oder später sterben wie das
Rehkalb, und dann wird es nichts anderes mehr geben als Schlangen,
Schlangen, Schlangen überall.
Die Schlange: Das darf nicht sein. Ich bete dich an, Eva, ich
mufi etwas haben, das ich anbete, etwas, das ganz verschieden von
mir ist, wie du. Es mufi etwas GrÖfieres als die Schlange geben.
Eva: Ja. Es darf nicht sein. Adam darf nicht vergehen. Du bist
sehr schlau, sag mir, was ich tun soll.
Die Schlange: Denke. Wolle. Ifi den Staub. Lecke den weifien
Stein. Beifie in den Apfel, den du fürchtest. Die Sonne wird Leben
spenden.
Eva: Ich traue der Sonne nicht. Ich will selbst Leben spenden.
Ich will noch einen Adam aus meinem Körper reifien und wenn ich
auch meinen Körper dabei in Stücke risse.
Die Schlange: Tu das, wage es. Alles ist möglich, alles. Höre mich
an: Ich bin alt, ich bin die alte Schlange, älter als Adam, älter als
Eva. Ich erinnere mich an Lillith, die vor Adam und Eva da war. Ich
war ihr Liebling, wie ich deiner bin. Sie war allein, kein Mann
war mit ihr. Sie sah den Tod, wie du ihn sahst, als das Rehkalb
fiel, und sie wufite dann, dafi sie herausfinden müsse, wie sie sich
erneuern und die Haut abstreifen könnte, so wie ich es tue. Sie hatte
einen mächtigen Willen, sie strebte und strebte und wollte und wollte
durch mehr Monde hindurch, als es Blätter an allen Bäumen des
Gartens gibt. Ihre Qualen waren furchtbar, ihr Stöhnen verjagte
den Schlaf aus Eden. Sie sagte, dafi es nie mehr geschehn dürfe: dafi
die Last der Erneuerung des Lebens über alles Ertragen ginge, dafi
es zu viel für ein Wesen sei. Und als sie die Haut abstreifte, sieh! da
gab es nicht eine neue Lillith, sondern zwei, die eine glich ihr selbst,
die andere glich Adam. Die eine warst du, die andere war Adam.
Eva: Aber warum hat sie sich entzweigespalten und uns verschieden
gemacht?
Die Schlange: Ich sage dir doch, dafi die Arbeit für eins zu viel
ist, zwei müssen sie teilen.
Eva: Willst du damit sagen, dafi Adam sie mit mir teilen mufi? Er
Bemard Shaw, Am Anfang 3 <$3
will nicht. Er kann Schmerzen nicht ertragen, noch seinen Körper
Mühseligkeiten aussetzen.
Die Schlange: Das braucht er nicht. Für ihn wird es dabei keine
Schmerzen geben. Er wird dich beschwören, ihn sein Teil voll¬
bringen zu lassen. Er wird in deiner Macht sein, infolge seines Be¬
gehrens.
Eva: Dann will ich es tun, aber wie? Wie hat Lillith dieses Wunder
zustande gebracht?
Die Schlange: Sie hat es sich eingebildet.
Eva: Was ist das: eingebildet?
Die Schlange: Sie hat es mir erzählt. Es war wie eine wunder¬
volle Geschichte von etwas, das einer Lillith, die niemals vorhanden
war, niemals geschah. Sie wußte damals nicht, daß die Einbildung
der Anfang aller Schöpfung sei. Du bildest dir ein, was du dir
wünschest, du wünschest dir, was du dir einbildest und schließlich
schaffst du, was du wünschest.
Eva: Wie kann ich aus dem Nichts etwas schaffen?
Die Schlange: Alles muß aus dem Nichts geschaffen worden sein.
Sieh dir die dicke Rolle harten Fleisches an deinem starken Arme
an, das war nicht immer da, du konntest auf keinen Baum klettern,
als ich dich zuerst sah. Aber du wolltest es und versuchtest es, und
wolltest und versuchtest immer wieder, und dein Wille schuf aus
dem Nichts die Rolle an deinem Arm, bis du deinen Wunsch erfüllt
hattest und dich mit einer Hand hinaufziehen und dich auf den Zweig
setzen konntest, der über deinem Kopfe war.
Eva: Das war Übung.
Die Schlange: Die Dinge nützen sich durch Übung ab, sie wachsen
dadurch nicht. Deine Haare flattern im Winde, als wenn sie sich
immer weiter und weiter ausbreiten wollten. Aber sie werden bei
aller Übung im Flattern nicht länger, weil du es nicht so gewollt
hast. Als Lillith mir erzählte, was sie sich in unserer stummen Sprache
— denn es gab damals keine Worte — eingebildet hatte, forderte ich
sie auf, es zu wünschen und zu wollen. Dann schuf das Ding sich*
das sie gewünscht und gewollt hatte, zu unserem großen Erstaunen
ganz von selbst in ihr, unter dem Druck ihres Willens. Dann wollte
auch ich mich in zwei statt in einem erneuern, und nach vielen Tagen
geschah das Wunder, und ich brach aus meiner Haut mit einer andern,
mit mir verknüpften Schlange, und jetzt gibt es zwei Einbildungen,
zwei Wünsche, zwei Willen, mit denen man schaffen kann.
364 Bemard Shaw, Am Anfang
Eva: Wünschen, Einbilden, Wollen, Schaffen, das ist eine zu lange
Geschichte, finde mir ein Wort für das alles, du, die du so reich
an Worten bist.
Die Schlange: Ein Wort? „Empfangen“, das ist das Wort, das sowohl
den Anfang in der Einbildung als auch das Ende in der Schöpfung
bedeutet.
Eva: Finde mir ein Wort für die Geschichte, die sich Lillith ein¬
gebildet und dir in eurer schweigsamen Sprache erzählt hat: Die Ge¬
schichte, die zu schön war, um wahr zu sein und dennoch wahr
wurde.
Die Schlange: Ein Gedicht
Eva: Finde mir noch ein Wort, für das, was Lillith mir gewesen ist.
Die Schlange: Sie war deine Mutter.
Eva: Und Adams Mutter?
Die Schlange: Ja.
Eva (im Begriff, sich zn erheben): Ich will gehen und Adam sagen, er möge
empfangen.
Die Schlange (lacht): !!!
Eva (unangenehm berührt und erstaunt): Was für ein hassenswertes Ge¬
räusch? Was ist mit dir? Noch nie hat jemand so einen Laut von
sich gegeben.
Die Schlange: Adam kann nicht empfangen.
Eva: Warum nicht?
Die Schlange: Lillith hat sich ihn nicht so eingebildet Er kann
Einbildungen haben, er kann wollen, er kann wünschen, er kann
sein Leben zu einem großen Sprung nach der Schöpfung hin zu¬
sammenreißen, er kann alle Dinge erschaffen, bis auf eines: seine
eigene Gattung.
Eva: Warum hat Lillith ihm das erspart?
Die Schlange: Weil er Eva entbehren könnte, wenn er dazu fähig wäre.
Eva: Das ist wahr, ich bin es, die empfangen muß.
Die Schlange: Ja. Dadurch ist er an dich gefesselt.
Eva: Und ich an ihn.
Die Schlange: Ja, bis du noch einen Adam erschaffen hast
Eva: Daran hatte ich nicht gedacht, du bist sehr schlau. Aber wenn
ich noch eine Eva erschaffe, könnte er sich an die wenden und mich
entbehren. Ich will keine Evas erschaffen, nur Adams.
Die Schlange: Die können sich ohne Evas nicht erneuern. Früher
oder später wirst du sterben wie das Rehkalb, und die neuen Adams
Bemard Shaw, Am Anfang 365
'werden unschöpferisch sein ohne neue Evas. Du kannst dir ein solches
Ende einbilden, aber du kannst es nicht wünschen, kannst es daher
nicht wollen, kannst daher nicht ausschließlich Adams erschallen.
Eva: Wenn ich wie das Rehkalb sterben soll, warum sollte nicht
alles andere auch sterben. Was liegt mir daran?
Die Schlange: Das Leben darf nicht enden. Das ist das Wichtigste.
Es ist dumm, wenn du sagst, daß dir nichts daran liegt. Es liegt dir
doch etwas daran. Diese Sorge ist es, die deine Einbildungskraft
erhellen, deine Wünsche entflammen, deinen Willen unwiderstehlich
machen und schaffen wird aus dem Nichts.
Eva (nachdenklich): Es kann so etwas wie „Nichts“ nicht geben. Der
Garten ist voll, nicht leer.
Die Schlange: Daran hatte ich nicht gedacht. Das ist ein großer
Gedanke. Ja. So etwas wie Nichts gibt es nicht, es gibt nur Dinge,
die wir nicht sehen können. Das Kamelion frißt die Luft.
Eva: Ich habe noch einen Gedanken. Ich muß es Adam sagen.
(Sie ruft) Adam! Adam! Kurru.
Adams Stimme: Krii.
Eva: Das wird ihm gefallen und seine melancholischen Anfälle heilen.
Die Schlange: Sag ihm noch nichts. Ich hab dir das große Ge¬
heimnis noch nicht verraten.
Eva: Was gibt es da noch zu verraten? Ich bin’s, die das Wunder voll¬
bringen muß.
Die Schlange: Nein, er muß auch wünschen und wollen. Aber dir
muß er seinen Wunsch und seinen Willen darbringen.
Eva: Wie?
Die Schlange: Das ist das große Geheimnis. Still, er kommt.
Adam (kehrt zurück): Gibt es noch eine Stimme im Garten außer unseren
Stimmen und „der Stimme“? Ich hörte eine neue Stimme.
Eva (erhebt eich und läuft auf ihn zu): Denk dir nur, Adam, unsere Schlange
hat sprechen gelernt und zwar dadurch, daß sie uns belauscht hat.
Adam (entzückt): Wahrhaftig? (Er geht an Eva vorüber an den Stein und streichelt
die Schlange).
Die Schlange (erwidert liebevoll): So ist es, lieber Adam.
Eva: Aber ich weiß noch wunderbarere Neuigkeiten als diese. Adam,
wir müssen nicht ewig leben.
Adam (läßt den Kopf der Schlange in seiner Erregung fidlen): Was? Eva, scherze
in dieser Sache nicht mit mir. Wenn es nur eines Tages ein Ende und doch
kein Ende geben könnte, wenn ich nur von der Qual befreit werden
^66
Bemard Shaw, Am Anfang
konnte, mich selbst ewig ertragen zu müssen, wenn nur die Sorge tun
diesen entsetzlichen Garten auf einen andern Gärtner fibergehen, wenn
nur die Schildwache, welche „die Stimme“ eingesetzt hat, abgelöst werden,
wenn nur die Ruhe und der Schlaf, die mich befähigen, alles Tag für Tag
zu ertragen, nach vielen Tagen zu einer ewigen Ruhe, zu einem ewigen
Schlaf emporwachsen könnten, dann vermöchte ich, meinen Tagen Trotz
zu bieten, wie lange sie auch dauern mögen. Nur muß es einmal
ein Ende geben, irgend ein Ende. Ich bin nicht stark genug, die
Ewigkeit zu ertragen.
Die Schlange: Du brauchst nicht einmal den kommenden Sommer
zu erleben, und dennoch wird kein Ende sein.
Adam: Das kann nicht sein.
Die Schlange: Es kann sein.
Eva: Es soll sein.
Die Schlange: Es ist. Töte mich und du wirst morgen eine andere
Schlange im Garten finden. Du wirst mehr Schlangen finden, als du
Finger an deinen Händen hast.
Eva: Ich werde andere Adams, andere Evas erschaffen.
Adam: Ich habe dir schon gesagt, du darfst dich darüber nicht lustig
machen. Das kann nicht sein.
Die Schlange: Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, da du noch
selbst ein Ding warst, das nicht sein konnte. Und dennoch bist du.
Adam (betroffen): Das muß wahr sein. (Er setzt sich auf den Stein.)
Die Schlange: Ich will Eva das Geheimnis verraten, und sie wird
es dir verraten.
Adam: Das Geheimnis? (Er wendet sich rasch der Schlange za, and wahrend er
das tat, setzt er den Fuß auf etwas Scharf«».) Au!
Eva: Was gibt’s?
Adam (reibt sich den Faß): Eine Distel und da, dicht daneben ein Dom.
Und Nesseln auch. Ich habe es satt, die Dinge auszuroden, damit
der Garten auf ewig für uns schön bleibe.
Die Schlange: Sie wachsen nicht sonderlich schnell. Sie werden noch
sehr lange den Garten nicht fiberwachsen, nicht, bevor du deine Last
hingelegt hast und für immer eingeschlafen bist. Warum solltest du
dich damit plagen? Laß die neuen Adams sich einen Platz ausroden.
Adam: Das ist sehr wahr. Du mußt uns dein Geheimnis verraten.
Siehst du, Eva, wie wundervoll es ist, nicht ewig leben zu müssen?
Eva (wirft sich mißvergnügt nieder und zapft du Gras aus): Das sieht einem
Mann so ähnlich: im Augenblick, wo du erkennst, daß wir nicht
Bemard Shaw, Am Anfang 367
ewig leben müssen, sprichst du, als wenn es heute schon mit uns zu
Ende ginge. Du mußt ein paar von diesen entsetzlichen Dingen aus
dem Weg räumen, sonst werden wir uns zerkratzen und stechen, so
oft wir vergessen, auf unseren Weg zu achten.
Adam: Oh, ja, ein paar selbstverständlich, aber nur wenige. Ich werde
sie morgen wegräumen.
Die Schlange (lacht)
Adam: Das ist ein komisches Geräusch, das du machst, das gefallt mir.
Eva: Mir nicht. Warum machst du das schon wieder?
Die Schlange: Adam hat etwas Neues erfunden. Er erfand „morgen“.
Du wirst jetzt jeden Tag Dinge erfinden, seit dir die Last der Un¬
sterblichkeit abgenommen ist.
Eva: Unsterblichkeit? Was ist das?
Die Schlange: Mein neues Wort für: ewig leben müssen.
Eva: Die Schlange hat ein wunderschönes Wort für „Auf-der-Welt-
sein“ gebildet.
Adam: Bilde mir ein schönes Wort für die Dinge, die man morgen
tun wird, denn das ist doch eine große und segensreiche Erfindung.
Die Schlange: Aufschub.
Eva: Das ist ein süßes Wort. Ich wollte, ich hätte die Zunge einer
Schlange.
Die Schlange: Das kann noch werden. Alles ist möglich.
Adam (springt mit plötzlichen Entsetzen auf): Ach!
Eva: Was gibt’s jetzt wieder?
Adam: Meine Ruhe, meine Flucht vor dem Leben!
Die Schlange: Tod, das ist das Wort.
Adam: In diesem Aufschub sehe ich eine furchtbare Gefahr.
Eva: Welche Gefahr?
Adam: Wenn ich den Tod bis morgen aufschieben kann, werde ich
niemals sterben. Es gibt kein Morgen und kann niemals eines
geben.
Die Schlange: Ich bin sehr schlau, aber der Mensch hat tiefere
Gedanken als ich. Das Weib weiß, daß es das Nichts nicht gibt.
Der Mann weiß, daß es kein Morgen gibt. Ich tue gut daran, Mann
und Weib anzubeten.
Adam: Wenn ich den Tod erreichen soll, muß ich einen wirk¬
lichen Tag bestimmen und nicht „morgen“ sagen. Wann werde ich
sterben?
Eva: Du magst sterben, sobald ich einen andern Adam gemacht habe.
3 68 Bemard Shaw, Am Anfang
Früher nicht, aber dann, sobald du willst. (Sie erhebt «ich, geht hinter ihm
vorbei und schlendert sorglos an den Baum heran, an den sie sich lehnt, während sie
ein Glied der Schlange streichelt.)
Adam: Selbst dann hat es damit keine Eile.
Eva: Ich sehe, du willst es auf morgen verschieben.
Adam: Und du? Willst du in dem Augenblick sterben, wo du eine
neue Eva geschaffen hast?
Eva: Warum sollte ich dann sterben? Hast du solche Eile, mich los
zu werden? Eben noch wolltest du, daß ich stillsitze und mich nicht
rühre, damit ich nicht hinsinke und sterbe, wie das Rehkalb. Jetzt
liegt dir nichts mehr daran.
Adam: Es ist jetzt nicht mehr soviel daran gelegen.
Eva (ärgerlich zur Schlange): Dieser Tod, den du in den Garten gebracht
hast, ist eine böse Sache. Er will, daß ich sterbe.
Die Schlange (zn Adam): Willst du, daß sie sterbe?
Adam: Nein. Ich bin es, der sterben soll. Eva darf nicht vor mir
sterben. Ich wäre einsam.
Eva: Du könntest eine von den neuen Evas bekommen.
Adam: Das ist wahr. Aber vielleicht wären sie nicht ganz dasselbe.
Das könnten sie nicht sein. Dessen bin ich sicher. Sie hätten nicht
dieselben Erinnerungen. Sie wären — es fehlt mir ein Wort für sie.
Die Schlange: Fremde.
Adam: Ja. Das ist ein gutes, hartes Wort. Fremde.
Eva: Sobald es neue Adams und neue Evas geben wird, werden wir
in einem Garten von Fremden leben. Wir werden auf einander an¬
gewiesen sein. (Sie kommt nach hinter ihn und kehrt sich seinem Antlitz zn): Ver¬
giß das nicht, Adam, vergiß es niemals.
Adam: Warum sollte ich es vergessen? Ich bin es, der darüber nach¬
gedacht hat.
Eva: Auch ich habe über etwas nachgedacht. Das Rehkalb stolperte
und fiel und starb, aber du könntest sanft hinter mir her kommen
und (Sie faßt ihn plötzlich bei den Schultern und wirft ihn nach vorwärts aufs Gesicht)
mich zu Boden werfen, so daß ich sterben müßte. Ich würde nicht
zu schlafen wagen, wenn es keinen Grund gäbe, warum du mich
nicht zu Tode bringen solltest
Adam (raflt ach entsetzt empor): Dich zu Tode bringen!!! Was für ein
furchtbarer Gedanke!
Die Schlange: Töten, töten, töten, töten, das ist das Wort.
Eva: Die neuen Adams und Evas wären imstande, uns zu töten. Ich
Bemard Shaw, Am Anfang 369
werde sie nicht erschaffen. (Sie setzt sich auf den Felsen, zieht Adam zu sich
nieder und umklammert ihn mit ihrem rechten Arm.)
Die Schlange: Du mußt. Denn, wenn du es nicht tust, wird alles
ein Ende haben.
Adam: Nein, sie werden uns nicht töten, sie werden empfinden, wie
ich empfinde, es spricht etwas dagegen. „Die Stimme“ im Garten wird
ihnen sagen, daß sie nicht töten dürfen, wie sie es mir sagt.
Die Schlange: „Die Stimme“ im Garten ist deine eigene Stimme.
Adam: Ja und nein. Sie ist etwas Größeres als ich. Ich bin nur
ein Teil davon.
Eva: „Die Stimme“ sagt mir nicht, daß ich dich nicht töten soll.
Dennoch wünsche ich nicht, daß du vor mir stirbst. Ich benötige
keine Stimme, um das zu fühlen.
Adam (Er wirft seinen Arm mit einem Ausdruck von Kummer um ihre Schulter):
Oh nein. Das ist klar ohne jede Stimme. Es gibt etwas, das uns
zusammenhält, etwas, wofür es kein Wort gibt.
Die Schlange: Liebe, Liebe, Liebe.
Adam: Das ist ein zu kurzes Wort fiir eine so lange Sache.
Die Schlange (lacht): ! ! !
Eva (wendet sich ungeduldig an die Schlange): Schon wieder dieser herzzer¬
reißende Ton? Tu das nicht. Warum tust du das?
Die Schlange: Liebe mag bald ein zu langes Wort für eine so
kurze Sache sein. Aber je kürzer sie ist, desto süßer ist sie.
Adam (nachdenklich): Du verwirrst mich. Meine alte Sorge war schwer.
Aber sie war einfach. Diese Wunder, die du zu vollbringen ver¬
sprichst, können mein Wesen verwirren, ehe sie mir die Gabe des
Todes bringen. Ich war bedrückt durch die Last ewigen Lebens, aber
ich war nicht verwirrten Geistes. Wenn ich nicht wußte, daß ich
Eva liebte, wußte ich wenigstens auch nicht, daß sie aufhören könnte,
mich zu lieben und dahingelangen könnte, irgend einen andern Adam
zu lieben und meinen Tod zu wünschen. Kannst du einen Namen
ftir diese Erkenntnis finden?
Die Schlange: Eifersucht. Eifersucht. Eifersucht.
Adam: Ein scheußliches Wort.
Eva (rüttelt ihn): Du darfst nicht brüten, Adam, du denkst zu viel.
Adam (irgeriich): Wie sollte ich nicht brüten, wenn die Zukunft ungewiß
geworden ist. Alles ist besser als Ungewißheit Das Leben ist ungewiß
geworden. Liebe ist ungewiß. Hast du ein Wort ftir dieses neue Eiend ?
Die Schlange: Angst Angst Angst
>4
37©
Beruard Shaw } Am Anfang
Adam: Hast du ein Heilmittel dagegen?
Die Schlange: Ja. Hoffnung. Hoffnung. Hoffnung.
Adam: Was ist Hoffnung?
Die Schlange: Solang du die Zukunft nicht kennst, weißt du nicht,
daß sie nicht glücklicher sein wird als die Vergangenheit Das ist Hoffnung.
Adam: Es tröstet mich nicht. Angst ist stärker in mir als Hoffnung.
Ich muß Gewißheit haben. (Er erhebt sich drohend.) Gib sie mir oder ich
werde dich töten, wenn ich dich das nächste Mal schlafend erwische.
Eva (wirft ihre Arme um die Schlange.): Meine schöne Schlange, oh nein,
wie kannst du auch nur an so etwas Entsetzliches denken?
Adam: Angst wird mich zu allem treiben. Die Schlange gab mir Angst
Jetzt soll sie mir Gewißheit geben oder selbst fortwährend Angst haben.
Die Schlange: Zwinge die Zukunft durch deinen Willen. Tu ein
Gelfibde.
Adam: Was ist ein GelQbde?
Die Schlange: Wähle einen Tag für deinen Tod und entschließe
dich, an diesem Tag zu sterben, dann ist der Tod nicht länger un¬
gewiß, sondern gewiß. Laß Eva geloben, dich bis an deinen Tod
zu lieben. Dann wird Liebe nicht mehr ungewiß sein.
Adam: Ja, das ist herrlich, das wird die Zukunft zwingen.
Eva (wendet sich unerfreut von der Schlange fort): Aber es Wird die Hoffnung
zerstören.
Adam (ärgerlich): Schweig still, Weib, Hoffnung ist böse. Glück ist
böse, Gewißheit ist gesegnet
Die Schlange: Was ist böse? Du hast ein Wort erfunden.
Adam: Was immer ich zu tun fürchte, ist böse. Höre mich an, Eva,
und du, Schlange, höre auch du, damit dein Gedächtnis mein Gelübde
behalten möge: Ich will tausendmal die vier Jahreszeiten erleben.
Die Schlange: Jahre. Jahre.
Adam: Ich will tausend Jahre leben, und dann soll's genug sein. Ich
will sterben und meine Ruhe haben; und ich will die ganze Zeit
über Eva lieben und keine andere Frau.
Eva: Und wenn Adam sein Gelübde hält, will ich keinen andern
Mann lieben, bis er stirbt
Die Schlange: Ihr habt beide die „Heirat“ erfunden. Was er dir und
keiner andern Frau sein wird, ist der „Gatte“, und was du ihm und
keinem andern Mann sein wirst, ist die „Gattin“.
Adam (bewegt unwillkürlich seine Hand nach ihr hin): Gatte und Gattin.
Eva (verschlingt ihre Hand mit der seinen): Gattin und Gatte.
37*
Bemard Shaw, Am Anfang
Die Schlange (lacht): ! ! !
Eva (sie reißt sich von Adam los): Mach nicht diesen widerlichen Lärm, sag
ich dir.
Adam: Hör nicht auf sie. Das Geräusch ist gut. Es erleichtert mein
Herz. Du bist eine lustige Schlange, aber du hast noch kein Ge¬
lübde abgelegt Was für ein Gelübde legst du ab?
Die Schlange: Ich lege kein Gelübde ab. Ich überlasse mich dem Zufall.
Adam: Zufall? Was soll das heißen?
Die Schlange: Das heißt, daß ich die Gewißheit fürchte, wie du
die Ungewißheit fürchtest. Es heißt, daß nichts gewiß ist außer der
Ungewißheit Wenn ich die Zukunft zwinge, zwinge ich meinen
Willen. Wenn ich meinen Willen zwinge, drossle ich die Schöpfung.
Eva: Die Schöpfung darf nicht gedrosselt werden. Ich sage dir, daß
ich erschaffen will, wenn ich mich auch bei der Schöpfung in Stücke
reißen müßte.
Adam: Schweigt alle beide. Ich will die Zukunft zwingen. Ich
will von der Angst befreit werden. (Zu Eva) Wir haben unsere Gelübde
abgelegt, und wenn du erschaffen mußt, sollst du in den Grenzen
jener Gelübde erschaffen. Du sollst nicht länger auf diese Schlange
hören. Komm! (Er packt sie bei den Haaren, am sie wegzaschleppen.)
Eva: Laß mich zufrieden, du Narr. Sie hat mir das Geheimnis noch
nicht verraten.
Adam (laßt sie los): Das ist wahr. Was ist ein Narr?
Eva: Ich weiß nicht, das Wort kam mir zugeflogen. Es ist, was du
bist, wenn du vergißt und brütest und angsterfüllt bist. Laß uns der
Schlange zuhören.
Adam: Nein, davor habe ich Angst. Mir ist, als ob der Boden unter
meinen Füßen wankte, wenn sie spricht. Bleib du da und höre ihr zu.
Die Schlange (lacht): ! ! !
Adam (erheitert): Dieses Geräusch verbannt die Angst! Sonderbar. Die
Schlange und das Weib sind im Begriff, einander Geheimnisse zuzu-
flüstem. (Er kichert, entfernt sich langsam and stößt das erste Lachen aas.)
Eva: Und nun das Geheimnis, das Geheimnis, (sie setzt sich anf den Fels-
block and wirft ihre Arme am die Schlange, die ihr zuzuflüstem beginnt. — Evas Ant¬
litz erglänzt in angespanntem Interesse, das sich steigert, bis es verdrängt wird von einem
Ausdruck unüberwindlichen Widerwillens. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen).
Vorhang
(Deutsch von Siegfried Trebitsch)
AUFZEICHNUNGEN AUS PALÄSTINA
von
ARTHUR HOLITSCHER
(Schluß)
D ie Parteien der jüdischen Arbeiter in der Diaspora finden ihre
Fortsetzung, besser gesagt, ihre Verwurzelung in den sozialistischen
Vereinigungen der palästinensischen Arbeiterschaft.
Dem rechten Flügel der „Poale Zion" („Arbeiter Zions") entspricht
in Palästina — ungefähr — die „Achduth Haawodah" („Vereinigung
der Arbeit“). Der aus den Diasporaparteien: „Hapoel Hazait“ („Ver¬
einigung der jungen Arbeiter“) und „Zeire Zion" (»Jung Zion“) ge¬
bildeten gemeinschaftlichen Organisation der „Hitachduth" entspricht
in Palästina — ungefähr — die um einige Grade radikalere „Hapoel
Hazair". Dem linken, ausgesprochen kommunistischen Flügel der
„Poale Zion" Wiener Richtung, der jetzt um Aufnahme in die IH. Inter¬
nationale nachgesucht hat, entspricht in Palästina die (nach den Mai¬
pogromen) von der englischen Regierung verfolgte, dezimierte, im
Lande nur mehr illegal arbeitende Partei der „Boruchows“ (sie ist
nach dem Gründer der Welt-Poale Zion, dem bedeutenden russischen
Theoretiker des Sozialismus und Hebraisten benannt), die auch nach
den Anfangsbuchstaben ihres offiziellen Namens „Miphleget Poalim
Zionistim Iwriim“ mit etwas verächtlicher Betonung die „Mopsi" ge¬
nannt wird.
Wenn ich bei dieser letzteren Partei nicht mehr zu sagen brauche,
als daß sie ihrer europäischen Organisation „ungefähr" entspreche, so
bedeutet das: sie hat ein ganz klar umzirkeltes Programm, nämlich:
Moskau; und auch: daß all die anderen palästinensischen Parteien,
durch die geographische Distanz (aber nicht allein durch sie), in der
sie sich zu den Diaspora-Organisationen befinden, von diesen wesent¬
lich abweichen.
Die „Boruchows" (ihre Zahl ist eine numerisch äußerst geringe)
lehnen im Prinzip jegliches Mitwirken an öffentlichen, an Regierungs¬
arbeiten ab. Sie bekennen sich hierdurch aktiv, wie durch passiven
Widerstand zum Kampf gegen die englische Macht, die, wie Moskau
betont, aus Palästina eine englische Kolonie zu formen bestrebt ist. Wenn
die „Boruchows“ sich trotzdem bei Arbeiten der bekämpften Art be¬
tätigen, so tun sie es aus der Erwägung, daß Zellen geschaffen und
eine gemeinschaftliche Organisation jüdischer und arabischer Arbeiter
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 373 '
versucht werden muß. Beim Bahnbau in Haifiä hatten sie bei diesem
Beginnen einen ausgesprochenen Fehlschlag zu verzeichnen. Auf solch
primitive Art läßt sich die Erfassung des vollkommenen unentwickelten
Arabers nicht durchfahren. Die „Boruchows“ betonen ferner: daß
man den Industriekapitalismus ja wohl nach Palästina hereinlassen
müsse, und zwar in seiner extremsten, „amerikanischsten“ Form, damit
definitive Verproletarisierung des jüdischen Arbeiters im Heiligen Land
ihn auf das Niveau und in engste Gemeinschaft mit dem niederen,
ausgebeuteten arabischen Landproletarier herabdrücke. Dann, meinen
die „Boruchows“, und nur dann werde eine organisatorische Ver¬
einigung des jüdischen Einwanderers und der eingeborenen — jetzt noch
feindseligen — Landbevölkerung zu erzielen sein. Sonst, meinen sie,
— und ich muß sagen, mit vollem Recht! — sei vom Standpunkt des
konsequenten Marxismus betrachtet, das Problem „Palästina“ unlösbar.
Sie sehen, nüchterner und klarer als alle anderen, die Katastrophe,
die ökonomische wie die des Rassen-Zusammenstoßes, über das Land
hereinbrechen, falls diese letzte Phase: die Kapitalisierung Palästinas,
gegen die sich heute das Gefühl auflehnt, nicht bald eintritt. Die
„Boruchows“ beurteilen die Lage des heutigen Palästina sehr pessi¬
mistisch. Aus dem, was sie die Krise des palästinischen Zionismus
nennen, sehen sie keinen Ausweg. Aber sie geben der Meinung Aus¬
druck: trotz aller Aussichtslosigkeit sei die Gesamtarbeit in Palästina
mit allen Mitteln aufrecht zu halten — denn es gäbe kein Zurück!
Ich komme nun auf das „Ungefähr“ der anderen Parteien Palästinas
zu sprechen.
Die Arbeiterparteien haben in Palästina ein ganz anderes Aussehen
als in der Diaspora. Man wäre versucht zu sagen: Palästina verträgt
gar kein Parteiwesen. Die Parteien Palästinas entsprechen gar nicht
der Wirklichkeit. Sie sind lediglich atavistische Erinnerungen an die Zer¬
klüftung der Menschheit draußen, in der alten Welt, die im Zersetzungs¬
prozeß dahinschwindet. Fragt man nach der spezifischen Richtung,
dem Programm dieser oder jener, nach der Distanz, in der sie sich
von der Nachbarpartei rechts oder links befindet, $0 erhält man un¬
genügenden Aufschluß. Im Grunde verschwimmen die Konturen der
palästinensischen Parteien; einzelne Persönlichkeiten, Führer von Gruppen
färben und bestimmen das Wesen der Parteien viel deutlicher als aus
Europa geholte oder übernommene Programme. Es verhält sich so:
daß hier im Urvaterlande sich eine Arbeiterschaar zusammen gefunden
* 374 Arthur Holitscher., Aufzeichnungen aus Palästina
hat, die in einer überpersönlichen Gemeinschaft die verwilderte Heimat
und in ihr die Zukunft aufbauen will. Das Licht über Zion hebt
die Abschattungen der Parteien auf — es erscheint bei aller Differen¬
zierung der Tendenzen und Persönlichkeiten eine geeinte Phalanx
von Arbeitern Zions.
Darum könnte ich mir heute, in Tel-Awiw oder Jerusalem, wohl
irgendwelche Verzweiflungsausbrüche von Chaluzim vorstellen — aber
keinen Streik. Darum gibt es in der palästinensischen Landwirtschaft
keinen Achtstundentag. Darum würde ich, obzwar in Palästina Men¬
schen von höchster Intelligenz beisammen sind, Rebellen gegen jede
Vermechanisierung des Arbeitsprozesses, das heißt des werktätigen
Individuums — der Einführung des Taylorsystems ohne Warnung bei¬
stimmen. Denn diesen Arbeitern ist ja um ihre Idee, ihre Illusion
Erez Israel zu tun. (Nun, die mitgebrachte russische, die angestammte
Ghetto-Indolenz, Trägheit der „breiten Natur", Nachgeben der Ner¬
ven fügt der Arbeit Palästinas, auch ohne aktive Sabotage, genug
Schaden zu.)
Russisch ist auch, daß es in Palästina letzten Endes so viele
Parteien gibt wie Arbeiter. Jeder hat seine Theorie der Arbeit, seiner
eigenen, der seiner Gruppe, der der Gesamtheit. Im Galuth legte er
die heiligen Bücher aus, in Palästina Marx.
Palästina befindet sich, ich wiederhole es, noch im Stadium des
Experimentes. Für das Experiment bietet die Arbeit den ergiebigsten
Boden. Vor allem aber die Kolonisationsarbeit.
Ich bin in etwa zwanzig Siedlungen, Arbeitergruppen, Kolonien
Palästinas herumgekommen; habe das Land, den Boden der Ebenen
und der Berge in seinem wüsten Urzustand, im Stadium der ersten
Vorbereitungen zur Bebauung und auch in jenem der Reife und des
Triumphs gesehen.
An zwanzig Orten habe ich Menschen im Schweiße ihrer Stirnen
härteste körperliche Arbeit verrichten sehen — aber der Fluch des
verlorenen Paradieses lastete mit nichten auf dieser Arbeit — denn ich
habe diese selben Menschen wenige Tage nachher, auf dem Landarbeiter-
Kongreß in HaifFa, ihre Arbeitsmethoden, Theorien, Entdeckungen
mit voller Energie und hinreißender Kraft der Überzeugung vortragen
und verteidigen gehört.
Und da sich in Palästina jede Arbeitsmethode in der Formation
der Gemeinschaft, die die Arbeit ausführt, widerspiegelt, diese jene.
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 375
jene diese entscheidend beeinflußt — weiß ich nun, zugleich Aber
Palästina, aber auch, etwas genauer, als ich es wußte, ehe ich den
Menschen Palästinas begegnet bin, über den Sinn dieser Zeit
Bescheid.
Die soziale und kolonisatorische Bewegung der jungen Arbeiter
verfolgt heute in Palästina zwei Richtungen:
die eine strebt auf gemeinsam bewirtschaftetem Gebiet die große
Kwuzah (Gruppe), das heißt: die große Gemeinschaft an,
die andere, die der Moschaw Awdim (Arbeitersiedlung), das
engere und innige Zusammenwirken kleiner Familiengruppen, von
denen jede ihr Stück Land selbständig bewirtschaftet.
Die große, kooperative Gemeinschaft vereinigt unter ko mmunis tischen
Prinzipien alle Berufsgattungen in zentralisierter Formation zu gemein¬
samer Produktion und Konsum,
die Siedlungsgenossenschaft, die mehr auf Privateigentum basiert,
erinnert in ihrer Methode des Zusammenwirkens kleiner Gemein¬
schaften stellenweise, man konnte sagen, an das utopische Ideal der
anarchistischen Föderation auf großem Gebiet frei beisammenlebender
Nachbargruppen.
Dies wäre auch so zu formulieren: im heutigen Palästina wollen
sich zwei Arten von Landwirtschaft durchsetzen,
die extensive der großen Kooperative
und die intensive, die allein die kleine Gruppe durchführen kann.
Für die letztere spricht vieles. Praktische Erwägungen. Manche
wichtige Pflanzenart, die Durra, der Sesam, deren Anbau bisher ver¬
nachlässigt worden ist, Gemüsearten, insbesondere die Aubergine, ein
bekömmliches Nahrungsmittel, gedeihen nur bei intensiver Wirtschaft.
Kleinviehzucht, Bienen und Raupenzucht erfordern den Kleinbetrieb.
Auch ist die Regelung der Arbeit bei solcher Art von Landbewirt¬
schaftung leichter, da Sommer- wie Winterarbeit ungefähr die gleiche
Zahl von Arbeitern erfordert. Während bei extensiver Wirtschaft
die Erntezeit Zuziehung von Hilfsarbeitern nötig macht, bleiben im
Winter viele von den vereinigten Arbeitern der Kwuzah unbeschäftigt.
Für die große Gemeinschaft aber spricht, mit der Notwendigkeit
der Bebauung und Bepflanzung ausgedehnter Gebiete, vor allem der
Geist dieser Zeit, der die Menschheit vom Privateigentum zum
Sozialismus, von der kleinen Familiengruppe zur großen Kooperative
\76 Arthur Holttscher, Aufzeichnungen aus Palästina
führt, in der das Eigentum des einzelnen in dem der Allgemeinheit
aufgegangen ist.
Die Arbeitersiedlung findet ihre Anhänger hauptsächlich unter den
älteren Arbeitern Palästinas, vor allem unter den verheirateten. Die
jungen Einwanderer und Einwandererinnen der Nachkriegszeit sind be¬
geisterte Bejaher der großen Kwuzah, der kommunistischen Gemein¬
schaft.
Der Geist dieser Zeit hat ja den jungen Chaluz aus der alten Welt,
in der er das Scheitern der hergebrachten Wirtschaftssysteme mit¬
erlebt hat, nach Palästina gebracht. Wie sollte er daran denken, die
verendende Welt hierher in die neue herflber zu pflanzen? Er läßt
sich daher auch zu keiner Art von Wirtschaft zwingen, benutzen oder
mißbrauchen, die seinen sozialen Prinzipien widerspricht. Er opfert
sich gern für das Land, in dem er seiner Gesinnung gemäß leben
kann. Die zionistische Kommission ist klug genug, den Chaluz ge¬
währen zu lassen. Dem Fortschritt feindlich Gesonnene murren: die
Kommission sei ja merkwürdig scharf links gerichtet Aber jeder, der
die Verhältnisse kennt, weiß: die Arbeitswilligkeit, die Freude an seiner
Arbeit, der Opfersinn des Chaluz ist der einzige Posten auf der Haben-
Seite der palästinischen Wirtschaft dieser Tage.
Die zionistische Kommission hat der großen Kwuzah wie der
Moschaw Awdim auf dem Boden des jüdischen Nationalfonds aus¬
gedehnte Gebiete zur Durchführung ihrer Pläne überlassen. Beide be¬
finden sich in der fruchtbaren Jesreel-Ebene Nieder-Galiläas; sie heißen
Nurriss und Mallul.
Die großen sozialen Experimente Palästinas werden auf dem Boden des
Jüdischen Nationalfonds unternommen. Die Kommunisten der Kwuzah
wie die Siedler Malluls leben von dem, was ihnen die zionistische
Kommission aus den amerikanischen Sammlungen zuweist. Jede Art
Arbeit, das für den Ankauf von Inventar nötige Geld, die Kredite
für die Bewirtschaftung des Bodens, die gesamte Existenz der Arbeiter
und ihrer Organisationen, Wohl und Wehe des jüdischen Palästinas
fließt aus freiwilligen Spenden philanthropisch gesinnter Zionisten in
der Diaspora; nur zum kleinsten Teil aus Beiträgen der jüdischen
Arbeiterparteien der Weltorganisation.
Das ist das merkwürdige, zweideutige, beunruhigende Problem des
palästinischen Sozialismus!
Es erhebt sich vor dem aufrichtigen und zu Ende denkenden Sozia-
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 577
listen, der sich diesem Problem gegenübersiebt, die Gewissensfrage: darfst
du zu solcher Art Sozialismus „Ja“ sagen, für sie deine Stimme erheben?
oder wäre es nicht besser, jene Quelle privater Wohltätigkeit versiegte
und das jüdische Palästina verdorrte, in der Katastrophe, die die einen
fürchten, die anderen herbeisehnen? Haben die Genossen mit ihrem
„Es gibt kein Zurück!“ recht, oder gibt es heute noch ein Zurück?
A.m stärksten interessiert den Sozialisten, der sich in Palästina um¬
sieht, das neuartige überraschende Gebilde der „Gdut Haawodah“,
der Arbeitsarmee.
Das ist eine radikale Formation, nach russischem Muster aufgebaut
und von rein kommunistischen Grundsätzen bestimmt; zugleich eine
Arbeiter- und militärische Organisation, die ihre Mitglieder unter
strengen Bedingungen äußerer und innerer Disziplin zur Arbeit und
zum Selbstschutz unter Waffen anhält
Die Idee zur Gdut entstammt dem russisch-jüdischen Legionär
Josef Trumpeldor, dem Märtyrer der jungen palästinensischen Koloni¬
sation, der vor zwei Jahren bei der Verteidigung der kleinen ober-
galiläischen Niederlassung Tel-Chai gegen marodierende Beduinen
gefallen ist Aus russischen Gefängnissen führte ihn die Revolution
in die Freiheit Er kämpfte als Kapitän im englischen „Zion Mule¬
corps“ an vielen Fronten und zog mit Allenby in Jerusalem ein. Ich
habe sein Bild in ganz Palästina gesehen. In Zelten, Baracken, Stein¬
häusern, neben denen Weizmanns, des Präsidenten und Herzls, des
Schöpfers der Zionistischen Weltorganisation — an allen Orten, wo
Arbeiter lebten und sich versammelten, öfter, als die der beiden anderen.
Das geistige Haupt, Führer und Apostel der heurigen Gdut ist
der junge russische Jude Jehuda Kopelewitsch, Freund und Genosse,
auch Kerkergenosse Trumpeldors.
Die Gdut — Kern der „großen Kwuzah“ von Nurriss — arbeitet
in disziplinierten Bataillonen auf dem Lande, das ihr vom Jüdischen
Narionalfonds zur Verfügung gestellt wird; sie übernimmt auch die
Straßenarbeit, die ihr von der englischen Regierung, die Entwässerungs-,
Bau- und Pflanzungsarbeiten, die ihr von der Kommission wie von
den Kolonisten zugewiesen werden. Ihr Grundsatz ist, und sie hofft
ihn in Nurriss durchführen zu können, daß die Gemeinschaft alles in
eigenen Werkstätten zu produzieren hat, was für ihren Bedarf not¬
wendig ist — vorerst Kleider und Schuhe, später landwirtschaftliche
Geräte usw. Wie die Einkünfte aus der gemeinsamen Arbeit, sind
378 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
auch die Ausgaben zentralisiert. Die Gdut entsendet die Genossen,
die sich ihr angeschlossen haben, zu jeder Art von Arbeit, nach Ma߬
gabe der Notwendigkeit der Arbeit und des Interesse der Genossen.
Auch Araber nimmt die Gdut auf, falls diese mit den Grundprinzipien
der Organisation einverstanden sind und sich der Disziplin fügen wollen.
Nach Ablauf eines Probemonats erteilt der geschäftsführende Ausschuß
die Genehmigung zur Aufnahme des Genossen, der Genossin in die
örtliche Gruppe, der sie angehören. Diese verstreuten örtlichen Gruppen
entsenden Delegierte in die Zentrale, die aus sich den geschäftsftihrenden
Ausschuß wählt. Die Zentrale teilt nicht nur die Arbeit an die Mit¬
glieder aus, sondern „befriedigt auch die Kulturbedürfhisse, deren ihre
Mitglieder im Lebenskämpfe bedürfen". Sie sorgt für Bibliothek,
Vorträge, Unterricht, Kinoaufführungen usw. Bei mangelhaften Er¬
trägnissen örtlicher Gruppen steht dem zentralen Rat das Recht zu,
solche Gruppen aufzulösen und unter die anderen Gruppen der Organi¬
sation zu verteilen. Jedes Mitglied der Gdut hat sich im Waffen¬
dienst für die Verteidigung der Gemeinschaft auszubilden und zu ver¬
vollkommnen. In dem Fragebogen, den der Aufzunehmende ausfüllt, steht
neben der Rubrik: in welchem landwirtschaftlichen Berufe, Gewerbe
oder Kunstzweig der Genosse in der Heimat gearbeitet habe! diese: bei
welcher Waffengattung oder Sanitätsdienst er oder sie gedient habe!
Auf diese Weise — von der Arbeit für die Gemeinschaft zum (wie ich
aus führen werde sehr nötigen) Waffenschutz dieser Arbeit und dieser
Gemeinschaft übergehend — will die Gdut eine ethische Form des
Militarismus schaffen.
Die Gdut — an ihrer Spitze steht außer Kopelewitsch der an¬
erkannte Organisator von Nurriss, der Ukrainer Lefkowitsch — ver¬
flögt schon heute über eine große Mitgliederzahl, und ihr Ansehen
unter den jungen Arbeitern befestigt sich von Tag zu Tag. Sie wird
durch das Beispiel ihrer Arbeit und ihrer sittlichen Auffassung des
Problems der „großen Gruppe" die Arbeiterorganisationen Palästinas
sicherlich beeinflussen. Man sagte mir, daß sie bereits eine Ver¬
einheitlichung aller Arbeitstarife in Palästina erzielt habe. Für uns Nicht¬
palästinenser ist sie wichtig, weil sie, an dem entgegengesetzten Ende
anhebend, gleiche Ziele verfolgt, wie die „Arbeitsarmee" Trotzkis, die
von der Demobilisierung stehender Kampfformationen des Roten Heeres
ihre Bataillone bezieht. Ob die Zentralisierung radikalster Form in
Palästina berechtigt und befähigt ist, die Gesamtarbeit des Landes zu
lenken, darüber muß die Zukunft entscheiden. Daß dieser Wille zur
Arthur Holttscber, Aufzeichnungen aus Palästina 379
Zentralisierung sich (wie in Rußland) selber ad absurdum führen kann,
bewies auf dem Kongreß von HaifFa ein Antrag des Delegierten
Bin Gorion (eines Mannes von unbestreitbar interessanten Einfallen, doch
mit unangenehmem „Kommissärs-Beigeschmack), der von jedem in der
Gdut Organisierten bedingungslose Unterwerfung unter die Verfügungen
der Zentrale, eine Art Mizraim mit Tarifen, forderte. Über diese
wilde Zumutung ging der Kongreß ohne Debatte zur Tagesordnung über.
Immerhin kann man in Palästina hitzige Übertreibungen an sich
gesunder Theorien oft beobachten. Die Kommission hätte solchen
Fällen gegenüber einen schweren Stand — es erweist sich aber, daß die
Notwendigkeiten des Lebens, Einsicht in die gegebenen Verhältnisse
des Landes und der in den Menschen selber begründeten Bedingungen
der Entwicklung die jungen Heißsporne oft zur Nachgiebigkeit be¬
stimmen. Die Kommission und die junge Arbeiterschaft kommen
sich sozusagen auf halbem Wege entgegen und die Arbeit wird ge¬
fördert. Im Grunde handelt es sich ja um diese Arbeit allein.
Gespräch zwischen Kopelewitsch und mir, vor dem landwirtschaft¬
lichen Museum in Jerusalem.
Ich: „Was seid ihr für Kommunisten. Wie die alten Chalukka-
leute hier in den Bethäusem ihr Leben aus Spenden frommer Wohl¬
täter fristen, wie die alten Kolonisten anno dazumal ihren Unterhalt
aus den Fonds der französischen „Alliance“, des Deutschen Hilfs¬
vereins, aus den Millionen des Barons Rothschild usw. zogen, so baut
ihr euren Kommunismus auf Beiträgen auf, die amerikanische Kapita¬
listen einer im Grunde gutbürgerlichen Organisation, der zionistischen
Kommission überweisen. Chalukka-Kommunistenü Der Kommunismus
expropriiert in anderen Ländern den Kapitalismus, den er dort vor¬
findet. Ihr expropriiert kleinweise den amerikanischen Kapitalisten,
je nach dem Posteinlauf, die Gutmütigkeit oder das „Wir wollen nicht
wissen, was mit unserem Geld geschieht“ der amerikanischen Zionisten!“
Kopelewitsch: „Der Kapitalismus muß uns die Möglichkeit schaffen,
daß wir kommunistisch leben können.“
Das Jüdische Landwirtschaftsmuseum in Jerusalem, eine Schöpfung
des Leiters der zionistischen Kolonisationsarbeit, Jakob Ettinger, zeigt
in mustergültiger Übersichtlichkeit und Vollendung neben den Ge¬
steins- und Tierarten des Landes Proben von allem, was dem steinigen
Boden Palästinas abgerungen werden kann: Korn, Obst, Baum.
380 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus "Palästina
Die Schrift, die Legende, aber auch der Chronist Flavius Josephus,
berichten von den herrlichen Wäldern, Gärten, wogenden Feldern und
üppigen Wiesen des Landes. Wo sind sie geblieben? Wo Kanaan,
Mamre, der Eichenforst des heiligen Tabor?
Stein, Fels, Sumpf; hier und dort wild ein Fleck Unterholz, zarte
Wurzeln von Ziegenherden zernagt und vernichtet; ein paar Oliven¬
bäume in Gruppen; von hohen stacheligen Kaktushecken umgebene
Baumpflanzungen, Getreidevierecke arabischer Bauern; und im Lande
verstreut, auf Bergen, in Ebenen, Oasen, vereinzelt grüne Landstriche,
Eukalyptushaine, Orangen, Bananen, Traubengärten jüdischer Siedler
und Templer-Kolonisten.
Auf der Reise nach Jaffa bestieg ich in Port-Said das kleine Schiff
„Merano“ des Triester Lloyd. Wir blieben anderthalb Tage liegen,
weil wir Bretter zu laden hatten. Auf den Brettern waren die Worte
„Orangenkisten für Jaffa“ zu lesen. Das Holz kam aus Österreich.
Es gibt also in Palästina keinen Wald.
Der Boden hat aber auch keine Kohle, kein öl, kein Eisen. Ja,
sogar die Steine taugen an Orten, wo man sie zum Bauen gut brauchen
könnte, nicht viel. In Tel-Awiw am Strand entsteht eine Silikat-
Ziegelfabrik. Der Stein um Jaffa ist zu porös.
In die Kolonien, die seit vierzig »Jahren und darüber bestehen,
muß Gefrierfleisch aus Australien, müssen Eier, Butter, Reis, Kartoffeln,
ja Tomaten (aus Ägypten) eingeführt werden. (Dafür findet man in
Kairo, in Alexandrien, eine Tagereise von den Orangengärten Jaffas
bei Obsthändlern Apfelsinen aus Kalifornien und Florida).
Was produzieren denn diese alten Kolonien, die vierzigjährigen?
In den Kellereien des Barons Rothschild, in Rischon-le-Zion, ruht
der schwere süße Wein Palästinas. Die Ausfuhr stockt — Amerika
ist „trocken“, das ägyptische Pfund, die Währung des Landes, steht
hoch, die Welt ist arm.
Der Jude deckt, auf dem Land, in den Städten seinen Bedarf an
Lebensmitteln zumeist beim arabischen Krämer, im Bazar. Aber der
Araber kauft nicht beim Juden.
Der Araber ist überhaupt bedürfnislos. In Tennen trampelt er das
Korn aus den Halmen, mahlt es in Mühlen, wie die es war, an deren
Rad gebunden Simson neben dem Ochsen im Kreise lief. Seine
Nahrung sind flache Weizenfladen, Melonen und Kaffee. Seine Zelte
sind grobe Matten auf Stangen, sein Trinkgefäß enthaarter Ziegenbalg.
Lebt er in Dörfern, so sind seine Hütten aus Lehm und wenn es
Arthur Holitscher, Aufrechnungen aus Palästina 381
zwei Tage hintereinander geregnet hat, so schmilzt solch ein Dorf
zu einer Kotlache nieder. Das Klima lost die Wohnungsfrage des
Arabers auf die einfachste Weise — kaum dreißig Tage im Jahr ist
der Aufenthalt unter schützendem Dach Notwendigkeit.
Ein Dutzend EfFendis, das heißt wohlhabende eingesessene Familien
besitzen das Land, das der Nationalfonds für die Kolonisation braucht.
Der EfFendi läßt von seinem verelendeten Pächter oder Arbeiter nur
einen geringfügigen Bruchteil seines Bodens bearbeiten, der Rest liegt
brach. Verkauft er sein Land, so fährt der EfFendi nach Kairo, wenn
möglich ohne seine Weiber, und sieht dort gute Tage.
Hartnäckige Arbeit vermag aus dem Boden alles zu ziehen, was
große Menschenmassen im Lande für ihre Nahrung, Kleidung, alle
Erfordernisse ihres leiblichen Lebens bedürfen. In manch einer von
den zwanzig Siedlungen, die ich in Judäas Gebirg, im Alluvialgebiet
des nahen Transjordan südlich des Genezarethsees, in der Jesreel-
Ebene besucht habe, sprossen schon wieder die Bäume, keimte das Ge¬
treide, reiften die Früchte des sagenhaften versunkenen Kanaan.
Ich begleitete Jakob Ettinger auf einer Inspektionsreise durch die
Siedlungen Galiläas. Agronom und Sozialist; Kenner des Bodens und
der Menschen; Berater nicht nur, sondern Freund der Arbeiter, die
ihm vertrauen und denen er hilft. Menschen einer wunderbar reinen
und vollwertigen Art begegnet man in Palästina; ich habe manch
einen in der zionistischen Kommission an ge troffen; ihre Tätigkeit
löst die zuweilen beklemmende Unstimmigkeit auf, die sich bei der
Gegenüberstellung: Chaluz — Exekutive einstellt.
Ettinger hatte den speziellen Auftrag, Siedlungen, deren Ertrag den
Erwartungen der Kommission nicht entsprach, auf ihren Strukturfehler
zu untersuchen; sie durch technische Hilfsmittel zu sanieren; im
ärgsten Falle aufzulösen und den Siedlern diese Notwendigkeit ver¬
ständlich zu machen. Wir kamen in Siedlungen, in denen gemischte
Farmarbeit, Pflanzung und Viehzucht eingeführt werden sollte. Hier
gab es oft tief in das private Leben der Siedler einschneidende Fragen
zu erörtern — Frauen mußten zugezogen werden, die sich auf Gemüse¬
bau und Kleinvieh verstanden; den Siedlern mußte nahegelegt werden,
daß Familiengründung zur Stabilisirung der kleinen Niederlassung
vonnöten sei, weil das Kommen und Gehen der ledigen Genossen,
die hier nur kurze Zeit arbeiteten und es dann anderswo versuchten,
die Farm um jede Möglichkeit der Entwicklung brachte. In anderen
38z Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
Siedlungen war die persönliche Sicherheit der kleinen Zahl Arbeiter,
auf weiter wilder Öde, durch Beduinenstämme in den umliegenden
Bergen gefährdet — solche Siedlungen mußten verstärkt oder verlegt
werden; oft war solche Maßregel auch aus Gründen der Intensivierung
der Arbeit durch die größere Arbeiterzahl nötig. Bei Erörterungen
dieser Art ging’s nicht ohne Herzbrechen ab. Unser Weg führte aber
auch in Siedlungen, in denen es lediglich Berichte, Wünsche und Vor¬
schläge der Siedler entgegenzunehmen galt.
Wiederholt hielten wir uns in den beiden berühmten Siedlungen
Kinereth und Degania auf, die in vielfacher Beziehung für das ge¬
samte Siedlungsproblem Palästinas charakterisch sind. —
Degania wurde vor zwölf Jahren von der Jüdischen Kolonisations¬
gesellschaft auf Jordantals-Boden gegründet und an eine Arbeiter¬
genossenschaft abgegeben, die dort nach ausgesprochen kommunistischem
Prinzip lebt und arbeitet, mit Erfolg arbeitet und in mustergültiger
Harmonie lebt. Sie ist bereits seit mehreren Jahren imstande, die
Hälfte ihres Reingewinns an den Nationalfonds zurückzuzahlen, und
amortisiert auf diese Weise die in Land, Häuser und Geräte gesteckten
Summen der Kommission. Die Bodenfläche dieser Siedlung beträgt
etwas über dreitausend Dunam (der Dunam — gleich neunhundert
Quadratmeter).
Deganias Erfolg hat die Kommission zum Ankauf eines weiteren
großen Landstriches in der Jordanebene veranlaßt, so daß sich dort,
in meilenweiten Abständen von der ursprünglichen, jetzt Degania
Aleph genannten Siedlung, die kleineren Farmen Degania Beth und
Degania Gimmel gebildet haben.
Degania Aleph besitzt ein steinernes Haus, große Stallungen, schönen
parkartigen Garten, in dem Orangen und Mandelbäume blühen; wo
ehemals Sumpf war, um die Siedlung herum, erhebt sich jetzt ein ge¬
waltiger Eukalyptushain; über den Jordanarm, der aus dem Genezareth-
see an der Siedlung vorüberfließt, bauen die Arbeiter Deganias eine
Brücke. In dieser gut bewirtschafteten und glücklich gedeihenden
Siedlung von etwa fünfzig Arbeitern (darunter fünf Familien — es
gibt auch einen Kindergarten von sechs, in Degania geborenen Kleinen)
hat sich eine so innige Gesinnungs- und Arbeitsgemeinschaft aus¬
gebildet, daß das sozialreligiöse Prinzip des Kommunismus gleichsam
aus dem Boden gewachsen, wie ein starker Baum Menschen und
Raum überschattet Die glückliche Harmonie der meist jüngeren
Leute fördert die ökonomischen Bedingungen. Die Arbeiter sind in
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 383
ihrer Arbeitsteilung aufeinander abgestimmt, Abwanderung findet nur
selten statt, und der Ruf der Gruppe bewirkt, daß sich Zuwachs aus
«len besten und tüchtigsten Elementen der palästinensischen Arbeiter¬
schaft einfindet.
Indes birgt dieser Idealzustand eine nicht zu unterschätzende Gefahr
in sich. Der Umstand: daß man durch seine Arbeit imstande war,
eine „Ehrenschuld“ gegenüber der Kommission abzutragen, ist schon
ein Hebel privatkapitalistischen Ehrgeizes, der die Siedlung über andere
hinauf hebt und sie von der im großen ganzen schwer ringenden
und mit Verlusten arbeitenden Mehrzahl der jüdischen Siedlungen des
Landes abtrennt. Man darf sagen, daß sich in Siedlungen, die sich
selbst erhalten, ohne Defizit arbeiten, sehr bald eine peinlich indivi¬
dualistische Auffassung des Problems der Gesamtheit und des Besitzes
an eigenem Boden einstellen kann. Widersprüche dieser spezifisch
palästinensischen Art (Kommunismus der kleinen Gruppe mit privat¬
kapitalistischem Einschlag) begegnet man heute oft; es ist das Prinzip:
Mallul; es zu bekämpfen wird Nurriss aufgerichtet, strebt die Gdut,
die Armee der Arbeit an.
In Degania Gimmel, eine halbe Stunde Autofahrt von Aleph, haben
sich zwölf junge Menschen niedergelassen. Der wiederholte Besuch
dieser kleinen Siedlung in der weiten Einöde des Transjordantals wird
mir, daß weiß ich, lange in Erinnerung bleiben.
Diese zwölf jungen Menschen — Ukrainer und Russen, darunter vier
Frauen — haben das riesige Gebiet ihrer Siedlung selbständig bearbeitet,
beackert, bepflanzt. Die Freude an dem Zusammensein, der gemein¬
schaftlichen Arbeit und Verantwortung prägte sich schon in der Sauber¬
keit und Wohnlichkeit ihrer kleinen primitiven Holzhütten aus, in denen
ihre Schlafräume sich befanden, der Schuppen für Geräte, der Speise-
und Leseraum, darin unsere Beratung vor sich ging. Von den Zwölf
kamen nur sechs, vier Männer, zwei Frauen, zu uns herein, die anderen
blieben draußen bei ihrer Arbeit, obzwar der Tag schon sank, obzwar
sie wußten, daß der Besuch Ettingers ihre vitalsten Interessen betraf.
Wir wurden mit Tee und Kuchen bewirtet. Während die Verhand¬
lungen begannen, sah ich mich in der Baracke um. Ich fand
eine kleine Bibliothek, deren Zusammensetzung charakteristisch genug
war — ich habe in vielen Hütten und Zelten ungefähr dieselbe fest¬
stellen können: hebräische Bücher, mitgebrachte, zumeist über Land¬
wirtschaft, Chemie; Übersetzungen moderner Skandinavier, Originale
von Achad Haam, deutsche: die psychoanalytischen Schriften von
384 Arthur Holttscher, Aufzeichnungen aus Palästina
Freud; ein Band Nietzsche, ein Band Tagore. Freud und Marx —
der eiserne Bestand der Chaluz-Bibliothek! Sehr oft Bficher und Bro¬
schüren von Hans Blüher. (Viele deutsche und österreichische Chaluzim,
aus der Wandervogel-, der freideutschen, der Blauweiß-Bewegung,
erkundigten sich bei mir nach Blüher, seinen neuen Schriften, seinen
Wandlungen, Anwandlungen.)
Draußen um die kleine Siedlung zog sich, nach allen Regeln der
Kunst und unter Aufsicht englischer Offiziere verfertigt, ein Schützen¬
graben. Die jungen Menschen von Degania Gimmel wußten nur zu
gut, welche Gefahr sie zu jeder Stunde des Tages, in der sie hinter
ihrem Pflug, der Nacht, in der sie mit dem Gewehr auf dem Rücken
um ihre Hütten herumgingen, bedrohte. Die Araberstämme in den
Bergen, der Transjordan! Und sie waren zwölf. Aber sie wider¬
standen. Widersetzten sich. Sie wollten nicht aufgelöst, nicht mit
dem größeren Degania Beth vereint werden, sie wollten bei ihrer
Erde bleiben, die sie, hier draußen, weit weg von den anderen,
brauchte. Sie bearbeiteten ihr Stück, ein großes, weites Stück Landes,
das sehr viel Pflege erforderte, sie hafteten solidarisch für ihr Stück
Land. Brachte man sie weg, verfiel es. Hier, in der Einöde, waren
sie zu Hause. In der Nachbarschaft jener Bergstämme. Seit einem
Jahr schon verteidigten sie, mit Pflug und Gewehr, das Land, das
ihnen zur Bebauung überlassen worden war, ihres. Eine föderalistische
Zusammenarbeit mit Beth und Aleph war durch den Zusammenhang
der drei Deganioth gegeben. Aber sie wollten Wege und Methoden
finden, um ihre Arbeit zu intensivieren, stärker und konsequenter zu
gestalten, um ihre kleine Gemeinschaft, so wie sie war, aufrecht zu
erhalten, tun nicht in eine andere, fremde Gruppe aufgehen zu
müssen.
Hier sah ich die Verwurzelung des jungen Chaluz mit dem Boden
der Urväter. Hier erlebte ich es an einem rührenden Beispiel, welche
Art Selbständigkeit der Boden, die Idee, der Glaube in diesen aus
dem Exil Stammenden, Verfolgten, Bedrückten, Heimatlosen entwickelt
hatte. Kreuzfahrer . . . Puritaner, vom Felsen Plymouths ausgegangen,
um in der Wildnis, von feindlichen Stämmen umlauert, ein Gottes¬
reich durch Arbeit aufzurichten . . . aber diese da — keine Zeloten,
Kinder des Friedens, keine starrköpfigen, verbohrten Sektierer, sondern
von herrlichem Frohsinn erfüllte Söhne, Töchter eines neuen Zeit¬
alters. Opfer bringen sie dar, mit jedem Atemzuge, jedem neuen
Morgen, der sie noch leben sieht in der gefährdeten Einöde. Opfer
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 585
bringend: barte Arbeit, Entbehrung, körperliche Not und Nieder¬
brechen, von herrlicher Zuversicht erfüllt, bauen sie den Altar des
Dritten Tempels auf den Ebenen Erez Israels.
Viele frohe, glückliche Menschen leben, jung, stark, unter der Sonne
der alten steinigen Heimat. Ich sah nur diese jungen, arbeitenden
Menschen an, die, um unseren Tisch sitzend, mit dem Leiter ihrer
Arbeit, ihrem Freund, ernst und ruhig, aber im Innersten aufgewühlt,
über die tiefsten wichtigsten Fragen ihres Stück Landes, ihrer Arbeit,
ihrer inneren Existenz sprachen. Es waren die reinsten, schönsten
jungen Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe.
Hoch auf dem Berge, auf einem mit Mühe dem Felsgeröll ab¬
gerungenen Plateau über der Siedlung Kinereth, am Südwestende des
Genezarethsecs leben fünfundzwanzig junge Arbeiter und Arbeiterinnen.
Vom Sturmwind umbraust, der aus der tiefen Schlucht des Jordan¬
tales, von den Bergen Gileads herüberfliegt, bauen sie dort Terrassen
aus Steinen, die sie aus dem Boden heben, herbeischleppen, aufeinander-
türmen, als Schutzmauem für öl- und Mandelbäume, Trauben und
Feigenbäume, die sie dort pflanzen werden. Seit acht Monaten leben
sie in windverwehten Baracken, kämpfen mit Stein und Wind und
den Widerständen des schwer ergründlichen tückischen Bodens um
Ertrag und Erfolg ihrer Arbeit. Auch diese war eine frohe und
glückliche Gruppe. Sie war dort oben vom Sumpffieber verschont;
erfrischt von Wind und Kühle, ihres Lebens froh. Instruktoren sollten
hierher, gemischte Farmwirtschaft, neue Siedler, die die Kolonie aus¬
bauen, festigen. Berg-Kinereth war mit allem einverstanden. —
Aber unten, im alten Kinereth, der weitberühmten alten Siedlung
Galiläas, der ältesten am Genezarethsee, blickten wir in betrübte
Gesichter.
Diese Kolonie will nicht recht gedeihen. Der Bodenbesitz Kinereths
umfaßt sechsthalbtausend Dunam, es stehen steinerne Häuser da, rings¬
um sind große, ertragreiche Gemüseplantagen angelegt (hier war auch
die Lchrfarm für Mädchen eingerichtet gewesen), der Hof mit Stallungen
gibt Möglichkeit zur gemischten Farmarbeit unter den günstigsten
Bedingungen — aber es ist ein Kommen und Gehen in dieser Kolonie^
eine Unrast und Mangel an Zusammenhalt, der die Arbeit hemmt
und zuweilen ganz unterbricht. Sind es intime Momente der Unver¬
einbarkeit der Temperamente und Charaktere, die diese Kolonie
zum Sorgenkind Palästinas machen? Viele von den ersten Ansiedlern
*5
5 8 6 Arthur Holitscber, Aufzeichnungen aus Palästina
sind tot, die neuen können zusammen mit den alten, eingesessenen,
die Form, die innere Form des Zusammenhaltes nicht herstellen, die
allein alles Äußere, alle äußeren ökonomischen Formen der Existenz
beeinflußt und bestimmt Solche tragischen Unstimmigkeiten, Zwie¬
spalte, vernichten alle gtinsdgen Vorbedingungen, heben jede Möglich¬
keit der Sanierung durch äußere Mittel und Methoden auf. Ernsteste
Arbeit wird vertan; der Boden mag hergeben, was und soviel er
kann, die Siedlung verdorrt. Es ist, als hätte jede Gruppe, jede dieser
Kolonien ihren Schutzgeist oder Dämon. Die tüchtigsten, zum Opfer
willigsten und fähigsten Menschen werden an Orten wie diesem
schwach, matt, werfen bald die Flinte ins Korn, nicht selten das
Leben von sich. Die Entbehrungen, die die Arbeit dem einzelnen
auferlegt, werden nicht freudig getragen, weil jeder sich einzeln von
ihnen belastet fühlt; die Frage reckt sich hoch — ob die Gemein¬
schaft diese Last rechtfertigt? Viele junge Menschen fliehen aus
solchen Gemeinschaften zurück in das Land des Exils, woher sie
kamen, verderben dort Die Übriggebliebenen aber bedrückt Ver¬
zweiflung.
Auf meinen Fahrten durch die Kolonien und Siedlungen Palästinas
bin ich mancher Tragödie dieser Art begegnet. Es sind lebende,
sehr wache und empfindliche Menschen, die das heutige Palästina an
der Arbeit sieht. Ihre Schicksale sind oft schwer zu lenken. Es be¬
darf der ganzen, vollen Menschlichkeit und Klugheit von Männern,
wie Ettinger und des Aufbauers Palästinas, Arthur Ruppin, um hier
Rat und Hilfe zu schaffen.
Im benachbarten, glücklichen Degania lebt und dichtet der alte
Arbeiter Gordon, verdienter Patriarch der Chaluzbewegung. Hat er
an das Schicksal jener Kolonie drüben am See Galiläas gedacht, als
er, nach einem ukrainischen Lied, dieses neu dichtete ...
„Auf dem Pripjetschick
Brennt a Feierl,
Un dos Herz is kalt —
Weil die Alten sennen
Toiten schon lang —
Un die Jungen alt . . .**
Oft hörte ich die melancholische Weise, an Freitagabenden, an
Samstagabenden, in Zelten und Baracken singen. An vielen Orten,
von jungen Arbeitern, jungen Mädchen, frischen Stimmen und auch
müden.
Arthur Holitsehet', Aufzeichnungen aus Palästina 587
All diese Kolonien, Siedlungen, neue und alte, stehen unter fort¬
gesetzter Kontrolle der Kommission. Das hat seine Vorzüge und
Nachteile.
In den Niederlassungen, sowohl kommunistischer Art wie in denen,
wo mehr privatkapitalistische Initiative vorherrscht, weiß der Arbeiter
und Siedler, daß für Defizite die Kommission mit ihren Mitteln auf¬
kommt.
Dies kann Demoralisation zwiefacher Art erzeugen.
Wozu die Anstrengung? Die Kommission gleicht den Verlust aus! —
Aber auch das Gegenteil mag eintreten: eine Gruppe mag trotz
jahrelanger Anstrengung fortgesetzt mit Verlust arbeiten, weil sie ver¬
hältnismäßig große Summen für nicht ausgesprochen produktive Arbeit
ausgeben muß, Sumpfentwässerung, Pflanzung junger Bäume, die erst in
4—5 Jahren Früchte tragen werden — vornehmlich aber darum, weil
sie fllr dringende Anschaffungen von der mit Geldnot kämpfenden
Kommission nur ungenügende Summen erhält und dadurch bei wich¬
tigsten Arbeiten behindert ist. Dann tritt, durch Einsicht der Frucht¬
losigkeit aller Bemühungen, leicht Müdigkeit ein, Indolenz, Gehenlassen,
hol’s der Teufel, und die Wirtschaft ginge zugrunde, griffe die
Kommission nicht mit rettender Hand ein.
(Hierher gehört ja auch das Antichambrieren der Genossen, das
wochenlang auf Geld — Warten vor dem Tor der Kommission in Jeru¬
salem. Das Knausern am fälschen Ort und auch überstürzte Hast bei
der Ansiedlung von Arbeiterfamilien an ungenügend entwässerten
Sümpfen. Die Siedlung, in der ich die Ungarn traf, war zwölf Jahre
alt, der Sumpf immer noch nicht reguliert. In Chedera mußten drei
Generationen von Kolonisten an Malaria sterben. Statt die Entwässerung
sumpfiger Stellen großzügig, auf ersten Anhieb zu bewerkstelligen,
führt man sie langsam, jahrelang, während dort schon gepflanzt und
gebaut wird, durch, sehr zum Schaden von Leben und Energien —
ein Fehler der Organisation, über den ich manche Klage anhörte.)
Andrerseits aber kam ich mit Dr. Ruppin und Ettinger eines Tages
in eine kleine Siedlung, nahe beim Meer, südlich von Jaffa. Wir
traten in das Haus des Wortführers der Siedler ein, ein nettes Haus,
mit einem gut gehaltenen Hühnerhof, den die Frau bewirtschaftete
und der sich sehen lassen konnte. Der Hausherr — er wohnte und arbeitete
seit zehn Jahren dort, hatte das ihm zugewiesene Stück Land erfolg¬
reich bebaut, schickte seine Kinder in die Schule, ins nahe Rischon-
le-Zion — der Hausherr rückte bald mit einer Bitte heraus: die
}88 Arthur Holitscher■, Aufzeichnungen aus Palästina
Kommission möge ihm zwei Kfihe kaufen, er wolle seine Wirtschaft
vergrößern. Es drängt sich nun die Frage auf: wo in aller Welt ist
es noch Brauch, daß ein Bauer, der an die zehn Jahre auf seinem
StQck Boden haust und es zu Wohlstand gebracht hat, sich an eine
Kommission wendet, um sich von ihr Kfihe schenken zu lassen? Kann
er selber keine Kfihe kaufen oder durch eine Kreditgenossenschaft be¬
schaffen, so hat er eben ohne Kfihe weiter zu wirtschaften.
In der jfidischen Stadt Tel-Awiw aber erzählte mir jemand eine
gute Geschichte: von einem reich gewordenen Hausbesitzer, der an
Mieten monatlich sechzig Pfund einnahm, aber, wenn eine Fenster¬
scheibe in seinem Hause eingesetzt werden mußte, ins Bureau des Ba¬
rons Rothschild lie£ um sich die Scheibe „vom Baron“ schenken zu
lassen. Er hatte vor vierzig Jahren sein kleines Anwesen, mit dem er
anfing, aus den Wohltätigkeitsorganisationen „des Barons“ empfangen
und die Gepflogenheit des Schnorrern war ihm geblieben . ..
Auf dem Landarbeiterkongreß in Haifia, dessen ich schon Er¬
wähnung tat, bildete der Übergang von der Subvention zur Anleihe
einen der Hauptpunkte der Besprechung. Auch von einer Arbeiterbank
war die Rede, die, unabhängig von der zionistischen Kommission,
Darlehen vermitteln würde. Die wirtschaftliche Sicherung der Arbeit
in Palästina soll also in eine neue Phase eintreten .. .
Auf diesem Kongreß war viel von der Verantwortung des Ein¬
zelnen gegenüber der Gemeinschaft, der kollektiven Verantwortung
der Gemeinschaft gegenüber der Erde die Rede. Es fiel das Wort
von den „Sklaven der Erde“! Aber es erwies sich, daß die Erde, die
zu bebauen, zu erneuern man ins Land gekommen war, all diese
Intelligenzen der hart arbeitenden Menschen beschwingt und befruchtet
hatte. Die enge Verbundenheit des Zionpilgers mit dem geliebten
Heimatboden gebar seltsam schone Seelenblüten. Oft waren die Reden
von Pathos getragen; die Gebundenheit an gegebene Möglichkeiten
und die Nöte des Tags vergessen; schwärmerische Pläne mit aus der
Erfahrung geschöpften Theorien verquickt; man wußte nicht recht, zum
Schaden oder zum Nutzen der praktischen Durchführbarkeit beider;
Weltanschauungen prallten aneinander, begegneten sich, bekämpften
sich in der Region der Ideen, hoch über der nüchternen Wirklichkeit
So war's mit den Weltanschauungen: Mallul und Nurriss — der
Moschaw Awdim und der Gdut Haarodah.
Indes, beide haben schon sichtbaren Niederschlag gezeitigt, sind
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 389
Wirklichkeit geworden, wenn auch nur noch Umrisse von lebenden,
lebensfähigen Gebilden.
Auf unserer Fahrt durch die Ebene Jesreel hielten wir uns in einem
Zeltlager auf; das den Namen Mallul führte, und verweilten in einem
anderen, dieses war Nurriss.
Nur ein paar Worte zu Mallul. In dieser Siedlung, deren geistiger
Führer Elieser Joffe ist, sind vorläufig achtzig Familien in Zelten
untergebracht. Jede dieser Familien will 100 Dunam Landes zur selb¬
ständigen Bebauung haben, soll aber vorerst nur 50 erhalten. Die
restlichen 50 nach dem Verlaufe von ftinf Jahren, wenn es sich er¬
wiesen haben wird, daß eine Familie imstande ist, ein Gebiet von
über 50 Dunam ertragreich zu bewirtschaften. Bei der Ansiedlung
dieser Leute soll der Fehler vermieden werden, den die Jüdische
Kolonisationsgesellschaft seinerzeit begangen hat, als sie den Siedlern
zu viel Boden zuwies, woraus Vergeudung der Kräfte, aber auch Ver¬
fall und Brachliegen des Landes sich ergab. Die Siedler von MalluJ,
zum Teil ältere Leute, sind Pächter des Nationalfondsbodens und
haben jährlich vom Anzahlungspreis dieses Bodens zwei Prozent an den
Nationalfonds gemeinschaftlich abzugeben.
Der Boden ist ftir die Bebauung günstig, die Ebene aber an dieser
Stelle von Fieber heimgesucht. Frauen und Kinder der Siedler mußten
ins hochgelegene Nazareth überfährt werden.
Nurriss liegt tiefer südöstlich in der Ebene Jesreel, in der Nähe
der Station Affule der Haifia-Damaskus-Bahn. Alte Namen steigen
auf — es ist die Ebene des Armageddon, der völkermordenden Schlacht;
Sunem verbirgt sich in den Ausläufern des Gilboagebirges, das zu
Basan gehört, dem Fürstentum Ogs. Hier entspringt aus tiefer Felsen¬
grotte die Goliathquelle, ihr Wasser zieht sich durch regellos sumpfiges
Gelände durch das ganze Gebiet Nurriss.
Sechs Reihen Zelte erheben sich vor der Goliathquelle. Hundert-
undzwanzig Menschen leben dort, aber es sollen sich ihnen bald
weitere dreihundert zugesellen — Leute der Gdut, ungefähr sechzig
Familien, eine Gruppe der „Haschomer Hazair“, der „jungen Wächter
Palästinas“ und die berühmte kommunistische Kwuzah deutscher und
tschechoslowakischer Intellektueller aus Chefzibah bei Chederah.
Die Hündertzwanzig — nur wenige unter ihnen haben das dreißigste
Jahr hinter sich, — Männer und Frauen, Russen, Deutsche, Arbeiter
390 Arthur Halit scher, Aufzeichnungen aus Palästina
und ehemalige Studenten — auch ein Christ ist da, ein alter Zimmer¬
mann — leben erst seit kurzem in der jungen Niederlassung. Sie
kennen sich zum Teil noch gar nicht, die Gemeinschaft, die unter ihnen
besteht, ist vorerst eine rein prinzipielle. Nur wenige sind verheiratet
— jene sechzig Familien, von denen ich sprach, sollen drüben, auf
den Hügeln jenseits der Bahnstraße angesiedelt werden, dort ist der
Boden gesünder. Zwischen der Goliathquelle und jenen fernen Hügeln
erstreckt sich das Gebiet Nurriss, ein weites, unabsehbares Feld, von
Bergen gesäumt.
An der Quelle waschen junge Mädchen die Wäsche der Hundert¬
zwanzig. In modischen Schuhen und engen Röcken, die noch aus
Lodz, Odessa, München herübergebracht wurden, trippeln sie über die
spitzen Steine, knien an trocknen Stellen nieder und bearbeiten die
Hemden und Hosen mit breiten Klöppeln. Im Bach, der aus der
Grotte fließt und sich zum Sumpf verbreitert, an den Rändern des
regellosen Wasserlaufs, auf der Kwisch, die von den Zelten zum
Bahndamm führen soll, stehen, bis an den Gürtel nackt, junge Männer
mit Spaten, die glänzende Haut bronzen gebeizt von der prallen
Sonne. Vom, in der Nähe des Sumpfes, schaufeln Frauen große Stein¬
blöcke aus dem Boden, Fußbreit um Fußbreit, jäten zähes Unkraut,
sammeln Stein und Kraut in Körbe, die sie dann fortschleppen. Ich
spreche ein junges Mädchen an, das mit einem solchen schweren
Korb sich zu schaffen macht. Sie ist Wienerin, Studentin der Philo¬
sophie. Weit, am Ende des Feldes, bei der Bahn, fährt ein Gasolin¬
motor amerikanischen Ursprungs, ein Dampfpflug, langsam über den
entsteinten, schwarzen, fruchtbaren Boden. In der Siedlung, höre ich,
arbeitet ein junges Mädchen, Mitglied jenes Newyorker Klubs junger
Jüdinnen, der den Pflug gespendet hat. Als das Geld beisammen und
der Pflug gekauft war, hatte man in der Vorstadt Bronx eine Halle
gemietet, den Pflug, mit Girlanden schön geschmückt, in die Mitte
der Halle gestellt, und rings um ihn tanzte der Klub Foxtrott. Jetzt
rattert der Gefeierte schwer und weithin hörbar über das Feld. Das
Wiedersehen, sagte man mir, soll rührend gewesen sein.
Ein riesenhafter junger Kerl sitzt auf dem Bock, und hinter dem
Traktor bäumt sich die Erde in mächtigen Schollen. Weit weg, so
weit, daß man ihn nicht sehen kann, aber noch auf Nurrissgebiet,
arbeitet ein zweiter Traktor. In wenigen Tagen wird die Arbeit be¬
endet sein. Die Mädchen auf den steinbesäten Wiesen, die Jungen
im Sumpf arbeiten mit angespannten Muskeln.
%
Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina jpi
Ein Auto kommt über die Wiesen heran. Ihm entsteigen drei
junge Leute mit Gewehren. Es ist der Selbstschutz, den die ver¬
streuten Siedler der Jesreel-Ebene gemeinschaftlich unterhalten. Das
Auto fährt von Siedlung zu Siedlung. Es verbindet die entlegenen
miteinander; sie fühlen sich beschützt und in guter Hut. Aber es gibt
noch andre Beschützer der Siedlungen.
Ein Cowboy, wunderbarer brauner Junge, in Khakihemd, Rauh¬
reiterhut, Lederhosen, macht seine Runde um Nurriss, auf prächtigem
Pferd. Er galoppiert an uns vorbei. Grüßt Wir lachen ihm zu:
„Schalom!“ Er hat ein gutes Gewehr geschultert, einen Patronengürtel
um die Brust geschnallt. Sein Gaul ist von edlem Geblüt, der Junge
läßt ihm die Zügel. Im Hui ist er dort oben, auf dem Hügel über
der Goliathquelle, wo die Steinhäuser der ausquartierten Araber stehn.
Als man das Land vom Effendi gekauft hat, erwarb man zugleich, am
andern Ende des Emek, neues Land ftir die arabischen Arbeiter, die
Nurriss jetzt verlassen mußten. Sie werden es an ihrem neuen Wohn- und
Arbeitsort viel besser haben als an dem alten; finden dort gutes Land,
das sie zu günstigen Bedingungen zu eigen erhalten sollen.
Vor ihren Häusern, die sie bald verlassen werden, sitzen ein paar
arabische Arbeiter im Burnus, rauchen und schauen auf das Leben
hinunter, das sich am Fuße des Hügels, um die Quelle, vor den
Zelten und auf dem sumpfdurcbzogenen Feld abrollt. Mit silbernen
Armreifen um die braunen Gelenke, blau tätowiertem Kinn, die Augen
von Kholstreifen umrändert, stehen ihre Frauen bei ihnen. Das Land ge¬
hört ja jetzt den Juden. Sie stehen und sitzen da, bunt gekleidet, regungs¬
los. Sie blicken hinunter auf die Schar von weiß und hellgelb gekleideten
jungen Menschen, die dort, im Sonnenbrand, über die weite Ebene
verstreut arbeiten; Steine zerhauen, schleppen (der Araber pflügt um den
Stein herum); den alten Sumpf zuschütten; eine Straße bauen; Unkraut
jäten; in den Zelten ein- und ausgehen, wo Nähmaschinen rattern, Schreib¬
maschinen klappern, wo gehämmert, gekocht, geplättet wird.
Bunt gekleidet und stumm blicken die Araber und ihre Frauen
hinunter auf die von unbegreiflichem Leben und unbegreiflichen
Menschen erfüllte Ebene.
Langsam und bedächtig reitet der junge Cowboy mit seinem Ge¬
wehr und seinen Patronen um den Raum der schweigsamen Araber¬
gruppe herum. Gewehr, Reiter und Pferd sind im Sonnenglanz in
eins gewachsen. Er ist der Schomer, der Wächter, ein Nachkomme
jener Schar, die dort unten von der Goliathquelle, unter Josuas Be-
39* Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina
fehl, aasging, das Land zu erobern, die Philister zu besiegen, vor
Jahrtausenden. An dieser Quelle hat Josua die Probe über seine
Krieger verhängt: vor dem Marsch ließ er sie aus der Quelle trinken.
Wer wie ein Hund das Wasser mit der Zunge aufleckte, wurde aus
der Schar gestoßen. Nur die mit vollem Mund schlürften, durften
dem Heer weiter angehören.
Langsam und bedächtig reitet der junge Schomer an den Arabern vor¬
über, gibt dann seinem Pferd die Sporen und jagt hinunter zu den Zelten.
Rings um die Zelte rieht sich ein tiefer Schützengraben. Er ist
tiefer und kunstvoller gebaut als jener um Degania GimmeL Der
Schützengraben um Nurriss hat Laufgräben und Verbindungsgräben.
Ein Huhn kann nicht über ihn hinüberhüpfen, er ist breit und
tief. An einer Stelle ist, mannstief in die Erde gegraben und mit
Sandsäcken bombensicher geschützt und gedeckt, ein Lazarett Ich
springe in den Graben, öffne die Tür des Raums: vier sauber her¬
gerichtete, gebrauchsfertige Betten, mit schneeweißen Überzügen, ein
Schrank mit Verbandzeug.
Die Hundertzwanrig gehören der Gdut an. Sie wissen alle gut
mit der Waffe umzugehen. Viele von ihnen haben im Weltkrieg
gekämpft. Auch in der jüdischen Legion, an den Dardanellen, am
Suezkanal, in Palästina, mit Trumpeldor, zuletzt bei der Verteidigung
der jüdischen Kolonien, vor Jahren in Galiläa, in diesem Frühling in
Jaffa, bei Chederah, bei Petach-Tikwah, vor Tagen noch in Jerusalem.
Auch die „Hasch omer Hazair“ und die Chefzibahleute, die beiden
politisch radikalsten Gruppen Palästinas, sind handfeste Burschen. Man
will diesen starken und enthusiastischen jungen Menschen, deren
Opfermut erprobt ist, die von der Malaria am ärgsten bedrohte, von
den aggressiven Araberstämmen der Hügel ringsum am leichtesten zu
überrumpelnde Gefahrzone von Nurriss als Wohnort anweisen.
Sie werden Nurriss verteidigen. Sie werden nicht angreifen, aber
sie sind auch keine Pazifisten, keine freiwilligen Märtyrer. Sie sind
waffenkundige Schützer ihres Landes, ihrer Gemeinschaft. Sie ver¬
teidigen nicht nur ihr eignes, sie verteidigen auch das Leben ihrer
Idee. Ihr Anführer ist ein tartarischer Bergjude. Seit langem Siedler
und Polizist im Emek. Mit Revolver und Peitsche im Gürtel geht
er zwischen den Zelten und dem Hügel der Araber auf und ab. Die
Araber wissen, wer er ist. Sie blicken zu ihm hinunter, er zu ihnen
hinauf. Sie kennen einander. —
Dies ist Nurriss, die Heimat der jüdischen Arbeiterarmee.
KASIMIR STANISLAWOWITSCH
Novelle von
I. A. BUNIN
A uf der vergilbten Visitenkarte mit der Adelskrone entzifferte der
. junge Portier vom Hotel „Versailles“ mühsam nur den Vor- und
Vatersnamen: Kasimir Stanislawowitsch; dann folgte etwas, das noch
mehr Silben hatte und noch schwieriger auszusprechen war. Der
Portier drehte die Karte in den Händen herum, warf einen Blick in
den Paff, den der Ankömmling zusammen mit der Karte überreicht
hatte, zuckte die Achseln — von den Reuenden, die im „Versailles“
abstiegen, pflegte niemand Visitenkarten vorzuweisen — warf eins mit
dem andern auf ein Tischchen und begann von neuem, sich in dem
milchig silbernen kleinen Spiegel über diesem Tischchen zu betrachten
und seine dichte Haartolle mit einem Taschenkämmchen aufzuplustern.
Er trug eine ärmellose Unterjacke und gewichste Stiefel, die Gold¬
tresse an seiner Mütze war fettig und verschmutzt — es war ein
übles Hotel.
Kasimir Stanislawowitsch war am 8. April, am Freitag vor Ostern,
von Kiew nach Moskau gefahren, auf irgend jemandes Telegramm
hin, das nur das eine Wort „zehnten“ enthalten hatte. Irgendwie
hatte er das nötige Geld zusammenbekommen und hatte in einem
Coupd zweiter Klasse Platz genommen, das grau und trüb war, ihm
aber sicherlich eine Empfindung von Luxus und Bequemlichkeit ein¬
flößte. Während der Fahrt wurde geheizt, und diese Couplwärme,
der Geruch des Heizkörpers und das Knacken, Hämmern und Pochen
darin mochten Kasimir Stanislawowitsch an andere Zeiten erinnern.
Mitunter schien es, als ob der Winter noch einmal zurückgekehrt
wäre; weißes, überaus weißes Schneegestöber deckte auf den Feldern
die rostroten Stoppelborsten und die großen bleifarbenen Wasserlachen,
auf denen wilde Enten schwammen, zu; aber das Schneetreiben hörte
mehrfach ganz plötzlich wieder auf, taute weg, die Felder traten klar
hervor, jenseits der Wolken spürte man eine Fülle von Licht, auf den
Stationen glänzten die Bahnsteige schwarz von Nässe, und in den
kahlen Pappeln schrieen die Saatkrähen. Kasimir Stanislawowitsch
ging auf jeder größeren Station zum Buffett hinaus, kehrte mit Zeitungen
in den Händen ins Coupl zurück, las sie aber nicht, sondern saß
nur da und ertrank im Qualm seiner dicken, stark glimmenden
}94 LA. Bunin, Kasimir Stanisla'wo'witsch
Zigarretten, aus denen hin und wieder Funken fielen, und sprach mit
keinem seiner Reisegenossen — Juden aus Odessa, die während der
ganzen Fahrt Karten spielten — auch nur ein Wort. Er trug einen
Herbstüberzieher mit abgenutzten Taschen, einen sehr alten Zylinder
und neues, aber grobes Schuhzeug, — billige Marktware. Seine Hände,
die charakteristischen Hände eines gewohnheitsmäßigen Säufers und
eingesessenen Kellerbewohners, zitterten beim Anzünden der Streich¬
hölzer. Von Armut und Trunksucht zeugte auch alles übrige an
ihm: das Fehlen der Manschetten, der abgetragene Papierkragen, die
verschlissene Kravatte, das entzündete, maßlos zerfurchte und ver¬
knitterte Gesicht, die grell hellblauen Augen. Sein Backenbart war
mit schlechter zimmetbrauner Farbe gefärbt und sah unnatürlich aus.
Sein Blick hatte etwas Müdes und Verächtliches.
Der Zug traf am nächsten Tage in Moskau äußerst unpünktlich
ein, er hatte volle sieben Stunden Verspätung. Das Wetter war un¬
bestimmt, aber besser und trockener als in Kiew, und etwas Erregendes
lag in der Luft. Kasimir Stanislawowitsch nahm, ohne zu handeln,
eine Droschke und befahl, ihn direkt nach dem Hotel „Versailles“
zu fahren.
„Ich kenne, Bruder“, sagte er, unvermutet sein Schweigen brechend,
„dieses Hotel schon von meiner Studentenzeit her.“
Kaum hatte man dann seinen bescheidenen Korb, der mit einem
dicken Bindfaden umschnürt war, auf sein Zimmer gebracht, als er
sogleich wieder das „Versailles“ verließ.
Es ging gegen Abend, die Luft war warm, die schwarzen Bäume
auf den Boulevards grünten; überall waren viel Menschen, Equipagen,
Lastfuhrwerke aller Art unterwegs. Moskau trieb Handel, ging seinen
Geschäften nach, kehrte zur gewohnten hastenden Arbeit zurück, machte
dem Feiertag ein Ende und freute sich unbewußt des Frühlings. Ein¬
sam, verlassen ist ein Mensch, der sein Leben vertan und zugrunde
gerichtet hat, an einem Frühlingsabend in einer fremden Stadt voller
Menschen! — Kasimir Stanislawowitsch ging zu Fuß über den ganzen
Twerskoi-Boulevard, erblickte wieder einmal in der Feme die erzene
Gestalt des sinnenden Puschkin, die goldenen und fliederfarbenen
Kuppeln des „Strastnoi“-Klosters.
Eine Stunde etwa saß er im Cafd Filippow, trank Schokolade und
besah zerfetzte Witzblätter. Dann ging er in ein Lichtspielhaus, dessen
transparente feurige Aufschrift in der dunkel blauenden Dämmerung
weithin über den Twerskoi-Boulevard leuchtete. Nach der Kino-,
I. A. Bunin, Kasimir Stanislawoivitscb
395
Vorstellung fuhr er in ein Restaurant auf dem Boulevard, das er gleich¬
falls von seiner Studentenzeit her kannte. Ein Greis fuhr ihn, der,
zu einem Bogen zusammengekrümmt, kummervoll, griesgrämig, tief
in sich selbst versunken war, in sein Greisenalter, in seine trüb ver¬
schwommenen Gedanken; während der Fahrt half er mit seinem ganzen
Wesen ununterbrochen, zwangvoll und quälend seinem trägen Pferd
nach, indem er ihm fortwährend etwas zubrummelte und es mitunter
giftig vorwurfsvoll ausschalt. Endlich brachte er Kasimir Stanislawowitsch
ans Ziel, wälzte für kurze Zeit den Druck von seinen Schultern und
seufzte, das Geld in Empfang nehmend, tief auf.
„Ich hatte nicht richtig verstanden, ich glaubte, du wolltest nach'm
Restaurant ,PragV c sagte er, langsam sein Pferd wendend und schien
sogar unzufrieden zu sein, obwohl es bis zum Restaurant Prag noch
■weiter gewesen wäre.
Ans „Prag“ kann ich mich auch noch erinnern, Alter“, antwortete
Kasimir Stanislawowitsch, „du fährst sicher schon lange in Moskau
herum, was?“
„Fahren?“ fragte der Alte, „das zweiundfünfzigste Jahr fahre ich“....
„Dann hast du vielleicht auch mich schon einmal gefahren“, sagte
Kasimir Stanislawowitsch.
„Kann sein,“ erwiderte der Alte trocken, „’s gibt viele Menschen
auf Gottes Welt, alle kann man sich nicht merken . . .“
Von dem früheren Restaurant, welches Kasimir Stanislawowitsch
gekannt hatte, war nur noch der Name übrig geblieben. Jetzt war
es ein großes, wenn auch minderwertiges Lokal erster Ordnung.
Über dem Eingang brannte eine elektrische Bogenlampe, die ein
heliotropfarbiges, unangenehmes Licht auf die Fiaker zweiter Güte
warf, deren Kutscher so roh und unbarmherzig zu ihren abge¬
triebenen, knochendürren, im Lauf schwer rohrenden Trabern sind.
In dem feuchten Flur standen Kübel mit Lorbeerbäumen und Töpfe
mit tropischen Gewächsen, wie man sie auf offenen Fuhren von Be¬
gräbnissen zu Hochzeiten und wieder zurück schafft. Im Vorraum
stürzten gleich mehrere Kellner, die alle ebensolche dicken Haartollen
wie der Portier vom „Versailles“ hatten, auf Kasimir Stanislawowitsch
zu. In dem großen grünlichen Saal, der mit vielen breiten Spiegeln
im Rokokostil eingerichtet war und in welchem in einem Winkel
ein himbeerrotes ewiges Lämpchen glühte, war es noch leer, es
brannten im ganzen nur einige wenige Flammen. Kasimir Stanislawowitsch
saß lange allein und tatenlos da. Man fühlte, daß der lange Frühlings-
3pö /. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch
abend hinter den Fenstern mit den weißen Stores noch nicht völlig
in Dunkel übergegangen war; von der Straße her hörte man das
Klappen der Hufe auf dem Pflaster; inmitten des Saales plätscherte
einförmig ein kleiner Springbrunnen in einem Aquarium, in welchem nur
kümmerlich beschuppte schäbige Goldfische, die irgendwievon unten durch
das Wasser hindurch beleuchtet wurden, herumschwammen. Ein Kellner
in weißer Jacke legte das Gedeck auf, brachte Brot und eine kleine
Karaffe mit kaltem Wodka. Kasimir Stanislawowitsch begann Wodka
zu trinken, ohne einen Bissen von den Vorspeisen dazu zu nehmen,
preßte die Flüssigkeit vor dem Hinunterschlucken kauend im Munde
zusammen, biß, nachdem er sie geschluckt hatte, die Zähne auf¬
einander und roch mit anscheinendem Widerwillen an einem Stück
Schwarzbrot. Plötzlich — er erschrak sogar — schmetterte durch den
ganzen Saal ein Grammophon los und sang in allen Tönen — ein
Gemisch russischer Lieder, bald übertrieben wilde und zügellose, bald
Uber die Massen empfindsame, gedehnte und herzzerreißend-traurige
Weisen. Und Kasimir Stanislawowitsch's Augen röteten und trübten
sich vor Tränen bei diesem süßen näselnden Gestöhn.
Dann brachte ihm ein Grusier, ein kaukasischer Kellner mit grauen
krausen Haaren und schwarzen Augen, einen ganzen eisernen Spieß
voll aufgereihter, halbroher, stark duftender Stückchen gebratenen
Hammels, streifte das Fleisch mit einer gewissen verkommenen schlam¬
pigen Eleganz vom Spieß herunter auf den Teller und bestreute es,
der größeren Einfachheit asiatischer Sitten halber, gleich eigenhändig
mit Zwiebel, Salz und rotbrauner pulverfein zerriebener Berberitze,
während das Grammophon, zu gewagten Windungen und Sprüngen
herausfordernd, in dem leeren Saal gellend einen Cake-walk spielte...
Darauf servierte man Kasimir Stanislawowitsch Roquefort, Obst,
Rotwein, Kaffee, Likör . . .
Das Grammophon war längst verstummt. Statt seiner spielte schon
lange auf einer Estrade ein weißgekleidetes deutsches Damenorchester;
in dem voll erleuchteten und nun ganz mit Menschen gefüllten Saale
war es heiß geworden, die Luft, unsichtig trübe von Tabaksqualm,
war dick gesättigt mit dem Geruch der Speisen; die Kellner wirbelten
hin und her, Betrunkene verlangten Zigarren, von denen ihnen sehr
bald übel wurde; die maitres d’hotel verausgabten sich in äußerster
geschäftiger Aufmerksamkeit, gepaart mit angespannter Wahrung ihrer
eigenen Würde; die wässerig trüben Tiefen der Spiegel gaben immer
verworrener ein formlos großes, lärmendes, bunt zusammengesetztes
I. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch
3 97
Bild zurück. Kasimir Stanislawowitsch ging ein paar Mal aus dem
heißen Saal auf die kühlen Gänge hinaus, in den kalten Toiletten¬
raum, wo es seltsam nach Meer roch, ging gleichsam einige Schritte
durch frische Luft und forderte zurückkehrend neuen Wein. Um
eins flog er, die Augen schließend und durch die Nase tief atmend
die Nachtkühle in seinen betäubten Kopf einziehend, in einem Fiaker,
einem hohen Gefährt auf Gummindern, vor die Stadt hinaus in ein
öffentliches Haus; im Fahren sah er in der Feme die endlose Kette
der nächtlichen Lichter, die irgendwohin einen Berg hinunter und
dann wieder hinauf führten, aber er sah das so, als ob er nicht er
selbst, sondern irgend ein anderer wäre. In dem öffentlichen Haus
geriet er beinahe ins Handgemenge mit irgend einem wohlbeleibten
Herrn, der auf ihn eindrang und dazu schrie, daß ihn das ganze
intellektuelle Rußland kenne. Dann lag er angekleidet auf einem
breiten Bett, das mit einer gesteppten Atlasdecke bedeckt war, in
einem nicht großen Zimmer, welches durch eine himmelblaue Laterne
an der Decke nur halb erhellt wurde; es roch widerlich süßlich nach
parfümierter Seife darin, an den Haken über der Tür hingen Kleidungs¬
stücke, neben dem Bett stand eine Schale mit Obst Das Mädchen,
das verpflichtet war, Kasimir Stanislawowitsch zu unterhalten, aß
schweigend, gierig, mit Genuß eine Birne, die sie mit ihrem Taschen¬
messer zerteilte; und ihre Freundin, welche dicke nackte Arme hatte
und, nur mit einem Hemd bekleidet, fast wie ein kleines Mädchen
aussah, schrieb eilig, ohne ihnen irgend welche Aufmerksamkeit zu
schenken, am Toilettentisch einen Brief; sie schrieb und weinte
dabei — worüber wohl? Es gibt viele Menschen auf Gottes Welt,
alles kann man nicht wissen . . .
Am io. April erwachte Kasimir Stanislawowitsch spät Nach dem
Schrecken zu urteilen, mit dem er die Augen öffnete, wurde er für
einen Augenblick durch den Gedanken, sich in Moskau zu befinden,
und durch die Erinnerung an die gestrigen Vorgänge völlig betäubt.
Er war nicht vor der fünften Morgenstunde heimgekehrt. Er schwankte,
als er die Treppe des „Versailles“ hinaufstieg, ging aber ohne zu
fehlen durch den langen, übelriechenden, tunnelartigen Korridor,
welcher nur am Anfang durch ein schläfrig blakendes Lämpchen er¬
hellt wurde, auf sein Zimmer zu. Neben allen Zimmertüren standen
Stiefel und Schuhe — alle fremden Menschen gehörig, die einander
nicht kannten und einander feind waren. Plötzlich öffnete sich eine
398 I. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch
Tür und jagte Kasimir Stanislawowitsch fast einen kalten Schrecken
ein: auf der Schwelle erschien, gleich einem schlechten Schauspieler,
der in den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ spielen würde, ein
Greis im Schlafrock; Kasimir Stanislawowitsch sah eine Lampe mit
grünem Schirm und ein vollgepfropftes Zimmer, die Höhle eines ein¬
samen alten Sonderlings, mit Heiligenbildern in einem Winkel und
mit unzähligen Schachteln von Zigarettenhülsen, die neben den Heiligen¬
bildern, fast bis zur Decke hinauf, eine auf die andere geschichtet
waren . . . War das wirklich derselbe halbverrückte Verfasser von
den „Lebensbeschreibungen der wahren Knechte Gottes“, welcher
schon vor dreiundzwanzig Jahren im Hotel „Versailles“ gelebt hatte? —
In Kasimir Stanislawowitschs dunklem Zimmer war es erstickend
heiß; die Luft war trocken, beißend, mit allerlei Gerüchen ge¬
schwängert. Durch die Glasscheibe über der Tür drang schwaches
Licht in die Dunkelheit. Kasimir Stanislawowitsch ging in den Al¬
koven , nahm den Zylinder von seinen äußerst spärlichen geölten
Haaren, warf seinen Mantel auf das Kopfkissen des kahlen Bettes.. .
Sobald er sich niedergelegt hatte, begann alles sich um ihn herum
zu drehen, einem Abgrund zuzuwirbeln, und er schlief im Augenblick
ein. Im Schlaf spürte er die ganze Zeit den schmutzigen Geruch des
eisernen Wäschgeschirres, welches dicht neben seinem Gesicht stand,
aber träumend sah er einen Frühlingstag, Bäume in voller Blüte, den
Empfangssaal eines großen vornehmen Herrschaftshauses und eine
Menge Menschen, die alle voll Furcht auf die jeden Augenblick be¬
vorstehende Ankunft des Metropoliten harrten, und diese gespannte
Erwartung quälte, peinigte ihn die ganze Nacht hindurch . . . Jetzt
schrillten die Klingeln in den Gängen des Hotel „Versailles“, Gelaufe
entstand, Zurufe hallten hin und wider. In den Alkoven hinein
schien durch die verstaubten Doppelfenster hindurch die Sonne, es
war beinahe heiß . . . Kasimir Stanislawowitsch zog seinen Rock
aus, klingelte und begann sich zu waschen. Der Hausdiener, ein
blitzäugiger sechzehnjähriger Bursche mit fuchsrotem Flaum auf dem
Kopf, kam in einem rosa russischen Hemd und einem langen Rock
darüber angelaufen.
„Weißbrot, den Samowar und Citrone“, bestellte Kasimir Stanis¬
lawowitsch, ohne ihn anzublicken.
„Befehlen Sie auch von unserm Tee und Zucker?“, fragte flink mit
Moskauer Aufgewecktheit der Hausdiener.
Und nach einer Minute kam er wieder angeflogen, den kochenden
/. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch
199
Samowar auf der flachen Hand in Schulterhöbe, spreitete im Nu das
Tischtuch Uber den runden Tiscb vor dem Sofa aus, stellte das Tablett
mit dem Teeglas und der zerbeulten kupfernen SpOlschale ab und
setzte klirrend die Füßchen des Samowar auf das Tablett nieder . . .
Kasimir Stanislawowitsch entfaltete, während der Tee zog, mechanisch das
„Moskauer Tageblatt“, welches der Hausdiener zusammen mit dem Samowar
hereingebracht hatte; sein Blick fiel auf eine Notiz: daß man gestern
irgendwo einen Unbekannten in bewußtlosem Zustand aufgelesen
habe.»Der Unglückliche wurde in ein Krankenhaus über¬
führt“, las er und warf die Zeitung fort. Er fühlte sich sehr flau
und schlecht. Er stand auf und öffnete das Fenster — es ging nach
dem Hof hinaus — frische Luft und Stadtgeruch strömte ihm ent¬
gegen, von fern drang das gedehnte, gesucht singende Rufen der Straßen¬
händler herauf, das Geklingel der Straßenbahn, die hinter dem gegen¬
überliegenden Haus in den Schienen summte, das ununterbrochene Rasseln
der Equipagen, der melodische Widerhall der Glocken . . . Die Stadt
lebte schon lange ihr geräuschvolles gewaltiges Leben an diesem
blendenden, fast sommerlichen Frühlingstag. Kasimir Stanislawowitsch
preßte den Saft einer ganzen Zitrone in ein Glas Tee, trank gierig
diese trübe saure Flüssigkeit hinunter und zog sich dann wieder in
den Alkoven zurück. Im „Versailles“ war es still geworden. Wohl¬
tuend war diese Ruhe; der Blick schweifte träge Uber den Anschlag
des Hotelbüros an der Wand: „Ein Aufenthalt von drei Stunden wird
als Tag gerechnet“; in der Kommode rumorte eine Maus, schleppte
ein Stückchen Zucker fort, das irgend ein Durchreisender dort zurück¬
gelassen ... Im Halbschlummer blieb Kasimir Stanislawowitsch so im
Alkoven liegen, bis die Sonne aus seinem Zimmer verschwunden war und
eine andere schon abendkündende Frische durch das Fenster hereinzog.
Dann brachte er sorgfatig 1 sein Äußeres in Ordnung: er schnürte
seinen Korb auf, wechselte die Wäsche, holte ein billiges, aber sauberes
Taschentuch hervor, fuhr mit der Bürste über seinen abgeschabt
glänzenden Gehrock, den Zylinder und den Paletot, zog aus dessen
zerrissener Tasche eine verschmutzte Kiewer Zeitung vom 15. Januar
und schleuderte sie in einen Winkel. . . Nachdem er sich angekleidet
und seinen Bart mit einem Färbekamm behandelt hatte, zählte er seine
Barschaft — es blieben ihm im ganzen noch vier Rubel siebzig Kopeken
in seinem Beutel — und ging aus. Punkt sechs war er bei einer
niedrigen altertümlichen kleinen Kirche in der Moltschanowka-Straße.
Hinter der Kirchenmauer schimmerte ein Baum mit hängenden Zweigen
400 /. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch
im ersten zarten Grün, Kinder spielten herum — einem mageren kleinen
Mädelchen, das Seil sprang, fiel immerfort ihr schwarzes Strümpfchen
herunter — und auf einer Bank saßen bei ihren Kinderwagen mit
den schlafenden Säuglingen Ammen in russischer Tracht. Der ganze
Baum lärmte von Sperlingen, die Luft war lind, ganz, ganz sommerlich —
sogar nach Staub roch es wie im Sommer — zartgolden färbte sich
in der Feme hinter den Häusern der Himmel über dem Sonnenunter¬
gang, und man fühlte unwiderstehlich, daß es irgendwo auf der Welt
wieder Freude, Jugend und Glück gab. In der Kirche brannte schon
der Kronleuchter, und das Betpult stand bereit; vor dem Betpult lag
ein kleiner Teppich ausgebreitet. Kasimir Stanislawowitsch nahm vor¬
sichtig, bemüht seine Frisur nicht zu verderben, den Zylinder ab, trat
unsicher und befangen in die Kirche — schon seit dreißig Jahren war
er in keiner Kirche mehr gewesen — und nahm in einem Winkel
Platz, aber so, daß er das Brautpaar von dort aus sehen konnte. Er
betrachtete die ausgemalten Gewölbe, hob seine Augen zur Kuppel
empor, und jede seiner Bewegungen, jeder Seufzer hallte laut in der
tiefen Stille wider. Die Kirche schimmerte in ihrem Golde, erwartungs¬
voll knisterten die Kerzen. Und nun kamen, sich bekreuzigend, aber
freien und gewohnten Schrittes, die Priester, die Diener der heiligen
Handlung herein, die Sänger und dann allerlei ältliche Frauen, Kinder,
geputzte Hochzeitsgäste und eifrig besorgte Festordner. Als in der
Vorhalle Geräusch entstand und die Räder der vorfahrenden Braut¬
kutsche vor den Treppenstufen knirschten, als alle sich dem Eingang
zuwandten und das Begrüßungslied: „Tritt ein, tritt ein, du Taube
mein** erschallte — da wurde Kasimir Stanislawowitsch totenbleich vor
Herzklopfen, und unwillkürlich bewegte er sich ein wenig vorwärts.
Und dicht, ganz dicht ging sie an ihm vorbei, sie, die nicht einmal
etwas von seinem Dasein auf dieser Welt wußte; sie streifte ihn sogar,
Maiglöckchenduft ausströmend, mit ihrer bräutlichen Hülle, und ging
vorüber, den reizenden Kopf gesenkt, ganz unter Blumen und durch¬
sichtigen Schleiern, ganz schneeweiß und makellos, beglückt und
schüchtern, wie eine Prinzessin, die zum erstenmal an den Tisch des
Herrn zum heiligen Abendmahl tritt. Den Bräutigam, der untersetzt,
breitschultrig, kurzgeschoren und strohblond, ihr entgegen ging, sah
Kasimir Stanislawowitsch kaum. Und so lange die Trauung währte,
hatte er nur eines vor Augen: den unter Blumen und Schleierhüllen
geneigten Kopf und eine kleine Hand, die zitternd die mit weißer
Bandschleife umwundene brennende Kerze hielt...
I. A. Bunin , Kasimir Stanislawowitsch 401
In der zehnten Abendstunde war er schon zu Haus. Sein Mantel
war ganz mit Frühlingsluft durchtränkt: nachdem er beim Verlassen
der Kirche vor dem Portal die mit weißem Atlas ausgeschlagene
Hochzeitskutsche, deren blanke Fensterscheiben den Sonnenuntergang
wiederspiegelten, gesehen hatte, nachdem zum letzten Mal hinter diesen
Scheiben das Gesicht derjenigen aufgetaucht war, die man ihm auf
immer ins Unbekannte entführte, war er lange in allerlei Winkel¬
gassen herumgeirrt und schließlich auf den Nowinskij-Boulevard
herausgekommen . . . Jetzt zog er langsam mit zitternden Händen
seinen Mantel aus, legte auf den Tisch eine Papiertüte mit zwei
grünen Gurken, die er aus irgend einem Grunde vom Tragbrett eines
Straßenhändlers gekauft hatte . .. Sogar durch das Papier hindurch
rochen sie nach Frühling, und frühlingshaft, wie flüssiges Silber schien
der Aprilmond, der hoch an dem noch nicht ganz nachtdunklen
Himmel stand, durch die oberste Fensterscheibe herein.
Kasimir Stanislawowitsch zündete die Kerze an, erhellte trübselig
seine einsame, leere Zufallsherberge, setzte sich auf das Sofa, auf seinem
Gesichte noch die Abendkühle fühlend, die er mitgebracht hatte . . .
Lange, lange blieb er so sitzen. Er klingelte nicht, verlangte nichts,
hatte sich eingeschlossen — alles das schien dem Hausdiener verdächtig,
der gesehen hatte, wie Kasimir Stanislawowitsch mit schleppenden
Füßen auf sein Zimmer gegangen war, wie er den Schlüssel aus der
Tür gezogen hatte, um sie von innen abzuschließen. Der Hausdiener
schlich mehrmals auf Zehenspitzen an die Tür und guckte durch das
Schlüsselloch: Kasimir Stanislawowitsch saß auf dem Sofa und bebend,
mit dem Taschentuch das Gesicht wischend, weinte er so bitterliche,
so stromende Tränen, daß die zimmetbraune Farbe seines Bartes zer¬
floß und ihm die Backen beschmierte.
In der Nacht riß er die Schnur von der Fenstergardine und, blind
von Tränen, begann er sie an einem Haken des Kleiderständers zu
befestigen. Aber die heruntergebrannte Kerze flackerte, die Papier¬
manschette versengend, bang auf; durch das abgeschlossene Zimmer
wallten und huschten zitternd unheimliche, dunkle Schattenwellen, er
war alt, schwach — und war sich selbst dessen wohlbewußt . . . Nein,
von eigner Hand zu sterben, das ging über seine Kraft!-
Am Morgen fuhr er drei Stunden vor Abgang des Zuges nach
dem Bahnhof. Dort ging er langsam mit niedergeschlagenen verweinten
Augen unter den Reisenden herum, blieb unvermutet bald vor diesem
bald vor jenem stehen und murmelte halblaut, eintönig, ausdruckslos,
26
4oi Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
doch ziemlich rasch: „Um Christi willen ... ich bin in verzweifelter
Lage ... zu einem Billet nach Brjansk . . . wenn auch nur ein paar
Kopeken . ..“
Und einige gaben ihm, die Blicke von seinem Zylinder, von dem
abgeschabten Sammetkragen seines Überziehers und von dem entsetz¬
lichen Gesicht mit dem entfärbten lila Backenbart abwendend, hastig
und verlegen eine Kleinigkeit.
Und dann tauchte er in der Menschenmenge, die nach dem Aus¬
gang zum Bahnsteig drängte, unter und verschwand darin, während
man im Hotel „Versailles* aus dem Zimmer, das ihm zwei volle
Tage lang gewissermaßen gehört hatte, den Eimer mit dem schmut¬
zigen Waschwasser hinaustrug, die Fenster weit der Aprilsonne öffnete,
mit harter Hand die Stühle rückend den Kehricht zusammenfegte,
hinauswirbelte, und mit dem Kehricht zugleich auch seinen zerrissenen
Zettel, den er samt den Gurken vergessen hatte, und der unter den
Tisch, unter das herabgeglittene Tischtuch gefallen war: „Ich bitte,
niemandem schuld an meinem Tod zu geben. Ich war auf der Hoch¬
zeit meiner einzigen Tochter, welche . ..“
(Berechtigte Übertragung aus dem Russischen von Käthe Rosenberg.)
VARIATIONEN ÜBER EIN CHOREO¬
GRAPHISCHES THEMA
von
OSKAR BIE
I
E ilt nicht davon, ihr Paare! Laßt mir die Erinnerung, die ich
herauf beschwören will aus einer schöneren Zeit. Ich diktiere
über euch. Die Maschine tickt. Jeder Ticker bedeutet ein Stück
wundervoller Vergangenheit. Hier liegen Opplers Radierungen vor
mir. Was ist an ihnen zu erklären? Was ich schreibe, war als Bei¬
wort zu ihnen gedacht, um einst mit ihnen vereinigt zu werden. Nun
fehlen sie, aber gerade das scheint mir ein Phantasiereiz. Nun ist es
wohl recht unzeitgemäß, was ich schreibe — aber darum liebe ich es
noch mehr. Diese Blätter sind für uns alle das Erinnerungszeichen
Oskar Bie, Variationen über em choreographisches Thema 403
an das russische Ballett, das der schönste Märchentraum war, in
einer Zeit, die weder die Kunst, noch die Arbeit rationierte.
Das russische Ballett wurde aus der Verschwendung des absolutesten
aller Herrscher über sein Land, über die Erde gestreut. Wir fühlten
ein Wunder. Unsere Sinne wurden leicht. Unser Herz schlug
lauter. Unsere Finger spreizten sich. Unsere Füße wippten. Unsere
Augen leuchteten vor dieser noch nie erschauten Pracht und
Lebendigkeit menschlicher Körper. Was war der Tanz bis dahin
gewesen? Er war verstaubt hinter den Kulissen unserer Bühnen, er
war verwaschen in der Lässigkeit unserer Gesellschaft. Die Russen
öffneten uns sein Geheimnis. Niemals bei irgendeiner Theatervor¬
stellung entzückte uns solches Glück. Ein Rausch ging durch unsere
Nerven, wie eine Brunst des Rhythmus, wie eine Religion des
Taktes. Diese Menschen sprachen und sangen nicht, aber sie stili¬
sierten alle Freuden und alle Sünden in einem ungeheuren Gleichmaß
ihrer Bewegung. Tiefes Leid wurde gesetzmäßige Schönheit, wie bei
Mozart. Orgiastische Lust wurde Figur, wie bei Goethe. Uralte
Tradition mischte sich mit kühnsten Träumen der Zukunft. Tech¬
nische Vollendung melodisierte alle Revolutionen. Wir hatten Welt¬
gefühl. Wir wußten nicht, ob sie sinnlich oder geistig waren, seelisch
oder formal. Sie waren alles zusammen. Diese Stunden ungetrübten
Genusses wurden Epoche für die Kunst und für uns.
Was schreibe ich da? Glaubst du wirklich, Maschine, du kannst
die Schönheiten dieser Erinnerung in der Permutation von vierund¬
zwanzig gleichmäßigen Buchstaben festhalten? Wieviel glücklicher
ist der Zeichner. Er sammelt das Wesentliche seiner Eindrücke auf
ein Blatt und gibt Gesehenes mit zu Sehendem wieder. Er wechselt
nicht die Funktion, seine Erinnerung schaltet sich nicht um in ein
Gebilde anderer Ausdrucksform. Mein Wort aber findet nichts als
Widerstände. Es klammert sich an irgendwelche Vorstellungen, die
sich schreibenderweise ausdrücken lassen, an Begriffe, an Technik, an
Historisches, an Ästhetisches, und verliert sich in diesen vagen An¬
deutungen von Erlebnissen, die so ganz leiblich sind. Einmal kauert
es auf dem trocknen Boden der Sachlichkeit, ein andermal klettert
es in die süßen Bezirke der Phantasie und meistens dreht es sich in
einem schwankenden Kreise um den köstlichen Gegenstand seiner
Betrachtung. Ich bin eingenommen von der Anmut und Weltlichkeit
dieser Blätter. Ein Duft genossener Abende und seliger Dankbarkeit
steigt aus ihnen auf. Wie soll ich ihn festhalten?
404 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
Viermal ruft uns der Karneval. Fokin hatte nach der Schumannschen
Musik ein Ballett darüber gedichtet. Es war Tanz und Pantomime,
wie man es auf diesem Blatte sieht. Der Zeichner skizziert ein Paar,
das tanzt, und ein Paar, das sich verfolgt. Er hat den Vorteil, in
einem Augenblick seine Bewegungen festzuhalten. Er hat den noch
größeren Vorteil, diese Bewegungen auf ihre letzte Spannung zu
wählen. Wir sehen hin und begreifen. Wir begreifen und erinnern
uns. Grazie und Ausdruck des Spieles werden Musik in unserm
Geiste. Was kann dagegen das Wort sagen? Ich sage: das eine Paar
tanzt, und das andere verfolgt sich. Seminarerinnerungen kommen
mir in den Kopf. Beschrieb ich nicht so als Student die Friese vom
Theseion und pergamenischen Altar ? Welche dumpfe Luft um diese
Worte. Lieblichste Gegenstände werden Objekte der Philologie.
Schrecklich! Trübe Gasflammen, zerkaute Federhalter, vollgeschriebene
Kollegienhefte. Fort, fort, weit fort, ihr Gespenster. Ich armer
Schriftsteller habe das russische Ballett erlebt und soll Opplersche
Radierungen beschreiben. Ich sage: das eine Paar tanzt, und das
andere verfolgt sich. Und wenn ich gar sage, die Namen der Unken
Tänzer weiß ich nicht mehr, die rechten stellen Florestan und Estrella
dar? Und die rechte Tänzerin hieß Maikerskaja? Was ist damit
gesagt? Schall und Rauch. Legt die Blätter vor euch hin und laßt
meine Schreiberei. Ich habe schon so oft zu schönen Blättern Texte
geschrieben. Ich war immer in der Gefahr, die Blätter durch meine
Worte zu übertönen. Diesmal will ich es gewiß nicht tun. Oppler
verfolgt mich nach rechts, ich tanze mit ihm nach links. Karneval!
n
Die Chiarina ist auf diesem Bilde zu sehen. Sie hat ein reizendes
Kleid an, das unten in blauen Volants sich kräuselt. Es sieht so aus,
als ob sie singe, aber so töricht wird sie nicht sein. Sie hat Besseres
zu tun, als allgemeine Worte in Musik zu setzen. Sie setzt ihren
Körper in Musik. Sie singt mit der linken ausgestreckten Hand eine
Melodie, mit der sie uns verführen will, und spitzt diese Melodie sehr
deutlich.in eine Blume zu. Die rechte Hand drückt sie gleichzeitig
an die Brust und singt damit eine andere Melodie, in der sie etwas
sehr Heimliches bekennt. Es kann sein, daß sie mit den Füßen, mit
dem Rumpfe, mit dem Kleid, mit dem Hals, mit dem Kopf, mit
den Augen und womöglich gar mit dem Mund noch viele andere
Melodien singt, so viele schöne Melodien gleichzeitig, wie es gar
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 405
keine Sängerin kann. Aber wie die Stimme einer guten Sängerin
etwas ganz Persönliches und Eigenes in ihrem Timbre hat, so haben
alle diese Melodien zusammen den einen gemeinsamen Reiz einer
eigenen Persönlichkeit: irgendeinen Rhythmus, der sonst nicht vor¬
handen ist, ein Crescendo und ein Rubato, das nur aus ihrem Körper
gewachsen ist. Eine individuelle Polyphonie! Ich erinnere mich,
diese Chiarina war nicht eine der größten, aber sie hatte etwas
Niedliches und Betuliches in ihrer Erscheinung, das mir wohl im
Gedächtnis geblieben ist. Welche verschiedenen Persönlichkeiten waren
in diesem russischen Ballett vereinigt, daß ihre Typen noch so weiter
im Theater unseres Kopfes spielen können!
Wenn ich so das Bild einer einzelnen Tänzerin sehe, steigt, da ich
etwas schreiben muß, die ganze Galerie der großen Solistinnen der
Tanzgeschichte vor mir auf. Höre, lieber Leser, und staune. Bis weit
in das achtzehnte Jahrhundert hinein gab es überhaupt keine Tänze¬
rinnen. Der Mann besorgte diese Kunst, so wie er auch in der
Oper den Gesang der Weiberrollen übernahm, selbst auf die Gefahr
seiner Verstümmlung. Alle Ästhetik des Gesanges und des Tanzes
mußte sich danach bilden. Als das Weib endlich die Tanzbühne
eroberte, mußte den Augen der Menschen ein neuer Stern aufgehen,
die weibliche Linie, die Eigenart der weiblichen Bewegung mußte
ein neues Schönheitsideal schaßen. In früherer Zeit hatte die Religion
die Sehnsucht nach dem Weibe aufgenommen. Der Madonnenkult
war ihr beredtes Zeichen. Das Rokoko, Schöpfung des französischen
Geistes, befreite die Frau nach der weltlichen Seite. Galanterie wurde
Lebensanschauung und Lebenskunst. Die Frau formte das Organ der
gesamten Kunst. Man weiß, daß einer dritten Epoche, unsrer Zeit,
eine dritte Einstellung zur Frau Vorbehalten war, die soziale.
Schwebt fort, ihr Madonnen, bleibt mir vom Leibe, ihr Eman¬
zipierten! Heute stehe ich auf der zweiten Terrasse der Frauen¬
geschichte und atme die Luft ihres Sonnenzeitalters. Sie herrscht in
der Gesellschaft. Sie steigert die Galanterie aus einem Minnedienst
zu einem Gesetze jeglichen schönen Verkehrs. Sie erzieht Auge, Sinn
und Urteil der Männer, der Menschen, nach ihrem Willen und der
Lust ihres Leibes.
Die Camargo, die Salld, die Guimard treten auf den Plan. Die
Prevost tanzt die ersten Solomusiken. Sie führen ein Geschlecht von
Tänzerinnen an, das die rasende Bewunderung ihrer Zeitgenossen
findet und das den ganzen Glanz des künstlerischen Lebens in einer
40 6 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
abenteuerlichen Schönheit ausstrahlen läßt. Was es in dieser Zeit
gab an Triumphen und Niederlagen, an Erfolgen und Ränken, an
Orgien und Einsamkeiten, an Lastern und Techniken, fließt rauschend
in ihr Leben ein. Denn sie sind die ersten Kfinstlerinnen, die aus
Kunst ihren Körper dem Publikum darbieten. Aus Kunst und Leben.
Sie sammeln auf ihre verführerische Existenz alle Sehnsüchte, die ge¬
mischt aus sinnlicher Begierde und Schönheitsbedürfnis ihre Person
um Erfüllung anflehen.
Man lese die Biographie der Guimard von Goncourt.
Die Zeiten sind bürgerlicher geworden. Die Taglioni, die Elßler
durchfluteten die Welt in heißer Wonne. Aber die Romantik ihres
Erlebnisses besänftigte sich. Die Kette tanzender Frauen wuchs aus
der Qualität in die Quantität. Sie bestimmten das Tanzurteil so
ausschließlich, daß unsere Sinne kaum noch etwas von dem männ¬
lichen Tänzer wußten und lernten. Es ist so weit gekommen, daß
er heute eine Ausnahme bildet, fast eine Komik. Nijnski rettete
seinen Ruf noch einmal. Aber das hat Zeit. Ich bin noch bei der
Tänzerin. Ich trenne mich schwer von ihr.
Ihre Funktion spaltete sich bei den Russen in alle Spezies. Die
Pawlowa wurde die Allherrscherin. Sie war Tänzerin und Schau¬
spielerin in einem. Sie spielte die alte Technik aus moderner Emp¬
findung und sie technisierte das moderne Stück auf seine festen
Gesetze der Körperlichkeit. Die Karsavina setzte einen stärkeren
persönlichen Reiz ein. Ihre Gestaltung war liebenswürdig, ihre
Technik impulsiv, ihre Grazie melodisch. Wie viele andere gab es
noch da, jede in ihrer Art. Die Geltzer heroisch. Die Lupochova quick.
Die Piltz so springfreudig: Unsere liebe Chiarina mit dem blauen
Kleidchen und der Blume in der Hand, die sich um unsere ganze
Betrachtung nicht kümmert, obwohl wir sie gebeten haben, sie in
ihre Schleppe zu nehmen. Noch steht sie auf dem Blatt. Sie wird
wegspringen und uns auslachen. Aber selbst beim Wegspringen und
Auslachen werde ich meine Betrachtung noch fortsetzen, um ihr die
sogenannte persönliche Bewegung abzulauschen. Jetzt stehe ich da
mit dem dummen Gesicht, weil ich eigentlich darüber schreiben
wollte, daß die Solotänzerin erst durch diese ganze gesegnete
historische Entwicklung dazu gekommen ist, uns zu sagen, was
persönlicher Körper bedeutet, und daß wir jetzt erst durch diesen
Prozeß verstehen . . . ach mein Gott! Verzeihe, Chiarina! Auf
Wiedersehen!
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 407
III
Chopin. Chopin, als Episode bei Schumann. Chopin, als Figur
auf Schumanns Karneval. Schumann war der Prophet Chopins in
Deutschland. Ein seltner Fall von Kollegialität, nicht wahr? Er läßt
ihn unter seinen Masken auftreten mit einer Melodie, in der beinah
mehr Schumann als Chopin ist. Es ist ein lyrisches Intermezzo, nach
dem größten Lyriker benannt. Fokin sieht noch weiter. Er entdeckt
das Frauliche in Chopins Seele und erkennt das Kompliment, das ihm
Schumann (nacht. Er träumt diese paar Zeilen Musik, und ihm ver¬
sinkt Schumann, versinkt Chopin, und drei Frauen im Reigen stehen
vor seiner Phantasie. Drei Frauen im Reigen, sich hin und her wie¬
gend, Glieder lösend und schließend. Sinnbild von allem, was im
Leben beruhigt, verschönt, musiziert. Chiarina ist die eine von ihnen.
Sie hat mm Freundinnen gefunden und der pas de trois wird ein
Gedicht in klingenden Reimen. In drei Melodien, von drei Körpern
geschlungen, unter denen sie die Oberstimme hat. Welche Musik
tanzt man in Noten, wenn man die Musik des Körpers tanzt? Gebt
einen Augenblick Geduld. Welche Musik tanzt man? Ich muß es
wissen, ich muß diese Frage mir einmal überlegen.
Der Tanz braucht keine Musik, würden die Gelehrten sagen. Er
braucht sich nur auf dem Takt aufzubauen. Den Takt kann er selber
darstellen. Zur Not könnte ein Kerl daneben stehen, der ihn mit
dem Hammer auf einem Holz angibt. Eins, zwei, drei oder eins,
zwei, drei, vier, fünf, sechs, oder punktiert, eins — zwei, drei, oder —
drei, vier. Fürchterlich! Der fürchterliche Gelehrte hat recht. Aber
was ist recht? Beschränktheit, Logik, Wahrheit, Rechtlichkeit. Alle
rationalen Tugenden, an deren Erfüllung wir sterben können. Geht
mir davon mit der Vernunft. Die Kunst braucht Überfluß, Ver¬
schwendung, Unsinn. Die Musik zum Tanze ist ein schöner Unsinn.
Sie ist eine reizende Parallele zum Tanze selbst, die ihn hebt, indem
sie ihm dient, ihn steigert, indem sie ihn kontrastiert Wie zwei
schöne Frauen, die in einem Wagen fahren. Die eine ist brünett,
hat ein mattblaues Kleid und einen weißen Topfhut Die andere,
etwas schmächtiger und kleiner, ist blond, hat ein dunkles Kleid und
einen breiten Hut. Die Brünette weiß genau, daß sie nicht so wirken
würde, wenn sie allein führe. Sie braucht den blonden Kontrapunkt
So sprießt die Musik. Sie wächst auf demselben rhythmischen
Boden, wie der Tanz, sie geht ins Ohr, wie er ins Auge geht. Sie
gibt den musikalischen Nerven eine Nebenemotion, die die Haupt-
408 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
emotion stützt und stärkt. Sie gibt dem Tanz eine wohlige Atmo¬
sphäre, in der er sich assoziativer bewegt. Darum, hört zu, ihr
Tänzerinnen, darf sie nicht zu selbständig sein. Es darf keine Musik
sein, die ihre Bedeutung in sich trägt und durch einen rhythmischen
Ausdruck banalisiert werden würde. Nicht Mondscheinsonate. Nicht
Brahms. Vielleicht Bach, der so metaphysisch ist, daß er auch den
Tanz in sich schließt. Schumanns Karneval gewiß! Weil es eine
Musik ist, die weniger aus einem innem Ringen kommt, als aus
einem äußern Darstellungsbedürfnis. Weil sie die Musik eines geistigen
Balletts ist, bei dem wir die einzige Sünde begehen, es leiblich zu
machen. Die Russen haben immer ihre Musik mit Geschmack ge¬
wählt. Rimsky-Korsakoff, der auch voll innerer Gesichte ist, oder
Tschaikowski, oder Chopin, die wiederum angenehm dekorativ be¬
gleiten. Niemals ein Dokument seelischen Ausdruckskampfes, immer
etwas Formfertiges, Bildhaftes. Vielleicht ist es im letzten Grunde am
besten, irgend eine unwichtige Musik zu nehmen, die genug Rhyth¬
mus und Illustration besitzt. Aber das ist für die klönen Leute.
Die Russen mußten an üppigeren Quellen schöpfen. Sie waren ehr¬
geizig auch in dieser Beziehung. Sie hielten die schöne Mitte zwischen
allzu selbständiger Musik und sklavischer Begleitung. Schumanns Karne¬
val war eine prächtige Entdeckung. Das Klavierstück wurde ausge¬
zeichnet für Orchester übertragen, es verlor nichts. Vielleicht gewann
es noch an Sinnlichkeit Die Erinnerung an die Russen deckt sich
bei uns leidenschaftlich mit dem Klange dieser verfeinerten Ballett¬
musik. In ihr geschah ihr großer Durchbruch.
Schmiegsame Melodien, scharfe Charakterbilder steigen aus den Tönen
auf. Sie verdeutlichen die Innenzeichnung der Pantomime und lösen
ihre Kontur in ein süßes Sfiimato auf. Sie schweben fort in dem
Andenken an diese Abende. Sie zittern weiter, als eine innere Musik,
die Seele und Atem gibt Wer könnte den Tanz lieben, der nicht
musikalisch wäre? Wer könnte ihn zeichnen, der nicht ebenso die
Musik in sich hätte? Es war Chopin, es war Schumann. Chopin
wurde Figur Schumanns. Schumann wurde Figur Fokins. Fokin
wurde Figur dieser drei Mädchen. Die drei Mädchen wurden Figur
Opplers. Oppler sank in meine Worte unter. Die Figur ist zu Ende,
die Musik soll bleiben.
IV
Harlekin und Colombine stehen in inniger Umarmung im Vorder¬
grund und stellen sich uns vor, als der berühmte Herr Nijinski und
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 409
das berühmte Fräulein Karsavina, die in dieser Komödie mit Musik
und Tanz einen Rausch ihrer Liebe darzustellen haben, ohne törichte
Worte mit bedeutenden Gesten. Fokin hat die Musik von Schumann
aus der Klavierphantasie eines Balletts zu der Pantomime einer Bühne
zurückgestaltet, geistreich, wie Schnabel den Karneval spielt, plastisch,
wie ihn Kreutzer spielt, dramatisch, wie er ihn selbst erfinden muß.
Er hat der Musik ein kleines Schauspiel untergelegt voll tragischer
und komischer Gewalten, voll Spaziergang und Einsamkeit, voll Leiden¬
schaft und Intrigue, ein Abbild des Lebens, das sich in ausgewählten
Körpern zeichnet.
Was gibt uns Schumann? Er beginnt mit einer Einleitung, die in
ein tänzerisch leichtsinniges Spiel sich verliert. Pierrot tritt auf, in
weitatmenden Akkorden melancholisch gefärbt. Harlekin erscheint
mit Sprüngen von derber Lustigkeit. Es entsteht das Ensemble eines
langsam gesangreichen Walzers. Eusebius, jene Figur, die wir aus den
Davidsbündlem als notwendigen Bestandteil von Schumanns Phantasie'
kennen, zeichnet sich in dem sanften Profil seiner Melodie. Florestan,
der unvermeidliche Schicksalsgenosse und der notwendige Ergänzer
von Eusebius, enthüllt seine stürmischen Züge, die nur von seltenen
Adagio-Bedenklichkeiten unterbrochen sind. Die Kokette hüpft da¬
zwischen mit ihren schnell geschürzten Punktierungen des Rhythmus.
Die Papilions huschen vorüber. Eine Erinnerung beschäftigt Schumann,
er läßt sein Fräulein Asch ASCH-SCHA die Tanzbeine heben nach den
Noten ihrer Buchstaben. Ich glaube, Fokin haben diese Lettres dan-
santes nicht interessiert. Er hat sie wohl ausgelassen, so wie er,
wenn ich mich recht erinnere, auch den tanzenden Paganini ausließ,
eine Konzession Schumanns an seine Zeit. Wir werden Ysaye nicht
tanzen lassen. Aber nun führt Schumann seine Chiarina vor, der er
die blumigste und verschlungenste seiner Melodien gegeben hat. Leise
tritt auf einige Augenblicke Chopin hervor mit der stillen Anmut
seines träumerischen Gesichtes. Schon erscheint Estrella. Sie hat eine
affektuöse Melodie, deren Begehrlichkeit wir nicht widerstehen können.
Eine Episode vereint die Paare, Reconnaissance genannt und hoffent¬
lich so von allen verstanden. Pantalon, der ewig düpierte Alte, rennt
hinter Colombine her, und sie lassen sich von einem Presto in Sechs¬
zehnteln ihre Gefühle ausdrücken. Plötzlich die Valse allemande, be¬
dächtig, nachdenklich und als ihr Mittelteil besagter springender Paga¬
nini, der die Akrobatik der Violine auf das Klavier überträgt. Warum
hat Fokin ihn schließlich doch nicht hineingenommen? Weil er sich
41 o Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
auf das engere Drama beschränkte und nur bei Chopin eine Ausnahme
machte, wegen der Schönheit der Melodie und der angenehmen
lyrischen Unterbrechung. Schumann wird intimer. Er reiht das Aveu
ein, ein Geständnis von solcher Zartheit, daß plötzlich der Rausch
des Balles stille zu stehen scheint, und wir einen Augenblick erfahren,
daß diese Masken Seelen haben. Masken? Schrieb Schumann etwas
anderes als seelische Geständnisse? War sein Karneval je etwas anderes
als ein Tagebuch rührender und ergreifender Erlebnisse? In der Prome¬
nade, in der er jetzt die Paare zusammenführt, haben sie sich etwas
zu entdecken. In der Pause, die er nun voller Musik enthüllt, wer¬
den ihre Geheimnisse Dreivierteltakt. Und in dem Marsch der Davids-
bündler gegen die Philister offenbart er, daß alle diese Karnevalisten
nicht nur nicht Masken waren, nicht nur nicht ihre Seelen aushauchten,
sondern Teile seiner eigenen Seele sind, seiner Kämpferseele, die einen
Ball benutzt, um neue Musik gegen die Zopfigen, neue Formen gegen
die Schriftkundigen und Pharisäer durchzusetzen. „Und als der Gro߬
vater die Großmutter nahm“, das alte Lied aus dem siebzehnten Jahr¬
hundert, wird das Spottlied gegen die Philister. Von der Musik in
immer neuen Staffeln aufgebaut, bis alles lacht, stürmt, erobert,
triumphiert.
Jetzt habe ich mich verraten. Jetzt muß ich sagen, daß Fokin eine
Musik, die ein Bekenntnis ist und schließlich doch eine Kampfansage,
dazu benutzt hat, daraus ein Biedermeier-Ballett zu machen, ich wollte
es nicht sagen, aber daran ist das verfluchte Klavier schuld, auf dem
ich mir eben den Karneval wieder spielte, weil er so schön ist, weil
er meine Jugend ist und weil ich an ihm Kunst verstehen lernte.
Und so will ich gestehen, daß ich damals, als ich die Russen sah,
als ich den Karneval zwanzig-, dreißigmal genoß, nicht an Schumann,
nicht an sein und mein Seelenheil dachte, sondern mich inniglich
freute, wie bildhaft diese Musik unter Fokin geworden ist. Wenn
die Paare hintereinander im gleichen Schritt auf die Bühne tanzten,
ging eine Welle von Wohlgefühl durch mein Herz. Wenn der trau¬
rige Pierrot vom am Souffleurkasten hängen blieb, wie eine falsche
Interpunktion, war ich entzückt von diesem Ornament des Lebens.
Wenn er, der Ungeschickte, Mondesbleiche, ewig Verlassene sich an
einen Papillon kettete, um einmal nur Sonne und Flug eines freieren
Daseins empfinden zu dürfen, entstand in mir ein wahrer Rhythmus
von Weltanschauung. Und wenn der lustige Harlekin vor Colombine,
die verständnisvoll auf einem Sofa sich hinbettete, sein Herz aus dem
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 411
Busen riß, so war mir diese Bewegung mehr, als sämtliche vierund¬
achtzig Töne des Klaviers. Ja, so war es. Die Davidsbündler haben
ausgekämpft, Fokin interpretiert sie mal so, mal so, läßt sie halt
tanzen, und wenn die Philister noch einen Rest von Dummheit in
sich fühlen sollten, so haben ihn Nijinski und Karsavina hoffentlich
endgültig verscheucht. Gott, wer weiß, wie es schließlich mit der
Seele bestellt ist? Der Körper ist zuverlässig, immer wandelbar und
ewig neu. Nicht wahr, Ihr beiden?
V
Wir sehen kein bloßes Ballett, sondern ein Stück Theater. Die
vorderen Reihen der Zuschauer und das Orchester dunkel und schattig,
den Bühnenrahmen, ein Stück zurückgezogenen Vorhang und schräg
auf die Bühne selbst, auf der in hellem Lichte vor Bäumen um ein
mittleres Paar das Corps de Ballet in weißen Gazeröckchen sich
bewegt. Hier ist das festliche Theaterbild, jene eigentümliche Stimmung,
die von einer beleuchteten tanzenden Bühne in den erwartungsvollen
dunklen Zuschauerraum -dringt. Man denkt an alte Stiche aus dem
achtzehnten Jahrhundert. Man denkt überhaupt daran, wie eigentlich
Ballett von Malern dargestellt worden ist, im Laufe der Stile und
Moden. Darf ich bei der Gelegenheit etwas davon erzählen? Gerade
diese Radierung reizt dazu.
Ich muß die merkwürdige Beobachtung voranstellen, daß es sehr
wenige künstlerische Ballettdarstellungen gibt. Man könnte das durch
geistreiche Hypothesen erklären wollen, indem man von der Beweg¬
lichkeit des Tanzes und der Unbeweglichkeit des Bildes spricht, und
$0 weiter. Aber ich finde es einfach imerklärlich. Ich finde, daß
überhaupt erst unsere Zeit diesen Dingen auf den Geschmack ge¬
kommen ist, daß sie erst die malerischen und formalen Reize des
Tanzes erkannt hat. Doch eben dies ist nicht eine Lösung unserer
Frage, sondern nur ihre Bestätigung.
Was wir aus dem achtzehnten Jahrhundert von Ballettdarstellungen
haben, unterscheidet sich nicht von den konventionellen Festbildem.
Auf diesen Stichen stehen die Tänzer in symmetrischer Haltung und
tun nichts anderes, als eine Architektur, die in den Dekorationen
angegeben ist, mit ihren Körpern zu erfüllen. Nun gut, jede Zeit
spricht ihren Geschmack in den Idealen der Künstler aus. Der da¬
malige Geschmack war feudal und mathematisch. Aber man sollte
wenigstens denken, daß nach dem Herauswachsen der Solotänzerin
41 * Oskar Bte, Variationen über ein choreographisches Thema
die Künstler freudig die Gelegenheit ergriffen hätten, ihre galante
Ästhetik durch berauschende Schilderungen weiblicher Tanzherrschaft,
durch eine glänzende Wiederbelebung der großen Szenerien dieser
Körperfeste zu bekunden. Davon ist nichts zu spüren. Es gibt ein
paar Tanzporträts der Camargo von Lancret, ein paar Menuettdar¬
stellungen aus der Gesellschaft und überhaupt aus diesem Gesellschafts¬
tanz allerlei nette und wichtige Stiche, wie von St. Aubin. Aber
richtige breite, volle, satte, farbige und duftende Ballettbilder gibt es
in der Malerei und Graphik so wenig, wie cs auf der Bühne viele
gegeben hat. Allgemein kann man sagen: die ältere Zeit liebt korpo¬
rative Darstellungen, die spätere Einzelporträts. Heut liegt uns beides.
Die Zeichner sitzen vor den Solotänzerinnen und versuchen, die Eigenart
ihrer körperlichen Dynamik festzuhalten. Und sie skizzieren ebenso
das Gesamtbild der bewegten Masse. Sie stellen sich linear zu ihrer
Aufgabe und ebenso auch malerisch. Sie verbinden Porträt und Typus.
Degas hat als Erster die Balletteuse im Gazeröckchen monopolisiert.
Was ihn dabei reizte, war nicht nur alles Plötzliche und Bizarre der
Bewegung, sondern vielleicht noch mehr das Malerische, das Farben¬
spiel, die Vielfältigkeit der Reflexe auf Stoff und Haut. Sein Im¬
pressionismus fand hier Schule und Gesetz in einem Objekt, das
dennoch malerisch ausstrahlt. Ein solcher Fall kann sich niemals
wiederholen. Es war eine ungemeine Spezialität. Bei andern geht
das Malerische und Zeichnerische in die Naturelle auseinander. Renouard
war in seiner Art Spezialist der Fixierung von Ballettstellungen, von
choreographischen Formen. Soweit lag ungefähr die Übung bis zum
Auftreten Opplers.
Man kann sagen, daß er die Erfahrungen seiner wenigen Vorgänger
zu einer neuen Einheit zusammenfaßt, ohne sich in diesem Fache zu
spezialisieren. Sein Reizpunkt ist nicht die Balletteuse, sondern das
moderne Ballett. Das Ballett in seinem ganzen Umfang farblicher und
stilisierender Elemente, als Einzelfigur, als Ensemble, als Masse, im
originalen Lichte, in der Beleuchtung der Phantasie, kurz in einem
Komplex von optischen Schönheiten, den er uns von der Bühne in
die Erinnerung vermittelt. Er umgibt seine Blätter mit dem ganzen
Duft eines mondänen Zaubers, einer weltstädtischen Eleganz, der jenem
Erlebnis ebenso eigentümlich war, wie er der weichen und gefälligen,
aber immer präzisen und von der Wirklichkeit erzogenen Kunst
Opplers anhaftet. Nicht Choreographie, nicht Porträt, nicht Technik,
keine trockene Sachlichkeit ist auf diesen Blättern zu suchen. Der
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 413
einzige Reflex und die einzige Valeur, für die sie sich interessieren,
ist Reflex und Valeur, die sie jener Weltbühne zurückgeben, jenem
russischen Theater, dessen Charme und Kraft uns alle mit ihm weckte
und entzückte.
Oppler holt im finsteren Publikum heimlich sein Skizzenbuch hervor
und macht sich mit ein paar Zeichen Erinnerungsbilder an das Schnell-
gesehene. Er hält eine Bewegung fest, eine Kreuzung, eine Gruppierung,
ein malerisches Gegenspiel. Voll der vibrierenden Eindrücke ruft er
in der Nacht die Vision der gesamten Erscheinung zurück. Am
nächsten Morgen skizziert er eilig mit öl das reizvolle Bild aus dem
Gedächtnis und setzt die gezeichneten Bewegungen, Rhythmen, Melodien
wieder in ihr Milieu ein. Die Skizzen und Zeichnungen häufen sich
in Mappen. Von Zeit zu Zeit steigt ein bestimmtes Motiv zwingender
auf. Es gestaltet sich so und so, immer wieder anders, zuletzt end¬
gültig in der schwarzweißen Sprache. Ist der Beschluß gefaßt, so
beginnt die Radierung. Es kann nie genug geschehen. Der Künstler
heftet sich an die Füße seiner willigen Modelle. Er folgt ihnen
hinter die Kulissen. Er folgt ihnen auf Reisen. Er geht mit nach
Paris, wo die Russen die für sie gedichtete und komponierte „Josefs¬
legende“ von Richard Strauß aufführen. Er ist täglich mit ihnen
allen zusammen. Er zeichnet in Proben und an den Abenden. Der
Bund fürs Leben ist geschlossen. Arbeit um Arbeit. Kunst für Kunst.
VI
Rimsky-KorsakofF schrieb eine sinfonische Dichtung Scheherazade.
Seine Musik, voll von orientalischer Pracht, klang wie eines der
blutigen Märchen aus Tausend und einer Nacht Sie klang in Fokins
Ohr so kräftig, daß sie aufs Auge übersprang und eine große Pan¬
tomime gebar, die sich über diese Musik öflbete. Die alte Fabel
von der Untreue des Weibes wäre wenig Inhalt, sie ist hier mit
einem Luxus von Personen ausgestattet worden, wie er nie wieder
vorüberrauschte. Mein Wort wird lahm, wenn ich diese orgiastische
Erinnerung noch einmal hervorzaubern will. Ein Bruder hat die
Untreue seiner Frau erfahren, glaube ich. Er kommt, glaube ich,
zu dem andern Bruder, und er beteuert ihm die Treue seines Harems.
Sie gehen, erinnere ich mich, auf eine Jagd. Man wußte nicht recht,
was sie wollten. Aber was Fokin wollte, sah man sofort Kaum
war er die beiden Brüder los, die er aus irgendwelchen Motiven
der Musik geformt hatte, jetzt weiß ich es, da begann die Orgie.
414 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
Die Sklaven wurden aus den Käfigen gelassen, und Nijinski war der
Obersklave. Sie stürzten sich auf die Weiber. Es kochte ein Rausch
des lebendigen Blutes auf, der von einem Rausch des getöteten Blutes
abgelöst wurde. Denn die Brüder kamen zurück und mordeten! Der
Weg Fokins war von der Liebe zum Tod, von der Ekstase des
Körpers zu seiner Versteinerung. Die Musik ließ es sich sagen. Sie
gehorchte dem Befehl und machte wenig Anstalten, nach ihrer Art
die Leidenschaften zu zähmen. Sie steigerte sie nur. Zwischen den
orgiasdschen Massen und der aufgeregten Musik begann ein Streit
um die höhere Sinnlichkeit. Der Körper besiegte den Ton, man
hörte ihn kaum noch. Man hörte das Stück, das an Symphonieabenden
eine gute Figur für sich macht, nur noch Figur der Bühne werden.
Das Einzelne entfiel dem Blick. Das Gleiten Nijinskis — ich sehe es
noch. Aber es war nur wie siedendes Wasser auf Höllenfeuer. Es
war Schrei des Körpers, Triller der Erregung, Koloratur der Lust.
Eingesogen von einem Ensemble, das in ungeheuerer elementarer
Verve durcheinander stürmte, sich überschlug, sich ineinander krampfte,
sich auf löste, um sich wieder zu vereinigen, aber niemals den Rhythmus
verlor, den der Künstler auch der zügellosesten Bewegung als Maß
zuerteilt. Seht auf die Orgie, wie sie der Maler zu erfassen strebte.
Er hat die Impression des Trubels gegeben und dennoch die Figur
gestaltet Er hat eine Vielfältigkeit sinnlichen Ausdruckes gemischt
und dennoch die Linie gewahrt. Auch er hat der Tollheit den Takt
und das Tempo vorgeschrieben, daß sie in der furchtbarsten Aus¬
gelassenheit doch niemals den Stil ihrer Kunst verrät. Das war die
Aufgabe für den Ballettmeister, wie für den Radierer, die besondere
Aufgabe der Scheherazade, das Gesetz der Wildheit aufzustellen, ln
solchen letzten Augenblicken, in solcher äußersten Spannung, offenbart
sich das Gewissen. O vornübergebeugte keuchende Brust! Aber
wie könnte man wohl dies Gewissen, diesen Stil und diese Gesetz¬
mäßigkeit beschreiben? Weil sie als Normen zu abstrahieren sind.
O geil erhobene Hände! Wir müssen der Phantasie überlassen, die
Impression des Tänzers, wie des Graphikers, in jene köstliche Ver¬
wirrung zurückzuträumen, die das eigentliche Leben der Kunst im
Augenblick des Eindruckes war. O Zuckungen krampfig geworfener
Leiber!
Diese schöne Verwirrung, dieses bunte Chaos des Lebens ist bis
in eine Unendlichkeit hin auszudenken. Die Kunst, auch die Ballett¬
kunst, wird immer zwischen der Vielheit der Kräfte und der Einheit
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 415
der Harmonie ihren Pendel schwingen lassen. Je sicherer das Be¬
wußtsein des Stiles ist, desto weiter darf die Kunst ihre Distanz
nehmen. Ich habe nirgends dies Problem so wirklich gefunden, wie
gerade in den Märchenballetts der Russen. Kleopatra gehörte dahin.
Der Blaue Gott, den Nijinski verkörperte. Vor allem das fabelhafte
Petruschkaballett mit der genialen Musik Strawinskis, das mit Mario¬
netten uns Tragödien spielt, mit Figuren ein Leben, so tief, wie nur
irgendeine Dichtung, und doch so exakt, als sei es eben aus der
Schule hervorgegangen. Kostüm, Dekoration, Regie, Musik, alles gehört
zusammen. Gehörte wenigstens bei den Russen zusammen, die dies
neue Gesamtkunstwerk, ohne das verräterische gesprochene Wort, zu
seinem radikalsten Siege führten. Märchen wurde alles und dabei
war es nur eine Folge bestimmter Pas und Mimiken. Alles schien
in fernen Welten zu schweben und war doch greifbar an Körper
und Naturgesetz. Die Musik war damit vollkommen in Einheit, denn
sie ist ein Wesen, aus Mathematik und Mystik in unbegreiflicher
Weise zusammengesetzt. Die Russen gaben auch bürgerliche Balletts,
alte Geschichten, wie das schlecht bewachte Mädchen oder die Giselle
von Adam. Aber selbst in diese Region leuchtete von dem Märchen¬
zauber ihrer Welt ein Schein, der Form und Phantasie auf eine be¬
neidenswerte Art versöhnte.
Die dekorative Einheit des getanzten Märchens blühte in der
Scheherazade. Üppige, hängende, wuchernde Dekorationen und
Kostüme in jener heftigen Sprache, die die großen Kleiderkünstler
der Russen verstanden, Benoit und vor allem Bakst. Bakst hat ein
Repertoire von Kostümen geschaffen, das in der Ballettkunst lange
Zeit einzig war, das für alle Folge Epoche machte. Der Linie des
Körpers zu folgen oder diese Linie absichtlich zu durchbrechen, die
Kontraste unserer Glieder auszugleichen oder zu übertreiben, die
Musik der Farbe in vorher abgestimmter Polyphonie über das Kleid
zu verteilen, oder groteske Kontraste zu schaffen, phantastischen Kopf¬
schmuck, wilde Behänge, entsetzliche Bauchillustrationen, alles Rusti¬
kale monumental zu machen, alles Zarte zu einem letzten Hauch zu
verfeinern, und sämtliche Spiele von Frage und Antwort durchzu¬
kosten, die die Haut mit dem Stoff vollführt, Heimlichkeiten der
Haut, Hemmungen des Stoffes, Geständnisse des Trikots und die
tausend Nüancen, die das Gewand im Echo der Bewegung findet —
das sind seine großen Künste. Die Russen schreckten vor nichts
zurück. Sie haben zunächst eine Anarchie des Dekorativen losgelassen.
41 6 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema
die sich bis zu den kühnsten Revolutionen der Kulisse und des
Kleides hervorwagte. Dann aber haben sie diese Anarchie gebändigt
mit dem Zauberstab ihrer Schule und Technik, und haben uns für
alle Zeiten gezeigt, wie auch das letzte Märchen unserer Einbildungs¬
kraft Gewißheit und Wirklichkeit werden kann, wenn man es in
einen vollkommenen Stil setzt. Die Orgie der Scheherazade so zu
tanzen und so zu kostümieren, so zu dekorieren, bedeutete eine Tat.
Ich weiß nicht, ob ich sie habe erklären können.
VII
Wenn es nur ein Notturno ist. Das ist immer schön und sinnig.
Es ist gleich, nach welcher Musik da getanzt wird. Bei „Schwanen-
see“ war es Tschaikowski, bei den „Sylphiden“ war es Chopin. Irgend
etwas Zusammengestelltes von Chopin, ich weiß nicht was, es ist j a
immer voller Melodie und Süßigkeit. Und es klingt so leise, wie der
Mondschein, und zarte Lüfte wehen durch die Musik, wie durch die
Röckchen der Tänzerinnen und durch den gemalten Park und durch
unser Gemüt.
Ja, die Röckchen! Man hat sich sehr über sie aufgeregt, als die
neue Tanzkunst aufkam. Man sagte: diese steife Toilette ist ein Ge¬
rüst des Körpers, nicht Leben und Bewegung auf ihm. Sie ist aus
einer alten Zeit übriggeblieben, gleichsam ein Berufskostüm, das sich
so herausgebildet hat, um die Beine gut zu zeigen, dem Rumpf seine
Linie zu lassen, um so ein huschiges Etwas, als zitternden Kreis um den
Körper zu legen, ein bißchen Frou frou, ein bißchen Koketterie, gutes
Rokoko, aber doch fest und unveränderlich. Man sagte, daß das nun
endgültig vorbei sein müßte. Denn der Tanz sei von der Architektur
in die Malerei übergegangen, und alle Sinne seien darauf gerichtet,
sämtliche individuellen Möglichkeiten des Kostüms auszukosten. Fort
mit der Uniform, es lebe das Solo!
Die Russen widerlegten diese Ansicht schlagend. Sie, die die größten
Revolutionen machten, verteidigten die größte Tradition. Sie offenbarten
uns zum ersten Mal wieder die entzückende technische Poesie des alten
Balletts. Gewiß, das moderne Tanzkostüm hat an seiner Stelle sein
Recht, und gerade die Russen haben bewiesen, welche weiten Wege
es führen kann. Aber das Gazeröckchen ist nicht bloß trockne Über¬
lieferung, ist nicht Schule und Faulheit, nicht Zufall und Literatur,
sondern es ist ein sehr lebendiges Instrument des Tanzes, dessen Reiz,
wenn wir offen sprechen sollen, in einem wunderbaren Gemisch von
Oskar ßie, Variationen über ein choreographisches Thema 417
Tradition und Sinnlichkeit besteht, ron Arbeit und Liebe. Schwer
zu sagen, was da alles zusammen wirkt. Es wurde die Uniform der
Tänzerin aus einer bestimmten organischen Entwicklung in der Ge¬
schichte, aber gleichzeitig lieben wir es eben als Ausdruck dieser
historischen Tatsache. Es ist historisch, aber zugleich ungemein kleid¬
sam. Es ist kleidsam und sehr praktisch. Kurz es ist eine reiche
Kreuzung nützlicher, ätherischer, historischer und stilistischer Quali¬
täten. Wenn die Tänzerin es anzieht, so tritt sie damit in den eigen¬
tümlichen Zauberkreis ihres leicht beschwingten Berufes ein. Sie läßt
alles Bürgerliche von sich fällen, sie verschwistert sich auch nicht mit
dekorativen Musen, die um sie buhlen, sie bleibt nichts, als die Ballet¬
teuse und darf sich darauf verlassen, daß ihr Kleidchen alle Sugge¬
stionen ausschattet und auswirbelt, deren ihre Kunst bedarf.
In der Mitte tanzt das Duett der beiden Solisten. Zur Seite be¬
wegen sich acht Sylphiden, die eben im Begriffe sind, ihre Ober¬
körper nach außen zu beugen, halb in der pendelnden Bewegung ihres
Schrittes, halb um das Geheimnis der beiden in der Mitte nicht zu
vertanzen. Die Gleichmäßigkeit ihres Schrittes, die Gleichmäßigkeit
ihres Kostüms sind die Keime ihres Gedichtes — Spitzentanz, weiße
wehende Röckchen, porzellanene Delikatessen, Zierlichkeit der Glieder,
süßer Zwang des Parallelismus, alte Zeit, neue Zeit, Mondschein, Träumen
und Vergessen.
VIII
AVir kommen nicht los von den Sylphiden. Warum tauchen wir
immer wieder unter in diese Silberpracht? Weil eben gerade die Wider-
holung, das Festgefügte, das Gleichgebaute uns dabei reizt, wie die
Form einer alten Arie, die sich wiederholen muß, um sich zu be¬
stätigen und sich erst recht schon zu machen und in der Erinnerung
sich zu vertiefen. Was ist es anderes, was wir hier sehen, als be¬
wegte Architektur? Was bedeutet die Gruppe, das Ensemble, das
Korps anderes, als eine tektonische Gliederung der Körper nach
den Gesetzen der Musik? Die beiden da in der Mitte haben ihren
Pas de deux hinter sich. Er schließt mit einer Attitüde altbewährter
Art, wobei die Tänzerin den einen Fuß nach hinten hochhebt, den
Oberkörper ein wenig vorlegt und von dem Tänzer gehalten wird.
Er hält sie nicht, weil sie sonst fallen würde, sondern weil diese
Kombination der beiden Figuren eine bestimmte Gruppenplastik dar¬
stellt, die ihre besondere tänzerische Kultur hat. Der Tänzer wird
zum Diener der Tänzerin. Er hat sie nachgeahmt. Er ist ihr begegnet.
*7
418 Oskar Bit, Variationen über ein choreographisches Thema
Jetzt unterstreicht er ihre Apotheose durch seine stutzende Haltung.
Das Korps auf beiden Seiten, sechzehn erste Violinen, neigt sich wieder
nach außen, um die schon bewährte chiastische Linie noch einmal im
größeren Maßstabe zu wiederholen. Alles ist Form, Bewährung, Sym¬
metrie, Überlieferung und doch immer wieder neue Lebenskraft. Das
ist das technische Wunder.
Die Russen haben die Schule des Weltballetts bewahrt, das etwa um
achtzehnhundertzwanzig, -dreißig herum in dieser Form fertig war.
Durch eine feste Zucht in den Schulen, durch dauernde Fortpflanzung
der Lehren hat es diese Kultur bis heute bewahren können. Was wir
sonst nur in alten BQchem lasen, wurde hier noch einmal Wirklich¬
keit. Ich hatte Bibliotheken studiert, aus einem dunklen Interessa für
die Geschichte des Tanzes heraus, hatte die alten Schulen der Fran¬
zosen und Italiener durchgeackert, um mir ein annäherndes Bild dieser
Kunst zu machen, die auf unsern Bühnen abgestorben war. Ich führte
in meinem Kopfe gewaltige Balletts auf und probierte in einem heim¬
lichen Winkel des Zimmers die ehrwürdigen Schritte der großen
Meister. Ich drehte verstaubte Choreographien in den Händen hin und
her und rekonstruierte mit schwitzender Mühe mir die leichteste aller
Künste. Ich schrieb ein dickes Buch Uber den Tanz, das von Sehn¬
sucht ebenso voll war wie von Gelehrsamkeit. Da kamen die neuen
Tänzerinnen, und ich verwarf die alte Schule. Da kamen die Russen,
und ich liebte die alte Schule. Ich verstand jetzt erst, was ich ge¬
lesen und studiert hatte. Am lebendigen Leibe offenbarte sich nur
Magri und Castil-Blaze. Versteinerte Architektur bekam Blut und Nerven.
Die Schritte sprachen, die Akkorde der Attitüden klangen. Der Rhyth¬
mus wurde kochender Puls eines Weibes. Beides muß sein. Das Solo,
das der moderne Tanz emanzipierte, und die Gruppe, wie sie alte
Kunst herausbildete. Das Duett, Terzett, Sextett, der Chor, wenn sie
den mathematischen Trieben folgen, sind uns Symbole einer Natur¬
kraft. Sie heben die Beine, sie drehen die Rümpfe, sie strecken die
Arme, aber sie stehen nur unter dem Befehl einer höheren Gewalt,
die ihre Körper und Glieder benutzt, ewige Formen in ihnen zu ge¬
stalten. Der Ballettmeister der alten Zeit hütete die Disziplin seiner
Truppe. Die Vorführungen waren ein soldatisches Spiel zum Ergötzen
seines Herrschers. Triumph drückte sich aus in der Schematisierung
der Masse, in der Bindung des Ensembles. Der Herr knetete die
Menschen, wie er Häuser, Bäume, Feuer und Wasser knetete, nach dem
Druck seiner tyrannischen Hand. Der Herrscher ist fort. Die Disziplin
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 4 1 9
gehört sich selbst. Die Form ist erlöst ans dem Willen des Einzelnen
zur Religion der Natur. Welches ist die mystische Kraft, die uns vor
diesen gleichmäßig und geordnet tanzenden Körpern ergreift? Es ist
das Naturgesetz, das dem Einzelnen die Diktatur genommen hat und
seine Schönheit uns allen zurückgibt. Ihr wißt es nicht, wenn ihr
entzückt seid von der wohligen Ordnung dieser Paare, von dem
disziplinierten Schritt dieser Promenaden, Paraden und Runden. Aus
uraltem Militärgeist sind elementare Grundkräfte emporgestiegen, frei
von dem Geruch ihrer Kasernen, frei von der Knute ihres Selbst¬
herrschers. Sie sind Sylphiden geworden, gefällig, gehorsam, begeistert,
reizender Mechanismus, klingendes Uhrwerk, gleichgefedert, Spitzen¬
tanz, weiße wehende Röckchen, porzellanene Delikatesse, Zierlichkeit
der Glieder, süßer Zwang des Parallelismus, alte Zeit, neue Zeit, Mond¬
schein, Träumen und — niemals Vergessen.
IX
Heimkehr vom Ball. O, wie war es schön. Diese vielen Lichter
und diese vielen Menschen und soviel, soviel getanzt, getanzt mit ihm,
dem Herrlichen, welch wundervoller Mann, welche Eleganz, welcher
Schwung in seinen Gliedern. O, ihm für immer anzugehören. Welcher
wonnige Gedanke. Er hat ihr eine Rose gegeben, die sie noch in der
Hand hält. Ach, wie müde ist sie. Aber die Erinnerung an ihn heißt
ihr Herz noch lebhaft schlagen. Sie entkleidet sich langsam, um zu
Bett zu gehen. Dann läßt sie sich auf einen Stuhl sinken und denkt
noch einmal an ihn zurück, ehe sie sich dem Schlafe in die Arme
gibt. Leise schlummert sie ein. Das Bild des geliebten Mannes steigt
ihr im Traume auf, und noch einmal ist es ihr vergönnt, mit ihm zu
tanzen, nicht mehr in Wirklichkeit, sondern nur noch im Märchen
ihrer Phantasie. Es war ein schöner Traum. Er wird sie in die Nacht
begleiten, und ihr erster Gedanke beim Aufwachen wird derselbe sein,
wie der letzte beim Einschlafen. O selige Jugend! O Wonne der
ersten Liebe!
Nicht wahr, eine recht triviale Geschichte? Für Backfische erzählt,
in glatte Reime gebracht und in Goldschnitt gebunden. Da seht ihr
die Gefahr der Schöngeisterei beim Ballett, da seht ihr die Unmög¬
lichkeit, losgelöst von der sichtbaren Kunst solche Dinge zu erzählen.
Wieviel Süßlichkeit, wieviel Banalität liegt darüber. Hier und immer.
Alle Ballette haben etwas Dummes, Ungebildetes, Gewöhnliches in
ihrem Texte, weil sie von den einfachsten Vorstellungen ausgehen
4io Oskar Bia, Variationen über ein choreographisches Thema
müssen, die sich zur Verkörperung im Tanze eignen. Ich sage: alle,
aber das ist nicht ganz richtig. Gute Dichter haben Pantomimen ge¬
schaffen, in denen letzte Aufgaben der orchesdschen Kirnst gestellt
werden. Ich nenne nur die Josefslegende, die ganz auf Bewegung
im Raume gedacht ist. Aber wenn wir ganz ehrlich sein wollen, ein
klein bißchen süßer Kitsch sitzt auch hier in versteckten Winkeln.
Staubt das Ballett aus, und ihr werdet ihn entdecken. Macht nichts.
Es gibt eine Berührung des Kitsches mit der Elementarität der Natur,
die wahr und gesund ist. Schließlich sind die trivialen Dinge diejenigen,
die als beste Weisheit bleiben. Auf den Ball gehen, viel tanzen, sich
verlieben und im Schlafe von ihm träumen, das ist Alltäglichkeit, die
nur von der Form geadelt zu werden braucht, um ewige Kunst zu sein.
Darum erzähle ich nichts mehr. Ich sehe Nijinski und die Karsa-
vina, wieder einmal in den tausend Verwandlungen, die sie durchzu¬
machen hatten, obgleich sie niemals etwas anderes tanzten, als Liebe
und Liebe und Liebe. Hier stehen sie vor hohen Vorhängen, verti¬
kalen Dekorationen, die uns ihre Körper nach aufwärts ziehen. Der
Mann, Nijinski, springt, als fliege er. Seine Füße sind Federn, sein
Leib ist Geist Er schnellt hoch, an die hundert und tausend Meter,
bis er in den Himmel kommt und die Sehnsucht seiner kleinen Dame
tief, tief unten erblickt, die ihn endlich wieder zu sich lockt. Er
springt und springt, wie die alten Tänzer des französischen Königs¬
hofes gesprungen sind, aber diese sprangen zur Ergötzlichkeit der Ge¬
sellschaft, er springt aus Freude an der Freiheit von der Erde. Schon
springt er wieder und bleibt fünf Jahre lang in der Luft hängen, bis
ein Krieg vorbei ist und die Menschen seine apollinische Kunst, seinen
hermaphroditischen Körper, seinen doppelgeschlechtlichen Tanz sich
wieder verdient haben. Mysterium des Menschen! Weiß die kleine
Dame, was sie träumt? Unten im Orchester ertönt Webers Aufforderung
zum Tanz, oben vollzieht sich dies kosmische Schauspiel einer unver¬
geßlichen Poesie über den Text, den ich zuerst erzählte.
X
Fokin hat die Partitur des gewählten Musikstückes in der Hand.
Er geht auf und ab und vertieft sich in die pantomimische Welt,
die dort noch versteckt liegt Die Ideen springen auf und formen
sich. Er macht sich Notizen, er rückt die Szenen hin und her, trennt
sie, vereinigt sie und bat allmählich den Plan des neuen Balletts ent¬
worfen. Er besetzt es mit den Künstlerinnen, deren Persönlichkeiten
Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 4 z 1
ihm je für die Rollen geeignet erscheinen. Jetzt beginnen die Proben.
Das gewöhnliche Kostüm dafür ist eine Art griechisches Kleid, das
die Glieder gut frei läßt. Abschnittweise wird einstudiert, einzeln
und im Ensemble. Der Ausdruck, die Gesten, die Schritte, die Grund¬
risse finden sich zusammen. Die letzten Proben werden im richtigen
Kostüm ausgeführt, in irgendeinem Raum, der dafür zur Verfügung
steht. Die Musik wird auf dem Klavier gespielt. Endlich geht man
in das Theater, das Licht tritt dazu, die Dekorationen, das Orchester
und dann, wenn alles vorbei ist, das Publikum. Eine unendliche
Mühe, eine unermüdliche Arbeit, Emst, Wille und Geschmack sind
nötig, um das Resultat zu erzielen, das wir kennen.
Die Stadien der Probe sind beim Ballett noch reizvoller, als beim
übrigen Theater. Wie soll ich sagen? Sinnlichkeit, Erotik, alle körper¬
liche Lust und Verführung, die am Abend sprühen müssen, um der
Kunst Blut und Fleisch zu geben, werden hier durch die Sachlichkeit
des Berufs, durch die Disziplin der Arbeit zugedeckt, wie selbstver¬
ständliche Voraussetzung. Es ist das Extrem des Dialogs der fran¬
zösischen Komödie. Diese spielt nachträglich mit einer Erotik, die
man nicht erwähnt, weil sie als eine Tatsache des Lebens Besitz und
Verständnis aller weltlichen Seelen geworden ist. Hier sind wir eben¬
soweit vor derselben Erotik, die sich als Produkt künstlerischer
Wirkung schon einstellen wird, weil sie leiblich erglüht. Das ergibt
eine merkwürdige Atmosphäre. Die Tänzer wissen kaum etwas davon.
Der Maler und der Dichter riechen sie. Fokin, mit seinem scharf¬
geschnittenen, bartlosen, energischen und sehr künstlerischen Kopfe
sitzt in gespannter Aufmerksamkeit links vom mit den Noten in der
Hand und gibt seine Zeichen. Rechts hinten steht Djagilew, der
Leiter der Truppe, ein freundlicher dicker Herr, aber doch von einer
hoffnungsvollen Innerlichkeit in den Augen. Die Lupochowa hat
ihren Soloschritt, Nijinski wartet auf sein Stichwort.
Das Ballett hat sich vor den Kulissen schon gewandelt und dämm
auch hinter den Kulissen. Hinter den Kulissen des Balletts war einst
ein ausgesuchter Platz gewisser Galanterien. Heut lieben sie das we¬
niger. Sie sind Künstler, wie die andern. In Rußland mag es manch¬
mal noch so gewesen sein. Auf der Reise und in der Welt war es
eitel Arbeit Maler und Schriftsteller huschen herum, um zu studieren,
um Stellungen, Begegnungen, Gespräche zu erhaschen. Heut früh bin
ich in der Probe, die draußen in irgendeinem Saal einer Brauerei ab¬
gehalten wird. Heut mittag bin ich bei der Pawlowa im Hotel, sie
42 2 Chronik Weretrwags
hat von mir gelesen und plaudert beim Dejeuner. Ihre französische
Konversation wirbelt wie eine Pirouette um ihren Gegenstand, ich
hocke verwirrt in meinem Sessel. Nach Tisch kommt irgendein gali-
zischer Mann, sein Töchterchen der Prima Ballerina vorzuführen. Sie
hat Schuhchen und Kleidchen mitgebracht, die Pawlowa sitzt gnädig
am Fenster, der Vater steht ängstlich zur Seite, das Kind tanzt, auf
dem Tische liegt das SdlJeben der Reste der Mahlzeit. Ich hocke
und präge mir das Bild tief ein. Schicksale schienen mir darin ein¬
geschlossen zu sein. Heut abend bin ich hinter den Kulissen des
Theaters und stehe in einer Parklandschalt. Der Vorhang ist noch
herunter. Da schwebt sie herein, auf ihren Partner zu, sie stützt sich
auf ihn und probiert das hochgehobene Bein. Sie stößt mich mit der
Fußspitze weg. Sie sagt: pardon. Aber hat sie nicht recht?
CHRONIK WERENWAGS
IV
I m vierten Jahr nach Niederlegung der Waffen ist es nicht mehr
verfrüht, wenn auch die Geistigen in beiden Lagern einander die
Frage vorlegen, der sie, mit richtigen Instinkt, bis in die jüngste Ver¬
gangenheit aus dem Weg gingen, der Frage: wann wird zwischen
uns Friede sein und unter welchen Bedingungen?
Die Antwort müßte lauten: es ist Friede, und wir stellen keine
Bedingungen. Niemand in Frankreich gibt diese Antwort. Die
CI artdeute allerdings bekannten sich zu ihr; aber wer steht hinter
ihnen, was steht hinter ihnen? Nicht die Intelligenz des Landes,
nicht die Wirklichkeit des Landes. Hier und da taucht in München
oder Berlin ein Artikel, in Paris ein Gegenartikel auf: die deutsch¬
französischen Beziehungen; der vorsichtigen Erörterungen schmerzlicher
Sinn ist: die Beziehungen sind nicht da.
Was steht ihnen entgegen? Erstens der Krieg, dieser Krieg.
Zweitens hüben wie drüben der Mangel an neuen Leistungen, an
solchen Werten, die auch den Widerwilligen zwängen, die Sphäre
des Feindes aufzusuchen, weil in ihr Dinge von geschichtlichem
Rang vor sich gehen. Eine neue Malerei, eine neue Philosophie,
eine neue Dichtung könnten die Menschen veranlassen, einander
Chronik Weremvags 413
aufzusuchen. Aber weder die Franzosen noch die Deutschen produzieren
solche Werte. Drittens ein Fundamentalunterschied zwischen deutschem
und französischem Wesen: das Verhältnis zum Nationalismus. Unter¬
suchen wir.
In der ersten Periode nach dem Waffenstillstand, sie erstreckte sich
Ober einige Jahre, nahm man bei uns an, der Geist sei berufen, den
Abgrund zu überbrücken. Es waren die pazifistischen, die revolutionären,
die radikalen Brücken, die man schlagen wollte. Zum erstenmal
glaubte der Geist, er sei souverain — er glaubte es zugleich zum
letztenmal, denn wir erkannten, daß der Geist an die Situation ge¬
bunden ist.
Das Radikale hat einen einzigen Wert: daß es den Willen wach¬
hält; das Radikale ist die Verbindung mit dem Ewigen und Über¬
zeitlichen der großen Ideen; aber man kann die Ideen nicht auf den
Markt werfen — die Nationalisten, die wenigstens in Saucen gute
Köche sind, machen daraus ein Ingredienz mehr, das ist alles.
Staunend zuerst, und dann nachdenkend sahn wir, wie national
die französischen Geistigen waren; sie waren, sie sind es in einem
Maß, das wir nationalistisch nennen. Wir haben auch unter den
deutschen Schriftstellern Nationalisten, das heißt solche, die sich mit
den deutschen politischen Zuständen, wie sie vor und im Krieg waren,
also mit den wilhelminischen Zuständen identifizierten, Nationalismus
ist Identifizierung mit den Zuständen; erst derjenige, der in Oppo¬
sition steht, nennt ihn Chauvinismus. Wenn der Opponent die Zu¬
stände billigte, würde er selbst mit Freuden national sein. Wir
anderen also in Deutschland, die den wilhelminischen Geist nicht
billigten, waren nach der Revolution irgendwie nichtnational und
irgendwie antinationalistisch—in Frankreich aber waren unsre Kameraden
national, wie vor dem Krieg, wie im Krieg.
Nachdem die Republik sich zu festigen beginnt; nachdem wir mit
unsrem unrealen Radikalismus Bankrott erlitten haben; nachdem die
französischen Geistigen kühl zu verstehen geben, daß unsre Fiktion
einer Krise des europäischen Geistes nur eine Wunschvorstellung derer
sei, die sich in einer persönlichen, deutschen Krise befinden, stellen
wir in uns eine Klärung fest: wir werden irgendwie nationaler.
Und ich glaube, in einer würdigen, brauchbaren Form: die Ge¬
schicke der Nation sind die unsrigen, und es gilt, die Progression
deutscher Geistesformen, die aus der Geschichte schreitet, um eine
neue zu vermehren, in der wir leben können.
4*4 Chronik Weremvags
Die andren leugnen es, daß eine Krise des europäischen Geistes
da sei, — streiten wir also nicht darüber, machen wir sie für uns
sichtbar, dann wird sich eines Tages zeigen, ob der Westen die neuen
Ideen, die wir vielleicht hervorbringen, ignorieren kann. Diese Ideen
haben nur dann Wert, wenn sie an die Tore Europas pochen. Der
Deutsche liebt es, anzukündigen, daß er etwas Neues in Angriff nehmen
will, und glaubt naiv, das interessiere die Welt: dies also hat so
wenig Wert, wie die berühmten deutschen Proteste.
Es ergibt sich so ein doppeltes Verhalten. Erstens, unter uns zu
bleiben, wenn wir eine neue deutsche Geistesform suchen, ganz wie
wir zur Zeit der Klassik oder der Romantik auf uns angewiesen
waren: leiste, erortre nicht, keine Kommentare. Zweitens, bei Be¬
gegnungen, aus dieser Konzentrierung auf sich selbst die Taktik zu
ziehn, die die einzig richtige und, es sei wiederholt, die einzige
würdige ist, die Taktik, Präliminarverhandlungen über Schuld und
Gleichberechtigung abzulehnen.
Die Schuldfrage kann jeden einzelnen brennend beschäftigen, sie
ist aber nicht geeignet, zwischen mir und Suar&s, Thomas Mann und
Rivi&re, oder wer immer in die Lage des Colloquiums kommt, er¬
örtert zu werden. Weil zwar der Deutsche von Rang bereit wäre,
leidenschaftslos zu erörtern, nicht aber der Franzose, weil es sogar
schon zuviel wäre, einander zu versichern, daß Gleichberechtigung
bestehn solle. Ich wünsche nicht behandelt zu werden, als ob ich
gleichberechtigt wäre (das mag in Cannes schon eine Höflichkeit sein),
sondern ich wünsche, daß der Gedanke, ich könnte nicht gleich¬
berechtigt sein, bei meinem Partner nicht einmal auftaucht.
Wenn französische Ärzte oder Astronomen, bevor sie auf einem
internationalen Fachkongreß mit Deutschen Zusammentreffen, ver¬
langen — ich weiß nicht was, daß zuerst die sechzigste Gold¬
milliarde gezahlt sei, oder Wilhelm II. in London abgeurteilt werde,
so mögen sie in ihrer Dummheit verharren, solang sie sich ihrer
nicht schämen. Für geistige Menschen aber ist der Versailler Ver¬
trag eine Bilanz, die abschließt, nicht ein Saldo, das die neue Rech¬
nung belastet.
Die Schuldfrage: es gibt sie insofern, als wir wissen, daß ein
ganzes Volk nicht den Mut hatte, seine Geschicke selbst in die Hand
zu nehmen, statt den Machthabern plan pouvoir zu erteilen. Das
geht nur uns an. Eine andre Schuld gibt es nicht, der Rest ist
Dämonie, Schicksalhaftigkeit.
Chronik Weremoags 415
Ich erinnere mich an einen Abend, den ich vor dem Krieg mit
einem Politiker verbrachte, der heute bekannt geworden ist. Wir
unterhielten uns von den Franzosen. Er unterschätzte sie ungeheuer,
ich widersprach. Er sagte, ihre Vitalität sei erschöpft, sie schnitten
Koupons, statt Zinsen durch Investierung in Kapital zu verwandeln, .
die instinktive Angst eines an Blut nicht reichen Organismus vor Blut¬
verlust zersetze sie. Er berief sich auf seine geschäftlichen und
praktischen Erfahrungen, ich auf die menschlischen und seelischen
— ich sagte, das französische Naturell sei das der Katze, zäh und
geschmeidig.
Ich weiß nicht, ob er mich damals für einen sentimentalen In¬
tellektuellen hielt. Er hat heute, so oft er mit Franzosen unter¬
handelt, Gelegenheit, die Vitalität der Katze kennen zu lernen. Sowohl
der Tiger Cllmenceau (ein Quasi-Tiger) als der Luchs Poincard (kein
Quasi-Luchs) gehören zu dieser Rasse. Im Krieg lernten wir die
französische Zähigkeit kennen, von der Bismarck, recht eigentlich der
Vater des verhängnisvollen Urteils über den Franzosen, keine Ahnung
hatte, und heute ihre seelische und geistige Auswirkung: die Un-
versöhnlicbkeit, das Gedächtnis, die Unerbittlichkeit, mit der der
gallische Sbylock Zoll um Zoll seine Forderung eintreibt.
Ich begriff nie, warum man den Franzosen radikal nennt, wenn
man unter Radikalismus die Bereitschaft versteht, bestehende Form zu
zertrümmern. Der Franzose ist konservativ, seine geistige Geschichte
die Abwandlung eines numerus clausus von Ideen, Werten und Pro¬
blemen, der Franzose ist Hüter der Tradition, er ist der Chinese
in Europa. Das war seine Stärke — ob es seine Stärke bleiben
wird, das ist die Frage.
So erbärmlich unsre eigne Geistigkeit heute ist, man darf, ohne
in Konstruktion zu verfallen, sagen, daß jenes neue Glied in der
Progression deutscher Geistesformen, das wir suchen, einer Regeneration
des protestantischen Triebes entspringen wird. Ich empfehle, bei
diesem Begriff von dem Kirchenwerk Luthers abzusehn. Der Pro¬
testantismus ist älter als Luther, er ist sogar älter als der Katholizismus,
da er ein Urprinzip ist: das totalistische, mystische, der Ordnung
durch eine Idee widerstrebende und jede Ordnung der Existenz
immer wieder sprengende. Er ist Gott so nah, daß er in ihm auf¬
geht, während man vom katholischen Prinzip, das unter andrem auch
das attische war, sagen könnte, es projiziere Gott in seine Welt, in
<lie Erscheinung, in die Form.
4 16 Chronik Wernrwags
Wenn der Deutsche revolutionär, schöpferisch, stark ist, ist er
„protestantisch“, auch der deutsche Katholik, dann schleudert ihn eine
Woge auf den Berg, den der große Pan bewohnt, ihn den ewigen
Antipoden der rational, dogmatisch, konzentrisch, in heiligen Werten
geordneten Welt.
Der Protestant ist Proteus, und Proteus nimmt manchmal das
Gesicht Bachs und Grünwalds an. Ich könnte nicht rechtfertigen,
warum ich jene Woge uns heben fühle — ich fühle es. Dann wird
das mit der Tradition gegürtete Frankreich sich nochmals als Hüter
gegen den Einfall der Barbaren proklamieren, wie oft bisher. Aber:
was wird es noch zu sagen haben, bei der fünften Verteidigung der
überlieferten Werte? Die Regeneration der Latinität, die sich in
Frankreich vor dem Krieg vollzog und ihm recht eigentlich die Kraft
gab, den Krieg zu bestehn, zwingt dieses Volk noch mehr als bisher,
das Erreichte zu behaupten, unradikal, unprotestantisch zu sein. Und
es wird die alten Ideen zum hundertsten Mal variieren. Der Abstand
zu einer erneuten Welt wird noch größer werden, so groß, daß das,
was ewig scheint, die Katholizität und Latinität, seine Krise erleben
muß. Es könnte sein, daß aus dem Vorzug eine Not wird.
Das ist die Konstellation dessen, was heute das Problem der
deutsch-französischen Beziehungen heißt. Man darf es sehr tief sehn,
als neue Phase von Urprinzipien, von Form und Rhythmus, Ordnung
und Woge, Dogma und Freiheit, Tradition und Progression, Klugheit
und Jugend. Wir sind da, um den Geist vor Erstarrung zu bewahren,
die Franzosen, um seine Auflösung in Musik zu verhüten. Eines ist
soviel wert wie das andre, Kräftesystem auf dem magnetischen Feld
Gottes, das Europa heißt. Keiner hat Anlaß zu Hochmut, und der
Besiegte darf annehmen, daß an ihm die Reihe sei, von der Welle
gehoben zu werden.
Die Franzosen geben im rheinischen Land eine Revue heraus,
Paradefeld für den Aufmarsch ihrer besten Namen. Der Schimmel
ist kulturell frisiert, aber die Leine, die ihn lenkt, liegt in den
Händen der Imperialisten. Nun sehe ich zwar hinter dem, was sich
halb triumphierend, halb verschämt als französischen Imperialismus
gibt, den Zwang der Situation, die heimliche Not, die positive Angst
vor dem unerschöpflichen Reservoir des deutschen Menschenmeers,
darüber hinaus aber auch die Eitelkeit. Und sie ist es, die mir als
ein größeres Hindernis des geistigen Verkehrs erscheint als der
Chronik Werewwags 417
Imperialismus, von dem man nicht weiß, ob er nur der David sei,
der gern Goliath sein möchte.
Die Eitelkeit hat ihre Abstufungen; aber ob sie als Selbstbewußt¬
sein auftrete wie bei Jacques Ri viere* oder als bewußte Ablehnung
wie bei Andrd Suar&s** oder als sentimentale Romantik wie bei Maurice
Barr&s (er erfindet Romanfiguren, die an das Hirn des französischen
Chirurgen erinnern, der noch jüngst, in diesem Jahr 19 zz, erzählte,
ein deutscher Feldarzt habe eine französische Mutter entbunden und
als sie ihm dankte, gesagt, er habe seinen Dank schon — dem Kind
waren die Hände abgeschnitten), oder als Schnoddrigkeit der fran¬
zösischen Reisejoumalisten, die alle deutsche Namen haben: diese
Eitelkeit, primäre Eigenschaft des dogmatischen Menschen, erscheint
uns als so problematisch wie der französische Traditionalismus selbst.
Rbodus liegt nicht an der Seine allein, es wird überall gesprungen,
und kein Friede wird sein, bis jene Revue, pars pro toto t statt in
Mainz in Paris gedruckt wird.
Kein französischer Geistiger erhebt sich dagegen, daß deutsche
Korrespondenten von der französischen Kammer ausgeschlossen sind.
Welche Unwürdigkeit. Ein Engländer, wenn es auch der von den
Franzosen .abgelehnte Keynes ist, hat vom Bankrott der französischen
Intelligenz gesprochen. Ein Bankrott der Intelligenz wäre ein Bankrott
der Moralität. Es ist Zeit, wieder intelligent und moralisch zu werden.
Was Protestantismus als Idee sei, hat im Tiefsten Leopold Ziegler
erkannt. Buddho, der Protestant, heißt ein Kapitel seines jüngsten
Buches »Der ewige Buddho** (bei Otto Reichl). Wie kühn, im in¬
dischen Mythus von Krischna und in der Gestalt Buddhas Projek¬
tionen des protestantischen Urprinzipes zu sehn, und wie stark, es in
ihnen zu erkennen.
Alle Philosophien und Religionen entspringen und folgen einem
Trieb — Identität mit dem Sein zu erlangen. Das katholische Prinzip,
so ewig wie das protestantische, aber um eine Phase jünger, da es
erlaubt ist anzunehmen, daß Ordnung oder Form nur da sein kann,
4 „Die französische Intelligenz ist unvergleichlich: es gibt keine mäch¬
tigere, keine schärfere, keine tiefere .. auf philosophischem, literarischem und
künstlerischem Gebiet wird nur das zählen, was wir sagen.“
44 „Die Deutschen haben angefangen, Hundefleisch zu essen, sie haben
siebenhundert Hundeschlächtereien in Preußen und Bayern. Wie mans
nimmt. Ich werde jedoch nicht vom Deutschen essen.“
4i 8 Chronik Werentoags
wo Totalität und Gestaltlosigkeit war — das katholische Prinzip stellt
die Idee Gott heraus, personifiziert sie, macht sie zum erschaffenden
Grund und ist fortan an ein dualistisches Weltbild gebunden, Schöpfer
und Kreatur stehen sich gegenüber.
Identität ist hier nur möglich durch Verklammrung: Gott offen¬
bart sich und seinen Willen, das Geschöpf ordnet sich in Demut
unter. Die Verschmelzung mit Gott wird in ein Jenseits verlegt, in
dem aber noch immer der katholische Gedanke der Scheidung herrscht:
die Verschmelzung erstarrt als Aufenthalt in der Nabt des weiterhin
personifizierten Gottes.
Das protestantische Prinzip, radikal durchdacht, ist notwendig gott¬
los, weil es gott-voll ist. Das Seiende ist selbst Gott, die Kreatur
selbst ist Gott, das Geschehen selbst Gott. Gott ist die Kreatur, aber zu¬
gleich alles, was diese eine Kreatur nicht ist, das Außen der Kreatur.
Für meine Vorstellung gibt es keinen tieferen Gedanken. Der
deutsche Pantheismus hat ihn nicht erfaßt. Um Ziegler anzuführen:
„Und nicht empedokleisch, ihr Christen, dürfen wir dies verstehn,
als ob der indische Mahadeva zu sich selber spräche: Einst war ich
Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und flutentauchender
stummer Fisch. Sondern vedisch und upanischadisch und episch sollen
wir es verstehn: Stets bin ich Knabe und Mädchen und Busch und
Vogel und flutentauchender stummer Fisch.“
Das Wort Episch ist in diesem Satz eminent. Gott als episches
Ereignis — welche Erhöhung und Rechtfertigung des epischen Schauens,
das das Schauen schlechthin wird. Man sagt gewöhnlich, das Drama
sei die Kunstform, die bis ins Herz der Dinge dringt. Ja in das
epische Herz der Dinge: diesen Zusammenstoß erst entspringt das
Tragische.
Der katholische Dualismus zwischen Gott und Kreatur zwang zur
Erlösungslehre, deren schlimme, gewundne Halbheit dem Umstand
entspringt, daß volle Identität nicht möglich ist, wo Gott und Kreatur
getrennt bleiben. Da der Mensch nicht zu Gott kam, mußte der
Gott zum Menschen kommen, in Gestalt eines Abgesandten. Aber
diese Zwangslage (des personifizierten) Gottes konnte nie Symbol für
die protestantische Grundtatsache der Allgottheit sein, die Natur des
Abgesandten mußte konstruiert werden: er ist als Person sowohl
Gott als Mensch. Ziegler stellt dieser Zwitterhaftigkeit die naive,
unbekümmerte Symbolik Krischnas entgegen, der fröhlich als Sohn
eines Kuhhirten geboren werden konnte, weil kein Mystorationalismus
Chronik Weremoags 419
notig war, um wissen zo lassen, daß er zugleich alles das war, was
er zeitlich nicht war.
Protestantismus ist die Überwindung des Zeit- und Raumbegriffs,
die Aufhebung der Kausalität, die Verweisung der Logik auf die
raumzeitliche Welt. Was den Spott aller Voltairekopfe, mit Recht,
herausforderte, die Trinität, ist im Indischen jedem Spott entrückt,
weil es jeder Unklarheit entrückt ist.
Zieglers Buch ist der Versuch, nach Neumanns Buddhaverdeutschung,
Buddhaeindeutschung, den „europäisch umgestalteten Buddho religiös zu
bezeugen“. Der Protestant Ziegler spricht religiös, in gehobner, frei
schaltender Sprache, in fünf Unterweisungen. Die protestantische Woge
hebt sich, in der Progression der deutschen Formen beginnt eine neue
herauszutreten.
Damit eine Woge werde, mußte Stauung stattfinden. Nietzsche
war diese Aufstauung, diese erste Konzentration, dieser erste Beginn
des neuen Impulses. Nietzsche der Protestant — niemand war deut¬
scher, man wird es erkennen. Er nahm die tausend Gesichter Krischnas
an — es ist billig, vom Dogma der Einheit des Charakters ausgehend,
ihm die Verwandlung des Gesichtes nachzurechnen und als Euckenianer
mild festzustellen, daß er tragisch zerrissen sei.
Er war der erste, der den Mut und die Kraft hatte, tragisch zu
sein — tragisch wie Krischna, tragisch wie die Existenz, das Pandä-
monium der Verwandlungen. Dies ist keine Tragik oder es ist die
Tragik Gottes selbst. Gott ist tragisch, insofern er nur ist, indem
er wird, ein Hoffmannscher Spuk, um mit Ziegler zu reden.
Von zwei Büchern über Nietzsche hat das eine den Mitleidston,
der dem Heroismus Nietzsches nicht gewachsen ist: Friedrich Mückle
(„Nietzsche und der Zusammenbruch der Kultur“, bei Duncker und
Humblot) erkennt, daß Nietzsches Erlebnisfbrm die des Musikers war
und ist, indem er die Thesen Nietzsches musikalisch aufrollt, „zufrieden,
wenn es uns gelungen sein sollte, den Weg zu weisen, der allein einen
Zugang verschafft zum Verständnis dieser rätselhaftesten Gestalt der
deutschen Geistesgeschichte.“
Mein Gott, dieser gehaltvolle Satz bietet einen Gesichtspunkt als
Entdeckung an, den der Verfasser der Geburt der Tragödie aus dem
Geist der Musik selbst geliefert hat Aber wie es mit der Musik
geht, sie zerrinnt. Mucklen zerrinnt Nietzsche. Er paraphrasiert ihn
so lange, bis die Symphonie wie in einem Konzertführer in Motive
Junius, Politische Chronik
45 °
zerfällt. Eine Symphonie ist ein Ganzes, der Kapellmeister Mückle
schweißt sie nicht zusammen, er legt sie auseinander.
Es gibt keine Einheit des Charakters, aber eine Einheit des Orts.
Nietzsche ist und hat die Einheit des Orts. Man muß ihn, den
Protestanten, protestantisch lesen, nicht mit dem kausalen Maßstab
messen. Widersprüche sind gleichgültig. Er ist die Urform des neuen
deutschen Menschen.
Mückles erstes Wort über Nietzsche, es sei diesem nicht vergönnt
gewesen, seine Seele als Musik zu offenbaren (nur musikalisch aufzu¬
rollen), ist auch sein letztes, eine Wertung. Ich muß sie zurück¬
weisen. Dinge des Geistes kann man nicht als Musik darstellen, die
Forderung Mozartscher Melodien an einen Denker stellen, heißt von
ihm verlangen, daß er das, was ausgesprochen werden will, in un¬
aussprechliche Symbolik verkleide. Musik ist Ding für sich, Denken
auch. Bei Mückle spürt man etwas von dem Entsetzen des gezähmten
und gesitteten Menschen vor dem Dämon. Dieses Wort von der
„rätselhaftesten Erscheinung 1 * usw.
Ein andrer, Heinrich Römer, beweist in seinem „Nietzsche** (bei
Klinkhardt und Biermann) nicht, daß Nietzsche der erste Sturmvogel
des Zusammenbruchs des modernen Menschen sei, er hat den Instinkt
dafür, daß der Sturmvogel Morgenrot sieht. Er stellt in zwei Bänden
(auch Mückle plant einen zweiten Band) seinen Heiden ruhig, ver
ständig, vorsichtig und unermüdlich dar. Er beherrscht den Stoff* und
breitet ihn in einer Weise aus, daß man dieses Werk als ein Lese¬
buch in Nietzsche und zugleich als ein Register für schnelle Orien¬
tierung empfehlen kann.
POLITISCHE CHRONIK
Dr. EDUARD BENESCH
von
JUNIUS
I
W äre Herr Doktor Eduard Benesch, der tschechoslowakische
Ministerpräsident und, seit Begründung der Moldaurepublik,
ffcr verantwortliche Redakteur der für und um Prag gemachten Außen-
Junius, Politische Chronik
45 1
politik, nur eitel und nur zeitungsruhmsOchtig: er hätte wie wenige
seiner Zeitgenossen das Ziel seines Strebens erreicht. Denn wieder
läßt, wie in den Tagen der unverschmerzten oberschlesischen Ent¬
scheidung, sein Name die Rotationsmaschinen des ganzen Erdballs
ächzen, nur wird diesmal dem kleinen Mann in der internationalen
Presse das Gelingen der weit wesentlicheren Mission gutgeschrieben:
die zwischen London und Paris gelagerten Konfliktsstoffe auf ein er¬
trägliches Maß herabgemindert und die Wege für eine gemeinsame
europäische Aufbaupolitik frei gemacht zu haben. Wieviel daran wahr
sein kann, werden wir gleich sehen; leider fragt man sich bei uns
nicht, woher diesem tschechischen Politiker die Autorität zu solchem
Einfluß und solcher Mitbestimmung in Dingen von allerschwerstem
Gewicht zuströmt. Herr Benesch vertritt einen kleinen, durch die
Konjunktur des Krieges plötzlich ans Tageslicht gehobenen Staat
mit künstlichem Namen; und er vertritt ein zahlenmäßig nicht
starkes slawisches Westvolk, dem noch gestern in der Dynamik der
öffentlichen Weltmeinung neben den Polen eine unendlich geringere
Bedeutung beigemessen wurde. Daraus schöpfte die Gedankenlosig¬
keit das Recht, die Charakterformel zu prägen: viel Eitelkeit und
eine mit Überheblichkeit verquirlte Vielgeschäftigkeit. Diese ebenso
dumme wie schädliche Beurteilung ist leider aus der deutschböhmischen
in die reichsdeutsche Presse eingedrungen und muß zerstört werden.
Die Quellen zu besserer Erkenntnis liegen offen da, man muß sie
nur haben wollen. Und es ist Zeit, daß wir sie wollen.
Selbstverständlich gehörte auch Herr Benesch zur Maffia. Selbstver¬
ständlich war ihm, wie Oberhaupt der gesamten tschechischen Intelligenz,
zumal der jungen, akademisch gebildeten und vom europäischen Westen
magisch angezogenen, das den Böhmen (nur ihnen?) immer wieder
wortbrüchig gewordene Habsburgertum tief verhaßt. Selbstverständlich
war er russophil und frankophil. Selbstverständlich war seiner Schicht
das preußisch durchtränkte Deutsche Reich weder seelisches noch
politisches Attraktionszentrum. Und selbstverständlich empfand er die
Rolle, die Deutsche und Magyaren im alten Donaureich spielten, als
hegemonische und teilte, mit sämdichen gleichaltrigen Genossen, nicht
die Hoffnung des alternden Kramarsch auf die Möglichkeit eines Groß-
österreichertums, einer österreichischen Internationale (sie bestand; war
aber keine Friedens- und Lebensgemeinschaft, sondern ein Käfig voll
zoologisch gewordener Nationen und Natiönchen); eines österreichischen
Föderativstaates also . . . mit russenfreundlicher Außenpolitik und
43 *
Juntus, Politische Chronik
Abschüttdung des bismärckischen Bündnisses. Er glaubte weder an die
Beiehrbarkeit des magyarischen Ultrachauvinismus, der die Reichs- und
Nationalitätenpolitik seit und vor Deaks Ausgleich terrorisierte, noch
an die selbsterhalcende Klugheit der bis ins Willensmark geschwächten
und dynastisch bis zum Verrat an ihrem Volkstum verkrüppelten
Deutschösterreicher; noch daran, daß es für den Emanziparions-
drang der Slavenmassen im Reiche andere Erlösungsmittd gäbe als
die sprungbereite, organisierte, immer wache, immer nach Gelegen¬
heiten auslugende Konspiration. Diese Konspirationstechnik, die in
Etappen sich auswirkte und in Teilerfolgen sich bezahlt machte, und
der unter den Älteren, ruhig Gewachsenen nur Einspänner wie
Masaryk femstanden, gehörte nun einmal zu den Erziehungsbehelfen
der tschechischen Jugend. Kann man sich wundern, daß sie ihr
seelisches Residuum in dem jetzt zur Macht gelangten Geschlecht
zurückgelassen hat? Aber daneben, das muß gerechterweise hinzu¬
gefügt werden, war ehrlicher Wissenstrieb am Werk und hob das
begabte Volk auf eine immer höhere Stufe; die gebildete und be¬
sitzende Oberschicht wurde breiter und umfassender, während unter
Bauern und Arbeitern so gut wie keine Analphabeten anzutreffen
waren. Die Manieren, — ja freilich, dem verzärtelten Wiener, der
sich oft schon auf der Reise in die preußische Hauptstadt den
Schnupfen holte, boten sie Anlaß zu unerschöpflichen Witzeleien und
Spötteleien; die Tschechen sind eben keine oberflächlich gefirnißten
Polen, aber sie sind unvergleichlich arbeitsamer, sparsamer und weniger
dem Aberglauben verfallen; im Gegenteil, sie streben von alters her
der Aufklärung zu: Hussens Volk besteht, paradoxerweise, aus puri-
tanisierten Slawen. Daß Grundlage und Methodik der Bildung
wesentlich deutsch waren, daß die tschechische Wissenschaft der
deutschen, die sie großsäugte, getreu folgte und auch heute noch
als Muster der Geistesdisziplinierung angesehen wird, weiß jeder; nur
in den letzten Jahrzehnten entflohen die Jünglinge aus dem reich ge-
wordenen tschechischen Bürgertum in die westlichen Schulen.
Aus solcher Umwelt stieg Benesch empor: man ahnt, wie er durch
sie für das politische Leben zugeschlifiFen wurde. Einer von vielen;
und doch nicht der vielen einer. Er war Schüler Masaryks, des
heutigen Präsidenten der Republik, und äußerlich Anhänger von dessen
Realistenpartei; seinen Gesichtskreis hat er durch soziologische Studien
in Berlin und Paris zu erweitern versucht, und dieser Schulung ver¬
dankt er wahrscheinlich seine unter Praktikern auffallende Methode,
jhtnius, Politische Chronik
433
in politischen Zusammenhängen zu denken und seine diplomatische
Arbeit zu systematisieren. Vor dem Erdbeben aber blieb sein politischer
Ehrgeiz latent, er begnfigte sich mit simpler Handelslehrertätigkeit,
was ihm von patriotischen Kannegießern, die eben noch vor jedem
treu-deutschen Goluchowski Bilinski Andrassy oder Bunan ins Knie
sanken, merkwürdigerweise noch heute als Defekt angemerkt wird.
Die Stunde kam; und er floh, erst nach Genf, dann nach Paris;
und unermüdlich arbeitend, schreibend (Ddtruisez rAutriche-Hongrie),
agitierend, werbend, die nationalen Auslandskonvendkel organisierend
gelang es seiner unerhört intensiven Aufklärungstätigkeit — neben
der Masaryks — der mitteleuropäischen Politik der großmächtigen,
aber abgründig unwissenden Westler ein territoriales und nationales
Rückgrat zu geben. Selbst in Paris war es bis Anfang 1918 nicht
leicht, von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Habsburgerreich
zu zerschlagen und in eine Reihe völlig selbständiger Staaten zu
zerlegen: man befürchtete das Eintreten eines Vakuums. Doch fand
Benesch einen mächtigen Helfer in Professor Ernest Denis, dem Ge¬
schichtsschreiber Böhmens (der auch eine lesenswerte Fondation de
TEmpire Allemand geschrieben hat) und einen noch weit mächtigeren
in Wilsons von Masaryk befrachteter Ideologie des nationalen Selbst¬
bestimmungsrechtes. Es war nichts Geringes, Paris und besonders
London so kühn zu machen, daß sie ein tausendjähriges, traditions¬
beladenes Gebilde, das für sie trotz allem so viel Sympathisches hatte,
zu zerbrechen und den von den Diplomaten aller Schulen nach¬
geplapperten Satz über den Haufen zu werfen wagten: Wäre Öster¬
reich nicht, es müßte, als Brücke zwischen West und Ost, als Über¬
gang von den Germanen zu den Slawen, erfunden werden. Man
fürchtete (mit Recht) die handelspolitischen und finanziellen Folgen
der Radikalkur und fragte sich, was entstehen würde, wenn die wirt¬
schaftlichen Gemeinsamkeiten aufgehoben und als Fortschritt — der
Rückschritt zum staatlichen und ökonomischen Kleinbetrieb gepredigt
würde. Es blieb bei der von Masaryk und der Beneschgruppe emp¬
fohlenen Konstruktion, die für ganz Mitteleuropa erdacht war und
Geltung erhielt, zumal da die Engländer sich über die Einzelheiten
dieses Zerstörungsunternehmens, das dem Neubau den Weg bahnen
sollte, keine grauen Haare wachsen ließen und die deutschöster¬
reichischen und deutschböhmischen Gegenargumente erst in der grau¬
sigen Not des Zuspät aus einer ratlos verstörten und mit einer wider¬
lich leeren Ideologie gefütterten Seele hervorkrochen.
28
434
Junius, Politische Chronik
So kam die mitteleuropäische Karte zustande, und Herr Benesch
darf sich als einen ihrer Väter betrachten. Seine selbstverständlich
sehr parteiische, nationalistisch eingefärbte und rücksichtslos ver¬
wertete Kenntnis der Dinge da unten hatte sich somit zu europäischer
Geschichte kristallisiert, aber seit wann nennt man das — von den
Geschädigten, die nicht gefragt werden, abgesehen — anders als
patriotisch? Er hat, nach und neben Masaryk, die Slowaken aus
ethnographischen Gründen für den Moldaustaat gefordert, das deutsch-
böhmische Gebiet aber aus geschichdichen, wirtschaftlichen und strate¬
gischen Gründen, damit Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Volker
(das die mit einemmal demokratisch fühlenden Deutschösterreicher
auch für sich entdeckt hatten) über den Haufen werfend; aber welcher
Patriot, im bisher überlieferten und wirksamen Sinne des Wortes, hat
irgendwo anders gehandelt? So sind ja so ziemlich alle Nachfolge¬
staaten entstanden. Nirgends reine Nationalstaaten, überall Völker-
gemengsel —; nur die besiegten Deutschen und Magyaren wurden,
zu Erziehungszwecken und um den Grundsätzen zu huldigen, bis aufs
Hemd ausgezogen und, wo es am Körper klebte, wurde ein Stück
Fleisch mit herausgerissen. Dafür wurde dem Moldaustaat mit drei¬
einhalb Millionen Deutscher ein wahres Danaergeschenk gemacht.
EQer ist der Schatten, über den gesprungen werden muß; ein ver¬
schämtes Gewaltverhältnis zwischen den zwei Nationen wird selbst
tschechischer Fanatismus nicht zu verewigen vermögen . ., weil eine
allumfassende Idee nicht verabschiedet werden kann, nachdem man
sie für sich benutzt hat.
Man wird nun, aus diesen spärlichen Andeutungen, bei uns vielleicht
besser begreifen, worauf Benesch' Autorität in Paris und London be¬
ruhte. Er kennt die dort geltenden Menschen und Verhältnisse und
Psychologien und hat bisher noch immer mit ihnen zu rechnen ge¬
wußt. Seine Außenpolitik baute sich folgerichtig auf den mit von
ihm geschaffenen mitteleuropäischen Tatsachen auf. Die kleine Entente
galt zunächst der territorialen Sicherung und der Abwehr jeder Form
von Restaurationspolitik mit und ohne Habsburg; sie hatte (und hat)
naturgemäß ihre Spitze gegen Ungarn, das sich lange genug gegen
das kaudinische Joch aufgezwungener Straf- und Bußverträge und Tat¬
sachen wehrte, lange Zeit in Frankreich und in London Stützen fand
und von Benesch, im Bunde mit Jugoslawien und Rumänien, mitleid¬
los in den Käfig „völkischer Reinheit“ gesperrt wurde. Da wurde
Schach gespielt und Magyarien bald für Frankreich und England, bald
Juntus, Politische Chronik
4 35
ftir Italien — dem die sQdslawische Adriamacht auf die Nerven fiel —
der heimlich umworbene Springer. Doch Benesch zwang die große
Entente, nachdem die wilde Bela Kun-Episode vorüber war und der
Blick auf ein gegen den Kommunismus immunes Agrarland westliche
Beklemmungen vertrieben hatte, bei der Stange zu bleiben, die Habs¬
burger endgültig abzusetzen, den Sammlungs- oder Restaurationsschwindel
der erwachenden, das ist nie recht schlafen gegangenen Ungarn in den
Bann zu tun (darüber fiel Paleologue am Quai d’Orsay), die fran¬
zösische Generalspolitik abzuschütteln und so die Luft ftir ein demo¬
kratisches und „nach dem völkischen Selbstbestimmungsrecht“ konstru¬
iertes Mitteleuropa zu reinigen: was nicht hindert, daß Ungarn, nicht
nur wegen der Donauschififahrt, seine Freunde hat (und haben wird,
die nicht immer die von Deutschland sein werden). Italiens Gefällig¬
keiten im Burgenhandel, die Benesch nicht zu neutralisieren vermochte,
sind eindeutig . .
Er ging jetzt einen Schritt weiter. Polen war und blieb unbequem.
Einmal, weil Polen — Polen sind. Dann, hauptsächlich, wegen des
seit je zum Königreich Böhmen gehörigen Teschener Kohlenbeckens,
das die Warschauer Regenten selbstverständlich für sich beanspruchen,
und wegen der polnischen Unterstützung der slowakischen Irredenta.
Einem fragwürdigen Plebiszit zog der tschechische Staatsmann einen selbst
mageren Vergleich vor. Diese Vergleichstheorie hat er dann in der
oberschlesischen Frage den Polen zuliebe, aber keineswegs etwa aus sla¬
wischem Gemeingefühl sondern aus Berechnung, in London zur Gel¬
tung gebracht, damals mit intensiver italienischer Unterstützung. Wenn
Lloyd George, kein Polenfreund wie man weiß, unbegreiflichen Ber¬
liner Erwartungen entgegen schließlich umfiel, so geschah es bekannt¬
lich — nicht zu den Polen sondern zu Briand hin, mit dem er
glaubte europäische Politik, wie er sie versteht, machen zu können.
Die deutsche Öffentlichkeit hat Herrn Benesch diese Vermittlertätig¬
keit nicht vergessen und vergeben, sie reagierte gefühlsmäßig auf den
kleinen Mann in Prag, der sein Ziel des Ausgleichs und der Friedens¬
gemeinschaft — mit den Polen auf deutsche Kosten ohne jede Ge¬
heimtuerei betrieb; — der kalte Sadismus an der Themse, der wußte,
was das oberschlesische Opfer für das deutsche Leben und die deutsche
Wirtschaft und die Aussichten irgendwelchen ernsthaften Erfüllungs¬
willens bedeutete, — an der schielte sie scheu vorüber. Daß der Prager
Politiker tschechische, nicht deutsche Interessen vertritt, wird man
wohl im Auge behalten müssen; aber daß seine polnische Rechnung
Juntus, Politische Chronik
43 6
psychologische Fehler hatte, war vorherzusehen und enthüllt sich jeden
Tag immer deutlicher. Der Defensiwertrag mit Polen, der seine
(überflüssige) Spitze nur gegen Westen, gegen Deutschland also haben
kann, da Benesch jede Garantie für die polnischen Ostgrenzen abgelehnt
hatte, läuft neben dem Versailler Vertrag einher wie die Postkutsche
neben der Lokomotive; man beeilte sich daher auch gar nicht, ihn zu
ratifizieren. Das versprochene tschechische desinteressement an den
Selbständigkeitsbestrebungen des ruthenischen Ostgaliziens ist ein
magerer Gewinn; es bleibt die polnische Unruhe an den Grenzen und
über sie hinaus, die polnische Ungebärdigkeit, der polnische Anspruch,
der Chorführer sämtlicher Westslawen zu sein. Diesen „Freund“ in
die kleine Entente hineinzunehmen, hieße sie sprengen; das weiß
Benesch natürlich so gut, wie er die ganz lockere Zugehörigkeit
Rumäniens zu diesem von ihm geschaffenen Gebilde kennt. Ihm
braucht heute nicht gesagt zu werden, daß in politischen Bünden kri¬
stallisierte Interessengemeinsamkeiten nur manövrierbar sind, solange
sie eng umschriebene Aufgaben verfolgen, darüber hinaus werden sie
Hemmung und Verlegenheit: der einst von Masaryk (in Amerika)
geäußerte Wunsch nach einer latino-slawischen Union ist inzwischen
schlafen gegangen. Ob es sich darum lohnte, deutsche Verstimmungen
einzuhandeln? Es war eine Gelegenheit, von Prag aus europäische
Politik auf weite Sicht zu machen; aber ich gebe zu, daß es für
die im Hradschin regierenden Herren schwer sein mußte, mit Polen
als Nachbar und den Deutschböhmen im Unterleib, in Deutschland
berührenden Fragen zwischen Paris und London zu wählen: es lag
ihnen näher und empfiehlt sich ihnen immer wieder, soweit es die
Umstände gestatten und anraten, zwischen ihnen zu vermitteln. Und
da taucht der zweite Grundsatz der Beneschen Politik auf: Um Eu¬
ropas Aufbau willen müssen England und Frankreich zusammenbleiben
und Zusammenarbeiten; wäre es denkbar, daß die „heilige“ Einheit
des westlichen Kriegsbundes durch innere Gegensätze ausgehöhlt und
gesprengt würde, dann sänke das Gebäude der Friedensverträge zu
einem Aschenhaufen zusammen, allen neu geschaffenen Staaten wäre
die internationale Rechtsbasis entzogen, und das Chaos wäre da. (Man
wird bemerkt haben, mit welcher Eifersucht besonders von Prag aus
der Buchstabensinn der Verträge verfochten wird; und welch' üble
Laune das in Venedig angesponnene italo-ungarische Gemächcl wegen
des Burgenlandes dort verursachte.)
Ich kehre einen Augenblick zu den für den engeren mitteleuro-
Junitts, Politische Chronik
437
päischen Kreis gültigen Gedanken der territorialen Sicherung aus
ei genen Mitteln zurück, dem der Gedanke einer wirtschaftlichen
Konsolidierung aus eigenen Kräften, soweit sie eben reichen, an die
Seite tritt Auch dabei spielte Polen, besonders als Transitland für
Rußland, eine Rolle; aber wichtiger waren die Handelsverträge mit
allen möglichen Staaten, selbst mit dem als Absatzgebiet lockenden
Ungarn sucht man wieder in engen Kontakt zu kommen. Diese Ver¬
träge bilden nun einen stattlichen Haufen und sollen mit den für das
Gedeihen des hypertrophen böhmischen Industrielandes normale Be¬
nehungen schaffen helfen; unter dem Vakuum der zerschlagenen Wirt¬
schaftseinheit im Donaubecken leidet es mehr als jedes andere. Hier
stieß der Tätigkeitsdrang des tschechischen Staatsmannes gewiß nicht ins
Leere; sein an sich so reiches Land gehört wirtschaftlich ja auch zu den
Besiegten, es braucht dringendst Märkte und Kredite, die Hilfe aber
von den großen Kapitalistenstaaten ließ auf sich warten; und die
Zeit war kostbar. Allerhand technische Verkehrtheiten, die bei diesem
Werk mit unterliefen und reichlichst kritisiert wurden, konnten die
Tatsache der schließlichen Teilerfolge nicht verhüllen, wenigstens
insofern als der Versuch zur Selbsthilfe fremde Hilfe anzog. Auch
der Vertrag von Lana, dessen politische Seite bei den Sudetendeutschen
und im Reich mit, wie ich glaube, übertriebener Leidenschaftlichkeit
in den Vordergrund gestellt und als Verrat am deutschen Volkstum
gebrandmarkt wird, dankt hauptsächlich wirtschaftlichen Motiven
seine Entstehung und gehört darum in diesen Zusammenhang. Denn
als Kampfgenosse gegen habsburgische oder, allgemein gesprochen,
magyarische Restaurationsbestrebungen, die machtpolitisch irgendwie in
alte Zustände zurückführen sollen, kann doch ein Realist wie Benesch
diese kraftlose Wiener Karikatur eines Staates, mit die elendeste
Verlegenheitsgeburt der Pariser, nicht ansehen; die Herren Masaryk
und Benesch wissen auch ganz genau, daß gegen die Naturgewalt des
nationalen Zusammengehörigkeitsstromes auf die Dauer kein Kraut
gewachsen ist. Ob es darum von den Tschechen psychologisch klug
war, den um das elementare Leben ihres Volkes bangenden Herren
Hainisch und Schober papieme Lippenbekenntnisse, das heißt die Ver¬
pflichtung abzufordem, den Vertrag von St. Germain buchstabengetreu
in Kraft und Geltung zu erhalten? Wie diese Dinge sich dereinst ge¬
stalten, weiß heute kein Mensch; an die territoriale Seite der Verträge
zu rühren, daran denken innerhalb des deutschen Sprachgebietes nur
politisch Unmündige; aber der Anschlußgedanke lebt und kann nicht
4*8
Junius, Politische Chronik
sterben, da gibt es nichts zu nehmen und zu geben, weder durch
Paragraphen noch durch ernstere Gewaltmittel. Was aber der Ver¬
trag von Lana — der, von diesen Überflüssigkeiten gereinigt, auch als
Instrument der Völkerversöhnung außerordentlich wohltätig hätte
wirken können — wirtschaftlich beiden Ländern bietet, ist nicht
gering, er schaltet ganz bewußt Österreich in den großen Wirtschafts¬
zusammenhang des alten Reiches wieder ein, er will zum ökono¬
mischen Großbetrieb zurückführen oder versucht es wenigstens.
Daß es mit den aufgebotenen Mitteln nicht gelingen kann, ist eine
Sache für sich.
Auch waren der stärksten Initiative auf handelspolitischem Gebiete
unübersteigbare Schranken gesetzt, dessen mußte Herr Benesch bald
gewahr werden. Auch sein Land ist in die europäische Wirtschafts¬
krankheit unauflöslich verstrickt, es wird auf seinen nächsten Absatz¬
gebieten (Serbien, Rumänien; der Balkan überhaupt) von dem mit
der fatalen Valutaprämie gesegneten Deutschland ganz buchstäblich
zu Tode „konkurrenziert", nachdem auch die Tschechenkrone den Marsch
bergan angetreten hat Man kann sich daher vorstellen, mit welcher
Aufmerksamkeit ein so systematisch arbeitender Kopf die Politik der
Großmächte verfolgte, als sie sich anschickten, das radikal bis zum
Verrecken durchrevolutionierte Reich im Osten in den allgemeinen
europäischen Wirtschafts rahmen wieder einzuspannen und Genua am
Horizont aufdämmerte. Für diese russische Aufbauarbeit die Ansprüche
seines Industrielandes anzumelden, war sein legitimes Recht; und es
war nur natürlich, und keineswegs Prestigesucht, wenn er als Sprecher
der Staatengruppe nach dem Westen eilte, mit der ihn, von ihrer
Funktion als naturgegebenen Absatzmärkten abgesehen, politische Bande
verknüpfen, und als deren Generalbevollmächtigter ihm größeres Ge¬
wicht beigemessen werden mußte, als wenn er für sein Land allem
zu sprechen gekommen wäre.
Um sein Recht, in Sachen Rußlands gehört zu werden, brauchte
sich Herr Benesch im übrigen nicht zu bemühen; wer das glauben
machen will, tappt im Dunkeln. Im Gegenteil, man hatte allen An¬
laß, ihn jetzt zu suchen. Und daß man es besonders in Paris tat, ist
über jeden Zweifel erhaben, gerade weil er Pariser Ansprüchen und
Auffassungen zur Zeit der militärischen Interventionsbesessenheit (unter
Poincare und Paldologue) mit charaktervoller Energie solange bekämpft
hatte, bis sie sich unter schändlicher Einbuße an Menschen und Geld
tot lief und auf die Unterstützung der polnischen Abwehr des Bol-
Junius, Politische Chronik
439
schewistenandranges beschränkte. An diesem kritischen Punkte hatte die
Frankophilie, die die tschechischen Nationaldemokraten blind machte,
ihre Grenze, es war auch das einzige Mal, wo Benesch bisher die
Stimmung des Volkes, dem er, sowenig wie den Parteien, im Grunde
nie schmeichelte und nie nachlief, für sich hatte. Seine Autorität
im Westen hat, wie man denken kann, darunter nicht gelitten; und
er mag heute eine besondere Genugtuung darüber empfinden, daß
seine Prognose triumphiert: die kommunistische Wirtschaftspraxis
wird das ganze System von innen heraus aus den Angeln heben,
es europareif machen und die Sowjetregierung den Kapitalistenstaaten
in die Arme treiben. Nun aber, wo es gilt, die technischen Formen
für den Wiederaufbau Rußlands und im Zusammenhang damit Mittel¬
europas zu finden, hat Frankreich das allergrößte Interesse, den Heer¬
bann seiner großen und kleinen Schützlinge um sich zu sammeln;
aber während sich am Quai d'Orsay für die politische Angliederung
des Baltenbundes unter Polens Führung und der Kleinen Entente unter
Beneschs Leitung eine scheinbar klare Linie finden ließ (auch diese Kon¬
struktion ist künstlich), setzt doch die besonders in Prag angestrebte
Konsortialbeteiligung am russischen Errettungswerk in die allergrößte
Verlegenheit. Denn wie man, von der Nebelhaftigkeit der meisten
Rußland betreffenden Pläne abgesehen, so viele und so stark aus¬
einanderlaufende Wirtschaftskräfte und Wirtschaftsinteressen auf einen
Generalnenner bringen will, wird man in den Kapitalen dieses Ge¬
wimmels von Kleinstaaten so wenig wissen wie in Paris. Herr
Benesch gibt die Verpflichtung zur Lösung solcher Herkulesaufgaben
neidlos an die Wirtschaftstechniker ab, er hat ein Gefühl für
die Schwächen seiner ökonomischen Kompetenz, aber unter fünf
äußerst bezeichnenden Vorbehalten. Die Deutsche „Expansion“ muß,
erstens, scharf überwacht, die Gefahr einer Monopolisierung der rus¬
sischen Aufbauarbeit durch Deutschland beseitigt werden. Die Führung
gebührt, zweitens, auch in dieser Angelegenheit den für Europas
Schicksal heute in erster Linie verantwortlichen westlichen Großmächten
England und Frankreich, es ist also eine Lebensfrage für alle, daß
sie eine gemeinsame europäische Politik haben und alle Gegen¬
ätze dieser Mission unterordnen. Es darf, drittens, keine Entscheidung
getroffen werden, ohne daß vorher die Sachverständigen der östlichen
Kleinstaaten vernommen und deren Wünsche und Bedürfnisse aufs
sorgfältigste berücksichtigt würden. Es dürfen, viertens, alle wesent¬
lichen Probleme nicht anders als in Ausschüssen und Unterausschüssen
440
Junius, Politische Chronik
behandelt und entscheidungsreif gemacht werden; allgemeine Kon¬
ferenzen können in der Regel keine nützliche Arbeit leisten. Tatsächlich
wich Benesch ihnen aus, wo er nur konnte; man kann beinahe sagen,
er habe die Konferenz von Porte Rosa, auf der die durch die Los¬
trennung vom österreichischen Mutterleib verursachten Beschwernisse
der Nachfolgestaaten verhandelt wurden lange, sabotiert...Und es muß,
endlich, ein positives Verhältnis zu Sowjetrußland gefunden, das heißt
mindestens die de facto-Anerkennung seiner gegenwärtigen Regierung
ausgesprochen werden. Der zuletzt angeführte Punkt ist von außer¬
ordentlicher Wichtigkeit, die politische Psychologie des Staatsmannes
kristallisiert sich in ihm. Die ganze Haltung von Benesch in den
verflossenen Jahren beweist, daß hier seine innersten Überzeugungen
zum Ausdruck gelangen: er glaubt, Rußland gegenüber, nicht an
forcierte Versprechungen, er glaubte nicht an papieme Bindungen, er
glaubt an die Gewalt der Tatsachen, die für das westliche Unter¬
nehmertum auch in Sowjetrußland Sicherungen von selbst schaden
wird. Für diese Überzeugungen wirkt er jetzt, so viel ich sehe, mit
unermüdlichem Eifer; wie weit Poincard, aber auch die Belgrader ihm
folgen werden, steht dahin.
Die Stellung, die Benesch zu Genua einnimmt, ist damit gegeben.
Es scheint als ob die Stabilisierung der Mark und die Beschaffung
eines internationalen Kredits für Deutschland seine genuesischen Haupt¬
sorgen seien; das wird man verstehen, wenn man die Ursachen der
Wirtschaftskrise kennt, von der sein schönes und von Natur so be¬
vorzugtes Land heimgesucht ist, zumal nachdem eine merkwürdige
Art von Deflation es in besondere Preis- und Lohnbeklemmungen
getrieben hat. Seine durch die Presse spazierenden Äußerungen über
Deutschlands Wirtschaftsfunktion in Europa sind nicht von Zärtlich¬
keit für uns, sondern von Einsicht eingegeben. Daß in Genua das
Thema Versailles nicht berührt werden dürfe, wird Herrn Benesch ge¬
wiß recht sein, seinen wiederholten Bekundungen nach scheint es ihn
nervös zu machen; aber er ist zu klug, um nicht zu wissen, daß die
europäische Finanzkrankheit mit dem Reparationsproblem organisch ver¬
knüpft ist; darüber hinwegreden, hieße in den Wind gestikulieren und
dem Humbug, dem die Amerikaner klugerweise ausweichen, Altäre
bauen. Es wird (wurde gesagt) ungebeten auftauchen, wie Bancjuos
Geist bei Macbeths Bankett, und zwar nicht den Schlaf, wohl aber
möglicherweise das Sauberkeitsgefühl dieses oder jenes Mitberaters
beunruhigen. Ich vermute, Herr Benesch wird zu ihnen gehören;
jfunius, Politische Chronik
44*
er wird sich, so wenig wie sein weiser Berater Masaryk, Ober den
Ort täuschen, von dem aus die Sabotage des europäischen Friedens
betrieben wird.
Ob darum Herr Benesch wünschen kann, daß in den Garantiepakt
zwischen England, Frankreich und Belgien die vom Nord nach Süd
laufende Kette von Kleinstaaten-Bünden irgendwie einbezogen werden, so
zwar, daß auch die östlichen Friedenschlüsse mit Menschenblut zu vertei¬
digende Schützlinge würden? In seinen vielen Memoranden und
Rechenschaftsberichten vor Parlamentsausschüssen, in seinen „privaten“
Äußerungen, die beabsichtigterweise gleich öffentlich wurden, hat er
bis zur Annäherung an Polen immer wieder durchblicken lassen, wie
sehr er alle Rußland betreffende Territorialfragen als vor der un¬
bekannten Zukunft ungelöst und die durch die Umstände erzwungenen
Losungen (Beßarabien, Ostgalizien, Litauen usw. usw.) als provisorisch
betrachtet; er schweigt jetzt, aber er kann innerlich nicht umgelemt
haben, er kann nicht glauben, daß mächtige nationale Gärungen, wie
sie unter der Decke der grausigen Not in Rußland fortglimmen, durch
Diktate von ein paar Westlern zur Ruhe verwiesen werden können.
Und er wird sich darum schwerlich zur Aufgabe gedrängt haben, auch
in diesem Punkt zwischen London und Paris zu „vermitteln“. Er ist
zu klug dazu, sein eigenes nationales Erlebnis wird ihn warnen; zu¬
dem weiß er, wie sich die öffentliche Meinung in England zur
ffanko-polnischen Forderung der Unterschrift unter einen solchen
Blankowechsel verhält
So ungefähr sieht, aus der Nähe betrachtet, Herr Benesch aus.
Meinetwegen eitel, im Genuß der Macht, die ihm viele Intellektuelle
unter seinen eigenen Landleuten mißgönnen, noch ein Neuling; aber
noch weit ehrgeiziger als eitel, und von einem imponierenden Werk¬
trieb beseelt, der ihn mit gereifteren Erfahrungen zu hoher Bedeutung
emporführen kann, — falls er die österreichischen Gewohnheiten der
Konspirationstechnik in sich ausrotten und die Eifersucht der Partei¬
führer behandeln lernt Er wird sich, hoffentlich sehr bald, zur Er¬
kenntnis durchringen, daß den Etats Unis d'Europe weder durch anti¬
deutsche Gefühlsrückstände noch durch ein ungeheures Netz von
Heiligen Allianzen gedient ist. Sein Wille zur Vorurteilslosigkeit muß
noch rücksichtsloser werden. Aber auch in der inneren Politik ist
diese auffallend begabte Mischung aus Temperament und Zucht des
Kopfes mit der Zeit zu Ansichten gelangt, die ihm Ehre machen.
Von der Bourgeoisie erhofft dieser Kleinbürgerssohn wenig, er hält
44*
Junius, Politische Chronik
sie für unfähig, aus der verkrüppelnden Enge sozialer und nationaler (!)
Vorurteile ins freie Land der Zukunft zu streben und mochte ganz
offenbar Arbeiter und Bauern beider Nationalitäten zu Willensträgern
seiner Politik im Parlament machen. Der Gedanke ist gut, und seine
Rückgabe des alten Ständischen Theaters in Prag an die Deutschen
verdient als erster Schritt zur Aussöhnung alle Achtung; nur wird er
sich darüber nicht täuschen dürfen, daß mit kleinen Liebesgaben die
Mindestforderungen jener deutschböhmischen Gruppen, die jede Form
von Chauvinismus wie die Pest hassen und selber von den Alldeutschen
verabscheut werden, nicht aus der Welt zu schaffen sind. Hier liegen
die Aufgaben für den wahren tschechischen Staatsmann, der sein Volk
erziehen muß, aus den mühsam erworbenen Eigenrechten kein System
des Unrechts für andere zu schmieden und freiwillig auf Herrscbgelüste
zu verzichten, ehe die günstige geschichtliche Konjunktur sich wieder
ändert und die Weltstimmung eine andere wird. Das kluge englische
Vorbild sollte Nacheiferung wecken.
ANMERKUNGEN
Stimmen des Auslands
S elbst in Frankreich, das die apo¬
kalyptische Stimmung des deutschen
Geistes von heute mit dem Hinweis
auf die nie erschöpfende Kraft west¬
licher Kultur abzulehnen pflegt, wird
doch allmählich die Problematik der
europäischen Situation, die Erschöpfung
der bisherigen kulturellen Tradition
deutlich. Soschreibtim„MondeNou-
veau“, einer der wenigen international
gestimmten und radikalen französischen
Zeitschriften, AndreLebey über „Die
Gefahren der intellektuellen Situation“:
„Die bisherige Ordnung der Dinge
— mag man es bedauern oder nicht —
ist vorbei. Wir erschöpfen uns ohne
Zweifel unnütz auf so vielen Pfaden,
weil wir uns hierüber nicht Rechen¬
schaft ablegen; dank der Zweideutig¬
keit, welche uns schlecht tröstet — denn
man beraubt sich nicht des Wahren,
ohne darunter zu leiden —, gelingt es
uns, weder die Vergangenheit wieder
herzustellen noch die Zukunft herbei¬
zurufen. Dieses Wahre im Verhält¬
nis zu unserer Zeit, aber wahr nur
durch dieses Verhältnis zu ihr und
ihren wie unseren Bedürfnissen — es
versteckt sich, aber wir spüren trotz¬
dem, daß es uns ruft, daß wir es
brauchen und daß wir den Mut haben,
es zu erobern. Auch die glückliche
Resignation ist uns also untersagt: aber
da sie erlösen würde, verschaffen wir
sie uns durch verschiedene Ausflüchte,
was uns weiter auf Irrwege fuhrt. Wenn
wir nicht ein wenig, durch Denken,
diese Zukunft vorwegnehmen, auf die
wir losmarschieren, die wir wohl oder
übel leben müssen und die uns flieht,
je nachdem wir uns der besonderen
Kraft versagen, die durch ihr Gleich¬
gewicht das unsrige herbeifuhren
würde, werden wir sie immer weniger
besitzen; wir werden im Gegenteil
sie nur völlig erleben, wenn wir er-
kannt haben, wohin sie geht, was sie
zu ihrem Dasein verlangt, was sie
ausmacht. Eine so einfache Augen-
scheinlichkeit zugeben, bedeutet be¬
reits einen Schritt auf sie zu und in
Erwartung, sie entschlossen zu wollen,
ihr beipflichten. Das führt uns natür¬
lich zur neuen Ideologie, die die wirt¬
schaftlichen und sozialen Erscheinungen
regeln wird, die in eine normale,
regelmäßige Bahn zu bringen, weder
der alten noch der neuen Welt ge¬
lang. Nichtsdestoweniger muß man
es versuchen. So kann man sich er¬
neuern. So seine geistige Mission er¬
füllen, die man nicht in Stich lassen
kann, ohne Gefahr des Untergehens. —
Anders werden wir die Vernunft der
Dinge nicht erreichen. Anders werden
wir nicht Revolutionäre sein; denn
Gewalt und Macht dauern und fhichten
nicht, wenn der Gebt sie nicht fuhrt
oder beherrscht. Wir kommen nicht
weiter, weil alle Parteien, unbeweg¬
lich und ohnmächtig in ihren Haltungen,
gleich diskreditiert bleiben, bb in die
Form und Verfahren ihrer Kämpfe.“
Jaques Riviere,in der „Nouvelle
Revue Franqaise“, spricht bei Gelegen¬
heit Dostojewskis von dem prin¬
zipiellen Unterschied zwbchen dessen
444 Anmerkungen
und der französischen Epik. Bei Dosto¬
jewski die Abgrunde, die dunklen Tiefen
der menschlichen Seele; bei den Fran¬
zosen das sachliche Gegenüber zu allen
Komplexen, die dargestellt und organi¬
siert werden: „Wir geben niemals
den Taumel der menschlichen Seele 44 .
Deshalb diese Meinung Rivieres: „Wir
sollten Mißtrauen gegen uns haben,
wir Franzosen, mit unserer Neigung
zu vereinfachen, die Dinge auf einen
Nenner zu bringen. Aber wenn wir
uns auch noch so wenig vor dieser
Neigung in Acht nehmen und sie nie¬
mals den Schritt auf die Komplikation
des Wirklichen nehmen lassen, so kann
sie uns doch Verkettungen merken
lassen, die auch Wirklichkeit sind und
Teil der seelischen Natur.
Denn das menschliche Wesen, so
sonderbar es sei, so lange es nicht
unsinnig ist, und vielleicht auch dann
noch —: das menschliche Wesen ent¬
geht in seinem Grunde nie einer ge¬
wissen Logik. Von einer Handlung
zur andern findet es sich wieder;
es kann unaufhörlich gegen die Ver¬
nunft handeln und dennoch einer ge¬
wissen Idee gehorchen, allgemeiner:
einer gewissen Lage, einer gewissen
Falte seines Gehirns, das eine Art
Form seines geistigen Lebens ist.
Und selbst wenn es sich widerspricht,
wer kann, so lange er es nicht analy¬
siert hat, versichern, daß dieser Wider¬
spruch etwas anderes sei als die (durch
die Ereignisse verursachte) Ablehnung
einer natürlichen Richtung?
Eher als den Geist in eine psycho¬
logische Unendlichkeit sich verirren
lassen, kann man sehr gut denken, daß
die Aufgabe des Romanciers sei, ihn,
durch die alleinige Kontinuität seiner
Bilder, ihn zu diesem heimlichen, aber
konkreten und erkennbaren Ereignis
Zurückzufuhren. Die Anstrengung
seiner Vernunft kann ihm in seiner
Vorstellung des Lebens sehr gut helfen.
Er kann, indem er es zeichnet, das
Gesetz eines Individuums aufsuchen,
ohne deshalb weder in Abstraktion
noch in Schematismus zu verfallen.
Seine Geduld, sein Instinkt für die
Widerstände werden hier die größte
Wichtigkeit haben. Aber wenn er
damit ausgestattet ist und gleichzeitig
mit dem, was ich die Fähigkeit des
Zusammen Wachsens mit den Intuitionen
nannte, so kann er ein Werk schaffen,
das, selbst an Tiefe, alles übertrifft,
was das abenteuerliche Genie Dosto¬
jewskis hat begründen können. Denn
in der Psychologie — ich muß es noch
einmal sagen — braucht man wahr¬
haftige Tiefe: das ist die, welche man
erforscht . 44
In der Londoner „Nation 44 wird
vom Unterschied zwischen englischer
und französischer Wissenschaft ge¬
sprochen: „Fast ebenso sehr wie der
Unterschied zwischen englischer und
französischer Literatur wird der zwi¬
schen englischer und französischer
Wissenschaft bemerkt. Der englische
wissenschaftliche Geist ist im Ganzen in¬
tuitiv, beweglich und sehr geneigt zu
einer anschaulichen Darstellung von
besonders praktischer Art. Der fran¬
zösische wissenschaftliche Geist liebt
es andererseits, die verwickelte Realitär
zu so wenig wie möglichen Begriffen
zu vereinfachen und dann ein unfehl¬
bares logisches Gebäude zu errichten.
Maxwell war ein hervorragender Typus
des großen englischen Wissenschaftlers,
aber wir haben die Autorität Poincares,
der sagte, daß die große „Abhandlung
über Elektrizität und Magnetismus 44
im französichen Leser Gefühle des
Mißtrauens erwecke. Weit entfernt,
einen unfehlbaren logischen Bau vor¬
zufinden, meint er, daß verschiedene
Teile von verschiedenen Gesichts¬
punkten her beschrieben sind, und daß
diese Gesichtspunkte selbst miteinander
unvereinbar sind. Auch Maxwells Vor¬
liebe für riesig komplizierte mecha¬
nische Modelle, die dazu dienen sollen,
gewisse verwickelte Gleichungen zu
445
Anmerkungen
veranschaulichen, ist für den franzö¬
sischen Leser ein Stein des Anstoßes.
Was sollen solche Modelle beweisen?
. . . Aber diese Vorliebe für Modelle
ist charakteristisch für die englische
Schule, und es ist charakteristisch, daß
kontinentale Physiker nie fähig waren,
das zu verstehen. Sie ist zweifellos
ein Zeichen der englischen Abneigung,
außerhalb der Erfahrung zu forschen.
Der englische Wissenschaftler vertraut
der Logik weit weniger als der Er¬
fahrung. Der Franzose hat viel weniger
Achtung vor der Erfahrung. Er ist
gewillt, in einer Weise zu verein¬
fachen, welche dem englischen Geist
fast unerträglich ist: die Welt an¬
zusehen als eine Sammlung von kleinen
Billardkugeln mit Kräften, die sich um¬
gekehrt zum Quadrat der Entfernung
verändern". R. K.
Carl Ludwig Schleich f
E ine Gesellschaft von Gelehrten und
Künstlern unterhielt sich einst über
Voltaire. „Welch ein großer Mann
ist das", meinte der Mathematiker.
„Schade nur, daß er von Mathematik
wenig versteht.“ „Welch ein herr¬
licher Geist", meinte der Historiker.
„Schade nur, daß seine historischen
Schriften nichts taugen." Der Reihe
nach stellten der Dramatiker, der Phi¬
losoph, der Lyriker fest, daß Voltaire
ein großer Mann sei, nur leider auf
dramatischem, philosophischem, lyri¬
schem Gebiete wenig geleistet habe.
An diese Anekdote aus dem kleinen
Ploetz wurde man oft erinnert, wenn
man Ärzte, Literaten und Musiker
über Carl Ludwig Schleich befragte.
Jeder wies ihn mit der Gebärde des
Fach-Titanen aus dem eigenen Arbeits¬
gebiet, um sofort zu betonen, daß
Schleich jenseits der Ressortsgrenzen
eine verehrungswürdige Persönlichkeit
sei. Allen, die nur Marionetten ihrer
Begabung sind, allen Monomanen der
Arbeitsteilung mußte der faustische
Wille, die dämonische Kraft, die im
bürgerlichen Leben Geheimrat Schleich
hieß, unheimlich sein. Er war nun ein¬
mal kein Spezialist, der bienenfleißig
die Parzelle beackert, auf die ihn Stu¬
dium und erster Erfolg geführt. Er
war ein Souverän mit allem Zauber
und mit allen Launen des Herrschers.
Sein Herrschaftsgebiet war das Uni¬
versum.
Dieser Polyhistor war ein Aktivist
lange vor Erfindung des Wortes. Das
Leben dieses schwer an preußische
Disziplin zu gewöhnenden Chefarztes
war ein pausenloses Wirken. Nulla
dies sine linea. Ob der „jeweilige
Stand der Wissenschaft“, den des Stu¬
denten Schleich Zechgenosse Gottfried
Keller so glücklich verspottet hat, alle
Theorien des Forschers zögernd oder
garnicht gebilligt hat, schiert uns heute
nicht. Was die Zunft ihm angetan,
er hat es ihr reichlich vergolten. Denn
dieser Pommer war ein Kämpfer ohne
Furcht und Tadel. Selbst der Dumm¬
heit, an die sich die Götter nicht wa¬
gen, warf dieser tapfere Medizinmann
den Fehdehandschuh ins breite Gesicht.
Der gütige, liebenswürdige Gelehrte
konnte hassen wie Bismarck und er¬
littenes Unrecht mit der Intensität
eines Michael Kohlhaas empfinden.
Als Schleich alt wurde, schenkten
ihm die Olympischen eine zweite Ju¬
gend. In den drei letzten Jahren hat
er außer seinen Lebenserinnerungen
zahlreiche kleine Schriften veröffent¬
licht, die meist Wegweber in uner¬
forschtes Gelände der Wissenschaft
sind. Schleich war, wie alle wahrhaft
produktiven Naturen, ein großer An¬
reger. Die Phantasie beflügelte sein
Wbsen, die Intuition war Herold sei¬
ner Erkenntnis. Dieser Professor war
in Wahrheit ein Bekenner, ein wehr¬
hafter Streiter im ewigen Krieg gegen
Herzensträgheit und Sattheit der Ein¬
gesessenen. Allen lebendigen Kräften
war Schleich ein guter Kamerad. In
44 6' Anmerkungen
seinen Freanden sah er die Welt. Mit
Strindberg hat er getollt, mit Dehmel
gegrübelt, er durfte sich verschwenden,
denn er war ein Begnadeter, ein Rei¬
cher. Der Becher der Welt — ihm
wurde er niemals schal.
Das Beste, was sich über ihn sagen
läßt, stammt von ihm selbst. Einst,
zu mitternächtlicher Stunde, im Kreis
der Getreuen, sprach er mehr zur
eigenen Seele als zu den wein frohen
Freunden: „Wozu trinke ich eigent¬
lich? Ich bin doch sowieso schon im¬
mer berauscht.“ Wirklich, er war
immer berauscht vom ewig strömen¬
den Nektar des Seins, vom diony¬
sischen Trunk des eigenen Wesens.
Ob der Vielseitige ein Genie war?
Die übernächste Generation mag’s re¬
gistrieren. Sicher ist, daß er — im
Sprachgebrauch einer Zeit, die blüten¬
frischer war als unser papiemes Sä-
kulum — ein genialischer Mensch war,
ein seltener Wurf der Natur. Er war
kein Schemen, er war Fleisch und
Blut. Er war kein Homunkulus, er
war Mensch. Er war kein Buch, er
war Leben.
Viele haben ihn bekämpft, viele
haben ihn verehrt; geliebt haben ihn,
glaube ich, sogar seine Feinde.
Paul Mayer
Alt-Spanien
ln einem reichen und schönen Buche
-■•legt August L. Mayer, dem wir
schon manchen wertvollen Beitrag zur
Kenntnis spanischer Kunst verdanken,
spanische Architektur und spanisches
Kunstgewerbe vor uns hin (Alt-Spanien,
mit 3 jo Abbildungen. 1921. Delphin-
Verlag, München). Das Buch ist als
dritter Band jener kurz vor dem Kriege
begonnenen Serie „Architektur und
Runstgewerbe des Auslands“ zu be¬
trachten, in der „Alt-Holland“ und
„AJt-Dänemark“ vorangingen.
Mit einer merkwürdigen, faszi¬
nierenden Fremdheit steht die spa¬
nische Baukunst aus den Abbildungen
vor uns auf: kompliziert, widerspruchs¬
voll, überraschend, selten überzeugend;
in ihrem eigensten Wesen schwer zu
fassen; mit vielen Fäden deutlich und
eng an Europa geknüpft, französischen,
italienischen, deutschen, holländischen
Einfluß, ja französische, italienische,
deutsche und holländische Einfuhr
empfangend, $0 daß die Formen der
europäischen Gotik, der europäischen
Renaissance herrschen — und trotz¬
dem unter diesen Formen in einem
Geiste arbeitend, der fremd bleibt,
der etwas anderes will, der aber nicht
zum klaren Ausdruck seines Willens
kommt. Die Formengewalt scheint nur
eben soweit zu reichen, um jenes
Element des Fremden in die allge¬
mein-europäischen Bestandteile zu tra¬
gen, das heißt: sich nicht ersticken
zu lassen. Aber zur schöpferischen,
architektonischen Phantasie vermag sie
sich selten zu erheben.
Man kann vielleicht dieses immer
wieder spürbare Element unter der
europäischen Form als ein hart klirren¬
des Rittertum bezeichnen. „Männlich“
nennt August L. Mayer nicht nur die
spanische Glaskunst, sondern das ge¬
samte Kunstgewerbe des Landes. Ich
meine aber, auch die Architektur ist
männlich, ja soldatisch. In den ein¬
facheren, durchsichtigeren Gebilden
des Kunstgewerbe ist dieser Zug frei¬
lich besser zu greifen, und deshalb
hätte Mayer vielleicht mit Nutzen
dem Beispiel des Holland-Bandes fol¬
gen können, der mit den Stühlen,
Truhen usw. beginnt und über Türen,
Portale, Tore, Häuser bis zum Stadt¬
bilde weiterschreitet. Gerade die Möbel
sind auch für Spanien außerordentlich
instruktiv, z. B. der Feldtisch aus dem
Besitze des Marques de Santillana zu
Madrid. Der knappe Kriegs- und Zelt¬
charakter dieses Stückes steckt auch
unter den reichen und selbst den
luxuriösen Stühlen und Sesseln, deren
Anmerkungen 447
Beine auf den Boden stoßen wie ein
herrischer Degen. Die Neigung zum
Spiel ist auffallend gering. Wohl liebt
man Aufwand und Pracht, aber auch
die Pracht hat das Kalte, Fremde,
Pflichtgemäße, entbehrt der Naivität.
Jene Techniken, in denen Spanier das
Vollendetste geleistet haben, sind sehr
bezeichnend die am engsten zum
Waffenwesen in Beziehung stehen¬
den: Schmiedekunst und Lederarbeit.
Leider enthält unser Buch keine
Rüstungen und Waffen. — Von den
Bauten sind am eindrucksvollsten die
alten Festungen . . . wie la Conca, das
Castillo Manzanares el Real, das Casdllo
San Servando bei Toledo oder jenes
zu Alcala de Guadeira. Und sucht
man unter den Rathäusern, Kirchen,
Hospitälern, Adelshäusem usw. der
späteren Zeit nach jenen, die einem
eigenen spanischen Wesen am näch¬
sten kämen, so findet man Bauten,
die eine strenge, herbe, wie aus mäch¬
tigen Platten gefugte Front als einen
harten, fast rasselnden Panzer über
sich nehmen — wie die Casa del Calbito
zu Santiago de Compostella (1758)
oder — eines der interessantesten
Werke — die Fassade von Santa Clara
ebendort (erste Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts). Man spricht hier sehr rich¬
tig von einem „Plattenstil“, der na¬
türlich nicht mit dem ungefähr der
Frührenaissance entsprechenden „estilo
plateresco“ zu verwechseln ist. Das
Charakteristische der genannten Front
liegt aber nicht allein im Plattenstil,
sondern ebensosehr in dem mächtig
geschienten Eckpfeiler. Das ist ein
Gebilde, das sich ähnlich wiederfindet
zum Beispiel in dem Palacio de Duque
della Victoria in Logrono (18. Jahr¬
hundert).
Ein besonderes Verdienst des Buches
sind die köstlichen Aufnahmen mau¬
rischer Architektur (Granada, Cdrdoba).
In ihrer reinen, klaren und wunder¬
voll reichen Einfachheit sind diese
Bauten wohl das absolute Gegenstück
zu den spanischen. Niemand hat sich
mit einem feineren Verstehen in das
Werk des Aben Cencid vertieft als
Karl Ernst Osthaus in dem Al¬
hambra-Kapitel seiner „Grundzüge der
Stilentwicklung“. (Hagen 1918, Folk-
wang-Verlag.) Dieses Buch des sel¬
tenen Mannes, das eine so unmittel¬
bare und großgesehene Darstellung
künstlerischer Zusammenhänge ist, be¬
weist, wie verschieden die gleichen
Dinge aussehen, dem, der sie nur
vom Schreibtisch aus kennen darf,
und dem, der sie auf seinen Reisen
sah. Eine kostbare Ergänzung der bis¬
herigen Spanien-Literatur, ja eine
grundlegende Erweiterung unseres Wis¬
sens um dieses Land ist das Buch
Kurt Hielschers „Das unbekannte
Spanien“ (mit 304 Abbildungen. Emst
Wasmuth Verlag Berlin 1911), das
einen unerhörten Schatz von Land¬
schaften, Volkstypen, Bauten, Innen¬
räumen usw. bringt. Die Abbildungen
beruhen auf Aufnahmen des Verfas¬
sers, den man ohne Übertreibung als
vorbildlichen Photographen bezeichnen
darf. Er geht nicht auf malerische
Wirkungen aus, sondern auf letzte
dokumentarische Klarheit und Exakt¬
heit. Bilder wie der Stierkampf auf
dem kleinen engen Marktplatz in Po-
sages sind von wilder Schönheit und
einer merkwürdigen Phantastik.
Adolf Behne
La Fontaine und Pierre Mille
Tn einem kürzlich erschienenen Aufsatz
* über die deutsch-französischen Be¬
ziehungen zitiert Thomas Mann den
sehr komischen Ausspruch des Pariser
Journalisten Mille: Frankreich sei ent¬
schlossen, gegenüber deutscher Mystik
und deutschem Militarismus „solide¬
ment rationaliste et classique“ zu
bleiben.
Ich denke, daß Pierre Mille nichts
gegen La Fontaine einzuwenden hat;
44 S Anmerkungen
der ist doch wohl rationalistisch und
klassisch genug. Man könnte auch
Rabelais oder Racine oder Voltaire
nennen; ich wähle La Fontaine, weil er
in Deutschland die gleiche Lesebuch¬
popularität besitzt wie in Frankreich,
und weil, bei allem Respekt vor
Sainte-Beuve, Taine und Brunetiere,
die liebevollste Arbeit über ihn von
einem Deutschen stammt: von Voßler
nämlich*. Sie erschien 1919, ist also
wohl im Kriege entstanden. Welch er¬
staunliches Schauspiel: mitten im här¬
testen Kampf schreibt ein Münchener
Barbar ein Buch über einen höchst
französischen Franzosen, nicht etwa
um zu zeigen, daß er nichts taugt,
oder daß er alles gestohlen hat, sondern
indem er mit echtester Freundschaft
der glücklichen Vollendung seines
Wesens nachgeht. Alles: La Fontaines
kluge und spitze Anmut, seine leichte
und heitere Melancholie, seine spröde
und bewegliche Form ist hier ein-
gefangen und ausgedrückt; eine sehr
schwierige und nur mit feinstem Takt
zu lösende Aufgabe, wenn man die
wechselnde und nie recht greifbare
Kunst dieses Dichters bedenkt, deren
ganzer Reiz in Duft und Farbe liegt.
Und man ist versucht zu sagen: es
mußte ein Deutscher kommen, um in
der Hefe von La Fontaines Gemüt
einen Einsiedler und verträumten Edel¬
anarchisten zu finden, und um hinter
vielfältiger Schwäche, Gespaltenheit,
Launenhaftigkeit die unbeirrte dich¬
terische Seele zu erkennen.
Wir armen Deutschen! Wir lesen
mit Entzücken die Verse dieses
klassischen Franzosen; und wenn wir
* Kaii Voßler, La Fontaine und sein Fabel¬
werk, Heidelberg, 1919.
die allerschönsten und berühmtesten
hören (sur les humides bords des
royaumes du vent), so zittern unsere
anarchisch-militaristischen Herzen; zu
solcher Vollendung erheben wir sehn¬
süchtig unsere Arme, main tendue
sans rancune, und La Fontaine, weniger
grausam als Pierre Mille, empfingt
uns mit gastfreundlichem Lächeln.
Erich Auerbach
Notiz
I n der „Chronik Werenwags“ unseres
Februarheftes wurde davon ge¬
sprochen, daß der Professor Eugen
Lerch in der rechtsstehenden „Mün¬
chener Zeitung“ einigen deutschen
Schriftstellern, die Arbeiten über heu¬
rige französische Dichter wie Peguy,
Rolland, Claudel veröffentlicht haben,
dies als „Anbiederung mit der Neger¬
nation“ (ein für einen Romanisten
doppelt überraschender Ausdruck) an-
rechnete, hingegen in der linker stehen¬
den „Frankfurter Zeitung“ den Kampf
gegen die französische Literatur öffent¬
lich brandmarkt. Diese Meinungsver¬
schiedenheit gab Anlaß zu einigen
kritischen Sätzen.
Herr Professor Lerch legt Wert
auf die Feststellung, daß sich sein
Aufratz in der „Münchener Zeitung“
(der übrigens schon am 9. Juni 1920
erschienen ist) gegen eine Beurteilung
lebender, zum Teil deutschfeind¬
licher Franzosen wandte, die er als
eine Überschätzung empfindet — sein
Aufsatz in der „Frankfurter Zeitung“
aber gegen eine Herabwürdigung der
großen Toten Frankreichs (Moliere
usw.).
R. K.
Verantwortlich fUr die Redaktion: Dr. Rudolf Kayser.
Verlag von S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig.
INTERNATIONALE UND EUROPÄERTUM
von
RUDOLF PANNWITZ
I
D ie nachfolgenden Betrachtungen und Gedanken über Internationale
und Europäertum möchten die Grundlinien eines deutschen Kultur-
Eüropäismus vorzeichnen. Sie sind darum ihrem Wesen nach unpoli¬
tisch. Wo sie aber das Gebiet des Politischen berühren, da betreten
sie es nur als ein unumgängliches Überganggebiet. Darum sei ihnen
auch erlaubt, so ferne wie sie sich von allem Streite aller Parteien
halten, mit größerer Freiheit Überzeugungen und Ergebnisse auszu¬
sprechen, die nur, wdnn mit ihrer Hilfe Massen gegen Massen bewegt
werden sollten, verletzen könnten. Wer verantwortlich und leidenschaft¬
lich auf eine künftige Kultur hinwirkt und in dieser den Besten seines
Volkes den vielleicht ersten Platz sucht, der darf nicht vor alten noch
neuen Gefühlswerten, wofern er nur sie zu ehren weiß, in öffent¬
licher Rede haltmachen. Und so sei denn gleich zu Beginne aus¬
gesprochen, daß diese Betrachtungen und Gedanken einer Gesinnung
entspringen, die, bis in jede Folgerung hinein, die Politik, wo sie nicht
eine reine Dienerin der Kultur ist — und wo 'koimte sie das sein! —
der Kultur unterzuordnen, ja aufzuopfem bereit ist. So erscheint ihr
jeder Zustand eines Volkes, jeglicher Staat, die Richtung einer Ent¬
wicklung, Erfolg aller Art nur dann erhaltens- und befördemswert,
wenn durch sie nicht die Aussicht auf eine große Kultur verringert wird.
Eine solche Gesinnung hätte man früher international genannt. In
diesem Fälle aber ist sie der Ausdruck von Ideen und Idealen, die ge¬
rade zu denen, die sich international nannten und noch nennen, im
Gegensätze stehn. Es handelt sich um einen konkreten Europäismus
in einem schöpferischen Sinne. International heißt wörtlich: zwischen
den Völkern. Eben dies hat es bedeutet und bedeutet es noch. Es
leuchtet ein, daß etwas, was zwischen den Völkern sich befindet, sie
wohl in eine gemeinsame Atmosphäre tauchen und hüllen, aber nicht
*9
450 Rudolf Panmoitz, Internationale und Europäertum
ihre organischen Kerne miteinander verbinden und sie so zu einem
Org anism us höherer Stufe aufbauen kann. Die internationalen Be¬
strebungen haben wirklich genau jenes bis zu einem Grade geleistet,
aber dieses überhaupt nicht vermocht. Jenes mag nützlich sein, dieses
wird täglich nötiger. Diese Erkenntnis formte — schon 1914 — den
Begriff des Übernationalen. Sie hatte das sichere Bewußtsein, damit
nichts Bedenklich-Neues zu beginnen, sondern etwas Ewiges zu festigen.
Wir Deutschen brauchen nur um hundertundfünfzig Jahre zurückzu¬
blicken, so finden wir in Herders eindeutigem Lebenswerke die uner¬
meßlich fruchtbare Leistung eines übernationalen Geistes. Dies ist vor¬
bereitende Synthese von Naturen und Kulturen. Cf Goethes Person
ward dasselbe kristallinisch als individuale Natur und Kultur, er wurde
das Beispiel und Vorbild eines deutschen Kultureuropäismus. Weniger
bekannt ist, daß auch der Größte der Slawen, von dem man es kaum
annehmen würde, nämlich Dostojewski, den gleichen Weg beschritten
hat. In seiner mehr berühmten als begriffenen Puschkinrede spricht er
dem Küssen eine schöpferische Liebe zu, die imstande sei, alle anderen
Völker jedes aus seinem eignen Geiste zu verstehen und zu vollenden,
so daß er berufen sei, den Dom der Dome Europa tatsächlich aufzu¬
bauen. Dies ist im genauesten Sinne des Wortes übernational gefühlt.
Hier aber drängt sich die Frage auf, ob solche übernationale Ge¬
sinnung einen Grund oder ein Recht habe, sich auf Europa zu be¬
grenzen und in einen Europäismus einzuschließen. Logisch gewiß nicht,
aber real. Es handelt sich ja nicht um eine die Menschheit umfassende
Religion, sondern um etwas, was mit vorhandenen Kräften in ge¬
gebenen Lagen geleistet werden soll. Noch vor kurzem und vielleicht
auch heute erwidert man in einem Atemzuge dem Bekenner eines
konkreten Europäertums, Europa sei viel mehr als sich verwirklichen
lasse und Amerika dürfe doch nicht ausgeschlossen werden. Selbst¬
verständlich ist ein Europa unmöglich, bevor es genügend viele, klare,
starke, unter sich einige Europäer gibt — Napoleon allein hat es nicht
zu gründen vermocht Selbstverständlich kann aus dem heutigen Europa,
das vielleicht mehr zu Amerika als Amerika zu ihm gehört, Amerika
nicht ausgeschlossen werden. Beides sagt das eine, daß es ein Europa
noch nicht gibt, und so bleibt erlaubt, darauf, daß es entstehe, hin¬
zuwirken, wofern eine konkrete und realisierbare Idee leitend ist
Bisher sind die Begriffe Internationale und Europäertum ineinander-
geschwommen. Dies ist auf keinen Fall richtig. Denn die Versuche
der geistigen oder weltlichen Erbauung Europas waren durchaus nicht
Rudolf Panmoitz, Internationale und Europäertum 451
internationalen Charakters, und die internationalen Bewegungen in
Europa dienten allgemeinen und menschheitlichen Idealen und hatten
wo überhaupt eine, doch nie eine bestimmte Vorstellung von Europa.
Also die Geschichte selber hat Internationale und Europäertum scharf
unterschieden. Es ist unredlich und sehr schädlich, wenn neuerdings
dies verwischt werden soll, weil Gescheiterte der Internationale sich
plötzlich besinnen, daß sie und ihre Ahnen ja doch auch schon von
Europa geträumt haben. Auf der anderen Seite darf das Europäertum
nicht eng und politisch gefaßt werden. Es muß die Summe und die
Reife einer langen Kultur bedeuten und eine Gesinnung in die Zu¬
kunft, die daraus folgt und darüber hinausgeht Es muß ein Ende
und ein Anfang sein, eine geschichtliche Lage, die zur Entscheidung
zwingend uns innerlich ergriffen hat, lebendiges Bewußtsein und schaf¬
fender Wille geworden ist. Auch ein politisches Imperium Europaeum
würde weder auf den Erdteil sich beschränken noch eine Kulturgrenze
ziehn, es würde nur seinen ganzen Schwerpunkt auf dem eigenen Kon¬
tinente haben und auch alle Meere nur befahren, um diesen aufzubauen.
II
An dieser Stelle der Betrachtungen über Internationale und Europäer¬
tum wird es unvermeidlich, die Gegenstände der Politik zu behandeln,
und zwar deswegen, weil die Politik ihnen nicht genugtut, sie selber
aber bestimmend werden für jede Kultur oder Unkultur. Ein Krieg,
der Europa noch mehr zerreißt und schwächt, als es schon zerrissen
und geschwächt ist, soll sich nicht wiederholen — Imperialismus und
Revolutionen sollen verhütet, ein gemeinsamer Aufbau soll geleistet
werden — die alten Formen, auch die liberalen und sozialistischen,
auch die Demokratie, der Parlamentarismus, der mechanistische Zukunfts¬
staat, sind in unserer innem und äußern Welt überlebt, wenngleich
nicht überwunden, neue, geistigere, wirklichere müssen geschaffen
werden — das soziale und das ökonomische Problem bedürfen einer
allgemeinen ob auch nicht überall der gleichen Lösung — eine Frie-
dung der Klassen und eine Blüte der Wirtschaftlichkeit ist die Voraus¬
setzung für das Gedeihen jedes einzelnen: über dieses sind sich heute
die Bewohner Europas wohl einig, soweit sie aus einer geschichtlichen
Gegenwart eine geschichtliche Zukunft fördernd entwickeln und nicht
Ideale oder Interessen blind durchsetzen möchten.
Für den tiefer Denkenden und Wollenden liegt in solchen klein-
und großbürgerlichen Wünschen nichts Würdiges, und viele würden
45 2 Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'dertum
es vorziehn, wenn dieser Scheinkosmos zum Chaos sich auflöstc und
endlich einmal die Elemente frei würden. Dagegen ist nichts zu sagen,
aber auch nichts dafür. Wer vollkommen hoffnunglos ist, daß in
absehbarer Frist aus Menschen Menschen gemacht werden können und
wem die innere Verwandlung durchaus die Hauptsache ist, wer das
heutige Geschlecht für zu schwach halt durch Übermächte und Er¬
eignisse anders als berauscht, zerstoßen und erschöpft zu werden: dem
ist die Herstellung eines äußeren Rahmens, worin alles Aufgeregte und
doch nicht Leidenschaftliche sich beruhige, eine Sache, die, ohne über¬
schätzt zu werden, ordentlich geleistet werden muß, ein bescheidener
Dienst, zu dem auch die Besten nicht zu gut, eher noch auch sie noch
nicht tauglich sind. Eine Menschheit — nicht nur Gesellschaft — die,
auf die Nieren geprüft, fast ausschließlich bürgerlich ist, fühlt, denkt
und will — alles Revolutionäre läuft auf Massenwohlfahrt hinaus und
die individuale Opposition bleibt ein Paroxysmus der Bürgerlichkeit,
Propheten aber sind Isolierte —: eine solche Menschheit hat kein an¬
ständiges Recht und nicht einmal die Fähigkeit, sich gegen die Bürger¬
lichkeit zu kehren, sondern die einzige Aufgabe, eine nicht verächt¬
liche Bürgerlichkeit zu verwirklichen. Nicht außen, sondern innen
mag der Einzelne sich darüber erhöhen. Der Weise wird es nicht
unter seiner Höhe finden, den Zeitgenossen zur Verwirklichung ihres
Möglichen zu helfen, der Religiöse nicht unter seiner Berufung, das
Geschichtlich-Gebotene zu heiligen.
Um einer bürgerlichen Gesellschaft in Europa das Dasein zu er¬
halten und zu erheben, bedarf es eines geeinigten europäischen Staaten-
bündes. Die Lage des englischen Empire einerseits, die Lage des deut¬
schen Volkes anderseits werden dies am besten verdeutlichen.
Die Weitsichtigen in England rechnen bekanntlich seit langem mit
einer Lebensgefahr des englischen Empire und haben nur gegen den
welthändlerischen Liberalismus nie sich durchsetzen können. Heute
muß jeder in Europa die Folgen eines Verlustes der englischen Domi¬
nions für England und Europa ins Auge fassen. Wenn nicht eine
entscheidende politische Wendung geschieht oder schon geschehen ist,
so ist das europäische Weltreich nicht mehr zu retten. Ob nämlich
in einem kommenden amerikanisch-japanischen Kriege Japan oder
Amerika siege (wer klar blickt, weiß, wer siegen wird), und die
Hochfinanz-Weltkonferenz von Washington kann das weltgeschichtlich
Unumgängliche höchstens hinausschieben: der Sieger wird es sich
nicht entgehen lassen, die nach Selbständigkeit strebenden Dominions
Rudolf Pannwitz , Internationale und Europ'aertum 455
sich eng zu verbinden und damit ein europäisches Weltsystem end-
gfiltig unmöglich zu machen. Eine Verbindung Englands oder
Europas mit dem Sieger vor oder nach seinem Siege würde daran
nichts Wesentliches ändern. Die Grundfehler nämlich, die an der Zer¬
setzung des englischen Empire die Schuld tragen, sind durch nichts
anderes zu tilgen als dadurch, daß in letzter Stunde noch das Rich¬
tige ganz getan werde. So riesige Gebilde wie diese ehemaligen Kolo¬
nien ließen sich auf die Dauer nicht als Kolonien verwalten, sie mußten
nebengeordnete Bestandteile eines Weltreiches werden. Man konnte
sie nur dann fest in der Hand behalten, wenn, zumal bei der Zunahme
ihrer Intelligenz und der Abnahme der englischen Intelligenz, man sie
sich selbst verwalten und nur außen- und handelspolitisch mit dem
Mutterlande enger verbunden ließ. Man mußte sie vor allem mit un¬
löslichen Knüpfungen der Produktion und des Handels mit England
und über England hin mit Europa verbinden, mit allem, was sie pro¬
duzieren oder produzieren können, sich von ihnen versorgen lassen.
Das heißt in Kürze: man mußte nicht alte Kolonien besitzen, sondern
ein modernes Imperium gründen. Zuletzt durfte man auch nicht das
verhängnisvolle Beispiel geben, daß Europäer gegen Europäer bis zur
Vernichtung kämpften und die eine Partei sich überseeischer Hilfe be¬
diente. Danach nämlich kann kein Asiat mehr begreifen — und mit
Recht — was ihn an England oder Europa binde. Die Gefahr wäre
noch geringer, wenn Asien Asien sein wollte und wenn es sich um
Asien allein handelte. Aber das, woran wir zugrunde gegangen sind,
will Asien jetzt als gleichberechtigt, gleichaufgeklärt sich gewinnen,
und auch für Afrikaner und sogenannte Wilde, zumal wenn man sie
als Soldaten der einen Europäer gegen die andern Europäer verwendet
hat, wird es sehr leicht und rasch begreiflich, was ein Maschinen¬
gewehr, eine Selbstbestimmung und ein Dollar ist Jetzt ist die un¬
glückliche, verworrene Lage, daß Amerika, welches ursprünglich durch
Auswanderung und Losreißung von Europa entstand, darauf angewiesen
scheint entweder Europa durch Überschüttung mit Produkten und Krediten
von sich abhängig zu machen oder es durch Unterstützung des jeweilig
etwas schwächeren Teiles, sowie England ehemals den Kontinent in
dem sogenannten „Gleichgewichte“, das keinen Aufbau zuläßt zu er¬
halten. So aber gelangt weder Amerika zu der einzig möglichen Lö¬
sung seiner Krise, zu einem neuen inneren Aufbau seines überindustra-
lisierten und brachen Landes, noch Europa zu dem Entsprechenden,
der Wiederherstellung und Ordnung seiner Produktion und seines
!
454 Rudolf Panmvitz, Internationale und Europaertum
Handels. Jetzt wähnt Frankreich, Amerika gegen England benutzen zu
können, und Deutschland, durch Amerika wieder weltkonkurrenzfähig
zu werden — und man wird sich allerseits täuschen, nicht weniger,
als man sich mit Rußland getäuscht hat. Erst wenn wir als Europa
konsolidiert sind, werden wir unser Verhältnis zu Amerika bestimmen
können und in diesem Verhältnisse selbständig genug bleiben können.
Solange wir aber als Europa nicht konsolidiert sind, könnte auch
selbstlosere überseeische Hilfe uns nur auf halten, das Notwendige selbst
zu leisten. Und was wird, wenn Amerika in einen Krieg verwickelt
wird, wenn Amerika, auch sollte es nicht erliegen, alle Kräfte auf sich
selbst wenden muß? Der Dollar als solcher ist wie jede Valuta als
solche wertlos, dagegen ein sich selbst versorgendes, in sich verkettetes
modernes Imperium eine fast vollständige Garantie gegen alle Welt¬
konstellationen bedeutet. Die letzten Monate haben deutlich erwiesen,
daß — schon vor Jahren man all das hätte einsehen sollen.
Der Untergang Österreich-Ungarns sollte alle, denen am englischen
Empire gelegen ist, bedenklich machen. Auch in Österreich-Ungarn
war das Problem, unter einem seit alters herrschenden Volke eine Viel¬
heit von Völkern und Staaten in einem Reiche zusammenzuhalten,
auch da verstand man es nicht, Autonomie und Zentralismus jedes an
der rechten Stelle walten zu lassen noch auch einen gemeinsamen un¬
zerstörbaren Wirtschaftkörper aufzubauen. Auch mit Österreich-Ungarn
verging etwas, das trotzdem unzerstörbar weil natürlich notwendig, ja
geschichtlich ewig war und auf dessen lebendige Kräfte und Formen
gerade die, welche Mitteleuropa zu rekonstruieren gewillt und ge¬
zwungen sind, mehr und mehr zurückgreifen müssen, genau so wie
unter seinen eingewurzelten Fehlern alle, die je zu ihm gehörten, heute
wie damals kranken und leiden. Was Österreich-Ungarn geleistet hat
und was cs nicht geleistet hat — man möge beides gegeneinander
noch so verschieden begrenzen — dieses beide lehrt eines und dasselbe:
daß im kleinen wie im großen ein statisches oder stabiles System
nicht auf nationaler noch internationaler, sondern nur auf übernatio¬
naler Grundlage bestehen kann; daß Zentralismus und Autonomie nicht
als Gegensätze einander bestreiten dürfen, sondern als Gegenpole Zu¬
sammenwirken müssen; daß nicht Weltkoalitionen und Welthandel,
sondern nur ein geschlossenes Reich, ein geographisches, historisches
und wirtschaftliches Kontinuum einige Bürgschaft auf Bestand gibt.
Also Österreich-Ungams Untergang sollte der Übergang zur Erhaltung
von Englands Empire werden. Mit Faktoren wie Canada, Australien
Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'äertum 455
(das eine in Amerika, das andre zwischen Japan und Amerika gelegen)
ist auf die Dauer nicht zu rechnen, wenn man historisch denken kann,
und selbst Indien ist auch günstigen Falles nicht sicher. Dagegen wäre
ein Verlust von Vorderasien und Afrika, selbst abgesehen von der
wirtschaftlichen Katastrophe, für Europa der Verlust seiner Macht¬
stellung und damit seiner Sicherheit in der Welt: es wäre dann das
Mittelmeer nicht mehr ein Binnensee, sondern Europa wäre zur See
und zu Lande, wirtschaftlich, politisch und strategisch, ein Spielball
und etwa auch Schlachtfeld außereuropäischer Weltimperialismen —
noch nicht heute und morgen, aber sicherlich dann, wann es an der
Reihe ist. Genau das, was Amerika in seiner großen Zeit getan hat,
muß Europa heute, wo die Gewichte sich verschoben haben, tun, zu
seiner Stärkung und zu seinem Schutze: sich isolieren, um sich zu
konsolidieren. Das bedeutet nicht, daß es mit Amerika oder Japan
freundschaftliche und vertragliche Beziehungen abbreche, sondern, daß
nicht fortgesetzt und wechselnd ein Teil gegen den andern sich auf
Amerika oder Japan stütze, wie einst Athen und Sparta auf Persien,
anstatt daß man miteinander eins werde, um dann gemeinsam das
Verhältnis nach außen zu bestimmen und hierbei selber seine Forde¬
rungen und Bedingungen stellen zu können. Wir können nicht nur
nicht Paraguay und Uruguay, sondern nicht einmal Japan und Amerika
in unsere „inneren“, das heißt intereuropäischen Angelegenheiten ein-
reden lassen, und wir können nicht vor einem vermeintlichen Bunde
aller Völker, das heißt der meisten Staaten, unsere Zwistigkeiten aus¬
tragen oder auch nur aussprechen, wenn wir nicht jede europäische
Würde und das gesamte europäische Interesse frevelhaft verscherzen
und dem Hohne preisgeben wollen. Es handelt sich nicht darum, daß
der Weltverkehr, der Welthandel, die Verbindung mit überseeischen
Weltmächten, das Prinzip internationaler Regelungen aufgegeben und
eine europäische Eigenbrödelei und kulturlose und unmoderne Ab¬
schließung dagegen gesetzt werde, sondern allein darum, daß jenes
nicht alles beherrsche, alles verschlinge und unsere Zukunft zwischen
zwei Weltmeere zerreiße und zerstreue, daß vielmehr jenes in natür¬
liche und sichere Grenzen gefaßt werde, wo es heute anarchisch und
chaotisch wuchert. Es handelt sich auch nicht darum, die sogenannte
private Initiative des Handels und der Produktion auszuschalten, im
Gegenteile darum, sie, die nur noch scheinbar besteht, wiederherzu¬
stellen, indem gegenüber alles zerrüttenden politischen und ökonomischen
Weltvertrustungen ein Weltsystem, unser Weltsystem organisch begründet
45 6 Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ’dertum
wird, so daß es seine Festigkeit nach außen, seine Freiheit nach
innen gewinne und die ihm Zugehörigen imstande seien, nach ihrem
eigenen Willen, nach ihrem verbundenen Willen, und nicht wie in
einem Glücksspiele, Waren und Werte zu geben und zu nehmen, ihre
eigenen Markte und danach den Weltmarkt zu beschicken. In einem
Worte: konzentrische und nicht exzentrische Politik und Wirtschaft.
ffl
Der größere Teil der Internationale, die letzten anderthalb Jahr¬
hunderte „menschlicher Entwicklung“, Ideologen und Ideologien, Inter¬
essen und Interessenten, sind, anständig oder unanständig, jedenfalls
kurzsichtig gegen einen konkreten Europäismus. Es muß zunächst fest¬
gestellt werden, welche Geschichte, welche Zusammensetzung, welche
Beweggründe, welche Überzeugungen und welche Werte die Inter¬
nationale hat.
Das älteste noch wirksame Element der Internationale ist die Römisch-
Katholische Kirche. Sie als Erbin zugleich der Religion Christi und
des Imperiums Roms ist weder durch ihren Geist noch mit ihrer
Macht an ein Volk gebunden. Sie wurde die Mitträgerin jenes mittel¬
alterlichen Reiches, das ein halb übernationaler Versuch zu einem Europa
wenigstens bei den größten der Kaiser immer wieder einmal wurde.
Sie wächst heute, trotz gesunkener Macht, an Einfluß, ohne daß sie
selbst sich erneuert hätte und fast allein aus Gründen der von ihr
unabhängigen Weltlage. Alle revolutionären Bewegungen haben damit,
daß sie die Regierung übernehmen konnten, ihren Zauber verloren
und sich kompromittiert Eine Reaktion folgt historisch-mechanisch.
Der Protestantismus hat sich aufgelöst und seine geistige Entwicklung
hat seine Kirche längst überholt; denn auf den Bahnen, die er lief,
sind die Aufklärung, Kant, die idealistische Metaphysik und Nietzsche
die Tausendmeilen-Zeiger. In dem kriegerischen Zusammenbruch der
alten Welten, wo Interessen und Ideale auf das wildeste sich ver¬
mengten und jede geistige Macht sich prostituierte und kapitulierte,
blieb die Katholische Kirche als einziger überstaatlicher Neutraler übrig,
und wäre sie wirklich so stark oder so weltlich wie man gerne an¬
nimmt, so hätte sie den Frieden vermittelt oder eine neue Ordnung
geschaffen. Aber es darf nicht wundern, wenn in den nächsten Zeiten
unter den Elementen der Internationale sie wieder entschiedener her¬
vortreten wird. Ob sie eine politische Reaktion durchaus befördern
wird, bleibt dabei mehr als zweifelhaft. Sie würde damit ihre Situation,
Rudolf Pannwitz, Internationale und Europaertum 457
daß sie die einzige unabhängige Organisation höherer Werte ist, nur
aufs Spiel setzen, und als die eine von zwei Parteien würde sie
keine dauernde Wirkung haben.
Da Rußland und der Balkan für die Zukunft immer wichtiger
werden, muß daran erinnert werden, daß die ältere christliche Kirche,
die Griechisch-Katholische, nicht international ist und nie international
sein wird. Ihre Schicksale wurden zeitig mit den ost- und südost¬
europäischen Völkern verflochten und ihre und deren Stufe blieb von
der des übrigen Europa getrennt. So ist sie heute schon fast und
wird morgen ganz sein: die historisch-religiöse Verknüpfung der Slawen.
Sie muß und sie wird auch eine Wiedergeburt in Dostojewski erleben,
alsdann wird sie zwischen einer nationalen und einer übernationalen
Kirche wohl schwanken, vielleicht hierhin vielleicht dorthin sich neigen,
nie aber international werden wollen noch können.
Das andere Element der Internationale ist kurz der Protestantismus
zu nennen, wenn man den Begriff im wörtlichen und zugleich weite¬
sten Sinne faßt. Die Aufklärung, die modernen Intellektuellen, der
Sozialismus, die Revolution und jede Art Opposition gegen Staat und
Volk gehören hinzu. — Aus der Aufklärung stammt der ganze nicht
reiche Hausrat von Ideen und Idealen, womit die Internationale vom
Demokratismus bis zum Bolschewismus sich selbst und ihren Anhängern
genügt hat. Fast allein der ausgebaute Gefühlswert des Massenindivi¬
dualismus, verbündet mit einem zum Humanitätprinzip verwässerten
Christentum und Konfuzianismus hat ausgelangt. Hier war nichts
Urbewegung, alles Gegenbewegung, wie notwendig und berechtigt
auch diese war, so unschöpferisch blieb sie. Zum Beispiel begeisterte
man sich, und begeistert sich noch heute, unausgesetzt für die „Demo¬
kratie“, übersah aber, und übersieht noch, daß dies eine monströse
Vorstellung von einem Nonsens ist, daß eine Demokratie entweder
nirgends und niemals es gab, oder sie in jedem Falle etwas vollkommen
Verschiedenes, gar nicht anders als nur äußerlich Vergleichbares war.
Dagegen hat man sek dem siebzehnten Jahrhundert nicht mehr ernst¬
lich über die Republik als die res publica der Römer nachgedacht.
Die Aufklärung leistete politisch ihr Bestes, wo sie, als eine Freiheit
des Geistes, mit Katholisch-Volkhaftem oder Mittelalterlich -Boden¬
ständigem sich band. Es kam da sogar im engeren zu Synthesen, wie
sie Maria Theresia und Friedrich der Große, Napoleon, Freiherr von
Stein, Disraeli, Bismarck auf noch so verschiedene Weise darstellen
— so zum Beispiel in den Verfassung- und Verwaltung-Plänen von
45 8 Rudolf PattnwitZj Internationale und Europ'äertum
Planck. — Die modernen Intellektuellen waren eine Schicht von In¬
dividuen, die sich unabhängig von den alten Ordnungen wußten, und
sowohl in der Sehnsucht wie im Geschmack verbunden fühlten. Sie
selber wissen heute am besten, was sie zuviel und was zu wenig
hatten, und daß sie selbst ebenso wie das, wogegen sie sich auflehnten,
gespenstische Vergangenheit sind. — Daß trotz dieser Unzulänglichkeit
und ihrer Folgen Bedeutung und Wirkung der Internationale nicht zu
unterschätzen sind, zeigt der Sozialismus, der, ideenarm, einer Klasse
dienend, bis vor kurzem nur Opposition und jetzt, als er ans Ruder kam,
unfähig etwas hervorzubringen, ja, selber sich spaltend und ins Wesen¬
lose verlierend, dennoch die letzten Jahrzehnte hin fast überall für
die Massen und für die Geistigen die Richtung «ngab und alles Ge¬
staltlose, in Religion und Staat nicht Einbegriffenc, in sich aufnahm
und organisierte. Er war, nach der Kirche, die erste praktische Ver¬
wirklichung überstaatlicher Machtordnung sowohl in den einzelnen
Staaten wie über sie hinaus, und er, obwohl nicht er allein, hat die
Staaten zersetzt, ja, den Staat selbst zersetzt. Zu gründe gegangen ist
der Sozialismus an der Starrheit, mit der er unwirkliche Ideologien
und allzuwirkliche Interessen scheinbar vereinigte: er vermochte es
weder zu Anfang des Krieges, sein ideelles Fundament zu bewahren,
noch zu Ende des Krieges, als Regierender, das Parteiinteresse daran¬
zugeben. Der Bolschewismus war die letzte Phase, der Todeskrampf
des Sozialismus. Verzweifelte Religiosität und verzweifelte Höllen¬
maschinerie, alle ältesten und alle jüngsten Ohnmächte, fänatisierten
den historischen Augenblick, und das Unwirklichste vom Unwirklichen
wurde überwirklich.
Es besteht noch eine Internationale, die ganz ohne Idee und hohem
Sinn ist, der, aber nahezu alle Zeitgenossen mehr oder weniger ange¬
hören. Es ist die Internationale der ungebundenen Interessen. Sie,
die, um Geld zu machen, stets das Vaterland verraten und das Volk
verdorben hat, die ihre Unternehmungen über Länder und Meere
verzweigt und zuletzt die tatsächliche Herrschaft über alle Staaten er¬
rungen hat. Es wäre fälsch, sie in einem einzelnen Stande zu suchen.
Das ganze Volk, das ganze Vaterland, bei uns und bei allen Nach¬
barn, gehört zu ihr, jeder ist bereit, ihre Gewissenlosigkeit zu teilen
und ihre Früchte zu genießen, und wer dazu nicht bereit ist, der ist
dieselbe Stunde ein Hungernder oder Märtyrer. Sie ist, über persön¬
liche, parteiische, politische Ursprünge und Verschuldung hinaus,
der allgemeine Zustand geworden genau so wie der Schleichhandel
Rudolf PanwwitZj Internationale und Europ'äertum 459
im kleinen. Sie, in der alle Gegenparteien und Gegeninteressen
sich begegnen und wechselnd vereinigen und veruneinigen, bestimmt
auch die Politik der Völker und Staaten, und da sie selbst unstatisch,
ja anarchisch ist und daraus ihre Vorteile zieht, so ist sie die unüber¬
windliche Hinderung an jeder Konsolidierung, auch an der Europas.
Nicht das ist das Unerträgliche, daß in ihr Egoismen und Interessen
herrschen — es haben immer Egoismen und Interessen geherrscht —
sondern daß die herrschenden Egoismen und Interessen der Architektur
der grundlegenden Ordnungen nicht mehr entsprechen, sondern diese
vollständig zersetzt und überwuchert haben, sich beliebig zusammen
ballen und auseinander fallen, ein Chaos. Die politischen Verläufe
zeigen es jeden Tag, daß längst nicht mehr die Staaten selbst, sondern
nur noch zwischenstaatliche Mächte, die jeden einzelnen Staat zersetzt
haben, bestimmend sind. Darum ist vorläufig jede Konsolidierung
logisch unmöglich, darum ist aber auch dieser Zustand nicht allzu
lange mehr haltbar.
Das Beispiel des Völkerbundes hat am deutlichsten gezeigt, wie die
ideellen und die materiellen Elemente der Internationale sich bis zur
Wirkungslosigkeit verschränkten. — Wilson kam mit Idealen und Inter¬
essen, guten Glaubens, beides mit einem durchsetzen zu können, nach
Europa. Sein Völkerbund sollte diesen Idealen und Interessen zugleich
das ohnmächtige und rettungverlangende Europa verpflichten. Er ver¬
gaß das Elementare, daß, wenn ein Völkerbund möglich wäre, die
Völker niemals Staaten gegründet hätten, und ferner, daß ein alle
umfassender Bund, selbst Staatenbund, politisch dasselbe wäre wie physi¬
kalisch eine unendliche Kraft: ein Nonsens. In den griechischen Am-
phiktyonien gab es einen wirklicheren Anfang eines Völkerbundes.
Aber das waren die an einem religiös und patriotisch unersetzlichen
Heiligtum Teilhabenden, die dessen Erhaltung sich gegenseitig und
nach außen hin sicher stellten, die in dessen Bezirk gemeinsame Gelder
steuerten und einen Bankverkehr unterhielten, die auf diesem konkreten
Fundamente Mäßigungen der Kriegführung, den Anfang eines Völker¬
rechtes, aufstellten. Das bedeutet: eine modernisierte hierarchische Form
ermöglichte eine Art Völkerrecht. Unser Völkerrecht konnte nicht
standhalten, da seine hehren Prinzipien oder Fetzen Papiere jedenfalls
nichts Heiliges, sondern alles, was da war, schützen wollten. Wilson
wurde nicht nur betrogen, wie Keynes es darstellt. Man scheint es
nicht bemerkt zu haben, daß Cllmenceau Wilson fast zu seinem Ge-
folgsmanne und den Völkerbund zu seinem eignen Instrumente machen
4 <5 o Rudolf Panmoitz, Internationale und Eurofäertum
konnte, weil er ihm durchaus ehrlich und richtig bis zur vollen Über¬
zeugung begreiflich machte, daß Amerika von Europa viel abhängiger
ist, Amerika auf Europa viel angewiesener ist als umgekehrt. Die nach¬
folgenden Jahre haben diese Tatsache klargestellt Denn die ameri¬
kanischen Republikaner haben nur rhetorisch ihr Desinteressement an
Europa betont, jeden Augenblick, wo die Gefahr einer Selbständigkeit
Europas sich näher zeigte, in Todesangst die Faden angezogen. Sie
haben die gleiche Politik wie die Demokraten gegenüber Europa inne¬
gehalten, nur andere Methoden für praktischer geachtet: nämlich alles
Staatliche hinter das Private versteckt, wie die andern alles Private
hinters Staatliche, wo ja doch wirklich Privates und Staatliches, soweit
es überhaupt etwas bedeutet, nirgend, und am wenigsten in Amerika,
zu trennen und die Form fast gleichgültig ist. So nun ist der Völker¬
bund ungefähr dasselbe wie die große Entente geworden, die große
Entente anderseits ungefähr dasselbe wie der Völkerbund, und eines
wie das andere aktionsunfahig weil — international.
Die Internationale ist wirksam und fruchtbar als Opposition gegen
nationale Engigkeiten und Roheiten, als Trägerin allgemein mensch¬
licher Ideen und Interessen, als Schwebung und Schwingung und ge¬
sellschaftliche Verbindung zwischen den Völkern — sie ist kraftlos und
nichtig, sogar zerstörend und auflösend als interpolitische Situation,
als interpolitische Organisation, als interpolitisches Instrument
IV
Die Lage des englischen Imperiums im besonderen, die damit ge¬
gebene Lage Europas im ganzen weisen auf eine Konsolidierung Europas.
Die geistigeren Elemente der Internationale wirken eher dagegen als
dafür, die Interessen-Internationale wirkt dagegen. Die Nationalismen
wirken'dagegen, eine Übernationale gibt es nicht Also scheint keine
Hoffnung zu bestehn, daß das Unumgängliche verwirklicht werde.
Nim aber kommt die Lage des deutschen Volkes und jedes aus¬
zudenkenden deutschen Staates in Europa Gewicht gebend hinzu. Das
deutsche Volk und, wie er auch immer sei, ein deutscher Staat, kann
nur in der Mitte Europas sich befinden. Danach haben sie, da einen
Stillstand es nicht gibt, geschichtlich, nur zwei Bahnen offen: ent¬
weder sich nach allen Seiten auszudehnen oder sich nach allen Seiten
abzuschließen. Für das erste gab es zwei Augenblicke: den nach dem
Kriege 1870 und den des letzten Krieges. Es war von Bismarck
nicht so falsch, daß er sich saturiert erklärte, wie es von Wilhelm II.
Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'äertum 461
falsch war. Ober die Meere auszugreifen, und eine Welt-Flotten- und
-Handelsmacht zu gewinnen. Das Richtige war eine konsequente
Kontinentalpolitik, nach Osten und Südosten orientiert. Eine solche
setzte aber eine römische Fähigkeit, Länder und Volker zu koloni¬
sieren, voraus, wie auch England sie nicht hat, noch weniger Deutsch¬
land, dazu eine innere Festigkeit und Stetigkeit und den feinsten
weltpolitischen Takt Bismarcks so sehr angefochtener Verzicht auf
alles Ausgreifende, mochte er selbst in einer Zagheit seiner Person
liegen, entsprach vor allem der tragischen Lage: zu dem Einzigen,
was für Deutschland richtig gewesen wäre, war Deutschland noch nicht,
überhaupt nicht imstande. Denn die zweite Bahn, die offen war, ver¬
langte entweder die Zufriedenheit eines Rentiers oder einen für ein
modernes Volk unerreichbaren Grad der Reife: die Abkehr von aller
äußeren Macht, die Wendung allein auf die innere Wiedergeburt.
Was man während des Krieges „den Platz an der Sonne“ nannte und
was man heute „die Erhaltung der Existenz“ nennt, das hat ja nichts
mit solcher Art Umkehr zu tun, sondern bedeutet, nicht einmal ver¬
logen, sondern ganz naiv: „weltkonkurrenz-fähig bleiben“, da eine
andere Art Leben und Blüte von Volk und Staat unvorstellbar bleibt.
Eine solche auszufinden wird dennoch, gemäß der tragisch-großen
Lage der Deutschen, ihre letzte Zuflucht werden. Darum mögen sie
über solche, die bei Zeiten soweit hinausschauen und schaffen, nicht
allzu überlegen herab urteilen.
Die Lage des deutschen Geistes ist nicht anders als die des deut¬
schen Staates. Seiner Art nach befindet er sich zwischen den älteren
westeuropäischen Kulturen und den neu erwachenden osteuropäischen.
Mit jenen verbindet ihn eine lange gemeinsame Geschichte und sogar
dies, daß er bei ihnen auch heute noch keineswegs ausgelernt hat,
mit diesen ein Wille in nie gewesene Zukunft, inneres Chaos und
Schöpfertum.
Weder mit den Westmächten noch mit den Westkulturen war ein
Konflikt erlaubt. Weitere Wechselwirkungen und wachsendes Hinaus¬
reifen, bis die Frucht selber vom Baume fiel, ostwärts, war geboten.
Das deutsche Volk ist das Volk des langsamen, doch unaufhaltsamen
Prozesses, jede Gewaltsamkeit bringt es rückwärts, nicht vorwärts. So
hätte es auch die Abkehr von der französischen Kultur ehemals noch
schwerer zu büßen gehabt — da es keineswegs in der Lage eines
„Abiturienten“ war —, wenn nicht hernach Goethe ebenso viele Schritte
rückwärts wie vorwärts getan hätte. So ist die nach Osten gerichtete
4<Sz Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ'äertum
Politik während des Krieges und nach dem Kriege falsch gewesen.
Denn es war undenkbar geworden, so verworren und geschwächt das
eigne Volk und der eigne Staat waren, und da kein einziger großer
Staatsmann lebte, in das gärende Rußland, ganz gleich zu welchem
Ziele, hineinzugreifen und dort überhaupt etwas auszurichten, geschweige
denn das Rechte. Es wäre möglich gewesen, anstatt der amerikanistischen
Flotten- und Kolonialpolitik, eine kontinentale auf Österreich-Ungarn
und Rußland konzentrierte neueuropäische Politik in eindeutiger Kon¬
sequenz durchzuführen. Wäre aber die spätere Politik gegenüber Ru߬
land geglückt oder würde je etwas Ähnliches auch nur einigen Erfolg
haben, so würde die unerbittliche geschichtliche Folge sein, daß Ost-
elbien irgendwann russisch, anstatt daß Rußland von Deutschland „durch¬
drungen“ würde. Eines Beweises bedarf es nicht mehr — die Belehr¬
baren wissen es selbst, die Unbelehrbaren lernen es nie. Auf dem
geistigen Gebiete liegt es ebenso. Die Deutschen haben es nicht ver¬
mocht, in das russische Chaos eine rettende Idee zündend hineinzu¬
werfen, aber wacker mitgearbeitet, den dortigen Wahnsinn zu syste¬
matisieren und desgleichen dilettantische Versuche in der revolutio¬
nären Umgehung jedes Problems gemacht.
Die Elemente und Fundamente einer osteuropäischen Religion und
Politik liegen in Dostojewski fest, die Elemente und Fundamente einer
west- und mitteleuropäischen Religion und Politik liegen in Goethe
und Nietzsche fest. Diese drei Europäer, Dostojewski einerseits, Goethe
und Nietzsche anderseits, so verstanden, wie die Chinesen, reichlich
nach seinem Tode, ihren Kungfutse verstanden haben. Dieses muß
heute gesagt werden, wenn es auch in einem Aufsatze nicht ausgeführt
werden kann und erst in späterer Zeit gesehen werden wird. Ost¬
europa dort und Mittel- und Westeuropa hier haben soviel jedes mit
sich selbst zu schaffen, daß keines dem anderen helfen kann, daß
jedes erst eine gewisse Reife erlangen muß, ehe eine volle Gemein¬
samkeit fruchtbar werden kann. Zusammen lernen können sie nicht,
jedes hat anderes, vor allem anders zu lernen. Mitteleuropa wiederum,
zumal Deutschland und die tschechoslowakische Republik, haben vom
Schicksale bestimmt eine Stellung dazwischen, und so werden sie, ob
sie wollen oder nicht, ob es ihnen gedeihe oder nicht, auch an beiden
Entwicklungen einen Anteil haben, wenngleich Deutschland den stärkeren
an der westlichen, die tschechoslowakische Republik den stärkeren an
der östlichen — vielleicht. Die Deutschen wiederum, die Volksangehörige
in Polen, in der tschechoslowakischen Republik, in Österreich, in der
Rudolf Pannwitz , Internationale und Europliertum 463
Schweiz, in Italien, in Frankreich haben, haben dadurch ein gewisser¬
maßen nationales Interesse an Europa. Es muß sich aus all diesen
Tatsachen ergeben, welcher Weg ihnen verboten, welcher ihnen ge¬
boten ist.
Die mehr oder minder lateinischen Völker und Staaten haben eine
höhere politische Kultur als alle späteren und bleiben in ruhigerer
Balance. Die slavischen Völker und Staaten haben einen natur- religiösen
Hang zur Gemeinschaft. Versagt er auch heute bei ihnen wie bei allen
in der Bourgeoisie, so zeigt ihn doch, in seiner besonderen Art, das
tschechische wie das jugoslavische Militär. Der Deutsche ist weder zur
Politik noch zur unmittelbaren Gemeinschaft begabt. Er erzwingt
freilich, durch neue Ideen, große Individuen und konsequente Mecha¬
nisierung, politische und soziale Leistungen ersten Ranges, doch nie
ohne Einbuße seiner tieferen Kräfte und höheren Fähigkeiten und nie
ohne daß zuletzt die Götter sich rächten und ihm den Preis all seines
Schweißes entzögen. Er ist, in unheimlicher Weise, sogar innerlichst
eine Mitte: zu nichts Heiligem groß genug, zu nichts Weltlichem
klein genug. So aber muß sich seine wahre Aufgabe zuletzt ihm doch
unzweifelhaft darstellen. Schon Bismarck wußte, daß die Slaven und
die Lateiner, wohl durch ihren beiderseits starken Bestandteil keltischen
Blutes, einander verwandter sind als beide mit den Germanen und,
sind die Deutschen auch keine Germanen, so doch tatsächlich auch
mit den Deutschen. So werden die Slaven auch von Natur immer
wieder gen Westen neigen. Dies könnte nur in einem Falle anders
werden: wenn alle Schule und aller Zauber der größeren und frischeren
Kultur, wenn der Schwerpunkt des geistigen Europa vom Westen in
die Mitte, in das deutsche Volk selbst rUcken würde. Dem nämlich
würden die Leitenden der Slaven nicht eine Stunde widerstehen.
Gibt es für die Deutschen überhaupt noch einen anderen Weg, auf
dem sie nicht von den anderen überholt oder erdrückt werden? Und
wäre dieser einzige Weg unwirklicher als Kriegsschiffe, Luftschiffe,
Weltindustrie und Welthandel? Noch dazu für ein Volk, dessen größte
Geschichte durchaus eine Geschichte des Geistes ist und das heute
wieder anfängt zu glauben, daß es an den Geist glaube. Ja, handelte
es sich um einen egozentrischen Geist, eine literarische Kultur — unsere
Götter lehren uns durchaus nur das Leben, die Bewältigung dieser
Wirklichkeit. Sie verbieten uns kein Militär, keine Industrie, keinen
Reichtum: sie fordern nur, daß jedes gegen jedes sein Maß habe, daß
alles der Weisheit und dem Willen eines Geistes diene. Man darf nur
4^4 Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ'äertum
reich sein, wenn man ein Athen oder mindestens ein Nürnberg auf-
bauen kann. Man darf nur eine Industrie haben, wenn sie der Qualität
der Ware verantwortlich sich weiß und in ihren Konsequenzen den
Menschen nicht depraviert. Man darf nur Militär haben, wenn es mehr
leistet, als mit dem Feuer spielen und Emst machen: wenn es das
Heer der öffentlichen, das Vaterland und Europa aufbauenden Arbeit
ist. Aber solches sind nur Beispiele und Hinweise.
Was haben die Deutschen auf allen anderen Wegen zu gewärtigen?
Die größte Hemmung, die eigentliche Ohnmacht der älteren Völker
und Staaten ist, daß sie nicht mehr elastisch sind, im Gedanken die
Starrheit des rein kapitalistischen modernen Ökonomismus und des
bald reaktionären, bald sozialistischen, im ganzen liberalen Staatsideals
zu überwinden, so daß sie eher noch an die Möglichkeit des Kom¬
munismus wie an eine schöpferische durchaus neue Idee glauben würden.
Sollen die Deutschen, ohne innere Not, eben da stehn bleiben?
Die Schwäche der neuen Völker und Staaten ist nicht so sehr, daß
sie noch nicht genug konsolidiert wären — sie sind es ftr die Kürze
ihres Bestandes in erstaunlichem Grade — als daß ihnen die Orientierung
fehlt Wollen nun die Deutschen, anstatt ein Schwergewicht zwischen
der westlichen Starrheit und östlichen Labilität zu sein, etwa versuchen,
Zahl gegen Zahl, Armee gegen Armee, Industrie gegen Industrie, Handel
gegen Handel, Politik gegen Politik, Koalition gegen Koalition sich
gegen die alten und neuen Staaten zu behaupten, die in jedem Falle,
wie man endlich gelernt haben sollte, wo Deutschland, als die Mitte
Europas, zu großer Macht gelangte, sich gegen es verbinden würden?
In den nächsten Jahren schon wird ganz Europa lernen, daß der Kon¬
tinent unvergleichlich wichtiger als das Weltmeer ist — also zu einer
kontinentalen Konkurrenz-Unternehmung ist es für Deutschland jetzt
zu spät. Jeder Konflikt mit den Slawen aber würde zur Vernichtung
führen, weil zum Waffen- und Handelssiege noch immer nur Mo¬
dernität gehört, diese aber, wie man an Japan gesehn hat, von in¬
telligenten Völkern überaus schnell vollständig erlernt werden kann,
so daß diese dann, da sie alle Vorzüge vitalerer Rassen nicht so schnell
einbüßen, durchaus überlegen sind. Es liegt heute wirklich so, daß
für die Deutschen das Vornehmste und Anständigste zugleich das einzig
Zweckmäßige ist.
Einzelne Deutsche, denen vertraut werden sollte, würden heute fähig
sein, und auch eine Jugend würde dazu zu erziehen sein, allen Natio¬
nalismus und Internationalismus zu überwinden und sich in den Dienst
Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ'äertum 465
einer neuen europäischen Idee zu stellen. Sie haben mehr erfahren
und gelernt als andere, sie wollen es sich nur noch nicht zugeben,
da sie den Grad ihrer Enttäuschung zu bekennen und die Größe der
Aufgabe zu übernehmen Scham haben — die, auf welche es nunmehr
ankommt.
V
Die Gründung einer neuen Welt braucht die Arbeit mindestens eines
Geschlechtes. Wie soll sie auch nur angedeutet werden in einem knappen
Aufsatze. Es genügt schon, wenn hier fühlbar wird, daß sie notwendig
und nicht ganz unmöglich ist. Glaublich kann sie nur werden, indem
sie sich verwirklicht, aber wenn sie als wünschenswert erschiene, so
wäre viel erreicht.
Die Entwicklung Deutschlands müßte in ungefährer Richtung einer
solonischen Verfassung, die der slawischen Länder in ungefährer Richtung
gracchischer Reformen verlaufen. Beide aber müßten ein Maß und
Ausmaß gewinnen, das nicht mehr modern genannt werden könnte.
Das Wesentliche der Solonischen Verfassung liegt in ihrer allwissenden,
pessimistischen Ironie. Sie setzt ehrlich die Korruption des ganzen
Volkes voraus und hält einen Kampf dagegen für vergeblich. Sie er*
kennt die übelste Pluto-Demokratie als Tatsache an und gibt ihr ohne
sie zu bestreiten eine Form. Wahrlich aus keinem ihr entsprechenden
Ideale, sondern aus dem härtesten Wirklichkeitsinn. So wird zunächst
eine neue weniger geltende Währung eingeführt, in der die Schulden
zu zahlen sind, also sich mechanisch reduzieren. Dann werden die
Einzelnen, nach dem Maße ihres realen Besitzes, das ist normalen Er¬
trages, eingeschätzt: erhalten in demselben Maße Rechte und Pflichten.
Also es wird mit der Plutokratie Emst gemacht und sie wird eben
dadurch soweit als möglich aufgehoben — unter dem antiken Begriffe
des Bürgers als des der Gemeinschaft nicht Zugehörigen, sondern die
Gemeinschaft Mitbildenden, in welchem Begriffe Bürger und Gemein¬
schaft Organ und Organismus sind, ohne jede zwischengeschaltete Ab¬
straktion noch Individualismus noch Kommunismus. Ebenso wird mit
der Demokratie Emst gemacht und sie wird eben damit soweit als
möglich aufgehoben: das ganze Volk wird politisiert und muß politisch
tätig werden, so daß am Ende, bei dem raschen Wechsel der Ämter,
ja der dauernden Umschüttelung der Lose, jeder der Aufpasser für jeden
wird. Dasselbe geschieht mit der alten Aristokratie, indem sie, bei der
Führung der Geschäfte und allem, was sich modernisieren läßt, ohne
die frühem Privilegien, doch durch eine neue Behörde, nicht ohne
30
4 66 Rudolf Pannwirz, Internationale und Europ'dertum
aufdringliche Mystik zur Wächterin Ober Sitten und Religion, das heißt
kurz, der Tradition bestellt wird, unter der Form einer so ungenau
umschriebnen Aufsichtskörperschaft, daß von hier aus je nachdem alles
oder nichts geleistet werden kann. Das heißt: sämtliche Gewichte
gegen sämtliche Gewichte, so raffiniert, so subtil, zumal in das Einzelne
hinein (das hier nicht berührt werden kann), daß das Ergebnis, bei
einem begabten und gelenkigen Volke, nur das genialste und relativ
geformteste Spiel werden konnte. So waren auch alle zufrieden, fühlten
sich alle privilegiert, und glaubte, mit vollem Grunde, jede Partei, sie
werde, durch ihre besonderen Rechte, schon obsiegen. Dies griechische
Beispiel, eine von einem Weisen geschaffene Verfassung, ist nicht äußer¬
lich nachzuahmen. Denn wir sind keine Griechen, und unsere Lage
ist nur sehr vergleichsweise jener des damaligen Athen entsprechend.
Wohl aber müßte, in der Hauptrichtung, für uns ein ähnlicher Weg
eingeschlagen werden, wie für die Seinen ihn Solon vorzeichnete.
Vollkommen anders liegen die Verhältnisse bei den südöstlichen
Völkern, zumal den Slawen, halb ausgenommen nur die uns schon
näheren Tschechen. Dort müßte verhütet werden, daß die Völker sich
verbürgerlichen und verstaatlichen, modernisieren und politisieren, da
für solche Entwicklungen selbst den Leitenden noch die geschichtliche
Reife fehlt, sie durch Übereilung, Oberflächlichkeit, Unpräzision, Ge¬
waltsamkeit, falschen Zentralismus und jeden Dilettantismus ihre un¬
ersetzlichen Volkskräfte verderben und geradezu aufreiben würden. Es
wird sich nicht streiten lassen, daß die Entente, heimlich, bei ihrer
zweideutigen Freundschaft zu den Slawen und allen jungen Staaten,
und mit ihrer beharrlichen Forderung der Demokratisierung, während
sie selbst klugerweise sich allmählich cntdemokratisiert, genau dies
Ergebnis haben möchte. Es wäre vielleicht den Westvölkern das An¬
genehmste, wenn irgendwann einmal Slawen und Deutsche sich gegen¬
seitig auffressen würden. Wie könnte es anders sein! Die Slawen haben
soviele Zukunft, daß, wenn sie jetzt schon zu Macht kommen, die
Macht der alten Staaten abnehmen muß. Die aber kommen nicht los
von dem Begriffe der kapitalistischen und politischen Macht des ver¬
gangenen obwohl noch nicht überwundenen Weltalters. Also es geht
ihnen um ihr Leben. Wollen aber die Slawen, und mit ihnen alle
jüngeren Bauemvölker, sich europäisieren, so bedürfen sie des Um¬
weges über eine Enteuropäisierung. Was in Dostojewskis, eines sehr
guten und gar nicht reaktionären Europäers, politischen Schriften gegen
das Westlertum im Westen und Osten steht und was sein uneigen-
Rudolf Panmoitz, Internationale und Europ'aertum 4 6j
nütziger und rein religiöser großartiger Panslawismus ist (Übrigens der
einzige Schutz gegen einen Mittel- und Westeuropa einst zerstörenden
kulturlosen Panslawismus), das muß zunächst gelernt und gelehrt werden.
Dazu müssen ferner die Lehren des klassischen Chinesen Ku Hung-Ming,
des letzten Lehren einer menschheitlichen und zugleich bürgerlichen
Religion, begriffen und befolgt werden. Dafür dürfen nicht Vereine
und Anstalten gegründet werden, sondern junge doch reife Menschen,
die es völlig durchdrungen haben, müssen einzeln in die Länder gehn
und von Mensch zu Mensch es sprechen, ohne Absicht, reinen Willens,
ohne Ziel, fürs Wachstum. Dann wird eine Zeit folgen, die weitere
Aufgaben zeigen wird. Positiv aber, was man heute positiv nennt,
darf in jenen Staaten und Völkern keine Politik getrieben werden,
am wenigsten innere Politik, sondern nur von sachverständigen und
anständigen Menschen Erziehung und Verwaltung geleistet werden, dieses
mit Aufwande aller Mittel und Kräfte, in mustergültiger Weise. Übrigens
ist uns Mittel- und Westeuropäern allen eine solche Entwicklung im
Osten und Südosten auch nur zu wünschen, da wir mitleiden würden,
wenn durch Modernisierung, Industrialisierung und Politisierung diese
lebensfrischen Völker unsere Kollegen, Konkurrenten, Rivalen würden
und eine solche Übersteigerung aller Übersteigerungen entstünde, daß
in absehbarer Zeit alle alle zermahlen müßten. Nein, sie sollen nicht
durch uns verleitet werden, unsere Fehler zu wiederholen, und wir
selbst wollen, soweit wir es vermögen, unsere Fehler eindämmen. Mit
der Andeutung „gracchische Reformen“ war darauf hingewiesen, daß
große politische und soziale Umwälzungen in Ost- und Südosteuropa
in zweckmäßigerer und geistvollerer Form geleistet werden könnten,
als das heute gänzlich dilettantisch und unwirksam versucht wird.
VI
Die Deutschen aber sollten an dem tragischen Zeitpunkte, wo
keine Art Politik ihnen logisch übrig bleibt und wo ihr Staat ohn¬
mächtig und zukunftlos geworden ist, die morschen Brücken hinter
sich abbrechen und eine neue Entwicklung der Entpolitisierung und
über den Staat hinaus versuchen. Sie sollten sich, ohne Ausgleiten
in Vertrustungen und Sozialisierungen, auf ihre Individualismen und
deren Bindung zu Genossenschaften besinnen, desgleichen mit der libe¬
ralen Phrase von der privaten Initiative tieferen Geistes Ernst machen.
Es wäre Individualismus, Genossenschaft, private Initiative, wenn man,
im Einzelnen beginnend und auf die bescheidenste Weise anfängend
4^8 Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'äertum
da wo es geht und nirgend anders, und sei es zunächst zwischen
einem Schuster, einem Schneider und einem Bäcker oder Fleischer,
sich von dem Banne des Wirtschaft- und Weltmarkt-Ringes soweit
frei machte, daß man die Gegenstände, die man hat und die, welche
man braucht, auf die Werte, die sie einem tatsächlich darstellen, ganz
abgesehn von New York, London und Zürich, privatim einander
reduzierte und auf Grund freier Vereinbarung tauschte. Dasselbe
würde in der Folge zwischen befreundeten Staaten ebenso wie zwischen
befreundeten Unternehmungen durchführbar sein. Selbstverständlich
nicht als Prinzip, welches sämtliche Konsequenzen antizipierend und
mechanisierend, vor jedem organischen Prozesse die reine Idee experi¬
mentell ad absurdum führen würde. Dergleichen kann nur von ge¬
lenkigen und lebendigen Menschen halb triebhaft versucht werden und
wie eine kräftige Vegetation sich durchsetzen. Wäre dergleichen mög¬
lich, so Märe der Gewinn groß. Es würde sehr viel Geld gespart, es
würde der Wirtschaft eine wirkliche Grundlage gewonnen, sie würde
endlich wieder zu einer Sachwirtschaft sich entwickeln (auf welchem
anderen Wege sollte sie das jemals vermögen?) und es würden für
Währung und Valuta in lebendigem Prozesse sich reale Kriterien
wieder bilden, also eine Regeneration der Geldwirtschaft allererst er¬
möglichen. Voraussetzung ist freilich, daß man keinen exzentrischen
Welthandel wolle, sondern einen konzentrischen Aufbau, der freilich,
so wenig wie er für den ganzen Staat geschehen muß, so wenig er
von ihm geleistet werden kann, ebenso wenig an seinen Grenzen
haltmachen muß, sondern je nach denen, die zu ihm sich entschließen,
seine überstaatlichen Kreise riehen wird. Voraussetzung ist also auch,
was Napoleon einst sagte und was heute noch gilt, wie überlegen
sich auch die meisten darüber fühlen, und was, wie damals es gegen
den englischen Ökonomismus sich richtetete, heute gegen jede Art
Amerikanismus sich richten muß: „i. der Ackerbau, die Seele, die
erste Grundlage des Reichs, 2. die Industrie, der Wohlstand, das
Glück der Bevölkerung, 3. der Außenhandel, der Überfluß, der gute
Gebrauch der beiden andern. Der Außenhandel, unendlich unterhalb,
in seinen Ergebnissen, den beiden andern, ist ihnen ebenso beharrlich
untergeordnet gewesen in meinem Gedanken. Derselbe ist für die
beiden andern gemacht, die beiden andern sind nicht für ihn ge¬
macht. Die Interessen dieser drei wesentlichen Grundlagen gehen
auseinander, sind oft entgegengesetzt. Ich habe ihnen beharrlich ge¬
dient, nach ihrem natürlichen Rang, aber ich habe sie nie auf einmal
Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ’äertum 4 6 p
befriedigen gekonnt noch gedurft." Es ist hier nicht die Stelle, zu
beweisen, daß es sehr vieles zwischen Himmel und Erde gibt, was
Ober die Schulweisheit unserer Praktiker hinausgeht, was aber ältere
Praktiker, wie etwa das Kulturvolk der Chinesen, in dem Grade zu
verwirklichen wußten, daß sie nicht siebzig sondern Hunderte von
Millionen regieren und versorgen konnten, noch ist es hier die Stelle,
elastischen und genialen Fachleuten laienhaft vorzugreifen in Sachen,
die letzthin nicht gedacht, sondern nur gemacht werden können. Es
soll mit diesem auch nur ein Wink gegeben werden, daß jenseits
des Weltmarktes nicht eine Verelendung zu liegen braucht und daß
lebendige Formen neuer Wirtschaft neue Staaten sogar begründen
und zu ihrem Teile ein europäisches Imperium realisieren können.
Kaufen und verkaufen, Geld verdienen und reich werden (den Be¬
sorgtesten zur Beruhigung) läßt sich aber auf dem Lande genau so
wie auf dem Wasser, zumal da auf dem Lande viel mehr wächst
und alles billiger ist wie auf dem Wasser.
Ein letztes Beispiel dafür, was Deutschland an diesem Zeitpunkte
zu einem werdenden Europa beitragen und damit sich selbst in ihm
unentbehrlich machen kann, sei der Hinweis auf eine mögliche Über¬
windung des Staates. Auch diese freilich wird europäisch und nicht
international gedacht werden müssen. Eine Internationale ohne Staat
kann nur ein Chaos werden, ein Imperium Europaeum braucht nicht
mehr im alten Sinne Staat zu sein. Der moderne Staat, außer etwa
dem früheren englischen, präjudiziert das Volk und isoliert sich von
ihm. Auch die extremste Demokratie bleibt ein massenindividualistisch
reformierter Despotismus. Sie ist nicht organisch, kann nicht organisch
werden. Ehe nicht Gemeinden, Länder, Stände, Berufe, wirtschaftliche
Komplexe selbständige Verbände miteinander schließen, worin sie,
unbekümmert um die Zentralstellen, die weder Geld noch Einsicht
haben, nicht nur ihre rohesten Interessen wahmehmen, sondern alle sie
betreffenden öffentlichen Arbeiten auf sich nehmen, ehe nicht Arbeit¬
geber und Arbeitnehmer, ohne jede Politisierung, von Falle zu Falle
sich miteinander kleine Staaten einrichten und so gut es geht sich un¬
abhängig machen, ehe nicht dergleichen überall wie ein Frühlingswuchs
entsteht und von Stelle zu Stelle sich gegenseitig verzweigt, so daß
jeder weiß, wofür er sein Geld beisteuert und da auch unmittelbar
mitredet, so daß was organisch zusammengehört, sich selbst verwaltet
und Zentralstellen aus der Notwendigkeit höherer Organisations-Bil¬
dungen, durch lebendiges, natürliches Wachstum entstehen: solange
470
Hermann Bahr, Stifter
wird keine’ Verfassung- noch Verwaltung-Reform, ne sei noch so
richtig gedacht, fruchten. Ehe nicht das Volk, ohne Revolution, ohne
Politik auch, selber aufzuleben beginnt und seine ganze Sache von
Falle zu Falle selber in die Hand nimmt, solange nicht das Volk er¬
blüht, wird kein Staat helfen, wird jeder Staat schaden. Auch solche
Gedanken und Dinge sind nicht möglich noch unmöglich an und
für sich, sie sind „indiskutabel“, in welchem Sinne imme r man das
Wort verstehen will. Sie werden Sinn oder Unsinn je nach der Ent¬
wicklung, welche die wirklichen lebendigen Menschen nehmen. Und
so können sie hier nur stehn als Anregungen und Gleichnisse, als
Übergänge in Zukünfte.
Ein Abschluß auch nur weniger Betrachtungen über Internationale
und Europäertum kann nicht sein. Anderseits muß an irgendeiner
Stelle abgebrochen werden. So geschehe das hier, noch ehe das
geistige Problem mehr als angerührt ist. Denn dessen Unendlichkeit
würde erst Interesse gewinnen, wenn alles näher Liegende plastischer
geworden wäre, als dieser Versuch, für den Gedanken eines Imperium
Europaeum die heutigen Deutschen überpolitisch zu interessieren, in
seiner Knappheit es ausgestalten kann.
(Geschrieben im November 1921)
STIFTER
von
HERMANN BAHR
I m Sorrentiner Winter von 1876 auf 1877 keimte „M enschlic hes,
AUsmncBschliches“, in der ersten leisen Ernüchterung Nietzsches'
von seinem Wagnertraum, als er, aus Verzückung aufgeschreckt, nun
das Enthusiastische, das Hymnische seines Wesens bei Verstand, Zweifel»
Spott, Witz und Übermut in die Lehre gab, Ree hieß der Schul¬
meister, und sich zum erstenmal die Tugenden des Tageslichts ahnen
ließ. Wirklich „Mittag des Lebens“ ist in diesem Buch: der große
Pan schläft und mit ihm sind alle Dinge der Natur eingeschlafen,
„einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte“; dieses Lächeln von
Ewigkeit aus dem Schlafe der Natur hat so bezaubernd kein anderes
seiner Bücher für mich. Hier schweigt der tiefe Widerstreit seiner
47 *
Hermann Bahr, Stifter
inneren Möglichkeiten noch» sie ruhen einander in Armen und er
ahnt nicht, noch ahnen sies, daß sie ihn zerreißen werden, wie den
Aktäon seine Hunde, denn er ahnt noch nicht, daß er bei höchster
Fähigkeit, alles in der Idee zu fassen, unfähig bleiben sollte, sich irgend
etwas davon zur eigenen persönlichen Erfahrung, zur Gestalt, zum
ruhig abgesonderten Besitz werden zu lassen. Niemals war er der
Einsicht in alle Bedingungen für den „Glockenguß der Kultur** näher
als in diesem „Narren buch“, aus dem wir lernen sollen, „wie Vernunft
kommt — zur Vernunft“. Und an einer Stelle darin hat man auf¬
atmend wirklich das erlösende Gefühl, wenigstens die Vernunft der
Kunst sei hier auf alle Fälle wieder zur Vernunft gebracht. Es scheint
aber, daß diese Stelle gerade den Künstlern bisher unbekannt geblieben
ist, noch immer. Sie handelt von der „R evoluti on in der Poesie“
und erkennt in ihrem Bruch mit der Tradition das Endender Kunst .
Schon sieht er si^Vöh^elr Magie des Todes umspielt, gerWeaarin
liegt ihr großer Reiz, ihre Macht über uns, wie doch auch erst von
den absterbenden Hellenen das Hellenische ganz genossen worden sei.
„Den Künstler wird man bald als ein herrliches Überbleibsel ansehen
und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und
Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren erweisen, wie wir
sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist viel¬
leicht aus Empfindungen früher Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf
unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist
schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und
leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.“
Nietzsche nimmt den Verlust der Kunst also nicht tragisch, denn er
steckt damals so tief in seinem Idealismus“, daß er sich einen Ersatz
für den Künstler weiß: im wissenschaftlichen Menschen. „Der wissen¬
schaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.“
Es ist fast unheimlich, wie leicht er über den Abschied von der Kunst
hinwegkommt. Er erkennt gerade hier so klar, wodurch die Kunst
irre geworden ist und wodurch sie nur immer bei jedem Schritte
noch mehr irre geführt wird, er sieht gerade hier so tief in ihr
Wesen, daß er nun nur bei dieser Einsicht stehen zu bleiben, ihre
Schlüsse zu ziehen und ihre Bewährung durch die Tat zu fordern
hätte. Daß er dies unterläßt und mit einem stillen Gruß vorüber
geht, ruhig über die Kunst hinweg und ins Leere der Zukunft hinaus,
läßt sich nur aus einer fatalistischen Ergebung in den Aberglauben
an einen unablässigen „Fortschritt“ erklären; man denkt unwillkürlich
47 *
Hermann Bahr, Stifter
an Goethes Wort, auch der größte Mensch einer Zeit hänge doch
immer noch mit ihr durch irgend einen Irrtum zusammen. Nietzsche
hat hier mit einer Klarheit, wie vielleicht niemals ein anderer Deutscher,
in der französischen Tragödie des achtzehnten Jahrhunderts die letzte
Kunst hohen Stils erblickt. „Sich so zu binden, kann absurd er¬
scheinen; trotzdem gibt es kein anderes Mittel, um aus dem Natura¬
lisieren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste, vielleicht
allerwirklichste, zu beschränken ... Lessing machte die französische
Form, das heißt die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in
Deutschland und ... so machte man einen Sprung in den Naturalis¬
mus — das heißt in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm ver¬
suchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von neuem wieder
auf verschiedene Art zu binden wußte . . . Schiller verdankt die
ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn
auch verleugneten Vorbild der französischen Tragödie und hielt sich
ziemlich unabhängig von Lessing . .. Den Franzosen fehlten nach
Voltaire auf einmal die großen Talente, welche die Entwicklung der
Tragödie aus dem Zwang zu jenem Schein der Freiheit (Nietzsche
hat nämlich vorher auf die Geschichte der Musik verwiesen, die
zeige, „wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie
endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist das
höchste Ergebnis einer notwendigen Entwicklung in der Kunst“)
fortgeführt hätten; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch
den Sprung in eine Art von Rousseauischem Naturzustand der Kunst
und experimentierten. Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaires Ma-
hojcnet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durdf'jgfien Ab¬
bruch der Tradition ein für allemal der europäischen Kultur verloren
gegangen ist. Voltaire war der letzte der großen Dramatiker, welcher
seine vielgestaltige, auch den größten tragischen Gewitterstürmen ge¬
wachsene Seele durch griechisches Maß bändigte . .. wie er einer der
letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes
und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen
können, ohne inkonsequent und feige zu sein.“ Nun schildert er die
zerstörenden Folgen jener revolutionären „Entfesselung“ der Kunst aus
den alten Bindungen von Maß und Gesetz, die man durch „die
Zügel der Logik“ ersetzen zu können vergeblich hofft, er schildert
„die hereinbrechende Flut von Poesieen aller Stile aller Völker“, die
„das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes
Wachstum noch möglich gewesen wäre“, schildert; wie das Publikum
475
Hermann Bahr, Stifter
verlernt, „in der Bändigung der darstellenden Kraft, in der organi¬
sierenden Bewältigung aller Mittel die eigentlich künstlerische Tat
zu sehen“ und es klingt, als ob er prophetischen Gemüts von unseren
Tagen spräche, wenn er fortfährt: „So bewegt sich die Kunst ihrer
Auflösung entgegen und streift dabei, was freilich höchst belehrend
ist, alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommen¬
heit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen, sie interpre¬
tiert, im Zugrundegehen, ihre Entstehung, ihr Werden“. Dann aber
ruft: er einen unverdächtigen Zeugen an, „einen der Großen, auf
dessen Instinkt man sich wohl verlassen kann“, Byron, der eingestand,
er hätte sich, je mehr er darüber nachdenke, nur immer mehr davon
überzeugt, daß wir allesammt auf dem falschen Wege sind. Einer
wie der Andere: wir folgen alle einem innerlich fälschen revolutionären
System — unsere oder die nächste Generation wird noch zu derselben
Überzeugung kommen. „Und“, setzt nun wieder Nietzsche selber ein,
„und sagt im Grunde Goethes gereifte künstlerische Einsicht aus der
zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau dasselbe?, jene Einsicht, mit
welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen
gewann, daß man im Großen und Ganzen behaupten kann, Goethe
habe noch gamicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen?
Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen
Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was
alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden,
Aussichten, Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der
Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandlung
und Bekehrung so viel: sie bedeutet, daß er das tiefste Verlangen
empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den
stehengebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der
Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit
anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen
sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören
nötig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an
die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hilfsmittel der Erinnerung,
des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine
Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeit¬
alters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die
Freude aufgewogen, daß sie einmal erfüllt gewesen sind und daß auch
wir noch an dieser Erfüllung teilnehmen können. Nicht Individuen,
sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit,
474
Hermann Bahr, Stifter
sondern eine allegorische Allgemeinheit, Zeitcharaktere, Lokalfarben zum
fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige
Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die ein¬
fachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, patho¬
logischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen
Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern
die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und
Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so
wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten.* 4
ln diesen paar Sätzen, von denen das alles lesende, nichts davon
sich tätig aneignende Deutschland bisher keinerlei Gebrauch versucht
hat, steckt eigentlich unsere ganze Literaturgeschichte seit Lessing, mit
dem ja die „Entbindung 44 , in jedem Sinn, begann. Und auch das un¬
begreifliche Paradox dieser Geschichte wird hier schon aufgedeckt;
nämlich dafi Goethe, ihr gewaltigster Ausdruck, ihre Vollendung, zu¬
gleich aber eben damit wieder ihre Überwindung, von ihr unter lauten
Ausrufen der Bewunderung und Verehrung völlig beiseite geschoben
worden ist: dafi der Reinertrag Goethes, das Ergebnis seines Denkens
wie seines Dichtens, eben der Wiederfund wesentlicher Kunst, un¬
genützt und fruchtlos bleibt. Sie folgt ihm nicht auf seine Höhe,
sie drückt sich unter ihm scheu vorüber, ja sie verleugnet ihn nicht
blofi, sie versperrt den Zutritt, ja verrammelt jeden Ausblick auf ihn.
Seine Tat war, die Revolution, von der er emporgebracht worden
war, niederzumachen: er hat die Freiheit der Kunst in ihrer Ergebung
ins Gesetz erkannt, er hat, was gerade dem Deutschen am schwersten
wird, Mafi gefühlt, und das iicixpomv SövaoOai, nach dem der
Jüngling so glühend verlangte, hat sich der Greis als dienen lernen
und gehorchen können verdeutscht Wenn wir den Prometheus des
Monologs mit dem Prometheus der Pandora vergleichen, haben wir
an' der^Verwandlung dieser Gestalt die Sinnesänderung Goethes: der
sich dort den Göttern zu trotzen und ein Geschlecht nach seinem
eigenen Bilde zu formen vermafi, sieht sich hier in die Reihe der
irdisch Nützenden verwiesen —
Groß beginnet ihr Titanen, aber leiten
Zu dem ewig Guten, ewig Schönen,
Ist der Götter Werk, die laßt gewähren.
Mit diesem Künstler, der in sich die Götter gewähren läfit, ist die
Revolution in der Kunst überwunden, sie kehrt an ihr altes Werk
der selber gehorchenden Leitung zu dem ewig Guten, ewig Schönen
475
Hermann Bahr, Stifter
zurück. Aber von einer Fortwirkung dieser Lebenstat Goethes ist
in unserer Literatur nicht viel zu merken und es fällt auf, daß selbst
Nietzsche, der an jener Stelle die Leistung Goethes ahnt, dennoch so
spricht, als hatte Goethe zwar die Wahrheit erkannt, aber doch selber
auch den Sturz der Kunst nicht mehr aufhalten können. Nietzsche 1 I
verschweigt, daß Goethe die Tradition wieder herges tellt hat in einer
Reihe von Werken: den~Ö nterh altungen deutscher Ausgewanderten,
dem Märche n, der natürlichen Tochter, den Wahlverwandtschaften,
dem Epimenides, den Wanderjähren und dem zweiten Taust. Diese
Werke Dezeugen, daß Goethe nicht bloß, wie Nietzsche von ihm j
rühmt, die große Kunst im alten Sinn „verstand“, sondern auch, was i
Nietzsche keinem nach Voltaire mehr zubilligen zu wollen scheint;
selber „übte“. Daß Sinn und Form dieser Werke freilich unverstanden,
unerkannt und unwirksam blieben, gehört zu den deutschen Geheim¬
nissen; es hängt vielleicht damit zusammen, daß Goethes merkwürdiges
Wort vom Sansculotten wahr geblieben ist und auch heute noch
„in Deutschland der Sansculott in der Mitte steht“.
In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sagt der Geist¬
liche, dessen Geschichte vom Prokura*»- so viel Beifall gefunden hat,
daß die Gesellschaft noch mehrere von ihrer moralischen Art zu hören
wünscht, er wisse leider keine zweite, denn alle moralischen Er¬
zählungen seien immer im Grunde dieselbe. Der gute Mann hätte
hinzufügen können, daß es eigentlich allen Künsten so geht, daß alle
Werke der echten Kunst, ob sie sich des Worts, des Bilds oder des j
Klangs zum Ausdruck bedienen, schließlich doch nur immer wieder (
dasselbe sagen, ja daß vom Anbeginn der Kunst her nur immer wieder
ein und dasselbe Werk von neuem erscheint, freilich stets als ob es
zum erstenmal erschiene. In der Begabung, das uralte Werk wie zum
erstenmal erscheinen zu lassen, zeigt sich die Kraft der Meisterschaft
und sinkende Zeiten suchen sich im Gefühl ihrer Schwäche nun
damit zu helfen, daß sie dem alten ewigen Werk, dessen sie sich
unfähig wissen, ein neues, und das eben auf seine Neuheit pocht,
unterschieben. Es ist kein Zufall, daß Goethe gerade um die Zeit,
als ihm der Sinn der echten Kunst aufgeht, immer ärgerlicher aller
Versuche höhnt, „original“ zu wirken sich „autochthon“ zu geben.
Gern wär ich Überliefrung los
Und ganz original;
Doch ist das Unternehmen groß
Und führt in manche Qual.
4 76 Hermann Bahr, Stifter
Als Autochthone rechnet ich
Es mir zur höchsten Ehre,
Wenn ich nicht gar zu wunderlich
Selbst Überliefrung wäre.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen.
Was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?
Die Geistesart, die schon im Humanismus spukt, vom Barock noch
einmal zurückgedrängt, im achtzehnten Jahrhundert aber vorherrschend
wird, ist ein einziger, an Kraftaufwand bewundernswerter Versuch,
Überlieferung loszuwerden, die Elemente aus dem Komplex zu trennen
und den Menschen von der Natur auszunehmen, dabei noch unter
fortwährender Berufung auf die Natur, wodurch gerade nun Goethe,
bei seinem unbestechlichen Wahrheitssinn, von dem Wahn, der auch
ihn in seiner Jugend betört hat, geheilt wird: die Natur ist es, von
der er den Begriff des Gesetzes empfangt, und nun hat er ihn nur
noch auch nach innen zu wenden, auf sich selbst und sein Talent
anzuwenden, und die große Kunst in ihrer ganzen Majestät ist
wiedergefunden:
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Meisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel du vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
In diesen Versen ist seine neue Poetik enthalten. Es war schon die
Homers. Schon Homer war auch nicht mehr autochthon. Und auch
Homer wußte das schon: so nahm er einfach den Gilgamesch her
und redigierte ihn zum Odysseus um. Das ganze Griechenland ist
nicht autochthon: seine Kunst ist eine Renaissance Ägyptens, wie Rom
wieder aus Renaissancen Athens und die Geschichte des christlichen
Abendslands aus lauter Renaissancen Roms besteht; ob das Abendland
auch in Zukunft noch eine Geschichte haben wird, hängt vielleicht
477
Hermann Bahr, Stifter
nur davon ab, ob in den Slawen Kraft genug ist, nun ihre Renaissance
Roms aufzubringen, eine byzantinische Renaissance Roms. Und so
darf man getrost sagen, daß eigentlich in allen Künsten von allen
Völkern aller Zeiten unablässig nur immer wieder ^ .dasselbe Kunst¬
werk geschaffen wird, ganz dasselbe, das nur jedesmal wieder, herrlich
wie am ersten Tag, sich zum erstenmal der Menschheit mitzuteilen
scheint. Heinrich der Innsbrucker Archäolpg, hat neulich in
seiner synthetischen Schrift über Bachs »Chromatische“ (Ve rlag Ge org
Stilke, Berlin) dargetan, daß sie thema tisch^l cn Partheno nfries, Giottos
Fresken in der Skrovegnikapelle, Dantes Commedia, die Neunte
Beethovens und Goethes Faust enthält, daß also diese sä mt li c hen Werke,
wenn auch in verschiedenen Mundarten, eigentlich alle nur immer
wieder ein und dasselbe Werk sind. So fand ich mir hier be¬
stätigt, daß es überhaupt im Grunde nur ein einziges Kunstwerk gibt,
nach dem alle ringen wie nach dem erlösenden Wort, das der Mensch¬
heit immer schon auf der Zunge liegt und nur doch bisher noch
nie so rein ausgesprochen worden ist, daß nicht immer wieder von
Zeit zu Zeit einer meint, es noch heller, noch stärker sagen zu können,
sagen zu müssen. Nur wer nichts als dieses eine Kunstwerk allein meint,
verdient den Namen eines Künstlers; daran erkennen sie auch einander.
Goethe hat von Jugend auf die Gestalt gesucht, aber erst, als ihm auf¬
ging, daß Gestalt ja nichts anderes als Erscheinung des Gesetzes ist, fand
auch er den Weg zu dem einen unabänderlichen ewigen Werk, zur
Erinnerung ans verlorene Paradies.
Emst Cassirer hat den Sinn der Pandora so formuliert: „Das Reich
der Form gewinnt Leben und Wirklichkeit im Reich der Tat.“ Oder
man kann’s vielleicht auch so sagen: Idee sehnt sich nach Erfahrung
und hinwieder Erfahrung nach Idee, sie berühren einander immer
wieder einen Atemzug lang und finden sich doch nie, wir aber er¬
hoffen es dennoch immer von neuem, wir lassen nicht ab, auf die
Wiederkunft Pandorens zu hoffen, wir glauben an das dritte Reich.
Dieser Glaube blieb fortan das Thema Goethes. Auch der zweite
Faust enthält im Grunde wieder nur die Geschichte vom Prokurator,
wenn auch auf anderen Umwegen. Alle Kunst geht immer nach
demselben Ziel, aber jede geht ihren besonderen Umweg. Sich den
Umweg nach eigener Laune wählen zu dürfen, darin besteht die
Freiheit der Kunst und im Spiel dieser Freiheit mit ihrer Gebunden¬
heit an Maß, Zahl und Ziel besteht der unerschöpfliche, sie stets von
neuem verjüngende Reiz der Kunst
47 8 Hermann Babr, Stifter
Seit Jen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, sozusagen
einer Fibel künstlenscEerElementarlebre, gingGöefhc wieder auf die
( große fcanst zu. Wer kam ihm nach oder ging ihm auch nurriadi?
Die Romantik. Aber selbst sie doch eigentlich bloß in den Inten¬
tionen. Nur Brentano und Kleist waren ihren eigenen Forderungen
auch an bildender Kraft gewachsen: die Geschichte vom braven Kasperl
und schönen Annerl und die jetzt erst von Professor Josef Körner
ausgegrabene "von der Schachtel mit der Friedenspuppe, wie derPrinz
von Homburg, der Kohlhaas und das Käthchen von Heilbronn folgen
Goethen auf seiner neuen Bahn zur alten Kunst, deren sich später
meistens nur entsinnt, wer dadurch seiner künstlerischen Schwache
nachzuhelfen oder diese mit der guten Gesinnung zu decken meint,
ahnungslos, daß in der Kunst die höchste Kraft erst ein Recht auf
die gute Gesinnung gibt; wo nichts zu bändigen ist, kann sich kein
Bändiger bewähren und so freut sich der Himmel der Kunst immer
am liebsten gerade der reuigen Sünder. Blicken wir aber nach Un
bändigen aus, die sich gebändigt hätten, wen als Kleist und Brentano
finden wir unter Deutschen noch, nach Goethe? Goethes Vermächtnis
einer völlige 1 * Durchdrungenheit des Sinnlichen vom Sittlichen, völlige
Durchblutung des Sittlichen mit Sinnlichkeit erzwingenden und uns
dadurch den Augenschein der Ewigkeit in der Zeit erbringenden
Kunst, wer hat es angetreten, wer lebendig aufbewahrt, wer fruchten
lassen? Grillparz er und Stifter. Denn scho n Feuchtersieben , den rühren¬
den, die Kunst ganz rein und groß erblickenden Mann, dürfen wir
nicht nennen, so wenig als etwa Mörike oder Fontane, weil sich
jene höchste Kunst imm er nur als Siegespreis nach höllischen Wider¬
ständen ergibt und darum immer irgendwie geheime Zeichen, gleichsam
einen Dampf der überwundenen Gigantomachie tragen muß. Denn
höchste Kunst kann nur, wer um sich gerungen hat, erringen: nur
wer sich zuvor sich selbst entrungen hat. Höchste Kunst ist immer
Frucht einer Entsagung; sie setzt etwas voraus, dem zu entsagen da¬
für steht, sie setzt einen bösen Dämon voraus, mit dem wir fast
uns selber und alles, was uns bisher das Leben licht und lieb ge¬
macht hat, niederzuringen fürchten und dennoch niederzuringen
aus Gewissen wagen: das Kunstwerk ist immer die Feier einer uns
selbst fast unerträglichen Entsagung, die ganz hohen Kunstwerke
sind Selbstdemütigungen großer, ja bis tieFlns Böse hineinreichender
Menschen. Wenn ein ganz Großer ganz klein wird, das ergibt
•die höchsten Kunstwerke. Wer von Anfang klein ist und es nicht
Hermann Bahr, Stifter 47p
nötig hat, erst in Schmerzen klein zu werden, was braucht der erst
die Kunst?
Goethinert ist in Deutschland immer wieder worden: jede wirklich
junge Jugend holte sich vom Goethe der Wertherzeit, dem hymnisch
seinen Überdrang ausschnaubenden, die Stichworte für ihren stürmischen
Trotz, während wieder der reifende, sich ins allgemeine Dasein be¬
quemende Welt-, Geschäfts- oder Lebemann im Goethe der Iphigenien¬
zeit Schutz davor fand, sich den Philister eingestehen zu müssen; der
Deutsche meint doch überhaupt, daß Dichter zum Zitieren da sind.
Aber das Ergebnis der letzten fünfunddreißig Jahre Goethes, der Gehalt
seiner Reife, die Summe seines Denkens und Dichter hat doch lebendig
fortgewirkt nur in Grillparzer und Stifter. Seit den „Unterhaltungen
Deutscher Ausgewanderten“ hatte Goethe den Begriff einer „höchsten
Kunst, wo die Individualität verschwindet und das, was durchaus recht
ist, hervorgebracht wird.“ Das Werk ist ihm fortan kein individueller
Ausdruck mehr, es soll nicht von irgendeiner Persönlichkeit Zeugnis
geben, nein: die Individualität muß darin „verschwinden“, sie muß so
völlig daraus verschwunden sein, daß nichts als „was durchaus recht
ist“, übrig bleibt. Dieser „höchsten Kunst nähern sich die besten
Meister in ihren glücklichsten Augenblicken“. Solche Werke haben
seit Goethe, so viel ich weiß, unter den Deutschen doch eigentlich
nur Grillparzer und Stifter, bewußt keinen eigenen Ausdruck, sondern
nichts als was durchaus recht ist, anstrebend, hervorgebracht. Die
Dämonen haben in Grillparzer wilder gehaust als in Stifter: sie sind
im „Bruderzwist“ am gewaltigsten gebändigt, in „Libussa“ hat er sie schon
tanzen gelehrt und im „armen Spielmann“, der vielleicht die schönste
seiner Dichtungen ist, gehen sie brav äußerin* mit ihm. Die Dämonen
St ifters sind von Jugend auf gedämpft; immerhin darf man sein Ende
nicht vergessen: Selbstmord. Jenen „glücklichsten Augenblicken der
besten Meister“ fehlt ihr Schatten nicht.
Stifter ist durch sein berühmtes Jugendwerk unkenntlich geworden.
„Studien“ hat er es genannt und es war in der Tat eine Reihe von
Vorarbeiten, in welchen er sich vom Maler, zu dem er sich geboren
glaubte, zum Dichter umschalten lernte. Sie sind schuld, daß er ein
halbes Jahrhundert lang als ein Schriftsteller für die reifere Jugend,
bestenfalls als ein österreichischer Claudius oder Brockes galt. Das
* Ein Austriazismus: ein Hund wird äußerin geschickt, wenn man ihn
auf die Gasse läßt zur Bewahrung seiner Zimmerreinheit.
480
Hermann Bahr y Stifter
ist selbst gegen die „Studien“ ungerecht, weil sich hier ein Land¬
schafter des Wortes zeigt, wie wir ihn nur noch an Goethe haben:
die Landschaften im „Hochwald“ und im „Beschriebenen Tännling“
halten den Landschaften der „Harzreise“ oder der „Wahlverwandt¬
schaften“ durchaus stand, auch an Sicherheit ihrer Richtung auf das,
was man in dem Sinne, wie Goethe von der Urpflanze spricht, Ur-
landschaft nennen möchte. Wer aber hätte den „Studien“ das anmerken
sollen, da sie doch nur noch von Schulkindern gelesen wurden? Vom
„Nachsommer“ hinwieder wußte man ja nichts mehr als das abschreckende
Wort Hebbels, der, wenn sich jemand bereit fände, diese Erzählung
bis ans Ende zu lesen, ihm dafür die polnische Krone versprach.
Nietzsche hätte sie sich aufsetzen dürfen, er hat den „Nachsommer“
dem wenigen beigezählt, was „eigentlich von der deutschen Prosa¬
literatur übrig bleibt und verdient, immer wieder und wieder gelesen
zu werden“. Aber selbst Nietzsche hat den „ Witiko“ nicht gekannt,
Stift ers hfichfteq W erk, vielleicht das reinste, das einem österreichischen
Dichter jemals bescbieden ward, das einzige, das an besonnener Bild¬
kraft, an innerer Ausgewogenheit von zuströmender Eingebung und
abdämmender Vergeistung, an Meisterschaft die Nähe Goet hes e rreicht.
Es war seit Jahren verschollen. Es hätte, häum erschienen, gleich den
Ruf zu langweilen. So wenig als der „Nachsommer“ den Vergleich
mit „Soll und Haben“, hielt es den mit „Ekkehard“ oder gar dem
„Trompeter von Säkkingen“ aus, es war kein Buch zur Verdauung
auf dem Sofa nur ein Viertelstündchen; Butzenscheiben fehlten, es
fehlte die bettnässende Rührung und, ohne die gewohnte sentimentale
oder phychologisierende Sauce, nur darstellend, nichts aber besprechend,
den Grundsatz Stifters bewährend: „Gestalten machen, nicht Worte!“,
war dieses Erzbild einer eisernen Zeit alsbald durch seine „Weit¬
schweifigkeit“ und „Langweiligkeit“ so berüchtigt, daß der Verleger,
als er schließlich nach Jahren die erste Auflage wie durch ein
Wunder doch noch los geworden, zur zweiten keinen Mut fand.
Man wagte sich nur mit abgekürzten verstümmelten Ausgaben hervor
und erst jetzt, fÜnfundfünfzig Jahre nach der ersten Auflage, bringt
uns der Inselverlag, dem wir schon die Erweckung des „Nachsommers“
verdanken^ auch den unentstellten „Witiko“ wieder.
In einer populären deutschen Literaturgeschichte steht über Stifter
geschrieben: „Dem wackeren, doch etwas philisterhaften Manne fehlt
alle nun doch einmal dem Dichter nötige Leidenschaft“. Der „Witiko“
zeigt in diesem Philister einen Artisten von solcher Leidenschaft am
Hermann Babr, Stifter 481
Werk, wie wir in unserer ganzen Literatur kaum einen zweiten haben.
Läßt man hier nur irgendeine Wendung, ja nur einen einzigen Satz
weg, gleich ist ein Verlust an Gestalt zu fühlen — wie viele sonst
halten denn dieser entscheidenden Probe stand? „Witiko“ ist so durch
und durch komponiert wie „Tristan“ oder „Meistersinger“. Jahrelang hat
Stifter, in seiner Erbitterung nach Vollkommenheit, Rastlosigkeit,
Unersetzlichkeit, Unfehlbarkeit, Erlesenheit, Entschiedenheit des einen,
an seiner Stelle schlechthin mit nichts anderem zu vertauschenden,
zugleich kürzesten, aber auch drangvollsten, alles was er will, aber
nichts als was er soll, sagenden, jedes 4 peu pris verabscheuenden,
durchaus müssenden Ausdrucks nur etwa mit Flaubert vergleichlich.
Tag um Tag um jeden Satz gerungen. Tag um Tag immer von
neuem daran gehämmert, gestichelt und gefeilt, es war ihm immer
wieder noch nicht „knapp und einfach“ genug, $0 tief war er, fast
bis zur Besessenheit, von seiner Empfindung für das Urgeheimnis
aller Prosa durchdrungen: in soluta oratione, dum versum effugercs,
modum tarnen et numerum quemdam oportere servari, wodurch allein
der Rede jener naturalis, non fucatus nitor zuteil wird, den Cicero,
vielleicht gerade weil er ihm selber versagt blieb, so sehr bewundert
hat. „Möge nur,“ schrieb Stifter an seinen Verleger, „möge nur Gottes
Segen geben, dafi ich in der Gestaltung des Stoffes nicht zu weit
hinter seinem Ernste zurückgeblieben bin. Mühe habe ich nicht
gescheut und wenn Sie einmal den Stoß Blätter sehen werden, die
Abfälle sind, werden Sie staunen und wenigstens einen Teil der Zeit
begreifen, der an diesem Witiko hängt. Ich könnte fast sagen, daß
ich dieses Buch mit meinem Herzblut geschrieben habe“. Doch als
er nach solchen schöpferischen Qualen dann endlich so weit war
versichern zu können: „Ich glaube, daß jetzt Alles knapp ist und
klappt!“, als ihn die beseligende Hoffnung überkam, „etwas der
Hoheit der Dichtkunst nicht Unwürdiges erschaffen“ zu haben, als
er „ewig an dem Werke feilend, bohrend, nörgelnd“ und es sich
Satz um Satz selbst immer wieder laut vorlesend, „um zu hören, ob
es fließt“, ob die Form „nicht zu weit ab vom Gehörigen liege“, nun
wirklich sein Ideal: „Bündigkeit, Klarheit, Lückenlosigkeit und Höhe
der Behandlung“ erreicht fand und dieses Werk vollendet war, in dem
die Gestalten in einer gesicherten Freiheit stehen wie bei Phidias, das
Schicksal schreitet wie in der Nibelungen Not und über alles die
Macht einer rauschenden Musik ordnend dahinströmt, da blieb ihm
dennoch wieder versagt, was allein, nach Goethes Wort, „den Meister
481 Hermann Bahr, Stifter
belohnet: der zart antwortende Nachklang und der reine Reflex aus
der begegnenden Brust“. Die Deutschen wußten mit dieser „böhmischen
Ilias“ nichts anzufangen und die Tschechen hatten keine Lust, sie sich
von einem Deutschen erzählen zu lassen. Findet sie jetzt ein weniger
stumpfes Geschlecht!
Ich wage nicht anzunehmen, daß wir seither an begegnenden
Brttaeir beträchtlich zugenommen haben. Den artistuchetiReiz des
-Werks wird man heute vielleicht eher spüren als vor einem halben
Jahrhundert Es gibt immerhin jetzt einige tausend Deutsche, die so
tun, als wären Nietzsche und George keine bloßen Zwischenfälle.
Daß der -Wiriko“ in weltgeschichtlicher Breite zeigt, mit welcher
Naturgewalt das Sittengesetz verfahrt, wird ihn auch dem Leser heute
nicht besonders empfehlen. Aber es könnte vielleicht geschehen, daß
manch einer, nach dem wohlgebundenen, auf so feinem Papier ge¬
druckten, zierenden Werk greifend, beim Zahnarzt oder während die
Geliebte sich kleidet, darin blätternd, hat er es erst zu lesen ange¬
fangen, auf einmal im Lesen nicht mehr aufhören mag, staunend
festgehalten von der Aktualität, mit der es heute wirkt, einer Aktualität,
die fast etwas Erschreckendes hat: das alte Buch scheint ja nur auf
uns gewartet zu haben, eigens für uns geschrieben, nur von uns
handelnd, von unseren Fragen, inneren Nöten und Zweifeln, in durch¬
sichtiger Verkleidung! Es geht nämlich im „Witiko“ um die Geburt
• einer neuen Legitimität und die, sozusagen, Illegitimierung der alten:
darf, soll, kann ererbtes, verbrieftes Recht jemals entkräftet, hinwieder
Ungesetz, Aufruhr und Willkür bloßer Gewalt berechtigt werden.
Recht um sein Recht und Unrecht zu Rechten kommen) Um nichts
anderes geht es doch aber auch uns jetzt, in allen Dingen!
Das zwölfte Jahrhundert ist die Zeit, Böhmen der Platz, Witiko,
ein Mann des Bischofs von Passau, der Held des Romans. Der zieht
aus, um „ein rechter Mann“ zu werden. Er weiß voraus: „Ich werde
niemals ein niederer Mann sein“, denn: „Ich will zu dem Höchsten
streben, ich will das Ganze tun, was ich kann.“ So weiß er sich
sicher. Und er spricht zu seiner Mutter Wentila: „Ich liebe die
Menschen und strebe, gegen sie gut zu sein.“ Die Mutter antwortet:
„So ist dein Vater Wok gewesen und dein Großvater Witek.“ Und
er sagt dem Kardinal Guido: „Ich suche zu tun, wie es die Dinge
fordern und wie die Gewohnheit will, die mir in der Kindheit ein¬
gepflanzt worden ist.“ Der Kardinal erwidert: „Wenn du zu tun
strebst, was die Dinge fordern, so wäre gut, wenn alle wüßten, was
4*5
Hermann Bahr, Stifter
die Dinge fordern; denn dann täten sie den Willen Gottes.“ Da
muß Witiko freilich bekennen: „Oft weiß ich nicht, was die Dinge
fordern.“ Doch der Kardinal bestärkt ihn: „Dann folge dem Gewissen
und du folgst den Dingen.“ So tut Witiko. Die Huld seines Fürsten,
die Gunst seiner Leute, die Hand des geliebten Mädchens, Ehre,
Wohlstand und Liebe lohnen es ihm.
Es ist aber in jenen Zeiten nicht gerade leicht zu wissen, „was
die Dinge fordern“, und mancher „rechte Mann“ verzagt, wo denn
eigentlich das Recht stehe. Der alte Herzog Sobeslaw ist gestorben,
bevor er seinen Sohn Wladislaw, den er sich zum Nachfolger be
stimmt hat, völlig hätte „zur Reife erziehen“ können. So haben die
Herren des Landes Grund, an diesem Wladislaw zu zweifeln und be¬
vor noch der alte Herzog stirbt, wählen sie auf dem Wysehrad einen
anderen Nachfolger, der auch Wladislaw heißt Doch scheint der alte
Herzog selber auch an seinem Wladislaw zu zweifeln, denn als er
von jener ungesetzlichen Wahl auf dem Wysehrad hört, rät er selbst,
sterbend, dem eigenen Blut zum Verzicht, zur Unterwerfung unter
den anderen. So steht nach dem Tode des alten rechtmäßigen Herzogs
nun Wladislaw gegen Wladislaw. Welchem von den beiden neuen
Herzogen hat da jetzt ein rechtwilliger Mann zu dienen 1 Welcher
Wladislaw ist der rechtmäßige neue Herzog? Der, von Aufrührern
gewählt, zu Prag sitzt oder der, vom Vater ernannt, sich ohnmächtig
versteckt hält? Gewiß: dieser hat das geschriebene Recht für sich,
aber er ist ein „niederer Mann“, das zeigt er ja schon selber dadurch,
daß ihm die Kraft und auch der Mut zu seinem Rechte fehlen. Ge¬
wiß: der andere Wladislaw, aufrührerisch gewählt, hat nicht das
Recht ftir sich, so sehr er sichtlich der Mann dazu wäre; zunächst
ist er Herzog doch nur „durch die Tatsache und durch die Macht?.
Es steht also machtloses Recht gegen rechtlose Macht und das
Recht steht bei einem, der weder den rechten Sinn dafür hat
noch den rechten Gebrauch davon macht, und die Macht dagegen
steht bei einem, der, rechten Sinnes, rechten Gebrauch von ihr
macht „Und so ist jetzt überall kein Recht“ Für wen soll sich
also da, wer recht zu handeln gesinnt und gewillt ist, entscheiden?
Der machtlose Herzog, der es von Rechts wegen wäre, handelt nicht
als Herzog und der rechtlose Herzog, der es tatsächlich ist, handelt
wie ein guter Herzog: wer von beiden ist also Rechtens Herr im
Land, wem zu dienen ist eines rechten Mannes Pflicht? Ja die Rat¬
losigkeit wächst noch, als die Wähler des unrechtmäßigen guten
4*4
Hermann Bahr, Stifter
Herzogs, durch deren Aufruhr gegen Recht und Brauch er zum
Herzog geworden, bald darauf, weil er sich von ihnen nicht, wie
sie gerechnet hatten, als Werkzeug ihrer Laune, Willkür und
Herrschsucht zur Knechtung der Schwachen und Armen im Lande
mißbrauchen läßt, von ihm abfällen, sich den von ihnen im vor¬
aus entthronten Herzog aus seinem feigen Versteck holen und einen
neuen Aufruhr beginnen, den Aufruhr des bisher machtlosen, ur¬
sprünglich rechtmäßigen, innerlich niemals herzoglichen Herzogs gegen
den unberechtigten, bisher die Macht ausübenden, jetzt in seiner Macht
bedrohten, innerlich zum Herzog geborenen Herzog! Wer, wohin er
sich auch stelle, kann guten Gewissens dort stehn? Aber jetzt be¬
greifen wir erst, was mancher Freund Stifters nie begreifen wollte^
selbst sein treuer Biograph Alois Raimund Hein nicht, warum aus
der drängenden Fülle böhmischer Geschichte Stifter sich unter allen
den „nibelungenartigen Riesendingen“ gerade diesen Stoff zunächst aus¬
gesucht hat, vor anderen sogar, die seiner künstlerischen Absicht noch
näher kamen, der Absicht, „die schreckliche Majestät des Sittengesetzes,
welches die hohen Frevler, die in ihrer Macht sonst furchtbar wären,
zerschmettert und ihre Gewaltpläne wie Halme knickt, so kraftvoll
und glänzend darzustellen, daß die Menschen im Anblick des Ent¬
setzlichen, das infolge von Freveln Schuld und Unschuld trifft,
zitternd und bewundernd sich der Macht beugen, die das Böse ver¬
bietet.“ Wenn er sich dennoch vor allem für den Witiko entschied,
so war’s, um gleich am Eingang zu seiner böhmischen Ilias die Grund-
kraft aller böhmischen, ja der gesamten abendländischen Geschichte,
seit es und solang es ein gemeinsames Abendland gab, erscheinen zu
lassen, ihren geheimen Motor: das unüberwindliche, niemals ver¬
stummende, alles verwirrende, selbst immer wieder von Verwirrung
bedrohte, zuletzt aber doch alles auch wieder einlenkende Bedürfnis
nach Legitimität Schon Goten und Langobarden beherrscht es, sie
ruhen niemals, bei keinem Sieg, bei keiner Macht solange nicht irgend¬
ein schützender Abglanz von Legitimität darauf fallt, und wär’s auch
nur einer gestohlenen, einer erschwindelten, einer bloß angeheirateten.
Von einer „germanischen Hypnose der mit einem Weibe verknüpften
Legitimität“ spricht “Albert von Hofmann im ersten Band seiner
„Politischen Geschichte der Deutschen“. War sie wirklich zunächst
germanischer Herkunft (ihr Gesicht erinnert eher an Züge des römischen
Rechts), so hat sie jedenfalls rasch genug auch alle anderen abend¬
ländischen Völker angesteckt und wenn es sich dann die Legitimität
4*5
Hermann Bahr, Stifter
auch langst nicht mehr so leicht macht, an Weibern zu hangen, sie
wirkt noch jahrhundertelang überall in Europa fort, nicht bloß in
seinem Eckfenster Böhmen. Nirgends will Macht, noch so gesichert, \
sich mit sich selber begnügen: es ist ihr zu wenig, bloß Macht, sie j
will auch noch im Rechte sein und hat sie keins, so wird sie in ihrer 1
Not gewahr, daß sie ja versuchen kann. Recht zu schaßen: es aus sich
selber zu schaßen. Daß Recht, wenn es seine Pflichten unerfüllt läßt,
▼erwirkt werden, daß Unrecht, wenn es die Pflichten des Rechts über¬
nimmt, nicht bloß begnadigt, sondern mit der seinen frechen Beginn
schamhaft überwachsenden Zeit berechtigt werden kann, ist eine Ent¬
deckung der Christenheit. Und es ist der Inhalt des Epos vom
Jahrhundert Witikos.
Witiko der rechte Mann, hält es erst mit dem Wladislaw, den sich
der alte Herzog zum Nachfolger bestimmt hat. Als der andere Wladis¬
law, der kein Recht hat, zur Macht kommt, geht Witiko heim in
seinen Wald und bestellt sein Haus. Als aber Aufruhr, der wider
alles Recht den gerechten Herzog emporgehoben hat, sich nun gegen
ihn kehrt und gegen ihn den berechtigten Unrechten Herzog ausspielt,
da geht Witiko zum guten Unrecht über und hilft mit, daß daraus
ein neues Recht wird. Der brave alte Stifter, der „etwas philister¬
hafte Mann“, hat unmittelbar vor seiner Ernennung zum Hofrat dieses
Revolution$huch mit dein Herzblut eines echten Konservativen ge¬
schrieben. Wo Revolution dauernd gesiegt hat, war es immer der
Sieg einer Legitimität, der Sieg ungesetzlichen Rechts über ein zum
Unrecht gewordenes -Gesetz.
Der auf dem Wysehrad durch Aufruhr zum_ Herzog, ausgeoifene
Wladislaw ist ein besserer Mann und führt die bessere. Sache- eis
der zum Herzog berechtigte Wladislaw. Unrecht ist es, wie der rechte
Mann Herzog wurde. Muß es Unrecht bleiben? Nun ist er einmal
Herzog und wenn er es auch nur durch Gewalt ist, „die Guten“
geben doch zu ihm. Denn sie sagen sich: „Das Gute, das geworden
wäre, wenn die Männer auf dem Wysehrad an dem Rechte gehalten
hätten, und das Gott auch mit dem minderen Manne Wladislaw ein¬
geleitet hätte, kann nun nicht mehr werden. Der Herzog Wladislaw
wird ein anderes Gute bringen und er wird das Schlechte, das aus
dem Unrecht auf dem Wysehrad folgen muß, zu vermindern streben.“
Sie wissen, daß, wenn aus Unrecht gleich in eines guten Mannes Ver¬
waltung Recht werden kann, doch an diesem unberechtigt entstandenen,
mißgeborenen Recht immer eine Schuld kleben wird, die noch erst
48 6 Hermann Bahr, Stifter
abgebüßt werden muß. Neues Recht muß seinen Makel immer durch
tiefes Leid erst sühnen; es muß erst rein und vom Frevel frei gebrannt
werden. Dann erst wird aus gu tem Unrecht durch Buße schließlich
Recht. So denkt Witiko,so nancTelt er: RechteFSmn gib'fiHm den
Mut; daß er es für s eine P flicht hält, gelegentlich auc h einmal Un¬
recht tun zu müssen, in Gotte* Namen! Er scheut es nicht, wenn er
meint nicht anders zu können. Im Großen und im Kleinen. Er
läßt in der Schlacht einmal, wider seine Pflicht, absichtlich den Feind
entwischen; er weiß: das ist nicht recht!, aber er wagt’s um der
guten Folgen willen. Er argumentiert da fast wie Aljoscha, der in
seiner Herzensreinheit auch, um dem Bruder zur inneren Wiedergeburt
zu helfen, auf allerhand „Unehrenhaftes“ sinnt. „Jetzt hab ich dich
auf dem Jesuitenweg ertappt“, ruft Mitja, „abküssen müßte man dich
dafür!“ Und Aljoscha lacht Und der Herzog dankt es dem Witiko
mit hohem Lob. Ist damit gemeint, der Zweck heilige die Mittel?
Das würde Witiko nicht sagen. Das hat auch Bismarck nie gesagt
Sie glauben nur zu fühlen, daß ein zum rechten Zwecke notwendiges
Mittel gar nicht erst geheiligt werden muß, weil das sachliche Gebot
gar nicht unsittlich sein kann. Witiko meint, daß es auf den rechten
Sinn der Tat ankommt, den allein haben wir zu verantworten, der
rechte Sinn wirkt recht. „Wo das Rechte in dem Sinne ist, fließt
es für den Bedarf hervor.“ Der rechte Sinn muß freilich deshalb noch
nicht immer auch Recht behalten. Der Ausgang meiner Tat liegt nicht
| bei mir, der liegt in Gottes Hand. Dieses still ergebene, demütig tap-
! fere flttöv iv yo6yqotv xe ttttt klingt durch das ganze Buch. Am ge-
1 waltigsten spricht’s der Herzog aus, der durch Unrecht zu seinem Recht
kommt, selber nur ein gesteigerter Witiko, ein bewußter. Der sagt
auf dem freien Platze vor dem Herzogsstuhl seinen versammelten Kriegs¬
herren und Unterführern: „Ich bin nicht wie mein Großvater, mein
Vater und mein Oheim. Ich bin auf sie gefolgt. Ich weiß nicht,
ob ich ihnen an Gaben gleich oder untergeordnet bin; aber im Guten
will ich ihnen gleich sein. Vor diesem ehrwürdigen Stuhle, der schon
so viele große und gute Fürsten getragen und manche Verirrungen
gesehen hat, kann ich es aussprechen, daß ich die Pflichten treu in
mein Herz geschrieben habe, die mir durch diesen Stuhl entstanden
sind. In dem Kampfe, der naht, werde ich entweder siegen, und
dieses wird nach dem Ratschlüsse Gottes dem Lande zum Heile sein,
wir werden Gott preisen; oder ich werde unterliegen und dieses wird
nach dem unerforschlichen Ratschlüsse Gottes dem Lande zum Heil«
Hermann Bahr, Stifter 487
sein, wir werden auch Gott preisen. Wir kleinen Menschen können
das Höchste nicht sehen; aber wir, die wir hier versammelt sind,
glauben, daß wir auf dem Rechte stehen, und wir müssen das Recht
mit der Herzhaftigkeit und der Einsicht, die wir haben, zu Ende
bringen." So spricht der Herzog und aus seinem Munde spricht ein
Geschlecht, das sich jung und anfangend, die Welt erneuend fühlt,
kein Geschlecht von Erben und Enkeln hoher Ahnen, das nun bloß
dankbar zu verwahren hat, dem sein Recht schon angeboren ist, son¬
dern ein neu heraufkommendes, das nichts mitbringt, das sich alles selber
erst erbringen muß, ein Geschlecht, das in die Welt tritt, damit, indem
es seine Kraft zu Rechten bringt, nun endlich Recht erst wieder zu
Kräften kommt, ein Geschlecht, das seine Macht berechtigen und da¬
durch Recht endlich wieder ermächtigen will, ein Geschlecht, das sich
selber als Stammvater einer frischen Reihe hoher Ahnen fühlt.
Witiko, der Mann des Bischofs von Passau, und sein Herzog Wladislaw
gleichen einander darin, daß jeder seiner Neigung getrost folgen darf
in dem sicheren Gefühl, „daß außer der Neigung noch etwas in uns
ist, , das ihr das Gleichgewicht halten kann", im gelassenen Zutrauen
zu „dem guten und mächtigen Ich, das $0 still und ruhig in uns
wohnt" Diese Worte stehen aber nicht mehr im Witiko, sondern
schon in der Geschichte vom Prokurator, die von Stifter nur sozu¬
sagen ins Böhmische des zwölften Jahrhunderts übersetzt worden ist
Und wer hinhorcht, dem klingt da wie dort, aus dem Böhmerwald
wie aus der italienischen Seestadt, der beherzte Schritt entgegen, mit
dem in der chromatischen Fuge der Mensch aus einer zerstürzten
Welt tapfer wieder an den Bau geht.
Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie;
Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.
ARTHUR SCHNITZLER
von
RICHARD SPECHT
M enschen, die an ihrem wahren Leben und an ihrem Glück
vorübergehen, oder an denen das Glück vorübergeht. Menschen
von sehr empfindlicher Zartheit, hochmütig isoliert und doch darunter
leidend, daß keiner ganz zum andern kann. Menschen der Selbst«
bcWährung, der edlen Form, der guten Haltung; liebenswürdige Me¬
lancholiker, gar nicht lebenstüchtig, ein bißchen verwöhnt und weh¬
leidig, von jeder Banalität beleidigt. Enttäuschte und doch immer
wieder Suchende der Liebe, stille Ironiker und schönheitsbedüiftige
Egoisten. Dann wieder solche, die einfach jung sind; die einen sorglos,
die andern schwersinnig, beide bezaubert vom Leben, von der Liebe,
die ihnen Mittelpunkt und Wesenssinn ist; alles andere, am meisten
aber die „ernsten Dinge": Beruf; Arbeit... bedeutet ihnen nur Arabeske.
(Ein einziger dieser jungen Leute ist anders: der Felix im „Einsamen
Weg", der sich ruhig und fest mit den Wichtigkeiten des Daseins
auseinandersetzt und an allen kleinen Abenteuern vorbei in ein wert¬
voll tätiges Leben zu schreiten scheint) Menschen, die abseits vom
wirren Treiben der Zeit stehen, von einer zumeist sehr wienerischen
Kultiviertheit, etwas verzärtelt und doch nicht ohne Härte in ihrer
Selbstsucht, Ästheten der Geistigkeit, zumeist fern aller praktisch¬
manuellen Arbeit: Schriftsteller, Maler, Ärzte, feine Skeptiker mit weichen,
zärtlichen, behutsamen, weißen Händen, denen alles heftige Zugreifen
und Zuschlägen fremd ist. Frauen, die nichts als zu lieben verstehen,
die nur selten etwas Mütterliches haben, um die selbst im Alter noch
der Schimmer vergangener süßer Stunden schwebt; und wenn sie
wirklich Mütter sind, ist ein Zwiespalt da, weil sie zu schwer daran
vergessen oder gar darauf verzichten können, immer noch Geliebte zu
sein, Frauen, die nur einmal lieben können, sich ganz und gar her¬
schenken und daran zugrunde gehen, weil sie es gar nicht zu begreifen ver¬
mögen, daß in der Welt noch für anderes Raum ist als für ihr eigenes,
wundervoll inniges Erleben; andere, die nichts schwer nehmen, nie¬
mals an dauerndes Glück an eines Einzigen Seite denken, weder durch
Überfülle der Empfindung noch durch Enttäuschungen belastet sind
und in anmutiger Natürlichkeit, glückspendend und empfangend, von
einem zum anderen gleiten, oft ohne die ungeheuren Geschehnisse
489
Richard Specht, Arthur Schnitzler
zu bemerken, durch die sie schreiten oder die sie verschulden, und
gar nicht fähig. Aber sie (oder über sich) zu staunen und in Ver¬
wirrung zu geraten; ohne Dimenhaftigkeit, eher unschuldig und jedes¬
mal wieder gleichsam neu jungfräulich und doch wieder nur durch
die Kindlichkeit und die Unbefangenheit erträglich, mit der sie zu
lieben und sich zu geben wissen; und noch andere, die bewußt sind
und sich in dieser Bewußtheit peinigen, die begehren und begehrt
sein wollen, aber nicht den Mut haben, unbekümmert um das
Unrecht eines falschen Sittengesetzes, das der Frau verwehrt, was dem
Mann erlaubt ist, ihrem Gefühl zu folgen, und an denen es sich rächt,
wenn sie diesen Mut doch einmal haben, ohne daran zu denken, ob
sie nicht doch die eine, einzige Sünde begangen haben: des großen
Mysteriums nicht würdig zu sein, das die Vereinigung von Mann und
Weib bedeutet, weil es nicht der auserwählte, nur irgendein zufällig
begehrter Mann war, dem sie sich schenkten, in einer Stunde der Lust,
nicht in einer der wahren Liebe, die schwer vom großen Geheimnis ist
und in die ewige Kette des Werdens sich spannt Dann wieder Männer,
die das Wahrhafte des Lebens erkannt haben, der Welt abhanden ge¬
kommen and, auf alles Äußerliche, auf Taten, Ruhm, Reichtum und
Ehre verachten und nur mehr mit Menschenseelen spielen; und solche,
die nach manchem Irren und Tasten endlich zu sich selbst gekommen
sind und ihr wahres Wesen, ihren eigentlichen Beruf behaupten,
weder durch Niedertracht noch durch Verlockungen mehr abzulenken,
und ja kaum mehr zu verwirren sind. Die meisten aber sind solche,
die nicht zweckhaft, nur schon leben. Menschen der Großstadt und
des Luxus, selber irgendwie verspielt, ins Spiel von Liebe, Leid, Wahn
und Wahrheit, Schein und Sein, Tod und Leben verwoben, unfähig,
zu altem (und boshaft und verbittert um sich schlagend, wenn die
Jugend zu schwinden droht), unpathetisch, ohne sonore Lautheit, von
einer vergeistigten Sinnlichkeit und einer Kultur des Tones und des
Wesens, die etwas spezifisch Wienerisches sind oder vielleicht richtiger:
waren. Ein österreichischer Totentanz.. . Denn diese Menschenart,
wenn sie in diesen letzten Jahren des Wahnsinnes und der Verpobelung
nicht überhaupt ausgestorben ist, hat sich in Exklusivität und Ver¬
borgenheit geflüchtet; sie ist nicht widerstandsfähig und nicht vulgär
und brutal genug, um in der Untergangsmenschheit des Menschheits-
Unterganges von heute bestehen zu können. Es sind Menschen, die
mehr Hirn als Bizeps, mehr Nerven als Herz haben, voll Anmut der
Haltung und von einem so feinen Reiz des Betragens und des Geistes,
49 o Richard Specht, Arthur Schnitzler
daß man sich unter ihnen sofort in bester Gesellschaft fühlt. Die
Menschen Arthur Schnitzlers.
Zum mindesten die der ersten Reihe, die Vordergrundsmenschen.
Die der zweiten Reihe sind robuster: zufriedene bürgerliche Existenzen,
Tenniskünstler, Sonderlinge, Streber, Episodisten des Daseins. Oft
wirklich nur Folien und Stichwortbringer (oder gar „Räsonnäre„).
Aber auch sie, mögen sie oft nur zur Kontrastwirkung, zur Charakte¬
ristik der sozialen Sphäre oder als treibende Kräfte der äußeren
Vorgänge vom Dichter in sein Werk entsandt worden sein, haben alle
eine so starke Lebendigkeit und Evidenz, daß sie wirklich mit einem
weiterleben: sie geboren fortan zu den „persönlichen Bekannten“,
man denkt an sie und kann von ihnen sprechen wie von wirklich
Lebenden. Es gibt nicht viele Dichter, deren Gestalten so fest und
so überzeugend lebensvoll im Raume stehen (wobei zunächst noch
ganz davon abgesehen sei, was sie uns zu sagen haben); die mit
solcher Kraft die Gegenwart vor uns, mit uns leben. Nicht nur
innerhalb der „Handlung“. Ihr Vorher und Nachher ist uns, ohne
daß irgendwie darüber umständlich gesprochen würde, vollkommen
diaphan. Oft hat man den Eindruck, daß sie über den Willen ihres
Schöpfers hinaus ihr Eigenleben führen, nicht immer so, wie er es
bestimmt hatte. (Schnitzler selbst hat dieses Gefühl in der wunder¬
lich geistreichen Groteske „Vom großen Wurstel“ ausgedrückt.) Immer
aber sind sie voller Wirklichkeit, keine Schreibtischgeschöpfe, atmende
Wesen von äußerster Bestimmtheit des Charakters und mit allen
Widersprüchen, Untiefen und Rätseln der menschlichen Seele. Dieses
Eigenleben seiner Gestalten ist einer der stärksten Reize des Dichters
Schnitzler.
Seine Landschaft: Wien und der Wiener Wald, fast hätte ich
gesagt: das Wien Heros und Leanders; solch ein Hauch von un¬
schuldiger Leidenschaft und zarter Sinnlichkeit ist seine Atmosphäre.
Im übrigen, es sind nur Teile von Wien, die in Schnitzlers Dichtung
lebendig: die grünenden Vorstädte, die Hänge des Kahlenbergs, die
Weinländen Grinzings, die Waldungen der Sofienalpe und der stille
Sommenheidenweg, der von alten, gleichsam vergilbten Landhäusern
über die hügeligen Höhen in liebliche Einsamkeiten führt. Sonst aber
ist eigendlich nur die „innere Stadt“ Wiens zum Schauplatz Schnitz-
lerscher Werke geworden; nicht die Arbeiterviertel und die Geschäfts¬
plätze, die lärmenden Märkte und die Bankpaläste, sondern die alten,
vornehmen Straßen mit den unscheinbaren Häusern, in denen dann, nach
4P*
Richard Specht, Arthur Schnitzler
einem Aufgang Aber dumpfige, gewundene, ausgetretene Stiegen weite,
schone Wohnräume überraschen, mit edlen, dunklen Bildern, ziervollen
Porzellanvitrinen, schweren Teppichen und Vorhängen, gewichtigen,
breiten, luxuriösen Biedermeiermöbeln und (manchmal) Makartbuketts
in den Ecken, hinter einer Büste oder Konsole. (Das Makartbukett
spürt man hie und da bei ihm auch in Werken von „modernem
Komfort“.) Der kühle Duft der Kirchen, verlassene, brunnendurch-
rauschte Plätze, winklige Höfe mit fuchsienbewachsenen Fenstern,
offenen Holzstiegen und efeuumschlungenen Gängen, über deren
Geländer Teppiche und Wäschestücke hängen, eine grüne Pumpe mit
knarrendem Schwengel in der Mitte und ein paar verstaubten Oleander-
bäumen, einsame Gärten, die wie ein Schubertlied wirken, beglückend
und traurig zugleich, trauliche kleine Häuser, aus deren Fenster manch¬
mal liebe, blonde Mädchenköpfe spähen und-Aber eigentlich
sind das gar nicht Schnitzlers „Schauplätze“, die ja zumeist viel ele¬
ganter und mondäner sind (dabei gar keine k. k. Eleganz haben,
sondern die echte der alten Kulturen) und vor allem viel moderner
sind — und doch hat man, wenn man seiner Dichtungen gedenkt,
zunächst nicht die Vorstellung der „wirklichen“ Milieus, sondern
eben die jener ganz und gar wienerischen Atmosphäre, die gleichsam
als sublimierte Musik dieser Stadt und ihren Menschen und Häusern
wunderlich reizend zu eigen ist Dies sind die Kulissen zu diesen
Puppenspielen und Mysterien der Seele, und sie werden nicht vor¬
lauter, als es sich gehört: nicht auf sie kommt es an (sogar wenn
sie in irgendeinem Sinn „mitspielen“ dürfen), sondern auf das Stück
selbst, bei dem es ja auch beinahe gleichgültig wird, was sich äußer¬
lich darin begibt; nur die inneren Vorgänge sind wichtig, die
Krankheiten, Heilungen oder das Sterben der Gefühle, die Schattierungen
der Seele, die Zwischenstufen und Zwischenspiele, die Ambivalenzen
des Gemüts, das Wissendwerden um Unaussprechliches. Daß Arthur
Schnitzler einer der wenigen ist, der all dies Unsagbare doch zu
sagen oder doch spüren zu machen weiß, daß er ein Auf hellender
ist und Menschen von heute viel Aufschlußgebendes über sie selbst
zum erstenmal gesagt hat — das ist seine Bedeutung für die Dichtung
unserer Tage. Daneben wirken die Anlässe und Stofflichkeiten selber
beinahe sekundär; man könnte sie preisgeben. Ich gebe sie nicht
preis. Keineswegs. Denn es sind Köstlichkeiten, Dokumente (oft
auch solche des Dichters: Auflehnung gegen das Theater im Theater¬
spiel und wieder ein Kapitulieren vor seinen holden Attrappen),
4?» Richard Specht , Arthur Schnitzler
sind äußerst feine Marionettenhantierung, geistreiche Lebensausschnitte
mit den seltsamsten Schnittpunkten der Schicksalslinien, sind Ergiebig¬
keiten eines Fabulierkünstlers, der gleichzeitig ein Ordner und Verein-
facher ist (wenn er auch manchmal hinterher zu komplizieren scheint).
Ich gebe sie nicht preis, keineswegs und am wenigsten den Bausch¬
und Bogenschützen der Kritik. Aber sie machen nicht seinen Wert
aus. Wenn auch einen seiner starken Reize.
Seme Welt: das weite Land der Seele. Gewiß nicht nur jene
Welt, in der man sich nicht langweilt, jene Welt, die schon mehr
„monde“ ist (denn auch das gehört nur zur Peripherie seines Wesens,
nicht zu seinem Zentrum). Aber auch darauf kommt es nicht an.
Nicht auf die soziale Welt; nicht einmal auf die Gegenden der Seele.
Sondern auf den, der sie bereist. Sondern auf den, der auf ihr ruht.
Sondern auf den Blick, der auf ihr ruht. Sondern auf die Hand, die
sie gestaltet^ auf den, der ein Mehrer unseres Wissens um uns selbst
ist und uns die Empfindung gibt, daß hier, im Abbilden von Menschen,
die uns als solche vielleicht wenig angehen, von einer Welt, die
vielleicht nicht die unsere ist (oder es nicht mehr ist), doch unsere
Sache verhandelt wird. Und nur unsere Sache. Mea res ... Das hat
Schnitzler getan. Er ist ein Mehrer unsres Wissens um uns selbst
Sogar wenn er in Renaissanceszenen Dolche zücken, Giftbecher trinken,
Menschenleiber verstümmeln läßt Sogar wenn ein mittelalterlicher
Arzt Wunder der Hypnose verrichtet oder wenn Spiel und Dasein,
Komödiantenkniffe und blutige Wahrheit ineinandergreifen, während
Revolution gemacht und die Bastille gestürmt wird. Unsere Sache.
Das ist sein Wert. Daß er geheimste Regungen ans Licht gehoben
hat, die bisher nicht im Bewußtsein waren und daß er es mit so
zarten Fingern getan hat wie kaum einer zuvor. Daß er, auch in
scheinbar nichtigen Stofflichkeiten, immer wieder Ausblicke frei gemacht
hat: ins Geistige, ins Ewigmenschliche, ins Ewigtierische. Daß er
Werte verschoben, Wichtigkeiten gesehen und Nichtigkeiten entlarvt,
Zusammenhänge des Lebens aufgedeckt, die feinen Ursachen grober
Schicksalskomödien gezeigt hat Daß er gar keine Symbole braucht,
um einen Lebenssinn darzustellen (ja, nicht einmal „Problähme“, sogar
wenn er sich manchmal um welche müht und dann oft konstruiert,
statt zu gestalten). Einfacher: daß er ein Dichter ist Und einer,
der zu Menschen von heute spricht. Selbst dann, wenn er von
Menschen spricht, die von gestern sind.
4 91
Richard Specht, Arthur Schnitzler
Er entblättert ererbte Begriffe, entfärbt sie von allen Wichtigkeiten,
zeigt ihre Wesenlosigkeit und ihren Schein und streut sie gleich
welkem Laub hin. Treue, Gesinnung, Mut, Beständigkeit der Ge¬
fühle, Vaterlandsliebe, Gemeinschaftsempfindung, Freundschaft — unter
einem scharfen Blick werden all die großen Worte klein und ihres
Pathos beraubt, und was noch von ihnen standhält, wird zu Regungen
des Selbsterhaltungstriebes entwertet oder als Selbsttäuschung enthüllt.
Wenigstens soweit es die Menschen der Gesellschaft betrifft, die
Schnitzler gestaltet. Denn manchmal schimmert in all diesen Szenen
und Erzählungen eine andere Anschauung durch und nicht nur die
Sehnsucht nach einem ethischen Imperativ und nach Geschöpfen, die
sich unter ihn gestellt haben, sondern auch die Möglichkeit eines
richtigeren, weniger egoistischen, mehr von innerer Wahrheit und von
Echtheit des Fühlens als vom Geist und von der Gesittung beherrschten
Lebens. Dichtungen einer Übergangszeit; Vorzeichen einer neuen flir
den, der das zweite Gesicht und das zweite Gehör für die Imponde¬
rabilien dieser schwermütig reichen Werke hat und der hinter ihre
Vordergrundsprobleme horcht und schaut . . . Dinge von morgen,
ahndevoll an Dingen von gestern gezeigt...
Noch Schnitzlers Großvater (nicht mehr sein Vater) hätte bei der
Erörterung solcher Fragen vermutlich gesagt: machen Sie Schabbes
damit. .. Dieser Großvater (der übrigens Zimmermann hieß — erst
sein Sohn wurde zu der Namensänderung in „Schnitzler“ angehalten,
und es wirkt fast symbolisch, daß der Enkel etwas von beidem hat:
vom dramatischen Zimmermann und vom Schnitzler von Gedanken-
und Gefühlsarabesken) — dieser Großvater hätte anders recht gehabt,
als er meinte; denn heute machen wir wirklich „Sabbath“ damit —
es ist uns ein Fest, nicht nur müßiges Spintisieren in freien Feiertags¬
stunden, diesen feinen, rätselhaften Dingen nachzuspüren, die mit
solchem Seher- und Versteherblick hier ans Licht gehoben werden.
Denn gerade darin, nicht im Parfüm einer mondänen Erotik, nicht
in der Schilderung einer absterbenden Gesellschaft und ihrer Expo¬
nenten, sondern im Erfühlen und Aussprechen seelischer Subtilitäten,
die vor ihm keiner in Worte und Stimmungen gebracht hat, liegt,
neben seiner besonderen Kraft im Formen lebendiger Geschöpfe, die
fortan zu uns gehören, die Bedeutung Arthur Schnitzlers. Und darin
ist er ein bereichernder Wert.
494 Richard Specht, Arthur Schnitzler
Niemals hat er aufgehört, sich als Arzt zu fühlen. Nur nebenbei
bemerkt: wie bezeichnend es für die ewig wache Lust an schaden¬
froher Verkleinerung und an mißtrauischem Zweifel ist, dafi man
einen Arzt, der „auch“ dichtet, ebensowenig ernst nehmen wollte
(und will) als einen Dichter, der dazu noch ein Arzt ist. Und ein
scharfblickender, verstehend kluger, schöpferischer dazu, der nicht am
Lehrbuch klebt, sondern der seiner lebendigen Erfahrung und seiner
Empfindung für individuelle Physis und Psyche folgt. Solch ein
wirklicher Arzt war Arthur Schnitzler und ist es noch: ich darf es
aus eigensten Erleben feststellen. Das wird keinen flberraschen, dem
es klar geworden ist, dafi es ja Oberhaupt keinen Beruf gibt, der
ohne produktive Begabung, ja ohne eine Art kfinstlerischer Fähigkeit
zu Vollkommenheiten gelangen kann; ideale Schuhe, die dem Fufi
die rechte Form geben und den Gang beflügeln, wird nur ein Schuster
schaffen, der irgendwie intuitiv und in voller, erfinderischer Freude
an seinem Handwerk arbeitet; die andern sind eben nur — Schuster.
Und wenn ein produktiver Mensch sich (nicht aus äufierlicher Not,
sondern aus innerem Getriebensein) vielfach betätigt, so wird eben
alles, was er arbeitet, nur verschiedenartiger Ausdruck des gleichen
Wesens sein; das Spezialistentum ist nur eine unerfreuliche Folge
unserer Soziologie geworden. In diesem besonderen Fall aber steht
es obendrein so, dafi der Arzt und der Dichter einander immerwahrend
befruchtet haben, dafi der diagnostische Blick, die psychologische
Bravour des Erzählers und Dramatikers dem Stflck Arzt in ihm xuzu¬
messen sind und dafi die Intuition, das Verständnis für alles Mensch¬
liche, für alle Komödien und Tragödien des Lebens und Sterbens und
Leidens, das die viel zu wenigen, die Arthur Schnitzler als Art
kennen lernten, in dankbarem Erinnern tragen, des Dichters Teil ist
(Sofern hier Oberhaupt Grenzscheidungen vorgenommen werden
können.) Sicher ist, dafi Schnitzler zeitlebens ein Heimweh nach dem
Arztberuf nicht überwunden hat; dafi er heute noch, wenn er den
stillen, abgeschiedenen, fliederdurchblühten Hof des Allgemeinen
Krankenhauses durchschreitet, auf dem man unwillkürlich wie auf
Fufispitzen geht, immer noch das GefOhl hat, dafi hier sein eigent¬
liches Zuhause sei. Und auch, wenn man mit ihm über seine Gestalten
spricht, hat man oft nicht nur die Empfindung, dafi man mit ihrem
Schöpfer debattiert, sondern dafi man ihren Hausarzt befragt, der
nicht nur Ober das Seelische, sondern auch Ober ihren körperlichen
Habitus, Ober ihre kleinen Gewohnheiten und Defekte, ja ebenso
Richard Specht, Arthur Schnitzler 495
Ober die Prognose des Künftigen genauen Bescheid weiß. Wobei
es ja merkwürdig ist, daß — ich sage es immer wieder — all diese
Gestalten derart mit einem leben, so intensiv und und so fest im
Raume stehen, daß man sich wirklich wie Ober persönliche Bekannte,
über ihr Vorher und Nachher, nicht nur über ihr Gegenwärtiges,
unterhalten kann und daß das einen besonderen Reiz hat. Davon
noch in anderm Zusammenhang; so wie der ärztliche Einschlag in
diesem Dichterwerk noch im einzelnen festzustellen sein wird. Nicht
nur in der Meistererzählung „Sterben“, die ja eigentlich eine ideale
„Krankengeschichte“ ist, wunderbar exakt bei allem dichterisch Ge¬
schauten, Gestalteten, Erfühlten, aber ganz von der ruhigen Präzision,
mit der ein „Fall“ im Klinischen Journal behandelt sein sollte, wenn
andre etwas Wahrhaftes daraus erfahren sollen. Ich weiß, daß das
extrem ausgedrückt ist, und tatsächlich ist diese schöne, unverschnörkelt
einfache, oft bis zum Peinigenden wahrhafte Erzählung in ihrer
Menschengestaltung und ihrer Landschaft so ganz und gar dichterisch,
daß alles psychologisch Analytische daran und alles gleichsam wissen¬
schaftlich Referierende nicht erkältend wirkt; der „Fall“ ist von einem
Arzt gesehen, aber von einem Dichter geformt. (Wiederum extrem
formuliert, denn tatsächlich sind ja hier beide nicht zu trennen und
nicht abzugrenzen: Schnitzler ist schließlich nicht links der Arzt und
rechts oben der Dichter und unten der weltmännische Lebemann
Anatol — obwohl manche sich das so vorzustellen scheinen.) Aber
auch in anderen Werken ist vor allem der Arzt schöpferisch geworden:
im „Professor Bemhardi“, im „Paracelsus“, in der Novelle „Doktor
Gräsler, Badearzt“. Nicht als ob einem Schriftsteller von starker Kraft
der Beobachtung und Einfühlung das Stoffliche an ihnen, das Milieu,
ja die Einzelheiten der Gestaltung nicht glücken konnte, auch wenn
er nie das Doktordiplom erworben hätte; aber das Hintergründliche
daran, die berufliche Physiognomik sozusagen und die geistigen und
menschlichen Charakterzüge, konnten nur einem Wissenden gelingen,
dessen Liebe seinen bösen Blick geschärft, seinen guten Blick ge¬
weitet und der zu alledem zum Humor des lächelnd Abseitsstehenden,
resigniert Betrachtsamen sich hinaufgefunden bat. Wie groß diese Liebe
zu dem innerlich aufgegebenen Beruf ist, zeigt sich auch in der auf¬
fallenden Tatsache, daß es nur wenige Stücke von Schnitzler gibt, in
denen nicht der Gestalt eines Arztes eine wesentliche Rolle zugeteilt
wäre und daß unter diesen vielen — von dem ganzen Kollegium im
„Professor Bernhardi“ vollkommen abgesehen — nur zwei unsympathisch
49 6 Richard Specht, Arthur Schnitzler
sind: die des Ferdinand Schmidt im „Vermächtnis“, der aber an sich
eine mißglückte Figur ist, in der Schablone des Theaterintriganten
erstarrt, beinahe persönlich animos gezeichnet, nicht nur einer der
gütelosen, brutalen Mediziner, denen ihr Beruf nur ein Geschäft ist,
sondern nicht einmal das; er wirkt so wenig „ärztlich“, daß es bei¬
nahe verwunderlich ist, daß Schnitzler ihm nicht lieber einen anderen
Beruf zugeteilt hat. (Und ist, nebenbei, so verwandt mit dem Arzt in
Saltens „Emst des Lebens“, daß man beinahe versucht wäre, an eine
Anregung durch das gleiche Modell zu glauben.) Und dann ist da
der verbitterte, tückisch gewordene, hinterhältige Dr. Eckold in der
„Stunde des Erkennens“ (Komödie der Worte), der so kalt und höh¬
nisch den Ehebruch seiner Frau rächt und diese Rache „genießt** — und
der schließlich doch in seiner Kleinheit unterliegt, weil ihm eben das
Beste des Arztes fehlt: das Erkennen und Verstehen. Sonst aber ist
es eine famose Galerie von gütigen, feinen, liebreichen und seelisch
taktvollen Menschenexemplaren, die Schnitzler in seinen Dramen als
Berufsgenossen hingestellt hat: von dem liebenswürdigen, wenn auch noch
ein wenig blaß und unbestimmt konstruierten Dr. Weidner im „Frei¬
wild“ und dem mit zwei Strichen glaubhaft gemachten Dr. Bernstein im
„Vermächtnis“ bis zu dem netten Dr. Halmschläger der „Letzten Masken**,
dem erschütternden Sonderling im „Medardus“, den beiden noblen,
schwermütig lebensabgewandten, nur mehr in ihrer Arbeit ruhenden
Professoren in der „Gefährtin“ und in „Stunde des Erkennens“ (die
einander irgendwie ähnlich sind), den nicht ganz erfreulichen, ein
wenig komödiantischen Episodisten in der „Gefährtin“ und wieder
den eitlen, sonoren Doktor in der Erzählung „Der Tod des Jung¬
gesellen“, bis zu den ärztlichen Prachtgestalten des wissenden, mensch¬
lich warmen, klugen und verstehenden Arztes im „Ruf des Lebens“,
des äußerlich unscheinbaren, aber innerlich reichen, verläßlichen, wahr¬
haften Dr. Mauer im „Weiten Land“, des zartfühlenden, resignierend
bescheidenen und doch seines Werts bewußten Dr. Reumann im
„Einsamen Weg“ und gar der beiden jüdischen Ärzte im „Weg ins
Freie“: des alten Dr. Stäuber, zu dem offensichtlich ein berühmter
Wiener Internist aus der Oppolzer-Schule Modell gestanden ist: ein
milder, weiser, gütiger Gelehrter, reif und abgeklärt, selbstlos und väter¬
lich — am wenigsten vielleicht gegen den eigenen Sohn, der aggressiver
ist, zwiespältig, ohne Wohlwollen, zwischen Medizin und Politik
schwankend, bitter geworden und doch schließlich zu einer Synthese
seines Wesens gelangend. Damit aber ist die Reihe noch nicht
Richard Specht, Arthur Schnitzler 497
erschöpft, auch wenn die absonderlichen Kopfe nicht in Betracht ge¬
zogen werden, die der Ärztekomödie „Professor Bernhardi“ soviel
Lebendigkeit geben: der junge Dr. Alfred in „Sterben" zum Beispiel,
noch nicht so eingehend gestaltet wie die späteren, mehr plakatiert,
aber sehr sympathisch in seiner Sicherheit, Frische und Wärme; sein
Namensvetter, der in der „Gefährtin" eine etwas klägliche Rolle
spielt und (es ist bezeichnend) wieder just kein Arzt sein müßte, er
hat gar keine beruflichen Spezialzüge; der Gatte in „Die Toten
schweigen", den ich mir so vorstelle wie den alten Dr. Stäuber in
jüngeren Jahren; der geschniegelte, weltmännische Professor im „Weg
ins Freie", der dreist zugreifende junge Doktor in „Frau Beate und
ihr Sohn" und dazu noch ein paar unwesentliche Nebenfiguren, die
diese stattliche Gilde vervollständigen. Und drei Hauptfiguren Paracelsus,
Bernhardi, Gräsler, von denen im Zusammenhang mit der Betrachtung
der Werke gesprochen werden soll.
Daß alle dichterische Gestaltung Abspaltungen des eigenen Ich
bedeutet, kann kaum deutlicher werden als durch die Tatsache dieses
Reichtums an Menschenexemplaren, die alle dem Berufe angehören,
dem der Dichter entsagen mußte. Hier waltet weder Zufall noch
Bequemlichkeit der Wahl, sondern Notwendigkeit Der Arzt Arthur
Schnitzler, der in seinem Werke schon durch die ganze Art der
Betrachtung, der Seelenenthüllung, der Weltanschauung und sogar oft
des besonderen Tons spricht, hat sich zu alledem in einem ganzen
Zug von Gestalten exemplifizieren müssen, in denen er sein eigenes
unterdrücktes Leben fortlebt. Ja ich glaube: erst in dem Augenblick,
in dem Schnitzlers Arzttum sich in Dichtertum umgesetzt hat und
eins mit ihm geworden ist, hat er wirklich schöpferisch werden
können. Bis dahin, solange er den Arzt verleugnete und gleichsam
vor ihm versteckt schriftstellerte, war er Epigone, hat heinesiert,
gegrillparzert, gehebbelt, französelt; dann erst, als er sich selber nicht
in Kategorien teilte, sondern als Ganzer seiner selbst bewußt wurde,
konnte er der werden, der er ist. Daß diese Selbsterkenntnis mit
Erlebnissen zusammenfiel, die ihn wachrieten, Intensität des Gefühls
entzündeten und gleichzeitig die Kraft der Wahrhaftigkeit, des Ein¬
stehens für sein Ich und die Wertlosigkeit jeder Pose vor sich und
anderen, den Mut, sich zu bekennen, — und ebenso, daß er gerade zu
jener Zeit die Freunde und Gefährten fand, deren Umgang für ihn
gleichsam ein geistiges Training bedeutete und dazu jene Kontrolle
und das Korrektiv, deren jeder in den Perioden der Selbstausprägung
49 8 Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
bedarf — das liegt in der Linie des Schicksalmäßigen, die sich in
jedem Leben erwählter Menschen zeigt und die nur Kurzsichtige und
Leichtfertige mit Zufallsfügungen und blindem Ungefähr verwechseln
können. Mehr als das: wo immer sich diese Gesetzmäßigkeit des
Erlebens zeigt, das immer wiederkehrende Wunder, daß zur rechten
Stunde der rechte Mensch, das rechte Buch, das rechte Ereignis als
Hilfe in einer geistigen oder materiellen Not kommt, aus der es
kaum mehr Rettung zu geben schien — dort wird man, ohne fehl
zu gehen, auf den Wert und das Berufensein des Menschen schließen
dürfen, dem dies begegnet. Jedes Leben steht unter einem Plan.
Aber er ist nirgends so überwältigend sichtbar wie im Leben der
Männer, die zu geistigem Schaßen bestimmt and. Schnitzler ist sogar
darin zu sehr Arzt, um derlei zuzustimmen. Es bleibt trotzdem wahr.
Auch fllr ihn.
(Aus dem Bache: Arthur Schnitzler von Richard Specht, du in Kürze im Verlage
S. Fischer, Berlin erscheint).
ARTHUR SCHNITZLER
ZU SEINEM SECHZIGSTEN GEBURTSTAG
(iy. Mai 1922)
I ch saß wieder einmal im „Weiten Land". Ich fühlte mich un¬
gewohnt behaglich. Ich beneidete diese Zeit und diese Dichtung
um ihre Freude am Leben, auch am schmerzlichen, um ihre gefühl¬
volle Bejahung, um das Glück, das sie fand und das sie brachte.
Wußten wir das damals? Wir waren so unpolitisch und unproblematisch.
Wir haben jetzt viele Politiker, die die Menschen glücklich machen
wollen, jedoch unglücklich machen, weil die Menschen so beschlagen
oder brutal and, daß sie nicht einsehn: von morgen ab konnten sie
glücklich sein, wenn sie nur ernstlich wollten. Wir haben viele
Dichter, die sich den Kopf und den Stil über selbstgeschaßene Probleme
der Schuld und des Unglücks zerbrechen. Aber wir haben die Freude
verloren. Sein Werk ist eine Walzerkette, mit dem Tropfen Melan¬
cholie, der darin wienerisch tränt Die Träne ist geblieben, das Glück
ist dahin. Mit dem Wunsche nach Glück stehen wir heute gerade
vor ihm. Das ist unser Glückwunsch, in einem sehr wahren Sinne
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 499
des Wortes. Nicht Kritik, nicht Zeitgrenze, sondern es ist ein
moralischer Instinkt. Darf ich mit diesem Präludiumwunsch nach
Glück die Festreden aus dem Kreise unserer Zeitschrift, die für ihn
Heimatboden war, eröffnen? OSKAR BIE
Ich schrieb einmal, vor Jahren, an Arthur Schnitzler: Es gibt keine
drei Dichter, denen ich als Schriftsteller mehr zu verdanken hätte als
Ihnen, und keinen einzigen, dem ich, was ich ihm verdanke, lieber
verdankte.
Mag dies auch nur eine persönliche Bemerkung und als solche,
was mich betrifft, völlig bedeutungslos sein, so hat sie doch in bezug
auf Schnitzler eine weiterreichende und tiefer begründete Bedeutung.
Denn in der Lage, in der ich mich bei jenem Geständnis befand,
dürfte sich ein namhafter Teil des österreichischen wie auch des
deutschen Schrifttums ein gestandener-, zum Teil auch uneingestandener¬
maßen befinden. Die österreichische Literatur, das österreichische
Theater zumal verdankt einem Dichter, den man an seinem Jubiläums¬
tage den größten österreichischen Dramatiker seit Anzengruber nennen
wird — und der es auch ist — natürlich unendlich viel. Wieviel, mag
derjenige, der die kritische Wage schwingt, haargenau bestimmen oder
abschätzen. Aber nicht darauf allein wird es bei dieser Bestimmung
ankomnen, wieviel Gewichte er hierzu benötigt, sondern auch auf
jenes kleine Übergewicht der Sympathie, das der Blick des Wägenden,
demjenigen des Dichters begegnend, seinem reichen Werk aus freien
Stücken zulegt. Es gibt zwar keine Dankbarkeit in der Literatur,
aber es gibt noch immer, in seltenen Fällen, Liebe. Und sie sich
gewonnen haben, ist auch Talent und vielleicht noch etwas mehr
als Talent raoul auernheimer
Was meinst Du, lieber Arthur, wieviel wird in hundert Jahren von
Dir noch am Leben sein? Und wieviel von mir? Wie viel von uns
allen? Du fragst vielleicht, ob ich Dich das grad an Deinem sech¬
zigsten Geburtstag fragen muß, aber kannst Du Dich erinnern, daß
ich je schicklich war? Und Du wirst auch gleich sehen. Du kommst
bei meiner Frage weit besser weg, als Du vermutest; ich fürchte:
besser als irgend einer sonst von uns! Es sieht dir ja nicht gleich,
anzunehmen, daß Du zeitlose Werke geschaffen hast, ewige, wie man
die nennt, mit denen nach Jahrhunderten noch die Schuljugend so
geplagt wird, daß auch der Erwachsene, wenn er den Namen hört
joo Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
im ersten Schreck sie zu kennen verlogen vorgibt. Wer sich aber
nicht schmeichelt, den kommenden Generationen solche Qualen be¬
reitet zu haben, wovon soll er sich Nachruhm erhoffen? Warum soll
in hundert Jahren jemand uns lesen? Was wird denn in hundert
Jahren Oberhaupt sein, dort wo wir jetzt sind, wo vor einiger Zeit
noch unser altes Österreich war? Nun, ich vermute: da wird in
hundert Jahren wieder jenes Österreich sein, wenn auch vielleicht ein
bißchen anders, ein bißchen verrückt, nämlich mehr nach Osten, viel¬
leicht auch unter einer anderen Firma, wahrscheinlich unter einem
anderen Namen, ich denke, daß es Böhmen heißen wird, den heiligen
Benes wird es als Erzvater verehren, und dieses neu betitelte Reich,
als Eckfenster Europas, wieder für die Länder des Abendlands genau
so wichtig, geheimnisvoll und unverständlich, wie es unter dem alten
Namen war, wird nun, gerade weil es auf seine neue Form sehr stolz
sein wird, das Bedürfnis aller neuen Formen haben: sich mit Ahnen
zu versehen und sich möglichst weit zurückzudatieren; es wird leiden¬
schaftlich historisch gesinnt sein. Und in seiner Urgeschichte wird
das letzte Kapitel, bevor das Erwachen der Menschheit beginnt, ja von
uns handeln: denk Dir, wie ungeheuer interessant wir dann sein werden,
als die letzten Stammväter, um die gleichsam der Urwald noch rauscht!
Und wenn man dann die Sitten, Denkweisen, Lebensarten des sanften
Abendrots, in dem das Österreich der Vorwelt verglomm, durchforscht
haben wird, wird man sich an den Künstler halten, der jenes Abend¬
rot von 1890 bis 19ZO am reinsten zu spiegeln scheint. Und der,
lieber Arthur, bist Du! (Denn ich selber komme ja da schon deswegen
nicht in Betracht, weil ich das Abendrot für einen Sonnenaufgang
hielt; ich muß mich im besten Fall mit der Unsterblichkeit eines
Spaßvogels begnügen, zum Gaudium der Enkel.) Du hast, wie kein
anderer unter uns, den letzten Reiz des verschimmernden Wien mit
zarter Hand gefaßt. Du warst der Arzt an seinem Sterbebett, Du hast
es tiefer geliebt als irgend einer von uns, weil Du schon wußtest,
daß keine Hoffnung mehr war: gerade die namenlose Melancholie,
die mich zuweilen ungeduldig gegen Deine Werke, ja fast mit Dir
selbst werden ließ, sichert Dir ihre Zukunft: als ein rührender Ab¬
schied von Österreich leben sie, so lang ein dankbares Erinnern an
die Kaiserstadt nicht ganz erloschen sein wird. Du bist der letzte
Dichter ihrer Agonie gewesen.
Unter den Plänen der Zeit, in der es fast aussah, als ob ich etwas
wie der Burgtheaterdirektor wäre, war auch der einer neuen Inszenierung
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 501
Deiner „Liebelei“, nämlich „im Kostüm“: die Dekoration des ersten
Aktes genau nach der Einrichtung Deiner Junggesellenwohnung von
189z kopiert, das Zimmer des zweiten und dritten in der gewissen
vorstädtischen Mischung von ein paar ererbten echten Biedermeier-
stücken mit scheußlichster billiger nachgemachter Tapezierherrlichkeit
aus den siebziger Jahren; und alle durchaus in der Tracht nach der
Mode von damals, viel „echter“ als in der Premiere, zu deren Zeit
Regisseure derlei „Nuancen“ noch gar nicht oder ganz fälsch verstanden.
Hätte ich heute beim Theater noch was zu reden, ich würde Dir
zu Deinem Sechzigsten eine ganze Reihe Deiner Stücke so, mit dem
Wohigeruch ihres Augenblickes, Vorspielen, sie müßten, wenn man
ihnen ihr Alter gibt, auf einmal wieder ganz jung sein. Du selbst
aber wirst, wenn sie sich Dir einst in ihrer zweiten und dritten oder
(haben wir denn nicht noch so schrecklich viele Geburtstage vor
uns?) vierten Pubertät zeigen, staunen, welch unverwüstlich lebendiger
Ausdruck und Abdruck jener sterbenden Zeit sie bleiben!
HERMANN BAHR
Wienerisches in den letzten Zügen, die ein leichtes Rot auf die
Wangen schminken. Verklingen des letzten Straußwalzers in schon
ansetzendes Klappern des Xylophons. Duft, dem die Kunst schon
etwas nachhelfen muß, damit man ihn noch wahrnimmt. Graue, die
sich bereits in Erschlaffung auflöst: diese für Wien eigentümliche
künstliche Natur ist, scheint mir, in Schnitzlers Arbeiten aufgefängen
und festgehalten, vielleicht auch für spätere Geschlechter, so wenig
monumental Schnitzler sich auch hat, dieser etwas ironische Sentimentale.
Ein kritischer ästhetischer Rigorismus würde hier mit falscher Wage
wägen, unpassendem Maß messen. Es ist schon viel, die Gesellschaft
seiner Zeit nie gelangweilt, aber immer interessiert, nie belogen, aber
immer geliebt zu haben.
FRANZ BLEI
Arthur Schnitzler erleidet das Leben: den Zauber kurzbemessenen
Daseins, der Jugend, der Liebe, der Freundschaft, die Schönheit un¬
vergänglicher Kunst; er erleidet es mit jener Süße der Schwermut,
die wir aus der Melodie seines Werkes kennen.
Arthur Schnitzler erleidet die Welt: das Unrecht in jeder Stunde des
Lebens, von Menschen am Menschen begangen, von Machthabern aus
Mißwollen und Unverständnis verübt; die Beschränktheit ahnungsloser.
joi Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
in Konvention verstrickter, Menschen; sie haben seine Sprache ge¬
schärft, seinen Dialog geschliffen.
Schnitzler prägt keine engumrissenen Charaktere; seine Gestalten ent¬
hüllen sich aus der Fülle ihrer Problematik, aus unverschuldeter Schuld
vor unseren Augen. Schicksalgebundene Menschen als Produkt ge¬
sellschaftlicher Zustände bevölkern das dramatische Werk Schnitzlers,
und so keimzeichnet sich der Geist und das Ethos seines Schaffens
nicht aus Widerstand gegen das Individuum als vielmehr gegen eine
Gesellschaft gerichtet, der er mit bezaubernder Ironie begegnet
Schnitzlers Werk, von warmer Menschlichkeit getragen, gliedert
sich als Lebensbesitz seiner Ahnenreihe Turgenjew, Tschechow, Chopin
an. Ihm. heute zu danken, hat der Mensch, der Freund und Verleger
willkommenen Anlaß. s. FISCHER
ipti scheint das Jahr der Sechzigjährigen zu sein, Schnitzler er¬
öffnet den — Reigen. Es ist zwar deutsch, selbst bei einer Gratulation
seinen Vorbehalt zu machen oder gar eine Kritik zu schreiben, ich
erlaube mir aber zu finden, daß das schlechter Geschmack ist Ent¬
weder schickt man einen ehrlichen Gruß oder schweigt
Aber warum nicht den Gruß schicken? Er gebührt jedem, der
etwas gab und sich sichtbar machte. Esprit de corps? Gewiß. Man
muß den Geist der gemeinsamen Angelegenheit hüten. Man ehrt
das, was man selbst für das höchste Gut hält, die Verwaltung der
geistigen Dinge, indem man einen ehrt, der ein Verwalter war.
Schnitzlers Tag fallt in eine für ihn ungünstige Zeit Sein Wien
ist nicht mehr, und da wir nicht untergehen wollen, bestätigen wir
mit einer gewissen Grausamkeit die Tatsache — wir sagen, was war,
ist erledigt Wir fühlten schon vor dem Krieg, daß eine Gesellschaft
sich zum Sterben anschickte. Man wird ohne große Mühe einmal
aus Schnitzlers Werk die Ahnung dieses Sterbens herauslesen: nicht
daß das seine Absicht gewesen wäre, er glaubte nur sich zu gestalten.
Solche Verrückungen des Gesichtswinkels sind eine der merkwürdigsten
Erscheinungen des geistigen Lebens, jeder von uns ordnet sich anders
ein, als er eingeordnet wird.
Auch in Deutschland gibt es viele Arten des Verhaltens zum Leben;
die sogenannte wienerische ist eine Ergänzung der metaphysischen
oder idealistischen oder knorrigen oder welche immer die eigentlich
deutsche sein soll — eine Ergänzung, die nur ein Rassenfanatiker
schelten könnte. Glauben wir doch nicht, daß wir, die heute von
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 503
Ideen bewegt werden, keine Verwendung mehr hätten für die Eleganz,
den gesellschaftlichen Charme, die Sinnlichkeit Schnitzlerscher Stücke
und Romane.
Die Melancholie Schnitzlers ist vielleicht zu unfrei, um sich bis zur
Größe zu erheben, seine Ironie nicht schmerzhaft genug — aber Melan¬
cholie und Ironie sind da, also ist die Musikalität seines Werkes da.
Und welch ein sauberer, ehrlicher Arbeiter. Es ist noch nicht sicher,
bei welchem Kitsch die Revolutionäre enden werden, wir erlebten be¬
reits seltsame Wandlungen und mancher Aristophanes ist schon Sardou
geworden; Schnitzler blieb sich treu.
Und was seine Prosa betrifft, so mag es charaktervollere geben,
aber keine reinere; man rechne ihn zu den Hütern der Sprache.
OTTO FLAKE
Die bleibende Bedeutung Schnitzlers scheint mir in dreierlei zu
liegen.
Zunächst hat er als einer der ersten den impressionistischen Menschen
auf die Bühne gestellt; dieser impressionistische Mensch hatte den un¬
geheuren Vorsprung, nicht mehr aus einer oder aus zwei Seelen zu
bestehen, sondern aus einem ganzen Gesellschaftsstaat von Seelen, die
sich in steter Verschiebung und Gegeneinanderbewegung befinden und
dennoch stets ein gesetzmäßiges und symmetrisches Gebilde hervor¬
bringen, ganz wie in einem Kaleidoskop. Um dies erkennen und ge¬
stalten zu können, muß man die Gabe besitzen, die Welt sozusagen
mit Facettenaugen zu betrachten: als ein vielflächiges Gebilde, das
zahllose Seiten und Ecken hat; und diese Gabe hat Schnitzler in
hohem Maße bewährt.
Sodann aber hat er, was mit dem ersten eng zusammenhängt, den
Mut und die Kraft besessen, in die geheimnisvolle Dunkelkammer
des menschlichen Unterbewußtseins hinabzusteigen und dort jene be¬
deutsamen und widerspruchsvollen Verschränkungen, Rückbeziehungen
und Polaritäten aufzuspüren, deren Entdeckung sich an den Namen
Siegmund Freuds knüpft. Man kann sagen: er hat bereits zu einer
Zeit, als diese Lehren noch im Werden begriffen oder nur auf einen
kleinen Kreis von Fachgelehrten beschränkt waren, die Psychoanalyse
dramatisiert.
Und schließlich — und das scheint mir das Wichtigste, obgleich es
vielleicht manche für eine sekundäre und subalterne Funktion halten
werden —: er hat in seinen Romanen und Theaterstücken das Wien
5 04 Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
des Fin de siede eingefangen and für spätere Geschlechter konserviert;
eine ganze Stadt mit ihrer einmaligen Kultur, mit dem von ihr ge¬
nährten und entwickelten Menschenschlag, wie er sich in einem be¬
stimmten Zeitpunkt der Reife und Überreife auslebte, ist durch ihn
klingend und leuchtend geworden. Er hat damit für seine Zeit etwas
ähnliches geleistet wie Nestroy und Schwind für das Wien des Vor¬
märz. Seine Werke sind ein unverlierbares Stück seelische Kostüm¬
geschichte. Er hat eine Art Topographie der Wiener Seelenverfassung
um 1900 geschaffen, an der man sich später einmal zuverlässiger,
reicher und genauer orientieren wird als an den dickleibigsten Kultur¬
historien. EGON FRIEDELL
Arthur Schnitzlers warme und feine Begabung besitzt einen Zug,
der in Deutschland selten ist, Grane. Es ist deutsche Grazie, keine
französische. Seine Gestalten, sein Theater ist unaufdringlich bis zur
möglichen Grenze. Man wird diesen deshalb manchmal ein wenig
blaß anmutenden Schriftsteller immer wieder revidieren müssen, um
die farbigen Reize und großen Schönheiten seines Werkes nicht zu
verlieren und für den deutschen Dauerbesitz zu retten. Den Sinn für
Schnitzler besitzen, heißt Kultur besitzen, und sich von Schnitzler
angezogen fühlen, heißt die Kultur suchen. Es sollte vielmehr als es
geschieht, Schnitzler gespielt werden. GERHART HAUPTMANN
Schnitzlers Theaterstücke sind vollkommene Theaterstücke, gebaut,
um zu fesseln, zu beschäftigen, zu unterhalten, in geistreicher Weise
zu überraschen; sie tun dem Augenblik genug und vermögen noch
nachträglich, das Gemüt und die Gedanken zu beschäftigen; ihre
Handlung und ihr Dialog beschwingen einander wechselweise, die
Charaktere sind vorzüglich erfunden, leben ihr eigenes Leben und
dienen doch nur dem Ganzen. Wenn man diese Stücke auf der
Bühne sieht, hat man das Gefühl: derjenige, der sie gemacht hat, ist
auf den Brettern zuhause und hat keinen anderen Ehrgeiz, als durch
das Theater zu wirken.
Schnitzlers Erzählungen sind lebendig, spannend; sie haben immer
das nötige Detail, aber nie zu viel davon, sie haben Psychologie, aber
die Psychologie dient nur dazu, den Gang des Ganzen in einem
reizenden Rhythmus bald zu verlangsamen, bald zu beschleunigen, de
stecken voll Beobachtung, aber auch die Beobachtung ist dem eigent¬
lichen Reiz der Erzählung untergeordnet. Man hat das Gefühl, daß
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 505
sie von einem Mann herrühren, dessen primäres Talent das Talent des
Erzählens kurzer oder eigentlich mittellanger Erzählungen ist. In
beiden Formen: Drama und Erzählung ist er durchaus ein Künstler,
und war es vom ersten Tage an. Es ist ein erstaunlicher Gedanke,
daß die kleinen Scenen aus dem Leben einer erfundenen Figur
„Anatol“, die heute aller Welt in Europa und über Europa hinaus
geläufig ist, und eine kurze in ihrer Art volkommen reife und meister¬
hafte Erzählung „Reichtum* 1 das erste waren, womit er vor so vielen
Jahren henrortrat.
Ihm sind alle Instrumente zu Dienst, die das Handwerk einem er¬
fahrenen und sehr nachdenklichen Künstler in die Hand gibt, um
selbst den scheinbar unergiebigen Stoff ganz zu bezwingen und der
Materie ihren inneren Reichtum zu entlocken. Keines davon gebraucht
er mit größerer und reizvollerer Virtuosität als die Ironie. Je kühner
er diese anwendet, je mehr er seinen Stoff und seine Motive mit ihr
in die Enge treibt, desto weiter erscheint paradoxerweise sein geistiger
Horizont. So würde ich sagen, daß neben der „Liebelei“, die eine
Arbeit von ganz einziger Art ist, einige seiner kleinen Kunst¬
werke — Erzählungen oder Dramen — durch den Zauber der Ironie
als die größten erscheinen. Ihnen allen wohnt nicht nur die An¬
deutung inne, daß der Schöpfer dieser kleinen Welten mehr von der
Welt weiß, als er zu sagen vorhat — dies ist ein gewöhnlicher Reflex
aller Ironie —, sondern auch dieses Besondere: man ahnt, er hätte
noch mehr und vielleicht noch stärkeres zu geben, als ihm bisher zu
geben gefallen hat oder gestattet war. Unter diesen Umständen kann
man nicht vom Alter eines solchen Menschen sprechen, denn es ist
durchaus möglich, daß ein solcher von einem Teil seiner Kräfte noch
niemals sichtbaren Gebrauch gemacht und auch einen Teil seiner
Jugend irgendwo zurückbehalten oder verborgen hat.
HUGO VON HOFMANNSTHAL
Arthur Schnitzlers Lebenswerk läßt sich nicht aus der öster¬
reichischen Dichtung, nicht aus der deutschen Literatur mehr hinweg¬
denken. Es ist in seiner Fülle, seinem dramatischen und epischen Ge¬
halt ein Bestandteil des deutschen geistigen Besitzes geworden. Das
empfinden heute nicht nur seine engeren Landsleute. Uber seine öster¬
reichische Heimat hinaus wissen ihm Tausende und Abertausende für
die künstlerischen Erlebnisse, die sie ihm schulden. Dank. Weil er
Graue, Humor und schmerzhafte Melancholie besitzt, hat man ihn des
50 6 jirthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
öfteren mit Maupassant verglichen. Nach meinem Gefühl zu unrecht
Nur aus dem tiefen Grunde seiner Heimat ist sein Wesen und seine
dichterische Art zu begreifen, gleichgültig ob er einem kulturellen oder
erotischen Problem dichterische Geltung verschafft. Er gehört zu den
Wenigen, die sich selbst die Treue gehalten haben unbekümmert um
das Geschrei des Marktes. Wenn Nietzsche von südlicher Musik spricht,
so darf man vielleicht bei Schnitzler von südlicher Dichtung reden.
Bei allem Bekenntnisdrang, bei allem großartigen Ernste, der seinen
Lebenswerken eigen ist, fühlt man sich noch beglückt durch eine
Wärme, der nichts Menschliches fremd ist.
FELIX HOLLAENDER
Ich habe Schnitzler, vom allerersten Anfang her, begleitet und geliebt.
Meine Sätze stehn in der „Welt im Drama“: Band 4 Seite 119—142.
Band II, Seite 275—305».
Er war ein Mehrer des Reichs: für die Frage der Vermischung
oder Unvermischbarkeit zweier Seelen.
ALFRED KERR
Schnitzler: das ist überaus süßes Leben und das bittere Sterben¬
müssen. Schnitzler: das ist grausames Wissen um unsere Nichtigkeit
zwischen den Abgründen und Schwermut über so vieles, das wir wohl
vermocht hätten, aber versäumt haben. Schnitzler: das ist auch wieder
Jubel, gehaltenes, zartes, mitleidendes Mitjubeln bei unseren vergäng¬
lichen Freuden, unseren Eintagsschönheiten, unserem Glück, über das
kein Gott wacht.
Veredeltes neunzehntes Jahrhundert ist Schnitzler, glaubenslos, einsam,
resigniert und trotz allem heiter, warme Menschlichkeit im kalten
Schicksal, gewitzter Geist mit so viel Anmut. Er ist beste Zeitseele
und bestes Wien. So stellte ihn seine Stadt in sein Jahrhundert. So
ward er Meister. HEINRICH MANN
Ich bin der wiederkehrenden Gelegenheit froh, Arthur Schnitzler
meiner alten und immer neuen Bewunderung zu versichern. Die
Stunden, ich wiederhole es, die ich im Theater oder zu Hause im
Lesestuhl mit der Anschauung seiner Werke verbrachte, waren solche
künstlerischer Geborgenheit, unzweifelhaftesten Vergnügens, glücklich
erhöhten Lebensgefühls. Vollendet österreichisch, ist er heute für
jene seelische Sphäre in eine ähnlich repräsentative Stellung hinein-
gewachsen, wie etwa Hauptmann für das Reich. Seine Schöpfungen
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 507
besitzen allen Schmelz, alle Geschmackskultur, alle Liebenswürdigkeiten
des Österreichertums; aber als ihr besonderes Charakteristikum er¬
scheint mir eine gewisse Lebensstrenge, die weh tut — und die wohl
eigentlich nicht österreichisch ist. Hofmannsthal ist traumhaft intensiv,
aber er hat nicht dies, und auch Altenberg hat es nicht. Es mag
vom Ärztlichen herrühren, — das Unempfindliche, Unerbittliche. Es
ist außerdem erotischer Ernst, die Lebensstimmung des Friedrich
Hofreiter im „Weiten Land", der sagt: „Ah, hältst du das für so
besonders lustig?“ Steinrück, eine schrofFe Natur, sprach es un¬
übertrefflich. Leidenschaft... ist sie österreichisch? Aber von An¬
fang war auch das andere im Spiel: Weisheit; zuerst als Skepsis und
Lockerheit, dann immer männlicher und gütiger sich ausbreitend. Was
aber wäre liebenswert, was ehrwürdig, was ergäbe Dichterwerk,
Dichterleben, wenn nicht die Vereinigung von Leidenschaft und Weis¬
heit, Strenge und Güte? THOMAS MANN
Oie Stellung des repräsentativen oder von einer bestimmten Ge¬
sellschafts-, auch einer nationalen Schicht zur Repräsentation erhobenen
Schriftstellers der letztverflossenen dreißig Jahre war und ist eine höchst
eigentümliche. Sofern er überhaupt eine geistige und moralische Wir¬
kung erzielen wollte, die nachhaltiger und eingreifender war als die
des jeweiligen einzelnen Produkts, mußte er auf das freie und alle
nahe Beziehung scheinbar ausschaltende Spiel der Phantasie verzichten
und seine Figurenwelt dem Bedingten und den Bedingnissen der Zeit
ausliefern. Um sich dann aber in Art und Charakter zu bewahren,
bedurfte er eines beständigen sichtbaren Einsatzes von Persönlichkeit,
einer Überbetonung des parteinehmenden Menschen fast, und diese
Persönlichkeit stand hinter dem Geschaffenen wie ein Baumeister, der,
die Maße und Formen noch in der Hand tragend, dem Bau nur mit
seinen Augen glaubt, es aber nicht wagt, ihn seiner wahren Bestimmung
zu überlassen. Diese eigentümliche allgemeine Verfassung des Dichters
hat natürlich ebenso eigentümliche Dichtergestalten hervorgebracht, und
eine der eigentümlichsten unter ihnen ist Arthur Schnitzler. Persön¬
liches Gewicht und persönliche Form treten reizvoll zutage, auch wo
Verknüpfung und Gehalt zum unpersönlich Welt-, Geschichts- und Zeit¬
haften drängen; eine strenge spröde Wahrhaftigkeit macht ihn mi߬
trauisch gegen die bildhafte Übertragung, ja man könnte beinahe sagen,
daß sie ihn mißtrauisch gegen die Kunst und ihr verwirrendes Spiegel¬
wesen überhaupt macht; aber eine romanische, südliche, heitere Anmut
508 Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
des Geistes befähigt Um, dieses Mißtrauen in eine Qualität zu ver¬
wandeln und ihm mit leichter Hand ironisch schwebende GebUde
entgegenzusetzen. (Dies ist auch die Quelle des vielfachen Mißver¬
ständnisses, denen er sein ganzes Leben hindurch preisgegeben war.)
Die Rätsel des sinnlichen und fibersinnlichen Daseins beunruhigen ihn
quälend; doch während er diese unbefangen, sogar mit Naivität in
sich aufnimmt und sich halb skeptisch, halb phUosophierend der Be¬
drängnis zu entledigen sucht, wird er an jenen zum Kritiker der Ge¬
sellschaft, verspäteter Enzyklopädist, und imaginiert Beziehungen, die
die Konflikte darsteUen wollen, ohne sie zu losen. Da er sich weder
zu hassen noch zu lieben entscheidet, gab ihm die Natur den Spott
und das Verstehen, eine oft mütterliche Art von Verstehen. Da er
viel zu feinnervig und zu rücksichtsvoll ist, zu zertrümmern, sucht er
gerecht zu werden, ja gerecht zu sein. Wo er träumt, neigt er all—
sogleich zur psychologischen Utopie; wo er lächelt, beruft er sich
schon Uber die Menschen hinweg auf das Schicksal, und für seine Ge¬
schöpfe nimmt er alle Verantwortungen vorweg, um sie auf seiner,
der Tradition entrissenen Wage sorgfältig und genau zu wägen. Eine
sinnvolle und edle Bemfihung, eines Arztes der Seelen und Erkenners
der irdischen Dinge würdig; und eine, die alterslos bleibt wie die
Menschheit selbst. jakob Wassermann
Wie schwer ist es, und zumal auf kargem Raum, über einen
Dichter etwas auszusagen, was vor dem inneren Wahrheitssinn bestehen
kann. Wie alles Lebendige, wie jeder Organismus erregt ein Gedicht
tausend Gedanken, Assoziationen, Erkenntnisse, es wechselt mit dem
Lichte der Stunden, Jahreszeiten und Lebensalter Farbe und Gesicht,
es ist unfaßbar. Wer getraute sich, den nächsten Menschen, der mit
ihm das Leben teilt, zu deuten?? Und vor dem geheimnisvollen
ewigen Wachstum eines Kunstwerks haben so viele die kecke Stirne
der Definition! — Daß aber ein Werk, umfriedet von den Seiten des
Buchs, sich verwandeln kann und immer wieder neue Züge trägt,
ist eben Zeichen, daß es Organismus ist, Gedicht!
Ein Meister, wie Arthur Schnitzler, ist unter den Deutschen
ein höchst seltener Fall. Schnitzler ist in unserm heutigen Schrifttum
gewiß der einzige Vertreter der Latinität Unter diesem Wort ver¬
stehe ich im Gegensatz zu allem Ausladenden, Verzweigten, Roman¬
tischen, Erziehungsromanhaften die Kunst der klaren geschmeidigen
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 50p
Linie. Die Novellen und Einakter Schnitzlers vor allem zeigen die
Schärfe des nicht malenden, sondern zeichnerischen Menschen, des
Künstlers, dem die notwendige unbeirrbare Abwicklung, die rapide
Logik höherer Schaffensrausch ist, als Überraschung und Verweilen
während des Weges. Ich nenne hier Novellen wie „Leutnant Gustl“,
„Die Toten schweigen“, „Die Hirtenflöte“, die Dramen „Der grüne
Kakadu“, „Die letzten Masken“, „Literatur“, „Komtesse Mizzi“. — In
diesen Werken herrscht eine großartige Nüchternheit, die erschüttert,
weil sich hinter ihr die Scham einer starken Moralität verbirgt. Es
ergreift uns die fast pedantische Geste eines Mannes, der mit bewußter
Wortblässe und einem akkuraten kalten Vortrag die Leidenschaft
seines Auges Lügen straft. Hierin ist Schnitzler mit Lessing zu ver¬
gleichen, ja in seiner Freude an der rationalen Lösung des Spiels
nimmt er eine Richtung der deutschen Poesie wieder auf, die mit
Lesring abbricht. Bewundernswert ist des Meisters Formensinn, sein
Takt, sein Gefühl für Gleichgewichtsverteilung, für Steigerungen und
Pausen. Diese gelungenen Maße allein schon bereiten dem Leser der
Novellen die seltene ästhetische Befriedigung: Dies ist richtig. — Aber
in diesen menschlichen Tugenden der Form bewährt sich nur der
Meister und sein reiner Wille. Tiefer bewährt sich der Dichter.
Was ist das zentrale Gefühl dieses Dichters, was die Quelle seines
Schaffendrangs, sein Urkonflikt, seine tragische Problematik, sein Wesens¬
nerv, sein Abgrund, aus dem Erkenntnis und Bekenntnis aufsteigt? —
Soweit aus den Geheimnissen eines künstlerischen Werkes die Lösung
dieser Frage versucht werden darf, möchte ich dies antworten: Wesens¬
nerv ist die uneingestandene, bange, leidenschaftliche Sehnsucht, zu
lieben und geliebt zu werden. In der Welt Schnitzlers herrscht eine
fatale Einsamkeit, eine prädestinierte Beziehungslosigkeit der Seelen.
Aber auch Eros herrscht, die zueinandergewandten Seelen reißen an
der Kette; vergeblich, sie sind allzu bedingt, unbewußt bejahen sie
ihre Einsamkeit. — So auch muß man die Rolle des Todes in diesen
Dichtungen verstehn. Nicht der heroische, nicht der religiöse Tod
wird geschaut, nicht der notwendige Tod, in den sich der Mensch
nach den Worten des alten Testaments „gesättigt an Leben“ ergibt,
nicht der Tod, der nur eine durchbrochene Larve bedeutet!! — Von
den Schnitzlerschen Menschen wird der Tod, das Vergehn, das Auf¬
hören gefürchtet, weil Lieben und Geliebtwerden ihnen niemals er¬
schöpfend gelingt, weil der unendliche Vorhalt nicht aufgelöst ist,
5io Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
die Melodie ihre Kadenz nicht fand, auf Kind-Stufe der Eros stehen
geblieben, der Stand der Sehnsucht nicht fiberschritten ward.
Schnitzler sieht nicht — wie ihm seit manchem Jahrzehnt die Kritik
nacbsagt — den Tod als Arzt; er sieht ihn als Ethiker. In dem
vielleicht unbewußten System seiner Weltanschauung bedeutet Tod
die Strafe ffir Einsamkeit.
Des Dichters Frauengestalten sind im Gegensatz zu seinen Männer¬
figuren das heroische Element des Werks. Die Frau als die dem Leben
Nähere durchbricht zuweilen die Mauer der Vereinsamung, sie erliegt
dem Ruf des Lebens, sie verliert ihr Ich an die Liebe. Ich denke hier
vor allem an Schnitzlers herrliche Novelle: „Die Hirtenflöte“. Das
Weib ist das eudämonische Prinzip, und es klingt unter dem Spiegel
all dieser Schriften, trotz Zweifels und analytischer Schärfe, ein ver¬
borgener Hymnus an die einsamkeitsvemichtende Kraft des Weibes mit
Schnitzler arbeitet mit den antipathetischen, ametaphysischen, un¬
parteiischen Mitteln seiner Generation, dennoch empfinde ich ihn vor
allem als Ethiker. — Ffir einen tieferen Blick zeigt er immer wieder
ein und dieselbe Leidenssituation: „Den einsamen Weg“, die Verschul¬
dung am Leben, die Todesangst als Folge des „Nichtgelebthabens“.
So ist er der dichterisch große, vollkommene Ausdruck des unein-
gestandenen Schuldgefühls der bürgerlichen Epoche. Sein menschlich
hohes, künstlerisch ungemein präzises, anmutiges und bedeutendes Werk
lebt und wird leben. — Aber da er hinter der Maske der Skepsis
und Ironie tief gelitten hat, so gehört er zu den Geretteten, zu den
Menschen, die weiterschreiten!!
Wer je in die blauschönen, leidenschaftlich klaren Augen dieses
nunmehr Sechzigjährigen, in diese jungen Feuer geblickt hat, der
weiß, daß noch in manchem Werk der Dichter uns die Auflösung
und Lösung seiner Musik schenken wird, und daß der einsame Weg
noch lange nicht sein strahlendes Ziel gefunden hat.
FRANZ WERFEL
Arthur Schnitzler, ich habe ihn, in seiner Stadt, seiner Welt auf¬
wachsend, von ferne seit erster Bewußtseinsffühe als Dichter geliebt
und liebe ihn noch mehr, seit ich an vielfacher Gelegenheit die pracht¬
volle, warme, gütige Fülle seiner Menschlichkeit rein bewährt sehen
konnte. Ihn bloß zu rühmen an seinem festlichen Tag, wäre mir
leicht. Aber es drängt mich, mehr zu tun: in jener Aufrichtigkeit
Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 511
von Arthur Schnitzler zu sprechen, die wir bei ihm in allen mensch¬
lichen Dingen lernten und mit dieser Aufnchdgkeit offen zu sagen,
daß mein Glaube an sein Werk ein höherer ist als jener der Stunde
(so laut sie sich auch gebärden mag).
Denn ich fühle in Wahrheit, in innerster, aufrichtiger Wahrheit
so: Arthur Schnitzlers Werk macht jetzt, gerade um die Stunde seines
festlichen Jahres, eine schwere, wohl die schwerste Krise seiner innem
und äußern Wirkung durch. Jener Teil, jener sehr wesentliche seines
Theaters, seiner Novellistik, der Sittenschilderung ist, kann heute und
gerade heute einer jungen Generation nicht mehr recht erkennbar
und mitfühlbar sein: sie werden, die Jüngeren, im Augenblick vielleicht
gar nicht verstehen, was uns an diesen Werken so wichtig und so
bezaubernd war, und ich vermag es wiederum zu verstehen, was eine
eben aufkeigende Generation (und nur diese allein) ungewiß macht
vor Kunstwerken, deren geistigen Reiz, deren dichterische Absicht sie
zweifellos nicht verkennen kann. Irgend ein Zusammenhang ist, das
spüren sie, zerstört, und wir wissen selbst, wer ihn zerstört hat:
die Zeit, der Krieg, jene beispiellose Verwandlung der Sphäre, die ge¬
rade Österreich am erbittertsten umgestülpt hat. Stifter war um 18 66
ein ähnliches geschehen in Österreich, und Jean Paul um 1870 in
Deutschland: auf einmal war eine Jugend da, dort eine liberale, hier
eine hastig-tätige, die nach einem Kriege sich und ihre Probleme in so
zarten, so edel kristallisierten, so seelischen Formen nicht mehr gespiegelt
fand. Noch einmal mußte die Zeit sich wenden und zurückschwingen,
bis wir diese Dichter wieder erkannten und erfühlten. Jenen war aber
die Zeit nur allmählich weggewendet worden: die Welt Arthur Schnitzlers
jedoch hat der Wirbelsturm von fünf Jahren mit einer in der Geschichte
unerhörten Vehemenz zerstampft, hier ist einem Dichter das Beispiellose
geschehen, daß ihm seine ganze Welt, aus der er schuf, seine ganze
Kultur für lange oder immer vernichtet scheint. Die Typen, die un¬
vergeßlichen, die er geschaffen, die man gestern, die man an seinem
fünfzigsten Geburtstag noch auf der Straße, in den Theatern, in den
Salons von Wien, seinem Blick fast schon nacbgebildet, täglich sehen
konnte, sie sind plötzlich weg aus der Wirklichkeit, sind verwandelt.
Das »süße Mädel“ ist verhurt, die Anatols machen Börsengeschäfte,
die Aristokraten sind geflüchtet, die Offiziere Kommis und Agenten
geworden — die Leichtigkeit der Konversation ist vergröbert, die
Erotik verpöbelt, die Stadt selbst proletarisiert. Manche der Probleme
wiederum, die er geistig so bewegt und klug abgewandelt, haben eine
5 ii Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag
andere Vehemenz bekommen, das Judenproblem vor allem und das
soziale. Konflikt ohnegleichen: als Spiegel hat dieser größte Schildern
Wiens und der österreichischen Geistigkeit sein Werk vor die öster¬
reichische Welt gestellt. Da stirbt das alte Österreich Uber Nacht, und
das neue, das in dem treugehaltenen Bilde sich hastig suchen würde,
vermöchte sich nicht mehr zu erkennen. Nicht er ist seiner Welt,
sondern die Wirklichkeit ihrem Dichter untreu geworden.
Ähnliche Krise der Wirkung bleibt keinem Kflnstler erspart. Manche
haben sie zu Beginn ihres Werkes, haben sie dann, wenn die Epoche,
die sie vorauserkannt haben, sich selbst noch nicht erkennt, manche
wieder, wenn ihre Welt leise wegzualtem beginnt Schnitzlers Welt
aber ist — beispielloses Schicksal — ihm unter den Händen weggerisen
worden, ehe sie welk, ehe sie ausgelebt war, und wir wissen es: für
immer. Und sie wäre wirklich dahin, ffir immer dahin, wenn nicht
einer — eben er, Arthur Schnitzler — sie gehalten, uns erhalten hätte,
wenn diese vorbeigelebte und im Wirbel weggetragene Welt nicht in
Formen und Typen, in ihrem Geist und ihrem Gefühl, ihrer unzer¬
störbaren Kunstgegenwart Bildnis und überdauernde Gestaltung hätte
in seinen Werken. Nur scheinbar besteht ja ein Künstler durch seine
Epoche, ein Dichter durch seine zeidiche Sphäre: in Wahrheit besteht
jene durch ihn allein. Nicht die Epoche dauert, und das Werk welkt
hin: die Epoche altert ab, das Werk aber erneut sich als Kultur, als
Kostüm, als Gegenwart ewiger Vergangenheit Alles was dies Wien
um die Jahrhundertwende, dies Österreich bis zu seinem Einsturz war,
wird einmal — denn der Name der francisco-josefinischen überspannt
zu weiten Raum — nur durch Arthur Schnitzler recht erkannt, nach
ihm recht benannt werden können. Die ersten Jahre unserer öster¬
reichischen Kultur haben nicht die Dichter geschildert: Haydn, Schubert,
Waldmüller sprechen allein für den Jahrhundertanfang. Dann erst
kommen Grillparzer, Stifter, Raimund als Bildner, als Deuter dieser Stadt,
dieses Reichs. Nach ihnen wäre dann Schweigen gewesen oder nur
mehr wieder Musik: hier aber steht er am Ende des Jahrhunderts,
Geist vom Geiste dieser Stadt, treu ihren Traditionen und bildet in
leichten und nachdenklichen Spielen, in schwebenden und doch dauern¬
den Gestalten das Wesen dieser merkwürdigen Kultur. Nur ein paar
Jahre noch, ein Jahrzehnt vielleicht, dann dunkelt schon eine leise
Patina von Geschichte auf diesen seinen Bildern und Gestalten. Was
heute Gegenwart von gestern scheint, wirkt dann rein als Vergangen¬
heit, wirkt in seinen vollendeten Teilen als Klassik und dichterische
5 1 3
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Dauer und eine junge Generation ist da, eine zweite oder dritte, die
unsere Liebe, unsere Verehrung zu diesem hinter aller Leichtigkeit so
ernsten, trotz aller Grazie so tiefen Künstler aufs neue beglückt
billigen und begleiten wird. Möge er ihr noch in voller Schaffens¬
kraft begegnen!
STEFAN ZWEIG
PHANTASTISCHE NACHT
Erzähltug von
STEFAN ZWEIG
H eute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte
das Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben,
um die ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal
geordnet zu überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich
einen unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer
darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbar¬
keit der Vorgänge schildern zu können. Mir fehlt jede sogenannte
künstlerische Begabung, ich habe keinerlei Übung in literarischen
Dingen und, abgesehen von einigen mehr scherzhaften Produkten im
Theresianum, habe ich mich nie im Schriftstellerischen versucht. Ich
weiß zum Beispiel nicht einmal, ob es eine besonders erlernbare
Technik gibt, um die Aufeinanderfolge von äußeren Dingen und
ihre gleichzeitige innere Spiegelung zu ordnen, frage mich auch, ob
ich es vermag, dem Sinn immer das rechte Wort, dem Wort den
rechten Sinn zu geben und so jene Balance zu gewinnen, die ich von
je bei jedem rechten Erzähler im Lesen unbewußt spürte. Aber ich
schreibe diese Zeilen ja nur ftir mich, und sie sind keineswegs bestimmt,
etwas, was ich kaum mir selber zu erklären vermag, anderen ver¬
ständlich zu machen. Sie sind nur ein Versuch, mit irgend einem
Geschehnis, das mich ununterbrochen beschäftigt und in schmerz¬
haft quellender Gärung beunruhigt, in einem gewissen Sinne endlich
einmal fertig zu werden, es festzulegen, vor mich hinzustellen und
von allen Seiten zu umfassen.
Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt,
eben aus jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht
33
514 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
verständlich machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von
einer so zufälligen Angelegenheit dermaßen erschüttert und amgewühlt
worden zu sein. Denn das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Er¬
lebnis. Aber wie ich dies Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu
bemerken, wie schwer es für einen Ungeübten wird, beim Schreiben
die Worte in ihrem rechten Gewicht zu wählen, und welche Zwei¬
deutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit sich an das einfachste
Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein „kleines“ nenne,
so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinne, im Gegensatz zu
den gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze Volker
und Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im zeit¬
lichen Sinne, weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum um¬
spannt als knappe sechs Stunden. Für mich aber war dies — im all¬
gemeinen Sinn also kleine, imbedeutsame und unwichtige — Erlebnis
so ungeheuer viel, daß ich heute — vier Monate nach jener phan¬
tastischen Nacht — noch davon glühe und alle meine geistigen Kräfte
anspannen muß, um es in meiner Brust zu bewahren. Täglich, stündlich
wiederhole ich mir alle seine Einzelheiten, denn es ist gewissermaßen
der Drehpunkt meiner ganzen Existenz geworden, alles, was ich tue
und rede, ist unbewußt von ihm bestimmt, meine Gedanken be¬
schäftigen sich einzig damit, sein plötzliches Geschehen immer und
immer wieder zu wiederholen und durch dieses Wiederholen mir als
Besitz zu bestätigen. Und jetzt weiß ich auch mit einemmal, was ich
vor zehn Minuten, da ich die Feder ansetzte, bewußt noch nicht
ahnte: daß ich mir dies Erlebnis nur deshalb jetzt hinschreibe, um
es ganz sicher und gleichsam sachlich fixiert vor mir zu haben, es noch
einmal nachzugenießen im Gefühl und gleichzeitig geistig zu erfassen.
Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich vorhin sagte, ich wollte
damit fertig werden, indem ich es niederschreibe; im Gegenteil, ich
will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben mich
warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu
können. Oh, ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes
schwülen Nachmittags, jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich
brauche kein Merkzeichen, keine Meilensteine, um in der Erinnerung
den Weg jener Stunden Schritt für Schritt zurückzugehen: wie ein
Traumwandler finde ich jederzeit, mitten im Tage, mitten in der
Nacht in seine Sphäre zurück, und jede Einzelheit sehe ich darin mit
jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz kennt und nicht das weiche
Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das Papier die Umrisse
5*5
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft ergrünten Landschaft hin«
zeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz Und das weiche, staubige
Qualmen der Kastanienblüten: wenn ich also noch einmal diese
Stunden beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie zu vertieren,
sondern aus Freude, sie wieder zu finden. Und wenn ich jetzt in
der genauen Aufeineinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht
darstelle, so werde ich um der Ordnung willen an mich halten müssen,
denn immer schwillt, kaum daß ich an die Einzelheiten denke, eine
Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine Art Trunkenheit faßt mich,
und ich muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß sie nicht, ein
farbiger Rausch, ineinander stürzen. Noch immer erlebe ich mit
leidenschaftlicher Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913,
da ich mir mittags einen Fiaker nahm . . .
Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder
werde ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines
Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhänge
etwas erzählen soll, merke ich ent, wie schwer es ist, jenes Gleitende,
das doch alles Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zu fassen.
Eben habe ich „ich“ hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni
1913 mir mittags einen Fiaker nahm. Aber dies Wort wäre schon
eine Undeutlichkeit, denn jenes „Ich“ von damals, von jenem 7. Juni,
bin ich längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate seitdem ver¬
gangen sind, obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen Ich wohne
und an seinem Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand
schreibe. Von diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch
jenes Erlebnis, ganz abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd
und kühl und kann ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen
Kameraden, einen Freund, von dem ich vieles und wesentliches weiß,
der ich aber doch selbst durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über
ihn sprechen, ihn tadeln oder verurteilen, ohne überhaupt zu emp¬
finden, daß er mir einst zugehört hat.
Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in wenigem
äußerlich und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die
man besonders bei uns in Wen die „gute Gesellschaft“ ohne be¬
sonderen Stolz, sondern ganz als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt.
Ich ging in das sechsunddreißigste Jahr, meine Eltern waren früh ge¬
storben und hatten mir knapp vor meiner Mündigkeit ein Vermögen
hinterlassen, das sich als reichlich genug erwies, um von nun ab den
Gedanken an Erwerb und Karriere gänzlich zu erübrigen. So wurde
ji 6 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
mir unvermutet eine Entscheidung abgenommen, die mich damaJs
sehr beunruhigte. Ich hatte nämlich gerade meine Universitatsstudien
vollendet und stand vor der Wahl meines zukünftigen Berufes, der
wahrscheinlich dank unserer Familienbeziehungen und meiner schon
früh vortretenden Neigung zu einer ruhig ansteigenden und kon¬
templativen Existenz auf den Staatsdienst gefallen wäre, als dies elter¬
liche Vermögen an mich als einzigen Erben fiel und eine plötzliche
arbeitslose Unabhängigkeit zusicherte, selbst im Rahmen weitgespannter
und sogar luxuriöser Wfinsche. Ehrgeiz hatte mich nie bedrängt, so
beschloß ich, einmal dem Leben erst ein paar Jahre zuzusehen und
zu warten, bis es mich schließlich verlocken würde, mir selbst einen
Wirkungskreis zu finden. Es blieb aber bei diesem Zuschauen und
Warten, denn da ich nichts Sonderliches begehrte, erreichte ich alles
im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und wollüstige Stadt
Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das nichtstuerische
Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu künstlerischen Voll¬
endung, zu einem Lebenszweck heranbildet, ließ mich die Absicht
einer wirklichen Betätigung ganz vergessen. Ich hatte alle Befriedigung
eines eleganten, adeligen, vermögenden, hübschen und dazu noch ehr¬
geizlosen jungen Mannes, die ungefährlichen Spannungen des Spiels, der
Jagd, die regelmäßigen Auffrischungen der Reisen und Ausflüge und
bald begann ich diese beschauliche Existenz immer mehr mit wissender
Sorgfalt und künstlerischer Neigung auszubauen. Ich sammelte seltene
Gläser, weniger aus einer innern Leidenschaft, als aus der Freude,
innerhalb einer anstrengungslosen Betätigung Geschlossenheit und Kennt¬
nis zu erreichen, ich schmückte meine Wohnung mit einer besondern
Art italienischer Barockstiche und mit Landschaftsbildem in der Art
des Canaletto, die bei Trödlern zusammenzufinden oder bei Auktionen
zu erstehen, voll einer jagdmäßigen und doch nicht gefährlichen
Spannung war, ich trieb mancherlei mit Neigung und immer mit
Geschmack, fehlte selten bei guter Musik und in den Ateliers unserer
Maler. Bei Frauen mangelte es mir nicht an Erfolg, auch hier hatte
ich mit dem geheimen sammlerischen Trieb, der irgendwie auf innere
Unbeschäftigtkeit deutet, mir vielerlei erinnerungswerte und kostbare
Stunden des Erlebens aufgehäuft, allmählich vom bloßen Genießer
mich zum wissenden Kenner steigernd. Im ganzen hatte ich viel er¬
lebt, was mir angenehm den Tag Rillte und meine Existenz mich als
eine reiche emfinden ließ, und immer mehr begann ich, diese laue
wohlige Atmosphäre einer gleichzeitig belebten und doch nie er-
5*7
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
schütterten Jugend zu lieben, fast ohne neue Wünsche schon, denn ganz
geringe Dinge vermochten sich schon in der windstillen Luft meiner
Tage zu einer Freude zu entfalten. Eine gut gewählte Kravatte konnte
mich fast froh machen, ein schönes Buch, ein Automobilausflug oder
eine Stunde mit einer Frau mich restlos beglücken. Ganz besonders
wohl tat mir in dieser meiner Daseinsform, daß sie, ganz wie ein
tadellos korrekter englischer Anzug, in keiner Weise der Gesellschaft
auffiel. Ich glaube, man empfand mich als eine angenehme Er¬
scheinung, ich war beliebt und gerne gesehen und die meisten, die
mich kannten, nannten mich einen glücklichen Menschen.
Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, ob jener Mensch von damals,
den ich als Fremden zu vergegenwärtigen bemühe, sich selbst so wie
jene andern als einen Glücklichen empfand, denn nun, wo ich aus
jenem Erlebnis für jedes Gefühl einen viel volleren und erfÜllteren
Sinn fordere, scheint mir jede rückerinnemde Wertung fast unmöglich.
Doch vermag ich mit Gewißheit zu sagen, daß ich mich zu jener
Zeit keineswegs als unglücklich empfand, blieben doch fast nie meine
Wünsche unerfüllt und meine Anforderungen an das Leben uner¬
widert. Aber gerade dies, daß ich mich daran gewöhnt hatte, alles
Geforderte vom Schicksal zu empfangen und darüber hinaus nichts
mehr ihm abzufordern, gerade dies zeitigte allmählich einen gewissen
Mangel an Spannung, eine Unlebendigkeit im Leben selbst. Was sich
damals unbewußt in manchen Augenblicken der Halberkenntnis in
mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich Wünsche, sondern
nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker, unbändiger,
ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und vielleicht
auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine allzu¬
vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem
Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte,
daß ich immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art
Erstarrung in mein Gefühl gekommen war, daß ich — vielleicht
ist es am besten so ausgedrückt — an einer seelischen Impotenz,
einer Unfähigkeit zur leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt.
An kleinen Zeichen erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir
auf, daß ich im Theater und in der Gesellschaft bei gewissen sen¬
sationellen Veranstaltungen, öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher
bestellte, die mir gerühmt worden waren und sie dann unaufgeschnitten
wochenlang auf dem Schreibtische liegen ließ, daß ich zwar mechanisch
weiter meine Liebhabereien sammelte, Gläser und Antiken kaufte.
518 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
ohne sie aber dann einzuordnen und mich eines seltenen und lang¬
gesuchten StUckes bei unvermutetem Erwerb sonderlich zu freuen.
Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise
Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten
Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im
Sommer — auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die
von nichts Neuem sich lebhaft angelockt fühlte — in Wien geblieben,
als ich plötzlich aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit
der mich seit drei Jahren eine intime Beziehung verband und von
der ich sogar aufrichtig meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir
in vierzehn aufgeregten Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen
Mann kennen gelernt, der ihr viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn
im Herbst heiraten und zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende
sein. Sie denke ohne Reue, ja mit Glück an die mit mir gemeinsam
verlebte Zeit zurück, der Gedanke an mich begleite sie in ihre neue
Ehe als das Liebste ihres vergangenen Lebens und sie hoffe, ich
werde ihr den plötzlichen Entschluß verzeihen. Nach dieser sachlichen
Mitteilung überbot rieh dann der aufgeregte Brief in wirklich er¬
greifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht zürnen und nicht zu
viel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle keinen Versuch
machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit gegen mich
begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch bei
einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn sie
sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und
als Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: „Tue
nichts Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!“
Ich las diesen Brief, zuerst überrascht von der Nachricht und
dann, als ich ihn durchblättert,- noch ein zweites Mal und nun mit
einer gewissen Beschämung, die sich, bewußt werdend, rasch zu einem
innem Erschrecken steigerte. Denn nichts von allen den starken und
doch natürlichen Empfindungen, die meine Geliebte als selbstver-
verständlich voraussetzte, hatte sich auch nur andeutungshaft in mir
geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer Mitteilung, hatte ihr nicht
gezürnt, hatte schon gar nicht eine Sekunde an eine Gewalttätigkeit
gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte des Gefühls in
mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht selbst er¬
schreckt hätte. Da .fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines
Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen
aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war.
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 519
und nicht« rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte
sie zurückzuerobem, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl,
was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem
wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke
war mir zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß
bereits in mir fortgeschritten war, — ich glitt eben durch wie auf
fließendem spiegelnden Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu
sein, und ich wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichen¬
haftes war, noch nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Ver¬
wesung, aber doch schon rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosig¬
keit, die Minute also, die dem wahren, dem körperlichen Sterben,
dem auch äußerlich sichtbaren Verfall vorangeht. Seit jener Episode
begann ich mich und diese merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerk¬
sam zu beobachten wie ein Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf
ein Freund von mir starb und ich hinter seinem Sarge ging, horchte
ich in mich hinein, ob sich nicht eine Trauer in mir rühre, irgend¬
ein Gefühl sich in dem Bewußtsein spanne, dieser mir seit Kind¬
heitstagen nahe Mensch sei nun für immer verloren. Aber es regte
sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas Gläsernes vor, durch das
die Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen zu sein, und so sehr
ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen auch anstrengte,
etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden
wollte, es kam keine Antwort aus jener innem Starre zurück. Menschen
verließen mich, Frauen gingen und kamen, ich spürte es kaum anders
wie einer, der im Zimmer sitzt, den Regen an den Scheiben: zwischen
mir und dem Unmittelbaren war irgendeine gläserne Wand, die ich
mit dem Willen zu zerstoßen nicht die Kraft hatte.
Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf nur diese Erkenntnis
doch keine rechte Beunruhigung, denn, ich sagte es ja schon, daß
ich auch Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm.
Auch zum Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte
mir, daß dieser seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war,
wie etwa die körperliche Impotenz eines Mannes nicht anders als in
der intimen Sekunde offenbar wird, und ich setzte oft in Gesellschaft
durch eine künstliche Leidenschaftlichkeit im Bewundern, durch
spontane Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse Ostentation
daran, zu verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteillos und
abgestorben wußte. Äußerlich lebte ich mein altes behagliches,
hemmungsloses Leben weiter, ohne seine Richtung zu ändern, Wochen,
5 1£>
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Monate glitten leicht vorüber und füllten sich langsam dunkel zu
Jahren. Eines Morgens sah ich im Spiegel einen grauen Streif an
meiner Schläfe und spürte, daß meine Jugend langsam hinüberwolltc
in eine andere Welt. Aber was andere Jugend nannten, war in mir
längst vorbei. So tat das Abschiednehmen nicht sonderlich weh,
denn ich liebte auch meine eigene Jugend nicht genug. Auch zu
mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl.
Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr
gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und
Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den andern, wuchsen
und gilbten hin wie die Blätter eines Baums. Und ganz gewöhnlich,
ohne jede Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen begann
auch jener einzige Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich
war damals, am 7. Juni 1913, später aufgestanden aus dem noch
von der Kindheit, von den Schuljahren her unbewußt nachklingendem
Sonntagsgeföhl, hatte mein Bad genommen, die Zeitung gelesen und
in Büchern geblättert, war dann, verlockt von dem warmen sommer¬
lichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer drang, spazieren gegangen,
hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso überquert, zwischen
Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen mit irgend einem
von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei Freunden
zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder Vereinbarung
ausgewichen, denn ich liebte es, insbesondere am Sonntag ein paar
unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall
meiner Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgend einer spontanen
Entschließung gehörten. Als ich dann von meinen Freunden kommend,
die Ringstraße querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der
besonnten Stadt und ward froh an ihrer frühsommerlichen Geschmückt-
heit. Die Menschen schienen alle heiter und irgendwie verliebt in
die Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles einzelne fiel mir auf
und vor allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün die Bäume
mitten aus dem Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast
täglich hier vorüberging, wurde ich dieses sonntäglichen Menschen¬
gewühls plötzlich wie eines Wunders gewahr und unwillkürlich bekam
ich Sehnsucht nach viel Grün, nach Helligkeit und Buntheit. Ich
erinnerte mich mit ein wenig Neugier des Fraters, wo jetzt zu
Frühlingsende, zu Sommeranfang, die schweren Bäume wie riesige
grüne Lakaien rechts und links der von Wagen durchflitzten Haupt¬
allee stehen und reglos den vielen geputzten eleganten Menschen
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 511
ihre weißen Blütenkerzen hinhalten. Gewohnt, auch dem flüchtigsten
meiner Wünsche sofort nachzugeben, rief ich den ersten Fiaker an,
der mir in den Weg kam und bedeutete ihm auf seine Frage den
Prater als Ziel. „Zum Rennen, Herr Baron, nicht wahr?“ antwortete
er mit devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst,
daß heute ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau,
wo die ganze gute Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam,
dachte ich mir, während ich in den Wagen stieg, wie wäre es
noch vor ein paar Jahren möglich gewesen, daß ich einen solchen
Tag versäumt oder vergessen hätte! Wieder spürte ich, so wie ein
Kranker bei einer Bewegung seine Wunde, an dieser Vergeßlichkeit
die ganze Starre der Gleichgiltigkeit, der ich verfallen war.
Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das
Rennen mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle
Auffährt der Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten
mit knatternden Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis
her. Der Kutscher wandte sich am Bock und fragte, ob er scharf
traben solle, aber ich hieß ihn die Pferde ruhig gehen lassen,
denn mir lag nichts an einem Zuspätkommen. Ich hatte zuviel
Rennen gesehen und zu oft die Menschen bei ihnen, als daß mir
ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, es entsprach besser
meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des Wagens die blaue
Luft wie Meer vom Bord eines Schifies lindrauschend zu fühlen und
ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume anzusehen, die
manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar Blütenflocken
zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und wirbelte, ehe
er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig, sich so
wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen, ohne
jede Anstrengung beschwingt und fbrtgetragen sich zu empfinden:
eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der
Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter
wiegen zu lassen von dem weichen frühsommerlichen Tag.
Aber es war schon zu spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz.
Ein dumpfes Brausen schlug mir entgegen. Wie ein Meer scholl es
dumpf und hohl hinter den aufgestuften Tribünen, ohne daß ich die
bewegte Menge sah, von der dieses geballte Geräusch ausging, und
unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn man von der
niedern Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade empor¬
steigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und
5 22
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift Ober die
weite grauschaumige Flache mit ihren donnernden Wellen. Ein
Rennen mußte gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem
Rasen, auf dem jetzt wohl die Pferde hinflitzten, stand, ein farbiger
dröhnender, wie von einem innem Sturm hin- und hergeschüttelter
Qualm, die Menge der Zuschauer und Spieler. Ich konnte die Bahn
nicht sehen, spürte aber im Reflex der gesteigerten Erregung jede
Phase. Die Reiter mußten längst gestartet, die Knäuel sich geteilt
haben und ein paar gemeinsam um die Führung streiten, denn schon
lösten sich hier am den Menschen, die geheimnisvoll die für mich
unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten, Schreie los und auf¬
geregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte ich die Biegung,
an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen Rasenoval an¬
gelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer zusammen-
gefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das ganze
Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus
diesem einen ausgespannten Hals gröhlte und gurgelte mit Tausenden
zerriebenen Einzellauten eine immer höher gischtende Brandung. Und
diese Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum
bis zum gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Geflehter
hinein. Sie waren verzerrt wie von einem innem Krampf, die Augen
starr und funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen,
die Nüstern pferdhaft gebläht Spaßig und grauenhaft war nflrs,
nüchtern diese unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir
stand auf einem Sessel ein Mann, elegant gekleidet mit einem sonst
wohl guten Gesicht, jetzt aber tobte er, von einem unsichtbaren
Dämon beteufelt, er fuchtelte mit dem Stock in die leere Luft hinein,
als peitschte er etwas vorwärts, sein ganzer Körper machte — unsagbar
lächerlich für einen Zuschauer — die Bewegung des Raschreitens
leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln wippte er mit den Fersen
unablässig auf und nieder über dem Sessel, die rechte Hand jagte
den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die Linke knüllte
krampfig einen weißen Zettel. Und immer mehr dieser weißen Zettel
flatterten hemm: wie Schaumspritzer gischteten sie über dieser grau-
durchstürmten Flut, die lärmend schwoll. Jetzt mußten an der Kurve
ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einemmal
ballte sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die
immer wieder einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und
diese Schreie schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 515
Ich stand inmitten dieser dröhnenden Tobsucht kalt wie ein Felsen
im donnernden Meer und weiß noch heute genau zu sagen, was ich
in jener Minute empfand. Das Lächerliche vorerst all dieser fratzen¬
haften Gebärden, eine ironische Verachtung für das Pöbelhafte des
Ausbruches, aber doch noch etwas Anderes, das ich mir ungern
eingestand — irgendeinen leisen Neid nach solcher Erregung, solcher
Brunst der Leidenschaft, nach dem Leben, das in diesem Fanatismus
war. Was müßte, dachte ich, geschehen, um mich dermaßen zu er¬
regen, mich dermaßen ins Fieber zu spannen, daß mein Körper so
brennend, meine Stimme mir wider Willen aus dem Munde brechen
würde? Keine Summe konnte ich mir danken, deren Besitz mich so
anfeuem könnte, keine Frau, die mich dermaßen reizte, nichts, nichts
gab es, was aus der Starre meines Gefühls mich zu solcher Feurig-
keit entfachen könnte! Vor einer plötzlich gespannten Pistole würde
mein Herz, eine Sekunde vor dem Erstarren, nicht so wild hämmern
wie das in den tausend, zehntausend Menschen rings um mich für
eine Handvoll Geld.
Aber jetzt mußte ein Pferd dem Start ganz nahe sein, denn zu
einem einzigen, immer schriller werdenden Schrei von tausenden
Stimmen gellte jetzt wie eine hochgespannte Saite ein bestimmter
Name empor aus dem Tumult, um dann schrill mit einem Male zu
zerreißen. Die Musik begann zu spielen, plötzlich zerbrach die Menge.
Eine Runde war zu Ende, ein Kampf entschieden, die Spannung
löste sich in eine quirlende, nur noch schlaff nachschwingende Be¬
wegtheit. Die Masse, eben noch ein brennendes Bündel Leidenschaft,
fiel auseinander in viele einzelne laufende, lachende, sprechende Men¬
schen, ruhige Gesichter tauchten wieder auf hinter der mänadischen
Maske der Erregung; aus dem Chaos des Spiels, das für Sekunden
diese Tausende in einen einzigen glühenden Klumpen geschmolzen
hatte, schichteten sich wieder gesellschaftliche Gruppen, die zusammen¬
traten, sich lösten, Menschen, die ich kannte und die mich grüßten.
Fremde, die sich gegenseitig kühl-höflich musterten und betrachteten.
Die Frauen prüften sich gegenseitig in ihren neuen Toiletten, die
Männer warfen begehrliche Blicke: jene mondäne Neugier, die der
Teilnahmslosen eigentliche Beschäftigung ist, begann sich zu entfalten,
man suchte, zählte, kontrollierte sich auf Anwesenheit und Eleganz.
Schon wußten, kaum aus dem Taumel erwacht, all diese Menschen
nicht mehr, ob dies promenierende Zwischenspiel oder das Spiel selbst
der Zweck ihrer gesellschaftlichen Vereinigung war.
514 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Ich ging mitten durch dies laue Gewühl, grüßte und dankte, atmete
wohlig — war es doch die Atmosphäre meiner Existenz — den Duft
von Parfüm und Eleganz, der dies kaleidoskopische Durcheinander
umschwebte, und noch freudiger die leise Brise, die von drüben aus
den Praterauen, aus dem sommerlich durchwärmten Walde manchmal
ihre Welle zwischen die Menschen warf und den weißen Musselin
der Frauen wie wollüstig-spielend betastete. Ein paar Bekannte wollten
mich ansprechen, Diane, die schöne Schauspielerin, nickte einladend
aus einer Loge herüber, aber ich ging keinem zu. Es interessierte
mich nicht, mit einem dieser mondänen Menschen heute zu sprechen,
es langweilte mich, in ihrem Spiegel mich selbst zu sehen, nur das
Schauspiel wollte ich umfassen, die knistemd-sinnliche Erregung, die
durch die aufgesteigerte Stunde ging (denn der andern Erregtheit ist
gerade dem Teilnahmslosen das angenehmste Schauspiel.) Ein paar
schöne Frauen gingen vorbei, ich sah ihnen frech, aber ohne inner¬
liches Begehren, auf die Brüste, die unter der dünnen Gaze bei jedem
Schritt bebten, und lächelte innerlich über ihre halb peinliche, halb
wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so sinnlich abgeschätzt und frech
entkleidet fühlten. In Wirklichkeit reizte mich keine, es machte mir
nur ein gewisses Vergnügen, vor ihnen so zu tun, das Spiel mit dem
Gedanken, mit ihren Gedanken machte mir Freude, die Lust, sie
körperlich zu berühren, das magnetische Zucken im Auge zu fühlen,
denn wie jedem innerlich kühlen Menschen war es mein eigentlichster
erotischer Genuß, in andern Wärme und Unruhe zu erregen, statt
mich selbst zu erhitzen. Nur den Flaum von Wärme, den die Gegen¬
wart von Frauen um die Sinnlichkeit legt, liebte ich zu fühlen, nicht
eine wirkliche Erhitzung, Anregung bloß und nicht Erregung. So
ging ich auch diesmal durch die Promenade, nahm Blicke, gab sie
leicht wie Federball zurück, genoß ohne zu greifen, befühlte Frauen
ohne zu fühlen, nur leicht angewärmt von der lauen Wollust des
Spiels.
Aber auch das langweilte mich bald. Immer dieselben Menschen
kamen vorüber, ich kannte ihre Gesichter schon auswendig und ihre
Gesten. Ein Sessel stand in der Nähe. Ich setzte mich hin. Rings¬
um begann in den Gruppen eine neue wirblige Bewegung, unruhiger
schüttelten und stießen sich die Vorübergehenden durcheinander;
offenbar sollte ein neues Rennen wieder anheben. Ich kümmerte mich
nicht darum, saß weich und irgendwie versunken unter dem Kringel
meiner Zigarette, der sich weißgekräuselt gegen den Himmel hob.
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 5*5
wo er heller und heller wie eine kleine Wolke im Frühlingsblau
vcr ging.
In dieser Sekunde begann das Unerhörte, jenes einzige Erlebnis,
das noch heute mein Leben bestimmt. Ich kann ganz genau den
Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die Uhr
gesehen: die Zeiger kreuzten sich und ich sah ihnen mit jener un¬
beschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten.
Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. Juni
1913. Ich blickte also, die Zigarette in der Hand, auf das weiße
Zifferblatt, ganz beschäftigt mit dieser kindischen und lächerlichen
Betrachtung, als ich knapp hinter meinem Rücken eine Frau laut
lachen hörte, mit jenem scharfen erregten Lachen, wie ich es bei
Frauen liebe, jenem Lachen, das ganz warm und aufgeschreckt aus
dem heißen Gebüsch der Sinnlichkeit vorspringt. Unwillkürlich bog
es mir den Kopf zurück, schon wollte ich die Frau anschauen, deren
laute Sinnlichkeit so frech in meine sorglose Träumerei schlug wie
ein funkelnder weißer Stein in einen dumpfen, schlammigen Teich —
da bezwang ich mich. Eine merkwürdige Lust am geistigen Spiel,
am kleinen ungefährlichen psychologischen Experiment, wie sie mich
oft befiel, ließ mich innehalten. Ich wollte die Lachende noch nicht
ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust meine Phantasie
mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein Gesicht,
einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze lebendige
atmende Frau um dieses Lachen zu legen.
Sie stand jetzt offenbar knapp hinter mir. Aus dem Lachen war
wieder Gespräch geworden. Ich hörte gespannt zu. Sie sprach mit
leichtem ungarischen Akzent, sehr rasch und beweglich, die Vokale
breit ausschwingend wie im Gesang. Es machte mir nun Spaß, dieser
Rede nun die Gestalt zuzudichten und dies Phantasiebild möglichst
üppig auszugestalten. Ich gab ihr dunkle Haare, dunkle Augen, einen
breiten, sinnlich gewölbten Mund mit ganz weißen starken Zähnen,
eine ganz schmale kleine Nase, aber mit steil aufspringenden zittern¬
den Nüstern. Auf die linke Wange legte ich ihr ein Schönheits¬
pflästerchen, in die Hand gab ich ihr einen Reitstock, mit dem sie
sich beim Lachen leicht an den Schenkel schlug. Sie sprach weiter
und weiter. Und jedes ihrer Worte ftigte meiner blitzschnell ge¬
bildeten Phantasievorstellung ein neues Detail hinzu: eine schmale
mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid mit einer schief gesteckten
Brillantspange, einen hellen Hut mit einem weißen Reiher. Immer
ji 6 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
deutlicher ward das Bild, und schon spürte ich diese fremde Frau,
die unsichtbar hinter meinem Rücken stand, wie auf einer belichteten
Platte in meiner Pupille. Aber ich wollte mich nicht umwenden,
dieses Spiel der Phantasie noch weiter steigern, irgendein leises Rieseln
von Wollust mengte sich in die verwegene Träumerei, ich schloß
beide Augen, gewiß, daß wenn ich die Lider aufräte und mich ihr
zuwendete, das innere Bild ganz mit dem äußern sich decken würde.
In diesem Augenblick trat sie vor. Unwillkürlich tat ich die
Augen auf — und ärgerte mich. Ich hatte vollkommen daneben ge¬
raten, alles war anders, ja in boshaftester Weise gegensätzlich zu
meinem Phantasiebild. Sie trug kein grünes, sondern ein weißes Kleid,
war nicht schlank, sondern üppig und breitgehüftet, nirgends aus der
vollen Wange tupfte sich das erträumte Schönheitspflästerchen, die
Haare leuchteten rötlichblond statt schwarz unter dem helmförmigen
Hut. Keines meiner Merkmale stimmte zu ihrem Bilde, aber diese
Frau war schön, herausfordernd schön, obwohl ich mich, gekrankt
im törichten Ehrgeiz meiner psychologischen Eitelkeit, diese Schönheit
anzuerkennen wehrte. Fast feindlich sah ich zu ihr empor, aber auch
der Widerstand in mir spürte den starken sinnlichen Reiz, der von
dieser Frau ausging, das Begehrliche, Animalische, das in ihrer festen
und gleichzeitig weichen Fülle fordernd lockte. Jetzt lachte sie wieder
laut, ihre festen weißen Zähne wurden sichtbar, und ich mußte mir
sagen, daß dieses heiße sinnliche Lachen zu dem Üppigen ihres
Wesens wohl in Einklang stand; alles an ihr war gleich vehement und
herausfordernd, der gewölbte Busen, das im Lachen vorgestoßene
Kinn, der scharfe Blick, die geschwungene Nase, die Hand, die den
Schirm fest gegen den Boden stemmte. Hier war das Weibliche
Element, Urkraft, bewußte, penetrante Lockung, ein fleischgewordener
Wollustruf. Neben ihr stand ein eleganter, etwas fanierter Offizier
und sprach eindringlich auf sie ein. Sie hörte ihm zu, lächelte,
lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn gleichzeitig glitt
ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin, gleichsam allen zu: sie
sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem, der vorüberging
und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen ringsum ein.
Ihr Bück war ununterbrochen wanderhaft, bald suchte er die Tribünen
entlang, um dann plötzÜch, freudigen Erkennens, einen Gruß zu er¬
widern, bald streifte er — während sie dem Offizier immer lächelnd
und eitel zuhörte — nach rechts, bald nach links. Nur mich, der
ich, von ihrem Begleiter gedeckt, unter ihrem Blickfeld lag, hatte er
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 517
noch nicht angerührt. Das ärgerte mich. Ich stand auf — sie sah
mich nicht. Ich drängte mich näher — nun blickte sie wieder zu
den Tribünen hinauf. Da trat ich entschlossen zu ihr hin, lüftete
den Hut gegen ihren Begleiter und bot ihr meinen Sessel an. Sie
blickte mir erstaunt entgegen, ein lächelnder Glanz überflog ihre
.Ablagen, schmeichlerisch bog sie die Lippe zu einem Lächeln. Aber
dann dankte sie nur kurz und nahm den Sessel, ohne sich zu setzen.
Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen entblößten Arm stützte sie
-weich an die Lehne und nützte die leichte Biegung ihres Körpers,
um seine Formen sichtbarer zu zeigen.
Der Ärger über meine fälsche Psychologie war längst vergessen,
mich reizte nur das Spiel mit dieser Frau. Ich trat etwas zurück an
die Wand der Tribüne, wo ich sie frei und doch unauffällig fixieren
konnte, stemmte mich auf meinen Stock und suchte mit den Augen
die ihren. Sie merkte es, drehte sich ein wenig meinem Beobachtungs¬
platze zu, aber doch so, daß diese Bewegung eine ganz zufällige
schien, wehrte mir nicht, antwortete mir gelegentlich und doch un¬
verpflichtend. Unablässig gingen ihre Augen im Kreise, alles rührten
sie an, nichts hielten sie fest — war ich es allein, dem sie begegnend
ein schwarzes Lächeln zustrahlten, oder gab sie es an jeden? Das
war nicht zu unterscheiden, und eben diese Ungewißheit irritierte
mich. In den Intervallen, wo, wie ein Blinkfeuer, ihr Blick mich
anstrahlte, schien er voll Verheißung, aber mit der gleichen stahl¬
glänzenden Pupille parierte sie auch jeden andern Blick, der zu¬
flog, ohne jede Wahl, ganz nur aus koketter Freude am Spiel, vor
allem aber, ohne dabei für eine Sekunde, scheinbar interessiert, das
Gespräch ihres Begleiters zu verabsäumen. Etwas blendend Freches war
in diesen leidenschaftlichen Paraden, eine Virtuosität der Koketterie
oder ein ausbrechender Überschuß an Sinnlichkeit. Unwillkürlich
trat ich einen Schritt näher: ihre kalte Frechheit war in mich über¬
gegangen. Ich sah ihr nicht mehr in die Augen, sondern griff sie
fachmännisch von oben bis unten ab, riß ihr mit dem Blick die
Kleider auf und spürte sie nackt. Sie folgte meinem Blick, ohne
irgendwie beleidigt zu sein, lächelte mit den Mundwinkeln zu dem
plaudernden Offizier, aber ich merkte, daß dies wissende Lächeln
meine Absicht quittierte. Und wie ich jetzt auf ihren Fuß sah, der
klein und zart unter dem weißen Kleide vorlugte, streifte sie mit
dem Blick lässig nachprüfend ihr Kleid hinab. Dann, im nächsten
Augenblick, hob sie wie zufällig den Fuß und stellte ihn auf die
j28 Ernst Robert Curtius, Über Andre Gide
erste Sprosse des dargebotenen Sessels, so daß ich durch das durch¬
brochene Kleid die Strümpfe bis zum Knieansatz sah, gleichzeitig
schien aber ihr Lächeln zu dem Begleiter hin irgendwie ironisch oder
malitiös zu werden. Offenbar spielte sie mit mir ebenso anteillos
wie ich mit ihr, und ich mußte die raffinierte Technik ihrer Verwegen¬
heit haßvoll bewundern, denn während sie mir mit falscher Heimlich¬
keit das Sinnliche ihres Körpers darbot, drückte sie sich gleichzeitig in
das Flüstern ihres Begleiters geschmeichelt hinein, gab und nahm in
einem und beides nur im Spiel. Eigentlich war ich erbittert, denn ich
haßte gerade an andern diese Art kalter und boshaft berechnender Sinn¬
lichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so blut¬
schänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt, viel¬
leicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. Frech trat ich näher und
griff sie brutal an mit den Blicken. „Ich will dich, du schönes Tier“,
sagte ihr meine unverhohlene Geste, und unwillkürlich mußten meine
Lippen sich bewegt haben, denn sie lächelte, mit leiser Verächtlichkeit
den Kopf von mir wegwendend, und schlug die Robe über den ent¬
blößten Fuß. Aber im nächsten Augenblick wandelte die schwarze
Pupille wieder funkelnd her und wieder hinüber. Es war ganz deutlich,
daß sie ebenso kalt wie ich selbst und mir gewachsen war, daß wir
beide kühl mit einer fremden Hitze spielten, die selber wieder nur
gemaltes Feuer war, aber doch schön anzusehen und heiter zu fühlen
inmitten eines dumpfen Tags.
(Schluß folgt im nächsten Heft)
ÜBER ANDRtf GIDE
von
ERNST ROBERT CURTIUS
A ndrd Gide hat den Erfolg nie umworben. Er hat von jeher
alle Pariser Methoden des Sich-zur-Geltungbringens verschmäht.
Er hat der Kritik nicht geschmeichelt und sich der Presse nicht emp¬
fohlen. Die ersten Auflagen seiner Bücher, die heute mit hohen
Preisen bezahlt werden, haben Jahre gebraucht, um vergriffen zu werden.
Daß von „La Porte dtroite“ (1910) — zum nicht geringen Erstaunen
Emst Robert Curtius, Über Andre Gide 519
des Verlegers — schnell hintereinander ein paar Auflagen notig wurden,
lag nur an einer Besprechung der „Times“, die dem Buch viele Be¬
wunderer in England verschaffte. Wie ja überhaupt Gides Kunst von
Anfang an außerhalb Frankreichs Verständnis und Sympathie fand.
Vor allem auch in Deutschland, wo Franz Blei, Rainer Maria Rilke,
Felix Paul Greve ihr durch Verdeutschungen neue Freunde zuführten.
Dem breiten literarischen Publikum ist Gide freilich jahrzehntelang
ein Unbekannter geblieben. Die offizielle Kritik ignorierte ihn oder
tat ihn mit Schlagwörtern ab.
Er ließ in der Stille sein Werk reifen. Er arbeitete und schwieg.
Er schwieg — incredibile dictu! — während des ganzen Krieges. Vom
August 1914 bis zum Juni 1919 hat Gide nichts drucken lassen,
außer einer Vorrede zu den „Fleurs du Mal“. Man ahnt, daß dieses
Schweigen, das sich so nachdrücklich von dem disharmonischen Ge¬
räusch der europäischen Kriegsliteratur abhebt, in einem sittlichen
Taktgefühl wurzelte. Gide fühlte sich solidarisch mit seiner Nation,
die in ungeheurer Kraftanstrengung um ihr Dasein kämpfte. In den
Phrasenchor der Kriegsliteratur konnte er nicht einstimmen. Aber der
in ihm lebendige soziale Instinkt des französischen Geistes verbot ihm
auch, durch den Individualismus eines sehr persönlichen und aller
Reglementierung spottenden Denkens die geistige Einheitsfront zu zer¬
setzen. Darum wahrte er das Schweigen. Und diese Haltung er¬
leichtert es gerade uns Deutschen, uns seinem Werk wieder zuzuwenden.
Denn er hat nie in die gehässigen Verleumdungen eingestimmt, durch
welche die meisten seiner schreibenden Landsleute sich erniedrigt und
für uns erledigt haben.
Man darf sagen, daß Gide heute in der geistigen Elite Europas
eine Schätzung genießt, wie sie nur wenigen zuteil wird. Wenn der
laute Erfolg und die Sensation des Marktes ihn bisher gemieden haben,
so liegt das nicht nur an der Zurückhaltung, die er dem literarischen
Getriebe gegenüber gewahrt hat, sondern vielleicht noch mehr an dem
Wesen seiner Kunst. Er ist kein leichter Autor. Er läßt sich nicht rubri¬
zieren. Sein Denken verläuft in vielfachen Windungen und überraschenden
Kurven. Er verwirrt die feststehenden Einteilungen und Maßstäbe.
Er ist unbequem und schwer übersehbar. In keinem seiner Bücher
hat man ihn ganz. Jedes gibt nur eine Seite von ihm wieder. Nur
aus der Zusammenschau seines ganzen Werkes treten die bestimmenden
Züge seiner Persönlichkeit hervor. Und dieses Werk ist zerstreut in
vielen Bänden, die zum Teil vergriffen und unzugänglich sind.
34
Emst Robert Curtius, Über Andri Gide
5}o
Um so mehr ist es zu begrüßen, daß Gide sich entschlossen hat,
einen Aaswahlband vorzulegen, in dem er das zusammenfügt, was
ihm selbst als das Bezeichnendste von seinem bisherigen Schaffen er¬
scheint. Die in den „Morceaux Choisis“* vereinigten Seiten werden
auch die Kenner seiner Kunst überraschen. Sie bringen neben Be¬
kanntem vieles, was bisher nur in — oft entlegenen — Zeitschriften
zugänglich war, dazu unveröffentlichte Fragmente von außerordentlichem
Glanz der Diktion. Sie stellen die vom Künstler selbst getroffene
Sichtung und Ordnung seiner Produktion dar, die nun schon drei Jahr¬
zehnte eines organischen Wachstums umfaßt.
Die „Morceaux Choisis“ tragen das Motto „les extremes me tou-
chent“ — charakteristisch für den Stil eines Künstlers, der es liebt,
vielfältige Bezüge zu verschränken. Immer haben ihn die äußersten
Schwingungsausschläge des Gefühls angezogen, haben ihn die Extreme
des Seelischen berührt Aber eben dadurch hat er sich die Mi߬
billigung aller Parteien, Schulen und Cliquen zugezogen. Weil er
sich nicht festlegen ließ, schalt man ihn disziplinlos. Weil er sich
in keinem Dogma abschloß, nannte man ihn haltlos und zersetzend.
Weil er es keiner Partei recht gemacht hat greifen ihn heute die
Fanatiker aller Parteien an. Nationalisten, Sozialisten, Katholiken
nehmen ihn aufs Korn. Und so kann er in zwiefachem Sinn sagen,
daß die Extreme ihn berühren.
Gide hat in einem seiner frühen Bücher den tiefsten Trieb seines
Wesens in der Formel ausgedrückt: „Das Höchstmaß von Menschen¬
tum in sich aufnehmen (assumer le plus possible d’humanitd)“. Das
grenzenlos Schweifende und dürstend Unersättliche, das stete Glühen
und bebende Weiterdrängen: das war die Erregung, um derentwillen
man seine Bücher liebte. Sie haben alle dasselbe Thema: Aufbruch
und Ausbruch. Sie gestalten alle den heftigen Drang des Aus¬
brechens aus der Gewohnheit der Sicherheit dem Beritt dem Gesetz,
der Moral. Es sind Dokumente des ewigen Wandertriebs einer Seele,
die von immer neuen Fernen verlockt wird. Sie blicken suchend in
neue Länder und in einen neuen Tag. In ihrem geheimsten Rhythmus
ahnt man den stürmischen Schlag eines revolutionären Herzens.
Freilich ist er nur einem feinen Ohr vernehmbar. Denn Gides Kunst
fordert von sich und verwirklicht die gehaltenste Zucht In ihr ist
nichts Unbeherrschtes. Jede Erregung ist zur Form gebändigt aller
4 Paris 1921. Im Verlage der „Nouvelle Revue Fran^aise“.
Emst Robert Curtius, Über Andre Gide
Schrei ist Klang geworden. Nirgends ein Sichgehenlassen, ein Hinaus¬
schleudern seelischen Rohstoffs. Diese Kunst ist ein Triumph des be-
vmfiten Formwillens. Sie läßt sich nicht vom Gefühl fortreißen,
sondern nimmt es als Rohstoff; dem der Geist sein Gesetz aufprägt.
Alle Unrast des Herzens ist reine Eurhythmie geworden. Selten
empfangt der Geist solche Genugtuung. Meist spricht sich heftige
innere Bewegung in tobendem Stammeln aus, und beherrschte Form
birgt seelische Armut. Aber Meisterschaft ist nur da, wo der wider¬
strebende Gehalt dem künstlerischen Gesetz untertan wird, und wo
wir durch die gebändigte Form hindurch noch die bebende Bewegt¬
heit des Seelischen spüren. Oder wie Gide es ausspricht: JL'oeuvre
dassique ne sera forte et belle qu’en raison de son romantisme
domptd“*.
Der Begriff des Klassischen wird von Gide immer wieder umkreist
Für ihn wie für Nietzsche ist der Klassizismus nicht eine ästhetische,
sondern eine moralische Angelegenheit Er ist die Ausdrucksform der
adligen Seelen. „C'est l’art d’ezprimer le plus en disant le moins.
C’est un art de pudeur et de modestie. Chacun de nos dassiques
est plus dmu qu’il ne laisse paraitre d’abord.** Klassizismus, wie Gide
ihn auffaßt, ist Askese: Verricht auf alle Selbstgefälligkeit des Persön¬
lichen; Läuterung der Individualität; Formwerdung der Seele. Gides
Empfänglichkeit für alle Lebensäußerungen des Geistes ist zu groß,
als daß er nur klassische Kunst gelten ließe. Verehrt er nicht in
Dostojewski eine der tiefsten Offenbarungen der Kunst? Aber er
fügt rieh dem lebendigen Gesetz des französischen Geistes ein, und
wie Nietzsche weiß er, daß nur in Frankreich der Begriff des Klassi¬
zismus einen wirklichen Sinn hat Wenn es jemand vermag, für den
europäischen Geist heute die französische Klassik wieder lebendig zu
machen, so wird es Gide sein. Er ringt mit menschlichen Problemen,
die uns alle angehen; er löst sie durch eine Methode sittlich-künst¬
lerischer Selbstgestaltung, die er als die des Klassizismus deutet Und
eben dadurch vermittelt uns die Einsicht in seine Problemstellung ein
neues Verständnis der Kräfte, die im französischen 17. Jahrhundert
wirksam waren. Durch Gide gesehen, wird Racine uns neu und
überraschend. Racine hat aus den aufrührerischen Gewalten dunkler
* Es ist derselbe Kunstwille wie in der neuen Wendung des Kubismus
zu Ingres. Braque empfiehlt, wie Westheim mitteilt, ganz klassizistisch
,4» regle qui corrige l’dmodon“.
53 *
Ernst Robert Curtius, Über Andrt Gide
Leidenschaft klare Harmonien komponiert. Gide treibt seine schwei¬
fenden Begierden und sein Empörertum durch die sieben Feuer einer
künstlerischen Alchemie, bis die Elemente verwandelt und gereinigt
im silbernen Glans klassischer Gebilde erstrahlen.
Gides Klassizismus ist persönliche Synthese der Vielfalt seiner Wesens¬
elemente. Und das sind nicht nur die Spannungen der eigenen Seele,
sondern auch die Gegensätze der geschichtlichen Kräfte, durch die er
bl utsmäßig bestimmt ist. Nordisches und Südliches sind in ihm ge¬
mischt. Seine väterliche Familie stammt aus dem Languedoc, die
mütterliche aus der Normandie. In einem autobiographischen Fragment,
das die „Morceaux Choisis“ mitteilen, deutet Gide an, wie er die
widersprechenden Einflüsse dieser beiden so charakteristisch verschiedenen
Landschaften und Kultursphären in sich verschränkt fühlt. Was ihn
zum künstlerischen Schaffen getrieben hat, war die Notwendigkeit,
diese entgegengesetzten Stimmen zum Einklang zu führen. „Ohne
Zweifel sind nur diejenigen zu machtvollen Bejahungen fähig, welche
der Impuls ihrer Erblichkeit in einer einzigen Richtung treibt. Im
Gegensatz dazu rekrutieren sich, wie ich glaube, die Schiedsrichter
und Künstler aus den Kreuzungsprodukten, in denen gegensätzliche
Forderungen gleichzeitig existieren und sich entwickeln, indem sie sich
neutralisieren." Schlichtung seelischen Widerstreites, Ausgleich diver¬
gierender Kräfte, Herrschaft des Universalen über das Besondere: das
sind die Funktionen, die der Kunst aus solchen seelischen Voraus¬
setzungen erwachsen. Es sind die Wesenszüge des klassischen Geistes.
Die nordsüdliche Spannung der Erblichkeit kreuzt sich bei Gide
mit dem noch tiefergreifenden Gegensatz zwischen der älteren and
der jüngeren Form des westlichen Christentums. Gides Vater tot
P rotestant, die Mutter Katholikin. Der puritanische Calvinismus det
väterlichen Tradition war die Atmosphäre des Hauses und bestimmte
den Geist der Erziehung. Dieser ererbte Protestanismus prägt sich
stark aus in Gides literarischer Persönlichkeit. Von ihm hat Gide das
grübelnde Forschen in der Bibel, die Auflehnung gegen die Satzung
der Autorität, das innere Ringen mit Gewissensentscheidungen. Der
protestantische Emst des Suchens nach einer persönlichen sittlichen
Überzeugung trifft bei ihm zusammen mit dem Psychologismus des
französischen klassischen Geistes und gibt seinen moralischen Analysen
das innere Gewicht und seiner Moralkritik die echte Tiefe. Die
religiöse Erziehung hat den sittlichen Sinn in ihm geweckt und fein¬
fühlig gemacht, aber ihn zugleich mit einer Gesetzes-Ethik abgefunden.
Emst Robert Curtius, Über Andre Gide yjj
-Aber eben dem geschärften sittlichen Empfinden wird eine nach all¬
gemeinen Regeln urteilende Moral unerträglich. Gerade aus lebendigem
«ethischen Werten heraus muß Gide die überkommene Ethik ablehnen:
nicht etwa, um sich der Willkür zu überantworten, sondern um das
verborgene „individuelle Gesetz“ (der Begriff Simmels trifft Gides
Denken am genauesten) des Sittlichen aufzufinden, das jedem in nur
ftlr ihn gültiger, aber auch verbindlicher Gestalt aufgegeben ist. Er
muß die starren Konventionen der offiziellen Moral beiseite räumen,
um die neue Lebensregel zu finden, mit der er den ihm vorgezeichneten
ethischen Wert, — „sein“ Gutes (Scheler) —, verwirklichen kann.
Diese Regel lautet: agir selon la plus grande sinceritl. Es zeigt sich,
daß das Leben nach dieser Maxime die stetigste Anspannung des
: Willens und den klarsten Blick erfordert „Jamais je ne m'apparus
plus moral qu’en ce temps oü j'avais ddddd de ne plus l’itre, je veux
dire: de ne Titre plus qu’ä ma fa^on.“ Pflicht wird jetzt, alles ab¬
zulegen, was nicht aus innerstem Zentrum der Persönlichkeit empor¬
quillt: alle vertrauten, ererbten Gedanken, Anschauungen, Fühlweisem
Diese Selbstentäußerung vom sittlichen Besitz der Väter erscheint als
Vorbedingung für das reine Herausstellen des eigenen Gehaltes, der
schließlich, von allen Hüllen befreit, sich nur mehr darbietet als „une
volonti aimante“. Es ist ein gefährlicher Weg, den Gide hier vor¬
zeichnet Wir denken an Thomas Manns Worte: „Was eigentlich
das Sittliche, was das Moralische sei — Reinheit und Selbstbewahrung
oder Hingabe, das heißt Hingabe an die Sünde, an das Schädliche
und Verzehrende, ist ein Problem, das mich früh beschäftigte. Große
Moralisten waren meistens auch große Sünder. ... Das Gebiet des
Sittlichen ist weit, es umfaßt auch das Unsittliche.“ „Et je sais
bien,“ sagt eine von Gides Gestalten, „que cet exc&s de renoncement,
ce reniement de la vertu par amour de ia vertu m£me, ne paraitra
qu’un sophisme abominable k l’äme pieuse qui me lira. Paradoxe ou
sophisme qui dis lors indina ma vie, si le düble me le dicta, c’est
ce que j’examinerai par la suite . ..“ Der moralische Individualismus
führt hier auf steilen Pfaden in eine Einsamkeit, wo Abgründe gähnen.
Aber dem hält die Wage der harmonische Humanismus, den Gide
ja auch als Blutserbe besitzt Und zu dem bis zur Paradoxie ge¬
steigerten moralischen Autonomismus tritt ausgleichend ein Ideal
antikischer serenitas. „Les Grecs qui nous ont laissd de Phumanitd,
non par le peuple de leurs statu es seulement, mais par eux-mimes,
une image si belle, reconnaissaient autant de dieux que d’insdncts, et
5)4 Ernst Robert Curtius, Über Andr( Gide
le problimc pour eux dtait de maintenir l’Olympe intime en dquilibre,
non d’asservir et de rdduire «ucun des dieux.** Problematisch gespannt
zwischen Puritanismus und Paganismus wölbt sich Gides ethisches
Denken über den Gegensätzen, die seit der Renaissance den euro¬
päischen Geist mit ach selbst uneins machen. Gegenüber jener Sinnen¬
feindschaft, die, aus der Spätantike übernommen, in der Geschichte
des Christentums eine so bestimmende Macht gewonnen hat, gegen¬
über der Verketzerung des Glückes und der Lust, mit der philo¬
sophischer Rigorismus das Leben verdunkelt hat, erhebt sich in Gides
Künstlertum ein hellklingender Hymnus auf das Leben. Er feiert du
Dasein als Gestaltwerdung der Freude. Er reinigt die Natur von den
Verleumdungen scheelblickender Neider und Finsterlinge. Er wird
zum Künder eines Eudämonismus, in dem sich Daseinsjubel mit reli¬
giöser Ergriffenheit vermählt. „Que l’homme est n 6 pour le bonheur,
certes toute la nature l’enseigne. C’est l’efibrt vers la voluptd <jui
fait germer la plante, emplit de miel la rache et le coeur de riomme
de bontd.“ Etwas von der Weihe antiker Hymnik, von Lucrez und
vom Pervigilium Veneris liegt über solchen Seiten. Du Glück des
Seins und die schöpferische Liebe werden als Mächte der Güte und
der Sittigung empfunden. Die Menschen haben in verblendetem Un¬
verstand du Leben arm und eng gemacht Es könnte so viel schöner
sein, als sie zugeben wollen. Nicht in der Vernunft; sondern in der
Liebe liegt die Weisheit Mit liebender Aufgeschlossenheit beugt sich
Gide über den Reichtum des Dueins, mit zärtlicher Pflege möchte er
den verkrüppelten, wundenübcrsäten Leib der Menschheit heilen. Er
möchte ihm die drückenden Verbände abnehmen und ihn nackt der
Sonne aussetzen. Hier ist der Ort, wo der viel beanstandete Indi¬
vidualismus von Gide in naturhafter Entfaltung zu den Fragen des
Gemeinschaftslebens gedrängt wird. Man ahnt in dem Immoralisten
den Emanzipator, in dem Selbstanalytiker den sozialen Umstürzler.
Dieser Klassizismus ist mit Zukunftsenergie geladen. „II faut dtre sans
lois pour dcouter la loi nouvclle.“
Ist das moralischer Anarchismus? Wer tiefer in die neuen Fragmente
eindringt, mit denen uns die „Morceaux Choisis“ bekannt machen,
wird sich in eine leidenschaftliche Bewegung, in ein erschütterndes
Ringen hineingezogen finden. Es sind explosive Gewalten in diesen
schimmernden Sätzen gebunden. Der aus Marmor gemeißelte Dialog
bebt von inneren Spannungen. Manche Seiten verherrlichen antikisch¬
nackt und antikisch-fromm die freie Schönheit beseelter Sinnlichkeit
555
Emst Robert Curtius, Über Andri Gide
Heidnische Lebenserhöhung feiert ihre Feste. War Gides Moralkritik
nur ein verschlungener Weg zur Rückeroberung jener berauschten
Schönheit»- und Erdenliebe, die wir der Renaissance zuschreiben? Zur
'Wiederaufrichtung der olympischen Altäre? Es gibt in der Geschichte
nie ein reines Zurück. Und in Gide sind die christlichen Seelen-
snächte zu wirksam, um ihn in einem neuen Hellenismus versanden
zu lassen. Die Erfahrungen mystischer Jahrhunderte kann er nicht
von sich abtun. Dieser Heide hat die Heilsfrage des Evangeliums
gehört. Wollte er sich taub npachen, er könnte sie nicht zum
Schweigen bringen. Wohl sucht er das Evangelium zu reinigen von
allen Deutungen der Kirchen und Schulen. Er entdeckt, daß ihm
der finstere Geist der Weltverleugnung fern ist; daß seine Sittenlehre
nicht aus Verboten besteht; noch mehr, daß es Freude gebietet und
Erfüllung aller Freude verheißt. Und doch ... Und doch weckt cs
in der Seele eine innerste Bewegung, die nicht mehr auf das Glück
gerichtet ist, und die es unmöglich macht, sich liebend und begehrend
an die Erdendinge zu verlieren. Nachdem er alle Bürden der Tra¬
dition abgeworfen, sich aller von außen kommenden Verfälschungen
seines Wertfühlens entledigt, und frei und unbeschwert den Weg reiner
Selbstverwirklichung beschritten hat, trifft Gide auf diesem Wege
wieder mit einer Erfahrung der Seele zusammen, die dem Sinn des
Evangeliums gleichgerichtet ist. „ .. . il s’agit de contempler Dien
du regard le plus dair possible et j’dprouve que ebaque objet de cette
terre que je convoite, se fäit opaque, par cela m£me que je le con¬
voite, et que, dans cet instant que je le convoite, le monde entier
perd sa transparence, ou que mon regard perd sa dartd, de sorte que
Dieu cesse d’6tre sensible ä mon äme et qu’abandonnant le Crdateur
pour la erdature, mon äme cesse de vivre dans fttemitd et perd
possession du royaume de Dieu.* 4
Vielleicht lösen sich die Widersprüche in Gides Denken angesichts
dieser Worte. Die Einheit seines Weges ist beschlossen in der Licht¬
suche. Von dem Grau des Puritanismus wendet er sich zu den bunten
Farben des leuchtenden Lebens. Aber dies bunte Leuchten selbst wird
schattende, erdige Trübe, gemessen an dem reineren Licht des Gött¬
lichen. Der weiße Strahl der Gottesliebe allein kann dem Lichtsucher
das letzte Ziel sein. Und so hören wir jetzt die Formel: contempler Dieu
du plus dair regard possible — als Replik und Entsprechung zu dem
„assumer le plus possible d’humanitd'* der früheren Epoche. Gewandelt
hat sich die Blickrichtung; geblieben ist die Intensität: le plus possible.
53 6 Emst Robert Curtius, Über Andrd Gide
Freilich wäre es falsch, die Entwicklung von Gides Denken künst¬
lich zu vereinfachen. Die Linie, die ich herauszuheben versuchte, ist
deutlich sichtbar. Aber sie ist nur eine unter vielen. Klärung ist
erreicht, Klarheit nicht. Klarheit kommt letzten Endes nie aus geistiger
Synthese, sondern aus sittlicher Entscheidung. Das dritte Reich ist
eine Fata Morgana des Geistes. Wer ihr nachfolgt, verhungert in der
Wüste. Und noch einer anderen Gefahr ist Gide ausgesetzt. Je mehr
er einerseits dem Licht der übernatürlichen Klarheit zustrebt, um so
mehr muß er von den außernatürlichen Mächten der Finsternis be¬
droht sein. Je mehr der Dialog seines eigenen Innern aus dem
Psychologischen in die Sphäre des substantiellen Seins hineinwächst,
um so mehr wird er zu einem metaphysischen Kampf der Urgewalten.
Ein faustisches Schaudern steigt beklemmend aus manchen Bekennt¬
nissen auf. Und der Schatten eines schwarzen Riesenflügels streift in
satanischem Umriß manchmal über diese zum Licht emporgehobene
Seelenlandschaft.
Das sind nun freilich Dinge, die jenseits der literarischen Sphäre
~ liegen. Aber Gides Bedeutung ruht ja eben darin, daß sein Werk
höchste Literatur und zugleich mehr als Literatur ist; wie es echt
französisch und zugleich überfranzösisch ist. Es hat den Anschein,
als würde durch Gide wieder einmal der französische Klassizismus
eine weltbürgerliche Ausdrucksform des europäischen Geistes. Wenn
er es vermag, so ist es, weil Gide aus dem Bezirk aller großen
Kultursphären geistige Elemente aufgenommen und seinem Stil ein¬
geschmolzen hat. Er ist ein europäischer Autor französischer Nation.
Das ist der beherrschende Eindruck, mit dem wir die „Morceaux
Choisis“ aus der Hand legen. Sie zeigen Gides Wesen in neuer Ge¬
stalt. Das Bild, das wir bisher von ihm hatten, war das des Ironikers,
des Gedankenlyrikers, des Artisten. Nach sieben Jahren des Schweigens
tritt er hervor mit der reifen Ernte einer Lebensarbeit und mit den
Erstlingen neuen Schöpfertums: als ein Meister der Kunst und ein
Wortführer des europäischen Geistes.
REISE IN DIE STADT
von
FRIEDRICH BURSCHELL
E s hilft nichts, daß man sich sperrt. FQr einige Zeit mag es Trost
gewähren, rings um sein abgeschiedenes Zimmer Tannen im Schnee
und in reiner Sonne zu haben, aber ist man auch nur zur geringsten
Tätigkeit bestimmt, die Ober den Umkreis des nächsten Bodens hinaus¬
geht, so wird es zur Pflicht, nicht zu vergessen, was draußen über
Seen und Flössen in den großen Städten sich regt, mitzuschwingen.
Widerstände lebendiger zu spOren und prüfend sich selber wieder
einmal im Gewühl umhertragen zu lassen.
Lockungen der Feme und Abenteuer sind es nicht mehr, obwohl
es noch immer dieselbe Freude ist, dem Unbekannten oder auch nur
der Möglichkeit sich anzuvertrauen. Man weiß es wohl: die Welt ist
grau geworden, und sieht es in mir selber nicht erfreulich aus, von
draußen fließt es nicht in mich herein. Denn kaum hat man die
vertrauten Menschen, die einem eben noch so nahe waren, klein und
unterlegen zurückgelassen, kaum hat man nach der ersten Lust an der
rollenden, glatten Fahrt sich zurückgesetzt und um sich gesehen, so
fallt schon die fremde Welt über einen her.
Man rüstet sich wie zu einem Kampf, man ist auf der Hut, die
Gesichter im Wagen und die Luft weissagen nichts Gutes; nur daß
die Nacht es mildert und fern, auf das Rauschen des eigenen Blutes
abgestimmt, die Räder rollen und die Achsen stampfen. Vom Schlaf
soweit entfernt wie vom Wachen, eingemummt, thronend, erhobenen
Kopfes läßt man es nicht so ganz wirklich werden, was geschieht,
die Menschen kennt man schon, man hat sie im Traum einmal ge¬
sehen, wie Wasser in einer Höhle rieseln und tropfen die Worte.
Hier neben mir haben zwei die Stimmen ausgetauscht. Ein Prälat
sitzt da, wuchtend, mit riesigem Körper und ragendem Schädel, doch
er stottert, die Stimme ist kläglich verzogen. Ihm gegenüber, nervös
und ängstlich auf seine Würde bedacht, die Reisedecke, die allen An¬
spruch darauf erhebt, als Prunkstück angesehen zu werden, immerzu
über den Knien zurechtzupfend, vermutlich eine Art höherer Beamter,
doch es predigt, es orgelt aus seiner Kehle.
„Reichstag!“ ruft er schallend dem Schaffner entgegen. Ich denke
53 *
Friedrich ßurscbeü, Reise in die Stadt
sofort, ich kann mich dem nicht entziehen: also so sieht ein Ab¬
geordneter aus. Und richtig, als ich vorhin durch die Gange ging,
sah ich ganze Horden der vom Volk Erwählten beieinandersitzen, ein
gespenstischer Anblick, ein Haufen Mediokrität, dumpfe, erboste, un-
ausgelüftete Kleinbürger, und die Gespräche, die man im Vorbeigehen
zu schmecken bekam — armes deutsches Reich!
Aber jener, der mit der vertauschten Stimme, der mit der prunk¬
vollen Reisedecke hub jetzt an, seine Litanei zu singen. Der Prälat,
der Stotternde, hatte einen gemeinsamen Bekannten erwähnt. „Karl
Maria,“ orgelte der andere, „Karl Maria — ein Ikaros!“ die griechische
Endung schwoll mächtig an, seine Stimme beruhigte sich nicht: „Eine
Ikarosnatur, ein Ikaros!“ Und schließlich der erstaunliche Abgesang:
„Wie geschwellt waren diese Seelen einstmals!“ Er sah sich nm,
niemand nahm Notiz, lebhaft zog er an seiner Reisedecke, der Prälat
stotterte noch ein paar Worte, dann schnarchte er.
Aber als hätten sie nur darauf gewartet, streckten rieh in der Ecke
zwei Kopfe, deren Beruf unschwer zu erraten war, zueinander und
ein sonderbares Wispern begann. Ich sage, daß es ein Wispern war,
aber zugleich war es ein unbeschreibliches Gleiten, eine unerschöpfliche
Fülle aller Unter- und Nebengeräusche des Sprechens. Durch das
Stampfen und Schnarchen drangen die Tone jetzt lauter, und meine
Ohren bekamen es zu hören: „Ich sag Ihnen, Ihm Pofel rührt der
sich nicht. Ich habn gleich mitgebracht, hinten im Schlafwagen
is er?“ „Was is es?“ „Gummi!“ „Gummi? No und die Anzahlung?“
„Die Anzahlung? Dreihunderttausend!“ „Dreihunderttausend? Drei¬
hunderttausend — is das Wenigste!“
Und in meinem Gemüt, während das Wispern, das Zischen und
Speicheln neben mir weiterging, sprach ich zu mir: Das ist der Stern
Erde, Menschen wandeln auf ihm, erhabene Gestalten, Ebenbilder
Gottes, von ihren Stirnen leuchtet das Mal der höheren Bestimmung,
Propheten, Heilige, Weise und Dichter sind unter ihnen aufgestanden,
aber welch klägliche Hölle hat diese armseligen Wesen ausgespieen,
mit denen man durch die Nacht zu fahren verdammt ist! Was treiben
sie, was tun sie anders, als daß sie hemmen und hindern, als daß
sie den Boten Gottes schon an der Schwelle vertreiben und weit, tief
hinten nur im Grund des einsamen Herzens der Funke glimmt!
In Berlin sah ich etwas Merkwürdiges: man baut Häuser dergestalt
um, daß man die unteren Stockwerke mit expressionistischem Stuck
Friedrich Bttrscbeü y Reise in die Stadt
559
fiberzieht, der himbeer- und zitronenfarben angestrichen wird, während
oben die pompöse alte Berliner Gipsarchitektur trostlos auf die ver¬
rückte Zeit herniederschaut. Expressionistisch ist der Stuck natürlich
nur für den Bürger, dem zwischen dem Wohlwollen für soviel unter¬
nehmungslustige, farbige Eleganz und der Abneigung gegen die schiefen
Proportionen das erhebende Bewußtsein bleibt, ein fortgeschrittener
Mann zu sein.
Nun hat man ja auch im Barock gerne umgebaut und die strenge
Renaissance mit üppigen, prahlenden Formen überkleidet; aber falls
sonst kein Unterschied anzutreffen wäre, müßte man doch daran fest-
halten, daß es selbst im leichtsinnigsten Barock erheblich solider zu¬
ging. Dort hat man vorsichtigerweise den Leuten zuvor das Geld
aus der Tasche gezogen und als Ersatz gewissermaßen und zur Ehre
Gottes Chöre und Altäre hingestellt, aus denen sich manche Hoffnung
für ein späteres Wohlergehen ziehen ließ. Diese modernen Kult¬
stätten jedoch scheinen einzig zu dem Zweck errichtet, den Leuten
soviel Geld als möglich aus der Tasche zu locken, und um ein
späteres Wohlergehen kümmern sie sich höchstens auf eine ihnen
selber sehr unerwünschte dialektische Weise, insofern nämlich, als
Katzenjammer und Reue schon manchen Menschen umgebildet haben.
Zu allem Überfluß war vor einem solchen Bußhaus wider Willen
ein Plakat angebracht, das erschütternd die alte und die neue Zeit
symbolisierte und in lockenden Farben den Umschwung malte, der
nach Leid und Tränen, nach Millionen Erschlagener und der freilich
um ihr Feuer gebrachten Frage nach dem Sinn so schamlos und un¬
angefochten sich geben darf. Hinter grauem Spinngewebe sitzt die
alte Zeit, dargestellt in dürftigen, träumerischen Gestalten mit langem
Haar und vor Wassergläsern, aber im himbeer- und zitronenfarbenen
Säkulum tanzen vor erlesenen Gedecken befrackte Herren und feine
Damen, und strahlendes Licht ergießt sich über sie.
Selbst wenn sie nicht so fein sind wie auf dem Plakat, wenn ihre
Köpfe noch hohler und ihre Herzen noch leerer sein sollten, so
daß man eher Erbarmen mit ihnen haben müßte, dieweil sie ihre
Strafe längst vorweggenommen haben, bleibt es erstaunlich genug, wie
rasch man sich schon in Sicherheit glaubt und wie geduldig diese
Deutschen sind, die es einmal doch in der Hand gehabt hätten.
Erschreckender aber beinahe noch ist der Blick, den man in das
private Leben zu richten Gelegenheit bekommt. Berlin war zwar schon
Friedrich Burschell, Reise m die Stadt
54 °
früher eine unbegabte Stadt, wo es um Freude, Schmuck und Heiter¬
keit des Daseins ging, aber da es öffentlich geordnet war wie kaum
eine andre Gemeinde und jeder nur mit sich selber zu tun haben
wollte, konnten Gleichgestimmte Freiheit der menschlichen Beziehungen,
Geselligkeit und Laune jeder Art ungestört in ihren Bezirken pflegen.
Was jedoch jetzt zumeist zu sehen ist, auch bei Menschen, die es
einst anders gewohnt waren, ist in hohem Grade mitleiderregend und
jammervoll. Es geht eine fried- und freudlose Luft durch diese
Stadt, die mit der wirtschaftlichen Not allein nicht zureichend erklärt
werden kann. Was ist in diese Menschen gefahren, daß sie so ge¬
reizt und gehetzt nie zu sich selber kommen? Wozu haben sie ihre
Apparate, mit deren Hülfe doch angeblich das Unvermeidliche rascher
und einfacher erledigt werden soll? Die Not allein hat sie nicht ge¬
heißen, sich die Seele aus dem Leib zu schreien, so zu rennen und
zu stoßen und das ohnedies Erbarmungslose noch erbarmungsloser zu
verwirren.
Es ist wie eine Strafe des Schicksals, wie eine Rache der ent¬
täuschten Blütenträume, daß diesen Menschen jetzt, sichtbar beinahe,
die Teufel im Nacken sitzen. Berlin ist hier nur der sehr deutliche
Ausdruck. Schließlich hat allein noch der Bauer, der über das Aus¬
tauschzentrum seines Landstädtchens nicht hinaussieht, den ruhigen
Blick. Überall sonst war einmal etwas und es ist nicht mehr, oder
es steht zu erhoffen, aber es ist noch nicht. Selbst die mächtige
Industrie kann höchstens für ein Jahr mit Aufträgen gesättigt sein;
was dann kommt, weiß sie nicht. Der Bauer aber weiß, daß jedes
Jahr die Sonne scheint und daß es regnet, er weiß, daß die Natur
ihm immer zu Willen ist, und steht das Korn schlecht, so geraten
die Kartoffeln, und gibt die Kuh keine Milch, so gedeihen die Säue.
Nicht an der umstellungsbereiten Industrie, nicht an den gleitenden
Bürgern ist die Revolution gescheitert und nicht durch sie ist der
Weg zu einer lebenswerten Existenz so schwierig verstellt, der Bauer
hat es entschieden, die einstmals getretenen, ausgesogenen, geschundenen
Bäuerlein, die treu dem unverfälschten Evangelio unter Christi Fahne
gegen den Übermut der Herren zu Felde zogen.
Es geht freilich unselig und verzweifelt genug in der Stadt zu, aber
der Ruf zur Rückkehr in die Natur, zur Idylle, zur beruhigten Linie
und zur Klassizität ist dennoch weit davon entfernt, eine Lösung zu
bringen. Es läßt sich mit den Dingen nicht mehr spielen. Im acht-
Friedrich. Burschell, Reise in die Stadt
541.
zehnten Jahrhundert mochte es angehen, im blühenden Hain erste
Ahnung der Freiheit in frohen Liedern zu singen. Die Schwärmerei
ist zu Ende, mit bunten Bändern ist nicht viel geholfen; in dem
dunklen, unentschiedenen Stadium dieser Tage, unter einer völligen
Anarchie des Stils und der Lebenshaltung mag es auf lange Zeit
hinaus möglich sein, Sekten und Gruppen zu diesem oder jenem zu¬
fälligen Lösungsversuch zu begeistern, Ernstes aber. Nachdrückliches
und in die Zukunft Weisendes kann nur geschaffen werden, wo das
gesamte Leben eingesetzt wird. Wem es also Ernst ist mit der Rück¬
kehr zur Natur, wer hieraus eine Verpflichtung abzuleiten sich be¬
rufen fühlt, darf nicht am Anschauen von Gräsern und Getier, von
Wolken und Gestein sich begnügen, er muß wie ein Bauer leben
und besser noch selber ein Bauer sein, wie es manche bereits ver¬
sucht haben.
Aber dann muß man wissen, auf welche Seite man tritt. Wer
wünschte sich nicht Zufriedenheit und Ruhe, aber die Frage ist, um
welchen Preis diese Güter erkauft werden. Der Bauer jedenfalls, der
satte, natürliche Mensch kennt kein anderes Verlangen, als seinen
Zustand mit allen Mitteln, an denen die Natur so reich ist, immer
fester und sicherer zu erhalten. Er konnte nur solange Christ sein,
als er litt. Seit langem ist er der Heide, der verschmitzte kreatürliche,
nur den Dämonen und dem Schicksal unterworfene, zäh haftende
Mensch. Man muß nur sehen, wie sie Regen erbittend, Gebete
leiernd hinter Fahnen und Priester durch ihre Felder streifen.
Wer auf diese Seite tritt, soll wissen, daß es mit noch so schönen
Vorätzen nicht getan ist und die Natur mit aller ihr innewohnenden
Grausamkeit ihren Tribut einzieht. Wer von der Gemeinheit der
Städte, von der schweren dunklen Zeit sich an den Busen der Natur
zu flüchten gewillt ist, sehe sich vor, daß er nicht einem noch viel
erbarmungsloseren Gesetz verfallt Ruhe und Zufriedenheit sind er¬
strebenswerte Güter, aber wenn sie mit Enge, mit zwangsläufiger
Beschränkung und mit notwendiger Feindschaft gegen alles über¬
natürlich Trächtige, gegen Geist und Sinn und die unerledigte Frage
erkauft werden müssen, so möge man zum mindesten wissen, wem
man sie unterordnet Darum: es bleibt eine private Angelegenheit,
wenn man für einige Zeit auf Wälder und Berge sehen will statt
auf graue Häuser, aber man soll es nicht programmatisch tun und
gar erst keine Rettung davon erwarten.
Die Wege sind dunkel, aber nur der Verzagte kehrt um.
•54* Friedrich Burschell, Reise in die Stadt
Man darf sich nur von der Stadt nicht überrumpeln lassen; die Ge¬
meinheit drängt überall vor, doch das Edlere sieht nur der gläubige Sinn.
In der Stadt ist, wie man sagt, alles zu finden, und somit müßte
auch das Gute, sucht man es nur richtig, oder zum mindesten die
Möglichkeit dazu in ihr aufgefunden werden. Denn in solcher Dunkel¬
heit leben wir, daß wir uns schon mit dem Möglichen zufrieden
geben müssen. Der häßliche Anblick, die freudlose Luft, das ge¬
triebene, jagende Leben, es ist nicht zu leugnen, auch die ursprüng¬
liche Kraft scheint dahin, es kommt zu keiner Gestalt, zu keinem
wahrsagenden Bild mehr, unfertig, lässig, ohne Schwung, fremd her¬
geholt und im Beginn schon von müder Skepsis gelähmt ist das
meiste, frecher Witz übertönt die wenigen, verhallenden Stimmen der
Reinen, gewiß, auch dies: aber daran, und sollte es auch nur an der
Möglichkeit sein, hat man festzuhalten, daß die Menschen in der
Stadt bereiter und aufgewühlter sind und nur hier der Zugang za
finden ist, nicht auf dem Land, wo nicht Schrift noch Lehre noch
Beispiel den völlig verhärteten Sinn zu treffen vermögen.
Und reden wir schon einmal Fraktur, lassen wir die Ästhetik bei¬
seite, schweigen wir auch von Paradiesessehnsucht, vom Verfangen
nach Vollkommenheit, nach Glück und seligem Leben, das dennoch
immer in uns brennen soll, sehen wir nur ungerührt auf die wirk¬
lichen Dinge, unbekümmert, wieviel noch fehlt, und mit einem
raschen Blick nach rückwärts, dann lichtet sich schon die Dunkelheit,
dann tut sich eine andere Bühne auf, das unheimliche, wirkliche
Leben, die langsame, stetige Mühe, Not und Arbeit, und tausend
Widerständen zum Trotz geht es unablässig voran, mit schweren
Schritten geht es unablässig voran und von Verzweiflung kann nicht
mehr die Rede sein.
Vor einer schwarzen Einfährt sah ich einen Mann stehen, der ein
rotes Schild auf der Brust trug mit der Aufschrift: In diesem Betrieb
wird gestreikt. Der Mann sah freundlich und wohlwollend aus, aber
der Sonntagsanzug schien nicht recht für ihn gemacht Zu ihm ge¬
sellte sich wie von ungefähr ein andrer ebenso wohlwollender Mann,
nur daß diesem die grüne Uniform sehr viel besser zu Gesicht stand.
Soviel ich sehen konnte, unterhielten sich die beiden freundlich und
gleichgestellt einige Zeit, von einer Feindschaft war jedenfalls nichts
zu merken. Aber deutlich und ganz bestimmt konnte ich die Blicke
einiger Vorübergehender sehen, denn ganz nackt und unverhohlen
apiegelte sich ihnen Haß, Wut und die unterdrückten Gelüste derer,
Friedrich Burscbeü, Reise in die Stadt
543
die es von Jahrhunderten her anders gewohnt waren, mit solchem
Pack umzuspringen. Oh, dies ist nur ein kleiner, schmaler Ausschnitt,
eine kaum beachtete, sehr alltägliche Sache, aber vermochte man es
sich nur vorzustellen, wieviel kostbares Blut vergossen wurde, wieviel
Mühe, Not und Arbeit aufgewendet werden mußte, damit diese all¬
tägliche Sache möglich wurde, damit das Menschenantlitz nur ein
wenig freier sich heben kann, vermöchte man sich das mit einem
ehrfürchtigen Schauer und in der Wirklichkeit vorzustellen, man wäre
nicht zufrieden, o nein, aber man wüßte, wohin die schweren Schritte
gehen und man schlösse sich ihnen an, ungeachtet der schmählichen
Worte, daß es sich nur um eine Lohnbewegung handelt.
Man mag die Entwicklung beklagen, die kaum noch etwas anderes
als ökonomische Interessen zu kennen scheint, und man braucht
durchaus kein Ästhet zu sein, um zu konstatieren, daß es nicht mehr
schön auf der Welt ist; aber von jeher sah man das Erreichte nicht,
von jeher war die Zukunft dunkel und immer gehörte Mut zum
Leben. Denn nie wird ein Übel dadurch vermindert, daß man es
beklagt. Und nicht in der Vorherrschaft der ökonomischen Interessen
liegt das Unselige unsrer Situation, sondern genau im Gegenteil darin,
daß diese durchaus erwünschten, von unmittelbarster Not diktierten
Interessen durchkreuzt und geschwächt sind und sich gegen die dunklen
Mächte der Politik und des harten Sinns noch nicht durchzusetzen
vermochten.
Es kann schlechthin nicht sichtbarer gemacht werden, was zunächst
zu tun und zu ordnen ist, deutlicher kann nicht mehr gesprochen
werden, als es mit dieser Parallele geschieht: in Rußland verhungern
viele Millionen Menschen, Mütter schlachten ihre Kinder und drüben
in Amerika, nicht weit weg, heizen sie mit schönem gelbem Getreide
ihre Kesselt Nicht anders wie wir auf Folter, Inquisition und Hexen¬
verbrennung mit einem Schauder, daß soviel Wahnsinn einmal möglich
war, zurückblicken, wird der Spätergeborene unfaßlich vor der brutalen
Dummheit und Unbeweglichkeit unsrer Epoche stehen.
Solange dies nicht geändert ist, hat es durchaus seinen Sinn, wenn
nichts anderes gedeihen will, es sei denn es beziehe sich mit deut¬
licher Weisung auf den unerträglichen Zustand dieser Erde. Es ist
ja eine lächerliche, nichtswürdige Arroganz, hinter der sich zumeist
doch nur der müde, gebrochene Mensch verbirgt, wenn man meint,
den großen Überbau des Geistes, die wahreren, erstrebenswerteren
Güter, «ich noch ungestört und indifferent gegen die wirtschaftlichen
544
Friedrich Burschell, Reise in die Stadt
Bestrebungen leisten zu können. Dies war in gesicherten Zeiten
möglich; unter ökonomisch stabilen Verhältnissen und in einer durch-
gebildeten, ihrer selbst gewissen Gesellschalt konnten Symbole und
Gestalten wachsen, das Leben sich mit Bildern schmücken, es konnten
Religion, Sitte und Gesetz in Erz und Stein mit dem Gepräge und
Denkmal der Dauer ihre dennoch nicht von Gott verliehene Kraft
beweisen. Denn jene Zeiten waren nur für eine unverhältnismäßig
geringe Oberschicht gesichert, während unten das namenlose, trüb
gemischte Gewimmel der Abgabepflichtigen bei dem starken Licht, das
auf die Herrschenden und Mächtigen fiel, nur umso tiefer im Schatten
stand und es von der bunten Fülle nur eine noch buntere Willkür
des Rechts zu spüren bekam. Wir wollen uns um diesen Blick nicht
mehr betrügen lassen. Seit der herrliche, kluge Lessing ausrief, allen
Resignierten zur Auflichtung empfohlen: „Geh deinen unmerklichen
Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit
wegen nicht an dir verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln,
wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen!“, ja
gerade seit jenen Tagen sind die schweren Schritte unaufhaltsam vor¬
gerückt, die dünne Schicht zerbrach, die Sicherungen schmolzen und
aus dem Gewimmel hob sich hier und dort mit Zügen eines andern
Edelmuts das unverstellte Menschenantlitz immer offener. Viel haben
die Freigewordenen, die Bürger wieder verdorben, doch es war ein¬
mal im Gange. Drängt aber nun gar nach dem mörderischen Krieg,
dessen grausame Lehren von vielen scheinbar vergessen sind, an einem
Wendepunkt so radikaler Art, daß selbst ein Rückschlag nicht viel
aufhalten kann, auch der unterste Mensch zur Bestätigung seiner ihm
nicht länger vorzuenthaltenden Person, ist es dann so wunderlich,
daß die darauf freilich noch nicht eingerichtete Welt, wo niemals
die Mächtigen gern sich aus ihren Bastionen vertreiben ließen, in
Krämpfen darniederliegt, daß die Gemeinheit aus der Verwirrung
ihren Profit schlägt und allenthalben dem Einzelnen die Zeit sich so
häßlich und trübe anläßt? Unter Gestank und Dreck und großen
Schmerzen wird der Mensch geboren, der Anblick ist nicht empfehlens¬
wert, und warum sollte die Erde, die in Wehen liegt, es anders
halten und warum sollte man nicht auch hier, ist erst einmal das Kindlein
geboren, das genau wie die andern winzigen Wesen schreiend und
mit greisenhaften Runzeln keinen Gefallen am Leben zu haben scheint,
warum sollte man nicht auch dieser Wiege, die als Wiege einer
vollendeteren Menschheit, als wahrer Orient der Humanität nicht
Friedrich ßurscbell, Reise in die Stadt
5 45
ganz so unbegründet angesprochen werden kann, anstatt mit groben, un¬
geschickten Flüchen mit besser angebrachten guten Wünschen sich nahen?
Alles aber verdanken die Menschen sich selber, von oben wird ihnen
nicht geholfen, Segen oder Fluch liegt allein noch in ihren Händen.
Derjenige wird sich den größten Dank um die Menschheit ver¬
dienen, — und er braucht darum kein Originalgenie zu sein, denn
die wahren Lehrer und Meister haben in hebreicher oder zorniger
Rede stets dasselbe gemeint, — dem es gelingt, den Menschen klar
zu machen, in den Fäusten welcher Dämonen, in welch dumpfer
Verstrickung und welche Herren über sich duldend sie bisher gelebt
haben. Nicht vom Paradies, nicht einmal vom Vernunftstaat her,
schon in der fahlen Dämmrung dieser Tage kann man erkennen,
daß bei den Gaben, die dem Menschen verliehen sind, seien sie auch
noch so unausgebildet, die Barbarei, die Dummheit und der Aberwitz
seines Treibens in so phantastischem Ausmaß länger nicht mehr zu
halten sind.
Man soll mich nicht der Verstiegenheit zeihen, es kommt mir alles
darauf an, zu überzeugen und Mut zu machen, und wenn ich wieder
von einer sehr alltäglichen Sache berichte, so geschieht es doch darum,
weil sie nach allen Seiten hin sich bestätigen und erweitern läßt.
Ein Mann, dessen Name gepriesen sei, hat ausgerechnet, daß auf
dem Münchner Oktoberfest für rohes, idiotisches Saufen und Lustbar¬
keiten aller Art, deren Stumpfsinn man sich leicht vorstellen kann, eine
Summe ausgegeben wurde, die ausgereicht hätte, um eine ganze
Gartenstadt aufzubauen. Aberwitz, scheint mir, ist ein sehr gelinder
Ausdruck einer Welt gegenüber, die täglich über die Not an men¬
schenwürdigen Wohnungen klagt, aber die Initiative nicht besitzt,
— denn das Geld, der oft beredete Nerv aller Dinge, ist wie man
sieht vorhanden — anzupacken und zu tun, was die Not erfordert.
Aber dieses Beispiel mag nicht stichhaltig sein, denn es läßt sich ein¬
wenden, daß im Oktoberfest ein Urtrieb des Menschen sich mani¬
festiert, der sich nicht so leicht ausrotten läßt, und stärker ist als
alle Gründe des bloßen Nutzens oder gar einer vagen Humanität,
weshalb vielleicht auch dieses selbe Fest von der über alle Zweifel
schädlichsten Veranstaltung des Weltkriegs sich ohne Widerstreben
ausrotten ließ — genug: um mit einem stärkeren Beispiel zu beschwören,
.will ich daran erinnern, daß auf den ersten erschütternden Auftuf
Nansens hin, der kein ungehörter geistiger Mensch ist, sondern mit
Friedrich BttrscheU, Reise m die Stadt
54*
bevollmächtigter Stimme im Völkerbundsrat sitzt, zu einer Zeit, als
es noch möglich war, mit amfassenden Vorkehrungen der russischen
Hungersnot wirkungsvoll zu begegnen, England, die reichste in Frage
kommende Macht, die dazu notige Summe verweigerte, die gleiche
Summe, die es oft genug unbedenklich für ein einziges Großkampf-
schifF ausgegeben hatte. Phantastische Barbarei und Dummheit, scheint
mir, ist ein sehr gelinder Ausdruck einer Welt gegenQber, deren
Schäden zu offenbar sind, als daß sie nicht wüßte, wo sie liegen,
und die nichts oder das wenige zu spät oder nach langen Zänkereien
unternimmt, um sie zu heilen.
Wie, dies wäre gesagt, um Mut zu machen? Angesichts eines so
unverbesserlichen Geschlechtes sollte man es wagen, von einer Vor¬
sehung zu reden, von Schritten, die unablässig vorwärts rücken, und
gar von der Geburt eines neuen Geistes, vom Dämmern eines wahren
Orients! Gemach, nicht ganz umsonst ist uns die älteste tiefste Weis¬
heit überkommen: zwar nicht immer geht neben Schuld und Ver¬
fehlung das Bewußtsein eben dieser Schuld einher, aber es gibt eine
Sünde, die so lebhaft brennt, so sichtbar den gesunkenen Stand an¬
zeigt, und was man um der Sünde willen hinter sich ließ, daß gleich
Adam, dem in das Elend und den bitteren Tod Verstoßenen, die
Menschen eine Stimme hören können, und von nun ab hilft keine
Ausrede mehr, von nun ab wissen sie, was gut und böse ist. Es ist
in ihre Hand gelegt, die Wahl ist frei, und wenn sie auch dem
Schicksal nicht entgehen und Arbeit, Not und Mühe über sie gesetzt
sind, so bleibt es doch ihnen überlassen, worauf sie die Mühe ver¬
wenden, ob zum Guten oder zum Bösen und ob der lange schwere
Weg zur Klarheit oder zur Finsternis führt.
An solcher Erkenntnis hat man sich zu stärken, es ist nicht an der
Zeit, wehleidig zu sein, und wer morgen gleich das Paradies erwartet,
dessen Leben ist verloren für die Dauer und den Aufstieg des
Menschengeschlechts.
Doch ich müßte das Schönste und Tröstlichste verschweigen,
würde ich nicht noch von einem Anblick sprechen, in dem die
höchste Form des Daseins nicht eben nur verheißungsvoll, sondern
unmittelbar zum Herzen ging. Es ist sonderbar genug, daß in einer
Stadt, wo nun schon den ganzen Winter hindurch Lotte auf allen
Litfaßsäulen öffentlich und wie es scheint mit sehr geringem Erfolg
ermahnt wird, doch nicht immer nackt herumzulaufen, dieses auch
Friedrich Burschell, Reise m die Stadt 547
eu finden ist Freilich, es ist von lange her und nur im Anschauen
tröstet es unser Herz, im Gefühl, daß es so fromme Hände einmal
gab, die dieses bildeten, sonst aber ist es ein Glück zu nennen, wenn
man von solcher Reinheit rieh treffen lassen und noch erröten kann.
Im Kaiser-Friedrich-Muscum steht, vermutlich erst seit kurzem, in
dem Saal hinter Riemenschneider eine anonyme gotische Holzgruppe.
Sie steht in der Mitte des Saales, man kann sie deutlich sehen. Der
unbekannte Meister wird in der südwestdeutschen Gegend gesucht.
Die Gruppe ist nicht eben groß; auf einem kantigen Block, aus ihm
herausgeschnitzt, ritzt Jesus und eng neben ihm Johannes. Es ist gar
nicht anders möglich, als daß es der Jünger ist, den der Herr lieb
hatte, der auch an seiner Brust beim Abendmahl gelegen war. Wenn
es überhaupt eine Grenze gibt, wo das Kunstwerk an das heiligste
Geheimnis stößt, so ist sie hier erreicht. So sehr, daß die hohe
Kunst des Meisters vergessen werden kann und nur Natur und höchstes
Dasein bleiben.
Das abgebrauchteste, übel gehetzte Wort kommt hier zu seinem
Sinn: das Werk ist in einer Weise deutsch, derart ist in ihm der
verschüttete Grund unsres Wesens, verstärkt durch die ehrwürdigste
Gestalt, ans Licht gehoben, daß einem die Augen übergehen vor Stolz
und Scham zugleich.
Jesus ritzt ruhig auf dem kantigen Stein, alle Tugenden spielen sich
zur gewölbten Stirne hinauf, schön ist das Antlitz nicht, es scheint
sogar ein wenig derb, doch welch heitere Gewißheit bricht aus dem
Emst dieser Züge! Johannes aber, dessen flach ausgestreckte Hand auf
der kräftig stützenden Hand Christi ruht, wie vermöchte man ihn
mit Worten wiederzugeben, da in ihm doch das Geheimste getroffen
ist Unendliche, unsagbare Hingabe, Vertrauen und Liebe zum Herrn,
so versucht man es auszudrücken. Jugendlich schön, in Begeisterung
prangend, mit geschlossenen Augen, beinahe das Gesicht eines Engels.
Alles aber, der ruhige Block, der Herr und der Jünger, die Erde und
ihre mögliche Erlösung werden zusammengehalten durch die jäh ab¬
gebogene, nie zu vergessende, im Überdenken gelinde erscheinende
Linie, mit der Hals und Kopf des Jünglings an die Schulter des ge¬
liebten Meisters sinken.
Es könnte sein, daß wieder einmal geglaubt wird, und es ist gut,
so lebendig daran erinnert zu werden, was das Tiefste unsres Volkes
war und was aus dem verschütteten Grund heraufzuholen ist, wenn
anders wir noch hoffen sollen.
POLITISCHE CHRONIK
von
JUNIUS
I
R eifen Menschen braucht nicht gesagt zu werden, daß böse Dämonen
die geschichtlichen Machtkämpfe treiben. Mehr denn je werden sie,
die den Weltkrieg, die Art, wie in den so genannten Friedensverträgen
die Lüge unser Menschenschicksal verpfuscht hat, und die Geißelungen
des sowjetistischen Imperialismus erlebt haben, sich des schmerzensreichen
Bekenntnisses von Jakob Burckhardt erinnern: Die Macht, — ja, das
ist das Böse an sich .. Nie mehr dürfen wir das vergessen, wenn
wir das Moskauer Experiment begreifen wollen, denn nie und nirgends
haben Menschen, die (nehmen wir an) das Gute wollten, so plan¬
mäßig, mit so viel Absichtlichkeit und Theorie und dialektischem
Fanatismus das Böse — ein unausscböpfbares, menschenverschlingendes
Meer davon — geschaffen. Bringet Hilfe, sucht die Lawine des Hunger¬
todes, die Massenmillionen verschüttet und vorher kannibalisiert, auf¬
zuhalten, ,opfert*, spendet Liebe und Labsal so viel und so oft Ihr
könnt, sucht der Menschenfresserei zu wehren, die sich da unten in
den fruchtbarsten Gebieten des Russenreichs — mit der Dialektik als
Geburtshelferin, wie ich innerlichst glaube — angesiedelt hat, aber
laßt Euch über den Grad, den Umfang und den besonderen Giftgebalt
der von den Moskauer Imperialisten der proletarischen Idee verübten
Irrungen nicht mehr täuschen. Nachdem sie nun, in der verzweifelten
Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit von Staat, Volk und Wütschaft,
den Weg blanker Kapitulation ihrer theoretischen Grundbekenntnisse,
der Kompromisse, der denkbar zynischesten Opportunitätspolink be¬
schriften haben, meinen viele ihr Urteil über die östlichen Terroristen
milder fassen zu sollen. Seit wann ist in der Geschichte, der Politik,
dem Leben, dem Strenge und Härte alleinige Konstruktionsmittel sind,
mildes Verzeihen der Schlüssel zur Wahrheit? Die Aufforderung dazu
lese ich auch aus den russischen Berichten des so klugen und durch¬
gebildeten Herrn Paul Scheffer heraus, aber wenn man sich in die endlos
gcwundeten Antithesen hineinfühlt, in diese vom unbedingten Willen
zur Objektivität a tout prix getragenen Darstellungen: so endet man,
erregt, mit der Feststellung, daß die Überspannung einer Tugend ein
Laster, — daß der Preis für diesen Objektivitätsdrang Verrat am
jfunius, Politische Chronik
549
Wahrheitswillen sein kann. ,Es ist wahr*, sagt er in seiner am i. März
im Berliner Tageblatt veröffentlichten Zusammenfassung, ,es ist wahr,
daß Rußland zu normalen Verhältnissen zurückkehrt, aber im selben
Atemzug muß man sagen, daß es nicht wahr ist Über Rußland zu
sprechen, heißt ein endloses Gegeneinanderausspielen von Gedeihen und
Verderben. Sie stehen oft ganz eng nebeneinander. Die größten
Gegensätze sind oft nächste Nachbarn. Der Kontrast von Hoffnung
und vollendetem Unglück findet sich überall und in allem. Es macht
jede Sache aus.* Was soll der mit einigem Urteil begabte Leser dazu
sagen, nachdem er in endlosen Perioden über die Ausdrucksformen
des vollendeten Unglücks aufgeklärt wurde und vom Gedeihen nichts^
aber auch gar nichts vernommen hat; und nachdem der Berichterstatter
unserer nun schon gesicherten Erkenntnis der Ursachen, des Ganges
und der politischen, wirschaftlichen und seelischen Wirkungen der
russischen Revolutionen nichts Wesentliches hinzugefügt und nur —
aufmerksamer und mitfühlender Beobachter der er ist — die aus den
Tiefen auftauchenden sinnlichen und sittlichen Reflexe auf geistreiche
Weise festzuhalten versucht hat
Lassen wir den etwaigen (?) Schuldanteil der Moskauer an der
Hungerkatastrophe beiseite, schon um den menschlich befreienden Drang
zu helfen, der sich gerade unter den in materieller Enge Lebenden regt,
nicht zu ersticken: es bleibt, daß die Leninleute, wie der russischen
Wirtschaft, so auch Marxens Lehre das Rückgrat gebrochen haben.
Das wird jetzt, wo das Zerstörungswerk vollendet ist, so recht deut¬
lich, indem sie, um der Rettung willen, zu den «zivilisatorischen Seiten
des Kapitals* ihre Zuflucht nehmen. Das Wort, das Marx seiner Kritik
der politischen Ökonomie (1859) auf den Weg gab, gilt zu allen
Zeiten: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Pro¬
duktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue
höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die
materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesell¬
schaft selbst ausgebrütet worden sind.** Der soziale, die Reife für die
höhere Stufe zeugende Entwicklungsprozeß wird also dem naturge-
schichtlichen gleichgesetzt; Gewalt, der Terror allein schaffen aber diese
Reife nie, weil sie das Gesetz von den wirtschaftlichen Stufenfolgen
nicht umbiegen können, sie können nur den Durchbruch zur Reife
erzwingen helfen. An diesem Bollwerk aus Erz zerbricht auf die Dauer
der Zäsarenwahn jedes menschlichen Willens, hier findet er seine Grenze;
und weil Marx das immer wieder lehrte und die Lehre forschend
55 °
Jvnius, Politische Chronik
unterkellerte, darum wurde ihm Fatalismus vorgeworfen. Wundervoll
klar hat diese Grundanschauung des sogenannten wissenschaftlichen
Sozialismus, die nun von den Bolschewisten auf gröbste verzerrt wird,
Engels in der Streitschrift gegen Dtthring umschrieben: „Wenn man
sagt, die Lohnknechtschaft sei nur dasselbe wie die Sklaverei, dann
könnte man auch sagen, die Menschenfresserei sei dasselbe wie die
Lohnknechtschaft, denn das Ursprüngliche war nicht die Sklaverei,
sondern daß man die Unterworfenen auffraß. Wie oft auch in der
Geschichte die bloße Gewalt gegen die ökonomische Entwicklung
war, — entweder geht sie mit der ökonomischen Entwicklung, dann
erfüllt sie ihren Zweck, oder sie geht gegen die ökonomische Ent¬
wicklung, dann unter Umständen wird der Zwang (namentlich wenn
rohe Völker über kultivierte Völker herfällen) zum Ruin der ganzen
Kultur, oder dann setzt sich doch im Laufe der Zeit das ökonomische
Moment durch gegen die Gewalt, die Gewalt unterliegt.“ So
dachten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki entwicklungsgeschidit-
lich und aus der Seele, das heißt dem ökonomischen Bedürfnis des
russischen Bauern heraus, und sie dachten nicht daran, für ihn, der
die Mehrheit des Volkes bildet, höhere Rechte zu fordern als die
»ökonomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung*
guthieß. Die Bolschewiki verfuhren umgekehrt: einem Lande mit
dünnem Aufputz bürgerlicher Gesellschaft wurde die Gewalt, wie wenn
sie wirtschaftliche Reife schüfe, als Basis der Produktionsverhältnisse
unterschoben, darüber eine der Sacharbeit feindliche, die schöpferische
Leistung unterbindende allmächtige büreaukratische Despotie übcrgestflJpt,
die Gesellschaft zu ihr, als Staat, in ein Hörigkeitsverhältnis gesetzt
und nun dieser natur- und geistwidrigen »Schöpfung 1 zugerufen: Ar¬
beite, wirke. Das nannte man dann in einem vor- oder frühkapita¬
listischen Bauernlande die Diktatur der Arbeiterklasse, es war tatsächlich
die Diktatur von klassenlosen Intellektuellen und endet in einen fluch¬
würdigen Bankrott der Dinge und der Menschen. Lassalle, Marx,
Engels haben mit ihm nur negativ zu tun, durch die Verfälschung ihrer
Lehre und Lehren, oder positiv höchstens insofern, als sie die Hegel-
sche Vergottung des Staates ins Gewissen der aufsteigenden Arbeiter¬
klasse gehämmert haben.
Diese Anmerkung genüge ftir heute. Die Art, wie der Cyniker
Radek seinen »idealistischen Amoralismus* auf Rundreisen in den
Westländem spazieren führt und nun sogar das frühere Bundesverhältnis
($ 116!) des Zarenreichs mit den plutokratischen Herren der Welt
’Junius, Politische Chronik
55 *
zugunsten der Dritten Internationale flott zu machen versucht, um auf
den deutschen Willen zur Hilfe beim Wiederaufbau einen Druck zu
Oben: das wird zur Fortsetzung des Themas, das uns mit wachsender
Verwirrung bedroht, veranlassen. Wer aber, nach allerhand Vorstudien,
Ober die Soziologie des Bolschewismus sich unterrichten mochte, dem
empfehle ich die im Verlage der Berliner Freiheit erschienene Schrift
von N. Gefimoff. Er wird dann vielleicht besser verstehen, warum
das todesmatte Hundertmillionenvolk trotz seinem revolutionären GlQck
zu — »normalen 4 Verhältnissen zurOckzukehren trachtet
•
n
Unmittelbar bevor die Pforten zum Friedenstempel von Genua ge¬
öffnet wurden, trafen sich in Berlin die Vertreter der drei Arbeiter-
Internationalen: z, 2*/, und 3, um dem Hohn auf den Begriff der
Internationale ein Ende zu machen und die der Wiedervereinigung
des gesamten Weltproletariats im Wege stehenden »Mißverständnisse*
zu beseitigen. Als ob sie, ohne tiefere seelische und ökonomische
Ursachen, bloß aus dialektischer Verwirrung, entstanden wären; und
als ob nicht die Entwicklung der letzten acht Jahre den Sprengstoff
unter die national getrennten und in sich zerfallenen Gruppen des
Proletariats geworfen, die früher gemeinsam bekannten Programme
zerfetzt, die überlieferten Grundanschauungen zernagt, die marxistischen
Grundbegriffe ausgehöhlt und erneut zur Bewährung an der Wirk¬
lichkeit aufgefordert hätte. Der Kongreß verlief denn auch, trotz der
leeren sonnenlosen Schlußerklärungen, ergebnislos, die Affekte tobten
sich in der ohnmächtigen Form nach innen fressenden Ingrimms aus,
das gemeinsame alte Vokabular schützte nicht vor Insulten, und die das
Schicksal mit Skorpionen gezüchtigt hatte, wie die Russen, standen sich,
zum bleichen Entsetzen der anderen, als Todfeinde gegenüber. Die Rede
des Belgiers Vandervelde bewies, daß nicht einmal eine ungefähr gleiche
Plattform gegen die blödeste Form des Nationalismus gefunden werden
kann; denn wenn belgische und französische Arbeiter sich, zum Schutz
eigener Interessen, hinter die »gerechten* Friedensverträge verschanzen,
so ist der Weg zur Internationale, — sagen wir bescheidener: zu
einem auch für die Besiegten erträglichen Friedenszustand, noch weit
Ich sage das nicht aus Schadenfreude, sondern aus Wehmut über ein
gut gemeintes aber schlecht bedachtes Unternehmen. Solange große
und kulturell hochstehende Teile des Proletariats die Gesinnungen un¬
berührt lassen, die als Konstruktionsprinzipien der Friedensverträge
55 *
Jun 'tus, Politische Chronik
gedient haben, kann von den Zäsaren des Nationalismus und der nationalen
Plutokratien der Friede sabotiert werden. Alsdann die Hauptsache: der
Kampf um die Methoden der gesellschaftlichen Erneuerung durch den
Sozialismus ist noch in den Anfängen; die russischen Ausrottunga¬
methoden haben Bankrott gemacht, weil sie über die Bourgeoisie hinaus
das Volk selbst ins Mark trafen, ihre Rettung gelang nicht einmal
rhetorisch dem dialektischen Zauberkünstler Radek; was aber sonst
vorgebracht wurde, erreichte denkerisch und soziologisch ein äußerst
bescheidenes Maß, selbst die vielen starken Kopfe und Temperamente,
die die Versammlung zierten, konnten die Lähmung durch die un-
ausgereifte Zeitlage nicht los werden und blieben in Verlegenheits-
Wendungen stecken. Die wahre Ursache wollen sich die meisten
öffentlich nicht eingestehen: weder das Schuttwegräumen noch der
Wiederaufbau der Weltwirtschaft, die Voraussetzung eines Leben und
Freuden spendenden Sozialismus, ist ohne Mitwirkung des Unter¬
nehmertums, der westlichen Kapitalverwalter und der privaten Initiativ¬
kräfte denkbar, an dieser Tatsache hat das Diktaturbestreben des Prole¬
tariats auf unbestimmte Zeit eine Grenze. Die Klassenkampfidee wird
sich an dieser Tatsache wund reiben, wenn sie nicht neue Kompromi߬
formen sucht, um sich zur Geltung zu bringen. Diese stehen tausend¬
fach zur Verfügung, nicht nur fiskalisch und nicht nur durch fast
radikale und gesellschaftlich auf die Dauer wahrhaft umgestaltend
wirkende Beseitigung des Erbrechts; aber noch trauen sich wenige
Proletarierführer, diese unvermutet neue Gesellschaftslage in den Pro¬
grammen zu berücksichtigen und die Massen zu ihrer Anerkennung
zu zwingen. Ehe das nicht geschehen ist und das Erziehungswerk
sich nicht auf die Belebung des erstarrten ökonomischen Denkapparats
erstreckt haben wird, werden die sozialistischen Parteiprogramme genau
so wenig wie die öden Werbeschriften der Bürgerparteien ihren Toten¬
kopfcharakter verlieren. Immerhin: hier lag auch auf diesem verlorenem
Kongreß — oder wie man die Veranstaltung nennen mag, die Inter¬
nationale in Brüchen zu leimen — der wehmütige Schimmer einer
großen Menschheitssache; und wer in die Leidenszüge dieser ernsten
und sinnenden Männer schaute, fühlte sich zwar erschüttert, zugleich
aber berechtigt, ein klein wenig zu hoffen. Oder sollte man von
den imperialen Verfechtern der Zahn um Zahn-Rechnung in Genua,
wohin manche von den Kongreßlem zu pilgern sich anschickten, die
beseligende Osterbotschaft erwarten dürfen?
Jun ius, Politische Chronik
III
m m
.Äußerlich gesitteter, ,beherrschter% den Salonkonventionen ge-
mäßcr werden sich die bürgerlichen Gegenspieler dieser verzankten
Internationalisten in der Genuesenstadt vielleicht schon benehmen, aber
den Kolumbustyp, in dem das heilige Feuer glimmt, werden wir
unter den großen Herren da unten gewiß nicht finden. Ein jeder
von ihnen ist mit seinem »Vertrauensvotum* im Koffer angelangt,
diesem lahm gewordenem Gaul ausgeleierter parlamentarischen Routine,
die in dieser bitteren Zeit wie ein salzloses Narrenspiel anmutet Da
ist Herr Poincard, manche nennen ihn einen ins Keltische übertragenen
XJr-boche; — ich bemerke, daß dieser Politiker aus Lothringen stammt
und sich möglicherweise die germanische Blutbeigabe atavistisch in
ihm bemerkt macht Aber neben der Dickköpfigkeit und dem Starr¬
sinn bis ins Kleinste und Unwesentlichste, was Genialität von vorn¬
herein ausschließt, ist Herr Poincard auch ein vollendeter französischer
Rechtsformalist, der mit seinem blitzsauberen Begrifisapparat eindeutige,
kompromißfeindliche Politik macht Er hat Cannes sabotiert und hat,
so viel an ihm lag, Genua sabotiert, noch ehe es in die Erscheinung
trat Diese Haltung gebietet Achtung, so verächtlich, an europäischen
Maßstäben gemessen, sein politisches Gesamtwerk sich dereinst darstelien
wird. Seelisch hat sich sein Leben um den Revanchegedanken
kristallisiert, mit ihm als Apperzeptionszange hat er zäh und unab¬
lenkbar die Alliancen konstruieren helfen, die, durch unsere inneren
Fehler, Mängel, Schwächen, Blindheiten fett gemästet, zum europäischen
Brande führen mußten. Nun fordert er die buchstabengetreue
Realisierung des Versailler Vertrages, jede sachliche Belehrung, nun
gar von unserer Seite, prallt am Panzer seiner Exekutionspolitik ab,
ihre Marschroute bestimmt der alte überlieferte französische Imperialis¬
mus — man braucht nicht einmal zu den Reunionskammem des
vierzehnten Ludwig hinabzusteigen, es genügen z. B. die Konvent¬
reden ttber die Rheingrenzen —: und nun treibt er seine politische
Inflationsmethode so weit, als seine früheren Verbündeten England
und Amerika es irgend vertragen. Auch unter dem klassischen Oppor¬
tunisten Briand hat Deutschland weiter opfern müssen, sein Sammet¬
händchen hat uns Oberscblesien aus dem Leibe gerissen; aber vor
dem Medusenhaupt der europäischen Wirtschaft begann auch ihn zu
frösteln. Poincard respektiert offenbar nicht einmal diese Grenze,
er duldet nicht, daß das Reparationsproblem in den Zusammenhang
der Wiederaufbau-Überlegungen gestellt wird, — es sei denn, daß
554
Junivs, Politische Chronik
England und Amerika für die deutsche Schuld an Frankrach bürgen,
Garantien geben d. h. Geld durch Anleihen schaffen. In diesem
Programm fehlt kein Steinchen und hinter jedem Vertragsparagraphen
steht das gewaltige Heer, das er der Furchtpsychose des an sich so
friedliebenden Volkes abtrotzt Ihn ficht nicht einmal der Eishaudi
der Isolierung Frankreichs an, das Memento Washingtons überholt
er, er setzt ihm die groß angelegte Propaganda von dem geflissent¬
lich arrangierten deutschen Bankrott, von der bewußten Unter¬
besteuerung, von den trotz aller Verbote vorhandenen Kadres für die
deutschen Revancheheere entgegen; und was Rußland betrifft, so
bedingt er sich Garantien für die Vorkriegsschuld, aber auch Siche¬
rungen für die westlichen Rechtskonventionen aus, unter deren Schatz
Leben, Arbeit und Eigentum der herbeigerufenen Helfer zu stehen hätten,
das heißt also eine ,Probezeit c , von deren positivem Ergebnis die
Anerkennung der heutigen russischen Regierung abhängig sei. Hier
haben wir eine Politik und eine Gesellschaftsauffassung von schatten¬
loser Klarheit, die die Parlamentsmehrheit seines Volkes bisher noch
hinter sich, und für die einzustehen er scheinbar den großen Heerbann
der kleinen Satrapenvölker im Osten und Südosten augenscheinlich ge¬
wonnen hat. Kein Wunder ist, daß solch charaktervoller Starrrinn Loyd
George Programmdiktate aufzuerlegen vermochte, dem Mann, in dem
heute ein zündender Einfall — Genua! — auf blitzt, und der morgen
vor seinem eigenen genialischen Konzept kapituliert
IV
Was sich vor Genua ereignete; ist für ihn typisch. Er hatte; in
diesem konkreten Falle, nicht die Kraft, den an rieh richtigen Ge¬
danken, an dem freundlichen Verhältnis zu Frankreich festzuhalten, so
lange es unter Opfern geht, der europäischen Not ein für allemal
unterzuordnen, wegen der Gefahr, in dem Morast der Halbheiten und
der geknickten Überzeugungen zu versinken: wie vor ihm, aus anderen
Ursachen und unter wesentlich günstigeren Umständen, Wilson. Zn
erklären ist dieser tragische Widerspruch, der unsere Wüstenwanderung
nicht eben abkürzen und ungezählte Völker auf der via dolorosa der
Passion von Genua aus zunächst noch weitertreiben wird, aus ein¬
geborener Schwäche des Ethos, des Triebwerks in jedem großem
Staatsmann.
Herr Loyd George fühlte das Bedürfnis, zu Erziehungszwecken
für seine Schöpfung Genua das Memorandum zu veröffentlichen,
Junius, Politische Chronik
555
das er vor drei Jahren, damit die Friedensbedingungen aus weiser poli¬
tischer und menschlicher Voraussicht geboren würden, verfaßte und
den verbündeten Regierungen, insbesondere dem Frankreich Cle-
menceaus überreichen ließ. Wenn am europäischen Jammer gänzlich
Unbeteiligte, also Mond- oder Marsbewohner, einen Preis aus¬
geschrieben hätten, die Voraussetzungen und das Grundsätzliche eines
dauerhaften Friedens logisch verkettet aufzuzeichnen: dieses stilistische
Meisterwerk hätte ihn erhalten. Es war an die Adresse des Meist-
beteiligten, also Frankreichs, gerichtet. War nicht seine Veröffent¬
lichung in diesem Augenblick wie eine Beschwörung des harthörigen
Genossen, die aus banger Seele strömte, damit auch in ihm neben
dem aufgeklärten nationalen Egoismus die Gewissenskräfte wach
würden? Es ist nicht schwer, wird da ausgeführt, einen Frieden
zusammenzuflicken, der dreißig Jahre hält; aber dann sind die Greuel
des Krieges vergessen, ein neues Geschlecht ist inzwischen heran¬
gewachsen, und wehe wenn es objektiven Grund hat, die Friedens¬
bedingungen als hart, ungerecht, unerträglich einschnürend, die natio¬
nale Würde zertrampelnd zu empfinden. Es drängt sich, berauscht von
den heroischen Bildern der Massenschlächterei, zum Kampf um die ver¬
lorene Freiheit, ohne Rücksicht auf Gut, Geld und Leben, von einer
unsterblichen Idee getrieben. So war es immer, und so wird es bleiben.
Das Beispiel Frankreichs nach Siebenzig bezeugte diese ewige Wahrheit
der Geschichte. Harte Bedingungen, erbarmungslos strenge mögen auf¬
erlegt werden, aber Anmaßung und Ungerechtigkeit in der Stunde des
Triumphes werden nie vergeben und vergessen. Man horcht auf und
denkt, analogisch, an Bismarck in Nickolsburg; aber wie der Kampf
um die Vormachtstellung in deutschen oder von deutschen Dynastien
beherrschten Ländern neben dem Weltkampf an Bedeutung zusammen¬
schrumpft, so ist auch das von Lloyd George empfohlene Schlichtungs¬
prinzip unendlich umfassender. Er warnt davor, neue Irredentaherde,
neue nationale Sprengstofflager zu schaffen, noch mehr Deutsche,
Angehörige also einer der tüchtigsten und machtvollsten Rassen des
Planeten, unter fremde (lies: polnische) Herrschaft zu stellen, noch
mehr Magyaren in die slavischen Nachfolgestaaten zu stopfen und
so den Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung durch strategische,
wirtschaftliche oder verkehrstechnische Erwägungen (die mit anderen
Mitteln zu berücksichtigen seien) zu fälschen, zu verraten; und fordert,
zweitens, für die Entschädigungszahlungen eine Dauer, die mit dem
Kriegsgeschlecht erlischt. Wird anders verfahren, so erhalten wir
55 *
jfunius, Politische Chronik
einen Scheinfrieden mit tausend Reimen zu neuen Kriegen im Leibe.
Bei einem QbergedemQtigten Deutschland rechnete Lloyd George
damals mit der Alternative des Bolschewismus und des Anschlusses an
die Flut der Weltrevolution aus nationalen Gründen, — auch dies
ein kluger wenn auch zeitbedingter Gedanke, der aber auf den
»Tiger*, wie man weiß, den Eindruck verfehlte. In diesen Geleisen
läuft die Denkschrift weiter, zuweilen durch Sandwüsten der Banalität,
dann aber wieder allgültige politische Gesichtspunkte zu prägnanten
Formeln kristallisierend. Da breiten sich schon, als Möglichkeiten
vorweggenommen, die die europäische Atmosphäre verpestenden
schmutzigen Nachgeburten der Versailler Fehlgeburt vor dem erlauchten
Leser aus, auf dessen Einsicht und Willen die Denkschrift doch zu
wirken bestimmt war; die Gefahren einer umfänglichen und auf lange
Zeiten berechneten Besetzung deutscher Gebiete werden geschildert; die
Aufgabe eines Völkerbundes wird umschrieben und in dessen Mittelpunkt
die Verpflichtung zur Rüstungsbeschränkung der Hauptsignaturauchte zu
Wasser und zu Lande gestellt und die Aufnahme des zwangsweise ent¬
militarisierten Deutschland sofort nach Bildung einer stabilen demo¬
kratischen Regierung empfohlen, aber auch schon der sogenannte
Garantiepakt zwischen den angelsächsischen Staaten und Frankreich ent¬
worfen. Nicht alles ist da Gold, was glänzt, trotzdem zeigt der ganze
Entwurf die genialische Hand des Verfassers, der auch fordert, daß
Deutschland sofort beim Friedensabschluß unbehinderter Zugang zu den
Rohstoffen und Märkten der Erde zu den gleichen (!) Bedingungen wie
den Verbündeten gegeben werde, und daß diese alles zu tun hätten,
um es wieder auf die Beine zu bringen. Spricht da der alte Freihändler,
der um das Schicksal der britischen Stapelindustrien bangt und an die
nährende Funktion der zerschlagenen mitteleuropäischen Märkte für
sie denkt? Diese Denkschrift war also bestimmt, europäische Politik
zu machen, ihre Veröffentlichung just vor Genua war daher (sollte
man meinen) zu gleicher Leistung berufen, soweit der in Versailles
an ihr verübte Verrat dies noch zuließ. Aber dann ging der Staats¬
mann nach Boulogne und unterwarf sich Poincar i in den vier für
das Gelingen Genuas entscheidenden Punkten: keine Erörterung der
Verträge, die »heilig* bleiben; keine Erörterung des Entschädigungs¬
problems, also des Einflusses der Verschuldung eines Landes auf sein
Geldwesen und seine Zahlungsbilanz; keine Erörterung der Abrüstung»-
fragen; keine Anerkennung Sowjetrußlands, es sei denn, daß Garantien
nach rückwärts (Anerkennung der zarischen Schuldenmasse), nach
Jtmius, Politische Chronik
557
vorwärts (Anerkennung der westlichen Rechtssatzungen für Westler und
deren Eigentum, die an der russischen Aufbauarbeit sich beteiligen
wollen), nach innen (Herstellung demokratischer Freiheit für Nicht¬
kommunisten), nach den Grenzen hin (Anerkennung, zum Schutz dieser
Grenzen, der mit den Randstaaten abgeschlossenen Verträge) gegeben
würden.
Vergißt dieser mit Energie und Rhetorgaben überreich begnadete
Mann heute, was er gestern gesagt und gewollt hat? Der Politiker
muß kompromissein, aber nur in der Richtung der von ihm gewollten
Entwicklungslinie, in der Richtung eines Ideals also; daß er es bei
jeder Wegbiegung in die Ecke stellt, vergißt, verrät, macht ihn je
länger desto mehr nicht nur seinen Koalitionskonservativen verdächtig,
sondern, wie es scheint, verächtlich, ohne daß seine außerordentliche
Energieentfaltung während des Krieges und seine glänzende irische
Leistung ihn seinen früheren liberalen und Arbeiterfreunden genähert
hätten. Immer nur Taktik, es wird zum Ekel; so wenig wie die
Natur läßt sich die Geschichte foppen. Wir aber, die wir das fun¬
kelnde Kraftzentrum Lloyd George bewundern, haben doch gelernt,
von einer Vergeßlichkeit, die in Gewissenlosigkeit mündet, blutwenig
zu erwarten. Die politische General beichte, mit der er sich vor der
Reise in den Süden das Vertrauen des Parlaments errang, wird denn
auch auf Schritt und Tritt von der Denkschrift Lügen gestraft, am
gründlichsten dort, wo sie, nach St. Germain (Westungarn) und S&vres,
von der Unverletzlichkeit der Verträge und der zu ei haltenden (aber
Europa wirtschaftlich krank machenden) ökonomischen Souveränität
der neuen Kleinstaaten spricht Unter solchen Auspizien ist die Konferenz
in Genua eröffnet worden.
V
Strategisch betrachtet ist die Lage in Genua doch vollkommen
klar. Gerade weil Wiederaufbaufragen das einzige Konferenzthema
von Belang bilden, werden Deutschland und Rußland in ein Lager
gedrängt und wird alles rein Macht- und Nationalpolitische beiseite
geschoben werden müssen. Tritt nun aber, indem die Erörterungen
über die Kredit- und Währungsfragen sich aus dem akademischen
Dunstkreis heraus den Torderungen der Stunde — als welche die
Forderungen des Lebens und der Zukunft sind — zuwenden: tritt
dann der Schulmeister d’outre Rhin hervor und droht die Konferenz
zu sprengen, weil sichs zeigt, daß zum Beispiel deutsche Inflation und
55 *
jktnius, Politische Chronik
Kriegslasten siamesische Zwillinge sind und von dem Einem sprechen
das andere zu berücksichtigen zwingt: so ist der deutschen Mission die
Haltung vorgeschrieben, was immer zunächst die Folgen seien. Ihre
leitenden Kopfe können nicht immer, aus taktischen Gründen, die
leidenden Köpfe sein. Ein deutscher Katholik und ein deutscher
Jude, die, um der völkerpsychologischen Wirkung willen, ein Jahr
lang das Unmögliche möglich zu machen suchten, haben das Recht;
endlich der deutschen Geduld eine Grenze zu setzen, weil unbelehr¬
barer Starrsinn das Mögliche unmöglich macht; und weil gerade diesen
Männern machtpolitische Hintergedanken weltenfern liegen. Nicht nur
die Russen werden für solche Haltung Verständnis haben, denn sie
allein kann, im gegebenen Fall, die großen Völker des Westens auf*
rütteln, und ihre Fürsprecher in eine Bahn zu zwingen, die endlich
in Friedensland führt. Doch warten wir ab, was vor, was hinter den
Kulissen geschieht; und ob man wagen wird, das alte Feuerwerk
diplomatischer Tricks in dieser neuen Konstellation wieder einnul
abzubrennen.
ANMERKUNGEN
Stimmen des Auslands
I n einem Aufsatz der „Revue de
Gendve“ spricht Fernand Bildens-
perger über den „Amerikanismus
ohne Maschinen“ im heutigen
Europa. Der Krieg hat die amerika¬
nisierende Bewegung des alten Erd¬
teils gefördert, eine Entwicklung, die
radikal von patriarchalischen Vorstel¬
lungen, vom Beieinander derFamilie,von
sozialen Bindungen mit noch kleinem
und privatem Radius fortdrängt und
einen Zustand anstrebt, der in Beruf
und Vergnügen, Arbeit und Muße,
Religion und Sport die alten Grenzen
sprengt.
„Dreimal haben in der Kultur¬
geschichte offensichtlich amerikanische
Einflüsse auf die alte Welt eingewirkt;
doch jedesmal, wie es natürlich ist,
fanden sich alte Traditionen bedroht
und verhinderten, daß die Tat von
drüben sich voll entfaltet: das Leben
selbst und das, was wir den Fortschritt
nennen, sind aus diesen Konflikten ent¬
standen. Die amerikanische Unab¬
hängigkeits-Erklärung hat die bekannte
Anziehung auf das Abendland aus-
geübt, und die französische Revolution
war in ihren Anfängen durch die Ab¬
trennung von den britischen Kolonien
zum guten Teil bestimmt worden.
Nach 1830, als man sah, daß die Heilige
Allianz nicht der endgültige Zustand
Europas war und daß die Restaurationen
schlecht gerechnet hatten, schien die
„Demokratie in Amerika“, wie A. de
Tocqueville sagte, einer der Pole der
Welt zu werden, und Finanzen, Straf¬
vollzug, die staatsbürgerlichen Organi-
nisationen der Vereinigten Staaten
boten sich tausend Beobachtern als
eben so viel Versprechen und Er¬
mutigungen dar. Endlich, beim Nahen
des Krieges von 1870 und als der
Liberalismus sich plötzlich den Pro¬
blemen der Volkserziehung, des Frauen-
Unterrichts, des Schulzwangs gegenüber
sah, bat man noch einmal Nordamerika
um Rezepte und um Programme. Und
jedesmal sollte der Elan, der selbst
ohne ihr Wissen die junge trans-
adandische Kultur ermutigt hatte, mit
Gewohnheiten und Überlieferungen,
die ihren Wett und ihren Adel
hatten, schonend verfahren und sich
abfinden: die Kräfte-Komponente ist
wie in der Mechanik auch die große
Angelegenheit in der Soziologie.
Der „Amerikanismus ohne Ma¬
schinen“ ist ohne Zweifel eine Episode
derselben Art. Der okzidentale Mensch
wünscht nichts mehr, als seine Muße
zu vermehren, seine Würde zu sichern;
erverabscheut dagegen, was seine Arbeit
übermäßig in eine einfache mechanische
Tätigkeit verwandelt; er bemerkt nicht
— oder noch nicht — einen Daseins¬
typus, wo einerseits intensiver Ertrag,
andererseits Erholung erbarmungslos
polarisiert sind; er bewahrt eine ge¬
heime Zärtlichkeit für eine Kombination
von Persönlichkeit und Technik und
widerspricht im Grunde seines Herzens
dem Anblick der „Taylorisation“. Wird
er die wahre Formel finden können
und die Widersprüche der Gegenwart
ordnen? Wird er dadurch, daß er
besseren Werkzeugen die Sorge über-
5 6 o Anmerkungen
läßt, das grobe Werk zu vollenden,
das er heute zu oft Intelligenzen über¬
gibt, die für besseres bestimmt sind,
eine vernünftigere Stufung der mensch¬
lichen Werte ermöglichen? . .
ln den „Berits Nouveaux“
(Paris) charakterisiert Paul Fierens die
belgische Literatur:
„Wenn ein Belgier mit Gerechtig¬
keit von Belgien spricht, hat er zwei
Versuchungen zu bekämpfen. Denn
sein nationaler Dämon ist gleichzeitig
ganz Hochmut und ganz Skeptizismus.
Wenn du ihn verspottest, ist er ge¬
kränkt; wenn du ihm ein Lob erteilst,
scherzten Niemals geizig an Selbst¬
verachtung, erträgt er keine Ein¬
wendungen als die seinigen, und der
Widerspruch reizt seine Laune in je¬
dem Fall.
Im Augenblick, wo ich die letzten
Anstrengungen unseres literarischen
Daseins würdige, erprobe ich das Ge¬
fühl eines Kritikers, der soeben einen
„Dreijahrs-Salon“ durcheilte und nun
summarisch berichten soll. Hat er
einen Meister entdeckt, dessen Werk
die Bestrebungen derSchule zusammen¬
faßt? Nein. Und diese negative Fest¬
stellung treibt ihn zum Pessimismus.
Der Horizont erscheint ihm wüst und
die Landschaft ohne Versprechen. Da
er nun die geringste Hoffnung zählen
muß, beginnt er, zufällig zu betrachten,
was ihn umgibt. Sein Interesse wird
schnell finden, wo man anknüpfen
kann, und allmählich wird das Ver¬
trauen und eine hellere Lebens¬
auffassung wiederkehren. Ja, es gibt
Kräfte, die sich ordnen, Richtungen,
die sich klären, ein langsamer Arbeits¬
beginn, der förtdauem wird.
Die junge belgische Literatur, die
mir anfangs nichtig erschien, ohne
ein großes Werk, das man als be¬
zeichnendes nennen könnte, erscheint
mir schon als Feld vielfacher Erfah¬
rungen, als Ort einer tröstlichen Frucht¬
barkeit. Ich wette, daß diese Ahnung
Sicherheit werden wird; beim Examens¬
termin werde ich vielleicht der erste
Überraschte sein, wenn man vielleicht
nicht den einzigartigen Schatz entdeckt,
aber mindestens viele verschiedene
Reichtümer feststellt.
Es fehlt uns der Zusammenhang der
Kräfte, aber die Arbeit einiger Einzelnen
trägt ihre Früchte. Es kann auch sein,
daß eine gewisse geistige Langsam¬
keit — von der die Vlamen mehr als
die andern betroffen sind und sie
übrigens zu benutzen wissen — die
literarische Entwicklung auf völlig un¬
bekannte Ziele verzögert. Um die
Dinge gerade heraus zu sagen, könnten
wir zu wenig als „Vorhut“ erscheinen.
Warum verbergen, daß die junge
französische Literatur uns bezaubert?
Dennoch glaube ich, daß die besten
unter uns recht haben, wenn sie sich
nicht kampflos unterwerfen wollen.
In einem Anfall von gesteigerter Be¬
geisterung haben mehrere einfach Er¬
scheinungen nachgeahmt und sich in
der Nachahmung verloren. Ohne dem
Aberglauben des völkischen Charakters
zu huldigen, kann man wünschen, daß
der Gewinn der französischen Eigen¬
schaften nicht gleichzeitig der Verlust
einer unbestreitbaren Eigentümlich¬
keit ist.“ R. K.
Verantwortlich fllr die Redaktion: Dr. Rudolf Kayser.
Verlag von S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig.
DIE KRISE DES DEUTSCHEN STAATES
von
M. J. BONN
D er große Krieg und seine Folgen haben trotz aller ungeheuren
Verluste das Gefüge des Deutschen Reichs nicht zu zertrümmern
vermocht. Wohl aber besteht Gefahr, und ernsthafte Gefahr, daß
das Band, das alle Bewohner des deutschen Reichsgebiets eint, im
Innern zerrissen wird.
Im Krieg ist die deutsche Staatsidee ins Ungeheure überspannt
worden. Den Pädagogen aller Grade, die Jahrzehnte lang nicht müde
geworden waren, geduldigen Schülern zu predigen, daß der Einzelne
nichts sei und der Staat alles, war auf allen Meeren und auf den
Schlachtfeldern dreier Kontinente Gelegenheit geboten, die Richtig¬
keit ihrer Lehren zu erweisen. Griechische Staatsweisheit und
preußischer Drill hatten sich einander vermählt, um die blutigen
Opfer entgegenzunehmen, deren Hekatomben der Weltkrieg ihnen
zutrieb. Aber als die Vergötterung des Staates zum ersten Male in
der Weltgeschichte härteste Wirklichkeit geworden war und jedes
Volk tatsächlich zu einer Maschine gemacht hatte, in der der Einzelne
nur ein surrendes Rädchen war, das ohne eigenes Wollen dem An¬
trieb einer allmächtigen Regierung gehorchte, da war in Deutschland,
dem eigentlichen Tempel der praktischen Staatsvergötterung, der Staat
innerlich bereits geborsten.
In England, in Frankreich und in Amerika waren nach allmählichem
Schwanken die Männer, die an der Spitze standen, in die Lage ver¬
setzt worden, ihren Völkern unverrückbare Ziele zu weisen und in
rücksichtsloser Machtanspannung ihren Beauftragten die Mittel zur
Verfügung zu stellen, die zur Erreichung dieser Ziele notwendig
waren. In Deutschland war es anders. Während das deutsche Volk
wieder und wieder bereit war, der Welt seinen Glauben an die
Lehre seiner Führer zu beweisen, und die Einzelnen ihr Leben hin-
gaben, weil das Ganze alles war, war der Staat bereits gespalten.
36
j6z M. y. Bonn, Die Krise des deutschen Staates
Die Regierung, in der sich der Wirklichkeit gewordene Staat ver¬
körperte, hatte eine Spitze: den deutschen Kaiser. Für ihn aber
galt in ganz anderem Sinne, als sie ursprünglich gemeint war, die
Maxime des konstitutionellen Staates „Le roi rhgne, mais il ne gou-
verne pas“. Er war zu einer politischen Atrappe geworden, der wohl
seinen moralischen Einfluß den Männern zur Verfügung stellte, die
für ihn die politische Regierung führten, der aber die militärischen
Rebellen nicht hindern konnte, im Kampfe gegen diese Regierung
die Grundlagen des Staates zu unterwühlen. Diejenigen, die die
politische Spitze des Staates bildeten und die Ziele zu bestimmen
hatten, die dem deutschen Volke notwendig waren, wurden immer
wieder von denen gehemmt, die die Mittel zu ihrer Verwirklichung
hätten erfolgreich anwenden sollen. Und diejenigen, denen die Ver¬
wendung dieser Mittel anvertraut war — eine Aufgabe, die dem
grenzenlosesten Ehrgeiz hätte genügen können — suchten der politischen
Führung immer neue Aufgaben aufzuzwingen, obwohl sie selbst iu-
gaben, daß nur in seltenen günstigen Momenten die verfügbaren
Mittel zur Bewältigung der alten Aufgaben ausreichten. Nach außen
verdeckte die Person des Kaisers die Kluft notdürftig, die die deutsche
Regierung, das heißt die Trägerin des höchsten politischen Willem,
spaltete; nach innen kehrten Zwecke und Mittel sich gegeneinander.
In diesem Kampfe brach der deutsche Staat so auseinander, daß eine
Revolution kommen konnte, ungleich allen andern Revolutionen:
Sie war kein gewaltiges Erdbeben, bei dem sich flammenspeiende
Krater bilden; sie war das fast lautlose Versinken längst erstarrter
Kegel, über deren einstürzende Ränder dann die glühende Lava abfioß.
Die Revolution brachte eine Partei ans Ruder, die an staatliche
Machtvollkommenheit glaubte. Grenzenlos waren die Aufgaben, die
die deutsche Sozialdemokratie dem Staat stellte, unbeschränkt das
Vertrauen, — trotz aller Kriegserführungen — das sie der Möglichkeit
von Regierungseingriflen entgegenbrachte. Aber als sie, von der
Revolution gegen die Klippen der Macht geworfen, das Ruder des
Staatsschiffs fest in die Hand nehmen wollte, zerbrach es ihr unter
den Händen.
Zwischen der Frage: Wer ist der Staat? wer sind die Klassen, die
die höchste Macht in der Hand haben? Und der Frage: Was soll
der Staat? bestehen enge Zusammenhänge.
Der Staat vor der Revolution war ursprünglich in seinen Grund¬
lagen aufgebaut gewesen auf dem Grundbesitz und dem Beamtentum.
M. y. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 565
Mehr und mehr war das letztere in den Vordergrund getreten, und
mehr und mehr hatte sich die Auffassung gebildet, daß dieses Beamten-
tum imstande sei, durch einen festen zentralen Willen alle Aufgaben
zu losen, die das Interesse des Gemeinwohls erfordern könne. Aber
hinter dieser Staatsfront waren zwei neue Mächte emporgestiegen:
die Industrie und die organisierte Arbeiterschaft. Beide waren aus
dem Wirtschaftsleben geboren und ursprünglich in ganz anderer
Weise wirtschaftlich, nicht politisch orientiert gewesen als der Grund¬
besitz, ehe der Bund der Landwirte ihn rein wirtschaftspolitisch ein¬
zustellen suchte. Das Zentrum des Weltgeschehens für die einen
waren Preise, für die andern Löhne. Diesen wirtschaftlichen Zielen
widmeten sie ihre Kraft, politische Macht als Mittel zu ihrer Er¬
reichung erstrebend. Beide standen damals im Staate. Die Industrie
war vielfach durch Staatshilfe, wie Schutzzölle, groß geworden. Sie
war längst über die Stufe hinausgewachsen, wo sie die Hilfe des
Beamtentums zur Erfüllung rein wirtschaftlicher Zwecke benötigt
hatte. Sie verachtete es innerlich und beeinflußte es auf Hinter¬
treppen, aber sie brauchte es als Machtmittel der organisierten Arbeiter¬
schaft gegenüber. Sie konnte zwar das Koalitionsrecht nicht verhindern;
sie versuchte, ihm aber häufig praktische Schranken zu ziehen. Und
sie wusste, wenn es hart auf hart ging, würde die Staatsmacht hinter
ihr stehen. Die Arbeiterschaft, stark ideologisch gerichtet, war gegen
den bestehenden Staat, aber nicht gegen den Staat als solchen. Sie
schwärmte von einer allmächtigen Regierung, die das Wirtschaftsleben
nach gerechten Regeln ordnen sollte, in der Hoffnung, daß der Tag
nicht fern sei, wo sie selbst die Macht in die Hand nehmen werde.
Der 9. November hat ihr diese Macht gebracht. An dem Tage,
an dem der deutsche Staat mit der deutschen Arbeiterklasse identisch
geworden zu sein schien, und wo für eine kurze Spanne Zeit
Deutschland eine reine Arbeiterregierung besaß, haben der industriell
organisierte Kapitalismus und mit ihm ein großer Teil der Gebildeten
sich innerlich vom Staate losgelöst. Der alte Staat war versunken,
der neue Staat suchte, sozialistische Ideale zu verwirklichen. Vielleicht war
cs möglich, das zu verhindern. Es war aber nicht möglich, wenigstens
auf absehbare Zeit vom Standpunkt des Unternehmertum aus, diesen
neuen Staat zu beherrschen. Das Unternehmertum machte nicht so¬
fort Opposition. Es kehrte nur dem Staat einstweilen den Rücken
und ging seinen Privatgeschäften nach. Es hatte erkannt, daß in
Deutschland eine wirtschaftliche Hochkonjunktur entstehen würde, wie
564 M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates
sie die Welt nie gekannt hatte, wenn nur das Gespenst des Bolsche¬
wismus gebannt werden konnte. Wahrend spielerische Theoretiker,
und zwar meist solche ohne grfindliche Kenntnis volkswirtschaftlicher
Theorien, die Pläne einer neuen Weltordnung zeichneten, die das
Ende des Kapitalismus bringen sollten, legten die Führer des deutschen
Wirtschaftslebens in stiller Beharrlichkeit die Fundamente des neu¬
deutschen Kapitalismus in solchen Tiefen, daß nur ein russischer
Sturm sie hätte erschüttern können. Sie bauten, dank den günstigen
Verhältnissen, eine wirtschaftliche Monopolmacht auf, wie sie kein
anderes Land gesehen hat, und traten, als sie den freien Wettbewerb
durch solche Monopole außer Kraft gesetzt hatten, dem Staate
gegenüber, Airs ungehemmte Spiel der freien Kräfte ein.
Derweilen suchte der neue Staat mit Hilfe eines Beamtentums, das
in reiner Verwaltungstätigkeit Höchstleistungen aufzuweisen hatte,
dessen wirtschaftliche Unfähigkeit der Krieg aber jedem erwiesen
hatte, ein neues Gemeinwesen zu verwirklichen.
Aber dieser neue Staat hatte den Glauben an sich verloren. Wie
eng die Grenzen erfolgreicher, planmäßiger, wirtschaftlicher Gestaltung
gesteckt waren, schien der Krieg erwiesen zu haben. Seihst bei den
Sozialdemokraten fanden die Planwirtschaftler auf die Dauer wenig
Gegenliebe. Der Rätegedanke, der aus Rußland herüberflutete, unter¬
grub bei den Arbeitermassen den Glauben an eine starke, demo¬
kratische, aktionsfällige Zentralregierung. Aus ständigen Phantastereien,
russischen Reminiszenzen, bürokratischer Unfähigkeit und kluger Be¬
rechnung der Interessenten entstanden auf allen Gebieten des Wirt¬
schaftslebens unter dem Schlagwort „Sozialisierung* neue Selbst¬
verwaltungskörper, Organisationen, die die Aufgaben der Zentralregierung
an sich rissen, und in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer allenfalls
mit Beamten zusammensaßen, nicht um etwa die Angelegenheiten zu
erledigen, die den inneren Betrieb dieser Gruppe darstellten und damit
in der Tat als Selbstverwaltung bezeichnet werden könnten, sondern
um die Preise festzusetzen, die die Andern zu bezahlen hatten. Das
Prinzip der Selbstverwaltung wurde zum Deckmantel monopolistischer
Organisationen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Ausbeutung
der Gesamtheit sich zusammenfanden. Die Arbeitnehmer bildeten
sich dabei ein, die Interessen der Gesamtheit der Konsumenten
und ihre eigene Stellung sei genügend gesichert, wenn nur eine
paritätische Vertretung vorhanden sei; sie verkannten, daß sie vielfach
dabei zum bloßen Werkzeug der Produzenten wurden. Zur höchsten
M. J. Bonn , Die Krise des deutschen Staates 565
Blüte sind derartige Bestrebungen in einzelnen Außenhandelsstellen
gediehen.
In den mächtigen Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
entwickelten sich daher allmählich Gebilde, die nicht im Staate und
unter dem Staate stehen, sondern die sich bewußt neben den Staat
stellten. In den Tagen nach dem Kapp-Putsch ist eine lebhafte Be¬
wegung entstanden, die aus Vertretern der Gewerkschaften der ver¬
schiedensten Richtungen eine ausschließliche Arbeiterregierung bilden
wollte. Eine derartige Regierung wäre in letzter Linie nicht dem
Parlament und damit der Wählerschaft verantwortlich gewesen, sie
wäre vielmehr das Werkzeug der Arbeiterorganisationen geworden,
die in andern Ländern, zum Beispiel in Australien, neben dem Parla¬
ment die Regierung kontrollieren.
Ähnliche, wenn auch verhülltere, Bestrebungen zeigen sich auf Seiten
der Industrie. Das tritt auf zwei Gebieten deutlich zutage. Die
Macht eines jeden Staates beruht in letzter Linie auf seinem Finanz¬
wesen. Das Finanzwesen des Deutschen Reiches ist infolge des Krieges,
der Revolution und der Reparationsleistungen in Unordnung geraten.
Es ist unmöglich gewesen, gerade diejenigen ausgiebig zur Besteuerung
heranzuziehen, die am ehesten imstande waren, die Lasten zu tragen.
In gewissem Sinne gibt die Industrie das offen zu. Sie wird nicht
müde, auf den Bankerott der Staatswirtschaft hinzuweisen und zu
betonen, daß die Privatwirtschaft völlig geordnet sei. Sie gesteht
damit, allerdings wohl unbewußt, zu, daß die Privatwirtschaft dem
Staate die Mittel zu seiner Existenz verweigert; denn zu allen Zeiten
hat als grundlegende Wahrheit der Finanzwissenschaft das alte Wort
gegolten: „Die Taschen der Untertanen sind die besten Schatzkammern
der Fürsten.“ Heute erklären die mächtigen Führer der Wirtschaft
unverhohlen, daß ihre Taschen gefüllt seien; die Schatzkammer des
Staates ist leer, da der Staat zu schwach ist, zuzugreifen. Die Wirt¬
schaft will dem Staat, dem sie nicht länger Aufgaben stellen kann,
die notwendigen Mittel nicht bewilligen. Der deutsche Mittelstand
und mit ihm die deutsche Kultur sind im Begriff, in einer Hochflut
von Papiergeld zu ertrinken, da mächtige Industriegruppen den heu¬
tigen Staat als erledigt betrachten und eine Besteuerung durch Geld¬
entwertung anderen Formen der Steuererhebung vorziehn. Sie fühlen
sich nicht länger gebunden, für seine Schuldverpflichtung einsustehen.
Dabei unterschätzen sie seine Lebenskraft doch bedeutend. So schlecht
die Lage des Deutschen Reiches schon gewesen ist, so ist es doch
5 öd M. J. Bonn , Die Krise des deutschen Staates
immer noch imstande gewesen, auf dem Wege der Anleihe durch
Begebung von Schatzwechseln Milliarden unterzubringen. Manches
große Auslandsgeschäft ist nur dadurch zustande gekommen, daß das
Reich hinter den Unternehmern als Bürge auftrat. Und wenn es
keine Auslandskredite erhielt, so liegt es nicht daran, daß es kredit¬
unwürdiger ist als die deutsche Industrie, sondern daran, daß es in¬
folge des Londoner Ultimatums eine Prioritätsschuld von 138 Milli¬
arden Gold zu tragen hat.
Ein Teil der Industrie ist aber nicht mit rein negativem Verhalten
zufrieden. Er sucht bewußt, das letzte Stück Staatsmacht zu zer¬
brechen, das noch vorhanden ist. Er greift nach den Eisenbahnen,
nicht weil dieselben ein Defizit haben, das verschwinden muß,
sondern weil der Besitz der Eisenbahnen die höchste wirtschaftliche
Macht im Staate darstellt Man braucht für den Staatsbetrieb im
Eisenbahnwesen nicht zu schwärmen. Ein festgefügter Staatsbetrieb
kann auf ihn verzichten. Aber ein Staat, dessen Leben nur noch
schwach ebbt, kann es nicht vertragen, daß Privatinteressen die Hand
an seine Gurgel legen, seien es kapitalistische oder kommunistische
Saboteure.
Wie weit die Auflösung des deutschen Staatswesens schon gediehen
ist, zeigt eine Betrachtung der auswärtigen Politik. Die auswärtige
Politik ist das Verhältnis der verschiedenen Gemeinwesen zueinander.
In ihr tritt der Charakter nationaler Geschlossenheit und Einheitlich¬
keit ganz anders zutage als in der inneren Politik. Aber diese Ein¬
heit war schon vor dem Kriege vielfach durchbrochen. Auf der
einen Seite hatte die radikale Arbeiterbewegung die internationale
Solidarität der Arbeiterklasse in den Vordergrund geschoben und
damit zum Ausdruck gebracht, daß eine horizontale, alle gleichge¬
lagerten Schichten der verschiedenen Völker einschließende Zusammen¬
fassung gegenüber dem vertikalen nationalen Aufbau des einzelnen
Volkes die Grundlage der auswärtigen Politik sein müsse. Auf der
anderen Seite waren wirtschaftliche Fragen in der Außenpolitik in
den Vordergrund geschoben worden. Fragen der Handelspolitik, der
kolonialen Erschließung, der internationalen Finanz spielten eine ent¬
scheidende Rolle. Damit griffen von selbst die großen nationalen
Wirtschaftsinteressen über ihre Grenzen hinaus und schlossen sich zu
internationalen Verbänden zusammen, die Absichten der nationalen
Wirtschaftspolitik außer acht lassend, wenn nicht gar durchkreuzend.
Während das Schlagwort ^Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
M. jf. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 5 67
meist nur auf internationalen Kongressen der Arbeiterschaft wirkte,
war der Ruf „Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch!“ zwar niemals
laut in die Welt ergangen, wohl aber instinktmäßig von großen
Interessengruppen befolgt worden.
Seit alten Zeiten haben mächtige Interessen die Außenpolitik der
Länder beeinflußt und den Versuch gemacht, sie in eine ganz be¬
stimmte, ihnen dienliche Richtung zu treiben. So haben zum Beispiel
die Zucker- und Ölinteressenten der Vereinigten Staaten einen starken
Einfluß auf deren auswärtige Politik Kuba oder Mexiko gegenüber
ausgeübt. Der Kampf zwischen der europäischen Waffenindustrie vor
dem Kriege um Waffenlieferungen an die Türkei, Serbien, Bulgarien
und China hat häufig die große Politik der europäischen Kanzleien
vom richtigen Pfade abgebracht.
Darüber hinaus haben große Interessen im Aufträge ihrer Regierung
Aufgaben übernommen, denen sich die betreffende Regierung damals
nicht gewachsen fühlte. Die ostindischen Kompagnien haben ihren
Ländern Kolonialreiche beschert, die zu gewinnen und zu behaupten
diese damals kaum imstande gewesen wären. Und die großen
Siedlungskolonien der Welt sind häufig von Unternehmern erschlossen
worden, die auf eigene Rechnung und Gefahr eine neue Welt auf-
bauten. Die Geschichte der englischen Kolonisation in Irland ist
nichts anderes als eine Reihe von mehr oder minder erfolgreichen
Versuchen, Irland durch Konquistadoren von England abhängig zu
machen.
Um diese Dinge handelt es sich heute nicht mehr. Heute sind
vielfach Gruppen an der Arbeit, die ohne Rücksicht auf den Willen
der eigenen Staatsgewalt, ja vielfach im Gegensatz zu ihr, auswärtige
Politik machen, in der Hoffnung, den Staat vor vollendete Tatsachen
zu stellen. Auch das ist keine neue Erscheinung. Der Einfäll
Dr. Jamesons in die südafrikanische Republik sollte die englische
Regierung zur Annektion des Transvaals zwingen. Wieder und wieder
haben amerikanische Ölinteressenten in Mexiko den Versuch gemacht,
die Angliederung Mexikos an Amerika zu erzwingen, gelegentlich
durch Teilnahme an mexikanischen Verschwörungen. Ähnlich waren
die Bestrebungen der Gebrüder Mannesmann in Marokko gerichtet
Ganz deutlich schält sich hier das Bestreben heraus, die äußere
Politik aus den Händen des Gemeinwesens zu nehmen und sie nicht
nur im Interesse gewisser Gruppen zu gestalten, sondern sie von
diesen Gruppen durchführen zu lassen, die ihre Privatinteressen für
5<S8 M. jf. Bonn, Die Krise des deutschen Staates
Gesamtinteressen halten. Dabei werden natürlich nicht immer rein
wirtschaftliche Beweggründe in den Vordergrund geschoben; man läßt
gern mehr oder minder idealistischer Deklamation den Vortritt. Man
braucht nur an die Fiume-Romanze der italienischen Faszisten zu
denken und an die Drohungen der Ulsterleute im Sommer 1914,
sie wollten sich in den Schutz des Deutschen Reichs begeben. In
geradezu klassischer Weise verbindet sich nationalistische Romantik
mit naiver wirtschaftlicher Selbstsucht in dem deutschen Balrikum-
abenteuer.
Schon während des Kriegs ist in Deutschland eine starke Agitation
entfesselt worden, die eine Durchdringung der auswärtigen Politik mit
wirtschaftlichen Gesichtspunkten forderte. Man hat wohl gefühlt, daß
die große Politik des deutschen Reiches SchifFbruch gelitten hatte. Man
nahm ohne weiteres an, daß daran die deutschen Vertretungen im Aus¬
lände schuld gewesen seien. Man tat das um so lieber, als man bei
ihn en häufig nicht das gewünschte Entgegenkommen beim Abschluß
privater Geschäfte gefunden hatte. Man sprach der deutschen Diplomatie
die politische Begabung ab, weil die deutsche Regierung den Berichten
ihrer Vertreter, häufig unter dem Druck der wirtschaftlichen Interessen
der Heimat, nicht genügend Glauben geschenkt hatte. Und weil man
selbst aus der Fülle der politischen Probleme nur die wirtschaftlichen
sah, glaubte man, alle Politik sei Wirtschaftspolitik. Da nvan über¬
dies bei wirtschaftlichen Verhandlungen mit den Wettbewerbern oft
gut abgeschnitten hatte, hielt man den erfolgreichen Wirtschaftler
ohne weiteres für politisch befähigt. Man meinte allen Ernstes,
die deutsche Politik werde sichere Erfolge haben, wenn erst der
Diplomat durch den Kaufmann ersetzt sei, oder wenn er zum min¬
desten ein vollgerütteltes Maß wirtschaftlicher Detailkenntnisse besitze.
Der Sturm der Weltgeschichte hat dann fast alle hervorragenden
Diplomaten des kaiserlichen Deutschland hinweggefegt. Nun suchte
man die offenen Stellen nach Möglichkeit mit Praktikern und mit
Konsuln zu besetzen, denn Politik war ja Wirtschaft. Man tat das
gerade zu einer Zeit, wo die „reine Politik“ den Frieden von Versailles
geschaffen hatte und dabei ganz bewußt allen wirtschaftlichen Er¬
wägungen Hohn gesprochen hatte. Aber auch bei einer anderen
Weltlage wären weder die Konsuln noch die Mehrzahl der aus dem
praktischen Leben stammenden neuen Beamten imstande gewesen, die
wirtschaftlichen Fragen zu bewältigen, um die es sich hier handelte.
Wirtschaftliche Tatsachen kennen — insbesondere, wenn es rieh
M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 5 69
um Kenntnisse aus zweiter oder dritter Hand handelt — ist etwas
ganz anderes, als wirtschaftliche Zusammenhänge erkennen, und zwar
Zusammenhänge von der weltumspannenden Große der heutigen
Fragen. Das zeigte sich fast bei allen Behörden. Man hatte überall
dem Geist der Zeit Zugeständnisse machen müssen und sich allerlei Neu¬
ankömmlinge aufdrängen lassen. Mit dem gesunden Selbsterhaltungs¬
trieb alter Institutionen schied man die Begabten meist bald aus, wenn
man sie nicht unschädlich machen konnte. Die Unbegabten assimilierte
man liebevoll. Man nahm von den Theoretikern meist nur solche,
die wenig von Theorie verstanden und von den Praktikern am liebsten
die, die keine Praxis hatten. So überdauerte man den Sturm der
Zeiten. Diese Zähigkeit war durchaus nicht unberechtigt, denn die
Kandidaten, für die die Parteien sich einsetzten, waren häufig,
wenigstens solange die Konjunktur dauerte, in der Gesinnung tüch¬
tiger als in der Bewährung.
Das Ergebnis war, daß das wirtschaftliche Erkennen und das poli¬
tische Wollen und Können an den Zentralstellen zur Lösung der
großen Fragen nicht ausreichte. Man hielt bestenfalls die Ämter auf
der Höhe der alten Zeit, soweit es sich um Verwaltung handelte.
Aber die Probleme der Gegenwart waren keine reinen Verwaltungs¬
probleme. Sie waren insbesondere, soweit es sich um die Probleme
des Friedensvertrages handelte, Konstruktionsprobleme größten Stils.
Man hatte die „reine Politik“ in der kaiserlichen Zeit auch in den
Parlamenten so wenig gepflegt, daß Männer, die politisch führen
konnten, selten waren. Fand man einen, so empfand man ihn als
unbequem. Man war empört darüber, daß ein leitender Minister
nicht die gleichen Detailkenntnisse besaß, die man von seinen Ministerial-
referenten beanspruchte, und nur Verständnis Air Lagen und Menschen
bewies. Und man war innerlich recht froh, wenn eine derartige un¬
bequeme Persönlichkeit sich an der Unhaltbarkeit in der auswärtigen
Lage verbrauchte und wieder verschwand.
Was das Wissen betraf, so holte man es sich von „Sachver¬
ständigen“.
Die moderne Welt kann ohne ausgiebige Mitarbeit der Nächst¬
beteiligten ihre wirtschaftlichen Fragen nicht lösen. In der Heimat
der modernen Regierungskunst, in England, hatte man das längst er¬
kannt Die englischen parlamentarischen Untersuchungen, die die
Regierung unter Zuziehung aller Beteiligten veranstaltet hatte, füllen
nicht nur eine Bibliothek voll von wertvollstem Material, sie sind
yjo M. y. Bonn, Die Krise des deutschen Staates
auch oft die Grundlage einer tief einschneidenden Gesetzgebung ge¬
worden. Neben dieser öffentlichen Befragung geht die vertraulich
persönliche Befragung hervorragender Männer des Wirtschaftslebens
einher, wie sie zum Beispiel Lloyd George in größtem Umfänge an¬
gewendet hat. Bei diesen Befragungen läßt ach die Regierung von
den Beteiligten informieren, sie läßt sich nicht von ihnen dominieren.
Sie sucht sich die Leute aus, denen sie vertraut, sie läßt sich aber
nicht Vertreter von Verbänden aufdrängen. Sie dankt ihnen för den
guten Rat, betrachtet sich aber nicht für verpflichtet, ihn zu befolgen.
Sie stellt die Ziele der Politik selbst fest, sie erörtert nur die Brauch¬
barkeit der Mittel und die etwaigen Folgen.
In Deutschland hat dagegen schon das alte System Interessenten
berufen, weniger um sich zu informieren, als um Widerstände aus¬
zuschalten, denn man fürchtete die mächtigen Interessen mehr als die
politischen Parteien. Seit den Verhandlungen von Versailles gab es
nun etwas wie ein Institut der „Sachverständigen“. Man rief Ver¬
treter aller einflußreichen Interessen zusammen und nannte sie Sach¬
verständige. Man wählte dabei vielfach Personen nicht sowohl wegen
ihrer Sachkenntnisse aus, sondern wegen der Stellung, die sie bei ihren
Verbänden hatten. Es kam dabei nicht sowohl darauf an, die größte
Masse von Wissen, als die größte Menge von Branchen zusammen¬
zubringen und niemanden zu verstimmen. Man stellte den Sach¬
verständigen keine bestimmt formulierten Fragen, man überließ sie
sich selber, insbesondere, seit sie in Versailles vorübergehend er¬
folgreich gegen die Leitung untüchtiger Beamter rebelliert hatten. Man
betonte der öffentlichen Meinung gegenüber geflissentlich nicht, daß es
„Interessenten“ waren, da man augenscheinlich der Meinung war, die
Übereinstimmung einflußreicher Interessenten verbürge sachverständige
Unparteilichkeit.
Diese Sachverständigen haben in der Tat höchst wichtige Arbeit ge¬
leistet, die die verschiedenen Ämter oft vielfach schon infolge von
Ressortsstreitigkeiten nicht leisten konnten. Man ließ sie dabei rnhig
in die Politik übergreifen. Niemand gab sich die Mühe, das ge¬
waltige Wissen, das in solchen Versammlungen vorhanden ist, syste¬
matisch herauszulocken und kritisch zu verwerten. Es genügte,
daß sie gesprochen hatten und unter Umständen mit ihrem Spruch
die Regierung deckten, wobei es dieser ja unbenommen blieb, sie
gelegentlich als bloße Attrappe zu verwerten. Man hatte überdies
eine so geringe Meinung von dem eigenen Können, daß man glaubte,
M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates
57 *
eine Erklärung der Vertreter des deutschen Wirtschaftslebens werde
wie eine Bombe in den Reihen der Gegner wirken, während man
einer eigenen Erklärung nicht viel Kraft zutraute. Man wußte nicht,
-wie man auf die öffentliche Meinung fremder Länder wirken sollte,
man tiberließ diese Aufgabe gerne anderen Leuten, die es sich zu¬
trauten, und man merkte dabei nicht, daß die Bürokratie und die
von ihr beratene Regierung außenpolitisch abdankte.
Der tiefste Punkt dieser Entwicklung waren wohl die Verband*
lungen in Spa im Sommer ipzo, bei denen auf Wunsch der deutschen
Regierung Herr Stinnes das Wort zu Ausführungen ergriff, die sach¬
lich nichts neues brachten und nichts neues bringen konnten, die
aber als politischer Pronunziamento ohne Vorwissen der Regierung
gedacht waren und als solches wirkten. Man hat in Deutsch¬
land gejubelt, „daß endlich einer es den andern gegeben habe.** Man
hat augenscheinlich nicht begriffen, daß man damals am Ende der
deutschen Außenpolitik stand. Denn wenn eine Regierung bei Ver¬
handlungen mit den Häuptern anderer Regierungen in einer technischen
Frage für einen Berater das Wort erbittet, und dieser Berater ohne
vorherige Fühlungnahme mit seiner Regierung eine eigene politische
Note anschlägt, dann hat die Regierung zu seinen Gunsten abgedankt,
wenn sie ihn nicht sofort abschüttelt Und wenn sie mit ihm ein
Spiel mit verteilten Rollen gespielt hat, so hat sie ihm eine Ver¬
antwortung zugeschoben, die sie hätte tragen müssen. Man kann
Herrn Stinnes keinen Vorwurf daraus machen, daß er die sich ihm
bietende Gelegenheit benutzt hat, um seine private Außenpolitik zu
machen. Die Regierung, die ihm dazu die Hand bot, entstaatlichte
die Außenpolitik.
Seitdem ist in der deutschen Politik manches anders geworden.
Der Einfluß der Sachverständigen-Nebenregierungen bei der Regierung
hat abgenommen, aber die Versuche, außerhalb des Parlamentes neben
der Regierungspolitik private Außenpolitik zu treiben, haben nicht
aufgehört. Die auswärtige Politik wird weiter entstaatlicht.
Auf der einen Seite versuchen die großen Arbeiterverbände eine
gemeinsame, ihren Klasseninteressen entsprechende Linie festzulegen.
Auf der anderen Seite suchen die Untcmehmergruppen über die
Staatsgrenzen hinaus sich mit Berufsgenossen und Wettbewerbern zu
einigen und eine zwischenstaatliche Weltwirtschaft herbeizuführen.
Während sie zuhause nationale Bewegungen und nationalistische
Instinkte schüren, gehen sie draußen internationale Bindungen ein, in
l
57 * Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus
der naiven Voraussetzung, daß ein Erfolg ihrer Privatinteressen an und
für sich eine Förderung der-nationalen Interessen sei. In anderen
Ländern beachten sie die Staatsgewalt und sind bereit, ihren leisesten
Winken tu folgen, in Deutschland verachten sie sie. Als im Sommer
des vergangenen Jahres die deutsche Industrie der deutschen Regierung
tur Zahlung der Reparationsverpflichtungen ihren Kredit zur Ver¬
fügung stellen sollte, hat im entscheidenden Moment eine mächtige
Gruppe als Gegengabe die Auslieferung der deutschen Bahnen ge¬
fordert. Und obwohl sie wissen mußte, daß die deutsche Regierung
diesem Verlangen nicht nähertreten könnte, ist in London Ober die
Entstaatlichung der deutschen Bahnen verhandelt worden. Auch heute
ist noch in Deutschland, nicht nur bei den Bolschewisten, eine Außen¬
politik möglich, die Privatpolitik, nicht Reichspolitik ist. Solche Be¬
strebungen hat es als Emigrantenpolitik nach Revolutionen immer
gegeben. Das Neue in Deutschland ist, daß solche Politik von Persön¬
lichkeiten gemacht wird, die in deutscher Erde wurzeln und doch
nicht erkennen, daß jede Außenpolitik, die nicht einheitlich ist, er¬
folglos bleiben muß.
Nach innen und nach außen verfolgen starke Kräfte ein Ideal der
staatlosen WirtscÄft, das mächtigen, rein wirtschaftlich gerichteten
Monopolen — auch wenn die Arbeiter daran beteiligt sind — die
Kulturinteressen des deutschen Volkes ausliefert. Das ist die Krise
des deutschen Staates. Wenn sie nicht bald ihren Höhepunkt Ober¬
schreitet, wird Deutschland in absehbarer Zeit den Völkern der Erde
wenig anderes bedeuten als ein „wirtschaftlicher Begriff 1 *.
DIE KRISIS DES HISTORISMUS
von
ERNST TROELTSCH
D u Wort „Historismus** ist im heutigen Sprachgebrauch zunächst
ein Scheltwort, eine Entladung von allerhand Beschwerden gegen
historische Belastung, kompliziertes historisches Denken und die Ent¬
schlußkraft schwächende historische Bildung. Es gehört in diesem
Sinne in die allgemeine heutige Rebellion gegen die Wissenschaft
Oberhaupt hinein, in der sich die Enttäuschung einer leidenden, dem
Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
571
intellektuellen Fortschritt nicht mehr trauenden Menschheit Luft macht.
Man zerstört die Mittel der Lebenserhaltung» weil das Leben mit ihrer
Hilfe, Freilich auch unter Mitwirkung von hundert ganz anderen
Umständen, nicht erfreulicher geworden ist. Ähnlich haben die Hand¬
werker die Maschinen bei ihrem Aufkommen in ihrer blinden Wut
zerstört. Wie freilich das Leben ungeheurer Massen ohne die Mittel
der Wissenschaft sich gestalten soll, darflber macht man sich keine
Gedanken. Da gibt es prachtvolle poetische Bilder neuer Ursprünglich¬
keit und Lebensfrische oder mystischen Erkenntnisersataes, indessen
die Lehrer und Diener der „alten“ Wissenschaften durch ihre fort¬
gesetzte Arbeit dafür sorgen, dafi die Welt an dieser Romantik und
Mystik nicht allzusehr leidet und ihren mühseligen Gang weiter geht.
Aber nicht von dieser allgemeinen Frage möchte ich reden, sondern
von der besonderen inneren Krise der Historie, die nicht erst aus
dieser allgemeinen Erschütterung der Geister, sondern aus dem innern
Gang und Wesen der Historie selbst entspringt Da zeigt dann das
Wort „Historismus“ sofort einen anderen, einen sachlichen Sinn.
Es bedeutet dann die Historisierung unseres ganzen Wissens und Emp¬
findens der geistigen Welt, wie sic im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts
geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der
I endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit
durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges.
Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Flufi des historischen
Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher
Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn
für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten
Obcrindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die
Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen
Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und
darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunft¬
wahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesell¬
schaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungs-
iwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende
Form beziehen. Der Historismus in diesem Sinne ist die erstlich«
Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem
und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich
moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken
und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise
sich grundsätzlich unterscheidet Das geistige Leben ist nicht mehr
l
J7 4
Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus
Teilhaber an Oberirdischen und Obersinnlichen, festen, unveränderlichen
Wahrheiten, auch nicht mehr Erhellung der allgemein-menschlichen
Vernunft- oder Commonsense-Wahrheiten gegenüber den Irrungen des
Aberglaubens und der Phantastik, nicht mehr die Erforschung des
Naturrechts und ein darauf begründeter Umbau von Staat und Ge¬
sellschaft, sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets rieh ver¬
ändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den
Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden.
Das sind dann die jeweiligen größeren oder kleineren individuellen
historischen Gebilde, die sich der geschichtlichen Selbsterkenntnis mit
so viel Liebe und Hingebung als Mutterboden des eigenen Daseins
erweisen, aber bei jeder Überschau von hoher genommenem Aug-
punkt aus als treibende, sich bildende und wieder auflösende Er¬
zeugnisse des Stromes darstellen. Der tiefere innere Zusammenhang
dieses Stromes selbst mit den bewegenden und im Einzelfalle formenden
geistigen Kräften bleibt dabei dunkel, da die Historie ebenso wie
die Naturwissenschaften den Zusammenhang mit der Philosophie grund¬
sätzlich gelöst hat und autonom mit eigenen Mitteln das Werden
und seine Gebilde erforschen will.
In diesem Sinne steht der Historismus als eigenes großes Prinzip
dem Naturalismus gegenüber, der gleichfalls kein Scheltwort bedeutet
oder bedeuten soll, sondern du große Prinzip, die gesamte Körper¬
welt einschließlich der Lebens-, der Nerven- und Gehimprozesse nach
den allgemeinen naturwissenschaftlichen Prinzipien der Naturkausalität
zu erforschen. Zwischen Historismus und Naturalismus teilt sich der
Stoff des modernen realwissenschaftlichen Denkens auf. Der Streit
um die gegenseitige Grenzberichtigung und um die volle Selbständig¬
keit der Historie in diesem Nebeneinander ist eines der Hauptprobleme
des modernen Denkens geworden, wobei vor allem die in der Mittel¬
stellung begriffene Biologie schwierige Streitfragen darbietet. Es ließe
sich nachweisen, daß diese ganze wissenschaftliche Situation das not¬
wendige Ergebnis der Grundwendung der modernen Philosophie zur
Bewußtseinsanalyse und Gegenstandstheorie seit der Cartesianischen
Neubegründung der Philosophie ist Die auf die Körperwelt hin¬
deutenden Daten unseres Bewußtseins werden naturwissenschaftlich,
die auf eigenseelische Gehalte und Veränderungen bezogenen Daten
werden historisch-genetisch erforscht, wobei die Quellenkritik und
Tatsachenricherung Voraussetzung und Grundlage ist Die Historie
ist von den beiden wissenschaftlichen Großmächten die spätere und
Emst Trocltscb, Die Krisis des Historismus
575
!
*
♦
*
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bat ihre Selbständigkeit der Naturalisierung der Philosophie und dea
Bewußtseins erst abkämpfen müssen, hat aber dann, seit die Auf¬
klärungshistorie und Kritik im neunzehnten Jahrhundert zu den großen
historischen Forschungen ausgeblüht ist, einen selbständigen Rang und
eine ungeheure Wirkung erlangt trotz aller verbleibenden Grenz¬
streitigkeiten und der wechselnd bald mehr hierhin bald mehr dorthin
gerichteten Gunst der Zeitlagen. Daß der Naturalismus zuvorkanv
das kommt von dem Übergewicht naturwissenschaftlicher Schau und
Forschung, das die Antike bei ihrer Erneuerung in der Renaissance
darbot und das zugleich technischen Bedürfnissen der Zeit entgegen¬
kam. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie die moderne Welt
aussehen würde, wenn ihre Wissenschaft mit der Psychologie, und
zwar mit einer nicht durch die Analogien der Naturwissenschaft ge¬
bundenen Psychologie und einer von ihr erleuchteten Historie begonnen
hätte. Jedenfalls sind nun aber die Dinge nicht so gegangen, sondern
umgekehrt. Aus der von den Naturwissenschaften inspirierten Kritik
der Aufklärung an der vergangenen Kultur und dann aus dem
empirisch-genetischen Geist des Gegensatzes gegen den mathematischen
Apriorismus sind in der englischen Erführungsphilosophie, bei Vico,
Hamann und Herder die Richtungen auf die Geschichte als Ent¬
wicklungsgeschichte entsprungen. Das Naturrecbt, das geschieh ts-
philosophische Surrogat der Aufklärung, das bis zu Kant und Fichte
reicht, ist —'wenigstens in Deutschland — überwunden. Der lange Rück¬
stand ist dann durch eine um so glänzendere und raschere Entfaltung
der Historie und ihrer Hilfswissenschaften in Geographie, Philologie
und Soziologie abgelöst worden. Und heute empfinden wir die Pro¬
blematik, die hierin steckt, ebenso schwer, wie wir diejenige empfinden,
die in der den Geist bedrohenden Geistesschöpfung der Naturwissen¬
schaften liegt
Zuerst diente die Historie der Kritik und der Wegräumung der mittel¬
alterlich-kirchlichen Kultur. Dann schuf sie in der Romantik in
der von ihr inspirierten großen Historie du Gegengewicht gegen den
revolutionär-rationalistischen Geist, einerlei, ob das in der Weise
Rankes und Adam Müllen oder in der Comtes und Taines geschah. Darauf
diente sie den großen nationalen Einigungsvenuchen der europäischen
Völker und ihrer nationalen Selbstverticfung, einerlei, ob das in der
Weite Sybels und Teitschkes oder in der Seeley’s oder Thiers’ geschah.
Schließlich ergab sie sich einem grundsätzlich unparteiischen wert¬
freien Realismus, der die historische Wahrheit und den Werde-
-V
5 7 * Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus
Zusammenhang überall, wo er sich darbietet, möglichst objektiv und sach¬
lich erforschen will und auf das Ideal einer allgemeinen Verknüpfung
dieser Zusammenhänge in einem Bild des Menschheitswerdens grund¬
sätzlich losgehen muß, obwohl die Häufung der kritischen und sach¬
lichen Forschung gleichzeitig dieses Ideal immer unmöglicher macht
und den Meistern des Faches verbietet. Um so häufiger und gründ¬
licher ist dieses Ideal dann von Dilettanten und Improvisatoren versucht
worden, darunter so mächtigen Geistern wie Nietzsche. Neuerdings
haben Spengler und H. G. Wells, jeder auf seine, für die beider¬
seitigen Nationalitäten höchst charakteristische Weise, dieses geheime
und unentbehrliche Ideal moderner Historie durchzuführen unter¬
nommen. Der eine predigt den pflanzenartigen Wechsel der histo¬
rischen Vegetationen und das Ideal der Ergebung in die Niedergangs¬
periode, der ändere den Fortschritt zu der endlichen, seit dem
Renaissance-Zeitalter geforderten, Weltorganisation der Völker und den
Optimismus der Rettung durch englisch-amerikanische geistige Welt¬
herrschaft und politische Weltkontrolle. Dazu kommt, daß der Welt¬
krieg eine große historische Periode allem Anschein nach wesentlich
beschlossen, alle bisherigen selbstverständlichen Maßstäbe erschüttert
und damit alle Entwicklungsbilder ihrer zusammenfassenden Form be¬
raubt hat Ein unendliches Rätseln und Deuten an der Geschichte,
verwegene Neukonstruktionen, pessimistische Verzweiflungen oder
skeptische Beschaulichkeiten sind die Folge. Es ist Hochkonjunktur
für Geschichtsphilosophie geworden, während die fachmäßige Forschung
sich von alledem grundsätzlich zurückbält und ihre alten Problem¬
stellungen und Interessen, ihren alten Objektivitätsstandpunkt und zu¬
meist auch die alten Wertmaßstäbe festhält In dieser Lage empfindet
die Zeit den allgemeinen historischen Relativismus und die liebevoll
kritische Erforschung der einzelnen Strecken des Lebensstromes wie eine
Qual oder eine Sinnlosigkeit und überträgt ihre allgemeinen Ent¬
täuschungsgefühle gegenüber der Wissenschaft vor allem auf die Historie.
Neukatholizismus, neuer oder ältester Rationalismus, wissenschaftsfreie
Schwärmerei und Inspiration, okkultistische Theosophie und Ähnliches
besetzen du Feld.
Aber die Gründe der offenkundigen Krisis des Historismus liegen
noch tiefer. Auch der Naturalismus, sofern er Philosophie und
Weltanschauung bestimmt, ist heute tief erschüttert. Aber er läßt
sich von beiden leichter lösen, hat festere Methoden und exaktere
Mittel, hängt mit technischen Lebensnotwendigkeiten innerlich und
Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
577
praktisch zusammen. Er selbst in seinem eigenen Wesen bleibt un¬
berührt und entwickelt aus dem strengsten Fachgeist heraus heute die
großartigsten neuen Probleme. Der Historismus dagegen besitzt schon
in sich selbst diese Festigkeit nicht und hängt anderseits mit den
wechselnden und feinsten Lebensfragen viel zu eng zusammen. Bei
ihm kommt sie zum guten Teile aus ihm selbst heraus, aus seinen
eigenen Problemstellungen. Will man daher seine Krise nicht nur
leidenschaftlich und äußerlich in ein paar Büchern erfassen, so müssen
ihre Gründe noch tiefer aufgedeckt und noch weitere namhaft ge¬
macht werden. Die bisher genannten Gründe sind wesentlich die
Konsequenzen des Entwicklungsbegriffes, der den alten stolzen Fort¬
schritts- und Menschheitsbegriff zum Begriff endloser Bewegung und
der Bildung bloß vorübergehender, relativ dauernder Sinn- und Kultur¬
zusammenhänge gemacht hat und all du wesentlich vergleichend be¬
handelt, die Einheitlichkeit du Zielu verschwinden läßt. Es gibt
außerdem noch eine ganze Reihe weiterer Schwierigkeiten.
Du erste ist die Aufrollung der erkenntnistheorerisch-logischen
Probleme der Historie. Diese Aufrollung geschah im Zusammenhang
mit der allgemeinen Wendung der Philosophie zur Erkenntnistheorie
und Logik, die in der Zeit der drohenden Ausbildung du Natura¬
lismus zum Materialismus allein noch die Würde und Aufgabe du
Philosophie und mit ihr die für alle Erkenntnis grundlegende Würde
des Geistes behaupten zu können schien. Insbuondere glaubte man nur
auf diesem Wege den besonderen Sinn der Historie und ihre Bedeutung
für die Erforschung des geistigen Lebens wahren zu können. Du war
in der Tat die durch die gesamte geistige Lage geforderte Frage¬
stellung, und die Antworten haben sehr wichtige Beiträge sowohl
zur Festigung der Historie als zur Anerkennung ihrer geistig-ethischen
Bedeutung erbracht. Allein am Ende aller Logik und Methodik steht
die Frage: wie verhält sich die vom denkenden Geiste nach seinen
Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zu¬
sammenhang der Dinge selbst) Oder mit der besonderen Anwendung
auf die Historie ausgedrückt: wie weit kann die Historie du reale
Geschehen überhaupt erfassen und wiedergeben 1 Alle Historie ist
Auslese und Umformung eines ungeheuren Materials, das seinerseits
aus einer unendlich breit und tief strömenden Masse bewegten Lebens
hervorragt oder herausgezogen werden kann. Dabei soll von den
sehr schwierigen und oft nicht sicher zu lösenden Problemen der
Quellenkritik und Tatsachenfeststellung gar nicht einmal die Rede
37
578 Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
•ein, da die eigentliche Aufgabe der erkennenden und darstellenden
Synthese — die Franzosen haben oder hatten eine eigene Revue de
•ynthhse historique — erst nach deren Erledigung beginnt. Was in diese
darstellende Historie eingeht, ist ein winziger Ausschnitt der völlig
unerreichbaren und unzählbaren tatsächlichen Vorgänge, die sich
zuletzt ihrerseits aus Komplikationen unendlich vieler psychischer Einzel-
Vorgänge und ihrer Zusammenhänge mit Natur und Körper zusammen-
setzen. Es haben also alle in die Historie eingehenden Tatsachen
ftlr sie wesentlich repräsentative oder stellvertretende Bedeutung. Nicht
der Einzelvorgang als solcher ist es, der hier in Betracht kommt;
sondern die in ihm enthaltene Hindeutung auf in ihm sich offen¬
barende allgemeine Tendenzen und Strebungen, die durch ihn sichtbar
und auch zugleich durch ihn wieder bestimmt werden. Faßt man
aber diese Tendenzen und Allgemeinheiten ins Auge, so sind sie
Oberhaupt nicht exakt, sondern nur intuitiv und verstehend als
Sinneinheiten erfaßbar. Diese Sinneinheiten sind unbegrenzbar ver¬
schieden und jedesmal individuell gefärbt, verlangen also eine un¬
geheure Empfänglichkeit und Kongenialität, Lebens- und Sachkenntnis
des Historikers, sobald er einen größeren Zusammenhang bearbeitet.
Und nur die großen Zusammenhänge sind von allgemein mensch¬
licher Bedeutung und verleihen der Historie einen einheitlichen Ein¬
fluß auf Bildung und Lebensorientierung. Die hieraus sich ergebenden
Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Auf der einen Seite ist die
Folge das immer mehr sich zerteilende Spezialistentum, das um der
Exaktheit willen immer kleinere und gleichgültigere Gegenstände be¬
arbeitet, um mit sicherer, den Naturwissenschaften ebenbflrtiger
Methode strenge Erkenntnisse, eigentliche Wissenschaft zu gewinnen.
Bei der Bedeutung der Philologie fOr solche Exaktheit läuft es auf
eine Philologisierung der Historie hinaus. Der Zustand, der damit
eingetreten ist, bedarf keiner näheren Beschreibung. Die Seminar¬
historie ist ein Triumph der Wissenschaft, aber sie interessiert nur
Fachleute, und zwar jeweils nur solche des gleichen engeren Gebietes.
Unter einem oder ein paar Dutzenden von Fachkennem treibt sich
dann das Thema hin und her, dient wesentlich als Ausweis der Fach-
tflehtigkeit der Verfasser und beschäftigt wesentlich nur die Rezensions¬
blätter. Wo aber die Historiker an die eigentliche Aufgabe der
Historie, an die Synthese großer Entwicklungszusammenhänge hersit-
gehen, da entsteht die peinigende Frage nach der Objektivität solcher
Historie, nach ihrer Entsprechung mit dem wirklichen Verlauf. Ist
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V
Emst Tro eit sch, Die Krisis des Historismus
579
sie mehr als scharfsinniges logisches Arrangement der Tatsachen, oder
ist sie wirklich geradezu Dichtung) Die Invektiven Schopenhauers
gegen die Historie, daß sie lediglich fable convenue sei, allenfalls
auch fable non convenue, werden immer von neuem laut Gewiß
gibt es eine Anzahl von klassischen Meisterwerken der Synthese wie
Rankes, Jacob Burckhards, Tocquevilles, Mommsens, Gardiners Leistungen.
Aber wie Ranke selbst sagte, neue Zeiten bringen neue Fragestellungen,
und jedes Zeitalter muß die großen Zflge der Geschichte von seinem
Standpunkt aus neu verstehen. Wo aber bleibt dann die Realität und
Objektivität? Jedenfalls würde das sehr tief dringende geschichts¬
philosophische Untersuchungen zur Beantwortung verlangen. Aber
gerade dazu hat man nicht Zeit und Lust, auch fürchtet man die
Philosophie in der exakten Wissenschaft So ist die Folge, daß die
Synthesen in den Händen der Historiker immer seltener werden und
in die Hände der Dilettanten geraten. Seit der Polemik des heute
neu aufgelegten Rembrandt-Deutschen gegen die Fachhistorie ist die
große synthetische Dilettantenhistorie immer weiter und weiter an-
gcwachscn, zum Teil geistvolle und glänzende Werke wie die Nietzsches
und Spenglers, zum Teil und vor allem ein Haufen besserer und
schlechterer Journalistik. Da ist die Folge eine seltsame Mischung von
historischer Skepsis und leichtgläubigster Mystik. Ein Mann wie
Spengler bezeichnet grundsätzlich die Historie als Dichtung und ver¬
achtet die Forderungen gemeiner Richtigkeit als spießbürgerliche und
und pedantische Illusion. Ein Mann wie H. G. Wells, das angelsächsische
nüchtern-optimistische Gegenbild zu Spenglers deutschem romantischen
Pessimismus, deckt sich bezüglich der Richtigkeit durch die Kontrolle
einzelner Fachmänner, proklamiert aber als Ziel seiner großen, in
vieler Hinsicht auch großartigen Synthese, die Stellung der praktischen
Gegenwartsaufgabe der europäischen Völkerwelt. Skepsis, Dichtung,
praktische Kultursynthese haben sich der Historie außerhalb der Fach-
i arbeiterschaft bemächtigt. Die letztere scheint ihren Kritikern zurück-
geblieben, pedantisch, unfruchtbar, in Illusionen gefangen. Das ist
I Krisis genug, und die engere Krisis der Historie selbst kann nun mit
der allgemeinen Krisis des außerwisscnschaftlichen Geistes in ein ge¬
meinsames Bett münden. Skepsis und Phantastik hier wie dort!
Das zweite ist die Einführung des soziologischen Elementes in
die historische Forschung, Kausalerklärung und intuitive Vereinheit-
■ lichung. Der einseitigen Geistes- oder Staats- und Rechtsgeschichte
tritt die Auffassung entgegen, daß alle geistig-kulturellen und staatlich-
5 So Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
organisatorischen Bildungen aufruhen auf den jeweiligen gesellschaft¬
lichen Grundlagen des Lebens und daß diese wiederum zwar nicht
allein, aber doch sehr stark durch den ökonomischen, technischen
und dementsprechend in Sitte und Privatrecht bestimmten Stand der
Gesellschaft bedingt sind. Das haben die praktischen Engländer, die
Schöpfer der klassischen National-Ökonomie, längst auf ihre Weise
gesehen, und aus der Schule Benthams heraus hat Grote in seiner
History of Greece diesem Gedanken eine erste große Wirkung ver¬
schafft. Dabei möge man nicht vergessen, daß aus der deutschen
Romantik und Philosophie heraus August Böckh auf ganz analoge
Fragestellungen in seinem „Staatshaushalt der Athener 4 * gekommen ist.
Eine große allgemeine Bedeutung aber haben diese Theorien dann
erlangt unter den Erfahrungen der französischen Revolution und ihrer
Nachwirkungen in den Schulen St. Simons und August Comtes, die
die Schöpfer der Soziologie als einer neuen Wissenschaft, ja geradezu
als des Ersatzes Dir Geschichte, geworden sind. Der armselig-ideolo¬
gischen Geschichtschreibung der Aufklärung und den individualistischen
Revolutionsidealen setzen seitdem die französischen Historiker zu einem
großen Teil eine von Klassen- und Rassenkämpfen, von den Gesell¬
schafts- und Organisationsproblemen her orientierte Geschichte entgegen.
Auch hier darf man die volle Analogie der deutschen Romantik nicht
übersehen, die auch ihrerseits die Bildung der realen Gemeinschaft
als Hauptproblem erkannte. Wenn sie dabei auch wesentlich auf die
Staatsidee und die Realpolitik hinauslief, so sind bei Adam Müller,
List, Rodbertus und Raumer doch die ökonomisch-soziologischen Ver¬
hältnisse als geschichtsbestimmend im Vordergrund geblieben. Vor sllem
aber hat hier die große industrielle, technische und soziale Umwälzung
des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Aufgipfelung zu der marxisti¬
schen Wissenschaft oder ökonomischen Geschichtstheorie umwälzend ge¬
wirkt. Die wissenschaftliche Bedeutung dieser letzteren, wenn man dabei
von der praktisch viel wichtigeren agitatorischen und die sozialistische
Klassen-Ideologie begründenden absieht, ist doch eine außerordent¬
liche Einschärfung und Vertiefung der soziologischen Probleme und
ihres Zusammenhangs mit den realsten Lebensbedürfnissen, wie sie
die Sozialökonomie behandelt. Ihr Einfluß ist in Wahrheit ungeheuer.
Die Soziologie mag so unfertig sein wie sie will und in dieser Hin¬
richt den Historikern allen möglichen Anlaß zu Angriffen auf sie und
damit zur Selbstberuhigung Ober die Krisis ihrer Wissenschaft geben,
sie ist in Wahrheit eine neue Art zu sehen und zu fragen. Man
Ernst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 581
mag bei den ökonomischen Gesamtzuständen wieder nach den geistig-
psychologischen und historisch-individuellen Grundlagen fragen, die
Tatsache, daß sie, so wie sie geworden, den auf ihrer Grundlage sich
erhebenden geistigen, staatlichen und rechtlichen Bildungen eine starke
und dauernde Bestimmung dann ihrerseits erteilen, ist nicht zu bestreiten.
Man kann die materialistischen oder halbmaterialistischen Voraus»
Setzungen des Marxismus gründlich beseitigen, seine soziologische Lehre
selbst bleibt von größter Bedeutung und verlangt den vielseitigsten
Ausbau. Damit aber werden alle historischen Probleme noch ganz
ungeheuer viel komplizierter. Das Spiel und Widerspiel ökonomisch-
sozialer, geistig-kultureller und politisch-rechtlicher Elemente wird in
jedem Einzelfall eines großen Kulturzusammenhangs eine jedesmal be¬
sonders zu lösende Aufgabe. Die großen religions- oder philosophie¬
geschichtlichen Durchblicke werden in ihrer Geradlinigkeit unmöglich,
die gegenseitigen Abhängigkeiten des geschichtlichen Lebens unendlich
viel schwerer durchschaubar. Jene rein geistigen Elemente gestatteten bei
ihrer gedanklichen Natur eine logische Ausspinnung der Entwicklung,
ergaben damit einen logischen Leitfaden, an dem die Vorgänge auf¬
gereiht und auseinander herausgeholt werden konnten. Jeder solche
rein logische Leitfaden fällt aber weg, wenn man die bestimmende
Bedeutung des ökonomischen und Sozialen auch fUr diese Dinge er¬
kennt und überdies von der marxistischen Illusion sich befreit, als
hätten die ökonomischen Elemente ihrerseits eine logisch-dialektische
Entwicklungsfolge. Damit aber entfallen im weitesten Umfange die
Konstruktionsmöglichkeiten für die großen Synthesen. Der Horizont
ist erweitert, aber aus dieser Erweiterung entstehen erst recht lauter
ganz spezialistische Problemstellungen. Die Aufgabe der historischen
Darstellung der eigentlichen individuellen Entwickelungsverläufe bleibt
neben einer vergleichenden allgemeinen Soziologie freilich genau wie
vorher die wesentliche Aufgabe der Historie. Aber diese Aufgabe ist
erschwert und kompliziert. Vor allem hängt jedes Eingreifen der
Historie in gegenwärtige Lebensfragen und damit auch ihre eigentliche
Bedeutung und Wirkung daran, daß sie die gegenseitigen Kompli¬
kationen der ökonomisch-sozialen, der geistig-kulturellen und staatlich¬
rechtlichen Mächte gerade in der Gegenwart selber sieht und dazu
eine Stellung zu nehmen im Stande ist. Aber gerade vor solcher
Riesenaufgabe schreckt die gegenwärtige Historie begreiflicherweise
zurück und flüchtet sich lieber in ihren ältem Stil der reinen Kontem¬
plation der Fülle des Historischen und der patriotischen oder geistes-
X
5St Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
geschichtlichen Konitraktion, in die Anschauung vom Werden der
europiischen Humanität oder vom Werden des modernen Staates oder
von Kunst- und Literaturgeschichte. Damit entsteht dann der Ein¬
druck ihres vielleicht wesensnotwendigen Versagens vor den Aufgaben
der Gegenwart, oder die Probleme fallen den Dogmatikern, Ästheten
und Nationalökonomen in die Hand. Jedenfalls ist auch hier ein
Punkt, wo ihre eigenen inneren Schwierigkeiten mit den furchtbaren
Erregungen und Hilflosigkeiten der außenwissenschaftlichen Gesamt-
läge Zusammentreffen.
Das Dritte ist die aus alledem folgende und Überdies eigene Gründe
besitzende Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der
Begründung als im sachlichen Inhalt. Das herkömmliche Wertsystem
seit dem Zusammenbruch des christlich-theologischen und des dynastisch-
absolutistischen war das des humanitären Fortschrittes, der Autonomie
der Vernunft, die in Recht, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissen¬
schaft, Religion und Kunst sich aus eigenem Vermögen und eigenem
Triebe entfaltet und die moderne Kultur als Menschheitsangelcgenheit
aus sich hervorbringt. Dieses Wertsystem konnte man mehr inter¬
national-universalgeschichtlich oder mehr national-individualisierend in
seiner Bedeutung für Sammlung, Einheit und Selbstdurchsetzung des
nationalen Staates auffissen. Das entere war die Neigung des kosmo¬
politischen, an der Selbstvervollkommnung interessierten achtzehnten
Jahrhunderts, das zweite die des neunzehnten, das auf die Erfahrungen
der französischen Revolution und des Napolconismus zurückblicktc.
Insbesondere die deutsche Historie hat cs in diesem letzteren Sinne
aufgefäßt und damit die Einigung und Wiedererhebung unserer Nation
aufs wirksamste unterstützt. Aber gleichzeitig wurden diese Kultur¬
ideale von einer steigenden Skepsis angenagt. Die allein übrigbleibende
philosophische Begründung der Geltung und inneren Notwendigkeit
dieser Werte ging mit dem Zerfall der Philosophie, mit Darwinismus,
Ethnologie, evolutionistisch-psychologischer Erklärung aller Werte in
die Brüche. Die Härten des Konkurrenzkampfes und das Völkerringen
um den Besitz des Erdballs, der neue Machiavellismus und die all-
* gemeine Skepsis lösten die Humanitätsidee auf oder glaubten sie als
Heuchelei und Rassenideologien zu enthüllen. Die Vergröberung der
Kultur durch ihre Massenausbreitung und die überbewußte Intellek-
tualität in ihrer Erzeugung stießen feinere Geister ab. Der Kampf
Nietzsches gegen diese ganze Kultur wirkte erschütternd bis in ihre
letzten Begründungen hinein. Schopenhauers Skepsis gegen Geschichte
Emst Troeltsch, Die Krisis des Historistmu 583
und Fortschritt, gegen die abendländischen, letztlich aus Antike und
Christentum stammenden, Optimismen und Aktivitäten drang wie
feiner Staub bis in die geschätztesten Teile des Bildungsapparates.
Die Zerbrechung der alten Werttafeln ward Parole und neue Wcrt-
tafeln gab es im Grunde nicht Damit entfiel der Historie das Steuer,
mit dem sic den ungeheuren Lebensstrom befahren konnte. Es gab
keine BegrUndungsmöglichkeit für Werte mehr. Die Ethik erschien
als die fraglichste aller Wissenschaften. Und doch hatte sie von einer
solchen Ethik bis dahin in Wahrheit gelebt Aber nicht bloß die
Begründung entfiel, sondern auch inhaltlich gerieten die europäischen
Werte in eine furchtbare Zersetzung. Altertum und Mittelalter hatten
ein ontologisch-metaphysisch begründetes Wertsystem gekannt und
von da aus die praktischen Werte des Lebens in eine einheitliche
Hierarchie geordnet Diese Hierarchie zerbrach. Die verschiedenen
Werte wandten sich gegeneinander und jeder einzelne wurde fraglich.
Max Weber, in seinem aufregenden Vortrag Ober den Beruf der
Wissenschaft, redet höchst charakteristisch und sehr heidnisch von
einem Polytheismus der Werte, den das Altertum bei seinem all¬
gemeinen Polytheismus naiv und ohne Schaden ertragen und den
das Christentum durch seinen Monotheismus der Werte gebändigt habe.
Die moderne Religionslosigkeit mache aber heute Polytheismus und
Monotheismus gleich unmöglich, weil sie Überhaupt keinen Theismus
hat. Die Folge sei die Anarchie der Werte und die Notwendigkeit
rein persönlicher, außerwisscnschaftlichcr Stellungnahme. Alles kämpft
gegen alles: die Kultur und der Fortschritt, die Skepsis und das
Ästhetentum gegen die Christlichkeit» vor allem gegen den lange Zeit
mit der Kultur identifizierten Protestantismus; die Realisten, Modernen,
Völkischen und Expressionisten gegen die Antike, die Verehrer des
Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, die dionysi¬
schen und apollinischen Erneuerer der Antike gegen Christentum und
Moderne zugleich. Kampf gegen Kapitalismus und Bürgertum, gegen
Imperialismus und Krieg, Kampf ftlr Nation, Staat, Krieg und Real¬
politik, fUr eigenständig nationale oder für internationale und pazi¬
fistische Kultur, für Wirtschaft gegen Politik und für Politik gegen
Wirtschaft! Dazu die Spaltung zwischen Amerikanismus und Euro-
päismus und das unaufhaltsame Vordringen des Amerikanismus nach
Europa, der Gegensatz westeuropäischer und russischer Wertungen, die
in Europas Mitte mit krampfhaft gesuchten eigenen und selbständigen
durcheinanderfließen I In all diesen Kämpfen dringen von außen
584 Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
fernöstliche indische, buddhistische, chinesische Wertungen ein und
versprechen dem wirren Europa Frieden und Erlösung, wenn es von
seinem Macht- und Gewaltgeist, seiner Aktivität und seinen antik¬
christlichen Ideen der Autonomie der Persönlichkeit lasse. Den Gipfel
der Verwirrung hat zuletzt der Weltkrieg geschaffen, der eine Menge
alter Wert-Selbstverständlichkeiten und entsprechender historischer
Konstruktionen zerstört, aber neue nicht eröffnet hat. All das gehört
zunächst dem allgemeinen Leben an. Aber da diese Werte selbst alte
historische Werte sind und in Entstehung und Gehalt vor allem von
der Historie uns vorgeführt wurden, so ist das zugleich eine Krise
der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge. Sie hat durch den
von ihr schwer zu vermeidenden, alles erklärenden und alles ver¬
stehenden Relativismus die Erschütterung der Werte angebahnt. Aber
andererseits lebt jede ihrer Thema- und Fragestellungen, alle Heraus¬
schneidung historischer Gegenstände aus dem flüssigen Continuum des
Lebens, alle Konstruktion und Bildung von Leitfaden doch von einer
allgemein anerkannten WcrtJehre. Es ist ihre Aufgabe, die historischen
Werte anschaulich und suggestiv zu machen, indem sie nur sachlich
ihre Bildungsgeschichte erzählt, und die modernen Gegenwartentschei¬
dungen vorzubereiten durch die Orientierung Uber die geschichtliche
Fülle und den Zusammenhang der Wertwelt. Indem sie selber sich
dem bloßen Alles-Verstehen ergab, hat sie sich in einen innern Wider¬
spruch hineingearbettet, und dieser Widerspruch wurde in den Sturm
des allgemeinen Lebens hineingerissen. Dabei wurde er zum Brand
entfacht, der sie selber zu verzehren droht.
Das alles zusammen genommen, ist eine wirkliche Krisis des Historis¬
mus. Man kann zu seiner Beruhigung die Biographien und Tagebücher
der Leute lesen, die 1848 erlebt haben, und feststellen, daß auch da¬
mals alles zu wanken schien und dann alles sich wieder zurcchtzog.
Aber man wird zweifeln dürfen, ob sich wirklich alles zureebtgezogen
hat und ob nicht die Geister von damals heute vermehrt wieder¬
gekehrt sind. Vor allem ist doch gerade für die Historie die Krisis
gar keine in den letzten Ereignissen begründete, sondern eine logisch
in der Sache liegende; die heutige Weltrevolution hat ihr nur besonders
grelle Schellen angehängt. Sie hat die verschiedenen Länder und Völker
allerdings in sehr verschiedenem Maße ergriffen. Am wenigsten natürlich
die Amerikaner, die nur wenig Geschichte haben und Europa ab ein
Museum betrachten. Sie haben mehr Zukunft als Vergangenheit und
haben dementsprechend rieh ihren Vers auf die Gesamtlage bereits
Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus
5*5
gemacht: ein von amerikanischer Weltkontrolle getragener demokratischer
Pazifismus. Das ist die Lehre, die sie aus der Geschichte ziehen und
begründen und in deren Licht sie das Werden der historischen Weh
sehen. Immerhin ist es ein Engländer, H. G. Wells, gewesen, der diese
amerikanische Lehre in eine weltgeschichtliche Form gegossen hat und
seinen auf sich selbst begrenzten Landsleuten die Notwendigkeit uni¬
versaler Geschichtsbetrachtung damit klar machen will. In England ist die
Krisis des Historismus mehr erst als Krisis des christlichen Wertsystems
durch historische Kritik und historische Vergleichung fühlbar. Davon
handelt ein Buch von Bouquet „Is Christisnity the Final Religion?**
Hier ist die Krisis klar erkannt. Doch heißt es charakteristisch gleich
auf der ersten Seite: „das angelsächsische Temperament ist mehr aus¬
dehnungslustig als nach innen gerichtet und neigt mehr zu missio¬
narischen Unternehmen als zur Prüfung der Gründe seines Glaubens.**
Und Sidney Low sagt irgendwo, daß die Engländer stolz seien, ein
unlogisches Volk zu sein und sich lediglich an ihre Erfahrung statt
an Spekulation zu halten. In Frankreich hat Barrls, einer der Haupt¬
urheber des Krieges, den Historismus durch den Historismus gewaltsam
überwunden, indem er gegen Entwurzlung und Intellektualismus,
Ästhetentum und Universalismus die strengste und schärfste Bejahung
der eigenen Nation und aller ihrer historischen Eigentümlichkeiten
und Rechte und Ansprüche fordert. In Italien hat der Futurismus den
Kampf gegen alle Historie eröffnet und eine brutale Machtentfaltung
der Gegenwart als Erlösung von ihr, von Museen und Bädekem
proklamiert. Wie die russischen Intellektuellen und Historiker heute
Ober ihre westlichen oder slavophilen historischen Theorien und
Ober Historie überhaupt denken mögen, weiß niemand. Dort wird
das ungeheuerste Gegenwartsexperiment gegen alle bisherige Geschichte
gemacht und neue Erfahrung gewonnen, die neues Geschichtsdenken
begründen wird und damit alles alte vorerst antiquirt. Am schärfsten
ist die Krisis natürlich in Deutschland, dem Mutterlande der modernen
I Historie, wo sie am reichsten und breitesten entfaltet war und wo
alles auch in gänzlich unphilosophischen Zeiten und beim äußersten
Realismus mit einem Hauch von Philosophie oder doch mindestens all¬
gemeiner Konsequenz-Macherei und prinzipiellen Betrachtungen ge¬
schwängert ist. Hier hat der Weltkrieg insbesondere alles historische
Denken völlig durcheinandergeworfen, alte Konstruktionen und Ma߬
stäbe entwertet und völlig neue Probleme aufgegeben, freilich auch
zugleich gegen alle Historie doppelt und dreifach skeptisch gestimmt.
5 84 Enut Troeltscb, Die Krisis des Historismus
So versteht man die heutige Krisis des Historismus als eine tiefe
Innere Krise der Zeit Oberhaupt. Es ist kein blos wissenschaft¬
liches, sondern ein praktisches Lebensproblem. Welchen Ausgang
gibt es?
Es ist selbstverständlich unmöglich, hier in der Kürze den Ausweg
anzugeben, wie er mir als gangbar vorschwebt Ich werde das in
einem Buche Uber den modernen Historismus versuchen, das ich
noch in diesem Jahre herauszubringen hoffe. Hier ist nur möglich,
die verschiedenen tatsächlich versuchten Auswege su bezeichnen. Ich
werde mich dabei dieses Mal wesentlich an unsere deutschen Ver¬
hältnisse halten.
Viele suchen den Ausweg in einem radikalen Wissenschaftshaft und
grundsätzlichen Antihistorismus. Persönliche Inspirationen und souveräne
Diktate treten an Stelle der Wissenschaft, wofür man du Vorbild Nietzsches
gern benutzt, der freilich ein historisch fein gebildeter Geist war und
dieser Bildung den Gehalt auch in seinen verwegensten Visionen im Grunde
doch verdankte. Er dachte stets in Genealogien und hatte die Kultur
du Humanismus. Andere stürzen sich auf einen radikalen Rationalismus,
den sie bald mehr pazifistisch, bald mehr sozialistisch, bald mehr
utopistisch oder nüchtern zweckrationell verstehen. Hier beruft man
sich gern auf Kant und den Neukantianismus, wobei man wiederum
und allzugern den vorkritiseben Kant vergiftt, der mit aller natur¬
wissenschaftlichen und anthropologisch-geographischer Bildung gesättigt
war und von da aus das Material veraussetzte, auf du er seinen
Kritizismus anwandte. Alles das gehört zum Rausch und Wahn der
Revolution. Schon vorher vorhandene Neigungen einzelner Kreise
sind durch sie in den Wirbel der Aufregungen hineingerissen und
für eine Zeitlang als Schaum in die Höhe gespritzt worden. Mit den
wachsenden Enttäuschungen, die der Revolution folgten und weiter
folgen werden, werden auch diese Dinge wieder in ein ruhigeres
Geleise zurückkehren und den Anschluß an ein ernsthaftes Wissen
von Kultur und Geschichte suchen.
Ein anderer Ausweg ist die Begrenzung auf die eigene Geschichte
und eine stark gefühlsmäßige und ausschließende Behandlung dieser.
Ähnlich wie einst im Kampfe gegen die Napoleonische Knechtschaft
und die dauernde Gefahr einer Wiedererweckung der französischen
Revolution der eigene Volksgeist und die eigene Vergangenheit
romantisch verherrlicht und zum Mittel einer nationalen Wiedergeburt
und Einigung gemacht wurden, so ersteht auch heute wieder eine roman-
Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus
5*7
tisch-germanische Geschichtsauffassung und Verwertung, die man heute
„völkisch“ nennt. Sie kehrt sich freilich heute ähnlich wie die Theorie
der Slavophilcn gegen das gesamte Westlertum, damit auch gegen
die englische und amerikanische Welt, während man damals das
Germanentum mit an England veranschaulichte und in Burke geradezu
einen der Bannerträger der neuen antirevolutionären Geschichtsbetrach¬
tung pries. Auch nach andern Seiten hin ist der völkische Gedanke
heute brennender und einseitiger als damals. Er kehrt sich gegen
einen großen Teil der eigenen Volksgenossen und ist fast eine Klassen¬
ideologie des in seiner Existenz bedrohten Bürgertums geworden. Ja,
er kehrt sich sogar gegen die damals hochverehrte und als dem
Deutschtum wahlverwandt betrachtete Antike und möchte die Erziehung
nur mit völkisch-deutschen Kulturmitteln bestreiten. Daß er gleich¬
zeitig das damals kaum in Betracht kommende Judentum zum Haupt¬
gegner erkoren hat und in dieser Frontstellung seine wesentlichsten,
durch die moderne Rassenmythologie erhitzten Sätze gewinnt, ist
allbekannt. Alles in Allem ist es die volle Parallele zu der Art, wie
Barres für viele Franzosen das Problem des Historismus gelöst hat,
nur weniger ästhetisch und künstlerisch verbrämt. Daß darin ein
tiefer und untrüglicher Instinkt neben ungeheuerlichen Einseitigkeiten,
politischem Unverstand und alle Humanität verleugnender Derbheit
liegt, ist ohne weiteres klar. Weltpolitische Nötigungen des Völker¬
verkehrs und die sicher zu erwartende Rückkehr zu unsrer großen
humanen und universalen Historie werden die Bäume nicht in den
Himmel wachsen lassen. Auch innerhalb unseres eigenen Volkes muß
ein Ausgleich kommen. Das Bürgertum kann sich nicht auf die Dauer
grundsätzlich isolieren. Die uns von allen Seiten aufgedrängte welt¬
politische Neuorientierung wird zu liistorischcr Besinnung und humanem
Universalismus zurückfuhren.
Der grundsätzlichste Ausweg ist freilich die Verneinung der ganzen
kulturellen und politischen Entwicklung seit Ausgang des Mittelalters,
die zu den heutigen geistigen, sozialen und politischen Krisen geführt
hat, der Verzicht auf die Gewinnung von Weltanschauung und
Lebensmaximen aus freier Betrachtung der Geschichte und auf die
rationale Gestaltung der Gesellschaft aus frei schaffender Vernunft.
Die Rückkehr zur kirchlichen Autorität und einer modernisierten
ständischen Lebensordnung scheint allein die unheilbaren Probleme
der Moderne lösen zu können. Dabei steht natürlich der Katholizismus
weitaus im Vordergrund, der eine grundsätzliche wissenschaftliche
588 Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus
Universalität und ständische Soziallehren besitzt, der überdies nuancen¬
reich und anpassungsfähig ist, weil er nicht aus Dogma und Theorie
allein besteht. So sehen wir in der Tat eine starke Neukräftigung
des Katholizismus vor uns. Er stellt die verständigste und wichtigste
politische Partei und entfaltet in Bildungskreisen einen sehr geistreichen
Neukatholizismus. Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Ausweg von
sehr vielen gesucht werden wird und daß dem Katholizismus eine
große Rolle in der praktischen Lösung unseres Problems beschieden
sein wird. Der deutsche Protestantismus dagegen wird schwerlich in
dieser Hinsicht eine große Bedeutung erlangen. Soweit er dogmatisch
konservativ ist, steht er den Völkischen nahe. Der freie Protestantis¬
mus aber war und ist mit dem Historismus eng verbunden, holt aus
der Breite der Geschichte die humane Bedeutung des Evangeliums
heraus und ergänzt sie aus weiteren historischen Elementen, die die
Geschichte in die christlichen eingeschmolzen hat. Dagegen aber
wendet sich die Ungunst der Zeit von allen Seiten. Er setzt geordnete
Allgemeinverhältnisse voraus, innerhalb deren die freie Individualität
die historischen Kräfte frei verbinden kann, ohne doch damit die
Grundlage der institutioneilen Regelungen zu zerstören. Ihn trifft die
geistige und politische und soziale Krisis am schwersten. Andre religiöse
Kräfte werden sich schwerlich als Ausweg erheblich geltend machen.
Das Sekten- und Gemeinschaftschristentum greift zwar gleichfalls um
sich, aber eine geistig führende Bedeutung ist ihm sicherlich nicht
beschieden. Hier gibt es keine Form und kein Dogma, und das sind
die Dinge, nach denen die Zeit sich sehnt. Augenblicklich glauben
viele, das in einer Theosophie zu finden, die mit modernstem Ge¬
schäftsbetrieb, politisch-sozialen Theorien der Staatsauflösung, Nietzsche¬
artigen Geschichtsvisionen verbündet ist und dem jeweils höheren Ein¬
weihungsgrade immer festere Dogmen verspricht. Es ist der stärkste
Ausdruck der weitgreifenden Verzweiflung an Vernunft und Wissen¬
schaft und ein Geschichtsbild auf Grund von Visionen- und Geheim¬
offenbarungen. Wie lange derartige Dinge ihre Zugkraft behalten,
hängt von allgemeinen psychologischen und realen Verhältnissen ab,
die niemand berechnen kann.
Der letzte Ausweg ist derjenige, der für den wissenschaftlich ge¬
sinnten Menschen allein in Betracht kommt: eine neue Berührung von
Historie und Philosophie. Die Philosophie selbst ist, wie jedermann
sehen kann, in einer tiefen Umwandlung und Neubildung begriffen
und wagt sich wieder an die alten großen Hauptprobleme der
Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 589
Philosophie. Von ihr aus rauft auch das schwere Problem des
Historismus in Angriff genommen werden. Dabei handelt es sich
nicht darum, die historische Facharbeit mit philosophischen Ideen au
imprägnieren. Diese wird vielmehr bleiben müssen wie sie ist, und nur
in ihrer Themenstellung und ihren Gegenständen dem Bedürfnis nach
dem Groften, Bedeutenden und Wirksamen mehr Rechnung tragen
müssen. Dagegen mufi die allgemeine Weltanschauungsbedeutung und
der Bildungsertrag der Historie neu durchgedacht und neu befestigt, .
auf das Mögliche und Erreichbare begrenzt, hier aber mit vollster
Lebendigkeit herausgeholt werden. Du Problem der historischen
Lebenskenntnis im Verhältnis zu gegenwärtiger Schöpfung und Kultur-
syntbese muß mit allem Nachdruck gestellt und die universal¬
geschichtliche Unterlage für solche Gegenwartsschöpfung mit aller
Kraft und liefe neu gestaltet werden. Du sind Aufgaben nicht der
Historie selbst, sondern der auf die Historie bezogenen Philosophie,
Antworten auf Fragen, die freilich aus der Historie selbst heraus ent¬
springen. Ob Historiker oder Philosophen du Problem bearbeiten, ist
dabei gleichgiltig. Auf Zusammenarbeit sind sie jedenfalls angewiesen.
Die geistige Lage der Zeit verlangt nicht bloß, wie man allenthalben
heute hören kann, die Erlösung vom Naturalismus als von einem Philo¬
sophie und Bildung überwuchernden Prinzip, sondern mehr noch
vielleicht die Erlösung vom Historismus und seiner begleitenden Skepsis,
Ermüdung und WirklichkeitsHucht. Hiermit aber wird dann nicht
bloß der Historismus einen Richtpunkt, sondern auch die forma¬
listisch, abstrakt und technisch gewordene Philosophie einen neuen
Lebensgehalt finden. Der Historismus verlangt nach Ideen, die Philo¬
sophie nach Leben. Beiden kann durch solche Verbindung geholfen
werden.
Wie weit eine solche vom Boden der Wissenschaft aus erfolgende
Lösung des Problems die allgemeine außerwissenschaftliche Krise zu
bannen helfen kann, ist dann freilich eine Frage für sich. Hier
scheiden sich die grundsätzlichen I Lebensstellungen, der moderne Mensch,
der die Freiheit und Beweglichkeit des Gedankens für ein wesentliches
Element der in tausendfachen praktischen Verwicklungen sich ab¬
spielenden Kultur hält, und der mittelalterliche Mensch, der seine
Kraft und Stärke in dogmatischer Gebundenheit und Ehrfurcht hat
und dafür dann den Rest frei spielen lassen kann. Wohl möglich,
daß uns auf dem Kontinent eine mittelalterliche Rückbildung bevor-
steht, zuvor aber müßte mehr als die Hälfte unsres Mensch e nbesta n d e s
59°
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
verschwunden sein. So lange der Lebensquell unerschöpflich springt,
so lange werden wir auch dem Leben und seiner, die moderne Welt
nicht allein, aber grundsätzlich mitbestimmenden Sclbstdarstellung als
Geschichte im Vertrauen zur Vernunft und Wissenschaft uns hingeben.
Das ist Glaubenssathe, wie cs das mittelalterliche Dogma, solange
es naiv war, auch gewesen ist.
PHANTASTISCHE NACHT
Erzählung von
STEFAN ZWEIG
Schlufl
P lötzlich erlosch die Gespanntheit in ihrem Gesicht, der funkelnde
Glanz glomm aus, eine ärgerliche Falte krUmmte sich um den eben
noch lächelnden Mund. Ich folgte der Richtung ihres Blicks: ein kleiner
dicker Herr, den die Kleider faltig umplustcrtcn, steuerte eilig auf
sie zu, das Gesicht und die Stirn, die er nervös mit dem Taschen¬
tuch abtrocknete, von Erregung feucht. Der Hut, in der Eile schief
auf den Kopf gedrückt, ließ seitlich eine tief heruntergezogene Glatze
sehen (unwillkürlich empfand ich, es müßten, wenn er den Hut ab-
nehme, dicke Schweißperlen auf ihr brüten, und der Mensch war mir
widerlich), ln der beringten I land hielt er ein ganzes Bündel Tickctts.
Er prustete förmlich vor Aufregung und sprach gleich, ohne seine Frau
zu beachten, in lautem Ungarisch auf den Offizier ein. Ich erkannte
sofort einen Fanatiker des Rennsportes, irgendeinen Pferdehändler
besserer Kategorie, für den das Spiel die einzige Ekstase war, das er¬
lauchte Surrogat des Sublimen. Seine Frau mußte ihm offenbar
jetzt etwas Ermahnendes gesagt haben (sic war sichtlich geniert von
seiner Gegenwart und gestört in ihrer elementaren Sicherheit), denn
er richtete sich, anscheinend auf ihr Geheiß, den Hut zurecht, lachte
fie dann jovial an und klopfte ihr mit gutmütiger Zärtlichkeit auf
die Schulter. Wütend zog sie die Brauen hoch, abgestoßen von dieser
ehelichen Vertraulichkeit, die ihr in Gegenwart des Offiziers und viel¬
leicht mehr noch der meinen peinlich wurde. Er schien sich zu
entschuldigen, sagte auf ungarisch wieder ein paar Worte zu dem
Offizier, die jener mit einem gefälligen Lächeln erwiderte, nahm aber
dann zärtlich und ein wenig unterwürfig ihren Arm. Ich spürte, daß
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
59 *
ie sich seiner Intimität vor mir schämte und genoß ihre Erniedrigung
nit einem gemischten Gefühl von Spott und Ekel. Aber schon hatte sie
ich wieder gefaßt und während sie sich weich an seinen Arm drückte,
;litt ein Blick ironisch zu mir hinüber, als sagte er „Siehst du, der
lat mich und nicht du“. Ich war wütend und degoutiert zugleich.
Eigentlich wollte ich ihr den Rücken kehren und weitergehen, um
hr zu zeigen, daß die Gattin eines solchen ordinären Dicklings mich
licht mehr interessiere. Aber der Reiz war doch zu stark. Ich blieb.
Schrill gellte in dieser Sekunde das Signal des Starts, und mit einem-
nal war die ganze plaudernde, trübe, stockende Masse wie umgeschüttelt,
3oß wieder von allen Seiten in jähem Durcheinander nach vom
cur Barriere. Ich hatte eine gewisse Gewaltsamkeit notig, nicht mit¬
gerissen zu werden, denn ich wollte gerade im Tumult in ihrer Nähe
bleiben, vielleicht bot sich da Gelegenheit zu einem entscheidenden
Blick, einem Griff, irgendeiner spontanen Frechheit, und so stieß ich
mich zwischen den eilenden Leuten beharrlich zu ihr vor. In diesem
Augenblick drängte der dicke Gatte gerade herüber, offenbar um einen
guten Platz an der Tribüne Ausblick zu ergattern, und so stießen wir
beide, jeder von einem anderen Ungestüm geschleudert, mit so viel
Heftigkeit gegeneinander, daß sein lockerer Hut zu Boden flog und die
Ticketts, die daran lose befestigt waren, in weitem Bogen wegspritzten
und wie rote, blaue, gelbe und weiße Schmetterlinge auf den Boden
staubten. Einen Augenblick starrte er mich an. Mechanisch wollte ich
mich entschuldigen, aber irgendein böser Wille verschloß mir die
Lippen, im Gegenteil, ich sah ihn kühl mit einer leisen frechen und
beleidigenden Provokation an. Sein Blick flackerte eine Sekunde lang
unsicher auf, von einer rot aufsteigenden, aber ängstlich sich drückenden
Wut hochgeschnellt, brach aber feige zusammen vor dem meinen.
Mit einer mir unvergeßlichen, fast rührenden Ängstlichkeit sah er mir
eine Sekunde in die Augen. Dann bog er sich weg, schien sich
plötzlich seiner Ticketts zu besinnen und bückte sich, um sie und den
Hut vom Boden aufzulesen. Mit unverhohlenem Zorn, rot im Ge¬
sicht vor Erregung, blitzte die Frau, die seinen Arm gelassen hatte,
mich an: ich sah mit einer Art Wollust, daß sie mich am liebsten
geschlagen hätte. Aber ich blieb ganz kühl und nonchalant stehen,
sah lächelnd, ohne zu helfen, zu, wie der überdicke Gemahl sich
keuchend bückte und vor meinen Füßen herum kroch, um seine
Ticketts aufzulesen. Der Kragen stand ihm beim Bücken weit ab wie
die Federn einer aufgeplusterten Henne, eine breite Speckfalte schob
5?2 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
sich den roten Nacken hinauf, asthmatisch keuchte er bei jeder
Beugung. Unwillkürlich kam mir, wie ich ihn so schnauben sah, ein
unanständiger und unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in
ehelichem Alleinsein mit seiner Gattin vor, und, übermütig geworden
an dieser Vorstellung, lächelte ich geradeaus in ihren kaum mehr be¬
herrschten Zorn.
Aber jetzt schien der Unglückselige endlich alle seine Ticketts
zusammengerafft zu haben, nur eines, ein blaues, war weiter fort¬
geflogen und lag knapp vor mir auf dem Boden. Er drehte sich
keuchend herum, suchte mit seinen kurzsichtigen Augen — der Zwicker
saß ihm ganz vorne auf der schweißbenetzten Nase — und diese
Sekunde benützte meine spitzbübisch aufgeregte Bosheit zur Ver¬
längerung seiner lächerlichen Anstrengung: ich schob, einem schul¬
jungenhaften Übermut willenlos gehorchend, den Fuß rasch vor und
setzte die Sohle auf das Tickett, so daß er es bei bester Bemühung
nicht Anden konnte, solange mir’s beliebte, ihn suchen zu lassen.
Und er suchte und suchte unentwegt, überzählte dazwischen ver¬
schnaufend immer wieder die farbigen Pappendeckelzettel: es war
sichtlich, daß einer — meiner! — ihm noch fehlte, und schon wollte
er inmitten des anbrausenden Getümmels wieder mit der Suche an¬
heben, als seine Frau, die mit einem verbissenen Ausdruck meinen
höhnischen Seitenblick krampfhaft vermied, ihre zornige Ungeduld
nicht mehr zügeln konnte. „Lajos“, rief sie ihm plötzlich herrisch zu,
und er fuhr auf wie ein Pferd, das die Trompete hört, blickte noch
einmal suchend auf die Erde — mir war es, als kitzelte mich das
verborgene Tickett unter der Sohle, und ich konnte einen Lachreiz
kaum verbergen — dann wandte er sich seiner Frau gehorsam zu, die
ihn mit einer gewissen ostenstativen Eile von mir weg in das immer
stärker aufschäumende Getümmel zog.
Ich blieb zurück ohne jedwedes Verlangen, den Beiden zu folgen.
Die Episode war für mich beendet, das Gefühl jener erotischen
Spannung hatte sich wohltuend ins Heitere gelöst, alle Erregung war
von mir geglitten und nichts zurückgeblieben als die gesunde Sattheit
der plötzlich vorgebrochenen Bosheit, eine freche, fast übermütige Selbst¬
zufriedenheit über den gelungenen Streich. Vorne drängten sich die
Menschen dicht zusammen, schon begann es zu wogen und, eine
einzige schmutzige schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen,
aber ich sah gar nicht hin, es langweilte mich schon. Und ich
dachte daran, hinüber in die Kriau zu gehen oder heimzufahren.
591
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Aber wie ich jetzt unwillkürlich den Fuß zum Schritt vorwärtstat,
bemerkte ich das blaue Tickett, das vergessen am Boden lag. Ich
nahm es auf und spielend zwischen die Finger, ungewiß, was ich
damit anfangen sollte. Vage kam mir der Gedanke, es „Lajos“
zurückzugeben, was als vortrefflicher Anlaß dienen könnte, mit seiner
Frau bekannt zu werden, aber ich merkte, daß sie mich gar nicht
mehr interessierte, daß die flüchtige Hitze, die mir von diesem Aben¬
teuer angeflogen kam, längst in meiner alten Gleichgültigkeit ausgekühlt
war. Mehr als dies kämpfende verlangende Hin und Her der Blicke
verlangte ich von Lajos’ Gattin nicht — der Dickling war mir doch
zu unappetitlich, um Körperliches mit ihm zu teilen — den Frisson
der Nerven hatte ich gehabt, nun fühlte ich bloß mehr lässige Neu¬
gier, wohlige Entspannung.
Der Sessel stand da, verlassen und allein. Ich setzte mich gemäch¬
lich nieder, zündete mir eine Zigarrette an. Vor mir brandete die
Leidenschaft wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen
reizten mich nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an
die Meraner Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und
in den sprühenden Wasserfall hinabgesehen hatte. Ganz so war dies
wie hier: auch dort ein mächtig aufschwellendes Rauschen, das nicht
wärmte und nicht kühlte, auch dort ein sinnloses Tönen in eine
schweigendblaue Landschaft hinein. Aber jetzt war die Leidenschaft
des Spiels beim Crescendo angelangt, wieder flog der Schaum von
Schirmen, Hüten, Schreien, Taschentüchern über die schwarze Brandung
der Menschen hin, wieder quirlten die Stimmen zusammen, wieder
zuckte ein Schrei — nun aber andersfarbig — aus dem Riesenmaul der
Menge. Ich hörte einen Namen, tausendfach, zehntausendfach jauch¬
zend, gell, ekstatisch, verzweifelt geschrien: „Cressy! Cressyl Cressy!“
Und wieder brach er, eine gespannte Saite, plötzlich ab (wie doch
Wiederholung selbst die Leidenschaft eintönig macht!). Die Musik be¬
gann zu spielen, die Menge löste sich. Tafeln wurden emporgezogen mit
den Nummern der Sieger. Mechanisch blickte ich hin. An erster
Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch blickte ich auf das blaue
Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch hier
die Sieben.
Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen,
der gute Lajos richtig gesetzt. So hatte ich mit meiner Bosheit den
dicken Gatten sogar noch um Geld gebracht: mit einemmal war
meine übermütige Laune wieder da, nun interessierte es mich zu
3 »
594
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
wissen, um wieviel ihn meine eifersüchtige Intervention geprellt.
Ich sah mir den blauen Pappendeckel zum erstenmal genauer an: es
war ein Zwanngkronen-Tickett und Lajos hatte auf „Sieg 11 gesetzt.
Das konnte wohl schon ein stattlicher Betrag sein. Ohne weiter
nachzudenken, nur dem Kitzel der Neugierde folgend, ließ ich mich
von der eilenden Menge hindrängen in der Richtung zu den Kassen.
Ich wurde in irgendeinen Queue hineingepreßt, legte das Tickett
vor und schon streiften zwei knochige, eilfertige Hände, zu denen
ich das Gesicht hinter dem Schalter gar nicht sah, mir neun Zwanzig¬
kronenscheine auf die Marmorplatte.
In dieser Sekunde, wo mir du Geld, wirkliches Geld, blaue
Scheine hingelegt wurden, stockte mir du Lachen in der Kehle.
Ich hatte sofort ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich
die Hände zurück, um du fremde Geld nicht zu berühren. Am
liebsten hätte ich die blauen Scheine auf der Platte liegen lassen, aber
hinter mir drängten schon die Leute, ungeduldig, ihren Gewinn aus¬
bezahlt zu bekommen. So blieb mir nichts übrig, als, peinlich berührt,
mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine zu nehmen: wie blaue
Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich unbewußt von mir
wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie genommen, nicht zu
mir selbst. Sofort übersah ich du Fatale der Situation. Wider meinen
Willen war aus dem Scherz etwas geworden, was einem anständigen
Menschen, einem Gentleman, einem Reserveoffizier nicht hätte unter¬
laufen dürfen, und ich zögerte vor mir selbst, den wahren Namen
dafür auszusprechen. Denn dies war nicht verheimlichtes, sondern
listig weggelocktes, — gestohlenes Geld.
Um mich surrten und schwirrten die Stimmen. Leute drängten und
stießen von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit
der weggespreizten Hand. Wu sollte ich tun? An du Natürlichste
dachte ich zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich ent¬
schuldigen und ihm du Geld zurückerstatten. Aber das ging nicht
an und am wenigsten vor den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch
Reserveleutnant; und ein solches Eingeständnis hätte mich sofort meine
Charge gekostet, denn selbst wenn ich du Tickett gefunden hätte,
war schon du Einkassieren des Geldes eine unfaire Handlungsweise.
Ich dachte auch daran, meinem in den Fingern zuckenden Instinkt
nachzugeben, die Noten zu zerknüllen und fortzuwerfen, aber auch
dies wu inmitten des Menschengewühls zu leicht kontrollierbar und
dann verdächtig. Keinesfalls wollte ich aber auch nur einen Augen-
595
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
blick das fremde Geld bei mir halten oder gar in die Briefrasche
stecken, um es später irgendjemandem zu schenken: das mir seit
Kindheit so wie reine Wäsche anerzogene Sauberkeitsempfinden ekelte
sich vor jeder, auch nur flüchtigen, Berührung mit diesen Zetteln.
Weg, nur weg mit diesem Gelde, fieberte es ganz heiß in mir, weg,
nur irgendwohin wegl Unwillkürlich sah ich mich um und wie ich
ratlos im Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte
Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen
zu drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in Händen. Und
der Gedanke war mir Erlösung. Zurückwerfen das Geld an den bos¬
haften Zufall, der es mir gegeben, wieder hinein in den gefräßigen
Schlund, der jetzt die neuen Einsätze, Silber und Scheine gleich
gierig hinunterschluckte — ja, das war das Richtige, die wahre Be¬
freiung !
Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die
Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon
stand der erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein
Pferd zu nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich
in das Reden rings um mich. „Setzen Sie Ravachol?“ fragte einer.
„Natürlich Ravachol“, antwortete ihm sein Begleiter. „Glauben Sie,
daß Teddy nicht auch Chancen hat?“ „Teddy? Keine Spur. Er hat
im Maidenrennen total versagt. Er war ein Bluff.“
Wie ein Verdurstender schluckte ich die Worte ein. Also Teddy
war schlecht, Teddy würde bestimmt nicht gewinnen. Sofort beschloß
ich ihn zu setzen. Ich schob das Geld hin, nannte den eben erst
gehörten Namen Teddy auf Sieg, eine Hand warf mir die Ticketts
zurück. Mit einemmale hatte ich jetzt neun rotweiße Pappendeckel¬
stücke zwischen den Fingern statt des einen. Es war noch immer
ein peinliches Gefühl, aber immerhin: es brannte nicht mehr so auf¬
reizend, so erniedrigend wie das knittrige bare Geld.
Ich empfand mich wieder leicht, beinahe sorglos: jetzt war das
Geld weggetan, das Unangenehme des Abenteuers erledigt, die An¬
gelegenheit wieder zum Scherz geworden, als der sie begonnen. Ich
setzte mich lässig in meinen Sessel zurück, zündete eine Zigarette an
und blies den Rauch gemächlich vor mich hin. Aber es hielt mich
nicht lange, ich stand auf, ging herum, setzte mich wieder hin. Merk¬
würdig: es war vorbei mit der wohligen Träumerei. Irgendeine
Nervosität stak mir knisternd in den Gliedern. Zuerst meinte ich,
es sei das Unbehagen, unter den vielen vorbeistreifenden Leuten Lajos
59 6 Stefan Zweig, 'Phantastische Nacht
und seiner Frau begegnen zu können, aber wie konnten sie ahnen,
daß jene neuen Ticketts die ihren waren. Auch die Unruhe der
Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie genau,
ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drangen begannen, ja ich er¬
tappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu bücken,
die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. Das also war es —
Ungeduld, ein springendes inneres Fieber der Erwartung, der Start
möge schon beginnen, die leidige Angelegenheit für immer erledigt sein.
Ein Bursche lief vorbei mit einer Rennzeitung. Ich hielt ihn an,
kaufte mir das Programm und begann unter den unverständlichen, in
einem fremden Jargon geschriebenen Worten und Tips herumzusuchen,
bis ich endlich Teddy herausfand, den Namen seines Jockeys, den
Besitzer des Stalles und die Farben rot-weiß. Aber warum interessierte
mich das so? Ärgerlich zerknüllte ich das Blatt und warf es weg,
stand auf, setzte mich wieder hin. Mir war mit einemmal heiß ge¬
worden, ich mußte mir mit dem Taschentuch über die feuchte Stirn
fahren und der Kragen drückte mich. Noch immer wollte der Start
nicht beginnen.
Endüch klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in
dieser Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln
gleich einem Wecker erschreckt von irgend einem Schlaf aufriß. Ich
sprang vom Sessel so heftig weg, daß er umfiel und eilte — nein,
ich Uef — gierig nach vorne, die Ticketts fest zwischen die Finger
gepreßt, mitten in die Menge hinein, gleichsam von einer rasenden
Angst verzehrt, zu spät zu kommen, irgendetwas ganz Wichtiges zu
versäumen. Ich kam noch, indem ich Leute brutal beiseite stieß,
bis an die vordere Barriere, riß rücksichtslos einen Sessel, den eben
eine Dame nehmen wollte, an mich. Meine ganze Taktlosigkeit und
Tollwütigkeit erkannte ich sofort an ihrem erstaunten Bück — es
war eine gute Bekannte, die Gräfin R., deren hochgezogenen zornigen
Brauen ich begegnete — aber aus Scham und Trotz sah ich an ihr
kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das Feld zu sehen.
Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt
ein kleines Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten
von den kleinen Jockeis, die wie bunte Poüchinelle aussahen. Sofort
suchte ich den meinen darunter zu erkennen, aber mein Auge war
ungeübt und mir flimmerte es so heiß und seltsam vor dem Bück,
daß ich unter den Farbenflecken den rotweißen nicht zu unterscheiden
vermochte. In diesem Augenbück klang die Glocke zum zweiten
597
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Male, und wie sieben bunte Pfeile von einem Bogen flitzten die Pferde
in den grünen Gang hinein. Es mußte wunderbar sein, dies ruhig
und nur ästhetisch zu betrachten, wie die schmalen Tiere galoppierend
ausholten und, kaum den Boden anstreifend, über den Rasen hin¬
federten, aber ich spürte von all dem nichts, ich machte nur ver¬
zweifelte Versuche, mein Pferd, meinen Jockei zu erkennen und fluchte
mir selbst, keinen Feldstecher mitgenommen zu haben. So sehr ich
mich bog und streckte, ich sah nichts als vier, fünf bunte Insekten, in
einen fliegenden Knäuel verwischt, nur die Form sah ich allmählich jetzt
sich verändern, sah, wie das leichte Rudel sich jetzt an der Biegung
keilförmig verlängerte, eine Spitze Vortrieb, indes rückwärts einige
des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen wurde
scharf, drei oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten Pferde
klebten wie farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob sich
das eine, bald das andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich
streckte ich meinen ganzen Körper aus, als könnte ich durch diese
nachahmende, federnde leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre Ge¬
schwindigkeit steigern und mitreißen.
Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten
schon an der Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren
jetzt wie grelle Raketen aus dem trüben Tumult. Neben mir stand
einer, die Hände frenetisch gereckt, und wie jetzt ein Pferdekopf
vordrängte, schrie er fußstampfend mit einer widerlich gellen und
triumphierenden Stimme „Ravachol! Ravachol!“ Ich sah, daß wirk¬
lich der Jockei dieses Pferdes blau schimmerte, und eine Wut über¬
fiel mich, daß es nicht mein Pferd war, das siegte. Immer unerträg¬
licher wurde mir das gelle Gebrüll „Ravachol! Ravachol!“ von dem
Widerling neben mir, ich tobte vor kalter Wut, am liebsten hätte
ich ihm die Faust in das aufgerissene schwarze Loch seines schreien¬
den Mundes geschlagen. Ich zitterte vor Zorn, ich fieberte, jeden
Augenblick fühlte ich, konnte ich etwas Sinnloses begehen. Aber da
hing noch ein anderes Pferd knapp an dem ersten. Vielleicht war
das Teddy, vielleicht, vielleicht — und diese Hoffnung befeuerte mich
von neuem. Wirklich war mir, als schimmerte der Arm, der sich
jetzt über den Sattel hob und etwas niedersausen ließ auf die Kroupe
des Pferdes, rotfarben, er konnte es sein, er mußte es sein, er mußte,
er mußte. Aber warum trieb er ihn nicht vor, der Schurke? Noch
einmal die Peitsche! Noch einmal! Jetzt, jetzt war er ihm ganz nahe!
Jetzt, nur eine Spanne noch! Warum Ravachol? Ravachol? Nein,
5 p 8 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
nicht Ravachol! Nicht Ravachol! Teddy! Teddy! Vorwärts Teddy!
Teddy! Teddy!
Plötzlich riß ich mich gewaltsam zurück. Was — was war das? Wer
schrie da so? Wer tobte da „Teddy“, „Teddy“. Ich selbst schrie ja
das. Und mitten in der Leidenschaft erschrak ich vor mir. Ich
wollte mich halten, mich beherrschen: inmitten meines Fiebers quälte
mich eine plötzliche Scham. Aber ich konnte die Blicke nicht weg¬
reißen, denn dort klebten die beiden Pferde knapp aneinander, and
es mußte wirklich Teddy sein, der an Ravachol, dem verfluchten,
aus brennender Inbrunst von mir gehaßten Ravachol hing, denn rings
um mich gellten jetzt andere lauter und vielstimmiger in grellem
Diskant „Teddy“, „Teddy“, und der Schrei riß mich, den für eine
wache Sekunde Aufgetauchten wieder in die Leidenschaft. Er sollte,
er mußte gewinnen, und wirklich, jetzt, jetzt schob sich hinter dem
fliegenden Pferde des blauen Jockei ein Kopf vor, eine Spanne nur und
jetzt schon zwei, jetzt sah man schon den Hals — in diesem Augen¬
blick schnarrte grell die Glocke, und ein einziger Schrei des Jubels,
der Verzweiflung, des Zornes explodierte. Ftir eine Sekunde fällte
der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann
stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik.
Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab.
Ich mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich
vor begeisterter Erregung. Eine Ekstase, wie ich sie nie gekannt,
durchflutete mich, eine sinnlose Freude, daß der Zufall so sklavisch
meiner Herausforderung gehorcht; vergebens versuchte ich mir vor¬
zutäuschen, es sei wider meinen Willen gewesen, daß dieses Pferd
jetzt gewonnen habe und ich hätte gewünscht, das Geld verloren zu
sehen. Aber ich glaubte es mir ja längst nicht mehr und schon spürte
ich ein grausames Ziehen in meinen Gliedern, es riß mich magisch
irgendwohin, und ich wußte, wohin es mich trieb: ich wollte den
Sieg sehen, ihn spüren, ihn fassen, Geld, viel Geld, blaue knisternde
Scheine in den Fingern spüren und dies Rieseln die Nerven hinauf.
Eine ganz fremde böse Lust hatte sich meiner bemächtigt, und keine
Scham wehrte mehr, ihr nachzugeben. Und kaum, daß ich mich er¬
hob, so eilte, so lief ich schon bis zur Kasse, ganz brüsk, mit ge¬
spreizten Ellenbogen stieß ich mich zwischen die Wartenden am
Schalter, schob ungeduldig Leute beiseite, nur um das Geld, das Geld,
leibhaftig zu sehn. „Flegel“, murrte hinter mir einer der Weggedrängten,
ich hörte es, aber ich dachte nicht daran, ihn zu fordern, ich bebte
599
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
ja vor unbegreiflicher krankhafter Ungeduld. Endlich war die Reihe
an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues Bündel Banknoten.
Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren sechshundert-
undvierzig Kronen.
Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt
weiter spielen, mehr gewinnen, viel mehr. Wo hatte ich nur meine
Rennzeitung? Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich,
eine neue zu erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Er¬
schrecken, wie plötzlich alles rings auseinanderflutete dem Ausgang
zu, daß die Kassen sich schlossen, die flatternde Fahne sank. Das
Spiel war zu Ende und dies die letzte Runde gewesen.
Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann sprang ein Zorn in mir
auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich konnte mich nicht damit
abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich spannten und bebten,
das Blut so heiß, wie seit Jahren nicht mehr, in mir rollte, alles zu
Ende sein sollte. Aber es half nichts, mit trügerischem Wunsch die
Hoffnung künstlich zu nähren, dies sei nur ein Irrtum gewesen, denn
immer rascher entflutete das bunte Gedränge, schon glänzte grün der
zertretene Rasen zwischen den vereinzelt Gebliebenen. Allmähli ch
empfand ich das Lächerliche meines gespannten Verweilens, so nahm
ich den Hut — den Stock hatte ich offenbar am Tourniquet in der
Erregung stehen gelassen — und ging dem Ausgang zu. Ein Diener
mit servil gelüfteter Kappe sprang mir entgegen, ich nannte ihm die
Nummer meines Wagens, er schrie sie mit gehöhlter Hand über den
Platz, und schon klapperten scharf die Pferde heran. Ich bedeutete
dem Kutscher, langsam die Hauptallee hinabzufahren. Denn gerade
jetzt, wo die Erregung wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine
lüsterne Neigung, mir noch einmal die ganze Szene in Gedanken zu
erneuern.
In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor, unwillkürlich
blickte ich hin, um ganz unbewußt sofort wieder wegzusehen. Es
war die Frau mit ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht
bemerkt. Aber sofort überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl,
als sei ich ertappt. Und am liebsten hätte ich dem Kutscher zu¬
gerufen, auf die Pferde einzuschlagen, nur um rasch aus ihrer Nähe
zu kommen.
Weich glitt auf den Gummirädem der Fiaker dahin zwischen den
vielen andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von
Frauen an den grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten.
<5oo Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Die Loft war weich und süß, schon wehte von erster Abendkühle
manchmal ein leiser Duft durch den Staub herüber. Aber das frühere
wohlig-träumerische Gefühl kam nicht wieder: die Begegnung mit
dem Geprellten hatte mich peinlich aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug
durch eine Fuge drang es mit einemmal in meine überhitzte Leidenschaft.
Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern die ganze Szene durch und
begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein Gentleman, ein Mitglied der
besten Gesellschaft, Reserveoffizier, hochgeachtet, hatte ohne Not
gefundenes Geld an mich genommen, in die Brieftasche gesteckt, ja
dies sogar mit einer gierigen Freude, einer Lust getan, die jede Ent¬
schuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor einer Stunde noch
ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte gestohlen. Ich
war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu erschrecken, sagte
ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen leise trabte,
unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: „Dieb, Dieb, Dieb,
Dieb!“
Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt geschah, es ist ja
so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß ich, daß ich
mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines Gefühls,
jede Oscillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist nur
mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt wie kaum irgend
ein Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum,
diese absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines
Empfindens bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgend ein
Dichter, ein Psycholog das logisch zu schildern vermochte. Ich kann
nur die Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten
Aufleuchten nach. Also: ich sagte zu mir „Dieb, Dieb, Dieb“. Dann
kam ein ganz merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein
Augenblick, wo nichts geschah, wo ich nur — ach, wie schwer ist
es, dies auszudrücken! — wo ich nur horchte, in mich hineinhorchte.
Ich hatte mich angerufen, hatte mich angeklagt, nun sollte dem
Richter der Angeschuldigte antworten. Ich horchte also und es
geschah — nichts. Der Peitschenschlag dieses Wortes: Dieb! von
dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken und dann hin¬
stürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham, weckte
nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich
dann gewissermaßen noch näher über mich selbst — denn ich spürte
zu wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte —
und horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende
Stefan Zweig, Phantastische Nacht doi
Echo, auf den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung,
der dieser Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschah wiederum
nichts. Nichts antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort
„Dieb“, nun schon ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige,
das gelähmte Gewissen aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort.
Und plötzlich — in «einem grellen Blitzlicht des Bewußtseins, wie
wenn plötzlich ein Streichholz angezündet und über die dämmernde
Tiefe gehalten wäre — erkannte ich, daß ich mich nur schämen
wollte, aber nicht schämte, ja, daß ich sogar irgendwie geheimnis¬
voll stolz, sogar beglückt war von dieser törichten Tat.
Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir
selbst erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu
schwellend, zu ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das
war nicht Scham, nicht Empörung, nicht Selbstekel, was so warm
mir im Blut gärte — das war Freude, trunkene Freude, die in mir
aufloderte, ja sogar funkelte mit hellen spitzen Flammen von Über¬
mut. Denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten zum erstenmal seit
Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl nur gelähmt
gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter der ver¬
sandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene heißen
Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der
Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinauf¬
gepeitscht waren. Auch in mir also, auch in mir, in diesem Stück
atmenden Weltalls, glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische
Kern alles Irdischen, der manchmal vorbricht in den wirbelnden
Stößen der Begier, auch ich lebte, war lebendig, war ein Mensch
mit bösem und warmen Gelüst. Eine Tür war aufgerissen vom
Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan in mich hinein, und
ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies Unbekannte in
mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und langsam
— während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die
bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte — stieg ich, Stufe um Stufe
hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in diesem
schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen
Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indeß tausend
Menschen um mich lachend und schwätzend wogten, suchte ich mich,
den verlorenenen Menschen in mir, tastete ich Jahre ab in dem
magischen Lauf des Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötz¬
lich aus den verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich
6 oi Stefan Zweig, Phantastische Nacht
erinnerte mich, schon einmal als Schulknabe dem andern ein Taschen¬
messer gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen
zu haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte. Ich ver¬
stand mit einemmal das geheimnisvoll Gewittemde mancher sexueller
Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zer¬
treten gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem
herrischen Ideal des Gentlemans — daß aber auch in mir, nur tief,
ganz tief unten in verschütteten Brunnen und Röhren die heißen
Ströme des Lebens gingen wie in allen andern. Oh, ich hatte ji
immer gelebt, nur nicht gewagt zu leben, ich hatte mich verschnürt
und verborgen vor mir selbst, nun aber war die gepreßte Kraft auf¬
gebrochen, das Leben, das reiche, das unsäglich gewaltsame hatte mich
überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich ihm noch anhing; mit
der seligen Betroffenheit der Frau, die zum erstenmal das Kind sich
regen spürt, empfand ich das Wirkliche — wie soll ich es anders
nennen — das Wahre, das Unverstellte des Lebens in mir keimen,
ich fühlte — fast schäme ich mich solch ein Wort hinzuschreiben -
wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder blühte,
wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich im
Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht
von Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen
mitten im klaren Licht eines Rennplatzes zwischen dem Geschwirr von
tausenden müßigen Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen,
er grünte und trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab.
Von einem vorüberfabrenden Wagen grüßte ein Herr und rief
— offenbar hatte ich den ersten Gruß übersehen — meinen Namen.
Unwirsch fuhr ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden
Zustand des sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes,
den ich jemals erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich
ganz von mir weg: es war mein Freund Alfons, ein lieber Schul¬
kamerad und jetzt Staatsanwalt. Mit einemmal durchzuckte es mich:
dieser Mensch, der dich brüderlich grüßt, hat jetzt zum erstenmal
Macht über dich, du bist ihm verfallen, sobald er dein Vergehen
kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte dich aus diesem
Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen Existenz
und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt hin¬
ter vergitterten Fenstern, zum Abhub des Lebens, zu den andern
Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen
getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst
Stefan Zweig, Phantastische Nacht doj
am Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt
sie den Herzschlag an — dann verwandelte auch dieser Gedanke sich
wieder in heißes Gefühl, in einen phantastischen frechen Stolz, der
jetzt selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen rings¬
um musterte. Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches
Lächeln, mit dem ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die
Mundwinkel, wenn ihr mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet
ihr meinen Gruß wegstäuben mit verächtlich geärgerter Hand. Aber
ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch schon ausgestoßen: heute nach¬
mittags habe ich mich herausgestürzt aus euerer kalten knöchernen
Welt, wo ich ein Rad war, ein laudos funktionierendes in der großen
Maschine, die kalt in ihren Kolben abrollt und eitel um sich selber
kreist — ich bin in eine Tiefe gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich
bin lebendiger gewesen in dieser einen Stunde als in den gläsernen
Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch gehöre ich, nicht mehr zu
euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer Höhe oder Tiefe, nie
mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures bürgerlichen Wohlseins.
Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den Menschen an Lust
im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr wissen, wo ich
war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem
Geheimnis?
Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde
fühlte, indeß ich, ein elegant angezogener Gendeman mit kühlem
Gesicht grüßend und dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr!
Denn während meine Larve, der äußere, der frühere Mensch, noch
Gesichter fühlte und erkannte, rauschte innen in mir eine so taumelnde
Musik, daß ich mich niederdrücken mußte, um nicht etwas heraus¬
zuschreien von diesem tosenden Tumult. Ich war so voll von Gefühl,
daß mich dieser innere Schwall physisch quälte, daß ich wie ein Er¬
stickender die Hand gewaltsam an die Brust pressen mußte, unter der
das Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz, Lust, Erschrecken, Ent¬
setzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln und abgerissen, alles
schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte, daß ich atmete und
fühlte und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl, das ich seit Jahren
nicht empfunden, machte mich trunken. Nie hatte ich mich selbst
auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so ekstatisch als
lebendig empfunden wie in der Schwebe dieser Stunde.
Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte
die Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach
604 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Hause fahren sollte. Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über
die Allee hin: mit Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt,
wie weit die Trunkenheit Ober die Stunden sich ausgegossen hatte.
Es war dunkel geworden, ein Weiches wogte in den Kronen der
Bäume, die Kastanien begannen ihren abendlichen Duft durch die
Kühle zu atmen. Und hinter den Wipfeln silberte schon ein ver¬
schleierter Blick vom Mond.
Es war genug, es mußte genug sein. Aber nur nicht jetzt nach
Hause, nur nicht in meine gewohnte Welt! Ich bezahlte den Kutscher.
Als ich die Brieftasche zog und die Banknoten zählend zwischen die
Finger nahm, lief’s wie ein leiser elektrischer Schlag mir vom Gelenk
in die Fingerspitzen: irgendetwas in mir mußte noch wach sein also
vom alten Menschen, der sich schämte. Noch zuckte das absterbende
Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte schon wieder meine
Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus meiner Freude.
Der Kutscher bedankte sich so überschwänglich, daß ich lächeln
mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr
fort. Ich sah ihm nach so wie man vom S chiff noch einmal auf einen
Strand zurückblickt, an dem man glücklich gewesen.
Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in
der murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa
sieben Uhr sein, und unwillkürlich bog ich hinüber zum Sachergarten,
wo ich sonst immer nach der Praterfahrt in Gesellschaft zu speisen
pflegte und in dessen Nähe der Fiaker mich wohl bewußt abgesetzt
hatte. Aber kaum, daß ich die Gitterklinke des vornehmen Garten¬
restaurants berührte, überfiel mich eine Hemmung: nein, ich wollte
noch nicht in meine Welt zurück, nicht mir in lässigem Gespräch
diese wunderbare Gärung, die mich geheimnisvoll erfüllte, weg¬
schwemmen lassen, nicht mich loslösen von der funkelnden Magie
des Abenteuers, der ich mich seit Stunden verkettet fühlte.
Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik und unwill¬
kürlich ging ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand
es als Wollust, dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hin¬
getriebensein inmitten einer weichwogenden Menschenmenge hatte
einen phantastischen Reiz. Mein Blut gärte auf in diesem dicken
quirlenden Brei heißer menschlicher Masse: aufgespannt war ich mit
einemmal, angereizt und gesteigert wach in allen Sinnen von diesem
beizend qualmigen Duft von Menschenatem, Staub, Schweiß und
Tabak... Alles dies, was mich vordem, ja selbst gestern noch, als
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 605
ordinär, gemein und plebejisch abgestoßen hatte, was der soignierte
Gentleman ein Leben lang hochmütig gemieden hatte, das zog meinen
neuen Instinkt magisch an, als empfände ich zum erstenmal im Ani¬
malischen, im Triebhaften, im Gemeinen eine Verwandtschaft mit mir
selbst. Hier im Abhub der Stadt, zwischen Soldaten, Dienstmädchen,
Strolchen fühlte ich mich in einer Weise wohl, die mir ganz unver¬
ständlich war: ich sog die Beize dieser Luft irgendwie gierig ein,
das Schieben und Fressen in eine geknäulte Masse war mir angenehm,
und mit einer wollüstigen Neugier wartete ich, wohin diese Stunde
mich Willenlosen schwemmte. Immer näher grellten und schmetterten
vom Wurstelprater her die Tschinellen und die weiße Blechmusik,
in einer fanatisch monotonen Art stampften die Orchestrions harte
Polkas und rumpelnde Walzer, dazwischen knatterten dumpfe Schläge
aus den Buden, zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt
sah ich schon mit irrsinnigen Lichtern die Karuselle meiner Kindheit
zwischen den Bäumen kreisen. Ich blieb mitten auf dem Platze stehen
und ließ den ganzen Tumult in mich einbranden, mir Augen und
Ohren vollschwemmen: diese Kaskaden von Lärm, das Infernalische
dieses Durcheinander tat mir wohl, denn in diesem Wirbel war etwas,
das mir den innem Schwall betäubte. Ich sah zu, wie mit geblähten
Kleidern die Dienstmädchen sich auf den Hutschen mit kollernden
Lustschreien, die gleichsam aus ihrem Geschlecht gellten, in den
Himmel schleudern ließen, wie Metzgergesellen lachend schwere
Hämmer auf die Kraftmesser hinkrachten, Ausrufer mit heisern Stimmen
und affenhaften Gebärden über den Lärm der Orchestrions schreiend
hinwegruderten und wie alles dies sich quirlend mengte mit dem
tausendgeräuschigen, unablässig bewegten Dasein der Menge, die
trunken war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und
von der eigenen warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber
wach geworden war, spürte ich auf einmal das Leben der andern,
ich spürte die Brunst der Millionenstadt, wie sie sich heiß und auf¬
gestaut in die paar Stunden des Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte
an der eigenen Fülle zu einem dumpfen, tierischen, aber irgendwie
gesunden und triebhaften Genuß.
Und allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausge¬
setzten Berührung mit ihren heißen, leidenschaftlich drängenden Körpern
ihre warme Brunst selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften
sich, aufgebeizt von dem scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne
spielten taumelig mit dem Getöse und empfänden jene verwirrte
6o6
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
Betäubung die mit jeder starken Wollust unverweigerlich gemengt ist
Zum erstenmal seit Jahren, vielleicht Oberhaupt in meinem Leben,
spürte ich die Masse, spfirte ich Menschen als eine Macht, von der
Lust in mein eigenes abgeschiedenes Wesen flberging. Irgend ein Damm
war zerrissen, und von meinen Adern gings hinüber in diese Welt,
strömte es rhythmisch zurück, und eine ganz neue Gier überkam mich,
noch jene letzte Kruste zwischen mir und ihnen abzuschmelzen, ein
leidenschaftliches Verlangen nach Paarung mit dieser heißen, fremden,
drängenden Menschheit. Mit der Lust des Mannes sehnte ich mich
in den quellenden Schoß dieses heißen Riesenkörpers hinein, mit der
Lust des Weibes war ich aufgetan jeder Berührung, jedem Rufj jeder
Lockung, jeder Umfassung — und nun wußte ichs, Liebe war in mir und
Bedürfnis nach Liebe wie nur in den zwielichthaften Knabentagen.
Oh, nur hinein, hinein ins Lebendige, irgendwie verbunden sein mit
dieser zuckenden, lachenden, aufatmenden Leidenschaft der andern, nur
einströmen, sich ergießen in ihren Adergang; ganz klein, ganz namen¬
los werden im Getümmel, eine Infusorie bloß sein im Schmutz der
Welt, ein lustzitterndes funkelndes Wesen im Tümpel mit den Myri¬
aden — aber nur hinein in die Fülle, hinab in den Kreisel, mich ab¬
schießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit ins Unbekannte,
in irgend einen Himmel der Gemeinsamkeit.
Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste
alles zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussels, das
feine Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer auf¬
sprühte, die chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder
einzelne Laut in mich und flimmerte dann noch einmal rot und
zuckend an den Schläfen vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick
mit einer phantastischen Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der
Seekrankheit), aber doch alles gemeinsam in einem taumeligen Ver¬
bundensein. Ich kann meinen komplizierten Zustand unmöglich mit
Worten ausdrücken, am ehesten gelingt es noch vielleicht mit einem
Vergleiche: wenn ich sage, ich war überfüllt mit Geräusch, Lfrm,
Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die mit allen Rädern rasend
rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der ihr im nächsten
Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. Seit Stunden hatte
ich nicht gesprochen, niemandes Hand gedrückt, niemandes Blick
fragend und teilnehmend gegen den meinen gespürt und nun staute,
unter dem Sturz der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das
Schweigen. Niemals, niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 07
Mitteilsamkeit, nach einem Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten
von Tausenden und Zehntausenden wogte, rings angespült war von
Wärme und Worten und doch abgeschnürt von dem kreisenden Ader¬
gang dieser Fülle. Ich war wie einer, der auf dem Meere verdurstet.
Und dabei sah ich, diese Qual mit jedem Blick mehrend,
wie rechts und links in jeder Sekunde Fremdes sich anstreifend
band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend zusammenliefen.
Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen im Vor-
rübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten
Wort schon unterfaßten, wie alles sich fand, zusammentat: ein Gruß
beim Karussel, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes
schmolz in ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach
ein paar Minuten, aber doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung,
war das, wonach alle meine Nerven jetzt brannten. Ich aber, ge¬
wandt im gesellschaftlichen Gespräch, beliebter Causeur und sicher in
den Formen, ich verging vor Angst, ich schämte mich, irgend eines
dieser breithüftigen Dienstmädchen anzureden, aus Furcht, sie möchte
mich verlachen, ja ich schlug die Augen nieder, wenn jemand mich
zufällig anschaute und verging doch innen vor Begierde nach dem
Wort. Was ich wollte von den Menschen, war mir ja selbst nicht
klar, ich ertrug es nur nicht länger, allein zu sein, und an meinem
Fieber zu verbrennen. Aber alle sahen an mir vorbei, jeder Blick
strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein Bursch
in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick war
grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er
auf die schwingenden Holzpferde. Sein schmaler Mund stand offen wie
lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr, um mitzufähren und sog
nur Lust aus dem Schreien und Lachen der anderen. Ich stieß mich
gewaltsam heran an ihn und fragte — aber warum zitterte meine
Stimme so dabei und war ganz grell überschlagen? — „Möchten Sie
nicht auch einmal mitfahren?“ Er starrte auf, erschrak — warum?
warum? — wurde blutrot und lief fort, ohne ein Wort zu sagen.
Nicht einmal ein barfüßiges Kind wollte eine Freude von mir: es
mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar Fremdes an mir sein, daß ich
nirgend mich einmengen konnte, sondern abgelöst in der dicken
Masse schwamm wie ein Tropfen Oel auf dem bewegten Wasser.
Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben.
Die Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle
war verrostet vom aufgewühltem Qualm. Ich sah mich um: rechts
608 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
und links zwischen den strömenden Menschengassen standen kleine
Inseln von Grün, Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten
Holzbänken, auf denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier
und der sonntäglichen Virginia. Der Anblick lockte mich: hier rückten
Fremde zusammen, verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig
Ruhe im wüsten Fieber. Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich
einen fand, wo eine Büigersfamilie, ein dicker vierschrötiger Hand¬
werker mit seiner Frau, zwei heitern Mädchen und einem kleinen
Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe im Takt, scherzten einander zu,
und ihre zufriedenen leichtlebigen Blicke taten mir wohl. Ich grüßte
höflich, rührte an einen Sessel und fragte, ob ich Platz nehmen dürfe.
Sofort stockte ihr Lachen, einen Augenblick schwiegen sie (als wartete
jeder, daß der andere seine Zustimmung gebe), dann sagte die Frau
gleichsam betroffen „Bitte! Bitte!" Ich setzte mich hin und hatte so¬
fort das Geflihl, daß ich mit meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune
zerdrückte, denn sofort schwelte um den Tisch ein ungemütliches
Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die Augen von dem rot-
karrierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig verstreut
war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle befremdet beobachteten
und sofort fiel mir — zu spät! — ein, daß ich zu elegant war für
dieses Dienstbotengasthaus mit meiner Derbydress, dem Pariser Zylinder
und der Perle in meiner taubengrauen Kravatte, daß meine Eleganz,
der Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht von Feind¬
lichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der
fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Usch, dessen
rote Karras ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder
abzählte, festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn
und doch wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es
war eine Erlösung, als endlich der Kellner kam und das schwere
Bierglas vor mich hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand
regen und beim Trinken scheu über den Rand schielen: wirk¬
lich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne Haß, aber doch mit
einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den Eindringling in ihre
dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt ihrer Klasse, daß
ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu meiner Welt ge¬
hörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die einfältige Freude
am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagssitzen mich hertrieb,
sondern irgend ein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie
mißtrauten, so wie der Junge vor dem Karussell meinem Geschenk
r>\
Stefan Zweig, Phantastische Nacht dop
- mißtraut hatte, wie die tausend Namenlosen da draußen im Gewfihl
1 meiner Eleganz, meiner Weltmännischkeit in unbewußter Feindlichkeit
- ausbogen. CJnd doch, fühlte ich: fände ich jetzt ein argloses, ein»
£ Faches, herzliches, ein wahrhaft menschliches Wort der Anrede zu
ihnen, so würde der Vater oder die Mutter mir antworten, die Töchter
- geschmeichelt zulacheln, ich könnte mit dem Jungen hinüber in eine
? Bude schießen gehen und kindlichen Spaß mit ihm treiben. In fünf,
: zehn Minuten würde ich erlöst sein von mir, eingehüllt in die arg-
2 lose Atmosphäre bürgerlichen Gesprächs, gern gewährter und sogar
^ geschmeichelter Vertraulichkeit — aber dies einfache Wort, diesen
:: ersten Ansatz im Gespräch, ich fand ihn nicht, eine falsche, törichte,
£ aber übermächtige Scham würgte mir die Kehle, und ich saß mit ge¬
senktem Blick wie ein Verbrecher an dem Tisch dieser einfachen
Menschen, gehüllt in die Qual, ihnen mit meiner verbissenen Gegen-
■r. wart noch die letzte Stunde des Sonntags verstört zu haben. Und
: in diesem hingebohrtem Dasitzen büßte ich all die Jahre gleichgültigen
c Hochmuts, an denen ich an abertausend solchen Tischen, an Millionen
und Millionen brüderlicher Menschen ohne Blick vorübergegangen war,
einzig beschäftigt mit Gunst oder Erfolg in jenem engen Kreise der
: Eleganz; und ich spürte, daß mir der gerade Weg, die unbefangene
Sprache zu den Menschen jetzt, da ich ihrer in der Stunde meines
Ausgestoßenseins bedurfte, von innen vermauert war.
So saß ich, ein freier Mensch bisher, qualvoll in mich geduckt,
immer wieder die roten Carrls am Tischtuch abzählend, bis endlich
der Kellner vorbei kam. Ich rief ihn an, zahlte, stand von dem kaum
angetrunkenen Bierglase auf, grüßte höflich. Man dankte mir freund¬
lich und erstaunt: ich wußte, ohne mich umzuwenden, daß jetzt, kaum
daß ich ihnen den Rücken zeigte, das Lebendig-Heitere sie wieder
überkommen, der warme Kreis des Gesprächs sich schließen würde,
sobald ich, der Fremdkörper ausgestoßen war.
Wieder warf ich mich, aber nun noch gieriger, heißer und ver¬
zweifelter in den Wirbel der Menschen zurück. Das Gedränge war
inzwischen lockerer geworden unter den Bäumen, die schwarz in den
Himmel überfluteten, es drängte und quirlte nicht mehr so dicht und
strömend in den Lichtkreis der Karusselle, sondern schwirrte nur schatten¬
haft mehr am äußersten Rand des Platzes. Eine andere Art Gesichter
tauchte jetzt auf: die Kinder mit ihren Ballons und Papierkoriandolis waren
schon nach Hause gegangen, auch die breithinrollenden sonntäglichen
Familien hatten sich verzogen. Nun sah man schon Betrunkene johlen,
39
6 io Stefan Zweig, Phantastische Nacht
verlotterte Burschen mit lungerndem und doch suchendem Gang sich
aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der einen Stunde, in der ich
festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen, diese seltsame Welt mehr
ins Gemeine hinabgeglitten, aber gerade jene phosphoreszierende Atmo¬
sphäre von Frechheit und Gefährlichkeit gefiel mir irgendwie besser
als die bürgerlich-sonntägliche von vordem. Der in mir aufgereizte
Instinkt witterte hier ähnliche Gespanntheit der Begier: in dem vor¬
treibenden Schlendern dieser fragwürdigen Gestalten, dieser Aus¬
gestoßenen der Gesellschaft, empfimd ich mich irgendwie gespiegelt.
Auch sie wilderten doch mit einer unruhigen Erwartung hier nach
einem flackernden Abenteuer, einer raschen Erregung, und selbst sie,
diese zerlumpten Burschen, beneidete ich um die offene freie Art ihres
Streifens, denn ich stand an die Säule eines Karussells atmend ge¬
preßt, ungeduldig, den Druck des Schweigens, der Qual meiner Einsam¬
keit aus mir zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines
Anrufs, eines Worts. Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz,
der vom Reflex der kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und
starrte von meiner Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll
jeden Menschen anblickend, der vom grellen Schein angezogen für
einen Augenblick sich herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir
ab. Niemand wollte mich, niemand erlöste mich.
Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären
zu wollen, daß ich, ein kultivierter, eleganter Mann der Gesellschaft,
reich, unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet,
eine ganze Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden,
rastlos sich schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig-, vierzig-,
hundertmal dieselbe stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer
mit denselben idiotischen Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an nur
vorüberkreisen ließ und aus verbissenem Trotz, aus einem magischen
Gefühl, das Schicksal in meinen Willen zu zwingen, nicht mich von
der Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos handelte in jener Stunde,
aber in dieser sinnlosen Beharrung war eine Spannung des Gefühls,
eine so stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie Menschen sonst
vielleicht nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod; mein
ganzes, leer vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und
staute sich bis hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von
meinem sinnlosen Wahn, zu bleiben, zu verharren, bis irgend ein
Wort, ein Blick eines Menschen mich erlöse, so sehr genoß ich diese
Qual. Ich büßte etwas in diesem Stehen an dem Pfahl, nicht jenen
Stefan Zweig, Phantastische Nacht du
Diebstahl so sehr, als das Dumpfe, das Laue, das Leere meines früheren
Lebens: und ich hatte mir geschworen, nicht früher zu gehen, bis
mir nicht ein Zeichen gegeben sei, mich das Schicksal nicht frei¬
gegeben.
Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht
sich heran. Eines nach dem andern losch in den Buden das Licht,
und immer stürzte dann wie eine steigende Flut das Dunkel vor,
schluckte den lichten Fleck auf dem Rasen ein: immer einsamer war
die helle Insel, auf der ich stand, und schon sah ich zitternd auf
die Uhr. Eine Viertelstunde noch, dann würden die scheckigen Holz¬
pferde still stehen, die roten und grünen Glühlampen auf ihren ein¬
fältigen Stirnen abknipsen, das geblähte Orchestrion aufhören zu
stampfen. Dann würde ich ganz im Dunkel sein, ganz allein hier in
der leise rauschenden Nacht, ganz ausgestoßen, ganz verlassen. Immer
unruhiger blickte ich über den dämmernden Platz, über den nur ganz
selten mehr ein heimkehrendes Pärchen eilig strich oder ein paar
Burschen betrunken hintaumelten; quer drüben aber in den Schatten
zitterte noch verstecktes Leben, unruhig und aufreizend. Manchmal
pfiff oder schnalzte es leise, wenn ein paar Männer vorüberkamen.
Und bogen sie dann, gelockt von dem Anruf, hin zum Dunkel, so
zischelten in den Schatten Frauenstimmen, und manchmal warf der
Wind abgerissene Fetzen grellen Lachens herüber. Und allmählich
schob sichs um den Rand des Dunkels frecher hervor, gegen den
Lichtkegel des erhellten Platzes, um sofort wieder in die Schwärze
zurückzutauchen, sobald im Vorübergehen die Pickelhaube eines Schutz¬
mannes im Reflex der Laterne schimmerte. Aber kaum, daß er weiter¬
ging auf seiner Runde, waren die gespenstigen Schatten wieder da,
und jetzt konnte ich sie schon deutlich im Umriß sehen, so nahe
wagten sie sich ans Licht. Es war der letzte Abhub jener nächtigen
Welt, der Schlamm, der zurückblieb, nun da sich der flüssige Menschen¬
strom verlaufen: ein paar Dirnen, jene ärmsten und ausgestoßensten,
die keine eigene Bettstatt haben, tags auf einer Matratze schlafen und
nachts ruhlos streifen, die ihren abgebrauchten, geschändeten, magern
Körper jedem für ein kleines Silberstück hier irgendwo im Dunkel
auftaten, umspürt von der Polizei, getrieben von Hunger oder irgend
einem Strolch, immer im Dunkel streifend, jagend und gejagt zugleich.
Wie hungrige Hunde schnupperten sie allmählich vor zu dem erhellten
Platz, nach irgend etwas Männlichem, nach einem vergessenen Nach¬
zügler, dem sie seine Lust ablocken könnten für eine Krone oder
du Stefan Zweig, Phantastische Nacht
zwei, um sich dann einen Glühwein zu kaufen in einem Volkskaffee
und den trüb flackernden Stumpf Leben sich zu erhalten, der ja ohne¬
hin auslöscht in einem Spital oder einem Gefängnis.
Der Abhub war dies, die letzte Jauche von der hochgequollenen
Sinnlichkeit der sonntäglichen Masse — mit einem grenzenlosen Grauen
sah ich nun aus dem Dunkel diese hungrigen Gestalten geistern.
Aber auch in diesem Grauen war noch eine magische Lust, denn
selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich Vergessenes und
dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe sumpfige Welt, die ich
vor Jahren längst durchschritten und die nun phosphoreszierend mir
wieder in die Sinne funkelte. Seltsam, was diese sonderbare Nacht
mir plötzlich entgegenhielt, wie sie mich Verschlossenen plötzlich auf¬
faltete, daß das Dunkelste meiner Vergangenheit, das Geheimste meines
Triebes in mir mm offen lag! Dumpfes Gefühl verschütteter Knaben¬
jahre stieg auf, wo scheuer Blick neugierig angezogen und doch feig
verstört an solchen Gestalten gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo
man zum erstenmal auf knarrender feuchter Treppe Einer hinaufgefölgt
war in ihr Bett — und plötzlich, als ob Blitz einen Nachthimmel
zerteilt hätte, sah ich scharf jede Einzelheit jener vergessenen Stunde,
den flachen Öldruck über dem Bett, das Amulett, daß sie auf dem
Halse trug, ich spürte jede Fiber von damals, die ungewisse Schwüle,
den Ekel und den ersten Knabenstolz. All das wogte mir mit einem
Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne Maß strömte
plötzlich in mich ein und — wie soll ich das sagen können, dies Un¬
endliche! — ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so brennendem
Mitleid jenen verband, gerade weil sie der letzte Abschaum des Lebens
waren. Mein von dem Verbrechen einmal angereizter Instinkt spürte
von innen heraus dieses hungrige Lungern, das dem meinen in
dieser phantastischen Nacht so ähnlich war, dies verbrecherische Offen¬
stehn jeder Berührung, jeder fremden zufällig anstreifenden Lust.
Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit dem gestohlenen
Geld brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da drüben endlich
Wesen, Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte, das von
andern Wesen, vielleicht auch von mir etwas wollte, von mir, der
nur wartete, sich wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden
Willigkeit nach Menschen. Und mit einmal verstand ich, was Männer
zu solchen Wesen treibt, verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes,
ein schwellender Kitzel ist, sondern meist bloß Angst vor der Einsamkeit,
vor der entsetzlichen Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 13
und die mein entzündetes Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich
erinnerte mich, wann ich zum letztenmal dies dumpf empfinden: in
England war es gewesen, in Manchester, einer jener stählernen Städte,
die in einen lichtlosen Himmel von Lärm brausen wie eine Unter¬
grundbahn, und die doch gleichzeitig einen Frost von Einsamkeit
haben, der durch die Poren bis ins Blut dringt. Drei Wochen hatte
ich dort bei Verwandten gelebt, abends immer allein irrend durch
Bars und Klubs und immer wieder in die glitzernde Music-Hall, nur
um etwas menschliche Wärme zu spüren. Und da eines Abends hatte
ich so eine Person gefunden, deren Gassenenglisch ich kaum verstand,
aber plötzlich war man in einem Zimmer, trank Lachen von einem
fremden Mund, ein Körper war da, irdischnahe und weich. Plötzlich
schmolz sie weg, die kalte schwarze Stadt, der finstere lärmende Raum
von Einsamkeit: irgend ein Wesen, das man nicht kannte, das nur
dastand und wartete auf jeden der kam, löste einen auf, ließ allen
Trost wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter
Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das
für die Einsamen, die Abgesperrteu in sich selbst, dies zu wissen, dies
zu ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgend ein Halt ist, sich fest¬
zuklammern an ihm, mag er auch überschmutzt sein von vielen
Griffen, starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies,
gerade dies hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsam¬
keit, aus der ich taumelnd aufstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an
einer letzten Ecke immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in
sich aufzufängen, jede Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen,
jede Hitze zu kühlen für ein kleines Stück Geld, das immer zu ge¬
ring ist für das Ungeheure, das sie geben mit ihrem ewigen Bereit¬
sein, mit dem großen Geschenk ihrer menschlichen Gegenwart.
Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder
ein. Es war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts
in das Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging.
Aber niemand kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen
Kreis, schon scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau
•die Lösung des Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den
Haken, bereit, nach dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über
die Bude herabzulassen. Nur ich, ich allein, stand noch immer da,
an den Pfosten gelehnt und sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur
diese fledermausflatternden Gestalten strichen, suchend wie icb, wartend
wie ich und doch den undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischen-
61^ Stefan Zweig, Phantastische Nacht
einander. Aber jetzt mußte eine von ihnen mich bemerkt haben, denn
sie schob sich langsam her, ganz nah sah ich sie unter dem gesenkten
Blick: ein kleines, verkrOppeltes, rhachitisches Wesen ohne Hut mit
einem geschmacklos aufgeputzten Fähnchen von Kleid, unter dem ab¬
getragene Ballschuhe vorlugten, das Ganze wohl allmählich bei Höker¬
innen oder einem Trödler zusammengekauft und seitdem verscheuert,
von Regen zerdrückt oder irgendwo bei einem schmutzigen Aben¬
teuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben mir stehen,
den Blick wie eine Angel spitz herwerfend, ein einladendes Lächeln
über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem stocken. Ich konnte
mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich nicht fortreißen :
wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um mich be¬
gehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese
gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort,
einer Geste bloß wegschleudem könnte. Aber ich vermochte mich
nicht zu rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in
einer Art wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer — während
die Melodie des Karussells schon müde wegtaumelte — die nahe Gegen¬
wart, diesen Willen, der um mich warb, und schloß die Augen für
einen Augenblick, um ganz dieses magnetische Angezogensein irgend
eines Menschlichen aus dem Dunkel der Welt mich überfluten zu
fühlen.
Das Karussell hielt inne, die walzemde Melodie erstickte mit einem
letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sab gerade,
wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu
langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich
erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fort-
gehen lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der
mir entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten
die Lichter, prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu
Ende.
Und plötzlich — ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh auf¬
springenden Gischt schildern — plötzlich — es kam so jäh, so heiß,
so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre — plötzlich
brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler ge¬
sellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet,
wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so un¬
geheure Wunsch, diese kleine schmutzige rhachitische Hure möchte
nur noch einmal, nur noch einmal den Kopf wenden, damit ich zu
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 615
ihr sprechen könne. Denn ihr nachzugehen, war ich nicht zu stolz
— mein Stolz war zerstampft, zertreten, weggeschwemmt von ganz
neuen Gefühlen — aber zu schwach, zu ratlos. Und so stand ich da,
zitternd und durchwühlt, hier allein an dem Marterpfosten der Dunkel¬
heit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit meinen Knaben jahren,
wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster gestanden, als eine
fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und immer zögerte und
verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung — ich stand, zu Gott auf¬
schreiend mit irgend einer mir selbst unbekannten Stimme um das
Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub Menschheit möge
es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick rückwenden
zu mir.
Und — sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie
zurück. Aber so stark mußte mein Aufrucken, das Vorspringen meines
gespannten Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend
stehen blieb. Sie wippte noch einmal halb herum, sah mich durch
das Dunkel an, lächelte und winkte mit dem Kopf einladend hinüber
gegen die verschattete Seite des Platzes. Und endlich fühlte ich den
entsetzlichen Bann der Starre in mir weichen. Ich konnte mich wieder
regen und nickte ihr bejahend zu. Sie lachte. Der unsichtbare Pakt
war geschlossen. Ntin ging sie voraus über den dämmerigen Platz,
von Zeit zu Zeit sich um wendend, ob ich ihr nachkäme. Und ich
folgte. Das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder
die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht be
wußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen,
hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlang¬
samte sie den Schritt. Nun stand ich neben ihr.
Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas
machte sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen,
der Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig.
Sie blickte sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Ver¬
längerung der Gasse deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht
war: „Gehn wir dort hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.“
Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung
betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit
einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille
hatte keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir,
wenn man, an einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit
einen steilen Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst
6i6
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
sich irgendwie wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt
und man, statt zu bremsen, sich mit einer taumelnden und doch be¬
wußten Schwache willenlos an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht
mehr zurück und wollte vielleicht gar nicht mehr, und jetzt, wie sie
vertraulich sich an mich drückte, faßte ich unwillkürlich ihren Arm.
Es war ein ganz magerer Arm, nicht der Arm einer Frau, sondern wie der
eines zurückgebliebenen skrofulösen Kindes, und kaum daß ich ihn durch
das dünne Mäntelchen fühlte, überkam mich mitten in dem gespannten
Empfinden ein ganz weiches, flutendes Mitleid mit diesem erbärmlichen,
zertretenen Stück Leben, das diese Nacht gegen mich gespült Und
unwillkürlich liebkosten meine Finger diese schwachen, kränklichen
Gelenke so rein, so ehrfürchtig wie ich noch nie eine Frau berührt
Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein
kleines Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes übelriechendes
Dunkel fest zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, ob¬
wohl man kaum mehr einen Umriss bemerken konnte, daß sie gsnt
vorsichtig an meinem Arm sich umwandte und einige Schritte spater
noch ein zweitesmal. Und seltsam: während ich gleichsam in einer
Betäubung in das schmutzige Abenteuer hinabglitt, waren doch meine
Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit einer Hellsichtigkeit, der
nichts entging, die jede Regung wissend bis in sich hineinriß, merkte
ich, daß rückwärts am Saum des überquerten Pfades schattenhaft um
etwas nachglitt und mir war es, als hörte ich einen schleichenden
Schritt. Und plötzlich — wie ein Blitz eine Landschaft prasselnd weiß
überspringt — ahnte, wußte ich alles: daß ich hier in eine Falle ge¬
lockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure hinter uns lauerten,
und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle zog, wo ich ihre
Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit, wie sie nur
die zusammengepressten Sekunden zwischen Tod und Leben haben,
sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit, ®
entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die
elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein
Pfiff konnte Leute herbeirufen: in scharfen umrissenen Bildern zuckten
alle Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf.
Aber seltsam — diese aufschreckende Erkenntnis kühlte nicht,
sondern hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augen¬
blick, im klaren Licht eines herbstlichen Tages selbst das Absur e
jener Stunde nicht ganz erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder
Fiber meines Wesens, daß ich unnötig in eine Gefahr ging, aber wie
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 617
ein feiner Wahnsinn rieselte mir das Vorgefühl durch die Nerven.
Ich wußte ein Widerliches, vielleicht Tötliches voraus, ich zitterte
vor Ekel, hier irgendwie in ein Verbrechen, in ein gemeines
schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber gerade für die nie ge¬
kannte, nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich betäubend über¬
strömte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier. Etwas — war
es Scham, die Furcht zu zeigen oder eine Schwäche? — stieß mich
vorwärts. Es reizte mich, in die letzte Kloake des Lebens hinab¬
zusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze Vergangenheit zu ver¬
spielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des Geistes mengte
sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit allen
meinen Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem
Verstand klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das
Gehölz am Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich
mehr abstieß als lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur
für ihre Spießgesellen herzog. Aber ich konnte nicht zurück. Die
Schwerkraft des Verbrecherischen, die sich nachmittags im Abenteuer
auf dem Rennplätze an mich gehangen, riß mich weiter und weiter.
Ich spürte nurmehr die Betäubung, den wirbeligen Taumel des Sturzes
in neue Tiefen hinab und vielleicht in die letzte: in den Tod.
Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick
unsicher herum. Dann sah sie mich wartend an:
„Na — und was schenkst Du mir?"
Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich
nicht. Im Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich
verschwenden zu dürfen. Hastig griff ich in die Tasche, schüttete
alles Silber und ein paar zerknüllte Banknoten ihr in die aufgetane
Hand. Und nun geschah etwas so Wunderbares, daß mir heute noch
das Blut warm wird, wenn ich daran denke: entweder war diese arme
Person überrascht von der Höhe der Summe — sie war sonst nur
kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen Dienst — oder in der
Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast beglückten Gebens
mußte etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn sie trat zurück
und durch das dicke übelriechende Dunkel spürte ich, wie ihr Blick
mit einem großen Erstaunen mich suchte. Und ich empfand endlich
das lang Entbehrte dieses Abends: jemand fragte nach mir, jemand
suchte mich, zum erstenmal lebte ich für irgend jemanden dieser Welt.
Und daß gerade diese Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen
verbrauchten Körper durch die Dunkelheit wie eine Ware trug und
61S Stefan Zweig, Phantastische Nacht
die, ohne den Käufer auch erst anzusehen, sich an mich gedrängt,
nun die Augen aufschlug zu den meinen und nach dem Menschen
in mir fragte, das steigerte nur meine merkwürdige Trunkenheit, die
hellsichtig war und taumelnd zugleich, wissend und aufgelöst in eine
magische Dumpfheit. Und schon drängte dieses fremde Wesen sich
näher an mich, aber nicht in geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter
Pflicht, sondern ich meinte, irgend etwas unbewußt Dankbares, einen
weibhaften Willen zur Annäherung darin zu spüren. Ich faßte leise
ihren Arm an, den magern rhachitischen Kinderarm, empfand ihren
kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich über all das hinaus ihr
ganzes Leben: die geliehene schmierige Bettstelle in einem Vorstadt¬
hof, wo sie von morgens bis mittags schlief zwischen einem Gewürm
fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie würgte, die Trunkenen,
die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die gewisse Abteilung
im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal, wo man ihren
abgeschundenen Leib nackt und krank jungen, frechen Studenten als
Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer Heimats¬
gemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie verrecken
ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen überkam
mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine
Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern
Arm. Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte.
In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte.
Ich sprang zurück. Und schon lachte eine breite ordinäre Männer¬
stimme. „Da haben mirs. Ich hab’ mirs ja gleich gedacht."
Noch ehe ich sie sah, wußte ich wer sie waren. Nicht eine
Sekunde hatte ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung vergessen,
daß ich umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte
sie erwartet.
Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr
eine zweite, — verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam
das ordinäre Lachen. „So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu
treiben. Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt
Hopp nehmen."
Ich stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich emp¬
fand keine Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war
ich endlich in der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt
mußte der Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich
dumpf — schwindelig entgegengetrieben.
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 619
Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen
hinüber. Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der
vorbereitete Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wieder¬
um waren ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander
an, offenbar erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte,
irgend eine Angst. »Aha, er sagt nix“, rief schließlich drohend der
eine. Und der andere trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie
müssen mit aufs Kommissariat“.
Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den
Arm auf die Schulter und stieß mich leicht an. „Vorwärts“, sagte er.
Ich ging. Ich wehrte mich nicht, weil ich mich nicht wehren
wollte: das Unerhörte, das Gemeine, das Gefährliche der Situation
betäubte mich. Mein Gehirn blieb ganz wach, ich wußte, daß die
Burschen die Polizei mehr fiirchten mußten als ich, daß ich mich
loskaufen konnte mit ein paar Kronen, — aber ich wollte ganz die
Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich genoß die grausige Erniedrigung
dieser Nacht in einer Art wissender Ohnmacht. Ohne Hast, ganz
mechanisch, ging ich in die Richtung, in die sie mich gestoßen
hatten.
Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zu¬
ging, schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann
fingen sie wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. „Laß ihn
laufen“, sagte der eine (ein pockennarbiger kleiner Kerl), aber der
andere erwiderte, scheinbar streng, »Nein, das geht nicht. Wenn das
ein armer Teufel tut wie wir, der nix zum Fressen hat, dann wird
er eingelocht Aber so ein feiner Herr — da muß a Straf sein“.
Und ich hörte jedes Wort und hörte darin ihre ungeschickte Bitte,
ich möchte beginnen, mit ihnen zu verhandeln: der Verbrecher in
mir verstand den Verbrecher in ihnen, verstand, daß sie mich quälen
wollten mit Angst und ich sie quälte mit meiner Nachgiebigkeit. Es
war ein stummer Kampf zwischen uns beiden und — oh wie reich
war diese Nacht! — ich fühlte inmitten tötlicher Gefahr hier mitten
im stinkenden Dickicht der Praterwiese zwischen Strolchen und einer
Dime zum zweitenmal seit zwölf Stunden den rasenden Zauber des
Spiels, nun aber um den höchsten Einsatz, um meine ganze bürger¬
liche Existenz, ja um mein Leben. Und ich gab mich diesem un¬
geheuren Spiel, der funkelnden Magie des Zufalls mit der ganzen
gespannten, bis zum Zerreißen gespannten Kraft meiner zitternden
Nerven hin.
6 io Stefan Zweig, Phantastische Nacht
„Aha, dort ist schon der Wachmann,“ sagte hinter mir die eine
Stimme, „da wird er sich nicht zu freuen haben, der feine Herr,
eine Wochen wird er schon sitzen.“ Es sollte böse klingen und
drohend, aber ich horte die stockende Unsicherheit. Ruhig ging ich
gegen den Lichtschein zu, wo tatsächlich die Pickelhaube eines Schutz¬
mannes glänzte. Zwanzig Schritte noch — dann mußte ich vor ihm
stehen.
Hinter mir hatten die Burschen aufgehört zu reden, ich merkte, wie
sie langsamer gingen; im nächsten Augenblick mußten sie, ich wußte
es, feig zurdcktauchen in das Dunkel, ihre Welt, erbittert über den mi߬
lungenen Streich und würden ihren Zorn vielleicht an der Armseligen
auslassen. Das Spiel war zu Ende: wiederum, zum zweitenmal, hatte
ich heute gewonnen, wiederum einen andern fremden unbekannten
Menschen um seine böse Lust geprellt. Schon flackerte von drüben
der bleiche Kreis der Laternen und wie ich mich jetzt umwandte,
sah ich zum erstenmal die Gesichter der beiden Burschen: Erbitterung
war und eine geduckte Beschämung in ihren unsichern Augen. Sie
blieben stehen in einer gedrückten enttäuschten Art, bereit ins Dunkel
zurückzuspringen. Denn ihre Macht war vorüber: nun war ich es,
den sie fürchteten.
In diesem Augenblick Qberkam mich plötzlich — und es war, als
ob die innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte
und heiß das Gefühl in mein Blut überliefe — ein so unendliches,
ein brüderliches Mitleid mit diesen beiden Menschen. Was hatten
sie denn begehrt von mir, sie, die armen hungernden, zerfetzten
Burschen von mir, dem Übersatten, dem Parasiten: ein paar Kronen,
ein paar elende Kronen. Sie hätten mich würgen können dort 1®
Dunkel, mich berauben, mich töten und hatten es nicht getan, hatten
nur in einer ungeübten, ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken
um dieser kleinen Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche
lagen. Wie konnte ich es da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frech¬
heit, der Verbrecher aus Nervenlust, sie, diese armen Teufel, n0C ^
zu quälen? Und in mein unendliches Mitleid strömte unendliche
Scham, daß ich mit ihrer Angst, mit ihrer Ungeduld um mein cr
Wollust willen noch gespielt Ich raffte mich zusammen: jetzt, ge«“'
jetzt, da ich gesichert war, da schon das Licht der nahen Straße nu
schützte, jetzt mußte ich ihnen zu willen sein, die Enttäuschung ,uJ "
löschen in diesen bittern hungrigen Blicken.
Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. „Warn®
Stefan Zweig, Phantastische Nacht dzi
wollen Sie mich anzeigend, sagte ich und mObte mich, in meine
Stimme einen gepreßten Atem von Angst zu quälen. „Was haben
Sie davon? Vielleicht werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht.
Aber Ihnen bringt es doch keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir
mein Leben verderben?“
Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen
Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich
weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte
der eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend:
„Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht“.
Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es
irgendwie fälsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie
warteten. Und ich wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln
würde um Gnade. Und daß ich ihnen Geld bieten würde.
Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv,
der sich in mir regte, jeden Gedanken, der hinter den Schläfen zuckte.
Und ich weiß, was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie
warten lassen, sie noch länger quälen, die Wollust des Wartenlassens
auskosten. Aber ich zwang mich rasch, zurück, weil ich wußte, daß
ich die Angst dieser beiden endlich erlösen mußte. Und ich begann
eine Komödie der Angst zu spielen. Ich bat sie um Mitleid, sie
möchten schweigen, mich nicht unglücklich machen. Ich merkte, wie
sie verlegen wurden, immer unsicherer und ungeduldiger, diese armen
Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher
zwischen uns stand.
Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nach dem sie so lange
lechzten. „Ich,... ich gebe ihnen . .. hundert Kronen“.
Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie sich
nicht erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war.
Endlich faßte sich der eine, der Pockennarbige mit dem imruhigen
Blick. Zweimal setzte er an. Es ging ihm nicht aus der Kehle.
Dann sagte er — und ich spürte, wie er sich schämte dabei —: „Zwei¬
hundert Kronen.“
„Aber hörts auf*, mengte sich plötzlich das Mädchen ein. „Ihr
könnt’s froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja
gar nix getan, kaum, daß er mich angerührt hat Das ist wirklich
zu stark.“
Wirklich erbittert schrie sie’s ihnen entgegen. Und mir klang das
Herz. Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus
6 zi Stefan Zweig, Phantastische Nacht
dem Gemeinen stieg Güte, irgend ein dunkles Begehren nach Ge¬
rechtigkeit aus einer Erpressung. Wie das wohl tat, wie das Antwort
gab auf den Aufschwall in mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen
mit den Menschen, nicht sie quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham:
genug! genug!
„Gut, also zweihundert Kronen.“
Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz
langsam, ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff
hätten sie mir sie wegreißen können und flüchten in das Dankei
hinein. Aber sie sahen scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir
irgend ein geheimes Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel,
sondern ein Zustand des Rechts, des Vertrauens, eine menschliche
Beziehung. Ich blätterte die beiden Noten aus dem gestohlenen Pack
und reichte sie dem einen hin.
„Danke schön“, sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg.
Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes
Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham — oh, alles fühlte ich
ja in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! — bedrückte mich.
Ich wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der
ich seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie
er. Seine Demütigung quälte mich und ich wollte sie ihm weg¬
nehmen. So wehrte ich seinem Dank.
„Ich habe ihnen zu danken“, sagte ich und wunderte mich selbst,
wie viel wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. „Wenn
Sie mich angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich
erschießen müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser
so. Ich gehe jetzt da rechts hinüber und Sie vielleicht dort auf die
andere Seite. Gute Nacht“.
Sie schwiegen wieder einen Augenblick. Dann sagte der eine „Gute
Nacht“ und dann der andere, zuletzt die Hure, die ganz im Dunkel
geblieben. Ganz warm klang es, ganz herzlich, wie ein wirklicher
Wunsch. An ihren Stimmen fühlte ich, sie hatten mich irgenwo tief
im Dunkel ihres Wesens lieb, sie würden diese sonderbare Sekunde
nie vergessen. Im Zuchthaus oder im Spital würde sie ihnen viel¬
leicht wieder einmal einfallen: etwas von mir lebte fort in ihnen, ich
hatte ihnen etwas gegeben. Und dieses Gebens Lust erfüllte mich
wie noch nie ein Gefühl.
Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles
Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 zj
gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt
hinein. Alles empfand ich, als lebte es nur für mich allein und mich
wieder mit allem strömend verbunden. Schwarz umstanden mich die
Bäume, sie rauschten mir zu, und ich liebte sie. Sterne glänzten von
oben zu, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend
von irgendwoher und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte
mir mit einemmal, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen und
Freude des Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu.
Oh wie leicht ist es, fühlte ich, Freude zu machen und selbst froh
zu werden aus der Freude: man braucht sich nur aufzutun und schon
fließt von Mensch zu Menschen der lebendige Strom, stürzt vom
Hohen zum Niedern, schäumt von der Tiefe wieder ins Unendliche
empor.
Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich
eine Hökerin, müde, gebückt, über ihren kleinen Kram. Bäckereien
hatte sie, überschimmelt von Staub, ein paar Früchte, seit Morgen
saß sie wohl so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdig¬
keit knickte sie ein. Warum sollst du dich nicht auch freuen, dachte
ich, wenn ich mich freue? Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot
und legte ihr einen Schein hin. Sie wollte eilfertig wechseln, aber
schon ging ich weiter und sah nur, wie sie erschrak vor Glück, wie
die zerknitterte Gestalt sich plötzlich straffte und nur der im Staunen
erstarrte Mund mir tausend Wünsche nachsprudelte. Das Brot zwischen
den Fingern, trat ich zu dem Pferde, das müde an der Deichsel hing,
aber nun wandte es sich her und schnaubte mir freundlich zu. Auch
in seinem dumpfen Blick war Dank, daß ich seine rosa Nüster streichelte
und ihm das Brot hinreichte. Und kaum, daß ich’s getan, begehrte
ich nach mehr: noch mehr Freude zu machen, noch mehr zu spüren,
wie man mit paar Silberstücken, mit ein paar farbigen Zetteln Angst
auslöschen, Sorge töten, Heiterkeit aufzünden konnte. Warum waren
keine Bettler da? Warum keine Kinder, die von den Ballons haben
wollten, die dort ein mürrischer, weißhaariger Hinkfuß in dicken
Bündeln an vielen Fäden nach Hause stelzte, enttäuscht über das
schlechte Geschäft des heißen Tages. Ich ging auf ihn zu. „Geben
sie mir die Ballons.“ „Zehn Heller“, sagte er mißtrauisch, denn was
wollte dieser elegante Müßiggänger jetzt mitternachts mit den farbigen
Ballons? „Geben sie mir alle“, sagte ich und gab ihm einen Zehn¬
kronenschein. Er torkelte aufj sah mich wie geblendet an, dann gab
er mir zitternd die Schnur, die das ganze Bündel hielt Straff fühlte
6 i 4 Stefan Zweig, Phantastische Nacht
icb es an dem Finger ziehn: sie wollten weg, wollten frei sein,
wollten hinauf, in den Himmel hinein. So geht, fliegt wohin ihr
begehrt, seid freit Ich ließ die Schnüre los, und wie viele bunte
Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen Seiten liefen die Leute
her und lachten, aus dem Dunkel kamen die Verliebten, die Kutscher
knallten mit den Peitschen und zeigten sich gegenseitig rufend mit
den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die Räume hin zu den
Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an und hatte
seinen Spaß mit meiner seligen Torheit.
Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und
wie gut, Freude zu geben! Mit einemmale brannten die Banknoten
wieder in der Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie
vordem die Schnüre der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von
mir ins Unbekannte hinein. Und ich nahm sie, die gestohlenen des
Lajos und die eigenen — denn nichts empfand ich mehr davon, als
Unterschied oder Schuld — zwischen die Finger, bereit, sie jedem hin¬
zustreuen, der eine wollte. Ich ging hinüber zu einem Straßenkehrer,
der verdrossen die verlassene Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle
ihn nach irgend einer Gasse fragen und sah mürrisch auf: ich lachte
ihn an und hielt ihm einen Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne
zu begreifen, dann nahm er ihn endlich und wartete, was ich von
ihm fordern würde, ich aber lachte ihm nur zu, sagte „kauf dir was
Gutes dafür“ und ging weiter. Immer sah ich nach allen Seiten, ob
nicht jemand etwas von mir begehre, und da niemand kam, bot ich
an: einer Hure, die mich anspracb, schenkte ich einen Schein, zwei
einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene Lucke einer
Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von Staunen,
Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf ich
sie einzeln und zerknüllt ins Leere, auf die Straße, auf die Stufen
einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzel¬
weibchen bei der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott
segnen, ein armer Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend
und doch beglückt auf ihrem Weg entdecken würden, so wie ich
selbst staunend und beglückt in dieser Nacht mich selber entdeckt
Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute,
die Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgend
ein Taumel in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die
letzten Blätter weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als oh ich
hätte fliegen können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße,
Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 25
der Himmel, die Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz
neuen Gefühl des Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in
den heißesten Sekunden meiner Existenz hatte ich so stark empfunden,
daß alle diese Dinge wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und
daß ich lebte und daß ihr Leben und das meine ganz das gleiche
war, eben das große, das gewaltige, das nie genug beglflckt gefühlte
Leben, das nur die Liebe begreift, nur der Hingegebene umfaßt.
Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als
ich, selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und
der Gang zu meinen Zimmern schwarz sich auftat Da stürzte plötzlich
Angst über mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück,
wenn ich die Wohnung dessen beträte, der ich bis zu dieser Stunde
gewesen, mich in sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung wieder
aufnahm mit dem, was diese Nacht so schön gelöst Nein, nur nicht
mehr dieser Mensch werden, der ich war, nicht mehr der korrekte,
fühllose, weltabgelöste Gentleman von gestern und einst — lieber hinab-
stfirzen in alle Tiefen des Verbrechens und des Grauens, aber doch
in die Wirklichkeit des Lebens! Ich war müde, unsagbar müde und
doch fürchtete ich mich, der Schlaf möchte über mir zusammen¬
schlagen und all das Heiße, das Glühende, das Lebendige, das diese
Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mit seinem schwarzen
Schlamm und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und unverhaftet
gewesen sein wie ein phantastischer Traum.
Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten
Tage und nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl.
Seitdem sind nun vier Monate vergangen, und die Starre von einst
ist nicht wiedergekehrt, ich blühe noch immer warm in den Tag
hinein. Jene magische Trunkenheit von damals, da ich plötzlich den
Boden meiner Welt unter den Füßen verlor, ins Unbekannte stürzte
und bei diesem Sturz in den eigenen Abgrund den Taumel der Ge¬
schwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des ganzen Lebens berauscht
gemengt empfand, — diese fliegende Hitze, sie freilich ist dahin, aber ich
spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes Blut mit jedem Atem¬
zuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des Lebens. Ich
weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen Sinnen,
anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich wage
ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich
weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgend einen heißen
Sinn für mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn,
40
6i6
Stefan Zweig, Phantastische Nacht
für den ich kein Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seit¬
dem verbiete ich mir nichts mehr, weil ich die Normen und Formen
meiner Gesellschaft als wesenlos empfinde, ich schäme mich weder
vor andern noch vor mir selbst. Worte, wie Ehre, Verbrechen, Laster
haben plötzlich einen kalten blechernen Klangton bekommen, ich ver¬
mag sie ohne Grauen gar nicht auszusprechen. Ich lebe, indem ich
mich leben lasse von der Macht, die ich damals zum erstenmal so
magisch gespürt Wohin sie mich treibt, frage ich nicht, vielleicht
einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein, was die andern Laster
nennen, oder einem ganz Erhabenem zu. Ich weiß es nicht und will
es nicht wissen. Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft lebt, der
sein Schicksal als ein Geheimnis lebt
Nie aber habe ich — dessen bin ich gewiß — das Leben inbrünstiger
geliebt und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige,
das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgend eine seiner Formen
und Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe
ich unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen
vor einer Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes
mich begeistern. Ich achte mit einemmal auf Alles, nichts ist mir
gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf Ver¬
gnügungen und Auktionen durdiblätterte) täglich hundert Dinge, die
mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich
auf. (Jnd das Merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen
auch außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein
Diener, den ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unter¬
halte mich oft mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an
einem beweglichen Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom
Tod seines Töchterchens erzählt und es hat mich mehr ergriffen als
die Tragödien Shakespeares. Und diese Verwandlung scheint — ob¬
zwar ich, um mich nicht zu verraten, mein Leben innerhalb der
Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze — allmählich transparent
zu werden. Manche Menschen sind mit einemmal herzlich zu mir,
zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde auf der
Straße zu. Und Freunde sagen mir, wie zu einem, der eine Krankheit
überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fanden mich
verjüngt
Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben
beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder ver¬
meint, alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen.
617
Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley
und ich verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die
warme lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier
sich hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn —
er ist der erste, der mich beglückt^ der erste, der mir das Blut gewärmt
und mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner
Erweckung hier aufzeichne, so schreibe ich’* doch nur für mich allein,
der all dies tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen ver¬
mögen. Gesprochen habe ich zu keinem Freunde davon: sie ahnten
nie, wie abgestorben ich schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie
blühend ich nun bin. Und sollte mitten in dies mein lebendiges Leben
der Tod fahren und diese Zeilen je in eines andern Hände fällen, so
schreckt und quält mich diese Möglichkeit durchaus nicht. Denn
wem die Magie einer solchen Stunde nie bewußt geworden, wird
ebensowenig verstehen, als ich selbst vor einem halben Jahre hätte
verstehen können, daß ein paar flüchtige und scheinbar kaum ver¬
bundene Episoden eines einzigen Abends ein schon verloschenes
Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich mich
nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene
weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz: vor ihm schäme ich
mich nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden,
kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den
Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen.
DICHTUNGEN NACH SHELLEY
von
ALFRED WOLFENSTEIN
H erz der Herzen“ steht auf dem Grabmal des Dichters, der vor
einem Jahrhundert im großen Meere versunken ist. Sein
rührendes Leben und sein bezauberndes Werk ist weltberühmt ge¬
worden, noch immer wenig gekannt Eine engelhafte, zugleich zur
menschlichen Tat geneigte Gestalt wie die seine ist in der neuen Zeit
Eine Auswahl von Shelleys Gedichten erscheint in neuer Übertragung von
Alfred Wolfenstein zum hundertsten Todestag des Dichters (8. Juli 191a)
bei Paul Cassirer, Berlin.
6i 8 Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley
selten erschienen. Was wir suchten: wenn wir in dies schone Ge¬
sicht blicken, das wie bei allen geistig Handelnden ganz in die oben
Sphäre von Stirn und Augen entrückt ist, so finden wir die Erfüllung
von Dichtertum und Kämpfertum in Einem. Allerdings, die Leidenschaft
für die Freiheit Irlands oder das utopische Glück der Erde wird in
seiner Kunst zur überwirklichen Melodie. Aber von ihrem Stern her will
sie die Erde lenken. Denn der Dichter lebt als der nichtanerkannte
Gesetzgeber der Welt. Das ist Shelleys ungeduldiger Wunsch, seinem
Geschlechte Gutes zu tun. Das ist sein Schmerz, zu fühlen, wie der
Wille des liebevollen und begeisterten Einzelnen stets unendlich großer
als seine Macht und seine Aufnahme bei den Menschen ist; heute
neu problematisch in der Zeit der Massen. Doch eine Dichtung wie
die seine verwandelt auch die zeitliche Verzweiflung in Leben nach
dem Tode und bewahrt, zum Besten der Erde, den Geist vor einer
„Unsterblichkeit von Vergessenheit**!
Unter den hier folgenden drei reinen Trauergesängen enthält
Adonais in der neunten Strophe sein Selbstbildnis.
Klage
O Welt! O Zeit! O Leben!
Bin auf der letzten Stufe.
Seh zitternd diese, darauf stand ich eben.
Wann ist der ersten Wiederkehr?
Nicht mehr.
Aus Tag und Nacht genommen
Ist Freude. Und es war nicht schwer.
Der Winter, Frühling, Sommer
Erregen mir das Herz
Nicht mehr. Nicht mehr.
In Niedergeschlagenheit bei Neapel
Die Sonne glüht, die starke See
Tanzt her mit himmlischem Gesicht,
Auf blauen Inseln, hohem Schnee
Ruht Mittag schichtend Licht auf Licht.
Alfred Wolfensteirij Dichtungen nach Shelley
Die Erde dampft und schüttet Licht
Auf aller Pflanzen reines Kleid.
Wie aus viel Stimmen Eines spricht
Umtont mich Vogel, Wind und schreit
Herüber selbst die Stadt so sanft wie Einsamkeit.
Ich seh zum unbetretnen Grund,
Wo Grün und Purpur sich verschlingt.
Land küßt der obem Welle Mund,
Daß sie in Sternenschauem springt.
Ich sitz im Sande, fließend winkt
Das mittägliche Mittelmeer,
Gemessene Bewegung schwingt
Mit ihren guten Klang hierher —
Daß ich ihn nicht allein vernähme, wünscht ich sehr.
Gesundheit flieht mich, ruhig nicht
Kann Körper oder Seele sein.
Auch dieses glückliche Gesicht
Des Sinnenden, der heilige Schein
Und Ruhm des Innern, ist nicht mein.
Nicht Liebeslust noch Lust der Macht —
Rings haben Viele viel und schrein.
Man lebe, daß man herrscht und lacht.
Mir wurde wohl ein andrer Kelch gereicht zur Nacht.
Doch hier ist auch Verzweiflung leis
Und gleicht den Wellen und dem Wind,
Ich konnte mich und all mein Leid
Hinlegen wie ein müdes Kind,
Das alles trug, gehorchend blind —
Bis Tod kommt an des Schlummers Ort
Und mir in warmer Luft gerinnt
Die Wange — Wassers Takt und Wort
Rauscht über mein ersterbend Hirn eintönig fort.
Wohl manche zürnen, ich sei kalt.
Daß ich in schöner Stunde klag
Und daß mein Herz, zu frühe alt.
Im Lichte schlägt verlornen Schlag.
Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley
O zürnt nur. Ich bin der: Mich mag
Der Mensch nicht doch bedauert mich.
Und gamicht gleich ich diesem Tag,
Der ausgenossen — königlich
Doch im Gedächtnis bleibt, auch wenn er längst erblich.
ADONAIS
Elegie auf den Tod von John Keats
Ich wein um Adonais, er ist tot.
O weint um Adonais! taut auch keine
Klage den ewigen Frost, ftihllose Not,
Um dieses teure Haupt. Und du, zum Steine
Am Grab der Zeit erwählte Stunde, weine
In alle kommenden hinein dein Leid.
In mir, so sprich, in mir starb Adonais!
Eh Zukunft nicht vergißt Vergangenheit,
Entschwindet nicht sein Ruf und hallt in Ewigkeit.
Wo warst du, als er dieses Leben ließ,
Azurene Mutter? Saßest du umklungen
Von Echos seiner Kunst im Paradies,
Als er des massigen Todes dumpfen Lungen
Sein Lied entgegen sang? Er hat gesungen
Wie Blume lacht des Leichnams, den sie deckt:
Mit allem Guten nun hinabgeschlungen!
An seiner Stimme isset schon versteckt
Der, der uns klagen hört und grinsend Zähne bleckt.
Du lieblichster der Singenden! Dein Land
Bei Freiheitsmördern, falschen Priestern bieder
Vertrocknets: Du bist kühn hinein gerannt
In Golf des Dunkels und tauchst aufwärts wieder —
Hier glimmen noch recht lang ihr Leben nieder
Die Kerzen, heimisch in der Nacht, die hetzt
Hinweg der großen jungen Sonnen Lieder!
Nur wenige bleiben noch, die jedes Netz
Zerreißend weiter gehn nach eigenem Gesetz.
Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 6 3
Der Jüngste, Liebste brach, — vorbei flog Sturm.
Nun Schatten weiß umgleiten den Erstarrten,
Dahinter kriecht der ewige Hunger, Wurm
Der Fäulnis — Doch als ob sie noch verharrten.
Eh sie zum letzten Ziel ihn lenken: Garten
Italiens schützt ihn! Holde Luft bestreicht
Dies Grab. Er liegt, als müsse es noch warten!
Ein sonniger Strom von Träumen macht vielleicht,
Daß ihn der Tod noch nicht, Leben nicht mehr erreicht.
Und Einer zitternd faßt sein kaltes Haupt
Und fächelt es mit breitem Mond sch ein fittig:
«Du Kummers Seufzen uns und Hoflhungs Hauch,
Du Lieber bist ja noch! Seht, seht inmitten
Des Augs die Träne, seinem Hirn entglitten
Aus gutem Traum! vom Tau der Frühe schwer!"
Ach Engel des verlornen Paradieses,
Sie war von dir. Du fühlst es. Keine mehr
Kommt uns von dort. Die Wolke ist zerdrückt, ganz leer,
Verflucht, der wagte, mordend mit dem Wort,
Den Engelgeist, der Erde Gast, zu jagen
Aus diesem Leib! Wie Kain flieh er fort.
Weh mir, der Frühlung kam, mit süßen Tagen
Fliegt Biene mit, lebendige Flammen schlagen
Aus grünem Eidechs, goldner Schlange auf —
Und doch, dem Winde will der Hauch versagen.
Die Wellen nehmen sinnlos ihren Lauf,
Der Morgen steigt mit rotem Haar: Wen weckt er auf?
Dann wieder sinkts herab, ein Glanz zum Mund,
Zum Mund, der sonst wie roter Blitze Klingen
Durchs wache Haupt bis in den weichen Grund
Des Herzens wußte ganz hindurch zu dringen:
Doch diesem späten Kuß kann nichts gelingen.
Durch eisige Lippen wie Kometenschein,
Durch dunklen Körper, schweift er, zu verblinken.
Dann kommen Andre. Alle. Lange Reihn
Gleich Nebeln auf dem Morgenflusse ziehen ein.
6$i Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley
Es naht der Wunsch, verstrickt in Lust und Scheu,
Beschwingter Glaube und verhallte Schickung,
Mit seufzenden Kindern langsam Furcht und Reu,
Der Jubel blind, doch mit des Lächelns Blickern
Geliebtes viel. Gesichte viel, sie nicken.
Als hofften sie von ihm noch auf Gestalt.
Berghirten kommen, Kleid und Kranz in Stücken,
Und Pilger der Unsterblichkeit, Gewalt
Des Ruhmes festigt sie wie Himmel Erde ballt
Und Einer unter den Geringem geht.
Befremdende Erscheinung, ungeleitet.
Wie letzte Wolk verhauchenden Sturmes weht
Und Donner in die Stille übergleitet
Sein Auge, wie Aktaions, aufgeweitet,
Es ist, als sah er nackt, ganz nackt Natur
Und suche nun erschüttert Wüsteneien —
Gedanken, bellend, ruheloser nur.
Verfolgen wie ein Wild des eignen Vaters Spur.
Ein Geist gleich Panthern farbigschon und schnell,
Liebe gehüllt in Kummer, Kraft mit rauher
Ohnmacht so breit gegürtet Überhell
Wie sterbende Lampe. Zornig auf der Lauer
Liegen die Stunden. Kurzen Regens Schauer.
Indeß wir sprechen, frierts ihn nicht zu Eis?
Verlassnes Tier in abgehetzter Trauer
Um seine Herde. Wenn die Wangen heiß
Das Leben überfliegt, das Herz jedoch sinkt weiß.
Sein Haupt von Blumen, die verblühn, umrankt.
Ein Speer an tauigem Efeuband getragen,
Gekrönet vom Zypressenzapfen, schwankt
In seiner Hand, so wie die Hand vom Schlagen
Der Pulse zuckt, die kaum die Schläge wagen.
Er kommt zuletzt Die wunde Stirn liegt bloß.
Die Andern stehn und lächeln unter Klagen:
Sie kennen ihn, der dort erschauert groß
Und in des Andern Tod enthüllt sein eignes Los.
Alfred. Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley
Doch stille, Adonais ist nicht tot.
Wir sind es 1 die in flinker Fäulnis hausen.
Am hellen Tag der zehrenden Hoffnung Brot
Wir sind es, lassen wir mit trägem Grausen
Ein geistig Schwert durch Nichtigkeiten sausen.
Bekämpfend ziellos ein Gespenstgesicht
Er aber wacht Der Fülle Stürme brausen
Um ihn. Der Tod ist tot, nicht er. Klagt nicht.
Du Frühe, deinen Tau verwandle in froh Licht!
Er wurde eins mit aller Welt. Im Ton,
Der dröhnt, im Ton, der sirrt, ist er zugegen,
Rings in Natur, in Stein und Pflanze wohnt
Er mit der Kraft, in die er wie ein Regen
Zurück floß, und umarmt auf allen Wegen
Die Schönheit, schöner uns von ihm geschenkt —
Zuletzt mitschaffend an des Bildners Segen,
Der schlackenlos den Stoff 7 der Welt durchdenkt
Und ihn in Baum und Tier und Mensch zum Himm el lenkt.
Sein Körper geh nach Rom. Es ist das Grab
O nicht von dir, von uns. Paradies und Wüste.
Wie Beige stehn da Trümmer auf und ab.
Um der Verheerungen Gebeine dttstem
Zypressen. Religionen, Reiche flüstern
Dir zu: Nimm unser Grab, du unser Sohn.
Geh bis zur Marmorflamme: Pyramide,
Dort unter süßer Sonne ruhen schon
Viel Junge, grüßend dich mit kaum erloschnem Ton.
Das Eine bleibt, das Viele wandelt rund.
Hell immer ist der Himmel, flüchtig geben
Die Dinge Schatten. Diese Halle bunt.
Dies von den langen Fenstern glühende Leben
Befleckt die weiße Ewigkeit. Spitz heben
Sich Türme, bis der Tod sie tritt in Grund.
Und du? Verlassncs Herz, kannst du noch beben.
Siehst dich noch um und schränkst dir Wahrheit ein?
Was Adonais ist, wie sollten wirs nicht sein?
6 34 Iwan Goü s Paris Stern der Dichter
Von allem ging die Hoffnung fort: es stößt
Nun dich an, auch zu gehn. Das Jahr vernichtet
Sich selbst. Vom Glanze Mann und Frau entblößt.
Dir winket nur, was dich zugrunde richtet
Doch jenes Licht, das rings die Welt umlichtet.
Die Schönheit, die vom schweren Fluch erlöst.
Die Liebe, die sich Luft, Tier, Mensch erdichtet:
Ist Glut, nach der euch dürstet, — die mich weiht
Aufzehrend letzten Dunst der kalten Sterblichkeit.
Die Seele, die ich rief, steigt in mich ein.
Weit fort von Land, weit fort von Angst getrieben.
Die immer wollt dem Sturm nicht Segel leihn.
Spürt nun mein Geist sein Boot durch Donner stieben.
Auf sind der Erde Massen. Auf die sieben
Himmlischen Sphären. Dunkel hingeneigt
Fahr ich — Doch mir entgegen, mich zu lieben.
Ein Stern vom innersten der Himmel zeigt
Die Heimat, wo der Weg zu ewigen Geistern steigt.
PARIS STERN DER DICHTER
von
IWAN GOLL
Tj lektrisiertes Paris:
1 j Du bist die Dame aus rosa Papier, oder rot oder violett, je
nach dem Stand des Barometers auf den Neujahr-Postkarten, mir
Liebe oder Einsamkeit bringend.
Du bist die Kartenlegerin, im dritten Stockwerk links, mit mystischer
Siam-Katze auf dem Klavier, die den kleinen Liebesanfängerinnen
einen blonden Matrosen oder bärtigen Herrn verspricht, je nachdem
Karo-Bube fiel oder Pik-König.
Du bist die falsche Indianerin, die auf der Messe des Boulevard
St. Jacques mit zwei kupfernen Haltern des Elektrisierapparates mißt,
wie groß mein Herz heute ist.
Du bist die feine Dame in Chinchilla, die im Vestibül der Hotels
meublds, neben der Stechpalme und dem verschwiegenen Lift die
Iwan Goüj Paris Stern der Dichter 635
großen Wunder zerstört, weil das rote Strumpfband zu schnell auf¬
sprang.
Du bist die blasse Daktylo, ganz ohne poudre de riz, enge be¬
dachte Bürgerin, unerreichbar, und darum am meisten geliebt.
Nein: du bist die dreißigjährige Frau, von der ich als Jüngling
träumte: matte hellbraune Schultern, lange, lange Augenbrauen mit
Sentimentalität darunter, Origan de Coty, türkische Kissen, und der
Gemahl immer im Ministire de la Marine beschäftigt.
Oder bist du die ärmliche Klavierlehrerin, verwaschener Gummi¬
mantel; die in der Salle Carfee des Louvre auf mein imaginäres
Rendezvous täglich wartet? Und ich war noch nie im Louvre!
Schade. Sonst wären wir zusammen zur rive gauche zurückgewandert.
Und hätten in der verkrümelten rue St. Sulpice nach alten Erst¬
auflagen und jungen Dichtem gesucht, beides vergebens.
Silhouette des Pantheons im Regen: steinernes Karussell, auf dem
die Statuen aus Erz statt der Holzgäule kreisen. Es blättert roman¬
tische Tünche von den engen Gäßchen mit solchen Namen: Rue du
cheval vert oder Rue du bon Dieu — Seminaristenpelerinen. Katholische
Armeelieferanten. Blau-weiß-rof. Irgendwo lebte Marat: ein Märchen.
Um das Hotel des Grands Hommes scharen sich die edlen Fenster,
hinter denen kleine Familien ans Heil der Sorbonne glauben. Für
diese Menschen ist Paris noch die größte Präfektur Frankreichs.
Der Boulevard St. Michel ist längst boul’ mich 7 nicht mehr. Stu¬
denten der Mansarden sind Requisit. Die kleinen Mädchen Charles
Louis Philippes wissen schon, daß die Chinesen eine gute Valuta
haben. Im Cafe de la Source tunkt Marie Donadieu ihr Herz in
Kaffee. Und der Vater auf dem Lande freut sich ihrer geistreichen
Briefe. Jardin du Luxembourg: Wald der angehenden Dichter. Deine
Sonnenuntergänge rein wie Alexandriner von Hugo. In den Teichen
fahren die Segelbötchen bis nach Madagaskar. Efeu der Fontaine de
Medicis, von dem auch Murger ein Blatt gepflückt hat! Im Schoß
der Göttinnen leben die Ratten von den Kuchen der Liebespaare.
Schicksal schlendert durch die Alleen.
Du hast noch soviel Zeit zu verschwenden. Man muß an die Seine
gehen, die Mutter von Jahrhunderten. An ihren Zitzen wurde die
kleine Kokotte groß. Romantik der Mttllablagen: du bist die reine.
Im Justizturm werden Kommunisten bedroht. Der Gefängniswagen
über den Brücken der Zeit, mit dem bärtigen Schutzmann im Schnee
6 3 6 Iwan Goll, Paris Stern der Dichter
ist Tradition. Die alte schwarzangestrichene Tramway Lcs Halles-
Malakoff im Begräbniszug der Madame Jules. Unter den Brücken
angeln kleine Rentner nach dem silbernen Rotaug. Da ist das könig¬
liche CMtelet, dessen damastene Logen für Metzgerinnen und Ver¬
sicherungsagenten des Nachkriegs nicht zu kostbar sind. Morgen, in
den wurstbehangenen Hinterzimmem, träumt das dicke Herz vom
indischen Lord. Der Diamant am Mittelfinger brennt. Nichts ist so
republikanisch wie der Boulevard Sebastopol. Etwas Zola gefällig!
Ich will Artides de Paris den Deutschen und den Negern verkaufen;
oder auch nur auf der foire de Neuilly. Damit soll man Millionär
werden können. Man biegt links ab, dann rechts in die rue Saint
Merri.
Salut, Apollinaire:
II s’arreta au coin de la rue Saint-Martin
Jouant l’air que je chante et que j’ai inventd
Les femmes qui passaient s’arritaient pr&s de lui
U en venait de toutes parts
Lorsque tout-ä-coup les doches de Saint-Merry se mirent a sonner.
Das bist du: Apollinischer Troubadour dieser armen BUrgerstadt Du
hast hundert blaue Augen an deinen Mantel gesteckt, Dichter, wie andere
Blumen und goldene Pailletten zum bal masqul der Welt anstecken.
Ein Liebesgesang ist Inhalt deiner Alltagsstraßen. Der Poet lächelt
die Menschen entlang. Er blitzt sie an und nimmt sie auf in sich:
Scheibe des Autobus, in der die Häuser nach oben und nach unten
wackeln, Avenuen in den Himmel projiziert, Laternen wie Meteore
herumgeschleudert, Figuren im Tempo gerafft, hier eine, eine hier.
Je chante toutes les possibilitls de moi-meme hors de ce monde
et des astres.
Zu einer Zeit, wo das Kino existierte, aber noch nicht auf eine
Kunstformel gebracht war: ein Werk aus der Summe der Bewegungen
gebaut Ein Herbststrauß von verkniffenen Lächeln, unmöglichen
Zornen, armseligen Schmerzen. Flaneur in der Philosophie des Alltags.
Ewigkeit durch das heutige Mittagessen dividiert Die Klugheit des
kleinen Manns poetisch statuiert So eine seltsame Güte konnte noch,
ohne Hintergedanken, in dem gutmütigen Paris des Vorkriegs — jetzt
eine Märchenwelt — existieren.
Mais nous qui mourons de vivre loin Tun de l’autre
Tendons nos bras et sur ces rails roule un long train de mar-
chandises.
Iwan GoUj Paris Stern der Dichter 6 37
Und eines Nachts, da die Sterne über den Quais beflügelt sind,
heimwandemd nach Auteuil, fügt sich tausendfaches Erlebnis zu dieser
einen Dichtung „ZAnc“, Inschrift diesem zwanzigsten Jahrhundert.
Leben und Lyrik müssen romantisch sein: es ist immer noch Zeit,
es einzusehen. Erschaffung der buntesten Ibisse oder Pihis. Jauchzen
Gottes. Vertriebener Juden gekauerter Schmerz in der Gare St. Lazare.
Alles und das einzelne. Ein seltsam warmes Herz in Papier wickeln
und einer armen Frau in der Metro schenken.
Nur ein dicker Mann kann ein großes Herz haben und ein guter
Onkel sein. Die Dünnen lassen die Welt büßen für ihre Magerkeit.
Apollinaire litt nicht um des Leides willen. Denken Sie sich einen
Heine vor einem dampfenden Gänsebraten, von sieben Spektral-Weinen
umlodert. Undenkbar. Das ist Guillaume. Kein Franzos von Geburt,
deshalb der erste wahre Liederdichter französischer Sprache. „La
chanson du Mal-Aimä“, „Pont Mirabeau“, „Rhdnanes“.
ln dieser Zeit geistern Picassos Pierrots um Montmartre. Dieses
Paradox: seelenhafte Gentlemen. Gar nicht maskiert, nur sentimental.
Zivilisiert, sehr zivilisiert. Die Marie Laurendn führte ihre rosa Rehe
auf den kleinbürgerlichen Hügel. Es war sehr innig, als es noch
keine Theorien gab. Und das war vor dem Krieg.
Der Rue Ravignan, in der alle zusammen lebten, ist nur Max Jacob
treu geblieben. Letzter Ort, wo heute noch Frühling ist. Wo an
einem Regentag plötzlich lilaroter Flieder aus Mauern brennt. Und
über ein zersplittertes Tor hängt italienisiert ein Feigenbaum. In
diesem Dorf ist noch nicht von Europa die Rede. Im kandiszucker¬
weißen Sacrä-Coeur wird noch täglich der Prophet erwartet, und das
Glöcklein des Angelus klingt lerchensilbem.
Halt: geh nicht fünf Schritte weiter.
Rue Pigalle, da habens die Nelly-Bars gut. Die echten Argentinier
verstehen sich auf Veuve Cliquot. Die Anlage dieser glücklichsten
Straße der Welt ist methodisch schattiert: 1 Dancing, 1 Hautarzt,
1 Bar, 1 Hautarzt usw. Man spart die Autokosten. Die roten
Knospen gedeihen bei Zentralheizung prachtvoll. Und warum gäbe
es unweit davon nicht die Rue des Martyrs? Das Tabarin proklamiert
die Nacktkultur. Sehr alte Fleischerinnen tanzen dort den sehr alten
Can-Can, besonders für irische Offiziere erfunden. Von der Galerie
herab funkeln die Friseure. Kühl sind die Augen der Garderobiere
und die Lippen deiner Tänzerin. Das Moulin-Rouge mahlt, mahlt
Iwan Gollj Paris Stern der Dichter
8
alle Herzen zu Blutwurst. Im Kriege brannte es symbolisch ab: die
Wurst Fabriken wurden an die Front verlegt. Jetzt blfiht das Geschäft
wieder. Die amerikanischen Don Quichottes lenken ihre 80 HP-
Rosinanten erfolgreich dagegen. Jede Lanze trifft in die Mitte. Die
Seidenstrumpf-Fahne flattert über dem Kastell. Die Lune Rousse hangt
tief in die Stadt und verfährt Verbrecher. Niagarafalle des Jazz zum
Tanz der Neger auf der Place Clichy . ..
Du gehst die fünf Schritte nicht weiter.
Gabrielle heißt die Straße, in der Max Jacob jetzt seine täglichen
Gedichte schreibt. Ist er ein Mönch, wie man behaupten will? All-
morgendlich, bevor der Milchmann kam, begibt sich dieser galanteste
aller Monokelträger in den kleinen Vorhof des schneekalten Sacrd-
Coeur zur Beichte. Daß so viele mißratene Verse eine SQnde seien,
war nicht von Priestern vorgesehen. Der Dichter gibt der braun¬
äugigen Diana den gerundeten Arm und lädt sie ein zum Seligsein.
In seinem Geist ist Salz wie in der bretonischen Luft, aus der er
kommt. Wellen treiben seine Verse, rauschen gekräuselt in rührendem
Rhythmus. Man weiß nie, wie beim Meer, wo sie beginnen und
enden. Sie brauchten das auch nicht zu tun. Am Meeresstrand, im
Sand, der Gedichte sind bunte und perlmutterne Muscheln, kleine
Witzchen, wie Goldfische, die sich als Walfische aufwerfen. Das
Lächeln Max Jacobs hat nichts zu verbergen. Sein Organ hat keinen
neuen Rhythmus erfunden. Plätschern. Aber er stammt aus der
heroischen Zeit Apollinaires und seine Romantik ist die pariserische
der blauen Pierrots. Alle fünf Jahre schreibt er eine Poetik: das
kommt, weil er arm ist und Zeit hat. Heute haben nur die Armen
noch Zeit, über etwas nachzudenken.
Der Flieder gegenüber seinem Haus färbt ab.
Die Rue Cortot ist holperig wie der Weg nach Bosco (Tessin),
kein romanischer Garten. Holzveranden. Die Hinterwand, blau an¬
gestrichen: war’s eine Wand oder der Himmel, ich weiß nicht mehr.
Hier hört man die ferne Sonne aus den Nachtfabriken der Vororte
aufsteigen. Hier gibt es noch kindlich plauschenden Regen, der redet,
um gar nichts zu sagen. Türen, die mit grauen Flügeln auf- und
zugehen. Ein Dach ist eine Persönlichkeit mit allen schattierten Ge¬
fühlen eines Alltags. Geräusche sind so metaphysisch geklärt: — So
dichtet Pierre Reverdy.
Jeder Dichter hat eine besondere Materie als Sprache. Der Vers
Iwan Goll> Paris Stern der Dichter 639
der Parnassiens war aus Bronze. Der der Klassiker Marmor. Heredia
schnitt in Elfenbein. Apollinaires Stil ist Porzellan. Es gibt Dichtungen
aus Ebenholz, am Blech, aus Glas, am Lehm.
Pierre Reverdys Verse sind Wasser. Vom klarsten Quell der Natur
geschöpft. Wasser, perlend frisch, vom Gletscher der UrgefÜhle ge¬
löst. Indes, subtiler Chemiker, (und ohne Alchimie) verwandelt
Reverdy seinen Stoff bald in wehenden Dampf, bald malt er Eis¬
blumen an den Himmel. Dann wieder regnet es Seele und entlaufen
uns Wolken der Hoffnung. Man trinkt, und dies erreicht Reverdy:
man trinkt seine asketische Mischung und wird entwöhnt aller
Alkohole und Limonaden. Kein Ardfice, kein Nachgeben mit Parfüm
und Geschmack: Reinheit der Sprache, Reinheit des Dings. Aller¬
dings: dies Wasser ist kein Stärkungsmittel, kein Vichy noch Appollinaris,
und wenn das Buch geschlossen ist, bleibt kein Trost für morgen.
Diese Dichtung ist einmalig, ganz auf eigene Substanz basiert, ohne
Anlehnung: einmalig wie der Apfel, den wir aßen, das Wasser, das
wir tranken. Kein Vers bleibt bis morgen auf der Zunge. Rasch
versiegt. Und wenn in der Nacht ein Traum um die Kehle dörrt:
nicht Reverdy wird es sein, den wir rufen.
Draußen ist gemeiner Sonntag.
Sacrd-Coeur, ein Ausflugsort für die Pariser.
Drahtseilbahn. Aussichtsturm. Fernrohre (man entdeckt die Ruine der
Oper, den Käfer des Invalidenturms und dort die Libelle des Eiffel¬
turms). Postkarten, schlimmer als in Lourdes oder Baden-Baden,
Christi Berlocken und Hlg. Marientaschentüchlein, von Ehrenlegionären
feilgeboten oder dem Mütterchen, das in der Klinik des Tabarin nicht
mehr zu heilen war, und deren Nase und Auge von ausgelaugter
Liebe tropfen.
Aber Skyskraper bedrohen schon den letzten Hügel der Musen. In
einem solchen wohnt Paul Dermle mit seiner Gazelle Clline Amaul d,
deren Gedichte schon unromantisch sind, wie Eisenbeton zwischen
Gänseblumenwiesen.
Wieviel weicher und lyrischer ist Marcel Sauvage, der aus Liebe zu
seiner Stadt täglich sich auf den Autobus „Montmartre-Saint-Michel“
hißt, und dort, alle Stimmungen modernen Erlebnisses stenographierend,
seinen Versband „Voyage en Autobus“ nennen konnte.
Der Grieche Jean Morias hat der französischen Poesie die Radnesche
Reinheit wiedergeschenkt Der Pole Kostrowicki hat als Appollinaire
Iwan Goü 3 Paris Stern der Dichter
640
des „Lieds“ ungebundene Schwalbenhaftigkeit gelehrt. Fremde waren
es oft (und Oskar Wilde schrieb seine „Saloml“ auf französisch, und
d’Annunzio mehr als ein TheaterstQck), die aus der Musikalität des
französischen Ausdrucks mehr machten, als schöne Reime: Dichtung,
kosmische.
Crdation pure ist die Forderung, die der Chilene Huidobro an
sich und alle stellt „L’art est l’humanisation de la nature.“ Nicht
schildern und kopieren, was da ist, sondern mit dem Attribut des
Menschlichen ausgestattet neue Daseinswerte schaffen. Dichtung ist
auch einer. Dichtung ist Erschaffung einer neuen menschlichen Natur.
Kunst soll menschlichem Gefühl ganz entstammen, wie jener Vogel:
dessen Glieder Kupfer, dessen Herz Elektrizität, dessen Rumpf Holz,
dessen Flügel Seide, dessen Füße Gummi sind.
So wird des Dichters Wort metaphysisch ganz aus menschlichem
Geist Natur und Alltag menschliche Begriff:.
Auf der gleichen Kurve des Globus tanzt ein anderer Lyriker:
Pierre Albert-Birot. Er steht nie an einem bestimmten Ort der Welt,
weil dieser überhaupt unbestimmbar ist. Höchstlyrische Empfindung des
Überallseins. Lyrik ist Relativität — Relativität ist Lyrik.
Birots Gedicht ist ein Operngucker: kleiner perlmutterner Schmuck
in der Hand, mit den zwei unendlichen Möglichkeiten, zwischen denen
der Mensch steht: makrokosmisch im sicheren Sternall Adler zu spielen,
oder umgekehrt, die dicken Linsen ans Auge haltend, der Realität
göttliche Wurmhaftigkeit und Kleinheit einzusehen. Ein gutes Ge¬
dicht ist immer entweder: Projektion des Kleinsten ins Größte (Ge¬
legenheitslyrik) oder umgekehrt (Kosmische Lyrik).
Die Natur, inbezug zum Menschen, ist doch an sich schon Metapher.
Warum also in einer Beschreibung umschreiben? Die Natur, mit
dem „Wort“ ausgedrückt, ist das nicht grundlegende Funktion der
Kunst? Gott war der erste, der größte, der einzige Dichter. Die
Tatsachen: Wese, Lerche, Löwenzahn, sie nachzuschafien ist vielleicht
albern? In diesem Fall bleibt demütige Einfachheit allein Trumpf.
Birot setzt die Dinge der Welt auf Papier über, wie sie sind. Und
sonst schweigt er. O Schweigen, wenn das ein Dichter kann.. Von
einem liebenden Paar sagt man, daß es schweigt, wo es sich am
besten und ganz versteht. Birot plauscht und redet nicht in seinen
Gedichten. Pathos ist Gift für die Lyrik. Er spielt mit der Welt wie
mit einem Baukasten, wirft sie immer um und baut sie immer von
neuem auf. Er schneidet Sterne aus seinen Papierbogen aus. Die
Iwan Goü } Paris Stern der Dichter 641
Meridiane wirbelt er um den Zeigefinger. Seifenblasen der Planeten:
denen man ja sowieso nicht länger als zwei Minuten nachschaut.
Dann, beim Abschied, steckt er einem „31 poemes de poche“ in die
Tasche, und das Büchlein hält die Wage zum Portefeuille an der
anderen mit den blauen und grünen Banknotengedichten. Mit diesen
ereilst du in einem Mercedes-Auto Nizza in einem Tag, aber mit den
weißen Blättern Birots den Saturn viel schneller.
Heute ist Gott eine Frage der Pferdekräfte.
Rimbaud II., ewiger Vagant, als Prinz des Geistes geboren, den
aber ekelte Krone und Geist, und der nicht weiß, ob er König von
Paris oder Abessinien lieber wäre, von Sehnsucht nach einer Feme
getrieben, die es nicht gibt, und dabei mit solcher Wut die Sentimen¬
talität der anderen und des Lebens verdammend, der man anmerkt, daß
er selbst ihr Knecht ist, in welchen Hafen, in welches Dorf er flüchten
mag: Blaise Cendrars! Als Europäer sind Sie schon geboren: eine
Mutter in der Schweiz, zwei Freundschafen in Paris, Vater in Ru߬
land, ein Kind in Rom und in Newyork, und überall „le mal du
pays!“
Je suis en route
J’ai toujours iti en route.
Doch immer wieder kehrt Cendrars nach Paris zurück. Acht Tage
Freund um Freund, und die braunen „Turin sec“ fließen die Cafös
entlang. Tanz im Atelier Brancusi. Vertrag mit einer Aerobusfirma.
Abfährt. Dieser Dichter hat seinen Zeitgenossen voraus, daß er säuft.
Der Chinese sagt bildlich, zum Ausdruck einer Freude: laßt mich
hundert Glas Wein trinken. Sowas ist zu allen Zeiten und sogar
für den kitschigsten Horaz ein Plus gewesen. Den Modernen rettet
diese Art Naivität des Genusses vor sonst zu trockener Cerebralität.
Darum ist Cendrars elastischer und ein reinerer Tänzer als der
Italiener Marinetti, der Amerikaner Sandbury oder der nur seelen-
besoffene Deutsche Ehrenstein.
Mit Intensität des Telegraphenfunkens ballt sich das Geschehnis.
Die Wort-Individualität in höchster Machtentfältung löst sich aus dem
grauen Getümmel der Satzgefüge. Und das ist Dich-tung. Was uns
am tiefsten ins Blut springt: die Depesche mit drei Worten der
Liebenden, des Vatertodes oder des Kaisersturzes. Drei Worte er¬
schüttern dich mehr als drei Seiten: aber was für Worte: lavaheiße,
weißerhitzte Eisen, volkentquollene Schreie. Oder plötzlich auch die
4 »
6 +i Iwan GoüParis Stern der Dichter
basalen Titel eines Abendblatts, die du dreihundertsechzigmal mit
Suppe aßest, und die diesmal dein Hirn anglflhn, weil ein Dichter
sie auf seine Weise modulierte. „Die alte Logik der gedachten Satze
wird durch die dichterische Assoziation verdrängt“: so deutet Jean
Epstein das Phänomen des neupoetischen Stils in seinem bedeutenden
Buch: „La polsie d’aujourd'hui: Un nouvel dtat d’intelligence.“
„Le critdrium de vdritd littdraire dtant devenu la ressemblance avcc
la persde-associadon, la logique rationelle se trouve bannie de la
Iittdrature.“
Aber in einem Brief an den Verfasser jenes also subtil-wissenschaftlichen
Werkes zeichnet Blaise Cendrars sich und den Willen seiner Zeit
akuter:
„Construction, simultanisme afrtrmation. Calicot-Rimbaud: change¬
ment de propridtaire. Affiches. La fa^ade des maisons mangdes par
les lettres. La rue enjambde par le mot. La machine moderne dont
l'homme soit se passer. Bolchevisme en action. Monde.“
Aber zwischen den alternden Armutsparadiesen Quartier Latin und
Montmartre rauscht heute der Boulevard des Italiens. Diese Milch¬
straße von Europa, und zwar aus kondensierter Nestle-Milch. Auf
einen Kilometer zehn Millionen Kilowatt konzentriert.
Affiche am Neubau, ein großes M hakt deinen Blick an. ,»Lc
Pneu Michelin use la route.“ Welch ein Argument greift in deine
Gedanken. Ein grauer Autoreifen, ein Kautschuk-Meridian rollt um
die Erde, rollt unendliche weiße runde Landstraßen lang, frißt sie auf,
eine nach der andern: der Pneu, der Pneu rast durch die Welt: ein
letzter Reif, durch den der Sonnen-Clown springt...
Boulevard:
Films laufen über die Wände. Charlot stiehlt einen neuen Winterhut
im Schaufenster. Menschen aus Stein, Frauen aus Stemgewebe, Urwald
wächst im Makadam! Das Heiratsbüro hat geschlossen. Herr Poincard
läßt sich einen Zahn plombieren. Im Birkenwald der Photographie
nimmt ein Fräulein Pyramidon ein und kann nicht sterben. Der
letzte Autobus flieht aus Cythera!
Dichtung steht an die Fenster des „Matin" projiziert. Eine
prophetische Hand verkündet die Dramen der Welt. Dieser rote
Palast ist wichtiger als der Louvre. Journalisten schattieren das Profil
der Zeit, und ihr Linoleumschnitt schneidet den Himmel in kleine
Gravüren auseinander. Die Epopöe rollt aus der Rotationsmaschine.
Iwan Goü 3 Paris Stern der Dichter 645
Der Redakteur Andft Salmon, abgesehen davon, daß er von Departe¬
ment zu Departement rast, um die Morde und vitriolierten Lieben
der Kleinbürger zu reportieren, schrieb „Prikaz“: Poem der russischen
Revolution: Mosaik von noch elektrisch-zittemden Telegramm-Nach¬
richten, abgestandenen Reise-Erinnerungen, Phantasie der den Boulevard
erschütternden Extraausgaben. Auch dem „Age de l’Humanift“ merkt
man an: Andrl Salmon wäre ein Revolutionär, wenn er nicht einen
so schlechten Magen hätte. Aber er ist ein Gaukler auf Lokomotiven,
ein Gelehrter der Fahrpläne. Er lebt von der Hand ins Hirn.
Windhund, der aus dem Alltag die Trüffeln der Weltgeschichte klaubt
Sperber, seine Generation überflügelnd, und immer auf dem Fluß
obenan.
Dem allzukurzen Heute verkauft, überließen so viele neue Dichter
Frankreichs den Russen und Deutschen die Ehre der Revolution.
Sie sahen die Wahrheit erst nach dem Krieg ein. Vielleicht waren
sie echter, urwüchsiger: sie liebten das Schauspiel der Schlacht:
Apollinaire besang die Sternenbilder der Gasbomben, Cendrars das
Lustgefühl des Bluts und Pierre Drieu la Rochelle das männliche
stierische Brüllen, wenn Rümpfe sich bäumen. Drieu, der Mann.
Der fest Schreitende. Der genau weiß, was los ist. Der alle Tradition
dem Kleiderhändler verkauft. Der dem ersten Revolutionär der vierten
Republik, Raymond Le ft b vre, die bronzenste Biographie schrieb.
Dessen Name erst morgen klingen wird. Der in Paris nicht die
Parfümeriegeschäfte, sondern die patinaalten Kasernen weiß. Der
Bildhauer.
Ich wandere weiter.
Garde Rlpublicaine, sittsame Männer, mit Pferdeschweifen am
Hinterkopf, und langen Artilleriemänteln im Schnee: ihnen verdankt
der Präsident der Republik seine Königlichkeit.
Martiale Republik.
Aber abends, im Dienste der Kammergesetze, stehen sie vor den
Folies-Bergere und machen Reklame für den Eintritt in die Ver¬
gnügungssteuer.
In den Ministerien wimmeln die Dichter. Nach Paul Claudel
wird auch Paul Morand einmal Gesandter in Peking sein. Dahin
paßt er: seine Augenbrauen sind sehr mongolisch geschnitzt.
Bis dahin machte er sich boshaft über Europa lustig. In lyrischer
Bildhaftigkeit: also immer diplomatisch. Wie das Ankurbeln eines
<*44 /w<7« Goü } Paris Stern der Dichter
Motors, Mund gepreßt. Arm gestrafft, Ruck: schon singt die Maschine:
Gedicht. Und der Anfang der Arbeit ist schon der Endeffekt. Wich*
tig der Angriff. Wichtig die ersten Striche, Vierecke, Substraktionen
des Ingenieurs auf dem Plan einer Straße: nicht die Straße selber.
Wir lesen Wetterberichte von einer Tafel, Kurse von einer Kurve,
Romantelegramme aus Strich und Punkt: ein Gedicht von Morand
aus Lichtsignalen. Alle Säuren, Gase, Öle, Winde, alle Rohprodukte
der Natur und der Kultur liegen seinen Medikamenten zur Basis.
Seine Mischungen sind streng antiseptisch. Er arbeitet aus Liebe zur
Arbeit, nicht aus Liebe zum Menschen. Wie alle Chirurgen. Seine
Poesie eine Blinddarmoperation: denn alles ist faul, was unter sein
Federmesser gerät. Und dazu lächelt er freundlich, und findet alles
charmant: der Dichter hilft dem Diplomaten. Oder umgekehrt?
Der Frühling der Tuilerien heilt vieles auch.
Der Gärtner in diesem Frühling.
Die Individualität dieses Volks, wo jeder persönlich flucht und
nicht in Massen (wie bei den Deutschen), weil jeder persönlich denkt
und nicht in Massen. Dieser Mann, als er um sieben Uhr in der
Untergrundbahn herfuhr, las im Matin oder in der Humanitl nicht
nur die Eseleien des Finanzministers, sondern auch den Artikel über
Edison. Er geht nie in Meetings, aber er ärgert sich doch über die
Dummheit der Politiker. Eines Morgens, ohne vorher Europa zu be¬
nachrichtigen, wird er das Tulpen beet stehen lassen, und links um
die Ecke das Auto des Ministers anhalten.
Aber heute sind die Tuilerien noch ein Kunstwerk. Und der Place
de la Concorde ein Juwel, ein weißer Diamant, in dessen Facetten
die Brunnen der Sonne springen, oder die blendenden Augen der
Nächte, die Perlen am Hals der Margarinekomtessen chez Maxim's.
Aber da bist du, verzognes Paris, hier „Madelaine", Kirche mit
griechischem Porticus, da „Madeleine und Madeleine“, Schneiderinnen
der schlanksten Schönheit, Parfüms von Bichara, seidener Wind,
Fliederbuketts der Duchesse d'Uzfcs, weißes Auto der Tantiemendichter,
Dancing der billigen Nymphen — über euch, am Kupferdraht der
Bogenlampen, auf einem Seil a 1000 Volt tanzt Jean Cocteau, der
mit Strohhalmen das Blut der Wölfin schlürft, und sich ewige Jugend
als Preis seiner Liebe ausbedang. Seit vielen Jahren erfüllt ihm die
Zauberin seinen Wunsch. Nervöser magerer Apoll, der seine In¬
spirationen, die allzu gewaltigen, mit Aspirin dämpft. Seine weißen
Knaben saugen Coctailmilch. Dafür haben eigene Bars sich gegründet:
Iwan Goüj Paris Stern der Dichter 645
Coc- Jazz- Bands, und der Firmentitel ist der eines seiner Balletstücke —
^le Boeuf sur le Toit“. Samstag abends, im Tam-Tam knöcherner
Trommeln und Zigarrenschachtelschnarren setzt er sich auf den vio¬
letten Flügel und singt auf einer blechernen Flöte, deren Gesang aus
dem Tumult des Tango, — unwirkliche, rosige Venus — aufschwebt,
Nlirakel neuer Musik, göttliche Stimme über der Stumpfheit der Welt.
Seine Dichtungen auch sind Stimmen über der Dumpfheit der
Welt. Genuß einer kristallenen Rose auf geschminkten Lippen. Hin¬
gabe mit elfenbeinernen Fingern. Aber dazu der konzentrierteste,
durch Jahrhunderte gekelterte, akuteste esprit, der esprit, fine Cham¬
pagne ä trois Itoiles, die beste Blüte Europas. Etwas ganz Seltenes,
ganz Letztes, Oxydation einer Urmaterie, die nur die Krankheit einer
nikotinisierten Epoche hervorbringen konnte: Schlußakkord einer
Zivilisation, deren letzter Trumpf, die Einfachheit ist. Vier Uhr früh.
Zwischen Gott und Tier. Zwischen Stern und Hering.
Nachher klingt die Sirene der Außenviertel.
Das Haar der Frauen rostet.
Nachher ward das Nichts.
Dies Wort, das am Anfang der großen Orientkultur ist, beendigt
die westliche Agonie. Verwundete wie auf den Schlacht- und
Kartoffelfeldern, die Eingeweide hängen uns heraus, und wir stapfen
darin, unsere Füße stolpern. Vom Alkohol der Selbstironie besoffen,
schreien geistige Selbstmörder das Anathem gegen den goldenen Wurm.
Allgemeines Sternkotzen. Man hebt diese papiemen Sterne auf, und
es sind Zeilen von Ribemont-Dessaignes oder Philippe Soupault, immer
nur Zeilen, die wirkungsvoll blenden, aber uns Hunger machen.
Es wird gewiß bald eine Kinosprache geben.
Es wird eine Radiogramm-Lyrik geben: die einzig lesbare zwischen
den Ärobusstationen: Madrid-Siam.
Aber eine schreckliche Epidemie des Zweifels, schlimmer als Grippe,
bedroht unser heutiges Herz, und daran sind die Diplomaten teilweise
schuld. Auch die Poesie geht durch den Magen. Wenn auch ein
dicker, fetter Lyriker ein größeres Monstrum ist, als ein magerer und
unterernährter Bankier: Pyramidol schwächt die Seele.
Es gibt Leute, die das Heil im Sport suchen.
Eichenlaub um das amerikanisch geschnittene Haar wird auch ein¬
mal wieder Europäer krönen. Aber es kommt letzten Endes nicht
auf den Sport, sondern die Muskeln an, die der Heutige gegen Nerven
preisgab.
646 Iwan GoU, Paris Stern der Dichter
Auch die Lyrik kann nicht von Wolken allein leben, selbst von
Tabaks wölken nicht. Sie braucht eine Form, Stahlgerippe, Eisenbeton.
Vor einem Neubau wagt man nie, an das Haus zu denken, das
steigen wird: starben wir nicht bis dahin? Und man begnügt sich
mit den Zeitplakaten, die an den Holzbarrikaden eine staubige Leere
verdecken.
Einen Neubau versucht im „Poeme sur trois plans“ Nicolas Beauduin.
Versuch, das Soprano-Solo des lyrischen Gedichts ins Orchestrale zu
verbreitern. Der Dichter schreibt nicht mehr einen Brief, rein, von
oben nach unten, sondern wie im großen Kontobuch auf verschieden
geteilten Feldern: hier das Haben des Realen, dort das Soll des Ver¬
gleichbildes, Additionen, Subtraktionen, Striche, Saldo.
Wird einmal ein Elektrizitätswerk neuer Formdichtung dastehn?
Der Ingenieur wird einem Betriebs- und Seelendirektor weichen.
Dieser wird schlanke Ampeln, kristallene Monde schaffen mit menschen¬
erfundener heiliger Helle. Die flutende Energie der Flußstrome zu
Zentren geleitet und zu Blitzen kondensiert. Dazu gehört eine starre
Form; geometrisch-göttliches Gesetz. Uns sind Sonett und Jambus
ebenso undenkbar wie Herdfeuer und Ölkandelaber: aber den Bogen¬
lampen wird eine neue Technik entsprechen.
Paris brennt.
Die Platinnadel des Eiffelturms erglüht im Zenit, jedesmal wenn
einer in der Welt sie anspricht.
Die Liebe der Menschen ist zentrifugal.
Paris ist der Mittelpunkt. Seine Dichter ein Chor von Knaben,
die einem morgenden Genie voranschreiten. Dieses aber wird an die
Pforte des Orients pochen. Der Kubismus, der starre Prophet, kündigt
ihn schon an.
In den Straßen tanzt einstweilen das Volk.
Reklame-Indianismus.
Die Lyrik ein Artide de Paris: Parfüm Arys.
Die französischen Revolutionen fangen so an.
CHRONIK WERENWAGS
v
S echs Monate, den Winter Ober, wohnte er in den Bergen, zurück¬
gezogen, der Stadt fern, in Arbeit vergraben.
Arbeit, was ist das? Projektion des innren Chaos in Ordnung aus
eigner Kraft. Flucht ist es in eine künstliche Welt und Aufbau
dieser Welt. Ungeachtet der Worte Flucht und Künstlich gibt es
keine andre Ordnung noch eine andre Wirklichkeit. Denn selbst die
'Wirklichkeit außerhalb von uns wird erst dem zur Ordnung, der den
Willen zur Ordnung gebiert.
Es machte jung, sich so in Klarheit zu ordnen. Er lachte über
das, was sie im nähergelegenen München oder im ferneren Berlin
Politik nannten — sie bereiteten ihre Händel hinter den Kulissen so
schlecht vor, daß die offne Szene der großen Tage nicht einmal die
Bühne war, auf der das Intrigenstück glatt heruntergespielt wurde.
Schlechte Regisseure und üble Schauspieler; sie kündigten an, daß sie
die neue Pantomime Parlamentarismus einstudiert hätten, aber dann
konnten sie nicht durch den Reif springen, Hunde, die schamlos nach¬
einander schnappten.
Sechs Monate Zurückgezogenheit, hygienischer Wechsel von Schreiben
und Gang durch den verschneiten Wald, reinigten. Als der März sanft
ohne Sturm kam, die erste Drossel auf der Tanne im Abend das
Herz beunruhigte, der erste Fink der Morgenstunde das innre Ohr
lauschen machte, denn Beunruhigung und Lauschen sind im Frühjahr
die menschliche Form des lilafarbenen Knospens, war sein Mut so groß,
daß selbst das Wissen um die Gier, die Bosheit, die Lieblosigkeit der
Bauern nur ein Wissen war um Gegebenheiten der tätigen Sphäre.
Er lachte, wenn er am Eingang des Ortes die Plakate des Bauern¬
theaters sab, in dem sie alte Hierarchie denen vorspielten, die auf
einen Abend aus der illuminierten Hotellerie der Abhänge herabsdegen,
um sich vom Sektzwang beim Braustüblbier zu erholen. Korrupter
als die Bauern eines Kurortes war niemand, es sei denn die Ärzte,
die in diesem Winter ihre Sanatorien verkauften — die Sanatorien
wurden sofort als Grandhotels wiedererofinet, es brachte das zehnfache
ein. Was ging es ihn an, er war nicht Berthold Auerbach und nannte
zwölf Hodler ein Malerdutzend — für ihn war der Eingang des Ortes,
wo die Plakate hingen, der Ausgang, dahinter begann der Aufsdeg zum
schäumenden Bach, dessen Quelle auf dem Scheitel der hohen Kuppe lag.
648 Chronik Weremoags
Als die Zeit sich erfüllte, da der Heiland zu Oberammergau an
einem Theaterkreuz vor denen hängen mußte, die beim Grinsen die
Plomben aus Dollargold zeigten, räumte Werenwag seine Zimmer der
besser zahlenden Miß und fuhr zu den Preußen, Ober die Orte, die
an der Nordsüdachse lagen.
Der Himmel wurde blaß, sobald die Ebene erreicht war, und die
Häuser grau in dem Maß, als die Stadt sich näherte. Früher hatte er
die Gegensätzlichkeit von Stadt und Land geliebt und er liebte noch
immer die unvereinbaren Dinge, aber diesmal genoß er nicht seine
Fähigkeit, Unvereinbares doch zu vereinigen, indem er aus einer Sphäre
in die andre sprang: diesmal erfaßte ihn das Mitleid und das Grauen
— er wußte, in der Stadt erfüllte sich der Fluch, der auf die Kreatur
gelegt war, dieses „Im Schweiß deines Angesichts sollst du Sklave
ohne Hoffnung sein.“
Die Straßen des Bahnhofsviertels waren wie die Petersburgs, wie
die Dostojewskischer Romane. Was in diesen Häusern wohnte, haßte
sich und das Leben, die andren und Gott. Keine Möglichkeit der
Erlösung; sechzig Jahre schleppten sich die Füße über den Boden,
der mit einer harten Kruste verdeckt war und die Füße schon des
Dreißigjährigen müde machte. Wo im Asphalt die natürliche Erde
durchzubrechen drohte, kamen Männer mit Kesseln und flickten den Riß.
Im Gebirge gab es nicht Jahreszeiten in dem Sinn, daß man die
eine verwünschte, um die andre herbeizusehnen, alle waren schon —
hier stöhnte man über den Winter, und der Sommer kam spät, ohne
Freude, trübe Monate waren nutzlos eingeschoben.
Er begleitete am ersten Morgen seinen Freund beim Einkäufen.
Lädchen reihte sich an Lädchen, die Schaufenster waren ein Verschlag,
in den Äpfel, Blusen, Brote geworfen wurden, Schaufenster der Volks¬
viertel. In den Metzgerläden drängten sich die Frauen, schleifend
kamen sie in Morgenschuhen, das Netz am Arm, in der verkrampften
Hand das Papiergeld.
Nur Frauen, vor dem Ladentisch und hinter ihm — in der meta¬
physischen Stunde der Leichenzerteilung, Suppentopfkannibalinnen.
Mägde schleppten aus den unnennbaren Hinterräumen die Kübel mit
abgehackten Füßen und hielten wie Tempelmädchen in Prozession die
Weidenteller, auf denen sich die gefleckten Schlangen der Bratwürste
ringelten.
Gehirne waren Hügel und Hackfleisch war Gebirge. An den Wänden
hingen halbierte Körper, in denen Nierenfettknollen Erdfrüchten oder
Chronik Weremuags
64p
Waben intesdner Bienen glichen — vom kindlichen Schwänzchen der
Zweimeterriesen träufelte Blut, der Schoßhund der Dame mit den
Papilloten im Haar leckte es auf. Gebrühte Köpfe haben im Wasser
den Ausdruck menschlichen Leids angenommen, so blickten die Augen
gesottner Heiliger.
O Bruder Mensch, den sein Gott zwingt, den Bruder Tier zu töten,
welche Not, welche Ohnmacht über uns, welches Grauen. Nimmt die
Not zu, wird jedes Geschöpf in den Kreis des Fressbaren gezogen, —
in äußerster Not der Mensch selbst, in Rußland schlachten Mütter
ihre Kinder; spricht man es aus, knurren die Hüter der Idee.
Übelkeit würgte ihn, er trat aus dem Laden, um in der Luft zu
warten, einer Luft aus Brikettrauch, Benzindampf und gefegtem Staub.
Ein halbwüchsiges Mädchen streifte ihn, hübsche große Gonokokke,
die die Million kleiner barg. Alle Jungen in der Stadt haften den
gleichen Zug um Nase und Mund, es kam von innen, die Hefe im
Blut quoll au£ der Fremdkörper im Blut machte die Wangen schwellen
und erzeugte die laszive Geste der Umarmung.
Sie trieben es von zwölf bis fünfzig und glaubten, freier als die
zu sein, die dumm genug waren, in Büro und Fabrik zu gehen —
sie waren eingereiht wie sie, Glied im Mechanismus Stadt. Sie trieben
es bis fünfzig, dann kehrten sie jungfräulich wieder, um mit zwölf
von der garenden Hefe im Blut zum Schlafburschen, Zimmerherrn oder
Lehrjungen getrieben zu werden.
Eine Million fast zählte die Stadt, und sie besaß doch kein Gesicht.
Nicht das Gesicht, das von innen nach außen durch einen Willen,
einen Geist, eine Idee geformt wird. Sie besaß das äußere Gesicht
eines Konglomerats.
Früher einmal hatte ein König ihr ein Gesicht gegeben, ein floren-
tinisches, es war lange her und das Gesicht war erstarrt. Die Könige
waren gestürzt und dieses Volk verfügte nicht über die Kraft, ohne
fremden Zwang sich in Klarheit zu ordnen. Das schien Werenwag
allgemeinstes, typischstes deutsches Schicksal zu sein — weiches Material
wartete auf den, der es vergewaltigte. Darum hielten sie an der Monarchie
fest, ihr Instinkt sagte ihnen: wer die Macht über uns an sich reißt,
gibt uns sein Gesicht — er gibt uns ein Gesicht
In dieser bayrischen Stadt existierte weder öffentliche Meinung noch
kontrollierende Presse. Niemand wachte über bürgerlichen Rechten,
alle bekannten sich masochistisch zur Bürgerpflicht des Parierens. Wer
6$o Chronik Werenwags
über sie herrschte, gab ihnen nicht ein Gesicht, er machte es ihnen,
wie einer einem Mädchen ein Kind macht, das Mädchen sagt knicksend:
bittschon, gnädiger Herr, ich bin so frei.
Über das Konglomerat regierte der Bürokrat, das reimte sich. Ging
die Sonne auf, donnerten die Fäuste der Detektive an die Zimmer-
tttren des Hotels — seit kurzem aber auch an die der Privatwohmingen.
Das größte Blatt der Stadt, das sich, von einer unstolzen Partei nicht
abgeschüttelt, demokratisch nannte, war eifriger als jedes andre, die
Polizei zu decken; es brachte reizende Anekdoten von ihrem segens¬
reichen Wirken: die Beamten trafen eine Frau in Kindesnoten an,
ohne sie wäre das Weib verblutet. Oder: die Detektive haben eine
Haussuchung gemacht, es ist wahr, aber ihr höfliches Benehmen be¬
rührte menschlich angenehm. Aus der Hand fressen, das ist deutsch:
bittschön, gnädiger Herr, ich bin so frei.
Der Ausländer frißt nicht so willig aus der Hand, das war die
einzige Sorge, die die Gemüter im Augenblick bewegte. Denn wie,
wenn in diesen Sommer, der einen Fremdenstrom ohnegleichen
bringen soll, ein Amerikaner sich gegen die Detektive, die so höf¬
lich sind, zur Wehr setzt und ihnen endlich den Fußtritt gibt, der
ihnen gebührt? Es gäbe Krieg zwischen Amerika und Bayern; Bayern
würde besiegt und müßte das Werdenfelser Ländchen abtreten; in
Garmisch und Partenkirchen würde der Dollar eingeführt und der
treuherzigste Wunsch der Bauern wäre endlich erfüllt.
Werenwag besuchte einen Freund, der jenseits der Isar wohnte.
Schöner Fluß schäumte unter schönen Brücken, hier war weiter
Himmel und Abendwind, alsbald wurden seine Gedanken milder.
Der Freund empfing ihn in der Bibliothek und zeigte ihm die Ar¬
beit von sechs Monaten: Arbeit, sagte er, ist Flucht aus der Welt der
Gesichtslosen in die eigene künstliche Welt, es gibt keine andre Ord¬
nung noch eine andre Wirklichkeit
Vorausgesetzt, antwortete Werenwag, daß die Aufrichtung dieser
künstlichen Welt nichts bedeutet als: ein Beispiel geben, wie Klar¬
heit und Ordnung möglich sind — daß sie möglich sind. Künstlich
ist die Welt des Geistes nur insofern, als die Realität ohne das Pathos
einer Idee Chaos bleibt.
Ich bin es müde, sagte der Freund, inmitten von Deutschen zu
leben; sie zwingen dazu, unter dem Künstlichen nicht den Widerstand
gegen das Gewährenlassen zu verstehn, sondern ihm den Sinn des
Eremitenhaften und Individualistischen zu geben. Ich bin es müde,
Chronik Werewwags 651
aber ich wohne unter Deutschen, also ziehe ich mich zurück und
projiziere mich in ein Werk, ohne zu fragen, ob irgendeiner der
Gesichtslosen mir folgt, mich versteht, in mir einen Führer oder
Narren sieht.
Es fiel das Wort vom Minoritätsbewußtsein. Der Freund erläuterte
es: alles Wesentliche in Deutschland ist gegen die gebildete Masse,
ohne Kontakt mit ihr geschaffen worden. Hier wächst die Krone
nicht auf dem nationalen Stamm, sondern im Morast wachsen einzelne
Stämme. Ihre Gesamtheit ergibt über die Jahrhunderte hinweg die
deutsche Idee, aber eine deutsche Wirklichkeit war nie und wird
nie sein.
Hatte der Freund recht? Werenwag ging nach Hause. Die Bräu¬
keller leerten sich, man sah nur Betrunkene. An jeder Ecke lehnte
sich einer gegen die Wand und erbrach das Bockbier. Das Jahr
hatte mit dem Fasching begonnen, jetzt war Bockbierzeit, dann kam
die Gewerbeschau, dann die Dult, dann das Oktoberfest, dann ein
November- oder Dezemberbier, wer kannte sich aus. Hätte ein
Machiavell das beste Mittel überlegt, um diese Bevölkerung von Re¬
volutionen abzuhalten und sie zu beherrschen, dann hätte er das Bier
und das Gaudi erfunden. Sieh dir doch die Gestalten an: welche
Hirne, die von diesen Bäuchen ernährt wurden.
Das Seltsame war nur, daß der bayrische Mensch eine ganz be¬
stimmte Ideologie besaß: er hielt sich für den Mann der positiven
Werte, der Ordnung, der bürgerlichen Eigenart. Schließlich taumelten
nicht alle von der Betrunkenheit des einen Tags in die des andren,
sie hatten ohne Zweifel eine Idee der nationalen Form, die sie zu
verwirklichen wünschten.
Was war es mit der „Ordnung“, als deren Zelle sie sich priesen?
Er, Werenwag selbst, operierte mit diesem Begriff der Ordnung und
verstand darunter den Entschluß, das Chaos, dem jeder ausgesetzt war,
der das Leben nur erduldete, umzuformen — sie hier verstanden unter
Ordnung die Aussage, daß an einem erreichten Zustand, der also
auch Ordnung war, nichts geändert werden dürfe.
Der Unterschied der Auffassung war der von Beharrung und Ak¬
tivität. Im Deutschen war Ordnung ein Substantiv — er seinerseits
fühlte, daß älter und wesentlicher als das Substantiv das Verbum
war: das Ordnen erzeugte den Begriff Ordnung; Begriffebilden war
ein aktiver Vorgang.
So glaubte er dem deutschen Defekt auf die Spur zu kommen:
Chronik Werenvtags
6 $ i
wie die Substantive ihre aktive Schwingung verloren, so verlor das
deutsche Naturell seine Elastizität. Es wandelte sich nicht, wenn Zeit
war, sich zu wandeln.
Indem er an den Freund zurückdachte, sagte er: es ist gut, aber
auch gefährlich, die Gegensätze absolut herauszuarbeiten. Die Minder¬
heit — die Mehrheit, die Gesichtslosen — die Gesichttragenden, das
hat nur den Wert, eine Aufgabe zu sehn. Alle gehören zusammen;
wer weiß, wie man ein Gesicht bekommt, soll es lehren und vor-Ieben.
Als er nach Berlin fuhr, las er in einer Zeitschrift den Titel eines
Artikels: Atüncben, die dümmste Stadt. Das war kurz und bündig und
es war wahr; es gab im Augenblick keine dümmere Stadt, jeder
Blick in die Zeitungen dieser Kapitale lehrte es. Was war zu sagen?
Daß die Dummheit, die in Bayern die konzentrierte Form von ein¬
gekochtem Fleischsaft annahm, das ganze Land überspann: alle, die
bis zum Sturz der Monarchie die Macht verwaltet, übrigens auch ge¬
schaffen hatten, das ganze Bürgertum war dumm, insofern es den
Begriff Ordnung, einen unentbehrlichen Begriff, unaktiv auffaßte.
Das Land hatte einen geistigen Tiefstand wie kaum je in seiner
Geschichte erreicht.
Die gebildeten Schichten waren unfähig, sich zu wandeln. Von
den schmutzigsten Demagogen geführt, setzten sie ihre beste Kraft
daran, das Rad rückwärts zu drehen — weiß Gott, man kam in den
Zeitungsstil, wenn man daran dachte. Der Mangel an Elastizität war
der deutsche Defekt Ein Defekt der Intelligenz, der zu einem De¬
fekt der Moral wurde. Wer die Not der Zeit nicht versteht, ist
dumm; wer die Notwendigkeit der Zeit nicht versteht, wird auto¬
matisch unmoralisch.
Etwas war richtig an der Forderung der Feinde, moralisch ab¬
zurüsten — es hieß, die Ideen, Ideale, Ideologien der Vergangenheit
verabschieden, willig werden, mutieren.
Ihn befreite es, den Defekt benennen zu können. Man vermochte
die schwache Stelle eines Baues zu zeigen, man wußte, wo man an¬
zusetzen hatte. Zwar die Gegensätze herausarbeiten, aber sich nicht
mit dieser psychologischen Erkenntnis zufrieden geben. Formeln sind
nie Resultate. Resultate sind erst da, wo Impulslehre gegeben wird.
Morgens zwischen fünf und sieben fuhr er durch das Industrieland
zwischen Jena und Halle. Wo die Fabriken so flammten, die Bahn¬
höfe so hell im Licht der Kugelschalenmonde lagen, wo so intensiv
Chronik Werenvoags <*53
gearbeitet wurde, war der Dummheit eine Grenze gesetzt. Mochten
sie da unten, wo die habgierigste alJer Klassen ihre Bauernscheunen
mit Papiergeld füllte, sich mit ihrem nutzlosen Konservativismus
brüsten — in dem Maß, wie er sich Berlin näherte, schien es ihm,
daß er klarere Luft atme.
Berlin war, heute an München gemessen, die ehrlichere Stadt. Ihr
Amerikanismus mochte abstoßend sein — sie machte kein Hehl daraus;
sie lebte nicht hinter pompösen Pitdattrappen ein ideologisch ver¬
brämtes Kleinbürgerleben; sie nahm nicht den Fremden den Geldbeutel
ab, indem sie sie zugleich verwünschte; sie war nicht ein Konglo¬
merat, sie hatte ein Gesicht und trug ohne viele Worte ihr Teil dazu
dabei, das neue deutsche Gesicht zu formen. Berlin war ein dyna¬
misches Ereignis, an München gemessen, das ein flächiges war.
Er wurde noch einmal an München erinnert, als er las, daß sie dort
den einzigen los sein wollten, der ihrer Stadt noch etwas wie einen
Inhalt gab, den jüdischen Kapellmeister, der Mozart spielen konnte.
Der Teutone wird der Muse sagen: Endlich allein, und die Holde
wird antworten: Heil, Starker. Diese teutoburgische Inzucht ist ein
Greuel wie Unzucht mit einem Neger.
Er war des geduldigen Tons satt, er zog sich nicht zurück, griflF
an. Machen wir den Dummen den Ruf, auf den sie Anspruch haben,
dachte er, ich schlage vor: Deutschland, das dümmste Land. Petition
an das Parlament: kraft seiner Souveränität zu beschließen, daß die
Inschrift über dem Portal des Reichstags geändert werde, sie soll
heißen: Dem trägsten Volk. Die Zeitungen könnten zehn Feuilletons
füllen, indem sie die Frage erneuerten, ob das in deutscher oder
lateinischer Schrift eingehauen werden müsse.
Vor der Dummheit streckte man die Waffen oder man schlug ihr
die Geißel des Hohns um die Ohren. Man verdummt mit, wenn
man nicht hassen darf. Er fand die Deutschen verächtlich und war
notabene nicht Jude. Er hatte es satt, täglich die Kloake der natio¬
nalen Presse aufstinken zu lassen, von Professoren, Studenten, Beamten
und Richtern zu lesen, die, den verlogenen Tabellenatlas ihres arm¬
seligen Kaisers unter dem Arm, die Unverschämtheit hatten, für die
Leiden des Volkes andre verantwortlich zu machen.
Alles Leid war durch die Nationalisten über das Land gekommen,
und es kam noch immer durch sie über es, weil die Franzosen genau
wußten, was sie von diesem Geist zu erwarten hatten. Die Franzosen
6 54 Chronik Werenvoags
waren unklug, indem sie durch ihre Unbarmherzigkeit den Haß gegen
sich legitim machten, gewiß, aber nicht darauf kam es hier an. Schon
war nicht mehr davon die Rede, daß die feindlichen Volker auch
Schuld am Kriege hatten; schon waren die Deutschen die einzigen,
die schuldlos dastanden. Das Pack.
Kr sah in Berlin nach Monaten zum ersten Mal wieder Offiziere.
Hatte sich sein Blick geschärft, oder waren die Gesichter der Offiziere
noch gesichtsloser geworden — er sah sie, wie Grosz sie gezeichnet
hat. Aber er hielt sich nicht bei den Offizieren auf, sie interessierten
ihn nicht. Er sah die deutsche Wirklichkeit und sagte: sie ist Karikatur
des Menschen geworden. Mensch ist, wer Instinkt fflr Personen und
Ideen hat; wenn einer, statt Instinkt zu haben, duldet, daß durch
einen Konfektionseingriff ein Schema von Begriffen in ihn eingebaut
wird, ist er Karikatur.
Die Instinktlosigkeit — das war das aussagende Wort über dieses Volk.
Er beobachtete die Menschen bei ihren Vergnügungen, in ihren
pseudosakralen Cafifs, wo der Kellner wie ein Affe addierte, während
deutscher Witz und deutsches Chanson sich bodenständig spreizten.
Es schien ihm als seien diese Leute zu ihren Vergnügungen verurteilt ,
und offen gesagt, er verstand nicht, was sie erwarteten, wenn sie
sich zusammensetzten und nicht, welche Anforderungen sie an ihre
Kabarettsänger stellten.
Die Lust, die darin besteht, daß die einen zuhoren, die andren ihnen
Vorspielen, und beide eine kleine Kommunion mit dem vollriehen, was
das eigentlich Menschliche ist, mit Erregung, mit Spannung und Ent¬
spannung — diese Lust war nicht da. Sie alle waren stofflich, aber nicht
nervös; lärmend, aber nicht heiter; hungrig, aber nicht differenziert.
Sie waren nicht anspruchsvoll genug, um rasch zufrieden zu sein,
denn das ist kein Widerspruch: wer das Derbe nicht liebt, läßt sich
entzücken, sobald er nur ein wenig Geist, ein wenig Eleganz, ein
wenig Heiterkeit begegnet.
Im Theater saß vor ihm eine junge Frau, Arme und Schulter nackt,
die Oberarme waren zu dick, die Kurve, die vom Nacken zu den
Achseln lief, zu untersetzt: in jedem andren Land hätte eine Frau ge¬
wußt, daß diese Partien nicht delikat genug waren, und es vermieden,
sie zur Schau zu tragen — hier kam weder sie noch ihr Gatte auf diesen
Gedanken. Die Männer hatten keine Augen und die Frauen keinen
Instinkt, im allgemeinen, um nicht ein zu allgemeines Urteil zu fallen.
Chronik Wereniuags 655
Sah er über die junge Frau hinweg auf die Bühne, so fiel ihm auf, daß
das Zusammenspiel der Künstler kein Fluidum erzeugte, daß nicht ein
Kreis um die Spielenden lag, der magische Ring, in dem Energieen ein¬
ander durchdringen; offenbar war der Regisseur ein Philologe. Kleiner
und so verräterischer Zug: an dieser Bühne galt die Parole: keine Ab¬
lenkung durch Requisiten; also kleidete man die Schauspieler, da die
Biedermeierzeit vorgeschrieben war, zwar in Halsbinde und kartierte
Hose, vermied aber wie eine Todsünde, an die Fenster einen Vorhang
zu hängen oder an den Tisch einen Polsterstuhl zu stellen. Deutsche
Pedanterie — auch als Antichrist war er nur ein Philister, heißt es
in einem Buch.
Er las eine Broschüre: „Verrat am Deutschtum“. Sie war von
Wilhelm Michel verfaßt, bei Paul Steegemann verlegt. In einem
wundervollen Deutsch geschrieben, sprach sie das erlösende Wort aus:
der deutschnationale Antisemitismus ist undeutsch. Das Wesen des
deutschen Menschen, das Wesen der deutschen Leistungen, das Wesen
der deutschen Vergangenheit, sofern sie unsterblich blieb, ist Gerechtig¬
keit. Es ist Verzicht auf Haß.
Wir haben genau soviel Judenhaß, sagte Michel, als wir Mangel
an Volksgestalt, Mangel an nationaler Verfestigung haben, genau so¬
viel Judenhaß wie Abhängigkeit vom Fremden, Formlosigkeit, Schwäche
der Selbstempfindung, Unordung in allen Wertsetzungen.
Vorzüglich. Das Maß des Judenhasses gibt die Entfernung an, die
uns noch von unsrem Sein trennt. Wer nicht seine Form besitzt,
haßt fremde Form. Ein Phänomen der Vitalität war zurückgeführt
auf einen Defekt der Vitalität. Das war neue Psychologie, fördernde
Psychologie, ärztliche, helfende, erkennende Psychologie.
Die deutsche Dummheit bestand darin, daß man behauptete, ein
Gesicht zu haben, während man noch keines oder keines mehr hatte.
Dummheit ist Selbstzufriedenheit, Selbstzufriedenheit lärmt. Kluger
Wilhelm Michel, Sie haben den deutschen Michel erkannt, und es
ist gut hinzuzu fügen, daß auch Sie nicht Jude sind.
Ein Volk hat sein Gesicht verloren, es hat keinen Mythus mehr
von sich selbst. Es starrt auf die Vergangenheit und müht sich wie
Sisyphus in Arbeit. Die Not des Tages veredelt es nicht, während
sonst Not wenn nicht veredelt, doch wenigstens Gesicht und Haltung
verleiht. Ein Volk hat sein Gesicht verloren, erschütternder Vorgang.
Der Körper ist gesund, aber der Geist nicht einmal krank, sondern
nicht da. Ein paar Dichter reisen im Land herum und sammeln
Öj6 Chronik Weremoags
Ehren, es ist nicht schwer, unter Blinden einäugiger König zu sein.
Die Dichter machen es sich und ihrem Volk zu leicht, sie sagen ihm,
daß die Deutschen auch Menschen sind — natürlich sind sie Menschen,
aber bei Lessing antwortet jemand einmal: Das ist nicht .viel, oder:
Ist das Alles? Ich weiß es nicht mehr genau.
Korrupt, verdummt, instinktlos, ohne Fluidum und Intelligenz —
welche Bilanz. Es ist Nacht über Germanien und vom Morgenrot
weiß man nur, daß es erfahrungsgemäß dämmern wird. Die Deutschen
sind gutes Material, aber zu den Merkmalen des Begriffes Material
gehört: passive Weichheit. Sie seufzen: der letzte Deutsche war
Bismarck, und wissen nicht, wie verräterisch diese Aussage ist — wenn
doch nur einer käme und mir endlich das Kind machte. Germania
ist ein Weib; wenn du zu ihr gehst, vergiß die Gedanken und Er¬
innerungen nicht.
Andere setzten auf die Russen. Berlin war in dem Maße eine
russische Stadt geworden, daß er darauf gefaßt war, im Herbst, wenn
er wiederkommen würde, Einreiseerlaubnis beim russischen Komitee
für Zuweisung von Wohnungen an Deutsche zu holen. Ja, die
Russen, sagten die Frauen mit einem Augenaufschlag und die Männer,
indem sie den Zeigefinger reckten.
Nun, er legte keinen Wert darauf, den Import östlicher Seele ver¬
stärken zu helfen, wohl aber packte ihn etwas, das man bei den
Russen gewöhnlich übersieht, die spezifisch russische Form von
Vitalität — eine Überführung der Vitalität in Spiel, Eleganz und Prä¬
zision, eine Wärme des Zusammenspiels, eine Fähigkeit, Fluidum
zu erzeugen, die wertvoller als direktes Angebot von Ethos ist,
ein künstlerischer Sinn, der schon weiß, daß die zärtlich-groteske,
die heitermagische Marionette schöner und tiefer als jede andre
Kunst, es sei denn die heroische heißen darf. O die deutschen
Regisseure, die philologisch auf Stil ausgehn und keine Ahnung
haben, daß sie der Materie verfallen sind, Naturalisten auch als
Expressionisten.
Er begegnete, wenn es nicht indiskret ist, es zu erzählen, einem
Deutschen, der ihm alle Hoffnung auf seine Rasse zurückgab. Es war
Rittner, der vor fünfzehn Jahren der Bühne den Rücken kehrte. Er
hatte ihn nie spielen sehen, aber er fühlte, was es bedeuten würde,
wenn dieser Mann spielte, der die herrlichste aller Kombinationen
darstellt, Nerven und Charakter, Stoßkraft und menschliche Differen¬
ziertheit, dazu das klare Organ eines Italieners. Ein geistiger Mensch,
jfunius, Politische Chronik
657
in dem der Geist nicht isoliert ist, Synthese aus Intelligenz und
Seele. Wenn die Filmdiva ins Kloster geht, ist es Kitsch; daß dieser
Mann fortging und einen Bauernhof bestellt, ist Geheimnis, das
respektiert sein will.
Und doch, respektierend gesagt, diejenigen, die können, sollten die
Dinge nicht denen überlassen, die nicht können.
POLITISCHE CHRONIK
von
JUNIUS
I
L ängst schien die Erinnerung an die Münchener Proletarier- und
Räteregierung, von Ekel umsponnen, im Gedächtnis zu modern,
als Gerichtszank zwischen an sich gleichgültigen Personen sie auf¬
frischte, die Kriegsschuldfrage von neuem aufrollte und die Aufmerk¬
samkeit wieder einmal auf den Typus des Literatenpolitikers lenkte,
— keineswegs die anziehendste Abart in der politischen Menagerie.
Man spricht nicht gern von diesen Dingen, zumal wenn man selber
im Geistigen beheimatet ist und die Sehnsucht nach dem verlorenen
Paradies der »reinen* Vernunft sein Seelisches durchtränkt; darf man
sie darum für gewesen halten und zum übrigen Tageskehricht legen?
Ich weiß wohl, Rücksichten der Zweckmäßigkeit, von den allerwärts
fortwuchernden und den Willen zur Objektivität verkrüppelnden
Psychosen abgesehen, erheben gegen die Erörterung von Kriegs¬
ideologien und Kriegsmoralen bei unserer heutigen Lage im Innern und
nach außen hin Einspruch. Aber es geht um die Würde einer großen
Nation, die mit der Alleinschuld am Weltbrand bebürdet wurde;
sie lange befleckt durch die Zeiten zu tragen, ist eine Zumutung,
die ein ehrliebendes Volk abzuschütteln sucht, nachdem einmal die
Lähmungen der Ermattungsdepression gewichen sind und die seit dem
Waffenstillstand und der Fabrikation der Friedensverträge durchlebten
Zeiten über die wahren geschichtlichen Triebkräfte auch die blödesten
Augen geöflhet haben. Die Bewegung, dem Vertrage von Versailles
das moralische Rückgrat zu brechen, plätscherte so lange in Neben-
gewässem unserer öffentlichen Meinung herum, im Ringe der durch
wüstes und blindes Alldeutschtum schuldig Gewordenen, als Hoff¬
nung bestand, daß der babylonische Turm der aus den Verträgen
4*
dj 8
Junius, Politische Chronik
abgeleiteten Diktate und Forderungen nicht den Weg zum Frieden
verschütten und die besiegten Volker unter ein Martyrium der Fron-
und Lohnknechtschaft sondergleichen zwingen werde. Aber die Hoff¬
nung ist in die Rumpelkammer der Volksaberglauben verflogen, wie
man weiß; die bösesten Erwartungen wurden durch die Friedens-
traktätler beschämt. Nun ist die Bewegung zu einem breiten Strom an¬
geschwollen, sie hat sogar die demokratische (oder filr Demokratie und
Republik vorherbestimmte) Masse des Volkes ergriffen, sie ist in Kreise
gedrungen, die den alldeutschen Maulhelden — als den Hauptschuldigen
am nationalen Niedergang — Todfeindschaft geschworen haben, aber
die von den Eisner und Genossen ihnen zugemutete Entmannungskur
als Masochismus der Selbstbezichtigung heftig ablehnen und die Kriegs¬
schuldigen dort suchen, wo sie in Wahrheit zu finden sind: auf beiden
Seiten der ehemals feindlichen Heerlager.
Es gehört zum Bilde des Literaten-Politikers Eisner, daß er die
,Kürzung* des Schoenschen Gesandtschaftsberichtes nicht als Fälschung
empfand. Es gehört zum Bilde des Literaten-Politikers, daß er glaubte,
die von ihm, dem Wahrheitspriester Eisner, beglaubigte Alleinschuld
der deutschen Herrenkaste am Kriege werde seinem Volke günstige,
milde, christliche, demokratische Friedensbedingen erwirken. Es ge¬
hört zu seinem Bilde, daß er meinte, den an der großen Koalition
gegen uns beteiligten und ideell von Seinesgleichen (?), nämli ch
Woodrow Wilson, geleiteten Nationen schwebe als Hauptaufgabe vor,
uns von der Giftpflanze einer böswilligen und den Weltfrieden be¬
drohenden Obrigkeit zu befreien (to make Germany safe fbr
democracy) und uns dann aufzunehmen... ja wohin? in die Gemein¬
schaft der durchradikalisierten, entbürgerlichten, von den Diktatoren
des Proletariats a la Eisner oder a la russe einem klassenkampflosen
Paradies entgegengeführten Völker? Hier, vor eine auseinander¬
gebrochene politische und soziale Wirklichkeit gestellt, entglitt der
von Hause gütige und auf Theaterreize Uberempfangliche Mann ins
Nebelreich der Phrase und der Geste, er begann aus historischen
Erinnerungen an allerhand Revolutionsverläufe zu agieren; die grauen¬
haft mißverstandene Gestalt Lenins, des Moskauer Imperators der
proletarischen Idee, auf der einen, die Helden des Konvents auf der
anderen Seite gaben die lockenden Vorbilder her; und eines jener
zwischen Oktoberwiese und Handgranate eingeklemmten Possenspiele
hob an, die auf die deutsche Revolution von 1918 den karne¬
valistischen Stempel prägten.
Junius, Politische Chronik
*59
Der weichmütige und völlig unschöpferische Ästhet, der sich vor¬
dem in groteskem Mißverstand seines angeborenen seelischen Stand¬
ortes einen Marxisten nannte und noch während der Schlächterei zu
den radikal-marxistischen Zimmerwäldnern zählte, — er ahnte nicht,
daß die von den schuldigen ,Spitzenträgem* aller Nationen in den
farbigen Büchern gesammelten diplomatischen Dokumente nur die
Formen fixieren, in denen die geschichtlichen Explosivgewalten an
die Oberfläche dringen .. . Eisner durfte sich mit aller Heftigkeit
gegen die großmäulige und gernegroße Geschäftsleitung des anden
rdgime zuhause wenden, das versteht sich; das taten andere auch. Er
durfte die falsche Romantik, die fälsche Rhetorik, das fälsche Zäsaren¬
tum der nachbismärckischen Zeit aufs Blut bekämpfen; das taten andere
auch. Er durfte während des Krieges die deutsche Regierungsanarchie
mit ihren vielen großen und kleinen Nebenregierungen rücksichtslos
bloßstellen, aber nie die sich heranwälzende Gefahr einer imperialistischen
Vergewaltigung durch die rein macht- und wirtschaftspolitisch be¬
stimmten Gegner aus dem Auge verlieren und, Marxist der er sein
wollte, mit der Möglichkeit einer von Westen her zu erwartenden
^gerechten' Regelung europäischer Angelegenheiten nicht rechnen. Die
Zimmerwalder sagten: Krieg und Kapitalismus, Krieg und Nationalis¬
mus hängen ursächlich zusammen; bekämpfen wir daher unterschied¬
los die bürgerliche Gesellschaft als solche, die so unmenschliche
Großschlächtereien unvermeidbar macht. Was tat Eisner? Er starrte,
Illusionist der er war, als der Zusammenbruch gekommen war, wie hyp¬
notisiert auf den Schoenschen Bericht und .. die guten Gesinnungen
der siegreichen Westler. Als er in München die Macht an sich ge¬
rissen hatte — es war nicht schwer, sie Hel ihm inmitten der besonders
im Bürgertum eingerissenen Demoralisation beinahe von selbst zu —,
da wars begreiflich, daß in dem aus dem Gefängnis befreiten Manne
sich zunächst das Ressentiment regte und sein erster Gedanke auf die
Züchtigung des Bourgeois zielte, der so lange in feudale mimicry
befangen war, während der guten und ,großen* Zeiten in politischer
Selbstentmannung sich überbot und mit seinen aristokratisierenden
Talmimanieren auf das gesamte Deutschtum den Haß der Welt lud.
Hier lag das wahre deutsche Schuldkonto, das beglichen werden
mußte; aber das war eine innere Angelegenheit, die Einmischung (als
Richter) der mit eigenen Sünden reich beladenen Sieger, deren seit
Jahren sauber gedruckte Neuordnungsprogramme und öffentliche
Geheimverträge den Kurs der neuen Zeitrechnung eindeutig verkün-
66 o
jfunius, Politische Chronik
dcten, durfte der Volksmann am wenigsten herbeisehnen oder gar
herbeibetteln. Wir wissen, daß Eisner es tat, und wie er es tat.
Der Durchbruch zur deutschen Demokratie war dadurch von allem
Anfang unsagbar erschwert, gleich von vornherein litt sie an Rückgrats-
verkrtimmung und machte bald, die gezüchtigt werden mußten, zu
Herren der Lage. Täglich zeigen sich die Folgen. Würdelos gerade
nach außen hat sie ihren Weg angetreten, die Mannhaftigkeit, die
ihr Erstgeburtsrecht sein sollte, scheint sie bei ihrem Eintritt in die
deutsche Geschichte verloren zu haben . . .
Ich rüge nicht Eisners revolutionäre Anfänge. & hatte das Recht,
dem Bürgertum zuzurufen: Fort mit Euch; Ihr habt den Anspruch
auf die Leitung Eures Volkes verspielt, Ihr seid von dem Genius der
Geschichte fortgejagt, macht Platz für neue, aus der Tiefe aufsteigende
Schichten und Menschen; — er mußte so Sprechens er war ja Sozialist.
Aber er durfte nicht übersehen, wie die Konstellation am Ausgange
des Krieges war. An der Spitze der pharisäisch geblähten Sieger¬
staaten standen die mächtigsten und in ihrem Herrschbereich uner¬
schütterten Kapital- und Rohstoffverwalter der Welt, von ihrer Gnade
hing, durch Kreditgewährung, unsere Erhebung aus dem Staube, hing
unsere Erholung ab; und es mußte damals wie heute jedem Ein¬
sichtigen sonnenklar sein, daß sie nur einem Unternehmertum, das
irgendwie paritätisch mit dem Arbeitsvolk für das Neue Deutschland
gut sorgen könnte, gewährt werden würden. Eine deutsche Revolution
konnte darum schon aus diesen Gründen kein anderes Ziel haben als
die Festigung dieser Parität in Verfassung und Praxis, jedes andere
Beginnen mußte die deutsche Revolution schneller, als sonst in der
Geschichte üblich ist, in den Kreislauf der Reaktion zurücktreiben.
Eisner blieb blind. Er glaubte, während er den unvorstellbar dilet¬
tantischen Versuch machte, einen gemütlichen Kinderschreck von
Bolschewismus im Lande der Bierdörfer einwurzeln zu können — den
er doch schließlich wieder ablehnte; er wollte die Konstituante; und
als ihn die Kugel traf, war er im Begriff, die Präsidentschaft nieder¬
zulegen —: er glaubte allen Ernstes durch seinen Selbstbezichtigungs¬
drang dem deutschen Volke die guten Gesinnungen und den Gnaden¬
segen der plutokradschen Großkophtas auf der Gegenseite zu sichern.
Der in die Politik, das heißt ins Leben verschlagene Literat sieht
eben nicht, was ist. Er berauscht sich an der Geste, er ist trunken
vom Schwall beschwörender Worte, er versimpelt das Millionfaltige
durch Einheitsformeln, er kommandiert wo er gehorchen sollte, er
Juritus, Politische Chronik
66 1
verwechselt ,sterile Aufgeregtheit* (mit Simmel zu reden) mit schöpfe*
rischer Leidenschaft, die den Willen bei einer Richtung festhält, er
tragiert Rollen und spielt in Heldenpose Theater, — ein Narr seiner
gutgläubigen und mit Schreibtalent und Sentimentalität gefütterten
Eitelkeit, bis sich unter ihm plötzlich der Krater öffnet und den
Mann mitsamt seinem Narrenspiel verschlingt.
II
• •
Äußerlich betrachtet, ist Genua aus den Lenden Washingtons ge¬
boren; der Gedanke einer allumfassenden, alle konflikthaltigen Gegen¬
sätze auslöschenden oder wenigstens zeitweilig neutralisierenden Europäer¬
konferenz wurde tatsächlich zuerst während der pazifischen Tagung
in der amerikanischen Bundeshauptstadt von den Agenturen in die
Welt gesetzt. Für seinen Schöpfer Lloyd George ein bezeichnender
Vorgang. Die Verlockungen dieser Analogie waren groß, das läßt
sich nicht leugnen. Die Fessel des längst ausgehöhlten Bündnisses mit
Japan, das den Eintritt in die lebensnotwendige angelsächsische
Brüderschaft hemmte, war für Größerbritannien unerträglich geworden.
Der Druck des Zarentums auf das englische Zentralasien, auf Indien,
aber auch auf das Meerengengebiet und Kleinasien war gewichen;
aber dafür waren, nach siegreich bestandener Gottesprobe des Welt¬
kriegs, die neuen Aufgaben des zur Konsolidierung drängenden Im¬
periums selbst für die englischen Schultern allein zu gewaltig, war
der Wille der aus Selbsterhaltungstrieb immer stärker dem Macht¬
bereich von Washington zutreibenden Dominions Kanada, Australien,
Neuseeland zu eindeutig geworden. Hier kann man wirklich von
einer „Zwangsläufigkeit** der Entwicklung sprechen, man sah sie in
London seit vielen Jahren herankommen, ohne in ein ödes Deklaranten-
tum zu verfallen, längst ehe die Vereinigten Staaten der Gläubiger¬
staat der Welt und, mit Flotten und Heeren und Industrierüstung, ein
politisches Machtzentrum allerersten (und für die Behauptung der weißen
Herrschaftsstellung entscheidenden) Ordnung geworden waren. Die in
Washington zu verhandelnden Probleme waren daher, bei der ge¬
schichtlichen Zusammengehörigkeit und dem gemeinsamen Interesse
der zwei Hauptteilnehmer und der Sprachgemeinschaft und der
Kulturaffinität der führenden Schichten, mit wenigen Worten zu um¬
schreiben: Beschränkung der Seerüstung, wobei Japan nachgeben mußte;
Verhüten einer japanischen Monopolstellung in ganz China; Sicherung
industrieller Ausbeutungsrechte für die angelsächsischen Reiche („Offene
66 i
fimius, Politische Chronik
Tür“); endlich die Möglichkeit, durch Stärkung der chinesischer»
Souveränität den Bestand der bisherigen „weißen“ Besitzungen und
Konzessionen zu sichern. Darum verspricht das dort in der Welt des
Stillen Ozeans geschaffene Provisorium längere Dauer, inzwischen ge¬
winnen die macht- und wirtschaftspolitischen Interessen der Angel¬
sachsen Zeit, völlig ineinander zu wachsen. Mußte einen mit Energie
geladenen Mann wie Lloyd George ein solcher Vorgang nicht zum
Versuch eines gleichen Unternehmens in Europa verführen?
Ich halte es für wahrscheinlich, daß sich seine Phantasie sogar zu
der Vorstellung erhob: Wie wir in Washington das Bündnis mit
Japan los wurden — das Opfer an Irland wog dem sonstigen Gewinn
für das Imperium gegenüber leicht —, so können wir in Genua des
noch viel drückenderen Bündnisses mit Frankreich ledig werden? Es
bohrt sich wie ein Skorpion in unser Fleuch, seit das entmachtete
und in seine Binnenlandexistenz zurückgedrängte Deutschland für uns
nur noch ein dringend benötigter Markt geworden ist; und seine
unelastische Gendarmenpolitik, die Gläubiger- und Siegerrechte über
das Leben und die Lebensnot stellt und gegen Deutschland wie Ru߬
land, räumlich und nach Bewohnerzahl zwei Drittel des Kontinents^
immer und immer wieder das System der erworbenen Rechte
geltend macht. Es gleicht heute jenem Latium, das (nach Livius)
weder den Frieden noch den Krieg ertragen konnte; und dieser Zu¬
stand macht es zum Querulanten. Gelänge es also, zwischen den zwei
feindlichen Gruppen des Kontinents Brücken zu schlagen, gelänge es
die bisher nur papierne Solidarität zwischen ihnen wenigstens zum
Gegenstand einer mündlich an einem und demselben Beratungstisch
angestellten Berechnung zu machen, so wäre das Fundament zu einem
Bau gelegt, in dem große und kleine Bünde und die zwischen den
Kannibalen eingeklemmten Neutralen nebeneinander Platz hätten. Und
gelänge es endlich, die „große“ Politik dem Sach- und Fachverstand der
Valuta- und Marktausgleichverständigen unterzuordnen, so wäre die
europäische Allianz im Anmarsch, wenn nicht gar fertig. Dies war
Sinn und Aufgabe von Genua. Phrasien? Ja, dieser große Realist
und Menschenkenner landete schließlich dort, wo die verantwortungs¬
losen Phantasten siedeln, nachdem er wider seine besseren und in der
Tat einwandfreien Einsichten (wie wir im letzten Rundschauheft ge¬
sehen haben) die Bibel von Versailles, das Londoner Ultimatum und die
Konferenzbedingungen von Cannes und Boulogne hat schaffen und Ge¬
setz werden lassen. In den Fußangeln, die er selbst über Europa
Jun 'tus, Politische Chronik
66 3
gelegt hat, verfangen sich jetzt in Genua seine eigenen Tritte. Weder
seine persönliche Wärme, noch seine leuchtende Beredsamkeit, die die
bange horchenden Völker immer wieder mit Hoffnung füllen, noch
sein unvergleichliches Verhandlungsgeschick konnten bis zu diesem
Augenblick (dem sechsten Mai) jenes von Frankreich behütete System
der erworbenen Rechte erschüttern. Seine Treuga Dei, sein Gottes¬
friede, der uns zumuten könnte, ein zweites Mal unser Versailler
Todesurteil zu unterschreiben (Bulgarien, Ungarn und die Angoraleute
protestieren schon anticipando) und für uns, in seiner von großen und
kleinen Ententlem mit Militärbündnissen bepackter Gestalt^ unbedingt
unannehmbar wäre, ist bislang eine schwammig trübe Erscheinung. Der
ganze Osten hat noch schwimmende Grenzen. England hat sich
— übrigens auch die Tschechoslowakei und Jugoslawien — bisher ge¬
hütet, die östlichen Friedensschlüsse anzuerkennen oder gar vertrags¬
mäßig zu garantieren und für polnische oder rumänische Ansprüche
Willigkeit zu Blutopfem zu versprechen. Wilna, Ostgalizien, Beß-
arabien hängen politisch in der Luft, jeder neue Tag kann Brände
um sie entfachen: keiner der Leidtragenden denkt daran, die Brand¬
versicherung zu übernehmen. Insoweit scheiden wir aus: gegen uns
ist der „Boden“ von Versailles noch ganz solide, auf ihm finden sich
unsere großen und kleinen Freunde in Einmütigkeit zusammen. Das
Reparationsproblem, auf lange Zeit hinaus die Herzkammer unseres
Schicksals, ist bis zum 31. Mai auf Eis gestellt; nur hinter den Türen
darf es verhandelt werden. Rußland hingegen stand im ausgesprochenen
Mittelpunkt der Konferenz, ihm wurde von vornherein gesagt, es
müsse, um Hilfe und Wiederaufbaumittel zu erlangen, zuvor durch
das kaudinische Joch der kapitalistischen Anschauungen kriechen;
Poincard wenigstens hat diese formelle Anerkennung „unentwegt“ ver¬
kündet und sein Programm in Rechtsparagraphen gepreßt. So war
die Konferenz, nach ihren eigenen Voraussetzungen, von Beginn an
mehr Dom als Rose; und die Sachverständigenausschüsse für Wirt¬
schaft, Finanzen und Verkehr standen in der Rang- und Wertordnung
klaftertief unter der Politik. Daher liefen die Geleise sofort aus¬
einander, da eben zwischen den großen, aber auch den kleinen
Alliierten kein Einheitswille und kein Einheitsinteresse bestand. Das
heißt also: die Konferenz war politisch und seelisch spottschlecht,
nämlich nur rhetorisch vorbereitet, sofern ihr die Aufgabe gesetzt
war, das russische und das deutsche Problem Lösungen entgegen-
mführen. Nur dann war sie, bei dieser Zwiespältigkeit unter den
Juritus, Politische Chronik
66^
westlichen Verbündeten, berechtigt, wenn Lloyd George entschlossen
war, für den Fall fortgesetzter Kompromißfeindlichkeit Frankreichs den
Schnitt zu machen und eigene Wege zu wandeln. Ist er bereit, es so weit
kommen zu lassen? darf er es so weit kommen lassen? Wie würde Europa
aussehen, wenn die große Koalation — eine Attrappe meinetwegen, die
aber in ihren Wirkungen mehr als Attrappe ist —auch formell zerfällt und
die Klein- und Mittelstaaten ohne polizeiliche Kontrolle sich die ihnen
gemäßen Mittelpunkte wählen, wenn die Großen und die Mittleren
und die Kleinen ihre Aktionsfreiheit wieder erlangen und Frankreich
„marschiert“? Chaos? Krieg Aller gegen Alle? Wird Lloyd George
vor diesem Gespenst nicht doch lieber zu seiner alten Technik und
Taktik des Nachgebens und Umfallens seine Zuflucht nehmen? Man
sieht die äußerliche Beflissenheit ihrer Chorführer, nicht umsonst
trompeten die Agenturen in den verstörten Weltraum: Herr Benesch
suche zu vermitteln und biete den in Verlegenheit geratenen Großen einen
ganzen Sack von Ausgleichsformeln für den europäischen Generalpakt an..
Flimmernd, Augen- und Seelenweh verursachend rollte sich dieser
Film in Genua bisher ab und die in der Kolumbusstadt sich tummelnden
Staatsmänner, Diplomaten, Journalisten und parasitären Zwischenträger
laufen möglicherweise noch, wenn dieses Heft den Leser erreicht; mit
verbundenen Köpfen herum. Aber ein Ereignis, das uns Deutsche
vor allem angeht: der Ostern in Rapallo mit Sowjetrußland Unter¬
zeichnete Vertrag scheint, geschichtspsychologisch, die Funktion über¬
nommen zu haben, die innere Unfertigkeit dieser Veranstaltung schneller
als sonst geschehen wäre an die Oberfläche zu bringen, wie Medizin¬
männer Tränkchen geben, um eine im Körper lauernde Infektion
hervorzutreiben.
III
Solche Deutung aus der Rückwärtsbetrachtung der Späteren und
Wissenden ist natürlich möglich, doch ist von bewußter Dämonie,
die die sogenannte Ostertat (wir lieben Fichdsche Ausdrücke) der
deutschen Delegation in Genua bestimmt hätte, nicht die Rede. Der
Abschlus des Rapallovertrags, dessen materielle Inhalte zunächst sehr
gering sind, stellt sich als eine Notwehrhandlung dar. Aus diesem
Motiv wurde er jedenfalls geboren. Ort und Zeitpunkt seiner Ver¬
öffentlichung waren zweifellos Gefahrenmomente, dessen werden Wirth,
Rathenau und von Maltzahn, der willenstarke Kopf der russischen
Abteilung im Auswärtigen Amt, sich bewußt gewesen sein. Das
Junius, Politische Chronik
66 5
Odium der Sonderbündelei mit aktivisdschen Hintergedanken, wovon
die lauernde, stoffhungrige Propaganda unserer Mißgönner sofort zu
berichten wußte, war an sich nicht tragisch zu nehmen, wenn aus¬
geschlossen blieb, daß Loyd George und die Italiener die deutsche
Handlung nicht als Störung empfänden und der englische Mißmut
das Interesse für das Reparationsproblem nicht abschwächte. Die
östliche Richtung unserer Wirtschaft, deren gewaltiger Apparat doch
nicht ewig leer laufen, doch nicht ewig von der Paradoxie unsrer
schwindsüchtigen Wahrung leben kann und doch endlich auf natür¬
lichen Grundlagen Substanz ansetzen muß, hatte unsere Delegation die
Pflicht mit allen Mitteln vor Benachteiligung zu schützen; aber so¬
weit sich die Dinge von hier aus übersehen lassen, war eine sofortige
deutsche Sonderaktion mit den Russen nur dann erlaubt, wenn die
Verhandlungen der Alliierten mit Moskau die Absicht enthüllten,
Deutschland immer wieder zu differenzieren, es nicht als gleich¬
berechtigten Vertragskontrahenten zu betrachten und auch Rußland
im Verhältnis zu uns post festum unter die Nutznießer von Versailles
zu stellen. Aber gleichzeitig drohten Gefahren von der anderen, der
russischen Seite. Ich erinnere daran, daß gewisse sehr ,wendige c
Vertreter von Moskau (wie Radek und Sinowjev) selbst mit dem
Differenzierungsgedanken gespielt haben; vor Genua und nach Rapallo;
es sollte eben unter allen Umständen, also nötigenfalls auch mit dem
Mittelchen eines kleines Verrats an Deutschland der Weg zu Frankreich
und den Pariser Plutokraten gefunden werden: — was könnten wir
armen Teufel ihnen denn bieten, bis auf das, was nicht wegläuft und
für Rußland immer bereit sein wird... So war die Lage für uns
nicht eben einfach: auch Rußland war gegen uns in weit stärkerer
Stellung; ihm war das Rückgrat durch kein Versailles gelähmt.
Der Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung der Zusammen¬
hänge ist aber noch nicht schlüssig, zumal die Verhandlungen mit
den Sowjetlcuten bisher in dem Sumpf nicht nur der französisch¬
belgischen, sondern auch der russischen Intransigenz stecken geblieben
sind. Ich enthalte mich daher jeder weiteren Kritik, wobei ich aber
schon heute die Befürchtung nicht unterdrücken kann, daß der
Abschluß des Rapallovertrages in unserem öffentlichen Bewußtsein die
ganz elementare Bedeutung des Reparationsproblems zeitweilig ver¬
dunkelt hat und ein ernüchterndes Erwachen bevorsteht. Und ferner:
daß er die Vielzuvielen, die nicht zulemen können, in neue Orgien
des Mißverstehens treiben könnte. Wenn das nationalistische Deutschland
666
Jurtius, "Politische Chronik
das bolschewistische Rußland aus anderen als wirtschaftlichen Lebens¬
notwendigkeiten heraus sucht und sich machtpolitische Gedanken an
diesem ,Bund‘ entzünden, so werden ihm bitterste Enttäuschungen
erblühen. So war von ihren Schöpfern die Ostertat von Rapallo
nicht gemeint.
IV
Daß die kommunistische Wirtschaftspraxis in Rußland gründliche
Bankrott gemacht und Lenin zu den Mischformen des Staatskapitalis¬
mus seine Zuflucht genommen hat, wurde hier wiederholt festgestellt.
Seine Konzessionen in Genua sind einfach gewaltig, da hilft kein Ver¬
tuschen. Die Bereitwilligkeit, die Vorkriegsschulden anzuerkennen, die
privaten Eigentümer des Auslands zu entschädigen und für die neu vom
fremdem Kapital zu erwachenden Sachinteressen Rechtssicherheiten
(meinetwegen in verschämter Form) zu leisten: das bedeutet, daß man vor
dem verruchten Götzen Mammon schließlich doch die Fahnen senkt.
Aber solange Lenin Hüter der weltrevolutionären Idee bleibt und von
der Autorität dieser Mission lebt und die Sowjetbürokratie im Nie߬
brauch der Gewalt sitzt, sind seinen Konzessionen an westlich-kapi¬
talistische Rechtsformen doch bestimmte Grenzen gesteckt; und daß
Frankreich sie mit letztem Ruck ins Nichts stoßen will, macht den
Westler-Frieden mit Rußland, wie es scheint, unmöglich. Lloyd
George, der das ideele Moskau in seinem ursprünglichen radikalen
Ausdruck für einen verlorenen Posten hält, möchte in Etappen ver¬
fahren, er versteht, welchen Wert die kommunistische Ideologie noch
heute für die bedrängten Leninleute hat; ihn bringt daher die fran¬
zösische Systemsucht — von dem politischen Nebengedanken Poincards
zu schweigen — zur Verzweiflung. Wenn der englische Staatsmann
bewußt und nach einem für eine europäische Friedens- und Aufbau¬
politik feststehenden Plane die Konferenz berufen haben sollte, dann müßte
ihm die sabotierende Eigenwilligkeit seines südlichen Kriegsgenossen
den Weg ins Freie erleichtern. Es kann sein, daß der Druck dieser
(für ein in den Traditionen der splendid isolation und des europäischen
Gleichgewichts zur Weltmacht emporgestiegener Land) unerträglichen
Lage ihn zu eindeutigen Handlungen treibt, es kann sein, daß er,
dem der parlamentarische Boden — und mehr als dieser nur — unter
den Füßen wankt, die Schicksalsfrage vor das häusliche Forum trägt
und mit einem Schlage das Gesamtproblem Europa aufrollt, ohne
rückwärts zu blicken, und dadurch die bisher nur im Affekt und um
taktischer Zwecke willen angedrohte Umgruppierungen der Kontinen-
Junius, Politische Chronik
667
talstaaten erzwingt. Der Atem stockt, indem man an solche Möglich¬
keiten denkt. Die Entwicklungslinie unserer kontinentalen Geschicke
liegt in dieser Richtung, das wird man nicht wohl leugnen dürfen.
Immerhin bleiben stärkste Zweifel Pflicht, die aus der Persönlichkeit
des Mannes und der Beschaffenheit der öffentlichen Meinungen sich
herbeileiten. Den Übergang würden dann Sonderabschlüsse der ein¬
zelnen Staaten mit Rußland bilden .. .
Aber — der krause Weltlauf drängt tausend Zweifelsfragen auf —
es scheint mir einer der wesentlichsten Gründe, weswegen das russische
,Hilfswcrk‘ in Genua wahrscheinlich scheitern wird, bagatellisiert zu
werden. Nicht allein die vollständige Wiedereinsetzung der Ausländer in
ihre Eigentumsrechte an Ort und Stelle, wo sie möglich ist, ist wohl der
eigentliche Erisapfel, obwohl Franzosen mit ihrem belgischen Vor- und
Stoßtrupp die ,restitution‘ als solchen benutzen (die Entschädigung in
Rententiteln würde die Hunderttausende französische Sparer befriedigen):
auch die von den Russen erhobene Forderung eines von den Regierungen
zu gewährenden Milliardenkredits in bar hat als Sensation gewirkt.
Das elende System des Abgefundenwerdens mit winzigen Erleichterungen,
in das wir hineingeraten sind und das uns der Österreicherei zutreibt,
muß auf die Russen abschreckend wirken. Mit den lumpigen Krediten
privater Gruppen und allerhand Handelserleichterungen, sagen sie
daher, sei nichts getan und sei die Annahme des umschacherten
Memorandums in den Augen des russischen Volkes allzu teuer erkauft.
Also auch von dieser Seite türmen sich die Schwierigkeiten. Trotzdem:
ob die Russen, mit der deutschen Freundschaft unter dem Arm, sich
gestatten dürfen, in ihre Isolierzelle zurückzukriechen und geduldig
auf das Weichwerden der Westler zu warten, möchte ich bezweifeln.
Sie werden die angeknüpften Fäden nicht wieder aus der Hand fallen
lassen; erst recht nicht, wenn die tausendfach angelöcherte Schweinsblase
Genua platzen und ein übersichtlicherer Aufmarsch von Freund und Feind
beginnen sollte.
V
Sonntag, 14. Mai. Während das kalte Licht eines fröstelnden
Maimorgens auf die Korrekturfahnen fällt, läuten die Glocken. Geburt
oder Grab? Wir werden sehen. Ein Glück jedenfalls, das mit dem
Ende der Konferenz auch der melodramatisch aufgeputzten Bericht¬
erstattung in den Zeitungen ein Ende gesetzt sein wird, nicht eher
werden die Tatsachen ihre Sprache wieder gewinnen und der Tand
geistreicher Verdeutelung abwerfen können.
ANMERKUNGEN
Stimmen des Auslands
I n der „Revue de Geneve“ schildert
ein Türke die Krankheit Konstan¬
tinopels:
„Die Fortdauer der internationalen
Besetzung Konstantinopels trägt über¬
aus zur Krise des Orients bei. Ihr
schwieriger Mechanismus ist eine der
Quellen unseres Leidens. Ihr außer¬
ordentliches Personal# zugleich über¬
flüssig und schädlich, wird reich bezahlt.
Sie brauchen sich wahrlich nicht über
die Verlängerung dieses Zustandes
zu beklagen. Aber das kommt teuer zu
stehen: nicht allein dieser unglück¬
lichen Stadt, sondern auch dem Frieden
der Welt.
Der Sultan-Kalif gilt in der ganzen
mohammedanischen Welt als der
Sklaverei verfallen, da seine Resi¬
denz, seine Hauptstadt von frem¬
den Truppen besetzt ist. Nun,
die islamische Religion erlaubt nicht
diese Herabwürdigung ihres Ober¬
hauptes. Daher alle die Schwierig¬
keiten, die in Asien entstehen, in
Vorder- und Zentral-Asien, im moha-
medanischen Indien, im größeren Teil
der arabischen Länder ebenso wie im
mohammedanischen Afrika. Wenn die
Mächte die Autorität des Sultans
und seine Geltung als Kalif aufrecht¬
erhalten wollen und also nicht eines
der letzten Bollwerke gegen die
Revolte der orientalischen Welt und
gegen die uralasiatische soziale Anarchie
versinken lassen, so müssen sie un¬
verzüglich die Räumung Konstanti¬
nopels vornehmen. So wird auch das
Mißverständnis zwischen Angora und
dem Sultan-Kalifen auf hören. Die
anatolischen Ereignisse dürfen nicht
das Schicksal des Sultan-Kalifen beein¬
flussen. Die Weisheit des Mustafa
Kemal Pascha ist eine Garantie und
die des Sultans Mehmed VI. ist eine
andere. Diese beiden großen Symbole
der türkisch-muselmanischen Gemein¬
schaft, in Bezug auf die eine und
unteilbare politische Ordnung und die
moralische Ordnung der muselma¬
nischen Welt überhaupt, werden rieh
aussöhnen, sobald das größte Hinder¬
nis beseitigt ist.“
Das Londoner „Athenaeum“ be¬
richtet über die Theaterausstellung
in Amsterdam: „Es gibt dort viele
deutsche Zeichnungen, welche wirk¬
liche Brauchbarkeit besitzen; denn sie
versuchen, die Aufgabe zu lösen, wie
man ökonomisch und in kleinen The¬
atern Stücke auffuhren kann, welche
eine große Zahl von Schauplätzen ver¬
langen. Solche Stücke sind in Deutsch¬
land ziemlich häufig; Goethes Zeit¬
genosse Büchner, der oft wieder auf¬
geführt wird, ist für die Bühne ebenso
schwierig wie Goethe im „Faust 4 *, und
das Beispiel des „Faust 44 ist durch
Wedekind und viele moderne Drama¬
tiker befolgt worden. Wie weit die
deutschen Entwürfe für die englische
Bühne benutzt werden können, ist eine
andere Frage; denn die deutsche Arbeit
ist für Repertoire-Theater geplant, in
denen die Zuhörer einer äußersten
Sparsamkeit an Material geneigt sind,
und Bühnenhände hervorragende Lei-
Anmerkungen 66p
stungen vollbringen wollen. Die
Deutschen machen mehr als wir Ge*
brauch von verschiedenen Höhen. Rie¬
sige Treppenstufen werden auf Rollen
gebaut und leicht während eines Abends
verschoben; Pirchans „Richard III.“
(Berlin, Staatstheater) erreichte auf
diesem Wege wundervolle Wirkun¬
gen. . . . Die ganze Vorführung des
„Richard III.“ wartief ergreifend. „Der
Marquis von Keith“ (Wedekind), ein
Stück aus dem modernen Münchener
Leben, war fast ganz in schwarz und
weiß —weiße Wände als Hintergrund,
schwarze Möbel, schwarze Kostüme,
deren Schnitt seltsam verzerrt und
übertrieben war. Aber zusammen da¬
mit gingen unzählige Einzelheiten der
Bühnengestaltung, die dieselbe phan¬
tastische Atmosphäre ausatmen. Die
jetzigen Bühnenbilder waren starr archi¬
tektonisch in dieser ständigen An¬
wendung der verschiedenenWände und
streng vertikalen Linien. Ein anderes
Schwarz-Weiß-Experiment wieder für
ein Stück von Wedekind, „König
Nikolo“ (Stuttgart), von F. Cziossek
benutzte einen schwarzen Hintergrund,
auf welchem die verschiedenen Scenen
durch ganz konventionell weiß ge¬
zeichnete Umrisse angedeutet waren.
Hier wurden wieder verschiedeneStufen
benutzt, und die Farbe spielte sowohl
bei den Kostümen wie beim Licht eine
große Rolle. Man muß sich immer
wieder bewußt werden, daß das Licht
ein integrierender Bestandteil des
Bühnenbildes ist. In dieser Richtung
haben die englischen Theater viel von
Deutschland zu lernen.“
Aus einer „Botschaft an die
Franzosen“, die Anatole France
in der New Yorker „Nation“ ver¬
öffentlicht:
„Fort mit dem Kriegsgeist!
Sicher müssen wir angemessene Re¬
parationen fordern und erhalten. Das
ist nur gerecht. Aber verlangen wir
doch nicht mit knabenhafter Heftig¬
keitSummen von einer einzigen Nation,
welche alle Staaten der Welt, wenn sie
ihreKassen leeren, nicht zahlen könnten.
Ich sage nicht zu meinen Lands¬
leuten: Haßt nicht; vergeßt! Ich
kenne die menschliche Natur zu gut,
um eine so wirkungslose Ermahnung
auszusprechen. Ich sage: Seid ver¬
nünftig und friedlich. Setzt nicht
länger das Eperiment der rohen Ge¬
walt fort, das den, der es ausübt,
ebenso sicher vernichtet wie den, an
dem es ausgeübt wird.
Franzosen, strebt nicht nach einer
Vorherrschaft, die auf dem Lande wie
auf dem Meere in Zukunft unmöglich
ist! Träumt nicht von Siegen und
Eroberungen; laßt euch nicht gelüsten
nach dem Schicksal des großen Eng¬
lands; es ist nicht beneidenswert.
Mäßigen wir uns; unser Dasein hängt
davon ab.
Verringern wir unsere Armeen. Ver¬
kürzen wir die Dienstzeit. Es ist
überaus notwendig, diese riesigen und
unnützen Ausgaben zu sparen.
Im allgemeinen Elend der Nationen
ist Frankreich vielleicht am wenigsten
elend. Wir leiden nicht unter der
Arbeitslosigkeit wie die englischen Ar¬
beiter. Wenn unsere kleine Bourgeoisie
betrübt wäre, so erhält sie noch etwas
von den großen, während des Krieges
gewonnenen Reichtümem, mythischen
Reichtümem, durch nichts aufrecht
erhalten, die jeden Tag dahinschwinden
können.
Das Heute ist erträglich — aber das
Morgen? Ein Elend, das wir nicht
fühlen, umgibt uns. Es dehnt sich
über weite Gebiete aus und gewinnt
jeden Tag an Boden; es nähert sich
und droht, uns zu überschwemmen.
Mit ihm zu kämpfen, wenn es mög¬
lich ist, haben wir nur ein Mittel:
Frieden, wahren Frieden; nicht einen,
der in hochtrabenden Verträgen steht
und auf trägem Papier, sondern jenen,
der in den Herzen ist, den Frieden,
der Europa erneuern wird.
6 yo
Anmerkungen
Um Gottes willen: wenn wir den
Ruhm lieben, wenn wir wünschen,
die erste Nation der Welt zu sein,
laßt es uns durch Vernunft, durch
Weisheit sein, durch ein richtiges
Verständnis für das, was möglich und
was gut ist, durch einen ruhigen
Blick, der das Menschengeschlecht
umfaßt; laßt uns schließlich, gemäß
der wundervollen Worte Goethes, gute
Europäer sein.“ R. K.
Geburt
M an möchte über die Prosadichtung
„Geburt“ der Mechtild Lieh*
nowsky* das Wort der Bettina schrei¬
ben: „Dies Buch ist für die Guten
und nicht für die Bösen.“ Die Bösen
wären auch die, die hiervonliterarischer
Leistung sprechen, von der epischen
Fachlichkeit, von der Handschrift einer
Schriftstellerin. Mit den gewohnten
Kriterien der erzählenden Gattung
kommt man nicht aus: weil das Ur-
phänomen dieses Buches so eigen¬
willig ist, so fern allem fröhlichen Er-
zählertum, der üblichen Neigung,
die Fakten der Welt und der Seelen
zu Handlungen zu verarbeiten. Und
da der Name der Bettina nun einmal
genannt ist, so sei bekannt, daß nie¬
mand ihr näher ist als diese Mechtild
Lichnowsky: in der seelischen Erfüllt¬
heit, in dieser Art von Geistigkeit, die
nicht Intellektualität ist, sondern das
Beisammen von Menschen, Tieren,
Landschaften und einem Denken, das
unschwer und gut die Körper durch¬
dringt. Dieses Buch hat keine jener
Eigenschaften, die den „guten Roman“
ausmachen: straffe Komposition; deut¬
liche Konturierung der Gestalten; einen
Gehalt, der klug über sie und Atmo¬
sphäre und Sprache verteilt ist. Es ist
eine langsam sich entfaltende Er¬
zählung, zwischen die Briefe und Tage-
* Erich Reiß, Verlag. Berlin
bücher eingeschaltet sind. Aber be¬
zeichnend ist, daß diese Feststellung
für den Charakter des Buches nichts
besagt. Daß es in eine ganz andere
Geographie einzuzeichnen ist: eben
dort, wo „Goethes Briefwechsel mit
einem Kinde“, „Godwi“, „William
Lovell“ leben. Ist MechtUd Lich¬
nowsky also eine Romantikerin? Weder
im Bildungssinne der ideologischen Be¬
geisterung noch im sentimentalen der
allzu gleitenden Gefühle. Aber in dem
ungewöhnlicheren eines Denkfühlens,
das in die geheimsten Zellen der
Menschen und Dinge vorstößt, alles
beseelend, alles erfüllend mit Land¬
schaft, Atem, tiefen Blicken und hellen
Nächten. „Grausam wie der weiße
Himmelskörper betrachtet der Mensch
das Sein der andern. Er schreitet
gewichtlos wie ein Toter — mit sieg¬
reichem Willen wie ein Lebender.
Und, was der Stern nicht kennt, Musik
ist im Menschen, dem die Nacht ge¬
hört.“
Die epische Situation ist heute so
sehr umstritten, so fragwürdig, daß es
an der Zeit ist, das Fazit zu riehen.
Das Leben ist so oft kopiert, alle
mögli chen Kombinationen menschlicher
Orte so durchprobiert und die kühlen
Analysen bis zu den letzten Atomen
getrieben worden, daß es nunmehr
wieder allein auf das Dichterische an¬
kommt: auf die Wahrhaftigkeit, die
von allen Konventionen, den litera¬
rischen wie den gesellschaftlichen, sich
befreite, die die Flüchtigkeiten des Le¬
bens zergleiten läßt und Welt gestaltet
aus dem innersten, glühendsten, reich¬
sten Kräftezentrum: dem wissend ge¬
wordenen Gefühl. Ich will keinerlei
Forderung stellen und keinerlei Kritik
geben. Aber aus diesem Wissen um
das Dichterische (das ewig dasselbe ist)
muß eine schmerzliche Armut der
letzten Jahre verzeichnet werden. Das
Buch von Mechtild Lichnowsky hat die-
sesDichterische in lange vermißterFülle.
Menschen, Tiere und alle Räume der
Anmerkungen 67X
Zeit und der Häuser sind Anschauung
geworden ihrer sprechenden, heilenden
Blicke. Jenes Leben, das nie in Hand¬
lung sich einfangen läßt, das ganz
Musik, Farbe, Leidenschaft ist, ab¬
sichtslose Erfüllung stiller Ahnungen —
es leuchtet hier durch das Schreiten
der Menschen, durch ihre Worte, ihre
Gebärden, ihre Schicksale. Und es
bedeutet Glück. Jenes Glück, das ein
sanfter und wissender Ephebe des Gei¬
stes in diesem Buche, so umschreibt:
„Das Glück ist eine Bewegtheit,
kein Empfangen in Ruhe; es ist eine
Bewegtheit wie das Leben selbst und
greift ein in mich, verändert Formen
in mir, Richtungen — macht mich erst
lebendig • . . auch mich bewegt es.“
Rudolf Kayser
Die Stimme Asiens
/^Vstasiatische Kunst und Kultur ist
^ seit einiger Zeit ein sehr wesent¬
licher Brennpunkt der geistigen Inter¬
essen Europas. Es vergeht kaum eine
Woche, in der nicht eine der öst¬
lichen Welt gewidmete Publikation er¬
scheint, das Publikum strömt in die
ostasiatischen Sammlungen, Vortrags¬
reihen werden veranstaltet, und auch
die Künstler lassen sich vielfach von
diesen Erzeugnissen anregen.
Dies ist die dritte Welle, die von
Ostasien über Europa hinflutet. Das
Rokoko erfuhr in Porzellan und Gobe¬
lins die erste nachhaltige Einwirkung.
Und als in den sechziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts die japa¬
nischen Holzschnitte in Paris auftauch¬
ten, meinten die Impressionisten eine
neue, ihrem eigenen Streben artver¬
wandte und ihre tiefsten Ideen ver¬
wirklichende Welt zu entdecken. Selbst
van Gogh schwebte die Farbigkeit und
Flächenbewältigung dieser Schnitte wie
ein nie erreichbares Ziel vor. (Einige
ahnten freilich damals schon das Mi߬
verständnis; es war doch wohlClzanne,
der die Dekorationen Gauguins mit
geringschätzigem Achselzucken „chi¬
nesische Bildchen“ nannte.)
Seither hat sich eine Generation
um die Erkenntnis des Ostens ge¬
müht. Forschungsreisen wurden unter¬
nommen, Museen eingerichtet, Einzel¬
forschungen, philosophische und völker¬
kundliche Werke veröffentlicht. Dies
alles blieb zunächst jenseits der all¬
gemeinen Aufmerksamkeit und man
kann auch nicht sagen, daß die For¬
schung trotz nachhaltiger und scharf¬
sinniger Arbeit das Wesen östlicher
Kultur und Geistigkeit, das Werden
und den Sinn dieser Kunst aufgehellt
hätte. Bezeichnend für die allgemeine
Unsicherheit ist, was Otto Kümmel,
der Leiter der Berliner ostasiatischen
Sammlungen, in einem kürzlich er¬
schienenen sehr anregenden Buch „Die
Kunst Ostasiens“ sagt: „Die Kunst
Ostasiens ist uns freilich zu einem
großen, vielleicht zum besten Teile,
noch unbekannt. . . Aber selbst dem
Bekannten stehen wir heute noch mit
unsicherem Gefühle gegenüber ... daß
ein großes Museum eine ganze Samm¬
lung von Massenkopien nach Werken
der europäischen Hauptmeister erwirbt
und als Meisterwerke ausstellt, daß
eine Sammlung europäischer Meister¬
werke für gewöhnliche Trödelware
erklärt wird, ist nicht mehr möglich.
Über ostasiatische Kunst aber ist in
Europa kein Urteil unmöglich.“
Inzwischen kam die große Flut. Sie
gewann besonderen Umfang dadurch,
daß ein immer mehr sich verbreitern¬
des Interesse für die indische und
chinesische Religionsphilosophie ein¬
setzte und empfing wohl ihre stärksten
Impulse aus den infolge der Kata¬
strophe des Krieges wachsenden Zwei¬
feln an der Sendung der europäischen
Kultur. „Untergang des Abendlandes“
war das ein wenig bequeme Stich¬
wort. Tagore wurde auf dem Boule¬
vards als Messias gefeiert.
Trotz grundsätzlicher Einwendungen
ö 7 2 Anmerkungen
gegen die Bewegung, die, ihre Mission
anzuregen überschreitend für viele
Vorbild, Sehnsucht oder Mode wurde,
wird man dankbar die mannigfachen
Bereicherungen, die fremde Art immer
der eigenen hinzuzufugen hat, aner¬
kennen und in diesem Sinn zahlreiche
der in den letzten Jahren erschienenen
Publikationen und das in ihnen dar¬
gebotene Bildermaterial entgegen¬
nehmen. Weitergehende Ansprüche
freilich müssen zurückgewiesen wer¬
den. Auch auf die Gefahr des Mißver¬
ständnisses und des Vorwurfes reaktio¬
närer Gesinnung soll nachdrücklich be¬
kannt werden: Diese Schöpfungen
liegen für den, dem Kunst und Kultur
mehr bedeutet als eine Angelegenheit
ästhetischer Neigung, geschichtlicher
und formaler Entwicklung, notwendig
jenseits der Grenzen des Daseins. Wir,
die auf anderem Boden aufwuchsen,
in anderem Glauben und änderer Kul¬
tur wurzeln, haben keinen Zugang zu
den Schöpfungen jener Welt, der über
ästhetisches Wohlgefallen und mannig¬
fache formale Berührungen hinaus¬
ginge. Wir werden sie bewundern,
aber sie werden uns im letzten immer
fremd bleiben. Die Pfeiler unserer
Welt sind der romanische Dom und
der gotische Wasserspeier. Unter an¬
derem Himmel wuchs und lebt Buddha
und der indische Tempel. Dies Be¬
kenntnis hat nichts mit europäischer
Überheblichkeit zu tun, es behauptet
vielmehr gerade die Grenzen euro¬
päischen Denkens, Fühlens und Ge-
staltens. Die Zeiten, da Missionar und
Kaufmann mitleidig und herablassend
an den Kunsterzeugnissen Asiens vor¬
übergingen, sind vorüber.
Aber Abendland bedeutet für uns
nicht ein Gewand, das man je nach
Laune und Tageszeit anzieht und ver¬
tauscht, vielmehr Wirzel und Atem.
Drüben ist vielleicht der Ausgleich,
die Harmonie von Geist und Körper,
von Diesseits und Jenseits. Der Rhyth¬
mus des Tanzes mag Jenen Gottes¬
dienst und Lebenstrieb in einem be¬
deuten. Schicksal und Wesen des abend¬
ländischen Menschen aber ist, seit der
Stunde, da das Christentum in die
Welt kam, der Dualismus von Geist
und Fleisch. Ein jeder muß seinen
Weg bis ans Ende gehen.
Kurt Pfister
Vom Kriege
E uren Feind sollt ihr suchen, euren
Krieg sollt ihr führen, und ffir
eure Gedanken!“ Also sprach Zara¬
thustra und dachte Werenwag, ah er
die „spitze“ Feder nahm und -a®
Februarheft — über den Professor
Lerch schrieb. Gern erklären vir
Herrn Lerch: nie harten wir die Ab¬
sicht, Sie zu beleidigen. Aber sollen |
die spitzen Federn denn rosten, ist
das Wort der Kritik, der scharfen
Kritik, verboten; sind wir reich ge¬
nug, um den Kampf entbehren w
können? R. K*
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Rudolf Kayaer.
Verlag ▼onS. Racher, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig.
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