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Full text of "Die Neue Rundschau 33.1922, Bd. 1"

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INHALTSVERZEICHNIS 
Romane, Novellen, Dramen, Gedichte, Briefe, Tagebücher: 


I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco.24 

I. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch.393 

Friedrich Burschell, Reise in die Stadt.537 

Richard Dehmel, Briefe.127 

Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten.113 

Josef Ponten, Unterredung im Grase.182 

Albrecht Schaeffer, Das Gitter.265 

Wilhelm von Scholz, Gedichte.312 

Bernhard Shaw, Am Anfang.356 

Leo Tolstoi, Tagebuch.48, 138 

Franz Werfel, Arien..15 

Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley . . . .627 
Stefan Zweig, Phantastische Nacht. 513,590 


Literatur, Kunst, Wissenschaft: 


Hermann Bahr, Stifter.470 

Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 402 

Emst Robert Curtius, Über Andre Gide.528 

Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ . . . . 86 

Hellmuth Falkenfeld, Antroposophie, Christentum und 

Philosophie der Vernunft.317 

Iwan Goll, Paris Stern der Dichter. 6 34 

Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde . . . . . 75 


















Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion.<! 

Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken.15 

Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag . . 49 

Richard Specht, Arthur Schnitzler.48 

Adolf Weißmann, Moderne Musik.3 c 

Politik, Geschichte, Wissenschaft, Reisen: 

Friedrich Burschell, Reise in die Stadt.53 

M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates.56 

Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft . 34 

Alfons Goldschmidt, Vertrustung.9 

Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina . 247, 37 
Junius, Politische Chronik . . 102,214,324,430,548,05 

Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur . . 
Rudolf Pannwitz, Internationale und Europäertum ... 44 
Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs und unsere 

östlichen Nachbarvölker.22 

Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus . . . .17 

Samuel Saenger, Was wir wollen und sollen. 

Emst Troeltsch, Die Krise des Historismus.57 

Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche.15; 

Alfred Weber, Deutschland und der Osten.33 

Chronik Werenwags.202, 422, 6 + 

Anmerkungen: 

Erich Auerbach, La Fontaine und Pierre Mille.44 

Adolf Behne, Alt-Spanien.44 

Bernhard Guillemin, Joseph Caillaux.11 

R. K., Stimmen des Auslands . . .110, 222, 331, 443, 55p, 66 

R. K., Vom Kriege. <*7 

Hermann Hesse, Exotische Kunst.33 

Rudolf Kayser, Geburt . . • • • • .<*7 

Rudolf Kayser, Der fünfzigjährige Alfred Mombert . . . .22 

Ferdinand Lion, Poincare.33 

Paul Mayer, Karl Ludwig Schleich f.44 

Kurt Pfister, Die Stimme Asiens.67 

























WAS WIR WOLLEN UND SOLLEN 

von 

SAMUEL SAENGER 

E s ist müssig zu fragen, ob wir mit der Niederlage, dem Zusammen» 
stürz der alten Herrschaftsordnung, der Erschütterung der deut¬ 
schen Wirtschaft und dem sonstigen trübseligen Erbe der wilhelminischen 
Epoche schneller fertig geworden wären, wenn in Versailles die im¬ 
perialistischen Orgien sich nicht so plebejisch ausgetobt hätten, wenn 
die menschlichen Solidaritäten dort nicht verraten und auf die Scherben 
des zerschundenen Mitteleuropa nicht jene unsittlichen Paragraphen 
gehäuft worden wären, die geschaffen wurden, uns dauernd fremdem 
Willen zu versklaven. Das dort gefertigte „Friedens“werk zäsarisch 
sich gebärdender Gewaltmenschen erweist jeder neue Tag immer deut¬ 
licher als den großen Infektionsherd, der unseren Erdteil verpestet 
und den auszutrockenen aus allen Weltwinkeln die Heilkünstler zu-, 
sammengebettelt werden. Dies festzustellen, mag beim Hineingleiten 
ins vierte Lebensjahr der deutschen Republik immerhin ein Trost sein. 

Aber es ist nützlicher und männlicher, sich bei dieser Gelegenheit 
vor den Anklagen des eigenen Schicksals nicht taub zu stellen und 
die Gewissensforschung, die zu Hause beginnt, nicht zu vernachlässigen, 
zumal die von Falschmünzern des Nationalgefühls betriebene Vergoldung 
von Fehlem, Schwächen und Sünden neben seelischen auch politische 
Gefahren im Gefolge hat und den Weg ins Freie verrammelt, den wir 
suchen und finden müssen. Es wäre unehrlich zu leugnen (und ver¬ 
hängnisvoll zu vergessen), daß die lange Gewöhnung an kommandierte 
Ideale und die harte, unelastische, zeitfremd gewordene Vormundschaft 
eingebildeter Herrenmenschen die politischen Zeugungskräfte der Natur 
gelähmt haben. Wer spürte das heute nicht? Die von kümmerlichen 
Bismarckepigonen gepflegte Ideologie bestand ja darin, die politische 
Impotenz des so bildsamen und so fügsamen Volkes zu wollen und 
diesen Willen in eine deutsche Spezialtugend umzudichten; sie war das 
Lieblingswerkzeug der beamteten Intelligenz, um den deutschen Phi¬ 
lister gegen jene wenigen scharf zu machen, die, aus dem bürgerlichen 



2 Samuel Saenger, Was wir wollen und sollen 

Lager stammend und die innen- und außenpolitischen Gefahrenquellen 
des starren Systems erkennend, die Erziehung zur parlamentarischen De¬ 
mokratie nicht als Wohltat und Genuß, sondern als unvermeidbare Etappe 
für ein großes Industrievolk: als Notwendigkeit und Aufgabe empfahlen. 
Der nach innen gewandte, seine Eisschollen ins Seelische und Geistige 
schwemmende Militarismus war die Folge; und es zeugt von perverser 
Umkehrung von Ursache und Wirkung, wenn man ihn hinterher durch 
Hinweis auf den äußeren Militarismus der plutokradschen Westländer zu 
erklären oder gar zu rechtfertigen sucht, — ohne zu bedenken, daß nur 
der aufrichtige Glaube an die sittliche Idee und die aufbauende Kraft der 
Freiheit uns retten, uns unflberwindbar, uns zum Attraktionszentrum der 
östlichen Welt machen kann. Was Wunder, daß dann, als dem alten Sy¬ 
stem — nach heroischem Kampfe, es ist wahr — die Totenglocke läutete, 
ein blutleerer Notwille zu freistaatlicher Gemeinschaft schüchtern und 
verlegen sich entband, und daß ihm ohne Leidenschaft, ohne Begeisterung, 
ohne Schwung, ohne Opferwillen und ohne jenes trunkene Glücksgefühl 
gedient wird, das doch früher bei den staatlichen und gesellschaftlichen 
Umwälzungen der anderen großen europäischen Völker von den Fahnen¬ 
trägern der neuen Freiheitsidee—die immer eine neueWirtschafts-, Rechts¬ 
und Ordnungsidee war — auf die Massen überströmte und Helden . . . 
wie Narren und Verbrecher gebar. 

Nichts Ähnliches haben wir erlebt. Unsere Pyms und Hampdens und 
Mirabeaus blieben ungeboren. Kastrierte Parlamente schlotterten vor 
Beamtenministem, die tüchtig und ehrlich vorwalten konnten, aber 
mit unverdauten Brocken aus Bismarcks Erbe ihre Weltpolitik be¬ 
trieben und das Deutsche Reich, unter dem Druck der wirtschafts¬ 
mächtigen Nebenregierangen, in die heutige Ohnmacht steuerten. Die 
Erinnerung an das bischen von zahmen aber idealischen Bürgern ge¬ 
machte Freiheitsgeschichte vor der Blut- und Eisenära war ausgelöscht 
und wurde von den Pedanten der Schule mit Hohn beladen, sie konnte 
keine politische Substanz ansetzen. Unsre Paulskirchler wurden als 
Trottel karikiert und alle Regungen des bürgerlichen Emanzipations¬ 
kampfes zwischen dem großen Friedrich und Bismarck zur Makulatur 
der deutschen Geschichte eingestampft. Was blieb in der Sphäre von 
Bildung und Besitz? Der politisch zum homme maschine herabregierte 
Untertan, der sich an der Mimikry pseudoaristokratischer Manieren be¬ 
rauschte und seinen Ort irgendwo in Byzanz suchte. Unerhofft und un¬ 
erwünscht, auf dem blutigen Umwege einer „großen“ Politik, die selber 
das Angstprodukt von Schwächlingen gewesen war, kam für ihn die 



Samuel Saenger, Was iv'tr •wollen und sollen 


1 


Stunde der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, und so taumelteer, 
seelisch und politisch unvorbereitet, zur Freiheit wie der Verurteilte zum 
Schaffott. Nun strebt er, nachdem die Lähmung der ersten Unglücksjahre 
gewichen und der (bewundernswerte) Furor des deutschen Arbeitswillens 
den Schein normaler Zustände geschaffen hat, zum Faulbett der alten Ideo¬ 
logien zurück, in der eitlen Erwartung einer Wiederkehr des Gleichen. 
Nicht einmal das handfeste Gebaren der eigentlichen Volksparteiler, die 
sich, erst gläubig und opfernd, dann selbstbewußt und fordernd, Jahr¬ 
zehnte hindurch um die Altäre des Sozialismus gesammelt hatten und nun 
auf Staat und Gesellschaft die Erste Hypothek gelegt haben: nicht einmal 
diese Tatsache scheint imstande, die Masse der bürgerlichen Elemente und 
ihrer Intellektuellen vor dem Ritt in dieVergangenheit zu warnen. Es bleibt 
als einzige Gemeinsamkeit, um deretwillen die Parteien der himmelweit 
getrennten Nationen, in die heute das deutsche Volk zerrissen ist, die 
„große“ Koalition zu bilden trachten, — der gemeinsame Bankrott übrig. 

Welche Politik wir zu bekennen und publizistisch zu fördern haben, 
unter solchen Qualen von außen her und unter solchen Unfertigkeiten 
und Gegensätzen im Inneren, ist durch die Überlieferungen dieser Zeit¬ 
schrift ebenso vorherbestimmt, wie die dichterischen und literarischen 
Werte, die zu pflegen sie vor anderen berufen ist. Mit dem Bekenntnis 
zum demokratischen, zum republikanischen, zum sozialen Gedanken allein 
ist nichts getan, es muß vom Fluch des Dilettantismus befreit werden, um 
zum Werk zu gelangen; unsre schicksalsvolle Lage kann von Parteigläubig¬ 
keit nicht gebändigt werden; Willen zur Sachlichkeit entscheidet und 
Gefühl für das Notwendige hilft Mittel entdecken. Und noch weniger 
zwingen Programmwütigkeit und Programmgläubigkeit künstlerische Vi¬ 
sionen herbei: aus dem neuen Lebensgefühl der Menschen, das, unter halb¬ 
verwesten Formen, der Erlösung entgegentreibt, steigen sie im genialen 
Individuum empor, kristallisieren sich zum Werk und stehen plötzlich 
sinnlich greifbar mitten unter uns, — Gnaden ausschüttend, Zweifel ver¬ 
jagend, den nüchternen Dienst am Tage adelnd. Im Schoße unsres großen 
Volkes, dessen Arbeitswille und Arbeitsintelligenz heute wieder so manches 
andere beschämt und dessen Seelenkräfte die Schatzkammern der Mensch¬ 
heit mit Köstlichstem gefüllt haben, schlummern noch unausgebeutet 
Reichtümer: kommt, Ihr Woller und Gestalter, und helft sie nutzbar 
machen und neue Morgenröten herbeiführen. Ohne das heilige Feuer, 
das nur in geistigen Menschen brennt und auch im Tatmenschen den 
Willen zur Unbedingtheit härtet, versinken wir in dunkle Nacht, in 
der reine Wirtschafter und Bürokraten uns ihren Tag bereiten. 



ZUR SOZIOLOGIE DER MODERNEN KULTUR 

von 

RUDOLF KAYSER 

E s ist die schmerzliche Paradoxie der gesamten „Neuzeit“, daß die 
individualistische Befreiung der Renaissance uns in Abhängig¬ 
keiten und Bindungen hineingeschlagen hat, wie die Welt sie vorher 
nie gekannt. Wenn heute das soziale Gefüge wankt und bebt, wenn 
die gesellschaftliche Problematik zu leidenschaftlicher Diskussion steht, 
ohne daß die rettende Losung sichtbar wäre, so sind wir, wenn auch 
nicht in der Sache, so doch im Schicksal in die Anfänge dieser Epoche 
zurückgeschleudert. Es gilt, dieses Schicksal in all seiner Sonderbar¬ 
keit zu begreifen, den Blick nicht abzuwenden von unserm kulturellen 
Verhängnis, das langsam sich zu entschleiern beginnt. 

Wir kennen den psychologisch-formalen Charakter des Renaissance- 
Individualismus, die Schmalheit seines Prinzips gegenüber den materialen 
Inhalten der mythoshaften Weltanschauungen des Orients und des 
christlichen Mittelalters. Wir sehen die Folgen dieses Prinzips sich 
auswirken am schöpferischen Menschen und als seine unaufgebbare 
Lebensatmosphäre: die Einsamkeit. Aber vergessen wir angesichts der 
repräsentativen Macht der Werkschöpfer nicht die kulturelle Situation 
jener, an die das Werk sich wendet: die Einzelnen innerhalb der gesell¬ 
schaftlichen Schichten und die Schichten oberhalb der Einzelnen; die 
Möglichkeiten geistiger Konsumtion, die ja für die Produktion die natür¬ 
liche, fast körperhafte Bedingung ist. 

Es sei gesprochen vom konsumierenden Typus, so weit er nicht auf 
die Staats-, Wirtschafts-, Rechts- und Klassensysteme bezogen ist. Es 
sei gesprochen von seinem kulturellen Leben, von seinen Beziehungen 
zum Geist jenseits der Produktion; von den Möglichkeiten, die er den 
zeitgenössischen Dichtern, Denkern, Bildnern entgegenbringt; und da 
beginnt sofort der soziologische Konflikt der modernen Kultur: daß 
es den Menschen, den kulturell empfänglichen Menschen, losgelöst von 
diesen Bezugssystemen, — nicht gibt. Er ist so unfrei, daß das reine 
Aufnehmen des ihm Gebotenen kaum möglich ist. Immer bedrängen ihn 
Assoziationen, die ihn aus der natürlichen Beziehung zwischen Subjekt und 
Objekt hinausschleudern, hinein in die soziale Wirklichkeit und der von 
ihr bestimmten Verhaltungsweisen. Er kommt nicht los vom zeiträumlichen 
Alltag, von den Erfahrungen im Beruf, von einer Systematik der Menschen¬ 
welt, die aus keinerlei Wertmaßstäben, sondern allein aus Technik und 



Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 5 

Nützlichkeit geschaffen ist. Er sieht die Landschaft als Gegenstand der 
Sonntage und Urlaubsreisen, und Berg, Ebene, Meer sind in ihrem 
Rhythmus und Atem kaum anders unterschieden, als durch die ver¬ 
änderten äußeren Lebensverhältnisse, die sie bedingen. Man erfahrt 
Religion nicht anders als durch die staatlich durchorganisierte Kirche. 
Wissenschaft ist das behördlich vorgeschriebene Material der öffent¬ 
lichen Lehranstalten und Vorwand der Examina. Und Kunst — von 
allen sozialen Determinanten in gleicher Weise umschlossen — die 
problematische, aber geschäftlich ausnützbare (und dadurch vielen legiti¬ 
mierte) Gelegenheit zu abendlicher Unterhaltung und gehobenerer Atmo¬ 
sphäre oder aber (in den heroischen Fällen) die nie erfolgreiche und 
deshalb vom Bürger verlachte Opposition gegen die gesellschaftlichen 
Mächte. 

Dem Geist — neben der Natur das einzige autonome Prinzip! — 
steht so gegenüber der relativistische, der assoziative Mensch. Er wandelt 
durch mannigfaltige Erregungen, um schließlich an irgendwelche bürger¬ 
liche Konventionen sich anlehnen zu können. Er ist verstrickt in ein 
unauflösbares Netz von Abhängigkeiten, die mit der Tageseinteilung 
beginnen und in einem dumpfen Materialismus als Quasi-Metaphysik 
enden. Ebenso wie die Natur kann er auch den Geist und seine 
kulturellen Schöpfungen nicht anders fassen als durch die technisch¬ 
sozialen Kategorien, die sein praktisches Leben beherrschen. Differen¬ 
ziert, wie sie sind — da die moderne Gesellschaft einen fein schwin¬ 
genden Apparat benötigt — haben sie assoziative Möglichkeiten genug, 
den bürgerlichen Menschen bis an das kulturelle Bereich heranzuführen, 
ohne daß er es wirklich betritt. 

Der assoziative Mensch! Seine seelischen Energien, durch die Um¬ 
welt sehr beschränkt, scheuen vor weiteren Wegen zurück. Er braucht 
die Ähnlichkeiten zu alltäglichen Vorgängen, also auch die Anknüpfungen 
an jene Bezugssysteme, die das soziale Leben beherrschen; er kann der 
geistigen Erfahrungen nur so weit Herr werden, als sie mit den 
materiellen verbunden erscheinen. Deshalb sind seine Methoden gegen¬ 
über den kulturellen Ereignissen nicht von ihnen selbst oder der ihnen 
übergeordneten platonischen Idee abgeleitet, sondern allein aus der 
Methodik des sozialen Lebens, in letzter Linie also aus dem wirt¬ 
schaftlichen Gesetz von Angebot und Nachfrage. Der Kaufmann be¬ 
tritt eine Ausstellung neuer Kunst und sucht eine Orientierung, indem 
er die Bilderpreise erkundet. Der Beamte liest einen Roman und 



6 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 

vergleicht die Gestalten und ihren Lebensstil mit seinen Amtsgenossen. 
Der Arbeiter betritt ein proletarisches Bildungsinstitut und verlangt 
Unterweisung im Sinne seiner marxistischen Klassenphilosophie. Man 
kennt diese Beispiele. Sie besagen, daß der kulturelle Mensch als halb 
lächerlicher, halb gehaßter Außenseiter des modernen sozialen Lebens 
nicht emporkommen kann, daß er der Häretiker seiner Schicht bleibt 
(die immer die sozial fortgeschrittenste ist: bis zum achtzehnten Jahr¬ 
hundert der Adel, dann das Großbürgertum). Das Lebensgefühl des 
modernen Menschen ist so aufgezehrt von den sozialen Mächten, daß 
flIr die kulturellen Dinge nur die Pausen bleiben, die Stunden, wo der 
Druck der wirtschaftlichen Dinge ein wenig nachgelassen hat. Nur 
jene, die materielle Gunst oder der dämonische Zwang des Selbst von 
diesen Abhängigkeiten befreite, schufen die schmale Schicht der Intel¬ 
lektuellen, die seltsam gefligt aus den Söhnen der Herrscherschicht und 
den Desperados des Schicksals, sich von den Methoden des bürgerlichen 
Lebens zu befreien sucht Aber ihr Lebenswille verzehrt sich im Kampf. 
An Zahl und Vitalität sind die Intellektuellen zu schwach, um gegen¬ 
über der Mächtigkeit der Umwelt ihre Ansprüche durchsetzen zu 
können. Sie geraten in eine pathologische Stimmung; sie haben die 
Feinheit des Leidens; sie bilden eine künstliche Rasse; sie sind Subli¬ 
mierung und Abstieg zugleich. 

Die ^Intellektuellen" stellen seit der Renaissance die eigentliche 
kulturelle Macht dar; gegenüber den schöpferischen Geistern sind sie 
die aufnehmenden, verarbeitenden, propagierenden; sie sind die erste 
Schicht, auf die die Werkleistung auf ihrem öffentlichen Wege stößt 
(in den späteren wird sie immer mehr zur Bildungsangelegenheit); sie 
stellen jene Macht dar, die die eigentliche, äußerst dünne Lebensatmo¬ 
sphäre den Werken schaßt. Ihre soziologische Strucktur hat seit der 
Renaissance häufig gewechselt: zunächst war ihr Bereich die Fürsten¬ 
höfe, dann die adligen Salons pariserischer Färbung und dann jene 
weltstädtische, aus dem Großbürgertum stammende neue Rasse, an der 
das im Schicksal verwandte Judentum bedeutsamen Anteil hat. Aber 
trotz dieses Wandels blieb der Charakter derselbe. Es handelt sich 
um Menschen, deren Dasein — trotz ihrer oppositionellen Stellung 
zu ihr — nur aus der modernen Gesellschaft zu erklären ist, deren 
Aussehen und Gewohnheiten durch die soziale Schicht bestimmt sind, 
der sie entstammen, ganz gleich, ob sie (wie bis 1800) diese Schicht 
bejahen oder aber (wie heute zumeist) durch wirtschaftliche Umstände 
zu einer Kampfesstellung sich gezwungen sehen, die sie häufig sogar 



Rudolf Kayser , Zur Soziologie der modernen Kultur 7 

in eine politische Opposition treibt und so in ein ihnen wesensfemes 
Lager, trotzdem doch gesellschaftliche Heimatlosigkeit das eigentliche 
Merkmal der IntellektueUen-Rassen ist. 

Dieses (hier nur flüchtig skizzierte) Intellektuellen-Publikum zeigt 
gegenüber dem Geist eine ähnliche Problematik wie der moderne 
schöpferische Mensch selbst Auch hier das Fehlen einer Gemeinschaft} 
die sich mit den Werken als Ausdrücken einer absoluten Idee ver¬ 
bunden fühlt. Aber auch hier die Einsamkeit gegenüber dem Volk, 
der Masse, die innerhalb ihrer gesellschaftlichen Unfreiheit zum geistigen 
Aufnehmen überhaupt nicht gelangt Die Einsamkeit der Intellektuellen 
unterscheidet sich nur insofern von denen der Schöpfer, als sie weniger 
individual charakterisiert ist, vielmehr das natürliche Schicksal einer 
dünnen Schicht in oder am Rande der Gesellschaft darstellt Diese 
selbstverständlichen, aber meist unterschätzten Tatsachen sind zu tief 
im geschichtlichen Aufbau des bürgerlichen Zeitalters verankert und 
allzu mächtig, als daß etwa kunstpädagogische Reformen gegen sie 
etwas ausrichten könnten. Die sozialen Bindungen sind zu stark, und 
fast ohnmächtig die Energien, die sie noch frei lassen, so daß nur die¬ 
jenigen ein kulturelles Leben führen können, die durch stärksten Entschluß 
oder durch dynamisches Gesetz sich außerhalb der Gesellschaft stellen: 
die einsamen Schöpfer und die Desperado-Klasse der Intellektuellen. 
Dadurch aber führt der Geist ein schmales, künstliches Sonderdasein 
und bleibt fern dem Wesen der Zeit und ihren Wirklichkeiten; er 
bedeutet nicht Festlichkeit und Steigerung gegenüber dem Alltag, son¬ 
dern etwas ihm Fremdes, ja Feindseliges. 

Es ist eben aus dem individualistischen Gedanken und der Unmög¬ 
lichkeit, seine letzte Konsequenz: die Anarchie zu ziehen, ein System 
entstanden, dessen Zweck es ist, die notwendig gewordenen sozialen 
Bindungen als Konzessionen herzustellen, aber nicht wie im Mythos 
über den Menschen, sondern als rein technische Bindeglieder zwischen 
ihnen. Dies System ist die Legalität. In ihr vollzieht sich eine 
Aufspeicherung von Mächten und Energien, größer vielleicht als je 
in irgendeinem Mythos. Daß diese ungeheure Macht, die nicht nur 
in Gesellschaftlichen, sondern auch im Kulturellen sich auswirkt, letzten 
Endes doch unschöpferisch blieb, kommt daher, daß ihre geschicht¬ 
liche Aufgabe ihre Daseinsmöglichkeiten sehr übertrifft. Schüchtern, ja 
schamhaft setzen in und nach der Renaissance die ersten Legalisierungen 
des Lebens ein, wissend bereits, daß angesichts der .revolutionären 
Forderungen des Individualismus sie nicht ungefährliche Konzessionen 



8 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 

bedeuten. Aber da die Rückkehr zum Mythos unmöglich geworden 
war und andererseits die radikale, nämlich anarchische Konsequenz 
des neuen Prinzips utopisch erschien, so bedurfte es eben der Mittel 
und Wege, die Freiheit der Individuen einzuschränken, um die Freiheit 
der anderen Individuen nicht zu zerstören. Diese deutliche Verkümme¬ 
rung des individualistischen Gedankens, die aber unvermeidlich ge¬ 
worden war, um die grundlegenden Forderungen desselben Gedankens 
durchzusetzen, offenbart schon die ganze tragische Paradoxie, die in 
ihrem vollen Umfange aber erst heute sichtbar wird. Das System 
der Legalität ward das neue politische und kulturelle Prinzip, das die 
beiden älteren Prinzipien des Staatslebens: die traditionelle Herr¬ 
schaft der Patriarchen und des alten Fürstentums, die charismatische 
Herrschaft im religiösen oder heroischen Staatsgedanken ablöste, ein 
Prinzip, das Max Weber so definierte: „Herrschaft kraft Legalität, kraft 
des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational 
geschaffene Regeln begründeten sachlichen ,Kompetenz c , also: die Ein¬ 
stellung auf Gehorsam in der Erfüllung satzungsmäßiger Pflichten: 
eine Herrschaft, wie sie der moderne ,Staatsdiener* und alle jene Träger 
von Macht ausüben, die ihm in dieser Hinsicht ähneln“. 

In der Grundgesinnung dieses Prinzips, dessen langsamer Sieg dem 
revolutionären Schlag gegen die ermüdete christliche Mythoswelt folgte, 
liegt die Unmöglichkeit und Unfähigkeit enthalten, den ererbten geisti¬ 
gen Raum mit der dünnen psychologischen Atmosphäre auszufüllen, 
die allein uns zur Verfügung steht. Die soziologischen Wirkungen, 
die das Legalitätsprinzip geschaffen hatte und die immer weitere Ver¬ 
feinerungen erfuhren, waren so nicht beabsichtigt, da ja das Prinzip 
selbst nur da war, um die individualistische Fiktion aufrecht zu halten 
und scheinbar zu schützen. Aber aus einer Hilfskonstruktion ward 
ein mächtiges Gefüge von Verfassungen, Gesetzen, Einrichtungen, Ver¬ 
bänden, die jedes Leben einbezogen in ein vielmaschiges, abstraktes 
und künstliches, gänzlich ungöttliches System. Es war dieses System, 
das dann die materialistische Geschichtsphilosophie heiligte, das System, 
das Marx, sachlich gewiß falsch, aber geschichtspsychologisch zutreffend, 
dann zum absoluten Herrscher einsetzte: „Der Mensch, das ist die Welt 
des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren 
die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte 
Welt sind . .. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der 
Kampf gegen eine Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“ 



Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 9 

Diese unsinnige Verkennung des Wesens der Religion ist irgendwie doch 
durchaus sinnvoll, nämlich dann, wenn man in ihr die vollkommene 
Verzerrung und sinnlose Rolle erkennt, die die Religion in den letzten 
Jahrhunderten zu spielen hatte. Das neue System mußte jeden Weg 
zum Religiös-Metaphysischen versperren und die allgemeine Sehnsucht 
von ihren natttrlichen Gegenständen ablenken. So erklärt sich die heim¬ 
lich unheimliche Tendenz der Antimetaphysik in der gesamten mo¬ 
dernen Kunst und Wissenschaft, die vielen neuen Dogmengebäude der 
Empiriker und der Methodiker, die beide ja die metaphysischen Flöge 
verbieten und die es zuvor in dieser Stärke nie gab. 

Aber die metaphysische und religiöse Sehnsucht läßt dauernd sich 
nicht unterdrücken. Selbst in dem fremden Gewände von Staatsabso¬ 
lutismus, Materialismus, Sozialismus werden sie sichtbar und weisen 
mit ihren neuen alten Forderungen aus der Gegenwart hinaus. Wir 
sehen gerade jetzt wieder die verschiedenartigsten Versuche, das meta¬ 
physische Reich neu zu erobern; wir erkennen aber wieder und wieder 
unsere Ohnmacht gegenüber der immer noch starken, wenn auch zum 
Tode verurteilten Legalität. Seitdem uns der christlich-orientalische 
Mythos verlorenging, ist die fibermaterielle Wirklichkeit zu keinerlei 
kulturellen Macht mehr gelangt; an ihrer Stelle aber behauptet sich diese 
paradoxe Künstlichkeit des Legalitätsystems. Aber jeder revolutionäre 
Aufbruch im politischen und kulturellen Leben hat diesen Sinn: fiber 
das Legale zum Ideellen vorzudringen, statt einer fiktiven, künstlichen 
Macht eine lebendige zu errichten, wie etwa der Katholizismus selbst 
in seinen schwächsten Perioden es war. 

Aber Gott geschieht nur im Mythos; er realisiert sich nur als natür¬ 
licher Vorgang, als Bild, als Lehre, als Dasein. Deshalb kann die Sprache 
der Legalität, also der staatlichen, sozialen, wissenschaftlichen, ästhe¬ 
tischen Gesetzmäßigkeit nicht zum Ausdruck bringen, was seinem ganzen 
Wesen nach ihr entgegengesetzt ist. Der kärgliche Rest, der dem Indi¬ 
viduellen geblieben ist, reicht nicht aus, um Gott zu gebären. Man über¬ 
sieht zumeist, daß Gott erst dann existiert, wenn die religiöse Gewalt 
jede andere verdrängte und ihn als Mittelpunkt einer universaleren Welt 
schafft. Die Mythen, die wir heute zumeist beschwören, sind nicht 
lebendig, sind Bildungsangelegenheiten, sind schwache Romantik. 

Alan versteht die Legalität zumeist als rein staatsrechtliches Prinzip. 
Es ist aber sehr leicht zu zeigen, wie dies Prinzip, in Wechselbeziehung 
zu dem psychologischen Charakter des Renaissance-Individualismus, auf 



io Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 

die kulturellen Gebiete hinübergreift, wie es durch immer weiteren 
Ausbau und Vergrößerung seines Apparats sich zum Herrn des mo¬ 
dernen Lebens macht. Damit sei keineswegs jene schiefe Behauptung 
wiederholt, daß das politisch-soziale Moment Allbeherrscher geworden 
ist. Moderne Kunst und Wissenschaft bedeuten nicht ohne weiteres 
das unterwürfige Gefolge der Staats- und Gesellschaftsgesinnung. Aber 
desto stärker sind die indirekten Wirkungen, die dieses Prinzip auf 
die Kultur ausübt und durch sie deren Charakter bestimmt. 

Im wesentlichen handelt es sich hier um zwei Wirkungen: um die 
neue soziale Schichtung in einsame Schöpfer und ihnen gegenüber 
das unbeteiligte Volk — zwischen beiden die Intellektuellenschicht — 
und andererseits um die ständig wachsende Macht der absoluten Form¬ 
prinzipien, die durchaus den rationalen, künstlichen Formen der 
staatlichen Legalitätsherrschaft entsprechen. 

Die soziale Umschichtung, die zutiefst Sinn und Gestalt der geistigen 
Werte änderte, geschah gleichzeitig mit dem immer neu und immer 
schärfer beginnenden Kampf zwischen Romantismus und Klassizismus, 
zwischen Formauflösung und Formschöpfung. Dieser Kampf, der sich 
nicht nur in der Kunst, sondern ebenso in der Philosophie (in den 
Gegensätzen zwischen Rationalismus und Irradonaiismus; Idealismus und 
Realismus; Deduktion und Induktion) vollzieht, zeigt den Einbruch 
und die Eroberungssucht des Legalitätsprinzips selbst in den stillsten 
geistigen Provinzen. Man will selbst das Kunstwerk (und damit auch 
das Erlebnis, das ihm zugrunde liegt) legalisieren. Man rechtfertigt es 
von ästhetischen und moralischen Gesetzen und Maßstäben her. Man 
erfindet Namen, Schulbezeichnungen, Verfassungen, wie sie ganz aus 
den rationalen Begriffen innerhalb des politischen Legalitätssystems ab¬ 
geleitet sind. Man schafft, wenn auch nicht staatliche Kunst, so doch 
Kunststaaten. Darin offenbart sich wieder die tragikomische Ohnmacht, 
die die Renaissance hat entstehen lassen: daß die Befreiung von den 
materialen Zwängen der Mythoszeit den schlimmeren Zwang des Legalen 
und Formalen herbeirief: daß die individualistische Revolution mecha¬ 
nische Bindungen in allen Bezirken erzeugte; daß also dieser Individualis¬ 
mus sich freiwillig seiner Freiheit entledigte. Das Wort „la legalitd nous 
tue“ hat in dieser Beziehung einen neuen und furchtbaren Sinn. 

Der geistige Zusammenhang zwischen den Menschen geschieht in 
universalistischen Zeitaltern durch Religion, durch Mythos, durch Glau¬ 
ben, und dieser Zusammenhang ist die eigentliche politische und kultu- 



Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur n 

relle Macht. Diese Geltung beanspruchte auch der moderne Individua¬ 
lismus für das einzelne Ich. Humboldt erklärte: „Der höchste und 
letzte Zweck jedes Menschen ist die Ausbildung seiner Kräfte in ihrer 
persönlichen Eigentümlichkeit“, einen Gedanken, den Stirner zum radi¬ 
kalen Egoismus verstärkte: „Mir geht nichts über mich“. Je heftiger 
aber solche individualistischen Formulierungen wurden, je schroffer sie 
einen deutlichen Subjektivismus vertreten, desto stärker wird in der 
Praxis des Lebens die Legalität, die niemand so gewollt hat Diese 
Praxis beweist, welch träumerisch-romantisches Denken es ist, die immer 
wachsenden Beschränkungen meiner individuellen Möglichkeiten als 
meiner Freiheit erste Tat zu preisen (wie es etwa die Schleiermacher- 
sche Ethik tut). Die freiwillige Unfreiheit gerät sehr schnell an den 
Punkt, wo ihre Herkunft unwichtig, wo sie selbstherrlich und eine 
Macht mit unbezähmbarer Beutelust geworden ist Der Dualismus 
zwischen dem natürlichen Ich und der künstlichen Legalität greift so¬ 
gar in das Innere des Ich hinein und spaltet es. So kommt der Kampf 
in uns selbst, zwischen dem was uns natürlich und dem was legal 
ist. Es kommt der grauenvolle Passionsweg zur Einsamkeit, der in 
Werken gipfelt, die die schmerzliche Befreiung von der von außen 
nach innen vorgeschrittenen Legalität bedeuten: jedes Genie der Neu¬ 
zeit mußte sich ja erst von der Formgesinnung der ästhetischen, mora¬ 
lischen, politischen Schulen und Parteien loslösen, eine Loslösung, die 
selbst aber viel mehr als nur Formales bedeutet. Es kommt ferner 
der moralische Dualismus zwischen dem Seienden und dem von den 
Legalitätsmächten geforderten Seinsollenden. Dieser Dualismus kann 
in der mythoshaften Zeit überhaupt nicht sein, da jenes dritte, das 
die eigentliche religiöse Macht bedeutet, nämlich das Müssen, diese 
Wirkung einer Lehre und der doppelten Gemeinschaft der Menschen 
mit sich und der Idee, die Gesetzmäßigkeit des Lebens und Schaffens 
in die Menschen selbst hineinlegt. Die heutige Situation aber ist lächer¬ 
lich und tragisch zugleich, da sie die ungewollte Versklavung unter 
ein in sein Gegenteil umgeschlagenes Prinzip ist, und ist hoffnungslos, 
da die Erlösung durch einen dialektischen Gegenschlag nicht in unserer 
Absicht liegen kann. 

Die Wirkung der Legalität im sozialen Leben ist so stark, daß 
sie uns den Weg zu den eigentlich moralischen Entscheidungen fast 
versperrt. Der Apparat der Gesetze, Verordnungen, Konventionen ist 
so durchorganisiert, daß er nur wenige Möglichkeiten in den zwischen- 



1 1 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 

menschlichen Beziehungen fireigibt und seinen Instanzen entzieht. Die 
angeblich zum Schutze des Individuums geschaffenen Einrichtungen 
dringen bis in die heimlichsten Provinzen unseres Lebens vor und 
machen sich zum Vormund unserer sämtlichen Entschlösse. Man mochte 
fast sagen: moralische Entscheidungen kann man erst gewinnen, wenn 
man die Legalität hinter sich gelassen hat. Der Nietzschesche Im¬ 
moralismus, aus ganz anderen, nämlich psychologischen Motiven er¬ 
wachsen, bekommt so seine geschichtliche Rechtfertigung. Erst das 
Verbrechen — als Verneinung der Gesetze — scheint uns die Möglich¬ 
keit selbständiger sittlicher Entscheidungen zu geben. Aber diese Ent¬ 
scheidungen sind auf jeden Fall unmöglich, nicht nur wegen ihrer 
sozialen Schädlichkeit, sondern weil die Legalität als absolutes Prinzip 
nie durch einen Einzelfäll, den ja stets das Verbrechen darstellt, ver¬ 
neint werden kann: der moralische Verbrecher ist komische Ohnmacht. 
Kants bekannte Definition der Legalität als „die bl offe Übereinstimmung 
oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne 
Rücksicht auf die Triebfeder derselben* 1 müßte insofern erweitert wer¬ 
den, als diese Übereinstimmung nicht nur das Gesetz, sondern eine 
Unzahl von Konventionen, ja sogar von Gefühlen umspannt und so 
unsere moralischen Instinkte besänftigt und immer mehr schwächt. 

In das Geistesleben wirkt das Legalitätsprinzip doppelt zurück durch 
die Regelung der soziologischen Beziehungen zwischen Schöpfern und 
Volk und durch sein zwingendes Beispiel von Machtentfaltung, das 
auf eine analoge Herrschaft im kulturellen Leben drängt. Daß diese 
Analogien sich (seit dem achtzehnten Jahrhundert) immer stärker ver¬ 
wirklichen, ist verständlich genug. Ein Zeitalter, das Gottheit und 
Mythos nicht mehr besitzt, dessen individualistische Gesinnung nur die 
künstlich abstrakten Einrichtungen des Staates als einzige Objektivität 
außerhalb der Natur zur Folge hat, muß — besonders wenn Kata¬ 
strophenstimmung es bewegt — das Prinzip dieser Einrichtungen zu 
allseitiger Herrschaft erheben. 

Das Selbstmörderische dieses Schritts, die Armut, in die es führen 
mußte, wurde unserer Epoche lange nicht sichtbar. Da man sich an 
die alten Schlagworte hielt, war es den wenigsten klar, welches die 
wahrhaften Wirkungen sind, die die Renaissancerevolution gezeitigt 
hatte. Man ward sich nicht bewußt, zu welcher Macht jene kleinen 
Zugeständnisse geführt hatten, die der Individualismus den praktischen 
Forderungen des sozialen Gefüges gemacht hatte und die schließlich 
in einer autonomen Herrschaft mündeten, in einem Ausmaß von An- 



Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modemeu Kultur i $ 

sprachen und technischer Gewalt, wie bislang nie bekannt Man ju¬ 
belte individualistische Freiheitschöre; spottete der Kirche als ohnmäch¬ 
tiger Erinnerung an mythisches Mittelalter; pries stolz sein freies Denken 
und sah nicht den neuen und bösen Gott, der alle Lebensgebiete listig 
sich unterworfen hatte. Man sah nicht den neuen Mythos der 
Legalität, weil nicht wie im alten Mythos der Mensch zur Gott¬ 
heit als einer causa finalis betet, vielmehr die Gottheit den Menschen 
zu umschmeicheln beginnt und seine individuelle Herrlichkeit heuch¬ 
lerisch preist. Diese neue Gottheit, in all der Künstlichkeit und Ab¬ 
straktheit ihrer Sprache, der Nüchternheit ihrer Herrschaft, vernichtet 
allmählich jene Ichs, die ahnungslos sie errichtet hatten. Behörden, 
Kasernen, Gerichte, Kontore und alle jene Organisationen, zu deren 
Schnittpunkten das Ich hinabgestoßen worden ist, sind nunmehr die 
Kultstätten der neuen Gottheit: der Legalität. 

Zwei geistige Verfassungen schuf sich das Legalitätsprinzip: die 
Kunstgrammatik mit ihren ästhetischen und moralischen Form¬ 
prinzipien und die Methode als obersten Wert der Wissenschaft. 
Die normative Ästhetik, die ihre Blütezeit von der französischen Klassik 
bis hin zur Romantik hatte, ist Gesetzgebung der Kunst nach dem 
Vorbilde des absolutistischen Staats. Man setzt Grenzen, nach denen 
der Künstler sich zu richten hat. Man verkündet Gesetze, die befolgt 
werden müssen. Man leitet von obersten Zwecken her Formprinzipien 
ab, wie man das Recht aus staatsphilosophischen Zwecken deduziert. 
Gibt es aber Gesetze für die Kunst, so sind sie allein in der Kunst 
selbst, nicht aber außerhalb ihrer zu suchen. So sehen wir die Opfer 
der Legalität ihr Sklaventum noch vergrößern. Die schlimme Abhängig¬ 
keit ihres Lebens treibt sie zu einer fragwürdigen Rache: den Schöpfern 
ihrer Unfreiheit auch jene Provinzen auszuliefem, die ihnen von Natur 
nicht erreichbar sind. Sie setzen die engstirnigen Wächter der bürger¬ 
lichen Moral auch als Vorgesetzte des Geistes ein und machen so den 
geistigen Menschen dem allgemeinen Zwecksystem untertan. 

In der Wissenschaft heißt das Prinzip der Legalität: „Methode“. 
Sie will die Übereinstimmung des Forschern mit der Konstitution, die 
man dem Denken gab. Das Mittelalter hatte die Zwangsherrschaft der 
Theologie, die nur einen beschränkten Bezirk der Forschung gestattete. 
Die Renaissance zerschlug die Grenzen und öffnete das neue Feld der 
Naturwissenschaft. Aber auch hier erschrak man vor den radikalen 
Folgen der neuen Freiheit, fürchtete die Anarchie und schrieb sich 



14 Rudolf Kayser, Zur Soziologie der modernen Kultur 

die neuen methodischen Dogmen: wieder von kflnsdichen Prinzipien 
und Formen her, bloße Hilfskonstruktionen der Wahrheitserforschung. 
Als Kant gegen den „veralteten wurmstichigen Dogmatism“ anrannte 
und als seine Wirkung „Überdruß und gänzlichen Indifferantism, die 
Mutter des Chaos und der Nacht“ in den Wissenschaften feststellte, 
sah er noch nicht das eigentliche Geheimnis der Zeit: die Herrschaft 
der Legalität, der ja auch sein eigenes System nicht entging. Deshalb 
wurden die wissenschaftlichen Revolutionen zumeist nur formal-metho¬ 
dologisch und ließen die Inhalte unverändert. 

Die Situation beginnt sich nunmehr zu klären. Die geschichtlichen 
Mächte, die unser Schicksal bereiteten, werden allmählich sichtbar. 
Ein Gefühl der Ohnmacht, dem der allzu reichliche Optimismus früherer 
Jahre gewichen ist, scheint durch die Erkenntnis dessen, was ist, ge¬ 
rechtfertigt zu werden. Wir wissen nun ungefähr, wo wir stehen, 
wie die Rolle beschaffen ist, die diese Zeit uns zu zwingen spielt, 
und wie gering die Erbschaft, die wir hinterlassen werden. Wir er¬ 
leben die Paradoxie unserer Situation, ohne zu lächeln. 

Das individualistische Prinzip hat in unser Kulturleben eine soziale 
Schichtung gebracht, wie hoffnungsloser sie nicht denkbar ist. Wir 
begreifen, daß nun, wo seit Jahrhunderten zum ersten Male die Kultur 
selbst in Frage steht, wir hilflos, verwirrt und verlassen von all dem 
Reichtum sind, der vor uns geschaffen wurde. Wir spüren, daß die 
starke und erfüllte Geistigkeit, in der wir bisher atmeten, doch nicht 
stark genug ist, um uns über eine kritische Gegenwart hinwegzuhelfen. 
Es fehlt ihr die Beziehung zur zentralen Idee, die jenseits der Gesell¬ 
schaft, ihren inneren Spannungen und äußeren Formen lebt; es fehlt 
ihr ein natürlicher Gott. Die Einsicht der Religiosität und zentralen 
Bindung aller Kunst und Wissenschaft ist jetzt schon so verbreitet, 
daß man sich scheut, sie zu wiederholen. Aber man tat nur das zwar 
Nächstliegende, aber Wirkungsloseste: man erfand neue Programme 
und Schulen, die den Forderungen dieser Einsicht entsprechen sollen. 
Man ging in fremde Zeiten und Länder, um aus ihnen religiöse Bau¬ 
stoffe zu holen und verurteilte durch die Künstlichkeit dieser Methoden 
das neue Wollen von vornherein zu Artistentum und ohnmächtiger 
Bildungsangelegenheit. So erklärt sich das Fiasko des Expressionismus in 
der Kunst und der theosophisch-mystischen Neigungen in der Philosophie. 

Alles konstruktive Mühen — ganz gleich ob es vom Wunschbilde 
des Staates oder dem des Menschen herkommt — hilft uns nicht weiter. 



*5 


Franz Werfel , Arien 

Wir brauchen die Selbstverständlichkeit des Lebens, die freie und reine 
Schöpfung aus der Unmittelbarkeit des Daseins, die Natur als Geist 
und den Geist als Natur. Es wäre Selbstmord, jetzt zu resignieren, 
die Ohnmacht des Augenblicks zum Schicksal der Zukunft zu machen. 
Wir haben zwar die Erkenntnis dessen, was stirbt, aber auch den 
Willen und das GerUstetsein zu dem, was uns erlösen wird, was uns 
erlösen muß. 


ARIEN 


von 

FRANZ WERFEL 

Omen 

E in böser Vogel ratschte vor dem Fenster ohne Rast, 

Als müßte er Ruck um Ruck den Lebenswald absägen. 
O Frau, wir sind in uns gelegen — 

Sterngranden mantelluftig meisterten die Nacht. 

Auf deinem Thymian-Sommer fühlte ich die Last 
Von Tod, — und konnte dir nicht sagen. 

Daß ich in deinem Blut eine Uhr hörte schlagen. 

Goldenes Rasselwerk durchschrak mich mit feinem Stoß. 

Da fühlte ich auf uns hocken schweres Los 

Und wußte: Böser Vogel sägt geheim auf unsre Bäume los. 

Und nur ein Geist liebreichen Sterns kann ihn verjagen. 


Kinderbild der Geliebten 

O du Gesicht, wie in den Schatten großen Parks geschmiegt. 
In Duft und Ruhe niederfallt dein Haar! 

Und süß und klar 

Auf deinen Lippen liegt 

*Eines Kindesschlafengehns geheimer Seim. 

Du bist daheim. 

In deinen großen Augen siehst du nicht 
Die Frau, die mit allen Toden spricht. 



Franz Werfel.\ Arien 

Und die mit jeder Lust die Hand genetzt. 

Sie, die alle Schauder dieses Sternes trug 
Und jetzt 

Aufschrickt vielleicht und sagt: Es ist genug. 

In meiner Stube stirbt ein vielzufirQher Schmetterling. 
Wer kennt seines kleinen Tods Gewicht? 

Schnee umdrängt das Haus in unendlichem Ring. 

Und alles flicht 

Sich selbst zu unverständlichem Geflecht. 

Da knackt ein Ast, Hund bellt, ein Rab ratscht recht. 
Ich hör den Stern seine Bahn wehn, — 

Und nur vor mir das heilige Kindgesicht 
Schaut still, als konnte es verstehn. 

Todes-Cavatine 

Und so war es. Mir griff 
Der Tod an das Herz. 

Und ein Windstoß pfiff 
In das offene Buch. 

Die Seiten flatterten fensterwärts. 

Nun fallt mir das Kinn 
Hinab auf die Brust. 

Doch der Wald wandelt hin 

In des Abends Gehöft 

Mit sausendem Gras und dem Wolkenwust. 

Und ein Vorhang weht auf. 

Es zittert mein Haar. 

Ich weiß, was einst war: 

Ein Lachen und Lauf 

Fremd in der raschen Mitschülerschar. 

War es wirklich — o nein — 

Wodurch ich gehetzt. 

Was erfreut und verletzt 
Dies Aus und dies Ein? 

Was ich nimmer gewußt, klar wird es jetzt! 



*7 


Franz Werfel, Arien 

Ja ich habe geliebt. 

Und ich rührte euch an. 

Doch seid ihr gesiebt 
Vom Dämmerungs-Bann. 

Mein Leben war Wanken durch magischen Tann. 

Und du, deren Kuß 
Meine Tiefe berief. 

Verzeih meinen Tod, 

Den im Leben ich schlief. 

Jetzt ist meine Lampe ein Glas voll von Ruß. 

Sind drei Tage vorbei. 

So liege ich lang. 

Rauch, Gras und der Schwang 
Eines Vogels steigt frei. 

Und ich lausche stumm. 

Der nicht Wort kennt und Lug, 

Dem Muttergesang. 

Abschied 

Lebt wohl! Lebt wohl! Da noch in eurer Mitte 
Mein Lächeln schwebt. 

Hör ich sie schon, ganglang, die schwarzen Schritte, 
Die Türe bebt. 

Lebt wohl! Ich sage nichts und bleibe sitzen. 

Den Hals umkrallt. 

Seht ihr denn nichts? Aus meinen Mauer-Ritzen 
— (o, dürft ich Schrein!) — wächst Wald. 

Lebt wohl! Lebt wohl! Wie? Ich soll Antwort geben! 
Fern geht mein Mund. 

So helft mir doch! Von tausend Spinneweben 
Bin ich vermummt. 

O meine Frau! Mit deinem Fuße rührst du 
Den meinen an. 

Fühlst du das feuchte Ackermeer und spürst du 
Den Schollenbann? 


2 



18 Franz Werfel, Arien 

Es hangt, — leb wohl, — dein Blick an meinen Haaren. 

Packt dich kein Schreck? 

Sind sie denn nicht verfitzt von Moorgefahren, 

Ein Nest für Krot und Schneck? 

Leb wohl, leb wohl! Nicht greifen ohne Grauen 
An meine Hand die liebe deine soll. 

Ich berge unterm Tisch ja braune Klauen 
Von Schratt und Troll. 

Lebt wohl! Ja, ich will sprechen lachen trinken. 

Wie’* mich auch von euch stoßt. 

Ich scherze. Endlos Regenwege winken 
Wie Totes schlüpfrig aufgelost 

Ah! öffne das Klavier! Du spielst. Ich höre... 

Was? Aus dem Schaum des Walzerwahns 
Hör ich als Wurzel einer Riesenföhre 

Die Teufels-Balz des schwarzen Hahns. 

Gießt mir das Glas voll! Hört ihr jetzt die Schritte? 

Der Raum und nicht mein Blut tappt hohl. 

Ihr springt nicht liebend auf und nehmt mich in die Mitte.. 
Zu spät! Stoßt an! Lebt wohl, lebt wohl! 

Ballade der Schwermut 

Es steht eine Sagemühle im Wald. 

Ich bin als Kind vorübergefahren. 

War das vor hundert Jahren? 

Jetzt bin ich nicht jung und nicht alt. 

Doch ich weiß in der Straßen Lärmgefahren 
Ein Wasser schellt schallt. 

Und wirft mit straffen, mit blauen Haaren 
Übers Rad seine heilige Gewalt. 

Heut ist der Hollunderbaum schon abgeblüht. 

Und knarrte erst gestern in Frost und Schnee! 

Wer rechnet das aus? Ich habe Heimweh, 

Während ich doch in der Heimat steh. 

Ich sprang ja kaum aus dem Bett und bin schon müd. 



l 9 


Franz Werfel , Arien 

Knaben rennen und wälzen sich wild durchs Gras. 

Sie halten unter die alte Pumpe ihr brennendes Gesicht. 
Das sind nicht meine Kameraden, ich kenne sie nicht. 
Und doch ist mein Mund vom Trunk noch tropfennass. 

Ich bin ein Same hierher verweht 
Aus einer fremden Welt. 

Dies ist nicht mein Planet. 

Doch hab ich meinen Halm in die Sonne gestellt. 

Und manchmal faßt ihn solcher Wonne Gewalt, 

Als neigten sich durch einen Spalt 
Seine wahren Brtider und Eltern vom Zelt. 

Tau fällt. 

Aber in einem alten Wald 
Heiliges Wasser schallt schellt. 

Nun steh ich vor dem Gehöft der Nacht. 

Der Wächter fragt: Was hast du tagsüber gemacht? 

Ich habe mit meinen Küssen versengt. 

Die mir am meisten Liebe geschenkt. 

Der Wächter fragt: Was trägst du in der Hand? 

Einer Lerche Asche, die sich im Morgenfeuer verbrannt. 
Der Wächter fragt: Was weißt du zu berichten. 
Undeutliche Gestalt? 

Dies blieb mir von allen Geschichten und Gesichten: 
Eine Sägemühle steht im Wald. 

Gesang 

Ich raste hier auf meiner Flucht. 

Soweit entkam ich schon, daß all die Sucht, 

Die Gier, die Angst wie Vögel schrill und eitel. 
Dem Horst mißtrauend ziehn um meinen Scheitel. 
Sanft bin ich leer. 

Doch wird mir Lohn. 

Aus meinen fernsten Gründen her 
Zieht Ton um Ton. 

Es wandelt leicht und tingerufen 
Gesang, Gesang 



20 


Franz Werfel, Arien 


Über flüsternde Jakobsstufen. 

Ich klinge, wie ich nie erklang. 

Steige steige 

Wort, wohin der Auftrag dir erging. 

Du herrschest, wenn ich schweige. 

Die Dämmerung, das Tier, das regungslose 
Schaut starr ins Aug mir ohne Ironie. 

Von meiner Stirne weicht die Liednarkose. 

Ich bin erschöpft und müde wie noch nie. 

Über die geheime Treppe 
Schwingt sich noch ein Fuß, 

Schlüpft die letzte Schleppe. 

Hauch und Gruß 
Streift mir lau das Ohr 
Von Gesang Gesang. 

Fern verwirrter Klang 

Drängt sich rauschend durch ein dumpfes Tor. 

Falle fälle 

Wort, der Tod hat dich erreicht. 

Wir finden uns in seiner grauen Halle. 

Schafe 

Wir kennen sie aus unserm Kinderschlafe 
Die weißen Schafe und die schwarzen Schafe. 

Die Schafe traf ich trabend über Stoppeln, 

Der Herbstrauch schien die Schafe zu verdoppeln. 

Die Schafe waren Wellen unsrer Erde, 

Ein Mädchen trieb mit ihrem Stock die Herde. 

Sie trieb die Schafe in des Herbstes Trübe. 

Die Kleine sang und schälte eine Rübe. 

Sie ging in Wellen weiß und schwarzen Schneees, 
Inmitten des Geläutes und Gemäes. 

Da ward das Kind zur Hirtin unsrer Schlafe, 

Zu Schlafen wurden schwarze weiße Schafe. 

Der Herbst war Traum. Vom Saum des Wandelsternes 
Scholl eine Schelle noch, ein Mäh, — ein fernes. 



Franz Werfel, Arien 1 1 

Der Hund 

Horch, der böse Hund bellt! 

Wie er sich die Gurgel wund bellt 
Und mit Stößen ungefügen wilden 
Worte sich, Urklötze, bilden. 

Die, wenn qualvoll sie dem Maul entrollen, 

Hunger, Angst und Wollust beißen sollen. 

Aus dem Lebens-Tort 
Rollt und kollert Wort. 

Horch der Hund bellt! 

Wie ich hier am Tisch bin 
leblos aufgelöst und träumerisch bin, 

Möcht ich leis mich mit den Dingen tauschen, 

Tanne werden, Rabe, Abendrauschen. 

Doch ich kann mich schaffend nicht erhellen. 

Auch aus mir keucht nur ein hehres Bellen. 

Nimmer kann ich fort. 

Gebe Wünschen Wort. 

Horch der Hund bellt! 

Keucht auch Er, des Hauch erhub den Urtag? 

Stammelt Er noch immer den Naturtag? 

Sind wir alle, Stern, Mensch, Jahrzeitzierden 
Nichts als Laute seiner Gottbegierden? 

Du und ich und diese ganze Rundwelt 
Nur hervorgebellt... ah... (Horch, der Hund bellt!) 
Endlich ist der Ort. 

Aller Ort ist Wort. 

Und weil alles Wort ist, herrscht der Tod. 

Ballade von den Begleitern 

Ich gehe vergehend durch Schnee, durch den Schnee. 

Gibt es Bäume und Zäune? Ich sehe, ich seh 
In der wehenden Nähe der Nacht nur Schnee. 


Dumpf trott ich die träge Straße allein. 

Doch bin ich allein? In dem langsamen Schnei’n 
Fühl ich’s vor, mir und um mich und hintendrein. 



Franz Werfel, Arien 

Wankt vor mir ein schwerer betrunkener Mann, 

Der im Zickzack den Rucksack kaum schleppen kann, 
Oder ist es ein kranker, ein sterbender Mann? 

Und rechts und links, umflinkt mich ein Paar, 

Ein Doggenpaar schlüpfend und unsichtbar? 

Oft streift’s mich wie Sprung und wie Hundehaar. 

Und hinten, ist das ein Schlittengaul, 

Der von den Wagen sich losriß mit schnaubendem Maul? 
Jetzt folgt er mir müde schellend und faul. 

Doch bleibe ich stehn in dem langsamen Schnei’n, 

So halten die leisen Begleiter auch ein 
Vor mir und um mich und hintendrein. 

Der Kranke preßt sein mühsames Herz. 

Die Doggen ducken sich dicht seitwärts. 

Heiß trifft mich die Atemwolke des Pferds. 

Und hebe ich müde wieder den Schritt, 

So knirscht es auch vorne, schlüpft seitlich mit. 

Und hinten lautet und trottet Viertritt. 

Schneestraße! Ureinsam! Nur unser Gestapfl 
Nicht darf der Kranke sich strecken zum Schlaf. 

Für den Gaul kein Stall, Dir die Hunde kein Napf. 

Die Straße, die nie einen Morgen erschwingt. 

Muß ich weiter schweifen durch Schneien und Wind, 
Allein, doch unrettbar umwest und umdingt. 

Mond 

Ich bin erwacht. 

Aus unbekanntem Sehnen. 

Kälte hat mich um den Traum gebracht. 

Auf meinem Rücken dehnen 



Franz WerfelArten 13 

Sich Gletscher und Muränen. 

Ist es ein Nord-Geist, 

Der im Mai meinen Nacken vereist? 

Nein! Es war der Mond, der böse Greis, 

Mit seinem Licht von falscher Güte, 

Das eisig meinen Rücken überglühte. 

Eine Türe fiel zu. 

Als der Traum floh mit schleichendem Schuh. 

Ich spür einer Träne Salz im Munde. 

Es ist bald früh. 

Und immer noch knisternd dies tote Geglüh. 

Der Wind trommelt ans Fenster die Drei-Uhr-Stundc. 

Allelujah 

Ist das Licht nicht immer Eines, 

Wenn es auch durch Schwall und Schicht 
Bunt sich bricht, 

Kranker Abschein seines Scheines, 

Und zur dumpfen Farbenwelt 
Sich zerschellt? 

Licht ist Licht! 

Oh schweigendes Jauchzen! 

Ist die Seele denn nicht Eines, 

Die sich dumpf in Körpern bricht. 

Und aus Auge und Gesicht 
Zuckt als Abschein ihres Scheines? 

Nur die Leiber 
Sind wie Scheiben 
Mehr und minder dicht! 

Oh schweigendes Jauchzen! 

Nur Horchen 

Tausend Mal legt ich das Ohr an die Erde, 

Dem Hufschlag der Nächte zu lauschen. 

Doch das ferne Stampfen verstand ich nicht. 




i4 /. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

Oft riefen mich Lieder an. 

Bleich bebte ich schon, mein Lied da zu hören. 

Aber es war nur der schwankende Sang der Wachen. 

Wieviel Mal knirschte es nahe durch’s Dunkel 
Auffuhr ich den Botenschritten entgegen. 

Des Nachttiers Husch verwisperte im Gemäuer. 

Angespannt steh ich ohn Atem und Leben. 

Nur Horchen, wild sehnendes Wittern, 

Daß mein Feldruf mir endlich erschalle. 

Lang lebe ich schon. 

Das Wort ist mir nicht geworden. 

Nur das Wunder verwelkte ringsum 

Die schwärzliche Rose im Kelchglas 
Sie neigt sich vor mir rief und tiefer. 

Aber ihr Aug, ihr Aug ist gebrochen. Jetzt seh ich’s. 


DER HERR AUS SAN FRANCISCO 

Novelle von 
I. A. BUNIN 

„Webe Dir, Babylon, starke Stadt!“ 
(Apokalypse) 

D er Herr aus San Francisco — an seinen Namen erinnerte sich 
sowohl in Neapel als auch auf Capri niemand — reiste einzig 
zu seiner Zerstreuung auf volle zwei Jahre mit Frau und Tochter nach 
der „Alten Welt“. 

Er war fest überzeugt davon, daß er ein volles Recht auf Erholung, 
auf Vergnügen, auf eine lange und bequeme Reise und auf was nicht 
sonst noch alles habe. Diese seine Überzeugung war bei ihm dadurch 
begründet, daß er erstens reich war, und daß er zweitens, ungeachtet 
seiner achtundfünfzig Jahre, soeben erst begonnen hatte zu leben. Bis 



I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 25 

jetzt batte er nicht gelebt, sondern nur existiert, allerdings recht gut 
existiert, aber doch so, daß er alle Hoffnungen immer auf die Zukunft 
setzte. Er arbeitete rastlos, ohne die Hände ruhen zu lassen, — die 
Chinesen, die er sich zu Tausenden zur Arbeit verschrieb, wußten wohl, 
was das heißen wollte 1 — und endlich wurde er gewahr, daß schon 
vieles getan sei, daß er fast diejenigen erreicht hatte, die er sich einst 
zum Vorbild genommen, und er beschloß auszuruhen. Unter den 
Menschen, zu denen er gehörte, war es Sitte, die Genösse des Lebens 
mit einer Reise nach Europa, nach Indien, nach Ägypten zu beginnen. 
Auch er hielt dafür, ebenso zu verfahren. Sicherlich wönschte er für 
die Jahre der Arbeit vor allen Dingen sich selbst zu belohnen. Allein 
er freute sich auch für seine Frau und Tochter. Seine Gattin hatte 
sich niemals durch eine besondere Eindrucksfahigkeit ausgezeichnet, 
aber alle Amerikanerinnen in reiferen Jahren reisen ja leidenschaftlich 
gern. Und was die Tochter anbetraf, ein eben erwachsenes und leicht 
kränkelndes junges Mädchen, so war für sie die Reise geradezu eine 
Notwendigkeit: um vom Nutzen für die Gesundheit gar nicht zu reden, 
aber gibt es nicht etwa auf Reisen glückliche Begegnungen? Da sitzt 
man manches mal an einem Tisch oder betrachtet Fresken Seite an 
Seite mit einem Milliardär. 

Eine umfangreiche Reiseroute war von dem Herrn aus San Fran¬ 
cisco ausgearbeitet worden. Im Dezember und Januar hoffte er die 
Sonne Süditaliens zu genießen, die Denkmäler des Altertums, die 
Tarantella, die Serenaden umherziehender Sänger und das, was Leute 
in seinen Jahren so besonders fein empfinden und auskosten, — die Liebe 
junger Neapolitanerinnen, selbst wenn diese nicht ganz uneigennützig 
sein sollte. Den Karneval gedachte er in Nizza, in Monte Carlo zu¬ 
zubringen, wo um diese Zeit die erlesenste Gesellschaft zusammen¬ 
strömt, dieselbe, von der alles Heil der Zivilsation abhängt: sowohl 
die Fasson der Smokings als die Unerschütterlichkeit der Throne, sowohl 
die Kriegserklärungen als das gedeihliche Bestehen der Hotels, — wo 
die einen sich mit Leidenschaft Automobilrennen und Segelregatten 
ergeben, andere dem Roulette-Spiel, die dritten dem, was man gemein¬ 
hin Flirt zu nennen pflegt, und die vierten dem Taubenschießen; so 
schön steigen die Tauben aus ihren Schlägen über dem smaragdgrünen 
Rasen, auf dem Hintergründe des vergißmeinnichtblauen Meeres, in 
die Luft, um gleich darauf; als weiße Klümpchen hart auf den Erd¬ 
boden aufzuschlagen. Den Anfang des Monat März wollte er Florenz 
widmen, zur Karwoche nach Rom fahren, um dort das Miserere zu 



t6 


I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


hören; in seine Pläne waren auch Venedig und Paris miteingeschlossen, 
und die Stierkämpfe in Sevilla, und ein Badeaufenthalt auf den eng¬ 
lischen Inseln, und Athen, und Konstantinopel, und Palästina, und 
Ägypten, und sogar Japan, — versteht sich, dieses schon auf dem 
Rückweg.Und alles ging anfangs auch vortrefflich. 

Es war Ende November. Fast bis an Gibraltar heran ging die Fahrt 
bald durch eisige Nebelschichten, bald durch nasse Schneestürme, aber 
man fuhr sicher und wohl, sogar ohne Schwanken. Zahlreiche Passagiere 
befänden sich auf dem Dampfer, und zwar lauter ansehnliche Leute, das 
Schiff — die berühmte „Atlantida“ — glich einem teuersten europäischen 
Hotel mit allen Bequemlichkeiten, — mit einer Nacht-Bar, mit römischen 
und russischen Bädern, mit eigener Zeitung — und das Leben floß auf ihm 
nach allerhöchster Vorschrift dahin: man stand früh auf, bei Trompeten- 
Stößen, die schrill durch die Gänge schon um jene Dämmerstunde er¬ 
tönten, in der es so unfreundlich zögernd über der graugrünen, träge 
im Nebel wogenden Wasserwüste heller wird; man zog seine fianellenen 
Pyjamas über, trank Kaffee, Schokolade, Kakao; dann setzte man sich 
zum Bade in Marmorwannen nieder, trieb Gymnastik, die den Appetit und 
wohliges Selbstgefühl erregt, vollendete seine Morgentoilette und schritt 
zum ersten Frühstück. Bis elf Uhr hatte man munter über die Prome¬ 
nadendecks zu spazieren, die frische Kühle des Ozeans einzuatmen, 
oder „Shuffleboard“ und andere Spiele zu erneuter Anregung des 
Appetits zu spielen, und um elf sich mit Butterbroden und Kraftbrühe 
zu stärken. Gekräftigt las man dann mit Vergnügen die Zeitung und 
erwartete ruhevoll das zweite Frühstück, das noch nahrhafter und 
mannigfaltiger als das erste war; die folgenden zwei Stunden waren 
der Ruhe gewidmet; dann standen dicht auf allen Decks Liegestühle, 
auf denen die Reisenden, in ihre Plaids gehüllt, lagen, nach dem be¬ 
wölkten Himmel und auf die schaumigen jenseits der Reling auf¬ 
tauchenden Wellenberge schauten, oder sanft und süß schlummerten; 
um fünf wartete man den Erfrischten und Ermunterten mit starkem 
duftendem Tee mit Gebäck auf; um sieben kündeten Trompetensignale 
das Diner von neun Gängen an . . . Und dann eilte der Herr aus 
San Francisco, vom Zustrom neuer Lebenskräfte erfüllt, sich die Hände 
reibend, in seine üppige Luxuskabine, um sich anzukleiden. 

Am Abend strahlten die Stockwerke der „Atlantida“ wie mit un¬ 
zähligen Feueraugen durch die Finsternis, und die große Schar der 
Angestellten arbeitete in den Küchen, in den Spülräumen und den 
Weinlagem mit besonderer Fieberhaftigkeit Der Ozean, der hinter den 




/. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


17 


Schiffswänden wogte, war unheimlich, furchtbar, aber man dachte seiner 
nicht, in festem Vertrauen auf die Gewalt, die der rothaarige Kapitän 
Aber ihn besaß; dieser war eine Erscheinung von ungeheuerlicher 
Grösse und Schwere, wirkte immer verschlafen und erschien, in seiner 
Uniform mit den breiten goldenen Tressen einem riesigen Götzen 
ähnlich, nur selten aus seinen geheimnisvollen Räumen unter Menschen. 
An Backbord heulte alle Augenblicke hölleniinster die Sirene auf und 
kreischte voll rasender Bosheit, aber nur wenige der Speisenden hörten 
auf die Sirene — sie wurde übertönt durch die Klänge eines herrlichen 
Streichorchesters, das trefflich und unermüdlich in dem riesigen, doppelt 
erleuchteten Saale spielte, der, mit Marmor verkleidet, mit samtenen 
Teppichen ausgelegt, vom Lichte der Kristallkronen und der vergol¬ 
deten Armleuchter festlich übergossen, angefüllt war mit brillanten¬ 
geschmückten, dekolletierten Damen, mit Herren im Smoking, mit 
gewandten Kellnern und zuvorkommenden maitres-d’hötel, unter denen 
einer — derjenige, der die Bestellungen nur für den Wein entgegen¬ 
nahm — sogar mit einer Kette um den Hals, wie irgendein Lord-Mayor 
einherging. Der Smoking und vollendet schöne Wäsche verjüngten 
den Herrn aus San Francisco ungemein. Hager, nicht groß, uneben- 
mässig gebaut, doch fest zusammengefügt, tadellos gebürstet und gebügelt, 
maßvoll angeregt saß er im goldenen Perlenglanz dieses Prunksaales vor 
einer Flasche bernsteinfarbenem Johannisberger, vor zahllosen Gläsern und 
Gläschen aus feinstem Kristall, vor einem krausen Strauß krauslockiger 
Hyacinthen. Etwas Mongolisches lag in seinem gelblichen Gesicht mit 
dem gestutzten silbergrauen Schnurrbart, seine großen starken Zähne 
glänzten von goldenen Plomben, wie altes Elfenbein leuchtete sein 
harter, kahler Schädel. Reich, doch ihren Jahren angemessen, war seine 
Gattin, eine stattliche, breite und ruhige Dame, gekleidet; kompliziert, 
doch leicht und durchsichtig, mit unschuldsvoller Offenheit die Tochter, 
die groß und schlank war, prachtvolle, reizend frisierte Haare hatte, 
einen veilchenduftenden Atem und ganz zarte rosige Hitzpickelchen 
um die Lippen herum und zwischen den kaum bepuderten Schulter¬ 
blättern . . . 

Das Diner zog sich volle zwei Stunden hin, und nach der Mahl¬ 
zeit wurde im Tanzsaal der Ball eröffnet, währenddessen die Herren, 
— zu denen natürlich auch der Herr aus San Francisco zählte, — mit 
übereinandergeschlagenen Beinen auf Grund der letzten politischen und 
Börsennachrichten die Schicksale der Völker entschieden und, bis 
ihre Gesichter himbeerrot glühten, Havanna-Zigarren rauchten und 



z8 I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

Liköre in der Bar tranken. In roten Jacken bedienten dort Neger 
deren weiße Augäpfel wie abgeschälte hartgesottene Eier aussahen. 
Dumpf rollend wogte der Ozean hinter den Schifiswänden, der Schnee¬ 
sturm pfiff mächtig in dem feuchtschweren Takelwerk, das ganze Schiff 
bebte, Sturm und Wellen bezwingend — wie ein Pflug durchteilte es 
die schwankenden Ungetüme, die beständig aufwallten, und ihre Schaum¬ 
kronen hoch in die Luft reckten —, in tödlichem Jammer stöhnte die 
vom Nebel erstickte Sirene, die Wachmatrosen auf ihrem hohen Aus¬ 
guck erstarrten vor Frost und wurden stumpf vor übermäßiger An¬ 
spannung ihrer Aufmerksamkeit, dem finstern, glühenden Schoß der 
Hölle, ihrem letzten, neunten Kreise glich der unter Wasser befindliche 
Bauch des Schiffes, — da wo dumpf die riesenhaften Heizkessel stuckerten 
und mit ihren glühenden Rachen Berge von Steinkohlen verschlangen, 
die bis zum Gürtel entblößte, von ätzendem, schmutzigem Schweiß 
übergossene Männer, purpurrot vom Flammenschein, in sie hinein¬ 
schleuderten. Aber hier in der Bar warf man sorglos die Beine über 
die Lehnen der Sessel, schlürfte Kognak und Likör, schwamm in Wolken 
beißenden Rauches und unterhielt sich geistreich, im Tanzsaal strahlte 
alles und strömte Licht, Wärme und Freude aus, die Paare drehten 
sich bald im Walzer, bald bogen und wanden sie sich im Tango — 
und die Musik flehte beharrlich mit einer gewissen schamlos-süßen 
Wehmut immer um das eine, immer um dasselbe .... Unter dieser 
glänzenden Menge war ein Botschafter, ein dürrer, bescheidener alter 
Herr; da war ein Mann von hervorragendem Reichtum, glattrasiert, 
lang, von unbestimmtem Alter, einem Prälaten ähnlich, in altmodischem 
Frack; da war ein berühmter spanischer Schriftsteller; da war eine 
allgemeine Schönheit, schon ein wenig verblichen und von nicht ganz 
einwandfreien Sitten; da war ein elegantes Liebespaar, dem alle Blicke 
voll Neugier folgten, und das sein Glück nicht verbarg: „er“ tanzte 
nur mit ihr, sang — und zwar mit großem Können — nur, wenn 
„sie“ begleitete, und alles an ihnen wirkte so bezaubernd, daß einzig 
der Kapitän wußte, daß diese beiden vom Lloyd angestellt waren, um 
für gutes Geld Liebespaar zu spielen, und schon lange, bald auf diesem, 
bald auf jenem Schiff herumschwammen. 

In Gibraltar freuten sich alle über die Sonne, es war wie im Vor¬ 
frühling; an Bord der „Atlantida“ erschien ein neuer Passagier, der 
allgemeines Interesse erregte — der Kronprinz eines asiatischen Reiches, 
der inkognito reiste, ein kleiner Mensch, gleichsam ganz aus Holz, ob¬ 
wohl geschmeidig in seinen Bewegungen, mit breitem Gesicht, schmalen 



I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


*9 


Augen, goldener Brille, ein wenig unangenehm dadurch, daß sein 
storrer, imdichter schwarzer Schnurrbart die Lippen wie bei einem 
Toten durchscheinen ließ, im ganzen aber nett, einfach und bescheiden. 
Im Mittelländischen Meer spürte man wieder den Winter, die See, 
farbenprächtig wie ein Pfauenschweif, ging hoch, trug schneeweiße 
Kämme und wurde bei strahlendem Sonnenglanz und völlig reinem 
Himmel durch die ihr in tollem Übermut entgegenstürmende „Tra¬ 
montana“ aufgewühlt. . . Dann wurde der Himmel für zwei Tage 
bleich und fahl, der Horizont verschwand im Nebel; man näherte sich 
dem Land, Ischia, Capri tauchten auf, durch das Fernglas konnte man 
schon am Fuße von etwas Blaugrauem Neapel, wie mit Zuckerstück¬ 
chen bestreut, erkennen, und darüber und über diesem Blaugrauen — 
die Kette der in mattem und totem Weiß schimmernden fernen Schnee¬ 
berge. Viele Menschen standen auf Deck, viele Ladies und Gentlemen 
zogen schon ihre leichten Reisepelze, deren Außenseite aus Fell war, 
an; dienstfertige, immer nur im Flüsterton sprechende chinesische boys — 
krummbeinige, halberwachsene Jungen mit pechschwarzen Zöpfen bis 
auf die Fersen und mit mädchenhaften dichten Augenwimpern, — 
schleppten nach und nach Plaids, Stöcke, Koffer und krokodillederne 
Handtaschen zu den Treppen ... Die Tochter des Herrn aus San 
Francisco stand neben dem Prinzen, der ihr am Abend vorher durch 
einen glücklichen Zufall vorgestellt worden war, und gab sich den 
Anschein, aufmerksam in die Feme zu blicken, wo er erklärend hin¬ 
zeigte, hastig und nicht laut irgend etwas dazu erzählend; seiner Größe 
nach schien er neben den andern ein Knabe, er war ganz und gar 
nicht schön und etwas absonderlich — die Brille, der steife Hut, der 
englische Überzieher, dazu die spärlichen Schnurrbarthaare, die Pferde¬ 
haaren glichen, die bräunliche dünne Haut, die über sein flaches Ge¬ 
sicht gespannt und leicht lackiert zu sein schien, — doch das junge 
Mädchen hörte ihm zu und verstand vor Aufregung nicht, was er zu 
ihr sprach; das Herz klopfte ihr vor unbegreiflichem Entzücken über 
ihn und vor Stolz, daß er da neben ihr stand und daß sie es war, 
mit der er sprach: alles, alles an ihm war nicht so wie bei den an¬ 
deren — seine mageren Hände, seine blanke Haut, unter der altes 
Herrscherblut floß, sogar seine europäische, durchaus einfache, aber 
irgendwie besonders sorgfältige Kleidung barg einen unerklärlichen 
Zauber in sich, erregte ein Gefühl der Verliebtheit. Der Herr aus 
San Francisco selbst, im Zylinder, graue Gamaschen über den Lack¬ 
schuhen, blickte unverwandt auf eine neben ihm stehende berühmte 



jo L A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

Schöne, eine große Blondine von wundervollem Wuchs, deren Augen 
nach der letzten Pariser Mode gemalt waren, und die an silbernem 
Kettchen ein winziges, kugliges, kahles Hündchen hielt, mit dem sie 
die ganze Zeit sprach. Und die Tochter bemühte sich, aus einer un¬ 
klaren, peinlichen Verlegenheit heraus, den Vater nicht zu bemerken. 

Wie alle wohlhabenden Amerikaner war er überaus freigebig auf 
Reisen und, wie sie alle, glaubte er an die volle Aufrichtigkeit und 
Gewogenheit derjenigen, die ihn so fürsorglich mit Speise und Trank 
versahen, die ihn von Morgen bis Abend, seinen geringsten Wünschen 
zuvorkommend, bedienten, Ruhe und Reinlichkeit um ihn herum 
wahrten, seine Sachen schleppten, Gepäckträger für ihn herbeiriefen, 
seine Koffer in die Hotels schafften. So war es Überall, so war es 
auf der Überfahrt gewesen, so mußte es auch in Neapel sein. Neapel 
wuchs und näherte sich; die Musiker drängten sich mit ihren messing¬ 
blinkenden Blasinstrumenten schon auf Deck und betäubten plötzlich 
aller Ohren mit den festlichen Klängen eines Marsches; der Riesen¬ 
kapitän erschien in Paradeuniform auf seiner Kommandobrücke und 
winkte wie ein gnädiger heidnischer Gott den Passagieren grüßend 
zu — und dem Herrn aus San Francisco schien es, ebenso wie auch 
allen übrigen, daß nur für ihn allein der vom stolzen Amerika so 
sehr geliebte Marsch erscholl, daß er es war, den der Kapitän bei 
seiner glücklichen Ankunft willkommen hieß. Und als die „Atlantida“ 
endlich in den Hafen einlief, mit ihrer vielstöckigen Riesenmasse an 
dem menschenbesäten Quai anlegte und die Landungsbrücken krachend 
heruntergelassen wurden, — wie viele Portiers mit ihren Gehilfen in 
goldbetreßten Mützen, wie viele Kommissionäre aller Art, wie viele 
junge Nichtstuer, kerngesunde, zerlumpte Burschen, stürzten ihm da, 
mit Stößen farbiger Anpreisungen in den Händen, entgegen, um ihm 
ihre Dienste anzubieten! Und er lächelte mit liebenswürdiger Verächt¬ 
lichkeit diesem ganzen Gesindel zu, indem er zu dem Automobil eben 
des Hotels schritt, in welchem auch der Prinz absteigen mochte und 
sagte ruhig, bald auf englisch, bald auf italienisch durch die Zähne: 
-„Go away! Via!“- 

Das Leben in Neapel floß sogleich nach hergebrachter Ordnung 
dahin: frühmorgens — das Frühstück in einem unfreundlich dunklen 
Speiseummer, durch welches ein feuchter Zugwind von den -offenen, 
nach irgendeinem Felsengärtchen hinausgehenden Fenstern her wehte, 
ein bewölkter, nicht viel versprechender Himmel und die Menge der 



I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


Ji 


Führer am Eingang zur Halle; dann das erste Lächeln der warmen, 
rosigen Sonne, der Blick von dem hochgelegenen Balkon auf den 
Vesuv, der bis zum Fuße in leuchtenden Morgendunst gehüllt war, 
auf die perlgraue, leichtgekräuselte Oberfläche des Golfs mit den zarten 
Umrissen von Capri am Horizont, auf die winzigen Eselchen, die 
zwischen zweiräderigen Karren den schlüpfrigen Uferquai hinabliefen, 
und auf einzelne Abteilungen kleiner Soldaten, die mit munterer, her¬ 
ausfordernder Musik irgendwohin marschierten; dann — der Gang zum 
Automobil und ein langsames Vorwärtskommen durch die dicht be¬ 
völkerten, engen und feuchten Straßenschächte, zwischen hohen, viel- 
fenstrigen Häusern; das Anschauen unheimlich sauberer Museen, in 
denen eine gleichmäßige, angenehme, aber langweilige Helle, gleich¬ 
sam wie Schneelicht, herrschte, oder die Besichtigung kalter, nach 
Wachs duftender Kirchen, in denen überall ein und dasselbe zu Anden 
war: der Eingang in das Heiligtum durch einen schweren, ledernen 
Türvorhang verdeckt, und drinnen — eine ungeheure Leere, eine 
schweigende Stille, die sanften Flämmchen der siebenarmigen Leuchter, 
die in der Tiefe auf dem spitzenbehangenen Altar rötlich flimmerten, 
eine einsame Alte zwischen den dunklen hölzernen Kirchenbänken, 
glatte Grabsteinplatten unter den Füßen und irgendeine unbedingt be¬ 
rühmte „Kreuzabnahme“; um ein Uhr — zweites Frühstück auf dem 
Monte St Martino, wo um die Mittagsstunde nicht wenig Leute der 
ersten Gesellschaft zusammenkamen, und wo der Tochter des Herrn 
aus San Francisco einmal beinahe schlecht vor Freude wurde, denn 
sie glaubte den Prinzen im Saale sitzen zu sehen, obwohl sie schon 
aus den Zeitungen wußte, daß er für einige Zeit nach Rom gefahren 
sei; um fünf Uhr — Tee im Hotel, im eleganten Salon, wo es so 
warm von Teppichen und lodernden Kaminfeuern war; und dann 
mußte man sich schon zum Diner zurechtmachen — und wieder das 
volle, mächtige Dröhnen des Gongs durch alle Stockwerke hindurch, 
wieder auf der Treppe die lange Reihe der seidenraschelnden, dekolle¬ 
tierten Damen, deren Bild die Wandspiegel Zurückgaben, wieder der 
weit und gastlich geöffnete prunkvolle Speisesaal, und die roten Jacken 
der Musiker auf der Estrade, und die schwarze Menge der Kellner 
um den maitre-d’hdtel herum, welcher mit ungewöhnlicher Meister¬ 
schaft in seinem Berufe irgendeine dicke rosa Suppe in die Teller 
füllte ... Das Diner war, wie überall, die Krone eines jeden Tages, 
man schmückte sich dazu wie zur Hochzeit, und es war so überreich 
an Speisen, Weinen, Mineralwässern, Süßigkeiten, Früchten, daß gegen 



32 LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

elf Uhr abends die Zimmermädchen auf alle Zimmer Kautschukflaschen 
mit kochendem Wasser zur Erwärmung der Mägen bringen mußten. 

Allein der Dezember schlug in diesem Jahre für Neapel nicht ganz 
zum besten aus; die Portiers wurden betreten, wenn man mit ihnen 
über das Wetter sprach und murmelten, nur schuldbewußt die Achseln 
zuckend, daß sie sich an ein solches Jahr überhaupt nicht erinnern 
könnten, obwohl dieses nicht das erste Jahr war, in welchem sie sich 
gezwungen sahen, dergleichen zu murmeln und sich darauf zu berufen, 
daß „überall schreckliche Dinge passierten“: an der Riviera gab es nie 
dagewesene Regengüsse und Unwetter, in Athen Schnee, der Ätna 
war auch ganz verschneit und spie des Nachts Feuer, aus Palermo 
flohen die Touristen, um sich vor der Kälte zu retten. Die Morgen¬ 
sonne täuschte die Neapolitaner in diesem Winter jeden Tag: vom 
Mittag an wurde es unfehlbar grau, und ein feiner Regen begann zn 
sprühen, der aber immer dichter und kälter wurde; dann blinkten die 
Palmen an der Auffahrt des Hotels wie Blech, die Stadt schien be¬ 
sonders schmutzig und eng, die Museen über die Maßen einförmig, 
die Zigarrenstummel der dicken Droschkenkutscher in Gummimänteln, 
deren Pelerinen im Winde flatterten, schienen dann unerträglich zu 
stinken, das energische Peitschenknallen, mit dem sie ihre abgemagerten 
Klepper antrieben, war ganz augenscheinlich nur blinder Lärm, die 
Fußbekleidung der Signori, welche die Straßenbahnschienen fegten, 
sah fürchterlich aus, und die Frauen, die im Regen mit unbedeckten 
schwarzen Köpfen durch den Schmutz schlurrten, schienen abscheulich 
kurzbeinig zu sein; über die Feuchtigkeit und den Gestank fauliger 
Fische, der vom Meere herkam, das über das Ufer schäumte, ist gar 
nicht erst zu reden. Der Herr und die Dame aus San Francisco be¬ 
gannen des Morgens miteinander zu streiten; ihre Tochter ging bald 
bleich mit Kopfweh herum, bald lebte sie auf, war von allem ent¬ 
zückt, und war dann lieb, schön und gut: schön und gut waren jene 
zarten verworrenen Gefühle, welche die Begegnung mit dem unschönen 
Menschen, in dessen Adern nicht gewöhnliches Blut floß, in ihr er¬ 
regt hatte; denn es ist am Ende gar nicht von solcher Bedeutung, 
was gerade eine junge Mädchenseele zu erregen vermag, — ob Geld, 
ob Ruhm, ob vornehme Geburt . . . Alle versicherten, daß es in Sor¬ 
rent und auf Capri ganz anders wäre — dort wäre es wärmer und 
auch sonniger, und die Zitronen blühten, und die Menschen wären 
redlicher und die Weine unverfälschter. Und da beschloß die Familie 
aus San Francisco sich mit allen ihren Koffern nach Capri zu begeben 



I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


33 


um cs sich anzuschauen, um auf den Steinen an der Stelle herum¬ 
zusteigen, wo der Palast des Tiberius gestanden hat, um in den märchen¬ 
haften Höhlen der blauen Grotte zu verweilen, um die abruzzischen 
Dudelsackpfeifer zu hören, die einen ganzen Monat lang vor Weih¬ 
nachten durch die Insel wandern und das Lob der heiligen Jungfrau 
Maria singen, und um sich dann in Sorrent niederzulassen. 

Am Tag der Abreise — ein sehr denkwürdiger Tag für die Familie 
aus San Francisco! — schien sogar am Morgen die Sonne nicht. Dicker 
Nebel verhüllte den Vesuv bis zum Fuße, lag tief und grau über der 
bleiernen Dünung des Meeres, das schon auf eine halbe Meile Ent¬ 
fernung vor den Blicken verschwamm. Capri war vollständig unsicht¬ 
bar — als ob es niemals auf der Welt gewesen wäre. Und das kleine 
Dampfschiff, das darauf zusteuerte, schwankte derartig von einer Seite 
auf die andere, daß die Familie aus San Francisco reglos, die Beine 
in ihre Plaids gewickelt, auf den Polsterbänken der elenden Offiziers¬ 
kajüte dieses Dampferchens lag und vor Übelkeit die Augen ge¬ 
schlossen hielt. Die Missis litt, wie sie glaubte, mehr als alle anderen; 
mehrmals überwältigte sie die Seekrankheit, sie vermeinte zu sterben, 
aber die Stewardess — sie schaukelte schon viele Jahre tagaus, tagein, 
bei Hitze und Frost auf diesen Wellen und war trotzdem unermüdlich 
und immer freundlich zu jedermann — eilte ihr mit einem kleinen 
Kübel zu Hilfe und lachte nur. Die Miß war entsetzlich blaß und 
hielt ein Zitronenscheibchen zwischen den Zähnen; jetzt freute sie 
nicht einmal die Hoffnung auf ein unvermutetes Zusammentreffen mit 
dem Prinzen in Sorrent, wo er um die Weihnachtszeit zu sein ge¬ 
dachte. Der Mister lag in weitem Paletot und großer Reisemütze auf 
dem Rücken, und brachte während der ganzen Fahrt seine Kinnladen 
nicht auseinander; sein Gesicht war dunkel, der Schnurrbart fast weiß, 
er hatte schwere Kopfschmerzen; in den letzten Tagen hatte er, dank 
dem schlechten Wetter, allzuviel des Abends getrunken und sich an 
den berüchtigten Stätten verfeinerten Lasters allzusehr an den geben¬ 
den Bildern“' ergötzt. Der Regen prasselte gegen die klirrenden Fenster¬ 
scheiben und floß daran herunter auf die Polsterbänke, der Wind 
rüttelte heulend an den Masten, legte bisweilen im Verein mit einer 
heranstürmenden Welle das kleine Dampfschiff völlig auf die Seite, 
und dann rollte irgend etwas mit Gepolter zu Boden. An den Halte¬ 
stellen in Castellamare, in Sorrent war es ein wenig erträglicher; aber 
auch hier schwankte es entsetzlich, das Ufer mit allen seinen Abhängen, 
seinen Gärten und Pinien, mit seinen rosa und weißen Hotels und seinen 

3 


i 




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I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 


nebelverhangenen krausen grünen Bergen flog vor dem Fenster auf und 
nieder, wie auf einer Schaukel; Kahne stießen gegen die Schifiswände, 
die Matrosen und die Passagiere der dritten Klasse brüllten zornig, 
irgendwo schrie ein Kind, würgend, als ob es zerquetscht würde, der 
nasse Wind blies durch die Tür, und von einer schwankenden Barke 
mit der Flagge „Hotel Royal“ zeterte durchdringend, ohne Atempause, 
um die Reisenden anzulocken, ein junger Bursche mit einem Sprach¬ 
fehler: „Kgoyal! Hotel Kgoyal!“ . . . Und der Herr aus San Francisco, 
der sich so fühlte, wie es ihm geziemte — nämlich wie ein ganz alter 
Mann — dachte nur grämlich und böse an alle diese „Royals“, „Splen- 
dids“, „Excelsiors“, und an das habsüchtige, knoblauchstinkende Ge¬ 
sindel, Italiener genannt; einmal, während eines Aufenthaltes, gewahrte 
er, die Augen öffnend und sich auf dem Divan etwas aufrichtend, unter 
dem überhängenden Felsgestein des Ufers eine Handvoll so jämmer¬ 
licher, durch und durch verschimmelter steinerner Häuschen, die hart 
am Wasser, neben Kähnen, neben allerlei Lumpenzeug, Blechgerümpel 
und braunen Netzen eins am andern klebten, daß ihn Verzweiflung 
Uberkam bei dem Gedanken, dieses eben sei das wahre Italien, dessen 
Schönheiten zu genießen er hergekommen war ... Endlich, in der 
Abenddämmerung, begann die schwarze Masse der Insel, deren Basis 
gleichsam wie mit roten Lichtpünktchen durchstanzt schien, näher zu 
rücken, der Wind wurde sanfter, wärmer und wohlriechender, über 
die sich glättenden Wögen, die wie schwarzes Öl schillerten, ergossen 
sich von den Hafenlaternen her ringelnd goldne Riesenschlangen . . . 
Dann rasselte plötzlich der Anker und klatschte aufspritzend in 
das Wasser, von allen Seiten gellte, sich steigernd und sich über¬ 
bietend, das wüste Rufen und Schreien der Barkenführer, — und auf 
einmal wurde es einem leichter ums Herz, die Offizierskajüte erstrahlte 
in grellem Licht, man hatte Lust, zu essen, zu trinken, zu rauchen, 
sich zu rühren . . . Nach zehn Minuten bestieg die Familie aus San 
Francisco eine große Barke, betrat nach einer Viertelstunde das Pflaster 
des Uferquais und nahm dann in dem hellen kleinen Waggon Platz, 
der sie surrend die Anhöhe hinaufzog, zwischen Weinbergspalieren, 
zwischen halbverfallenen steinernen Mauern und feuchten, verkrümmten, 
hin und wieder durch Strohdächer geschützten Orangenbäumen empor, 
die mit ihren leuchtenden Früchten und ihrem dickblätterigen, blank¬ 
glänzenden Laub an den offenen Waggonfenstern vorbei den Berg 
hinabglitten .. . Süß duftet in Italien die Erde nach einem Regen, 
und eine jede seiner Inseln hat ihr eigenes, besonderes Aroma! 



/. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 


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Die Insel Capri war feucht und dunkel an diesem Abend. Aber 
jetzt belebte sie sich ftlr einen Augenblick, hier und da blinkte Licht 
auf, wie immer um die Ankunftsstunde des Dampfschiffes. 

Oben auf dem Berg, auf dem kleinen Platz, wo sich der Bahnhof 
der Funicolare befand, stand bereits wieder die Menge derjenigen, 
denen die Verpflichtung oblag, den Herrn aus San Francisco würdig 
zu empfangen. Es kamen auch noch andere Leute an, die aber nicht 
der Aufmerksamkeit wert waren — einige auf Capri ansässige Russen, 
ungepflegt, bärtig, bebrillt, in ihre Bücherweisheiten versunken und 
daher zerstreut, die Kragen ihrer alten Tuchmäntel hochgeschlagen, 
und eine Gesellschaft langbeiniger, langhalsiger, rundköpfiger deutscher 
Jünglinge in Tiroler Kostümen mit Rucksäcken über der Schulter, die 
niemandes Dienste benötigten, sich überall wie zu Hause fühlten und 
ganz und gar nicht großartig im Geldausgeben waren. Der Herr aus 
San Francisco, der sich ruhig sowohl von den einen, wie von den 
andern abgesondert hatte, wurde sogleich bemerkt. Man war ihm und 
seinen Damen eifrigst beim Aussteigen behilflich, man lief vor ihm 
her, um ihm den Weg zu zeigen, wiederum umringten ihn halbwüchsige 
Buben und jene stämmigen Bauemweiber von Capri, die auf ihren 
Köpfen die Koffer und Taschen der anständigen, herrschaftlichen 
Reisenden tragen. Ihre kothurnartigen Holzsandalen klapperten auf 
dem Steinpflaster des kleinen, etwas opemhaften Platzes, über welchem 
die Kugel einer elektrischen Bogenlampe im feuchten Winde hin und 
her schwankte, die Bubenschar begann pfeifend Vogelstimmen nach¬ 
zuahmen und kopfüber Rad zu schlagen — und wie auf der Bühne 
schritt der Herr aus San Francisco in ihrer Mitte auf irgend einen 
mittelalterlichen Bogen, der mehrere Häuser zu einem einzigen ver¬ 
band, zu; dahinter führte zu der lichterstrahlenden Auffahrt des Hotels 
ein abschüssiges, geräuschvolles Gäßchen mit wehenden Palmenkronen 
über den flachen Dächern zur Linken und bläulichen Sternen am 
schwarzen Nachthimmel droben .. . Und wieder war es, als ob nur 
zu Ehren der Gäste aus San Francisco die steinerne feuchte kleine Stadt 
auf der felsigen Insel im Mittelländischen Meer zum Leben erwacht 
wäre, als ob sie es wären, die den Hotelwirt so froh und glücklich 
machten, als ob nur auf sie das chinesische Gong gewartet hätte, um 
durch alle Stockwerke hindurch sammelnd zum Diner zu rufen, kaum 
daß sie die Halle betreten hatten. 

Der Anblick des Wirtes, eines ungemein eleganten jungen Mannes, der 
ihnen entgegenging und sich mit ausgesuchter Höflichkeit vor ihnen 



l 6 LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

verneigte, machte den Herrn aus San Francisco einen Augenblick be¬ 
troffen: plötzlich, nachdem er einen Blick auf ihn geworfen, erinnerte 
sich der Herr aus San Francisco, daß er heut nacht, unter andern 
wirren Bildern, die ihn im Traum bestürmt hatten, gerade diesen 
Gentleman gesehen hatte, auf ein Haar dieselbe Erscheinung, in eben 
dem Besuchsanzug mit den geschweiften Schößen und mit eben 
dem pomadisierten, sorgfältig gescheitelten Kopf. Verwundert wäre 
er sogar beinahe stehen geblieben. Aber da in seiner Seele schon 
längst auch nicht ein Körnchen irgendwelcher sogenannter mystischer 
Gefühle zurückgeblieben war, so erlosch seine Verwunderung auch 
sogleich wieder: scherzend erzählte er, als sie den Hotelkorridor ent¬ 
langschritten, seiner Frau und Tochter dieses seltsame Zusammentreffen 
von Traum und Wirklichkeit. Doch nur die Tochter sah ihn in 
diesem Augenblick voll Erregung an: ihr Herz zog sich plötzlich vor 
Weh zusammen, ein so starkes Gefühl von Einsamkeit auf dieser 
fremden, dunklen Insel überkam sie, daß sie beinahe in Tränen aus¬ 
gebrochen wäre. Aber dem Vater sagte sie trotzdem nichts von ihren 
Gefühlen, — wie immer. 

Soeben erst hatte ein hoher Gast die Insel Capri verlassen — Prinz 
Reuß XVIL Den Gästen aus San Francisco wurden dieselben Gemächer 
angewiesen, die er innegehabt hatte. Das hübscheste und geschickteste 
Zimmermädchen wurde ihnen zugeteilt, eine Belgierin mit schmal und 
fest geschnürter Taille und einem gestärkten Häubchen, das wie eine 
kleine gezackte Krone aussah, der ansehnlichste und zuverlässigste 
Kellner, ein kohlschwarzer Sizilianer mit Feueraugen, und der ge¬ 
wandteste Hausdiener, der kleine runde Luigi, ein großer Spaßvogel, 
der schon oft in seinem Leben die Stelle gewechselt hatte. Nach 
einer Minute klopfte es leicht an der Zimmertür des Herrn aus San 
Francisco, der französische maitre d’hötel erschien, um zu fragen, ob 
die neu angekommenen Herrschaften zu speisen wünschten, und im 
Falle einer bejahenden Antwort, an der übrigens nicht zu zweifeln 
war, zu vermelden, daß es heute Languste, Roastbeaf, Spargel, Fasan usw. 
gäbe. Der Boden schwankte noch unter dem Herrn aus San Francisco 
— so hatte ihn dieses elende kleine italienische Fahrzeug geschaukelt —, 
aber ohne sich zu beeilen, schloß er mit eigenen, wenn auch aus 
Mangel an Gewohnheit nicht ganz geschickten Händen das Fenster, 
das beim Eintritt des maitre d'hötel aufgeschlagen war, und durch 
welches der Geruch der fernen Küche und nasser Blumen aus dem 
Garten hereindrang, und antwortete ohne Eile, mit gemessener Aus- 



I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


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führlichkeit, daß sie speisen würden, daß der Tisch für sie weit von 
der Tür entfernt, ganz tief im Saal drinnen gedeckt werden müsse, 
daß sie den hiesigen Landwein und Champagner trinken würden — 
mäßig herben, der nur leicht gekühlt werden darf —, und jedem 
seiner Worte stimmte der maitre d’hötel in den mannigfaltigsten Ton¬ 
arten zu, die aber alle nur den einen Sinn hatten, daß es keinen 
Zweifel an der Berechtigung der Wünsche des Herrn aus San Fran¬ 
cisco gäbe und geben könne, und daß alles auf das genaueste aus¬ 
geführt werden würde. Zuletzt neigte er den Kopf und fragte vor¬ 
sichtig und zart: „Das wäre alles, Sir?“ — 

Und fügte, da er ein zögerndes „Yes“ zur Antwort bekommen, 
hinzu, daß heute bei ihnen in der Halle Tarantella getanzt würde — 
die Karmella und der Guiseppe würden tanzen, die in ganz Italien 
und „bei der ganzen Touristen weit“ berühmt seien. 

— „Ich habe ihr Bild auf den Anzeigen gesehen —“ sagte der Herr 
aus San Francisco ohne irgendwelchen Ausdruck in der Stimme — 
„dieser Guiseppe — ist das ihr Mann?“ — 

— „Ihr Vetter, Sir,“ — antwortete der maitre d’hötel. Und nach¬ 
dem der Herr aus San Francisco ein weniges gezögert, etwas überlegt, 
aber nichts gesagt hatte, entließ er ihn mit einer Neigung des Kopfes. 

Dann begann er von neuem sich gleichsam wie zur Hochzeit zu 
bereiten: er zündete überall die elektrischen Lampen an, füllte alle 
Spiegel mit dem Widerschein von Licht und Glanz, mit dem Doppel¬ 
bild der Möbel und der geöffneten Koffer, begann sich zu rasieren, 
zu waschen und alle Augenblicke zu klingeln, zur gleichen Zeit, in 
der andere ungeduldige Klingelzeichen aus den Zimmern seiner Frau 
und Tochter durch den ganzen Korridor schrillten und die seinen 
durchkreuzten. Und Luigi in seinem roten Schurz machte die Zimmer¬ 
mädchen, die mit Porzellaneimern in den Händen an ihm vorbeiliefen, 
zu Tränen lachen, indem er Grimassen des Schreckens schnitt, mit der 
Leichtigkeit, die vielen Dicken eigen ist, auf das Klingeln Hals über 
Kopf an die Tür stürzte, mit gekrümmtem Knöchel anklopfte und 
mit erheuchelter Schüchternheit, mit einer an Idiotismus grenzenden 
Ergebenheit fragte: 

— „Ha sonato, signore? 

Und hinter der Tür ließ sich eine gemessene, knarrende, beleidigend 
höfliche Stimme vernehmen: 

— „Yes, come in . . .“ 

Was fühlte, was dachte der Herr aus San Francisco an diesem für 




38 LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

ihn so bedeutsamen Abend? Gar nichts Besonderes fühlte er; denn 
darin eben liegt ja das ganze Unglück, daß auf dieser Welt dem 
äußeren Anschein nach alles gar so einfach ist! Wenn er in seiner 
Seele auch eine Ahnung davon verspürt hätte, daß etwas geschehen 
würde, so würde er gleichwohl doch gedacht haben, daß es noch 
nicht bald, auf keinen Fall, daß es sofort geschehen würde. Außer¬ 
dem hatte er, wie jeder, der eine solche Schaukelei durcbgemacht hat; 
große Lust, etwas zu essen, er schwelgte in Gedanken an den ersten 
Löffel Suppe, an den ersten Schluck Wein und vollendete die gewohnte 
Tätigkeit des Toilettemachens sogar in einiger Erregung, die keine Zeit 
zum Nachdenken ließ. 

Nachdem er rasiert und gewaschen war und einige falsche Zähne 
zurechtgesetzt hatte, feuchtete und bürstete er, vorm Spiegel stehend, 
die Überreste seiner dichten perlgrauen Haare fest um den dunkel¬ 
gelblichen Schädel herum mit silbergefaßten Bürsten an, zog über seinen 
kräftigen alten Körper, der sich in der Taille vor Überernährung zu 
runden begann, ein cremefarbenes Seidentrikot und über seine dürren 
Füße mit den platten Sohlen schwarzseidene Strümpfe und Ballschuhe, 
brachte, sich einen Augenblick niedersetzend, die mit seidenen Hosen¬ 
trägern hochgespannten schwarzen Beinkleider und das schneeweiße 
Hemd mit der abstehenden steifen Brust in Ordnung, befestigte kost¬ 
bare Knöpfe in den schimmernden Manschetten und begann, sich mit 
dem An bringen des immer wieder entschlüpfenden Hemdknöpfchens 
unter dem steifen Kragen abzuquälen. Der Boden schwankte noch 
immer unter ihm, die Fingerspitzen taten ihm sehr weh dabei, das 
Hemdknöpfchen kniff ihm ein paarmal tüchtig die welke Haut in 
der Vertiefung unterhalb des Kehlkopfes zusammen, aber standhaft 
ließ er nicht ab und brachte es denn endlich zustande, mit Augen, die 
vor Anstrengung glänzten, und ganz blau im Gesicht, weil der über 
die Maßen enge Kragen ihm die Kehle zusammenschnürte — völlig er¬ 
schöpft blieb er danach vor dem großen Wandspiegel sitzen, der seine 
ganze Gestalt zurückwarf, die sich in den andern Spiegeln wiederholte. 

— „O das ist schrecklich!“ — murmelte er vor sich hin, indem er 
seinen starkknochigen, kahlen Kopf sinken ließ, und sich nicht zu 
begreifen bemühte, nicht darüber nachdachte, was eigentlich schreck¬ 
lich wäre; dann musterte er mit gewohnter Aufmerksamkeit seine 
kurzen Finger mit den gichtischen Verdickungen an den Gelenken, 
seine großen, gewölbten, mandelfarbigen Nägel und wiederholte voll 
Überzeugung: — „Das ist schrecklich!“ — . .. 



LA. Bunin, Der Herr ans San Francisco 39 

Da aber tönte laut ballend wie in einem heidnischen Tempel durch 
das ganze Haus das zweite Gongzeichen» Der Herr am San Francisco 
stand eilig von seinem Platz auf, zog den Kragen noch enget mit der 
Kravatte zusammen, zwängte den Wagen in die ausgeschnittene Weste, 
zog den Smoking an, richtete die. Manschetten und beschaute sich noch 
einmal von allen Seiten, im Spiegel . . . Diese braune Karmella mit 
dm durchtriebenen Augen, die wie eine Mulattin aussiebt, muß in 
ihrem farbenfreudigen Putz, in dem das Orange überwiegt, ganz außer¬ 
ordentlich tanzen, dachte er bei sich. Und rüstig aus seinem Zimmer 
tretend, schritt er übet den Teppich zum benachbarten Zimmer seiner 
Frau und fragte laut, ob sie bald fertig wären ? 

— „In fünf Minuten, Papa!“ — antwortete hell und schon wieder 
heiter die Jungmädchenstimme hinter der Tür. 

— „Vortrefflich!“ — sagte der Herr am San Francisco. 

Gemessen, ohne zu eilen, ging er durch die Korridore, Über die 

Treppen, die mit roten Teppichen belegt waren, hinunter und suchte 
das Lesezimmer. Die Bedienten, die ihm begegneten, drückten sich vor 
ihm an die Wand, aber er ging, als ob er sic gar nicht bemerkte. 
Eine schon von den Jahren gebeugte alte Dame mit milchweißem 
Haar, aber dennoch dekolletiert, in lichtgrauem Seidenkleid, eilte, da 
sie sich zum Diner verspätet hafte, so schnell sie konnte, dabei lächer¬ 
lich trippelnd wie ein Huhn, vor ihm her, und er überholte sie mühelos. 
Neben den Glastüren zum SpeucsaaJ, in welchem schon alle versammelt 
waren und begonnen hatten zu speisen, blieb er vor einem kleinen 
Usch stehen, der mit Zigarrenkisten und Schachteln ägyptischer Zi¬ 
garetten beladen war, wählte eine große Manüia und warf drei Lire 
auf den Tisch; im Vorübergehen blickte er im Wintergarten durch 
das offne Fenster: aus der Dunkelheit wehte ihm weiche Luft ent¬ 
gegen, tauchte der Wipfel einer alten. Palme auf, die ihre gigantisch 
wirkenden Fachtrwedel unter dem Sternenhimmel entfaltete, klang das 
ferne gleichmäßige Rauschen des Meem ... Im Lesezimmer, das be¬ 
haglich, still und nur Über den Tischen erfrüchteet war, stand irgend 
ein grauhaariger, nicht sehr sauberer Deutscher, der Ibsen ähnlich sah, 
r un de, in Silber gefaßte Brillengläser trug und verrückte erstaunte Augen 
hatte, tmd wühlte raschelnd in den Zeitungen. Der Herr aus San 
Francisco musterte ihn kalt, ließ sich dann in einem Winkel in einen 
tiefen Ledersessel neben einer Lampe mit grünem Schirm nieder, setzte 
das JPincenez auf, reckte den Kopf aus dem Kragen, der ihn würgte, 
und verschwand völlig hinter seinem Zeitungsblatt. Er überflog rasch 



40 


I. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


die Überschriften einiger Artikel, las einige Zeilen über den niemals 
endenden Balkankrieg und wendete mit gewohnter Bewegung das 
Zeitungsblatt um — als plötzlich die Zeilen vor ihm gläserne Blitze 
sprühten, sein Hals sich anschwellend spannte, seine Augen aus dem 
Kopfe heraustraten und das Pincenez ihm von der Nase flog ... Er 
stürzte vornüber, rang nach Luft — und begann wild zu röcheln; sein 
Unterkiefer fiel herab, der ganze Mund blinkte hell vom Gold der 
Plomben, der Kopf sank ihm auf die Schulter und pendelte haltlos 
hin und her, die steife Hemdbrust beulte sich — der ganze Körper 
glitt, sich krümmend, zu Boden, riß mit den Absätzen den Teppich 
mit und schien verzweifelt mit irgend jemandem zu ringen. 

Hätte sich der Deutsche nicht im Lesezimmer befunden, so hätte 
man im Hotel das schreckliche Ereignis schnell und geschickt zu ver¬ 
tuschen gewußt, im Augenblick hätte man den Herrn aus San Fran¬ 
cisco an Kopf und Füßen gepackt, und durch einen hinteren Ausgang 
hinaus, ein wenig weiter weggeschafit — und keine Menschenseele 
unter den Gästen hätte erfahren, was er da angerichtet hatte. Aber 
der Deutsche stürzte mit Geschrei aus dem Lesezimmer, er brachte 
das ganze Haus, den ganzen Speisesaal in Aufruhr. Viele sprangen, 
die Stühle umwerfend, vom Essen auf, viele rannten erbleichend nach 
dem Lesezimmer, in allen Sprachen schwirrte es durcheinander: „Was? 
was ist denn geschehen?“ — Und niemand antwortete vernünftig, und 
niemand begriff etwas, da bis zum heutigen Tage noch die Menschen 
sich über nichts so verwundern, wie über den Tod, und um nichts 
auf der Welt an ihn glauben wollen. Der Wirt lief im Kreise herum 
von einem Gast zum andern, versuchte die Forteilenden aufzuhalten 
und mit hastigen Versicherungen zu beruhigen, daß es nichts auf sich 
habe, daß es nur eine Bagatelle wäre, nur eine kleine Ohnmacht, die 
einen Herrn aus San Francisco befallen habe . . . Aber niemand hörte 
auf ihn, viele sahen, wie die Kellner und Hausdiener jenem Herrn 
die Kravatte, die Weste, den zerdrückten Smoking herunterrissen und 
sogar aus irgendeinem Grunde die Ballschuhe von den schwarzseidenen 
Füßen mit den platten Sohlen zerrten. Er kämpfte noch immer. Hart¬ 
näckig rang er mit dem Tode, wollte sich ihm, der ihn so uner¬ 
wartet und roh überfallen hatte, um keinen Preis ergeben. Er warf 
den Kopf von einer Seite auf die andere, röchelte, als ob ihm die 
Kehle durchschnitten würde, rollte die Augen, wie ein Trunkener... 
Als man ihn hastig hinausgetragen und auf das Bett in Nummer 43 
gelegt hatte — in das kleinste, schlechteste, feuchteste und kälteste 



/. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 


4 1 


Zimmer am Ende des Korridors zu ebener Erde — eilte seine Tochter 
mit gelosten Haaren, im offenen Frisiermantel, mit entblößter, hoch* 
geschnürter Brust herbei, und dann auch seine große, etwas schwer¬ 
fällige, schon fertig zum Diner geschmückte Gattin, deren offener 
Mund ganz rund vor Entsetzen war . .. Aber da bewegte er auch 
schon nicht mehr den Kopf. 

Nach einer Viertelstunde war die Ordnung im Hotel mühsam wieder 
hergestellt. Aber der Abend war unrettbar verdorben. Einige kehrten 
in den Speisesaal zurück und beendeten ihre Mahlzeit, aber schweigend, 
mit beleidigten Gesichtem, während der Wirt bald an den einen, bald 
an den andern herantrat, in hilfloser und geziemender, ärgerlicher 
Erregtheit die Achseln zuckte, sich schuldlos schuldig fühlte, allen ver¬ 
sicherte, daß er sehr wohl begreife „wie unangenehm das sei“, und sein 
Wort gab, „alle von ihm abhängenden Maßregeln“ zur Beseitigung 
der Unannehmlichkeit zu ergreifen; die Tarantella mußte verschoben 
werden, alles überflüssige elektrische Licht wurde ausgelöscht, die Mehr¬ 
zahl der Gäste ging fort ins Bierrestaurant, und es wurde so still, daß 
man deutlich das Ticken der Uhr in der Halle vernehmen konnte, wo 
ganz allein ein Papagei blechern vor sich hinschwätzte, vorm Schlafen 
in seinem Käfig herumturnte und es fertig brachte, die eine Pfote ver¬ 
zwickt an der obersten Stange festzukrallen und so einzuschlafen . . . 
Der Herr aus San Francisco lag auf einer billigen, eisernen Bettstelle, 
unter groben, wollenen Decken, auf die trübe das Licht einer einzigen 
elektrischen Birne von der Decke herab fiel. Ein Eisbeutel hing schlaff" 
auf seiner feuchten und kalten Stirn. Sein bläuliches, schon totengleiches 
Gesicht erkaltete nach und nach, das heisere Gurgeln, das aus seinem 
offenen, goldblinkenden Munde kam, wurde schwächer. Das war schon 
nicht mehr der Herr aus San Francisco, der da röchelte — den gab es 
nicht mehr — das war ein anderer. Seine Frau, seine Tochter, der Arzt, 
die Dienerschaft standen herum und blickten stumpf auf ihn. Plötzlich 
vollendete sich das, was sie erwarteten und fürchteten — das Röcheln 
brach ab. Und langsam, langsam, vor aller Augen, überzog Blässe 
das Gesicht des Verschiedenen, seine Züge streckten, verfeinerten 
sich, klärten sich in einer Schönheit, die ihm schon lange geziemt 
hätte ... 

Der Wirt trat herein. — „Gia’ 6 morto“-sagte ihm flüsternd der 

Arzt. Der Wirt zuckte mit gleichgültigem Gesicht die Achseln. Die 
Missis, der still die Tränen über die Backen liefen, trat an ihn heran 



4 * LA. Bunin, Der Herr aus San Francisco 

und sagte schüchtern, daß man nun den Verstorbenen in sein Zimmer 
hinübertragen müsse. 

— „O nein, Madame —'“, erwiderte rasch, korrekt, aber bereits ohne 
jede Liebenswürdigkeit, und auf französisch, nicht auf englisch, der 
Wirt, der gar kein Interesse mehr für die Kleinigkeit hatte, welche 
die Reisenden aus San Francisco jetzt noch in seiner Kasse zurücklassen 
mochten — „das ist vollkommen unmöglich, Madame —“, sagte er und 
fügte zur Erklärung hinzu, daß dieses seine besten Zimmer seien, wenn 
er ihren Wunsch erfüllte, so würde das in ganz Capri bekannt werden, 
und die Reisenden würden dann anfangen diese Zimmer zu meiden. 

Die Miß, die ihn die ganze Zeit seltsam angeschaut hatte, sank auf 
einen Stuhl und brach, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, in 
Schluchzen aus. Die Tränen der Missis versiegten auf einmal, das Blut 
schoß ihr ins Gesicht. Sie erhob die Stimme und begann in ihrer 
Muttersprache, noch immer nicht glaubend, daß die Achtung vor ihnen 
endgültig dahin sei, zu fordern. Der Wirt wies sie mit höflicher Würde 
ab: wenn Madame die Gepflogenheiten des Hotels nicht Zusagen, so 
wage er nicht Madame zurückzuhalten; und er erklärte mit Festigkeit, 
daß der Körper noch heute bei Tagesanbruch fortgeschafft werden 
müsse, daß die Polizei schon benachrichtigt sei, daß einer ihrer Ver¬ 
treter sogleich erscheinen werde, um die notwendigen Formalitäten zu 
erfüllen ... Ob man auf Capri einen wenn auch nur einfachen Sarg 
bekommen könne, frage Madame? Leider nein, auf keinen Fall, und 
an fertigen könne ihn auch niemand mehr rechtzeitig. Man müsse sich 
schon irgendwie anders behelfen ... Er bekomme, zum Beispiel, das 
englische Sodawasser in großen länglichen Kisten .. die Zwischenwände 
einer solchen Kiste könne man herausnehmen .... 

In der Nacht schlief alles im Hotel. Auf Nummer 4) hatte man 
das Fenster geöffnet — es ging nach einem Winkel des Gartens hinaus, 
wo unter einer hohen Steinmauer, deren Brüstung mit Glasscherben 
bespickt war, eine verkümmerte Banane wuchs — man hatte das elek¬ 
trische Licht gelöscht, die Tür abgeschlossen und war hinausgegangen. 
Der Tote blieb im Dunkel, bläuliche Sterne schauten vom Himmel auf 
ihn nieder, eine Grille sang in der Wand ihr schwermütig-sorgloses 
Lied ... In dem schwach erleuchteten Korridor saßen auf dem Fenster* 
brett zwei Zimmermädchen bei einer Stopfarbeit. Luigi kam, in Pan¬ 
toffeln, einen Haufen Kleider über dem Arm. 

— „Pronto?“, fragte er geschäftig in lautem Flüsterton, mit den 
Augen auf die unheimliche Tür am Ende des Korridors weisend. 



/. A. Bunin , Der Herr aus San Francisco 


43 


Er winkte leicht mit der freien Hand nach jener Seite: — „Partenza!“ — 
rief er flüsternd, als ob er einen Zug abfertigte, so, wie sie gewöhnlich 
auf den Bahnhöfen in Italien bei Abfahrt der Züge rufen, — und die 
Zimmermädchen Helen, sich schüttelnd vor lautlosem Lachen, mit den 
Köpfen eine gegen die Schulter der anderen. 

Dann hüpfte er in weichen Sprüngen bis dicht an die Tür heran, 
klopfte unhörbar an und, den Kopf auf die Seite geneigt, fragte er 
halblaut mit tiefster Ehrerbietung: 

— „Ha sonato, signore?“ — 

Und die Kehle zupressend, mit vorgeschobenem Unterkiefer antwortete 
er, gemessen, knarrend und gramvoll sich selbst so, als ob es hinter 

der Tür her käme: 

« 

— „Yes, come in“ .... 

Bei Tagesanbruch, als es hinter dem Fenster von Nummer 43 zu 
dämmern und ein feuchter Wind in der gefaserten Blattkrone der Banane 
zu rascheln begann, als über der Insel Capri der lichtblaue Morgen¬ 
himmel sich wölbte und ausbreitete, und die Sonne, die hinter den 
fernen blauen Bergen Italiens heraufstieg, den ihr gegenüberliegenden 
klaren, scharfumrissenen Gipfel des Monte Soliaro vergoldete, als die 
Steinklopfer, welche die Fußpfade der Insel für die Touristen aus¬ 
bessern, an ihre Arbeit gingen — brachte man auf Zimmer Nummer 43 
eine lange ehemalige Sodawasserkiste. In Kürze wurde sie sehr 
schwer — und drückte arg gegen die Knie des jüngeren Portiers, der 
sie eilig auf einem Einspänner die weiße Landstraße hinabbeförderte, 
die sich in Schleifen an den steilen Abhängen Capris entlang, zwischen 
steinernen Mauern und Weinbergen, immer tiefer und tiefer, hinunter 
bis zum Meere wand. Dem Kutscher, einem kümmerlichen Kerlchen 
mit roten Augen, in einer alten Jacke mit zu kurzen Ärmeln und in 
niedergetretenem Schuhzeug, war noch schlecht vom gestrigen Rausch — 
die ganze Nacht durch hatte er in der Trattoria Würfel gespielt — und 
er peitschte ununterbrochen auf sein kräftiges Pferdchen ein, das, auf 
sizilianische Art angeschirrt, hurtig mit allen möglichen Glöckchen 
bimmelte, die an seinem mit bunten wollenen Pompons gezierten Zaum¬ 
zeug und an den messingbeschlagenen Kummethörnern hingen; aus 
seinem gestutzten Stirnschopf ragte eine ellenlange Vogelfeder, die im 
Laufen beständig auf und nieder tanzte. Der Kutscher schwieg, er war 
niedergedrückt durch seine Liederlichkeit, durch seine Laster — dadurch, 
daß er bis zum letzten Heller in der Nacht alle die Kupfermünzen, 



44 


I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 


von denen seine Taschen voll gewesen waren, verspielt hatte. Doch 
der Morgen war frisch, in solcher Luft, am Meere, unter dem Morgen¬ 
himmel verflüchtigt sich ein Rausch schnell, und die Sorglosigkeit kehrt 
dem Menschen bald wieder; auch tröstete den Rutscher jener uner¬ 
wartete Verdienst, den ihm irgend ein Herr aus San Francisco ver¬ 
schafft hatte, dessen toter Kopf da hinter seinem Rücken in der Kiste 
hin und her schwankte ... Das Dampfschiff, das tief unten wie ein 
Käfer auf der blendenden Bläue lag, die in so satter Fülle über den 
Golf von Neapel ausgegossen ist, gab mit der Dampfpfeife schon seine 
letzten Signale — munter hallten sie über die ganze Insel wider, auf 
der jede Krümmung, jede Erhöhung, jeder Stein nach allen Seiten hin 
so deutlich sichtbar war, als ob es überhaupt keine Luft dazwischen 
gäbe. Am Hafen wurde der jüngere Portier von dem Älteren einge¬ 
holt, der die Miß und die Missis, beide bleich, mit Augen, die von 
Tränen und von der schlaflosen Nacht eingesunken waren, im Auto¬ 
mobil hergefahren hatte. Und nach zehn Minuten teilte das Dampf¬ 
schiff aufrauschend von neuem die Wellen, und von neuem eilte es auf 
Sorrent, auf Castellamare zu, führte auf immer die Familie aus San 
Francisco von Capri fort.. . Und auf der Insel kehrte wieder Friede 
und Ruhe ein. 

Auf dieser Insel lebte vor zweitausend Jahren ein Mensch, völlig ver¬ 
strickt in seine grausamen und schmutzigen Taten, der irgendwie die 
Macht über Millionen von Menschen errafft hatte, und der nun im 
Geiste verwirrt durch die Sinnlosigkeit dieser Machtfülle und durch die 
Furcht, es könne ihn jemand aus dem Hinterhalt erschlagen, Grausam¬ 
keiten über alles Maß verübte — und die Menschheit wahrte sein Ge¬ 
dächtnis in alle Ewigkeit, und diejenigen, die in ihrer Gesamtheit ebenso 
unbegreiflich und in Wirklichkeit auch ebenso grausam, wie er, jetzt 
in der Welt herrschen, kommen aus aller Herren Länder hierher zu¬ 
sammen, um die Überreste jenes steinernen Palastes anzuschauen, in 
welchem er auf einem der jähesten Felsenvorsprünge der Insel gelebt 
hat. An diesem wundervollen Morgen schliefen noch alle, die in eben 
dieser Absicht nach Capri gekommen waren, in ihren Hotels, obwohl 
die kleinen mausgrauen Eselchen mit ihren roten Sätteln schon an den 
Auffahrtsrampen der Gasthöfe bereit standen: wiederum würden heute, 
nachdem sie ausgeschlafen und sich sattgegessen hatten, junge und alte 
Amerikaner und Amerikanerinnen, Deutsche, — Männer und Frauen,—auf 
sie hinauf klettern, und wiederum würden auf den schmalen, steinigen 
Pfaden den ganzen Berg hinan, bis hart zum Gipfel des Monte Tiberio, 



I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 


45 


die alten Bettelweiber von Capri mit Stocken in den sehnigen Händen 
hinter ihnen herlaufen. Dadurch beruhigt, daß der tote alte Herr aus 
San Francisco, der auch mit ihnen hatte hinaufreiten wollen, statt dessen 
sie aber nur durch eine Mahnung an den Tod erschreckt hatte, schon 
nach Neapel geschafft worden war, schliefen die Reisenden einen festen 
gesunden Schlaf, und auf der Insel war es noch still, die Läden in 
in der Stadt waren noch geschlossen. Nur auf dem kleinen Platze 
war schon Markt — Fisch und Gemüse wurden gehandelt, doch nur ein¬ 
fache Leute waren da, unter denen, wie immer ohne jegliche Beschäftigung, 
Lorenzo herumstand, ein großer, alter Barkenführer, ein unbekümmerter 
Faulenzer und ein durch ganz Italien berühmter schöner Mann, der 
zahlreichen Malern mehr als einmal als Modell gedient hatte: er hatte 
zwei Hummer, die er in der Nacht gefangen, hergebracht und schon 
fftr ein Spottgeld verkauft — sie krabbelten jetzt in der Schürze des 
Koches desselben Hotels, in welchem die Familie aus San Francisco 
übernachtet hatte — ,und konnte nun ruhig, sei’s auch bis zum Abend, 
herumstehen, und in seinen Lumpen, mit seiner Tonpfeife und seinem 
roten Wollbarett, das schief auf dem einen Ohr saß, malerisch postiert, 
mit königlicher herablassender Nachsicht seiner Umgebung zuschauen. 
An den steilen Abhängen des Monte Soliaro, auf der alten, in den 
Felsen gehauenen, phöniziseben Straße, über ihre steinernen Stufen stiegen 
von Ana-Capri her zwei abruzzische Bergbewohner herunter. Der eine 
hatte unter seinem Fellumhang einen Dudelsack — einen großen Balg 
aus Ziegenleder mit zwei eingesetzten Pfeifen — der andere eine Art 
Hirtenflöte aus Holz. Sie gingen—und unter ihnen breitete sich freude¬ 
strahlend, wunderherrlich, sonnig die ganze Gegend aus: die felsigen 
Auswüchse der Insel, die fast in ihrer ganzen Ausdehnung zu ihren 
Füßen lag, und jene märchenhafte Bläue, in der sie schwamm, und 
die leuchtenden Morgendünste über dem Meer gen Osten, blendend 
vom Licht der Sonne überflutet, die immer höher und höher steigend, 
schon heiß brannte, und jene nebelblauen, noch morgendlich schwankenden 
Umrisse der Gebirgsmassen Italiens, seiner nahen und fernen Berge, deren 
Schönheit auszudrücken Menschenworte nicht fähig sind... Auf halbem 
Wege verlangsamten sie den Schritt: oberhalb der Straße, in einer Felsen¬ 
grotte in der Wand des Monte Soliaro stand, ganz von der Sonne über¬ 
strahlt, ganz in ihre Wärme und in ihren Glanz getaucht, in schnee¬ 
weißen Gipsgewändern, auf dem Haupt die Himmelskrone, die Wctter- 
unbill mit goldfarbigem Rost getönt, eine Mutter Gottes, sanft und 
gnadenreich, die Augen zum Himmel aufgeschlagen, zur ewigen, seligen 



4 6 LA. Bunin , Der Herr aus San Francisco 

Behausung ihres dreimal gebenedeiten Sohnes. Sie entblößten die 
Häupter, setzten ihre Hirtenflöten an die Lippen — und ihre einfältigen, 
demütig freudevollen Loblieder erschallten der Sonne, dem Morgen, 
Ihr, der makellosen Beschützerin aller Leidenden in dieser bösen und 
schönen Welt, und Ihm, den ihr Schoß im Stall zu Bethlehem geboren, 
in jenem armseligen Hirtenobdach, im fernen Land Judäa... 

Der Körper des toten alten Herrn aus San Francisco kehrte in die 
Heimat zurück, ins Grab, an die Ufer der „Neuen Welt“. Nachdem er 
viele Erniedrigungen, viel menschliche Nichtachtung erfahren, fast eine 
Woche lang aus einem Hafenschuppen in den andern gewandert war, 
geriet er endlich wiederum auf das gleiche berühmte Schiff, das ihn 
vor noch so kurzer Zeit mit so viel Ehren nach der Alten Welt gebracht 
Aber jetzt verbarg man ihn weislich vor den Lebenden — tief senkte 
man ihn in einem verpichten Sarg in den schwarzen Kielraum des 
Schiffes hinab. Und wieder, wieder trat das Schiff seine weite Meerfährt 
an. Nachts fuhr es an der Insel Capri vorüber, und traurig waren seine 
Lichter, die langsam auf dem dunkeln Meere entschwanden, für den, der 
von der Insel aus ihnen nachblickte. Aber dort auf dem Schiff selbst, 
in den hellen Sälen, die von Marmor und vom Licht der Kristallkronen 
glänzten, war wie gewöhnlich reichbesuchter Ball in dieser Nacht 

Auch in der zweiten und in der dritten Nacht war Ball — wieder 
bei rasendem Schneesturm, der über den Ozean fegte, dessen Wogen¬ 
berge in silberschaumverbrämter Trauer dumpf wie Chöre einer 
Totenmesse rauschten. Fast verdeckte das Schneegestöber die zahllosen 
Feueraugen des Schiffes vor Satanas, der auf den Felsen von Gibraltar 
hockend, von den steinernen Toren zweier Welten aus dem Schiff 
nachblickte, das in Nacht und Sturm entschwand. Ungeheuer, groß 
wie ein Felsblock ragte Satanas, aber ihn überragend türmte das 
Schiff sich auf, das mit vielen Stockwerken, vielen Schornsteinen die 
Hoffahrt des Neuen Menschen mit dem alten Herzen erschaffen hat. 
Der Schneesturm riß an seinem Takelwerk, rüttelte ungestüm an 
seinen dickhalsigen Schornsteinen, die weiß von Schnee waren — 
doch es war standhaft, stark, stolz — und furchtbar. Hoch auf dem 
obersten Deck lagen einsam im Schneetreiben jene geschützten, 
schwach erleuchteten Räume, in welchen der große, schwere Führer 
des Fahrzeuges, in einen schlafähnlichen, unruhig hellhörigen Dämmer¬ 
zustand versunken, über dem ganzen Schiff, einem heidnischen Götzen, 
gleich, thronte. Er hörte das dunkle Aufheulen und rasende Kreischen 
der vom Sturm erstickten Sirene, doch ihn beruhigte die Nähe dessen» 



I. A. Bunin, Der Herr aus San Francisco 


47 


was sich dort hinter seiner Wand befand und letzten Endes ihm 
selbst unbegreiflich blieb: die Nähe jener großen, gleichsam ge¬ 
panzerten Kajüte, die unaufhörlich sich mit einem geheimnisvollen 
Tosen, mit einem Beben, mit dem trocknen Knistern blauer Blitze 
füllte, welche um den bleichen Telegraphisten mit dem metallnen 
Reif um den Kopf aufflammten und knatterten. Ganz in der Tiefe, 
in dem unter Wasser befindlichen Bauch der „Atlantida“ funkelten 
in mattem Stahlglanz die vieltausendpfündigen Ungetüme der Kessel 
und aller möglicher anderer Maschinen, ließen zischend Dampf und 
gaben tropfend kochendes Wasser und Öl von sich: in dieser Hexen¬ 
küche, die von den rückwärts gelegenen höllischen Heizkesseln glühte, 
wurde die Fahrtbewegung des Schiffes gebraut, — unheimlich in ihrem 
bezwingend zweckmäßigen, angespannt einförmigen Arbeiten, brodel¬ 
ten und stampften diese Kräfte, deren Bewegung sich bis zum Kiel 
des Schiffes mitteilte, bis in den unendlich langen Ballastraum, bis in 
den elektrisch beleuchteten Schraubentunnel hinein, wo langsam, mit 
einer für die menschliche Seele erdrückenden gleichförmigen Unauf- 
haltsamkeit die riesenhafte Schraubenwelle sich in ihren geölten Lagern 
drehte, wie ein lebendiges Ungeheuer, das sich in diesem Tunnel 
ausgestreckt hätte. Doch die Mitte der „Atlantida“, ihre warmen und 
üppigen Luxuskajüten, ihre Speise — und Tanzsäle strömten Licht 
und Freude aus, summten vom Stimmengewirr der geputzten Menge, 
dufteten von frischen Blumen, sangen und klangen vom Spiel des 
Streichorchesters. Und unter dieser Menge, unter dem Geflimmer des 
Lichtes, der Seiden, der Brillanten und der entblößten Frauenschuhen), 
wand sich wieder, schmerzvoll einander meidend, bisweilen aufzuckend 
sich zusammenfindend, das feine, biegsame bezahlte Liebespaar hin¬ 
durch: das sündig-sittsame, liebliche junge Mädchen mit den gesenkten 
Wimpern und der unschuldigen Frisur, und der hochgewachsene junge 
Mann, bleich von Puder, mit schwarzen, gleichsam angeklebten Haaren, 
in eleganten Lackschuhen, in engem Frack mit langen Schößen — 
ein bildhübscher Mensch, der einem riesigen Blutegel glich. Und 
niemand wußte, daß es dieses Paar schon lange überdrüssig war, sich 
zu den Klängen der schamlos-wehmütigen Musik in seiner geheuchelten 
seligen Liebesqual zu winden, — noch, daß tief, tief unter ihnen auf 
dem Grunde des dunkeln Kielraumes ein verpichter Sarg dicht bei 
den finstern, glutheißen Eingeweiden des Schiffes stand, das mühsam 
ringend das Dunkel, den Ozean, den Schneesturm überwand. 

(Berechtigte Übertragung aus dem Russischen von Käthe Rosenberg) 



TAGEBUCH* 

von 

LEO TOLSTOI 

6 . Januar 1903. Jassnaja Poljana. 

Ich erdulde jetzt Höllenqualen. Ich erinnere mich an all die Ab¬ 
scheulichkeiten, die ich früher begangen habe, und diese Erinnerungen 
lassen mich nicht los, sie vergiften mir das Leben. Man bedauert 
gewöhnlich, daß das Individuum seine Erinnerungen nicht über den 
Tod hinaus behalten kann. Was für ein Glück, daß man sie nicht 
behält! Was wäre das für eine Qual, wenn ich mich in diesem Leben 
an alles Böse, das ich in einem früheren Leben begangen habe, er¬ 
innerte! Und erinnerte man sich an das Gute, so müßte man sich 
auch an alles Böse erinnern: was für ein Glück, daß im Tode die 
Erinnerung erlischt und nur ein Bewußtsein zurückbleibt, ein Bewußt¬ 
sein, das gleichsam das allgemeine Ergebnis aus all dem Guten und 
Bösen darstellt, wie eine komplizierte Gleichung, die man auf ihren 
einfachsten Ausdruck gebracht hat: x = einer positiven oder negativen, 
bedeutenden oder geringen Größe. Ja, das Zunichtewerden der Er¬ 
innerung ist ein großes Glück; wenn sie bewahrt bliebe, könnte man 
nie mehr glücklich sein. So aber treten wir, nach der Auslöschung 
der Erinnerung, ins Leben mit einem reinen, weißen Blatt, das wieder 
mit bösen und guten Taten beschrieben werden kann. 

j. Februar 1903. J. P. 

Einen Monat nichts eingetragen. War zwei Monate krank und bin 
auch jetzt noch krank. Das heißt schwach. Und das ist gut. Sehr 
lebhaft gemahnt dieser Zustand an den nahen Tod. 

Während dieser Zeit war ich meistens mit meinen Erinnerungen 
beschäftigt. Rücke allmählich vorwärts. Aber es ist bis jetzt nicht gut. 

Habe ferner ein Nachwort zum Aufruf an das Arbeitervolk zu 
schreiben angefangen, komme damit aber nicht vorwärts. 

Bin auch mit einer philosophischen Abhandlung über das wahre 
Leben beschäftigt. Irre ich mich, oder ist hier etwas, das neu und 
nützlich ist? 

* Die folgenden, auch russisch noch nicht veröffentlichten Aufzeich¬ 
nungen Tolstois stammen aus dessen Tagebuch vom Jahre 1903; sie sind 
dem zweiten, die Jahre 1900—1903 umfassenden Band der Tagebücher ent¬ 
nommen. Ludwig B.erndi 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


4 9 


ii. Februar J. P. 

Das Herz immer noch schwach, doch nehmen die Kräfte allmählich zu. 

Das Nachwort taugt noch immer nichts. In den Erinnerungen ein 
wenig vorwärtsgerückt. 

Lese ein ausgezeichnetes theosophisches Journal. Viel Gemeinsames mit 
meiner Auffassung. Der Brief über die sächsische Prinzessin ist gedruckt, 
und das tut mir leid. Nähere mich geistig immer mehr dem Tode. 

Einzuschreiben war vieles, aber ich vergesse es immer, da ich es 
nicht für wichtig halte. Eins muß ich eintragen: 

i. Das Allbewußtsein, das in Grenzen eingeschlossen ist, ist be¬ 
strebt, diese Grenzen zu erweitern. Das ist die erste Hälfte des mensch¬ 
lichen Lebens. In der ersten Hälfte seines Lebens liebt der Mensch 
die Dinge und Menschen, das heißt er überträgt, indem er aus seinen 
Grenzen heraustritt, sein Bewußtsein auf andere Wesen. Aber wie viel 
er auch liebte — aus seinen Grenzen kann er nicht heraus, und so 
bemüht er sich in der zweiten Hälfte seines Lebens nicht mehr, seine 
Grenzen auszudehnen, sondern er zerstört sie. Es vollzieht sich etwas 
Ähnliches wie in der Entwicklung der Raupe zum Schmetterling. 
Wir sind hier Raupen: anfänglich wachsen wir, dann vertrocknen wir 
zur Larve. Als Schmetterling erkennen wir uns in jenem Leben. 

z. Die ganze religiös-moralische Lehre läuft auf die Erkenntnis des 
uns innewohnenden Gesetzes hinaus — des Gesetzes der Erweiterung 
der Grenzen, die erzielt wird durch die Liebe. 

3. Bewußtsein der eigenen Abgesondertheit: das ist das Leben des 
Menschen. Allbewußtsein ist das Leben Gottes. Durch die Liebe, 
d. h. durch die Erweiterung seiner Grenzen, nähert sich der Mensch 
Gott, aber die Liebe ist keine Eigenschaft Gottes, wie man gewöhn¬ 
lich sagt, sondern nur eine menschliche Eigenschaft. 

13. Februar. J. P. 

Ich schreibe ein. 

Das Leben ist das Bewußtsein des in Grenzen eingeschlossenen und 
diese Grenzen verändernden, geistigen (folglich nicht räumlichen und 
nicht zeitlichen) Wesens. 

Die Grenzen dieses Wesens stellen sich uns als unser Körper und 
als die Körper anderer Wesen dar. Die Veränderung dieser Grenzen 
stellt sich uns als Bewegung dar. 

Wenn unser geistiges Wesen nicht in Grenzen eingeschlossen wäre, 
so existierte kein Körper, keine Materie. 


4 



50 Leo Tolstoi , Tagebuch 

Wenn sich die Grenzen dieses Wesens nicht veränderten, so gäbe 
es keine Bewegung. 

Das Verhältnis unseres Körpers zu anderen Körpern können wir 
uns nicht anders vorstellen als im Raum. Das Verhältnis der Ver¬ 
änderung der Grenzen unseres Wesens zu den Veränderungen anderer 
Wesen können wir uns nicht anders vorstellen als in der Zeit Uns 
will es scheinen, als ob das in Grenzen eingeschlossene Wesen selbst 
sich veränderte; in Wirklichkeit aber verändern sich nur die Grenzen. 
So scheint der Mond zwischen den Wolken dahinzueilen, während 
nur die Wolken ziehen und der Mond stille steht Ebenso ist es mit 
dem geistigen Wesen, das wir erkennen: es steht unbeweglich still 
und ist immer sich selber gleich; was sich verändert, das ist nur 
seine Sphäre, deren wir uns bewußt werden. Diese Veränderungen 
sind unendlich mannigfaltig, aber im allgemeinen, in tbe long run , 
bestehen diese Veränderungen in einer immer größer werdenden 
Ausdehnung der Bewußtseinssphäre. 

zo. Februar 1903, J. P. 

Mit der Gesundheit steht es etwas besser. Seit zwei Tagen fahre 
ich spazieren. Mit der Arbeit geht's nicht voran. Keine Lust 

1. Die Anhänger des Sozialismus sind Leute, die vornehmlich die 
Stadtbevölkerung im Auge haben. Sie kennen weder die Schönheit 
und Poesie des ländlichen Lebens, noch wissen sie von den Leiden 
der Landbevölkerung. Wenn sie davon wüßten, würden sie nicht, 
wie jetzt, dieses Leben vernichten wollen, es nicht hingeben wollen 
gegen die Bequemlichkeiten des städtischen Lebens; sie würden viel¬ 
mehr all ihre Anstrengung darauf richten, es zu erhalten, nur befreit 
von seinem Elend. 

z. Sobald man nur an das denkt, was das eigene künftige Leben 
verbessern kann: Paradies oder Karma, stellt sich keine Lust zum 
Wirken ein. Aber wie man seine Gedanken auf ein Leben im Geiste 
der Eintracht und Liebe richtet, stellt sich sogleich eine freudige, ruhige 
Stimmung ein. 

1. März 1903. J. P. 

Ich las den Aufsatz von Metschnikow wieder, wo es heißt, daß, 
wenn man den geraden Darm ausschneiden würde, die Leute nicht 

mehr über den Sinn des Lebens nachdenken würden.Aber 

Scherz beiseite. Der Sinn seiner Ausführungen ist der, daß es der 
Wissenschaft gelingen wird, den menschlichen Organismus zu ver¬ 
bessern, den Menschen von seinen Leiden zu befreien. Dann wird 




5 1 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

nun die Bestimmung des Lebens herausfinden: die Wissenschaft wird 
den Sinn des Lebens entdecken. Schön. Aber wie sollen es die 
Menschen bis dahin aushalten? Und haben andererseits doch Milliarden 
mit dem bewußten Darm gelebt. Und was dann, wenn, wie die 
Wissenschaft ebenfalls prophezeit, die Sonne dereinst erkalten und das 
Leben auf der Erde erlöschen wird, bevor der menschliche Organis¬ 
mus jene Vollkommenheit erlangt haben wird? Wozu war dann das 
alles? 

Mit der Gesundheit steht es besser, aber ich arbeite nicht. Von 
Mascha keine Nachrichten. 

Eingeschrieben ist Folgendes: 

i. Der Mensch kann gar nicht anders als egoistisch sein, alles 
drangt ihn darauf hin, fdr sich selbst zu sorgen und nur an sich zu 
denken. Inzwischen ist aber das wirkliche Wohl nur erlangbar, wenn 
der Mensch auf das Wohl des Nächsten hinarbeitet, wenn er sich 
selbst vergißt. Was ist da zu tun? Es gibt nur ein einziges Mittel: 
man muß die Sorge um sich selbst so einrichten, daß sie zugleich eine 
Sorge um das Wohl des Nächsten sei. Das geschieht in der Weise, 
daß man sich um seine eigene Seele sorgt und dazu den Willen Gottes 
erfüllt. Der Wille Gottes aber ist, daß man den Nächsten liebe und 
ihm Gutes tue. 

11. März 1903. J. P. 

Schreibe noch immer an der Definition des Lebens und bin immer 
noch unzufrieden. Schrieb vorgestern, und muß es wieder anders 
fassen. Aber bevor ich das tue, will ich einige fragmentarische Ge¬ 
danken aus dieser Zeit einschreiben. 

Mit der Gesundheit steht es bedeutend besser. 

Immer öfter und öfter bin ich, in Minuten der Unzufriedenheit und 
Zweifel, dessen eingedenk, daß ich es nur Gott recht machen muß, 
zu dem ich gehe, und nicht den Menschen. Und dann ist mir immer 
sehr wohl und leicht. 

Heute war hier ein Priester, der den Glauben verloren hat und sein 
Amt aufgeben will. 

1. Wir leben eigentlich nur dann, wenn wir uns unseres geistigen 
Ichs bewußt sind. Dieses ereignet sich in den Minuten der geistigen 
Entzückung und in den Minuten des Kampfes zwischen dem geistigen 
und dem tierischen Prinzip. 

z. Es ist nicht ganz klargestellt, daß unsere Zufriedenheit, Un¬ 
zufriedenheit mit dem Leben, die Art des Eindrucks, den die Gescheh- 



5 * 


Leo Tolstoi , Tagebuch 


nisse auf uns machen, zumeist (vielleicht sogar immer) von dem gei¬ 
stigen Zustand, in dem wir uns gerade befinden, herröhren und nicht 
von den Geschehnissen selbst, die sie hervorzurufen scheinen. Und 
dieser geistigen Zustände, unter welchen sehr komplizierte und sehr 
bestimmte sind, gibt es recht viele. So gibt es einen Zustand der 
Scham, einen Zustand des Vorwurfs, der Rührung, der Erinnerung, 
der Traurigkeit, der Heiterkeit, der Schwere, der Leichtigkeit. Wie 
entstehen diese Zustände? Ich weiß es nicht Ich weiß aber, daß 
ich häufig im Zustande der Scham bin, und dann ist alles zum 
Schämen; und wenn kein Grund zum Schämen ist, schäme ich mich 
grundlos. Dasselbe ist es mit dem Zustand des Vorwurfs, der Rüh¬ 
rung, der Erinnerung, wie sonderbar das auch ist Wenn es nichts 
gibt, woran man sich erinnern könnte, so erinnert man sich an das, 
was soeben ist, und an das, daß man sich daran schon früher er¬ 
innert hat Dasselbe ist es mit der Traurigkeit, Heiterkeit . . . und 
mit vielen anderen Zuständen, die man bestimmen und über deren 
Entstehen man nachdenken muß. 

3. Der Hauptunterschied zwischen den Sozialisten und den Anar¬ 
chistenchristen und den Anarchisten überhaupt, besteht darin, daß jene 
die ökonomischen Grundlagen der gegenwärtigen Staatsverfassungen 
ändern wollen. Wenn sie die politische Form ändern wollen, so nur 
insoweit, als diese der von ihnen beabsichtigten ökonomischen Ein¬ 
richtung zuwiderläuft. Die Mehrzahl von ihnen hält es sogar für 
notwendig, diese Form zu erhalten, zur Erreichung ihrer eigenen Ziele. 
Die Anarchisten hingegen erblicken das Übel in der bestehenden, auf 
Gewalt gegründeten politischen Ordnung und halten es für ihre vor¬ 
nehmste Aufgabe, diese zu zerstören, wobei sie annehmen, daß das 
ökonomische Leben nach der Zerstörung des politischen Macht¬ 
apparats von selbst aufs allerbeste in gute Ordnung kommen werde. 

Es gab noch mehreres einzuschreiben, aber ich hab es vergessen. 
Erinnere mich noch an eines: 

4. Oft halten es die Leute — die Liberalen, die Staatsfreunde, die 
Doktrinäre überhaupt — für gut, gewisse Erscheinungen der Lüge zu 
bekämpfen, andere aber zuzulassen und nicht zu bekämpfen. Das ist 
gerade so, wie wenn man bei einer Überschwemmung den einen 
Wasserstrahl, der euch übergießt, abdämmen würde, während die 
andern euch ungehemmt überschwemmen. 

Erinnere mich noch an das: 

5. Fast immer überlassen sich die Leute, für die ein anderer Sorge 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


55 


trägt, denen ein anderer dient, einem Gefühl der Gereiztheit, der Bos¬ 
heit gegen diesen. Wahrscheinlich sind sie auf ihn neidisch, daß sie 
nicht ihm dienen, sondern daß er ihnen dient. 

13. März 1903. J. P. 

I. Das zweitemal im Leben begegnet mir ein unverdienter, durch 
nichts hervorgerufener Haß von Leuten, die mich nur darum hassen, 
weil sie eine ebensolche Reputation wie meine haben wollen. Sie 
beginnen zu lieben, wollen dann dasselbe sein wie das, was sie lieben, 
aber das, was sie lieben, das ist nicht sie und stört sie auch, eben¬ 
solche zu sein, und sie fangen an zu hassen. 

Darin liegt ein Beweis dafür, daß der Ruhm etwas Böses ist. 

z. Gott — das ist diese ganze unendliche Welt. Wir, die Menschen, 
aber sind in einer Kugel, doch nicht in der Mitte (die Mitte ist 
überall), sondern an irgendeinem anderen Punkt dieser unendlichen 
Welt. Und wir, die Menschen, brechen uns Fensterchen in unserer Kugel 
durch, durch die wir Gott schauen, — der eine schaut ihn von der Seite, 
ein anderer von unten, wieder ein anderer von oben; aber alle sehen Eines 
und Dasselbe, wenn wir es uns auch verschieden vorstellen und es ver¬ 
schieden benennen. Und der Schluß aus dem, was durch das Fensterchen 
zu sehen ist, ist für alle Einer und Derselbe: wir wollen einträchtig, in 
Liebe verbunden, miteinander leben. Nun, so mag doch jeder durch sein 
eigenes Fensterchen schauen und tun, was sich aus diesem Schauen 
ergibt. Warum die Leute von ihrem Fensterchen wegstoßen und zu 
unserm hinschleppen? Warum auch nur sie einladen, das ihre zu ver¬ 
lassen, da es ein so schlechtes sei, und sie zum eigenen heranwinken? 
Das ist sogar unhöflich. Wenn jemand unzufrieden ist mit dem, was 
er durch das seinige sieht, so mag er selber zum andern kommen und 
fragen, was dieser sieht, und mag der, der mit dem zufrieden ist, was 
er sieht, erzählen, was er sieht. Das ist nützlich und erlaubt 

Es macht mich sehr glücklich, daß ich völlig duldsam geworden 
bin. Und gelehrt haben es mich unduldsame Menschen. 

Jetzt das dritte über die Evolution. Ich verschiebe es auf ein an¬ 
deres Mal. Die Frage ist sehr wichtig. 

14. März. 

Gesundheit nicht schlecht. Beine schmerzen. Setze das dritte fort. 

Die Evolutionstheorie verlegt die Entstehung der Arten in eine 
außerordentlich, ja in eine unendlich weit zurückliegende Zeit Das 
ist dasselbe in bezug auf die Zeit, was wir in bezug auf den Raum 



54 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

machen, wenn wir die Körper als aus Atomen zusammengesetzt, die 
Fortpflanzung des Lichtes als an den Äther gebunden erklären. Die 
Atom- und Äthertheorie ist die bequemste und vielleicht einzige Me¬ 
thode, die Zusammensetzung der Körper und die Fortpflanzung des 
Lichts zu erklären; aber weder die Atome noch der Äther sind etwas 
Reales (und gröblich irren diejenigen, die auf die Realität der Atome 
und des Äthers weitere Theorien aufbauen), sondern es ist dies nur 
eine bequeme Methode der Erklärung chemischer und physikalischer 
Vorgänge. Ebenso ist auch die Evolutionstheorie nur eine bequeme 
und vielleicht die beste Methode zur Aufhellung der Gesetze, die in 
den wechselseitigen Beziehungen der Arten zueinander obwalten; doch 
auf reale Tatsachen stützt sie sich nicht. Und diejenigen, die ihre 
Vererbungs- oder Rudimententhcorie auf die Theorie von der Ab¬ 
stammung des Menschen von niedrigeren Organismen gründen, irren 
gröblich, da sie eine gelehrte Konstruktion für etwas Reales, Wirk¬ 
liches nehmen. Die wirkliche Grundlage jeder Forschung ist durchaus 
nichts Vergangenes und Entferntes, sondern etwas Gegenwärtiges: der 
eigene Körper und die in diesem entstehenden Veränderungen. 

4. Ich habe die Opinions sociales von Anatole France gelesen. 
Wie alle andern orthodoxen Sozialisten, Wissenschaftsanbeter und da¬ 
her Religionsverneiner sagt auch er, Mitleid und Liebe brauche man 
nicht, man brauche nur justice. Das ist wahr; aber damit es wirk¬ 
lich justice gebe, muß im Streben, im Ideal Selbstverleugnung und 
Liebe sein. Damit es eine ehrliche Ehe gebe, muß ein Streben zur 
vollkommenen Keuschheit sein. Damit es ein wahres Wissen gebe, 
muß man zur Erkenntnis der geistigen Welt streben. (Erst dann ist 
ein Wissen vom Materiellen möglich. Sonst ist es nur Aberwitz.) 
Damit es eine gerechte Verteilung der Lasten gebe, muß man bestrebt 
sein, alles wegzugeben und nichts zu behalten. (Sonst ist es nur Raub 
fremder Arbeit.) Damit man ins Ziel treffe, muß man höher und 
weiter zielen. Damit man sich beim „Riesenschritt“ (dem Turngerät) 
hoch emporschwinge, muß man vom Pfeiler einen möglichst weiten 
Abstand nehmen. 

Heute, zo. März 1903. J. P. 

Gestern und heute Briefe geschrieben. Habe sechsundzwanzig ge¬ 
schrieben. Mit der Gesundheit steht es etwas besser, aber ich ver¬ 
gesse die Nähe des Überganges nicht. 

In das Büchlein ist manches eingetragen, aber etwas sehr Wichtiges 
hatte ich auf das Lesezeichen geschrieben und hab es verloren. 



55 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

i. Man meint gewöhnlich, daß das Leben eines Greises sich immer 
mehr vermindere und zuletzt auf ein Nichts herabsinke. Aber alles 
hangt von der Art ab, wie man das Leben betrachtet Wenn man 
das Leben als eine materielle Macht betrachtet die die Verhältnisse 
der Dinge und Menschen, momentan, unter unseren Augen, verändert, 
so kann das Leben eines jungen Menschen recht wohl als mächtig 
und das Leben eines Greises als nichtig gelten; wenn man das Leben 
aber als eine geistige Macht betrachtet die der Tätigkeit der Menschen 
neue Ziele gibt so verändert das Leben eines Greises, und zwar je 
älter er ist um so mächtiger, eine ungeheure Menge von Verhältnissen 
unter Dingen und Menschen. (Nicht gut nicht das Richtige.) 

Habe zufällig einige Seiten ausgelassen. Will hier einschreiben, was 
bis zum z. April eingetragen ist. 

i. Den Fortschritt der Menschheit bemißt man gewöhnlich nach 
den technischen und wissenschaftlichen Fortschritten, wobei man an¬ 
nimmt daß die Zivilisation zum GlOcke fahrt. Nichts ist falscher. 
Rousseau und alle, die von dem primitiven, patriarchalischen Zustand 
entzückt sind, haben ebenso recht und unrecht wie diejenigen, die 
von der Zivilisation entzückt sind. Das Glück der Menschen, die auf 
der höchsten Stufe der Zivilisation stehen, ist kein anderes Glück als 
das der primitiven Menschen. Durch Wissenschaft Zivilisation und 
Kultur läßt sich das Glück der Menschen ebenso wenig vermehren, 
wie es möglich ist, das Wasser eines Teiches an einer bestimmten 
Stelle höher zu heben als es an allen anderen Stellen ist Die Ver¬ 
mehrung der menschlichen Glückseligkeit wird nur durch die Liebe 
erreicht, der es eigen ist, alle Menschen einander gleich zu machen; 
der wissenschaftliche und technische Fortschritt ist aber lediglich eine 
Sache des Alters einer Zivilisation, und der höchstzivilisierte Mensch 
übertri£Ft in seinem Wohlbefinden den primitiven Menschen so wenig, 
wie ein Erwachsener in seinem Wohlbefinden einen Nicht erwachsenen 
übertrifft. Das Heil liegt einzig in der Mehrung der Liebe. 

z. Menschen, die eines inneren, religiösen Regulativs beraubt sind, 
denken ein solches im historischen Gesetz, wie sie es verstehen, zu 
finden. Was mögen wohl die Menschen getan haben, die am Anfang 
der Geschichte waren? 

3. Ich genese und beobachte die Fortschritte meiner Genesung. Wie 
übel steht das einem Greise an! Ihm geziemte es mehr, sein Absterben, 
die Zerstörung seiner Grenzen zu beobachten. 

4. Wenn die Leute sagen, daß der Gedanke, die geistige Tätigkeit 



5 6 


Leo Tolstoi, Tagebuch 


überhaupt, ein Produkt der Tätigkeit der Gehirnzellen sei, weil die 
Gedankentätigkeit durch die Tätigkeit des Gehirns erfolge und weil 
diese Tätigkeit aufhöre, sobald das Gehirn oder ein Teil desselben 
zerstört sei, so sagen sie damit dasselbe, was ein Mensch sagen würde, 
der behauptete, das musikalische Schaffen sei stets von der Tätigkeit 
des Klaviers oder des. Orchesters bedingt, und diese Tätigkeit höre 
auf, sobald das Klavier, das Orchester oder ein Teil desselben ver¬ 
nichtet sei. 

Diejenigen, die so sagen, kennen wohl kaum die wahre, geistige 
(höhere) Tätigkeit des Menschen, die nicht aus körperlichen Bedingungen 
erwächst, sondern sich der körperlichen Bedingungen bedient, solange 
jene mit den körperlichen Bedingungen verbunden ist. Einer solchen 
Anschauung liegt eigentlich eine petitio principii zugrunde, das heißt 
es ist von vornherein beschlossene Sache, daß es außer den körper¬ 
lichen Bedingungen nichts gibt, und dann ist es denn auch verständ¬ 
lich, daß das, dessen sich der geistige Urgrund für seine Zwecke 
bedient, das einzig Existierende sein muß und daß dieses die geistige 
Tätigkeit produziert. Der Mensch fällt den Baum mit einer Axt. Die 
Axt fällt den Baum. Zerstören wir die Axt, so wird nie mehr ein 
Baum gefällt. Somit ist die Axt real, der Mensch aber, der sie schwingt, 
ist nur ihr Appendix. Wer keine andere Tätigkeit des Menschen kennt 
als die des Hackens mit der Axt, wird wohl in seiner Art ganz 
recht haben, wenn er im Menschen nur ein Anhängsel zur Axt er¬ 
blickt. 

14. April 190$. J. P. 

Lange nicht eingeschrieben. Geistig schwach diese ganze Zeit. Den 
dritten Tag nicht wohl: Schnupfen, Husten. Aber heute, trotz meiner 
Schwäche, Thoreau gelesen und fühle mich geistig gehoben. Ja, alles 
kommt darauf an, daß das ganze Leben ein Vollbringen der Sache 
Gottes sei und daß ich mir immer bewußt bleibe, was Er von mir 
begehrt. Will mich aus allen Kräften bemühen. Er wird mir behilf¬ 
lich sein in dem Maße, wie- ich Ihm den Zugang zu meiner Seele 
öffnen werde. 

Habe heute zwei Briefe erhalten, die mir unangenehm schienen, die 
aber beide nützlich waren: einen von einem Herrn über das Karma, 
daß ich die Menschen zum Selbstmord ermuntere und nachher sage, 
ich hätte nur gescherzt, den andern von einem Studenten, auch leicht¬ 
sinnig, jugendlich und selbstbewußt. Habe beschlossen, nicht zu ant¬ 
worten. 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


57 


19. April 1903. J. P. 

Während dieser Zeit schrieb ich am Nachwort. Es scheint, ich bin 
damit fertig. Es ist recht ordentlich geworden. Ferner Brief über die 
Kischenewer Ereignisse und ein Telegramm. Gesundheit gut Habe 
mich erkältet, Fröste, aber jetzt ist mir besser. Ein Buch von Metschni- 
kow. Möchte darüber schreiben. 

Fahre fort einzutragen: 

1. Das Leben ist nur Bewußtsein. Was die Physiologen als Leben 
bezeichnen, das sind nur Merkmale, die das Bewußtsein anzeigen, es 
begleiten und ihm folgen. Es gibt ein niederes Bewußtsein: das von 
der eigenen Abgesondertheit, und ein höheres Bewußtsein: das Be¬ 
wußtsein seiner Beziehung zur Welt. (Unklar.) 

z. Wenn man gegen die Erklärung einer Erscheinung sagt: das sind 
bloße Abstraktionen, während ich sage: es sind Tatsachen, könnte man 
auch sagen, die Drehung der Sonne um die Erde sei ein Faktum, die 
Drehung der Erde um die Sonne aber bloß eine abstrakte Idee. 

3. Eine Eigenschaft des Lebens ist unbezweifelbar: zuerst die Aus¬ 
dehnung des Bewußtseins, das heißt das Streben, sich durch die Liebe 
in anderen Wesen wiederzufinden, und dann, wenn die Ausdehnung 
bis zur äußersten Grenze gediehen ist, die Zerstörung der Grenzen, die 
das Leben, das heißt das Bewußtsein, einschränken. 

4. Alles ist lebendig. Alle Wesen sind Organismen. Einige erkennen 
wir nur deshalb nicht als solche, weil sie zu groß sind, wie die Erde, 
die Sonne, oder zu klein, wie die Teilchen der Mineralien, der Kristalle. 

5. Wie der Jugend das Bewußtsein des Wachstums erfreulich ist, 
so muß dem Alter das Bewußtsein des Zerfalls der einschränkenden 
Grenzen erfreulich sein. 

6 . Tanja sagte, das Spielen sei eine ernste Sache. Und das ist ganz 
richtig. Wenn man das Spiel nicht ernst betreibt, so bleibt gar nichts, 
man wird nicht einmal spielen können. Dasselbe ist es mit dem feier¬ 
lichen Zelebrieren des Gottesdienstes, mit den feierlichen Umzügen, 
mit den Jubiläen. Wenn man diese Sachen nicht ernst nimmt, so bleibt 
eben gar nichts übrig, was man machen könnte. Darum sind die Leute 
in nichts so streng, wie in der Forderung, die Zeremonien zu erfüllen. 

7. Furchtbar sind gereizte arbeitslose Arbeiterl Aber was schlimmer 
ist: sie oder Nikolaj Pawlowitsch* — das ist noch die Frage. 


* Zar Nikolaus I., über den Tolstoi damals für seinen „Hadschi-Murad“ 
biographisches Material sammelte. D. H. 




5 « 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

8. Eingeschrieben ist es so: „Es gibt keine Zeit Das ist nur eine 
Begrenzung.“ Das ist unklar. Heute ging es mir auf, daß die Bewegung 
und die Zeit ihren Ursprung darin haben, daß dem Bewußtsein eine 
große Zahl anderer Wesen, die das Bewußtsein begrenzen, gegenüber- 
steht Wenn nur ein Wesen mein Bewußtsein begrenzte, so gäbe es 
keine Bewegung; da es aber viele Wesen gibt, so erfordert ihre Wahr¬ 
nehmung eine Sukzession in der Wahrnehmung. Und eben diese Suk¬ 
zession der Wahrnehmung erscheint uns als Bewegung in der Zeit 
Uns scheint es eine Zeit zu geben, die von der Sukzession der Wahr¬ 
nehmungen erfüllt ist In Wirklichkeit aber gibt es nur eine Sukzession 
in der Wahrnehmung der Wesen, die uns als Zeit erscheint (Man 
muß dies noch erläutern.) 

9. Das Leben aller Menschen besteht anfangs in der Ausdehnung, 
hernach in der Zerstörung der Grenzen des Bewußtseins. Die Weisheit 
besteht darin, dies zu wissen, in dieser Ausdehnung das wahre Wohl 
zu erblicken und an dieser Ausdehnung teilzuhaben. 

i o. Die Erklärung der Herkunft der Organismen aus der Urzelle — 
dem Protoplasma — ist dasselbe, was die Erklärung der chemischen 
Prozesse aus den Atomen und des Lichts aus den unwägbaren Äther¬ 
wellen ist. Äther und Atome sind an und für sich nicht real, sondern 
nur heuristische Konstruktionen, welche die Materie und das Licht 
erklären helfen sollen. Nicht real sind sie, weil ein unendlicher (ein 
unendlich kleiner) Raum (Umfang, Gewicht) vorausgesetzt wird. Ebenso 
willkürlich sind die Erklärungen in bezug auf die Entstehung der Or¬ 
ganismen aus dem Protoplasma; auch sie sind nur Vermutungen, die 
die Erscheinungen verständlich machen und ihre Gesetze aufhellen 
sollen. Nicht real sind sie, weil für ihre Entstehung eine unendliche 
(eine unendlich lange) Zeit vorausgesetzt wird. 

11. Der Irrtum des Feminismus besteht darin, daß die Frauen genau 
dasselbe leisten wollen, was die Männer leisten. Aber die Frauen, mit 
ihren ganz besonderen Eigenschaften, sind ganz anderen Wesens als die 
Männer; und wenn sie sich vervollkommnen wollten, müßten sie’s nach 
ihrer besonderen Richtung hin tun. Was das für eine Richtung ist, weiß 
ich nicht; sie wissen es bedauerlicherweise selber nicht; doch soviel ist 
gewiß, daß ihre Richtung eine andere als die der Männer ist. . 

i z. Damit ein Wesen vom andern abgesondert sei, muß es sich mit 
diesem nicht vereinigen können, muß es undurchdringlich sein. Das 
ist nur dann möglich, wenn es materiell ist. Eben darum erscheinen 
uns auch alle abgesonderten Körper als materiell. 



59 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

13. Jemand fragt mich: „Bestimmt der Mensch das Schicksal, oder 
bestimmt das Schicksal den Menschen 1 * Je mehr wir uns einem 
geistigen Leben nähern, desto unabhängiger werden wir vom Schicksal; 
und umgekehrt. 

14. Unserm Jahrhundert ist ein schrecklicher Wahn eigen: jede Er¬ 
findung, die geeignet ist, dem Menschen Arbeit abzunehmen, erregt 
unser Entzücken und wir halten es für durchaus notwendig, uns ihrer 
zu bedienen, ohne uns zu fragen, ob diese arbeitsparende Maschine 
denn auch unser Glück vermehre und ob sie nicht viel Schönheit ver¬ 
nichte. Wir sind wie ein Weib, das mit Übermacht den Rest des 
Fleisches, das ihr zugefallen ist, hinunterwürgt, auch wenn sie nicht 
mehr essen mag, und selbst wenn es ihr schadet. Eisenbahnen statt 
der Fußmärsche, Automobile statt der Pferde, Strickmaschinen statt der 
Stricknadeln. 

15. Das Verfahren der Naturwissenschaften, das auf Tatsachen fußen 
will, ist das unwissenschaftlichste Verfahren. Es gibt keine Tatsachen. 
Man kann nur von den Eindrücken sprechen, die die Dinge auf uns 
machen. Daher ist wissenschaftlich nur jenes Verfahren zu nennen, das 
von unseren Empfindungen, von den Eindrücken, spricht. 

16. Nur das Bewußtsein ist das Leben. Von einem Leben ohne 
Bewußtsein dürfen wir nicht sprechen. Wir dürfen das, was eine Be¬ 
gleiterscheinung des Lebens ist, nicht deshalb schon ein Leben nennen, 
weil wir an anderen Wesen beobachten und von anderen Leuten, die 
uns beobachtet haben, wissen, daß genau dieselben Erscheinungen des 
physiologischen Lebens, welche das Bewußtsein begleiten, auch schon 
vor dem Erscheinen des Bewußtseins da waren. 

Der Mensch erkennt sich (im Kindes-, Mannes- und Greisenalter) 
als eine und dieselbe Person, weil das Bewußtsein des Kindes und nach 
fünfzig Jahren des Greises immer eines und dasselbe ist; das Bewußt¬ 
sein wird durch die Zeit nicht alteriert: Zeit ist nur für das, was 
vielfach ist. 

17. Das Leben und der Schlaf. Das Erwachen aus dem Schlaf ist 
nur dann schwer, wenn man nicht ausgeschlafen ist und geweckt wird. 
Wenn man aber ausgeschlafen ist, so ist das Erwachen ein frohes, wie 
für einen, der das Leben durchgelebt hat, für den Greis, das Sterben, 
das heißt das Erwachen zu einem neuen Leben, ein frohes sein muß. 

18. Der Traum entsteht beim Erwachen momentan, zeitlos. Die 
Vorstellungen reihen sich zu einem (manchmal unvernünftigen) Nach¬ 
einander nur deshalb, weil ihrer viele sind, und dieses Nacheinander 



6 o 


Leo Tolstoi, Tagebuch 


erweckt die Illusion der Zeit. Ob es im Leben nicht auch so ist, mit 
seiner Menge von zuweilen auch in unvernünftiger Reihenfolge auf¬ 
tauchenden Vorstellungen, das eingesenkt scheint in die Zeit; und daß 
im Sterben diese Illusion verschwindet und, wie nach dem Schlaf, ein 
erfrischtes, erweitertes Bewußtsein übrigbleibt? 

19. Nicht sind unsere Erlebnisse, oder richtiger: unsere Vorstellungen 
eingebettet in die Zeit, sondern die Menge der Vorstellungen und deren 
Sichablösen ergibt erst den Begriff der Zeit. 

zo. Die Menge ergibt den Begriff der Bewegung und der Zeit. 

All das vom 4. habe ich heute eingeschrieben, den 1. Mai 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist schwankend, ich bin darüber, Gott sei Dank, 
nicht betrübt, auch nicht erfreut, eher so, daß ich sehe, es ist alles 
in Ordnung. Vom Nachwort möchte ich denken können, daß ich es 
beendigt habe. 

13. Mai 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist nicht gut — Leberleiden. Doch sind die Kräfte 
nicht herabgemindert. Das Nachwort habe ich beendigt und abge¬ 
schickt. Hier ist Strachow mit seiner schrecklichen Sache. 

Heute nachts habe ich über zwei Dinge nachgedacht: 

1. daß man, bevor man mit einem Menschen in Verkehr tritt, 
eine Gebetstimmung in sich zu erwecken trachten solle, daß man 
sich sagen müsse: Still!, bevor man mit einem Menschen, mit dem 
man zusammengekommen ist, spricht 

Will es mir angewöhnen. 

z. Hier ist eine Bestätigung dessen, daß das Bewußtsein eine von 
Bildern gereinigte Erinnerung ist und die Erinnerung ein von Bildern 
erfülltes Bewußtsein: — 

Das Bewußtsein ist, wenn man es sich in der Zeit vorstellt, eine 
Erinnerung an das ganze in unendlicher Zeit verlebte Leben, abstrakt 
ausgedrückt aber das Bewußtsein vom eignen Bewußtsein. 

Die Erinnerung aber, in der Zeit gedacht, ist nichts anderes als 
das Bewußtsein von der Kontinuität meines Lebens, abstrakt aus¬ 
gedrückt aber das Bewußtsein jenseits der Zeitlichkeit meines Lebens. 

Und noch 3. Der Mensch macht sich von der Zeit los, wenn er 
sein Bewußtsein erkannt hat, und gerade dies ist für ein rechtes 
Leben notwendig. 

17. Mai 1903. J. P. 

Leide an Magenstörungen. Heute nachts hatte ich in den Augen 
die Empfindung von einem hellen Lichtfunken und, ich weiß nicht 



Leo Tolstoi, Tagebuch 61 

wie es kam, gleich hinterher nicht sowohl eine deutliche Vorstellung 
als vielmehr ein Gefühl, welches das ganze Wesen durchdrang, von 
dem Illusorischen alles dessen, was Empfindungen erregt und was wir 
für die reale Welt halten. 

H. -M. ausgebessert. Bin bis zu Nikolaj Pawlowitsch gelangt, und 
es scheint sich zu klären. 

Einzuschreiben ist eins: 

i. Ein Beweis dafür, daß die Erinnerung ein Bewußtsein ist und 
umgekehrt, ist dies, daß das Erinnerungsvermögen um so schwächer 
wird und das Bewußtsein sich um so mehr steigert, je älter man wird. 

z6 . Mai 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist nicht schlecht. Habe allerlei in das Büchlein 
eingetragen. Hier will ich das Folgende aufschreiben: 

I. Das irdische Leben ist keine Illusion und auch nicht das ganze 
Leben, — es ist eine Erscheinung unter Erscheinungen, den ewigen 
Erscheinungen des ewigen Lebens. 

17. Mai 1903. J. P. 

Heute fahre ich nach Pirogowo. Immer noch habe ich meine 
Not mit Nik. Pawl. Ist immer noch nicht gut. Dafür gestern viel 
über die Definition des Lebens nachgedacht. Mir scheint, es ist gut. 

Ich dachte Folgendes: 

1. Meine Bewegung, die meines Körpers, ist eine notwendige Be¬ 
dingung der Gesondertheit meines Ichs von allem übrigen. Bewegte 
ich mich nicht, so wäre ich nicht abgesondert. Wäre ich nicht ab¬ 
gesondert, $0 wäre keine Bewegung. Daraus folgt, daß Gesondertheit 
und Bewegung einander gegenseitig bedingen. 

Aber was ist das erste? — Die Gesondertheit. 

z. Ich, ein geistiges Wesen, folglich ein unbegrenztes Wesen, gefangen 
in meiner Abgesondertheit vom Ganzen, bestrebe mich, die Grenzen, die 
mich vom Ganzen trennen, zu sprengen. Daraus resultiert die Bewegung. 

3. Jede Bewegung ist ein Streben, das Ich zu erweitern, andere 
Wesen in dieses Ich aufzunehmen, in dieses Ich zu verwandeln. Von 
dieser Art ist die Unterjochung anderer Wesen, die Unterwerfung 
derselben unter meinen Willen: Tiere, Pflanzen. Von dieser Art ist 
die Vereinigung: Familie. Von dieser Art ist die Nahrungsaufnahme 
durch den Magen, die Lungen, die Haut, die Umwandlung anderer 
Wesen in mein Wesen — die Ernährung, die allen lebenden Wesen, 
vom Infusorium bis zum Menschen, eigentümlich ist. 



61 Leo Tolstoi, Tagebuch 

4. Das geistige Wesen offenbart ach in diesem Leben als das Be¬ 
wußtsein eines Selbsts in der Form eines gesonderten Wesens. Dies 
ist eine seiner Erscheinungen; doch habe ich nicht das Recht zu 
sagen, daß dies seine einzige Erscheinung sei. Es kann eine zahllose 
Menge anderer seiner Erscheinungen geben. Diese Erscheinung aber 
ist keine zufällige, zeitliche, sondern eine ewige. Verlasse ich sie, 
so weiß ich doch, daß andere gesonderte Wesen in ihr verbleiben. 

5. Darum ist meine Tätigkeit hier keine unnütze, sie ist für an¬ 
dere Wesen nötig. Ich bereite ihnen den Weg, gebe ihrer Tätigkeit 
eine größere Kraft. 

6 . Wozu diese Abgesondertheit der geistigen Wesen, die ihre 
Grenzen erweitern, nötig ist, das zu wissen, ist dem Menschen nicht 
gegeben; doch ist sie zweifellos eine nötige Sache. 

7. Das Leben ist keine Illusion, sondern ein ewiges Leben, das 
sich in den einzelnen Wesen, als deren Sonder-Bewußtsein auftretend, 
manifestiert. 

8. So daß der Mensch, wenn er diese Form des Lebens verläßt 
und in eine andere Form übergeht, in diesem Leben eine ewige Spur 
hinterläßt. 

zp. Mai 1903. J. P. 

Gestern in Pirogowo gewesen. Bin glücklich hingekommen und 
habe dort alles wohl angetroffen. N. N. ist mir sehr unangenehm. 
Kämpfe mit wechselndem Erfolg. Heute, als ich spazieren ging, fiel 
mir etwas sehr Wichtiges ein, das ich auch aufschreiben werde. 
Sascha ist weggefahren. Lenotschka ist angekommen. Abends war 
ich spazieren und war von der Schönheit der Natur entzückt. 

Einschreiben muß ich das Folgende: 

1. Das Leben beginnt mit dem Erwachen des Bewußtseins, daß 
man ein geistiges (in Grenzen eingeschlossenes) Wesen ist. Dieses 
Bewußtsein aber erwacht mit der ersten Erinnerung an das, was mit 
mir geschah. Was ist die Erinnerung! Die Erinnerung ist ein (offen¬ 
bar immaterieller) Akt, vermöge dessen ich zwei oder mehrere ver¬ 
schiedene Ereignisse oder Eindrücke auf mich beziehe: ich fühle und 
sage, daß dieser und jener Zustand mein Zustand war. Dieses Be¬ 
wußtsein von der Einheit verschiedener Zustände ist der Anfang des 
geistigen Lebens. Nur wenn er dieses Bewußtsein erlangt hat, begreift 
der Mensch, daß er ein geistiges, von allem abgesondertes Wesen ist. 
Bis zu diesem Moment weiß er, selbst wenn er sich als ein abge¬ 
sondertes Wesen betätigt (was er nur nach Aussagen anderer Leute, 



Leo Tolstoi, Tagebuch 6 3 

nie aus innerer Erfahrung wissen kann), nicht, daß er lebt. Ein 
Bewußtsein dessen, daß man lebt und vom Ganzen gesondert ist, 
beginnt erst mit der Erinnerung, d. h. mit dem Bewußtsein, daß 
man ein geistiges, in Grenzen eingeschlossenes Wesen ist. 

1. Juni 1903. J. P. 

Der beste Trost in Fällen der Unannehmlichkeit mit Leuten ist 
der: mögen sie tun, was sie wollen und entstehe daraus, was immer: 
ich kann es nicht ändern. Wenn ich nur tue, was recht ist. 

Ich kann ein ungutes Gefühl N. N. gegenüber noch immer nicht 
unterdrücken. 

Noch das muß ich einschreiben, daß ich heute den Nekrolog von 
Bugajew und seine Monadenlehre gelesen habe; habe verstanden, daß 
er die Existenz von geistigen, abgesonderten Wesen, die in sich andere, 
der Beobachtung nach abgesonderte, Wesen einschließen, dunkel be¬ 
griffen hat 

Das Leben ist das Bewußtsein, das mir ein Ich zeigt, das von 
einigen, von vielen, von unendlich vielen gesonderten Wesen getrennt 
ist. Der Verkehr der Wesen untereinander ist Bewegung, — ich kann 
es mir nicht anders vorstellen denn als Bewegung. 

Alles das and nur Entwürfe von imklaren und oft unrichtigen 
Gedanken. 

3. Juni 1903. J. P. 

Noch immer ist der Magen in Unordnung. Immer kämpfe ich 
noch. Gestern über Nikola] gut geschrieben. 

Heute Briefe geschrieben und das Folgende notiert: 

1. Jede Staatsgewalt weiß, daß sie nur existiert dank der Un¬ 
wissenheit des Volkes, und darum fürchtet sie nichts so sehr als die 
Aufklärung und haßt sie. Es gibt jedoch Umstände, welche die 
Macht zwingen, der Aufklärung Zugeständnisse zu machen; dann gibt 
sich die Macht den Anschein, als ob sie die Aufklärung fördere, sie 
nimmt sie in die Hand — und verdirbt sie. Es kann aber auch Be¬ 
dingungen geben, wo das nicht nötig ist. In solchen Bedingungen 
war Nikolaj. Das wußte er und handelte danach. 

z. Nikolaj hielt alle Menschen ftir solche Menschen, wie die waren, 
die ihn umgaben. Und die, die ihn umgaben, waren gemeine Menschen. 

3. Man muß im Angesichte Gottes leben nicht nur bei Begeg¬ 
nungen mit Menschen, wie ich es aufgeschrieben habe, sondern immer, 
auch wenn man allein ist: Enthaltsamkeit, Anstrengung usw. 



d 4 


Leo Tolstoi, Tagebuch 


Heute, 4. Juni 1903. J. P. 

Wenig geschlafen. Gestern Mischa meine Tagebücher für Poscha 
zum Abschreiben gegeben. Dort ist viel Interessantes. Heute mich 
zur Arbeit gesetzt, wollte die Erinnerungen fortsetzen, aber ich konnte 
nicht, es geht nicht. Gestern Ober Nikolaj I. gelesen. Sehr viel 
Interessantes. Muß es, bevor ich weiterarbeite, nochmals durchlesen. 

5. Juni 1903. J. P. 

Mit der Arbeit geht es noch immer nicht recht vorwärts. Heute, 
bis jetzt, Magen besser. Lese über Nikolaj. 

Einzuschreiben ist nur eins: 

1. An sich arbeiten muß man, wenn man allein ist, nicht beein¬ 
flußt von Leuten und Dingen. In der Einsamkeit muß man seine Ge¬ 
danken verbessern, die schlechten zurückhalten, die guten hervorrufen. 
Ein wenig tue ich das, und es ist gut so. Sich bessern wollen, wenn 
das Leben in Bewegung ist, ist geradeso wie einen Wagen ausbessem 
wollen, während er in Fahrt ist. 

Gesundheit besser. Finde mich allmählich in Nikolaj Pawlowitsch 
hinein. Habe drei neue Sachen in Absicht genommen. Es ist Zeit 
zu sterben, und ich nehme mir vor: 1. die Erzählung vom Ball und 
dem Spießrutenlaufen, z. Schrei des Teufels beim Herannahen Christi, 
3. Wer bin ich, — eine Selbstbeschreibung, mit meinen Schwächen 
und guten Eigenschaften. 

Einzutragen ist: 

1. Dreierlei Antriebe können den Menschen zum Handeln bewegen: 
a. Gefühl, Reflexe, b. Hypnose und c. vernünftige Überlegung. Die 
Vernunft wacht über die ersten zwei Antriebe. Die Vernunft wird 
von keinem der beiden überwacht, vielmehr wacht sie über sich 
selbst. 

Die ersten beiden Antriebe entscheiden beim Zusammenstoß, d. h. 
wenn eine Handlung durch das Gefühl oder eine entgegengesetzte 
durch Hypnose hervorgerufen wird, den Konflikt ohne meine Teil¬ 
nahme. Beim Zusammenstoß des Gefühls oder der Hypnose mit 
meinem vernünftigen Bewußtsein entscheidet sich das vernünftige Be¬ 
wußtsein so oder so, d. h. es unterwirft sich entweder oder es siegt. 

So daß es also eigentlich nur ein vernünftiges, bewußtes Leben gibt. 

18. Juni 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist gut. Drei Tage schlechtes Wetter, und ich 



Leo Tolstoi, Tagebuch <*5 

fühlte mich sehr schwach. Ich reite viel. Besucher: Dawidow, Abri- 
kossow, Maslow, die Gljebowa. 

Arbeite nichts, oder doch so gut wie nichts. Habe mich entschlossen, 
Nikolaj Pawlowitsch liegen zu lassen fast so wie das Kapitel jetzt ist und 
es separat auszuarbeiten, wenn es sich als nötig erweisen sollte. 

Einzuschreiben ist Folgendes: 

i. Die Erweiterung des Bewußtseins oder genauer: die Klärung 
des geistigen Bewußtseins, die Übertragung des eigenen Ichs in das 
geistige Bewußtsein, drückt sich als Liebe aus. Wesen, die uns ähn¬ 
lich sind, lieben wir natürlich leichter als andere. So lieben wir von 
den Menschen die uns Anverwandten leichter als fremde, und von 
den Fremden wieder diejenigen leichter, die uns ähnlich sind; ebenso 
lieben wir von den Tieren diejenigen leichter, die uns ähnlich sind, 
und sogar von den Pflanzen gilt dasselbe. 

z. In Aussicht genommen drei neue Arbeiten: i. Der Schrei der 
jetzigen verirrten Menschen: der Materialisten, Positivisten, Nietzsche- 
aner, — der Schrei (Mark, i, 24): „Halt, was haben wir mit dir zu 
schaffen, Jesu von Nazareth? Du bist kommen uns zu verderben. Ich 
weiß, wer du bist: der Heilige Gottes“. (Wäre sehr gut.) 2. Für 
das jüdische Sammelwerk: Lustiger Ball in Kasan, bin verliebt in die 
schöne Tochter des Regiments-Chefs — eines Polen —, tanze mit ihr; 
der prächtige Alte, ihr Vater, umfaßt sie zärtlich und tanzt eine 
Mazurka. Gegen Morgen, nach schlafloser Nacht, wandert der Ver¬ 
liebte dem Schall einer Trommel nach: man läßt einen Tataren aus¬ 
peitschen, und der Regiments-Chef befiehlt, fester zuzuschlagen. (Ware 
sehr gut.) Und 3. Mich beschreiben, ganz wahrheitsgemäß, mit allen 

meinen Schwächen und Dummheiten, und dazwischen auch mit dem, 

was in meinem Leben gut und bedeutsam ist. (Wäre auch gut) 
Alles das ist viel wichtiger als der dumme H.-M.* 

3. Das Gespräch, das Nikitin mit Abrikossow hatte, war das ge¬ 
wöhnliche. Leute, die keine Christen sind, tadeln oder, wie sich 

Nikitin verbesserte, begreifen nicht, daß Menschen, die sich zum 

Christentum bekennen, seine Vorschriften nicht vollkommen befolgen. 
Wir Materialisten, wenn wir uns ein Ideal (sie nennen es Ideal) auf¬ 
stellen, leben ihm dann aber auch vollkommen nach. 

* „Hadschi-Murad“, Roman aus Tolstois Nachlaß, deutsch in der zwei¬ 
bändigen Ausgabe der Nachgelassenen Schriften Tolstois bei Eugen Diede- 
richs, Jena, und unter dem Titel „Chadschi Murat“ als separates Buch bei 
S. Fischer, Berlin, erschienen. D. H. 


5 



66 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

Aber die Sache ist die, daß es überhaupt nur ein christliches Ideal 
gibt, daß dieses in einem Leben besteht, das Gott geweiht ist, oder 
in einem Leben nach dem Willen Gottes, und daß ein Mensch, der 
sich ein solches Leben vorgenommen hat, dieses Ideal nicht voll¬ 
kommen verwirklichen kann. Menschen aber, Nicht-Christen, die ein 
tierisches Leben führen (sie mögen immerhin auch andern Gutes tun, 
was dann aber bloß im eigenen Interesse geschieht), können leicht 
konsequent sein, wie jedes Tier konsequent ist. Dieses Mißverständnis 
rührt davon her, daß die Leute, die Nicht-Christen sind, keine Ahnung 
davon haben, was für eine Anstrengung („Das Reich Gottes wird mit 
Kraft genommen“) es kostet, sich dem Ideal des christlichen Lebens 
zu nähern; sie glauben, es sei ebenso leicht, diesem Ideal nachzuleben, 
wie es leicht ist, seinen tierischen Trieben zu folgen. 

Im wesentlichen wird das menschliche Leben, das Leben aller 
Menschen, durch zwei Grenzen bestimmt: durch die Beziehungen des 
tierischen Lebens zu einem geistigen Ideal, das ein und dasselbe in 
allen Philosophien und Religionen ist: zum Ideal des Gehorsams gegen 
das Gesetz der ganzen Welt — oder zum umgekehrten Ideal der Er¬ 
füllung aller persönlichen Wünsche. Die eine Grenze wird durch die 
vollkommene Hingabe an das geistige Ideal bezeichnet, die andere 
durch ein vollkommenes Aufgehen im tierischen Zustand. (Jeder kennt 
diesen Zustand aus seiner eigenen Kindheit.) Zwischen diesen beiden 
Grenzen gibt es zahllose mittlere Stufen. Alle Menschen stehen auf 
einer dieser Stufen, und alle entwickeln sich aus tierischen Anfängen 
zu einem geistigen Leben empor. 

4. (Für die Definition des Lebens besonders wichtig.) Das Leben 
ist Bewußtsein. Es gibt zwei Bewußtseine. Ein niedrigeres Bewußt¬ 
sein: das Bewußtsein der eignen Gesondertheit von allem andern; und 
ein höheres Bewußtsein: das Bewußtsein des eignen Teilhabens an 
allem, das Bewußtsein unserer eignen Außerräumlichkeit, Außerzeit¬ 
lichkeit, unsrer Geistigkeit, das Bewußtsein unsrer eignen Univer¬ 
salität. Das erste Bewußtsein — das der eignen Gesondertheit — nenne 
ich das niedrigere deshalb, weil es nur durch das höhere geistige Be¬ 
wußtsein zustande kommen kann (ich begreife, erkenne mich als von 
allem andern gesondert). Das zweite Bewußtsein aber, das geistige, 
bedarf zu seinem Zustandekommen des niedrigeren Bewußtseins nicht. 
Ich erkenne nur, daß ich erkenne, und erkenne, daß ich erkenne, daß 
ich erkenne und so fort ins Unendliche. Das erste Bewußtsein (das nie¬ 
drigere) erzeugt, vermöge der ihm eigenen Gesondertheit, die Begriffe der 



Leo Tolstoi, Tagebuch 6j 

Körperlichkeit, der Materie (und deshalb der Bewegung, des Raumes 
und der Zeit). Das zweite Bewußtsein aber kennt weder Körperlich¬ 
keit noch Bewegung noch Raum und Zeit, es ist durch nichts begrenzt 
und ist immer sich selber gleich. Die einzige Aufgabe des Lebens 
besteht darin, daß man das eigne Ich aus dem gesonderten in das 
universelle geistige Bewußtsein überträgt. Eben diese Übertragung des 
eignen Ichs aus dem Gesonderten in das nicht gesonderte Universelle 
ist das, was sich uns als das Leben darstellt. 

(Es ist wieder nicht das Richtige, ich kann nicht weiter.) 

5. » Ignorabimus« — sie benutzen mit Vorliebe lateinische, nicht 
allen verständliche Worte — sagen die Gelehrten. Ja, wir werden es 
nie wissen, oder vielmehr es gibt Dinge, die wir nie werden wissen 
können. Sehr wichtig ist es auch, zu wissen, was wir nicht wissen 
können, damit wir unsere Kfaft nicht unnütz auf Versuche verwenden, 
das Unerkennbare zu erkennen. 

Warum ist das in Grenzen eingeschlossene Wesen bestrebt, diese 
Grenzen zu erweitern und zu zerreißen? Was geschieht mit dem Wesen, 
das die Grenzen zerrissen hat? Dies und vieles andere können wir 
nicht wissen ... 

(Bin müde.) 

19. Juni 1903. J. P. 

Habe nicht geschrieben. Große Schwäche, bin aber ganz gesund. 
Schreibe nichts. 

Einzuschreiben ist zweierlei: 

1. Alle Menschen nähern sich mehr dieser oder jener Grenze: die 
eine Grenze ist: leben nur für sich selbst, die andere: leben nur für 
die andern. 

z. Franz von Assisi wiedergelesen. Wie schön, wenn er sich an 
die Vögel wendet, als zu seinen Brüdern! Und das Gespräch mit dem 
frere Lbn über die Freude! 

Zum Selben. Das Leben ist die Erkenntnis der eigenen Einheit 
mit Gott. 

13. Juni. J. P. 1903. 

Die Gesundheit ist gut. Esse Beeren. Reite viel. Geistige Trägheit. 

Einzuschreiben ist eins: 

Ich bin meinem Charakter nach ein sehr böser Mensch, sehr stumpf 
für das Gute, und darum muß ich große Anstrengungen machen, um 
nicht ein ganz abscheulicher Mensch zu sein. J. Samarin sagte einmal 
sehr gut, er sei deswegen ein guter Mathematiklehrer, weil er für 



68 Moritz Heim arm, Micha Josef h'm Gorion 

Mathematik keinen Kopf habe. Bei mir ist es hinsichtlich der Mathe¬ 
matik genau dasselbe, aber auch in Hinsicht auf das Gute: ich bin 
im Guten sehr stumpf und deswegen kein ganz schlechter, ja ich darf 
kühn sagen: ein guter Lehrer im Guten. 

(Wird fortgesetzt) 


MICHA JOSEF BIN GORION 

Seinem Gedächtnis von 
MORITZ HEIMANN 

N ach einer schönen jüdischen Sage — sie ist etwas mehr als eine 
Sage und etwas weniger als ein Glaube — ruht der Bestand 
der Welt auf sechsunddreißig Gerechten. In der ganzen Menschheit 
verstreut, im Verborgenen, unerkannt vom Auge des Tages, ein Quell 
des Segens, leben sie das Unzerstörbare. Einer von ihnen ist nun ab¬ 
geschieden, und die heimliche Krone ist weitergewandert; möge sie 
niemals sich mit einem weniger würdigen Haupt begnügen müssen! 

Meistens sind sie Handwerker, Bauern, kleine Leute, diese Sechs¬ 
unddreißig, und die geistige Leuchtflamme, von der sie eingehüllt sind, 
würde von dem Beruf des Geistes, vom Ruhm und der sichtbaren 
Auszeichnung getrübt und unwirksam gemacht werden. Dennoch ge¬ 
hörte Micha Josef Berdyczewski, der sich später bin Gorion genannt 
hat, zu ihnen, dennoch; obgleich er ein Gelehrter und ein Dichter 
war und obgleich der Ruhm ihn schon früh gesucht und gefunden hat. 

Daß er berühmt gewesen sei, wird deutsche Leser wundern, selbst 
wenn ihnen sein Name von den beiden Sammlungen der jüdischen 
Sagen* vertraut wäre. Aber diese wertvolle, an Umfang der vorberei¬ 
tenden Studien und der ausführenden Mühe nicht geringe Arbeit war 
nur ein kleiner Teil seines Werkens und Wirkens, fast nur ein Seiten¬ 
schößling. Seinen Ruhm hatte er als hebräischer Schriftsteller und 
als jüdischer Denker bei allen, und es sind ihrer mehr, als der Westen 
ahnt, zu denen seine Sprache sprechen konnte. Er war etwas wie ein 
jüdischer Atlas, trug die ganze jüdische Welt auf seinen Schultern und 
genoß das bittere Bewußtsein, Tieferes und Schwereres davon erkannt 

* „Die Sagen der Juden“, bei Rütten und Loening; „Der Born Judas“,, 
im Insel-Verlag. 



Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion *9 

zu haben als jeder andere. Er wehrte auch jeden andern mit stei¬ 
gender, schließlich stummer Ungeduld von sich ab, mochte von dem 
geteilten Wissen sich ein guter oder ein böser oder ein törichter 
Wille nähren, und geehrt von allen, begehrt von vielen, stand er für 
sich allein. Seine hebräischen Werke hat er noch herauszugeben an¬ 
gefangen, sie werden zwanzig Bände umfassen; dazu sechs Bände in 
der Vulgärsprache des jüdischen Ostens, dem sogenannten Jargon: Essays, 
Novellen, Dramen, Erzählungen und Gedichte, — und auch dieses alles 
zusammen ist nicht das Lebens- und Hauptwerk, dem er zustrebte und 
von dessen Plänen und Bausteinen der Tod ihn wegnahm. 

Er ist sechsundfünfzig Jahre alt geworden, war ein Mann von kleiner 
Statur und zartem Bau, zart auch, wiewohl unbekümmert, von Ge¬ 
sundheit, zähe gemacht durch Leiden und Entbehrungen, bis eine kurze 
Krankheit den Rest von Kohle in ihm schnell verbrannte und die 
Schlacke zurückließ. Er hatte die Haltung eines in sich selbst ein¬ 
gewickelten Menschen; er war kurzsichtig und beobachtete nie, sah 
aber alles, zum Erstaunen derer, die nicht bemerkt hatten, daß er sah. 
Wenn er die Gläser abnahm, verrieten die grauen Augen denselben 
klaren, femsuchenden Geist, der die feste, einfache, bedeutende Stirn 
modelliert hatte. Für Menschen des westlichen Lebensgefühls hatte 
seine Erscheinung etwas Fremdartiges, ja Unwirkliches; doch ist ihm 
keiner genaht, ohne seinen Wert und seine Persönlichkeit mit inner¬ 
lichem Aufhorchen zu spüren; versagen an ihm habe ich in über 
zwanzig Jahren nur ganz wenige gesehen, Menschen mit jener Art von 
Egoismus, der selbst die Klügsten dumm macht und sie merken es 
nicht. Dieser Fremdling, hebräischer Schriftsteller und Durchdenker 
des Judentums, lebte in Deutschland, sowohl dem politischen als dem 
geistigen Gebilde, mit einer wunderbaren, von der Erfahrung unab¬ 
hängigen Zugehörigkeit. Er war ein leidenschaftlicher deutscher Patriot, 
haßte alle liberalistische Sänftigung und dachte als Politiker kühn, in 
Staaten und Mächten. Um dieselbe Zeit, wo er seinen vor kurzem an¬ 
genommenen Schriftstellernamen bin Gorion, das Jüdische betonend, zu 
seinem bürgerlichen machen ließ, führte er seine Aufnahme in den 
deutschen Staatsverband durch, und es ist wohl etwas mehr als ein 
Zufall, daß unter den Paten, die ihn der Behörde empfahlen, Gerhart 
Hauptmann war. 

Er stammte aus der Ukraine. Mit jungen Jahren durchbrach er die 
Mauer des Ghettos und machte sich auf den Weg nach Westen, immer 
hinter einer von früh an ersehnten, geahnten Geistesfreiheit her. Die 



70 Moritz Heimanrt, Micha Josef bin Gorion 

leibliche Not war schrecklich; in Breslau, seiner ersten Station, ist es 
vorgekommen, daß er zum Lesen kein anderes Licht hatte als die 
Straßenlaterne. Seine Pläne stritten widereinander, manche von ihnen 
waren die halb freiwillige Selbsttäuschung der bedrängten, drängenden 
Gemüter. Er dachte daran, Maler zu werden, und besuchte die Aka¬ 
demie; er arbeitete um den kärgsten Lohn bei einem Buchbinder, und 
hat sich noch in seiner späten Zeit die vielen, vielen mit Lebensblut 
erkauften Bücher in den ihm eigentümlichen, wunderlich-zierlichen 
Schick gebracht. Der Hauptertrag des Breslauer Aufenthaltes war die 
Einsicht, daß die im Ghetto erworbenen, an Masse ungeheuren Kennt¬ 
nisse einer ganz andern Systematik bedurften, als der traditionellen, 
und der Verdacht, daß auch die westliche offizielle jüdische Wissen¬ 
schaft diese Systematik nicht bis zu Ende, nicht bis zur strengen, 
vorurteilslosen Wahrheit zu leisten vermöchte. Dann schlug er sich 
nach der Schweiz und in der Schweiz durch und promovierte in Bern. 
Der Schlußsatz seiner Dissertation war ein echter Berdyczewski: „das 
Maß — ist das Maß aller Dinge“; immer hat er den allzu schnellen, 
allzu bereitwilligen Relativismus, den Protagoras als Vorwand, verworfen 
und verachtet. 

Von der Schweiz kam er nach Berlin, um deutscher Schriftsteller 
zu werden. Eine Novelle („Daneben“) glückte ihm und wurde in der 
„Neuen Rundschau“ (im Jahre 1899) abgedruckt. Er versuchte, mit 
einem Roman aus seiner Heimatwelt, den größeren Wurf — und erlebte 
eine Katastrophe. Alles, was er erzählte, war klar, scharf, humoristisch 
und witzig gesehen; aber es gelang ihm trotz unendlicher, peinvoller 
Mühe nicht, der Sprache Herr zu werden. Er hatte das feinste Ohr 
für die Sprache, ertrug kaum ein andres, als das beste urbürtige Deutsch, 
die Bibel von Luther, Grimms Märchen, Keller; dabei ließ er sich 
nicht vom Reiz des Altertümlichen einfangen, erkannte Emil Straußens 
Prosa als die beste, die heute geschrieben wird, und war auch sonst 
nach allen Seiten hin hellhörig und bereit, — ich erinnere mich noch, 
daß er als erster uns die eben erschienenen „Notizen aus Mexiko“ 
von Keßler rühmte. Aber wenn er selbst schrieb, versagte er. Wir 
halfen ihm, Efraim Frisch und ich, doch es half nichts. Er ging in 
naiver Ratlosigkeit nach Weimar, ob vielleicht der Genius des Ortes 
ihn befreien könnte, und kehrte in der alten Befangenheit zurück. 
Was ihm fehlte, war natürlich nicht die Kenntnis und Fertigkeit in den 
elementaren Regeln; es stand schwieriger, er vermochte auf keine Weise, 
dem vordenkenden, vorordnenden autonomen Willen der Sprache nach- 



7 * 


Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion 

zudenken, nachzuordnen. Die Tragfähigkeit der Sätze, das Verhältnis 
zwischen Haupt- und Nebensatz, der Rhythmus zwischen Ausführung 
und Abkürzung, alles, was für den Dichter schon getan ist, bevor er 
selbst anfängt — zugleich ein Zwang und eine helfende List — alles 
das war und blieb ihm ein Kreuz. Man würde, bei einem Manne 
von seiner Intelligenz, vor einem Rätsel stehen, wenn nicht zwei Tat¬ 
sachen das Mißlingen erklärten; die eine, daß seine Muttersprache he¬ 
bräisch war, nicht der Jargon, und die zweite, daß sein Charakter ihn 
zur bloßen geschickten Anpassung unfähig machte. Er konnte sogar 
russisch nicht, so sehr war das Hebräische seine Form des Fühlens und 
des Denkens, der Seelenkunde und sogar der Logik. Er ließ mir ein¬ 
mal durch seinen Sohn Emanuel den ersten Monolog der Iphigenie in 
der hebräischen Übersetzung vortragen und behauptete, daß das Original 
dagegen um eine Schwebung läßlicher klinge; vollends das Neue Testa¬ 
ment schien ihm erst in der alten Sprache — es ist zweimal übersetzt 
worden — die rechte Heimat gefunden zu haben. Er selbst gilt als 
einer der Initiatoren und stärkster Vertreter einer neuen hebräischen 
Literatur» 

Allein das Schicksal, das ihn von Tag zu Tag hart angefaßt hat, 
meinte es in den großen Dingen doch gut mit ihm. Er fand schlie߬ 
lich die deutsche Sprache, er fand seine Frau. Ihr Name, Rahel Ram- 
bcrg, steht über den Sagen und über dem Born Judas als der der 
Übersetzerin, das Verhältnis ist damit nur ungenügend bezeichnet. Sie 
konnte hebräisch, las sich in das Idiom des Talmuds, als einer der 
Hauptquellen zum Sagenschatz, hinein, und vor allem: sie konnte deutsch. 
Zwischen den beiden Menschen entwickelte sich etwas, was über Er¬ 
gänzung und Harmonie hinausging: eine wechselseitige Einorganisierung 
des einen in den andern; so daß sie sein Mund wurde und sein Deutsch 
sprach, nur daß es richtig war, und er, welcher sammelte und zu¬ 
sammenfügte, ihrer Sprache geruhig vorahnend seine Texte aufs neue 
belebte. Die Einheit war so groß, daß sie, mit ihrem jungen Sohn 
und gelehrter Hilfe, es wagen kann, den großen Nachlaß zu sichern, 
ja bis zur letzten vorhandenen Andeutung auszuführen. 

Indessen, weder vom Hebräischschreiben, noch von den neuen Hoff¬ 
nungen konnte man leben; und so finden wir Berdyczcwski noch ein¬ 
mal in Breslau, wo seine Frau, die kurz entschlossen ihr medizinisches 
Studium ins Zahnärztliche verengt hatte, mit bescheidenen Erfolgen 
praktizierte und er zahntechnische Arbeit, die er erlernt hatte, beitrug. 
Das Kind wurde geboren, die literarischen Pläne nahmen ein immer 



yi Moritz Heim arm, Micha Josef hin Gorion 

strengeres Gesicht von Unaufschiebbarkeit an, und noch einmal wagte der 
Vielgeprüfte, die Schiffe zu verbrennen. Er kam nach Berlin, tun nichts 
zu betreiben als sein Werk. Anfangs ging es knapp genug, nur gerade 
hart an der Grenze der Not vorbei, die letzten Jahre aber wurden ihm 
freundlich erhellt; er hatte in einem amerikanischen Kaufmann einen Ver¬ 
leger gefunden, der ein Verehrer seiner Person und seiner Sache war und 
nichts wollte als beide nach Kräften hochhalten. So schien alles gut. Im 
Sommer ipzo schrieb er mir, er habe etwas Schweres erlebt, könne sich 
mir aber nicht mitteilen. Im Herbst besuchte er mich draußen auf dem 
Dorf, und als er am Tische stand, lag etwas über ihm, was mich bewog, 
zu ihm zu sprechen: „Kannst du mir sagen, was dir begegnet ist? 
wo nicht, so habe ich nicht gefragt“. Ich sah, wie seine Augen er¬ 
loschen, sein Gesicht wurde schrecklich blaß, und die Kiefer zitterten, 
nur seine Stimme hatte ihre unveränderte Ruhe: „ich wollte eben 
sprechen“. Und nun erzählte er, daß sein Vater, ein fast achtzig Jahre 
alter Mann, sektiererischer, in Gott heiterer Rabbiner und ein älterer 
Bruder bei einem der unzähligen ukrainischen Progrome grausam massa¬ 
kriert worden waren. So griff die Heimat, die er hinter sich gelassen 
und sogar durch seinen Namen nicht länger mit sich in Verbindung 
gehalten hatte, doch noch einmal nach seinem Herzen, und der Griff 
war tödlich. Er hat sich nicht mehr davon erholt, wurde von der 
Erinnerung oftmals wehrlos überfallen, und sein Gemüt erlebte die Ge¬ 
fahr, durch das Leid allzu sehr über das Leben erhoben zu sein. Er 
war in Dingen milde geworden, in denen er es vorher nicht gewesen 
wäre, und selbst über den zionistischen Kongreß in Karlsbad, der sonst 
wohl seinen Grimm hervorgerufen hatte, sprach er sich nachsichtig aus. 
Nur gearbeitet hat er, wie sein ganzes Leben lang; noch zwei Tage 
vor seinem Tode diktierte er seinem Sohn den Schluß eines hebrä¬ 
ischen Romans, den er vor zwei Jahren angefängen hatte. 

Am Morgen seines Todes stellte er seinen Arzt: „Wie wird der 
heutige Tag verlaufen, Herr Doktor? Sie wissen, ich bin ein Syste¬ 
matiker.“ Er war ein Systematiker. Wie alles um ihn herum nett 
und sauber war, so war es ihm ein Bedürfnis, Ordnung in geistige 
Materien zu bringen. Er liebte es, wie Goethe, Schemata zu entwerfen, 
und Bucheinteilungen, Kapitelüberschriften waren ihm eine Lust. Daran 
hatte wohl zunächst der Künstler in ihm seinen Anteil, dann aber 
das Bedürfnis, der gewaltigen Stoffmassen Herr zu bleiben, die zu 
seinem Hauptwerk ihm gefügig waren und in imm er wachsendem 
Schwall hinzuströmten. Zu dem Werke liegt, wie schon gesagt, kaum 



73 


Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion 

etwas anderes vor als ein gewaltiges Material, Plan und Pläne, Dis¬ 
positionen und einige Bausteine. Schon deshalb ist es mir schwer, einen 
Begriff davon zu geben, und obenein bin ich gänzlich außerhalb der 
betreffenden Kenntnisse. Aber bin Gorion hat oft, wenn auch immer 
in einer gewissen vorsichtigen, das Geheimnis wahrenden Art, sein 
Lebensthema mit mir besprochen, und so wage ich eine Andeutung. 

Man erinnere sich, daß Hebräisch seine Sprache war. Indem sein 
dichterisches Ohr dem kritischen zu Hilfe kam, bemerkte er, daß selbst 
den größten Gelehrten der westlichen Wissenschaft vom Judentum ein 
hemmendes Etwas anhafte, eine Sterilität der Empfindung, eine Me¬ 
chanisierung der Kenntnisse, fiir ihn konnten sie alle nicht hebräisch. 
Er hatte ihre kühnste Textkritik angenommen, aber auch die kühnsten 
Chorizonten gingen ihm nicht weit genug. Eine auf andern Gebieten 
längst durchgeführte Maxime — zum Beispiel, daß über deutsche Mytho¬ 
logie ein im neunzehnten Jahrhundert aufgezeichneter Kinderreim mehr 
Aufschluß geben kann, als Dutzende von Büchern aus frühen Jahr¬ 
hunderten — schien ihm auf die jüdische Geschichte in keiner andern 
Weise anwendbar, als daß er sie anwendete. Nicht bloß eine freie, 
zu unendlichen Konfrontationen Fähige Kenntnis des gesamten Schrift¬ 
tums von den ältesten Texten der Bibel an bis auf unsere Tage schien 
ihm dazu nötig, sondern die lebendige, volkstümliche und dabei dich¬ 
terisch-kritische Vertrautheit. Der jüdische Gelehrte wird die Befangen¬ 
heit irgendeiner, wenn auch unbewußten Tradition nicht los, der nicht 
jüdische ebenso wenig die der innerlichen Unverbundenheit; und wäh¬ 
rend beide das Wichtigste schon getan glauben, schien es bin Gorion, als 
sei es noch zu tun: Als sei die rechte Geologie der israelitischen und jü¬ 
dischen Geschichte, die Folge der Schichten und Stufen, noch zu ent¬ 
decken; und dadurch erst ans Licht zu bringen, was, hinter dem Schutz, 
dem Schleier und dem Trug der Traditionen, vom Volke wirklich ge¬ 
lebt wurde. Alle bisherige Kritik schien ihm zur Ordnung der ver¬ 
schobenen und verschrobenen Texte bei weitem nicht hinzureichen; 
er hatte einen neuen Schlüssel gefunden. Im einzelnen, das ist mir 
bekannt, gewann er Resultate, die deutschen Gelehrten, wie Hugo 
Winckler, Aufmerksamkeit und Interesse abnötigten. Wie weit das 
Ganze reicht, wird hoffentlich nicht verborgen bleiben. 

Immer aber handelte es sich flir ihn um Wissenschaft, die, zwar 
in sich völlig rein und tendenziös, doch gerade darum ins unmittel¬ 
bare Leben wirken sollte. Weil er glaubte, daß die Fragen nach den 
Anfängen der israelitischen, der jüdischen Geschichte, zum Teil sogar 



74 Moritz Heimann, Micha Josef bin Gorion 

des Christentums, manche wichtige, vielleicht entscheidende Antwort 
noch nicht gefunden hätten, entzog er sich in wachsendem Maße 
allen versuchten, gewagten, aufgetrumpften Urteilen über diese Er¬ 
scheinungen. Nicht nur das Urteil, sondern auch die Praxis sei un¬ 
möglich, so lange man nicht wisse, was das Ding eigentlich sei, das 
man in der Hand drehe. Insbesondere über Israelitertum und Juden¬ 
tum wollte er keines der heutigen Worte gelten lassen, weder eines der 
Wissenschaft noch eines der populären Öffentlichkeit. Alle trieben 
sie ihn immer entschiedener in sein Wissen und in seine Einsamkeit, 
die Zionisten und die Assimilanten, die neuchristlichen Mystiker und 
die Orthodoxen, die Abtrünnigen und die Helden eines kurzfristigen 
„Nim gerade!“ Wäre sein Verhalten aus dem Hochmut des Gelehrten 
entsprungen, so würde es ein Achselzucken, günstigenfalls ein Lächeln 
verdienen. Aber so war es nicht mit ihm. Seine negative Stellung zu 
allen Problematikern und Tendenziösen war die schönste denkbare 
positive. Er sah, daß alle Theorieen nicht nur die Wissens-, sondern 
auch die Lebensaufgabe gröblich vereinfachten. Sich des Judentums 
schämen, sich seiner rühmen, untergehen wollen in der Anpassung, 
sich durchsetzen im eigenen Land, — in alle dem sah er Air die 
Menschen einen Ausweg vorbereitet, nicht wirklich das zu tun, wozu 
sie da sind. 'Er dachte beiläufig über den Sozialismus und seine Sekten 
ebenso. Will man das Individualismus nennen, so begeht man sogleich 
wieder den Fehler, den er durch sein ganzes Leben hin bekämpft hat. 
Es gibt keinen Namen für das, was er als die Stellung des Menschen 
empfand; ohne Namen weiß es jeder, mit einem beginnt die Usur¬ 
pation. Für bin Gorion bedeutet dieses Verhalten keinerlei Mystik, 
sondern einfach die Realität, in die jeder Mensch hineingeboren ist. 
Einsicht und Charakter gingen darum bei ihm in völliger, vor be¬ 
stimmter Harmonie. Was auch aus seiner Lehre, aus seinem Werk, 
aus seinem Ruhme werde, im Augenblick, wo der Kreis sich ge¬ 
schlossen hat, hört das auf, noch etwas zu wiegen; denn der Mensch 
war da und bleibt. Auf seinesgleichen ruht der Bestand der Welt. 



ERINNERUNGEN AN OSCAR WILDE 

von 

FRANK HARRIS 

I m Herbst des Jahres 1898 verkaufte ich die „Saturday Review“ 
an Lord Hardwicke und seine Freunde, und sobald der Kauf abge¬ 
schlossen war, — ich glaube im November — telegraphierte ich Oscar 
Wilde, daß ich sehr bald in Paris ein treffen und bereit sein würde, 
mit ihm nach dem Süden zu fahren, wo er seine Erholungszeit ver¬ 
bringen sollte. Ich sandte ihm auch etwas Geld, um ihn den Weg 
zu ebnen. 

Einige Tage später fuhr ich hinüber und bat ihn telegraphisch von 
Calais aus, mit mir bei Durand zu speisen und wenn ich verspätet 
ein treffen sollte, schon mit dem Essen zu beginnen. 

Als wir nun auf das Essen warteten, sagte ich: 

„Ich möchte zwei bis drei Tage in Paris bleiben, um mir ein Paar 
Bilder anzusehen. Kannst du am nächsten Donnerstag zur Abreise nach 
dem Süden bereit sein?“ Ich glaube, das besprachen wir an einem 
Montag. 

»Am Donnerstag?“ wiederholte er. „Ich glaube wohl, Frank.“ 
„Hier hast du etwas Geld, wenn du dir irgend etwas kaufen willst“, 
sagte ich und reichte ihm einen Scheck, den ich für eigene Rech¬ 
nung ausgestellt und unterschrieben hatte, denn er wußte, wo er ihn 
einlösen konnte. 

„Wie gut du bist, Frank, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken 
soll. Du reist Donnerstag,“ fügte er hinzu, als ob er sich das überlegte. 

„Ich möchte dir nur noch ein Wort sagen“, und er zog mich vom 
Wagen fort, an dem der Chasseur mit der wollenen Decke wartete. Als 
er mich drei oder vier Schritte weiter geführt hatte, sagte er zögernd: 

„Frank, könntest du.kannst du mir ein paar Pfund geben? 

Ich bin arg in Verlegenheit.“ 

Ich blickte ihn erstaunt an; denn ich hatte ihm doch zu Beginn des 
Abendessens einen Scheck gegeben, hatte er denn das vergessen? Oder 
wollte er vielleicht die hundert Pfund aus irgend einem Grunde nicht 
angreifen? Plötzlich kam mir der Gedanke, daß er vielleicht nicht 
einmal genug hatte, um den Wagen zu bezahlen. So nahm ich einen 
hundert Frankenschein heraus und gab ihm das Geld. 

„Vielen, vielen Dank“, sagte er und steckte es in die Westentasche. 
„Es ist sehr gütig von dir.“ 




7 6 Frank Harris , Erinnerungen an Oscar Wilde 

„Willst du dich morgen um ein Uhr zum Mittagessen ein finden?“ 
sagte ich, als ich ihm beim Einsteigen in den kleinen Brougham be¬ 
hilflich war. 

„Ja, ja, natürlich,“ rief er, und ich ging fort. 

Am nächsten Tage beim Mittagessen schien er mir mit einer ge¬ 
wissen Verlegenheit entgegenzukommen. 

„Ich möchte dich etwas fragen, Frank. Ich bin wirklich beschämt 
wegen der Sache am gestrigen Abend; wir haben mit »großen Ver¬ 
stand, doch zu viel gespeist. 1 * Heute Morgen habe ich entdeckt, daß 
du mir einen Scheck gegeben hast, und außerdem entdeckte ich in 
meiner Westentasche einen Hundertfrankenschein. Habe ich dich zum 
Schluß darum gebeten? ,Angezapft*, wie die Franzosen es nennen?“ 
fügte er hinzu und versuchte zu lachen. 

Ich nickte. 

„Wie schrecklich!“ rief er. „Wie schrecklich die Armut ist. Ich 
hatte vergessen, daß du mir einen Scheck gegeben hattest, und ich 
war so arg in Verlegenheit und in Angst, du könntest fortgehen, ohne 
mir etwas zu geben, daß ich dich darum gebeten habe. Ist die Armut 
nicht schrecklich?“ 

Ich nickte, ich konnte kein Wort sprechen; die Tatsache war so 
vielsagend. 

„Wenn du lieber noch ein bißchen warten möchtest, sage es nur, 
ich bin ganz damit einverstanden.“ 

„Nein, Frank, ich glaube, es wird sich Donnerstag machen lassen. 
Wir gehen also wirklich den ganzen Winter Uber nach dem Süden. 
Wie herrlich; wie prachtvoll es da sein wird.“ 

Das Essen war festlich, und wir plauderten ohne Ende. Er sprach 
Uber ein paar moderne Franzosen und sehr ausführlich über Pierre Louys, 
den er als seinen Schüler hinstellte. 

„Ich bin es gewesen, Frank, der ihn dazu bestimmt hat, seine 
»Aphrodite* in Prosa zu schreiben.“ Er sprach auch vom Grand Guignol- 
Theater. 

„Das Grand Guignol-Theater ist das beste in ganz Paris. Es sieht 
aus wie eine Nonkonformisten-Kapelle, ein scheunenartiger Raum mit 
einer Galerie im Hintergründe und einer kleinen Holzbühne. Da 
kannst du die schlichten Tragödien des wirklichen Lebens sehen. Sie 


* Anspielung auf Shakespeares Othello, Akt V, Szene II: „who loved 
not wisely, but too well“. 



77 


Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 

sind so häßlich und so reizvoll wie das Leben selbst. Das mußt du 
sehen, und wir wollen auch ins Antoine-Theater gehen. Du mußt 
Antoine’s neues Stück sehen; er leistet Vorzügliches.“ 

Wir dehnten das Abendessen unvernünftig lange aus. Ich hatte 
viel aus London zu erzählen und viel aus Paris zu hören. Wir plau¬ 
derten und tranken Kaffee bis ein Uhr, und als ich den Vorschlag 
machte einen Nachtimbiß einzunehmen, fand diese Idee bei Oscar 
begeisterten Beifall. 

„Ich habe oft mit dir von zwei bis neun Uhr Mittagbrot gegessen, 
Frank, nun werde ich mit dir von neun Uhr bis zum nächsten Morgen¬ 
frühstück Abendbrot essen“. 

„Was wollen wir trinken?“ fragte ich. 

„Bleiben wir bei demselben Champagner, Frank, wenn es dir recht 
ist", sagte er und zupfte sich am Unterkinn. „Kein anderer Wein ist 
so begeisternd, wie dieser herbe Champagner mit der köstlichen Blume. 
Du warst der Erste, der gesagt hat, daß meine Theaterstücke der 
Champagner der Literatur sind.“ 

Es war drei Uhr geworden, als wir aufbrachen; ich war von der 
Reise ermüdet und schläfrig, und Oscar hatte vielleicht mehr ge¬ 
trunken, als ihm gut war. Da ich wußte, wie verhaßt es ihm war, 
wenn er zu Fuß gehen mußte, ließ ich eine „voiture de cercle“ kommen 
und bat ihn, den Wagen zu benutzen, ich würde zu Fuß nach meinem 
Hotel gehen. Er dankte mir, schien aber noch zu zögern. 

„Was denn nun?“ fragte ich, da ich mich nach meinem Bett sehnte. 

Die demütige Stimmung der Selbstverdammung hielt bei ihm. nicht 
lange vor und saß nicht tief. Bald plauderte er ebenso lustig und 
heiter wie je. 

Ehe wir auseinander gingen, sagte ich zu ihm: 

„Du vergißt doch nicht, daß du am Donnerstag Abend abreist?“ 

„Ach! wirklich!“ rief er zu meiner Verwunderung. „Es ist ja schon 
sehr bald Donnerstagg ich wetß nicht, ob ich es ermöglichen kann, 
mitzufahren.“ 

„Was in aller Welt meinst du damit ?** fragte ich. 

„Weist du, um die Wahrheit zu sagen, habe ich Schulden zu be¬ 
zahlen und nicht genug Geld.“ 

„Aber ich werde dir mehr geben“, rief ich, „wieviel brauchst du, 
um ins Reine zu kommen?“ 

„Ich glaube noch einmal fünfzig — das wird genügen. Du bist 
wirklich zu gut.“ 



7 » 


Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 


„Ich werde sie dir morgen früh mitbringen.** 

„Bitte in Scheinen und in französischem Geld, wenn es dir recht 
ist. Es fällt mir ein, daß ich es brauchen werde, um ein paar Kleinig¬ 
keiten gleich zu bezahlen, und die Zeit ist knapp.** 

Ich dachte nicht weiter über die Angelegenheit nach. Aber am 
nächsten Tage beim Mittagessen gab ich ihm die Summe in fran¬ 
zösischem Papiergeld. Und an demselben Abend sagte ich zu ihm: 

„Du weißt doch, daß wir morgen Abend abreisen; hoffentlich bist 
du fertig? Ich habe Billets für den ,Train de Luxe* besorgt.** 

„Ach, es tut mir zu leid!** rief er, „ich werde nicht fertig.“ 

„Was soll denn das nun?** fragte ich. 

„Nun, es handelt sich um Geld. Es sind noch ein paar Schulden 
hinzugekommen.“ 

„Weshalb bist du mir gegenüber nicht offen und sagst mir, wie¬ 
viel du schuldig bist? Ich werde dir einen Scheck über das Ganze 
geben; denn ich möchte dich nicht im einzelnen mühselig danach 
ausfragen. Nenne mir eine Summe, die dich von allen Verbindlich¬ 
keiten befreit, und ich gebe sie dir. Ich will, daß du ein ganz glück¬ 
liches halbes Jahr verlebst, und wie kannst du das, wenn dir deine 
Schulden Sorgen machen?“ 

„Wie gütig du zu mir bist. Ist das wirklich dein Emst?“ 

„Aber selbstverständlich.** 

„Wirklich?** sagte er. 

„Gewiß**, antwortete ich, „sage mir, wieviel es ist“ 

„Ich denke, ich glaube .... noch einmal fünfzig, wäre das wohl 
zu viel?* 

„Ich werde sie dir morgen geben. Ist das auch ganz bestimmt 
genug?“ 

,Ach ja, Frank; aber laß’ uns erst Sonntag fahren. Der Sonntag 
ist ein so guter Reisetag, da ist’s überall so langweilig, daß wir ihn 
ebenso gut im Eisenbahnzuge verbringen können. Außerdem reist in 
Frankreich kein Mensch am Sonntag, da werden wir es uns ganz 
sicher in unserem Zuge bequem machen können. Geht’s nicht Sonn¬ 
tag, Frank?“ 

„Natürlich geht’s“, erwiderte ich lachend, aber nach ein bis zwei 
Tagen war er wieder ganz verlegen und erzählte mir wieder, es handele 
sich um Geld. Und dann gestand er mir, er habe zuerst befürchtet, 
ich würde nicht seine gesamten Schulden bezahlen, wenn ich die ganze 
Summe gewußt hätte. Wenn ich sie aber nach und nach von ihm 



79 


Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 

erfahren würde, konnte er wenigstens mit Sicherheit auf etwas rechnen. 
Dieses klägliche und beklagenswerte Geständnis wirkte um seinet¬ 
willen niederdrückend auf mich. Es bewies, daß er Übung in solchen 
kleinlichen Winkelzügen und allzu wenig Stolz besaß. Selbstverständ¬ 
lich wurde meine Bewunderung für seine Vorzüge dadurch nicht ver¬ 
ringert und mein Entschluß nicht erschüttert, ihm alle Möglichkeiten 
zu bieten. Wenn er gerettet werden konnte, so war ich dazu be¬ 
stimmt, ihn zu retten. 

Wir trafen uns am Sonntag Abend auf dem Bahnhof „Gare de 
Lyon*. Wie ich bemerkte, hatte er im Wartesaal gespeist, denn leere 
Flaschen in erstaunlich großer Zahl standen auf dem Tisch. Er schien 
furchtbar niedergedrückt zu sein. 

„Ich habe mit jemand, — mit einem Freunde gespeist, Frank“, führte 
er als Erklärung an. 

„Weshalb ist er nicht hier geblieben? Ich hätte ihn gern kennen 
gelernt.“ 

„Ach, du hättest dir nichts aus ihm gemacht, Frank“, erwiderte er. 

Ich setzte mich zu ihm, und wir tranken eine Tasse Kaffee, während 
wir auf den Zug warteten. Seine Stimmung war düster und jämmer¬ 
lich, und er sprach tatsächlich kaum ein Wort. Ich konnte mir das 
nicht erklären. Von Zeit zu Zeit seufzte er tief, und ich bemerkte, 
daß seine Augen rot waren, als ob er geweint hätte. 

„Was ist dir?“ fragte ich. 

„Vielleicht werde ich’s dir später erzählen. Es ist sehr schwer; — 
Abschiednehmen — das ist wie sterben,“ und seine Augen füllten sich 
mit Tränen. 

Bald saßen wir im Zuge, der ins Dunkel hinausrollte. Ich war so 
froh gestimmt, wie es nur sein konnte, in dem Gedanken, daß ich 
nun von der journalistischen Tätigkeit befreit war und nach dem Süden 
fuhr, um mein Buch über Shakespeare zu schreiben, und daß Oscar 
auch arbeiten würde, wenn die Verhältnisse erfreulich waren. Aber 
ich konnte ihm kein Lächeln abgewinnen; er saß niedergeschlagen da 
und seufzte von Zeit zu Zeit wie verzweifelt. 

„Was ist dir denn, um alles in der Welt?“ rief ich. „Nun fährst du 
dem Sonnenschein, dem blauen Himmel und dem weinfarbenen Mittel¬ 
ländischen Meere entgegen und bist doch nicht zufrieden. In einem 
Hotel dicht bei einem kleinen, sonnendurchglühten Tale, das bis zum 
Meer hinabführt, werden wir wohnen. Vom Hotel aus schreitest du 
über einen Teppich aus Fichtennadeln, und wenn du aufs freie Feld 



80 Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 

kommst, blühen Veilchen und Anemonen um deine Schritte, und du 
wirst den Duft von Rosmarin und Myrthen einatmen. Aber anstatt 
vor Freude zu singen, läßt der Vogel die Flügel hängen und senkt 
den Kopf, als hätte er den ,Pips‘.“ 

„Ach nicht doch“, rief er, „nicht doch“, und er sah mich mit 
tränenerftillten Augen an. Du weißt nicht Frank, was eine große 
romantische Leidenschaft ist“. 

„Das ist es, was dich quält?“ 

„Ja, eine große romantische Leidenschaft.“ 

„Gerechter Gott!“ sagte ich lachend, „wer hat dich denn zu dieser 
neuen Anbetung begeistert?“ 

„Du darfst dich nicht über mich lustig machen, sonst erzähle ich 
dir nichts; wenn du mir aber zuhörst, will ich versuchen, dir alles 
zu erzählen, denn ich glaube, du mußt es erfahren. Und außerdem 
glaube ich, daß es meinen Schmerz mildert, wenn ich’s erzähle. 
Komm’ also und höre mir zu. 

Entsinnst du dich, daß du mir einmal im Sommer aus Calais 
telegraphiert hast, dich im Restaurant Maire zu erwarten, um nach¬ 
her ins Antoine-Theater zu gehen, und daß ich mich sehr verspätete? 
Du entsinnst dich doch, — an dem Abend speiste Rostand am Neben¬ 
tisch. Nun, also an diesem Abend ist’s geschehen. Ich fuhr pünkt¬ 
lich ins Restaurant und stieg gerade aus der Viktoria, als ein kleiner 
Soldat vorüberging und unsere Blicke sich trafen. Mir stockte das 
Herz; er hatte große dunkle Augen und ein köstliches Gesicht von 
olivenfarbenem Kolorit — eine Florentiner Bronze, Frank, von Meister¬ 
hand geschaffen. Er sah aus wie Napoleon als er Konsul wurde — 
nur weniger herrisch und viel schöner . . . 

Wie hypnotisiert stieg ich aus und folgte ihm wie im Traum 
den Boulevard hinunter. Ich entsinne mich, daß der ,cocher‘ mir 
nachlief. So gab ich ihm ein Fünffrankenstück und winkte i hm, zu 
gehen. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich ihm schuldig war; 
ich wollte nur seine Stimme nicht hören, sie hätte den Zauber 
brechen können. Stumm folgte ich meinem Schicksal. Nach kurzer 
Zeit holte ich ihn ein und forderte ihn auf, ein Glas mit mir zu 
trinken. Und in seiner wunderlichen französischen Art antwortete 
er mir: 

„Ce n’cst pas de refus!“ 

Wir gingen in ein Kaffeehaus, ich bestellte etwas, — * ich habe 
vergessen, was es war — und wir fingen an, zu plaudern. Ich sagte 



Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 81 

ihm, daß mir sein Gesicht gefiele; ich habe einmal einen Freund 
gehabt, der ihm ähnlich sah. Nun wollte ich alles Ober sein Leben 
wissen. Ich hatte Eile, meine Verabredung mit dir innezuhalten, aber 
vorher mußte ich mit ihm Freundschaft schließen. Er erzählte mir 
zuerst alles über seine Mutter, ja Frank, über seine Mutter.“ Hier 
mußte Oscar wider Willen lächeln. 

„Aber schließlich brachte ich in Erfahrung, daß er jeden Donners¬ 
tag frei war und sich dann sehr freuen würde, mich zu sehen, ob¬ 
wohl er nicht wußte, weshalb ich an ihm Gefallen finden könnte. Ich 
hörte heraus, daß ein Zweirad sein sehnlichster Wunsch auf der Welt 
war; er sprach da von vernickelten Lenkstangen und Ketten — und 
endlich sagte ich ihm, daß sich das wohl machen ließe. Er war mir 
sehr dankbar, und so verabredeten wir ein Zusammensein am nächsten 
Donnerstag, und dann ging ich schleunigst, um mit dir zu speisen“. 

„Du meine Güte! 1 * rief ich lachend, „ein Soldat, ein vernickeltes 
Zweirad und eine große romantische Leidenschaft!" 

„Wenn ich von einer Brosche, einer Halskette oder irgendeinem 
anderen Schmuckstück gesprochen hätte, so würdest du es ganz natür¬ 
lich finden.“ 

„Gewiß,“ gab ich zu, „aber ich glaube nicht, daß ich die Hals¬ 
kette gleich am ersten Abend angebracht hätte, wenn an der Sache 
etwas Romantisches war, und das vernickelte Zweirad kommt mir 
unwiderstehlich komisch vor.“ 

„Frank“, rief er vorwurfsvoll, „ich kann nicht mit dir reden, wenn 
du lachst; mir ist es ganz ernst Ich glaube nicht, daß du weißt, 
was eine große romantische Leidenschaft ist; ich werde dich davon 
überzeugen, daß du nicht weißt, was das bedeutet.“ 

„Nur zu“, erwiderte ich, „ich bin ja hier, um mich überzeugen 
zu lassen. Aber ich glaube, du wirst mich nicht lehren können, daß 
es überhaupt etwas Romantisches gibt, wenn es sich nicht um das 
andere Geschlecht handelt.“ 

„Sprich mir nicht von dem anderen Geschlecht“, rief er, und 
seine Stimme und Gebärde drückten Widerwillen aus. „Vor allem ist 
vom Schönheitsstandpunkt aus ein Knabe nicht mit einem Mädchen zu 
vergleichen. Denk' nur an die ungeheuerlichen dicken Hüften, die 
jeder Bildhauer mildem und leichter formen muß und an die großen, 
schwer* hängenden Brüste, die der Künstler klein, rund und fest nach¬ 
bilden muß und stell’ dir dann die köstlichen schlanken Linien eines 
Knabenkörpers vor. Kein Mensch, der die Schönheit liebt, kann 

6 



8 z 


Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 

einen Augenblick im Zweifel sein. Das wußten die Griechen; sie 
hatten Verständnis Üttr plastische Schönheit und sahen ein, daß es da 
keinen Vergleich gibt.“ 

„Das darfst du nicht sagen“, erwiderte ich. „Du gehst zu weit 
Die Venus von Milo ist rein als Schönheit betrachtet, so vollendet 
wie irgend eine Apollo-Gestalt; die milden, weichen Rundungen 
sagen mir mehr als deine hageren Linien.“ 

„Das kann wohl sein, Frank“, gab er zurfick, „aber du mußt ein- 
sehen, daß der Knabe sehr viel schöner ist Dein Geschlechtstrieb, 
dein sündiger Geschlechtstrieb ist es, der dich hindert, die höhere 
Schönheitsform zu verehren. Eine hohe Gestalt und lange Glieder 
verleihen Vornehmheit, und Schlankheit verleiht Anmut. Die Frauen 
sind gedrungen gebaut Du mußt zugeben, daß der Knabenkörper 
schöner und der Eindruck, den er erweckt, edler und geistiger ist“ 

„Eins ist so gut wie das andere“, grollte ich. „Dein Bildhauer 
weiß, daß es genau so schwer ist, einen idealen Mädchenkörper als 
einen idealen Knabenkörper zu finden. Und wenn er an dem aller¬ 
vollendetsten Mädchenkörper etwas modeln muß, so muß er das auch 
an dem allervollendetsten Knabenkörper tun. Wenn er die Brüste und 
Hüften des Mädchens verfeinert, so muß er auch die Rippen des 
Knaben abrunden und die großen spitzen Kniescheiben und die un¬ 
schönen breiten Knöchel mildem. Aber bitte sprich weiter. Deine 
Sophisterei macht mir Spaß, und deine romantische Leidenschaft inter¬ 
essiert mich, obwohl du bis jetzt noch nicht zur Romantik gekommen 
bist, geschweige denn zur Leidenschaft.“ 

„Ach Frank,“ rief er, „die Geschichte ist ganz romantisch, jedes 
Zusammensein wurde mir zum Erlebnis. Du hast keine Ahnung, wie 
klug er ist; jedesmal, wenn wir einen Abend zusammen verbrachten, 
zeigte er sich von einer anderen Seite. Er war gereifter und ent¬ 
wickelter geworden. Ich borgte ihm Bücher, die er las, und sein 
Geist entfaltete sich wie eine Blume von Woche zu Woche, bis er 
nach kurzer Zeit, — nach ein paar Monaten, ein vorzüglicher Gefährte 
und Schüler war. Kein Mädchen reift so schnell, Frank, sie haben 
keinen Geist, und ihre ganze Klugheit verwenden sie ftir elende Eitel¬ 
keiten und persönliche Eifersüchteleien. Mit ihnen ist eine geistige 
Kameradschaft unmöglich. Sie wollen von Kleidern und nicht von 
Ideen sprechen, sie wollen darüber reden, wie die Leute aussehen 
und nicht, was sie sind. Wie kannst du die Blume der Romantik 
ohne Verbrüderung der Seelen pflücken?“ 





Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 

„Ich finde eine Verschwisterung der Seelen unendlich schöner,“ 
sagte ich, „aber sprich weiter.“ 

„Ich werde dich überzeugen,“ erklärte er, „ich muß das fertig 
bringen, denn alles Recht ist auf meiner Seite. Ich möchte dir ein 
Beispiel erzählen. Selbstverständlich erhielt mein Knabe sein Zweirad; 
er pflegte es zu benutzen, wenn er zu mir kam und fuhr auch nach 
der Kaserne hin und zurück. Als du nun im September nach Paris 
kamst, ludest du mich eines Abends zum Essen ein, — gerade an einem 
Donnerstag Abend, als er mich besuchen sollte. Ich sagte ihm, daß 
ich ausgehen müßte, um mit dir zu speisen, und er machte keine Ein¬ 
wendungen. Er freute sich, als er hörte, daß ich mit einem englischen 
Redakteur befreundet war, und daß ich mit jemand über London und 
über meine früheren Bekannten plaudern konnte. Hätte es sich um 
eine Frau gehandelt, die ich liebte, so hätte ich sie belügen müssen, 
denn sie wäre auf meine Vergangenheit eifersüchtig gewesen. Ihm 
sagte ich die Wahrheit, und als ich von dir sprach, zeigte er großes 
Interesse und wurde ganz aufgeregt, und schließlich trug er mir 
einen Wunsch vor. Er wollte wissen, ob er hinkommen, sein Zwei¬ 
rad draußen stehen lassen und ins Fenster des Restaurants gucken 
dürfte, nur um uns bei Tisch zu sehen. Ich sagte ihm, daß mög¬ 
licherweise auch Frauen eingeladen wären. Er aber erwiderte, daß 
er mich so gern im Gesellschaftsanzug mit Herren und Damen plau¬ 
dern sehen würde. 

Und er blieb dabei: „ob er hinkommen dürfte?“ 

Selbstverständlich sagte ich ja, und er kam hin, aber ich habe ihn 
nicht gesehen. 

„Als wir das nächste Mal zusammenkamen, erzählte er mir die ganze 
Geschichte, daß er dich nach meiner Beschreibung herausgefunden, 
daß er Bauer an seiner Ähnlichkeit mit dem älteren Dumas erkannt 
hatte, und daß er von allem ganz entzückt gewesen war. 

„Glaubst du, Frank, daß irgendein Mädchen hingekommen wäre, 
um zuzusehen, wie du dir mit anderen Leuten die Zeit vertreibst, 
daß irgendein Mädchen durchs Fenster gestarrt und sich gefreut hätte, 
wenn du dich im Restaurant mit anderen Männern und Frauen 
amüsierst? Du weißt, daß kein Mädchen auf Erden einer so selbst¬ 
losen Hingebung fähig ist. Ich sage dir, es gibt keinen Vergleich 
zwischen dem Knaben und dem Mädchen. Und ich wiederhole noch 
einmal mit voller Überlegung, du weißt nicht, was eine große roman¬ 
tische Leidenschaft oder die edle Selbstlosigkeit wahrer Liebe ist.“ 



84 Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 

„Du hast das mit außerordentlicher Geschicklichkeit zum Ausdruck 
gebracht“, sagte ich, „was ich dir natürlich zugetraut habe. Ich glaube, 
ich kann den Reiz solcher Kameradschaft begreifen, aber nur vom 
Standpunkt des jungen Mannes, nicht von deinem Standpunkt aus. 
Ich kann begreifen, daß du ihm einen neuen Himmel und eine neue 
Erde erschlossen hast, was aber hat er dir gegeben? Nichts. Anderer¬ 
seits hätte jedes feinbegabte Mädchen dir etwas gegeben. Hättest du 
wirklich ihr Herz bewegt, so würdest du bei ihr eine gewisse 
instinktmäßige Zärtlichkeit, irgendeinen Beweis selbstloser, edler Hin¬ 
gebung bemerkt haben, so daß dir im Gefühl deiner Minderwertig¬ 
keit die Augen übergegangen wären. 

„Letzten Endes ist es der Kernpunkt der Liebe, der edelste Sinn 
jener Kameradschaft von der du sprichst, — der Verschwisterung der 
Seelen, daß dieses andere Wesen auch dich anregt, auch dir neue Hori¬ 
zonte erschließt und neue Möglichkeiten entschleiert. Wie konnte denn 
dein Soldatenjüngling dich auf irgendeine Weise fordern? Er bot dir 
keine neuen Ideen und Gefühle und konnte dir keine neuen Gedanken 
offenbaren. Bei einem solchen Verhältnis kann ich keine Romantik, 
keine seelische Entfaltung entdecken. Aber das Mädchen ist in jeder 
Weise anders geartet als der Mann. Du hast von ihr ebensoviel zu 
lernen, wie sie von dir, und keiner von euch kann auf irgendeine 
andere Weise zur idealen Entfaltung gelangen. Ihr seid die beiden 
Hälften der Menschheit, — die gegenseitige Ergänzung, ihr braucht ein¬ 
ander.“ 

„Du hast das sehr schlau zum Ausdruck gebracht, Frank, was ich 
auch — um dir dein Kompliment zurückzugeben — von dir nicht anders 
erwartet habe. Aber du mußt zugeben, daß du jedenfalls bei dem Knaben 
keine Eifersucht, keine kleinlichen Neidgefühle, keine törichten Nich¬ 
tigkeiten findest. Das ist’s ja eben, Frank, mancher Mensch kann die 
„Katzen“ nicht leiden. Ich habe Gründe ftir meine Abneigung, die 
für mich entscheidend sind.“ 

„Der Knabe, der um ein Zweirad bittet, ist wohl schwerlich von 
kleinlichen Neidgefühlen frei“, erwiderte ich. „Nun hast du von Ro¬ 
mantik und Kameradschaft gesprochen,“ fuhr ich fort, „aber kannst 
du wirklich Leidenschaft empfinden?“ 

„Was für eine törichte Frage, Frank! Entsinnst du dich, daß So¬ 
krates sagt, er fühle es, wenn die Chlamys auseinandergeweht werde 
und Charmides* Glieder enthülle? Entsinnst du dich, daß das Blut in 
seinen Adern loderte, und daß er vor Begierde mit Blindheit ge- 



Frank Harris, Erinnerungen an Oscar Wilde 85 

schlagen war, — eine Szene, die dämonischer wirkt, als Sapphos leiden¬ 
schaftliche Liebeslieder? 

Keine andere Leidenschaft kann mit dieser verglichen werden. Die 
Leidenschaft der Frau ist erniedrigend. Sie verlockt dich unablässig. 
Sie braucht deine Begierde zur Befriedigung ihrer Eitelkeit mehr als 
irgend etwas anderes, und ihre Eitelkeit ist unersättlich, wenn ihre 
Begierde weniger stark ist. Und so verlockt sie dich unablässig bis zum 
Übermaß, und schilt dich dann um deines körperlichen Überdrusses 
und Ekels willen, die sie selbst hervorgerufen hat. Bei einem Knaben 
ist keine Eitelkeit im Spiel, daher gibt es keine Lockungen und zehn¬ 
mal weniger Unsittlichkeit. Folglich bleibt das Verlangen stets rege 
und stark. Ach, glaube mir, Frank, du weißt nicht, was eine große 
romantische Leidenschaft ist.** 

„Was du sagst, beweist nur, wie wenig du die Frauen kennst“, 
erwiderte ich. „Wenn du das alles einem Mädchen auseinandersetztest, 
das du liebst, würde sie es sofort einsehen, und ihre Zärtlichkeit würde 
mit ihrer Selbstverleugnung größer werden. Wir alle werden größer, 
wenn wir schenken. Eine Frau hat mehr Sinn für Liebkosungen und 
Freundlichkeiten, weil sie eben mehr Zärtlichkeit empfindet und inni¬ 
gerer Hingebung fähig ist.“ 

„Frank, du weißt nicht, worüber du sprichst“, gab er zurück. Du 
wiederholst die alten beglaubigten Gemeinplätze. Der Knabe begleitete 
mich also gestern abend zum Bahnhof und wußte, daß ich sechs Monate 
fortbleiben würde. Sein Herz war schwer wie Blei; er konnte den 
Tränen nicht gebieten, die unablässig seine Augen füllten, und doch be¬ 
mühte er sich um meinetwillen heiter und fröhlich zu sein. Er wollte mir 
zeigen, wie er sich freute, daß ich eine glückliche Zeit verleben sollte, 
wie dankbar er ftir alles war, was ich ihm angetan und für das neue 
geistige Leben, daß ich in ihm wachgerufen hatte. Er tat sein Mög¬ 
lichstes, um meine Stimmung zu heben. Ich weinte, er aber unter¬ 
drückte seine Tränen. ,Sechs Monate gehen schnell vorüber*, sagte 
er ,und vielleicht kommst du zu mir zurück, und dann kann ich wieder 
froh werden.* Inzwischen wird er mir gewiß reizende Briefe schreiben.“ 

Würde irgendein Mädchen so Abschied nehmen? Nein; sie wäre 
eifersüchtig und neidisch, sie würde wissen wollen, weshalb du dir 
im Süden die Zeit vertreibst, während sie dazu verurteilt ist, im 
regnerischen, kalten Norden zu leben. Würde sie dich etwa bitten, ihr 
von allen schönen Mädchen zu erzählen, die du kennen gelernt hast, 
ob sie lieb und fröhlich waren, — wie der Knabe mich gebeten hat. 



86 Arthur E/oesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 

ihm von allen interessanten Leuten zu erzählen, die ich kennen lernen 
werde, damit auch er sich für sie interessieren kann! Ein Mädchen 
wäre an seiner Stelle vor Neid, vor Bosheit und Eifersucht vergangen. 
Ich wiederhole es noch einmal. Du weißt nicht, was eine edle, 
romantische Leidenschaft ist.“ 

„Deine Argumente sind unlogisch“, rief ich, „ein Mädchen ist eifer¬ 
süchtig, weil sie sich restloser hingegeben hat: ihre Ausschließlich¬ 
keit ist die Kehrseite ihrer Hingebung und Zärtlichkeit. Sie will alles 
für dich tun, bei dir sein und dir in jeder Weise zur Seite stehen. 
Und wenn du erkrankst, verarmst oder in Gefahr kommst, würdest 
du sehen, wieviel mehr sie dir zu bieten hat, als dein Soldat mit 
seinen roten Hosen.“ 

„Das ist nur eine plumpe Anzüglichkeit, Frank, aber kein Argument.“ 

„Ein ebenso gutes Argument wie deine Katzen,“ erwiderte ich. 
„Über deinen kleinen Soldatenjüngling mit seinem vernickelten Zwei¬ 
rad kann ich nur lächeln.“ Und ich lachte wirklich. 

„Du benimmst dich unverzeihlich“, rief er, „unverzeihlich, — und in 
deinem Herzen weißt du, daß die ganze Wucht der Argumente für 
mich spricht. In deinem Herzen mußt du es wissen. Wodurch wird 
die Leidenschaft genährt? Durch die Schönheit, — durch die Schönheit 
allein und allezeit, und bei der Formenschönheit und Lebenskraft gibt 
es keinen Vergleich. Wenn du die Schönheit so innig liebtest wie 
ich, würdest du ebenso empfinden wie ich. Die Schönheit ist es, die 
mir Freude beschert, die mich berauscht wie Wein, die mich vor un¬ 
ersättlichem Verlangen mit Blindheit schlägt.“ 

(Ins Deutsche übertragen von Tony Noah) 


GERHART HAUPTMANNS „ANNA“ 

von 

ARTHUR ELOESSER 

A m 15. November feiert Gerhart Hauptmann seinen 60 . Geburts- 
. tag, und wir freuen uns auf diesen Tag, nicht weil die Haupt¬ 
stadt seiner auseinandergerissenen Heimat ihn einer Festwoche aussetzen 
wird, nicht weil ihn noch einige Fakultäten zu ihrem Ehrendoktor 
und alle literarischen Gesellschaften Deutschlands zu ihrem Ehrenmitglied 




Arthur Eloesser, Gerbart Hauptmanns „Anna“ 87 

ernennen werden. Wir freuen uns vielmehr auf das Geburtstags¬ 
geschenk, das der Dichter uns machen wird, auf das große Epos „Tyll 
Eulenspiegel“, das dem Weltkrieg mit derselben Bedeutung und Würde 
zu folgen verspricht, wie unser großer tragischer Roman der „Simpli- 
zissimus“ aus den Schmerzen des Dreißigjährigen Krieges als der nun 
letzte Überlebende geboren wurde. Die deutsche Seele wird ihr Trost¬ 
gedicht haben. Ger hart Hauptmann war nicht Epimenides, er hat 
den Krieg nicht verschlafen. Selbst wenn wir von dem neuen tra¬ 
gischen Narren nichts wüßten, der dem alten Bruder im Narrenkleide 
die Hand reicht, es wäre unnütz zu fragen, ob Hauptmann während der 
Jahre der apokalyptischen Heimsuchung bei seinem Volke stand. Wo 
sollte er anders gewesen sein, der Dichter des Mitleids, der Erniedrigten 
und Beleidigten, der wie kein anderer aus unserer Erde genommen 
ist! Und wo haben wir denn andere Heimat, andere Geborgenheit 
als in unseren Schaffenden, und wo anders finden wir die neuen alten 
Lebenskräfte, die unterirdischen unter allem Menschenwerk, zu denen 
Zerstörung und Zerstörtheit nicht hinabreicht. Wir müssen es Haupt- 
man danken, daß er tiefer lebend, tiefer leidend als irgendeiner von 
uns sein Herz zusammengehalten, daß er den Krieg überstanden und 
sich uns für die Zeit der Läuterung, für die Zeit einer neuen Be¬ 
stimmung und geschichtlichen Würde aufbewahrt hat. 

Der Dichter ist kein Sprachrohr und nicht einmal ein Herold; ge¬ 
rade wenn er von heute und von immer ist, beliebt es ihm zu ant¬ 
worten, wann es ihn drängt, auch wenn unsere bange Frage Jahrzehnte 
warten müßte. In Wahrheit wissen wir nie, wo der Dichter steht — 
das bringen die Biographen erst nachher in Ordnung — aber wir 
können uns darauf verlassen, daß er immer richtig steht. Selbst wenn 
wir von Gerhart Hauptmanns großem Kriegsgedicht nichts wüßten, 
brauchten wir gar nicht zu zweifeln, daß für ihn, der nie vom Er¬ 
lernten und Gedachten, der immer von seinem Eigensten und Nächsten, 
Blut und Nerven gelebt hat, das Geschick seines Volkes nun zu seiner 
größeren Biographie, zu seinem weiteren Leibe geworden ist mit der 
Fähigkeit aller Schmerzen, aber auch mit der glückhaften Fähigkeit 
jeder Gesundung. In seiner großen Wiener Rede hat uns Hauptmann 
zu Füßen des Berges der Läuterung gestellt, den wir nun ohne alle 
schillernde Wehr mit der Tapferkeit des Herzens und in froher De¬ 
mut zu erklimmen haben. Aber Hauptmann ist kein Dante, kein 
Hasser über alle Gräber hinaus und kein Höllenrichter, der dem alten 
Hades das Richtschwert abnimmt. Hauptmann ist gütig wie die Erde 



88 Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 

selbst, im Tiefsten froh und sogar mutwillig wie ein Gebirgsflüßchen 
seiner Heimat, das die Wiesen grün, das die Mühlen und Spindeln 
geschäftig macht, und er hat nie anders als aus Liebe geschaffen. Wie 
wir Oberhaupt vor einem Völkergericht, wenn es ein echtes gäbe, 
uns damit ausweisen könnten, daß die wahrhaft deutschen Dichter 
immer die wahrhaften Friedensbringer gewesen sind. Auf Eros und 
Neikos, auf Liebe und Haß hat der griechische Mythos die Entstehung 
der Welt gegründet. Hauptmann ist der Dichter des Eros, wenn je 
einer war, ein Priester vom Mysteriumskult der Zeugungskraft, der 
unbefleckbaren Empfängnis, und so hat er uns unvermutet und über¬ 
raschend, bevor sein tragischer Narr die deutsche Seele aus dem In¬ 
ferno ins Purgatorio hineinläutet, mit einem ländlichen Liebesgedicht 
beschenkt, das uns vor allem seiner und das wäre auch unserer Ge¬ 
sundheit versichert Sagen wir ruhig eine Weihnachtsgabe vor dem 
Geburtstagsgeschenk und eine große Freude, die uns um manche Geißel 
allzu betriebsamer Büßfertigkeit und Zerknirschung aus selbstschände- 
rischen Händen entwaffnen wird. 

Auch Hauptmann hat den Virgil angerufen, aber den friedliebenden 
Sänger der „Bucolica“, der den wieder trächtigen Acker, den wieder 
grünenden Wald und das schönste Jahr pries. Seine „Anna“ (S. Fischer 
Verlag, Berlin) nennt sich ein ländliches Liebesgedicht und wurde in 
Hexametern geschrieben. Das in antiker Form besungene Land ist 
aber Schlesien, und sein Sohn empfing die Weihe von der Nymphe 
des Salzbrunnischen oder, wie es hier heißt des Salzbomischen Brunn¬ 
quells — er war eins mit der Flut des Kastalischen Quells des Par- 
nassos. Hauptmann hat sein ländliches Liebesgedicht aus dem Eigensten 
und Nächsten seines Lebens, seiner Jugend geschöpft, die er sich ein 
fast Sechziger noch einmal zurückeroberte. Wir wissen aus seiner 
Lebensgeschichte, wie er noch ganz ungewiß gegen seine Berufung 
bei Onkel und Tante Schubert auf ihrer Besitzung im Striegauer Kreise 
als Stoppelhopser diente, wie er von dem pietistischen Paare, das wir 
auch Vockerath nennen, bestimmt wurde, ihm den früh gestorbenen 
Sohn Erwin zu ersetzen; der ihn, den Unentschiedenen, den Langsamen, 
von der eigenen Jugend Bedrückten, schon im Leben verdunkelt hatte 
— durch die Fülle äußeren Reizes und innerer Gaben. Es ist die Ge¬ 
schichte von den Berufenen und von den Auserwählten, die sich ge¬ 
wöhnlich erst am Ende aufklärt, und wir wissen auch, daß der junge 
Hauptmann in diesen Lehrjahren trotz aller christlichen Liebe unter 



Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 89 

dem stummen Vorwurf von vier Augen gelitten hat: warum gerade 
er? warum nicht du? 

In dieser ländlichen Besitzung, die nun statt Lederose schöner Rosen 
heißt, ist der junge Gerhart, der nun nicht schöner Luz heißt, noch 
einmal eingekehrt; er besucht Onkel und Tante „Schwarzkopp“, jetzt 
aber ein anderer Kerl als der zweifelhafte Stoppelhopser, ein angehender 
Dichter mit dem kühnen Kalabreser über dem Saffiangelock, das bis 
auf die Schulter herabfällt; und er hat auch schon das erste Manu¬ 
skript, sein Hermannslied, seine Rechtfertigung, seine Unsterblichkeit 
in der Tasche. Die bedrückende Stromdd hat er abgeschüttelt nach 
der erniedrigenden Schulzeit, die ihm das Rückgrat lädierte, die ihm 
die Wahrhaftigkeit und den Freimut nahm. „Welch unendliches Glück, 
rief er aus, ist die Freiheit des Geistes." Nicht nur ein schlesischer, 
ein jungdeutscher Apollo klopft bei den biederen Landleuten an; auch 
ein Weiser, ein Tapferer, ein Lebenskenner in allen Lebenslagen läßt 
sich zu den einfachen Menschen herab, um seine Freiheit, wo er ein¬ 
mal Knecht war, nun doppelt zu schätzen, um mit der egoistischen 
Wehmut des Überlebenden, des Geretteten, ihren Schmerz und ihre 
Trauer mitzugenießen. Und nun kommt Anna, und nun — hebt den 
Liebesgesang, ihr Musen, den Liebesgesang an! 

Anna ist als Elevin in die Dachkammer ihres Vorgängers eingezogen, 
von einer hermhutischen Familie da abgegeben worden, und eine feind¬ 
selige, spannungsvolle Atmosphäre geht um sie her, als ob viel an 
ihr zu retten und noch mehr über sie zu schweigen wäre. Meister¬ 
haft und nach dem besten ältesten Kunstwissen verteilt Hauptmann 
die schicksalhafte Begegnung. Luz sieht sie zuerst ganz als Bild wie 
eine Gudrun mit dem Korbe am Arm, die dem Geflügel sein Futter 
hinstreut. Von der zweiten Begegnung erfahren wir überhaupt erst 
nachträglich aus einer nächtlichen Unterredung Luzens mit seinem 
Schlafgenossen, dem merkwürdigen Onkel Just, dem alten Säufer und 
Zyniker, den Oberamtmanns das wievielte Mal schon zu seiner Ret¬ 
tung und Besserung in ihr christliches Haus gelagert haben. Und $0 
geht es in kleinen unwillkürlichen Schritten weiter — Lessing hätte 
da für seinen Laokoon noch ein paar klassische Beispiele gefunden — 
bis zum ersten Alleinsein, bis zum Kuß auf die Stirn, bis zur ersten 
gemeinsamen Träne und bis zu den Stelldicheins im Garten und Wald, 
die von einer wachsamen, heimlichen, boshaften Vorsehung immer 
unterbrochen oder vereitelt werden. 

Das Erlebnis ist von Luz, nicht von Anna aus gesehen, die wir 



90 Arthur E/oesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 

selten fOr uns allein haben, so daß immer Geheimnis um sie bleibt. 
Was Luz aus dem Schweigen um sie erahnt, aus dem Geraune zu¬ 
sammensetzt und auch durch die Wände erlauscht, das letzte Wort 
von dem allen haben wir wohl schon vor ihm heraus. Anna ist wirk¬ 
lich nicht, wie sie sein sollte; ihre Schönheit hat schon einen Gym¬ 
nasiasten das Leben gekostet, und mit ihrer Schönheit hat Onkel Just, 
der räudige Zyniker, der wieder Stellungslose und durch die Säufer¬ 
liste Ausgezeichnete, nicht erfolglos gebuhlt. Und dieser schöne Vampyr 
bleibt dennoch Gudrun, nicht nur für uns, sondern auch für Luz, 
den Lebenskenner in allen Lebenslagen. Der Dichter hat das Mädchen 
nicht auf einmal beschrieben — seine Kunst macht wirklich einen 
neuen Laokoon nötig — er nennt zuerst die märchenhaft schillernden 
die Opalaugen, dann setzt er das Näschen, das so spröde und rein 
im reinen Oval des Gesichts steht, und schließlich zieht er die Strenge 
des Mundes darunter, aber doch den Mund eines saugenden Kindes. 
Doch vor allem sind es die abgearbeiteten Hände, die Luz den Apol¬ 
linischen erschüttern, Heiligtümer und Wundmale aller Erniedrigung. 
Gudrun hat sechs kleine Geschwister aufgefüttert; sie ist die gefähr¬ 
liche Schönheit, die Mißtrauen, Ablehnung, Vorwurf aller guten Christen 
wie von selbst umzischen; sie ist die stolze, spröde, einsame Seele, mit 
aller Schmach buhlend, die ihr angetan werden soll. Luzens Liebe 
befiehlt ihr, daß sie rein sei, und der Weise, der Dichter Gerhart 
Hauptmann gibt seinem Schwärmen Recht aus einem tieferen Wissen, 
obgleich er die eigene Jugend mit ironischer Güte ganz außer sich 
selbst gestellt hat. Wer liebt, wird Schöpfer und Geschöpf zugleich, 
und es gibt in der ganzen Weltliteratur wohl kaum ein höheres Lied 
der Liebe, das diese Wiedergeburt, dieses Wiederaufwachen, dieses 
Augenaufschlagen zu einer neuen jungen heiligen Welt vollständiger, 
ergreifender, brausender aus tiefen Urelementen gesungen hätte. — 

Anna, erbarme dich mein! Auf Erden nicht und nicht im Himmel 
warst du je so geliebt. Und bliebst du in ewiger Jugend 
und erlebtest das tausendjährige Reich Jesu Christi, 
nie mehr wirst du, kein zweites Mal, solche Liebe erwecken. 

Sprich ein Ja, wenn ich frage: du Heilige, darf ich dich lieben? 
Dieses Ja, dieses kleine Ja nur, es tilgt von der Erde 
alles Leid, allen Gram, alle Ängste und Nöte und Mühsal 
und die goldene Zeit, die noch jeder vergeblich herbeirief, 
sie ist da. Und ich sage noch mehr: dieses winzige Jawort 



Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna <( 


91 


tilgt, vernichtet mit einem Schlag die von Sünde verderbte 
Erde, zaubert hervor das verlorene Eden, auf daß wir, 
wie dereinst, uns darin und glückselig und sündlos ergötzen. 


Brot bist du mir und Wein, bist Luft mir, bist Sonne und alles. 

Sieh, ich bebe, ich bin eiskalt, und mir perlt auf der Stirne 
etwas, was mir beinah wie Schweiß eines Sterbenden vorkommt. 
Rühr mich an, und ich bin gesund, ja, und lag ich im Sarge, 
tot, und sprächst du zu mir: Geliebter! und nur eine Träne 
tropfte brennend auf mich herunter, nicht würd ich mehr tot sein. 

Man ließe sich leicht hinreißen, das ganze Gedicht zu zitieren, das 
so erschütternd wie beruhigend, das nicht wegen seiner Hexameter son¬ 
dern wegen seiner inneren Vollkommenheit und tadellosen Bildung 
klassisch genannt werden muß, und das uns einen feinen Rausch läßt 
von dem echten Nektar der Unsterblichkeit - Unsere Liebenden werden 
wieder in Hexametern sprechen und sie werden von einem Sechzig¬ 
jährigen das Vertrauen zu der großen Passion wieder lernen und die 
Ehrfurcht vor Eros dem Allsieger in Streit Le coeur n’a pas de plis, 
sagt ein in seiner entzückenden Banalität so gültiges französisches 
Sprichwort. Aber wie hoch sich auch Luz verschwärmt, die Staats¬ 
treppe des Pathetischen ersteigt sein Dichter doch nicht, der im Gegen¬ 
teil jeden Augenblick die Stufe vom Erhabenen zum Lächerlichen 
herunterzuspringen vermag, wie er sie ebenso sicher wieder herauffindet. 
Uber die Liebe, die wir Deutsche immer ein wenig allgemein und 
im Vertrauen auf ihren mystischen Nimbus hinnehmen, ist selten so 
substanziell gehandelt worden, und sie hat sich selten so rein und 
rund, so sehr als episches Geschehnis oder sagen wir ruhig als Helden- p 
gedieht dargestellt. Hauptmann bemüht die Psychologie nie für sich 
in lauernder Beobachtung, er holt die Seele nicht aus dem Leibe her- 
heraus, er läßt beide hübsch zusammen in ihrer sinnlich - über¬ 
sinnlichen Undurchdringlichkeit. Hauptmann kann nie als Gehirn¬ 
mensch aus seinem warm zeugenden Klima, aus der lieblichen Vege¬ 
tation seines Gemüts heraustreten und mit der Natur hat er sich ja 
immer einverstanden gezeigt. Wie Luz erst durch Neugier zu Anna 
gezogen, durch Mitleid gekuppelt wird, wie er sich fühlt im ersten 
Bewußtsein seiner Manneskraft, wie er gleich einem Hirsch durch das 
Gutshaus röhrt, damit alle die bangen Christen merken, daß er furcht¬ 
los, voll hoffender Kraft und auch sonst ganz ein Mann war — wie 



92 Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 

der stflrmische Frühling zum Sommer wird, durch den liebeszornige 
Hummeln ihren Baß brummein, durch den Finken geigen, Pirole 
schmettern, und wie dieses ungeheure Naturkonzert aus Tonen, Farben, 
Düften doch ein süßes Schweigen nicht ersticken kann, das ftuchtbar 
und schläfrig im Licht liegt: das ist Kapital, wie der Sänger von 
„Hermann und Dorothea“, nun der vorletzte Homeride, zu sagen pflegte. 

Hebt, ihr sikelischen Musen, den Sang, den Liebesgesang an! 
Aber man soll diese vierundzwanzig Gesänge nicht etwa für ein einziges 
kiebesduett halten. Bukolika und Georgica! Die Musen singen auch 
die tägliche Arbeit des Landmanns, die unbarmherzige Fron, die ihm 
die Natur feindlich macht. Hauptmann kennt diese Kette zu gut, um 
ein Schäfergedicht zu bebändern, und seine Musen’ halten sich nicht 
einmal vor dem Jauchefaß die klassischen Nasen zu. Wir werden mit 
dem Gütchen Rosen befreundet, wir wohnen uns in Tante Juliens 
Zimmer ein, wo die fromme Christin für den Herrn Jesus sang, und 
wo keines inbrünstigen Tones Helligkeit das graue Gespenst der Trauer 
um den Sohn zerreißen soll, den der Herr Jesus zu sich genommen 
hat. Und hinter diesem alten Pietistenpaare, das die Anna und den 
Onkel Just und überhaupt alle armen Seelen retten will, brummelt 
die ganze Herrnhutische Brüdergemeine und von ihr kommt endlich 
auch das Schicksal mit den breitwandelnden, den langschäftigen Männern, 
denen der Herr den Glauben so fest und die Kuh so fett macht Und 
der Bruder Tobler, nachdem Vater und Mutter und Onkel und Tante 
Nächte lang mit ihr gebrummelt haben, wird dann Gudrun mit sich 
nehmen, damit sie ihm das Bett warm hält und seinen sechs früh ver¬ 
waisten Kindern die Nase putzt. So wie es ihm der Herr im Traume 
eingegeben hat. 

Hauptmanns Musen halten sich auch vor dem moralischen Jauche¬ 
faß die klassischen Nasen nicht zu. Es ist ein besonderes Meisterstück, 
wie ihr Dichter den Onkel Just, den Säufer, den Zyniker, den Weiber¬ 
kenner wachsam und tätig im Hintergründe hält, wie er hinter der 
Tragödie der großen Passion mit groteskem Schattenhusch noch ein 
erschütterndes Satyrspiel aufführt Onkel Just, die Schande der Fa¬ 
milie, an der bisher jedes Gebet und auch die Säuferliste versagt hat, 
ist wieder einmal verschwunden. Onkel Oberamtmann und Neffe Luz 
suchen nach ihm in der Familienkutsche auf allen Landstraßen und in 
allen Wirtshäusern, bis die Pferde mitten auf der Straße vor irgend¬ 
einem Klumpen scheuen, „’s wird halt a Mensch sein“, meint der 



Arthur Ehester, Gerhart Hauptmanns „Anna“ 9 $ 

erfahrene Kutscher. Und es ist auch ein Mensch oder wenigstens etwas 
Ähnliches. 

Schnarchend lag er, ein atmender Tod, in dem eigen Gespeie, 

Qberkrochen und rings umsummt von Dungkäfern und Fliegen. 

Mühsam lud man ihn auf, diesen einen der Sieger, 

den sich Eros gekrönt... 

So endet Luzens Liebe oder vielmehr so endet sie nicht; denn da der 
langschäftige Bruder Tobler die ihm verhandelte Braut nach Gottes 
Willen mit sich führt, begreift Luz wohl, daß sie sich ihm versagt 
hat, weil sie ihn liebte. Warum Eros’ Ratschlüsse als die eines Gottes 
besonders unerforschlich sind, das wird er im Leben noch lernen. 
Aber er hat geliebt, er wird ein Liebender bleiben, er hat einmal mit 
Ehrfurcht, mit Reinheit die große Stunde der mystischen Weihung 
erwartet und das Leben, das wir vom Weibe zweimal empfangen, hat 
für ihn mit Anna angefangen. Hauptmanns Liebesgedicht ist naiv und 
nicht sentimentalisch, um nach Schiller zu unterscheiden. So sehr der 
Dichter in Anna Wendland verliebt ist, und er verführt uns alle mit, 
so jugendlich er mit Luz schwärmt und leidet, er hat ihm keine Tra¬ 
gödie gegeben, und er hat keinen neuen Werther zu seinem Grabe, 
nicht einmal zu dem seiner Illusionen geleitet. Das Leben hat sich ihm 
aufgetan, und es wird ihm so tief, so groß, $0 fruchtbar werden, wie 
ein Erwachter es erfühlen und erfassen kann. Es braust nicht nur 
Mut durch dieses Gedicht, es lächelt auch Übermut hindurch eines 
Überlebenden, eines Geretteten, den sich die Götter nach allen Bäng- 
lichkeiten der Jugend statt eines Erwin doch schließlich auserwählt 
hatten. Und sie wußten warum, nicht zuletzt der Eros, der dem Apoll 
die goldene Leier stahl. Hundertmal hat ihm der Kuckuck gerufen, 
dem Gerhart oder dem Luz; es ist eine Lieblingserinnerung von 
Hauptmann — und es schien nicht zuviel ihm. Auch ein großes Lachen 
gebt durch das Buch, und Hauptmann handelt so liebenswürdig wie 
künstlerisch weise, da er die anderen zuerst über ihn lachen läßt. 
Sag’ doch. Lieber, sprach heut Onkel Schwarzkopp über dem Schachbrett, 
als er eben die dritte Partie an den Neffen verloren, 
sag’ doch, bitte, wie stehst du denn eigentlich jetzt mit der Dichtkunst? 
Gut gelaunt kam die Frage heraus. Schwarzkopp liebte das Necken. 
Und es lachte der Onkel, es lachte der Neffe, es lachte 
selbst die Tante kurz auf, die am Stickrahmen saß. Es war Abend, 
Schlafenszeit, und es gaukelten rings um die brennende Lampe 
Falter, trunken vom Licht, das ihnen die Flügel verbrannte. 



94 


Arthur Eloesser, Gerhart Hauptmanns „ Anna“ 


Dieses ländliche Liebesgedicht würzt eine kraftspendende Freude am 
Leben, die wir heute nicht schlecht brauchen können. Das Leben 
macht den Vers, aber der Vers erweckt wiederum Leben, und der 
Dichter schafft Menschen nach seinem Vorbilde, zu leiden und zu 
weinen, zu genießen und sich zu freuen. Die heutige oder die gestrige 
literarische Jugend haspelte sich die Seele aus dem Leibe und sie ex¬ 
perimentierte wie im Halbdunkel einer spiritistischen Sitzung; aus dem 
schlafenden Leibe des Mediums schossen Protuberanzen, die einige als 
optische Täuschungen, andere als Taschenspielereien und wieder andere 
als gallertartige Masse zu erklären suchten. Hauptmanns Gedicht ver¬ 
trägt Luft und Sonne, es ist aus Luft und Sonne zusammengewachsen 
und aus der warmen Ackerkrume, den drei alten Elementen für die 
ehrwürdige Form des Epos, zu dem es neue Rezepte nicht zu geben 
scheint. Durch vierzig Jahre aufgespeicherte Wärme und ein Ausatmen 
in langen glücklichen Stößen! Wer in Hexametern schreibt, kann so 
ganz schlesisch nicht mehr sein, wie er seine traulich geschwätzigen 
Landsleute im Drama reden ließ. 

Et nunc omnis ager, nunc omnis parturit arbos, nunc frondent 
silvae, nunc formossimus annus. 

Der dies Bukolikon aus einer zweiten Jugend seiner ersten wid¬ 
mete — die Jahre der Reife schließen den Ring — der hatte in¬ 
zwischen seinen „Griechischen Frühling“ erlebt. Wir wissen, daß 
Gerhart Hauptmann sich nichts geschenkt hat von dem Leid der letz¬ 
ten Jahre, das uns allen zuerteilt war, und wir werden das bald in 
seinem großen Gedichte von der deutschen Seele, der die Welt immer 
zu eng bleibt, bestätigt finden. Hauptmann war immer ein Roi des 
gueux, christlicher Beistand der Armen, aber es lag ihm nicht daran, 
das Leben um der Gleichheit willen für sie arm zu machen. Wer 
richtig gibt, wird immer reicher, weil er Freude gibt. Menschen 
lernten wir kennen und Nationen — so laßt uns unser eigenes Herz 
kennend, uns dessen erfreun. Was auch heute von Menschheitsaposteln 
deklamiert werden mag, Hauptmann ist der eigentliche Friedens¬ 
bringer, er hat das Herz, darin wir wohnen, er gibt aus seiner Brust 
das warme Blut, das Leben schafft und erhöht. Natur und Geist — 
so spricht man nicht zu Christen. Hier ist alles in einem; Gerhart 
Hauptmann ist unser allerheidnischster, unser allerchristlichster Dichter. 



VERTRUSTUNG 

von 

ALFONS GOLDSCHMIDT 

D ie demokratische Kartellverfassung, das Stadium der vorgespiegelten 
Atemfreiheit innerhalb loser Bindungen, war in den Haupt¬ 
industrieländern schon lange vor dem Kriege grundsätzlich beendet 
Zwar hörte die Kartellbildung nicht auf. Im Gegenteil: die Kultur¬ 
industrien wurden durchkartelliert, aber es waren .keine eigentlichen 
Kartelle mehr. Der Kampf der sogenannten „freien“ Wirtschaftskräfte 
wurde in den Kartellen und mit Hilfe der Kartelle weitergeführt. 
Es war der Kampf um die Minderung des kapitalistischen Risikos, 
der Kampf gegen das Sinken der Profitrate, der Kampf um die Sta¬ 
bilisierung der Gewinne, um die rentenmäßige Gestaltung des kapita¬ 
listischen Nutzens. Die Kartelle haben diesen Kampf immer mehr zu¬ 
gunsten der Großen entschieden. Schließlich durchbrachen die Großen 
die Kartellmauern, sie griffen über die Mauern hinweg und holten 
produktionsverwandte Betriebe unter ihre Gewalt Damit war die 
Periode der horizontalen Industriezusammenfassung zwar nicht abge¬ 
schlossen, aber die Kraft dieser Zusammenfassung wurde fortwährend 
geringer. Die großen Unternehmungen erkannten die Kartellpolitik 
nur noch insoweit an, als sie ihrem Machtdrang nach außen diente. 
Der Kampf der Werke im Kohlensyndikat, im Stahlwerksverband, im 
Roheisenverband usw. ging zwar direkt um die Vorherrschaft in diesen 
Verbänden, aber darüber hinaus um die Benutzung dieser Verbände 
zur Expansion. Die Vertrustung hatte begonnen. Zunächst entstanden 
in Deutschland sogenannte gemischte Werke, verhältnismäßig kleine 
Gebilde, die die Zusammenfassung vom Rohprodukt bis zum letzten 
Fertigfabrikat einer Produktionslinie anstrebten. 

Eine Rentensicherheit, eine Stabilisierung der Gewinne, gelang je¬ 
doch nicht. Die Ballung bedeutete wachsende Produktion, steigende 
geldwirtschaftliche Belastung, Minderung der Kaufkraft des Innen¬ 
marktes. Auch die Trustunternehmungen wurden von Überproduktions¬ 
krisen geschüttelt, die Gewinnausfallsgefahr war keineswegs beseitigt. 
Es fehlte die Absatzsicherheit, das Absatzgebiet war zu eng. Es war 
also notwendig, das Absatzgebiet zu erweitern. Deshalb wurde die 
deutsche Großindustrie imperialistisch. Der Kampf um Vorherrschaft 
und Rentensicherheit wurde auf dem Weltmärkte weitergeführt. Nun¬ 
mehr waren die Kartelle nicht allein Förderer des Binnenmarktstreites, 



S>6 Alfons Goldschmidt, Vertrustung 

sie wurden auch, und immer mehr, zur Unterstützung des Großindustrie¬ 
imperialismus benutzt. Die KampfFormate auf dem Weltmärkte waren 
andere, Kampfgrund und Kampfziel blieben die gleichen. Die Gro߬ 
industrie drang in den Weltmarkt als Vorposten der gesamten Landes¬ 
industrie. Jetzt ging der Kampf um die Vorherrschaft einer oder 
mehrerer Nationalwirtschaften. Hierbei bediente man sich ebenfalls 
jener demokratischen Verfassung, des Kartells. Aber das Kartell im 
Weltausmaße war noch viel loser als das Kartell im Ausmaße einer 
Nation. Es war von vornherein brüchig, es wurde bald nach Ent¬ 
stehung durchstoßen. Es zeigte sich, daß die imperialistischen Kräfte 
viel zu explosiv, zu dehnungskräftig waren, als daß sie den Kartell¬ 
rahmen auch nur einige Jahre ertragen hätten. Kennzeichnend ist die 
Entwickelung des Internationalen Schienenkartells oder des Trans¬ 
atlantischen Pools. Im Innern befeuerten die trustartigen Großunter¬ 
nehmungen die ihnen untergebenen Kartelle zur Expansion. Die 
Schleuderkonkurrenz auf dem Weltmärkte begann. Um das Risiko 
abzuschwächen, wurden die Binnenpreise geschraubt. Dadurch wurde 
die Konsumkraft des Binnenmarktes noch tiefer gedrückt. Von Zeit 
zu Zeit entstanden Doppelkrisen, wenn nämlich der Weltmarkt über¬ 
schluckt war. Dann saß die Industrie auf den für den Binnenmarkt 
und für den Weltmarkt bestimmten Beständen. Die Krise verschärfte 
sich ungeheuer, denn nunmehr standen Doppelläger der Kaufunlust 
des Weltmarktes und des Binnenmarktes gegenüber. 

Anstatt das Risiko zu mindern, beziehungsweise den rentenmäßigen 
Gewinn zu sichern, erhöhte diese Entwickelung die Lasten und die 
Gelähr. Indem sie die Vertrustung, das heißt den Prozeß der An¬ 
gliederung und des Aufkaufens beschleunigte, vermehrte sie schnell 
die geldwirtschaftliche Beschwerung der Produktion. Dieser Prozeß 
war in allen Industriekulturländern wesentlich derselbe. Die Formen, 
die Erscheinungen waren je nach dem Gesetz und nach den beson¬ 
deren Bedingungen verschieden, aber der ökonomische Trieb, die Ur¬ 
sachen, das Ziel waren nicht unterschiedlich. Die Ableitung der Gefahr 
auf die kolonialen Märkte geschah zu langsam. Infolgedessen wurden 
die Krisen gewaltiger, und die Erlangung der Vorherrschaft zwecks 
Stabilisierung des Gewinnes auf dem bisherigen Wege der friedlichen 
Weltmarktkonkurrenz wurde unsicherer. 

Schließlich mußte der ökonomische Kampf gegen das Risiko sich 
politisch auswirken. Deutlicher als je zuvor war die offizielle Politik 



97 


Alfons Goldschmidt, Vertrustung 

der Prokurist des Kapitals. Ein Akkord kam nicht zustande. Jene Kar¬ 
telle im Weltausmaße waren Akkordversuche gewesen, aber sie waren, 
wir sahen es, mißglückt Unter solchen Umständen konnte die Diplo¬ 
matie den Krieg nicht verhindern. Sie hätte ihn vielleicht hinauszu- 
zögem vermocht. Gelang es ihr jedoch nicht, die Kräfte, der sie diente, 
zu einem Gesamtgeschäft zu einer Gesamtfirma, mit Produktions- und 
Absatzabteilung, zu vereinigen, so mußte der Krieg ausbrechen. 

Logisch konnte dieser Krieg nichts anderes sein, als die Fortsetzung 
des Kampfes um die Rente, um die Abwendung des unerhörten Risikos, 
der Gefahr eines katastrophalen Sinkens der Profitrate. Der kapitals¬ 
imperialistische Kriegsdrang wurde schon ipo8 sehr deutlich, als das 
deutsche und angloamerikanische Kapital im Patentstreit gegeneinander 
platzten. Einige Jahre später zeigte sich dieser Drang nackt in Ma¬ 
rokko und in Kiew auf dem allrussischen Exportkongreß. Es hätte 
nur eine Möglichkeit gegeben, diesem Drang die Zähne auszubrechen: 
die Erhebung des internationalen Proletariats gegen ihn. Aber die 
Erhebung unterblieb. Infolgedessen wurde mit den Waffen um die 
Vorherrschaft auf dem Weltmarkt gestritten. Es bildeten sich zwei 
große gegeneinander abgeschlossene Konzerne, die während der Front¬ 
kämpfe und unter Ausnutzung dieser Kämpfe jene Vereinigung an¬ 
strebten, die das internationale Kartell nicht hatte erreichen können. 
Jeder Konzern, die Entente sowohl wie die Mittelmächte, mühte sich 
um eine ökonomische Gegenseitigkeit innerhalb seiner Grenzen zwecks 
Stärkung der Schlagkraft gegen den Unterliegenden, zwecks Vorbereitung 
des Weltmarktmonopols. Die Großkapitale arbeiteten netzmäßig. Bei¬ 
spielsweise un$l insbesondere die Großbanken und die Großbankkon¬ 
zerne. Durch Zwischenhandelskammern, durch Filialmassengründungen, 
durch Darleihungen, durch Interessengemeinschaften wurde der Zu¬ 
sammenschluß der Nationalwirtschaften auf beiden Seiten versucht. 
Entente und Mittelmächte waren nichts anderes als wafienumstarrte 
Gesamtfirmen, deren Expansionsdrang, das heißt deren Politik im Kriege 
dieselbe blieb wie vor dem Kriege. Es war eine Niederringungspoütik, 
nach Osten gerichtet. 

Da der Akkord nicht zustandegekommen war, sollte der Zwang 
ihn ersetzen. Mit anderen Worten: jeder Konzern strebte durch Kampf 
und Interessenverquickung die Hereinholung des unterworfenen Kon¬ 
zerns in den Geschäftsbezirk an. 

Es ging nun nicht mehr um eine Weltmarktvereinbarung, sondern 
um das Weltmarktmonopol. Im nationalen Kartell hatten die Großen 

7 



9 8 Alfons Goldschmidt, Vertrustung 

die Kleinen und Mittleren niedergerungen. Sie hatten die sogenannte 
demokratische Verfassung des Kartells ihren Zwecken unterworfen. 
Die Kleinen und Mittleren mußten die von der demokratischen Ver¬ 
fassung garantierte Atemfreiheit aufgeben; sie mußten dem Monopol¬ 
drang der Großen dienen. Sie wurden an die Wand konkurriert. 
Der Krieg war nichts anderes als ein blutiger Gang nach einer solchen 
„Vereinigung“. 

Bei Kriegsende war Deutschland zunächst auf die Innenkonzentration 
beschränkt. Die Weltmarktexpansion kam zunächst für die deutsche 
Industrie nicht mehr in Betracht. Aber die Innenkonzentration wurde 
gerade durch den Kriegsmißerfolg beschleunigt Insbesondere konnte 
nunmehr die deutsche Montangroßindustrie ihre Vertrustungspolitik 
viel intensiver und in viel rascherem Tempo als bisher betreiben. Sie 
brauchte Materialergänzungen, Lieferungssicherungen. Sie brauchte die 
Zusammenballung gegen den ungeheuren Druck von außen, gegen 
eine Erschütterungsgefahr, die weit größer war als die Erschütterungs¬ 
gefahr vor dem Kriege. Wenn sie, in ihrer Abgeschlossenheit, die 
Profitrate stabilisieren wollte, so mußte sie eine Einheit werden. Der 
Binnenkampf mußte möglichst abgeschwächt werden. 

Der Zusammenschluß wurde erleichtert durch die Mittel, die der 
Großindustrie von den bisher feindlichen Kapitalen zur Verfügung ge¬ 
stellt wurden. Die Wegreißung wichtiger Industriebezirke, die Ab¬ 
gliederung großer Werke geschah ja nicht ohne Entschädigung. Die 
deutsche Großindustrie erhielt ungeheure Mittel und konnte damit den 
Zusammenschluß beschleunigen. Sie zwang, während sie eine Anzahl 
produktionsbestimmender Zentraluntemehmungen verschweißte, schwä¬ 
chere Betriebe in ihre Gewalt. Was in der Vorkriegskartellzeit erst 
anfänglich war, gedieh nun rasch. Die Trusts wuchsen und strebten 
sichtlich zu einem Gesamttrust hin. Hauptanziehungsgewalt war Stinnes. 
Augenblicklich ist der Stinnestrust der breiteste, der Trust mit der 
stärksten magnetischen Kraft. Gegen ihn oder mit ihm: die deutsche 
Industrie wird immer abhängiger von ihm, formiert sich um ihn, ent¬ 
wickelt sich zum Gesamttrust. 

Die deutsche Industrievertrustung hat, mit dem Endziel der Renten¬ 
mäßigkeit des Gewinnes, der Ausschaltung des Risikos, zwei Haupt¬ 
motive: die Beendigung der Konkurrenz im Innern und durch sie die 
Ermöglichung, die von außen aufgezwungene Last zu tragen. Dabei 
nimmt sie zwar eine Kampfstellung gegen den „inneren Feind“, das 



Alfons Goldschmidt, Vertrustung 99 

Proletariat ein, aber mit dem „äußeren Feind“, mit der Entente, sucht 
sie zu paktieren. Mit anderen Worten: sie sucht durch die Aus¬ 
schaltung der Konkurrenz im Innern, durch die Gesamtvertrustung, 
das Proletariat unter eine Gewalt zu disziplinieren, um im Einverständ¬ 
nis mit dem Großgläubiger die Kriegslasten zu erledigen. Die Entente 
unterstützt sowohl die Disziplinierung des deutschen Proletariats wie 
auch das Bestreben der Industrie, die Abgeltung der Kriegslasten ge¬ 
schäftsmäßig zu formulieren. Sie hat zwar die Möglichkeit des Zwanges 
auf Grund des Versailler Vertrages, aber sie verhandelt um die Aus¬ 
übung des Zwanges. Es entsteht mit Hilfe des Zwanges ein Akkord, 
an dem beide Teile mit ihrem Leben interessiert sind. 

Wir sahen: der Krieg war der blutige Austrag des Kampfes um 
das Weltmarktmonopol. Wir sahen ferner: das Weltmarktmonopol 
ist die Stabilisierung des kapitalistischen Gewinnes. Sie war nicht 
möglich auf dem Wege der demokratischen Vereinbarung, des Kartells, 
der losen Bindung. Sie soll jetzt ermöglicht werden durch die er¬ 
zwungene Vereinbarung. Das Resultat des Krieges soll die von der 
Entente geforderte und vom deutschen Kapital akzeptierte Rentenfest¬ 
setzung und Ausschaltung des Risikos sein. Auf diese Weise will man 
die Weltmarktkonkurrenz, den alten Weltmarktkampf, erledigen und 
dem internationalen Kapital Gewinnsicherheit verschaffen. 

Wie immer bei Sanierungen, wird der Akkord durch die große 
Schuld beschleunigt. Was das Kapital im Frieden nicht erreichen konnte, 
dazu wird es von den Riesenforderungen gepeitscht. Die unerhörte 
Last drückt die alten Konkurrenten in die Verhandlungen; sie zwingt 
sie zum Akkord. Das Risiko ist ins Fabelhafte geschnellt, und die 
Minderungsnotwendigkeit ist entsprechend drängender geworden. Der 
Kriegsraubbau hat ein Vakuum gelassen, in das die Preise hineinschießen, 
in dem sie torkeln. Es ist keine Ausgleichung von Geld und Produktion 
bis auf den einigermaßen stabilen Vorkriegsmehrwert vorhanden. Die 
Wirtschaftsunsicherheit ist enorm, der Mehrwertsbedarf ist um den 
Kriegsausfall gewachsen. Die Kaufkraft der Millionen vermag die Leere 
nicht auszufüllen. Infolgedessen entsteht in allen kulturindustriellen 
Ländern Arbeitslosigkeit, das heißt neuer Produktions- und Absatz¬ 
verlust oder erweitertes Vakuum. Nie zuvor war die Profitrate so 
schwankend, die Kalkulation so unsicher wie jetzt Die Reproduktion 
des Kapitals ist offenbar wesentlich gestört. Dagegen sucht das Kapital 
mit nationaler und internationaler Vertrustung zu kämpfen. Denn wie 



ioo Alfons Goldschmidt, Vertrustung 

alle Binnenvertrustung Sanierungsversuch ist, so auch die Vertrustung im 
Weltmarktausmaße. Hier ist ein Gesetz, das bisher nur geahnt wurde, 
dessen Ergründung und Aufzeigung aber bald geschehen wird. Man 
wird dann den Selbstmord des Kapitals erkennen. Hier sind Gefahren 
und Vernichtungssicherheiten, die das Entsetzen wecken. Von diesem 
Gesetz aus wird man die Unproduktivität, den Verschwendungsjammer, 
die furchtbare Behinderung der kapitalistischen Produktion sehen. Es 
ist das Gesetz der Vertrustungsagiotage, das heißt der zwangs¬ 
weisen, gebundenen Vernichtung immer größerer Teile der lebendigen 
Wirtschaft, des Proletariats. Es ist das Gesetz des Kräfteabbaus und 
keineswegs, wie bisher geglaubt wurde, der automatischen Entwicklung 
nach einem besseren Reich. 

Wenn das internationale Kapital in Versailles, in Wiesbaden, in Ober¬ 
schlesien den zwischenkapitalistischen Akkord versuchte, so wehrte es 
sich damit gegen den Zusammenbruch der Rechnungsgrundlage. Es 
beginnt, sich weltmarktmäßig zu organisieren, um seine Existenz gegen 
die Instinkte der lebendigen Wirtschaftskraft zu verteidigen. Mit 
anderen Worten: die durch den Krieg verursachte kapitalistische Welt¬ 
wirtschaft will das Proletariat durch Zentralisation disziplinieren, um 
jenen renten mäßigen Charakter des Gewinnes auch während seines 
Sterbeprozesses zu sichern. Aller Kampf gegen das Aufsteilen und Ab¬ 
schießen der Valuten, das Hochjagen und Purzeln der Güterpreise, gegen 
die Entsetzlichkeit des Vakuums, ist ein Streben zum Welttrust. 

Es ist gleichgültig, auf welchem Objekte sich der Akkord vollzieht. 
Nicht gleichgültig ist es, wenn man die Entwicklung national sieht. 
Wenn man sie international sieht, ist es nur eine buchmäßige Zu¬ 
sammenlegung und Verrechnung der Forderungen und Schulden. Daran 
würde kein neuer Krieg, keine neue Grenzverschiebung etwas ändern. 
Ob der Akkord auf dem Objekt Deutschland oder auf einem anderen 
Objekt versucht wird, ist kein Unterschied. 

Wunderbar fast ist die ungeheure Beschleunigung durch die Kriegs¬ 
lastenpeitsche. Vor wenigen Jahren noch sich mit der nationalen An¬ 
fangsvertrustung quälend, hat das Kapital nicht nur seine Vertrustung 
im Ausmaße Europas begonnen, es schickte sich schon an, in Washington 
einen Weltmarkt-Akkord zu schließen. Es kann, getrieben von dem 
Gesetz des steigenden Risikos, den Trustakkord nicht vermeiden. Es 
braucht nicht nur die Geld- und Kreditvereinbarung, es braucht auch 
die Produktions- und Absatzdemarkation. Washington ist der Anfang 
der Einteilung der Welt. 



IOI 


Alfons Goldschmidt, Vertrustung 

Aber die Akkordbasis, die Vertrustungsbasis, ist noch zu schmal. 
Das Kapital kann jenes Vakuum nicht ausftillen, die Absatz- und Wäh¬ 
rungskrise nicht Überwinden, wenn ihm nur der bei Kriegsende vor¬ 
handene Weltmarkt zur Verfügung steht. Es ist das Gesetz des Kapitals, 
daß es seinen Selbstmord auf immer breiterer Basis zu verlangsamen 
sucht. Das ist der Sinn der Kolonisierungspolitik, des kapitalistischen 
Imperialismus. Das Kapital überspült immer neue Ausbeutungsgebiete, 
es ist gezwungen, die Kaufkraft der ganzen Welt zu lähmen. Es will 
und muß teuer liefern und billig kaufen. Dadurch verschärft es seinen 
Konfliktsstoff, aber es kann nicht anders. 

Deshalb sind Versailles, Wiesbaden, Oberschlesien, Washington nicht 
nur Akkordetappen, sondern auch Etappen zur Front gegen Rußland. 
Die Verlängerung der kapitalistischen Weltwirtschaft ist nicht möglich 
ohne die Ausbeutung Sowjetrußlands. Die Forderungen an Sowjet¬ 
rußland sind nicht verschwunden, sie lasten weiter auf dem Weltkapital. 
Das riesige Absatzgebiet von Ostsibirien bis nach Polen ist dem Kapital 
unentbehrlich. Ob mit Waffen oder ohne Waffen, das internationale 
Kapital wird versuchen, seinen Akkord auf Vertrustungsbasis durch Ein¬ 
beziehung Sowjetrußlands zu verbreitern. Rußland ist nur ein Koloni¬ 
sierungsobjekt, augenblicklich aber dem Kapital das wichtigste. 

Ob dieser Kampf des akkordierenden, internationalen Kapitals gegen 
Sowjetrußland mit einem Erfolg des Kapitals enden wird, läßt sich 
jetzt noch nicht sagen. Bleibt Sowjetrußland, das heißt: gelingt es 
ihm, die Produktion in ein sozialistisches Schnelltempo zu bringen, 
so wird der Konkurrenzdruck von Osten ungeheuer. Wrd Rußland 
vom Kapital belegt, so ist das Kapital, der unerhörten Verzinsungs¬ 
notwendigkeit wegen, gezwungen, die russische Produktion ins Un¬ 
geheure zu steigern. Ob ohne, ob mit kapitalistischer Herrschaft: die 
russische Produktion ist der Todfeind des internationalen Kapitals. 
Nirgends zeigt sich das Gesetz so deutlich wie hier: je umfassender, 
disziplinierender, formell geschlossener die Vertrustung ist, um so furcht¬ 
barer ist der Raubbau, den das Kapital begeht. Die Vertrustung schaltet 
den Wettbewerb nicht aus; sie konzentriert und vereinfacht ihn nur 
zu entsetzlichen Dimensionen. Schließlich muß doch die Produktion, 
da das Kapital ihr den Markt nicht verschaffen kann, die Geldlast 
Uberspülen. 

Inzwischen wären heftige und vielleicht entscheidende kapitals-impe- 
rialistische Konflikte unvermeidbar. Der Kampf um den Weltmarkt 



lOZ 


Junius, Politische Chronik 


würde dann von Großgruppen ausgefochten werden, die viel riesen¬ 
hafter und ökonomisch eindeutiger wären xals die Gruppen Entente 
und Mittelmächte. Es wäre trotz Akkord, trotz Vertrustung noch 
einmal ein Krieg um das Monopol. Es ginge um die östlichen 
Kolonien, vom Rhein über Rußland und Indien bis an die letzten 
Kolonialküsten. Eine kapitalistische Weltwirtschaft ist nicht denkbar 
als friedliche Weltwirtschaft; auch die Großgruppe, die den letzten 
Krieg gewinnen würde, müßte sterben. Schon deutet sich die Gro߬ 
gruppenbildung an. Deutlich wird sie an den Hegemoniegelüsten des 
französischen Kapitals, die vorläufig über Deutschland, Polen, den Balkan 
und die Ukraine nach Odessa zielen, deutlicher noch an der englisch¬ 
amerikanischen Ausschaltungspolitik in Washington. 

Die sowjetrussische Revolution ist, weltökonomisch gesehen, der 
Versuch, von Osten die internationale Geldlast, die entsetzliche inter¬ 
nationale Mehrwertsnotwendigkeit, das furchtbare Vakuum zu be¬ 
seitigen, und an die Stelle eines sich abbauenden kapitalistischen Trusts 
eine rationelle sozialistische Weltproduktion und Weltgüterverteilung zu 
setzen. 


POLITISCHE CHRONIK 


von 

JUNIUS* 

i 

D ie Feststellung: der Bankrott der Staatsfinanzen und, in weiterer 
Folge, der Staatshoheit sei unsre einzige Gemeinsamkeit, er allein 
halte uns zusammen, er allein treibe zur Bildung einer Art allnationaler, 
überparteilicher Einheitsfront in Regierung, Parlamenten und Öffent¬ 
licher Meinung, ist gar nicht witzig oder paradox und enthält nicht 
die Spur einer rhetorischen Übertreibung. Sie registriert genau den 
Zustand, der den nach Jahre langer Abwesenheit zum Dienst in die 
und an der Heimat zurückkehrenden Chronisten empfängt. Sie sagt 
aus, daß wir seit Jahr und Tag, genauer: seit der Revolution, von 


* der seit Februar 1919 geschwiegen hat und mit diesem Hefte seine 
Chronistentätigkeit an dieser Stelle wieder aufnimmt. 



jfunius, Politische Chronik 


IO} 

einer Negation leben, — während wir die große Zeit vorher von dem 
scheinbar positiven Durchhalteprinzip lebten. Setzt sich dieser Zustand 
noch lange fort, so bedeutet das den nationalen Tod, den Untergang. 

Unsere seitherigen Regierungen waren politische und kulturelle Zwitter. 
Die sie bildenden Parteien verkörperten mit ihrem innersten Wesen, 
soweit sie Welt- und Klassenanschauungen vertraten, polare Gegensätze. 
Über Staat, Wirtschaft, Eigentum, kollektive ökonomische Verpflich¬ 
tungen, Schule, Rechtsformen dachten (und denken) sie verschieden; 
die Volksgeschichte lasen (und lesen) sie verschieden; was sie an¬ 
einander kittet, war (und ist) vielmehr physischer und materieller Zwang; 
ist die feindliche Gewaltmaschine; ist die dem Volksganzen aufgebürdete 
Vertragslast, der sich kein Teil entziehen darf; sind endlich die un¬ 
auflösbare Gewöhnung an Einen Wirtschaftskörper und die Imponde¬ 
rabilien der Sprache und Sitte, die sogar die schärfsten Klassengegen¬ 
sätze überbrücken helfen. An diesem Wall zerbrachen bisher alle Separa¬ 
tismen, auch die der Stämme und Länder, nachdem das von Bismarck 
so gepriesene dynastische Band abgefallen war. Das sind lauter Nega¬ 
tionen; sie sind es, die bisher uns das karge Leben fristen ließen. Die 
Willensträger der deutschen Demokratie, des neuen deutschen Staats¬ 
gedankens dienen ihm in Scharen mit bösen zentrifugalen Gesinnungen. Es 
ist so: der Bankrott der Staatsfinanzen, die Furcht der Privatwirtschafter, 
unter seinem Schutt begraben zu werden, das den deutschen Ordnungs¬ 
menschen schreckende Beispiel des sowjetistischen Paradieses kitten uns 
zusammen. In den gemeinschaftlichen Nenner geht Ideales, das die ganze 
Volksgemeinschaft begeistert bejaht, nicht ein. Die Parteitage der so¬ 
genannten Mittelparteien in Görlitz, Bremen, Stuttgart geben darüber 
Auskunft. Sie ist nicht erhebend. 

Ich weiß wohl und übersehe nicht: wesentliche Teile unserer Souve¬ 
ränität sind nach außen abgewandert; der Versailler Vertrag hat sie in 
Obersten Räten,Botschafterkonferenzen,Wiedergutmachungs-undGarantie- 
kommissionen lokalisiert. Allein schon das uns entzogene Recht, die 
Meistbegünstigung nach unserem Wirtschaftsbedürfhis zu gewähren oder 
zu versagen, raubt uns, bei dem lecken Zustand der weltwirtschaft¬ 
lichen Solidarität und dem Totenschlaf des Freihandelsprinzips, die jedem 
Zwergstaat in die Hand gedrückte Vergeltungswaffe, — während das in 
Washington residierende Imperium eben die für China und den eigenen 
kapitalistischen Betätigungsdrang in Anspruch genommene Offene Tür 
mit der Weihe der sittlichen Forderung umkleidet. Die Gnade einer 
bevorrechteten, durch Blutprobe und Ahnenforschung belegten Vater- 



jfunius, Politische Chronik 


104 

landsliebe ist wahrlich nicht notig, diesen Zusammenhang zu erkennen 
und zu begreifen, daß unser ,freier Wille* noch lange unter den Drucke 
von Ultimaten und drohender Exekution stehen wird. Die Technik 
dieses Vorgangs ist uns vertraut, sie macht uns vor jeder neuen Fähig¬ 
keit beben. Vom Vertrage her empfing der neue Staatswille seine 
konstitutive Schwäche. 

Aber es zeugte von bettelarmer Gesinnung, unaufhörlich um zu¬ 
nächst Unabänderliches zu streiten. Der Gewalt von außen muß innere 
Freiheit entgegengestellt werden; und das versuchte mit einer neuen 
Methode der Anpassung zum erstenmal seit der Revolution das erste 
Kabinett Wirth, von ihm her datiere ich den Übergang zu einer neuen 
moralischen Offensive, an der, bei richtiger innerpolitischer Taktik, der 
Terror der feindlichen Gewaltformen schließlich doch irgendeinmal 
zerschellen muß. Es erklärte: ,Wir wollen und werden zahlen, erfüllen; 
wir werden Euch zeigen, welche Folgen für die Finanzen und Wirt¬ 
schaft Deutschlands und seiner Gegenspieler der Wille zur buchstäb¬ 
lichen Erfüllung Eurer Forderungen haben wird, — selbst wenn wir 
dadurch in die Assignatenflut geraten und die Markwährung international 
völlig ausgehöhlt wird. Es ist ein lebensgefährliches Experiment, das 
wir unternehmen. Eure eigenen Experten warnen Euch davor; wir 
können darüber zugrunde gehen, aber Europa mit uns. Ihr zwingt 
uns dazu. Wir sind und wollen keine Katastrophenpolitiker sein, wir 
meiden die Gemeinschaft mit denen von links wie von rechts, doch 
die Katastrophe selbst kann kommen und muß kommen, wenn Ihr 
gegen alle Vernunft, gegen die Logik der Tatsachen, gegen das Urteil 
aller Sachverständigen der Welt bei Eurem Shylockismus verharrt. . .* 
Das war die Sprache eines heroischen Entschlusses und eines politischen 
Willens, im Gegensatz zu der eines rein ökonomisch bestimmten, der 
dem kapitalistischen Gehirn des Gegners verdächtig sein mußte, weil 
er aus verwandter Denksphäre stammt. Wir dürfen nicht vergessen, 
daß jede deutsche Politik auf eiskaltes Mißtrauen stoßen muß, die von 
den aus der Kriegszeit her so wohl bekannten mächtigen Wirtschafts¬ 
verbänden sich aufklären läßt, die Aufklärung mag auch noch so 
sehr mit sachlicher Überlegenheit (die nur Dummheit ihr abzusprechen 
wagt), noch so stark von patriotischem Opferwillen bestimmt, noch so 
gründlich von privatwirtschaftlichem Interesse gereinigt sein. Wer darf 
heute leugnen, daß die Methode der Wirthschen Politik, des Ad- 
absurdum-führens, weil sie den Gegner durch eine beinahe zynische 
Wahrhaftigkeit moralisch entwaffnet, wenigstens einigen moralischen 



Juntus, Politische Chronik 


105 


Erfolg gehabt hat. Freilich, die Zeit hat mit- und vorgearbeitet. Selbst 
ftir England, den alten Weltgläubiger, ist die Rückkehr zur Gold¬ 
währung bis auf weiteres unmöglich, es kann, bei der Schwächung 
seiner Stapelindustrien (Textil, Eisen, Kohle, Schiffsbau) und der Schrump¬ 
fung seiner Absatzmärkte, auch nicht daran denken, seine Dollarschuld 
an Amerika in Papiersovereigns zu löschen. Sie betragt nicht weniger 
als 1 zoo Pfund Sterling; selbst nach der alten Goldparität (4 Dollar 
86 1 /, Cents auf den Sovereign) ergäbe das etwas über 8 dj Millionen 
Pfund Sterling, also ungefähr das Doppelte der englischen National¬ 
schuld vor dem Kriege. Kein Anteil an der deutschen Kolonial-, 
Schiffs-, und Kriegsentschädigungsbeute kann die Erschütterung der 
englischen Industrie- und Handelsgrundlagen wettmachen; und kein Ver¬ 
such, den innerbritischen, also Größer-Britannien umfassenden Markt 
zu beleben, kann dem modernen Venedig die Kaufohnmacht des vor 
seinen Toren liegenden kontinentalen Abnehmers ersetzen. Das sind 
nun schon Banalitäten; aber sie beginnen zu wirken. 

Nun aber steht das neue Kabinett Wirth am Scheideweg. Es weiß, 
daß ohne radikale Reform der Steuergesetzgebung, ohne radikale Be¬ 
lastung dessen, was man die Substanz der deutschen Wirtschaft nennt, 
das heißt ohne irgend eine Form ihrer Überfremdung der ,gute c Wille 
unserer Tribut-Herren — und es ist gut, wenn sein aufgeklärter Egois¬ 
mus handlungsbereit gemacht wird — nicht erzwungen werden kann;. 
und es weiß auch, daß die durch Assignatenwirtschaft, Ausverkauf und 
unerschwingliche Nahrungs- und Rohstoffpreise herbeigeführte Über¬ 
fremdung weit üblere Folgen haben kann. Es ist eine Schmach, daß von 
außen her die innere Ordnung der deutschen Finanzen und Staatsbetriebe 
gefordert wird, und daß die Notenpresse wegen der fast balkanisch läs¬ 
sigen Methode der Steuereinziehung nicht einmal zeitweilig zur Ruhe 
kommen darf. Wenn dem Kabinett Wirth nicht gelingt, die großen 
Wirtschaftsverbände dem Gebot des Staatsnotwendigkeit gefügig zu 
machen, ist seine Mission gescheitert; dann tritt das alte Verhältnis 
ein, das während des Kriegs das Verhängnis der deutschen Politik ge¬ 
wesen ist. Wenn die große Koalition nur zustande kommen kann, 
indem die Verwalter des Staatswillens sich dem Willen der Industrie¬ 
magnaten und Bankokraten unterordnen, dann ist’s besser zu verzichten 
und sich der Auflösung zutreiben zu lassen. Ist der Staatswi Ile so 
heruntergekommen, daß er bettelt, wo er zu fordern hat, verwirkt er 
das Recht auf Dasein. Er hat eine mächtige organisierte Staatsfeindschaft 
zu besiegen, die gerade die reich und satt in Besitz gebetteten Schichten 



Junius, Politische Chronik 


io 6 

bis auf das (und die) Mark durchdringt, und Herr Wirth, der an der 
Spitze eines an aufrechter Gesinnung reichen, an geist- und Willensstärken 
Persönlichkeiten armen Kabinetts steht, muß sich nach den seit BrQssel 
gemachten Erfahrungen heute klar sein, wo er die Hilfen und Helfer 
findet, die er braucht, um den inneren und äußeren Feind zur Ver¬ 
nunft zu bringen — oder ad absurdum zu führen. Daß an sich ein 
Kabinett, welches an drei wichtigsten Stellen Löcher aufweist, einem 
lecken Schiff gleicht und zum Beschwören von Springfluten nicht gerade 
geeignet ist, braucht seiner Klugheit nicht erst bewiesen zu werden. 
Die Zeiten für halbe Energien sind Vorüber. 

i 

Ist Washington die Hauptstadt der Welt geworden? In grau an¬ 
mutender Vorzeit, vor etwa hundert Jahren, hat der geniale franzö¬ 
sische Publizist und Staatsmann Alexis von Tocqueville diese Möglichkeit 
geahnt. Ein paar Jahrzehnte hernach hatte ein geistig bescheidenerer, wenn 
auch berühmterer Mann, der Freihändler Richard Cobden, schon eine 
deutlichere Vorstellung vom neuen Weltimperium, das die alten über¬ 
schatten werde. Aber als Rathenau, im Vorgefühl davon, vor dem 
Brande warnte und ausführte, der sogenannte Sieg werde nur den Ver¬ 
einigten Staaten zugute kommen, sagte er etwas, was von den Heutigen 
zwar als belästigende Banalität empfunden, damals aber belächelt wurde. 
Nun ist Washington wirklich schon im Begriff, Welthauptstadt zu 
werden. Nur Toren können diese weltgeschichtliche Tatsache noch 
leugnen; sie wird das zwanzigste Jahrhundert ebenso charakterisieren, 
wie der Aufstieg Großbritanniens das neunzehnte. Die Verfügung 
über ungeheuere Wirtschaftswerte und eine geographische Vorzugslage 
sichert einem frischen, begabten, mit dem Elixier unbedingter Zukunfts¬ 
gläubigkeit genährten und, vor allem, noch nicht überhistorisierten 
Hundertmillionenvolke die entscheidende politische Macht. Höchste 
kulturelle Rangstufe und Leistungsfähigkeit nach europäischem Vorbild, 
die den Prozeß der menschlichen Entbarbarisierung fast bis zum Ende, 
bis zur letzten Verfeinerung und Ästhetisierung geführt hat, sucht und er¬ 
wartet drüben noch auf lange Zeit niemand; aber da wir rings um uns 
herum die Rebarbarisierung in beschleunigtem Tempo vor sich gehen 
sehen, ist dieser Angst machende und überhebliche Hinweis über¬ 
flüssig. Daß Washington die Hauptstadt der Welt werde, haben wir 
gewollt. Es sei, weil es ist. 

Was die Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika am euro- 



Junius, Politische Chronik 


io 7 


päischen Kriege bedeutet, zeigt sich so recht erst jetzt. Es gehört 
offenbar zu ihrer Bestimmung, daß sie ihn gewinnen halfen: ohne 
spürbaren Blutverlust, und indem sie als Weltgläubiger, als Welt¬ 
frachtführer und als Wahlvormund englischer Dominions, wie Kanada 
und Australien, an die Stelle von Größerbritannien traten. Die natio¬ 
nalen Atavismen, die sich wild und die großen mitteleuropäischen 
Wirtschaftszusammenhänge zerreißend ausgetobt haben und die unsre 
Politik und Menschlichkeit nicht zu meistern (höchstens zu reizen) 
verstand, hat Versailles wahrlich nicht zu beruhigen vermocht; aber 
das erscheint in weltgeschichtlicher Betrachtung als Nebensache. Und 
nun erst zieht das Weiße Haus die Folgen aus seinem ,Schicksal von 
Aufgabe*: die klugen und politisch instinktsicheren Männer, die dort 
regieren, schieben Versailles, das den europäischen Frieden verhindert 
und eine dauernde Lähmung unsres Erdteils herbeizuführen sich alle 
Mühe gegeben hat, einfach beiseite, setzen an die Stelle blasser und 
von Eitelkeit verzerrter Ideologie common sense und versuchen, auf 
dem Umweg über die Etablierung des Weltfriedens, auch Europa den 
Frieden wiederzugeben. Das bedeutet Washington. Es benutzt die 
gewonnene Machtstellung und verwertet die an der europäischen Selbst- 
zerfleischung gemachte Erfahrung, um zunächst sich frei zu machen 
und die durch Japans Wachstum erzeugte Hysterie des amerikanischen 
Volkes ein für allemal zu verjagen, indem es, ohne Umschweif und ohne 
Raum für Hintergedanken zu lassen, das Schachbrett der Kräfte und 
Gegenkräfte aufstellt. Das konnte geschehen, weil die Ideologie des 
Landes ein ehrlicher Pazifismus ist; will sagen: ein mutiger, ein mann¬ 
hafter, ein entschlossener Pazifismus, der einen mit drohenden Ent¬ 
ladungsmöglichkeiten geladenen Zustand einfach nicht erträgt. Die 
amerikanische Diplomatie ist in Europa lange als ,Diplomatie in 
Hemdsärmeln* verspottet worden, sie machte auf dem parfümierten 
Parkett neben Türken und Russen (von den Kulturträgern an der 
Spitze zu schweigen) zuweilen einen linkischen Eindruck und leistete 
sich nicht selten allerhand Naivetäten; aber beginnt nicht die in der 
Zentrale gemachte amerikanische Politik die unsrer wirklich Alten 
Welt zu beschämen? 

Man kennt das Programm der Konferenz; man kennt den Zwang 
zur Fragestellung und die Verschlungenheiten der Probleme im Pazifik, 
in China, in Sibirien, schließlich in ganz Asien. Schon die Beschrän¬ 
kung des Programms war klug; und der bisherige Verlauf erfüllt selbst 
starke Erwartungen, — sofern sie berechtigt waren. Der Krieg wird 



108 jfunius, Politische Chronik 

vermieden werden: Japan hatte vorausgesetztermaßen nur die Wahl 
zwischen Isolierung und Kompromiß; die Seerüstungen werden einge¬ 
schränkt, die japanischen Lebensinteressen in China werden geschont, 
neue Interessensphären dort nicht zugelassen werden; das Himmlische 
Reich wird als Pürschgebiet den großen Kapitalsmächten reserviert 
bleiben (Offene Tür!), das anglo-japanische Bündnis aber, das Rußland und 
Deutschland zerschlagen, Indien in Hörigkeit erhalten half, verschwindet, 
als es anfing aus einer Wohltat eine Plage zu werden, und macht einem 
Viermächteabkommen (neben den zwei angelsächsischen Mächten und 
Japan auch Frankreich) Platz. Das Endprotokoll ist noch nicht gefertigt, 
wir warten. Aber was war von den Mit- und Gegenspielern zu er¬ 
warten? Von einem so ungeheuren, und ungeheuer empfindsamen, Ge¬ 
bilde wie Größerbritannien, das seit Verlust seiner industriellen Monopol¬ 
stellung und durch das Emporblühen neuer Groß- und Weltstaaten 
schon lange in die Defensive gedrängt worden war, das sich nicht 
einbilden durfte, selbst durch und nach Besiegung Deutschlands irgend 
wesentlich zu wachsen, sondern nur sich besser zu erhalten: von einem 
solchen Gebilde, sage ich, konnte nur die Absurdität annehmen, es 
könne aus Gründen der handelspolitischen Rivalität — aus Bilanzfeind¬ 
schaft, aus wetteifernder Jagd nach kolonialen oder sonst jungfräu¬ 
lichen Absatzmärkten, aus dem zwischen Throgmortonstreet und Wall¬ 
street angesponnenen Wettrennen und ähnlichen Gründen in einen Konflikt 
mi t Amerika getrieben werden. Diese Anschauungen wurden unserem 
Publikum vor und nach dem spanisch-amerikanischen Kriege und dem 
Greifbarwerden der chinesischen Interessen des amerikanischen Kapitals 
dick aufgetragen und von unseren imperialistischen Heißspornen zu 
bekannten Zwecken ausgebeutet; und falsche Nutzanwendung aus 
der gelben amerikanischen Literatur trug das Ihrige zur Steigerung der 
Verwirrung bei. 

Das Verhältnis von Mutter und Tochter war nun so, daß seit Jahren 
feststand: gerät das britische Reich bei einer weltgeschichtlichen Krise 
in Lebensgefahr, so treten die Vereinigten Staaten von Amerika helfend 
und rettend an seine Seite. Die ,erbfeindlichen c Stimmungen und Span¬ 
nungen zwischen den beiden Reichen haben den Sezessionskrieg nicht 
lange überlebt; allein schon die englische Abhängigkeit von der amerika¬ 
nischen Lebensmittelversorgung und die Einsicht, daß der ,Zwei-Mächte- 
Standpunkt* zur See der kraftstrotzenden Union gegenüber nicht aufrecht 
zu erhalten sei, haben sie radikal zum Verschwinden gebracht. Die 
kulturelle und politische Annäherung machte dann gegen Ende des neun- 



Junius, Politische Chronik 


io? 


zehnten Jahrhunderts Riesenfortschritte. Als Chamberlain am 30. De¬ 
zember 1897 in Toronto erklärte: „Ich weigere mich, irgendwelchen 
Unterschied zwischen den Engländern von England, Kanada und den 
Vereinigten Staaten zu machen. Wir sind Zweige einer einzigen Familie“, 
hat er eine Entwicklung prophezeit, die mit Händen zu greifen war 
und nur dem Kalkül unserer Weltpolitiker femblieb. Tausende eng¬ 
lischer Imperialisten fühlten und sprachen ihrem Meister nach, daß „Union 
Jack und Sternenbanner zur Verteidigung einer gemeinsamen Sache 
flattern könnten, die durch Humanität und Gerechtigkeit geweiht ist“, 
aber auch in radikalsozialistischen Kreisen glaubte man lange vor dem 
Kriege an eine politische Vereinigung mit den Vereinigten Staaten, 
deren Mittelpunkt — Washington sein werde. Erinnert man sich noch 
an Haldanes Vermittlungsversuch in Berlin, um der Katastrophe durch 
eine Vereinbarung über die Seerüstungen und ein Neutralitätsabkommen 
vorzubeugen? Derselbe Mann hielt 1911, als Lordkanzler, in Montreal 
vor den vereinigten Juristen der beiden angelsächsischen Reiche eine 
Rede, die an aufklärenden Warnungen nichts zu wünschen übrig ließ 
(sie wurde hier erwähnt), in der Wilhelmstraße aber als Häufung leerer 
Schälle behandelt wurde. Man hatte das Gefühl: hier .findet eine Aus¬ 
sprache innerhalb der gleichen Familie statt; das Bekenntnis zur selben 
Rechtsideologie trug unverkennbar eine politische Färbung, aber die 
bezwingende menschliche Form seines Ausdrucks gab ihm noch erhöhte 
Bedeutung. Zehn Jahre einer schrecklichen Prüfung haben in der glück¬ 
licheren angelsächsischen Welt den Kitt ungemein verstärkt Und nun? 
Nun findet ein Teil unserer Presse, nachdem der weltgeschichtlich er¬ 
zwungene Moment der Vereinigung von Mutter- und Tochterstaat ein¬ 
getreten ist, wieder den Mut, von dem Washingtoner Bluff zu reden ... 
Der letzte Schatten, der zwischen London und Washington stand, das 
irische Problem, scheint jetzt auch zu verwehen. Gelingt dies Lloyd 
George, so ist seinem aphoristischen Genie eine staatsmännische Leistung 
ersten Ranges geglückt, die ihm manchen früheren Dilettantismus, 
manche opportunistische Stümperei . . vergeben läßt, wenn man es als 
Deutscher über sich bringt, an die bis zur ,vicious perfection* gediehene 
Verdunklung seines europäischen Gewissens in Versailles zeitweilig nicht 
zu denken. 



ANMERKUNGEN 


Chronik des Auslands 

D ie New-Yorker „Nation“ widmet, 
wohl aus Anlaß der Konferenz von 
Washington, eins ihrer letzten Hefte 
derEntwafFnungsfrage. FrasierHunt 
berichtet über die Entwaffnung in 
Mexiko, die von der Regierung durch 
Einrichtung von Soldaten-Kolonien 
(„Bandit colonies“) durchgefuhrt wor¬ 
den ist. „An dem Tage, als dieser Befehl 
erging, wurde an alle Staatsgouverneure 
ein Rundschreiben gesandt, das ohne 
Staatskosten alle Truppen in ihren Be¬ 
zirken für Wegebauten zu ihrer Ver¬ 
fügung stellt; zu gleicher Zeit erließ 
General Calles, der Chef des Kabinetts 
und Minister des Inneren, mit Billi¬ 
gung des Präsidenten Obregon einen 
Befehl, durch den alle aktiven Offiziere, 
deren Dienst durch diese Friedenszeit 
verringert worden ist, gezwungen wer¬ 
den, in den verschiedenen Regierungs¬ 
stellen, in Staat und Bezirk, ohne be¬ 
sondere Bezahlung zu arbeiten; in den 
Konzentrationslagern sind Schulen er¬ 
öffnet und tüchtige Schritte unter¬ 
nommen worden, um den Soldaten für 
einen nützlichen bürgerlichen Beruf 
ausrüsten zu helfen; und die mexi¬ 
kanische Flotte, so klein sie ist, erhielt 
den Befehl, von nun an Frachten, 
Passagiere und Post zwischen den 
Küstenstädten, wo der Verkehr immer 
arm gewesen ist, zu befördern. 

So geht es im barbarischen, im dunk¬ 
len Mexiko zu: eine Armee, die auf 
die Hälfte verringert ist; Soldaten, die 
aufs Land gebracht wurden, für das 
sie so lange fochten; Schulen für 
Krieger, die durch die bisherige Ord¬ 


nung betrogen und mißbraucht worden 
waren; und eine Marine, die sich in 
eine Handelsflotte verwandelt hat. 

Es lebe Mexiko!“ 

In den „Ecrits Nouveaux“ (Paris) 
gedenkt Andre Germain in schmerz¬ 
licher Erschütterung der Toten des 
Krieges: „Wie soll ich die Millionen 
von Toten kennen und wie jedem von 
ihnen die Träne und die Gewissens¬ 
qualen weihen, auf die sie Anspruch 
haben? Ich denke nicht an die ein¬ 
zelne individuelle Katastrophe; gäbe 
es nur diesen einzigen befohlenen 
Massenmord, so würde das genügen, 
um durch seine Ungerechtigkeit die 
ewigen Gesetze umzustoßen und um 
durch seinen Blutgeruch die frucht¬ 
baren Felder des Weltalls zu vergiften. 
Der Tod hat in diesem Kriege nicht 
gewählt; die Besten und die Schlech¬ 
testen hat er zu Tausenden genommen, 
ohne zu wägen und ohne zu zählen. 
Ich beweine sie alle: die Mittelmäßigen 
und Unfertigen und die besonders 
Schlechten. Ich werde niemals zu¬ 
geben, daß ihnen ihr Teil geraubt 
werden dürfe, ihr Platz an diesem 
Bett, an diesem Tisch, den die Ge¬ 
wohnheiten des Alltags lieb werden 
ließen und sogar heiligten, alles, was 
sie an Kraft und Licht ausströmten, 
alles, was in diesem Erdenleben aus 
ihnen hätte sprießen können, um sich 
dann an unbekannten Ufern zu ent¬ 
falten. Man hat sie des Kleides beraubt, 
in das sie die unerschöpfliche Natur 
hüllte, und der Gabe, die Gott ihnen 
lieh. Und deshalb leuchtet eine gewisse 
Aureole auch über die Unbedeutend- 



111 


Anmerkungen 


sten und die Niedrigsten und umgibt 
sie mit einem Purpur, den die Könige 
nicht mehr besitzen. 

Besonders die Schlechten und Mittel¬ 
mäßigen, gleich uns, ganz eins mit 
unsern schweren Freuden und unserm 
armseligen Unglück, völlig unsere Brü¬ 
der! Ich weiß indessen, daß es unter 
ihnen solche von anderer Artung, von 
anderem Ursprung, von beflügelterem 
Schicksal gibt. In die verfluchten Grä¬ 
ben rollten sie, gemeinsam mit Bauern 
und Bürgern; ihr zartes Diadem zer¬ 
brach im Gewühl gehässiger Stirnen 
und im Brei eingeschlagener Schädel. 
Zu ihnen steigt meine Erinnerung auf 
wie das Leid der hochzeitlichen Erde, 
wie die Befreiung vertrauender Herzen, 
wie ein Ruf in die Spiele des Morgens, 
wie ein Gebet in die menschliche 
Nacht.“ 

Albert Thibaudet, der besten 
kritischen Köpfe einer, schreibt, bei 
Gelegenheit des Buches von Abel 
Chevalley über den zeitgenössischen 
englischen Roman, in der „Nouvelle 
Revue Frangaise“ Prinzipielles über 
englische Romandichtung: „DerRoman 
ist eine imperialistische Gattung. Es 
ist in ihm der Wille zu Herrschaft, 
die Macht der Unterwerfung ähnlich 
wie in der angelsächsischen Rasse. 
Wenn er anfangs sich von den Über¬ 
resten von Poesie und Drama zu 
nährte, so hat er sich jetzt an der 
Tafel niedergelassen; das Haus gehört 
ihm und die anderen müssen es ver¬ 
lassen. Heute ist es in Frankreich wie in 
England wie überall so, daß Literatur 
und Roman dasselbe bedeuten. In 
Frankreich war es noch vor zwanzig 
Jahren so, daß literarisch schaffen so 
viel hieß wie Dramen schreiben, wie im 
achtzehnten Jahrhundert; ebenso bedeu¬ 
tete Kritik Kritik über Dramen. Heute 
ist das Theater eine beschlossene, den 
Fachleuten ausgelieferte Welt (ich habe 
geschrieben: tüchtige Fachleute, wie 
man schreibt: bedeutender Geschäfts¬ 


mann — aber nein, nicht einmal das). 
Und die Kritik, die ihm folgt wie der 
Schatten dem Körper, magert ab wie 
er. Wenn die tapferen Alten, die sie 
noch verteidigen, nicht mehr sein wer¬ 
den, wird man, um sie zu ersetzen, 
Truppen herbeischaffen (Die Akademie 
zeigt sich voraussehend und versieht 
sich mit Militär.) Der Roman ver¬ 
schlingt alles. 

Der große Erfolg und starke Glanz 
von Writer Scott hat, wie Chevalley 
sagt, „die Tugend des Romans sicher 
eingesetzt“. Oberhalb von Alexander 
Hardy, oberhalb von Corneille nimmt 
dieser Schriftsteller, den man nicht 
mehr liest, in der Familie der im 
gleichen Gebiet angesiedelten Heroen 
Platz. Es ist kein Zufall, daß Walter 
Scott zur selben Zeit auftritt wie 
Arkwight und Speel, und daß die Ge¬ 
burt des großen Romans zur selben 
Zeit geschieht wie die Geburt der 
großen Industrie. Der große Roman 
— ich will sagen: die Roman-Werkstatt 
oder das Roman-Hüttenwerk. Seit Wal¬ 
ter Scott werden die großen — und 
auch die kleinen — Romandichter Fabri¬ 
kanten, oder vielmehr: was Fabrik bei 
den kleinen ist, ist Natur bei den 
großen. Shakespeare, Corneille sind 
Naturen ähnlich der Natur, und die¬ 
jenigen, die sich von ihr lossagten, 
indem sie sie nachahmten und ihre 
schöpferische Bewegung forsetzten, 
haben sich wie die Planeten von der 
Sonne losgesagt. Seit Walter Scott 
wird im Abendland diese Rolle der 
„Naturen“ von Romandicbtern inne¬ 
gehalten. Dickens, Balzac, Dostojewski, 
Flaubert, Kipling sind Naturen nicht 
wie Menschen, sondern wie Frankreich, 
England oder Rußland, d. h. wie un¬ 
körperliche Wirklichkeiten, wie Er¬ 
zeuger von Menschen. Wenn Walter 
Scott in einer solchen Welt nicht 
Platz nimmt, so hat er als erster, in 
der Sache und in der Zeit, ihr äußeres 
Aussehen, ihr Schema gezeichnet.“ 

R. K. 



I 12 


Anmerkungen 


Joseph Caillaux 

A lle großen Geister sind Verräter, 
denn sie versuchen, den Irrtum an 
die Wahrheit, das Vergangene an die 
Zukunft zu verraten. Darum ist 
Joseph Caillaux so unendlich gehaßt, 
aber auch so unendlich geliebt wor¬ 
den. Sein Buch über seine Gefangen¬ 
schaft (Mes Prisons), das jetzt in einer 
von Victor Henning Pfännkuche be¬ 
sorgten und mit einem ausgezeich¬ 
neten Nachwort versehenen deutschen 
Übersetzung* vorliegt, ist erfüllt von 
einer kosmischen Wehmut über die 
Schande des europäischen Menschen 
und den Selbstmord des Kontinents, 
die, unmittelbar aus der Ruchlosigkeit 
der Tatsachen hervorsteigend, uns 
tiefer und stärker als eine Dichtung 
bewegt. Das tragische Schicksal eines 
Menschen wird offenbar, den sich die 
höchste und letzte Idee einer unter¬ 
gehenden Ordnung zu ihrem Träger 
erwählt, um ihn daran fruchtlos sich 
zerquälen und scheitern zu lassen. 

Höchste Leidenschaft, unbeugsamer 
Stolz und tiefer Emst, gepaart mit 
seltenem Blick für den Zusammenhang 
der Dinge, hatten Caillaux in Konflikt 
mit seiner Welt gebracht. Ihm mangelte 
der Zynismus eines Clemenceau oder 
die Voraussetzungslosigkeit einesBriand. 
Seine Tugenden, sein Charakter, seine 
Ehrenhaftigkeit, sein Wissen mußten 
ihm zum Verderben gereichen; seine 
weitausgreifenden, zu inneren sozialen 
Zugeständnissen und zu äußerer Ver¬ 
ständigung bereiten Pläne am Wider¬ 
stand kleinlicher Interessen zerbrechen. 
Da er der Kugel Villains, der ihn in 
den letzten Julitagen des Jahres 1914 
nicht aufzuspüren vermochte, ent¬ 
ronnen war, mußte man ihn durch 
die Justiz morden. 


* Rhein-Verlag, Barel. 


Ich zweifle daran, daß es diesem 
Mann, wenn er auch zusammen mit 
Jaures ein Kabinett gebildet hätte, 
gelungen wäre, den Weltkrieg abzu¬ 
wenden. Eines aber scheint sicher: 
der Krieg wäre beizeiten abgebrochen 
worden, Europa, und insbesondere 
Frankreich, wäre nicht in dem Maße 
daran verblutet, wie es geschehen ist, 
und die abendländische Kultur, wenn 
man von einer solchen heute noch 
sprechen darf, würde nicht an sich 
selbst verzweifeln und vor Amerika 
oder Rußland sich neigen müssen. 

Es ist wohl wahr, daß man den 
Krieg vom Standpunkt der allgemeinen 
Zersetzung aus vielleicht mit einem 
gewissen philosophischen Wohlwollen 
betrachten darf, aber das tun Caillaux’ 
Feinde gewiß nicht. Um diesen Mann 
richtig zu würdigen, muß man ihn in 
seine wahre Welt hineinstellen, ihn 
von innen heraus zu begreifen suchen, 
vom Zentrum seiner mehr oder min¬ 
der utopischen, aber jedenfalls gut¬ 
gemeinten Wirtschaftspolitik her, die 
sich den nationalistischen Auswüchsen 
der größeren, sie natürlich umrahmen¬ 
den und einschließenden bürgerlichen 
Ideologie vergebens entgegenstemmte. 

Das tragische Schicksal Caillaux’, 
zwischen Reaktion und Sozialismus, 
besteht vielleicht zutiefst darin, daß 
er die bürgerliche Gesellschaft auf 
eine Weile hätte retten können, wenn 
die Entwicklung der Dinge es nicht 
vorgezogen hätte, Reaktion und Na¬ 
tionalismus momentan zu stärken. So 
scheint es heute, als gehöre Joseph 
Caillaux, der einzige Gerechte, um 
dessentwillen der französischen Bour¬ 
geoisie dieser Jahrzehnte einmal von 
der Geschichte wird verziehen wer¬ 
den, einer wohl möglich gewesenen, 
aber durch den Krieg verschütteten 
und zukunftslos gewordenen Welt an. 

Bernard Guillemin 


Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Rudolf Kayser. 
V erlag von S. Fi jeher, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leip zig. 




AN DEHMEL IN DEN WELTEN 

von 

ALFRED MOMBERT 

I. 

E in hohes weißes Roß mit herrlichem Schweif, 
mit Augen voll dunkler Fülle, 
und Nüstern, die sprühen, 
läuft und tänzelt dahin 
durch Deutschlands duftende Gärten. 

Durch die Gärten, durch die Haine, 

durch die kühlen Gründe der Veilchen und Primeln. 

Es trägt den Reiter durch lichte Birken-Thäler, 
durch Vogelsang, durch Flötenklang. 

Es ersteigt die Alt-Granitgebirge: 

Hoch auf der Kuppel 
ragt es geheimnisvoll: 
am Himmel horchend 
über den Ländern. 

Dann zurück hinunter in das Land. 

Entlang Brandmauern dröhnender Fabriken. 

Nachts über Marktplätze plätschernder Brunnen; 
hinter alten Giebeln steigt der Mond. 

Dunkle Forsten nehmen es jetzt auf, 

Wipfel-Rauschen beugt sich zu ihm nieder; 
es sprengt vorbei dem Geheimnis des rufenden Kuckucks. 
Bis wieder Licht wird: da lagern Rebhügel 
unter schweren Sommer-Gewitterwolken. 

Altgebückte Winzer staunen feiernd — 

Zwischen Paukenschlägen Beethovenscher Orchestren — 

8 



n 4 Alfred Mombert, An Dehmel m den Welten 

vorwärts! weiter! gen den Strom: Den Rhein. 

Auf den Wiesen an den Ufern des Rheins 
lagern Gruppen kranker deutscher Krieger. 

Enthelmt Entwaffnet. Hunger-ohnmächtigt. 

Schlafversunkene: verhärmte Gesichter, 

Blut tropft aus den Schläfengruben, 

aus finstern Herzhöhlen rinnt dunkles Blut; 

tropft zur Erde; 

aus dem Herzblut entsprießen Anemonen — 

Sie träumen. Sie träumen entgegen ihrer Stunde, 

die einmal kommt. Die langsam! kommt Die näher kommt 

Die Stunde: sie kommt 

Leise rollt ein unterirdischer Donner. 

Drüben überm Strom —: Auf Dom-Plätzen — 

in Gassen — in Gärten — in Wildem — auf Späh-Türmen —: 

Lagern Völker-Heere der Feinde: 

Die Sieger-Herren. 

Tag und Nacht in Schlachtordnung, in Stahlrüstung: 

in Gasmaske, Flammenwerfer 

angrifiFFertig lärmend auf den Sturm-Maschinen. 

Haßverzerrte Gesichter — die Rotgier — 

(innen bleicht die Angst — 
die herzpressende Furcht — 
geheim würgt schlotternde Angst —) — 

Dahinter an den Horizonten aufgefähren endlose Wagen-Raub-Züge: 
viele schon hochbepackt, fest verschnallt: 
mehre leer wartend: beutegierig: raffegierig. 

Durch den torkelnden schwatzenden Troß 
wandeln prahlende Pfäue 

mit hochgespreizten tausendaugigen Sieger-Rädern — 

In leichtem Sprung setzt das Roß über sie hinweg — 

Ins freie Glück der morgenglühenden Erde! 

Es betritt den sonneschauemden Firn der Alpen. 

Steht. Und wiehert freudig vor der 
aufgezauberten ätherischen Eis-Mauer: 



”5 


Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 

Glanz von der Wildspitze bis zu dem Montblanc! 

Vor ihm stürzen sich die Gestirne erbleichend in den Abgrund. 
Nur der Morgenstern hält Stand. 

Dann hinunter in die warmen Länder. 

Durch Alleen immergrüner Pinien 
zu den Orten der schonen Jugend, 
wo das Glück der Liebe seligtrunken 
schwanken läßt hochwandelnde Gestalten. 

Zu den Hainen heiligen Alters, 
wo die Göttersage von der Sängerharfe 
träuft ehrfürchtig lauschendem Geschlecht. 

An die blauen Küsten, an die Ströme, 
wo die Vögel Hügeln in Wonne, 
wo die Blumen blühn beglückt. 

Ätna-Feuer. Trunk am Nil. 

Folgend in der Silber-Kielbahn träumender Schiffer 
zu den Buchten, zu den Inseln. 

Immer überwölbt hier großer Licht-Himmel 
unvergänglich den Garten Freude. 

Um ihn kreistanzen die Jahreszeiten, 
ihn umreigen alle Zeitalter. 

Wer hineinspähen darf, ist glücklich. 

Der drin wandelt, ist geborgen. 

Einmal naht das wandernde Roß dem 
Hochzeit-Tanz-Fest lieblicher Jünglinge und Jungfraun. 

An den süßen Wassern Asiens, 
unter alten Eichen, unter Platanen 
paukt und zimbelt es, 
singt und flötet es. 

Da wehen luftige Schleier, 
da schimmern Augen-Steme. 

Zierlich durchschreitet das Roß den Reigen 
mit seinem träumenden Reiter. 

Durchduftete Stunden — 

An Abend-Teichen blühender Nymfaen 



11 6 Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 

Stunden zärtlicher Musik — 


— Draußen auf ehernem Nacht-Meer 
stößt ein Glühender in die Trompete — 

— Ein Adler besteigt die Lüfte — 
flügelt ins tiefe Asien. 

— Unten folgt das Roß — 


Dort sind viele Adler. 

Hall von fernen Brandungen. 

Ein einsamer Baum bebt ruhelos im Zitterlaub. 

Ganz traumhaft ward die Erde. 

Von Strauch zu Strauch fliegen Nachtigallen. 

An dunkle Seen drängen sich goldene Tauben; 
da galoppieren funkelnde Steinwidder. 

Am Gebirge wandert ein Geist: 

rührt die Schwingen —: da brausen die Mitternacht-Stürme. 

Dämonen der Leidenschaften durchirren die Wüste 
gehüllt in Glutwirbel; lagern auf Felstrümmern. 

Am einsamen Tarim-Strom steht ein Mann mit einem Weib 
in ewigem Nacht-Gespräch. Derweil steigt der Mond 
aus dem Krater des qualmenden Vulkans 
und treibt auf grüner Wolke unterm Nacht-Himmel. 

Traum-Musik schwebt über Asien! 

In ihr badet Himalaya das trunkene Eis-Haupt. 

In den tiefen Ländern schlägt eine Bacchantin die dumpfdröhnende 

Handpauke — 


* 


Wunderbar ruht die Südsee: 
ruht hehr und weit 
in der unendlichen Zeit. 

In glänzenden Nächten erblicken dort die Schiffer 
spähend von einsamen Masten 
in den letzten Fernen: 

Ein riesenhaftes Roß. 

Lautlos läuft es über die stillen Wogen 
hin gen einen immer-ruhend-schwebenden. 



H7 


Alfred Mombert, An Debmel in den Welten 

zaubrisch-glänzenden, 

magisch-winkenden titanischen Stern. 

* * 

* 


n. 

Auf diesem Rosse sitze ich. So reite ich 
durch das Rollen der Schicksal-Donner; 
über stille Mittag-Meere; 
in einsamer Licht-Wüste. 

Im Spiel der Welt. 

Zwiesprache pflegend mit den Unteren der Tiefe, 
mit Jenseitigen in den Sfären. 

Derweil sitzt vor meinem Fensterbrett 

zwischen stillen Blumenstöcken 

das Rotkehlchen, und pickt an die Scheibe. 

Die dunkle Cypresse breitet 

ihre hängenden Äste über das Dach. 

Endend: nachts: ausgeschöpft: 

im alten Hause mit flackernder Leuchte 

— draußen braust Sturm — 

schlummerkrank taumelnd in mein Schlafgemach —: 
Wieder lehnt dort an den Thürpfosten 

— an der Pforte der Unterwelt — 
die Nacht-Gestalt: Ägypterin: 

die Sibylla Zauberin. 

Auf schwarzer Stimkrone erglänzt ihr Gestirn-Zeichen. 
Ihre Augen-Tiefen stehen sprudelnd offen. 

Sie sieht mich: aber sieht mich nicht. 

Sie starrt mich an: aber denkt mich nicht. 

Sie lauscht fernen Tönen. . . 

— Wer hat sie hergesandt in meine Träume? — 

— Was kreist hinter ihrer Stirn? — 

Du! — Von Dir gesandt! 

Du in den Welten! Du tönst! 



118 Alfred Mombert, An Dehmel m den Welten 

Dein Herz i$t worden selige Harfe! 

Du tönst in Himmeln deinen ewigen Tag! 

Gegenüber dem Morgenstern: 
am flügelschlagenden Meer, 
am göttlichen, am wunderbaren. 

Thronender im Ansturm klingender Kristall-Wolken — 
Geister umlauschen Dich — blind hingerissen- 

Weltfern — nacht-ausgeschöpft — auf Erden —: 

Krank vorüberwankend 
Dir Tönendem — 
vorüberwinkend deiner Sibylle 
der Flüsternden —: 

Stürz’ ich hinunter in Tiefschlaf zwischen alten Mauern. — 

Im Innern des Hauses 
dröhnt die Uhr Mitternacht 

* 

Furchtbar flackert Gewitter an den tobenden Horizonten! 
Kometen stürzen aus den Raumen — 
zerschellen im Granit! 

Du in den Welten! 

Um dein Antlitz schießen blendende Strahlen! — 

Ich lehne harfenspielend an den Regenbogen. 

Aus den Höhen sinken goldene Blätter ab. 

Das Meer ist da. Der Traum ist da. — 

* 

So Traum-Welt-Schaffender in Glut-Versenkung. 
Menschen-Jahre: aber nie gezählt: 
aber immer irdisch-tiefer durchfühlt; 
eine selige Lilie an der Lippe. 

Im Herbst-Sturm 

erschüttert das ergraute Haupt hinabgesenkt in die Hand: 
zugeschüttet vom gelben Laub. 

Menschenleben! Wind über die Hand! — 

Mein Roß: meine Seligkeit: du meine Jugend: 



ix? 


Alfred Mombert, An Dehtnel in den Welten 

deinen Sänger trägst du über das Eis von Seen 
durch sehr herzzerbrechende Abende, 
wo Flöten klagen, irdische Schmerzen-Flöten — 
wo mein Bild zerspiegelt im Nebel bereifter Fichten 
nordisch-grau, uralt-verhüllt und brausend-stürmisch. 

Durch Nächte blinder Gassen verrufener Städte 
trägst du einen erschütterten Lauscher. 

Aus den Häusern dringt Fluch-Geheul der Holle, 
ein wildes Ächzen, Seufzer und Verdammnis. 

Es tont im Takt der Gesang der Gefangenen aus den Kerkern. 
Aber Frühlicht kommt immer wieder, 
wird Alles immer wieder neu — 

immer gehen brausend freie Klänge durch die Seele — 
immer umfließen schöne liebende Himmel. 

Strahlen-Sammler bin ich aus den Welten. 

Strahlen-Sender in die Welten. 

Bald selber Strahl. 

Die Winde! die ätherischen Winde! 

Oft hebt sich mein Roß im Tönen des Äthers — 
steigt! steigt auf! in den Zügeln! 

Klopfend kos’ ich seinen Hals, 

ich lenk’ es ab auf die Wiese von Enna, 

in den Duft des Krokus umstanden von Frühling-Birken. 

Sieh: wie hier die Amseln springen! 

Sieh: wie hier Thautropfen sprüht! — 

Aber träumender immer. Traum-williger immer. 

Es kommen Geister herab mit tönender Botschaft — 
sie umschweben mich, umleben mich — 
blicken sinnend auf mich — 
blicken dann wieder hinauf zu Kassiopeia: 

Dort, wo die Pie jaden singen! — 

Dort, wo der Orion glüht!- 



I IO 


Alfred Mombert, An Debmel in den Welten 

Es beginnt das große Rufen im Welt-All. 

In finstern Höhlen erstrahlen silberne Leuchter. 

Sonne glQht auf den metallenen Meeren. 

Jubelnde Inseln jauchzen sich los vom Grund. 

Wohin ich trete: 

da flammt es unter meinem Fuß. 

Und wohin ich jetzt die Hand lege: 
da sprießt ein Wunder: und blüht. 

Das ist Menschentum: 

Plötzlich auserwählt aus allen Geister-Schaaren 
sich zu erheben: 

Aus finsterer Schlaf-Gruft donnernd aufzusteigen in den höchsten 

Glanz-Himmel! — 


* 


Einer ist da. Einer meldet: 

— „Schau* hinaus“ — 

Draußen um mein Haus 

lagern die Gebirge, die Meere und Wüsten: 

mit laufendem Fackelschein, und Trommeln, und Musik-Chören. 

Aufgezäumt, geschmückt mit Blumen, 

strahlend aus Azur-Augen, 

führen sie heran mein Roß — 

Du in den Welten! 

Von Dir gesandt! — 

* 

Ein ungeheurer Pauken-Wirbel herrscht über der Erde. 
Marsch-Musik erschallt. 

Gekommen ist die Stunde des Gesanges. 

* 

Eine Weide, babylonische Weide, 
steht ragend auf der Erde. 

Die Äste hingegeben sausenden Winden, 

ihre langen Zweige peitschen um die rollende Erde, 



I 2 I 


Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 

und langen hinaus in die Fluten des Himmels. 

An ihrem Stamme hauste ich einst. 

ln irdischen Stammes Liebe zärtlich angelehnt das Haupt, 

sah ich hinauf, und sah die Sterne. 

So sitzend: schauend: wurde ich alt. 

Sfaira der Alte bin ich, Sfaira der Ewige: 

Ich verlasse jetzt die Weide: 
ich besteige das Roß. 

Ich schwinde im Sturm des Lichts. 

Ich ziehe ein in meine schimmernden Himmel. 

* * 

* 

III. 

Gegenüber dem Atair: 

Da strahlt eine Sonne. 

Dahinter strahlt die zweite —: die zehnte Sonne: 
schwebend in einer ungeheuren Wand von Glanz. 

Es zucken Zeichen. Es winken Signale. 

Es wogt ein Strahlen-Thor. 

Ich reite heran. 

Ich reite ein. Ich durchreite die Glanz-Wand. 

Ich reite auf der Bahn des großen Glanzes. 

Ich reite durch ein ewiges Glanz-Jahr. 

Und ich lebe den Glanz. Und lobpreise den Glanz. 

* 

Ich bin hervorgedrungen aus dem Glanz — 
schaut mich Glanz-Geborenen! 

Ich finde mich wieder in einem Spiegel: 

Ich ward ein Jüngling in goldenem Haar. 

Mich schmückt ein blaues Äther-Gewand, 
mich umkreist ein lichter Kristall-Gürtel. 



122 


Alfred Momhert, An Debmel in den Welten 

Ich trage einen Hut bekränzt mit Sternen. 

Aus meiner Brust entsproß ein Rosenstrauch, 
den umschwirren goldene Bienen. 

* 

Ich trabe heiter durch den Tierkreis. 

Trabe aus den Zeiten in die Weiten 
unter dem goldenen Laub weltseliger Baume: 
sonnehaft: der himmlische Held. 

Summend träumerischen Frühling-Sang. 

Aus der Licht-Mähne meines Rosses 
rinnt Kometen-Licht in die Welten-Stürme. 

Sein goldener Schweif fegt über die Milchstraße; 
hinter sich her schleift es die Sfaren. 

Steinbock: Lowe: Widder: fahret wohl! 

* 

Zuschauer sind die Welten: 

Ich reite durch die Pforte des Orion. 

Anlehnen zwei riesige Giganten; 

halten Wache — flüstern 

in der ewig-hellen Nacht — 

schwere Stein-Hände auf glühenden Herzen. 

Ihre Keulen erzittern, da ich einreite — 
ihre Augen starren auf mein goldenes Haar — 

Zuschauer sind Canopus und Arctur. 

* 

Ich reite vorüber dem Sternbild des himmlischen Zechers. 
Vorüber schon dem Bilde der Blüte des Chaos. 

Fernhin, femunten: schnell sinken sie hinunter. 

Rasend schnell unter. 


* 

Ein Brausen kommt vor mich. 
Verwogt dann leise: 

Gefühl in himmlischer Sprache. 



Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 125 

Neben mir erflimmern heilige Herz-Lichter. 

Chöre der Aeonen rühren sich. 

Und die Wandelsterne sind am Weg versammelt. 

Da kommen, da kommen herunter die himmlischen Licht-Stürze 
Da spielen, da spielen über mich hinweg die seligen Pole. 

Es läuft das Roß. Es tönt mein Äther-Gewand. 

Der Rosenstrauch vor meiner Brust 
duftet, und die Bienen schwirren. 

* 

Die Pie jaden tanzen mir entgegen: 
halten Himmel-Sträuße in den Händen. 

Ihr Schönen —: Aber was sollen mir die Blumen? 

Einst gehörte mir die ganze Erde, 
fern, ganz fern die selige Erde. 

Die drehte sich in ihrem eigenen Himmel, 
trieb die schönsten Blüten aller Himmel. 

Und alle blühten mir. 

Seht es mir an! 

Der Rosenstrauch vor meiner Brust 
duftet, und die Bienen schwirren. 

* 

Aber du dort: Einsamste Tänzerin in fernsten Licht-Nebeln: 
Du Rätselvolle Leuchterin im letzten Äther-Licht: 

Du einst mir Gesandteste: einst mir Verwandteste: 
einst durch tausend Traum-Bilder von mir Genannteste: 

Liegt hier deine Heimat? — steht hier dein Haus? — 

* 

Im Himmel eine singende Stimme. 

Sie erstirbt Sie ersteht 
in Klängen des ewigen Lebens. 

* 



Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 

Es läuft das Roß. Es tönt mein goldenes Haar. 

* 

Feuer-Ströme überlaufen den Himmel. 

„Du —: Wer bist Du —?** 

Aus einem Schall-Schlund 

wirbelt eine Stimme gegen mich an. 

Steilaufgerichtet 

ragt 

ein dunkler Riese — 
erhobene Arme — 
und sperrt die Bahn — 

Hinter ihm erscheint eine Brücke. 

Aber die Worte: da sie sich mir nahen: 
da kehren sie um — 
fliehen vor mir — entsetzt schreiend —: 
sie zersplittern in Staub. 

Letzter Schrei. 

Frage keiner mich mehr! 

Fürwahr: an mir zergeht scheiternd jede Frage. 

Ich reite auf den Riesen ein —: 

Reite durch den Geist durch —: Durch Luft. 

* 

Hinter mir liegt —: Luft. 

Hinter mir das All — das durchrittene All. 

In mir verhallt jetzt grausig-göttlich seine letzte Melodie. 

* 

Vor mir steigt die Brücke. 

Es schnaubt das Roß. Es tönt mein Licht-Gürtel. 

Schon reite ich oben auf dem höchsten Joch. 

Blicke zurück in die ewigen Ozeane 
drunten, wo alle Sonnen untergingen. 


Da geschieht, was mir geschieht: 



Alfred Mombert, An Debrnel in den Welten 

Aus meiner Brust löst ach der Rosenstrauch: 

löst seine Wurzeln — 

alle ^der-Wurzeln meines Herzens — 

weht — er weht — weht 

— von dem höchsten Joch — 

Ober die Brücke in die Tiefe unter — 

Ihm nach schwirren alle goldenen Bienen. 

* 


Auf dem höchsten Joch 

half ich das Roß an. Eine Stunde. 

leb hebe die Hände auf: Ich segne die Welten. 

Ich im Äther-Gewand: 

Ich streiche über mein goldenes Haar: 

Ich bin der Vollkommen-Träumende 
auf dem höchsten Joch. 


* 


Da wiehert ein Roß: 

Posaune. 

Mein Roß antwortet: 

Pauken-Wirbel. 

Es endete der Glanz. 

Begann eine tiefe Dämmerung. 

Am Brücken-Ende 

lehnt ein dunkler Held erwartend an ein Roß. 
Manchmal durchfliegt den Wind ein Funken: 
überleuchtend sein Gesicht 

Er hebt die Hand; 

winkt einen Gruß — 

sofort schwingt er sich aufs Roß. 

Das donnert ab — 


* 


Wir reiten nebeneinanderhin. 



1 16 Alfred Mombert, An Dehmel in den Welten 
Die Rosse sprengen dahin. Sie eilen. Eilen. 

Manchmal schau* ich stumm zu Ihm hinflber: 

Du in den Welten. 

Hinter deiner Stirne kreisen die unendlichen Sonnen 
in Uranfang der Freiheit: 
in der ewigen Seligkeit. 

Du trägst sie, wie Du einst die Erde trugst 
durch die rollenden Äther-Wogen: 

Stolz in Demut 

Manchmal schaut Er stumm auf mich herüber: 

Du in den Welten. 

Schon bist du: 

In deinem Antlitz dämmert noch nach ein Schimmer 
deiner zaubrischen irdischen Jahre, 
vermählt mit Licht, geliebt von Finsternis. 

* 

Wir reiten nebeneinanderhin. 

Die Rosse sprengen dahin. Sie eilen. Eilen. 

* 

Jahre schon reiten wir durch Funken-Wirbel. 

Durch sprühenden Sturm. 

In einer immer helleren Zone fliegender Glut. 

Lauter: immer mächtiger: schallt Gesang. 

* 

Unsre Augen haben sich geschlossen. 

Wir wehen nebeneinanderhin. 

Scharf gegen den Herd der großen Glut. 

Die Rosse brausen dahin. Sie stürmen — orkanen 
durch ungeheure Jahrtausende des Gesanges. 

* 

Du in deinen Welten, einmal flüsterst Du dunkel: 
Bruder, was wir einst sangen: 



Richard Dehmel, Briefe nj 

Es war hiervon ein Klang. 

* 

Die Rosse stehn. 

Unsre Augen gingen auf. 

Wir halten vor der Flamme. 

Lohenden, rauschenden Flamme. 

Groß füllt sie aus die höchste Nacht. 

* 

Wir sitzen ab. Entlassen die Rosse. 

— Zurück in die Welten jagen sie funkend — 
bäumend — wiehernd — femabklingend — 

Hier brauch’ es der Rosse nicht mehr. 

Hier ist das Ende. Hier ist die Flamme. 

Wir treten heran. Wir halten die Wache 
vor der Flamme — 

Drin die Gottheit sich verglüht im Feuer. 

Drin die Gottheit sich erneut aus Feuer. 

* * 

* 

Ruhig steht. Ruhig steigt die Flamme. 

Die rauschende Flamme. 

Die Flamme. 


♦ENDE* 


BRIEFE 

von 

RICHARD DEHMEL 

(Gest. 8. Februar 1930) 

An Alfred Mombert 

Lieber Alfred! Blankenese 16 . 7. 1909 

Jetzt ist’s Uberstanden. Überwunden noch nicht, das wird lange 
dauern; der Verlust war zu unerwartet. Ich danke Dir für Deinen 



u8 Richard Dehmel, Briefe 

Brief. Ich erhielt ihn, als ich gerade den Nachruf geschrieben hatte, 
den ich gestern an Liliencrons Grab sprechen mußte. Ich hatte eben 
dem Z. meinen Entwurf vorgelesen, und wir saßen beide mit 
strömenden Tränen, da kam Dein Brief. Ach Alfred, was ist der 
Mensch! welches Wunder von Schwäche und Kraft! Wie er auf 
dem Krankenbett lag, den ich immer bloß als Gesundesten kannte! 
Mit einer Stecknadel hatte er sich einen Zettel an die Tapete geheftet, 
auf den er mit seiner zitternden Hand den Namen seiner Krankheit 
geschrieben hatte, und nun las er mit seiner röchelnden Brust nur 
diese medizinischen Worte vor, Silbe fhr Silbe gebrochen herausstoßend, 
mit einer Stimme, halb wie ein verwundertes Kind, halb wie ein 
verletztes Tier, ganz unbegreiflich. Und dann: „wenn ich nur schlafen 
könnte! Seit sechs Tagen nicht geschlafen, Richard!** Und dann — 
(Alfred, Alfred, was ist der Mensch?!) — seine Augen qualvoll entzückt 
zur Zimmerdecke erhebend: „ich sehe immer Alexanderzüge da in der 
Stuckborte — Alexanderzüge, Richard! — und Geschichten von fremden 
Sternen!“ — Und dann noch einmal: „Wenn ich nur endlich 
schlafen könnte!“ — Nun schläft er — und wacht erst recht über 
uns. Was ich an ihm verloren habe, kann ich nur dadurch ein wenig 
ersetzen, daß ich Dir zu sein versuche, was er mir gewesen ist. Wir 
wollen ihm „die Birke schenken“-. 

Dein Richard 


An Daniel Jacoby 

Verehrter Herr Professor! Blankenese 13 . 8 . 1909 

Sie haben mir eine große Freude bereitet. Sie sind einer von den 
nur drei Lehrern, die mir Unvergeßliches ins Leben mitgegeben 
haben, nämlich nicht Kenntnisse, sondern Erkenntnis. Wie 4 >ie uns 
dummen Jungen „Emilia Galotti“ vorlasen, mit Ihrer brüchigen, 
leidenden, aber aus tiefstem Verständnis machthabenden Stimme: da¬ 
mals hat mich zum ersten Mal, mich Unbändigen, die veredelnde 
Kraft des männlichen Geistes erschüttert. Oft habe ich an diese 
Stunde zurückgedacht, und mehr als einmal wollte ich Ihnen, nach¬ 
dem ich reif dazu geworden war, ein Zeichen meiner Dankbarkeit 
senden. Aber ich wußte nicht, ob Sie noch lebten, und wo ich 
Auskunft darüber erhalten könnte; nun bringt mir der Tod meines 
Freundes die Auskunft. Sie haben Recht: Liliencrons grenzenlose 
Liebenswürdigkeit, so unsterblich sie war, enthielt doch viel sokratische 
Ironie — und es würde geradezu ein Unding sein, alle Äußerungen 



129 


Richard Dehmel, Briefe 

seiner Gnadensonne an die Öffentlichkeit zu bringen. Ich habe mir 
aber doch Abschrift von der anbei zurückfolgenden Postkarte ge¬ 
nommen und werde erwägen, ob ich sie (mit Ihren Huldigungsversen 
zusammen) in die von mir geplante Auswahl aus seinen Briefen auf¬ 
nehmen kann, ohne Sie in den Schwarm der Dilettanten zu schieben ; 
es werden fieilich Jahre vergehen, bis die Arbeit beendet ist Daß 
Sie von mir einen Schulaufsatz aufgehoben haben, setzt mich eigentlich 
in Verlegenheit. Ich hatte nämlich als Schüler noch gar keine „lite¬ 
rarischen Ambitionen“ und brach solche Aufsätze stets übers Knie. 
Nur an einen erinnre ich mich, bei dem ich mir — und zwar in 
der Tat unter Ihrer Ägide — etwas Mühe gegeben habe, weil Sie 
uns die Wahl des Themas freigestellt hatten; es war eine Antikritik 
zu Schillers Kritik am „Egmont“. Wenn es der etwa sein sollte, 
den Sie aufgehoben haben, dann würde es mir trotz aller Ver¬ 
schämtheit doch einiges Vergnügen machen, ihn jetzt wieder in die 
Hand zu bekommen, und Sie werden mir das Heft wohl gern über¬ 
lassen. Ich habe inzwischen verschiedene Aufsätze geschrieben, an 
denen hoffentlich nichts mehr zu „korrigieren“ ist, und erlaube mir, 
den Sammelband als Gegengabe zu überreichen. Und erlaube mir, 
außerdem einen Band beizufügen, der eine kleine, aber großgemeinte 
Fruchtspende für das von Ihnen empfangene Samenkorn vorstellen 
soll. Mit einem von Herzen kommenden Gruß 

R. Dehmel 

An Charles Andler 

Verehrter Herr Professor! Blankenese 18. 9. 1909. 

Es war mir keine Mühe, sondern eine Freude, Ihren Essay*) durch- 
zusehn. Allerdings eine etwas beschämende Freude; denn noch kein 
deutscher Ästhetiker hat Liliencrons Poesie bis jetzt so umfassend 
und gründlich abgeschätzt. Besonders die Nachdenklichkeit seines 
Wesens ist noch nie so deutlich beleuchtet worden; und ich könnte 
höchstens den Einwand erheben, daß Sie in Ihrer Entdeckungslust 
ein gar zu scharfes Licht darauf werfen. Infolgedessen schlägt im 
letzten Kapitel Ihre bis dahin ganz psychologische Kritik unwillkürlich 
ins Ideologische um und wirkt durch diese Einseitigkeit gröber, als 
wohl eigentlich Ihre Absicht war; ich glaube. Sie könnten mit 

*) „Detlev von Liliencron“, Revue de Paris, ij. Okt. 1909. Fortsetzung 
1. Nov. 1909. 


9 


/ 



130 Richard Dehmel, Briefe 

wenigen Worten Ihr strenges Schlußurteil etwas mildern, und ich 
habe mir daher erlaubt. Ihnen an den Rand des Korrekturbogens 
ein paar andeutende Notizen zu schreiben. Da Sie überdies aus meiner 
Grabrede einige Stellen citieren wollen, wird ja der Schluß Ihrer 
Betrachtung schon deshalb milder im Ton werden müssen. Mit Ihrem 
Vorhaben, eine vollständige Übersetzung der Grabrede in der „Revue 
Germanique“ zu veröffentlichen, bin ich natürlich gern einverstanden; 
der im „Literarischen Echo“ erschienene Wortlaut ist in der Tat der 
richtige. All solcher Austausch geistiger Güter dient ja am besten 
dem „Ideal einer neuen romanisch-germanischen Kulturepoche“; sobald 
der Austausch ein regelmäßiger würde, wäre das Ideal doch verwirklicht 
Und warum sollte das nicht erreichbar sein? Angebahnt war dieser 
Bildungsverkehr ja schon im gothischen Mittelalter bis zur frühen 
Renaissance, und nur die vermaledeiten kirchlichen Kriege haben ihn 
damals abgebrochen. Das ist jetzt nicht mehr zu befürchten; und 
wie glücklich könnten sich die Naturanlagen unsrer beiden Nationen 
ergänzen! Ich habe schon mehrmals dafür in französischen Blättern 
plaidiert, zuletzt im „Si&de“ 1905 auf ziemlich ausführliche Weise; 
ich werde auch wieder die Rundfrage des „Gil Blas“ beantworten, 
die Ihr Schützling Guilbeaux mir zugestellt hat, muß mich diesmal 
aber kurz fassen, weil ich entsetzlich mit Arbeit überhäuft bin. Das 
Eine ist sicher: Deutschland und Frankreich vereint, könnten ganz 
Europa in Schach halten, auf allen Feldern der idealen wie der realen 
Politik. 

In der Hoffnung darauf Ihr Dehmel 

An Chr. Flaskamp 

Sehr geehrter Herr Flaskamp! Blankenese z6 . 6. 1910 

Ich habe Ihnen bereits geschrieben, daß ich Ihnen religiös näher stehe, 
als Sie ahnen. Schon vor 1 o Jahren, als meine erste Frau (wir sind Beide 
Dissidenten) unsere Kinder aus den üblichen Nützlichkeitsgründen 
taufen lassen wollte, sagte ich ihr: dann wenigstens katholisch! Sie 
hat sie daraufhin ungetauft gelassen, zu meiner Freude —, denn ich 
bin der Meinung, daß die Taufe und überhaupt die Aufnahme in 
irgend eine „sichtbare Gemeinschaft“ erst an einigermaßen reifen Men¬ 
schen vollzogen werden sollte. Ich selbst bin aus der protestantischen 
Kirche nur deshalb ausgetreten, weil ihre Versteifung auf logische 
(genauer gesagt: intellektuelle) Dogmen den spontan religiösen Instinkt 
unterbindet Ich wäre wahrscheinlich allerdings auch aus der katho- 



Richard Dehme /, Briefe iji 

lischen Kirche ausgetreten, denn die ist heute fast ebenso antireligiös 
(also im ursprünglichen Sinne antikatholisch) in sensuellen Dogmen 
erstarrt. Wir wollen uns doch nicht verhehlen, daß heute der heilige 
Franciscus vom katholischen Klerus genau so als Erzketzer, oder viel¬ 
mehr sogar als Heide, exkommuniciert würde, wie die protestantische 
Orthodoxie Luthem hinausmaßregeln täte. Ich begreife natürlich, daß 
ein katholisch Erzogener seine konfessionellen Dogmen und Riten, 
auch wenn er nicht zu den „Armen im Geiste" gehört, als konsti¬ 
tutive Symbole verehrt; aber ohne mentale Reservationen geht's doch 
auch da, wie bei aller Symbolik, in der frommen Seele niemals von 
statten. Und jedenfalls wird ein echter Katholik nicht leugnen können, 
daß ein echter Heidenchrist, der sich aus Gründen der Wahrhaftigkeit 
(bitte nicht mit „Wahrheit" zu verwechseln) solchen Reservationen 
nicht unterziehen will, ein wesentlicheres Mitglied der „unsichtbaren 
Gemeinde" ist als irgend ein vorschriftsmäßig Getaufter, den der 
geistige Fittig der heiligen Taube nie im Innersten berührt hat. In 
dieser innersten, unsichtbaren Bedeutung darf ich mich ebenso gut 
einen Katholiken nennen wie z. B. Chesterton, vielleicht sogar einen 
besseren. Ich könnte sogar die Trinität, das Mutter-Mysterium und 
die Heiligen-Anbetung unter gewissen Klauseln anerkennen, wenn ich 
nicht wie gesagt in unsrer Zeit jede solche Verklausulierung für einen 
antireligiösen Kompromiß mit konfessionellen Borniertheiten hielte. 
Ich kann fast Alles unterschreiben, was Sie über die natürliche Lebens¬ 
kraft und kulturelle Wirkungsmacht der katholischen Wahrheit 
sagen, speziell auch Ihre Ausführungen über den Protestantismus als 
eine Art Pubertätsperiode des germanischen Selbstbewußtseins; sogar 
Ihre Verteidigung der vielbeschrieenen letzten Encydica würde ich voll¬ 
kommen gutheißen, wenn der Papst sie in Ihrem Sinne erlassen hätte. 
Das ist dem braven Pius decimus aber leider nicht eingefallen, sonst 
hätte er nicht nachträglich dies klägliche „Bedauern" geäußert; das 
Ganze war eben auf beiden Seiten — wie heutzutage beim Klerus 
immer — „viel Geschrei und wenig Wolle". Auch ich glaube an die 
katholische Zukunft, aber die sichtbare Form der religiösen Welt¬ 
gemeinde wird nicht eher ins Leben treten, als bis die Kirche ganz 
und gar mit ihrer atavistischen Ambition der politischen Weltmachts- 
Stellung aufgeräumt hat; die ist ja nur ein Rudiment teils heidnischer 
teils jüdischer Traditionen der Priesterkaste, aber dies Rudiment ver¬ 
stopft und verschnürt das Wachstum des ganzen Organismus. Auch die 
Person Christi muß erst wieder von diesem irreligiösen Anstrich 



ij2 Richard Dehmel, Briefe 

gereinigt werden, der allmählich den Salvator Mundi zu einem Trium¬ 
phator Naturae aufgeschminkt hat; und Sie sind in einem gewaltigen 
(richtiger: gewaltsamen) Irrtum, wenn Sie behaupten, der ,Jesus von 
Nazareth“ in meinem Gedicht „Auf einem Dorfweg“, das sei nur 
mein Jesus, nicht der biblische. Es ist freilich nicht der katholische 
Christus, weder der alte echte Salvator noch der moderne gefälschte 
Triumphator, aber es ist der evangelische Jesus, der „bei euch alle 
Tage ist, selbst im Geringsten eurer Brüder“. Hier wollte ich eben 
einmal ganz klar den nur humanen Gottessohn der Protestanten trans¬ 
ferieren, wie er dem himmlischen Übermut (ich könnte auch sagen: 
der göttlichen Natur) jener „Kindlein“ zum Opfer fällt, von denen 
er sagte: „Lasset sie zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich“. 
Wer den für meinen Jesus hält, der versteht nicht zwischen den 
Zeilen zu lesen; meinen Jesus finden Sie im letzten Traum der „Gottes¬ 
macht“ (Band VII meiner Gesamtausgabe) — und gerade er repräsen¬ 
tiert in dieser modernen Theurgie den altkatholisch divinen Christus, 
den ebenso übermenschlichen Salvator mundi, der viel zu gotteins mit 
der „Natur“ ist, als daß er über sie triumphieren möchte. Ich hoffe. 
Sie werden katholisch genug sein, um den grotesken Schluß dieses 
Traumes nicht als Blasphemie aufzufassen, wie das von Seiten frommer 
Schafe und unfrommer Böcke geschehen ist; der Hohn darin richtet 
sich ja grade gegen die menschliche Vernunft, gegen dies endliche 
Begreifenwollen jenes ewig unbegreiflichen Geistes, der „höher ist als 
alle Vernunft“. Deshalb verschmähe ich es auch, in Diskussionen über 
„Gott“ einzutreten oder gar über das Allerweltswort „Natur“; wenn 
man „natura naturans“ darunter versteht, ist’s ja nur eine schwatzhafte 
Floskel für „Gott“, und die „natura naturata“ ist die mit Brettern 
vernagelte Welt. Das Allerheiligste läßt sich nicht erklären, sondern 
immer nur andeuten, mag dies nun in rhetorischer, mag es in poeti¬ 
scher Form geschehen, mit konventionellen oder mit originellen Sym¬ 
bolen. Religion zu predigen, ist nicht Sache des Dichters; Dichten ist 
religiöses Handeln. Einer kann nicht Alles tun; der Lehrer und 
Prediger weist den Weg zu Gott, der Künstler baut die Himmelsleiter. 
Wer darauf strauchelt, der lerne erst steigen, der Künstler hat einfach 
weiter zu bauen. Er gehorcht eben nur der Stimme Gottes, und diese 
Stimme heißt Phantasie. Sie spricht das unmittelbarste „Es werde!“, 
sie ist das „Wort, das im Anfang war“. Dies meine ich nicht bloß 
metaphorisch, sondern ganz und gar esoterisch — Phantasie ist die 
göttlichste Gotteskraft des ewig schaffenden Schöpfergeistes — und 



Richard Dehmel, Briefe 133 

alle vergebliche Mühe der Biologen, ein mechanisches Prinzip der 
„Entwicklung“ zu finden, läuft auf das eine Bekenntnis hinaus, daß 
die Entwicklung Gott selber ist, dessen Phantasie sich durch immer 
neue Formen auf all seine andern Wesenskräfte in unerschöpflicher 
Schöpfung besinnt Dies ist auch die einzige Theologie, aus der 
heraus sich der „Geist des Antichrist“ und überhaupt alles Satanische 
als gottgewolltes Schöpfungsgebilde widerspruchslos begreifen läßt. 
Und nun werden Sie wohl auch begreifen, warum sich gerade die 
stärksten Künstler (religiös gesprochen: die göttlichsten) an konfessio¬ 
nelle Symbole nicht binden können, warum z. B. ein Michelangelo 
scheinbar viel heidnischer damit umspringt als etwa ein Fra Angelico, 
sie aber der wesentlichen Bedeutung nach viel christlicher und auch 
katholischer ausbaut, nämlich in den Geist der Zukunft hinein, ob¬ 
gleich er von seinen Zeitgenossen mit Feigenblättern bepatzt worden 
ist. Dem echten Künstler ist eben die werdende Kunst die höchste 
Manifestation des religiösen Mysteriums, höher als irgend ein 
rituelles, legendäres, dogmatisches oder sonst wie konventionelles 
Symbol, das ja nur durch vergangene Kunst zur Tradition geworden 
ist; Gottes schaffende Phantasie, als deren Werkzeug er sich filhlt, 
gilt ihm selbstverständlich für heiliger als alle seine noch so verehrungs- 
würdigen, schon erschaffenen Phantasmen. Auch ist die Kunst die 
einzige Sphäre des menschlichen Allgemeingefühls, in der auch der 
teuflischen Wirklichkeit ihr göttliches Daseinsrecht verbürgt werden 
kann; jede andere Gemeinschaftsform, die religiöse im engeren Sinne 
wie die soziale im weitesten, selbst die zwischen beiden vermittelnde 
erotische, muß um der Selbsterhaltung willen jeden dämonischen 
Eigensinn mehr oder minder töricht verdammen. Deshalb erlangt auch 
in keiner Kunstgemeinde ein religiöses Urteil Geltung, das von kon¬ 
fessionell borniertem Standpunkt aus über ein Kunstwerk absprechen 
will. Sie haben zwar jetzt der „Lebensmesse“ gegenüber Ihr leicht¬ 
fertiges Verdikt „dilettantisch“ auf „unzulänglich“ abgeschwächt, aber 
auch das begründen Sie nur mit konventionellen Postulaten, die auf 
meine Dichtung gar nicht anwendbar sind. Das Menschliche in meiner 
Dichtung schließt keineswegs Ihr Göttliches aus, die Seele der Mensch¬ 
heit ist ja doch Gott; wenn Sie die Demut vor der „Allmacht“ in diesen 
Streitgesängen vermissen, dann haben Sie einfach den Doppelsinn nicht 
begriffen, der in der Wendung „dem Schicksal gewachsen sein“ liegt, 
je nachdem man nämlich „Schicksal“ oder „gewachsen“ stärker betont 
Und gerade die ideelle Erringung dieser stolzen Demut vorm Schicksal 



1 34 


Richard Dehmel, Briefe 

(christlich gesprochen: Gottwilligkeit) im instinktiven Wechselspiel 
zwischen den Einzelfiguren und Chören, die ist die eigentlich heilige 
Handlung in dieser Messe einer mythischen Menschheit und zugleich 
die eigentlich künstlerische. „Unzulänglich* 4 wird sie wohl sein, wenn 
man sie auf den breitspurigen Boden der historischen Menschheit stellt. 
Unzulänglich in irgend einer Hinsicht ist schließlich jedes Menschen¬ 
werk. Was soll mir der Vergleich mit Shakespeare? Ein mythisches 
Oratorium ist natürlich kein Renaissance* Drama. Ich könnte den 
Spieß mit Bequemlichkeit umdrehen und Ihnen lang und breit be¬ 
weisen, daß Shakespeares realfigürlicher Stil „unzulänglich 44 für meinen 
Konflikt rein idealer Instinkte gewesen wäre. Ich will aber christlicher 
sein als Sie und schicke Ihnen anbei die Liste der gewünschten „rein 
lyrischen 44 Gedichte, obgleich mir Ihr Anthologie-Prinzip einstweilen 
noch recht „problematisch 44 ist. Mit einem lächelndem Gruß. 

R. Dehmel 


An Julius Meier-Graefe 

Lieber! Mitte Dezember ipio 

Du hast mir mit Deinem Maries-Werk eine ausnehmende Freude 
gemacht: es kam gerade zu meinem Geburtstag an. Hoffentlich ist 
es Dir nun eine kleine Weihnachtsfreude, wenn ich Dir sage, daß es 
mir zwar eine Anstrengung, aber eine erhebende war, mich durch den 
Wälzer durchzuschlagen. Wirklich ein musterhaftes Werk! Ganz ab¬ 
gesehen von dem bewundernswerten Fleiß, der hier mehr ist als Ge¬ 
lehrtentugend, weil Ausdruck einer inständigen Begeisterung: noch 
gründlicher hat mich der Eifer erbaut, mit dem Du alles künstlerisch 
Bildhafte ins menschlich Vorbildhafte gedeutet hast. Das ist — mit 
dieser Planmäßigkeit, oder besser gesagt Beharrlichkeit — ein neuer Zug 
in Deiner Anschauungsart, an dem ich mir schmeichle, einigen Anteil 
zu haben; und es ist auch Deiner Schreibart zugute gekommen. Dein 
Stil ist noch nie so durchweg solid gewesen, so gezügelt bei aller 
Gelenkigkeit. Am deutlichsten kann man das daran merken, daß die 
Citate vom alten Herrn Maries und besonders von Fiedler nicht aus 
der Karre rutschen. Überhaupt: wie Du das Verhältnis des Hans zu 
seinen Freunden und Blutsverwandten dargestellt hast, das ist in jeder 
Hinsicht ein Beweis dafür, daß Stil- und Taktgefühl sich decken (Ie 
style e’est 1 'homme). Ich kann mir denken, was für Skrupel Du 
gerade bei Fiedler hast durchmachen müssen. Ich weiß sogar, daß er 
noch weniger Ahnung, als Du ihm zugestehst, von Maries hatte, ja 



*35 


Richard Dehmcl, Briefe 

von der Malerei schlechtweg — (noch viel weniger z. B., als Du von 
der Dichterei, mein Teurer!). Er begriff' in der Kunst nur das Kon¬ 
struktive, nicht das Strukturelle; das ideell Harmonische, nicht das spiri¬ 
tuell Organische. Noch 6 Jahre nach Maries Tod (1893, als ich 
das erste Mal aus Italien kam und Fiedler in München besuchte) wußte 
er z. B. an dem „Drachentöter“ nichts weiter zu rühmen, als daß 
„seit Cranach keiner verstanden habe, ein solches Rot richtig hinzu¬ 
setzen* 1 (wörtlich so!). Ich habe das deshalb so genau behalten, weil 
mir an dem specifischen Maries-Kenner, für den er damals doch galt, 
unbegreiflich war, wie man Cranachs rote Theatermäntel mit diesem 
Zaubermantel vergleichen könne. Und das tat er nicht etwa aus Re¬ 
serviertheit (entschuldige das scheußliche Mischwort) — denn ich kam 
mit Empfehlungen von Hildebrand und Volkmann, und er gab mir 
nachher eine große Maries-Mappe und eine von seinen Schriften mit. 
Wenn er trotzdem in seinen Abhandlungen manchen allgemein wert¬ 
vollen Satz über das Wesen der Kunst formuliert hat, so ist das nur 
ein Beleg dafür, daß man ein schlechter Praktiker und doch ein guter 
Theoretiker sein kann, in der Ästhetik wie allenthalben; er war eben 
ein vernünftiger Kerl, und die Logik im Kunstwerk ist schließlich 
dieselbe wie bei jeder andern geistigen Arbeit (bloß daß sie sich am 
konkreten Einzelfall schwerer feststellen läßt als in abstracto). Bei 
Dir liegt die Sache umgekehrt; Du hast von Hause aus weit mehr 
praktischen als theoretischen Kunstverstand (daher auch mehr Verständ¬ 
nis für die bildenden als für die sogenannten redenden Künste) — 
und doch stimmst Du in allen kritischen Dogmen (Wertregeln, Ma߬ 
stäben) mit den abstraktesten Idealisten überein. Was natürlich nur 
ein gutes Zeichen für Deine konkrete Intuition ist. Und weißt Du, 
was mir den größten Effekt an Deiner ganzen Arbeit gemacht hat, 
in ästhetischer wie biographischer Hinsicht: daß man vollkommen 
ausgesöbnt wird mit der späten Anerkennung des Helden. Ich habe 
mir sogar gesagt: Eigentlich ist es ein wahrer Segen, daß man nicht 
schon bei Lebzeiten mit solcher Ehrfurcht gewürdigt wird. Man ver¬ 
löre sonst — nicht etwa die Selbstkritik, sondern im Gegenteil (Du 
wirst mich nicht mißverstehen) die naive Selbstanbetung, das dämo¬ 
nische Glück der einsamen Andacht vor dem Gott in unsrer Brust; 
und daraus wächst doch wohl alles vorbildlich Menschliche. Also mit 
einem untragischen Weihnachtsgruß und Geburtstagsdank. 

Dein alter 
R. und D. 



Richard Dehmel, Briefe 


\\6 

An Franz Servaes 

Lieber Servaes! Blankenese b. Hamburg 13. iz. 11 

Du brauchst Dich gar nicht zu entschuldigen; ich bin bei Dir 
immerhin besser weggekommen als bei den meisten andern Kritikern. 
Aber was seid Ihr Herrn Ästhetikusse doch Ihr superkluge Tiftelfritzen! 
Kein Wunder, daß Ihr dann den Dichter hinter derselben Türe sucht 
und gar so wenig Naivität bei ihm findet. Du hattest bloß sehen 
sollen, wie ich losgelacht habe, als ich Deine sinnige Glosse über 
den schwarzblauen Block las. Nein, mein Lieber, die blaue Brille 
habe ich dem schwarzen Karl lediglich deshalb aufgesetzt, damit man 
ihn bei dem Maskenfest von den übrigen Bergknappen gleich unter¬ 
scheiden kann. Und ähnlich steht’s mit dem andern allegorischen Un¬ 
sinn, den Ihr mir gütigst wieder einmal unterlegt. Die Lise Lied zum 
Beispiel, die das Volkslied „symbolisieren“ soll, bloß weil sie den wohl¬ 
klingenden Spitznamen hat und ein paar einfache Lieder singt — ja 
zum Teufel, was soll denn ein hergelaufenes Zigeunermädel sonst 
singen als Volkslieder? — Wenn Ihr ahntet, wie wenig das ganze Alle¬ 
gorische und Idealische von Belang ist, nicht bloß in meiner Komö¬ 
die, sondern überhaupt im Leben! Was im „Michel Michael“ alle¬ 
gorisch aussieht, ist doch nichts als Begleiterscheinung des durchaus 
realen Maskenfestes; auch im wirklichen Leben hat ja jede Maske et¬ 
was Allegorisches. Und daß dieser Mummenschanz in Michels Traum 
deutungsvolle Hyperdimensionen annimmt, das ist gleichfalls bei jedem 
wirklichen Traum so; nur tritt es im kompakten Drama mit der typi¬ 
schen Steigerung auf, die in der Kunst allenthalben vonnöten ist, wenn 
sie nicht in der psychologischen Detailkrämerei des Naturalismus ver¬ 
kümmern will. All dies Traumhafte dient doch aber nur dazu, den 
wirklichen Lebenskampf in Michels Seele wahrnehmbarer auszugestalten, 
aus seiner unklaren Triebhaftigkeit zu klarer Handlung hinzuführen; 
wenn man diesen Kunstbegriff, instinktive Impulse und visionäre Motive 
des Helden sichtbar zu machen, symbolistisch nennen will, dann sind 
auch Kleist und Shakespeare Symbolisten gewesen, von Goethe und 
Calderon gamicht zu reden. Wer meine Komödie in der Tat mit 
naiven Blicken betrachtet, der muß doch schon aus den Prologen 
merken, daß ich auf alle Idealfexerei hier pfeife. Und auch inner¬ 
halb der Handlung: über mein angebliches Gartenstadt-Ideal macht 
sich doch Eulenspiegel zur Genüge lustig, und die Lise desgleichen. 
Was gehn euch überhaupt meine Ideale an? Ich bin kein Prediger, 
sondern ein Dichter! Ich benutze die Glaubensmeinungen der Zeit- 



Richard Dehme/, Briefe 157 

genossen stets nur als Mittel zu zeitlosen Darstellungszwecken. Hier 
habe ich die Glücksjägerei eines gewissen Michel Michael dargestellt, 
d. i. eines tatenlustigen Kerls aus dem Volk, der trotz aller Enttäuschungen 
durch die Gegenwart, eben weil er ein mutiger Kerl ist, immer zu¬ 
kunftsfreudig bleiben wird. Daß er über sein famoses Neuland-Projekt 
später einmal ganz anders denken und dann wieder ein neues 
Luftschloß bauen wird, das scheint mir nach dem Präcedenzfall mit 
seinem nicht minder famosen Stadt-Projekt ziemlich sicher. Wenn 
wirklich irgend eine Moral aus dieser Komödie gezogen werden darf, 
dann ist es höchstens (wie bei jeder Komödie) eine negative: von 
der Eitelkeit und Nichtigkeit aller Volksbeglückerei. Die hat aller¬ 
dings eine positive Kehrseite: nur Selbstbeglückung ist wirkliches Glück. 
Aber das wird nirgends nach Idealistenmanier gepredigt, sondern steckt 
ganz und gar in der Handlung; schließlich läßt sich ja jeder natür¬ 
liche Konflikt in eine moralische Antithese übersetzen. Der Gang der 
Handlung führt hier eben zu dem Ergebnis, daß ein Mensch auf der 
Suche nach äußerem Glück durch allerlei unausbleibliche Quertrei¬ 
bereien zu seinem inneren Glück zurückfindet, daß er sich unter dem 
feindlichen Eindruck des widerspruchsvollen Kulturrummels auf sein 
Urnatürlichstes besinnt, auf die unbeirrbare Stimme seiner Liebeskraft 
und Schaffenslust. Das ist der einfache rote Faden meines angeblich 
schwarzblau verzwickten Possenspiels. Und daß ihn Leute, die einfach 
aufpassen, ohne Mühe finden können und ihr rein menschliches Ver¬ 
gnügen dran haben, das hat der nicht bloß stürmische, sondern ge¬ 
radezu jubelnde Beifall bei der Hamburger Erstaufführung bewiesen. 
Natürlich hat dann die kritische Camorra, die allmählich aus ihrem 
Vehmrichterbund schon zur Totschlägerbande ausgewachsen ist, das 
Publikum mit der tiefsinnigen Entdeckung kopfscheu gemacht, der 
Beifall habe nicht dem Dramatiker, sondern dem „berühmten Lyriker“ 
gegolten. Merkwürdig ist bloß, daß ich als Lyriker von den Herren 
Kritikern auch immer Hundsloden geerntet habe, und daß mir übrigens 
auch das Publikum bei meinen lyrischen Vorträgen noch niemals sol¬ 
chen Beifall gespendet hat, noch nicht den zehnten Teil davon. Einst¬ 
weilen also erlaube ich mir, mich trotz euem wohlmeinenden War¬ 
nungen doch für einen bewährten Dramatiker zu halten, der sich 
auch weiter bewähren wird. Ihr mögt immerhin sagen, daß ich nicht 
fähig sei oder doch nicht vollkommen fähig, euern „innersten Herz¬ 
punkt erwärmend zu treffen“; das habt ihr mir ja nach jedem meiner 
Bücher gesagt, bis ihr mit der Zeit dahingekommen seid, daß andre 



i j 8 Leo Tolstoi, Tagebuch 

Leute sich dran erwärmen. Ihr dürft auch bei jedem meiner künfti¬ 
gen Bücher mit vollstem Recht verkündigen, dafi mir „das Letzte und 
Höchste noch nicht gelang"; das gelingt den Dichtern nämlich immer 
erst, wenn sie bereits so lange tot sind, dafi sämtliche Herren Ästhe¬ 
tiker ihren innersten Herzpunkt an den Rockschöfien des „verewig¬ 
ten Meisters“ erwärmen können. Bis dahin aber hoffe ich euch noch 
manchen „geschmacklosen“ Anlaß zu geben, dafi ihr eure taktvollen 
Taschentücher gegen meine Bafitöne schwenken könnt. 

Mit einem ganz bescheidenen Grufi Dein alter, noch immer zu junger 

Dehmel 


TAGEBUCH 

von 

LEO TOLSTOI 

(Schluß) 

iz. Juli 1903. Jassnaja Poljana. 

Zwei Tage lang Herzanfalle. Jetzt, morgens, noch kein Anfall. 
Nachts etwas sehr Wichtiges gedacht: 

1. Uns verwirrt der Begriff 1 der Unendlichkeit des Raumes und der 
Zeit. Das kommt daher, dafi wir unwirklichen, scheinbaren Erschei¬ 
nungen Wirklichkeit zuschreiben, den zeitlichen und räumlichen Er¬ 
scheinungen nämlich. Diese Erscheinungen stellen sich uns als unendlich 
dar. ln Wirklichkeit aber existieren sie gar nicht und können daher 
weder endlich noch unendlich sein. Wirklich existiert nur das Geistige, 
und dieses ist nicht etwa unendlich, sondern es kann ihm kein 
Attribut der Endlichkeit oder der Unendlichkeit beigelegt werden. Wir 
sehen in unserem Leben die Erscheinungen in einer gewissen Reihen¬ 
folge — in Raum und Zeit — und denken uns diese Reihe über unser 
Leben hinaus fortgesetzt. Hierin liegt eben der Irrtum. Der Irrtum 
hegt darin, dafi wir unser Leben für etwas Vorübergehendes halten, 
die Welt aber als das unveränderlich Dauernde, während in Wirk¬ 
lichkeit unser geistiges Leben unveränderlich ist, auf das die Begriffe 
Endlichkeit und Unendlichkeit nicht passen. Die Welt aber mitsamt 
der Bewegung ist nur eine vergängliche Erscheinung, die von unserer 
Vorstellung abhängt. 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


»39 


2. In der Medizin gibt es zwei Irrtümer, die beide Extreme dar¬ 
stellen. Der eine ist die größtmögliche Verfeinerung der Untersuchungs¬ 
methoden, mikroskopische Untersuchungen, wo so leicht Fehler Vor¬ 
kommen können (Phagozyten usw.), der zweite die plumpe Vorstellung 
des Organismus als eines Mechanismus, den man mechanisch oder 
chemisch ausbessern könnte. 

3. Es gibt unzugängliche, unangenehme, ungerechte, böse Menschen, 
die aber doch hin und wieder sich zu Gott zurückfinden und dem Guten 
und der Wahrheit zugetan sind. In solchen Zeiten kann man ihnen 
alles verzeihen. Es gibt aber auch angenehme, gute Menschen, die 
nie zur Erkenntnis der reinen Wahrheit und des Guten gelangen. Und 
diese Menschen sind noch schwerer zugänglich. (Nicht gut, nicht 
wahr.) 

15. Juli. 

Noch immer kann ich nicht schreiben. Die Gedanken sind nicht 
klar, und ich habe keine Lust; indes klären sich unerwarteterweise 
einige Gedanken zur Definition des Lebens. So dachte ich heute: 

1. Es ist nicht richtig, Perioden des klaren und unklaren Bewußt¬ 
seins (Schlaf, Wahnsinn) der Zeit nach zu unterscheiden. Es gibt nur 
ein außerzeitliches Wesen, das eben mein Ich ist. Meine Beschränkt¬ 
heit verdunkelt es mehr oder weniger, wie die Wolken oder die 
Atmosphäre die Sonne verdunkeln, aber es ist immer dasselbe zeit¬ 
lose Bewußtsein. 

z. Man sagt: nur das ist die wahre Unsterblichkeit, bei der meine 
Persönlichkeit fortdauert. Aber meine Persönlichkeit ist auch das, was 
mich quält, was mir von allem in der Welt am meisten verhaßt ist. 
Auf ewig mit dieser Persönlichkeit verbunden zu sein, wäre eine 
wirkliche Ahasverus-Qual. 

1 6 . Juli 1903. J. P. 

Der Magen ist noch immer in Unordnung. Mit dem Arbeiten will’s 
nicht gehen. 

Heute, im Bett, fiel mir etwas sehr Wichtiges ein: 

1. Man kann nicht vorsätzlich einschlafen, wohl aber kann man 
vorsätzlich erwachen. Man kann nicht vorsätzlich etwas liebgewinnen, 
wohl aber kann man sich in einer leidenschaftlichen Aufwallung 
zurück halten. Die Hauptsache ist, min kann nicht willkürlich ein¬ 
schlafen. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß nur das Leben, das 
sich im Bewußtsein offenbart, das Unzerstörbare, einzig Reale ist; 
alles übrige ist nur etwas, das dieses Leben verhüllt. 



140 Leo Tolstoi, Tagebuch 

i. Leben ist nur das, was sich im Bewußtsein vermittelst des Be¬ 
wußtseins offenbart. Dieses Leben ist zeit- und raumlos. 

3. Ich sagte und dachte frGher, daß das Leben Bewußtsein sei. 
Das ist falsch. Das Leben ist das, was durch das Bewußtsein offenbar 
wird, und es ist immer und fiberall vorhanden, d. h. es ist außerzeit¬ 
lich und außerräumlich. Unser Irrtum besteht darin, daß wir das ffir 
das Leben halten, was es verbirgt. 

4. Die Liebe ist nicht das Urprinzip des Lebens. Die Liebe ist 
eine Folge, keine Ursache. Die Ursache der Liebe ist das Erkennen 
der eigenen Geistigkeit. Dieses Erkennen fordert Liebe und ruft Liebe 
hervor. 


17. Juli 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist gut. 

Heute, im Bett, fiel mir ein: 

1. Leben nennen wir zweierlei: a) unsere Erkenntnis des geistigen 
Prinzips, wie es sich in der Welt offenbart, und b) die von uns in 
Raum und Zeit erschaute Erscheinung dieses Prinzips. In Wirklichkeit 
gibt es nur den einen Begriff* des Lebens als Offenbarung des von 
uns erkannten geistigen Prinzips. Dieses allein ist wirklich; gäbe es 
dieses nicht, so existierte überhaupt nichts. Aus diesem allein ent¬ 
springt alles, was wir wissen und was es auch sein mag, aus diesem 
entspringt auch der zweite Begriff; nach welchem wir als das Leben 
das bezeichnen, was wir nicht kennen und worüber wir nur nach 
der Beobachtung an anderen Wesen urteilen. 

Wenn jemand behauptete, daß es noch einen dritten Begriff des 
Lebens gäbe, nämlich den, daß jenes das Leben sei, was sich in unserem 
Bewußtsein widerspiegelt, jener Urgrund des Seins, auf welchen alles 
zurfickzuffihren ist, so wäre dies ebenso unrichtig, wie die Auffassung, 
daß die von uns beobachteten Erscheinungen das Leben sind. Das, 
was allem zugrunde liegt, ist das, was wir Gott nennen, was wir 
nicht erkennen und nicht erkennen können, ob wir gleich wissen, 
daß es existiert. Die Erscheinungen in Raum und Zeit aber sind 
ebenso unbegreiflich, wie Gott, wenn sie auch beobachtet werden 
können. Das erste (Gott) kann nur erkannt, nicht beobachtet werden, 
das zweite (die materielle Welt) kann nur beobachtet, nicht erkannt 
werden. 

Möchte ffir das Sammelwerk gern eine Erzählung schreiben; aber 
ich kann nicht, es will nicht gehen. 



Leo Tolstoi , Tagebuch 


! 4 i 


18. Juli 1903. J. P. 

Auch dies im Bett gedacht: 

1. Die Bewegung, der Begriff der Bewegung, ist nur möglich bei 
der Erkenntnis von etwas Unbeweglichem — unserm geistigen Wesen. 

2. Die Bewegung, von der wir Kenntnis haben, ist nur ein Wachs¬ 
tum, eine Erweiterung und überhaupt jede Art Veränderung der 
Grenzen der Wesen. Gäbe es keine Veränderungen, so gäbe es auch 
keine Bewegung. 

21. Juli 1903. J. P. 

Meine Gesundheit ist immer gleich gut, ich lebe noch immer rein 
vegetativ. Versuchte ein Märchen zu schreiben, es ging nicht. 

Heute, im Bett, fiel mir eine neue — nein, nicht neue, aber eine 
andere Formulierung der Definition des Lebens ein: 

1. Das unendliche, geistige, außerräumliche, außerzeitliche Wesen, 
das heißt das, was wir als das Existierende (t6 Sv) kennen, das wir 
aber nicht begreifen und dessen Eigenschaften wir nicht kennen, ist 
das, was wir Gott nennen. Dieses Wesen erscheint uns in körperlicher 
Form. Wir bezeichnen als Leben, als unser Leben unsere Erkenntnis 
dieses Wesens. Wir nennen auch die von uns beobachteten Erschei¬ 
nungen dieses Wesens außerhalb von uns in Raum und Zeit Leben 
und nennen die Erscheinungen dieses Wesens in Zeit und Raum, die 
von andern beobachtet und uns mitgeteilt werden, unser Leben. Das 
erste ist das wahre Leben, das zweite ist eine Erscheinung des Lebens. 

2. Mir fiel ein, daß weder die Form der Betrachtungen, noch die 
der Aufrufe, noch die der dichterischen Werke mein Verhältnis zur 
Staatsgewalt vollkommen ausdrücken kann und daß eine neue Form 
gefunden werden muß. Vielleicht suche ich sie schon. 

3. Ich kann mir (und den andern) nicht oft genug wiederholen, 
daß es dreierlei Bewegungsgründe des menschlichen Handelns gibt: 
a) das Gefühl, das der Umgang des Menschen mit anderen Wesen 
erregt, b) Nachahmung, Einfluß, Hypnose, und c) vernünftige Über¬ 
legung. Auf eine Million Handlungen, die durch die beiden ersten 
Beweggründe veranlaßt werden, kommt immer nur eine Handlung, die 
aus vernünftiger Überlegung stammt. Dieses Verhältnis hat auch hin¬ 
sichtlich der Handlungen des einzelnen Menschen statt, das heißt auf 
eine Million Handlungen des einzelnen Menschen entfällt immer nur 
eine, die auf vernünftige Überlegung zurückzuführen ist, während alle 
übrigen durch die beiden erstgenannten Beweggründe veranlaßt werden. 
Dasselbe gilt von Gruppen, Verbänden usw. 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


141 

Der Papst, seine Wahl und Seraphim. Wie illustriert dies doch die 
Macht der Einflüsterung! 

zy. Juli 1903. J. P. 

Habe drei Märchen geschrieben. Sind noch schlecht, können aber 
noch ordentlich werden. 

Dachte dreierlei. Werde mich zu erinnern suchen. 

1. Man wendet sich an den Zaren und rät ihm, dies und das zu 
tun fürs allgemeine Wohl. Auch ich habe das getan. Man erwartet 
Hilfe von ihm. Taten; und er selbst kann sich kaum halten. Es ist 
geradeso, wie wenn man einen Menschen, der sich mit dem Aufgebot 
seiner letzten Kräfte, mit Nägeln und Zähnen, an einen Ast klammert, 
der über einen Abgrund hinaus hängt, bäte, einen Balken auf eine 
Mauer heben zu helfen. 

z. Alle Staatsfreunde begründen die Notwendigkeit des Staates damit, 
daß sie sagen, kein Verband von Menschen, auch nicht einmal der 
einzelne Mensch, könne ohne den Staat seine Ziele (wie sie es nennen) 
erreichen. Das ist geradeso, wie wenn man sagen würde, daß das 
seit Jahrhunderten zahme Haustier seine Ziele nicht anders erreichen 
könne als indem es eingeschlossen und in Gefangenschaft lebe. 

3. Gott wollte, wir sollten glücklich sein; darum pflanzte er das 
Verlangen nach Glück in unsere Seele ein. Aber er wollte, daß alle 
glücklich wären, nicht bloß einzelne Menschen. Und die Menschen 
sind darum auch unglücklich, weil ihr Streben nicht auf das allge¬ 
meine Glück, sondern auf das Glück der eigenen Person gerichtet 
ist Das höchste Glück der Menschen ist: geliebt zu werden, darum 
ist dieser Wunsch auch in jedes Menschen Herz gelegt (verkehrt 
drückt sich dies durch Eigenliebe und Eitelkeit aus). Doch um ge¬ 
liebt zu werden ist es wohl nötig, selbst zu lieben. 

Heute, ij. Juli 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist gut. Ich erhole mich und — sonderbar! — fühle 
zugleich die Annäherung des Todes. Habe das Märchen verbessert 
Nicht gut Gestern und heute steht es mit der Gesundheit wieder 
schlechter. Arme und Beine schmerzen, auch der Magen tut mir weh. 

9. August 1903. J. P. 

Die ganze Zeit her gesund. Habe in einem Tag „Vater und Tochter*** 
geschrieben. Nicht schlecht. Das Märchen beendigt 

* „Vater und Tochter“, später „Und Sie sagen . . .“ betitelte Tolstoi 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


1 43 


Heute mufi ich etwas sehr Seltsames eintragen. Menschen» die man 
nicht leiden kann, nenne man in Gedanken „Lieber“, „Armer“. Lieber A., 
lieber B., lieber Pobjedonoszew. Es ist dies Selbsteinflüsterung. Man 
wendet die Aufmerksamkeit sofort und unwillkürlich auf jene Eigen¬ 
schaften hin, die in N. N. gut sind, und findet solche immer. 

12. August 1903. J. P. 

Gesundheit sehr gut. Hitze 32°. Gestern ein Gespräch mit Ljowa 
und Nikitin. Ich setzte meine Weltanschauung auseinander. Aus diesem 
Gespräch sind zwei Dinge einzuschreiben: 

1. Die Wahrnehmung der Materie ist die Wahrnehmung verschie¬ 
dener Grenzen der Wesen. 

z. Wenn ein Streit entbrennt über die Frage: Was ist die Grund¬ 
lage: die Materie oder das geistige Wesen? so kann die Antwort gar 
nicht zweifelhaft sein. Die Kenntnis der Materie schöpfen wir aus 
unserer Vorstellung, die auf Eindrücken beruht; von uns selbst, unserem 
geistigen Wesen aber haben wir das allergewisseste Wissen. 

20. August. 

Erst heute habe ich die Märchen zu Ende gebracht, und nicht drei, 
sondern nur zwei. Bin unzufrieden. Dafür ist aber „Und Sie sagen .. .“ 
nicht übel. Gesundheit immer gleich gut Heute fahre ich nach 
Pirogowo. 

Hatte manches einzuschreiben, habe es aber vergessen. • 

1. Eine Kleinigkeit Hat man einen Namen vergessen und fragt 
man einen andern darum, so wird dieser angesteckt und vergißt ihn 
auch. 

2. Lerne leben in der Zeit einer Umdrehung um dich selbst: „Ver¬ 
vollkommne dich!“ „Seid vollkommen wie euer himmlischer Vater“. 

(Das übrige vergessen.) 


2 7. August 1903. Jass. Polj. Nachts. 

In Pirogowo gewesen. Serjoscha* besser als ich erwartet hatte. 
Mich gefreut mit Mascha. Das dritte, weggelassene Märchen hinzugefügt. 
Bin gesund, reite viel; gestern in Taptykowo gewesen. 


anfänglich seine Erzählung „Nach dem Ball“ (s. Tolstoi, „Nachlaß“, Band I, 
bei Eugen Diederichs, Jena, 191a). 

* Tolstois Bruder Graf Sergej Tolstoi. D. H. 



i 4 4 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

Beständig über Nikolaj I. nachgesonnen. Muß beendigen, sonst 
versperrt es andern Arbeiten den Weg. 

Heute mit Tscherbak ausgeritten. Sprachen über die Freiheit des 
Willens. Habe, wie mir scheint, genau definiert, was wir Freiheit des 
Willens nennen: 

i. Es gibt zwei Gebiete des menschlichen Lebens: das geistige und 
das körperliche. In beiden hat die Freiheit nicht statt. In beiden 
sind alle Handlungen und Erscheinungen Wirkungen von Ursachen, 
die ihrerseits wieder Wirkungen von entfernteren Ursachen sind. Weder 
in diesem noch in jenem Gebiet können die Handlungen oder die 
Erscheinungen als frei, das heißt nicht bedingt von Ursachen, gelten. 
Wenn demnach der Mensch sein Bewußtsein nicht aus dem körper¬ 
lichen Gebiet in das geistige zu übertragen vermöchte, wäre gar keine 
Freiheit des Willens möglich. Da der Mensch aber sein Bewußtsein 
aus dem körperlichen Gebiet in das geistige übertragen kann und 
darin sogar das Wesen des menschlichen Lebens besteht, so ist der 
Mensch frei. Seine Freiheit besteht eben in der Möglichkeit, sein Be¬ 
wußtsein aus dem körperlichen Gebiet in das geistige zu übertragen. 
Der Mensch ist unfrei im körperlichen Gebiet, und er ist ebenso 
unfrei im geistigen Gebiet. Aber die Unfreiheit im geistigen Gebiet 
ist nicht peinvoll und schwer zu ertragen, sondern beglückend. Diese 
Unfreiheit ist die Unterordnung des Menschen unter sein eigene: 
Gesetz; die Unfreiheit im körperlichen Gebiet ist aber stets peinvol 
und schwer zu ertragen. 

Darum: je vollkommener ein Mensch sein Bewußtsein aus den 
körperlichen Gebiet in das geistige übertragt, desto freier ist er. 

Morgen ist der z8. August 1903. Jassn. Polj. Wenn ich lebe, werd 
ich morgen 75 Jahre alt sein. 

3. September 1903. ]. P. 

Lebe, bin aber nicht gesund. Am 29. ritt ich aus, das Pferd ti 
mir auf den Fuß, kam ein Gelbsuchtanfall, ich bin ganz übel dr 
und kann das Bein nicht bewegen. 

Der 28. war ein lästiger Tag. Die Gratulationen direkt lästig u 
unangenehm-unaufrichtig: Gratulationen der russischen Erde und j< 
erdenkliche Dummheit. Den Kitzel der Eitelkeit habe ich nicht > 
spürt. Vielleicht ist auch nicht mehr viel zu kitzeln. Es ist Zeit 

Gedacht sehr Wichtiges, aber nicht zu Ende gedacht. Ich kon 
darauf nachher zurück und will jetzt einschreiben, was mir sonst 
merkenswert erschien: 



*45 


Leo Tolstoi, Tagebuch 

i. Oft verwechsle ich die Leute: die Töchter, einige Söhne, 
Freunde, unangenehme Menschen, so daß also in meinem Bewußtsein 
nicht Personen, sondern Sammelbegriffe, geistige Wesen, sind. So daß 
ich mich nicht dann irre, wenn ich die eine Person für die andere 
nehme, sondern dann, wenn ich jede als einzelnes Wesen nehme. 
Unklar. Aber je nientends. 

2. Über Literatur. Gespräche über Tschechow. Im Gespräch mit 
Lasarewskij über Tschechow machte ich mir klar, daß er, wie Puschkin, 
die Form vorwärtsgebracht hat. Das ist ein großes Verdienst. Inhalt 
ist, wie bei Puschkin, keiner da. 


6 . September 1903. J. P. 

Seit dem Unfall fühle ich mich sehr schwach. Hier war Dobrol- 
jubow, ein christlich lebender Mensch. Ich gewann ihn lieb. 

Eine Menge Briefe, muß antworten. Einzuschreiben ist nichts. 

8 . September. 

Gesundheit besser. Geschrieben Briefe und über Gott und über das 
ewige Leben. 

Einzuschreiben: 

1. Wer weiß nicht, wie ein Sinn den andern kontrolliert: ich sitze 
hier und erblicke einen Kasten; ich rücke näher und der Kasten er¬ 
weist sich als ein Lampenglas und eine Wand; kreuzweise übereinander- 
gelegte Finger fühlen zwei Kügelchen; der Spiegel; ich höre Schellen¬ 
geklingel und es sind Truthennen; ein übler Geruch scheint auf Unrat 
hinzudeuten, aber es sind Eier usw. Gesicht, Gehör, Geruch, Getast, 
Geschmack — alles täuscht, und man wird der Täuschung inne, so¬ 
bald man seine Lage verändert oder durch die Kontrolle eines anderen 
Sinnes. Daraus folgt, daß alles, was wir wahrnehmen, als solches 
ganz anders sein könnte, wenn unsere Lage eine andere wäre oder 
ein neuer Sinn dazukäme. In diesem Leben korrigieren wir im Laufe 
unseres Lebens die Sinnestäuschungen sehr bald. Ob nicht ein neues 
Leben mit seiner Veränderung der Lage und Sinne eine Richtigstellung 
aller Irrtümer dieses Lebens sein wird? 

Überhaupt haben wir von allen Dingen, die wir kennen, ausge¬ 
nommen unser eigenes geistiges Ich, nie eine unmittelbare Kenntnis, 
sondern bloß eine mittelbare, durch die Sinne. Die Eindrücke der 
Sinne, angefangen vom niedrigsten, können fort und fort vervoll¬ 
kommnet werden; jedoch auch die vollkommensten Eindrücke können 

IO 



14 6 


Leo Tolstoi, Tagebuch 


nie ein vollkommenes Wissen vermitteln, und darum sind auch die 
Sinne einer unendlichen Vervollkommnung fähig. 

z. Der Umstand, daß wir die Dinge als das, was sie an und für 
sich sind, nicht erkennen (ausgenommen unser eigenes geistiges Ich), 
beweist noch nicht, daß außer uns nichts ist und daß wir von ihnen 
Oberhaupt nichts wissen können. Die andern Wesen, die andern von 
allem übrigen unterschiedenen Wesen, existieren gerade so gut wie 
wir; unsere Berührung mit ihnen, unsere Empfindung sagt es uns und 
sagt uns auch, daß sie dasselbe sind, was wir sind. 

3. Erstaunlich ist der Mangel an Voraussicht der Menschen, wenn 
wir aus Gier Dinge verzehren, die uns schädlich sind und obgleich 
wir wissen, daß uns daraus Leiden entstehen werden; erstaunlich ist 
der Mangel an Voraussicht, wenn wir unsre besten Güter vergeuden; 
aber ebenso erstaunlich ist der Mangel an Voraussicht, der die Men¬ 
schen nicht an den Tod denken läßt, und die daher auch nicht an 
das Leben denken. 

zz. September 1903. J. P. 

Schreibe seit einigen Tagen (seit mehr als einer Woche) ein Vor¬ 
wort über Shakespeare. Gesundheit gut Fuß heilt Wenig Gedanken. 
Einzuschreiben sind drei Sachen. Gott sei Dank, ich bin innerlich 
ruhig und nicht böse. 

6 . Oktober 1903. J. P. 

Gesundheit nicht fest und immer dieselbe Trägheit und Gedanken¬ 
armut Schreibe beständig an dem Vorwort zu Crospy. 

Eingeschrieben ist nur das Folgende: 

1. Alle unsere Vorstellungen und Kenntnisse setzen sich aus zwei 
Elementen zusammen: aus dem Eindruck, den uns die Sinne vermitteln, 
und aus dem, was wir erwarten und wie wir uns den Eindruck er¬ 
klären. 

z. Je mehr eine Handlung durch die Verhältnisse einer größeren 
Anzahl von Wesen bedingt ist und je mehr sie in Abhängigkeit ge¬ 
stellt ist zu einer entfernteren Zeit, desto sittlicher ist sie. Vollkommen 
sittlich ist eine Handlung nur dann, wenn sie durch ein Verhältnis 
zum Ganzen und zur unendlichen Zeit bedingt ist, oder wenn sie 
unabhängig ist von aller Zeit, d. h. wenn sie im Namen Gottes ge¬ 
schieht 

14. November 1903. J. P. 

Fünf Wochen nicht eingeschrieben. Während dieser Zeit war ich 
mit Shakespeare beschäftigt. Die Arbeit wuchs an Umfang und ist 



Leo Tolstoi, Tagebuch 147 

jetzt, wie mir scheint, beendet Geistiger Energie kann ich mich nicht 
rühmen, doch ist mein seelischer Zustand gut 

Vor etwa drei Tagen erkrankte ich mit einem heftigen Gallen¬ 
fieber. Ich dachte in Ruhe an den Tod; nur eine leise Ungeduld, 
der Wunsch, nicht lange leiden zu müssen, regte sich. Dies war gewiß 
nicht recht, denn die Leiden selbst können der ewigen Sache des 
Lebens dienen. Verstand wohl, daß dies möglich sei, aber nicht mit 
dem ganzen Wesen. 

War in Pirogowo, mir scheint am j>. Das Wiedersehen mit dem 
Bruder war ein freudiges. Sein Körper löst sich, wie der meinige, 
auf, aber sein Geist wächst Bei ihm, der so einfach und wahrhaftig 
ist, ist dies besonders erfreulich zu sehen. Als wir von seinem Kummer 
und seiner Krankheit sprachen, sagte er: „Gott hat sich nach mir 
umgesehn, wie die Bauern sagen.“ 

Im Büchlein ist eingetragen: 

1. Wenn das Leben der Menschen unsittlich ist und ihre Be¬ 
ziehungen untereinander nicht auf Liebe begründet sind, sondern 
auf Egoismus, machen alle technischen Verbesserungen, Vergröße¬ 
rungen der Macht des Menschen über die Natur: Dampf, Elek¬ 
trizität, Telegraph, alle Maschinen, Dynamite, Robulite den Ein¬ 
druck gefährlicher Spielzeuge, die man Kindern in die Hände ge¬ 
geben hat. 

z. Selbst die gröbste Vorstellung von der Gottheit (vom Unend¬ 
lichen und von einem künftigen Leben), wie grob auch die Formen 
seien, in welchen sie sich ausdrückt, stellt doch immer eine hohe 
Stufe der Aufklärung dar, zu der die Menschheit gelangt ist. Ein 
Mensch möge alle Wissenschaften durchstudiert haben, alle Sprachen 
sprechen, er möge seine geistigen, logischen Fähigkeiten zur höchsten 
Entwicklung gebracht haben — er steht, sofern er diese Stufe nicht 
betreten hat, das heißt sofern er keine Vorstellung von Gott (vom Unend¬ 
lichen) und von einem künftigen Leben hat, das heißt sofern er sein Ver¬ 
hältnis zum Ganzen nicht festgestellt hat, dennoch tiefer als das Bauem- 
weib, das an den heiligen Nikolaus, an die Mutter Gottes, an den Erlöser 
und daran glaubt, daß ihre Seele durch alle Fegefeuer hindurchgehen, 
ewige Höllenqualen erdulden oder im Himmelreich unaussprechliche 
Seligkeit genießen werde. Dieses Weib ist aufgeklärter als jener, weil 
sie doch eine Antwort auf die wichtigste Frage des Lebens hat: wozu 
sie lebt und was sie erwartet. Jener aber, obgleich er die spitzfindig¬ 
sten Antworten auf die verwickeltsten Lebensfragen hat, hat doch 



148 Leo Tolstoi , Tagebuch 

keine Antwort auf die Hauptfrage eines jeden vernünftigen Menschen: 
wozu er lebt und was ihn erwartet. 

3. Gewöhnlich meint man, der Fortschritt sei ein vermehrtes Wissen 
und ein vollkommeneres Leben. So ist es aber nicht. Der Fortschritt 
besteht nur in der Aufhellung der Grundfragen des Lebens. Der Zu¬ 
gang zur Wahrheit ist dem Menschen immer offen. Es kann auch 
nicht anders sein, weil die Seele des Menschen ein göttlicher Funken 
und die Wahrheit selbst ist. Die Aufgabe besteht nur darin, diesen 
Gottesfunken (die Wahrheit) von alldem zu befreien, was ihn ver¬ 
dunkelt. Nicht in der Vermehrung der Wahrheit besteht also der 
Fortschritt, sondern in der Befreiung der Wahrheit von den sie ver¬ 
deckenden Hüllen. Die Wahrheit wird wie das Gold nicht durch 
Vermehrung, sondern durch Auswaschung dessen gewonnen, was nicht 
Gold ist. 

4. Der Tod wäre eine furchtbare moralische Qual, wenn er den 
Menschen im Vollbesitze all seiner Kräfte anträte. Alter und Krank¬ 
heit machen den Tod leicht. Sogar bei einem gewaltsamen Tode — 
durch Wunden, durch Ersticken und dergleichen — tritt der Tod nicht 
augenblicklich ein, sondern es bereiten ihn physische Leiden vor. Diese 
Vorbereitung vollzieht sich bei einem gewaltsamen Tode nur schneller. 

5. Der Mensch zeigt sich als aus zwei Wesen zusammengesetzt: aus 
einem körperlichen, das immer schwächer wird und dem Tode an¬ 
heimfällt (Lao-Tse sagt sehr schön, daß das, was schwach und nach¬ 
giebig ist wie ein Kind, mächtig und voll Leben ist, das aber, was 
stark und fest ist, dem Tode verfällt), so daß das körperliche Leben 
des Menschen von der Geburt bis zum Tode den Weg der Selbst- 
vemichtung geht. Aber es gibt noch ein anderes menschliches Leben 
— das geistige Leben —, und dieses nimmt von der Minute, da es 
geboren wird, bis zum Tode beständig zu. Wenn ein Mensch dieses 
zweite Leben nicht kennt, ist er tiefunglücklich, er ist nur ein zum 
Tode Verurteilter. Aber der Mensch muß nur das geistige Wesen in 
sich erkennen und dann sieht er das Entgegengesetzte: nicht den be¬ 
ständigen Verfall, sondern ein beständiges Wachsen dessen, was er 
sein Selbst nennt. 

6 . Den Soldaten wird eingeprägt, in der Erfüllung ihrer Pflichten 
zu sterben, und viele von ihnen gehorchen — sie sterben mit der 
Waffe in der Hand. Warum ist es denn einem Christen, das heißt 
einem Menschen, der im Gottdienen sein Leben sieht, unmöglich, 
ebenfalls mit der Waffe in der Hand zu sterben, das heißt in Erfüllung. 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


*4 9 


seiner Pflichten? Das ist um so eher möglich, als das Tun eines Men¬ 
schen um so bedeutsamer und wichtiger wird, je älter er wird und 
je näher er überhaupt dem Tode steht Daher auch stammt die 
Pflicht der Achtung gegenüber dem Alter. 

7. In meinem Büchlein ist eingeschrieben: „Der Körper ist ein 
Organ des Verkehrs mit der Welt“ Inzwischen sage ich auch, daß 
sowohl mein Körper als auch der anderer Wesen nur eine Grenze 
meiner Gesondertheit von der Welt ist. Eine Grenze gehört doch 
immer mit einem Teil zu dieser und mit dem andern Teil zu jener 
Seite des Dinges, das sie trennt Mein Körper ist auch diese innere 
Seite meiner Grenze. Er ist völlig so eingerichtet, um ein Organ 
meines Verkehrs mit der Welt zu sein. (Nicht klar, nicht gut) 

8. Ich weiß nur von einem einzigen sündlosen und größten Glück 
der Welt, und dieses Glück ist die Liebe der Menschen — die Liebe, 
die man dir entgegenbringt. Aber dieses Glück wird einem nicht zu¬ 
teil, wenn man es nur zu erlangen sucht Das einzige Mittel, es zu 
erlangen, ist die Erfüllung des Gesetzes des Lebens, des göttlichen 
Willens, die Vervollkommnung. Das größte Glück ist jenes „übrige“, 
das euch von selbst zufallen wird, wenn ihr nach dem Reiche Gottes 
wahrhaft strebet 

9. Habe die Universitäts-Skizzen Gegidses gelesen. Der bedauerns¬ 
werte, aufrichtige junge Mensch sieht die Absurdität der Universitäts¬ 
wissenschaft und der ganzen gelehrten Literatur, sowie auch ihre gänz¬ 
liche Demoralisation vollkommen ein. Was soll man tim? fragt er. Wo 
ist ein würdiges Ziel, dem man zustreben könnte? Und nachdem er schnell 
entschieden hat, daß dieses Ziel jedenfalls nicht die Vervollkommnung 
sein könne, untersucht er alle anderen Möglichkeiten, die ihn aber 
alle nicht befriedigen. Gott verzeihe denen, die der jungen Generation 
eingeflößt haben, daß eine äußere Tätigkeit zwar notwendig, die innere 
Vervollkommnung aber überflüssig und sogar lächerlich und schädlich 
sei. Der arme Junge wirft sich hin und her, ist stets bestrebt, ein 
würdiges Ziel seines Strebens zu finden, und natürlich glaubt er es 
endlich in der Liebe zu den Weibern zu entdecken, da er sich ein¬ 
bildet, die höchste Bestimmung des Menschen sei eben diese Liebe. 
Da er ein geistiges Ziel nicht sieht, so scheint es ihm natürlich, daß 
der unserer tierischen Natur eingepflanzte Trieb zur Fortpflanzung des 
Geschlechts, der in einem mehr oder minder poetischen Gewand auf- 
tritt, die höchste Bestimmung des Menschen sei. Ich habe Lust, einige 
Worte bei dieser Gelegenheit drucken zu lassen. 



i5o 


Leo Tolstoi, Tagebuch 


24. November 1903. J. P. 

Immer noch bin ich mit dem Vorwort Ober Shakespeare und Garrison 
beschäftigt. Fast beendigt. Gesundheit gut, aber geistig nicht beweglich. 

Soeben etwas, wir mir scheint, sehr Wichtiges, gedacht, nämlich: 

1. Wir wissen von zwei Leben in uns: von einem geistigen Leben, 
das durch innere Erkenntnis erkannt wird, und von einem körper¬ 
lichen Leben, das durch äußere Beobachtung erkannt wird. Diejenigen 
nun, die das geistige Leben für das Grundlegende halten (zu diesen 
gehöre auch ich), sind geneigt, die Realität, Notwendigkeit und 
Wichtigkeit des Studiums des körperlichen Lebens, das augenschein¬ 
lich zu keinem definitiven Resultat führen kann, zu verneinen. Ebenso 
verneinen diejenigen, die nur das körperliche Leben gelten lassen wollen, 
die Metaphysik, wie sie es nennen. Nun ist mir aber völlig klar 
geworden, daß beide Parteien und beide Anschauungen unrecht haben 
und daß beiden Richtungen Bedeutung zukommt, wenn sie sich nur 
enthalten, einseitige Schlußfolgerungen zu ziehen. Die materialistische 
Methode kann wertvolle Daten für die Erkenntnis der äußeren Welt 
liefern, sie kann aber für die sittliche Lebensführung keine Direk¬ 
tiven geben, wie manche Materialisten geglaubt haben, zum Beispiel 
die Darwinisten. Die metaphysische Methode hat es nur mit den 
inneren Gesetzen des Lebens zu tun und stellt die Frage nach dem 
Ziel des Lebens, — dieselbe Frage, die alle religiösen Wortführer auf¬ 
werfen und zu beantworten suchen; hingegen kann durch diese Methode 
keinerlei Aufschluß über die Welt der Erscheinungen erlangt werden. 
Jede dieser Methoden hat ihre Berechtigung und ihr bestimmtes Gebiet, 
über das sie nicht hinausgreifen darf. 

z. Die zwei Leben, welche der Mensch lebt, kann man graphisch 
wie in Figur I oder in Figur II darstellen: 

I. II. 


Geburt V Tod Geburt Tod 


Die punktierten Linien bedeuten das leibliche Leben: Geburt, das 
Heranwachsen, das Altem und den Tod, das Zunichtewerden des 
leiblichen Lebens; die schwarzen Linien aber, die sich zu beiden Seiten 
hinziehen, bezeichnen das ewige, wahre, nicht sterbende, geistige, all¬ 
gemeine Leben. 




Leo Tolstoi\ Tagebuch 151 

Im Verlauf seines leiblichen Lebens berührt sich der Mensch früher 
oder später mit dem ewigen Leben und überträgt in dasselbe sein 
Ich. Dann erblickt er in seinem leiblichen Leben schon nicht mehr 
sein Ich. Das leibliche Leben erscheint ihm als irreal nicht bloß 
in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit. Sobald der 
Mensch das wahre Leben erfaßt hat, wirft er das ihm unnütze leib¬ 
liche Leben von sich. Dieses leibliche Leben war die Stufe, von 
welcher er sich zum wahren Leben erhob, und sie ist nun nicht 
mehr nötig; das leibliche Leben ist nur die Leiter. Es ist zeitlich, 
in ihm ist Vergangenheit und Zukunft, da es einen dem Menschen 
erreichbaren Zielpunkt hat; das wahre, geistige, allgemeine Leben 
aber, das durch die schwarzen auf beiden Seiten ins Unendliche 
gehenden Linien dargestellt ist, hat kein dem Menschen erreichbares 
Ziel und darum gibt es für dieses keine Zeit. 

Das leibliche Leben vereinigt sich mit dem ewigen zuweilen un¬ 
bemerkt, manchmal ruckweise, manchmal früh, manchmal spät. Bei 
mir geschah es ruckweise. Selige Zeit. Ich denke, diese Vereinigung 
erlebt jeder Mensch ein Mal. 

(Das ist alles. Ich habe es gesagt, wie ich konnte, aber ich weiß, 
daß cs so ist.) 


30. November 1903. J. P. 

Das Vorwort beendet, nicht schlecht. Einige Briefe geschrieben. 
Shakespeare noch immer nicht beendet, doch nähere ich mich dem 
Ende. Die Gesundheit war während dieser ganzen Zeit sehr gut. 
Einschreiben muß ich zwei Sachen: 

1. Neulich, als ich zu Bette lag, begann ich wieder nachzudenken, 
über das Leben und über Gott; da hörten der Sinn des Lebens und 
Gott auf mir klar zu sein. Die Schrecken des Zweifels erfaßten 
mich. Mir wurde sehr bang. Das Herz zog sich mir zusammen. 
Doch nicht lange dauerte dies. Das Schrecklichste war mir, daß 
man nicht beten kann, daß niemand das Gebet vernimmt, daß es 
nichts Verpflichtendes gibt. Nicht Angst vor dem Tode war es, 
sondern Angst vor der Sinnlosigkeit. Dies dauerte nicht lange. 
Der erste Hoffnungsstrahl entzündete sich an dem, was immer allem 
zugrunde liegt: von Dem ich ausgegangen bin, zu Dem kehre ich 
wieder zurück. Dann ging mir wieder auf, was die Macht, die 
mich ins Leben gesandt hat, von mir will, und mir wurde wieder 
leicht ums Herz, die Zweifel schwanden. Es war eher eine physische 



15 z Leo Tolstoi, Tagebuch 

Umnachtung, während der man sich nur bewußt bleiben muß, daß 
es eine physische ist, eine Art Schlaf, ein Schlaf der höheren geistigen 
Vermögen. In solchen Augenblicken darf man nicht fragen, sondern 
man muß nur warten, bis es vorüber ist. 

(Den ganzen Prozeß des Zweifels und der Befreiung daraus schlecht 
beschrieben, aber empfunden habe ich es sehr stark.) 

z. Ich dachte früher, das Leben des Menschen bestehe in einer 
immer umfassender werdenden Erweiterung der Grenzen. Aber dies 
ist nicht richtig, kann nicht sein. Worin das Wesen des Lebens 
besteht, dies zu wissen ist uns nicht gegeben. Das eine, was wir 
wissen, ist, daß die Vervollkommnung des Menschen in der innigsten 
Vereinigung mit dem ihm unerfaßbaren ewigen Leben besteht, in 
einer immer innigeren Vereinigung seiner Lebenslinie mit diesen zwei 
parallelen, unendlichen Linien, die ihn zu sich ziehen. 

Ein ideales Leben müßte so sein: 


Geburt und kein Tod 


(Sinnlos, mir aber nötig.) 

3. Vorgestern träumte mir, daß ich eine der Form nach komische, 
aber rührende Erzählung dichtete, von einem Bauern, der sich aller¬ 
hand unverstandene Ausdrücke angeeignet hatte, mit denen er um 
sich warf. Die Sache machte sich recht gut. Überhaupt war mein 
Gehirn in dieser ganzen Nacht in sehr lebhafter Tätigkeit. Noch 
drei andere Typen standen mir vor Augen: Der eine: Athlet, Riese, 
zaghafter Mensch, jedoch Wutanfällen unterworfen, wobei er zum 
Tier wird. Der andere: Schwätzer, Aufschneider, Poet, zarter Mensch, 
minutenweise der Selbstaufopferung fähig. Der dritte: Egoist, aber 
ein prachtvoller, liebenswürdiger, begabter Mensch und Schürzenjäger. 

Will jeden Tag, wenn auch nur ganz allmählich, an meinen Er¬ 
innerungen schreiben. 


2. Dezember 1903. J. P. 

Gesundheit mäßig. Noch immer arbeite ich am Shakespeare 
herum, habe nun beschlossen, nicht mehr am Morgen daran zu ar¬ 
beiten und etwas anderes vorzunehmen: entweder ein Drama, oder 





*53 


Leo Tolstoi , Tagebuch 

über Religion, oder ich beende den Coupon. Wenn die Stimmung 
danach ist, abends Shakespeare oder die Erinnerungen schreiben. Zwei 
Tage nicht eingeschrieben. 

Es war etwas Gutes aufzuschreiben — hab es vergessen. 

7. Dezember 1903. J. P. 

Die letzten zwei Tage unpäßlich — Leber. Nichts getan, nur 
Shakespeare durchgesehen. 

Eine Menge Gäste: die Suchotins, Boulanger, Schosja, Serjoscha, 
Natascha O. — Etwas sehr Gutes nicht eingeschrieben und vergessen. 
Mit Schosja über die Duchoboren gestritten — nicht recht 

19. Dezember 1903. J. P. 

Bemühe mich zu tun, was ich kann. Die Gesundheit ist sehr 
gut doch die geistige Tätigkeit noch immer schwach. Suche mich 
darein zu finden und teils gelingt es auch. Habe aufgehört, mich 
mit Shakespeare zu beschäftigen und angefangen über die Bedeutung 
der Religion. Habe aber zwei Anfänge geschrieben, und beide sind 
nicht gut. Ein wenig an den Erinnerungen geschrieben, aber leider 
nicht fortgesetzt Keine Lust Den gefälschten Coupon überdacht 
aber nicht weitergeschrieben. 

Im Büchlein ist manches eingetragen: 

1. Gelesen: Macdonald, über die Entwicklung des religiösen Gefühls 
bei den Tieren, beim Schwamm sogar. Darüber an Tsch. # ) geschrieben. 
Der Irrtum liegt darin, daß er die Illusion von einem Realen, die 
wir haben, wenn wir in Raum und Zeit hinausblicken, für etwas 
wirklich Reales hält, geradeso wie der einfache Mensch das Himmels¬ 
gewölbe für etwas Reales hält In Wirklichkeit sieht sich der 
Mensch, der sich seines geistigen Wesens bewußt ist, immer inmitten 
von Raum und Zeit und nimmt sich wahr als etwas, das sich selbst 
bewegt und das alles um sich herum in Bewegung setzt. Die Be¬ 
wegung aber, die er wahmimmt, desgleichen die vielgestaltige Welt 
der Dinge im Raum, sind nur die notwendigen Bedingungen seiner 
Gesondertheit. Alles bewegt sich und erscheint als vielgestaltige 
Welt nur darum, weil sich der Mensch als ein von allen anderen 
Wesen gesondertes Wesen erkennt. 


* Wladimir Tschertkow, Tolstois Freund, der damals in England in der 
Verbannung lebte. 



1 54 


Leo Tolstoi , Tagebuch 

Dem einzelhaften Menschen scheint es, daß er sich bewege und 
daß die ganze Welt sich bewege; in Wirklichkeit bewegt sich aber 
das, was der Mensch als sein innerstes Wesen erkennt, nicht; es 
weiß sich vielmehr stets in der Mitte der Zeit und des Raumes, 
zwischen Unbewußtem, halb Bewußtem und vollkommen Bewußtem, 
und ist immer bestrebt, sich mit dem Bewußtsein anderer Sonder¬ 
wesen zu vereinigen. Dies wird erreicht durch die Lossagung von 
den Leidenschaften, durch Selbstentäußerung, durch Liebe, durch 
Umwandlung der Selbstliebe in Liebe zu den anderen. Und der 
Zweck des Ganzen? Den wissen wir nicht und werden ihn nie 
erfahren. Gott atmet in unseren Leben. 

(Unsinn, und doch auch wieder nicht Unsinn.) 

z. Ich vermag mich in einen schrecklichen Bosewicht zu versetzen, 
nicht aber in einen dummen Menschen. Und doch sollte man es 
können. 

3. Wir sagen, nur der Mensch sei frei, die Tiere aber seien dem 

Gebot der Notwendigkeit unterworfen. Das ist nicht richtig. Wir 
glauben das nur, weil wir nur die letzten allgemeinen Resultate des 

Tierlebens sehen, während uns der Kampf, den vielleicht alle durch¬ 
machen, entgeht und weil wir die Ausnahmen nicht kennen. Wenn 

es Wesen gäbe, die sich zum Menschen verhielten, wie sich die 

Menschen zum Tier verhalten, so würde es solchen Wesen scheinen, 
daß die Menschen den Naturgesetzen streng unterworfen seien, daß 
die Freiheit des Wählern ihnen nicht gegeben sei, und diese Wesen 
würden keine Acht haben auf die seltenen Ausnahmen unter den 
Menschen wie wir keine Acht haben auf die seltenen Ausnahmen 
unter den Tieren. 

4. Künstler, Dichter und Mathematiker oder überhaupt Gelehrter. 
Der Dichter kann nicht die Sache des Gelehrten tun, weil er un¬ 
möglich nur das eine ins Auge fassen und das Allgemeine außer 
acht lassen kann. Der Gelehrte kann die Sache des Dichters nicht 
verrichten, weil er nur eines sieht und das Ganze nicht sehen 
kann. 

5. Es gibt Maschinen-Menschen, die ausgezeichnet arbeiten, wenn 
man sie in Bewegung setzt, die aber von selbst nichts leisten können. 

6 . Ein wahrhaft keusches Mädchen, welches seine ganze Kraft 
einer mütterlichen Selbstaufopferung dem Dienste Gottes, der Menschen 
weiht, ist das herrlichste und glückseligste menschliche Wesen. 
(Tantchen T. A.) 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


1 55 

zo. Dezember 1903. J. P. 

7. Jn jeder Religion finden sich drei Elemente: 

a. Das Verhältnis des Menschen zu Gott und die moralischen 
Folgerungen daraus. 

b. Der entzückte Ausdruck dieser Wahrheiten — Pathos. 

c. Erfindung, Lüge, bewußte und unbewußte. 

Im Stoizismus fehlen die Elemente des Pathos und der Lüge, 
daher ist der Stoizismus fast keine Religion. 

Im Mormonentum ist alles Erfindung und Lüge, die beiden Elemente 
des Pathos und der Moral sind entlehnt. 

Im Mohammedanismus ist das vorherrschende Element Pathos. Es 
enthält auch Lüge. Das moralische Element ist entlehnt 

25. Dezember 1903. }. P. 

Habe den Gefälschten Coupon zu schreiben an gefangen. Schreibe 
sehr nachlässig, aber es interessiert mich durch die sich entwickelnde 
neue Form; sehr sobre. 

Einzuschreiben ist manches, — vergessen. An eins erinnere ich 
mich, und zwar: 

1. Ich versuche einzuschlafen und kann nicht, weil ich mich 
immer frage: schlafe ich schon? Das heißt, ich bin mir meiner noch 
bewußt. Bewußtsein ist eben Leben. Wenn ich im Sterben mir 
meiner bewußt bliebe, konnte ich nie sterben. 

29. Dezember 1903. J. P. 

Die Gesundheit ist gut. Fröste. Schreibe seit zwei Tagen nicht 
Sinne nach über Religion. Heute folgendes gedacht: 

Die Menschen haben nie ohne alle Religion gelebt Wir, ein 
kleiner Teil der Menschheit, die wir es auf uns nehmen, die Menschen 
zu belehren, leben ohne Religion und denken, sie sei auch gar nicht 
nötig. Daraus stammt alles Unheil der Menschen. Indessen sollte 
es doch jedem klar sein, daß man ohne Religion nicht leben kann. 
Man kann ohne sie nicht leben — 

1. weil nur die Religion zwischen Gut und Böse unterscheidet; 
daher kann der Mensch nur auf Grund der Religion wählen zwischen 
Gutem und Bösem, — in den Augenblicken, wo seine Leidenschaften 
schweigen; 

2. weil der Mensch ohne die Religion nie wissen kann, ob das, 
was er tut, gut oder böse ist; 



Leo Tolstoi, Tagebuch 


1 56 

3. weil nur die Religion den Egoismus zerstört, nur religiöse 
Motive den Menschen veranlassen, für andere zu leben; 

4. weil nur die Religion die Todesfurcht bannt, nicht in der 
Art, daß sich ein Mensch nun eher in Todesgefahr begibt oder daß 
er sich selbst das Leben nimmt, sondern in der Art, daß er nun 
geruhig den Tod erwarten kann; 

5. weil nur die Religion dem Menschen den Sinn des Lebens 
offenbart; 

6 . weil nur die Religion Gleichheit unter den Menschen aufrichtet; 

7. weil nur die Religion den Menschen von allem äußeren Zwang 
befreit 

Es wäre noch manches einzuschreiben, doch ist es zu spät, ich 
gehe schlafen. Im Herzen ist mir wohl, 

30. Dezember J. P. 1903, 

Geritten. z° Kälte. Gesundheit gut aber keine Kraft zur Arbeit 
Über mancherlei indessen nachgedacht. 

Ich hätte Lust folgendes zu schreiben: 1. eine Volkserzählung von 
dem Engel, der ein Kind getötet hat, z. von einem Muschik, der 
nicht in die Kirche ging und 3. von einem Raskolnik im Gefängnis 
und einem Revolutionär, 4. Ober meinen eigenen psychischen, sinn¬ 
losen, schwachen Zustand, 5. »Jesus, Sohn Gottes, du bist gekommen 
um uns zu quälen". 

Eingeschrieben: 

1. Wenn du die Freude einer guten Handlung ganz empfinden 
willst tue das Gute insgeheim, so daß nur deine eigene Seele, Gott, 
davon weiß. Die gute Handlung wird dann nicht außer dir sein, 
sondern inwendig in dir. 

z. Dreierlei Motive bestimmen das Handeln des Menschen: ent¬ 
weder überläßt er sich dem Gefühl, oder er unterwirft sich der Ein¬ 
flüsterung, oder er gehorcht nur seiner eigenen Vernunft; das letztere 
ist der höchste Grad von Besinnung, zu der ein Mensch gelangen 
kann. Befreie dich zuerst vom Gefühl, dann von der Einflüsterung 
und zuletzt von deiner eigenen Vernunft, unterwirf dich aber der 
einen ewigen Vernunft — Gott. 

(Berechtigte Übertragung von L. und D. Berndl) 



TSCHECHEN UND DEUTSCHE 

von 

JOHANNES URZIDIL 


I. 

D er tschechoslowakische Staat ist seinen Schöpfern unter den Händen 
gewachsen. Seine Keimzelle versprach vielfach ganz andere Ent¬ 
wicklungen, als heute infolge einer einzigartigen weltgeschichtlichen 
Konjunktur das Staatswesen Masaryks nimmt. Vor mir liegt eine 
Studie, „The future Bohemia“, die der gegenwärtige Präsident der Re¬ 
publik im Jahre 1917, als er noch mitten auf seiner Propaganda¬ 
odyssee in den Ententestaaten weilte, zur Information von Entente¬ 
politikern geschrieben und in der Londoner Revue „New Europa“ 
veröffentlicht hat. Der Grad der Selbständigkeit und die erhofften 
Konturen des Staatskörpers kommen da noch sehr unvollkommen zum 
Ausdruck. Sogar der Name Tschechoslowakei steht noch nicht fest. 
Masaryk schlägt für den aus Böhmen, Mähren, Schlesien und der 
Slowakei zu gründenden Staat den Gesamtnamen „Cechy“ (Böhmen) 
vor. Über die Staatsform ist ebenfalls noch nichts Sicheres ausgesagt. 
Masaryk erklärt, der neue Staat sei als Monarchie projektiert, obgleich 
radikalere Politiker sich für eine Republik einsetzen . . Er steht heute 
selbst an der Spitze der Republik. Den nationalen Minderheiten, vor 
allem den Deutschen, ist in dieser Broschüre ebenso wie in dem später 
vom Außenminister Benes der Friedenskonferenz vorgelegten Memoire 
III Gleichberechtigung mit dem tschechischen Staatsvolk zugesichert. 

Nur wer die Umsturztage 1918 selbst in Prag miterlebt hat, weiß, 
wie unsicher und unklar es damals um die neue Selbständigkeit des 
tschechischen Volkes stand, mit welcher Seelenangst die wenigen in¬ 
ländischen Führer, ohne Machtmittel, ohne Armee, bloß von der Au¬ 
torität des Befreiungswerkes getragen, die Fundamente des Gebäudes 
legten, die jeden Augenblick wieder zerrüttet zu werden drohten. 
Damals in den ersten Stunden gab es wenig vernünftige Deutsche in 
Böhmen, die im Grunde die staatliche Selbständigkeit der Tschechen 
nicht begrüßt hätten. Wenn die damaligen Machthaber sogleich den 
richtigen Weg zu den Deutschen des Landes gefunden und ihnen wie 
Gleiche den Gleichen die Hand geboten hätten, es wäre wohl nicht 
erst zur Gründung der kurzlebigen unstäten deutschböhmischen Landes¬ 
regierung gekommen, es wäre die Wurzel des deutsch-tschechischen 
Gegensatzes ausgetilgt worden, und heute gäbe es in nationaler Hinsicht 



i 5 8 


Johannes Urzädil , Tschechen und Deutsche 


nur untergeordnete Probleme zu losen. Leider fehlte dem tschechi¬ 
schen Volke in dieser Schicksalsstunde der fiberragende Innenpolitiker. 
Die vornehmsten Führer des Volkes befanden sich im Auslande. Die 
in Prag anwesenden waren kleine Köpfe oder kurzsichtige Chauvinisten. 
Was sie verdarben, hat bisher noch niemand mit Erfolg wieder gut 
zu machen verstanden. 

Der tschechische Staat wurde von außen nach innen gegründet. 
Außenpolitik war darum und ist seine starke Seite. Sie hat die älteren 
Traditionen und die größeren Persönlichkeiten für sich. Die Innen¬ 
politik fehlte dem Staat lange und fehlt ihm zum größeren Teil noch 
heute. Sie ist im eigentlichen freilich auch das schwierigere Element. 
Aber es ist klar, daß im allgemeinen, besonders aber in der Tschecho¬ 
slowakei, Außenpolitik ohne zielbewußte und konsolidierte Innen¬ 
politik nicht betrieben werden kann. Darum ist es die hervorragendste 
Aufgabe der tschechischen Staatskunst, die Traditionen einer Innen¬ 
politik heranzubilden. Wenn der bisherige Minister des Äußeren BeneS 
vor kurzem die Ministerpräsidentschaft seinem Amte hinzugefügt hat, 
so ist darin ohne Zweifel die Erkenntnis dieser Diskrepanz zwischen 
Außen- und Innenpolitik und wahrscheinlich auch der Wille zu ihrer 
Beseitigung zu erblicken. 

Zu den Hauptaufgaben der Staatengründer gehörte auch in diesem 
Falle, ein staatsbewußtes Volk zu schaffen. Die Idee des tschechischen 
Staatsrechtes war freilich nicht neu und von einem großen Teil der 
Nation unter Führung KramaF in ihren historischen Voraussetzungen 
schon zu Zeiten Österreichs eifrig verfochten worden. Ihre kotyledon- 
ardgen Ansätze sind in dem Föderalismus des österreichtreuen Palacky 
zu finden, und auch die ehemalige Politik KramaF kann mit Fug als 
eine durchaus österreichische Politik bezeichnet werden. Aber diese 
auf dem Begriff des historischen tschechischen Staatsrechtes fussende 
Staatsidee hatte im Laufe der Jahrhunderte ihre positiven Wurzeln ver¬ 
loren, bestand zuletzt der Hauptsache nach in einer Negation Habsburgs 
und Österreichs und konnte auch nicht angesichts der Wirtschafts¬ 
und nationalpolitischen Verhältnisse des Augenblicks mit Erfolg geltend 
gemacht werden. Das, was die Tschechen in Paris forderten, wurde 
ihnen gewährt nicht mit Rücksicht etwa auf ihre berechtigten An¬ 
sprüche, sondern mit Rücksicht auf die Notwendigkeiten der westlichen 
Siegerpolitik. Der neue Staat entstand aus einer doppelten Negation, 
Aus der inneren Negation des zentralistischen Österreich durch die 
Tschechen und aus der äußeren Negation Deutschlands durch die 



Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 159 

Westmächte. Daß die innere Negation Österreichs durch die Tschechen 
zugleich mit einer Negation des Deutschtums in Österreich zusammen¬ 
ging, ist eine Sache für sich, die allerdings die Wirksamkeit der äußeren 
Reichsdeutschland betreffenden Negation wesentlich stärkte. Da mm 
aber Staaten nicht auf Negationen, sondern nur auf Positionen begründet 
werden können, so war und ist es notwendig, allmählich ein neues 
und wirkliches Staatsbewußtsein dem tschechischen Volke zu schaffen. Es 
muß gesagt werden, daß in diesem Zusammenhang die Sendung Masaryks 
ein wahres Heil für das tschechische Volk hätte bedeuten können und 
noch bedeuten könnte, wenn sie vollkommen und richtig erfaßt worden 
wäre. Denn Masaryk erkannte, daß es notwendig sei, in jene Epoche 
zurückzugreifen, in der ein positiver Begriff des tschechischen 
Staates und der tschechischen Mission noch bestanden hatte. Es mußte 
dort angeknüpft werden, wo Johannes Hus und Comenius, wo Hav- 
tiiek und Palacky, die Erwecker des tschechischen Volkes, aufgehört 
hatten und wo es noch klar umrissene Konturen der tschechischen 
Mission gab. Als diese Mission erkannte Masaryk die Humanität, 
deren Begriff am deutlichsten Herder formuliert hat, der überhaupt 
für die Entwicklung des tschechischen Geisteslebens von fundamentaler 
Bedeutung war. So war es äußerst sinnvoll, daß der neue Präsident 
der Republik seine erste Botschaft an das tschechische Volk im De¬ 
zember 1918 mit den Worten des Comenius, des „Lehrers der Nationen“, 
eröffnete: „Auch ich hoffe zu Gott, daß nach Entschwinden der 
Hasseswirbel, die durch unsere Sünden über unsere Häupter herauf- 
geführt worden sind, die Regierung deiner Geschicke wieder in deine 
Hände zurückkehrt, o tschechisches Volk.“ 

Was indessen unter diesem Begriff der Humanität zu verstehen war, 
konnte nicht sogleich aus den Gefilden esoterischer Erkenntnis den 
breiten Schichten des Volkes vermittelt werden und ist darum bis 
heute unverstanden geblieben. Die einen sahen darin den traditionellen 
Gegensatz gegen Rom; aber diese Auffassung mußte, abgesehen davon, 
daß auch sie wieder negativ war, von der realpolitischen Gebundenheit 
der böhmischen Länder an die erzkatholische Slowakei scheitern. An¬ 
dere wieder sahen, deutlicher und der Wahrheit näher, eine vermittelnde 
Stellung des neuen Staates zwischen dem Osten und dem Westen, die 
Austauschstelle zweier Kulturen, den Knotenpunkt des europäischen 
Friedens durch Vereinigung der Gegensätze. Andere noch sahen einen 
Wall gegen den durch die neuen Machtverhältnisse nach Nordwesten 
hin vorgeschobenen Balkan; noch andere sprachen von einer höheren 



iöo Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 

Schweiz, Die meisten aber, die lautesten und erdölreichsten, wollten 
von Humanität nichts hören und sahen in der Neugründung nichts 
anderes, als die endliche Erfüllung des rein tschechischen National¬ 
staats. Die edle ideologische Auffassung Masaryks vom Staate als Er¬ 
füllung des Humanitätsideals vermochte sich die Realpolitik in keiner 
Weise anzueignen. Die Masse des tschechischen Volkes sah und konnte 
angesichts der innerpolitischen Hetzterminologien in diesem Staate 
nichts anderes sehen als einen Nationalstaat, für die Tschechen vor 
allem als Heimat geschaffen, für die übrigen Nationen aber bloß von 
der Bedeutung einer Gaststätte. Von Anfang an erklärte man die 
Slowaken als gleichberechtigt neben der tschechischen Staatsnation, aber 
das lebhafteste Streben ging und geht darauf aus, beide Volksstämme 
miteinander zu verschmelzen, was nicht mehr bedeuten würde, als daß 
eben die gewandteren und zivilsierteren Tschechen die dauernde Herr¬ 
schaft über die weniger gebildeten primitiven Slowaken erhalten würden. 
Diese Auffassung der These vom tschechischen Nationalstaat bildete und 
musste für die übrigen Nationen den ersten und hauptsächlichsten 
Stein des Anstoßes bilden. Die Friedensschlüsse, so hieß es ja, waren 
im Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker geschlossen worden, 
wo aber bliebe dieses Recht, wenn in einem Staate j 1 /, Millionen 
deutscher und über einer Million magyarischer Bewohner der tsche¬ 
chischen und slowakischen Hauptnation unterworfen sein sollten? Die 
tschechischen Interpreten des Selbstbestimmungsrechtes stellten zwar 
eine These auf, nach welcher jede Nation zumindest in einem eigenem 
Staate das Recht haben müsse, sich völlig unbehindert äuszuleben, daß 
das deutsche Volk dieses Recht bereits in zwei Staaten für sich in 
Anspruch nehme und daß infolgedessen zum Zwecke der Verwirk¬ 
lichung des tschechoslowakischen Selbstbestimmungsrechtes Bruchteile 
des deutschen und magyarischen Volkes aus geographischen, wirtschaft¬ 
lichen und historischen Gründen das Opfer auf sich nehmen müßten, 
im tschechoslowakischen Nationalstaat untergeordnet zu sein. Aber es 
ist klar, daß diese Deutung des Selbstbestimmungsrechtes den nationalen 
Minoritäten in der Tschechoslowakei keineswegs genügen konnte, und 
daß sie in der (auch in der ersten Botschaft des Präsidenten zum 
Ausdruck kommenden) Auffassung, als wären sie bloße „Kolonisten“, 
keine befriedigende Formulierung ihrer verfassungsmäßigen Stellung 
erblicken konnten. Dies betraf vor allem die Deutschen, welche große 
geschlossene Gebietskomplexe Böhmens seit Jahrhunderten bewohnen, 
in die sie ehemals freiwillig von böhmischen Fürsten als Kulturbringer 



Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 161 

gerufen worden waren. Es ist auch klar, daß sich bei der ausschließlich 
tschechisch-nationalen Auffassung des Staates die Deutschen nicht ohne 
weiteres auf den Boden der Republik stellen konnten, daß sie zu dem 
fast eineinhalb Jahre lang das Land regierenden, ungewählten, rein 
tschechischen und slowakischen Nationalkonvent die schärfste Oppo¬ 
sition einnehmen mußten, um so mehr, als durch eine systematische 
Tschechisierungspraxis in Bürokatie, Wirtschaft und Schule den Grund¬ 
prinzipien Masaryks wenig Ehre angetan wurde. Es war auch 
ziemlich naiv, einerseits zu verlangen, die Deutschen mögen sich 
auf den Boden des Staates stellen, ihn anerkennen und ihn unter¬ 
stützen, andererseits aber stets darauf hinzuweisen, der Staat sei eine 
rein tschechoslowakische Domäne, in welcher die übrigen Nationen 
sich nur als Gäste zu betrachten und demgemäß bescheiden aufzu¬ 
treten hätten. 

Sah man also in der Sendung des neuen Staatswesens vor allem 
die Erfüllung des Minimums des tschechischen Nationalismus, während 
er de facto sich als ausgesprochener Nationalitätenstaat präsentierte, so 
mußte notwendig der Gegensatz zwischen den Tschechen und den 
übrigen Nationen als erstes Gift den Staatskörper verheerend befallen. 

l 

Der Kampf gegen den österreichischen Zentralismus war bis 
zum Zusammenbruch des Habsburgerstaates das oberste Schlagwort 
aller tschechischen nationalistischen Parteien, die Aufrichtung eines 
möglichst lückenlosen tschechischen Zentralismus war die erste 
Sorge der Gründer des neuen tschechischen Staates, obgleich für jeden 
deutlich sein mußte, daß dieser Staat seiner nationalen Zusammen¬ 
setzung; nach nur eine Verjüngung des alten österreichischen Nationen¬ 
konglomerats darstellte. Präsident Masaryk selbst hat in einer seiner 
ersten Kundgebungen nach dem Umsturz zugestanden, daß man es 
nicht mit einem „nationalem Gebilde“, sondern mit einem Nationali¬ 
tätenstaat zu tun habe, und der Abgeordnete Klofat, ein Mann, dessen 
.nationaltschechisches Fühlen wohl niemand in Zweifel ziehen wird, 
sprach sogar von einem Umbau der Republik zu einer „höheren" 
Schweiz. Aber diese Ansätze zu einer demokratischen Regelung der 
Verhältnisse verflogen im Sturmwind der neuauflebenden nationali¬ 
stischen „Hasseswirbel". Der neugebackene Zentralismus begegnete 
jedoch einem immer lebhafteren Widerstand auch seitens slawischer 
Bewohner der Republik . . . Mähren, das sich schon zu österreichischen 



i6i Johannes Urzädil, Tschechen und Deutsche 

Zeiten eines günstigen tschechisch-deutschen Ausgleichs erfreute, wurde 
durch den Zentralismus in die antideutsche nationalistische Strömung 
hi nein gerissen uud ist mit dem Verlust seiner Selbstverwaltung kaum 
restlos zufrieden. Die Slowakei, überflutet von einer Heerschar schlecht 
beratener tschechischer Bureaukraten, war dem Prager Regime bald recht 
von Herzen abgeneigt und der Autonomismus schlägt in diesem Gebiet, 
das sich sprachlich und kulturell sowie seinen Verwaltungstraditionen 
nach wesentlich von den übrigen Ländern des Staates unterscheidet, 
immer weitere Kreise. Karpathorußland, der von Ruthenen bewohnte 
Korridor nach Osten, ist durch die Friedens vertrage ausdrücklich als 
autonome Einheit im Rahmen des tschechischen Staates erklärt worden. 
Aber der Prager Zentralismus suchte um diese Klausel herumzukommen 
und interpretierte den Friedensvertrag ganz anders, als man es in 
Karpathorußland wohl erwartet hatte. Von einer Autonomie haben 
die Bewohner dieses Ländchens bisher noch nichts zu spüren be¬ 
kommen, ja nicht einmal die Wahlen getraute man sich dort durch¬ 
zuführen, da man antitschechische, magyarenfreundliche Resultate mit 
Recht befürchtete. Dieser Standpunkt der Prager Regierung ist allere 
dings begreiflich, wenn man bedenkt, daß eine Autonomie Karpatho- 
rußlands, eines Gebietes mit 80 Prozent Analphabeten, unzweifelhaft 
die Autonomieforderungen der Slowakei und der Deutschen stärken 
würde. Wenn der tschechische Kampf gegen den alten österreichischen 
Zentralismus ein Kampf um die Autonomie und das Staatsrecht der 
historischen Länder der böhmischen Krone war, so durfte man nach 
der revolutionären Durchsetzung dieses Rechtes diesen Kampf nicht 
in unvorsichtiger Hast mit zentralistischen Resultaten krönen, indem 
man die historisch längst einem anderen autonomen Ganzen, nämlich 
Ungarn, zugehörende Slowakei auf das Prokrustesbett des Prager 
Zentralismus spannte. Bei der Gründung des tschechoslowakischen 
Staates kamen zwei Prinzipien in sehr widerspruchsvoller Weise zur 
Anwendung: das historische Prinzip in Böhmen, Mähren und Schlesien 
und das ethnographische Prinzip in der Slowakei. Wirtschaftliche 
Regulative mußten herhalten, um die Unzulänglichkeiten der beiden 
Prinzipien auszugleichen. Denn das historische Prinzip konnte nicht 
auf die Slowakei, das ethnographische nicht auf die deutschen Gebiete 
der böhmischen Krone angewendet werden, wenn man den tschechischen 
Staat in seiner heutigen Form anstrebte. Es mußte daher die These 
von der wirtschaftlichen Gebundenheit in beiden Fällen zu Hilfe 
gerufen werden, eine These, die, was die Slowakei anbelangt, auf 



Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 163 

recht ungleichen Füfien stand, denn das alte Ungarn bildete einen 
vortrefflichen wirtschaftlich abgeschlossenen Komplex. Aber der Wider¬ 
spruch, auf Grund dessen das neue Staatswesen zusammengefügt wurde, 
wird solange bestehen und den Staat bedrohen, solange der Prager 
Zentralismus in seiner heutigen Form aufrecht erhalten bleibt. Dieser 
Widerspruch kann nur dadurch aus der Welt geschafft werden, daß 
man versucht, ihm gerecht zu werden, und der Slowakei, diesem 
administrativ und wirtschaftlich anders gearteten Gebilde, jene Auto¬ 
nomie gibt, die Masaryk selbst im Pittsburger Abkommen diesem 
Lande versprach, Karpathorußland aber jene Autonomie, die ihm auf 
Grund der Friedensverträge zukommt. Geht man soweit, dann stürzt 
natürlich die These vom zentralistischen tschechoslowakischen National¬ 
staat zusammen, die ja auch ohnehin konkret den Tatsachen nicht 
entspricht, denn es gibt wohl eine tschechische und eine slowakische 
Nation und Sprache, nicht aber eine „tschechoslowakische“. 

Der Kampf um die Autonomie ist für die Slowakei und Karpatho¬ 
rußland ein wesentlich einfacheres Problem als für die Deutschen in 
den sogenannten historischen Ländern. Die Stellung, welche diese 
Deutschen dem Staate gegenüber einnehmen, ist bis heute nicht ein¬ 
deutig bestimmt. Die Schuld an dieser unklaren Einstellung der 
Deutschen zum Staate tragen die Tschechen zum gleichen Teil wie 
die Deutschen. Man kann wohl sagen, daß unter den vernünftig 
denkenden deutschen Politikern keiner sein wird, der sich heute noch 
in einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates als solchen ergeht. 
Der Kampf der Deutschböhmen gilt im wesentlichen nicht dem Staate, 
sondern dem System. Mit dem Staate würden sie sich abfinden, 
ja man kann die Behauptung aufstellen, daß sie zu seinen nützlichsten 
Bürgern gehören würden; mit dem seit dem Umsturz geübten 
Regierungssystem können sie sich niemals einverstanden erklären. 
Nichts wäre leichter gewesen, als die Deutschen für die Bejahung des 
Staates zu gewinnen, eines Staates, zu dem sie wirtschaftlich gravitieren 
und mit dessen anderssprachigen Bewohnern sie durch jahrhunderte¬ 
lange Wechselwirkungen verknüpft sind. Aber die Politik der bis¬ 
herigen Regierungen, die von Anfang an keine Deutschen, sondern 
nur gemischtsprachige und „germanisierte“ Gebiete kennen wollte, 
enthüllte nur zu deutlich die Absicht, diese vor vielen Jahrhunder¬ 
ten durch Deutsche besiedelten Landstriche allmählich dem Deutsch¬ 
tum zu entfremden. Es entbrannte ein nationaler Kampf, der zu 
einem ganzen System einseitig tschechisch eingestellter Gesetze 



164 Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 

führte, unter denen das Verfassung!- das Sprachen- und das Kriegs 
anleihegesetz die Deutschen wirtschaftlich und moralisch am härteste 
treffen. Es ereigneten sich zahllose Übergriffe mutwilliger Soldatesks 
die viele deutsche Menschenleben forderten. Es kam zu einer Diktatu 
im Schulwesen, bei der die Deutschen um zahllose Bildungsanstaltei 
verkürzt wurden. Der deutsche Handel wurde zurückgesetzt, ein« 
rein tschechische Bureaukratie schaltet und waltet in rein deutscher 
Gebieten. Es wäre eine Verfälschung des Gesamtbildes, wollte mar 
diese seine historischen Voraussetzungen unaufgezählt lassen. Mar 
kann kaum annehmen, daß die geradezu automatische Ablehnung 
sämtlicher deutscher Anträge im Parlament seitens der tschechischen 
Mehrheit rein sachlichen Gründen entspringt und auch wenn man 
den Tschechen zugesteht, daß sie ein Recht dazu haben, den Deutsch¬ 
böhmen aus Gründen der Vorkriegs- und Kriegszeit böse zu sein, 
so kann man doch nicht umhin, in dem Gehaben der tschechischen 
Mehrheit zum großen Teil eine Revanchelust zu sehen, die mit 
den realen Interessen ihres Staates, den sie so sehr zu lieben be¬ 
hauptet, keineswegs im Einklang steht. Das Verhältnis der Deutschen 
zum Staate ist bis heute nicht völlig eindeutig, nicht etwa deshalb, 
weil die Deutschen diesen Staat als ein Provisorium ansehen (dazu 
sind weder sie unklug genug, noch würden es die Tschechen ver¬ 
dienen), sondern deshalb, weil die Tschechen den Fehler begehen, den 
Staat mit dem System zu identifizieren, das die zentralistischen Re¬ 
gierungen bisher gegen die Deutschen in Anwendung brachten. Der 
Staat aber müßte den Tschechen mehr sein als das System und die 
Existenz des Staates mehr als die Erhaltung einer zweifelhaften Ge¬ 
waltherrschaft über das deutsche Viertel der Staatsbürger. 

Einer der Hauptgründe für die Zähigkeit des tschechisch-deutschen 
Kampfes liegt ohne Zweifel in der starken Vermischung beider 
Nationen. Wären die Rassen reiner und ihre besondere Eigenart 
weniger gefährdet, dann wäre freilich die Angst, von der anderen 
Rasse gefressen zu werden, nicht so ausgeprägt. Es ist klar, daß 
diese Angst bei den Tschechen lebhafter und mehr begründet ist als 
bei den Deutschen. Deshalb war und ist der Deutschenhaß bei den 
Tschechen immer stärker als umgekehrt die Abneigung der Deutschen 
gegen die Tschechen. Man kann eine ganze Reihe tschechischer 
Literaturdenkmäler ältesten Datums anführen, in denen von diesem 
Deutschenhaß der Tschechen die Rede ist. Umgekehrt findet man 
in der deutschen Literatur wenig, was in diesen Zusammenhang 



Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 165 

gehören würde. Rechnet man hinzu, daß das tschechisch-deutsche 
Problem nicht bloß ein nationales, sondern zum guten Teil ein soziales 
Problem ist, daß der Deutsche als Vermittler höherer Kultur ins 
Land kam und dadurch notwendig eine gewisse Überlegenheit den 
tschechischen Einwohnern gegenüber behielt, so muß man zugestehen, 
daß der gegen das Deutschtum gerichtete Haß der Tschechen tiefer 
sitzt als in der Epidermis des letzten Jahrzehnts. Aber auch bei 
diesem historischen Haß, der sich hauptsächlich auf die Zeit nach dem 
Dreißigjährigen Krieg stützt, sind schwerwiegende Irrtümer am Werke. 
Ferdinand verteilte nicht den Besitz des tschechischen Adels an den 
deutschen, sondern den des protestantischen Adels, der größtenteils 
tschechisch war, an den katholischen Adel, der größtenteils deutsch 
war. Aus dem ursprünglich religiösen Gegensatz hat sich erst durch 
Verschiebungen der Perspektive und durch Entwertung des religiösen 
Moments in der modernen Zeit ein nationaler Gegensatz entwickelt. Auf 
dem Altstätter Ring in Prag wurden im Jahre 1611 tschechische und deutsche 
Herren ohne Unterschied wegen ihrer antihabsburgischen Gesinnung hinge¬ 
richtet, und Friedrich von der Pfalz, den die böhmischen Stände zum 
König gewählt hatten, war ein deutscher Fürst. Der Kampf gegen die 
Habsburger war damals keineswegs ein Kampf gegen das Deutschtum, wie 
man heute gerne dem tschechischen Volke weismachen möchte. Es 
war ein Kampf in erster Linie um die Stellung des böhmischen Adels 
überhaupt der Macht der Habsburger gegenüber, der in zweiter Linie 
erst durch den Gegensatz der katholischen und evangelischen Stande 
verschärft wurde. Eine nationale Grundlage hatte dieser Kampf nicht. 
Deshalb ist der Vorwand, die Deutschen hätten 16z 1 tschechisches 
Land verschlungen, den man heute unter andern zur Beschlagnahme 
deutscher Großgrundbesitze ins Treffen führt, völlig nichtig. Ich 
ädere, um nicht parteiischer deutscher Quellen verdächdgt zu werden, 
absichtlich, was der Tscheche Karl Kramaf in seinem deutschen 1896 
im Verlage der Wiener „Zeit“ erschienenen Buche „Das böhmische 
Staatsrecht“ über diese Frage sagt: „Der böhmische (nicht bloß der 
„tschechische“) Adel rang nach der Macht und Bedeutung des späteren 
polnischen Adels und wurde endlich nach verschiedenen Peripetien des 
jahrelangen Kampfes in der Schlacht auf dem Weißen Berge vollständig 
geschlagen, und man kann nicht einmal sagen, daß er sein Schicksal nicht 
verdient hätte. Es waren unter den justifizierten Führern der Bewegung 
edle Charaktere, welche Märtyrer einer tiefen religiösen Überzeugung 
waren und welche wohl glaubten, für ihren Glauben und die Rechte 



i 66 Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 

der Stände den Kopf hinzugeben, aber die eigentlichen Führer der 
Bewegung dachten weniger an die Freiheit des Gewissens als an die 
Vorrechte und Privilegien des Adels. Es war nicht die Sache des 
Volkes, welche unterlag; der Besiegte war der Adel, welcher das Volk 
geknechtet, in Unfreiheit geworfen hatte und ruhig zusah, wie das 
Bürgertum der Städte seine Macht und Bedeutung verlor, und welcher 
nichts anderes wollte, als eine Oligarchie des Adels mit einem Schein¬ 
könig auf dem Thron.“ So beschreibt Kramaf die Katastrophe von 
1 61 1 und man sieht aus seiner Beschreibung, um was es eigentlich 
ging, welcher Entstellungen sich die heutigen nationalistisch frisierten 
tschechischen Historien schuldig machen, die lehren, die Niederlage 
von 1 61 1 sei eine von den Deutschen herbeigeführte Niederlage des 
tschechischen Volkes gewesen, die erst durch den Umsturz von 1918 
endgültig gesühnt worden sei. Wohl war diese Niederlage in ihren 
Folgen nicht nur, wie Kramaf sagt, eine Niederlage des Adels, sondern 
auch eine Niederlage des Volkes, aber diese Niederlage diente zunächst 
nicht deutschen Interessen, sondern den Interessen der politischen und 
religiösen Raison der Habsburger. Als Habsburger, nicht als Deutsche, 
hatten die Habsburger den Sieg davongetragen. Allerdings haben sich 
im weiteren Lauf der Geschichte die Deutschen den Sieg zunutze 
gemacht, und so kam es, daß der Tscheche beide Prinzipien mitein¬ 
ander identifizierte, obgleich im Grunde das Verhältnis der Deutschen 
Böhmens zum Hause Habsburg niemals ein sonderlich warmes war. 
Aber die Deutschen begingen den Fehler, ihre Interessen dem Reiche 
gegenüber von denen der Tschechen zu trennen, anstatt bei Wahrung 
ihrer nationalen Rechte gemeinsam mit ihnen vorzugehen. Diese 
Gemeinsamkeit, die sich noch im Jahre 1848 und auch bei einigen 
späteren Anlässen äußerte, wurde ehedem nicht unnatürlich empfunden. 
Die Tschechen, als die westlichsten Slawen, dem generalisierenden 
Einfluß des Westens am meisten ausgesetzt, ihre Kultur größtenteils 
aus deutschen Händen empfangend, mußten freilich eifersüchtig darüber 
wachen, daß unter der Wirkung der ständigen Rassenvermischung 
nicht der letzte Rest ihrer völkischen Eigenart verloren gehe; sie 
waren auch darum auf die Erhaltung des unseligen tschechisch-deutschen 
Gegensatzes bedacht. Aber auch Wien, dessen Zentralismus bei einem 
tschechisch-deutschen Zusammengehen äußerst gefährdet schien, batte 
ein Interesse an diesem Gegensatz, der den Triumph des böhmischen 
Staatsrechtes und eine Dreiteilung oder gar Vierteilung der Monarchie 
verhinderte. Mochte aber der tschechisch-deutsche Gegensatz für die 



Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 167 

im Gefftge des Habsburgerreiches lebenden Tschechen von politischer 
Bedeutung sein, so ist er heute, nach Schaffung eines tschechischen 
Staates, ein bösartig fortwuchernder Anachronismus, der mit der Zeit 
die beste Errungenschaft der Tschechen zu verschlingen droht. 

Aus fälschen Identifikationen gehen die politischen Hauptsünden 
hervor. Wie es falsch war, einen konfessionellen Konflikt mit einem 
nationalen zu identifizieren, weil der konfessionelle Gegensatz sich zum 
gröfiten Teil mit nationaler Verschiedenheit deckte, (wobei die Deut¬ 
schen gewiß nicht von dem Fehler freigesprochen werden sollen, den 
Sieg des Katholizismus ungerechterweise für das Deutschtum ausgenützt 
zu haben), so ist es heute falsch, den Staat mit dem tschechischen 
Volk zu identifizieren. Es ist nicht nur seitens der Tschechen, sondern 
auch seitens der Deutschen falsch. Seitens der Tschechen, weil sie 
aus einem lebensfähigen Nationalitätenstaat, über dessen bunte Zusammen¬ 
setzung eben nicht hinwegzukommen ist, gewaltsamerweise einen 
lebensunfähigen Nationalstaat machen. Seitens der Deutschen, weil 
sie, indem sie die Tschechen mit dem Staate identifizieren, diesen von 
selbst eine größere Rolle einräumen, als ihnen gebührt. Die Tschechen 
sind nicht der Staat, und der Staat ist nicht eine tschechische Privat- 
an gelegen heit: diese Erkenntnis müßten sich Deutsche wie Tschechen 
stets vor Augen halten. Das Verhältnis der Deutschen zum Staate 
würde dadurch positiver, das Verhältnis der Tschechen zu den Deut¬ 
schen und umgekehrt müßte reibungsloser werden. Allerdings haben 
die Hauptarbeit hiebei die Tschechen zu leisten; denn sie sind es, 
die sich des Staates in seinem vollen Umfang angemaßt haben, die 
sich selbst unberechtigterweise mit dem Staate als Ganzem identifizieren. 
Solange diese falsche Identifikation herrschen wird, solange wird sich 
das Verhältnis der Deutschen zu diesem Staate niemals klären können; 
denn es wäre unbillig, von ihnen zu verlangen, dem tschechischen 
Staatsteil allein das zu gewähren, was sie gerechterweise nur dem Staate 
als Ganzem gewähren können. 


3 

Um erfolgreich Politik machen zu können, müssen sich die Deutschen 
im Moldaustaat zunächst darüber klar werden, welche Stellung sie im 
Rahmen des Deutschtums als Gesamtbegriff überhaupt einnehmen und 
welche Richtlinien aus dieser Stellung für ihre Politik hervorgehen. 
Es sei ohne weiteres zugegeben, daß die Stellung der Deutschen in 
der Tschechoslowakei eine der schwierigsten des Deutschtums Uber- 



iö8 Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 

faaupt ist und daß die Sendung der Sudetendeutschen eine der wich¬ 
tigsten Sendungen für die gesamtdeutsche Kultur und Politik bedeutet, 
die ebensoviel Selbstüberwindung als Kraft erfordert. Um einen Be¬ 
griff von dieser Sendung zu erhalten, wäre es gut, wenn die Deut¬ 
schen in der Tschechoslowakei nach jenen Aufgaben zurückblicken 
würden, die bereits Bismarck den Deutschen im alten Österreich in 
der großen Konzeption seiner gesamtdeutschen Politik zuwies. Die 
Gründe, aus denen Bismarck in seiner nationalen Einheitspolitik hin¬ 
sichtlich der Deutschen in Österreich inkonsequent war, sind die 
Gründe, von denen bei Beantwortung dieser Fundamentalfrage aus¬ 
gegangen werden muß. Diese Deutschen außerhalb Deutschlands waren 
Bismarck wichtiger als die Lückenlosigkeit der deutschen Einheit, und 
sie sind unter anderem auch deshalb ein Opfer der gegenwärtigen 
Katastrophe geworden, weil sie ihre von dem umsichtigen Kanzler 
klar empfundene Mission nicht richtig erfaßt, ihre Aufgabe fälsch er¬ 
füllt hatten. Nach der Zertrümmerung Österreich-Ungarns und der 
Schaffung eines reindeutschen Österreich, haben die österreichischen 
Deutschen ihre Bedeutung für das Gesamtdeutschem in dem früheren 
Sinne verloren: ihre Tendenz kann nur mehr sein, früher oder später 
in dem deutschen Mutterstaate aufzugehen. Ihre Existenz als selb¬ 
ständiges Staatswesen hat für das Deutschtum keinen Sinn. Aber die 
Last ihrer Sendung ist auf die Deutschen in der Tschechoslowakei 
übergegangen. Wenn die Deutschen in der Tschechoslowakei — auch 
in den schwierigsten Stunden ihrer nationalen Existenz — über die 
Reichsgrenze schielen und den Anschluß an das Reich als Rettung 
aus ihrer Lage erhoffen, so beweist dies, daß sie die Bedeutung ihrer 
Aufgaben nicht erkannt haben. Die Deutschen außerhalb der Reichs¬ 
grenzen sind für das Deutschtum viel wichtiger als etwa ihre Zu¬ 
gehörigkeit zum Reiche. Sie sind auf einen Posten gestellt, auf welchem 
zu kapitulieren sündhaft und verhängnisvoll wäre. Ihre Aufgabe ist 
auch keineswegs eine Aufgabe des Kampfes, sondern eine Aufgabe 
des Friedens. Sie hat eine ebenso starke kulturelle wie wirtschaftliche 
Seite. Kulturell hätten die Deutschböhmen eine ausgesprochene Ver¬ 
mittlerrolle zwischen Deutschtum und Slawentum zu spielen. Sie 
hätten nicht bloß, wie dies bisher geschah, deutsche Kulturgüter den 
Slawen, sondern auch, wie dies bisher nicht geschah, slawische Kultur¬ 
güter den Deutschen zu übermitteln. Politisch und wirtschaftlich haben 
sie eine Gewähr dafür zu bilden, daß ein Gegensatz zwischen den 
Tschechen und Reichsdeutschland unmöglich werde. Wenn sie diesen 



Johannes Vrzid.il Tschechen und Deutsche 16p 

Gegensatz heraufbeschwören oder schüren wollen, handeln sie ihrer 
Bestimmung zuwider, und es ist kaum anzunehmen, daß eine fern¬ 
sichtige deutsche Politik aus ihrem Verhalten Nutzen ziehen könnte. 
Die Deutschen in der Tschechoslowakei sind eine kostbare Garantie. 
Ebensosehr aber, wie darauf zu achten ist, daß sie ungeschmälert in 
den Rechten ihrer Existenz erhalten bleiben, ebensosehr müssen sie 
sich davor bewahren, ihre Aufgaben mißzuverstehen. 

Es muß zugegeben werden, daß unter solchen Umständen die Lage 
der Deutschen in der Tschechoslowakei ungewöhnlich schwer und 
entsagungsvoll ist, daß sie sich gleichsam hingeopfert fühlen für 
Zwecke, deren Genuss in vollem Umläng ihnen selbst versagt bleibt 
und es ist psychologisch begreiflich, daß sie in Reaktion auf dieses 
Gefühl immer wieder ihre Blicke nach dem deutschen Mutterreiche 
hinwenden. 

Es liegt darum auch ohne Zweifel im allerhöchsten Interesse der 
Tschechen selbst, den Deutschböhmen die Erfüllung der oben ange¬ 
deuteten Aufgaben zu erleichtern. Denn ein als Folge falscher tsche¬ 
chischer Politik notwendig bei den Deutschen eintretendes Mißverstehen 
ihrer Mission birgt für die Tschechen die Gefahren eines Pulverfasses. 
Die Deutschböhmen im Rahmen des Moldaustaates sind nicht nur für 
das Deutschtum, sie sind auch für die Tschechen selbst von hervor¬ 
ragender Wichtigkeit. Jeder Versuch, sie etwa zu entnationalisieren, 
wäre immer auch gegen das Interesse der Tschechen selbst gerichtet; 
abgesehen davon, daß eine konsequente Entnationalisierung bei einer 
kompakten Masse von ) */, Millionen Menschen mit einem Hinterland 
von 70 Millionen, die die gleiche Sprache sprechen, fast als unmöglich 
bezeichnet werden kann und einen Kampf bis aufs Messer mit allen 
seinen beiderseitigen Verirrungen zeitigen müßte, erfolgt jede Ent¬ 
nationalisierung immer nur äußerlich und schwächt im Grunde den 
aggressiven Volksstamm. Ein Nationalitätenstaat ist auf die Dauer nur 
denkbar, wenn er die Bedingungen des schweizerischen Zusammenlebens 
von Nationen für sich modifiziert. Betrachten sich aber die Tschechen 
als ausschließliche Staatsnation, dann nehmen sie die nicht unbeträcht¬ 
lichen Gefahren einer imperialistischen Ausbreitungstheorie auf sich, 
für deren Erfolg nach den bisherigen Erfahrungen im Völkerleben 
wenig Gutes prognostiziert werden kann. Es würde dann auch in diesem 
Falle scheinen, daß Nationen nur insolange lernen, solange sie selbst 
im gefährdeten Zustand sind, daß sie aber, einmal in Sicherheit, es 
verschmähen, aus politischen Erkenntnissen praktischen Nutzen zu ziehen 



170 


Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 


und das Lernen wieder den Schwächeren oder momentan Geschwächten 
überlassen. Kein vernünftiger Tscheche wird im Ernste daran denken, 
das deutsche Volk in der Tschechoslowakei zu entnationalisieren, d. h. 
das zu tun, was Masaryk einmal als „Barbarei des geistlosen Materia¬ 
lismus und politischen Mechanismus“ bezeichnet hat. Das Streben des 
realpolitischen Tschechen muß sein, dem Staate durch eine definitive 
Regelung des deutschen Problems die lang ersehnte Innenpolitik zu 
geben. Die Schaffung dieser Innenpolitik — und dies bildet auch ihr 
Haupterschwernis — ist freilich nicht bloß die Ausfüllung des durch 
die Paravents der tschechischen Außenpolitik gebildeten leeren Innen¬ 
raums. Die Schaffung einer Innenpolitik wäre vielmehr gleichbedeutend 
mit einem Umbau des Staates. Denn der Staat, in welchem das 
deutsche Problem in befriedigendem Sinne gelöst wäre, wäre nicht 
mehr der Staat, den die Herren von Versailles meinten. Es wäre viel¬ 
mehr der wirklich freie tschechisch-deutsch-slowakisch-magyarische 
Staat, und als solcher stände er westlicher Politik allerdings nicht 
zu Gebote. 

Das Fundament der Politik der Deutschen in der Tschechoslowakei 
muß in der Beantwortung der Frage liegen: Gehören wir unserer inneren 
und äußeren Aufgabe gemäß natürlicherweise dem neuen Staatsgebilde 
an der Moldau an oder nicht? Die Antwort darauf liegt nun keines¬ 
wegs in den Bestimmungen des Versailler Diktats, sondern in der ver¬ 
nünftigen Erwägung der eben angedeuteten Probleme. Auf Grund der 
ganzen historischen Kontinuität, der eminenten wirtschaftlichen Wechsel¬ 
wirkung, der jahrhundertelangen kulturellen Beziehungen zu den 
Tschechen und nicht zuletzt der Erkenntnis, daß der geistige Typus 
des Deutschböhmen (um diesen Ausdruck für alle in der Tschecho¬ 
slowakei wohnenden Deutschen zu gebrauchen) sich von dem Typus 
der übrigen Deutschen beträchtlich unterscheidet, auf Grund der Er¬ 
kenntnis der großen politischen Aufgaben, die das Deutschtum in der 
Tschechoslowakei zu erfüllen hat, kann die Antwort nicht anders als 
für das tschechische Staatswesen positiv ausfällen. Diese Art der Be¬ 
antwortung aber, und darüber müssen die Tschechen sich ein für alle¬ 
mal klar sein, schließt jeden Gedanken eines tschechischen National¬ 
staates, in welchem die Deutschen die Rolle von Kolonisten oder 
Gästen zu spielen hätten, grundsätzlich aus. Diese Beantwortung bedeutet 
das, was die Tschechen vom deutschen Volke in der Republik ver¬ 
langen: „sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen“; diese Beant¬ 
wortung erlaubt den gegenwärtigen Machthabern einen Säufzer der 



Johannes UrzidilTschechen und Deutsche 171 

Erleichterung, aber bei dieser Beantwortung, welche den Nationalitäten¬ 
staat statuiert, muß die Rolle der imperialistischen alltschechischen Ideo¬ 
logie auch endgültig ausgespielt sein oder von den Lenkern des Staates 
als staatsfeindlich verdammt werden. 

Erst nach dieser klaren Erkenntnis der Zugehörigkeit zur Moldau- 
republtk kann die Frage nach den Zielen und der Art der Minder¬ 
heitspolitik aufgeworfen werden, die das deutsche Volk in der Tschecho¬ 
slowakei zu befolgen hat. Und eben, weil diese Frage bisher noch 
nicht eindeutig beantwortet war, bezw. weil man nicht den Mut hatte, 
sie zu beantworten, fehlt es der bisherigen deutschböhmischen Politik 
an der notwendigen Eindeutigkeit. Ist aber diese Frage einmal in 
dem angeführten Sinne beantwortet, dann tauchen zunächst tschechischer- 
seits zwei Möglichkeiten auf: Entweder die Tschechen würdigen diese 
Art der Beantwortung in ihrer vollen Tragweite und richten sich dar¬ 
nach ein, was früher oder später soviel wie eine Art Schweizerisierung 
der Republik bedeuten würde, oder der chauvinistische Teil unter 
ihnen behält Oberwasser, wertet den positiven Standpunkt der Deutschen 
als Schwäche und sucht die Situation durch eine um so lebhaftere 
Offensive gegen das Deutschtum in der Tschechoslowakei auszuschroten. 
Über die erste Möglichkeit erübrigt sich jede kritische Betrachtung. 
Sie erscheint vernünftigerweise als das Resultat des natürlich verlau¬ 
fenden Werdegangs der Dinge. Die zweite Möglichkeit, so wahnwitzig 
sie für das Interesse der Tschechen selbst wäre, ist jedenfalls der 
bloßen Erwägung wert, um so mehr, als auf tschechischer Seite sich 
sicherlich Anhänger beider Theorien vorfinden werden. Gegen die 
zweite Möglichkeit könnten die Deutschen zwei Arten des politischen 
Kampfes anwenden. Die eine wäre die Kampfart etwa der Iren, die 
andere wäre jene nationale Durchsetzungs- und Zersetzungspolitik, wie 
sie am besten aus der politischen Geschichte der Tschechen in Öster¬ 
reich gelernt werden kann. 

Die Politik der Tschechen in Österreich — so sehr sie im Zeichen 
ständiger staatsrechtlicher Verwahrung stand — war doch eine bis in 
die feinsten Details ausgebaute und tadellos funktionierende aktive 
Realpolitik, besonders aber in den letzten Jahrzehnten, nach dem Auf¬ 
kommen der Jungtschechen. Die Taktik der tschechischen Minoritäten- 
politik kann in vielfacher Hinsicht den Deutschen in der Tschecho¬ 
slowakei nur vorbildlich sein. Ihr bezeichnendstes Abbild findet man 
in den Memoiren des Tschechen Kajzl, der als österreichischer Finanz¬ 
minister eine hervorragende Rolle spielte. Die Tschechen, auf der 



I 7 1 


Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 


einen Seite gegen Österreich völlig oppositiv, waren doch umsichtig ge 
nug, die verhaßte deutsche Staatssprache sich in einer Weise anzu¬ 
eignen, die ihnen die Möglichkeit gab, in allen Staatsämtern mit Er¬ 
folg zu fungieren. Die tschechischen Hochschulen produzierten eine 
derartige Masse von Absolventen mit deutschen Sprachkenntnissen, 
daß binnen kürzester Frist alle Staatsämter von ihnen überfüllt waren. 
In allen österreichischen Zentralbehörden und Ministerien saßen Tschechen, 
bedeutende Portefeuilles, wie das der Finanzen, des Handels, der öffent¬ 
lichen Arbeiten des Ackerbaues u. a. waren abwechselnd in ihren 
Händen. Von einer Ausschaltung, wie sie die Deutschen der Tschecho¬ 
slowakei, die in der zentralen Bureaukratie überhaupt nicht vertreten 
sind, gegenwärtig beklagen, konnten die Tschechen im alten Österreich 
nicht sprechen, da sie durch ihren eigenen Fleiß sich die Bahn zu 
allen Ämtern freimachten. Der Umstand, daß nach dem Umsturz ein 
geradezu unaufhaltsamer Rückstrom von tschechischer Bureaukratie aus 
Wen und den österreichischen Ländern in die Tschechoslowakei er¬ 
folgte, so daß die Bureaukratie dieses neuen Staates die des alten 
Österreich an Zahl unverhältnismäßig übertrifift, ist der beste Beweis 
dafür, welche Stellung und welchen Einfluß auf die Staatsmaschinerie 
die Tschechen in Österreich sich zu verschaffen wußten. Die Tschechen 
also waren gleichzeitig gegen die Monarchie, beherrschten aber gleich¬ 
zeitig einen großen Teil ihrer Organisationsapparates. Diese Position 
ermöglichte es ihnen, die denkbar erfolgreichste Politik zu treiben 
und aus dem Umsturz den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Das 
Hauptmittel zur Verwirklichung dieser Taktik lag in der Beherrschung 
der deutschen Amtssprache. 

Die Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei ist (nicht 
historisch, aber de fäkto) mit der Situation der Tschechen im alten 
Österreich vergleichbar, und im Falle die tschechische Mehrheit jene 
Politik betreiben sollte, die der zweiten oben erwähnten Möglichkeit 
entspricht, liegt nichts näher, als daß die deutsche Minderheit zur 
Abwehr dieser Politik sich der gleichen Mittel bediene, wie die ehe¬ 
malige tschechische Minderheit in Österreich. Das erste Gebot zur 
Ermöglichung solcher Taktik ist die absolute Erlernung der tschechi¬ 
schen Sprache durch die junge deutschböhmische Generation. Ja die 
Lage der Deutschen ist in diesem Falle weit sicherer und besserer, 
als die Lage der Tschechen, die sich nicht der natürlichen kulturellen 
Rückendeckung von 70 Millionen Stammesgenossen erfreuen konnten. 

Aber auch diese Art von Minderheitspolitik mußte bei den Deut- 



Johannes Urzidil, Tschechen und Deutsche 


*75 


sehen der Tschechoslowakei keinen absoluten Kampf bedeuten. Es 
wäre nicht ein Streben nach. Oberherrschaft Ober den tschechischen 
Volksteil; es wäre lediglich ein Streben nach jenem Einfluß auf die 
Verwaltung des Staates, der dem deutschen Viertel der Bevölkerung 
von Rechts wegen voll gebührt und von niemandem abgesprochen werden 
kann. Es würde weder ein Kampf gegen den Staat als solchen, noch 
ein Kampf gegen das tschechische Volk, es wäre vielmehr nur der 
Widerstand gegen das System und seine Repräsentanten, es wäre, wenn 
wir schon die Bezeichnung „Kampf“ dafür verwenden wollen, geradezu 
ein Kampf für den Staat und gegen die einseitige und katastrophale 
Ausdeutung seines Begriffs. 

Die Deutschböhmen sind keine Iren. Aber die Iren sind auch erst 
Iren im heutigen Sinne geworden und es nicht von Anfang an ge¬ 
wesen. Vielleicht würden die Deutschböhmen nach einer ähnlichen 
langwierigen Entwicklung auch ihren tschechischen Lloyd George 
finden. Was aber würde bis dahin aus dem Staate werden? Weder 
den Tschechen noch den Deutschen ist es im Ernste zuzutrauen, daß 
sie diesen verderblichen Gang der Dinge begünstigen würden. Die 
beiden Heerscharen, die sich hier schlagen würden, wären „eine große 
Heerschar, die Selbstmord begeht“. 

Mit der notwendigen Erkenntnis des natürlichen Verhältnisses der 
Deutschen zum Staate ist es indessen noch nicht getan. Dieses Ver¬ 
hältnis bedarf seiner verfassungsmäßigen Basis, um fruchtbar werden 
zu können. Diese Basis stellt sich der größte Teil des deutschen Volkes 
als politische und Territorialautonomie vor und folgt dabei dem Bei¬ 
spiel der Slowaken und Karpathorussen, von denen die ersten ihren 
eigenen Landtag in dem vom Professor Masaryk Unterzeichneten Pitts¬ 
burger Abkommen, die zweiten im Friedensvertrag garantiert haben. 
Auch Präsident Masaryk hat sich in früheren Zeiten (so in seinem 
Buche „Die tschechische Frage“) die Regelung des deutschböhmischen 
Problemes als größtmögliche Autonomie im Sinne des selfgoveme- 
ments gedacht. Karel Havliick Borovsky, der von den Tschechen ver¬ 
götterte Erwecker des Nationalbewußtseins im Jahre 1848, schreibt 
über diese Frage: „Nationalität bedeutet bei uns Tschechen, daß dort, 
wo unser Volk wohnt, auch tchechisches Regime sei, daß bei Gerichten, 
Ämtern und öffentlichen Anlässen die Sprache des Volkes verwendet 
werde und daß die tschechischen Ämter nicht bloß dem Volke gegen¬ 
über, sondern auch untereinander sich der Sprache des Volkes be¬ 
dienen. Das Gleiche versteht sich in Schulen, Kirchen, im bürger- 



i74 Johannes Urzidil , Tschechen und Deutsche 

liehen Leben und in der Literatur von selbst. Ebenso, wie wir unseren 
Sprachinseln entsagen und sie jener Nation überlassen, von der sie um¬ 
schlossen sind, ebenso fordern wir auch, daß die anderen Nationen ihren 
Minderheiten entsagen und daß die Nationen zum Zwecke der Landes¬ 
verwaltung sich gegenseitig auf anständige Weise arrondieren. Nach 
diesem Prinzipe überlassen wir jene Gebiete Böhmens, in welchen die 
Deutschen ununterbrochen geschlossen wohnen, der deutschen Ver¬ 
waltung. Nach diesem Prinzipe betrachten wir z. B. Prag als tsche¬ 
chische, Reichenberg als deutsche Stadt, obgleich in Prag auch Deut- 
che und in Reichenberg auch Tschechen wohnen. Es versteht sich hierbei, 
daß wir nicht so unduldsam sein wollen, den Deutschen in Prag für ihre 
Bedürfnisse keine deutschen Schulen, Kirchen und allerlei Anstalten zu 
belassen, oder sie zur Annahme amtlicher tschechischer Schriftstücke 
zu zwingen. Wir wollen anständiges Verhalten und nachbarliche Liebe, 
indem wir als Leitsatz die Worte aufstellen: Tue keinem anderen das, 
was du selbst nicht erleiden möchtest.“ So also stellte sich das tschechisch¬ 
deutsche Verhältnis der radikale Nationaltscheche Havlicek vor, und 
man muß gestehen, daß seine heutigen Nachfahren nicht eben auf 
dem Wege sind, diesem Idealbild auch nur nahe zu kommen. Frei¬ 
lich ist die Frage der Minderheiten heute nicht mehr so primitiv lösbar, 
wie sie dieser Vorkämpfer des Tschechentums formulierte. Geschlossene 
deutsche Gebiete werden heute tschechischerseits einfach überhaupt nicht 
anerkannt, und eine tschechische Minorität besteht heute nach Ansicht 
Prags schon da, wo unter Tausenden Deutschen ein Dutzend Tschechen 
wohnt Hinsichtlich der Duldsamkeit des in Übung begriffenen Sprachen¬ 
gesetzes müßte ein Mann von dem Rechtsbewußtsein Havliceks seinem 
eigenen Volke gegenüber zweifellos erröten. 

Ich weise auch darauf hin, was Karl Kramaf in seiner bereits er¬ 
wähnten Schrift „Das Böhmische Staatsrecht“ Uber das Problem des 
Zentralismus und der Dezentralisation zu sagen weiß. Zunächst gibt 
es keine glänzendere Desavouierung des auf die deutschböhmischen 
Gebiete gelegentlich der Geltendmachung der tschechischen Ansprüche 
in Versailles angewandten sogenannten „historischen Prinzips“ als das, 
was Kramaf gleich im ersten Absatz des betreffenden Kapitels sagt. 
Es heißt da: „Das Leben mit seiner ewig neuen Entwicklung, mit 
seinen immer neuen höheren Formen geht oft über die historischen 
Rechte der Länder und Völker hinweg und ohne gewaltsamen Rechts¬ 
bruch, einfach durch das neue Leben, werden sie alt, zu verblaßt, um 
ihm noch frische Farben geben zu können.“ 



Johannes Urzidi/, Tschechen und Deutsche 


*75 


Wie wohltuend unterscheidet sich doch der um ein Vierteljahr¬ 
hundert jüngere Kramar von seinem heutigen Namensvetter (wofern 
die Verwandtschaft nicht noch viel weitläufigerer Natur ist). Das von 
KramaJr im Jahre 1897 Air die Tschechen aufgestellte Programm 
könnten die heutigen Deutschböhmen mutatis mutandis ohne weiteres 
übernehmen, wozu noch der angenehme Vorteil käme, daß die Durch¬ 
setzung dieses Programms in der demokratischen tschechoslowakischen 
Republik ein Leichtes sein muß, während es in der Habsburger¬ 
monarchie immerhin auf Schwierigkeiten stieß. 

Wie wir gehört haben, sind die bedeutendsten politischen Köpfe 
der Tschechen, der toten und lebenden, für die Autonomie und 
gegen den Zentralismus eingetreten. Nicht nur Air die Dezentralisation 
in der staatsrechtlichen Form KramaF, die von Palacky vorempfunden 
worden war, sondern sogar Air die politische Autonomie der einzel¬ 
nen Nationen innerhalb der einzelnen Länder. 

Es wäre ein Fehler, wollte man die Forderung nach Autonomie 
blindlings in vollem Umfang stellen und von ihrer Erfüllung alle Vor¬ 
teile erwarten, die sich einem Volke in einem Nationalitätenstaat bieten 
können. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß eine schab¬ 
lonenhafte Schweizerisierung den wahren Verhältnissen keineswegs 
entsprechen würde, daß vielmehr das schweizerische System notwendig 
einer Modifikation unterzogen werden müßte, um auf den Moldau¬ 
staat anwendbar zu sein. Denn in der Schweiz leben drei Nationen 
unter verhältnismäßig gleichartigen wirtschaftlichen und geographischen 
Voraussetzungen, und ohne wesentliche kulturelle Niveauunterschiede. 
In der Moldaurepublik leben Völker der verschiedensten kulturellen 
und wirtschaftlichen Reife in durchaus heterogenen Gebieten, die 
schon rein geographisch nach verschiedenen Weltgegenden gravitieren. 
Während beispielsweise die volle Autonomie der wirtschaftlich nach 
dem Donaubecken hinblickenden und kulturell durchaus östlich ge¬ 
arteten Slowakei auch auf Grund der historischen Verwaltungstraditionen 
und der religiösen Einstellung ganz natürlich erscheint, wäre eine 
wirtschaftliche Autonomie der Deutschböhmen, deren Wirtschaftsgebiet 
durch das tschechische ergänzt wird, undenkbar. Schon in dieser 
Frage würde sich also ein reicher Konfliktsstoff und ein schwer be¬ 
gründeter Einwand gegen eine Territorialautonomie ergeben. Die Lö¬ 
sung liegt im Falle der Deutschböhmen ohne Zweifel in der Mitte. 
Der Komplex, auf dem sie mit Recht volle Autonomie beanspruchen 
können, umfaßt alle kulturellen und Schulfragen, in demselben Sinne, 



176 


Johannes Urzidil\ Tschechen und Deutsche 


wie Havlicek, Masaryk und selbst Kramaf dieses Problem aufgefaßt 
haben. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht aber scheint ein 
vernünftig gedämpfter Zentralismus mit weitgehenden Befugnissen der 
Kommunen und untergeordneten Verwaltungskörper sowohl für die 
Deutschen als auch für den Staat weit nützlicher zu sein als eine 
Autonomie „um jeden Preis* 4 . Freilich müßte dieser Zentralismus der 
böhmischen Länder, um fruchtbar zu sein, ganz anders aussehen, und 
mit einer ganz anderen Administrative arbeiten, als dies heute der Fall 
ist. In diesem Zentralismus müßten die Deutschen überall verhältnis¬ 
mäßig vertreten sein und volle Gleichberechtigung genießen. Ebenso 
wie der Tscheche im deutschen Gebiet heute in seiner Sprache zu 
seinem Rechte kommt, so müßte der Deutsche auch im tschechischen 
Gebiete als voller Bürger anerkannt und nicht wie jetzt als Bürger 
niederer Ordnung in der tschechischen „Staatssprache abgewiesen 
werden. Das gleiche Verhältnis müßte im slowakischen Staatsteil 
zwischen Slowaken und Magyaren herrschen. Es würde sich aus dieser 
Praxis eine Modifizierung des ehemaligen österreichisch-ungarischen 
Dualismus für den Moldaustaat ergeben, der unter einer Zentral¬ 
regierung den Verhältnissen am ehesten gerecht werden würde und 
für beide Reichshälften kulturelle Autonomie, sprachliche Gleich¬ 
berechtigung, aber wirtschaftlichen und politischen Zentralismus mit 
gerechter verhältnismäßiger Vertretung der Nationen statuieren würde. 
Über die Wege, auf denen die Deutschen zu ihrem vollen Recht auch 
im Rahmen dieses teilweisen Zentralismus gelangen können, ist bereits 
gesprochen worden. Aus der dargestellten Struktur der inneren Politik, 
die freilich gemäß der Devise Havliceks „Verträglichkeit und an¬ 
ständiges Verhalten 44 zur Voraussetzung haben muß, würde sich not¬ 
wendig auch eine feste Form der äußeren Politik ergeben; diese äußere 
Politik dürfte keine Militärpolitik, sondern könnte keine andere sein 
als die der Schweiz, eine Politik nämlich des Friedens und der Neu¬ 
tralität nach allen Seiten hin. Der innere Friede in der Tschecho¬ 
slowakei, dessen psychologische Vorbedingungen zu schaffen die vor¬ 
nehmste Aufgabe der Regierung sein muß, wird für diesen Staat 
stets auch den äußeren Frieden bedeuten. Die Unzufriedenheit der 
Nationen aber muß wohl oder übel ihre Reflexe auch auf die Außen¬ 
politik werfen. Denn nirgends sind so sehr, wie in Nationalitäten¬ 
staaten, die Bedingungen der inneren mit denen der äußeren Politik 
verwachsen. 



DER WUNDERTÄTIGE FINANZMAGUS 


von 

SAMUEL SAENGER 

E s -wird den Vereinigten Staaten von Amerika nichts helfen: es 
naht der Augenblick, wo sie an die Spitze des (von unseren 
Renaissancekünstlern vorbereiteten) Sanierungsvereins für Europa treten 
werden, sie mögen wollen oder nicht. Wie sie das Kriegsende be¬ 
stimmt haben, so werden sie den Friedensanfang bestimmen. 

Erst wollten sie nicht. Sie glaubten, sie seien >frei c , sich aus dem 
weltwirtschaftlichen und imperialistischen Verschlingungen der Alten mit 
der Neuen Welt nach Belieben herauszuziehen und zu isolieren. Das 
europäische Geschiebe und Geschacher stieß den Amerikaner ab; er 
sah unseren alten Kontinent, trotz der staatlichen Neugeburt der ,ge- 
schichtslosen c Völker, nach allen Richtungen mit riesigen Eiterherden 
übersät, und zwar an ganz anderen Stellen, als wo ihm früher die 
Irredentaherde gezeigt worden waren; und nun erinnerte er sich 
wieder der Warnung des weisen Washington: no entangling alliances« 
Der kleinamerikanische Standpunkt gewann zeitweilig die Oberhand, 
besonders im mittleren und ferneren Westen, unter dem europafernen 
und europafremden Kolonisten- und Farmervolk. Die Wucht jener 
Verschlingungen aber, die sich in dem gewaltigen Zinsendienst für die 
inneren, die Freiheitsanleihen, dem bis dahin kaum als möglich vor¬ 
gestellten Steuerdruck, den Fiebern der Inflation und Deflation, der 
Industriekrisis, der Einfuhrschrumpfung, der Arbeitslosigkeit und den 
seit 191 p gestundeten Zinsen für den Schuldenberg der Alliierten kraß 
genug ausdrückten, fegte jene Naivitäten schnell wieder weg, nachdem 
auch die Konferenz in Washington den Zusammenhang zwischen den 
pazifischen und den europäischen Problemen aufgedeckt hatte. Daher 
beginnt auch die öffentliche Meinung in Amerika, trotz der vorläufigen 
Zurückhaltung der Amtsstellen, sich der Überzeugung zu erschließen, 
daß an der wirtschaftlichen Neugeburt Europas die Union in eigenem 
Interesse beteiligt sein müsse. Aber wie wird die Hilfe aussehen, die 
wir von ihr erwarten dürfen? Sind ihre Finanzkräfte unerschöpflich, 
und hängt das Maß der Hilfe nur vom ,guten‘ Willen ab? Ich habe, 
um eine Antwort zu finden, die allerwichtigsten Angaben und Nach¬ 
weise zusammengestellt, die neben den großen Finanzzeitschriften des 
englischen Sprachgebiets besonders der ausgezeichneten Studie von Max 

12 



178 Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus 

Schippel (Amerikas Wirtschafts- und Finanzlage und die Wiederauf¬ 
richtung Europas; Stuttgart, bei F. Enke) entnommen sind. 

1. Amerika ist durch den Krieg aus einem Schuldner- ein Gläubiger¬ 
staat geworden. Das wurde zunächst als außerordentliches GlQck für 
den Staat als solchen, für das Volk als solches betrachtet. Wie bei 
uns sah man zahllose Einzeluntemehmer und Einzeluntemehmungen, 
die den europäischen Krieg belieferten und finanzierten, sich ungeheuer¬ 
lich bereichern, und während die Propaganda die Gemüter für den 
Eintritt in den »heiligen* Krieg reif machte, taumelten die Massen- 
millionen, trotz Lohn- und Preisaufblähung, in den »boom* der midas- 
ohrigen Zustände. Die Ausfuhr überstieg, vom 1. Juli 1914 ab, die 
Einfuhr um drei Milliarden jährlich, die amerikanischen, in Europäer¬ 
händen befindlichen Wertpapiere fluteten zurück, und der Goldvorrat 
in der Union erreichte phantastische Ziffern. So waren von den Aktien 
des Stahltrustes am 31.März 1914 1 Z85 636 oder 25,19 vom Hundert, 
von den Vorzugsaktien 312311 oder 8,67 vom Hundert in ausländischen 
Händen; am 31. Dezember 1918 waren die Prozentzahlen auf 9,52 
und 3,88 vom Hundert, ein Jahr später auf 7,2 6 und 3,84 vom Hundert 
gesunken. Der Goldvorrat erreichte im Juli 1919 mit 3095 Millionen 
Dollar die Rekordhöhe; dann strömte, nach Aufhebung des Geldaus¬ 
fuhrverbots, etwas Gold wieder ab, doch zeigte das am 31. Juni 1921 
abgeschlossene Finanzjahr eine Mehreinfuhr von 535 Millionen Dollar. 

2. Das Glücksgefühl herrschte ungetrübt bis zum Eintritt in den 
Krieg (am 6 . April 1917), an dem man sich erst in den letzten 
sechs Monaten außer mit Munition, Kriegsgerät und Geldleihe auch 
mit Menschenopfern beteiligte. Inzwischen hatte sich die überlieferte 
Wirtschaftsart von Grund aus geändert: nach europäischem Vorbild, 
nur unter viel, viel günstigeren allgemeinen Umständen. Der Zirku¬ 
lationsprozeß der Waren, die den normalen Wirtschaftsbedarf zu 
decken pflegten, stockte; die Einfuhr aus Europa verkümmerte; und 
während das Kapital und die Menschenmassen den Orten der Kriegs¬ 
geräteerzeugung und der Nahrungsmittelproduktion zuströmten, trat auf 
der ganzen übrigen Linie des Warenmarktes Knappheit der Belieferung 
und Preistreiberei ein. Da die Bundesregierung, unsre Wege des un¬ 
gedeckten Papiergeldschwindels nicht beschreitend, durch ihre Federal 
Reserve Bank-Politik den Zinsfuß dauernd ,widematürlich* niedrig 
hielt, um die Mammuthsummen der festverzinslichen Weltbefreiungs¬ 
anleihe vorteilhaft auflegen und unter die Patrioten bringen zu können, 
so hatten die Privatbanken die ungeheuren Kreditansprüche des fast 



Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus 179 

ausschließlich für den Kriegsbedarf arbeitenden Unternehmertums zu 
befriedigen, der Kreditbedarf der Städte, Einzelstaaten und der nor¬ 
malen, dem zivilisierten Leben dienenden Produktionsbetriebe (des 
Bauwesens; der Eisenbahnen, die völlig heruntergewirtschaftet wurden; 
der sonstigen Anstalten von öffentlichem Nutzen) blieb unbefriedigt: 
bis schließlich mit dem Kriegsende die Haussestimmung verflog, die 
hinaufgepeitschte Preis- und Lohninflation — die also nicht, wie bei 
uns, durch Notendruck, sondern durch beinahe unbegrenzte Privat- 
kreditgewährung herbeigeführt war — zu schrumpfen begann und die 
Banken auf den eingefrorenen, d. h. nur langsam und mit größter 
Vorsicht einzutreibenden Forderungen festsaßen, ähnlich wie der Staat 
auf seinen Forderungen an die Verbündeten festsaß. Daß man nicht 
gleichzeitig dem Kriege, der Wertzerstörung, und dem Frieden, der 
Werterneuerung und Wertvermehrung, dienen kann, zumal das Publi¬ 
kum an die fünfundzwanzig Milliarden Dollar für den Krieg her¬ 
zugeben hatte, gilt auch für Amerika. 

3. Seit Eintritt der Union in den Krieg wurde der Kreditbedarf 
der erschöpften Europäerländer durch Darlehen von Regierung zu Re¬ 
gierung befriedigt. Deren Gesamtschuld an Amerika beläuft sich auf 
nicht weniger als elf Milliarden Dollar; die dafür fälligen aber 
bisher gestundeten Zinsen betrugen, nach dem vom Schatzsekretär 
Mellon dem Kongreß Mitte Dezember 1 1 unterbreiteten Rechenschafts¬ 
bericht, 1155502,181 Dollar, von welcher Summe Großbritannien 
über 509 Millionen, Frankreich weit über 300 Millionen und Italien 
über 200 Millionen Pfund zur Last fällen. Verzicht? Die vorjährige 
Mission des Lord Chalmers zielte darauf ab, die Vereinigten Staaten 
zur gegenseitigen Streichung der interalliierten Schulden zu bewegen; 
der dem Vorschlag zugrunde liegende und besonders in England mit 
Sympathie genährte Gedanke war: daß Menschenopfer Geldopfer wert 
seien. Für England hatte der Gedanke an einem finanziellen Kalkül 
seine Stütze. Die Geldanweisungen an die Alliierten zweiter und 
dritter Würdigkeit lauten auf Englands Namen, da dieses als der 
bei weitem zahlungsfähigste Schuldner galt; die Gesamtsumme, mit 
der London Washington haftbar wurde, lief schließlich auf zwölf¬ 
hundert Millionen Pfund Sterling zusammen, während ihm von Rußland, 
Serbien, Rumänien, Griechenland, Portugal und anderen Verbündeten 
mit schwindsüchtigen Staatsfinanzen 1731 Millionen Pfund Sterling 
geschuldet wurden. Natürlich wurde in Amerika, das den englischen 
Vorschlag im Geiste der Billigkeit zu erörtern sich bereit fand, aber 



180 Samuel Saenger, Der wundertätige Finanzmagus 

schließlich wegen der ungemeinen Belastung der Staatsfinanzen und des 
dadurch notwendigen außerordentlichen Steuerdruckes ablehnte: natür¬ 
lich wurde dort be- und vermerkt, Forderungen an faule Schuldner 
— sagen wir z. B. Portugal, Rumänien — solchen an gute (England) 
einfach gleichzusetzen, sei nicht statthaft. Für Kapital wie Zinsen 
wurden daher nur die Fälligkeitsfristen immer wieder hinausgeschoben; 
für eine grundsätzliche Regelung der Angelegenheit war die Zeit 
noch nicht reif. 

4. Die Belastung der amerikanischen Staatsfinanzen infolge des Krieges 
ist also ungeheuer, wir dürfen das nicht vergessen. Vor dem Juli 1914 
betrug die Staatsschuld noch kaum eine Milliarde Dollar, heute gegen 
fünfundzwanzig Milliarden. Für den 31. März 19zI bezifferte Mellon 
die fundierte Schuld auf über sechzehn Milliarden. Dazu kommen 
Berge von allerhand Schatzscheinen und kurzfristigen Anleihen, die 
nun in Daueranleihen zu verwandeln sind; innerhalb der nächsten 
achtzehn Monate sind fast sieben Milliarden dafür reif. Die Tilgungs¬ 
quoten sind vorläufig, gegenüber solchen Lasten (allein die Verzinsung 
der Kriegsschuld fordert fast eine Milliarde), nicht sehr beträchtlich. 
Man hilft sich durch außerordentlich radikale Abstriche im Haushalt, mit 
der Liquidation des Krieges wurden gleichzeitig die Verwaltungskosten 
um etwa anderthalb Milliarden gegen das letzte Fiskaljahr herabge¬ 
mindert. Und Schritt um Schritt damit werden die Steuern, insbe¬ 
sondere die ungemein hohen direkten, herabgesetzt. Dieses Steuer¬ 
system, das 1917 eingeführt wurde, um der Zerstörung des Staats¬ 
haushaltes vorzubeugen, wurde vom Unternehmertum als kurzsichtig 
und schädlich bloßgestellt; es habe, sagt z. B. Herr Otto Kahn, Mit¬ 
inhaber des New Yorker Bankhauses Kuhn, Lob und Cie., die Kapital¬ 
bildung unterbunden und die Kapitalbewegung gewaltsam abgelenkt; 
darum fehlte Geld zum Bauen und für Hypotheken; darum würden 
die Anleihen sonst blühender Städte nicht voll gezeichnet; darum ver¬ 
kaufte man amerikanische Freiheitsbonds mit ,traurigem c Kursabschlag. 
Der Typus Kahn scheint nirgendwo begreifen zu können, daß kein 
Kapital der Welt ausreicht, gleichzeitig gigantischer Wertzerstörung 
und der normalen Mehrwerterzeugung zu dienen, und daß die Bundes¬ 
regierung schon recht tat, als sie einer Zerrüttung der Staatsfinanzen 
durch derb zupackende Kriegsgewinnsteuer (exccss profit tax), durch 
Einkommensteuerzuschläge und Transportsteuem vorzubeugen trachtete, 
ohne die Massen durch erhöhte Verbrauchssteuern oder lästige Umsatz¬ 
steuern zu reizen. Herr Mellon geht aber nun daran, die Unter- 



Samuel Saenger, Der wundertätige Fmanzmagus 181 

nehmer- und Kapitalistenklagen zu berficksichdgen und z. B. die Ein¬ 
kommensteuer flir das kommende Wirtschaftsjahr um achthundert 
Millionen Dollar herabzusetzen; er will auch die Sätze ftir die Ver¬ 
mögenszuschläge wesentlich herabsetzen, um zu verhüten, daß immer 
größere Kapitalien, um sich so schärferem Zugriff des Fiskus zu ent¬ 
ziehen, immer mehr in steuerfreien Staatsanleihen Anlage suchen, statt 
sich auf bauender Arbeit zuzuwenden. Die in steuerfreien Staatspapieren 
angelegte Summe beziffert Mellon auf etwa zehn Milliarden. Sehr 
charakteristisch ist aber auch, daß ein dem Kongreß vorliegender 
Gesetzentwurf die Refiindierung der an die Verbündeten geliehenen 
elf Milliarden Dollar in Obligationen vorschlägt, die mit nicht weniger 
als fünf v. H. zu verzinsen und nicht später als bis zum 15. Juni 1947 
einzulösen seien. 

5. Man wird sich nun schon eine deutlichere Vorstellung von den 
wirklich riesenhaften Ansprüchen des heimischen Staates und des hei¬ 
mischen Marktes, der nach Erneuerungskrediten dürstet, an das ameri¬ 
kanische Kapital machen können, die Finanzwelt, die noch an den 
eingefrorenen Forderungen genug zu würgen hat, soll drüben also 
noch immer neue Kreditansprüche befriedigen, so z. B. an die äußerst 
bedrängte Viehproduktion, ftir die fünfzig Millionen Dollar in cattle 
loans aufzubringen waren. Für die Unterbringung von Reparations¬ 
anleihen auf dem amerikanischen Markt, der sich bisher nur hoch¬ 
verzinslichen sicheren Auslandspapieren zugänglich erwiesen hat, besteht 
daher so gut wie keine Aussicht Was dann? Trotzdem die Vereinigten 
Staaten von Amerika nur zehn v. H. ihrer Erzeugung ausftlhren, sind 
doch absolut gewaltige Interessen an dieser Ausfuhr beteiligt: der 
Weizen z. B. mit zwanzig, die Baumwolle mit sechzig, das Kupfer 
mit fünfundsiebzig v. H. ihrer Ausbeute. Und daraus schloß Herbert 
Hoover, der Handelssekretär im Kabinett des Präsidenten Harding: 
‘Finden wir keinen Markt für die Überschüsse unsrer großen Produk¬ 
tionen, so werden weitere fünfundzwanzig Millionen unsres Volkes 
in ihrer Kaufkraft geschwächt sein. Vielleicht treiben wir sie sogar 
in volle Armut, bis nach vielen Jahren eine neue Anpassung der Pro¬ 
duktion sich durchgerungen haben wird. Die schlimmen Zeiten, die 
heute an so viele Türen pochen, kamen aus Europa. Unsere einzige 
Verteidigung ist das Gedeihen unsrer Nachbarn und unsre wirtschaft¬ 
liche Tüchtigkeit. Die Wiedererholung unsres Außenhandels kann nur 
im gleichen Schritt erfolgen mit dem Wohlstand und Gedeihen uns¬ 
rer Abnehmer.’ Also selbst für Amerika besteht die wirtschaftliche 



18 2 . Josef Ponten, Unterredung im Grase 

Autarkie, der geschlossene Handelsstaat, nur als Illusion, es kann den 
europäischen Markt einfach nicht entbehren. Damit ist in der Tat 
der mächtigste Antrieb, dem notleidenden Europa Hilfe zu leisten, 
bezeichnet. Man zittert vor sich stetig erneuernden Devisenkrämpfen, 
die die Spannung zwischen dem Golddollar und den europäischen 
Valuten etwa noch vergrößert, man ersehnt Rückkehr zur Stetigkeit 
in den Wechselkursen und zu einer Warenzirkulation ohne Stauungen, 
Stockungen und Marktkrisen. Und wenn diese Wünschbarkeit nur 
durch ganzen oder teilweisen Verzicht auf die Schuldeintreibung zu 
erkaufen wäre, so wird sich Amerika, nach der in Washington immer¬ 
hin erreichten Herabsetzung der Kriegsrüstungskosten, auch zu solchen 
Opfern bereit halten und europareif machen müssen. 


UNTERREDUNG IM GRASE 

von 

JOSEF PONTEN 

I ch bin in einer Gegend aufgewachsen, die mit Bergwerken besetzt 
ist. Schlot bei Schlot, Halde bei Halde. (Es ist nicht schön da.) 
Gespenstisch laufen die Förderräder auf hohen Stühlen vor dem 
Himmel. Unterirdisch ist der Boden zerhöhlt, durchsucht, ausgebaut 
wie ein Ameisenhügel, oberirdisch entstehen plötzlich Mulden oder 
Beulen — die Erdfeste verbiegt sich. Risse bilden sich wohl in 
den Häusern (das eine oder andere ist schon eingestürzt), und Erd¬ 
beben sind nicht selten. Viktoria war ein schönes vornehmes Mäd¬ 
chen. Ich liebte sie. Ihr Herz antwortete mir nicht. Sie schwatzte 
aber gern mit mir, wenn ich auf das Landgut des Grubendirektors kam, 
weil ich, wie man sagte, begabt war und gute Sitten hatte, obgleich 
ich nur der Sohn eines Obersteigers war. Das Landgut war über 
die Maßen herrlich, gelb schweiften die Kieswege durch kurzge¬ 
schorenen Rasen. Viktoria trug im Sommer weiße Schuhe, Strümpfe 
und Kleider. Am fernen Horizont sausten die Fördernder. Kein Lärm 
der Bergwerkstadt drang heraus. Im Landhause hatten sich Risse anf- 
getan . . . 

Viktoria trug schon lange Kleider, während ich noch in kurzen 
Hosen ging, (die ich, klein geblieben, sehr lange getragen habe). Ich 



Josef Ponten, Unterredung im Grase 18 3 

hatte seit einiger Zeit den merkwürdigen Wunsch zu wissen, welche 
Strumpfbänder Viktoria trug. Meine Schwestern trugen Strumpfbänder 
aus schwarzer Gummilitze, einen Ring über dem Knie. Aber ich 
hatte gehört, daß feine Damen die Strümpfe irgendwie hoch oben 
am Gürtel befestigten und daß es Strumpfbänder aus Seide gäbe. Ob 
Viktoria auch Strumpfbänder aus Seide trüge, und hoch oben am 
Gürtel befestigt — ? 

Das war die Frage. Aber die Antwort war weit. Viktoria be¬ 
schritt neben mir die geharkten Wege. Die Glockenform des Frauen¬ 
rockes ist mir immer irgendwie unpassend erschienen. Wenn sie in 
einer Laube, auf einer Bank oder auch im Rasen neben mir saß, 
schlug sie wohl in ungezwungener Weise die Knie übereinander, aber 
der Kleidersaum war sakrosankte Grenze. Eine gewisse Unnahbarkeit 
war Viktorias Art, nicht nur gegen mich, den Obersteigerssohn, ob¬ 
gleich sie gegen niemanden ein hochfahrendes Wesen annahm, am 
wenigsten gegen mich. Wir waren in natürlicher Folge gemeinsamer 
Spielstunden der Kinderzeit Freunde geblieben. Jetzt philosophierten 
wir, im Grase sitzend. „Sie sollen ein mathematisches Genie sein, 
Felix“, sagte Viktoria. Ich lächelte wehmütig überlegen. „Rechen¬ 
künstler. Sagen Sie lieber: Rechenkünstler, Fräulein Viktoria,“ sagte 
ich, „ich könnte mich auf Jahrmärkten zeigen“. — „Für mich ist 
Mathematik einfach Zahl,“ sagte Viktoria, „und alles was Zahl ist, 
hasse ich“. Als sie das gesagt hatte, wurde ihr wohl bewußt, daß 
es einen Stachel hatte, obgleich ihr das Wort entfahren war, und sie 
sah mich steif an mit Schrecken und Neugier, wie man einem Balle 
nachsieht, der einen unbeherrschten gefährlichen Weg geht. Ich hüllte 
mich im Augenblick in einen Nebel der Vielbedeutsamkeit, wie sich bei 
Männern Unnahbarkeit auszudrücken pflegt, und sagte ernst: „Zahl ist 
Kosmos“. Das verstand Viktoria nicht, sollte sie auch nicht verstehen, 
und da sie es nicht verstehen konnte, weil es nicht zu verstehen 
war, weil es eine Fräse war so voll wie leer, ärgerte ich mich nnd 
wurde rot. Aber sie, übermütig, unbarmherzig, auch stolz auf das 
Können des — Hundes, denn wie ein gelehriger Hund sollte ich 
springen und Künste zeigen, frug: „Wieviel ist 37 mal 91? Ant¬ 
wort!“ schoss sie hinterdrein. — „3367“, sagte ich sofort gelassen. 
Sie klatschte in die Hände. „Wunderbar!“ Aber sie mischte Unbarm¬ 
herzigkeit und Staunen, Übermut und Demut — das kleidete sie gut! 
— sie frug: „Und 511 mal z 67?“ — „149787“ sagte ich, freilich 
nach einer kleinen Weile. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. 



184 Josef Ponten, Unterredung im Grase 

„Nun will ich Ihnen aber.. .“ Doch sie unterbrach mich und sagte 
ohne aufzusehen: „Ich habe Ihnen nicht wehtun wollen“. — „Ich weiß 
wohl, daß Sie mir nicht haben wehtun wollen,“ — nein, ich habe 
das „Sie“ doch nicht betont, ich war zu stolz, sie etwas merken zu 
lassen — „dazu wäre ich Ihnen zu gleichgültig“, bemerkte ich, heiter 
gelassen. Sie schaute fröhlich auf, befreit aus ihrer Unzufriedenheit 
mit sich, und sagte: „Das ist sehr fein bemerkt. . . Würden Sie,“ 
nahm sie auf, „wenn Sie einmal eine Frau liebten und Ihre Liebe 
bliebe unerwidert, würden Sie die Frau Ihre Liebe merken lassen?“ — 
„Selbstverständlich nein“, erwiderte ich. — „Das habe ich von Ihnen 
erwartet“ 

War das mm dreist oder naiv? Ich neige dazu, das letzte anzu¬ 
nehmen. Mein Herz krümmte sich. Mein Mund wollte zucken, aber 
ich habe mich von früh auf beherrschen gelernt, sodaß ich auf den 
Parketten des Landgutes hätte jung sein können, und sagte sachlich¬ 
fachlich: „Wie können Sie nur fragen?“ 

„Ja, wie konnte ich nur fragen . ..!“ 

„Erstens“, begann ich, „wäre es überflüssig, und zweitens wert¬ 
los.“ — „Warum überflüssig? Wie können Sie von einer Frau ver¬ 
langen ... die Frau muß doch wissen . ..“ — „Das weiß eine Frau 
immer, ohne daß man es sagt.“ 

„So —?“ Ihre Brauen standen wie Bögen. Ihre Augen waren groß 
wie Mond. 

„ . . . und zweitens wäre es wertlos“, setzte ich fort, im gleichen 
Vortragstone, den sie nach Belieben verstehen mochte. (Oh verzeih 
mir! Geliebte! Nachtwunder! Morgenstern!) — „Aber warum das?“ 
meinte sie still. — „Eine Liebe hätte für mich nur Wert, wenn sie 
automatisch, notwendig wüchse“, sagte ich; „irgendwelcher Zwang 
würde die Liebe verletzen. Alles, was berührt, verletzt schon. Sie 
müßte wachsen wie gewisse Pflanzen, von denen man sagt, daß sie 
nicht nur von der Hand, auch vom Auge des Menschen schon ster¬ 
ben.“ — „Das sagt man nicht,“ unterbrach sie leise, ohne mich an¬ 
zusehen, „das sagen Sie.“ Ihr Ton war sonderbar. — „Mag sein,“ 
sagte ich (und ärgerte mich plötzlich maßlos über das Selbstgefällige, 
ich trieb mir in wilder Wut über mich die Nägel der Faust ins 
Fleisch), „aber eine Liebe, die für mich Wert haben könnte, müßte 
so selbstverständlich da sein wie die Sterne am Himmel stehen.“ — 
„Warum? Bitte“, drängte sie. — „Weil alles Erzwingen, alles Siegen 
auf meiner Seite die Eigenliebe beleidigen würde.“ — „Das sieht 



185 


Josef Ponten, Unterredung im Grase 

wie Widersprach aus,“ bemerkte sie nach einer kleinen Weile, zu 
der sie sich durch eine Handbewegung das Recht errafft hat, „sieht 
wie Widersprach aus und ist doch keiner. Sie wollen geliebt sein 
so wie Sie sind, bloß wie Sie da sind, weil Sie glauben, daß Sie 
keinen Finger zu rühren brauchen, damit man Sie liebe.“ — „Ja, ich 
bin von einem furchtbaren Stolze!“ sagte ich etwas täppisch, doch sehr 
ehrlich, und der Ernst nahm denn auch allen schlechten Beiklang fort. 

„Sie sind herrlich selbstbewußt,“ sagte sie in ihren Schoß, „wie 
der Kaiser von China, der von einigen hundert Millionen Menschen 
geliebt sein will und sich doch hinter seinen gelben Mauern niemals 
einem seiner Untertanen zeigt.. .“ — „Die Mauern sind rot, Fräulein 
Viktoria“, bemerkte ich lächelnd. Sie sah auf, und ihre Augen waren 
mir dankbar für die Befreiung. „,Chinese* nannten mich meine 
Schulgefahrten“, scherzte ich weiter, „wegen meiner gelben Gesichts¬ 
farbe, die ich aus irgendeinem Grande habe.“ — „Sie sollten etwas 
für ihre Gesundheit tun. Sie werden sonst nicht lange leben. Nicht 
soviel in der Stube Uber BUchern hocken, Tennis spielen . . .“ — 
„Tennisspielen ist nichts für mich“, bemerkte ich trocken mit einem 
Blicke auf ihre weißen Schuhe und bemühte mich, in meinen Ton 
soviel Sachlichkeit zu legen, daß er Neid des minderen Standes über¬ 
tonte. „Ich komme ja jeden Tag in Ihren Park heraus. Ihr Vater 
war so freundlich, es mir zu gestatten — unaufgefordert!“ fügte ich 
schnell hinzu. — Ja, aber Sie haben stets ein Buch bei sich.“ — 
„Die Bücher!“ rief ich. „Wenn ich die nicht hätte! Die sind meine 
Frauen, die ich mit immer erwiderter, ewig blühender Liebe liebe.“ 

„Sie sind ein Aristokrat“, sagte sie, mich voll ansehend. Ihre Worte 
überrauschten mich wie warmes Bad, ich sah sie an mit Blicken, 
die hießen, sie möchte noch mehr derlei überaus Wohltuendes sagen... 
aber ich unterbrach meine unverschämte Aufforderung und lachte 
höhnisch auf: „Ich bin der Kaiser von China, Fräulein Viktoria! Der 
gelbe Kaiser! Welcher der Frau zuliebe, die er lieben möchte, wenn 
er lieben könnte, wie er lieben müßte, die Mauern seiner Kaiserstadt 
auch gelb streichen ließe, sie selbst und eigenhändig gelb striche. 
Anstreicher würde er werden, der gelbe Kaiser, aus Liebe! Aber er 
muß eine Frau wählen aus engem Kreise nach dem Staatsvorteil und 
darf sich im übrigen einen Stall — ach verzeihen Sie das Wort — von 
Nebenfrauen halten, damit er allen Regungen des Augenblicks dienen 
kann und nicht auf den Gedanken kommt, jene Frau, seine Frau zu 
wählen und sie zu suchen mit unwiderstehlicher Kraft, die Frau, die 



186 jfosef Ponten, Unterredung im Grase 

der Staatsvorteil ihm vielleicht vorenthält. Sicher vorenthält, denn 
niemals findet sich in der neidischen Natur das Schöne mit dem Nö¬ 
tigen in Vollendung verknüpft.“ 

„Mir scheint. Sie sagen da etwas, das vorauseilt“, meinte sie, und 
ich blickte sie, beschämt durchschaut zu sein, mit unwillkürlicher Be¬ 
wunderung ihrer Klugheit an (ich hielt für gewöhnlich nicht viel von 
der Klugheit der Frauen). „Sie sind ein Aristokrat,“ nahm sie be¬ 
harrlich auf, „neben dem man sich sehr klein vorkommt.“ — „Nicht 
ohne Wurm ist der Apfel. .— „Unterbrechen Sie mich doch nicht 
immer,“ unterbrach sie fast böse, „glauben Sie denn. . und ich 
vollendete in Gedanken: daß Beichten so leicht sei? „Nein“, sagte 
ich laut und einfach. Ihr Augenstern nickte mir zu und leicht über¬ 
rötet fuhr sie fort: „Man fühlt sich neben Ihnen als Plebejer, in ge¬ 
wisser Weise. Als Plebs der gesunden Art. Mit den paar Patriziern 
würde der Staat aussterben. Unnahbarkeit ist um Sie — eine rote 
Mauer,“ unterbrach sie sich lächelnd — „wie soll ich sagen: Unnah¬ 
barkeit einer großen Stunde, wo man unwillkürlich stUl wird und 
sich fürchtet. Sonntag sind Sie,“ rief sie lebhaft, als hätte sie sich 
in ihren hohen Worten etwas verstiegen, „Sonntag, ewiger Anspruch 
ans Festliche, Hohe, aber es muß doch auch Werkeltage geben. Ohne 
Werktag wäre der Sonntag ohne Reiz, und auf sechs Werktage 
kommt ein Sonntag.“ Das Wort „Sonntag“ schwang in der Luft, und 
ich sagte: „Ich hätte nie geglaubt, daß Lob so bitter sein kann.“ 
Nun zuckte wirklich mein Mund. 

„Schön, daß Sie nicht: ,Oh bitte* sagen und so verlogen bescheiden 
dabei lächeln. Wir Plebejer sagen immer: ,Oh bitte*, wenn wir ge¬ 
lobt werden, entwerten dadurch jedes Lob, das der andere sich müh¬ 
sam abgerungen hat, zu einem Kompliment und bringen es in den 
Verdacht einer schlechten Schmeichellüge.“ Und mit der Hand im 
Grase spielend sagte sie: „Mein Verlobter würde: ,Oh bitte* sagen ...“ 

Betäubt war ich. Betäubt wie der Ritter im Turnier, wenn der 
volle Stoß der Lanze des Gegners auf ihn brach. Aber ich blieb 
wie der Ritter fest im Sattel. 

O liebe schöne Seele, die du sogleich das Gespräch auf etwas an¬ 
deres brachtest! ... Es war mir, als spräche jemand hinter sieben 
Wänden von Glas, ich glaube von Kahnfahren und später von Beet¬ 
hoven, aber ich streckte mich wie ein Hund langhin ins Gras und 
wie ein Hund ihr zu Füßen. Es kam ganz von selbst und sie hat 
es nicht durch eine unschickliche Bewegung verhindert, als ich ganz 



jfosrf Ponten, Unterredung im Grase 187 

leise, Spiel und Begleitung zum Gespräche, Ober ihre weißen Schuhe 
strich, denn ich sprach plötzlich von Schuhen. „Haben Sie es nicht 
auch an sich schon erfahren, Fräulein Viktoria, daß man ein besserer 
Mensch ist, wenn man gute Kleider und Schuhe anhat? Sonntags¬ 
kleider?“ scherzte ich mit leichter AnzOglichkeit. Sie nickte um 
Haaresbreite. „Aber vielleicht haben Sie es doch nicht erfahren,“ 
fuhr ich fort, „da für Sie in dieser Hinsicht immer Sonntag ist 
Wenn ich breite große Schuhe an den Füßen habe, die nicht recht 
passen oder irgendwie, dann lasse ich mich leicht gehen. Wenn ich 
einen groben Stoff am Leibe habe, dann habe ich auch wohl grobe 
Gefühle. Wenn mein Anzug nicht sitzt und keinen Schnitt hat, dann 
hat auch meine Seele sozusagen keine Haltung.“ — „Ja, ich freue 
mich, daß Sie immer gut gekleidet sind,“ sagte sie mit naiver Ehr¬ 
lichkeit, und wir beide wandten uns ab, denn es war etwas lächerlich. 

Was nicht ganz leicht ist! Was kämpfe ich da mit der Mutter, die 
mich für einen Stutzer erklärt! sagte ich, natürlich nur zu mir. 

„Wenn ich in meinem Zimmer allein bin,“ gestand sie aus ihrer 
fernen Abgewandtheit heraus, „am Sonntagnachmittag oder auch am 
Abend, wenn die Familie mich nicht mehr beansprucht, und ein wunder¬ 
schönes Buch lese, das mich in eine Welt ganz anderer Gefühle ver¬ 
setzt, dann lege ich wohl plötzlich das Buch aus der Hand und meine 
Kleider ab — (schneller, Viktoria!) — und ziehe ein anderes besseres 
an. Neulich überraschte mich die Mutter, als ich mit ausgeschnittenen 
Schultern dasaß, und sagte, ich sei verrückt. Das Festkleid ziehe man 
nur für die Gesellschaft an....“ — „Ich möchte Sie einmal im Kleide 
mit ausgeschnittenen Schultern sehen, Fräulein Viktoria!“ 

Sie stutzte, runzelte die Brauen. Dann zornig: „Ein Schlechter sind 
Sie!“ 

,Ja ja, ich bin schlecht,“ trumpfte ich auf und trommelte mit den 
Händen im Grase, „ich bin schlecht und ein Plebejer und kein Aristo¬ 
krat, Fräulein Viktoria, kein Aristokrat!“ und lachte ein wenig irr. 

Sie rettete die zweideutige Lage, verwandelte sich und sagte: „Es 
ist komisch.“ Aber ich Tropf rief: „Ich werde Sie nie im Kleide mit 
ausgeschnittenen Schultern sehen! Ich habe noch keine Dame mit 
nackten Schultern gesehen! Ihr Vater lädt mich zwar in seinen Garten, 
aber nicht auf seine Feste, wo Sie mit ausgeschnittenen Schultern er¬ 
scheinen!“ 

Das war nun völlig geschmacklos, ich hätte mich prügeln können. 
Aber sie überhörte das unglaublich Dumme und Grobe meiner An- 



18 8 


Josef Ponten, Unterredung im Grase 

klage wider Gesellschaft und die Ordnung der Stände und sagte leise: 
„Es ist merkwürdig; in der Gesellschaft kann ich vor allen Männern 
mit ausgeschnittenen Schultern erscheinen, aber Ihnen konnte ich mich 
nicht so zeigen.“ 

Und ich Pavian fing unbarmherzig, freilich ins Gras hinein, in das 
ich biß: „Und warum nicht, Fräulein Viktoria?“ Und sie sagte, freund¬ 
lich, gutmütig das Überflüssige: „Weil ich mich schämen würde.. 

Nun waren mir an einem unmöglich dauerhaften Punkte, und wir 
hätten nur zweierlei tun können: auseinanderrennen auf Nichtwieder¬ 
sehen — oder sterben, wenn nicht in diesem Augenblicke die Vor¬ 
sehung einen Sommervogel geschickt hätte, der von Sonne und Lebens¬ 
freude trunken an uns vorüber taumelte. Sie sagte: „Das Volk hier 
nennt die Schmetterlinge Piepel, das kommt wohl von papilion ?“ 
(denn Grubendirektors waren von fernher aus dem Osten Überrhein 
in unser Land gekommen). Ich empfand die Bemerkung als sehr glück¬ 
lich. Sie sagte nach einer Weile still: „Ich möchte den Falter haben 
als Erinnerung an diese Stunde. Aber er ging vorüber wie die Stunde 
gehen wird...“ 

Ich freute mich über mich, ich war stolz auf mich, daß ich es 
über mich gewinnen konnte, meinen Kopf im Grase geduckt zu 
halten und sie nicht anzusehen. Viel Selbstüberwindung brauchen wir, 
wenn wir nicht halbe Triumphe zu ganzen machen wollen. Denn volle 
Triumphe kehren sich immer in Schmerz um. 

Aber ich friig, versunken im Grase und den Mund voll Erde: „Wie 
war das mit dem Verlobten, Fräulein Viktoria?“ 

Es dauerte ein wenig, ehe es oben sprach: „Nun ja, wir heiraten 
demnächst“ — „Ist er der mit dem Schmiß Uber der Wange?“ — „Ja, 
der Regierungsrat M.vom Bergbauamt Aber er ist kein mathe¬ 

matisches Genie wie Sie...“ 

„Er ist überhaupt kein Genie!“ erstickte ich in mich hinein. (Nimm 
noch ein Maul voll Erde, denn aufgepaßt, Junge! nichts ist billiger 
und abgeschmackter, als den Nebenbuhler schmähen.) Ich sagte: „Er 
sieht sehr stramm aus.“ 

Da lachte sie auf. Auch ich mußte lachen, und nun wagte ich 
aufzusehen. Und konnte aufgeräumt und wie herkömmlich sagen: „Ich 
gratuliere auch, Fräulein Viktoria!“ 

„Danke“, sagte sie... aber ahnte sie das Grausige meines Spieles, 
sie wandte sich fort und sprach leise: „Es weiß es noch niemand, 
außer den Eltern und ... und den zunächst Beteiligten“, sagte sie rasch. 




189 


Josef Ponten, Unterredung im Grase 

„Zunächst Beteiligte ist gut!" rief ich wie ein Teufel. 

Unwille durchblitzte ihre ganze Gestalt — aber da feuchteten sich 
ihre Augen, sie deckte mir, abgekehrt, den Mund mit der Hand zu, 
die ich von innen — küßte. 

Es war zuerst, als wären wir nicht dabei gewesen; aber es wäre 
nun doch alles verloren gewesen und ich hätte Viktoria, mein Augen« 
licht, nie wieder sehen dürfen und sterben müssen, wenn sie es nicht 
gefunden und gesagt hätte: „Sie üben sich...“ — „Ja,“ rief ich in 
der Zuversicht des jungen Mannes von begründeten Aussichten, „ich 
will doch auch einmal gesellschaftsfähig sein, von Ihrem Vater zu Ihren 
Festlichkeiten eingeladen werden und Sie mit ausgeschnittenen Schultern 
sehen dürfen." 

„Warum verderben Sie sogleich wieder alles?" frag sie unmutig. 
„Nun hören Sie — schauen Sie ins Gras —: es ist etwas Schamloses 
dabei, wenn man sich vor einem Manne schämen muß. Es ist, wie 
soll ich sagen, Schamlosigkeit in der Scham, und ... sozusagen ... An¬ 
stand und Scham in der... Nun ja. Sie wissen es." 

Ich war nun völlig ratlos. Ich mußte mich ihrem Instinkte über¬ 
lassen. Sie konnte mit dem Augenblicke und mit mir tun, was sie 
wollte. 

„Sie sind so furchtbar ansprachsvoll", sagte sie leise. „Sie machen 
einen unsicher. In Ihrer Gesellschaft fürchtet man sich wie auf dem 
blanksten Parkett, ob man nicht einen fälschen Tritt tue. Sie ver¬ 
breiten kein Glück um sich. Sie sind des Glückes auch selbst nicht 
fähig. Ich glaube. Sie werden nie heiraten..." — „Das glaube ich 
auch." — „Denn Sie sind schon jenseits dessen, was für uns andere 
das Glück bedeutet, die, wie soll ich sagen, gewisse Gedankenlosig¬ 
keit, Bedenkenlosigkeit, das Sichgehenlassen des Alltags..." 

Ich hatte mich ganz in der Gewalt. Ich hatte mein armes Herz 
ausgeschaltet. Ich sagte: „Nun sind wir da, wohin Sie vorhin meinten, 
daß ich vorauseile." 

„Ja, da sind wir. Und nun sind Sie einsam, Felix." — „Ich war es 
immer, Viktoria." — „Sie müssen Ihre Einsamkeit lieben." — „Ich ver¬ 
suche es." — „Sie müssen es können! Sie können es, weil Sie es 
müssen! Sie müssen sich selbst mehr lieben." — „Es ist so abge¬ 
schmackt, sich selbst lieben, Viktoria." — „Sie sind ein Christ" — 
„Ich glaube es ..." — „Es ist erwiesen." — „Ja, ich bin sehr fromm 
gewesen als Knabe. Das gemeine Volk, wissen Sie, ist fromm." — 
„Sie müssen etwas Heide sein — wie ich zum Beispiel. Sehen Sie, 



190 Josef Ponten, Unterredung im Grase 

mein Leben wird nun so hingehen wie das meiner Eltern und meiner 
Kreise, im guten Alltag. Aber Sonntags mochte ich dann, daß so 
einer käme wie Sie. Vielleicht gar, daß Sie kämen. Nein, schütteln 
Sie nicht mit dem Kopf. Warum sollen Sie nicht kommen ? Sonntags, 
am Nachmittag, ist die Frau allein. So wie Papa und Mama. Dann 
schläft Papa, und Mama liest in einem Buche. Papa liest nicht viele 
Bücher, er ist immer vom Dienst zu müde. Das ist überall so. Am 
Abend sind sie dann wieder zusammen und spielen Schach.“ 

„Glauben Sie denn selbst, was Sie da Vernünftiges sagen?“ frag 
ich spöttisch und grollend zugleich. — „Ich muß es glauben“, sagte 
sie leise. — „Und ich sage Ihnen, Sie glauben es nicht! Sie lügen! 
Sie lügen! Oh, Sie können so schamlos lügen!“ 

„Ich lüge nicht. . . Nicht böse sein! Bitte!-So, nun sind Sie 

doch böse ... Dann müssen wir gehen. Es wird auch kühl im Grase.“ 
„Nicht gehen, Viktoria, nicht gehen!“ bat ich. „Was tut das kühle 
Gras unserer Jugend! Nicht gehen, ich muß vorher wissen — was 
für Strumpfbänder Sie tragen . . .“ 

Sie glühte auf wie eine angeschaltete Leuchtbirne, zog die Knie 
an sich, als wollte sie aufspringen. „Sie müssen ruhig sitzen bleiben, 
ich will es!“ befahl ich, ohne aufzusehen, und mein Wille zog sie 
an den Boden nieder wie ein dem Versenkten angehängter Mühlstein 
ins tiefe Meer zieht. 

„Nun will ich Ihnen mathematische Fragen vorlegen“, nahm ich 
in scharfem Tone an einem früheren Punkte auf. „Sie haben mich 
wie einen gelehrigen Pudel in Zahlenkünsten springen gemacht. Sie 
müssen auch vor mir einmal springen, damit die Dinge im Gleichen 
bleiben und Gerechtigkeit werde ...“ — „Was haben Sie vor?“ unter¬ 
brach sie ängstlich. — „Fiat justitia, pereat mundus!“ vollendete ich 
mit verdecktem Hohn. — „Was heißt das:“ rief sie wie in Furcht 
vor einer Verzauberungsformel. — „Gerechtigkeit auch um den Preis 
der Verrücktheit! heißt das, und das ist eine sehr vernünftige Ge¬ 
rechtigkeit bei den Aristokraten. Denn Aristokratie, müssen Sie 
wissen, ist immer ein bißchen schöne Verrücktheit auf Kosten der 
gesunden Natur.“ — „Kommen Sie zum Ende!“ forderte sie. 

„Kopfrechnen können, Fräulein Viktoria, auch in etwas verblüffendem 
Maße, ist keine Begabung für Mathematik. Das ist eine ganz ein¬ 
seitige zufällige Gehirnausbildung, eine genialische Atrophie, wie man 
medizinisch sagen könnte. Es soll auch Leute geben, denen Sie einen 
halben Band des Lexikons vorlesen können, die aus dem Gedächtnis 



Josef Ponten, Unterredung im Grase 191 

das Vorgelesene zu wiederholen vermögen und doch nur die Intelligenz 
eines Klauns haben. Ich hatte einen Mitschüler, der die niederen 
Rechnungen noch fixer im Kopfe bewältigte als ich und in Mathe¬ 
matik das Zeugnis glicht genügend’ erhielt.“ — „Was soll das? Wohin 
wollen Sie hinaus? Was geht mich Ihr Mitschüler an?“ — „Geduld, 
Fräulein Viktoria!“ heischte ich unerbittlich. „Ich habe auch Geduld 
gehabt und habe nicht vor. Ihnen etwas zu schenken. Denn ich bin 
von Natur grausam und nicht gut, nicht gut, sollten Sie wissen.“ — 
„Wenn es nicht feige schiene, würde ich jetzt gehen,“ sagte sie 
ruhig und tapfer. 

„Sie sind nicht feige, und ich bin auch nicht grausam, ich bin 
nur — glücklich, weil ich doch Felix heiße, und alle Glücksfähigkeit 
schließt eine Eignung zu unbewußter und immanenter Grausamkeit 
ein, so etwas Ähnliches sagten Sie ja selbst. Und nun hören Sie: 
Mathematik ist Genie für den körperlichen Raum, und davon habe 
ich in der Tat ein klein wenig. Stereometrisch vermag ich auffallend 
zu denken, und die Markscheider nehmen mich wohl gern mit in 
die Gruben — wo man in Räumen denken muß, die ja gänzlich ver¬ 
baut, von der Erde erfüllt sind. Sie können es sich vorstellen — und 
machen sich, gleich Ihnen, das Vergnügen, mich Pudelkunststücke im 
Raumdenken ausführen zu lassen und belachen und bestaunen in einem 
meine Begabung. Ich werde ja auch wohl Markscheider in den Gruben 
Ihres Vaters werden. Die letzte Nacht war ich untertage, und heute 
morgen, als Sie aufstanden, genau unter Ihrem Zimmer — ja, vertrauen 
Sie einmal meinem Genie und glauben Sie, daß ich haarscharf, nicht 
nur unter Ihrem Hause, nein unter Ihrem Zimmer war. Da sah ich 
durch die Kruste hinauf und sah, daß Sie mausgraue seidene Strumpf¬ 
bänder anlegten. Nun möchte ich wissen, ob Sie wirklich ... die maus¬ 
grauen Strumpfbänder .. . anhaben . . .“ 

Sie war Ofenglut. Rang mit Reden und Schweigen. Schließlich 
stammelte sie: „Was gehen — Sie — meine Strumpfbänder an — ?!“ — 
»Ach, sie gehen mich leider schrecklich viel an,“ sprach ich in die 
Erde hinein, „Fräulein Viktoria, haben Sie Mitleid mit mir, sehen Sie 
von dem Sonderbaren ab und sagen Sie mir: Haben Sie wirklich die 
grauseidenen Strumpfbänder an — ?“ 

„Nein,“ sagte sie unwillig und doch willfährig, „wenn Sie es denn 
wissen wollen. Sie Erdenkrustendurchschauer, ich habe . . in der letzten 
Zeit immer . . die weißseidenen an . . Unverschämter!“ — „Sie haben 
die mausgrauen kn,“ behauptete ich still ins Gras hinein. — „Warum 



15? i Josef Ponten, Unterredung im Grase 

— habe ich — die mausgrauen —“ — „Weil es nicht anders möglich 
ist, weil es gar nicht anders sein darf, als daß Sie die mausgrauen 
anhaben! Haben Sie, während Sie sich anzogen, nicht bemerkt, daß 
die Erde gebebt hat? Sie haben es vielleicht gar nicht bemerkt oder 
nichts daraus gemacht, die lokalen Beben sind häufig hierzulande.. 

— Ja — ich habe es bemerkt — und nichts daraus gemacht — die 

Beben sind hierzulande — häufig..— „Ich höre, Ihr Haus weist 
einen neuen Riß auf?“ — „Ja, Vater sagt, ein neuer Riß — sei bemerkt 
worden — in der Tat.. — „Der entstand durch das Beben in dem 

Augenblicke, als ich aufschaute und Sie die mausgrauen Strumpfbänder 
anlegen sah.“ — „Schrecklich, nun weiß ich wahrhaftig selbst nicht 
mehr ... ich überlegte, ob ich nicht die mausgrauen nehmen sollte, 
aber ich nahm die weißseidenen.“ — „Die mausgrauen! Um Gottes 
Gerechtigkeit willen!“ 

Plötzlich warf sie sich entschlossen auf die Flanke, faßte den 
Gewandsaum und untersuchte die Strumpfbänder. Es waren die 
mausgrauen. 

„Die mausgrauen!“ stöhnte sie. 

Ich streckte mich rücklings ins Gras und schaute den Wolken- 
schiffen nach, die weiß das Blaumeer durchsegelten .. . 

„Sie sind entsetzlich . .. ich fürchte mich . . .“ — „Sehen Sie! Das 
kommt davon, wenn man andere ohne Grund für Aristokraten hält, 
die immer mit gefährlichen Waffen umzugehen wußten!“ — „Ich 
werde Vater sagen, er solle Sie später in die Donczgruben schicken.“ 

— „Ach, das hilft Ihnen nichts, Fräulein Viktoria. Das produktive 
Steinkohlengebirge streicht aus den Oststaaten Amerikas durch Frank¬ 
reich (denn Amerika und Europa schlossen früher dicht aufeinander, 
ehe Amerika nach Westen davonsegelte), durch Belgien, Ruhrland, 
Schlesien, Galizien ins Donezgebiet Rußlands. Das ist ein Zug nach 
der Lage des Äquators in der Karbonzeit“ 

„ ... So soll ich nun ewig Ihre Sklavin sein?L“ flüsterte sie 
schaudernd in ihre Hände. 

„Das Dasein ist furchtbar, Fräulein Viktoria. Die Mächte wachen, 
wenn sie auch manchmal zu schlafen scheinen ... Es ist besser, ich 
komme Sonntags nicht zu Ihnen, wenn der Bergbaurat schläft. . 

„Ich hasse Sie!“ 

„Tim Sie das nicht. Es ist gefährlich. Haß ist der Rücken des 
Eros. Er könnte sich umdrehen.“ Und nun redete ich statt des 
Himmels die Erde an. „Sie sagten, ich könne nicht glücklich sein. 



Josef Ponten, Unterredung im Grase 193 

Gut! Aber kein Wissender kann glücklich sein. Glück: das ist die 
Entschädigungsgabe der Natur an die, denen sie das Wissen vorenthielt. 
Denn selbst die Natur möchte gerecht sein. Glück: das ist die 
gedankenlose Heiterkeit der Seele. Darum können wirklich glücklich 
nur die Kinder und die jungen Mädchen sein.“ 

„Ich bin so nackt vor Ihnen. Ich schäme mich. Sie wissen alles 
von mir. Sie wissen, welche Strumpfbänder ich trage . . .** 

„Was gehen mich Ihre Strumpfbänder an!“ Ich sprach unter¬ 
getaucht in den Teppich des Grases hinein: „Ich habe eine Handbreit 
Ihres weißen Leibes gesehen, Viktoria!“ 

Es war mir, als ertränke meine Stimme irgendwo im Raume . . . 
Nach einer Weile hörte ich wie um eine Ecke des Raumes 
herumsprechen: „Hat es nicht wieder im Boden gedonnert?. .. Wir 
müssen fest auf der Erde stehen. Und vertrauen. Und an Grund¬ 
donnern, Bodenrollen, die Erdknalle uns gewöhnen . . . Felix! wenn 
Sie nun nicht zu mir kommen wollen, wenn der Bergbaurat schläft, 
und es dann niemand mehr gibt, in den Sie die Verrücktheiten Ihrer 
wunderlichen Seele ausschütten können . . .?! Was dann — ?“ 

„Dann muß einer sterben, ich oder der mit dem Schmiß!“ 

„-Wir haben uns nun genug gegenseitig bange gemacht, Felix 

. . . Wollen Sie den armen Harmlosen nicht leben lassen, wenn ich 
ihn ohne mich leben lasse — ?“ 

„Ich schaue nicht auf, Viktoria!“ 

„Blicken Sie fort, dann spricht sich leichter. Wenn die Blumen 
und die Bäume und die Vögel und Gott zuhören, dann braucht 
man sich nicht so zu schämen, als wenn man zu zweien flüstert...“ 
„Können Sie mir verzeihen, Viktoria?“ hauchte ich mit heißem 
Atem, der das Gras rot versengte. 

Ja,“ sagte sie schlicht, „gern . . . Lieber!“ 

Ein Jubelruf erstickte in der Wolle des Grases. 

„Die Natur können wir nicht zu Ende denken. Nur der Geist 
kann sich zu Ende denken. Aber dann ist er zu Ende. Wir dürfen 
die Natur nicht zu ernst nehmen, mein Freund. Denn sie ist ein 
Kind .. . Ich habe viel von Ihnen gelernt Mein Gott, ich bin doch 
nicht alt geworden in dieser Stunde?! Bin ich alt geworden, Felix??“ 
„Sie sind nicht alt geworden, Viktoria! Sie sind die Jugend!“ — 
„Ja . . . gefallen Ihnen denn eigentlich noch junge Mädchen? 
Sie sollen doch nicht aufstehen! Und nicht aufsehen!“ — „Ja, sie ge¬ 
fallen mir, ja! Manchmal, meist, wenn die Sonne scheint und die 

»3 



ip4 Matthias, Fuge über einen Gedanken 

Vogel singen, wenn ich einmal die Nacht lang hingestreckt geschlafen 
und nicht durchwacht, durchdacht habe. Ich finde sie schön, ihre 
Farbe, Frische, Geschmeidigkeit, sogar ihre lächerliche Geschwätzigkeit 
(manchmal!), ihre Unschuld, ihren Kleiderfior, und wenn sie so weiße 
Schuhe anhaben . . . wie Sie!“ 

„Gott sei Dank, ihm gefallen noch junge Mädchen!“ 

Vor diesem aus tiefer Brust geförderten Ausruf fuhr ich auf die 
Hände. Nichts hätte mich mehr in den dumpfen Rasen niederge¬ 
bracht. Sie saß wie eine Blume entfaltet im Grase. Sie war unbe¬ 
greiflich schön. 

„Viktoria!“ 

Sie lächelte wie die Himmelskönigin, wenn neue Selige in die 
paradiesischen Auen kommen . . . 

Die Sonne war hinter die Bäume gegangen, die Grasspitzen 
schmückten sich zum Fest mit den Sternen. Der Vater war schon 
lange in naher Ferne hin und her geschritten, zurückhaltend-auffällig, 
und voll gezähmter Ungeduld, wie lange unser grünes Grasgespräch 
denn noch dauern werde. Nun aber kam er geradesweges heran, und 
ohne mich zu begrüßen sagte er zur Tochter: „Du solltest nicht 
so lange im Grase sitzen.“ Er zog sie auf und ging mit ihr fort, 
ohne mich zu beachten. 

Von da an durfte ich natürlich nicht mehr in den Garten gehen... 


FUGE ÜBER EINEN GEDANKEN 

von 

LEO MATTHIAS 

I. 

I ch kannte einen Mann, der wurde darauf aufmerksam gemacht, daß 
es ungehörig sei, in den Suppenteller zu spucken — auch wenn er 
leer ist. Trotzdem tat er es am nächsten Tage wieder. Als er aber¬ 
mals darauf aufmerksam gemacht wurde, erklärte er: er wisse schon, 
was sich gehöre; im übrigen habe er nachweisbar nicht in den Suppen¬ 
teller gespuckt — sondern in die Kompottschüssel. 



Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 


*95 


Ich kannte einen anderen Mann, dem wurde in der Schule gesagt: 
„Du sollst nicht schlafen“. Das nahm er sich so zu Herzen, daß er 
nicht nur in der Schule jeden Schlaf bekämpfte — sondern während 
seines ganzen Lebens die „Abschaffung des Schlafes“ proklamierte. — Er 
ist an Übermüdung schließlich gestorben. 

II. 

Die Gefahr, daß irgend ein Satz zur bedingungslosen Regel, zum 
„Prinzip“, verallgemeinert wird, ist ebenso groß, wie die Gefahr — daß 
er nicht verallgemeinert wird. Es ist nicht so leicht, die Grenze hier 
zu finden. Man muß Takt dazu besitzen. 

Denn unter „Takt“ versteht man — erstens — ein Maß, ein Tonmaß. 
Zweitens aber, im übertragenen Sinne, die Fähigkeit „Maß zu halten“, 
also im gesellschaftlichen Leben bestimmte unbestimmbare Grenzen 
einzuhalcen, die für die Existenz dieser Gesellschaft ebenso lebens¬ 
bedingend sind wie der Schlaf für das Individuum. 

Damit soll nicht gesagt sein, daß jeder Mensch, der im gesellschaft¬ 
lichen Leben „taktvoll“ ist, auch Takt genug besitzt, um bestimmte 
Voraussetzungen zu respektieren, die nicht grade die Voraussetzungen 
der Gesellschaft sind. Man kann ein „Gentleman“ sein — auch ohne Takt. 
Aber man kann nicht Takt besitzen, ohne zugleich ein „Gentleman“ zu 
sein — es sei denn, daß man den Kodex der jeweiligen Gesellschaft ab¬ 
sichtlich nicht beachtet, um sie zu zerstören. Der gesellschaftliche Takt 
ist also nur eine „Erscheinungsform“ des Taktes, etwas Wechselndes, 
Vergängliches — aber dafür Reales; ein Gleichnis — ein Gleichnis für 
die Kunst, die Grenze einzuhalten. 

Man kann ein Feind des gesellschaftlichen Taktes sein, aber kein 
Feind des Taktes. Denn „Takt“ kommt vom lateinischen tangere: be¬ 
rühren, tasten, fühlen; hat also auch den Nebensinn von Kon-takt. Kontakt 
aber gebraucht man, um alle jene Voraussetzungen zu fühlen, die— 
wie der Schlaf — stärker sind als der menschliche Wille und ihre Existenz 
eigentlich nur dadurch beweisen, daß sie sich rächen, wenn man sie 
nicht berücksichtigt. Die Vernunft kann diese Voraussetzungen nicht 
ertasten. Sie sagt nur: „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“ — unbekümmert 
um das, was sein kann. Die Erfahrung aber sagt nur etwas darüber 
aus, was bisher gewesen ist — unbekümmert darum, was vielleicht sein 
könnte. Takt ist also ein Vermögen, das Uber der Vernunft und 
über der Erfahrung steht. Takt ist (auch) Fein-Gefühl. Die Lehre vom 
Fein-Gefühl, heißt deshalb Taktik. 



Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 


196 


III. 

Die Geschichte der Taktlosigkeit ist bisher noch nicht geschrieben 
worden. 

Man könnte mit den Urchristen beginnen. Sie wollten zwar nicht 
den Schlaf „abschaffen“, aber den geschlechtlichen Verkehr. Es kann 
kein Zweifel darüber sein, daß Paulus anfangs die Ehe nur notge¬ 
drungen denen erlaubte, die nicht die Kraft besaßen, ihre Triebe zu 
beherrschen. Nur so ist der sonderbare Satz verständlich: „Welcher 
verheiratet, der tut wohl; welcher aber nicht verheiratet, der tut besser“. 
Es gibt vielleicht in der gesamten Literatur keinen Satz, der so viel — 
und so wenig Takt offenbart wie dieser. Denn der Takt entspringt 
bei Paulus nicht dem Kontakt mit der Psyche des Menschen, die so 
beschaffen ist, daß Keuschheit für einige ein Kraft Zuwachs bedeutet 
und für andere eine Kraftverschwendung — sondern er entspringt der 
„Taktik“ (im schlechten Sinne), jener Gesinnung, die es mit beiden 
Seiten hält, um es mit keiner zu verderben. „Ich wollte aber lieber, 
alle Menschen wären wie ich bin“ — gesteht er einige Zeilen zuvor. 
Er kennt also im Grunde genommen nur die Alternative: Sittlich und 
keusch sein oder unsittlich und unkeusch sein. Er ist von der Un- 
sinnigkeit dieser Alternative nicht überzeugt. 

Man höre dagegen Manu: „Es ist keine Sünde, irgendeine Speise 
zu essen oder Wein zu trinken oder geschlechtlich zu verkehren; denn 
alle diese Dinge sind dem Menschen natürlich. Jedoch kann die Ent¬ 
haltsamkeit von diesen Dingen ungeahnte Früchte zeugen!“ 

Merkt man den Unterschied? 

Hier wird die Alternative indirekt verworfen — der Geist wird 
verworfen, der „Entweder — Oder“ sagt, an Stelle von „Sowohl — als 
auch.“ Denn es kommt nicht auf die Keuschheit an, sondern auf die 
Fruchtbarkeit des Gebotes. — 

Wie Manu hat das ganze Altertum geurteilt. Man lief damals Ge¬ 
fahr sich lächerlich zu machen, wenn man keusch lebte und die „un¬ 
geahnten Früchte“ nicht reifen wollten. Deshalb stellte es man selbst 
den Vestalinnen frei, von einem bestimmten Alter ab ihre Keuschheit 
preiszugeben. 

Kein Urchrist konnte das verstehen. Daß es sittliche Gebote gibt, 
die bedingt sind, — das ging ihm über die Vernunft. Empört schrieb 
daher der heilige Ambrosius in seinem Buch de virginitate: „Diejenigen, 
die für das Keuschheitsgelübde eine bestimmte Zeit vorschreiben, empfehlen 
dadurch selbst den Jungfrauen nachher nicht in diesem Zustande zu 



Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 197 

▼erharren. Was ist das ftir eine Religion, die den Jungfrauen die Keusch¬ 
heit empfiehlt, den älteren Frauen Unkeuschheit frei stellt! 1 * 

Gibt es einen geistigen Gegensatz, der ebenso entscheidend wäre, 
wie der zwischen dem heiligen Ambrosius und Manu? 


IV. 

Es gibt kaum einen Gegensatz, der von gleicher Aktualität wäre 
wie dieser. 

Denn was geschieht jetzt in Rußland? Daß einige Menschen die Be¬ 
hauptung: Ohne Profit raucht kein Schornstein — widerlegen wollen. 
Sie sagen: Er raucht auch ohne Profit — wenn wir nur das Kapital 
abschaffen. 

Man begeht also (ideologisch) denselben Fehler wie das Urchristen¬ 
tum. Man verwirft, „was ist** (Prostitution; Kapitalismus) und bestimmt 
„das, was sein soll“ (Keuschheit; Altruismus) unabhängig davon, ob es 
sein kann. 

Also hat die Partei der Erfahrung recht, die behauptet: Ohne Profit 
raucht kein Schornstein? 

Sie hat recht. Nur (wörde der Manu-Jünger sprechen) ist Profit — 
kein Fremdwort ftir Geld. Und das ist das Entscheidende. Denn hat 
man diese Erkenntnis, so hat man Takt genug, um zwischen den ewigen 
Kräften (Egoismus; Eros) und ihren zeitlichen Äußerungen (Kapitalis¬ 
mus; römische Prostitution) zu scheiden. Und damit ist die Taktik 
gegeben. Denn es ergibt sich damit die Notwendigkeit, diesen anders 
zu begegnen als jenen. 

Es ergibt sich also die Notwendigkeit, alle jene Bestrebungen zu 
fördern, die darauf hinaus laufen, ein Äquivalent, ein Entsprechendes — 
nicht für das Geld, aber ftir die Machtfunktionen zu schaffen, deren 
Träger das Geld bisher war; so wie die Christen gezwungen waren ein 
Äquivalent ftir die römische Prostitution zu schaffen. Denn die Menschen 
werden immer ihren „Vorteil“ suchen, weil sie ihre Macht suchen. 
Aber es ist ein Unterschied, ob man seinen Vorteil im Gelde sucht 
oder — etwa — im Range. Denn nur das Streben nach Geld wirkt 
destruktiv auf die Gemeinschaft, das Streben nach einem Range (oder 
einem Entsprechenden) wirkt konstitutiv — wie das Beispiel der katho¬ 
lischen Kirche lehrt. Allerdings kann sich auch diese Wirkung in das 
Gegenteil verkehren — aber das ist kein Einwand. Sonst wäre das Ende 
ein Einwand gegen den Anfang. Niemand aber wirft seine Arbeit hin, 
weil er sterben muß oder in 30000 Jahren die Eiszeit kommt. 



i$>8 Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 

Der Kleinkapitalismus, der in Rußland im Entstehen ist, ist daher 
ganz ungefährlich — sobald man ein solches Äquivalent gefunden hat. 
Ist es da, so wird man die Geldjäger ebenso belächeln, wie wir heute 
die Ordensjäger. Denn warum lächelt man? Weil sie sich mit so 
wenig Macht begnügen! 


V. 

Dem Schlaf nicht zu entsprechen oder dem Eros oder dem „Ego¬ 
ismus“ — das ist taktlos. Taktlos sind daher auch die, die den Krieg 
„abschaffen“ wollen. 

Der Protest gegen den Krieg entspricht im Grunde genommen dem 
Protest der UrChristen gegen die römische Prostitution; damals verwarf 
man mit der Prostitution jeden geschlechtlichen Akt — heute mit dem 
nationalen Krieg den Krieg „an sich“. Obgleich es diesen Krieg „an 
sich“ gar nicht gibt — ebensowenig wie es ein Leiden „an sich“ gibt. 
Sondern es gibt ein Leiden, das bei „überströmendem Lebens- und Kraft¬ 
gefühl“ als Stimulans empfunden wird (was Nietzsche den Schlüssel 
zum Begriff des tragischen Gefühls gab) und ein Leiden, das nicht 
als Stimulans empfunden wird. Man sagt daher nichts über das Leiden 
aus — sondern über sich, wenn man leidet. 

Man sagt auch nichts über den Krieg aus, sondern über sich, wenn 
man Pazifist ist. Das gestehen die Pazifisten sogar zu. Denn einer sagte 
mir: „Ich will nicht, daß ich sterbe.“ Sie können es nicht begreifen, 
daß es Menschen gibt, die verkommen, weil es nichts gibt, wofür 
es sich zu sterben lohnen könnte. Der Sinn des Opfers, das Glück 
des Opfers, die Lust „durch einen Gegensatz der eigenen Unerschöpflich- 
keit froh zu werden“, bleibt ihnen fremd. Das Wort von der „Heiligung 
des Lebens“ ist daher eine Phrase. Denn je stärker man lebt, um so 
geringer wird die Angst vor dem Tode — aus demselben Grunde, aus 
dem ein Mensch, der von einer übergroßen Freude beflügelt wird, alle 
Gefahren des Wegs mißachtet und losrennt, gleichviel ob er die Er¬ 
füllung seiner Sehnsucht mit dem Leben bezahlt oder nicht. Tut er 
es nicht, so ist es nur die Einsicht, daß es vielleicht besser sein könnte, 
sich — vorläufig — zu beherrschen, die ihn zurückhält; nicht der Tod. 
Der Tod ist (für diesen Typus) eine Bagatelle. 

Es ist eine psychologische Tatsache — und es verrät daher Takt¬ 
losigkeit sie zu übersehen — daß Tod und Leben sich wie zwei Wag¬ 
schalen verhalten. Je tiefer das Leben sinkt — um so höher steigt der 
Tod; und umgekehrt. 



199 


Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 

Man kann den Pazifismus daher nicht mit der Vernunft begründen — 
und auch nicht widerlegen; denn diese Tatsachen, diese psychologischen 
Gegebenheiten, ändern sich. Die Logik: „Ich will nicht, daß ich sterbe; 
folglich wollen alle Menschen nicht, daß ich sterbe“ — kann über¬ 
morgen richtig sein. Heute ist sie falsch. — 

Aus der Taktlosigkeit gegenüber diesem Phänomen entspringt natur¬ 
notwendig die Taktiklosigkeit auf beiden Seiten. Denn es ist unsinnig, 
mit dem nationalen Krieg jeden Krieg zu verneinen, und es ist un¬ 
sinnig, mit „dem“ Krieg auch den nationalen zu bejahen. 

(Der Krieg der Nationalitäten ist ein Unfug, weil die meisten 
Nationalitäten nur dasselbe wollen. Sie kämpfen nicht um Sonnen — son¬ 
dern nur um einen Platz an jener Sonne, die von allen angebetet wird.) 


VI. 

Man kann den Pazifismus nicht mit der Vernunft begründen und 
auch nicht widerlegen. 

Also liegt die Entscheidung darüber, was sein soll, beim Einzelnen? 
Nein; denn das Gebot des Einzelnen verhallt, wenn er (zum mindesten) 
nicht den psychologischen Voraussetzungen einer Gruppe entspricht. 
Also liegt die Entscheidung bei einer Gruppe, einer Aristokratie? Nein; 
denn es kommt nicht auf die Zahl derer an, die sich ihrer Einigkeit 
bewußt sind — sondern auf die Einigkeit. Die Entscheidung liegt da¬ 
her beim In-dividuum, d. h. bei einem in sich einigen Wesen, für das 
alle Alternativen der Vernunft nicht existieren und das nichts hat als 
seinen Willen und damit sein Ziel. Dieses In-dividuum entscheidet. Es 
ist gleich, ob es von einem Einzelnen oder einer Gruppe repräsentiert wird. 

Es muß nur da sein. Denn dieses In-dividuum ist die Voraussetzung 
für das Entstehen aller jener Gebilde, die vorgestern Kirche, gestern 
Staat oder Volk hießen und morgen wieder anders heißen werden. 
Es ist die notwendige Voraussetzung, weil es, wie im Fall des Krieges, 
keine Möglichkeiten gibt, über bestimmte Lebensbedingungen durch 
Vernunft zu einer Einigkeit zu kommen. Die Einigkeit muß da sein. 
Denn man hat (um bei dem einen Fall zu bleiben) „das überströmende 
Lebens- und Kraftgefühl“ — oder man hat es nicht. Was gut ist, steht 
daher erst fest, wenn das In-dividuum feststeht. Erst dann beginnt die 
Aufgabe der Vernunft. Denn sie besteht im wesentlichen darin, die 
Lebensbedingungen des In-dividuums, die „Axiome“, zu verallgemeinern 
und die Folgerungen zu ziehen. 

Umgekehrt — durch Verallgemeinerungen zu Axiomen zu gelangen; 



ZOO 


Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 

etwa die Voraussetzungen, die „Vernunft“, eines bestimmten Individuums 
zu verallgemeinern und folglich „das In dividuum aller Vernünftigen“ 
zu fordern — das verrät eine Taktlosigkeit, die nur noch von der Ethik 
Kants überboten wird. Denn die Axiome, die diesem Philosophen „die 
praktische Vernunft“ gab (Freiheit, Unsterblichkeit, Gott), waren die 
Axiome — nicht „der“ praktischen Vernunft; sondern der Vernunft jenes 
ganz bestimmten In-dividuums, das im Christentum seinen Ausdruck 
gefunden hatte. — 

Ein Produkt dieser selben Taktlosigkeit, dieses Leerlaufens der Ver¬ 
nunft, die nicht mehr weiß, wozu sie da ist, und ihre Grenzen über¬ 
schreitet — ist der Glaube an die „Menschheit“. Weil es In-dividuen 
gibt (Freundschaften, Orden, Stämme, Völker, Rassen, Kirchen etc.), 
schließt man, müsse auch dies In-dividuum möglich sein. Man ver¬ 
allgemeinert einfach — unbekümmert um die Grenze, die durch die Vor¬ 
aussetzungen gegeben ist, die das Entstehn eines solchen in-dividu- 
ellen Keims bedingen. 

Es gibt keine Menschheit. Der Begriff hat nur Sinn als Gegensatz¬ 
begriff zur Tierheit. Nur von der Tierheit aus gesehen ist die Mensch¬ 
heit einheitlich. Abgesehen von diesem Gegensatz wäre sie es nur, 
wenn sie in ihren Zielen einig wäre. Selbst eine Kriegserklärung 
gegenüber allen Kriegen würde deshalb nicht genügen; man wird nicht 
einig dadurch, daß man etwas unterläßt. 

Es gibt keine Menschheit — ebensowenig, wie es den Einzigen 
gibt. Denn der Mensch ist — abgesehen von seiner körperlichen 
Existenz — nur da, wenn er wirkt, wenn er Kopf oder Glied einer 
sichtbaren oder noch unsichtbaren Menschenkette ist. In jedem anderen 
Falle ist er ein Wilder, ein Tier. Da ist, wirklich ist folglich nicht 
der Mensch und nicht die Menschheit, sondern nur die Grenze 
zwischen Mensch und Menschheit — jene Grenze, die durch die Existenz 
des In-dividuums gezogen wird. 

Nicht auf die „Menschheit“, sondern auf die neue Grenze kommt 
es daher an; denn die historischen sind unwirklich geworden. Sie 
bewirken nicht mehr Leben — Befruchtung durch Verbindung. — 

Die Partei der Erfahrung, die nationale Grenzen fordert, hat ebenso 
unrecht, wie die Partei der Vernunft, die die „Menschheit“ fordert. 

VH. 

Es gibt keinen Gegensatz, der ebenso entscheidend wäre, wie der 
zwischen dem heiligen Ambrosius und Manu. 



ZOI 


Leo Matthias, Fuge über einen Gedanken 

Es ist im Grunde genommen nur die Überzeugung des Ambrosius, 
die Kant auf die Formel gebracht hat, als er sagte, daß „in Ansehung 
der sittlichen Gesetze" die Erfahrung die Mutter des Scheins ist und 
daß es höchst verwerflich ist, „die Gesetze über das, was ich tun soll, 
von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, 
was getan wird." Kant verallgemeinert damit jede besondere Ein¬ 
stellung, die die Urchristen zum Eros hatten und nimmt die Einstellung 
der Bolschewisten zum Egoismus und der Pazifisten zum Kriege vor¬ 
weg. Er proklamiert die Partei der Vernunft im Gegensatz zur Partei 
der Erfahrung, die das, was sein soll, nach dem bestimmt, was bisher 
gewesen ist. 

Aber beide Parteien haben unrecht. Denn der Gegensatz entsteht in 
beiden Fällen nur dadurch, daß man abstrakt denkt und alles, was „ist“, 
unter der Marke „Sein" in einen Kasten wirft, ohne zu scheiden 
zwischen ewigem Sein und zeitlichem Sein, zwischen Notwendigem und 
Zufälligem — also daß es ebenso ethisch wie unethisch sein kann, das, 
was „ist", zu berücksichtigen oder nicht zu berücksichtigen. 

Denn es kommt darauf an, was das ist, das „ist!" — Also sprach 
Manu. Also sprach Zarathustra. 

Was das ist, das „ist" — darüber aber kann niemals die Vernunft 
entscheiden, sondern nur der Takt. 

VIII. 

Es ist klar, daß dieser Takt durch die Vernunft (und also die Be¬ 
griffe) nicht übermittelt werden kann; — folglich bleiben nur die Sinne 
Übrig. Die Sinne sind jene „tiefe, unbekannte Schicht, welche allen 
anderen als Stütze dient und die, einmal gebeugt, allen übrigen ihre 
Neigung mitteilt, so daß fortan alles auf diesem so erzeugten Abhange 
herabrollt." „Denn unser innerster Grund ist weder der Verstand, 
noch die Vernunft, sondern es sind die Bilder. Die sichtbaren Ge¬ 
stalten der Dinge, einmal in unser Gehirn gebracht, ordnen, wieder¬ 
holen und prägen sich dort mit unwillkürlichen Verwandtschaften 
nnd Zusammenhängen ein. Wenn wir dann später handeln, geschieht 
cs in dem Sinne und durch den Antrieb der so erzeugten Kräfte, 
und unser Wille keimt ganz und gar wie eine sichtbare Pflanze aus den 
unsichtbaren Sämereien, welche die innere Gärung ohne unsere Hilfe 
bat aufsprießen lassen.“* 


* Taine über Loyala. 



202 Chronik Werenivags 

IX 

Ich habe die Geschichte von dem Mann erzählt, der den Schlaf ab- 
schaffen wollte, weil es ihm geglückt war, mit Erfolg gegen einen 
ganz bestimmten Schlaf zu kämpfen. Und ich habe die Geschichte 
von dem Mann erzählt, der nicht in den Suppenteller spuckte, aber 
dafür in eine Schüssel. Ich habe gesagt, daß der eine zuviel Vernunft 
besaß, und der andere zu wenig — und daß das, was beiden fehlte: 
Takt war. 

Aber ich habe noch nicht gesagt, daß ich, weil ich von der Kraft der 
Bilder überzeugt bin, Takt genannt habe, was man —im allgemeinen — 
Geist nennt. 


CHRONIK WERENWAGS 
m 

I n keinem Monat liest man so viel wie im Januar. Alle die Bücher, 
die zu Weihnachten kamen, und die Nachmittage, wenn das Zimmer 
vom Schnee draußen hell und vom Ofen innen warm ist. 

Schön ist es auch, im Jänner nach Partenkirchen zu fahren, gerade 
noch bevor die Bauern, treuherzig wie ein Pudel und gerissen wie 
ein Armenier, der der Sohn eines Juden und eines Griechen ist, den 
deutschen Kurgästen bedeuten, daß sie überflüssig sind, solang die 
Oberammergauer Passionsspiele dauern und der Dollar klatscht, wenn 
Christus hängt (wie sie rüsten, streichen, hamstern, nageln, bauen und 
wie sie rupfen werden, die Schakalorte um Oberammergau) — schon 
ist es, im Jänner nach Partenkirchen zu fahren, Skier und Frack im 
Gepäckwagen, und im Netz über dem Sitz nur ein Suitecase mit 
Büchern, die Zeit zu vertreiben. Laß sehn, was du mitgenommen hast. 

Den dritten Band der Propyläenausgabe von Stendhals Werken; 
Suares Porträts; Flauberts Reisetagebücher. Das sind drei Übersetzungen 
von Franzosen in einem Koffer. O deutsche Unbefangenheit, groß und 
problematisch in einem. Und fünf, sechs Nordländer aus dem Gylden- 
dalschen Verlag, der nun, weil es so billig ist, in Berlin eine Filiale 
hat und seine Skandinavier deutsch herausbringt — ganz schön, wenn 
es nur auf Gegenseitigkeit beruhte und die Fremden ihrerseits deutsche 
Autoren in ihre Edelvaluta übertrügen; sie denken nicht daran. 



Chronik Weremvags 103 

Und die Biographie Dostojewskis von seiner Tochter Aimde, die auf 
russisch Lubow heißt, und endlich die deutschen Bücher, eine bunte 
Reihe. Mückles Nietzsche; Thomas Manns erster Band der gesammelten 
Werke, schon auf holzfreies Papier gedruckt und in der Ungerfraktur 
gesetzt, die zu diesem subtiles Geist mit der zarten Männlichkeit paßt; 
die Heldensagen der germanischen Frühzeit; das erste Heft der Steiner- 
schen Zeitschrift Die Drei und die beiden ersten des Keyserlingschen 
Wegs zur Vollendung — Geduld, wir werden das alles unter einen 
Hut bringen. 

Nun, mein Lieber, du wirst nicht die ganzen Abende mit der 
Malay oh ol länderin, deren Lungen, o nur an den zarten Spitzen, an¬ 
gegriffen sind, beim Teetisch und die ganzen Tage mit ihren beiden 
Mädchen, betörenden Durchbrüchen des javanischen Bluts, auf der 
Rodelbahn zubringen können, wenn du das alles lesen willst. Am 
leichtesten macht es dir Stendhal. 

Der kleine gedrungne Herr bat jetzt, was er sich wünschte, die 
Leserschaft von Neunzebnhundertsoundsoviel und eine schöne, gro߬ 
formatige deutsche Gesamtausgabe, würdig des Namens Propyläen, 
obendrein, woran er nicht dachte. Bevor er sich zum Schreiben hin¬ 
setzte, las er, ein vorweggenommner positiver Dadaist, rämlich ein 
Verächter der poetischen Locke und des geistigen Toilettemachens, 
im Code Napoleon, um seinem Stil die Nüchternheit zu geben — so 
kannst nun du abends im Bett eine Stunde in ihm lesen, damit du 
dich nicht an jene Fremde, deren Augen so hinreißend pflanzenhaft 
sind, verlierst und dein Blut klar bleibe. 

Aber siehe, was sich vollzieht, wie er auf dich wirkt: er, der der 
prosaischste aller Schriftsteller zu sein wünschte, enthüllt sich als der 
feinfühligste von allen und lehrt: mache die Liebe zu einem künst¬ 
lichen Paradies, in dem du nicht mit der Göttin schlafen gehst. Das 
teilt der mit, der in Erinnerung an die Leutnantszeit in der großen 
Armee den Ehrgeiz hatte, der forsche Husar zu sein, der das Hinder¬ 
nis im Galopp nimmt, oder auch der Infanterist, der in jedem Augen¬ 
blick darauf vorbereitet ist, drei-, viermal zu — entladen. Aber er 
bleibt tapfer, selbst wenn der Schneid versagt, und bekennt herzhaft 
als erster das Phänomen der streikenden Pulverpfanne. 

Famoser Mensch, sympathisch, herrlich unpoetisch und befähigt 
darum, Leidenschaft von Pathos zu unterscheiden, dreifacher Vater 
des Realismus von 1860, der Analyse von 1885 und jetzt des Dritten, 
Neuen, Kommenden — einer Literatur, die denkt, nicht unbesehn dem 



io4 Chronik Werenioags 

Leben aus der Hand frißt und formen kann, weil sie den Wider¬ 
stand besitzt. 

Auch schon leicht aber liebenswert altmodisch, wenn er sagt, es 
gebe im Erotischen Dinge, die man nicht darstellen könne; wie ja 
jene ganze Lehre der übersinnlich sinnlichen Liebe gewiß nicht stand¬ 
hält, sobald man sie mit der Sonde seines eigenen Kritizismus unter¬ 
sucht. Und doch, indem sie im spinnfadenfeinen Unwirklichen schwebt, 
ist sie wahrlich mehr, als ein Barbar der Wahrheit ersinnen kann, 
nämlich Artificium, Kunst. 

So also kannst du bei ihm lernen, die Verehrung einer Frau als 
feinste Ekstase in die Reihe der an sich schon sublimierten Reizmittel 
einzufügen, deren du in diesem Monat Januar teilhaftig wirst: des in 
der Bewegung eines Eistages brennenden Bluts; der Schnecluft, die 
wie Champagner Perlen klaren Wassers in der Mundhöhle bildet; des 
Rausches, wenn man die Hänge höher und höher steigt bis zur Hütte, 
wo eine Schar junger Mädchen wie ein Rudel Gemsen lockt, lacht, 
glüht. Flirt: Brücke zwischen Becken und Hirn; Geist ist Leichtigkeit. 

Im Suar&sband „Porträts** begegnet man nochmals Stendhal, zwie¬ 
fach sogar: in dem ihm gewidmeten Kapitel und in demjenigen über 
Chateaubriand. Denn diesen kontrapunktiert Suar&s als Antipoden 
Beyles, als den ersten modernen Literaten. Es ist interessant, diesen 
Typus auf den Verfasser von Rene zurückgeführt zu sehn, und man 
fühlt rasch, daß es richtig ist. 

Denn sobald ein Schriftsteller Anarchist wird, wird er Histrione. 
Der Literat ist Nero, der, indem er mit dem Worte rast, die Diktatur 
des Wortes anstrebt. Da er für das Bedürfnis, das er mit allen be¬ 
gabten Naturen gemeinsam hat, für den Willen Macht zu werden, 
keine außer ihm, bei den andern also, existierenden Gegebenheiten 
findet, in deren Dienst er sich stellen kann, keinen Glauben, keine 
gewordne Institution, keine künftig zu verwirklichende Idee, hat er 
auch keine Sachlichkeit. 

Stendhal ist sachlich, weil er den Heroenkult und die Liebesbe- 
dürftigkeit der fünfundzwanzigjährigen jungen Männer respektiert. 

Der Histrione aber, deren erster Chateaubriand war, zerstört ent¬ 
weder das, was die andern verehren, oder er bläst es ihnen mit nach¬ 
träglicher Beredsamkeit zu einem Feuerwerk auf, beides ist dasselbe. 
Chateaubriand wählte die zweite Möglichkeit, er propagierte Christen¬ 
tum, nachdem es die Welt erobert hatte. 



Chronik Weremvags 205 

Das alles ist ausgezeichnet bei Suar&s nachzulesen. Wir aber in 
Deutschland, sollten wir das nicht kennen, dieses Temperament, das 
den Gaul reitet, indem es ihm Zunder unter den Schwanz legt, diesen 
Ehrgeiz, Cäsar der öffentlichen Meinung zu sein? Wir kennen das 
Phänomen und auch schon seinen Ausgang, wenn den Heißspornen 
nichts übrig bleibt, als aus Aristopbanes Sardou zu werden, der Manon 
Lescaut schreibt, oder aus dem Cowboy Dumas, der euch den neuen 
Kean hinschmeißt. 

Literaten I: „Mit diesem Buche nimmt der dreißigjährige Dichter 
Abschied von der Welt der Leidenschaften und Abenteuer, die er 
wie kein andrer glühend geschildert hat, bevor er sich den großen 
Fragen der Zeit zuwendet." 

Sogar die Hennen gackern erst, wenn sie das Ei gelegt haben, und 
Sei bst Verkündigung ist Selbstbefriedigung. Diesen Waschzettel hat nicht 
der Verlag, sondern der Autor geschrieben. Mag er widersprechen, 
wenn es nicht wahr ist — Edschmidt wird nicht widersprechen, kein 
andrer hat den Mut, zu affichieren, daß er sich den großen Fragen 
zuwenden wird. 

Er macht mir übel, dieser Mut. Die armen Fragen, wenn der 
Dreißigjährige sie aufs Bett werfen wird, wie damals in der Welt 
der Leidenschaften die Abenteuer. 

Literaten II: Vor einem Jahr veröffentlichte ein bayrischer Uni¬ 
versitätsprofessor in der Münchner Zeitung einen Aufsatz, der einigen 
deutschen Schriftstellern wie Curtius, dem Verfasser der mit edelster 
Distanz geschriebenen „Wegbereiter des neuen Frankreich", ein Kolleg 
über nationale Haltung las; das Lob von Pdguy, Rolland, Claudel 
war dem Professor: „Anbiederung mit der Negernation". Nun gut, 
ein Nationalist, vielleicht auch nur ein bayrischer Demokrat, das 
macht keinen Unterschied aus, sagte dem Publikum, was es an der 
Isar gern hört. 

Aber neulich, am Main, begegnete man dem Professor in den 
Spalten eines Blatts, in das ein Mann von Charakter nicht schreibt, 
wenn er für die Münchner Zeitung tätig ist; denn die Frankfurter 
Zeitung, die in den bayrischen Angelegenheiten scharf und sauber den 
Trennungsstrich zieht, ist für das Münchner Blatt, was das rote Tuch 
für den Stier ist. Gegen was, glaubt man, wandte er sich hier? Wie 
es dem Geist der Frankfurter Zeitung entspricht, gegen den Kampf 
wider die französische Literatur. 



io 6 Chronik Wercniaags 

Lcrch heiße die Lerche, die bald in den nationalistischen, bald in 
den internationalen Himmel steigt — sie allein kennt die Faden, die 
ihr Zwitschern regulieren. 

Hätte der Professor in jenem ersten Artikel Maß gewahrt, würde man 
von selbst so anständig sein, eine Sinnesänderung zu vermuten. Unter 
den Federn, mit denen ich schreibe, sind auch die spitzen. Aber 
ich lasse sie rosten, solang es möglich ist. Man muß nachsichtig sein, 
denn jeder begeht Torheiten. 

Man darf nur dann unnachsichtig sein, wenn man deutlich fühlt: 
hier ist einer nicht entgleist, sondern in einer Geistesrichtung gefangen, 
die ihn anmaßend macht. Anmaßung aber, ob sie sich selbst ver¬ 
kündet oder zum Richter aufwirft, wirkt, wenigstens auf mich, wie 
jeder Eingriff in die ungeschriebne Moralität: man wird unpersönlicher 
Vertreter, unpersönlicher Rächer des Geists, und diese Rache erscheint 
mir als die einzig erlaubte, Arroganz darf sich nicht spreizen. 

Ich zögere, ob ich recht tue, die Prognose Sardou für Stemheim 
auszusprechen, obwohl ich sie für richtig halte — denn Stemheim 
war bis zur Revolution echt und sein Zusammenbrach ist der des 
Radikalismus, objektiv tragisch. Bei Edschmidt, Operntenor, mache ich 
mir kein Gewissen, und Lerch hat, in einer Erwidrang an die Frank¬ 
furter Zeitung, wie Fausts Wagner den Finger an die Nase gelegt 
und sich nicht zu rechtfertigen, sondern Recht zu behalten gesucht 

Man kann nicht vorsichtig genug urteilen. Jeder geistige Mensch 
von einigem Rang erlebt es, daß diese Mahnung erst ganz fern an 
seinem Horizont sichtbar wird, wie die Spitze eines Seglers auf dem 
gewölbten Meer; daß sie näher kommt (weil er ihr sich nähert, 
Gesetz der moralischen Entwicklung); daß sie zuletzt über ihm steht, 
fortan sein Banner, seine Fahne. 

Die Wirkung eines Schriftstellers auf die Menschen beruht im 
wesentlichen darauf, daß er sie diese Vorsicht fühlen läßt Die 
Menschen haben eine Vorstellung davon, wie kurzfristig ihre Wer¬ 
tungen sind. Indem sie feststellen, daß sie selbst dem Dämon, der 
sie zu werten zwingt, erliegen, verlangen sie vom Schriftsteller, daß 
er der sei, der sich frei hält und sie an die Möglichkeit der Freiheit 
glauben läßt 

Das ist die Rechtfertigung dafür, daß er mehr als einen Beruf, daß 
er ein Amt hat Wir denken mit den andern und für sie, und wir 
sollen hundertmal kontrollieren, bevor wir einmal verwerfen. 



Chronik Wereimags 207 

Solche Vorsicht, die als Moralität wirkt, ist es, die den Charme 
Thomas Manns ausmacht und ihn ins Repräsentative zu rücken be¬ 
ginnt. Wenige Autoren dürfen es wagen, ihre Aufsätze nicht nur 
äußerlich als kritischen Ergänzungsband zum Gesamtwerk zu schlagen, 
sondern sie organisch mit ihm zu vereinigen. 

Lese ich in „Rede und Antwort", so fühle ich: Thomas Mann 
schadet cs nicht, wenn er so seine Gesamtausgabe auf einer Sammlung 
von kleineren Tagesarbeiten aufbaut: weil sowohl Romane als Auf¬ 
sätze Mittel sind, seine moralische Subjektivität darzustellen. 

Einige Jahre, nachdem die „Buddenbrooks" erschienen waren, in der 
Zeit unsrer größten geistigen Krise, konnte man fragen, an welcher 
Stelle Mann den seelischen Durchbruch versuchen werde, denn es war 
ja klar, daß der Wurf der Buddenbrooks nicht mehr gelingen werde, 
weil, anders als zu Dickens oder Fontanes Zeit, die bürgerliche Ge¬ 
sellschaft vor dem Ende stand, der Dichter also keineswegs sein Jagd¬ 
gebiet gefunden hatte — die Pacht war schon gekündigt 

Man darf vermuten, daß die Erkenntnis dieses Zustands auf Mann 
schmerzlich und auch lähmend wirkte. Sprechen wir nicht davon, 
alles ist im Fluß — aber der Fluß hat eine Richtung; und wer, wie 
ich, die idyllischen Epen von Hund und Kind nicht schätzt mag 
erkennen, daß sie schon als kleine Inseln im Flußbett zurücktreten. 

Bei jedem Buch, bei jeder geistigen Erscheinung fast taucht jene 
Mahnung, vorsichtig zu sein, auf. Sehe ich, wie „Der kommende 
Tag A. G." in Stuttgart die Steinersche Zeitschrift „Die Drei" nicht 
anders als eine Champagnerfirma ihren Sekt inseriert wie ihre Aktien 
an der Börse zugelassen und ich weiß nicht mehr wie hoch über 
pari gehandelt werden, wie Rudolf Steiner den Stoßtrupp der Mit¬ 
arbeiter vorschickt, damit die Spannung auf seinen Auftritt wachse, 
dann zweifle ich nicht daß er, der die Seelennot der Zeit wie ein 
Boß zum Geschäftemachen zu benutzen scheint, selbst in dem Geist 
gefangen ist den er bekämpft, im Geist der wirtschaftlichen Orga¬ 
nisation, der Reklame, der Diktatur. Zu unvergessen ist noch die 
Dialektik des Bolschewismus, der, um Gewalt zu zertrümmern, alle 
Methoden der Gewalt übernahm. 

Aber dann lese ich in einem Aufsatz des ersten Hefts der „Drei" 
ein Wort, zu dem der Verfasser, Ühli, zwar monomanisch wieder und 
wieder greift, das aber eine Wahrheit enthält: das Wort von der 
pädagogischen Stoßkraft, die nötig sei, um Altes in Neues zu Ober- 



208 


Chronik Weremvags 


führen. Und dagegen, daß jedes Zeitalter seine besondere Form des 
pädagogischen Impulses verlangt, daß in der Ära der Maschinen mit 
surrender Tourenzahl und den Börsenpaniken auf einen harten Amboß 
ein sausender Keil gehöre, dürfte nichts einzuwenden sein. 

In jedem Fall, der Mut, Philosophie, die als Beschäftigung im 
Studio bankrott ist, zur Gesetzgebung in die Öffentlichkeit zu führen 
und einen neuen Philosophentypus, denjenigen des aktiven Eingriffs 
im Dienst des Geistes zu schaffen — das ist, auch wenn Steiner, den 
ich nicht als Mensch und nicht als Autor kenne, ein Stück Schau¬ 
spieler sein sollte, das Ernsthafte. 

Es ist derselbe Entschluß, den ich auch bei Keyserling bewundre: 
sich, den gewiß auf Einsamkeit wie auf Luft angewiesenen Menschen, 
dazu zwingen, für andere da zu sein, auf die unmittelbare Identität 
mit sich zu verzichten, lehrhaft zu werden, den Menschen nicht das 
Buch zu schicken, sondern unter sie zu gehn. 

Steiner und Keyserling stehn sich verfeindet gegenüber, und es 
ist kein Zweifel, daß Steiner den Angriff begann, der noblere und 
sachlichere Partner Keyserling bleibt Auch läßt Steiners heftige Re¬ 
aktion auf die Behauptung, daß er einmal von Haeckel ausging, auf 
den Wunsch schließen, Spuren zu verwischen, ein Bemühen, das ihm 
ein Aufsatz der Frankfurter Zeitung schneidend nach wies: es steht fest, 
daß er in der ersten Auflage eines Frühwerks Entwicklungsgeschichtler 
und Atheist war, die neuen aber so umgearbeitet hat, daß sämtliche 
positiven Stellungnahmen in neutrale Referate umgebogen werden — 
daß sich also seine Behauptung, er habe nichts Wesentliches geändert, 
als Fälschung aufdecken läßt. Das ist übel und legt den Gedanken 
nah, daß man es nicht mit einer reinen, sondern mit einer genia¬ 
lischen Persönlichkeit zu tun hat. 

Die Beiträge des ersten Heftes „Die Drei“ bemühen sich — man 
sieht die unsichtbare Hand dahinter — die Anthroposophie von der 
Theosophie zu lösen, mit der sie in den Augen der Anhängermassen 
zusammenfällt. Anthroposophie als Lehre von der bewußt geleiteten 
Seelenentwicklung, als Lehre von der möglichen Freiheit und der 
Steigerung des Ich durch dieselbe Disziplinierung, die Loyola wohl 
bekannt war, zu definieren, das hat Hand und Fuß. 

Und Verschwommenheit ist es nicht, wenn Steiner das angeblich 
objektive Studium der Natur für ungenügend und die Entstehung 
eines Begriffs, des Begriffs Pflanze etwa, aus dem Zusammenstoß 
zwischen dem Objekt und dem Bewußtsein des Beobachters erklärt: 



Chronik Wtremoags iop 

das ist das Bekenntnis zur unvermeidbaren Metaphysik und Erkenntnis 
des schöpferischen Aktes, durch den die Erscheinungen in die Dimen¬ 
sionen Zeit und Raum und in die Kategorien der Anschauung ge¬ 
hoben werden — es ist der Koeischsche Moment des „Erlebnisses“, 
fruchtbar für die Naturwissenschaftler, denen wir wenig mehr glauben. 

Am reinsten wirkte unter den Beiträgen der „Drei“ ein Bericht 
der Walddorfschule bei Stuttgart, in der Reformpädagogen „unter 
Berücksichtigung Steinerscher Anweisungen“ erziehen. 

Der Kristallisationspunkt für schöpferische Intuition ist hier das 
Kindennaterial. Alles Schöpferische nun ist zunächst Realismus; nämlich 
Erfassen von Gegebenheiten. Aber schon in diesem Stadium ist es, 
was die Wissenschaftler noch immer nicht ahnen, Aktivität, nämlich 
Ausgreifen und Ansetzen eines erregbaren und erregten Kernes im 
Beobachter. Die Kinder z. B. stellen sich dieser Intuition als Be¬ 
grenzungen, als Formen dar; der Autor des Aufsatzes, Heydebrand, 
erlebt so die „Temperamente“ der Kinder. 

Danach vollzieht sich Folgendes. Der wirklich lebende Mensch 
ergänzt die begrenzten Formen (die Temperamente) um ein sagen 
wir X, das so geartet ist, daß sämtliche Ergänzungen, die also variabel 
sind, dasselbe Resultat liefern: die Totalität. 

Worin besteht diese? Darin, daß Einzelgeschöpf (das beobachtete 
Material) plus Ergänzung (vom Beobachter vollzogen) das Sein, das 
ganze Phänomen der Welt ergeben. Wir kennen die Ergänzung seit 
Jahrtausenden unter dem Namen Religiosität, die nichts als die Sehn¬ 
sucht einer gegebenen Form nach ihrem Grund ist; man könnte eine 
Formel aufstellen: Kreatur + Sehnsucht — Gott — Totalität. 

Ich gebe nicht die Heydebrandschen Gedankengänge, sondern meine 
eignen; aber ich glaube so zu veranschaulichen, was bei Steiner 
positiv ist: der zündende Gedanke, jene Ergänzung oder Sehnsucht 
nicht einer Gnade oder einem Zufall zu überlassen, sondern zu dem 
Funkt zu machen, auf den sich die Spannungsenergien der Kreatur 
konzentrieren. Hier berührt sich die Lehre von der Disziplinierung 
eben so sehr mit uralt Indischem wie mit dem Dilettantenkitsch der 
Spiritisten (aber der Dilettant ist der, der den Instinkt hat und vor 
der übergroßen Behutsamkeit der Wissenschaft zur Selbsthilfe greift). 

Ich breche hier ab, ein Aufsatz muß Form haben, d. h. genau das 
enthalten, was man für präzise Kritik ansieht, und nicht mehr. 
Besser zu wenig sagen als zuviel. Vorsicht ist ein Faktor der künst- 

>4 



ZIO 


Chronik Werenmags 


krischen Formung, die also ein moralischer Akt ist. Ich bin gegen 
Keyserlings gesellschaftliche Veranstaltungen mißtrauisch wie gegen 
Steiners Propaganda, hinter der ein Riesenfonds „Geschäftsunkosten“ 
stehn muß; aber ich vermeide es, Horoskope zu stellen, wo man 
nur, später einmal, Bilanz ziehn darf. 

Aus elsassischen Zeitungen erfahrt man, daß neulich in Straßburg 
zwei Mörder öffentlich hingerichtet wurden, und daß ein Kaffeehaus- 
untemehmer den psychologischen Augenblick des Grauens benutzte, 
um Prospekte verteilen zu lassen, in denen er die Zuschauer auf¬ 
forderte, ihre Nerven durch eine Tasse heißen Kaffees zu stärken. 

Man hat das da unten den Franzosen doch verübelt, und reichsdeutsche 
Zeitungen rafften ihr Französisch auf, um den Spieß einmal umzu- 
drehn und unter der Überchrift leur culture aus dem Bereich der 
gallischen Zivilisation zu berichten. 

Ich gehe weder auf die Vortrefflichkeit öffentlicher Hinrichtungen 
noch auf die nationalen Noten ein, die auszuteilen die Franzosen 
noch eifriger als die Deutschen sind, und stelle unbewegt fest: wenn 
ihr die Unreligiosität der Zeit beklagt, müßt ihr euch klar machen, 
daß Glaube einerseits, Verbrechen, sinnfällige Handlungen und Gegen¬ 
handlungen, also auch grelle Justiz andrerseits untrennbar aufeinander 
angewiesen sind. 

Denn Verbrechen und Amtierung der Scharfrichter entspringen dem 
Sinn für das Elementare. Religion aber ist nichts anderes als un¬ 
gebrochenes Verhältnis zum Elementaren. Die Hexenbrände, das Ghetto, 
die Ketzergerichte sind fürchterlich; jedoch: sie sind Projektionen 
der elementaren Ära. 

Jener dritte Band Stendhals, von dem ich ausging, enthält die Ge¬ 
schichte der Beatrice Cend, die mit Mutter und Bruder vor der Engels¬ 
burg in Rom wegen Ermordung ihres Vaters (der von der Fünfzehn¬ 
jährigen verlangte, daß sie ihn in ihr Bett ließ) hingerichtet wurde. Dem 
Bruder geschah folgendermaßen: „Er wurde bis zum Gürtel entkleidet. 
Dann wurden ihm die Beine auf dem Richttisch festgebunden. Der 
Boja (Henker) ergriff mit beiden Händen eine Keule und erschlug ihn 
durch fünf bis sechs Schläge auf seine rechte Schläfe. Darauf schnitt 
er ihm, ein Knie auf seiner Brust, den Fuß auf seiner Stirn, den 
Körper auf, riß die Eingeweide heraus und vierteilte ihn.“ 

Das Volk von Rom sah zu, es war der n. September 1599, die 
Glocken läuteten, die Frauen schluchzten, und als der Henker den 



Chronik Wercnmags z 11 

Körper de« enthaupteten Mädchens am Seil in den Wagen schleifte, 
war er unachtsam, der Körper fiel herab und die entblößten Brüste 
wurden mit Staub besudelt. Man sehe jenes Bild des Henkers, der 
das eine Knie auf die Brust und den andern Fuß auf die Stirn setzt, 
es ist eminent. Inzwischen betete der Papst, und alles, die Erschütterung 
and das Rohe, durchdrangen sich, unteilbar. 

Stendhal, der sonst getreu den Chroniken folgte, überging die Hin¬ 
richtung des Bruders der jungen Cenci als zu entsetzlich, ich finde 
den Bericht in einer Anmerkung des Übersetzers. Ich, als Erzähler der 
Novelle, hätte ihn nicht ausgelassen. Man muß alles maximal dar- 
stellen, damit seine bürgerliche Zufriedenheit, der Leser, nicht unter¬ 
halten, sondern gepackt werde. 

Entweder sind wir gesittet und verzichten auf das Jammern über 
den verlorenen Glauben, oder wir glauben und wollen das Elemen¬ 
tare mit Haut und Haar. Das Starke unsrer Zeit ist, daß wir diese 
Alternative zu durchschauen beginnen und das Verhältnis von Ele¬ 
mentar und Rational bis in seine Tiefen zu sehn fähig werden. 

Ich erinnere mich einer Glosse Kurt Hillers über die Pyramiden, 
eines moralischen Sophismus, der nicht weniger klassisch ist als jener 
mathematische des Altertums, wonach der schnellste Achill die lang¬ 
samste Schildkröte nie einholen kann. Hiller sagt: „Wenn es wahr 
ist, daß die Pyramiden nur haben entstehen können auf Kosten der 
Freiheit und des bescheidensten Kreaturglücks Unzähliger ... hören 
dann die Pyramiden nicht auf, etwas Verehrungswürdiges zu sein? 
Der Menschcnverbundne, der Ethische, der Messianische, der Sozialist 
wird, weil er Sklaven nicht duldet, auf Pyramiden gern verachten, 
oder viel mehr als verzichten; er wird gar nicht erst auf sie zu ver¬ 
zichten brauchen, da sie für ihn wertlos sind.“ 

Konsequent gedacht; aber nur halb durchdacht Die Frage müßte 
lauten: „Wenn auch heute Pyramiden nur wie damals aus dem blu¬ 
tigen Schweiß Unzähliger gebaut werden können, würdest du sie 
bauen?“ Selbstverständlich nein. Was dagegen geschehen ist, das ist 
jeder Wertung entrückt und nur anschauend hinzunehmen. Das voll¬ 
zogene Geschehen ist den Wertungen nicht untertan, nur das Künf¬ 
tige kann durch sie modifiziert werden. Daraus folgt allerdings, daß 
die Moral nicht eine absolute Gegebenheit, sondern ein Regulativ 
ist; der Messianische ist nach rückwärts ein Rationalist und ein Kind, 
nach vorwärts ein Idealist und ein Held. 



21 i Chronik Werenmags 

Als Flaubert die Pyramiden vor sich liegen sah, galoppierte er 
▼or Erregung auf sie zu. Das ist die einzige Andeutung der Gefühle 
oder Reflexionen, die sich in ihm vollzogen. Die ReisetagebQcher 
enthalten an dieser Stelle wie auch sonst nur die sachlichen Notizen, 
deren Genauigkeit verrät, was Flauheit suchte: Anschauung, Realität, 
Konzentration auf ein Lehen, das gewesen ist und durch einen Akt 
der Energie wiederauferstehen wird, damit das mitgeteilt werde, wor¬ 
auf es ankommt, die Erkenntnis des Phänomens Leben. 

Hiller nennt diejenigen, die das suchen, die „Dingverfallenen, 
Ästhetischen, Fetischisten, Heiden“. Ich nenne sie — die „Menschen- 
verbundnen“. Und ich mache es wie die Deutschen, ich erhebe auch 
einmal „schärfsten Protest“: Protest dagegen, daß der gesinnungstüchtige 
Rationalismus der Moralisten die Diktatur des Urteils anstrebt und 
den Menschen der Anschauung Ästheten zu nennen wagt. 

Der Aktivist Hiller müßte wissen, daß Anschauung kein passives, 
sondern das höchste aktive Verhalten ist, daß sie eine äußerste Energie¬ 
anstrengung darstellt, nämlich diejenige, das Sein rund, voll, ganz zu 
erfassen — das Sein, in dem der Wille zu den Regulativen nicht 
souverän, sondern in einen „Konditionalismus“, d. h. ein System von 
einander relativierenden Kräften eingestellt ist. 

Etwas in der Konstitution des Hillerschen Denkens ist noch un¬ 
fertig, nämlich die Taktik, eine der vitalen Kräfte herauszuheben und 
abstrakt zu isolieren. Auch das „Politikdenken“ ist Isolierung, man 
muß Seindenken treiben. Die Isolierten verfallen darauf, alle Energie, 
damit nur etwas geschehe, auf eine symbolische Forderung zu kon¬ 
zentrieren, wie in Essen auf der Pazifistentagung, als sie die Ab¬ 
schaffung der Reichswehr verlangten — das ist gewiß ein Ziel, zu 
dem ich ja sage, aber man vergißt nur eine Kleinigkeit, die zähe, 
geduldige Vorbereitung. Es steht einen Tag in den Zeitungen und 
fortan im Mond. 

Für die Messianischen, um diesen Ausdruck für die Radikalisten 
der Idee zu benutzen (ich verstehe nicht, warum sie nicht zur kom¬ 
munistischen Partei stoßen, in die sie gehören), gibt es nichts In¬ 
struktiveres als die Beschäftigung mit Dostojewski. 

Noch im Krieg glaubte ich wenigstens — seither bin ich oft derselben 
Meinung begegnet — daß auch Dostojewski ein solcher Messiänist 
gewesen sei; daher ich annahm, daß er als gehetzter Anarchist und 
gequälter Proletarier in Dachkammern gehaust habe. Woher diese 



Chronik Werenmags 1 i3 

Auffassung? Sie entsprang einem scheinbar logischen, in Wahrheit nur 
stimmungshaften Trugschluß. Wir brachten zwei Vorstellungen raum¬ 
geistig zusammen: erstens die Lehre von Güte und Leid, zweitens 
das Leben und die Ideologie der vom Zarismus verfolgten Sozialisten. 
Auch nahmen wir automatisch an, die vier Jahre sibirischer Zwangs¬ 
arbeit müßten Dostojewski zum Revolutionär gemacht haben. 

Heute weiß jedes Kind, daß Dostojewski Panslawist war. Aber 
mit Staunen liest man in der Biographie aus der Feder seiner 
Tochter, daß er „Adliger“ war; daß er nach den sibirischen Jahren 
als Offizier diente; daß der berüchtigte Pobedonoszew zu seinen 
Lebzeiten mit ihm befreundet und nach seinem Tod Vormund der 
Kinder war; daß die radikalen Studenten ihn verwarfen, weil er ihre 
freie Liebe verwarf; daß er ein bürgerliches Eheleben führte und 
abends der Familie vorlas; daß er seine Zeit nicht damit zubrachte, 
entweder in Krämpfen auf dem Boden zu liegen oder am Schreib¬ 
tisch seine Romane herunterhetzen; daß er den Zar, die Kirche und 
sogar die Armee billigte, und daß er in einem Kloster begraben liegt. 

Nein, es gibt nichts Instruktiveres. Das Revolutionäre steckt 
anderswo als in Programmen, Resolutionen, Kongreßreden. Es hieße 
die Wucht dieses Satzes abschwächen, wollte man ihn wie ein Aufsatz¬ 
thema ausführen. Der einzige ernste Einwand wäre dieser: ebenso 
religiös wie Dostojewskis Panslawismus kann der gesellschaftliche 
Radikalismus sein, es handelt sich überall darum, die religiöse Spannung 
zu besitzen. Ja, eben deswegen packten uns die Anfänge des Bol¬ 
schewismus und heute das was er, vielleicht, einmal wird. 

Nachweise: Stendhal, Gesammelte Werke, 1—3. Band. Propyläenverlag. 
— Suares, Porrraits. Drei Masken Verlag. — Flaubert, Tagebücher. 3 Bände. 
Gustav Kiepenheuer Verlag. — Dostojewski. Geschildert von seiner Tochter. 
Ernst Reinhardt Verlag. — Thomas Mann. Rede und Antwort. S. Fischer 
Verlag. — Die Drei. 1. Heft. Der kommende Tag Verlag. — Der Weg 
zur Vollendung. Herausgegeben von Graf Hermann Keyserling. 1.—a. Heft. 
Otto Reichl Verlag. 



POLITISCHE CHRONIK 

von 

JUNIUS 

I 

E inmütig erschallt nun aus allen Winkeln der kapitalkräftigen — 
oder kapitalsüchtigen — Welt der Ruf: der 'Wiederaufbau Europas 
sei ohne Rufiland unmöglich, es müsse in den allgemeinen Güter- 
erzeugungsprozefi wieder eingespannt, aus der wirtschaftlichen Isolierung, 
die dieses riesige Bauernland mit Not und Tod bedrohe und durch 
die hilflose kommunistische Wirtschaftspraxis nicht überwunden Werden 
könne, herausgerissen werden. Von den aktiven westmächtlichen Staats¬ 
männern hat, nach dem kläglichen Zusammenbruch der französischen 
Interventionpolitik, natürlich die empfindsame Wetterfahne Lloyd 
George diesen Zusammenhang zuerst erkannt und darum das Handels¬ 
abkommen mit Krassin und Kamenew abscbliefien lassen. Die offi¬ 
zielle französische Politik aber, die den Interessen eines ängstlichen 
Kleinrentnertums und der grofien plutokxa tischen Gruppen in Paris 
zu vertreten hat, ließ sich all die Jahre hindurch nicht einmal durch 
die Warnungen des über Russisches besonders zuverlässig unterrichteten 
Präsidenten Masaryk (Prag) von kostspieligen Gewaltversuchen und 
Wrangeleien abhalten, bis mit dem Krach die (noch immer verschämt 
verhüllte) Einsicht kam. Nun steht Sowjet-Rufiland riesengroß am 
Horizonte der Westmächte; nicht mehr als Bedrohung, sondern als 
Aufgabe. 

Daß die etwa hundertundfünfrig Millionen russischer Bauern, deren 
Landhunger die Revolution gestillt hat, im übrigen zwar demokratisch 
aber durchaus nicht kommunistisch fühlen, an dem Umsturz von 
Lenins Regiment kein Interesse haben, ist öffentliche Meinung ge¬ 
worden; daß die adlige und bürgerliche Herrenschicht des Zartums 
mit Stiel und Stumpf ausgerottet, ausgeblutet, verjagt ist oder daheim 
entmachtet dahinsiecht und von ihr keine Umsturzgewalt zu erwarten 
sei, wurde nun auf beiden Erdhälften eine die Ansicht über Rufiland 
bestimmende Selbstverständlichkeit; und daß der Weltkapitalismus, um 
sich und seine Maschinerie und seine Profitrate zu retten, das zwischen 
dem Rhein und Wladiwostock gelegene große Loch mit seinen drei¬ 
hundert Millionen konsumtionsunfähig gewordenen Menschen zu 
stopfen trachtet, ist die Botschaft, die in der auf Cannes folgenden 
Kette von Konferenzen die konkreten Aufgaben zu stellen haben wird. 



Junius, Politische Chronik 


215 

In Moskau wimmelt es nun von fremden Missionen und Handels- und 
Finanzagenten; Lieferungsverträge werden abgeschlossen (aus Deutschland 
z. B. siebenhundert Lokomotiven zum Frühjahr); so eine Art halb¬ 
freien Handels in allen Schattierungen parasitären Schiebertums, das 
vor allem dem ungeduldig werdenden Warenhunger der Bauern dienen 
soll, regt sich allerorten. Lenin darf mit dem Bewußtsein, daß die 
de facto — Anerkennung der auf zwei Millionen Arbeiter und Soldaten 
gestützten Sowjetrepublik nur noch eine Frage von Monaten ist, 
in den neuen Zeitabschnitt treten. 

Diese Entwicklung der Lage, diese durch den weltwirtschaftlichen 
Zwang forcierte Anerkennung seiner Republik konnte Lenin als Triumph 
buchen, wenn sie nicht die Kehrseite des Zusammenbruchs seines 
überspannten marxistischen Imperialismus wäre. Denn vor seinem 
eigenen Gewissen und vor aller Welt tritt gleichzeitig der Bankerott 
des russischen Kommunismus als Wirtschaftssystem nackt an den Tag; 
der Marxismus des machtvollen und eigenwilligen, aber wirklichkeits¬ 
fremden Dialekters bekennt öffentlich seine Ohnmacht und gibt zu, 
daß die Errichtung und Befestigung der Diktatur des Proletariats 
(unter Ausschluß der parteilosen* Bauern), d. h. also: eines klassen¬ 
losen Staates und einer Gesellschaft ohne Privateigentum, von einem 
unvorstellbaren Wirtschaftsverfall begleitet gewesen seien. Dieses Ein¬ 
geständnis ist heute, im fünften Jahre der Existenz des Rätesystems, 
von außerordentlicher Tragweite. Zuerst also wurden die Zerstörungen 
des Krieges zu Ende geführt und dem Produktionsapparat des riesigen 
Landes das Rückgrat gebrochen. Um ihn wieder aufzurichten und 
zu beleben, sollte erst das Transportwesen in Ordnung, dann die 
Schwerindustrie im Donezbecken, dann die Brennstofferzeugung (durch 
Bohrungen im Erdölgebiet), dann der Freihandel mit seinen kredit- 
organisatorischen Hilfstruppen in Schwung gebracht werden; endlich, 
als das große Rad sich noch immer nicht in Bewegung setzen wollte 
und das große Sterben der Massenmillionen anhob und nicht mehr 
verborgen bleiben konnte, daß die Mißernten an der Wolga durchaus 
nicht der einzig zureichende Grund für all dieses klägliche Mißlingen sei: 
endlich blieb man gezwungenermaßen bei der Landwirtschaft als der 
allerwichtigsten Angelegenheit des Landes stehen. In einem Aufruf 
an alle Ausschüsse der kommunistischen Partei heißt es: „Die Lage 
unserer Großindustrie, die innere Stellung der Republik und zum 
großen Teil auch ihre internationale Stellung hängen im gegebenen 
Moment von einer erhöhten Erzeugung der Landwirtschaft ab.“ 



Junius, Politische Chronik 


21 6 

Ist es denkbar anzunehmen, daß Lenin, dessen aufrüttelnde Kapuzinade 
auf dem eben abgehaltenen Allrussischen Sowjet-Kongreß von Feuille- 
tonisten gerühmt wird, die Bedenken seines Gemüts durch Schön¬ 
färbereien zu beschwichtigen sucht? Auf dem letzten Landwirtschafts¬ 
kongreß pries er die von den Bauern bewerkstelligten Meliorationen, 
den Spuren des ruhmredigen Kommissars Ossinski folgend. Auf dem 
Petersburger Rätekongreß aber erklärte der Lebensmittelkommissar 
Pachomow: „Wenn unsere Ernährungslage so schwer ist, so hängt 
das nicht so sehr von der Mißernte im Wolgagebiet als von der 
allgemeinen Verkürzung der Saatfläche ab. Sie ist um zwanzig 
Millionen Desjatin, d. h. um neunhundert Millionen Pud Ernte 
zurückgegangen, während die Mißernte im Wolgagebiet ein Minus 
von bloß sechshundert Pud ergibt.* Woran dieser Rückgang liegt? 
Die Bauemmassen, wird weiter erklärt, sind in ungeheurem Maße zurück¬ 
geblieben, — trotzdem doch, beiläufig, Millionen von ihnen in deutscher 
Gefangenschaft die intensiveren Formen der Bewirtschaftung vor 
Augen hatten; sie kennen nicht einmal die einfachsten Formen rationeller 
Wirtschaft selbst beim eben noch zugänglichen, äußerst niedrigen 
Niveau landwirtschaftlicher Technik. Vor dem Kriege, wo achthundert 
Millionen Pud Getreide ausgeführt wurden, hob sich auch die bäuerlich 
betriebene Landwirtschaft in Rußland von Jahr zu Jahr, das Genossen¬ 
schaftswesen griff um sich und ein ländliches Bildungssystem begann 
sich auszubauen. Die zaristischen Agrarreformen lösten das Problem 
natürlich nicht, der Respekt vor den zu erhaltenden Latifundien ließ 
die Bauernwünsche nicht zu ihrem Recht kommen und nährte vor¬ 
bereitend die Revolution; aber das technische Können des russischen 
Bauern hob sich doch langsam und stetig. Nun wird wieder Programm, 
was teilweise schon Tatsache war, und nun ruft auf dem Kongreß 
der Land- und Waldarbeiter der leidenschaftliche Kalinin seinen primi¬ 
tiven Hörem zu: „Wir müssen auf dem Gebiet der Landwirtschaft 
Eroberungen machen; andernfalls ist jedes Gespräch über Kommunismus 
leerer Schall . . . Bringen wir die Landwirtschaft nicht wieder ins 
Geleise, so können wir buchstäblich die gesamte Bourgeoisie aufhängen: 
es werden neue Bourgeois und neue Wucherer kommen.* Da wird 
vielerlei verschwiegen, und gar nicht Unwichtiges: nämlich daß die 
politisierten Gewerkschaften, denen Lenin Vernunft predigt, in den 
Händen von Minderheitsterroristen sind, die die berüchtigten land¬ 
wirtschaftlichen Staatsbetriebe zur Produktionsfarce stempeln. Und 
ferner: daß das in der Verlegenheit des Wirtschaftsbankerotts aufge- 



Juntus, "Politische Chronik 


117 

griflfene System der Landpacbtungen und Unterpacbtungen Sinn und 
Idee des Kommunismus glatt aufhebt. Vor der Wirklichkeit streicht 
man die Segel. Nun will man ihr durch Bildung, Schulen, auf klärende 
Vorträge zu Hilfe kommen. Wunderschön. Aber die städtischen Schulen 
und Hochschulen gehen ein, die Mittel reichen nicht aus,' sie zu 
erhalten.. . 

Ich klage nicht an, ich stelle nur fest, nachdem wir all die Jahre 
nicht nur von den paar echten in die westliche Welt verschlagenen 
Tolstoi-Naturen und den Marxfanatikern, sondern von seelenvollen 
Snobs und gemütvollen Dilettanten der Feder über Sowjetrussisches 
das törichteste Zeug vernommen und über die Allmacht der russischen 
Seele die überflüssigsten Belehrungen empfangen haben. Das alte, 
das zaristische Rußland ist ein für allemal verwest, es modert unter 
dem Leichentuch, das der proletarische Imperialismus darüber gebreitet 
hat; aber die Keime einer Bauerndemokratie werden langsam sichtbar, 
aus ihren Lenden wird eine neue, eine menschlicher sich gebärdende 
Intelligenz dereinst an den Tag treten, und es wird vielleicht eine 
schöne posthume Rechtfertigung des schon ekle Alterszüge tragenden 
westmächtlichen Kapitalismus sein, ihr die technischen Genesungsmittel 
zu reichen. 


z 

Der Faden der Reparationskrise reißt nun nicht mehr ab, auf Cannes 
werden neue und immer neue Konferenzen folgen, es wird allmählich 
ewige Wahrheit, daß die Versailler Diktate und die europäische Wirt¬ 
schaft nicht gleichzeitig zu retten sind. Vielleicht ist bald der Augen¬ 
blick da, wo der Mann auf der Straße sich schämen wird, so schale 
Banalitäten in den Mund zu nehmen; der Berufspolitiker scheint aber 
noch lange davon leben zu wollen, wenigstens in Frankreich. Das 
politische Weltbild ist erschütternd. In Rußland ist, nach Maßstäben 
von Mammutgröße, der weltgeschichtliche Versuch unternommen wor¬ 
den, den Privatkapitalismus durch den Staatskapitalismus zu ersetzen 
und das Wirtschaften in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften zu de¬ 
zentralisieren: mit unreifen Menschen, nach unzulänglichen Methoden, 
unter Mißachtung individualpsychologischer Gesetze, die auch in der 
Masse nie zu ertöten sind; aber die seelischen und materiellen Wir¬ 
kungen dieses Experiments versprechen ungeahnte Folgewirkungen. In 
England sind, trotz der Niederlage der Gewerkschaften (Verkürzung 
des Lohnes; Verlängerung der Arbeitszeiten), die vormals völlig neu- 



Jutiius, Politische Chronik 


11% 

tralen Genossenschaften gänzlich radikaJisiert, wodurch das soziale Bild 
der Insel sich gründlich zu ändern verspricht Darum ist die Herren¬ 
schicht der britischen Wirtschaft um ihre alte Selbstsicherheit gekommen; 
sie empfindet nun allgemein den in Versailles geschaffenen ‘Friedens¬ 
zustand’ als Verneinung ihrer Lebensvoraussetzungen und Aufhebung 
der ökonomischen Grundgesetze, denen sie ihr Dasein und das Imperium 
seine Blüte verdankt. Man lese die englischen Neujahrsbetrachtungen 
in den so einflußreichen Cityzeitschriften (Economist; Statist; Stock 
Exchange Gazette), nie noch, seit der Geburt des britischen Industrialis¬ 
mus und Welthandels, waren sie so schwarz und verdBstert. Der Sieger, 
der uns Länder, Kolonien, Handelsflotte, Guthaben, Konzessionen, 
Patente geraubt, an unserm Ausverkauf sich gelabt, und Ober die Sou¬ 
veränitätsverkrüppelung auf unsren ‘neutralisierten* Binnengewässern 
(Rhein; Donau; Elbe; Oder) gleichgültig hinweggelächelt hat: er siecht 
nun an der Gründlichkeit seines Sieges dahin und ist über der Mark¬ 
schrumpfung und dem vertraglich erzwungenen Dumping unsrer hung¬ 
rigen Exportindustrie erwacht. Der Selbsterhaltungstrieb macht human, 
nun tritt der Solidaritätszwang unverhüllt hervor und beginnt schüchtern 
Politik zu machen. Aber dem britischen Löwen hängen Frankreich 
und Belgien an der Gurgel, sie lassen nicht locker und heischen Opfer. 
Von uns? Ach Gott... Also von den großen angelsächsischen Brüdern? 
Gewiß, aber da beginnt das Geschacher, das uns das Leben im nächsten 
Jahr vergiften und veröden wird. So schwer wird es Europa-Münch¬ 
hausen, sich aus dem Sumpf zu ziehen. 

Das Problem hier technisch aufzurollen, ist überflüssig; jeder Deut¬ 
sche, der unterrichtet sein will, wird um die Kenntnis von Keynes’ 
Zergliederung des Antichrist nicht herumkommen, er wird auch die 
vom Manchester Guardian für das laufende Jahr angekündigten zwölf 
Hefte nicht übersehen dürfen, in denen dieser treffliche Mann und seine 
Helfer im einzelnen den Neubau Europas zu behandeln versprechen. 
(Nebenbei: wir werden uns vor der Ansteckung durch den von unsren 
ehemaligen Wirtschaftsimperialisten bekundeten Pharisäismus hüten 
müssen; sie tun heute so unschuldig und beleidigt.) Dieser kenntnis¬ 
reiche, scharfsinnige und mutvolle Privatmann hat mehr getan, um eine 
Friedensatmosphäre zu schaffen und der Vernunft durch sachliche Auf¬ 
klärung den Weg zu bereiten, als sämtliche Politiker zusammenge¬ 
nommen. Ehre seinem Wirken. Wenn wir heute sagen dürfen, daß 
im jetzigen Stadium unsrer Erkenntnis über Inflation, Währungskrank¬ 
heit, Dumping, gegenseitige Marktverschlingung, über den Bankrott 



Junius, Politische Chronik 


119 


der früheren Handelspolitik gegenüber der heutigen Produktionslage 
technisch Wesenhaftes kaum noch zu sagen ist, daß also dies Repa¬ 
rationsproblem eine politische, d. i. moralische, Frage ist, so ist das 
zum großen Teil diesem Manne zu danken. 

Es schmerzt, sagen zu müssen, daß Frankreich, wie groß auch die 
Rücksicht auf seine Schmerzen und Wunden sei, politisch d. L mo¬ 
ralisch versagt hat Steht Art und Methode der Psychose, die große 
Teile seiner Bevölkerung noch beherrscht und in Washington die 
Sabotage eines neuen Ordnungs- und Friedenswillens über die Geduld¬ 
grenze der durch Verträge, Kriegserlebnis und überlieferte Sym¬ 
pathien ihm Verbündeten hinauszutreiben drohte, zum ‘intclligiblcn’ 
Charakter dieses genialischen Volkes in Widerspruch? Ich glaube nicht 
Alexis de Tocquevüle hat in seinem Anden Rdgime eine Charakte¬ 
ristik seines Volkes gegeben, die offenbar aus der Verzweiflung ge¬ 
boren ist, widerstrebende Eigenschaften auf eine versöhnende Formel 
zu bringen; ich lasse ein paar Brocken hier abdrucken: Quand je 
consid&re cette nation en elle-meme, je la trouve plus extraordinaire 
qu’aucun des dv&nements de son histoire. En a-t-il jamais paru 
sur la terre une seule qui füt.. . plus conduite par des sensations 
moins par des prinripes; faisant ainsi plus mal ou mieux qu’on ne 
s’y attendait, tantöt au dessous du niveau commun de l’humanitd, 
tantöt fort au dessus;. . indocile par tempdrament, et s’accommodant 
mieux toutefois de l’empire arbitraire et meine violent d’un prince 
que du gouvemement regulier et libre des principaux dtoyens; aujour- 
d’hui l’ennemi dddard de toute obdissance, demain mettant 4 servir 
one sorte de passion que les nations les mieux doudes pour la servi- 
tude ne peuvent atteindre; conduit par un fil tant que personne ne 
resiste, ingouvemable des que l’exemple de la rdsistance est donnd 
queique purt; trompant toujours ainsi ses maitres, qui le craignent 
ou trop ou trop peu;..apte 4 tout, mais n ’excellant que dans la 
guerre; adorateur du hasard, de la force, du succes, de l’dclat et du 
bruit, plus que de la vraie gloire; plus capable d’heroisme que de 
▼ertu, de gdnie que de bon sens, propre 4 concevoir d’immenses 
desseins qu’ 4 parachever de grandes entreprises; la plus brillante et 
la plus dangereuse des nations de l’Europe, et la mieux faite pour y 
devenir tour 4 tour un objet d’admiration, de haine, de pitid, de 
terreur, mais jamais d’indiffdrence. 



220 


Junius, Politische Chronik 


3 

Republikanische Lehrer- und Richterbflnde bilden sich, man will 
sich gegenseitig durch Bruderschaften stützen, durch das Gefühl des Rück¬ 
halts soll dem einzelnen das republikanische Bekenntnis leichter gemacht 
werden. Gut so. Solche Bünde greifen natürlich tiefer als strafgesetz¬ 
liche Bestimmungen der Verfassung; sie schaffen Gesinnungsgemein¬ 
schaften. Aber die leuchtenden Köpfe, die starken Temperamente, um 
die sich die neue Staatsgesinnung kristallisieren soll, fehlen ganz offen¬ 
bar noch den republikanischen Parteien, sie ermangeln der Führer¬ 
naturen; werthaltige Persönlichkeiten, über die sie verfügen, sind in 
obrigkeitlich dressierten Völkern kein rechter Ersatz. Die ‘führenden* 
Geister, die Mehrzahl der Wissenschaftler, meine ich, die in ihren 
Fachern Ruhm gesammelt oder etwelche Autorität erworben haben, 
stehen meistens auf der andren Seite; sie opfern keinen Zollbreit ihrer 
Anschauungen, die politisch in den Überlieferuugen der preußischen 
Militärmonarchie wurzeln, obwohl sie sich äußerlich unterordnen; sie 
stemmen sich gegen die Logik der Entwicklung und die deutsche aka¬ 
demische Jugend glaubt ihnen aufs Wort und folgt ihnen. Universitäten, 
Hochschulen, Gymnasien haben um die geschichtlichen Überlieferungen, 
wie sie bis zum Ausbruch des Krieges gelehrt wurden und geherrscht 
haben, einen Ring aus Erz geschlossen; wehe dem, der sich ihm un¬ 
achtsam nähert. Zwischen Volk und dieser Bildungsschicht führen 
keine Brücken; und die durch persönliche Enttäuschungen und den 
Illusionsraub durch schwächliche oder gar impotente Regierungsmänner 
ungeduldig gemachte Jugend, die zuerst dem Neuen zuströmte oder 
ihm wenigstens das Ohr lieh, schließt sich in Scharen an, nachdem 
sie die Friedens-Welt derer geschaut hat, die ausgezogen waren, to 
make the world safe for democracy. Diese Einstellung ist naiv, kritiklos, 
von brüchig gewordenen alten Illusionen genährt; aber sie ist psycho¬ 
logisch begreiflich. Die Volksparteiler, die klug genug sind zu wissen, 
daß der Willen zur demokratisch-republikanischen Staatsform uns von 
außen durch Luftgeschwader und Tanks aufgezwungen würde, falls er 
zum Umschlagen ins Monarchische weich würde, pflegen in ihren Kon- 
ventikeln und ihrer Presse diesen Geist der innerlichen Auflehnung. Ein 
durchsichtiges aber wirksames Spiel. Daher der gesellschaftliche Boykott 
der Demokraten, besonders in der Provinz; Industriespitzen und Banko- 
kraten sekundieren; Verwaltung und Diplomatie tun, auf ihre stille aber 
erfolgreiche Weise, rüstig mit, und es gehört schon eine tüchtige Dosis 
Zivilkourage dazu, sich einfach zur Verfassung zu bekennen, sogar 



Junius, Politische Chronik 


11 i 


unter starken kritischen Vorbehalten. Wie in den bösesten Tagen der 
guten alten Zeit hört man zuweilen gar schon wieder das Lob der 
Nationalen* Wirtschaftspolitik singen, so dumm Air uns solche Sehn¬ 
suchtsphrase klingt Der für das Nationalgefühl aufgestellte Kanon 
wird immer eindeutiger. Auf Originalität wird verzichtet. 

Solange die Jugend keine wirklichen Fahnenträger einer neuen Zeit 
stellt — diese kann der alten nicht gleichen; nicht, weil sie besser, son¬ 
dern weil sie anders sein muß; unbegreiflich, daß kluge Männer eine 
Handvoll ( Zivilisationsliteraten* für das dem deutschen Volke aufge¬ 
zwungene undeutsche (!) Schicksal verantwortlich machen —, so lange 
die Jugend romantisch steril bleibt, werden wir Älteren, die wir den kata¬ 
strophalen Unfug unserer früheren Willensträger wie eine Lawine haben 
heranrollen sahen, auf die Breschen springen und für den geistigen 
Kampf gerüstet sein müssen. Er wird aber auch gegen die Lauen und 
Halben im eigenen Lager sich wenden und die elende Parteibonzerei 
mit ihrer Anbetung der Mittelmäßigkeiten erbarmungslos befehden 
müssen, die schuld ist, daß die mit den Bleigewichten dunkler Namen 
bepackten Listen der demokratischen Parteien auf Intelligenzen wie 
Vogelscheuchen wirken. Davon wird noch oft und unverhüllt ge¬ 
sprochen werden müssen. 



ANMERKUNGEN 


Chronik des Auslands 

I n der New-Yorker „Nation“ er- 
hebt Anatole France seine Stimme 
gegen den kriegerisch zerstörten Pla¬ 
neren, gegen Raub- und Mordlust, die 
Erdteil nach Erdteil zu vernichten und 
ihre kulturellen Werte zu fernen Klän¬ 
gen zu machen drohen. Es gibt heute 
keinen besseren Europäer als Anatole 
France, diesen letzten Sohn aus der 
Rasse Voltaires, diesen lateinischen 
Sozialisten, diesen milden Skeptiker. 
Hören wir ihn: 

„Die Völker zweier Welten würden 
miteinander wetteifern, um erregt den 
Gedanken zurückzuweisen, alle ihre 
Gegensätze einem Schiedsspruch zu 
unterwerfen, wenn durch eine un¬ 
mögliche Gelegenheit dieser Gedanke 
ihnen überbracht würde. Die euro¬ 
päische Zivilisation ist immer kriege¬ 
risch gewesen. Der Feudalsraat ver¬ 
traute seine Rechte nur dem Schwert. 
Die demokratische Eroberung Frank¬ 
reichs und der benachbarten Länder 
verstärkte den militärischen Geist, 
welcher zur Religion wurde. Die 
Fortschritte der Industrie schufen neue 
Vorwände für den Gebrauch von Ge¬ 
wehren und Kanonen. Fabrikanten 
und Geschäftsleute der großen Länder 
drängen auf Krieg, um reicher zu 
werden, und wenn sie ihn erreichen, 
verlängern sie ihn imendlich, um auch 
ihre Einnahmen unendlich zu ver¬ 
längern. Die Arbeiter, deren Löhne 
steigen, sind zufrieden. Die Generale 
gewinnen aus ihren Feldzügen Ehre 
und Profit. Und den Soldaten ist sehr 


leicht der Glaube beizubringen, daß 
sie für das Vaterland kämpfen. Die 
Geschäftsleute, nicht zufrieden mit 
möglichster Hinausschiebung des Frie¬ 
dens, der ihre Gewinne beendet, ver¬ 
einbaren mit den Politikern, wieder 
Krieg zu machen, wenn der Friede 
geschlossen worden ist. So eroberte 
England nach dem Ende der Feind¬ 
seligkeiten Mesopotamien und besetzte 
Konstantinopel. So besetzte Frankreich 
Syrien und unternahm durch Stellver¬ 
treter Expeditionen gegen Sowjet-Ru߬ 
land, die für die Angreifer reich an 
Unheil waren. 

Wenn der ganze Planet die Beute 
solchen Wahnsinnes ist, wie kann man 
dann die Einrichtung eines Gerichts¬ 
hofs für möglich halten, eine Kraft der 
Harmonie unter Amphiktyonen? Es 
ist unmöglich« 

Unmöglich jetzt — aber immer? 
Dinge haben sich in den letzten Jahren 
ereignet, die die größten Verände¬ 
rungen in Gedanken und Gewohnheiten 
der Alten Welt hervorzubringen ver¬ 
mögen. Der Krieg, der mitunter die 
Völker Reichtümer gewinnen läßt, 
bringt schließlich auch Untergang und 
Tod. Dafür bietet die Geschichte eine 
Fülle von Beispielen. Wir werden jetzt 
einige sehen, die uns sehr nahe be¬ 
rühren. Es ist nicht unmöglich, daß 
der große Brand, der Europa verwüstet 
hat, und der Friede, welcher dem 
Kriege folgte und nur seine Ver¬ 
längerung ist, der alten europäischen 
Kultur grausamere Wunden schlägt, als 
unsere Unwissenheit und Leichtsinnig¬ 
keit glaubt. Wir beginnen, die Größe 


223 


Anmerkungen 


des Schadens zu ahnen. England, der 
große Kaufmann, erleidet, wahrend es 
seinen Betrieb vergrößert, den Nieder¬ 
gang seines Handels und die Arbeits- 
losen-Krisis, und das Ende ist nicht ab¬ 
zusehen. Deutschland, zum Bankrott 
gedrängt, zieht Frankreich mit in den 
Ruin — Frankreich, das unter einer 
Schuld von 325 Billionen bebt. Italien 
leidet, Rußland stirbt vor Hunger, 
Österreich ist tot. Selbst die Ver¬ 
einigten Sraaten sind überrascht zu 
sehen, daß die Geschäfte schlechter 
gehen, ln der ganzen Welt sind die 
Nationen durch ein unbekanntes Un¬ 
heil aus ihren ehrgeizigen Träumen 
gerissen. Doch die große und furcht¬ 
bare Lehre wurde noch nicht ver¬ 
standen. Aber die Zeit wird kommen, 
wo sie sich selbst verständlich machen 
wird. Zeitungen lügen, und die fal¬ 
schen Worte der Staatsmänner werden 
nicht immer die furchtbare Stimme 
ersticken, die durch die ganze Welt 
das Wort schreit: Europa stirbt, der 
Krieg hat es getötet! 

Die Menschen werden schließlich 
verstehen, und wenn sie nicht umzu¬ 
kommen wünschen, müssen sie sich 
vereinigen und, Stolz und Habsucht 
aufgebend, sich den Entscheidungen 
eines Friedensgerichtes fügen.“ 

In der Revue Mondiale stellt 
Jean Finot die unzeitgemäße For¬ 
derung: Werden wir Optimisten! „Wir 
unterliegen häufig im Kampf gegen 
die bösen Gedanken, diese kranken 
Eindringlinge: in Folge unserer schwa¬ 
chen Gesundheit, der außerordent¬ 
lichen organischen Müdigkeit oder 
unserer zerstörten Nerven. Man muß 
sich dann hygienischer Hilfen und 
vernünftiger Ruhe bedienen, wie 
unser Dasein sie verlangt. Aber die 
Hauptsache ist, geistiges Gleichge¬ 
wicht zu gewinnen und zu bewah¬ 
ren, das sich in geistiger Heiterkeit 
ausdrückt. Sie verjagt mechanisch un¬ 
gerechte Störungen und mörderische 


Traurigkeiten. Dann wird das Leben 
leuchtend. Seine Gegensätze streifen 
unser Gemüt, ohne Spuren zu hinter¬ 
lassen. Die adligen Seelen, befreit von 
den von außen empfangenen Wunden, 
machen sich auf den Weg zur Er¬ 
oberung ihres eigenen Glücks und des 
der Gesamtheit. Sie genießen die 
Fülle des Daseins. Denn das der Pes¬ 
simisten ist, um die Wahrheit zu sagen, 
nur eine Parodie. 

Als Opfer ihrer dunklen Gedanken 
gehören sie wie Orest den Furien, die 
in ihr Leben eindringen, es zerstören 
und verkürzen.“ 

In der Revue Critique bespricht 
Pierre du Colombier ausführlich 
den Aufsatz „Über Shakespeare und die 
Wiedergeburt des Tragischen“, den 
Friedrich KoffkaimOkroberheft un¬ 
serer Zeitschrift veröffentlichte. „Ich 
folge Herrn Koffka keineswegs in den 
Ansichten, die er vorträgt. Ich bin 
durchaus nicht sicher, ob diese Zeit 
die Wiedergeburt des tragischen Men¬ 
schen erblicken kann. Aber seine Inter¬ 
pretation der Shakespeareschen Tragik 
als Wirkung des Zusammenpralls der 
elementaren Gewalt im Menschen und 
der Welt, die ihn umgibt und die 
harmonisch dem Schlechten wie dem 
Guten befiehlt, diese Interpretation 
erscheint nicht ohne Größe, obgleich 
unvollständig. Mich persönlich ver¬ 
anlaßt sie hierzu: ohne Zweifel ist 
es keineswegs gerecht, das Shakespea- 
resche Theater im Namen der vernünf¬ 
tigeren Normen unserer klassischen 
Tragödie und allgemein nach der ge¬ 
läufigen Psychologie zu beurteilen. 
Aber es ist auch falsch, diese Normen 
zu vergessen. Es gibt in den Dramen, 
die diese Namen tragen, nur einen 
Lear, nur einen Hamlet, aber um sie 
herum gravitieren all die Statisten, 
deren alltägliche Wahrheit nur das zu 
ertragen gestattet, was auch die Hel¬ 
den übermäßig haben, dank dessen 
sie keineswegs als die aufgeblasenen 



Z24 Anmerkungen 


Hampelmänner mittelmäßiger roman¬ 
tischer Werke erscheinen, sondern als 
lebende Wesen. Sie strömen plötzlich 
aus ihrer Welt, lassen die konventio¬ 
nellen Schranken zersplittern, während 
ihre Welt um sie herum weiterlebt, ein 
normales Leben, welches sie stützt. 
Und sie selbst sind keineswegs bewegt, 
wenn der Dämon sich ihrer bemächtigt, 
da wir sie zuvor als Menschen gekannt 
haben. So übernimmt der demütige und 
souveräne psychologische Realismus 
wieder seine Rechte/ 1 R. K. 

Der 

fünfzigjährige Alfred Mombert 

ombert* ist von heutigen Schöp¬ 
fern einer der unentdecktesten, 
einer der größten, reichsten, klang- 
erfülltesten. Und wenn er am 6. Fe¬ 
bruar fünfzig Jahre wird, so bleiben 
selbst die flinksten Jubiläums-Federn 
ungerührt; der Ruhm und das Heer 
seiner Irrtümer sind für ihn noch 
nicht gekommen; er ist, isoliert in sei¬ 
nem Werk, fern dieser Zeit: in ihren 
Geräuschen und Eruptionen, und doch 
ihr nahe: da er, selbst Welt, jede 
Welt frei und heiß überblickt. Morn- 
bert ist glühend und eindringend wie 
ein tropischer Wind, der Pflanzen 
und Menschen zu Gott emporpeitscht. 
Nichts ist ihm ferner als sanfte Fromm¬ 
heit, nichts näher als titanisches Fühlen, 
aufreckend sich zu jedem Stern und 
großem Glauben. Er ist der panisch 
Denkende, Liebende, Bildende. Dies 
Panische aber ist nicht vorzustellen als 
Chaos, Maßlosigkeit und ungeordnetes 
Kräftefeld; auch die stärksten und 
sachlichsten Geister können die pa¬ 
nisch Erlebenden sein: Spinoza der 
Pan-theist, Hebbel der Pan-tragiker. 
Momberts Welt-Wesen ist deshalb ganz 
Phantasie und darum auch ganz Geist. 

* Seine Dichtungen erschienen im Insel- 
tferlag, Leipzig 


Seine Vision, leuchtend und üppig wie 
keine andere, stammt nicht aus erhitz¬ 
ter Intellekrualirät, nicht aus Pump¬ 
werken verdurstender Länder, nicht 
aus radikal westlichem Osten. Er ist 
„Held der Erde 44 ; trunken von dies¬ 
seitigem Leben; in einer Barke liegend, 
die Sonnenseele über sich: „erwählter 
Liebling der Natur 44 . Er weiß um die 
Landschaft, weiß um Berg und Blume, 
Vulkan und Schnee, und wie sie in Herz 
und Hirn hineinwachsen. Er hat das 
Sehen, das Farbe und Gestalt völlig 
begreift, und doch den Blick durch 
sie hindurchstößt: ins Herz der Welt. 
Momberts hymnischer Gesang ist Ver¬ 
dichtung zur ungehemmten geisrigen 
Welt, wo Sinn und Form und Klang 
in eins geflossen sind: in blühendes 
Meer auf weiter, entfalteter, musik- 
hafter Erde: 

Es wird herrlich sein, 
sie zu umschweben, sie zu umsinnen. 
Sanft und in langer Zeit 
sie in die Sfäre des Geistes einzu¬ 
spinnen. 

Diese „Musik der Welt 44 ist nicht 
Harmonie, durchbrochen von heiteren 
Kadenzen. Sie hat die Kenntnis der 
Dämonien, aller Wildheiten des Bluts 
und der Seele, ist Widerhall jeder 
Sehnsucht des Daseins, die zwischen 
dem Traum einer Blüte und den 
Kämpfen mit Teufel und Gott sich 
entfaltet. Aber solch seherische, dichte 
Fülle ist nicht zerlegbar. Sie ist da 
mit der Kraft der Natur: verwoben 
mit jeder Einzelheit des Daseins, ver¬ 
schworen mit jedem Sturm und jeder 
Kreatur, durchdrungen von maßlosem, 
sieghaftem Leben. 

Und wie der Wissende nur selbst 
sich bescheren kann, so ist die Gabe 
dieser Blätter an den Fünfzigjährigen 
der Dichter selbst: Alfred Momberts 
jüngstes Werk, das wir in diesem Heft 
zum ersten Male veröffentlichen. 

Rudolf Kayser 



Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Rudolf Kayter. 
Verlag Ton S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig. 





DIE 

DEUTSCHE AUFGABE ÖSTERREICHS UND 
UNSERE ÖSTLICHEN NACHBARVÖLKER 

von 

KARL RENNER 
I 

D as schlimmste Verhängnis dessen, der von vernichtendem Schick¬ 
salsschlag getroffen ist, das wahre Unglück im Unglück, ist die 
Gefahr, sich selbst zu verlieren. Die deutsche Nation in Europa — 
sie und nicht die zwei Staaten Deutschland und Österreich nebst den 
vielen aufgeteilten Stücken deutscher Erde und deutschen Volkstums 
im besonderen, ist die geistige und wirkliche Einheit, um die sich der 
Deutsche zu sorgen hat — ist im Weltkrieg unterlegen, vom deutschen 
Bürger im Elsaß bis zum baltischen Rittergutsbesitzer, vom hanseatischen 
Kaufmann über See bis zum deutschen Fabrikarbeiter in Böhmen. 

Diese Katastrophe bestimmt unsere Nation vorerst zum Objekt der 
Politik anderer und scheint ihre politische Selbstbestimmung illusorisch 
zu machen. Zur Zeit erfüllt die Vorstellung, fremden Willen erfüllen 
zu müssen, unser Denken. Keine Nation aber kann leben ohne eine 
politische Idee von sich selbst. Keine Idee von dem, wozu sie in der 
Welt berufen ist, zu besitzen, bedeutet für eine Nation nicht weniger 
als sich selbst verloren haben. 

Das Starren des Entsetzens über die Niederlage und über ihre 
Folgen hält die Nation noch völlig in Bann. Allein die Zeit ist da, 
diesen Zustand zu überwinden. Haben wir Deutsche einen Beruf in 
der Weltgeschichte? Gewiß, die Idee Fichtes vom deutschen Volkstum, 
die deutschen Ideen der Frankfurter Paulskirche sind nicht verwirk¬ 
licht, die Ideenwelt Bismarcks ist samt ihren Entartungen unterge¬ 
gangen. So ist es denn die Aufgabe aller politischen Denker unseres 
Volkes, eine politische Idee der deutschen Nation, das ist praktisch 
zugleich eine wirklich einheitliche Politik der Deutschen in Europa, 
wieder aufzubauen; eine Idee und eine Politik, die zum Gemeingut 

•5 



zz6 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

aller Deutschen werden kann, diejenigen ausgenommen, die einerseits 
an die ausschließende Weltherrschaft der Angelsachsen oder anderer¬ 
seits an den national-indifferenten sozialen Weltstaat Lenins, wenigstens 
für dieses Menschenalter, noch nicht glauben können. Die Nationen, 
welche Jean Jaur&s die Schatzkästchen der menschlichen Kultur nannte, 
haben jedenfalls vor der Verwirklichung jener einander entgegenge¬ 
setzter Endziele noch ein StQck Weltgeschichte zu machen, jede für 
sich und alle miteinander. 

Eine bloße Politik aber, welche die Wiederherstellung des Ge¬ 
wesenen, welche Revanche und Revindikation des Verlorenen im Namen 
des sacro egoismo der Nation anstrebte, eine solche Politik würde 
einer Idee dienen, der nicht die Zukunft gehört und die noch einmal 
alle anderen Nationen in einem feindlichen Lager gegen uns sammeln 
und die Aufteilung deutscher Erde, die wir 1919 erlebt haben, in 
die geschichtliche Perspektive einer ersten Teilung Deutschlands rücken 
würde — sie wäre angetan, unser Unglück zu vollenden. Ich kann 
die bloße Reprise der Vergangenheit nicht als politische Idee ansprechen 
und gelten lassen. Wir schreiben nach 1918 eine neue Welt: sie 
hat einen anderen Inhalt, sie fordert andere Ziele und Mittel. Die 
deutsche Politik nach 1918 muß in Urgrund und Endabsicht eine 
neue sein. Diese denkend und handelnd zu erarbeiten, ist Aufgabe 
der lebenden Generation Deutscher. 

z. Von dieser Arbeit habe ich ein Teilstffck zum Gegenstand meiner 
Studie gewählt. Ich beschränke mich auf die Neuordnung der Be¬ 
ziehungen der deutschen Nation zu ihren nächsten Nachbarn im Osten. 
Meine Arbeit ist ein erster Versuch und ein schmerzlicher noch dazu. 
Noch bluten die offenen Wunden an unserem Leibe, von dem die 
Sudeten-Deutschen, Danzig und Oberschlesien gerissen worden sind. 
Es ist, das gebe ich zu, heute noch schwer und hart, aber es ist nichts¬ 
destoweniger notwendig, schon jetzt mit ruhiger Vernunft darüber zu 
denken und sprechen. 

Ich spreche also nicht von der ungleich wichtigeren Frage „Deutsch¬ 
land nach Westen“, nicht von dem entscheidenderen Punkte, ob sich 
Deutschland und wie es sich in das System der Angelsächsischen Be¬ 
herrschung der Meere einzuordnen habe, auch nicht davon, wie Deutsch¬ 
land seinen Zivilprozeß über Sach- und Geldleistungen mit Frankreich, 
einen Zivilprozeß, der seltsamerweise unter völkerrechtliche und mili¬ 
tärische Strafsanktionen gestellt ist, zu Ende führen soll; auf der anderen 
Seite schließe ich auch eine Erörterung des künftigen Verhältnisses der 



und unsere östlichen Nachbarvölker 117 

deutschen zur russischen Nation aus, ich unterlasse endlich die metho¬ 
dische Grundfrage zu erörtern, der sich alle anderen einordnen, die 
Frage eines Völkerbundes, der die ganze Welt verwaltet. Ich be¬ 
schränke mich auf ein enges Feld, auf dem ich als österreichischer 
Politiker eher zu sprechen berufen bin, auf die Beziehungen zu unseren 
östlichen Nachbarvölkern, die zwischen der russisch-ukrainischen und 
der deutschen Erde ihre Staaten entweder schon besessen oder nun¬ 
mehr gebildet haben. 

Allerdings: da die Politik einer Nation, wenn sie wirksam sein soll, 
eine geistige Einheit sein muß, so werden sich aus dem Ergebnis des 
Teilgebietes Rückschlüsse auf das Ganze der Politik machen lassen, und 
ebenso werden sich diese Ergebnisse aus der Gesamtlage der Nation 
Korrekturen im einzelnen gefallen lassen müssen. 

Außer dieser räumlichen muß ich mir eine inhaltliche Schranke auf¬ 
erlegen: die Welt nach 1918 steht nicht allein, ja nicht einmal vor¬ 
wiegend unter nationalem Gesichtspunkte; sie drängt nicht nur nach 
einer neuen Staatenordnung, sondern auch nach einem neuen sozialen 
System, das selbstverständlich die Beziehungen der Nationen beein¬ 
flussen muß. Als Sozialdemokrat fühle ich diese Beeinschränkung sehr 
beengend und widernatürlich, aber ich muß leider für diesen ge¬ 
schichtlichen Augenblick von dem sozialen Moment absehen, weil der 
Sozialismus durch die verwirrende Mannigfaltigkeit und Gegensätzlich¬ 
keit seiner Auffassung von der Internationale sich für geraume Zeit 
selbst ausschaltet. Ich behalte mir aber vor, anderswo auf diese 
Wirkungen zurückzukommen. 

3. Gerade als Österreicher aber fühle ich nicht nur den Beruf, 
sondern auch die Pflicht, die Aufmerksamkeit der Nationen auf das 
nahöstliche Problem hinzuweisen. Der östliche Nachbar des früheren 
Deutschland war das russische Reich. Es hatte dem Anscheine nach 
die deutsche Nation nur mit Rußland und mit keinem Zwischenvolke 
zu tun. Es war nebst der Teilung Polens der Bestand der österreich¬ 
ungarischen Monarchie, der den Deutschen des Reiches die Nachbar¬ 
nationen verhüllte und beinahe zu einer vemachlässigenswerten Größe 
machte. Es war so, als ob das deutsche Nationsganze dem öster¬ 
reichischen Stamme ein für allemal die Auseinandersetzung mit diesen 
Völkern überlassen hätte. Ja es war schlimmer, die künstliche Kon¬ 
struktion der Donau-Monarchie ließ diese Staatswesen als halbdeutsch 
erscheinen und wiegte so die Nation in eine verderbliche Sicherheit 
So war für das Deutsche Reich nur Rußland ein Problem der aus- 



zi 8 Karl Remter, Die deutsche Aufgabe Österreichs 


wattigen Politik, alle anderen Ostvölker bestanden ftir es nicht. Und 
diese geschichtlich-politische Falschmeldung war ein gewichtiges Moment 
unserer nationalen Katastrophe. Diese Falschmeldung verschuldete die 
erstaunliche Verständnislosigkeit aller Reichsdeutschen und insbesondere 
der regierenden Kreise in allen österreichischen Dingen, sie verschul¬ 
dete die fälsche politisch-militärische Wertung des Bündnisses von 1878, 
sie verschuldete im Kriege die harten Enttäuschungen des Herbstes 1914 
auf den östlichen Kriegsschauplätzen, sie verschuldete wenigstens zum 
Teile die falsche Konzeption der Friedensverträge von Brest-Litowsk 
und von Bukarest. Nur vereinzelte Schriftsteller des Reiches haben 
Österreich-Ungarn verstanden, von den entscheidenden Staatsmännern 
keiner, auch Bismarck nicht 


II 

1. Auch heute, auch für die künftige Politik der deutschen Nation 
im Osten, ist das genaueste Verständnis, sowohl des alten Österreich- 
Ungarn wie der neuen Republik Österreich, die erste Voraussetzung. 
Meine Ausführungen sollen darüber einige Klarheit bringen. Bevor 
ich die reale Stellung der Deutschen im Osten aufzeige, will ich ver¬ 
suchen, die Stellung, welche die Deutsch-Österreicher in ihrem eigenen 
Bewußtsein sich früher selbst zugedacht haben, festzuhalten. Bekannt¬ 
lich ist das, was die Menschen sich selbst zu sein einbilden, zwar immer 
ein Abbild, aber in der Regel ein sehr mangelhaftes und trügerisches 
Abbild ihres realen Daseins. Halten wir uns also zunächst an das 
Bewußtsein, um von dort zum Sein vorzudringen. 

Die jetzt lebende Generation von Deutsch-Österreichern ist dazu 
erzogen und daran gewöhnt, alle politischen Fragen austrozentrisch 
zu betrachten. Das will sagen: der Österreicher und insbesondere 
der Wiener hat sich im Mittelpunkt des Fünfzigmillionenreiches der 
Habsburger gesehen, sich niemals als einen bloßen Stamm der Nation, 
sondern als eigenes Staatsvolk betrachtet und daher auch seine natio¬ 
nalen Aufgaben danach, wie sie in diesem örtlichen und staatlichen 
Zusammenhang zu verwirklichen sind, beurteilt. Zum Deutschen 
Reich stand der Österreicher politisch nur in einem sehr indirekten 
Verhältnis, und zwar durch das Mittel der habsburgisch-wienerischen 
Spitze des einen Reiches zur Hohenzollerisch-Preußischen Spitze des 
anderen Reiches. Diese austrozentrische Betrachtungsweise ist seit dem 
Zusammenbruch gänzlich hinfällig geworden, aber sie wirkt noch immer 
lebhaft nach und gefährdet die kleine Alpenrepublik, mittelbar auch 



und unsere östlichen Nachbarvölker 


22p 


das Deutsche Reich und die ganze Nation. Denn wir sind, wenn 
wir austrozentrisch denken, leicht veranlaßt, mit Revanche und Re- 
vidikation für Wien zu spielen und als unsere besondere Aufgabe 
anzusehen, die Sudeten*Deutschen, die Marburger, die Südtiroler zu 
befreien. Ich weiß, daß in unseren Offizierskreisen und gerade in 
gewissen deutsch-nationalen Kreisen dieser Gedanke recht lebendig 
ist. Ja, dieser austronationale Gedanke, wie ich ihn im Gegensatz zum 
wirklichen nationalen Gedanken bezeichnen mochte, hat die Restauration 
der Habsburger wünschenswert erscheinen lassen. Eben diese Auf¬ 
fassung bringt uns in Gefahr, alle unsere Nachbarn in ein einziges 
feindliches Lager zusammenzuführen. Für einen Kleinstaat wahrhaftig 
eine geniale Politik, alle Nachbarn zu Feinden zu machen und zu 
einem Ring zusammenzuschließen! Diesen Geniestreich hat die gegen¬ 
wärtig in Ungarn herrschende Politik wirklich gemacht, denn sie hat 
die kleine Entente und die Einkreisung Ungarns vollendet. 

Dieser nationale Revidikationsgedanke kann sich leicht mit wirt¬ 
schaftlichen Erwägungen verschwistern und viele Kaufleute und 
Industrielle an sich ziehen. Derselbe Austrozentrismus, wirtschaftlich 
gewendet, nährt die Utopie einer Donaufoderation. Und doch liegt 
es auf der Hand, daß diese von keinem der Nachbarn gewollt wird 
und daß sie, wenn sie bestünde, Deutsch-Österreich als schwachen, 
willenlosen Gefolgsmann, buchstäblich als fünftes Rad am Wagen, 
nach sich ziehen müßte. Es ist der deutschen Öffentlichkeit viel¬ 
leicht entgangen, daß die österreichische Politik der letzten eineinhalb 
Jahre von dieser Politik inspiriert war. Die alt-österreichischen 
politischen und weite wirtschaftliche Kreise haben, trotzdem sie sich 
äußerlich zum Anschluß an Deutschland bekannten, gerade in dieser 
Zeit im stillen der Restauration der Donau-Monarchie oder der 
Installation der Donaufoderation gedient. Das neue Klein-Österreich 
und das neue Klein-Ungarn sollten die Achse des neuen Systems 
werden, eine autonome Slovakei und ein freies Kroatien sollten sich 
zunächst daran schließen und den Rest sollten die von Horthy organi¬ 
sierten militärischen Kräfte beischaffen. Verwunderlicherweise haben 
Münchener und selbst Berliner Kreise diese Projekte favorisiert, ohne 
ihr Endziel zu durchschauen. Erst die zwei verunglückten Expeditionen 
Karls haben die Hinfälligkeit dieser Bestrebungen geoffenbart und 
zum mindesten das protestantische Ungarn ernüchtert. 

Rückfälle in die alte Auffassungsweise waren zu erwarten, denn 
der Wandel im Seelenleben, der den Österreichern zugemutet wird. 



130 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

ist Oberaus schwierig. Vom Jahre 1866 bis zum Jahre 1918 ist jeder 
Deutsch-Österreicher so erzogen worden, daß er sich als Österreicher 
und als nichts anderes betrachtet hat. Alle seine Geschichtsbücher sind 
sozusagen austrozentrisch geschrieben. Die Geschichte eines Volkes, 
wie sie gegenwärtig in seinen Köpfen lebt, ist politisch seine Seele, 
ist die Verkündigung seines Berufes in der Welt. Die ganze öster¬ 
reichische Reichsgeschichte, wie sie an unseren österreichischen Rechts¬ 
fakultäten gelehrt wird und in unseren Lehrbüchern noch immer 
steht, ist nach 1918 sinnlos geworden. Wir verstehen sofort, daß 
damit auch unsere österreichische Nationalgeschichte als solche dahin 
ist, daß wir also ein Volk ohne Geschichte, das ist ein Volkskörper 
ohne Seele, das ist ein Wesen ohne Beruf und Bestimmung geworden 
sind und dieses im Grunde furchtbare Schicksal erklärt es, warum 
die Republik Österreich die meisten ihrer Bürger kalt gelassen hat. 

Es ist das Verdienst der österreichischen Sozialdemokratie, daß sie 
in den entscheidenden Oktobertagen 1918 dem entseelten Körper jenen 
neuen Geist eingehaucht hat, der ihn aufrecht erhielt und zur neuen 
politischen Tat fähig machte, der den großen Zusammenhang des 
südöstlichsten Stammes unseres Volkes mit der Nation in den Brenn¬ 
punkt des politischen Bewußtseins rückte. Der Anschlußwille war 
im Herbste 1918 zugleich der einzige Lebenswille. 

Mit einem Male sahen wir unsere Geschichte in einem anderen 
Lichte und in dem richtigen dazu! Bis zum Jahre 18 66 waren wir 
gamicht das Vorvolk eines Nationalitätenreiches von acht Völkern 
gewesen, sondern derjenige deutsche Stamm, dessen Erzherzog die 
deutsche Kaiserkrone trug und später den Vorsitz des Bundes ein¬ 
nahm. In unserem Bewußtsein waren wir damals der erste deutsche 
Stamm. Die dualistische Epoche, das halbe Jahrhundert von 18 66 
bis 1918 sah uns im Exil, wir waren verurteilt, eine eigene Nation 
zu scheinen, im Reiche Österreich-Ungarn gleichsam die Schwester¬ 
nation der Magyaren zu spielen! Aber wie kurz war diese Episode. 
Seit der Karolingerzeit (seit dem Vertrage von Verdun im Jahre 
843), somit seit mehr als einem Jahrtausend, haben wir zum Deutschen 
Reiche gehört und waren wir seine südöstliche Grenzmark. Des 
Reiches Grenzhut im Südosten zu sein — das ist in Wahrheit unsere 
tausendjährige Bestimmung. 

Diese nationszentrische Auffassung unseres eigenen Daseins ergriff im 
Sturm unser ganzes Volk. Erst das Anschlußveibot des Friedensvertrages 
von St. Germain hat dieses leidenschaftliche Erkennen abgedämpft und 



und unsere östlichen Nachbarvölker 231 

Bat den Austrozentrismus, von dem wir eben gesprochen haben, wieder 
auf eineinhalb Jahr hervorgelockt. Der Kampf um das Burgenland war 
das versteckte Manövrierfcld desselben. Wir wissen heute, daß sich im 
Burgenland eine Restaurationsgruppe sammeln sollte, daß eine wirkliche 
Verschwörung Wiener und Budapester Habsburgerfreunde sich aufgetan 
hat. Der Ausgang dieses Streites hat die habsburgische Bewegung als 
Illusion erwiesen und den deutschen Gedanken in Österreich wie den 
magyarischen in Ungarn zum Nachteile der Reaktion gestärkt. 

Der Druck der Entente und Frankreichs hat allerdings das Be¬ 
kenntnis zum Anschluß erstickt und die Verbindung des Staates 
Österreich mit dem Staate Deutschland auf unbestimmte Zeit hinaus¬ 
geschoben. Aber er hat zugleich das Bewußtsein der Nationalgemein¬ 
schaft, das nationszentrische Denken geschärft. Es ist der Geist, der 
sich den Körper baut. Und am Ende macht es nicht allzuviel, wenn 
die deutsche Nation sich in einem Groß- und einem Kleinstaat dar- 
stellt, wenn nur ein Geist beide leitet. 

Wie ist nun von nationszentrischem Gesichtspunkt aus gesehen die 
Stellung des österreichischen Stammes zu den Ostvölkem zu erfassen? 
Stellt man die Frage so, dann wird sofort sichtbar, daß die öster¬ 
reichische Stammesgeschichte nur ein Spezialfall ist, den Österreich 
mit anderen Stämmen teilt. 

Die deutsche Nation hat seit ihrer Konstituierung im Osten 
zwei große Ober die heutigen Reichsgemarkungen hinausstrebende 
kolonisatorische Vorstöße gemacht. Der eine führt nach dem Nord¬ 
osten Ober das Gebiet von Polen und längs der Kflste der Ost¬ 
see. Er war getragen von Sachsen, Brandenburgern, Preußen und 
insbesondere von den deutschen Hansestädten. Dieser baltisch-pol¬ 
nische Kolonisationsstrom vereinigte sich zum Schlüsse unter dem 
Szepter Preußens. Preußen ist als nordöstliche Grenzmacht, als Pionier 
des Deutschtums im Nordosten stark geworden, und diese seine 
Stellung gab ihm den Vorrang vor anderen deutschen Stämmen. 
Im ganzen aber vermochten die Preußen weder das ganze deutsche 
Land im Osten noch auch viel fremdsprachige Länder zu gewinnen, 
und obschon der preußische König über fremdsprachige Völker regierte, 
blieb er doch überwiegend ein deutscher Fürst. Der zweite Kolo¬ 
nisationsstrom war der ältere und mächtigere. Die Bajuvaren leiten 
ihn zuerst. Sehr bald aber nahm ihnen Österreich die Führung ab, 
und die Bayern werden ein Binnenstamm, ohne Tür und Fenster in 
die Umwelt der Nation. Österreich drang schon 138z bis nach 



2ji Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

Triest vor und übernahm 1526 die Führong sowohl im Sudetengebiet 
unter den Tschechen wie im Gebiete der Magyaren und Jugoslawen. 
Die bajuvarischen, fränkischen, sächsischen und schlesischen Stämme 
der Deutschen im Sudetenland verschmolzen nun mit den österreichi¬ 
schen Ostaipendeutschen zu einer politischen Einheit, in der das ba- 
juvarische Element nur mehr ein Bruchteil war. Die weit älteren 
Kolonien der Siebenbürger Sachsen (13. Jahrh.) und der oberun¬ 
garischen Deutschen (Zips, Iglo, Schemnitz) gerieten unter Österreichs 
Führung. Nach der Zurückwerfung der Türkenflut bevölkerten aber¬ 
mals Deutsche die Festung Ofen (i68d), das Verths- und Pilis-Ge- 
birge, den Banat und die Baszka, und deutsche Kaufleute hielten 
wieder Markt in Belgrad (1718). Die habsburgische Geschichtslegende 
beliebt, diesen gewaltigen Vorstoß so darzustellen, als wäre er das 
Werk Österreichs und der Österreicher allein gewesen, aber Prinz 
Eugen war der Feldherr des deutschen Reiches und des deutschen 
Kaisers, die Kolonisten Sachsen, Franken, Schwaben. Nichtsdesto¬ 
weniger aber waren die Österreicher an diesem Werk hervorragend 
beteiligt, und von nun ab sind die Österreicher die Vermittler deutscher 
Kultur bis hinunter zur Adria und bis hinüber zu den transsylva- 
nischen Alpen und dem Eisernen Tor. Die kronstädtischen und 
hermannstädtischen Sachsen, die Banater Schwaben, die Ofner Bürger, 
die oberungarischen, jetzt slowakischen Bergstädte und später die 
deutschen Bauern und Bürger der Bukowina sind mit dem Deutschen 
Reich verbunden durch Wien. Diese Kolonisation ist weitaus mäch¬ 
tiger und erfolgreicher als die preußische, und mit aus diesem Grunde 
trägt lange der Erzherzog von Österreich und nicht der König von 
Preußen die Krone des Reichs. 

Man könnte sich vorstellen, daß eine solche Kolonisation sich 
friedlich und unpolitisch vollzieht. Das war nicht der Fall. Das 
Kulturwerk, das historisch und politisch notwendig war, war einge¬ 
kleidet in militärische Eroberungen, in Intrigen der Fürstengeschlechter, 
in dynastische Erbverträge und Erbschleicherei, in Bauernaufstände 
und Adelserhebungen. Es ist zufällige Prägung infolge der Zeitura- 
-stände, daß diese nationale Kolonisation zum Schluß als Hausmachts¬ 
politik der Habsburger auftritt, genau so wie die nordöstliche Kolo¬ 
nisation als Hausmachtspolitik der Hohenzollern erscheint. Noch viel 
zu oft finden wir das Werk der Nation in Fürstenchroniken hinüber- 
gebucht. Die deutsche Nation hat unter dieser Verkleidung entsetzlich 
gelitten, und ein nicht geringes Übel ist es auch, daß das, was die 



und unsere östlichen Nachbarvölker 133 

Kultur der Nation vermittelst zweier ihrer Stämme vollbracht hat, 
zum Schluß als alleiniges Verdienst dieser Stämme ausgerufen wurde 
und dadurch diese Stämme selbst in Gegensatz zur Nation gelangt 
sind. Der Versuch, der 1848 in der Paulskirche zu Frankfurt ge¬ 
macht wurde, die Nation über ihre Stämme und das Reich Ober die 
Fürsten zu stellen, ist gescheitert, und damit ist in letzter Linie schon 
das Unheil von 1914 gesät worden. 

Denn die preußischen Dynasten, die den größeren Teil der Nation 
sich unterwarfen, haben ihre nordöstliche Mission dem Zarentum zu¬ 
lieb geopfert, die Nation einseitig gegen Westen gedrängt, in das 
westliche Abenteuer gestürzt, und wenn Deutschland im Weltkrieg 
unterlegen ist, so nach meiner Auffassung aus dem einen Grund vor 
allem: die deutschen Armeen hätten sich vor die Vogesenpässe und 
vor die belgische Grenze legen und die Reichsgrenze im Westen 
defensiv behüten sollen, dort waren sie mit einem Drittel ihrer Heere 
unbesiegbar. England hätte nicht so machtvoll, Amerika niemals ein¬ 
gegriffen, inzwischen aber hätte Deutschland seine beiden östlichen 
Missionen vollenden sollen. Die Nation hatte gegenüber dem 
Zaren Recht, gegenüber dem Westen und Belgien Unrecht. 
Worin diese Mission bestanden hätte, darüber später. 

Der österreichische Stamm, der i86d aus dem Reich hinaus ge¬ 
drängt wurde, übernahm nun allein eine Kolonisationsaufgabe, zu der 
die ganze Nation, aber nicht ihr sechster Teil stark und groß und 
kulturreich genug war. Dieses Sechstel der Nation mußte scheitern, 
und so kam die Katastrophe auch für dieses. Sowohl die Preußen als 
auch die Österreicher büßten im gleichen Augenblick alle ihre Vor¬ 
werke im Osten ein, damit verlor die Nation ihre Stellung im 
Osten, ohne im Westen und auf dem Meere irgend etwas zu gewinnen. 

3. Die kolonisatorische Aufgabe, die im besonderen die Deutsch- 
Österreicher auf sich nahmen, fiel zunächst Wien und den Deutschen 
der Alpenländer zu, aber sie veränderte diesen Stamm ethnisch völlig — 
c ‘n Umstand, der oft übersehen und insbesondere von der soge¬ 
nannten Wittelsbachischen Propaganda vernachlässigt wird. Diese 
nimmt Österreich noch immer als bajuvarisches Land in Anspruch 
und denkt an einen Anschluß Österreichs an Bayern. Untersuchen 
wir» was aus dem österreichischen Stamm bis 18öd und in den 
folgenden Jahrzehnten seinem Blut und Wesen nach geworden war. 
Die Unterlage des Volkes war bajuvarisch, obwohl in den nördlichen 
Gebieten von Nieder- und Ober Österreich der fränkische Einschlag 



234 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

auch im Landvolk unverkennbar ist. Aber Wien und alle die deutschen 
Städte des östlichen Alpenlandes, und nicht nur sie, sondern auch 
die Dörfer haben durch einen vierhundertjährigen freien Wechsel¬ 
verkehr mit den deutschen Stämmen des Sudetengebietes und Ungarns 
einen großen Teil ihres Volkstums ausgetauscht. Würde man die 
alten Wiener Bürger von erwiesen deutschem Stamme auf ihre Her¬ 
kunft untersuchen, so würde man finden, daß vielleicht zwei Drittel 
von ihnen aus allen anderen deutschen Gauen des alten Österreich- 
Ungarn stammen. Vielleicht die Hälfte kommt aus Deutschböhmen, 
Deutschmähren und Schlesien, viele aus deutschen Gebieten des 
ehemaligen Ungarn. Zu diesen Einschlägen kommen alle einge¬ 
deutschten Slawen und Magyaren Wiens und Österreichs, man findet 
überall bis nach Vorarlberg hinaus Familien mit tschechischen, pol¬ 
nischen, ungarischen, ja selbst italienischen Namen, in denen die Er¬ 
innerung an die frühere Nationszugehörigkeit verloren gegangen ist 
Viele allerdings sind in der letzten oder heutigen Generation einge¬ 
deutscht. Zu diesen Mischungen kommt noch ein starker Einfluß der 
drei jüdischen Stämme, die sich in Wien begegnet sind, der böhmischen, 
der polnischen und ungarischen Juden, die sich sehr kennbar von¬ 
einander unterscheiden. Das österreichische Volkstum, das auf diesem 
Weg geworden ist, der heutige österreichische Stamm der deutschen 
Nation, ist daher eine Besonderheit und beinahe allen andern Stämmen 
gegenüber vergleichslos. Diese Mischung hat eine Beweglichkeit des 
Geistes erzeugt, wie sie kein deutscher Stamm besitzt, eine außer¬ 
ordentliche Anpassungsfähigkeit und Buntheit, die natürlich sich paart 
mit dem Mangel an anpassender Kraft. Die Besonderheit dieses 
Stamm-Charakters spricht sich im Wirtschaftsleben, wie in der Wissen¬ 
schaft und Kunst deutlich aus. Nicht metaphysisch oder rassen¬ 
theoretisch, sondern rein praktisch gesehen: dieser Stamm birgt zahl¬ 
lose Individuen, welche die verschiedensten Sprachen sprechen (italienisch, 
kroatisch, tschechisch, magyarisch, polnisch usw.), welche die ver¬ 
schiedensten Länder und Völker und deren Eigenart kennen, welche 
ebenso mit der korrekten Geschäftsüsance des Westens wie mit den 
Praktiken des Ostens vertraut sind, welche in der Musik die alpen¬ 
ländische Volksweise verbinden mit dem elegischen Ton der slove- 
nischen Schnitterlieder, dem Rhythmus des Czardas der Puszta, dem 
tschechischen und dem polnischen Lied usf. Kurz, es ist eine Rasse 
von der höchsten Plastizität geworden, wie sie ihresgleichen unter 
den deutschen Stämmen nicht hat. Im Grunde ist es, seit Österreich 



und unsere östlichen Nachbarvölker i \ 5 

in St. Germain auf die paar Ostalpenländer eingeschränkt worden ist, 
falsch, sie »Österreicher* zu nennen, viel besser wäre es sie samt den 
Sudetendeutschen, die den Kern des heutigen Österreichertums gestellt 
haben, und allen versprengten Volksteilen der jetzigen Nachbarstaaten 
zusammen als Südostdeutsche zu bezeichnen. Im deutsch-österreichischen 
Staatsrat, welcher der jungen Republik die erste Verfassung gegeben 
hat, wurde auch erwogen, die Republik Südost-Deutschland und ihr 
Volk Südostdeutsche zu nennen. Nach den späteren Erfahrungen von 
St. Germain wäre dies gewiß von Vorteil gewesen. Dieser Name 
Südostdeutsche sollte von uns immer wahlweise neben Österreicher 
gebraucht werden, er drückt unsere ethnische Zusammensetzung wie 
unsere geschichtliche Mission aus. 

Unsere künftigen Geschichtsforscher werden unsere Stammesge¬ 
schichte aus der Familienchronik der Habsburger herausschälen und 
selbständig darstellen müssen. Dann werden sie die Proklamierung 
des Kaisertums Österreich durch Franz II. (1804) als Akt der Fürsten¬ 
willkür und die Zeit von i8dd—1918 als bloßes Zwischenspiel zu 
behandeln haben. Während dieses Zwischenspiels waren wir, gleich¬ 
sam im Exil, zum aussichtslosen Vorzug verurteilt, als Stamm zu er¬ 
halten und zu vollenden, wozu die ganze Nation berufen war, bis 
sich mit der Vollendung der kolonisatorischen Mission die Selbständig¬ 
keit und Freiheit der von ihr erweckten Nationen von selbst verstand. 

III 

1. Nicht ungestraft ist die Kulturmission der deutschen Nation im 
Osten verkleidet gewesen in das Gewand politischer Unterwerfung der 
Nachbarvölker von der Ostsee bis zur Adria unter die absolutistische 
Militärgewalt zweier Fürstengeschlechter. Eine geeinigte freie Gesamt¬ 
nation ohne dynastische Vorurteile hätte sich mit den neuen Zeitideen 
und also mit den Ostvölkern ganz anders auseinandergesetzt. Man 
erinnere sich an die Verhandlungen des Frankfurter Parlamentes: ob¬ 
schon zu jener Zeit dem Probleme noch nicht gewachsen, kündigt es 
doch Lösungsformen an. Man denke an die englische Demokratie 
und ihr Fortschreiten in der irischen Frage bis zur heutigen Lösung. 
Das Frankfurter Parlament war, so gesehen, schon 1848 der Lösung 
näher als das englische Parlament etwa um 1900. Das monarchische 
Prinzip, das selbst in der Person Wilhelm I. Völker bloß als sound¬ 
soviel Quadratmeilen Land und soundso viel Tausende Einwohner 
Privateigentum ansah, war natürlich viel zu starr, um etwa das pol- 



aj 6 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 


nische Problem zu lösen. Wieviel im Weltkrieg darauf angekommen 
ist, weiß jedermann. 

In diesen fünfzig Jahren hat sich im Osten ein weltgeschichtlicher 
Prozess vollzogen, der wissenschaftlich längst erforscht, aber von der 
deutschen Nation nie voll in Rechnung gezogen ist, der Prozess des 
Erwachens der geschichtlosen Nation. Er endet überall mit der Bildung 
von Nationalstaaten. Der nationale Einheits- und Freiheitskrieg der 
Italiener und der Deutschen (1859, 1866) war darin nur das Vorspiel 
für das östliche Europa. Der Krieg vom Jahre 1914, im Westen ein 
Krieg des Imperialismus, ist im östlichen Mittel- und Osteuropa ein¬ 
fach die Fortsetzung derselben Tendenz, die sich für uns in den Jahren 
59 und 66 ausdrückt. 

Viele Einsichtige haben vor dem Krieg diese Entwicklung voraus- 
gesehen und sich gefragt, ob es denn kein Mittel gebe, diesem Unheil 
vorzubeugen, das ist ohne Krieg der Hauptsache nach dasselbe Ergeb¬ 
nis zu erreichen und dabei uns Deutschen das traurige Los zu er¬ 
sparen, alle unsere nationalen Vorwerke im Osten zu verlieren. Da¬ 
bei drängte die Reife der ökonomischen Entwicklung der Welt, wel¬ 
che seit 1859 und i8dd für die Völker ganz andere Daseinsbe¬ 
dingungen geschaffen hatte, geradezu gebieterisch auf eine Lösung 
ohne Krieg hin. Denn die Völker, die sich kraft des Nationalitäten¬ 
prinzips scheiden sollten, waren ja inzwischen durch eine wunderbare 
Verflechtung des Handels und durch gesteigerte gegenseitige Ab¬ 
hängigkeit in der Güterversorgung so innig verwachsen, daß jede 
durch Krieg befreite neue Nation den Preis der Freiheit durch den 
ökonomischen Ruin zahlen zu müssen bedroht war. Das offizielle 
Deutschland und Österreich, das ist die Höfe der Habsburger und 
Hohenzollem mitsamt ihrem Anhang von Diplomaten, Generälen und 
Staatsmännern, machte sich über diese Dinge überhaupt keine Ge¬ 
danken. Der Berliner Hof schwelgte in der Romantik der Parsifals- 
zeit, der Wiener verkümmerte im Zeremoniell der spanischen Renaissance 
und in der Dumpfheit des römischen Klerikalismus. 

z. In Deutschland gab es allerdings einen Mann, der Schule machte, 
der einen Ausweg vorschlug, und das war Friedrich Naumann. Sein 
Programmbuch „Mitteleuropa“ suchte der aufsteigenden Probleme durch 
eine der Hauptsache nach wirtschaftliche Zusammenfassung aller Na¬ 
tionen diesseits der ehemaligen russischen Grenze mit Deutschland 
Herr zu werden. Ich hatte die Freude, mit Naumann vor dem Er¬ 
scheinen seines Buches wiederholt das Problem Mitteleuropa durch- 



und unsere östlichen Nachbarvölker 237 

zusprechen, und weiß, wie er diese Schöpfung gedacht hat. Er dachte 
sämtliche Nationen, die seinem Mitteleuropa an gehören sollten, mit 
staatlicher Souveränität ausgerüstet und mit Deutschland verbündet, 
und wie bekannt, hat er sich in Prag, Budapest und Lemberg per¬ 
sönlich bemüht, für seine Ideen Verständnis zu finden. Ich selbst 
habe mich zu einer Form von Mitteleuropa bekannt und als die 
deutschen und österreichischen Truppen in Warschau einrückten, die 
polnische Nation in einem Leitartikel der Arbeiterzeitung, der mir in 
Parteikreisen viel herbe Kritik zuzog, zu ihrer Befreiung brüderlich 
begrüßt. Noch war die entsetzliche Verblendung der beiden Reichs¬ 
und Heeresleitungen nicht zu ermessen, die sich hinterher in Brest- 
Litowsk geoffenbart hat. 

Die mitteleuropäische Idee ist wie alle Zeitideen in verschiedenen 
Lagern eben verschieden aufgefaßt worden. Die herrschende Politik 
der beiden Staaten nahm sie imperialistisch auf, die oberen Klassen 
in Deutschland ersahen in der Eroberung des östlichen Mitteleuropa» 
eine erwünschte Ausdehnung ihrer Wirtschaftsgebiete, der Wiener Hof 
die Gelegenheit, dem Kaiser Karl auch die Krone von Polen zu ver¬ 
schaffen, der Berliner Hof die Gelegenheit, hohenzollersche Prinzen 
auf verschiedene Throne zu bringen, die deutschen Berufssoldaten als 
eine immense Ausdehnung des Döberitzer Exerzierfeldes. Ich bin 
dessen gewiß, daß Naumann all diesen Plänen Feind war, aber ge¬ 
wiß, sie nahmen in den Friedensschlüssen von Bukarest und Brest- 
Litowsk verhängnisvolle Gestalt an, und das ist nun der zweite große 
Fehler unserer Nation im Weltkrieg. Das die zweite Schuld, die wir 
mit der Katastrophe von 1918 gebüßt haben. Das Waffenglück hatte 
am Ende doch die Westfront auf der defensiven Linie still gelegt 
und die deutschen Armeen im Bewegungskrieg im Osten bis ans 
Schwarze Meer und an den Finnischen Meerbusen geführt. Hätte die 
deutsche Nation die Traditionen ihrer Befreiungskriege, die Tradition 
der Paulskirche wieder aufgenommen und in hochherziger Opfer¬ 
bereitschaft die Nationalstaaten, die später gegen das Reich geschaffen 
wurden, selbst eingerichtet, dann hätte sie zwischen Ostsee und dem- 
Ägäischen Meere eine feste Kette treuer Verbündeter gewonnen. Hätte 
sie noch damals zugleich die Selbstbeherrschung aufgebracht,sich an dem. 
Westen desinteressiert zu erklären, dann wäre sie vor der Welt gerecht¬ 
fertigt dagestanden und zweifellos Sieger geblieben. Das Verhängnis der 
Nation waren die zwei Höfe und ihre dynastische Politik, die imperia¬ 
listischen Tendenzen der Bourgeoisie und der Hochmut des Berufsmilitärs., 



z 3 8 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 


3. Naumanns Auffassung trug nach meiner Meinung imperialistischen 
Charakter nur in bescheidenem Malle. Er dachte Deutschland aller¬ 
dings eine bevorzugte Stellung und der deutschen Wehrmacht die be¬ 
sondere Mission des Schutzes von ganz Mitteleuropa zu. Aber diese 
Hegemonie Deutschlands hätten 1917 die nahen Ostvolker gerne als 
Zahlung fUr ihre nationale Souveränität innerhalb ihrer derzeitigen 
Sprachgrenze geleistet. Meine Auffassung von Mitteleuropa deckte 
sich mit jener Naumanns nicht völlig, und ich habe mich oft darüber 
ausgesprochen. In der Vorkriegszeit, wo Russisch-Polen und die 
Ukraine noch fest in den Händen des Zaren waren und alles darauf 
ankam, eine kriegerische Losung zu vermeiden, habe ich das nationale 
Problem nur im Rahmen der Donaumonarchie behandelt. Ich ver¬ 
fuhr selbst austrozentrisch, nahm allerdings an, daß, wenn das deutsche 
Österreich einer der acht Gliedstaaten des Donaureiches würde, die 
Verbindung dieses Achteistaates mit dem Reiche später keine Schwierig¬ 
keiten machen würde. Die Form, in der ich das Erwachen der ge¬ 
schichtslosen Nationen und die Nationalstaatenbildung verwirklicht 
wissen wollte, ohne die Wirtschafts- und Kulturzusammenhänge der 
Völker zu zerstören, war die politische Föderation der national¬ 
konstituierten acht Donauvölker, und ich habe das detaillierte Pro¬ 
gramm dieser Föderation noch im Frühjahr 1918 in meinem Buche 
„Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ niedergelegt. Es ist ein Pro¬ 
gramm der Vereinigten Nationalstaaten des Donaugebietes. Aber 
wie sich aus meinem Buche „Österreichs Erneuerung“ entnehmen läßt; 
war mir vom Tage des Kriegsausbruches an, seit 1914, klar, daß es 
sich nun nicht mehr um eine Donauföderation handeln kann, son¬ 
dern ein höheres Problem gestellt war. Ich habe die austrozentrische 
Auffassung sofort nach Kriegsbeginn verlassen, da ich deutlich emp¬ 
fand, daß es sich nun nicht mehr um das Donaureich allein, sondern 
um die Konstituierung von ganz Mitteleuropa handle, und diese 
Konstituierung hätte nach meiner Auffassung kein Akt der imperia¬ 
listischen Gewalt oder Eroberung, kein Hegemonieplan, sondern eben 
die Herstellung der Vereinigten Nationalstaaten von Mitteleuropa 
sein sollen. Nach Brest-Litowsk war es mir klar, daß der mittel¬ 
europäische Gedanke unter den Bajonetten der Sieger begraben war, 
gerade wo die imperialistische Wendung des Gedankens zu trium¬ 
phieren schien. Von da ab habe ich meine Aufsätze zu Österreichs 
Erneuerung eingestellt und meine Aufmerksamkeit der Vorbereitung 
anderer Lösungen zugewandt. 



und unsere östlichen Nachbarvölker 


M 9 


IV 

i. Naumanns gemäßigt imperialistisches Mitteleuropa und mein national- 
föderalistisches Mitteleuropa — beide sind gescheitert und überholt. 
Die Katastrophe hat ein verstümmeltes Deutsches Reich und an Stelle 
des zerstückten Donaureiches fünf Kleinstaaten zurückgelassen, von 
denen die Tschechoslovakei den ausgesprochenen Charakter eines 
Nationalitätenstaates hat. Die Neustaaten, die wir im Namen der 
Freiheit der Völker zu begründen berufen und stark genug gewesen 
wären, sie sind gegen uns geschaffen, sie starren in Waffen gegen 
uns und wir sind entwaffnet. Hätte unsere kolonisatorische Mission 
nur darin bestanden, sie zum Militarismus zu erziehen, sie wäre 
gründlich gelungen. Die wirschaftlichen und kulturellen Zusammen¬ 
hänge von Mitteleuropa sind dauernd zerrissen, und der ganze Erd¬ 
teil ostwärts des Rheines ist desorganisiert. 

Auf den Trümmern des einst blühenden Wirtschaftslebens ersteht 
jedoch das alte Problem neu: diese Staaten können ihren Wieder¬ 
aufbau nicht einzeln, sondern nur im Zusammenhang Mitteleuropas 
vollziehen. Mitteleuropa als ökonomische Idee, Mitteleuropa als Kultur¬ 
idee, befreit vom dynastischen, militärischen und politischen Einschlag, 
befreit von jedem nationalen Hegemoniegedanken erscheint unzerstör¬ 
bar. Die Westmächte haben die Gewalt, die mitteleuropäischen Staaten 
alle miteinander verelenden zu lassen, und sie können das, indem sie 
die mitteleuropäische Lösung verhindern; sie können keinen einzigen 
dieser Staaten zu wirklichem Frieden und Wohlstand führen, ohne 
ein ökonomisches Mitteleuropa zuzulassen. 

l. Allein die Verwirklichung der Idee ist durch das Kriegsergebnis 
allem Anschein nach unmöglich gemacht. Die Nationen, welche bei 
anderer militärischer und diplomatischer Führung des Krieges fflr 
alle Zukunft Deutschlands Freunde geworden wären, stehen ihm als 
Sieger gegenüber und die Friedensverträge haben jeder dieser Nationen 
ein Stück deutscher Erde zugesprochen, außerdem von der Seite jedes 
Nachbarn einen Pfahl in das Fleisch Deutschlands getrieben, damit auf 
ein Menschenalter Feindschaft zwischen allen mitteleuroäpischen Staaten 
und Deutschland herrschen solle. Dabei ist Deutschland trotz alldem 
unter allen mittel- und westeuropäischen Staaten des Kontinents noch 
immer der größte, volkreichste und wirtschaftlich energischste, sodaß 
die Neustaaten trotz Sieg und Raub nicht aufhören können es zu 
fürchten. So ist ein diplomatisches Werk der Völkerverhetzung ge¬ 
schaffen worden, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel 



Z40 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

ist, und trotzdem soll ein ökonomisches Mitteleuropa geschaffen werden? 
Ich will nicht den Anschein des Ehrgeizes erwecken, paradox zu sein 
und Unmögliches als wirklich hinzustellen, dennoch wage ich die 
Behauptung, daß Mitteleuropa werden kann, allerdings nicht in den 
Formen, die in den verschiedenen Richtungen noch 1917 vorschwebten. 
Nicht in Gestalt des deutschen Imperiums Hindenburgs, noch in der 
Form der militärisch- ökonomischen Hegemonie, wie sie Naumann vor 
Augen hatte, noch auch in der von mir verbreiteten Form der gleich¬ 
berechtigten Föderation der Nationen. Jedes politische Band, 
auch das allerloseste, ist heute ausgeschlossen! Aber ich 
glaube, daß dieser bewußte und vollkommene Ausschluß des politischen 
Moments die ökonomischen Triebkräfte deutlicher herausarbeiten 
muß, und gerade, weil Deutschland vollständig entwaffnet und wehrlos ist, 
während seine kleine Nachbarn bewaffnet sind, können wir Deutsche, 
solange die Führung der Nationen den nichtmilitaristischen Parteien 
zufällt, auf den Sieg der Ökonomie Ober die Politik bauen, und in 
der Ökonomie allein liegt die Kraftquelle für unseren Wiederaufstieg. 
Den bis zum Krieg herrschenden Klassen aber, die die Heldenideologie 
gegen die Händlerideale gestellt haben, muß allerdings der Gedanke 
furchtbar erscheinen, jeden politischen Ehrgeiz abzutun und die Zu¬ 
kunft der Nation in die Hände der Unternehmer und Arbeiter, der 
Kaufleute, der Techniker, der Professoren zu legen! Es ersteht für 
uns wirklich die Frage, ob wir die Kraft haben zu ausgesprochenem 
Verzicht. Denn wir müssen, um Mitteleuropa zuwege zu bringen, 
ausdrücklich auf alle territorialen Re Vindikationen verzichten und den 
gegenwärtigen territorialen Bestand der Neustaaten anerkennen. Wir 
müssen — trotz des immer regen Bewußtseins älterer und längerer 
Kultur — der werdenden Kultur unserer Nachbarn voll gerecht werden, 
müssen, ohne ihnen unsere Sprache aufzudrängen, ihre Sprachen 
lernen, und wir müssen, so wie wir heute nach den Verträgen von 
St. Germain als Barbarenstaat hinter den Hedschas, hinter Haiti und 
Siam rangieren, uns gefallen lassen, daß in manchen Dingen und 
Fällen die Neustaaten vor uns den Vortritt haben. Ich bin mir be¬ 
wußt, wie die intellektuellen Kreise unserer Nation vor dieser Zu¬ 
mutung erschauern, ich wage sie dennoch zu stellen, weil ich nicht 
möchte, daß sich irgend jemand über die wahre Lage des Deutsch¬ 
tums in Europa täusche. Diese Unterwerfung in die neue Lage ist 
für uns geradezu eine vorausbestimmte Buße für den Cäsarenwahn 
unserer Imperatoren, für den Gewaltrausch mancher unserer Generäle 



und unsere östlichen 'Nachbarvölker 241 

und für die herausfordernden Geschäftspraktiken unseres Vorkriegs¬ 
kapitalismus. 

Auf der anderen Seite aber darf nicht vergessen werden, daß bei 
Tschechen, Polen und Rumänen ein sehr großer Teil jener Völker 
— und vielleicht der für deren Zukunft wertvollere Teil — vor und 
im Kriege gerne mit den Deutschen sich verständigt und mit ihnen zu¬ 
sammen gesiegt hätte. Es muß ferner verbucht werden, daß die wirt¬ 
schaftliche Führung in diesen Nationalstaaten zum großen Teil in den 
Händen deutscher Familien liegt, die sich, sei es vor einem Menschen¬ 
alter, sei es jetzt erst, auf den Boden der Nationalstaaten gestellt haben. 
Sie werden unter den Feinden, gerade wenn wir zunächst nichts als Volks¬ 
wirte, Gelehrte usw. sein wollen, und wenn wir sie durch politischen 
Ehrgeiz nicht in Verlegenheit bringen, in der neuen Nation um so leichter 
wirken und sich als unsere Freunde bekennen können. Da die Entente 
auf ihrer Seite alles tun muß, um die Nationalstaaten zu reizen, so 
wird die augenblickliche Psychologie bald zusammenbrechen und der 
Weg zu einer Verständigung auch auf der anderen Seite frei werden. 

3. Aber Wenn auf unserer Seite ein so schmerzlicher Entschluß 
zu verzichten gefordert wird, so kann diese Selbstüberwindung nur 
dann von unserem Volk im ganzen aufgebracht werden, wenn das 
positive Verhalten der anderen diese Resignation rechtfertigt. Unsere 
künftigen Ausländsdeutschen, die noch gestern unsere Staatsgenossen 
waren, dürfen von den neuen Staatsvölkern nicht so behandelt werden, 
wie das heute geschieht. Der Vertrag von St. Germain sieht einen 
Schutz nationaler und konfessioneller Minoritäten vor, der nach der 
Auffassung der Westmäehte und insbesondere Amerikas imstande sein 
soll, die nationale Frage aus der Welt zu schaffen. Ich weiß nicht, 
wie originell, wie großartig, wie menschenfreundlich sich die west¬ 
ländischen Verfasser vorgekommen sein mögen, als sie diese Charte 
in den Völkerbundpakt hinein praktizierten. Sie haben nur bewiesen, 
wie ahnungslos sie dem Problem gegenüber stehen. Dieses Minder¬ 
heitsrecht bleibt weit zurück hinter dem Nationalitätenrecht, welches 
das alte Österreich geschaffen hat, jenes Österreich, das die West¬ 
mächte wegen der Vergewaltigung der Nationen zerstören zu müssen 
geglaubt haben. Jene Charte ist eine wahre Bettelsuppe eines Minori¬ 
tätenrechts. Sie verfehlt den Kern des nationalen Problems. Es ist 
beinahe ein Gemeinplatz, daß die Nation, einerlei ob Mehrheit oder 
Minderheit, Geltung als Staat oder als Staatsorgan haben muß und 
nicht auf das private Assoziationsrecht verwiesen werden kann, wie 



i+z Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

etwa die Kirchen in den Vereinigten Staaten. Die Nation, die auf 
der einen Seite das Ganze des Staates bildet, kann auf der anderen 
Seite sich nicht bescheiden, der bloß private Verein von Nations¬ 
genossen zu sein. Behandelt man unsere Stammesbruder in Hinkunft 
so, so wird jeder Versuch, auf unserer Seite sich den Nationalstaaten 
ökonomisch zu nähern, aufgehalten und zerstört werden durch den 
leidenschaftlichen Widerspruch der Unsrigen jenseits der Grenze. 
Darum ist die Voraussetzung der künftigen Verständigung nicht ein-, 
sondern doppelseitig, nicht bloß eine Schicksalsfrage Mittel¬ 
europas, sondern die Existenzfrage der Einzelnen. Der Bestand der 
Tschechoslovakci ist darin gegeben, daß sie den Deutschen einen 
verhältnismäßigen Anteil am Staat selbst, an Regierung, Zentral- und 
Lokalverwaltung gewährt, und dies nicht als bloßes Präcarium, sondern 
als verfassungsmäßiges Recht. Ich persönlich weiß, daß hochgestellte 
Funktionäre der tschechoslovakischen Republik von dieser Einsicht durch¬ 
drungen sind und dennoch von ihr keinen Gebrauch machen können, 
weil der „Siegestaumel“ einstweilen die Nation verständnislos macht. 

Das neue Verhältnis, das nach meiner Vorstellung die Staaten ver¬ 
binden soll, und zwar groß und klein, alt und jung, Sieger und Besiegte, 
setzt demnach nicht etwa gegenseitige Liebe voraus, schließt aber das Fort¬ 
beharren des alten Hasses aus. Auch ohne Liebe kann die vernünftige 
Abwägung der Interessen Staaten verbinden, und eine solche Verbindung 
von Interessen ist meist solider als Gefühlschwärmerei. Andererseits aber 
ist eine Gemeinschaft ohne wirklich positives Band ein sehr gebrechlich 
und flüchtig Ding. 

V 

Worin soll aber dann dieses neue Mitteleuropa bestehen, wenn 
kein politisches Band es verbindet, wenn auch nicht die loseste Föde¬ 
ration in Aussicht genommen ist? 

Aus einem wohl durchdachten, von Schritt zu Schritt zu verdichtenden 
Netz von ökonomischen Verträgen und Interessengemeinschaften! Wir 
müssen dahin kommen, daß zum Beispiel von der Nord- und Ostsee 
bis zur Adria und zum Schwarzen Meer Bahnen mit der gleichen 
Präzision und Leichtigkeit führen und verfrachten wie die Pazifik-Bahnen 
zwischen Atlantis und Stillem Ozean. Wir müssen ein mitteleuro¬ 
päisches Kanalsystem ausbauen, auch wenn der Nutzen davon für die 
Neustaaten größer wäre als für uns. Kurz, beim Wiederaufbau des 
Wirtschaftslebens ist mit vollem Bewußtsein nicht der reichsdeutsche, 
der heute wenig mehr als ein kleindeutscher Gedanke ist, noch der 



und unsere östlichen Nachbarvölker 


*45 


österreichische, sondern der mitteleuropäische Gedanke ins Auge zu fassen. 
Ein Stttck unseres nationalen Unglücks war es ja auch, daß Bismarck 
das kleindeutsche Reich auf dem Kontinent geistig und ökonomisch durch 
seine Institutionen und seine Zölle abgesondert und als autark behandelt 
hat Wir dürfen den Fehler auch dann, wenn Österreich Deutschland 
einverleibt ist, nicht weiter machen. Wir müssen erkennen, daß wir, 
wie die Dinge liegen, die geschichtliche Bestimmung haben, mit 
Tschechen, Polen, Magyaren, Rumänen, Jugoslaven usw. zusammen als 
Gleiche unter Gleichen Ökonomie zu machen. Im Grunde genommen 
war es in all den zooo Jahren unserer Vergangenheit nicht anders, und 
unsere wahre nationale Idee ist nicht von Bismarck, sondern viel eher 
von Herder und Fichte ausgesprochen worden. Mit dieser unserer natio¬ 
nalen Idee aber ist der mitteleuropäische Gedanke sehr wohl verträglich. 

Dieses System von Verträgen, für das die Ergebnisse von Portorose ein 
Vorbild sind — leider schließt Portorose Deutschland nicht mit ein — 
muß getragen sein von dem Grundgedanken: freiestes wirtschaft¬ 
liches und geistiges Kommerzium. Die zwei deutschen Republiken 
haben ein gebieterisches Interesse, Schutzzolltorheit durch ihre Praxis ad 
absurdum zu führen. Ihre Wirtschaftspolitik muß nach 1918 genau 
unter dem entgegengesetzten Prinzipe stehen als von 1878 bis 1918, als 
in der imperialistischen Ära. Der Ring geistiger und wirtschaftlicher Ver¬ 
einsamung, den Feindesrache um Deutschland geschmiedet hat, kann nur 
durch den Freihandel durchbrochen werden, der uns Brot und Rohstoffe 
ins Land bringt und die örtlichen Märkte öffnet. Genau so, wie wir die 
agrarische Zollmauer überwinden, müssen wir auch die geistige Mauer 
niederlegen, die unsere vielfach verbauerte und verjunkerte Studenten¬ 
schaft um unsere Hochschule legen möchte: es ist unsere Mission, die 
nahöstlichen Nationen an unseren Hochschulen mitarbeiten zu lassen und 
zugleich ihr Hochschulwesen zu achten. Das gegenteilige Treiben ge¬ 
wisser akademischer Kreise ist nicht national, sondern nationsfeindlich. 

ökonomisch-kulturelle Arbeit ohne politischen und militärischen 
Ehrgeiz — das wäre also die politische Idee, die wir aus den Be¬ 
ziehungen zum nahen Osten ableiten. Mögen andere nachprüfen, ob 
sie im Verhältnis Deutschlands zum Westen und zum ferneren Osten 
standhält 

VI 

Ich weiß, es wird schwer halten, der deutschen Intelligenz bei¬ 
zubringen, daß sie von der militärisch-politischen Idee für absehbare Zu¬ 
kunft Abschied zu nehmen hat Aber ich erwarte, daß in nicht allzu 



244 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs 

ferner Zeit die Welt selbst zu diesem Entschlüsse wird kommen müssen. 
Die Bestimmung des Deutschtums als eine ökonomiseh-kulturelle 
Idee besitzt zunächst nichts Hinreißendes, aber sie ist in erster Linie 
geeignet, dem Wiederaufbau unserer Nation zu dienen. Wenn wir uns 
ganz mit ihr erfüllt haben, so werden Österreicher wie Reichsdeutsche 
auch in der Anschlußfrage etwas ruhiger denken. Wie schmerzlich es 
ist, daß uns auf einige Zeit der politische Anschluß versagt ist, so 
wird uns der Verzicht doch wieder erträglicher gemacht durch die 
Erkenntnis, daß wir in der nächsten Zukunft eben nicht militär-poli¬ 
tische Aufgaben haben, sondern ökonomisch-kulturelle, und zur Not 
können wir diese einige Zeitlang leisten, trotz politischer Grenzen, 
wenn wir uns nur über sie hinweg verständigen. 

So müssen wir denn damit rechnen, daß Österreich unter eigener 
Verantwortung ein Stück der gesamtnationalen Aufgabe zu übernehmen 
und zu erfüllen haben wird. Welches Stück Arbeit und Verantwortung 
käme nun in diesem Rahmen den Südostdeutschen zu! 

Ich möchte diese unsere Rolle durch einen Vergleich anschaulich 
machen. Das vormals kriegerische Schwedenvolk hat von seiner 
skandinavischen Heimat aus alle Ostseeländer erobert, hat seine Armeen 
bis ins Herz Rußlands vorgeschickt und einen seiner Könige auf den 
Thron von Warschau gesetzt. Alle diese militärischen Eroberungen 
sind verloren gegangen, selbst Finnland, das von einem Drittel Schweden 
besiedelt ist. Auch das war eine nationale Katastrophe, auch dort war 
ein ungeheuerer Aufwand von Energie und Blut eines Volkes schmäh¬ 
lich vertan, und am Ende war Schweden ein kleiner Staat, der politisch 
neben dem östlichen und dem südöstlichen Nachbarn beinahe ver¬ 
schwand. Aber diese militärisch-politische Katastrophe hat die wirt¬ 
schaftliche und kulturelle Sphäre Schwedens nicht sehr beeinträchtigen 
können, und überall in den Ostseeprovinzen, in Petersburg und in 
Moskau und bis zum Kaukasus hat sich der schwedische Einfluß geltend 
gemacht. Ähnlich, aber nur in viel größerem Maßstabe wird Öster¬ 
reich als Deutschlands Vorposten seinen Einfluß in Südosteuropa 
behalten — allerdings unter der einen Voraussetzung, daß es ab¬ 
lehnt, politisch Einfluß zu üben. Ich denke dabei am allergeringsten 
an österreichisches Kapital, denn dieses österreichische Kapital, sofern 
man eben alpenländisches darunter versteht, ist zum großen Teil durch 
den Kronensturz und andere Umständen zugrunde gegangen oder in 
die Tschechoslowakei übersiedelt. Ich denke vielmehr an die Menschen, 
ihre erworbenen Fähigkeiten und ihre unzerstörten Beziehungen. Der 



und unsere östlichen Nachbarvölker 245 

österreichische Unternehmer wird auch, wenn er sein Kapital zum 
Teil eingebüßt hat, bei Jugoslaven, Rumänen, Magyaren und Polen 
noch immer bestehen können, ebenso wird der Techniker und der 
Arzt, der Landwirt und der Kaufmann, der Bank- und Versicherungs- 
Fachmann seinen Platz im Wettbewerb sehr wohl behaupten, denn 
gerade er und nur er bringt die Kenntnisse der Märkte aller fünf 
Nationalstaaten mit und nur er verfügt über jene Sprache, die als 
Vermittlungssprache zwischen den fünf Nationalstaaren garnicht 
ausgeschlossen werden kann; dasselbe gilt in bezug auf die qualifizierten 
Arbeiter. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in ein bis zwei Jahrzehnten 
alle Nationalstaaten qualifizierte Arbeiter aller Branchen ausgebildet 
haben, ebenso sicher ist, daß nicht alle sie heute besitzen und sie 
von nirgend sonst woher beziehen können. In diesem Punkt ist 
England und Frankreich auf jenem Boden nicht konkurrenzfähig. 
England sendet seine Leute in die Kolonien, und Frankreich hat 
keine Leute zu vergeben. Die Mission, die uns Südostdeutschen ob¬ 
liegt, ist daher nicht die imperialistische Mission einer hochkapitali¬ 
stischen Nation, sondern die Mission eines Volkes von qualifizierten 
geistigen und manuellen Arbeitern. Eingeweihte versichern heute 
schon, daß Rumänen und Jugoslaven ihr Eisenbahnwesen ohne unsere 
Arbeiter schwer in Gang bringen können. Die Tschechen, welche 
mit uns erfolgreich in Wettbewerb treten könnten, haben mit sich 
selbst zu tun und sind zu teuer. Dazu kommt noch eine Gabe, von 
der der ganze Westen nichts weiß und die er uns vielleicht bestreitet. 
Durch lügnerische Ausstreuungen der feindlichen Presse sind wir als 
intolerant in Verruf gekommen. In keiner Sache ist uns so sehr 
Unrecht getan worden. Umgekehrt. Alle aufsteigenden Nationen 
haben auch untereinander ein schwer erträgliches Maß nationalen 
Hochmutes und nationalen Sondertums, wir Südostdeutsche aber ein 
überaus großes Maß von Toleranz und Verständnis für die anderen. 
Hierin bildet nur unsere sogenannte Intelligenz, das ist die Schicht 
der Amtsanwärter, eine Ausnahme, während die wahre Intelligenz, das 
ist der Gelehrte, der wirklich tüchtige Arzt, Ingenieur und Kaufmann, 
doch so sehr allgemein menschlich denkt, daß er sich an nationale 
Eigenheit nicht stößt. Zugegeben aber muß werden, daß in und 
nach dem Krieg eine engherzige nationalistische intransigente Orien¬ 
tierung Platz zu greifen begonnen hat, eine Orientierung, die im¬ 
stande wäre, uns Österreicher und insbesondere Wien zugrunde zu 
richten. Aber es wird nicht allzulange dauern, und diese Richtung, 



24 6 Karl Renner, Die deutsche Aufgabe Österreichs usw. 


dieser zeitweilige Reflex der tschechischen Geistigkeit auf uns, wird 
wieder zurücktreten. Und so werden wir durch das Mittel unserer 
Hochschulen, unserer Akademien, aber vor allem unserer Gewerbe- 
und Fortbildungsschulen, durch unsere Werkstätten und unsere Er¬ 
holungsstätten sehr bald der Mittler zwischen den anderen werden. 
Aber gerade wegen dieser unserer Austauschfunktion wird unser Stamm 
nicht der produktivste der deutschen Stämme sein; es liegt in unserer Lage, 
daß wir vermitteln und zwar vermitteln zwischen der großen deutschen 
Nation auf der einen und dem europäischen Südosten auf der anderen 
Seite. Wir würden also zum Beispiel unsere Hochschulen und unsere 
Fabriken allein nicht auf der überlieferten Hohe halten können, wir 
müssen sie zum größeren Teil von Deutschland aus besetzen, aber 
wir werden berufen sein, das Übernommene weiter zu tragen und 
von weitem her Neues zu bringen. Und so können wir unsere 
Zukunft nur in doppelter Beziehung denken: wir sind ein Teil des 
Reiches, aber wir sind zugleich des Reiches südöstliches Tor. 

Über ein halbes Jahrhundert lang waren wir vom Reich getrennt 
und sind nun auf dem Heimwege. Trotz all der Einbußen, die wir 
erlitten haben, brauchen wir uns nicht zu schämen, denn wir kommen 
nicht als Bettler. Freilich dieses Staatswesen Österreich, auf das 
wir Südostdeutsche künstlich reduziert worden sind, diese deutschen 
Ostalpenländer, die man gezwungen hat, den Namen eines Fürsten¬ 
geschlechts und eines Reichs zu übernehmen, die nicht mehr sind, 
sind als Staat ein unhaltbares Gebilde. Mit dem Staat Österreich 
wird das Reich einmal eine Last und ein Passivum übernehmen. Da¬ 
gegen kann man heute nicht bloß Voraussagen, sondern beinahe schon 
feststellen, daß zwei Dinge unzerstört und aktiv sind: unsere Produktion 
und unsere Volkskraft. Das staatliche Passivum wird vom Reich leicht 
zu übernehmen und zu tragen sein, das Aktivum an Volk und Wirt¬ 
schaft aber ist für das Reich ein Gewinn. Und alles in allem, in den 
großen zeitlichen Zusammenhängen der Jahrhunderte und in dem räum¬ 
lichen Zusammenhang ganz Europas gerückt, finden wir unsere Geschichte 
wieder und erkennen unsere Zukunft! Wir haben eine Vergangenheit 
und haben keinen Grund, als Volk und als Stamm sie zu verleugnen, wir 
haben eine Zukunft, in der wir vor allem unser Volkstum nicht zu ver¬ 
leugnen brauchen. Es tut nicht not, daß wir wie ein todesstarrer Körper 
willenlos auf den Wellen treiben, es scheint nur so, als ob wir unsere 
Seele verloren hätten, wir haben unsere Seele wieder gefunden, damit 
den Glauben an uns und so auch die Kraft zu schaffender Arbeit. 



AUFZEICHNUNGEN AUS PALÄSTINA 

von 

ARTHUR HOLITSCHER* 


Schon so viel Jahr 
trag ich sein Zorn, 
und meine Haar 
schon weiß gewom. 

Ich muß noch wandern 
von eim Ort zum andern, 
cham bängt sich mir fort! 
Nach Jeruschalajim, nach Jeruschalajim, 
dem teuren, heiligen Ort. 

Meinem lieben Freunde Alfons Herzberger Aus „Chazot“ von Beirach Schafir, 

einem armen jüdischen Landstreicher. 

B ergabhang, riesiger, gelber, zerklüfteter Felsenrücken am Westafer 
des Genezarethsees — hier, sagt die Legende: hier ist der Ort 
der Bergpredigt. 

Unser Automobil fahrt am Fuße des Berges die Straße entlang, 
holperig über spitze Steine am Ufer des Sees, Kapemaum zu. Die 
Straße ist neu. Schotterhaufen. Auf ihnen sitzen rittlings junge 
Männer, klopfen Steine. Junge Mädchen, gebückt, mit Spaten in den 
Händen, zerschlagen die hervorstehenden, ebnen die Steine auf der 
Straße. 

Im Vorüberfliegen reißen wir die Mützen von unseren Köpfen: 
„Schalom!“ Die Jungen, die Mädchen winken uns noch, erwidern 
den Gruß, den Friedensgruß — es sind die Unsrigen! 

Einen Blick noch zurück auf den Berg der Bergpredigt — die Augen 
bleiben auf den hellen, kleiner werdenden Gestalten haften, die Steine 
hacken, am Fuße des riesigen kahlen Abhangs. 

Die Legende — 

Und da liegt schon, an das Wasser geschmiegt, von den Wellen 
bespült, Magdala: zehn elende Araberhütten. Weiter vor uns aber, 
in tiefem Grün der Bananenhain der jüdischen Kolonie Migdal. 
Galiläa. 

Galill! 


* Aus Arthur Holitschers Buch „Reise durch das Jüdische Palästina“, 
das in Kürze im Verlage S. Fischer, Berlin erscheint. 




148 Arthur Holitscker, Aufzeichnungen aus Palästina 


Und auf der Chaussee, die von Tibcrias aufsteigt gen Nazareth, 
hacken sie Steine, die Unsern. — Oben auf den Hügeln, engelweiß 
zwischen schwarzen Zypressen, hebt sich das Franziskanerkloster zum 
Himmel. Die Gabrielskirche der Griechen. Kloster, Klöster. Zarter 
Gesang aus den Türmen der Beschaulichkeit. Unten aber, im weißen 
Staub, im brennenden Sonnenlicht: klopf, klopf. Junge jüdische 
Knaben, jüdische Mädchen, von weit hergekommene, bauen die Straßen 
des Landes, die zu den Klöstern der friedlichen Gottesruhe führen. 
An manchen Orten, an vielen Orten, in allen Teilen Palästinas, in 
Samaria, Judäa, zwischen Dan und Bersheba, im Norden und Süden 
bauen sie im Sonnenbrand die Straßen ihres Landes Israel. 

Woher seid ihr gekommen? Was sucht ihr hier? Steine zu klopfen kamt 
ihr über das Meer? Aus den Städten Europas, von den Straßen, glänzend 
im elektrischen Licht, aus warmen Elternhäusern, von Universitäten, 
Lehrerinnenschulen, hieher auf die harten Wegedes wilden Landes? Steine 
zu klopfen acht Stunden und mehr im Sonnenbrand? Wer seid ihr? 

Wir sind diese? 

Blicke fliegen uns nach, freundliche Blicke, lächelndfrohe auch zu¬ 
weilen — 

Schalom! 

Diese Frage und immer wieder diese: was hat sie hergetrieben? 
Tausend Antworten gibt Palästina auf diese Frage. 

Mit vielen jungen Einwanderern, alten Arbeitern, langjährigen 
Kolonisten habe ich über diese Frage gesprochen, mit manchem ein¬ 
gehend, unter vier Augen. Keiner hat mir dieselbe Antwort auf 
diese Frage gegeben. Denn eine schematische Antwort auf Fragen 
des innersten Gewissens gibt nur ein Mensch, der ohne Gefühlsleben 
ist oder ohne eigene Gedanken, oder einer, der Angst hat. Diese 
jungen und älteren Menschen aber, die ein unbewußtes Drängen nach 
dem alten Land der Väter, nach Zion getrieben hat und treibt, es 
sind keine Dutzendmenschen, sondern Menschen mit hochentwickeltem, 
sehr wachem und an großen Dingen geschultem Gewissen, und sie 
geben sich schonungslos und wahrhaftig Rechenschaft darüber, was 
sie in Palästina erwartet und was sie dort zu leisten haben werden. 

Nur über die Natur, das Wesen, das Geheimnis ihrer Sehnsucht 
nach Zion, nach dem Lande Israel vermögen sie sich keine klare 
Rechenschaft zu geben. 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 249 

Was ist Zionismus? 

Ist er eine religiöse Bewegung? 

Ist er die nationale Bewegung eines zerstreuten Volkes, das zur 
Einheit strebt und gelangen will auf diesem ihm vor zweitausend 
Jahren entwendeten Heimatboden? 

Ist er die Klassenbewegung der arbeitenden Juden, zum Lande, zur 
Scholle, zur fruchtbaren Erde zurück? 

Ist er der metaphysische Zug eines Volkes nach einem Punkt des 
Erdballs, an dem sein Verhängnis sich erfüllen soll? 

Oder — ist es Flucht vor Pogromen? Beleidigungen? Flucht vor der Not¬ 
wendigkeit des Klassenkampfes mit all seinem Schauerlichen in der ver¬ 
düsterten Exil-Heimat, die jetzt manchem vielleicht in hundertfachem 
Maße Exil, Galuth geworden ist? Ist es Abenteuerlust, die junge Menschen 
in Scharen nach dem jahrtausendealten steinigen Lande vorwärtsstößt 
oder zurückkehren heißt? Ist es Überdruß an der niedergehenden, all¬ 
zulangsam verendenden Zivilisation dieses todgeweihten Abendlandes? 

„Nationalismus! Wir sind eine Nation, Uns treibt das nationale 
Bewußtsein des jüdischen Volkes, der jüdischen Kasse vorwärts.“ Ich 
erwiderte darauf: euer Geschichtsbuch ist das Alte Testament. Die 
Thora-Rolle enthält die Geschichte eures Volkes. Welche Nation 
hat noch eine Chronik ihrer Geschichte, die an heiligen Feiertagen 
in Gotteshäusern verkündet wird? Euer Trieb nach Palästina, das ihr 
Erez Israel nennt, ist ein religiöser, kein nationaler. 

Darauf antworteten mir nicht wenige: wir sind Atheisten. 

Ich wäre in solchen Diskussionen sicherlich rascher vorwärts ge¬ 
kommen, hätte ich statt des tausendfach gefälschten und entwürdigten, 
des vage und trügerisch gewordenen Wortes: Religion, das Wort: 
Messianismus gebraucht. 

Dort am Fuße des Ölberges, gegenüber dem Harams-Wall, der 
weiten, wunderhellen Stätte, wo einst der alte Tempel stand — eine 
versteckte Quadermauer ist von ihm geblieben — reihen sich, den 
Berg hinauf, ungezählte jüdische Gräber. Dort, zu Füßen Jerusalems, 
im Tale Josaphat, am aufsteigenden Hang des Ölbergs, soll einst die 
Posaune des Gerichts und der Auferstehung ertönen. Sie wird die 
Juden dorten nicht erwecken, die Abertausende sterbenswilliger Juden, 
die von weit her gewandert sind, allein — um der Seligkeit des 
Grabes teilhaftig zu werden. 

Etwas vom Irrsinn der Kreuzfahrer muß in den jüdischen Siedlern, 



250 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

Kolonisten, Arbeiter-Pionieren: den Chaluzim dieser neuen Zeit leben¬ 
dig sein. Der Wunsch, das Land der Väter wirtschaftlich neu zu 
erobern, wäre des ungeheuren Triebs nach Palästina nicht würdig; 
nur unbefriedigend könnte er den unaufhörlich anschwellenden Zug 
der heutigen Juden nach Zion, nach Erez Israel erklären. 

Ist eine Nation zerstört, wenn man ihr die Heimat nimmt? 

Die Juden, Jahrtausende lang im Exil, geben die Antwort: Nein. 

Wenn man sie mit Schwert und Feuer ausrottet? Neun Zehntel 
der Armenier haben die Türken von dem Erdboden weggefegt, zer¬ 
treten, vernichtet Aber sie sind heute da. Man spürt das Walten 
ihres ungebrochenen nationalen Willens sehr deutlich an der Eigenart 
ihrer Politik, die sich im Orient immer weiter behauptet 

Wenn man sie aushungert, politisch, wirtschaftlich, kulturell zugrunde 
richtet? Nicht eine Eigenart des Österreichers ist in seiner Katastrophe 
zuschanden worden. 

Ob ein Volk in seinem eignen Land verelendet oder verstreut in 
allen Ländern der Fremde, des „Exils“ dahinlebt — sein Unzerstörbares 
erleidet keinen Abbruch. Es bleibt Es sublimiert sich in einzelnen 
Individuen. Man mag ihm das Recht, sich als Nation zu betrachten, 
absprechen, man mag ihm den Boden unter den Füßen wegziehen — 
all das ändert an seinem innersten Bestand nicht das geringste. 

Der Nationalismus ist in den Völkern sehr stark. Im Orient zu¬ 
mal, wo er in Formen religiöser Tradition auftritt. Wir, die wir an 
den notwendigen Kampf und an die Auflösung der Klassen glauben; 
wir, die wir an die Verbrüderung der Menschen, an die Menschheit 
glauben: wir müssen uns diesen starken Feind heute klarer als je 
vergegenwärtigen. Wir müssen erkennen, gegen welche zwingende 
atavistische Kraft im Menschengeschlechte wir anrennen. 

Um sich als Nation fehlen und behaupten zu können, brauchten 
die Juden nicht wie Antäus die Berührung mit der Heimaterde. Sie 
sind als Einheit auch in der Diaspora mächtig genug. 

Sie sind, in der Zerstreuung über den Erdball, das Salz der Erde 
geblieben. Die Menschheit ist schmackhafter durch sie. Sauerteig 
der Entwicklung sind sie. Die Geschichte der großen, von Rußland 
ausgehenden Bewegung zeugt von ihrer Gegenwart, von der Sendung 
ihrer schwellenden Kraft. 

Warum bleiben die Ostjuden, voll dieses messianischen Höhentriebs 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 151 

zur Zukunft, nicht daheim, im Osten, der ihnen kaum mehr Exil, 
kein Galuth mehr heißen kann? Warum arbeiten sie nicht an dem 
großen Werk der Befreiung mit, das, von Rußland ausgehend, in 
langsamem Kampf, heroischer Anspannung die Welt umzuformen 
unternommen hat ? Warum drängen sie nach einem Winkel Asiens hin, 
wo ihre Geschichte vor zweitausend Jahren aufhörte — statt dort zu 
bleiben, wo ihre Geschichte, die Geschichte der Gesamtmenschheit, 
heute anhebt? 

Flüchteten sie bloß vor der Notwendigkeit, dem düsteren Muß des 
Kampfes, in beschauliche Abseitigkeit, flüchteten sie vor der Zeit — 
ich würde dieses Buch nicht schreiben. Ich würde die Deserteure, 
Verräter schmähen und verfluchen. 

Aber die jungen Menschen, die Palästina jetzt aufnimmt, die Stärksten, 
Gläubigsten unter ihnen bauen, tastend, irrend, von Fehlschlägen nicht 
entmutigt im Urväterland an der Neuen Welt. So wie in ihrer Exil¬ 
heimat im Osten Europas, auf Irrwegen, unter Fehlschlägen, in blutiger, 
langsamer Umwandlung sich jetzt die neue Heimat, das Neue Zion 
der Menschheit ans Licht ringt. 

Administration, Kolonisationswerk und Aufbau, Formation der 
Parteien, Theorie der Arbeit und Organisation der Arbeitenden — alles 
befindet sich im jüdischen Palästina heute noch im Zustand des Ex¬ 
perimentes. Das Problem des Nationalismus desgleichen. Unendliche 
Ströme Tinte werden Uber dieses Problem in der Diaspora ausgegossen, 
trotzdem ist es in Palästina bei weitem noch nicht zur Klarheit 
gediehn. 

Die kleine jüdische Minderheit Palästinas, diese menschliche Auslese 
des Besten im Judentum dieser Zeit, hängt mit der großen Judenheit 
der Diaspora eng zusammen. Die Theoretiker des Zionismus meinen: 
die große Zahl der über den Erdball verstreuten Juden solle eben das 
Recht der verhältnismäßig geringen Zahl der Juden, die Palästina auf¬ 
nimmt, auf ihre Heimat rechtfertigen. Es verhält sich genau umge¬ 
kehrt Die jungen Arbeiter-Pioniere rechtfertigen die Judenschaft der 
Welt durch das Opfer, das sie ihrer chimärischen Heimat in der Stein¬ 
wüste Urväterlandes darbringen. 

Hs ist nicht das Volk der Bedrückten, heimatlos und verzagend über 
den Erdball Irrenden, das jetzt im Zwischendeck vor den Riffen Jaffas 
•»kommt Es ist eine selbstherrliche, selbstbewußte, starke und zu- 
kunftgläubige Schar, die von dem Freibrief, der Deklaration des 



2$z Arthur Holitscher , Aufzeichnungen aus Palästina 

englischen Imperialismus ohne große Dankesbezeugung Gebrauch 
macht. 

Die Balfour-Deklaration vom z. November 1917, die den Juden 
die nationale Heimat gewährleistet, bietet wohl Anlaß zur Heimkehr 
der Juden nach dem alten Land der Verheißung. Aber was sich in 
diesem alten Lande abspielt, die Besitzergreifung Palästinas durch die 
Juden, geschieht durch einen höheren Willen, aus höherem Gesichts¬ 
punkt, als ihn der Begriff Heimat umzirkeln kann. 

Fünfzehn Millionen Juden sind heute über den Erdball verstreut. 
In Amerika leben von diesen fünfzehn drei; in Sowjetrußland unge¬ 
fähr fünfviertel Millionen. Acht Millionen sind Ostjuden — Polen, 
Ukrainer, Rumänen, Letten, usw. Von diesen acht ist die Hälfte, 
wie es erwiesen ist, außerstande, sich selbst ausreichend zu ernähren. 
Sie lebt, wenn nicht von Almosen oder im nackten Entsetzen des 
tiefsten Elends, von unproduktiven Berufen. Diese Ostjuden sind es, 
die nach Palästina die kräftigsten, arbeitsfrohesten, gläubigsten Pioniere 
entsenden. Der Chaluz ist Ostjude. 

Dieses Land Palästina, dieser schmale, bergige Landstreifen zwischen 
dem Mittelländischen Meer und dem Jordan, El Arisch und Acco — 
drei Fahrstunden breit, elf Stunden weit, dieser schmale Landstreifen 
Palästina, Z7000 Quadratkilometer, von 700000 Menschen bewohnt, 
es ist ein Jahrtausende lang, von den Türken, von Tamerlan syste¬ 
matisch verwüstetes, ausgerodetes, brachgelegtes, entvölkertes Land; 
heute trägt es nur Steine; Felsblock um Felsblock muß der Ackerbauer 
mit seinen Händen aus dem Erdreich heben, und erntet doch Jahre 
lang nur Steine statt Brot; dieses sumpf- und fieberdurchzogene Land, 
wüst, gefährlich und verlassen, im Sommer von berauschenden Blumen 
überwuchert, die doch nur Unkraut sind und eine Sorge mehr für 
den Arbeiter auf dem Felde und in den Bergen, im Winter von 
Regengüssen heimgesucht, die die ausgetrockneten Flußbetten jäh mit 
reißenden Wassern überschwemmen; dieses wilde, steinige, verlassene 
Land um Jerusalem, einst Saron, Kanaan, das Verheißene Land der 
Wüstenwanderer; dieses harte Land, das, fußbreit um fußbreit schwere 
Arbeit, strotzende Gesundheit, unbegrenzten Opfermut zerreibt, auf- 
zehrt, verschlingt, es ist heute die Heimat der Erwählten aus der 
Judenschaft, die es langsam, langsam wieder zum Blühen erwecken, es ist 
Zuversicht, Kraft der Gegenwart und Zukunft des verstreuten Volkes. 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 253 

Wohlfahrts-Institutionen, Hilfsvereine, Alliancen, einzelne Fromme 
und Reiche, wie der Pariser Rothschild, haben es vor siebzig, vor 
vierzig Jahren den ersten Siedlern ermöglicht, sich in Palästina an¬ 
sässig zu machen. Diese frühen Kolonisten waren zum größten Teil 
Studenten, junge, der Verfolgung und Mißhandlung müde, unter den 
Qualen der Exilheimat zusammenbrechende Kleinbürger. 

Theodor Herzl, der Verkünder und Vater des neuen Zionismus, 
des zionistischen Gedankens, wie er heute in der Welt lebendig ist, 
starb 1904. Er war ungarischer Jude aus Budapest und sein Zionis¬ 
mus datiert von Paris her, wo er liebenswürdige Plaudereien für ein 
österreichisches Bürgerblatt verfasste. 

Herzls Zionismus schreibt sich nicht vom Jahre 1883 her, in dem der 
Ritualmordprozess von Tisza-Eszlar sich in seiner Heimat abspielte, 
der Prozess, der hauptsächlich das elende proletarische Judentum 
Ungarns schlug,— sondern von 1894, vom Dreyfus-Prozess, von der 
Welle des Antisemitismus, die damals die hohe jüdische Bourgeosie in 
einem ihrer vornehmsten Angehörigen bedrohte. Der Zionismus Herzls 
ist Angelegenheit der jüdischen Bourgeosie gewesen. 

Heute steuert die gesammte jüdische Diaspora, vielmehr ein nam¬ 
hafter Bruchteil derselben, dazu bei, daß der Drang der Zionssehn¬ 
süchtigen sich auf dem Boden der Urväter erfülle. Diese aber sind die 
Ärmsten, Elendsten aus dem europäischen Osten. 

Der Zionismus des heutigen Palästina ist eine Angelegenheit des 
jüdischen Proletariers — aber, wie ich es erklären werde, eines 
Proletariats sonderlicher Art. — 

Ich fuhr von Triest auf einem der schönen Eildampfer des Triester 
Lloyd am Tage ab, an dem das Fest „des unbekannten Soldaten“ 
gefeiert wurde. Bekränzte Eisenbahnzüge rollten an diesem Tage 
durch ganz Italien, brachten Särge nach Rom, Aquileja. In den 
Särgen lagen zerstückelte Gliedmaßen, klappernde Gebeine, die einst 
Menschen gehört hatten. Leichen, unbekannte, von niemand auf 
der Welt zurückgefordert und beweint. An den Stationen, durch 
die diese tragischen Züge fuhren, kniete die Bevölkerung vor den 
Schienen. Witwen, Waisen schluchzten. Fahnen flatterten im Wind¬ 
hauch des vorbeirollenden Zuges. Die ungeheure, pathetische Lüge 
von der Dankbarkeit der Welt jenen gegenüber, die sich für 
eine ephemäre Gesamtheit opfern, taumelte geschmückt, beflaggt, 
betränt durch das Land. Aus dieser Feier, die den Molo des. 



154 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

Triester Lloyd überflutete, fuhr die „Vienna“ hinaus, durch die Bai, 
nach Süden. 

Unten im Zwischendeck lehnte eine kleine Gruppe junger Menschen 
an der Reling. Es waren etwa zwanzig und sie sangen, als das 
S chiff sich vom Damm fortschob. Sie sangen die „Hatikwah“, den 
Hoffnungsgesang, die Nationalhymne der Juden. Ich ging dann hinunter 
und gewann Freunde unter ihnen. 

Ein junger Bursche wies mir gleich seine Papiere. Neunzehn Jahre 
alt, Schüler des Rigaer Konservatoriums; er hatte schon in Konzerten 
gespielt, ein Zeitungsblatt enthielt seine Photographie. Sein Onkel, 
Besitzer eines Kleidergeschaltes in Chicago, das wöchentlich vierhundert 
Dollar Gewinn abwarf, eines Hauses und Bankdepots, in dem unter 
anderem Liberty-Bonds für fünfundzwanzigtausend Dollar lagen, war 
bei der lettischen Regierung um Ausreise-Erlaubnis für den Jungen 
nach Amerika eingekommen. (All diese Angaben über Vermögens¬ 
verhältnisse fordert die amerikanische Einwanderungsbehörde; das 
Familienmitglied, das man herüber kommen läßt, soll der öffentlichen 
Wohlfahrtspflege nicht zur Last fallen.) „Ich habe mir meinen Pass 
geholt“ sagte mir der Junge, „aber ich fahre nach Erez Israel, nicht 
nach Amerika.“ „Sie werden in keinem Haus mit Lift wohnen, 
sondern in einem Zelt. Sie werden nicht in schönen amerikanischen 
Kleidern herumgehn, sondern die Erde umgraben. Sie werden vielleicht 
krank und müde werden von Fieber und unmäßiger Arbeit. Sie 
werden sich sehr nach Chicago sehnen 1 “ sagte ich dem Jungen. „Sie 
werden kaum viel Zeit zum Geigenspiel finden; ihre Hände werden 
rauh und ungelenk werden, wenn sie erst ein paar Monate lang den 
Spaten führen oder die Pferde lenken müssen!“ „Was soll ich in 
Amerika? Ich gehe nach Erez Israel.“ Es war ein Chaluz. 

Schon vor den Klippen Jaffas, wo in der Feme die Berge Judäas 
vor dem verschleierten Blick des Einwanderers auftauchen — weit vor 
der Küste des Verheißenen Landes, beginnt für die im Zwischendeck 
das bittre Zion. 

Es war, dort unten in unserem Schiff, nur eine kleine Gruppe, 
etwa zwanzig junge Männer und Frauen. Ich hörte dann, es seien 
in Triest von den Leuten, die mit der „Vienna“ abfahren sollten, 
etwa achtzig zurückgehalten werden. „Quarantäne.“ Dieser Begriff, 
diese Maßregel dient einer Methode, einer Politik, die ihren Ursprung 
in ganz anderen Gebieten als der Hygiene hat! Ein großes Schiff; 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 255 

die „Camiolia“, war vom Lloyd vor Monaten bereits für den Massen¬ 
transport palästinischer Einwanderer ausgebaut, d. h. umgebaut wor¬ 
den — ein Wink der englischen Regierung unterbrach (nach dem 
Maipogrom in Jaffa) diese Vorbereitungen. Die Gefahr der Ein¬ 
schleppung von Seuchen durch ostjUdische Chaluzim ist ein Vorwand. 
In Wirklichkeit will die englische Regierung die Einwanderung großer 
Massen von Juden nach Palästina unterbinden. Es sollen auch nicht 
zu viele aus dem bolschewisierten Osten nach Palästina kommen. Dar¬ 
um schert man den Zwischendeckem das Haar. Hält sie in den 
Häfen zurück. Befördert sie in vergitterten Wagen von einer Desin¬ 
fektionsbaracke in die andre. Desinfiziert ihre Habseligkeiten zuweilen 
so gründlich, daß diese sich in ihre chemischen Bestandteile auflösen. 
Läßt wohl auch den Kranken im Spital von Alexandrien oder Port 
Said zum Skelett abmagem, von levandnischen Hafenhalunken wie 
Sudanneger chikanieren. — Die Behörden kennen tausend Mittel, die 
Einwanderung zu zügeln, den Einwanderer abzuschrecken. 

Die zionistische Exekutive, die Kommission der Zionisten im Ausland 
wie in Palästina kennt diese Methoden gar wohl. Kämpft wohl auch 
gegen sie an. 

Indes: ich weiß nicht, ob sie ihr gar so unwillkommen sind. 

Ungerufen, ungemeldet strömen durch Häfen Italiens, der Levante, 
des Schwarzen Meeres Einwanderer nach Palästina. Die meisten quälen, 
hausieren sich schon bis zum nächsten Ziele, der Hafenstadt, wo ihr 
Schiff wartet, durch, kommen mittellos in Jaffa an. Nur für einen 
geringen Bruchteil haben wohlhabende Verwandte das Überfährtsgeld 
bezahlt. Schon die Ausschiffungssteuer von wenigen Piastern muß in 
Jaffa, in Haifia von der zionistischen Kommission för den neu Ein¬ 
getroffenen an die Bootsleute entrichtet werden. Der Chaluz, die 
Cbaluza findet in den leeren Taschen keinen Piaster mehr. Eine 
Kopfsteuer von einem Pfund ägyptischer Währung wird von der eng¬ 
lischen Regierung für jeden Einwanderer erhoben. Diese Verfügung 
(sie wurde ebenfalls nach dem Maipogrom erlassen) dient angeblich 
zur Beruhigung der einheimischen arabischen Bevölkerung. Die Juden 
sollen selber die Kosten ihres Unterhalts bestreiten, der arabische 
Steuerzahler wird für den Eindringling nicht in Kontribution gesetzt 
werden 1 

Die zionistische Kommission bedrückt schwere Sorge. Sie lebt von 
der Hand in den Mund. Lauert auf die Post aus Amerika. Auf 



2 <y6 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 


den Scheck. Das Geld für die Ausbootung, für die Landungsgebfihr, 
für jedes Zelt, in dem der Einwanderer provisorisch untergebracht 
ist, für jeden Bissen, den er ißt, für jeden Schuh, jeden Spaten, jeden 
Nagel im Haus, jeden Fußbreit Landes, das gekauft, jeden Fußbreit, 
der kolonisiert werden soll, für alles, alles, alles — muß das Geld 
aus den Ländern der gültigen Valuta kommen, das heißt also: aus 
Amerika. Der Osten Europas stellt nur die Menschen bei. 

Woher die Kopfsteuer nehmen für die Zwischendecker im Schiff, 
das am Horizont auftaucht? Woher die täglichen zwölf Piaster für 
Nahrung und Unterkunft der Ankömmlinge? Wenn das Geld aus 
Amerika ausbleibt, rennt die Kommission mit vor Angst gesträubtem 
Haar durch die Bureaus. Arbeitslosigkeit droht. Im November langten 
zwölfhundert Neue in Jaffa und Haifia an. 

Am liebsten möchte die Kommission — sie gesteht es nicht ein, aber 
es ist kein Geheimnis, es sickert durch — am liebsten möchte die 
Kommission der Zionisten zusammen mit der englischen Regierung 
und mit den wilden arabischen Nationalisten: „Stop! Stop Immi¬ 
gration!!" rufen, eine Hand auf heben nach allen Hafenplätzen der 
Erde: „Kommt nicht herüber! Wir haben kein Geld für euch, da¬ 
her auch keine Arbeit. Bleibt — aus Idealismus! — wo ihr seid. Wir 
wissen nicht, was wir mit euch beginnen sollen. Wartet ab. Sonst 
kommt die Katastrophe. Wir sehen sie nahen. Manche meinen, sie 
sei schon über uns." Und mit erhobener Stimme: „Wollt ihr, daß 
wir schließlich den Industrie-Kapitalismus hereinlassen, um Arbeit für 
euch zu finden? wollt ihr, die ihr im Galuth Proletarier gewesen 
seid, Ausgebeutete im Heiligen Lande werden? Stop!" 

Aber die Einwanderung läßt sich nicht stopen. Durch tausend 
Kanäle, tausend Filter von Gegenmaßnahmen, Quarantäne, Krankheit, 
Hunger, Gefahr und Qualen strömen und strömen, wild und begeistert 
die Scharen der jungen Juden, jungen Jüdinnen ins Land Israel hinein. 

Aus Polen wandern nach beglaubigten statistischen Aufzeichnungen 
monatlich dreißigtausend Juden aus. 

Besonders unter den amerikanischen Juden, die ja zum überwiegenden 
Teil aus Osteuropa stammen, wird der Ruf laut: wo bleiben diese 
Dreißigtausend? warum könnt ihr (d. h. die zionistische Organisation) 
nicht fünfzig-, nicht hunderttausend nach Palästina bringen, in 
Palästina unterbringen? 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 157 

Man kann zwischen dem Auswanderungsbedürfnis der jüdischen 
Massen aas den Ländern des Galuth und der Notwendigkeit der Ein¬ 
wanderung jüdischer Massen, der Besetzung Palästinas mit diesen 

Massen gegenwärtig kein richtiges Verhältnis hersteilen. Die jüdische 
Einwanderung in Palästina ist nicht nur Notwendigkeit des Welt- 
Judentums, sondern Notwendigkeit des Landes Palästina selbst Die 

heimische Bevölkerung der Araber sieht diese Notwendigkeit wohl 

ein — sie bringt es ja selber nicht fertig, das verwüstete Land wieder 
aufzubauen, aufzuforsten — auch die englische Regierung hat keine 
Veranlassung, diese Notwendigkeit zu verneinen. Vor allen anderen 
Klagen und Anklagen klingt daher der zionistischen Kommission diese 
ins Ohr: warum versteht ihr es nicht, trotz Behörden, Gegenmaßnahmen, 
dem steigenden Drang derer aus dem Osten Europas nach Zion 

Rechnung zu tragen — wo ja die Notwendigkeit der Einwanderung 
erwiesen und auch von Nichtjuden anerkannt ist? Die Zustände 
Palästinas erteilen die Antwort darauf: Geldnot. In Europa, in 
Amerika aber ist man andrer Meinung: man behauptet, die zionistische 
Organisation kranke an inneren Gebrechen. Sie sei in ihrer jetzigen 
Gestalt' nicht existenzberechtigt. Es werde zu viel Geld für kost¬ 
spielige Amtslokalitäten in den großen Städten des Galuth, viel zu 
viel für die Gehälter der leitenden Persönlichkeiten, für Propaganda¬ 
reisen und ähnliches vertan, darum rinne die Traufe in Palästina, 
unter die sich so viele Hände recken, zu spärlich. Der ganze Apparat 
der zionistischen Organisation müsse auf neuer Grundlage umgeschaffen 
werden, sonst sei der Zionismus in Gefahr und die Katastrophe un¬ 
vermeidlich. 

Die Katastrophe! Man hat der Möglichkeit ihres Eintreffens in 
Palästina zu lang ins Auge geschaut. Man sagt dort: Käme sie doch 
nur! Die Juden der Welt würden sich auf ihre Pflicht besinnen. 
Wir müßten nicht bei der Ankunft jedes Schiffes vor Grauen über 
das Morgen erstarren. Wüßte man doch in der Welt, daß wir seit 
langem mitten im Alb der täglichen Katastrophe leben. 

Die Klippen von Jaffa, sie sind keine Metapher; es sind wirkliche 
Klippen, boshafte, zackige Riffe, die bei rauher See das Landen der 
Schiffe und das Ausbooten der Passagiere unmöglich machen. Dann 
muß das Schiff nach Haiffa weiterfahren; oft aber gelingt es erst in 
Beyrouth den Einwanderer an Land zu setzen. 

In Haiffa sah ich im Haus der Chaluzim einen neu eingetroffenen 

*7 



zj8 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

Transport junger rumänischer und ukrainischer Arbeiter. Das große 
Haus war überfallt. Es gewährte nur dreihundert Aufnahme. Unten 
im Garten, der mit Palmen und Agaven gar herrlich auf die offene 
Bucht bis nach Acco und dem blauen Libanon in der Ferne blickt, 
waren Zelte errichtet, in denen weitere Hundert Platz fänden. Furcht¬ 
barer Regenguß hatte den Boden unter diesen Zelten aufgewühlt, Bett¬ 
zeug, Matratzen, alle Habseligkeiten der Bewohner durchtränkt. Im 
Speisesaal, einer ehemaligen Kapelle saßen die jungen Menschen bei 
Tische. Der erste Gang der Mahlzeit bestand aus Chinin. 

leb ging mit den Herren vom Einwanderungsamt an den Tischen 
vorüber. Welch wunderbarer Menschenschlag! Kräftig, froh, mutig, 
geschwellt vom Atem des aufgehenden Abenteuers: Israelland, der 
Erfüllung des Traumes seit Kindheitstagen, Erwartung der Arbeit, der 
Muskeln und Seele entgegenglühten. 

Glühend auch vom Fieberschauer, den das mörderische Klima über 
den Europäer verhängt. 

Freunde, Genossen, ihr meines Stammes! 

Nicht lange, drei, fünf Wochen lang, steht der Chaluz unter Ob¬ 
hut der zionistischen Kommission. Dann muß er weiter für sich 
sorgen. 

In Jaffa, Haiffä, in Jerusalem registriert zugleich mit dem Ein¬ 
wanderungsamt die Histadrut, kooperative Vereinigung und Arbeits¬ 
nachweis der Arbeiterparteien, die Ankömmlinge, verteilt sie übers 
Land an die Stellen, in die Gewerbe, die Arbeiter verlangen, in die 
landwirtschaftlichen, städtischen, in den Straßenbau. — 

Der Weg, den der Chaluz durchzumachen hat, bis er in die er¬ 
sehnte landwirtschaftliche Stelle vordringt, ist mitunter ein langwieriger 
Schmerzensweg, und nicht jeder legt ihn heil an Körper und Seele 
zurück. 

Der Beginn ist zumeist beim Straßenbau, bei der Entwässerung 
und Trockenlegung von Sümpfen, beim Hausbau, vielen Formen der 
Bauarbeit, die mit einer Gesamtbezeichnung „Schwarzarbeit“, „tschor- 
naja robota“ genannt wird — aus guten Gründen. 

Die schwere Arbeit des Steineklopfens, des Mauerns und Bauens 
im Sonnenbrand, des bis an die Knie im Sumpf-Stehenmüssens ent¬ 
spricht nicht den Wünschen, aber auch nicht den physischen Be¬ 
dingungen der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen. Es sind Not- 



Arthur Hobt scher, Aufzeichnungen aus Palästina i ;p 

scandsarbcifcen — ae fallen, soweit es sich um den Straßenbau handelt, 
nicht de» Säckel der zionistischen Kommission zur Last; die englische 
Regierung teil? sie aus. Man drapiert wohl diese Not mit der Formel: 
alle Arbeiten irr. Lande, die letzte, schwerste, schwärzeste so gut wie 
die hellste, freudigste, müsse von den Unseren geleistet werden. Keine 
dürfe abgelehnt werden. Nur so könne das Land restlos erobert 
werden. Aber .es ist immerhin die bare Not, die auf den. heißen 
Straßen die Jungen und Mädchen ihren Hammer führen Jäßr, (In 
Tei-Awiw sah ich einen Studenten der Chemie, der drei mit Sand- 
sacken beladene Kamele trieb; fröhlich pfiff der Chaluz hinter seinen 
Kamelen drein; es war weiße Arbeit.) 

Die Kwisch (Straße) zehrt an Muskeln und Nerven des Chaluz, 
an dern einzigen Gut, das ihm Übrig bleibt, wenn die Kommission 
ihre schützende Hand von ihm zieht: seinem Idealismus, seiner Liebe 
zum UfVaterland. Er arbeitet schließlich nicht mehr aus Liebe zu 
Erez Israel, sondern um nicht zu hungern oder betteln zu müssen. 

Der Weg zurrt Boden, zur Scholle ist weit, weit. — 

ln mancher dieser Schwarzarbeitergruppen verbrachte ich denk¬ 
würdige Stunden. 

An der Straße Haiffa-Jemma liegt eine, nach ihrem bulgarischen 
Führer benannte, im ganzen Land bekannte Gruppe, ln ihr — etwa 
vierzig junge Männer, drei, vier junge Frauen arbeiten da beisammen, — 
sind viele Nationen Europas, alle Parteien der palästinensischen Arbeiter¬ 
schaft vertreten. Die Gruppe zieht seit Jahren im Lande herum, 
baut einmal in Galiläa, dann irgendwo im Süden Straßen und 
Häuser — die Leute scheinen an dieser Art Arbeit, an der freien 
Ungebundenheit des Umherziehens Gefallen gefunden zu haben. 

So wollten einige, mit denen ich eingehend sprach, von der sonst 
so innig begehrten Seßhaftigkeit auf Grund und Boden nichts wissen. 
Lieber von K wisch zu Kwisch! Sie verdienten an die vierzig Piaster 
täglich, eine große Summe, auch für palästinensische Begriffe. Für Nah¬ 
rung und Unterkunft sowie für sonstige Sporteln mußten sie allerdings 
täglich etwa zö Piaster an die 'Organisation abführen; aber es ließ 
sich leben in der Gruppe. 

Manche hatten bandagierte Hände, andere litten unter der Malaria, 
aber — es war Samstag — man aß gut, hatte sogar den süßen Wein 
Rischon le-Zions auf den Tischen stehn, unterhielt sich und sang, 
ehe man zum Fußballspiel hinunter an den Strand ging. Ich traf 
da auf Genossen, die mir manches Wissenswerte über die Struktur 



• 9 





z 6 o Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

der Arbeit und des Zusammenlebens der Gruppe zu erzählen wußten. 
(Auf meiner ganzen Reise durch Palästina wurde ich durch meine 
vor jährige Reise nach Sowjetrufiland arg beeinträchtigt; ich mufite 
mehr berichten als mir berichtet wurde.) Ende des Jahres sollte 
die Kwischarbeit aufhören, dann hoffte die Gruppe bei dem Häuser¬ 
bau in Tiberias oder Jerusalem Verwendung zu finden. Wenn die 

Kommission bis dahin Geld für diese Bauten haben wird- 

Auch eine andere, nicht minder mutige und frische Gruppe besuchte 
ich, an einem Sabbatvorabend, am anderen Ende Palästinas, in Ber¬ 
sheba. Sie baute dort die Friedhofsmauer um die Gräber englischer 
Soldaten. (Bei Bersheba hat Allenby die entscheidende Schlacht 
gewonnen.) Auch diese jungen Leute schienen mit ihrem Leben ein¬ 
verstanden zu sein und ihre Arbeit zu lieben. Zwar war die Mauer 
bald beendet und man wufite nicht, wohin die nächste Arbeit die 
ganze Gruppe mitsamt ihren Zelten verschlagen werde, ob man bei¬ 
sammen bleiben oder jeder nach einer anderen Richtung gehen werde, 
aber der Vorabend war gekommen, man afi, trank (Tee diesmal), 
rauchte und liefi sich einen Vortrag Aber Sowjetrufiland halten. — 
Einer von den Fröhlichsten safi plötzlich neben mir und sagte: „Können 
Sie uns sagen, was aus uns werden soll? Wir wissen es nicht. 
Werden wir Arbeit bekommen oder wird man uns verhungern lassen?“ 
Drüben sang man. Es klang schön im Zelt beim Friedhof. „Eines 
nur wissen wir, jeder von uns — wir bleiben im Land. Keiner denkt 
daran, zurückzugehn. Mag kommen, was will.“ Es war in Bersheba. — 
In jener anderen Gruppe aber, auf der Straße nach Jemma, setzte 
sich ein junger Deutscher zu mir, während die anderen tranken und 
einen lustigen Chorgesang anstimmten. Er setzte sich zu mir, blickte 
mir in die Augen und sagte: „Wir singen und haben Wein, und 
haben auch Arbeit und leben in den Tag hinein. Aber schauen Sie 
nicht in uns, wie es dort aussieht. Wir sehen nichts vor uns!“ Bald 
darauf war die ganze Kwisch auf den Beinen — denn drunten führ 
der General über ihre unfertige Chaussee — darüber später! 

In einem Sumpf^ bei der Kolonie Chulda in den Bergen Judäas, 
auf dem Weg von Jerusalem nach Jaffa, stieß ich auf junge Ungarn, 
die dort Betonbauten ausftihrten. Es waren vierzehn junge Leute aus 
Budapest, zum Teil Absolventen der bautechnischen Schule, gebildete 
und intelligente Jungen im Alter von zwanzig bis siebenundzwanzig. 
Geschlagen schon von der Schwere ihrer Arbeit; Malaria; bandagierte 
Hände; zerfetzte Kleider, schlammdurchtränkte, undichte Stiefel. Sie 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 161 

klagten, fühlten sich zurückgesetzt, vermuteten, daß man ihnen zu 
harte Arbeit zugeschanzt habe, weil sie mit den anderen Arbeitern 
in der Kolonie keine rechte Gemeinschaft hatten — die sprachen 
Hebräisch, sie nicht, auch auf Jiddisch konnten sie sich nicht mit¬ 
einander verständigen, außerdem knauserte man hier mit der Nahrung, 
wohl, um das Defizit zu verringern; die Ungarn murrten und saßen 
abseits. Ich stellte die Frage an sie, wie an alle: „Was hat euch 
herüber geführt? Ihr kommt ja aus dem Lande Hortys, der Mörder- 
Detachements; ihr wißt wohl etwas von Pogromen, Massaker von 
Menschen und Ideen. Aber seid ihr nur Flüchtlinge oder hat euch 
noch etwas anderes aus der raffinierten Stadt hieher in die sumpfige 
Steinwüste getrieben ?“ Sie gaben zu, daß es ideale Gründe waren, 
die sie, die intellektuellen, anspruchsvollen jungen Leute, nach Palästina 
gelenkt hatten. »Jeder von uns", sagte der Wortführer der Gruppe, 
„kommt, von seinem Idealismus getrieben, hieher. Aber schon in 
Jaffa, sobald der Fuß auf den Boden dieses Landes tritt — sieht man 
sich um: wo ist der Idealismus geblieben? Ins Wässer gefallen, ver¬ 
mutlich! Der Kampf ums Dasein hat begonnen. Der schreckliche 
Kampf mit der Wirklichkeit. Wer nach einem Monat dieses Kampfes 
noch von seinem Zionsideal faselt, dem lachen wir ins Gesiebt: 
‘Komödiant!!’“ Das sind sicherlich Ausnahmen. — 

Eine Tatsache aber will ich vermelden. Sie ist nicht zu unter¬ 
schlagen. Sie soll gehört werden in der Welt. Wenn in den Bet- 
häusem der Juden der Rabbi im schwarzgestreiften Totenhemd sich über 
die Gemeinde aufreckt und die Worte der Anrufung, der Beschwörung 
ertönen, dann neigen sich in einem Erschauern die Köpfe der Menge 
und die Menschen versenken sich in Gott. So müßte, was ich zu 
sagen habe, mit den Worten anheben, in die Worte ausklingen, die 
die Formel der Anrufung bilden, einer Beschwörung zugleich der 
Menschen wie des ewigen Schicksals. 

Auf dem Wege zwischen Jaffa und Jerusalem, abseits von der großen 
Automobilstraße, befindet sich bei der Stadt Ludd, dem alten Lydda, 
das große zentrale britische Militärlager. Ein Schwarm schottischer 
Soldaten kam uns entgegen. Sie hatten es sich, nach einer Früh¬ 
übung in der brennenden Tropensonne, bequem gemacht, ihre blond¬ 
rote Brust glänzte; sie hatten zwei Dudelsackpfeifer an der Spitze 
ihres Zuges, die mit vollen Backen „Bonny Dundee“ bliesen; die 
Burschen marschierten fröhlich daher und riefen uns etwas in unser 
Auto hinein. 



z6i Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus "Palästina 

Nicht weit aber von dieser Straße war die Stelle, wo, unter Auf¬ 
sicht bewaffneter britischer Soldaten, ein dunkler Haufe an der Straße 
arbeitete — so wurde berichtet Ein dunkler Haufe, die berühmte 
Straßenbaugruppe von Ludd. 

Ich hörte von verschiedenen Seiten Näheres über diese Kwisch bei 
Ludd. Hier arbeiten ägyptische Fellachen zusammen mit unseren Cha- 
luzim. Es ist eine schwierige Arbeit; ist es die Straße, die Luft, 
Sümpfe? Es kommt dort oft Desertion vor. Die englische Militär¬ 
behörde hat nun, um dies Davonlaufen der Fellachen, das den Bau 
der Straße gefährdet, zu verhindern, eine Abstempelung der Straßen¬ 
arbeiter angeordnet. (Vor Beginn der Arbeit und während der Ruhe¬ 
pausen müssen diese Leute niederhocken — damit man sie besser kon¬ 
trollieren könne, offenbar. Ich sah einmal, auf einem palästinensischen 
Bahnhof, eine solche Gruppe rastender Fellachen, wie das Vieh hin¬ 
gehockt, es waren etwa sechzig; zwei Tommys rauchten an den 
beiden Enden der Herde gemächlich ihre Pfeifen, Bajonett auf dem 
Gewehr.) 

Der Stempel wird auf die nackte Schulter gedrückt Weder Schweiß 
noch Wasser vermögen ihn abzuwaschen. Monate später noch kann 
ein Ausreißer an diesem Stempel erkannt und zurückgebracht werden 
— ins Gefängnis vermutlich. Da unsere Chaluzim sich zu dieser Arbeit, 
dieser Notstandsarbeit gemeldet haben, was ist da natürlicher, als daß 
man auch ihnen den Stempel aufdrückt. Die englische Regierung 
verwendet den intelligenten Chaluz lieber, als den faulen und indo¬ 
lenten Fellachen, — aber der demokratische Grundzug des englischen 
Charakters — der sich ja im Orient besonders deutlich zeigt! — läßt 
eine wenn auch nur unwesentliche Nüance in der Behandlung des 
eingeborenen und des zugewanderten Arbeiters in derselben Gruppe 
nicht zu. 

Auf der Straße von Ludd, im berühmten Ludder Kwisch, arbeiten 
die Unsem mit einem Stempel auf der Schulter. Sie arbeiten, um 
das Land aufzubauen durch ihre Arbeit, „um Erez Israel durch unsere 
Arbeit, jede Arbeit zu erobern“. Es ist ja die Heimat der Juden, die 
Heimat, die ihnen gehört hat vor zweitausend Jahren; das Land, in 
das Moses nach vierzigjähriger Wüstenwanderung das Volk der Juden 
geführt hat, hinaus aus Mizraim, der Sklaverei. Sie sind guten Mutes, 
die Unsem, auf der Landstraße bei Ludd. Sie haben ja Arbeit. 

Höre, Israel! 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina x 6 \ 

ln vielen Kwischim macht sich unter den jungen Arbeitern, den 
jungen Arbeiterinnen (denn in all' diesen Gruppen sind auch junge 
Mädchen, die dieselben schweren Arbeiten leisten, wie die Männer), 
steigende Unruhe bemerkbar. Die wenigen Ausnahmen — ich sprach 
eben von ihnen — abgerechnet, die wenigen jungen Leüte abgerechnet; 
die eine Art Genugtuung an diesem schweren, doch ungebundenen 
Leben haben, wollen die meisten Kwischarbeiter bald von ihrer gegen¬ 
wärtigen Beschäftigung befreit werden. Sie fordern Grund und Boden, 
auf dem sie sich niederlassen, den sie bebauen können. Tausende 
warten, auf den Kwischs, daß man sie ansiedle. Man hat es ihnen 
versprochen. Viele waren schon in Polen, in der Ukraine Landarbeiter. 
Viele haben sich auf landwirtschaftlichen Schulen, bei Bauern in Deutsch¬ 
land vorgebildet, eingearbeitet. 

Große, weitgedehnte, wenn auch noch mit Steinen ttbersäete und 
nicht genügend entwässerte Strecken Landes, im fruchtbarsten Teil 
Palästinas, der Jesreel-Ebene, des oberen Jordangebietes, in Saron, in 
den Bergen Samarias, Judäas hat ja der Jüdische Nationalfonds schon 
angekauft. Warum gibt man uns dieses Land nicht? klagen die Un¬ 
geduldigen. Jetzt im Herbst zur Regenzeit, wo tagelange wilde Güsse 
die Arbeit auf den Straßen und in den Sümpfen verhindern, stauen 
sich Scharen unbeschäftigter Kwischleute, Schwarzarbeiter vor den Türen 
der zionistischen Kommission, den Bureaux der Arbeiterorganisationen 
in Jerusalem, Tel-Awiw. Hungrig und rebellisch rufen sie: Land! 
Gebt uns Land! Wir wollen es bebauen! Ihr habt doch genug Land 
gekauft, warum habt ihr Geld zum Landkau^ das heißt für den Effendi, 
oder den Patriarchen, dem ihr es abkauft und nicht genug zur Kolo¬ 
nisation, das heißt für uns, uns!! Ihr kauft zuviel Land und koloni¬ 
siert zu wenig. Es liegt brach und uns läßt man auf den Straßen 
Steine klopfen oder hungernd in den Städten lungern. Ihr seid wohl 
bessere Kaufleute als Kolonisatoren! Das Landkaufen und Feilschen 
macht euch mehr Spaß als die Sorge um die Kleinarbeit der Kolo¬ 
nisation? 

Sie wissen wohl nicht, oder nur wenige unter ihnen wissen, daß 
auch diese großartigen Landkäufe nur mit geringen Anzahlungen, un¬ 
genügenden Mitteln durchgeführt sind! Und sie können es von den 
mit ihnen vor den Türen antichambrierenden Delegierten aller mög¬ 
lichen kleinen und großen, nahen und entlegenen Siedlungen erfahren, 
wie schwer es ist, aus der Kommission die nötigsten, für drängende 
Arbeit erforderlichen Summen herauszulocken. Wie wertvolle Arbeits- 



164 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 


kraft wochenlang bei solchem Harren und Bangen in Jerusalem, in 
Tel-Awiw brach liegt, wie der erzwungene Aufenthalt der Delegierten 
in den Städten, die teure Eisenbahnfahrt an dem schmalen Säckel der 
notleidenden Siedlungen zehrt!- 

Ich sprach in Jerusalem mit Ussischkin, dem obersten Mann der 
zionistischen Exekutive in Palästina, über die Unruhe unter den Chaluzim, 
auf den Kwischim, bei der „schwarzen Arbeit**. Ein Mann von bedeutender 
Klugheit, unbeschränkter Energie; zäh und in seine Aufgabe verbissen, 
die er verteidigt und durchführen wird bis ans bittere Ende. Auf dem 
Kongress von Karlsbad, vor wenigen Wochen erst hatte die Exekutive 
ihre Politik mit diesen Worten definiert: Wir müssen so viele Chaluzim 
wie möglich nach Palästina bringen und ansiedeln, damit wir ein 
Gegengewicht gegen die arabische Übermacht haben. (Von den sieben¬ 
hunderttausend Einwohnern Palästinas sind nur siebzigtausend Juden!) 
Jetzt strömen die Scharen der Einwanderer ins Land — nun, es ist 
kein Strom, wir kennen die Gründe! — aber die, die nun einmal hier 
sind, erfahren, daß man Land kauft und kauft — und dabei müssen 
sie in Jaffa, in Jerusalem lungern, wenn sie sich nicht in Schwarz¬ 
arbeit verzehren. Natürlich schreien diese erschöpften oder erbitterten 
Menschen: Euer Landkauf ist Bluff! wozu so viel Land, wenn ihr zu 
wenig Geld für seine Bebauung habt? 

Der kühle und besonnene Mann der Exekutive antwortet darauf: 
Diese Wünsche können nicht berücksichtigt werden. Vorwürfe dieser 
Art treffen uns nicht. Kaufen wir heute kein Land, so entgeht uns 
eine günstige Gelegenheit. Der Effendi, der Klerus treibt die Preise 
in die Höhe und wir können morgen Zusehen, auf welche Weise wir 
hier Fuß fassen. Wir müssen alles, was wir haben, aufwenden, um 
Land zu kaufen. Ohne Landbesitz ist der Zionismus eine Seifenblase. 
Wir sind keine Rattenfänger. Niemandem gaukeln wir verführerische 
Spiegelungen von Dingen vor, die es nicht gibt Jeder, der hier noch 
Steine klopfen muß, um zu leben, ist für die Ansiedlung vorgemerkt 
Die Älteren stehen obenan in der Liste, die zuletzt Angekommenen 
müssen Geduld üben. Verliert einer Geduld und Mut und Nerven, 
so kann ihn dieses Land nicht brauchen. Wir kämpfen. Man muß 
einsehen, daß wir unser Bestes leisten. 

Der Chaluz aber, dessen Arbeit auf der Kwisch aufgehört hat, zieht 
seine Stiefel aus, packt seine paar Bücher, die er mit nach Palästina 
gebracht hat, in sein zweites Hemd — falls er noch etwas der Art 
besitzt, schwingt Schuh und Buch und Hemd auf den Buckel und 



AJbrecht Sckaejfer, Das Gitter 26 5 

marschiert barfuß und mit leerem Magen über selbstgefertigte Straßen 
nach Jerusalem oder Jaffa, um zu sehen, wie er sein Leben weiter¬ 
fristet. 

„Ich bin a armer Chaluz, 

Chaluzl aus Poilen, 

„Ich loif auf Stiefelach, 

S tiefelach ohn’ Soilen!“ 

(Wird fortgesetzt) 


DAS GITTER 

Erzählung von 

ALBRECHT SCHAEFFER 

B runo Galba wuchs in den Bergen auf. 

Einöden nennt man in jener Gegend die Gehöfte, welche der 
Reisende, abseits von den Dörfern im Tal, über die Hänge und Höhen 
verstreut oder in kleineren Talfälten findet, ohne das Wort Einöde 
— nebst dem Namen des Gehöfts auf einer Tafel am Hause ver¬ 
zeichnet — seinen Begriffen davon entsprechend zu finden. Denn das 
Bergland, unterbrochen von Wiesensenken und grasigen Kuppen, von 
Obstbaumgärten und seltenen Äckern, verheißt überall freundlichen 
Ausdrucks die ordnende menschliche Hand, und nirgend ist von Rauch- 
fang zu Rauchfang die Spanne so weit, daß nicht das umhersuchende 
Auge sie leicht überbrückte, um diese Art Einöde gesellig genug zu 
finden. Fragt man indeß in den Häusern, unter deren breit über¬ 
tagenden Dächern geschnitzte Galerien kleiner Säulen, Altane genannt, 
die Menge der Topfgeschirre voller Geranien, Nelken und Fuchsien 
tragen, und in deren winzigen Blumengärtlein die Überfülle des blü¬ 
henden Phlox oder der Balsaminen, der Stockrosen oder Dahlien die 
gebrechlichen Zaunwerke unsichtbar läßt: fragt man in ihnen die 
Menschen, so wird man hören, daß sie über den Bereich ihrer Nach¬ 
barschaften niemals weiter hinaus kamen als bis unten ins Dorfj das 
nötige Handwerkszeug zu besorgen. Und hier sind vier oder fünf 
Gehstunden weit genug, damit durch eine Heirat getrennte Ge- 
tchwister sich ihr Leben lang kaum jemals wieder erblicken. 



166 


Albrecht Schaeffer, Das Gitter 

Es war ein kleiner und sehr schmaler Bergsattel, der das Urvater* 
liehe Haus Brunos trug. Es hatte, als er geboren wurde, schon ein¬ 
hundertfünfzig Jahre den aus dem unfernen Italien hergezogenen 
bäurischen Galbas gedient, und mit seinem breiten Dach, den glänzend 
geweißten Mauern und der Doppelreihe altersgeschwärzter Galerien, 
welche drei der Wände umliefen — an die hintere vierte schlossen 
sich der Stall und Ober ihm Heuboden und Tenne —, zeigt es sich 
ffir weitere hundertfünfzig ruhig bereit. Als einziger Schmuck schim¬ 
merte unter dem First das sehr verblichene Blau einer lebensgroßen 
Mutter Gottes, auf der Mondsichel stehend, deren Gestaltung und 
Haltung deutlich genug eine Figur Riemenschneiders nachahmte. 
Hinter dem Hause stieg der Tannenwald steil zu Berge. Die Kuppe 
gegenüber, mit Wiese bedeckt, mit Obstbäumen bestanden, ließ an 
sich vorüber den Blick in ein hochgelegenes kleines Tal voller Wald¬ 
bestand, dem die Häuser eines Dorfes entstiegen; und weiter hinüber 
zu Bergflanken, die, sich steiler erhebend, mit Schroffen und Zacken 
hoch in den südlichen Himmel wuchsen. — Aber alles dieses ist 
heute noch so und kann so gesehen werden. 

Über den Sattel inmitten war ein Roggenfeld wie eine Decke ge¬ 
hängt, eine braune im Frühjahr, eine gelbe im Sommer. Und trat 
man nun in die vorderste Ackerfurche, zwanzig Schritte vom Hause 
seitwärts zur linken Hand und nach Osten gekehrt, so konnte man, 
im raschen Vertauschen des Blicks vom Süden zum Norden, die 
gegensätzlichsten Femsichten höchst überraschend vereinen. Denn süd¬ 
wärts schweifte das Auge, über den tiefgelegenen Kessel des Flußtals 
hinweg, wo ein Stück des Stroms in schöner Biegung erglänzte, und 
hindurch zwischen den breit immer höher gelagerten Wällen der 
flankierenden Berge, hinweg endlich über die mächtige Felsenwand, 
die das Tal da zu bemauem schien, in das geheimnisvoll schimmernde 
Bereich des unvergänglichen Schnees, zu den schön geformten Zelten 
und Pyramiden der höchsten, weit fernen Gipfel: in ihrer entfernten 
Kleinheit immer doch majestätisch, waren diese ewig entlegenen sechs 
oder sieben einer still gelagerten Versammlung von Wesen gleich, die 
sich zurückgezogen haben vom Regieren und Fordern, um sich allein 
ihrer königlichen Geselligkeit zu erfreun. 

Aber in das von hier nach Norden hinübergewandte Auge trat 
ein Lächeln der Betroffenheit über diese Vertauschung der Umwelt, 
bewirkt scheinbar durch nichts als ein kleines Drehen des Halses. 
Denn hier lag in großer Tiefe, sichtbar über einen tiefgelegenen 



Albrecht Schaffer, Das Gitter %6j 

kleinen Tannenkamm hinweg, die unendliche Ebene ausgebreitet. 
Aber gelagert, wie sie war, unter dem allezeit dunstigen Himmel des 
Nordens, und selber von Dünsten bedeckt, welche die Einzelheiten 
der Landschaft — Wälder und Gefilde, Ortschaften, vielleicht Moore — 
erraten ließen, doch nicht erkennen: schien sie in ihrer übergangslosen 
Abgründigkeit nicht eigentlich wirklich zu sein. — So geisterhaft sie 
schienen, im Glanze der Mittagsonne, die jenseitigen Schneegipfel, sie 
leuchteten aus sich eine Wirklichkeit höchster Art; diese dagegen, in 
ihren Gegenständen deutlich an trüben Tagen allein, und dann sehr 
dunkel und kalt und ab wehrend: sie war scheinhaft; ein sehr großes 
Bild, nur vorhanden zum Beschaun, nur eine Vorstellung von dem, 
was in einer unbekannten wirklichen Welt Ebene sein mochte. — 
Bruno, dem es von klein auf gewohnt war, gewahrte es mehr, als 
daß er es sah, in den verschiedensten Epochen seines Lebens; aber 
Bild war es immer. 

Hans Galba, der Vater, der sein Leben lang Sense und Rechen 
führte, war gleichwohl kein Bauer mehr. Von Aussehen so ganz 
Italiener, daß er von Fremden, die ihn dafür hielten, mitunter in 
dieser Sprache angeredet wurde, war er kleiner Gestalt, klein auch 
von Kopf und Gesicht, dessen festes Fleisch eine braun-gelbe Haut 
glatt bespannte, und in dem er alternd einen buschigen schwarzen 
Bart unter der Nase wachsen ließ. Aber auch trotz der Schwärze 
des landfremd stechenden Blicks aus geschlitztem Lid, hatte er von 
jenem Volke in sich so wenig, daß er seine Sprache nur ungelenk 
erlernte, obgleich er die Halbinsel in seiner Jugend vom Nord bis 
zum Süden durchwanderte. Denn er hatte ein Maler werden wollen, 
während er Knecht und späterhin Hofbesitzer sein sollte — was er 
freilich auch wurde —, und so focht er sich durch Italien, wider 
Willen seines Vaters, setzte von Palermo nach Spanien über und er¬ 
reichte auf neuer Wanderschaft Toledo. Diese Stadt und ihre unver¬ 
borgenen Juwelen, Werke des Greco, wurde zum inneren Gipfel seines 
Lebens, den er niemals zu übersteigen vermochte. Ein volles Jahr 
hauste er dort, sein Dasein durch niedere Arbeit, sein Inneres aber 
mit unendlicher Inbrunst nährend von den Gebilden Grecos und jener 
seltsamen Landschaft, die ihm wohl verwandt sein mußte, sodaß er 
sie in allen Lebenszeiten seinem Sohn wie eine heilige Gegend und 
als die höchste, schönste auf Erden pries. Er kehrte heim nach einem 
jahrelangen Besuch aller Städte, in denen es Grecos gab, beladen mit 
einem Dutzend Kopien, die seine noch ungelernte Hand unsäglich 



iö8 Albrecht Schaeffer, Das Giftet 

mühevoll und gehorsam verfertigt hatte, um die aufgespannten Lein¬ 
wände später in einer besonderen Kammer aufzustellen und an Fest¬ 
tagen zu genießen. Allein das Bild «Toledo im Gewitter» ward in 
der Wohnstube aufgehängt und durch regelmäßige Reinigung vor 
dem Verräuchern durch Ofen und Tabakspfeife sorgsam bewahrt. 

Der Heimgekehrte fand seinen Vater tot und wurde nun, den Hof 
zu halten, für zwei Jahre nur Bauer. Dann starb auch die Mutter; 
Hans Galba nahm einen Knecht an, der mithülfe der Magd, die sechs 
Kühe, das Geflügel, Wiesenland und die kleinen Ackerstücke ohne 
Hans pflegte, zumal das Vieh den Sommer lang auf der Hochalm 
weidete. Maler wurde er nicht, und es ist anzunehmen, daß ihn der 
Glanz aller Größe in den Galerien und Kirchen Italiens und Spaniens, 
zuletzt der des Greco, zuinnerst gelähmt habe und jede Möglichkeit 
eigner Entfaltung unterbunden. Hingegen fing er das Bildschnitzen 
an und machte nun, ungelehrt wie er auch hierin war, und still an¬ 
knüpfend dort, wo zu ihrer Zeit Hans Multscher und Grasser, Riemen¬ 
schneider und Veit Stoß für immer aufgehört hatten, jahraus jahrein 
nicht viele Figuren. Seine Madonnen und Märtyrer, Apostel- und 
Prophetengestalten erreichten indes bald eine schlichte, aber eigene 
Vollkommenheit in dem sehr Zarten, ja Gebrechlichen ihres Ausdrucks 
von innerer Lebendigkeit, was die Kenner in den Städten dann 
«Nervosität» nannten. Denn seine dazumal eben mit Marktware über¬ 
schwemmten Nachbarn und die Geistlichkeit mochten seine Figuren 
nicht sehn und die Preise nicht hören. Sie wanderten zur nächsten 
Stadt R. und in den Laden eines befreundeten Buchhändlers, der ihrer 
zwei und dreie in jedem Jahr verkaufte, was Hans Galba zufrieden 
war. Ihn ernährte seine Wirtschaft. 

Er stand schon im fünfunddreißigsten Lebensjahre, als die Tochter 
eines von Bremen nach R. verschlagenen, ursprünglich wohlhabenden, 
aber unglücklichen Kaufmanns einwilligte, seine Frau zu werden. 
Vater und Tochter waren durch Vermittelung jenes Buchhändlers drei 
Sommer nacheinander als Gäste in Galbas Hof erschienen, aber sie 
erhörte die schon im ersten vorgebrachte Werbung erst im letzten, 
worauf der Ehebund noch im Herbst geschlossen wurde; das Mäd¬ 
chen, Antonie, stand damals in ihrem zwanzigsten Jahr. Nach neun 
Monaten gebar sie den Bruno. 

Bruno wuchs mutterlos auf. Er gehörte, zur jüngsten wie zur 
spätesten Zeit seines Lebens, zu jener Menschen-Art, die nicht fragt. 



Albrecht Schaeffer, Das Gitter 169 

Sein Vater verriet nie etwas, er tat nie eine Frage, eine Mutter war 
nicht vorhanden. Brunos Menschen waren: der Vater unwandelbar, 
der Knecht, mitunter die Gestalt, selten das Wesen wechselnd, und 
unwandelbar auch die Magd. Diese, die, wo sie ging und stand, den 
größten Kropf mit sich zu schleppen hatte, besaß die genügenden 
Fähigkeiten für Küche, Vieh und das Heuwenden; darüber hinaus 
aber auch gar keine. So war der Vater Himmel und Erde und 
alles, was zwischen Himmel und Erde ist. 

Hans Galba zog seinen Sohn auf und unterrichtete ihn ganz allein. 
Wonach er selber einmal Sehnsucht empfunden hatte, die lateinische, 
die italienische und die griechische Sprache, lernte er im Verein mit 
dem Schüler; Französisch und Englisch fielen aus, ebenso alle höhere 
Mathematik, deren Stelle früh Kunstgeschichte einnahm. Geographie 
und Völkergeschichte wurden durch Lektüre der besten Werke aufs 
beste erkundschaftet. Die Religion saß fast nur in den Augen und 
hieß: Sieh alles gut an, was unter dem Himmel ist; liebe alles und 
am meisten das Licht. — Bruno fuhr bei dieser lückenhaften, doch 
gründlichen Bildung nicht schlecht; und wenn er nachmals im Leben 
mancherlei Mängel an sich wahrzunehmen hatte, so war da keiner 
durch Schuld seines Vaters verursacht Ausgenommen freilich den 
einzigen einen: die fehlende Mutter samt allen Zusammenhängen, die 
der Inhalt dieser Erzählung sein werden. 

Bruno Galba war noch kaum sieben Jahre alt, als er seinem Vater 
zum Namenstage das insgeheim mit den geographischen Buntstiften 
gemalte Porträt eines Unbekannten bescherte. Es wies Ähnlichkeiten 
mit allem Menschlichen auf, mit dem Vater, dem Knecht, gar mit 
der Magd, aber die größte und eigentliche, die übrigen weit über¬ 
flügelnde war die mit dem Unbekannten, dem Niegesehenen, dem Ideal. 
Eine schlaflose Nacht verbrachte der nie so Beschenkte nach diesem 
Tag, in der er überlegte, wie zu handeln wäre. Er dankte Gott 
— und er beschloß in diesem Gedanken, seinen Sohn doch die Bibel 
lesen zu lassen — immer wieder für dieses Geschenk der höchsten 
Hoffnung, daß einmal sein Sohn würde, was er nicht geworden war; 
ein Maler, den Greco nicht hinderte. Seine Überlegungen aber führten 
zu dem Entschluß, mit dem er einschlief, und den er später auf das 
peinlichste durchführte: daß nichst zu tun, das einzige sei, was getan 
werden dürfe. Das bedeutete aber: wenn der Sohn beharren würde 
beim Zeichnen und Malen, ihm nichts lehren zu wollen als das Hand¬ 
werk. Ihn durch keine Vorbilder verbiegen, geschweige durch eigene 



270 


Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 

Meinung, ihm nichts anbilden zu wollen; ihn schalten zu lassen aus 
reinem Herzen, aus unbefleckter Phantasie, ohne Ungeduld, besorgt 
von Ding zu Ding um jedes Einzelne, so, als hätte er tausend 
Jahre Zeit 

Indeß hielt er es für gut, von diesem Wege mit nur einem einzigen 
Schritt abzuweichen, und zwar gleich zu Anfang. Er versammelte 
nämlich, den nahen Sonntag abwartend, der zum Glück sonnig war, 
die sämtlichen Kopien Theotokopulis in der von vier kleinen Fenstern 
nur dürftig erhellten Wohnstube im Eck des Hauses und führte mit 
einem feierlich ruhigen Gebahren den kleinen Sohn zu der mächtigen 
Versammlung ein. Es war ihm, als er in die großen und dunklen, vom 
Schrecken zu tiefstem Ernst geweiteten Augen des Kindes bückte, 
als sei dies Jesus im Tempel, der anfangen würde, die Weisen zu 
belehren. Bruno freilich sagte die Stunde lang kein Wort, während 
der er von Bild zu Bilde geführt wurde und sie in Worten erklären 
hörte, die er verstand: die Bestattung des Grafen Orgaz und Christi 
Taufe, Christus am Ölberge und die HeiÜgen Petrus, Johannes und 
Ildefons, das Martyrium des Mauritius und Laokoon, die Vermählung 
Marias und die Öffnung des fünften Siegels, die kühne frühe Blinden¬ 
heilung nicht zu vergessen, und von Bildnissen der furchtbare Gro߬ 
inquisitor und das unter dem Namen des Heiligen Ludwig gehende, 
— welche sämtüch zwar den Originalen in manchem nachstanden, 
doch am meisten durch ihre Kleinheit. Zur stillen Wirkung des 
Gemalten fügte der Vater wenig hinzu. Daß er diesen Augenbück 
niemals vergessen dürfe, mahnte er und sagte, dieses hier sei das 
Höchste, was ein Mensch, der Maler sei, machen könne. Und er 
hieß ihn niemals vergessen, daß es dies gelte, nur dies, solche Bilder, 
die unvergänglich seien wie der Schnee auf den höchsten Gipfeln 
und strahlend in einer unauslöschlichen Sonne. 

Mit dieser Lehre hielt Bruno es so, wie sein Vater dachte: er ver¬ 
gaß sie nach kurzer Zeit, aber er erinnerte sich ihrer in jedem in 
sich gekehrten Augenblick seines Lebens. — Was aber der Vater ihn 
nun zu lehren begann, war nichts weiter als Sehen. Das will sagen: 
das Einzelne zu sehn und das Ganze; jedes Einzelne so zu sehn, oder 
einfacher, so lange anzusehn, bis es von selber durch das Auge in 
das innere Wesen, in die Hand und den Pinsel überginge und sich 
gleichsam freiwillig darstelle. Das Ganze aber zu sehn, wie es auf¬ 
erbaut sei aus Teilen, die sich gegenseitig hier ergänzten und da 
verdrängten, — und also in dem Ganzen, das ein Bild geben sollte, 



Albrecbt Schaeffer, Das Gitter lyi 

diejenigen Einzelkräfte zu sehn, in denen es beruhte, und die gleich¬ 
gültigen, ja störenden auszuscheiden. Galba verschwieg, was selber 
gefunden werden sollte, daß die Kunst um so größer sei, je mehr 
sie zu entbehren vermöchte; je weniger äußere Linien sie bedürfte, 
um die innere zu ziehn. 

Es ist aber nicht an dem, die Lehrjahre des Knaben und Jünglings 
zu verfolgen, und nur noch dies sei gesagt: daß der Vater, da Bruno 
allerdings anhielt, seine malerischen Fähigkeiten auszubilden, die tiefe 
Freude hatte, eine Verwandtschaft im innersten Wesen Brunos mit dem 
des Greco zu entdecken, — wie Galba meinte; in Wahrheit jedoch 
mit dem Wesen all derer, die noch andres sind als nur Maler. Daß 
er plante, wirkte und ausführte von innen her, aus Phantasie, aus 
selbsterzeugten Gesichten, denen die äußere Welt als Gestalt zu dienen 
hatte, die ihr Wesen jedoch nicht von jener entlehnten. — Er sah die 
Flamme Geist, die einst an ihm nicht gezündet hatte, glänzend Uber 
dem noch kindlichen Scheitel aufgehn. 

Galba, der Vater, erkrankte in seinem vierandftinfzigsten Lebens¬ 
jahre hoffnungslos an einem schmerzhaften Krebsgeschwür und sah 
den Augenblick nah, wo er den Sohn aus seiner Lehre und in die 
noch unbekannte Welt hinauslassen mußte. Bruno zählte dazumal 
achtzehn Winter. 

An einem Spätabend in diesem Frühjahr gewahrte Bruno, mit 
seinem Licht und seinen Büchern, wie er es liebte, in einer Fenster¬ 
nische beschäftigt, seinen Vater so fremd und so schmerzhaft deutlich 
zugleich, als sähe er ihn zum erstenmal. Der seit Wochen fast un¬ 
ablässig von Schmerzen Gefolterte hatte sich hinter den Ofen zurück¬ 
gezogen, der — ein mächtiger Würfel von hellgrünen Kacheln — frei 
im Zimmer stehend, ein Viertel davon zu erfüllen schien, zumal über 
ihm und umher von den Deckenbalken Kleidungs- und Wäschestücke 
schattenhaft herabhingen. In das Gesicht des zusammengesunkenen 
Mannes leuchtete aus dem offenen Türloch des Ofens das helle Feuer, 
überdeutlich auf dem Grunde von Schatten zeigend die glänzende 
gelbe hohe Stirn Uber der Verwitterung und dem Zerfall von Schläfen 
und Wangen. Das übrige des Gesichts war verborgen vom wuchernden 
Schwarz des Barts; und so hätte er, der ein Bauer gewesen war und 
doch keiner, ein Künstler und doch keiner, und am wenigsten Italiener, 
mm für einen sterbenden Briganten gelten oder gemalt werden können. 
Das Jagdgewehr hinter seinem Rücken paßte dazu, und warum nicht 



i7i 


Albrecht Schaeffer, Das Gitter 

der Brief) den unten die verhärtete bäurische Faust dem Feuerloch 
nahe hielt? Er selber saß mit geschlossenen Augen und sah, als der 
Sohn zu ihm trat, eine Hand auf seine Schulter zu legen, nur mQde 
aus und ergeben. Eine kleine Truhe stand offen neben ihm auf der 
Bank und verschnürte Briefpäckchen lagen umher. Er schlug nun 
die Lider auf, hieß den Sohn sich zu ihm setzen und machte ihm 
Mitteilungen über seine Mutter, die mit seinen Worten nicht wieder¬ 
gegeben werden können, deren Inhalt aber in Kürze der folgende war. 

Sie war sehr jung, hellblond, lieblich und leichten Bluts, und wie 
sie selber als Sommergast in das Haus gekommen war, hatte ein 
Sommergast sie davongeführt. Ein ganz junger Mensch, wie sie aus dem 
Norden, wie sie ein Sohn eines Fabrikanten und alten Geschäfts¬ 
freundes ihres Vaters, war wandernd vorübergekommen, vielmehr war 
geblieben, eine Woche und mehr Wochen. Dann kam ein Abend, 
wo es Hans Galba einfiel zu bemerken, daß er mit seiner Pfeife und 
seinen Kupferstichen allein in der Stube saß. Er hatte aber nichts Arges 
geahnt, als er in das Licht des aufgehenden Halbmondes vors Haus trat, 
und selbst nichts, als er über das abgeemtete, im Monde wie eine Silber¬ 
streu glänzende Feld, über die Wiese, die Kuppe hinaufging. Von da 
oben sah er unfern in der Tiefe, wo ein Weg war, das Paar, das 
sich umschlungen hielt. Er sah es eine Weile an, ging in das Haus zu¬ 
rück, verschloß und verriegelte die vordere Tür und ebenso die des Stalls 
und des Heubodens, zu dem, wie überall dortzuland, eine befahrbare 
Rampe emporführte. Danach stieg er in das Schlafzimmer hinauf und 
saß da bei der Wiege des Kindes, biß seine Hände blutig und fiel, als 
der Morgen kam, vom Stuhl herab in den Schlaf. 

Es war nicht eigentlich die Untreue, was ihn so traf; in die innere 
Gerechtigkeit oder die Ordnung seines Lebens war ein Gifttropfen 
gefallen, der sie so völlig zerfraß, daß er danach, so schlecht und 
recht es nur ging, eine neue von Grund aus hersteilen mußte; aber 
nicht ein Element von der alten ließ sich in die neue herübernehmen. 
Deshalb traf auch der Ausdruck: Härte, die ihm in einem Brief und 
von mancher andern Seite vorgeworfen wurde, nicht; als er sein Haus 
verschloß, verschloß, versargte, versenkte er etwas. Danach bildete 
sich sehr langsam das Neue, doch er selber war zu jener Frist eigentlich 
nichts, konnte darum nicht hart sein, am wenigsten gegen eine Stimme 
aus dem Alten, das er nicht mehr verstand. 

Den schon erwähnten Brief seiner Frau, einige Wochen nach jener 
Nacht geschrieben, der unbeantwortet blieb, gab er Bruno zu lesen. 



Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 27$ 

Er war kurz and lautete: „O Hans Galba, mein Mann, was hast du 
uns zugefügt! Es war ein Kuß, ja, aber aus Vergeßlichkeit, nicht 
aus Untreue. Deine Härte verschloß mir das Haus, das ich gewiß 
niemals verlassen hätte. Ehe es zu spät ist, flehe ich Dich an: Nimm 
mich zurück! Und tust Du es weder um unsert-, noch unseres Kindes 
willen, so denke an das Ungeborene in mir, auch Dein Kind, Hans, 
Dein Kind! Antonie.“ 

Der Erzähler schloß, indem er unter Hinweis auf die letzte Zeile 
des Briefes sagte: er wäre seinem Sohn die Mutter schuldig geblieben; 
nun lasse sein Scheiden ihn eingedenk werden, daß er ihm nicht 
auch die Schwester vorenthalten dürfe. — Jenes Kind war allerdings 
geboren worden und am Leben geblieben. Der Verführer Antonies, 
der sie heiratete, nahm es, weil der rechte Vater sich weigerte, an 
Kindes statt an. Galba erfuhr später, daß jener schon nach drei 
Jahren durch Herzschlag, Antonie im darauffolgenden Jahre an Lungen¬ 
entzündung aus dem Leben schied. Kinder hatte sie außer den ersten 
zwein keine; Brunos Schwester, ein Jahr jünger als er, lebte im 
Hause ihres Vormundes, eines Bruders ihres Adoptivvaters, der in der 
norddeutschen Stadt Altenrepen eine Fabrik besaß. Daß Bruno 
Namen und Wohnung von dem in R. noch lebenden Vater seiner 
Mutter erfahren würde, war an diesem Abend das letzte Wort des 
Kranken, dem ein Überfall seiner Schmerzen die Lippen schloß. 

Bruno erschien in seiner Schlafkammer über vergeblichem Grübeln 
nach dem eigentlichen Eindruck und dem Wesen des mitgeteilten 
Unfaßbaren wieder sein Vater, als sähe er ihn vom Fenster aus 
hinter dem Feuerloch sitzen, aber zugleich seine Züge, die ermüdeten, 
so nahe, als stünde er neben ihm. Ach, mit ihm, ja in ihm lebend, 
war er so verständlich gewesen wie Abend und Morgen; aber wie 
war das zu begreifen, daß ein einziger Augenblick, daß die Ver¬ 
nichtung eines Glückes ihn völlig verkehrte? Und erst dies, daß der 
zwar Ernste, aber der Ruhige, Gütevolle, immer Gleiche herabge- 
gestiegen war in das stille Tal zu Bruno, von einem, ihm unendlich 
fern kaum erkennbaren, furchtbaren Berg, — wo er ein Glück ver¬ 
grub und eine Güte davontrug. — Nun schloß der Schlaf ihm den 
innem und äußeren Blick und prägte ihm unvergeßlich für immer 
das Bild dieses Abends von dem Vater ein. 

Wenige Tage später, von einer Wanderung heimkehrend, fand 
Bruno den Vater tot im Bett, der allem Anschein nach die Gelegenheit 
abgewartet hatte, um sich mit dem alten Jagdgewehr selbst zu ent- 

18 



*74 


Albrecbt Schatffer, Das Gitter 

leiben. Auf der Platte des Nachtkastens vor dem Leuchter standen 
die gekritzelten Worte: „Die Schmerzen fiberwattigen mich. Heut 
oder morgen ist ja gleich. Leb wohl. Junge! Sei glücklicher als ich, 
werde mehr als ich, stirb leichter!" 

Bruno glaubte erdrückt zu werden von der Last der Verlassenheit 
und Öde in dieser Nacht, und von der einer unendlichen Liebe, 
die ihm zur Bergeslast werden mußte in dem Augenblick, wo sie 
sich entzog; aber auch diese löste der Schlaf des Jugendlichen für 
heute von seiner Brust, und obwohl wiederkehrend, mußte sie von 
Mal zu Mal leichter werden, bis sie sich auflöste und zerfiel wie 
unter der Erde der Tote. 

Oft und oft in den nun folgenden Tagen mußte der Vereinsamte 
sein bisheriges Leben bedenken, in dem er, so kam es ihm vor, 
gelebt hatte wie mit dem gütigen Gott selber in einem Garten. Weil 
nun, sooft sein Inneres in Bewegung geriet, sich sogleich der Sinn 
seines Auges betätigte, so stellte sich alsbald das aus Abbildungen 
bekannte römische Kolosseum dar, aber dergestalt, daß er mitten 
darin stand, Sitze nirgend, auch keine Tfir sah, sondern nur den 
Umkreis der haushohen Mauer und in ihrer vielfachen Durchbrochenheit 
von Fenstern den Himmel. Das war freilich ein Bild seines Lebens, 
wenn man Gott und den Garten ins Innere der Mauer denken will: 
all die Jahre war er niemals über einen Umkreis hinausgekommen, 
den ein in den Zirkel genommener halber Tagesmarsch schlägt. Ob 
sein Vater für später andres im Sinne gehabt hatte, ahnte er so 
wenig, wie er den Grund herausfand, weshalb es bislang so gewesen; 
oder war es wirklich nur der, daß sein Vater, sich abschließend in 
keiner engeren Beschränkung, als dem Bauer der Gegend natürlich 
war, ihn mit abschloß? An ein ausdrückliches Verbot erinnerte Bruno 
sich nicht, noch auch an eigene Wünsche; und jetzt, wo er ein 
klaffendes Tor in die Wandung gestoßen sah, d ahin ein Weltstraßen 
mündeten und unbestimmt eine Erscheinung lieblicher Weiblichkeit 
winkte, fragte er sich vergebens, warum er in dieser Stunde erst den 
magischen Gürtel sichtbar gewahrte. War er ein so genügsamer 
Mensch? O freilich, er war es, dachte er fast lachend, nun wieder 
in das Innre des Gartens gewandt, ins Grüne, ins Bunte, ins tausend¬ 
stimmig Tausendgestaltige des Dickichts, in dem jedes Ding, das Hand 
oder Auge berührte, so wundervoll werden konnte, wie wenn ein 
Tropfen Tau in sich all und alles enthielte, was sein klares Rund 



*75 


Albrecht Schaeffer, Das Gitter 

zu spiegeln vermag. Und bei ihm war der Lehrer, der gute kundige 
Spender des unerschöpflichen zaubrischen Mittels, dessen Name ist: 
Sichbemühn, und das die Fülle der sichtbaren Dinge in eine Über¬ 
fülle der Seele verwandelte, die zu erschöpfen, hier in dem Kreis¬ 
raum vom Durchmesser eines Tags, ein langes ganzes Leben sich 
eher erschöpfen mußte. Überdies so waren auf Geisterwegen durch 
die Bögen der Fenster herein noch Herrlichkeiten herabgeflogen: 
Kenntnisse aller Art, ewige Gestalten aus dem Geisterland, Kupfer¬ 
stiche und Holzschnitte und Bücher und Mappen voll Bilder, Masken¬ 
züge der Märchen, Koffer voller Gedichte; wo er eingeschlossen war, 
ohne es zu bemerken, da gingen alle Könige und Propheten, die 
Apostel aller Schönheiten, Wahrheiten und Größen zwanglos herein 
und ließen ihm gern, was sie brachten. Und wieder war „Sichbe¬ 
mühn“ der gute, schöpferische Geist, dessen Zauber es war, jedes 
Ding unverwelklich zu machen, weil immer wieder neu und blühend 
von Staunen des Herzens. 

Doch war nun das Tor; nein, die Mauer gefallen. Nein, Gott 
war gegangen; nein, der Garten war selber nicht mehr. Er war 
verschwunden auf eine Weise, daß es nicht schmerzte — zu viel 
Andres war ja zu schwer noch! — und die Feme mit der Welt war 
nah gekommen auf eine Art, die nicht schreckte. Daß er zu gehen 
hatte, schien klar, aber war nicht fest; vielmehr war er mehrere 
Tage lang entschlossen, zu bleiben, die unbekannte, so lange Frist 
schmerzlos entbehrte Schwester eine Vorstellung sein zu lassen, wie 
die unbekannte Ebene ein unverlockendes Bildnis gewesen; statt 
dessen den Garten schöner neu, in Gebilden seiner Geisteskraft 
wirklicher neu und auch Gott aus seiner getreuen Brust auferstehen 
zu lassen. — Zehn Jahre älter, wäre Bruno vielleicht geblieben; heute 
noch konnte seine Jugendlichkeit auf die Wandlung nur mit einer 
andern Wandlung erwidern. 

Bruno kam auch dazu, daß er sich im Spiegel betrachtete zu jener 
Frist; will sagen, daß er sich ins Auge faßte, wenn er frühmorgens 
beim Waschen sich in der Spiegelscheibe begegnete. Er konnte aber 
nicht herausfinden, wie er aussah, will sagen, welchen Eindruck einer 
von seinen Zügen haben würde, der nicht er selbst war. Sein Ge¬ 
sicht war groß, lang, die Umrisse von rötlichem Bartflaum verwischt 
und durchaus braunhäutig; die Stirn unter hereinfällendem Haar schien 
nicht hoch, damals; das Haar selber war dicht, wellig und schön 
kastanienbraun. Die kleinen Augen von schwacher bläulicher Farbe 



z 7 6 Albrecbt Scbaeffier, Das Gitter 

empfingen ihren Charakter von der Nase: die war lang and traurig 
und hing nicht ganz grade herab. Bruno sagte, wieder einmal rieh 
Ober der Betrachtung ertappend, unwirsch zu diesem Gericht: Du 
riehst aus, als wolltest du gleich sehr unglücklich werden. — Er 
dachte an seinen Vater und verbesserte sich erschrocken: Ich bins ja! — 

Bruno hielt seine malerischen Kenntnisse und Fähigkeiten Für absolut 
groß, weil ihm alle Vergleichungen fehlten. Er wußte, wie sich ein 
Bild komponierte, wußte sein Inneres als ein Zeughaus gebrauchs¬ 
fertiger Tausenddinge seiner Umgebung, die er von allen Seiten, in 
jedem Licht abgezeichnet und gemalt hatte; er hatte den Kopf voll 
Pläne, und so fehlte ihm eigentlich nichts als die Bekanntschaft des 
weiblichen Körpers, von dem er nur anatomisch und theoretisch 
einiges wußte; doch über ihn hatte sein Vater, der ihm nebst dem 
Knecht ohne Scham als Aktmodell gedient hatte, sich einmal geäußert: 
er könne entbehrt werden. 

Bruno war lang von Leib, etwas schlottrig in Knochen und un¬ 
erschrocknen Herzens. 

Er nahm eines Tages, nachdem der Knecht sich bereit erklärt 
hatte, das Besitztum einige Zeit mit der Magd allein zu verwalten, 
ein Lineal, um es wie jener Russenzar, der eine Eisenbahn wollte, 
über eine Karte im Atlas zu legen und von dem vermutbaren Ort, 
wo er sich befand, eine Grade zu riehn bis zu der Stadt Altenrepen. 
Mit Hilfe kleinerer Nebenkarten suchte er sich so viel Orte wie 
möglich, die von seiner Geraden berührt wurden, packte mit Umsicht 
einen Rucksack und dachte zu Fuße zu gehn, viel zu sehn und alles 
zu zeichnen. Nerven kannte Bruno damals so wenig wie späterhin 
jemals, so manches Ungemach er erfahren sollte, und deshalb auch 
keine Ungeduld. Und da ihm gelehrt worden war und er gelernt 
hatte, nüchtern zu empfinden noch in der Glut, noch in Berauschung, 
so ließ er sich nicht hindern, die Vorfreude auf die Schwester zu 
teilen mit der Freude am langen Weg. 

Und so verließ er denn sein unwohnlich gewordenes Haus, schwerer 
tragend an seinem Herzen als am Rucksack, frühmorgens, als der 
Nachthimmel noch voll war von Sternen. Unter ihren vielfältig 
strahlenden und wankenden Lichtem lag kaum erkennbar die Ebene, 
der er sich zuwandte. Noch stand er über ihr in der hohen 
Kühle, ein Unberührter, fest in seinen Waffen, die er für fest hielt; 
und er glaubte, sie leise klirren zu hören, als das Geheimnis der 
schon näheren Hefe an sein Herz rührte. Bald darauf, da er hurtig 



*77 


Albrecbt Scbaeffer, Das Gitter 

bergab stieg, verschwand Uber der nötigen Achtsamkeit auf den 
schmalen Fußsteig im Dunkel aus seinen Sinnen alles bis auf das 
leise Rauschen seines Blutes im Gehör und das laute Geräusch seiner 
Nagelschuh in der noch immer nächtigen Stille. 

^Vir können nun, wenn es uns gefällt, den jungen Galba von hoch 
oben wie die kleinste Mikrobe über die deutschen Erdflächen hin¬ 
kriechen sehn, von Ebene zu Ebene über die Grenzberge wie Uber die 
Ränder von Tellern hinwegklettemd. Als ein in sich selber Vertauschter 
wanderte er dahin; wie der antikische Sänger im Gedicht „schlang er 
den Weg in großen Bissen, ohne zu kauen". War er denn nicht herab¬ 
gestiegen vom Gebirge ins Tiefland, sondern hatte sich erhoben, als 
seien die Ebenen über Wolken gelegen? Das hatte er nicht gedacht, 
und als philosophisch nicht Ungeschulter würde er es bestritten haben, 
bevor er’s erlebte: daß ein Wechsel der Umgebung den Menschen in 
einen andern verwandeln könne. Doch war es etwas der Art. Von 
dem beherrschenden Sinn seines Daseins, dem Auge, ging diese Ver¬ 
änderung aus. All die bekannten, den Dingen der Heimat verwandten 
und ähnlichen Dinge, Häuser und Gehöfte, die einzelnen Bäume und 
die Wälder, selber die Gefilde der Wiesen oder Äcker waren, wie in 
einer andern Welt gelegen, andere als zuhaus. So war es in den 
Bergen, daß jedes Ding zusammengedrängt stand von unzähliger Nach¬ 
barschaft, groß und Umrissen, jedes auf einem nahen, unweigerlich 
beschränkenden Hintergründe von Wald, von Fels oder Berg. Hier 
dagegen lag jedes mit sich allein, preisgegeben an die achtlose Freiheit 
des Raums, der das alles großartig Beherrschende war. Jedes hatte um 
sich und hinter sich nichts, oder die Unendlichkeit. Geselligkeit, Zu¬ 
getansein, das war das Wesen des Dort; hier war Einsamkeit, Unver¬ 
bundenheit, Leere. Und wie erst war sein Himmel ein andrer ge¬ 
worden! Den er kannte und liebte, der war eine kleine, vertraulich 
gerundete Flachkuppel, in Festigkeit rundum auf die Mauern der Berge 
gesetzt, daß sie ihn trügen, und Sterne in Ruhe, und Wolken in Bewegung 
waren sein leicht und still zu betrachtender Schmuck. Der hier aber, 
den überwogte vom Zenit herunter eine ewige Unrast des Stürzens, 
der die weitferne dünne Linie des Horizonts nirgend Halt gebot, und 
ersichtlich war, daß er über sie hinweg und hinunter sich im Stürzen 
befand, Abgründen zu, deren Bodenlosigkeit zu empfinden war, fast zu 
sehn. Es war aber ein Geheimnis dieses feinen Bandes von Erdrand, 
daß es magnetisch war für den Blick, den es ergriffen hatte im ersten 



%•}% Albrecht Scbaeffer, Das Gitter 

Nu und nicht wieder ließ, und also hatte Ferne sich eingewechselt 
für Nähe, und Leere für Fülle, und Reiz und Verlockung für Ruhig- 
keit und nüchternes Sichdarbieten. Der Raum war alles, was galt, die 
Unendlichkeit, sein Geist, waren's, die geboten, und den an die beiden 
verlorenen Herzen blieb nichts als ein Wahnsinn, eine Zwangseinbil¬ 
dung, eine stille Raserei, das vorgespiegelte Ende des Unermeßlichen 
zu erreichen, Wandrer zu sein in einer von zehntausend Richtungen 
auf den Himmelsrand, um hinunterzublicken in den Abgrund der Welt; 
um da wieder, ohne zwar Höhen erklommen zu haben, oben zu stehn, 
unter sich Tiefe. 

Völker, die von den Hochlanden Asiens einst zu den Ebenen ab¬ 
gestiegen waren, sie hatten es nicht gesehn; aber Geschlechtern nach 
Geschlechtern der aus ihnen erstandenen Völker war endlich der Geist 
der Unendlichkeit zum Schicksal geworden, den Brunos erbkundiges 
Auge sah. 

Und Bruno, der niemals den ewigen Rand erreichte, erstieg Hügel 
vor Morgengrauen, damit er die nur mitten im hohen Himmel ge¬ 
kannte Sonne heraufklimmen sehe aus dem geöffneten Schlund, so die 
Unterwelten verbürgend, wo sie ihre unablässige Wiedergeburt voll¬ 
zog. Und er saß Nachtstunden lang auf dem Hügel, im Blick die 
Gestirne, die untergingen, bis sie verschwunden waren im Geheimnis 
der Nacht und des Raums; oder die aufgehenden drüben, die in immer 
stärkerem Golde zu lächeln schienen über eine Befreiung und fröhlich 
über ihren Aufstieg in die schöne sichtliche Nähe. — Fort war die 
Nähe bei Tag, und fort mit ihr war Sichbemühn, jener gute Geist, 
wie abgefallen die Hände. Was die Augen ergriffen, das glitt in die Füße 
hinunter und bewirkte die eintönige eine, die Tätigkeit und Bewegung 
des rastlosen Ausschreitens. Zu den Händen gelangte nichts, die Kanäle 
waren verstopft, die Schleusen verschlossen, und kam es selbst ein und 
das andere Mal vor, daß ein Tropfen durchquoll — aus einer Baum¬ 
gruppe, einem Gesicht, aus dem Blau einer Schürze am Zaun, in dem 
Morgennebel —, so verflog er, aufgezogen wie Tau, unter der glühen¬ 
den Bedrängnis des Raums. Die Dinge waren nicht mehr, was sie 
waren. Bruno legte den Maler schlafen unter den nächsten Baum und 
reichte dem lächelnden Dämon der Freude die Hand. Sein Leben 
war Lernen gewesen; er dachte, es könnte nicht schaden, wenn es 
eine Zeitlang Genießen wäre, und wenn die Wanderung auch geraden 
Weges nichts lehrte, so würde sie lehrreich sein. Wir wissen allein 
durch Vergleichung; also hatte er sein früheres Leben nicht gekannt. 



*79 


Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 

dem die Vergleichs mittel fehlten; sah nun, daß es schwer gewesen, 
an der erquicklichen, schönen, hoffnungsvollen Erleichterung. 

Es geschah nun Bruno, daß er in der Lust, in der glücklichen Gier 
seines Wanderns einen ganzen Tagesmarsch weit an Altenrepen vor¬ 
überlief. Sein Weg hatte die Geradheit des Linealstriches niemals ge¬ 
habt, deshalb nämlich weil er die Städte vermied, die er, nach Durch¬ 
querung der ersten: für diesmal zu viel des Guten nannte. So ließ 
er sich auf geschlängelter Bahn von seinem kleinen Kompaß nach 
Norden fahren, nur wenn es not war, sich zurechtfragend. Er hatte, 
was hier bemerkt sei, ein vollkommenes Hochdeutsch sprechen gelernt, 
das der Hauch seiner Gebirgsmundart dem Hörenden nur angenehm 
machen konnte. Und gleichviel wie er, dem Ziel fast nah, in die 
Irre ging und — zu seiner Freude — in die Heide geriet, die sich 
im Norden der Stadt ausdehnte. Endlich, da es schon Abend wurde, 
fand er sich wieder im anmutigen Bruchland, inmitten von Wasser- 1 
laufen und Hügeln, Birkenschlägen und Bauernhäusern, und er machte 
halt in einem sauberen Dorf in der Nähe der kleinen Stadt F., wo 
denn die Reise zur Schwester eine kleine Verzögerung erlittt. In dem 
Dorfe übrigens kam er insofern zurecht, als vor einiger Zeit ein Trupp 
junger Maler von Altenrepen aus allda eine Kolonie gegründet hatte 
zur weiteren Eroberung des Bruchs und der Heide. 

Bruno suchte jetzt Nachtquartier. Da sah er über einen Hecken¬ 
zaun und sah etwas Schönes. Auf einem Grasplatze im Schatten, unter 
Obstbäumen, deren saftgrüne Kuppeln schön im Golde des Abends 
brannten, lag ein weiblicher Mensch in einem lichtgelben Gewand; 
der las, den Kopf aufgestützt, in einem Buch, das im Grase lag, und 
war zugleich mit der anderen Hand beschäftigt, eine kleine graue 
Katze wechselweis in den Schwanz zu kneifen und die entspringende 
an den Leib zu drücken. Das Haar war schwarz, das gesenkte blasse 
Gesicht schien schmal, die schwarzen Wimpern sehr lang, und die jetzt 
groß aufgeschlagenen Augen waren geschlitzt, die Sterne grau, unter 
fast steil aufsteigenden Brauenbögen. Sie lächelte nirgendhin und las 
weiter. 

Bruno indeß, im Fortgehn, bemerkte in einem Fenster des Bauern¬ 
hauses, das wie alle in jener Landschaft das Strohdach mit seinem 
Erdgeschoß trug, die Aufforderung, hier ein Zimmer zu mieten, und 
er dachte: wenn irgendwo, warum nicht dahier? 

Bruno mietete also durch Vermittelung einer freundlichen Alten ein 



z8o Albrecht Schaeffier, Das Gitter 

ebenso freundliches Zimmerchen und hatte keine Viertelstunde spater 
das seltene Erlebnis, mit einem weiblichen Wesen, der Schonen vom 
Obstgarten, zu Abend zu essen. Sie war, was die plaudernde Alte 
verriet, die Besitzerin des Hauses, Frau eines Malers, doch vor Jahres¬ 
frist Witwe geworden, eigentlich Schauspielerin; und sie vermietete, 
wie sie ihm selber erklärte, das Zimmer nur um Gesellschaft zu haben. 
Er habe ihr gefallen und es deshalb bekommen. Seine vernünftige 
Art zu reden, ergötze sie sehr, sagte sie auch, — während ihre kamerad¬ 
schaftliche Ruhe und Offenheit ihn mehr erleichterte, ab er wußte; 
an der ihm freilich auch unbekannt blieb, daß die flüchtige Erschei¬ 
nung seines Gesichts über dem Heckenzaun genügt hatte, sie hervor- 
zuzaubem. 

Bruno schrieb infolge der Entdeckung, daß dieser Übergang zu seiner 
Schwester überhaupt unerläßlich sei, einen etwas schwerfälligen Brief 
an den Vormund, in dem er die nötigen Erklärungen machte und um 
Erlaubnis bat, die fremde Schwester kennen zu lernen. Das fast ge¬ 
schäftliche Schreiben schloß er mit der etwas wärmeren Wendung, daß 
er sich herzlich freue, abbald das Antlitz einer ganz neuen Schwester 
zu sehen, deren Name sogar, durch Zufall, ihm unbekannt geblieben sei. 

Darauf verbrachte er die Tage des Wartens heiter in der Gesell¬ 
schaft seiner Schönen, deren etwas neblichtes Wesen bald zu durch¬ 
schauen, seinem durchaus klaren nicht schwer fiel. Spielen läßt sich 
ja jede Rolle, aber einen ganzen Tag lang ist schon viel, und sie 
wechselte häufiger. Offen sie selbst war sie nur in den Erklärungen 
ihrer Liebe an ihn; aber hier sah er wieder fälsch, der sie ftir Spiel 
oder Laune oder Scherz hielt Das einzige, was ihm Ernsthaftigkeit 
an ihr zu sein schien, war ihre Leidenschaft fürs Theaterspielen, das 
sie im Winter wieder aufzunehmen gedachte; hier sparte sie selbst die 
Schminke der Emphase und ließ eine kalte, bronzene, echte Haut sehn. 

Am vierten dieser vergnüglichen Tage hatte Bruno die Antwort auf 
sein Schreiben, folgendermaßen: 

„Ihr Brief höchst überraschenden und gewiß erfreulichen Inhalts 
trifft mich in solcher Überbürdung mit Geschäften, daß ich nur kurz 
meine größte Freude äußern kann. Sie in Bälde zu begrüßen. Es 
darf Sie nicht abhalten, daß meine Nichte, Ihre Schwester, sich zur 
Zeit noch in ihrer Londoner Pension befindet, da ich sie mit jedem 
Schiff erwarte. (Sie zieht die Seereise vor.) Kommen Sie getrost jeder 
Zeit, und hoffen wir, daß meine Nichte spätestens mit Ihnen selber 
hier eintreffen wird." 



Albrecht Schaeffer, Das Gitter z8i 

Der Brief war Maschinenschrift; ein handgeschriebenes Postskript 
enthielt noch die Zeilen: „Es ist nicht unmöglich, daß eine Geschäfts¬ 
reise mich selbst nächster Tage für kurze Zeit entfernt Meine liebe 
kleine jetzige »Haushälterin* Heike, Schwester meiner verstorbenen Frau, 
soll sie bestens betreuen.** 

Den Bruno ärgerte an diesem Brief nichts so sehr wie der Name 
Heike, und er äußerte seinen Unmut gegen die Schauspielerin — sie 
nannte sich Jetta — daß die Menschen Namen für Kinder suchten 
bei Hunninnen und Attilakebsen, und fand sich, abgeschreckt von der 
Erscheinung eines lederbraunen Gespenstes, um so weniger zur Abreise 
gedrängt, als die liebliche Nähe ihn hielt und die Schwester ferner 
als je schien. 

Und doch war er drei Tage später unterwegs. — Sie waren im 
Kahn gefahren, auf dem kleinen, in Windungen das heitre Bruch still 
durchziehenden Fluß in einem der langen Kähne, die vom Heck mit einer 
Stange dahingestoßen, gestakt werden. Sie hatten hinter Buschwerk 
am Ufer die Kleidung mit Schwimmanzügen vertauscht, hatten ge¬ 
badet, wieder den Nachen bestiegen. Endlich war die Jetta, die an 
einer sonnigen, von Weidengebüsch umschlossenen Uferstelle zu landen 
wünschte, aus dem Kahn an Land gewatet, wo sie sich unter Busch¬ 
werk, die Arme ausbreitend hinwarf. Aber Bruno, der schon im 
Folgen war, blieb mitten im Wasser stehn. Denn er sah plötzlich 
alles; sah das Weibliche und die ganze, die wie enthülste Schlankheit 
der fremden Glieder, die gleich einer Kemhaut der nasse, grüne an¬ 
liegende Stoff auch da nicht verhüllte, wo er sie bedeckte, und das 
war sehr wenig. Wenig ja, und deshalb war’s viel zu viel und zu 
früh für den Bruno. Er fühlte sein leibliches Brennen in der Kälte 
des Wassers, gewahrte indem, daß der Kahn, den hinter ihm seine 
Hand hielt, sich loszog, und er sammelte sich, schob ihn ans Ufer, 
machte ihn fest, nahm sein ewig leeres Skizzenbuch draus hervor, 
erstieg die Uferböschung, hockte sich hin, fing an zu zeichnen. Sie 
hatte die Hände hinter dem Kopf und die Augen geschlossen. Er 
zeichnete ihren Umriß, bis sie wirklich entschlafen war, planlos; dann 
gab er sich Mühe. 

Unteilbar war er; konnte nur immer ganz sein, was er sein sollte, 
und hier war nur ein kleiner Teil seiner Ganzheit ergriffen. Sein 
Herz war noch zugeschlossen, und es sollte andre Gewalten brauchen, 
um es zu sprengen. Er packte bei Nacht seinen Rucksack und war 
vor Morgenrot unterwegs. 



282 Albrecbt Schaejfer, Das Gitter 

Am Kopf des Briefes hatte gestanden: Gut Thalmann und Stocken 
bei Altenrepen. Daß dieses Dorf im Norden der Stadt gelegen sei, 
hatte Bruno von Jetta erfahren, und er befand sich, durch Umfragen 
geführt, bei Sonnenuntergang auf einer Landstraße, die vor einem 
breit hingezogenen hohen und grünen Gitter ein Ende nahm. Darüber 
unfern erhoben sich die Obergeschosse, Dächer und Türme eines burg¬ 
artigen, aber anscheinend nicht alten Gebäudes. Bruno ging bis ans 
Gitter und sah hindurch. 

Da war geschorener Rasen; war in der Mitte das steinerne Becken 
einer Fontäne, auf dessen Rand eine Weißgekleidete saß, umringt von 
vielerlei und unsäglich buntem Geflügel, nämlich zwei Pfauen, mehreren 
goldroten Fasanen, Tauben und einer Menge schwarzweißer Elstern, 
jener schönen, prinzlichen Vögel, von denen Bruno sich eine Anzahl 
daheim befreundet hatte, also daß er sich innig freute, die dort Ver¬ 
lassenen hier in der besten Gesellschaft wiederzufinden. Die sitzende 
Nymphe streute lachend und plaudernd Futterkömer aus einer blauen 
Schüssel nach allen Seiten. Aber plötzlich zu einer überraschenden 
Höhe ihres Wuchses sich aufrichtend, wobei zwei lange Haarflechten 
schwarz vom herunterfielen, die Arme von sich streckend, ließ sie 
die Schüssel ins Gras fliegen und stand so, rosigen Gesichts, blitzender 
Augen, wie eine Triumphierende im Tumult der bunten erschreckten 
Vögel, radwerfender Pfauen und hochflattemder Elstern, die auf ihre 
Arme herabfielen. Sie hatte den Bruno noch kaum gewahrt, als der, 
in allen Sinnen und Geistern verwirrt, am Gitter hin fort und weiter 
staubige Feldwege ging, zwischen Saaten, unter Lerchen, unter rosigen 
Abendwolken, eine Viertelstunde Unendlichkeit, ohne etwas zu sehn, 
ohne anzuhalten. 

Oder er nahm doch alles wahr, das Genannte und mehr; nur sah 
er es anders, als er jemals etwas gesehn; sah es vielleicht wie die 
Noten einer großen Musik, die auf ihm gespielt wurde, und deren 
Akkorde wieder, da sie sich aus ihm lösten, zu Mohnrosen und 
Saatengrün, zu Lerchenstimmen und Lichtwolken wurden. Heike, 
dachte er; die war’s, Heike. Keine Hunnin, ach nein, kein Gespenst; 
der Brunnen des Lebens! — Und der widerwärtige Name war ihm 
in einem Nu hold geworden, ja unwahrscheinlich schön und kost¬ 
barer als Eleonore oder Beatrice. 

Nun wandte er sich, erkannte ferne die Burg, ging wieder zurück 
und sah bald durch den Abendschein die große weiße Gestalt sich 
entgegenkommen. Sein Herz schlug schwer an und ging langsam und 



Albrecht Schaeffer, Das Gitter 283 

ruhig. Als sie vorüberkam, am Arm einen Schutenhut, lächelte sie 
abgewandc vor sich hin. Oh, wollte er sagen, was lächelst du denn! 
— Aber was er stehenbleibend hervorbrachte, war die Frage, ob dies 
Haus Thalmann sei, die sie erwiderte: Gewiß, und gewiß sei er 
Herr Galba. 

Sie ging neben ihm zurück und war fast so groß wie er selbst, 
also ungewöhnlich groß für ein Mädchen. Er verglich ihr Gesicht 
einem Pfirsich, obwohl es so rund nicht war, aber so rosig, so frisch, 
so saftreich. Die Augen waren blaugrau, jedoch strahlenvoll, ja feurig, 
und sie hatten zuweilen einen Aufschlag, schräg nach oben, der kinder- 
haft scheu war. 

Sie plauderten bald; er vernahm von einer kurzen Abwesenheit des 
Onkels, und sie fragte nach seinen Bergen, die sie flüchtig kannte, 
und meinte gutwillig, es müsse schön sein, da zu Hause zu sein. In- 
deß erwiderte er nach einem Augenblick ruhig, seiner Wanderung 
eingedenk: „Wie kann man wissen, wo man zu Haus ist, wenn man 
nur immer zu Hause war! Mein Vater war dort Bauer, italienischer 
Herkunft, und schwor, er sei so gut in Toledo daheim wie Theoto- 
kopuli, der ein Kandiot war. 1 * 

Die Entgegnung auf diese schwer verständliche Rede war eine Frage 
nach dem merkwürdigen Namen, der eine Handhabe bot zur Erzählung 
von einem sehr merkwürdigen kalekutischen Hahn, der so groß war 
wie schön und nur nicht mehr jung; der infolgedavon beim Erscheinen 
eines neuen, so kleinen wie unschönen, aber jugendlichen Hahns von 
der Schar aller Hennen verachtet und ausgeschlossen wurde, darüber 
in Schwermut verfiel und geschlachtet wurde. „In der Natur“, sagte 
Heike, „ist alles so einfach.“ 

Bruno schien es nicht einfach, daß er sich in diesem Augenblick, 
ohne zu wissen, wie, zwischen Wirtschaftsgebäude und Geflügel ver¬ 
setzt fand; doch gewann er sich im Anblick des Heimatlichen und 
sah das Mädchen an. Plötzlich trat es mit einer fast heftigen Gebärde 
dicht vor ihn hin und sagte —. der erste Mensch, dem er aufrecht 
stehend ins Auge sah: „O, Sie müssen mein Freund sein! Wollen 
Sie? Ach bitte!“ Sie seufzte, und ihr Auge hatte das scheue Aufwärts¬ 
schweifen: „Es ist so gut, daß wer da ist!“ 

Sie hatte seine Hand ergriffen, blickte flehend und setzte hinzu, 
bevor er erwidern konnte: „Ich erkläre cs Ihnen, wenn wir Freunde 
geworden sind.“ 

Dann führte sie ihn an der Hand in das Haus. Blumen, Raden 



184 Albrecht Schaeffer, Das Gitter 

und Mohn, die sie aus dem jungen Korn henrorgeholt hatte, sah er 
sie noch in seinem Zimmer in eine Vase ordnen; sah sie entschwinden 
mit einem Lächeln und einem Knix, ging ihr nach bis zur Tfir, ließ 
sich dagegen fallen und schluchzte aus seiner letzten Tiefe herauf: 
„O wie liebe ich dich, Heike! O wie liebe ich dich! 4 * 

Ein Tag war vergangen und Abend geworden: Bruno lag in dem 
kleinen waldigen Teil des Parks, halb unter Buschwerk verborgen in 
einer alten Gewohnheit, nahe über sich Blatter zu haben, deren reine 
Gestaltung fest blieb, dieweil er träumte, und so dachte er Heikes. 

Untertags waren sie auf dem Gange von irgendwoher nach irgend¬ 
wohin unter dem höchsten Turm vorübergekommen, wo zwischen 
klüftigen Ulmen eine besonders starke und dichte Eibe stand. Da 
sah er das Mädchen blaß werden; sie griff nach seiner Schulter und 
wandte, sich an ihm haltend, langsam das feuchte Auge zur Turm¬ 
hohe hinauf. Endlich und leise sagte sie: „Vor einigen Tagen bin 
ich da heruntergefallen. Der gute Baum fing mich auf.** Sie schwieg 
und seufzte, sah ihn an und fuhr fort: „Nein, glauben Sie mir, ich 
bin gesprungen und nicht gefallen.** 

Sie zog ihn weiter, und was sie ihn nun wissen ließ, war das Fol¬ 
gende. Ihr Onkel, ein Mann in den vierziger Jahren, hatte zu ihr 
eine zwar nur sinnliche, aber deswegen um so hitzigere Neigung ge¬ 
faßt. Er verfolgte sie, dringlicher seit kurzem, weil ein junger Mensch, 
ein Gutsbesitzer der Nachbarschaft, sich um sie bemühte. Jetzt, im 
Anschluß an seine Bewerbung, die der Onkel ihr überbrachte, und 
die sie ohne weiteres ausschlug, warb er selber um sie, drängte sie, 
wollte sie in die Arme ziehn und liebkosen. Sie mußte fliehn, konnte 
ihr Zimmer nur auf Umwegen erreichen, fand ihn vor der Tür, floh 
besinnungslos aufwärts statt abwärts, floh im Turm hinauf, erreichte 
die Plattform, schwang sich auf die Brüstung, — und als er erschien, 
drohte sie, leidenschaftlich und unerschrocken, wenn er nur einen 
Schritt tue, so sei sie unten. — Ja, sagte der verblendete Mensch aus 
seiner Flamme, in meinen Armen! — und sie ließ sich fallen. 

Heike schloß, indem sie meinte, sie habe doch wohl gewußt, daß 
der Baum unten bereit sei. — Und nun, sagte sie anscheinend unbe¬ 
dacht noch, nun gehe sie mit jedem, der sie fort nehme. 

Hieran dachte Bruno. Mit jedem, flüsterte er, o nicht mit jedem! 
— Er war auf der Plattform gewesen und hatte die Hohe, die gering 
schien von unten, von oben schwindelnd genug gefunden ftir einen 



Albrecbt Schaejfer, Das Gitter 285 

lockeren Sinn. Aber der ihre war fest, nein heroisch, und schwang 
sie kühn über die natürliche Seelengrenze hinaus in ein höheres Le¬ 
ben, — und wen sie liebte, den — oh, wen sie liebte .. . 

Da horte er auf, an Heike zu denken, sondern er dachte sie, 
dachte sie nur mit solcher Inbrunst, daß sie bald darauf vor ihm stand. 

Er regte sich nicht, und sie tat, als ob er nicht da wäre, indem 
sie sich niedersetzte vor seinen Füßen, doch ihm den Rücken wandte. 
Sie hatte einen kleinen Strauß Himbeeren gesammelt und begann, ihn 
über die Schulter mit Beeren zu werfen, im Wechsel mit andern, die 
sie in den Mund schob. Dann sagte er aus einer Not-Gelassenheit 
zu der Abgewandten: es wäre doch gut, daß sie seine Schwester nicht 
sei. — Da sie unverstehend: Warum? fragte, so verbesserte er sich: 
er habe sagen wollen: daß seine Schwester nicht da sei und dafür 
sie. Aber nun schien sie noch weniger zu verstehen und schwieg. 

Er hatte sich aufgerichtet, ihr Antlitz kam langsam über die Schulter 
zu ihm, und sie blickten sich in die Augen, bis ihre Lider sich 
senkten und er zitterte. Nun stand sie auf in ihrer Art, die er schon 
einmal gesehn hatte, ohne die Hand zu stützen, nur mit der federn¬ 
den Kraft ihrer Fußgelenke langsam zu ihrer Größe sich aufrichtend. 
Sie ging in den Wald hinein, aber die sein Herz spannende, herrlich 
elastische Bewegung zog ihn auch von der Erde empor, und er hatte 
sie bald eingeholt. Im Augenblick, wo er ihre Hand ergriff, geschah 
ein allmächtiger Schlag, und in einem Nu waren sie beide verdoppelten 
Leibes, jeder hinübergefahren in den des andern, nicht mehr wissend, 
wo er endete, nichts mehr wissend, besinnungslos, in Feuer, in Süße, 
in einem Ausbruch aller Sinne und Seelen, der sie ins Jenseits ver¬ 
setzte. Dann sah Bruno zwar eine in flirrendem Grün entschwindende 
weiße Gestalt, aber an seinem feurigen Munde hing noch fest der 
andre von übermenschlicher herzraubender Süße, unlöslich, und sein 
Leib kam ihm unbegrenzt vor wie der eines Riesen. 

Er lief ihr nach. Aus dem Wäldchen gelangt, am großen Gitter 
entlang eilend, sie vor sich, die er einholen wollte um jeden Preis, 
sah er ein Automobil vor dem Tore halten, dem eine kurze Männer¬ 
figur entstieg. An der vorüber, ohne sie anzusehn, lief Heike ins 
Innere des Gitters, und er gewahrte noch ihre Flucht hinter den 
Stäben, während ein kleiner bartloser Herr auf ihn zukam und ihn 
sehr herzlich begrüßte. Er hielt sich steif in der feinen Kleidung 
und sein glattes Gesicht ohne viel Ausdruck als den von Geschäfte 
sinn und Kälte hätte Bruno nicht gefallen, auch wenn er nichts 



286 Albrecht Schaeffer, Das Gitter 

gewußt hätte. Er selber,b arhaupt, in seinen Wadenstrümpfen und der 
Joppe, glaubte verwildert auszusehn und hörte verworren die mit Be* 
tonung gesprochenen Worte: »Nun, mein lieber Herr Galba, Sie 
scheinen sich in meinem Hause ja vortrefflich zurecht gefunden zu 
haben.“ 

Zu Abend speisten die beiden allein, wobei der Fabrikant von 
aller Art Malern und Malerei verständlich zu plaudern wußte; jeden¬ 
falls sich bewandert erwies in allen Galerien Europas. Nach Beendigung 
der Mahlzeit aber erschien, die sich hatte entschuldigen lassen, Heike 
wie eine Märchengestalt, dunkel erglühten Gesichts und hoch schwei¬ 
fenden Auges in einem weitärmeligen und langen Faltenkleide von 
gelber Seide, das mit schwarz-weißen Elsterflügeln bestickt war. Ohne 
die Anrede des Onkels zu achten, ging sie ins Musikzimmer hinüber, 
wo ein Flügel stand und ein Cello lehnte, entzündete Kerzen und 
setzte sich mit dem Cello. 

Ein zitterndes Frieren überfiel Bruno, als beim Stimmen die rollenden 
und knarrenden Waldstimmen der tiefen Saiten erschollen. Felsen 
schienen zu tönen, und dies war der Augenblick, wo er ins Himmel¬ 
reich eintrat. Die große Heilige saß über den Sangschrein gebeugt 
und streng gewordnen Gesichts im Scheine der Lichter, und der 
mächtige Bogenarm und die zierlich kletternden Finger entfesselten 
den Stolz und die Ewigkeit einer engelskühnen Musik, in deren Ge- 
woge sein Herz verging und zu Glanz wurde wie Licht in Gewässer. 
Dann wieder griff Schrecken auf Schrecken aus der Allmacht von 
Tönen in seine Seele — es war die eigentliche Violinciaconna von 
Bach —, so daß er erwachte und, in geheimnisvolle Dämmerung einer 
entlegenen Himmelskammer entrückt, die Engelin sah, die Siedlerin 
am Gottesberg; und ein Blitz des Erkennens, daß all dieses, Wunder 
fler Gestalt und der Kraft und der Seele, für ihn lebten, sein ge¬ 
hören wollten, hüllte ihn in Flammen der Demut ein. 

Das Cello war verstummt, Heike verschwunden, Bruno fand sich allein 
und blieb, wo er saß, im Schatten der langsam tiefer brennenden Kerzen. 
Wie groß, dachte er schwer, muß ich werden, um würdig zu sein? — 

Dann: um zu seinem Zimmer zu gelangen, mußte Bruno an Heikes 
vorübergehn. Ihre Tür öfihete sich, als er den heißen Boden des 
Flurs betrat; sie hatte das gelbe Kleid noch an, lächelte angstvoll und 
glühend, und sie erschöpften sich zwischen Tür und Angel in Um¬ 
schlingung und Küssen noch einmal, bis ein Laut im Treppenhaus 
Heike ins Zimmer scheuchte, und er entlief nach dem seinen. 



Albrecht Schaeffer, Das Gitter x%j 

O diese Nacht, kaum begonnen, war endlos lang; Bruno, ins Bette 
gewühlt in seinen Kleidern, wartete, als eine Uhr elf schlug, noch 
Minuten und schlich zur Tür, der Schuhe schon ledig. Etwas, das 
er in seinem Leben zuvor kaum jemals bedacht hatte, und so riesen¬ 
groß es auch schien, war das einzige, was jetzt möglich war. Hätte 
er nachdenken können, so mußte er eingestehen, daß er das Mädchen 
Türme hinaufgejagt hätte und ihr nachgesprungen wäre. Er gelangte 
lautlos bis vor ihre Tür, aber hier fehlte der Mut. Diese Tür war 
nicht zu besiegen, die Hand fiel in Staub auf der Klinke, er lag an 
der Wand daneben mit Kopf und Armen, aus sich emporgewunden, 
— denn jetzt hatte die Qual nicht, wie am Tage die Lust, einen 
andern Leib, in ihn überzuströmen. Doch war sie Augenblicke da¬ 
nach wie verlischt, und Bruno kniete hin und drückte still einen 
Kuß der Liebe auf die unbetretene Schwelle. 

Ein anderer Morgen kam und veränderte alles. Am Frühstücks¬ 
tisch, als die Drei sich zusammengefunden hatten, erklärte der Onkel 
einen kleinen Scherz, eine Überraschung, die er sich erlaubt habe, ge¬ 
stehen zu müssen, und offenbarte Bruno und Heike als Bruder und 
Schwester. — Ob er schon vorhatte, nach dieser Mitteilung den Raum 
zu verlassen, oder ob er sich nur jetzt genötigt sah, wer wollte das 
sagen? 

Die Geschwister Gewordenen saßen und sahen sich an, bis die 
Blicke wie verglühte Drähte zerfielen. Nun tanzte um Bruno der 
Raum; ihm ward von einer übermäßigen Kraftanspannung sterbens¬ 
übel; er sah kaum durch lauter Tanzendes das Gesicht Heikes, das in 
die Hände vomüberfiel. Dann war er an einem andern Ort. .. 
Noch später erwachte er in seinem Zimmer auf dem Bett aus dem 
Schlaf. 

Er hatte geträumt, Heike sei eingetreten, und nun saß sie wirklich 
bei seinen Füßen, und die Luft war dämmrig. Sie sah ihn nicht 
in und fragte: „Kann es nicht anders werden mit uns?“ 

Er empfand etwas Feindliches und sagte: „Nein.“ 

Sie hielt das Gesicht in Händen. Er fragte: „Was hat er damit 
gewollt?“ Sie schwieg lange, sagte endlich fast leicht: „Bosheit wohL 
Er hat’s versucht. Ach, und meinst du denn —Sie verstummte und 
ließ nur, als er drängte, die Worte hervor: wenn es nicht so 

gewesen wäre . ..“ 

Dies begriff 1 er zwar, aber den ganzen Gedanken, ob diese Leiden- 
»ehaft, wenn sie gewußt hätten, sich nicht eingestellt hätte, den 



z88 


Albrecht Scbaeffer, Das Gitter 

konnte er in dieser Stande nicht aasdenken; viel später kam er za 
dem Schluß, daß — wie es war, so war es. Es konnte nur dies ge¬ 
schehen; und wie einmal das Leben war, so geschah es auf diese 
Weise. Denn es hatte noch keiner sein Dasein für sich allein, immer 
gehörten andre dazu. Böswillige, Gutwillige, der Onkel hier und 
drüben sein Vater. Ja, lag nicht bei dem der Anfang zu allem — und 
warum nicht dann bei viel früheren Vätern und Müttern — und 
mußte nicht, was mit einem Fehler begann, sich fortsetzen in Fehlern? 

Jetzt wußte er das noch nicht, und was frommte es auch, zu wissen. 
Er lag, und sie saß, und als nach langer Zeit beider Augen einen 
Blick ineinander versuchten, brachen ihre Seelen ganz zusammen, nur 
Schreie stoben heraus, und Bruno war allein. 

War allein und vor Morgengraun unterwegs nach irgendwohin. 

In der Stadt München, in einer Zeichenklasse der Akademie finden 
wir einen andern Bruno wieder. Er war zerschmettert. Er war Ikarus, 
nur daß er lebte. Scheinbar von den Bergen hinab in die Ebene 
gestiegen, hatte er in Wirklichkeit Schwingen ins Morgenrot erhoben; 
hatte immer höheren, leichteren Flugs Gottes Gestirn überflogen, hatte 
die Kammer im Azur offen gefunden und vor der Jungfräulichen ge¬ 
kniet, der ewigen Schwester, dem höchsten Idol der Unerreichbaren. 
Vielleicht war dieses der einfache Sinn; den Menschen trennt, wer 
er auch sei, Unmöglichkeit von der reinen Idee; und es war nur 
diese Art der Trennung von so leibhaftiger, so grausamer Gestalt, wie 
das Idol selber sich leibhaft gezeigt hatte. Es schien aber das Schick¬ 
sal der Galbas zu sein, daß sie, jeder auf seine Weise, ein Höchstes 
sehn und geblendet werden sollten. Hier saß das Wunder in der 
weiblichen Seide der Elsterflügel und zauberte die Seele der Welt 
aus einem braunen tönenden Schrein hervor; und dort hatte es die 
gespenstischen Augen des traurigen Griechen. Bruno war geblendet; 
die Sehkraft seiner Seele war erloschen bis auf einen Dämmerhaucb, 
und nur seine Hände hatten einigen Kunstverstand und ihre ganze 
Geschicklichkeit behalten, so daß sie jede vorgelegte Aufgabe aufs 
gehorsamste getreu erledigten. Bei Lehrern und Kameraden galt 
keiner für so untalentiert wie Bruno. 

Er ging so von dahin zu dorthin wie einer, der geführt wird, und 
war er allem, so war Leere. Untertag war es so; der Nachtraum 
indeß zitterte von Ausgeburten der Grausamkeit. Sie stand vor dem 
Brunnenbecken im Rasen, sie, die Seele, die Nymphe der Wasser, 



Albrecht Scbaeffer, Das Gitter z8p 

▼on paradiesischen Flügeltieren umwogt; und sie saß vor den Lichtern 
unsterblich. Die Folterschraube der Entbehrung zog an, und er schrie 
vor Schmerz. 

Und wenn im Jahr der menschlichen Seele das Höchste wie das 
Tiefste, die Süße und die unerträgliche Bitternis ihre Fristen haben; 
and wenn der Schmerz wolkig wurde und neblig und sich gar völlig 
verzog: so quollen nun aus dem zerrütteten Mark in das geschwächte 
Gebein Gifte und Krankheit von gleichsam natürlicher Art: es begann 
das Grausen, die Raserei des Geschlechts. Nun wucherte die Nacht, nun 
strotzte der Leib, gebläht von Wahnsinn seiner Lüste. Bruno stürzte ihn 
die Treppe der Dirnen hinunter und im Triumph seiner Verzweiflung 
dem Abgrund der Seuchen zu. Aber am Rand riß ihn der Ekel zurück, 
er wandte sich und ergab sich der Fata Morgana: sich selber. Graue 
Tage und einsame Orgien der Nächte. Es war bald ein geheimes Ab¬ 
kommen zwischen ihm und sich selber geschlossen, dergestalt, daß er in 
jeden Schlaf nur durch das Tor des Entschlusses einging: Morgen fahre 
ich zu ihr; denn eine Möglichkeit des gemeinsamen Lebens muß sich 
schaffen lassen. — Und dieses Abkommen erteilte ihm die Erlaubnis 
zu dem vorhergehenden Raub an sich selbst, zum Hineinreißen der 
fatamorganischen Geliebten in seinen schmelzenden Leib. Er er¬ 
mordete sie, und er schwang sich wieder mit ihr wolkenhoch und 
zu einem Hochmut der Götter, daß er schrie: Haben nicht Sigmund 
und Siglinde gelebt, und haben sie nicht Sigurd gezeugt: Und lebten 
sie nicht leibhaftig, so sind sie um so tiefer wirklich gewesen, geistige 
Geschöpfe eines ganzen Volks, das eine höchste Liebe in der Um¬ 
schlingung der Wälsungen begriff und verherrlichte. — Griechenland 
stieg auf, wo ein Unerlaubtes in gepriesenen Gliedern lieblich und 
edel schien, und über Asien und Ägypten zeigten sich riesige Königs¬ 
geschwister, viel zu hoch, viel zu kostbar, als daß ihr Blut sich 
anders vermischen durfte als mit dem eignen. Sie beide aber, er 
Bruno und sie Heike, waren sie minder vereinsamt in der Menge 
and minder königlich im Geist, eine selige Cäcilie sie, ein Bruder, wenn 
er nur wollte, Tintorettos und Theotokopulis er, wofür als geheimes 
Zeichen sie beide das Volk um Haupteslänge überragten? Oh, warum 
waren nur seine mächtigen Lebensgeister so gebunden von uralten 
abergläubischen Gebotsfesseln! Und o, warum duldete er diesen Irr¬ 
sinn der Welt, die nur jene Sünden verfolgte, die ein Mensch dem 
andern zufügte, nicht aber die der Mensch selber sich antat aus Not! 
Oh, alle Raube und Morde, alle Gewalttaten und Schändungen der 

*9 



z$>o Albrecht Scbaeffer, Das Gitter 

Menschheit, die kein Gesetzauge sah, die der Einzelne einsam an sich 
beging! 

Der Morgen kam und zeigte in der aschgrauen Hand die großen 
Goldfiguren der Nacht, bleigegossene, kleine, verächtliche Männlein. 

Bruno, wie schon gesagt, lernte richtig zeichnen, die verschiedenen 
Arten der Farbmalerei, porträtieren, jedes, soweit die Geschwächtheit 
seiner Augen gestattete, die ihn stets nur ein Einzelnes sehn ließ, 
niemals ein Ganzes; will sagen eigentlich Teile nur, weil es kein 
echtes Ganzes gibt, das nicht erbaut wäre aus Teilen, — und so ver¬ 
lebte er längere Zeit bis zu dem Tage, wo er aus einem Anschlag¬ 
zettel des Theaters den Namen Jetta Sandlers las und sein Dasein 
sich änderte. 

Die Frau hatte ihn wirklich geliebt, und nun, wo sie den un¬ 
bestimmbar Traurigen wiedersah, mit einer Stille bekleidet, die größer 
war, als er selber zu wissen vermochte, und die sehr verlockend ab¬ 
stach gegen den Maskenlärm ihres Lebens, verfiel sie in eine Leiden¬ 
schaft, deren schöne Wirklichkeit sie entzückte. Nun hatten die 
damals eben beliebt gewordenen Frauengestalten der Ibsenschen Stücke 
sie befähigt, ihre Kunst so zu entfalten, wie sie brennend sehnte, und 
um die Zeit des Wiedersehens hatte sie begonnen, als Hedda, als 
Nora gastweise von Bühne zu Bühne zu dehn. Sehr gelegen kam 
da ihrer Ruhmbegierde die Begegnung mit Bruno: ein berühmter 
Maler, der er schon werden sollte, konnte ihren Glanz und sie wieder 
den seinen fördern. 

Brennender, lebendiger, stolzer, ja härter; geistiger und durch alles 
dieses auch schöner geworden, besiegte, sie Bruno rasch, unwissend, 
wie sehr er willenlos war, nicht viel mehr als ein Holz, dessen Natur 
es ist, im Feuer zu brennen. An eine Sommerreise glücklicher Flitter¬ 
wochen — denn Bruno fühlte sich so erleichtert, als habe die Ver¬ 
antwortung für sein Leben ein anderer übernommen — schlossen sich 
nun die Reisen durch die deutschen, auch ausländischen Städte, und 
Bruno fand sich, er wußte nicht wie, zum Porträtmaler geworden. 
Er malte nicht schlecht; ja, sogar, wenn ein Charakter von Emst und 
Gewicht ihn in sich zog, so leistete er in der impressionistischen 
Art, die sich von selber in seine Finger gefunden hatte. Bedeutendes. 
Entsetzt nach vergeblichem Warten war lange der Genius entflohn 
und die entkräftete Seele gefolgt; nicht mehr wissend, was es ist, 
sich nach innen zu wenden, das vorsichtige Netz in den Weiher der 
Geheimnisse hinabzulassen, oder nur zu lauschen, wie es vom Grunde 



Albrecht Scbaeffer, Das Gitter 291 

herauf dunkel murrte, bis der Schein eines Geisteranditzes freude¬ 
bedrohlich erschien: war er hohl und befand sich leicht im beständigen 
Wechsel der von außen ergossenen Fülle. Er hatte die Menschen 
non gern, er fand nichts auszusetzen an ihrem Treiben, weil er an 
sich selber nichts aussetzen durfte; er hatte sie zu malen, und du 
Handwerk machte ihm Freude. 

Dann freilich kam der Tag mit der unausbleiblichen Stunde, wo 
es ihm einfallen mußte, eine alte, noch aus väterlichen Zeiten stammende 
Mappe voller Proben und Entwürfe zu öffnen. Nachmittag war’s, er 
allein in der Werkstatt; und er grauste sich. 

Den Inhalt der Mappe brauchte er nicht erst zu vergleichen mit 
den halb und halb oder ganz fertigen Malerarbeiten um sich her. 
Er saß von ihnen abgewandt vor der Glaswand, unter sich abend¬ 
sonnige Dächer, in einem beständigen Schluchzen. In welcher Stadt 
bin ich? fragte er. In welchem Leben bin ich? Wozu hier? Wie 
alt? Wem gehöre ich zu? — Er wußte nichts außer dem Zermalmenden: 
daß er an der Unsterblichkeit vorüberging, — aber ein Chor ver¬ 
schütteter Stimmen schrie: Umkehr! 

Er brauchte keinen Entschluß zu fassen; er war ganz fertig, als 
er vor der Tür den Schritt seiner Frau vernahm, dem er anhörte, 
daß die Liebe zu ihr schon lange so flüchtig geworden war wie 
Erinnerung. Da sie eintrat, stand er auf und sagte zu ihr: 

„Liebe Jetta, ich habe eine alte Mappe geöffnet und gesehn, daß 
es eben der letzte Augenblick ist, wo ich umkehren kann. Wir wollen 
uns trennen und dankbar sein für die Zeit. Wir liebten uns, aber 
ich glaube, wenn du dich recht besinnst, wirst du erkennen, daß wir 
es nicht mehr tun. Es ist ein Schein wie die Bilder hier." 

„Ich glaube," sagte sie, „du hast recht.“ 

Dann kam sie zu ihm, faßte seine Hände, blickte ihn gut an und 
sagte: „Ich muß freilich bleiben, wo ich bin. Aber, Bruno, wir 
kennen die Zukunft nicht, und wir können ja denken, daß nur eine 
Pause nötig ist, und daß wir uns wiedersehn." 

Sie begann zu weinen. Das war ihre Natur so, die durch das 
ständige Theaterspiel bestärkt worden war in der Nachgiebigkeit 
gegen Erschütterungen. „Hoffentlich“, sagte sie, „gerät’s dir zum 
Segen.“ 

„Und dir auch“, schloß er dankbar und hoffnungsvoll. 

Dies war in München. Am folgenden Morgen, einem Junitag, 



lyi Albrecbt Scbaeffer, Das Gitter 

um die Stunde, wo die Hauser der Bauern leer sind von Menschen, 
die sich dann hier und da in den Wiesen sehn lassen, die Sense 
schwingend oder den Rechen, trat Bruno in den alten Geruch des 
kühlen Hausflurs und gleich links in die Wohnstube. Die war un¬ 
verändert, uud er wandte sich, und siehe da, zwischen Fenster und 
TQrc im vollen Licht hing Toledo im Gewitter. 

Später einmal, wenn Bruno an diese Stunde zurück dachte, so war 
ihr Wesen kaum faßlich vor Unscheinbarkeit Das Bild hatte ihn 
nicht erschreckt; er war sogar nahe getreten, hatte es auf Schaden 
geprüft, und dann erst, als er vor ihm saß auf der Bank unterm 
Fenster, hatte er erkannt, daß es ihn festhielt. Es hatte, dunkel wie 
es war, Strahlen in ihn gesenkt, die im Spektrum nicht sichtbar sind, 
ultra genannte Strahlen jenseits unsrer sinnlichen Grenze. Da war 
sie wirklich geworden, diese hochgelegene Stadt, die in Feenschlössern 
aus dem Weltuntergang hochflog, unter Wolken, über Wolken, 
zwischen schwefligen Scheinen, eine geisterhafte Tänzerin aus Licht, 
eine Erscheinung von Oberirdischer Sicherheit, von zerrissenen Talern 
und Schlünden, von zerrissenem Gewölk und Himmel, von lauter 
Zerrissenheit umringt. Bruno war hergekommen, um von vom an¬ 
fangend der Maler zu werden, zu dem er bestimmt war, und nun 
saß er schon lange im Versagen. Unmerklich hatte ein Blitz seinen 
Quell aufgesaugt, er war versiegt. Und als er es wußte, sah er im 
Bild der Gewitterstadt das Bild seines Lebens gemalt, worin es den 
einen Aufflug gegeben hatte, für Blitzesdauer, hinter dem die Nacht 
in Zerrissenheiten versank. 

Das war’s, was er sah, und es war genug, und es brauchte nicht 
aus dem Gespensterlicht seines Bildes das traurige Antlitz zu treten, 
das mit dem spitzen Bart und der spitzen Stirn, mit den abstehenden 
Ohren, das Gesicht des schaurigen Griechen, das aus runden Augen 
unter den Kreisbögen der Brauen ins Nichts blickend zum zweiten 
Male zu Galba sagte: Du kannst nicht — 

Eine Kinderstimme, laut aufweinend durch eine plötzlich geöffnete 
Tür, weckte ihn aus der Erloschenheit Nun fiel ihm ein, wessen 
er noch vor der Haustür mit Vorfreude und etwas Beklommenheit 
eingedenk gewesen: daß er hier eine kleine Tochter hatte, im ersten 
Ehejahre von Jetta geboren, ein Sommerkind, weil nur in den 
sommerlichen Wochen der Erholung hier sichtbar, aufwachsend in der 
guten Luft bei seiner Pflegerin und Erzieherin, ein stilles Geschöpf, 
ihm wenig bekannt. Jetzt erinnerte er sich auch, daß nur die Wohn- 



Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 195 

Stube im Haus unverändert war; der Stall und der Heuboden waren 
ausgebaut, ein neuer Stall und Boden daran, denn die Landwirtschaft 
hatte er nicht aufgegeben und in den Sommern gern zu Sense und 
Rechen gegriffen. 

Bruno erhob sich und ging dem leiser gewordenen Weinen nach 
in den Oberstock, wo eben eine Tür zufiel und das Weinen ver¬ 
stummte; öffnete behutsam die Tür und sah in den kleinen und 
niedrigen Saal. Das Kind saß in seinem Schulpult am Fenster, die 
Lehrerin hielt es am Ohrzipfel und skandierte: „Ei-ne die-bi-sche 
El-ster“. Trotz der Sommerwärme waren die Fenster geschlossen und 
die Luft übelmachend mit einem Gemisch von Medikamenten und 
Parfüm. Unvernunft und Bosheit, die walteten hier im Verein. 

Da er sich nun bemerkbar machte, so wandte sich das Gesicht 
her, das zart war und lieblich trotz einer klüftig gebogenen Nase 
und tiefliegender Augen, und gleich lag der kleine Leib und der 
Kopf, groß von herumgewundenen lichten Flechten, an seiner Brust. — 
Und Bruno begann die dritte Veränderung seines Lebens mit einer 
Berichtigung der menschlichen Irrlehre, welche der Elster, einem 
schönen und sinnvollen Vogel, weil er dasselbe tut und denkt wie 
der Mensch, daß ihm nämlich wohlgefallt, was glänzt, und er sichs 
verschafft, wenn er es sieht, einen Schandnamen machte aus seiner, 
des Vogels, Unkenntnis der Gesetze. Danach wurde er, was sein 
Vater gewesen, ohne freilich nur in einem Traum zu bedenken, daß 
es so war: Bauer und Lehrer seines Kindes. Nur fing er, völlig ver¬ 
zichtend, das Bildschnitzen nicht an. 

Das Kind Dorothee schien schmächtig und zart, aber die Blumen¬ 
gestalt war frisch und markig und zähe. Zwiespältigkeit schien ein¬ 
mal das Wesen der Galbas sein zu sollen, und so hauste im feinen 
vornehmen Äußern dahier eine ländliche, wiesenliebende Seele. Die 
Natur selber schien in das zärtliche Zeltlein der Menschenhaftigkeit 
eingezogen und reichte sich selber von drinnen nach draußen die 
lebendige Hand. Der mählich Heranwachsenden galt es ganz gleich, 
schwitzend am heißen Bauch der Kühe zu zapfen, das Heu zu 
wenden, Ziegen ans Licht der Welt zu verhelfen oder Blumen in 
Töpfe zu ordnen, im Mondschein zu Traum zu werden und Märchen 
zu hören, lange hinlauschend, aus der eintönigen Gesprächigkeit des 
Brunnenrohres. Sie liebte das Ganze, liebte es mit dem Wesen, kaum 
mit ihrem Bewußtsein, und Worte machte sie nie daraus, ausgenommen 



*94 


Albrecht Scbaeffirr, Das Gitter 

die Kosenamen für ihre Hühner und Gänse und die erworbenen 
Freundschaften der Elstern, mit denen sie endlose Kindsgeschwätze 
vollführte. Bäume und Büsche und selber die strengen Felsen waren 
ihr freundlich gesinnt, öffneten sich der liebevollen Vernunft, redeten 
verständliche Sprache. 

Schwerer wahrhaftig waren die, welche der Vater lehrte, denn es 
wurde nun alles wieder wie einst: Homer kehrte zurück und Herodot, 
Cornelius Nepos und Ovid, und die uralten Vene rollten in Perlen¬ 
frische über die willigen Lippen verjüngt. Nichts wurde es dagegen 
mit der Malkunst. Sehr sonderbar allerdings war es für Bruno, zu 
sehn, daß die zeichnerische Begabung des Kindes die seines Vaters 
und Großvaters nicht nur vereinte, sondern übertraf; daß es aber 
der allzeit verschwenderischen Natur beliebt hatte, an dem sonst voll¬ 
kommenen Organismus diese Blüte zu Uberzüchten, sodaß sie un¬ 
fruchtbar blieb, unbefruchtbar vom Geist des Lebens, eine erstaunliche 
Fingerfertigkeit, unabhängig von allen doch vorhandenen Seelekräften, 
für das Kind selber ein Müßigspiel, Tand und Vergnügen. In 
späteren Jahren zwar schien es, als sollte Kunstgewerbe daraus werden; 
Phantasie griff doch zu, schuf geheimnisvolle Zusammenfassungen und 
-Stellungen kristallinischer, pflanzlicher, tierischer Formteile, in denen 
der Verstand des Vaters, oder ihr eigener, Muster für Buchpapiere 
erkannte, oder für Töpferwaren, oder für Stickereien. Allein sie blieb 
bei den Nadelarbeiten, die auch am besten paßten zu ihrem früh 
fraulich werdenden und dem häuslichen, ländlichen Wesen. Daß es 
bald fraulich wurde, war gut eingerichtet von der Natur, die sich 
gern fordern ließ von der kindlich erratenen Einsamkeit des gatten¬ 
losen Mannes. — Es war alles wohl eingerichtet im Haus; die Mutter 
konnte dabei sein, wenn sie wollte, sie störte keinen. Freilich, da 
hier keiner Neigungen hatte, die sie, außer einen Sommertag lang, 
teilen konnte; da, je schöner der Sommer war, in der ständig ver¬ 
größerten Wirtschaft keiner Zeit hatte für sie: so kehrte sie immer 
seltener und zu kürzerem Aufenthalt ein. Brunos vergangene Liebe 
stellte sich nicht wieder her, und die letzte Wärme der ihren erlosch 
aus Mangel an Nahrung. Sie lernte, soweit sie noch dessen bedürftig 
war, das Ihre in den Städten zu finden. Den Rest nannten sie Freund¬ 
schaft. 

Ich weiß nicht, ob Bruno in jenen Jahren auf die Frage: Bist du 
unglücklich, Freund, oder glücklich? eine Antwort zur Hand gehabt 
hätte. Vielleicht hätte eine Frage ihn erinnert, ihn geweckt wie den 



Albrecht Schaeffer, Das Gitter 295 

Wandler im Mond und gestürzt. Es fragte aber nie jemand, zum 
wenigsten er selber. Der gegen sich selbst gerichtete Wille des 
Menschen ist eisenstark, und er ist es mit einem geheimen Triumph, 
wenn es gilt, einen Teil des Ichs zu verkerkern. Hier war dazu nur 
nötig gewesen, Toledo im Gewitter zu entfernen, und — wer sich nie 
im Spiegel erblickt, muß wohl seine Züge vergessen. — 

Dorothee stand nun in ihrem siebzehnten Jahre, in festen Schuhen, 
zierlicher Gestalt, blond wie das Korn, tiefäugig wie der Wald, eine 
ausgedachte Freude der Natur, ln diesem Sommer blieb ihre Mutter 
länger im Hause, als den eigentlich Hineingehörenden erträglich war, 
zumal die Äußerung erschreckte, sie wolle ganz dableiben. Das führte 
insgeheim zu leidenschaftlichen Beteuerungen der Tochter an den 
Vater: was die Mutter nur wolle; er habe ja sie, die ewig bei ihm 
bleibe, ewig, — so ewig, daß es ihn stutzig machte, daß er sie ins 
Auge faßte, sie reif geworden fand und, für sich selber erschreckend, 
inne wurde, daß er mit ihr nicht verfahren durfte wie sein Vater 
mit ihm. 

Jetta, die Mutter, war ihres Treibens müde geworden und nahe 
daran, bitter zu werden. Sie hatte im vielfältigen Wechsel ihres Theater* 
lebens die immer gleichen Schnüre zu hissen bekommen, an denen sichs 
drehte; sie hatte die Höhe ihres Könnens erreicht, glaubte zwar, sich noch 
sicher auf dem Kamme zu halten, aber wo kein Aufstieg mehr war, 
da auch keine Freude. Von Niedergeschlagenheit erfüllt, bildete sie 
sich ein, nicht nur die Bühne — mit soviel Ekel beschmutzt —, son¬ 
dern die ganze bewegte Buntheit der Zusammenhänge entbehren zu 
können; und jedenfalls ließ sie mit Wohlbehagen die tausend imsicht¬ 
baren, kleinen, doch scharfen Beißzangen der Gebirgsluft ihr Gesicht 
benagen, Puder und Farbe aus den Falten säubern, die sie gleichzeitig 
mit den ländlichen inneren Mitteln zu glätten bemüht war. Die kaum 
Vierzigjährige begann in der Tat zu blühen, und sie sagte: Wo ich 
blühe, da bleib ich. 

Aber es kam der Herbst, die Fanfaren der Theater bliesen zum 
Angriff in aller Welt. Jetta wollte nicht spielen, sie wollte nun spielen 
sehen, und Bruno willigte aus verständlichen Gründen ein, sie nebst 
Dorothee für kurze Zeit nach München zu begleiten. Dorothee war 
untröstlich und flehte tausendmal, sie zurückzulassen. Allein Bruno 
blieb fest, nach München zu fahren, um dort, endlich, seine Schwester 
'wieder zusehn. 



Albrecht Schacffcr, Das Gitter 

Das hatte er nicht geahnt, das bedachte er am wenigsten in dem 
wunschlosen Augenblick, wo er, der späten Oktobersonne froh, an 
der Bank im Englischen Garten, auf der Heike saß, seine Tochter 
vorüberführte. Heike sprach, auf ihren Sonnenschirm gestützt, zu einem 
fremden Kind, Ober das sie sich beugte; sie blickte auf und traf seine 
Augen, aber sie erhob sich augenblicks, als ob sie die beiden erwartet 
hätte, und sagte: „O Bruno, deine Tochter!“ Und weiter: „Bruno, 
wie gleicht sie unsrer Mutter!“ 

Sie war sehr lebhaft, übernahm selber die notigen Aufklärungen 
an das Kind — auch hier jedes richtig erratend —, und Bruno hatte 
Zeit, sich zu sammeln und zu erkennen, daß es überflüssig gewesen 
war, zu erschrecken. Dies war nicht Heike; es war eine wundervolle 
mütterliche Frau, blühend oder reif, wie man will, in jener Frist der 
Alterslosigkeit, schön, als ob sie von Feuerbach gemalt und lebendig 
geworden wäre, und sie konnte ja recht wohl seine Schwester sein. 
Dorothee, von drei Münchener Tagen in sich gescheucht, entfaltete 
sich beglückt wie ein Zitronenfalter an der großen und herzlichen 
Blume; am Ende kam Bruno sich vorübergehend vor wie die ausge¬ 
hülste Puppe dazu. 

Sie berichteten sich einiges aus dem inzwischen vergangenen Leben, 
und wenn Heike auch nur die Stücke sehn ließ, die dem Auge des 
Mädchens zuträglich waren, so kann doch das Ganze hier mitgeteilt 
werden. 

Am Morgen nach jenem Tag wartete Heike eine neuerliche Be¬ 
drängnis durch den Onkel nicht ab; sie warf sich auf ihr Pony und 
jagte es die halbe Gehstunde zum Gute des jungen Gerhart zur Pahlen. 
Als er das Zimmer, in dem sie zu warten hatte, betrat, war sie an 
der hinter sich geschlossenen Tür stehen geblieben und stieß hervor: 
„Ich schenke mich Ihnen! Da haben Sie mich!“ die Worte fast zornig 
wiederholend, weil er sie augenscheinlich nicht gleich verstand; worauf 
sie auf einem Stuhl in Tränen ausbrach — Sie hatte aber viel Glück, 
ja, sie gründete ein langes wachsendes Glück mit dem heftigen blinden 
Schritt. Gerhart blieb vom ersten Tag bis zum letzten der Ritterliche, 
Dankbare, Beflissene. Leidenschaft kannte er nicht; er liebte sie, so¬ 
lange der Zustand Liebe genannt werden konnte, und ging danach 
Über zu der achtsamen Freundlichkeit, die ein guter Halt der Mehr¬ 
zahl von Ehen ist, die glücklich genannt werden, und nicht nur von 
den Zuschauenden. Die innerlich wie verwandt Gewesenen mußten 
sich allerdings mit der Zeit entfremden. Er war Landwirt, aus Freude 



Albrecht Schaejfer, Das Gitter 297 

und mit Verstand; da er alle geistigen Reiche gutherzig „Südamerika“ 
nannte, ein Land, das er nie zu besuchen gedachte, so war folglich 
sein aristokratisches Leben in zwei ungleiche Hälften geteilt: Arbeit 
und Erholung, wie er sagte: Mistfahren und Stadtfahren, nämlich in 
den Kreis seines Regiments und dessen Vergnügen an Pferden, Tänze¬ 
rinnen, Wein und Spielkarten, deren verschiedene Arten er sämtlich, 
weil ohne Leidenschaft, zu niemandes Schaden betrieb. Sie dagegen, 
Heike, hatte ihr Cello und ihren Sohn. 

Der hieß Hans Wilke, war aber ein Galba und sah daher nicht so 
aus. Seine an Bruno erinnernde Länge konnte sehr wohl vom Vater 
und den Pahlenschen Vorvätern herrühren, doch saß auf dem land¬ 
adeligen Rumpf ein kleiner Kopf, schwarzhaarig und mit einem Gesicht, 
das in der Wiege quittengelb gewesen war, später sich ins Olivene 
färbte, — und Bruno erkannte mühelos, trotz bläulicher Augen, die 
Züge seines Vaters wieder. Dem glich er auch darin, daß er Bauer 
war, nur freilich mit einer mehr bewußten Leidenschaft als jener. 
Zu diesem hatte er, ohne geistig in irgendeinem Betracht fruchtbar zu 
sein, einen scharfen Verstand, Neigung zur spekulativen Philosophie, 
— in den Mußestunden versteht sich und auch dann nur, soweit es 
die andre, für seine Mutter freilich beste Begabung zuließ, die für 
Musik. Wohl ging ihm die vollkommene Musikalität seiner Mutter 
ab; aber das Klavier behandelte er musterhaft, allein, als Begleiter des 
Cellos, im Trio und Quartett. Nun war er neunzehnjährig, hatte eben 
die landwirtschaftliche Hochschule hinter sich und war jetzt mit den 
Eltern in München, um sich auszuwechseln, Musik zu hören und die 
Berge zu sehn. 

O ja, das war Heikes Leben gewesen. Im Garten wandelnd trafen 
die drei noch Hans Wilke, und Heike sagte, mit Bruno hinter den 
Jüngeren zurückbleibend —, ohne viel von ihm erfahren zu haben, 
alles ablesend von seinem Gesicht; sie sagte: „O Bruno, ich glaube: 
ich bin immer glücklich gewesen!“ 

„Frauen“, erwiderte er, sich angegriffen fühlend, „können wohl gar 
nicht unglücklich werden.“ 

„Wenn sie Mütter sind“, sagte Heike. 

Er beschloß: „Ich bin ja zufrieden.“ 

Ihr Mann, den Bruno dann kennen lernte, enttäuschte, weil sie ihn 
sehr gerühmt hatte; indes gestand sie Bruno hernach, sie sehe ihn auf 
einmal anders in seiner Gegenwart und habe ihn wohl lange schon 
in der Blüte seiner jüngeren und der ersten Ehejahre gleichsam 



298 Albrecbt Scbaeffer, Das Gitter 

gefroren gesehn, überdies im alles verklärenden Licht ihrer Leidenschaft 
zu dem Knaben, dessen Vater er war. — Mit Aussehen, Gehaben und 
Kleidung in blonder Länge eine vollkommene und etwas altmodische 
Vornehmheit darstellend, beunruhigte er Bruno durch die unveränder¬ 
liche Starre der im (Iberschmalen Gesicht flach angebrachten Augen, 
welche den, welche sie ansahn, nicht zu erblicken schienen. Wenn 
er den Humor, den er hatte, allein zu Offenbarungen seiner äußersten 
Langweile benutzte, so langweilte die Hörer trotz der geselligen Form 
die Öde des immer gleichen Gegenstandes. Er war schlaflos vor 
Langweile, äußerte Ober die Münchener Pracht-Straßen, daß die Aus¬ 
dehnungen ihres Gähnens immerhin etwas Löwenhaftes an sich hätten, 
und prophezeite, sie würden ihn eines Tages mit unerwarteter Schnelle 
in die Flucht schlagen, — bis ihn der liebenswürdige Stachel der Jetta 
bewegte und er sich zu ihr gesellte. 

Während nun diese die Theater besuchten, in den anschließenden 
Nachtstunden die anschließenden Orte der Erheiterung, und infolge¬ 
dessen die Morgende verschliefen, führte Bruno die anderen drei 
durch Museen und Galerien, zu schönen Fassaden und Kirchen, ins 
Isartal und nach Starnberg, wobei ungezwungen die Paare wechselten, 
sie am liebsten jedoch viersam blieben. Hans Wilke nämlich und 
seine Mutter hatten das größte Behagen daran, ihre Stimmen zu er¬ 
heben, miteinander zu streiten, sich zu Überschrein. Die Dorothee 
fügte sich sauber dahinein, doch Bruno erklärte sich für die Pauke, 
die meisthin pausierte, dann aber erschreckte. 

Bruno war tiefinnen mit sich selber beschäftigt. Ein Bild, der 
Entwurf zu einem Gemälde, hatte sich auf dem Punkt wieder ge¬ 
zeigt, da er Heike erblickte, als hätte ihr aufgeschlagenes Auge es 
ihm zugeworfen. Der Entwurf stammte aus seiner ersten Münchener 
Zeit, aber er hatte von der schwierigen Komposition nichts zustande 
gebracht als eine hingeknirschte Karikatur, die, weil das Bild der Sturz 
des Ikarus sein sollte, den Sturz eines Papierdrachens darstellte. Das 
Bild, ein Hochrechteck, war so beschaffen, daß in die unteren Bild¬ 
ecken sich je eine große, noch unbestimmte Gestalt voll Entsetzen 
hineinkrümmte, dem Mittelgrund zugewandt, wo die Gestalt des 
Stürzenden, die Arme in Kreuzform gebreitet und Kopf nach unten, 
anscheinend dicht über dem Erdboden schwebte, das Gewand an ihr 
wie ein Dreiecksegel, oben um die Füße gewickelt; verflattemd. Doch 
war zu sehn, daß diese nach dem Maß der natürlichen Perspektive 



i99 


Albrecht Scharfer, Das Gitter 

viel zu große Figur Ober einer Tiefe hing, die vorn von einer An¬ 
hohe verdeckt wurde. Von dem, was sie erfüllte, war dem Maler 
nichts deutlich als eine Meerbucht, von rechts her ins Bild gerundet; 
doch war dieser Busen, weich, aber in vergeblicher Tiefe, von einer 
— wie verdorbener Wein — braunen und so schrecklichen Farbe, daß 
er sich entsetzte, sobald er ihrer recht inne wurde. Die Farbe der 
Anhohe sollte ein schreiend wollüstiges, ein nie gesehenes, aber 
tausendmal leiblich empfundenes, ein zischendes Grün sein, und die 
Gewandfarbe des Stürzenden ein düstres, nach oben ins Blaue ver¬ 
jagtes Rot. Die Körper vorne waren wohl nackt, rosig und irgend¬ 
wie violett angeschattet. Es war Bruno klar, daß der Schatten des 
Greco über diesen Furchtbarkeiten lag, aber das Bild brauchte nur 
ent das Meisterstück zu sein, die Meisterwerke verhießen sich hinter 
ihm. Die Arbeit daran und das Schwere waren nicht die Farben, die 
nur ein Blitz darin anzünden konnte, sondern der Aufbau nach oben, 
all die Linien und Flächen, die sich aneinander vorüber schoben und 
drängten, so verdrückt von dem hineingekeilten Sturz aus dem Raum. 

Und während nun Bruno nach außen hin ununterbrochen be¬ 
schäftig war, mit Erklärung von Bildwerken oder Architektur, 
Musik hörend oder auf die Wortgefechte seiner Gesellschaft, war in 
seinem Innern die Stille und lag darin ein Wesen, das seelische 
Untier, saugend mit allen Gewalten jenen Schmerz der Farben und 
die unmenschlichen Verschobenheiten aus der dämonischen Leere der 
Unendlichkeit. — 

Diese schnellflügligen Münchener Wochen fanden einen merk¬ 
würdigen, einen beinahe lächerlichen Abschluß. Bruno und Heike 
wurde ein an beide gemeinsam gerichteter Brief ihrer Ehehälften 
überreicht, in dem sie in wenigen herzlichen Wendungen ihr geselliges 
Verschwinden anzeigten. Daß jeder der Bleibenden einen leiblichen 
Trost zur Seite habe, hatten sie, sich zum Trost, auch hineingeschrieben. 

Heike war doch erschreckt und sagte: „Sie werden den Irrtum bald 
einsehn u , worauf Bruno erwiderte, vorderhand müßten er und sie sich 
wohl anders einrichten. Da erkannten sie zu zweit, was hier vor sich 
gegangen war. Jene beiden — oder das Schicksal — hatte sie zusammen¬ 
gefügt. Kam es ihnen für einen Nu so vor, als ob sie zwei Menschen 
wären, die von verkehrten Ehen befreit, nun heiraten könnten? Und 
griffen sie deshalb sich zusammen, lächelten sich an, erfaßten sich bei 
den Händen, um sich zu beteuern, daß sie nun zu viert ein köstliches 
Leben anfangen würden? Es kam hierdurch, daß er die Schwester 



300 Albrecbt Schaeffer, Das Gitter 

brüderlich an sich zog, und obwohl er nicht erwartete, daß die Küsse* 
gewohnte ihm die Lippen reichte, die ohnehin durch ihre körperliche 
Größengleichheit dicht vor den seinen waren, so gelang dieser Kuß 
auch vollkommen. 

„Brüderlein!“ sagte sie leise. „Schwesterlein“, gab er das Echo. 
Dann sprachen sie schnell von andern Dingen, ihr Ohr vor etwas zu 
schließen, das sehr fern, aber schaurig geklungen hatte. 

Allerdings waren sie nun doch sehr überrascht, und sie kamen lebhaft 
sprechend überein, die Jetta für die Anstifterin zu halten, für die 
Treibende jedenfalls zu dem tatsächlichen Schritt. Wie Heike ihren 
Mann kannte, so urteilte sie, daß es sich für ihn nur um ein bewegtes 
Erlebnis handle. Der allzeit Unleidenschaftliche, nie sich Nachgebende 
mußte wohl, wie ein jeder, einmal im Leben die Handlung begehn, 
die ihm vorgeschrieben wurde von einer Macht über ihm; und weil 
es nicht eher geschehn war, so war dieser Zeitpunkt der Lebenswende 
der natürliche. Überdies, wie seine Frau ihm bekannt war, durfte er 
sicher sein, jederzeit wieder aufgenommen zu werden, wenn auch nur 
als Vater seines Sohnes. Bei Jetta hingegen befeuerte sich der Schwung 
des Erlebens gewiß durch die Aussicht auf aristokratischen Glanz und 
großen Gesellschaftsverkehr über benachbarte Güter und Auslandreisen. 

Fast ruhiger nahmen die Kinder die Sache auf. Dorothea versicherte 
sich nach dem ersten Schreck der Gefaßtheit ihres Vaters und trug 
ihre Gleichgültigkeit offen. Ähnlich verfuhr Hans Wilke, der etwas 
väterlichen Humor übernahm und zunächst meinte, dies lasse sich ja 
fast wie Südamerika an. Worauf die Angelegenheit abgetan ward mit 
seiner letzten Äußerung: Ergeh es ihm nicht wie Onkel Guido. 

Das war Heikes Vormund, welcher sich J>ald nach ihrer Heirat mit 
einer Sängerin versorgt hatte. Was er den Geschwistern zufügte, hatte 
er selber als einen kleinen Streich bezeichnet, und die rächende Nemesis 
verfuhr sehr gerecht, da sie ihn nur gelinde betrügen ließ. 

Bei dem inneren Malen beharrte Bruno, auch nachdem er mit Heike 
und den Kindern in sein Haus eingekehrt war. Die Jahreszeit war 
Oktober, und da die umfängliche Wirtschaft so von ihm eingerichtet 
war, daß ihm selber die Hauptarbeit oblag, so hatte er den Tag über 
keine Hand frei. Die Kartoffeln waren zu ernten und einzumieten, 
das Obst zu brechen, alle Gemüse hereinzuschaffen, und zur Haupt¬ 
sache kehrte das Vieh von der Alm — zweiundzwanzig Rinder und der 
Bulle —, war zu verpflegen, und wie jedes Jahr stellte sich heraus, daß 



301 


Albrecbt Schaff er. Das Gitter 

noch Streu zu schlagen war, nämlich Schilf unten in der Au des Stroms, 
das von Rindern mühselig und langsam heraufgeführt wurde. Hans 
Wilke griff munter zu, vornehmlich mit dem Munde, die längsten 
Reden haltend, weil es nah und fern keine Stelle gab, an der nicht 
eine Verbesserung anzubringen höchst nötig war. An den Obstbäumen 
ärgerte er sich insbesondere; sie gehörten nicht zur Wirtschaft, so 
reichlich sie standen, sondern waren die einzige nahezu mühelose Frucht 
für den Bauern der Gegend; nach Hansens Meinung schändlich ver¬ 
wahrlost, weil ganz ohne Händepflege, die allein den raupen- und 
larvenlesenden Singvögeln überlassen wurde, und zahlreich waren die 
nicht. 

Dorothee zwitscherte von Tätigkeit, aber für Heike war die Land¬ 
wirtschaft eine zwar erfreuliche und gesunde, aber für sie selber exo¬ 
tische Sache, deren Einzelverrichtungen sie gerne zusah, äußernd, daß 
sich auch von anderer Arbeit gut schläfrig werden lasse. Also wechselte 
sie von dem mangelhaften Klavier, das im Haus war, zum Zuschauen 
Brunos, wenn er, fast verschwunden im mannshohen Schilf, mit der 
zischenden Sense darin herumrauschte; oder sie hieß ihn in die Obst¬ 
bäume steigen und entleerte, neben dem Korbe im Grase sitzend, den 
Pflücker. Wenn er die Leiter herunterkam, gaben sie sich einen Kuß. 

Jener erste Kuß — warum hatte sie nichts gewarnt? — war ein erster 
gewesen. Die Möglichkeit der Küsse war eingerichtet, viele, unzähl¬ 
bare folgten, gekeimt aus dem ersten, und es ist fast ein Wunder zu 
nennen, daß sie volle sieben Tage, daß sie eine Gotteswoche von 
Montag zum Sonntag verbrachten, ohne eine Veränderung zu bemerken, 
nicht die immer heißere längere Glut der Küsse, das Hinzukommen 
der Umschlingung, und daß bald jeder nur mehr eine Verlockung 
war für den nächsten. 

Bruno schlief wie ein Toter des Nachts; sie versicherte ihm des 
Morgens das gleiche von sich. „Nicht einmal“, fragte sie, „von deinem 
Bilde träumst du?“ Er hatte ihr etwas davon verraten; auf solche 
Fragen erwiderte er einmal mißmutig, es käme niemals zustande; ein 
andermal erglänzend: er warte nur auf den Blitz, der das längst fertige 
erlöste. 

Und so kam der letzte Tag und die Flammenminute, wo sie an¬ 
einanderhingen, mit feurigen Mündern die Seele sich heraussaugend 
aus dem Leibe, zusammengeballt und erdefem hineingeschwungen in 
die Unendlichkeit, vorüberrollend am Paradies. Dann standen sie als 
Zermalmte da; denn jetzt, was war es jetzt? Jetzt hatten sie Bruder 



3oi Albrecht Scbaeffer, Das Gitter 

und Schwester sein wollen; sie waren’s gewesen; und wie sie es nun 
ans ahn oder nicht ansahn: jeder las von der Stirn des andern das 
Zeichen. Bruno aber schrie — er schrie wohl zum ersten Male im 
Leben —: „Das Schicksal will es, das Schicksal will es! Die Menschen 
haben uns zusammengeworfen, jetzt wollen wir die Natur fragen! 
Wenn wir Kinder kriegen, können wir sie und uns noch immer ums 
Leben bringen, und haben wir keine, so spricht die Natur, und — oh 
Gott! — sie kann wohl einmal die Ausnahme dulden!" 

In dieser Nacht schlief Bruno nicht ein, sondern wartete nur elf 
Uhr ab, da er in Feuer lag wie eine Zündschnur von Anfang bis 
Ende. Im Innern des alten Hauses hatte er laut ächzende Dielen zu 
fürchten. Die Außenwand seines Zimmers war, wie sein Vater sie 
hatte machen lassen, aus Glas; er stieg durch die Fensteröffnung auf 
die Altane und in die schon eisige Nachtluft hinaus, die er nicht 
spürte, und ging um das ganze Haus bis zu Heikes Fenster. Ihm 
wurde bewußt, daß es wie alle in dem bäuerischen Gebäude mit einem 
Eisenkreuz vergittert war, doch auch, daß ihm, kaum daß er davor 
stand, wie Schwanenhälse zwei nackte Arme zuflogen. Nun, was sie 
jeder von Kleidung am Leib hatten, das riß er herunter; lautlos, weil 
sie sonst geheult hatten, stürzten sie ineinander durch das Gitter. Das 
waren nicht Küsse, das waren Blitze, die einschlugen und lange zischten, 
und sie rissen sich blutig an den Stäben, sie mischten ihr Blut, tranken 
ihr Blut, sie liebkosten sich getrennt bis zur letzten Lohe, und sie 
stürzten als Ermattete auseinander, wie wenn ein gespaltenes Ganzes zer- 
klafftc, und jeder rücklings in seinen Abgrund hinab. 

Der Morgen war wie die vorigen kalt, klar und rein. Durch sein 
Erwachen erfuhr Bruno, daß er im Schlaf gelegen hatte; nun fühlte 
er sich eher leicht als erschlafft, ja, in der Tat wie durchlüftet im 
ganzen Leib, und nur erst, als er aufstand, begann sein Schädel leise 
murrend zu schmerzen. Er sah auf der Uhr, daß es später war als 
gewöhnlich, und hörte es an der Stille im Hause. 

Als er die Wohnstube betrat, saß Heike abgewandt auf der Bank 
unterm nächsten der kleinen Fenster; den Kopf in die Hand gestützt, 
blickte sie, da sie groß genug war, hinaus. Sie wandte sich nicht 
und schwieg so wie er. Sein Frühstück stand auf der Ofenbank; ihn 
hungerte, und er saß hin, aß und trank. Dabei sah er sie nun am 
Fenster sitzen und bemerkte, daß ihre Haltung ähnlich der Iphigenie 
Feuerbachs war; ähnlich auch die schwarze Verschlingung lockerer 



Albrecht Schaeffer, Das Gitter joj 

Flechten in ihrem Nacken, und ein weinroter, flordünner Schulterschal 
ähnelte mit seinen bogigen Falten dem Gewände der Griechin. Nun 
war die Zeile da: „Das Land der Griechen mit der Seele suchend**, 
und vor seinem erbitterten Auge stieg es auf, Griechenland, wo sich 
Jünglinge in Ringschulen und Jungfrauen auf Inseln umschlangen. — O 
gäb es ein Griechenland! Wo wirkliche Freiheit wäre, wo die Lüfte 
alles was Liebe ist segneten und verklärten und nur das nicht geilte, 
was finster und knechtisch ist! 

Überdem löste Heike ihre Haltung, legte die Unterarme auf den 
Schoß, und wie sie den Kopf neigte, sah Bruno zum erstenmal wieder 
den scheuen Aufblick der Augen. Sie sagte, die Kinder, die sie von 
der Abreise habe verständigen wollen, seien nicht zu finden gewesen. 
— „Wir wollen uns umsehen**, sagte er und stand auf. Dann neigten 
sie einer nach dem andern den Kopf unter der niedrigen Tür. 

Im Freien wehte es scharf durch die Sonne. Sie gingen am Hause hin, 
abwärts, dann den Weg hin, der von ihm fortführte, unterhalb der Kuppe, 
und machten bei dem alternden Birnbaum halt. Heike sagte: „Mag es 
nicht hier gewesen sein, wo unsre Mutter vom Vater gesehn wurde?** 

Er nickte und setzte hinzu: „Mag es hier angefangen haben und 
mag es hier enden.** 

Er faßte nach ihrem Gesicht; dabei wendete sie sich um, sah an 
ihm vorüber und rief leise: „Die Kinder!** Auch er wandte sich. 

Hans Wilke und Dorothee kamen neben dem weißen Hause her¬ 
vor und gingen an der Vorderseite hin, der Mann das Mädchen ver¬ 
deckend, so daß beim langsamen Schwingen seiner Füße ihre kleineren 
Schritte dazwischen sichtbar wurden; und wie sie sprechend die Köpfe 
hielten, war zu sehn, daß sie einig waren. 

„Vater und Mutter**, sagte Heike. 

Die oberen beiden machten halt vor der Haustür, das Mädchen 
setzte sich auf die Bank, Hans lehnte am Türpfosten, und wie er re¬ 
dend sich beugte, und wie sie zuhörend nicht aufschaute, war zu sehn, 
daß sie schon lange einig waren. 

„Wo hatten wir unsere Augen all die Zeit?** murmelte Bruno. — 
Heike erwiderte: „Sie sehn uns ja auch nicht.** 

Aber in demselben Nu, wo oben das Mädchen ihre Arme hob und 
hinter dem sich Bückenden verschwand bis auf ihre über seinen Schul¬ 
tern liegenden Hände, ging in den unteren beiden etwas Unbeschreib¬ 
liches vor sich. Etwas, das beschrieben werden kann in seiner Gestalt, 
doch unmöglich in seinem Wesen. 



304 Adolf Weißmann, Moderne Musik 

Die Gegend oben entrfickte sich; das weiße Haus begann ein Gold 
aus sich zu strahlen, das nicht irdisch war, und $0 groß und deut¬ 
lich es blieb, war es nun in wolkiger Höhe gelegen. Die Umschlungenen 
vor ihm verwandelten sich; ihre Kleider fielen nicht ab, und doch 
schimmerten sie wie klare Nackte, schimmerten sie wie beglückte Be¬ 
freite, reine Geschöpfe der Natur, und als wäre der Dämon Geist ein 
Fluch und eine Wolke gewesen und von ihnen genommen. 

Die beiden unten jedoch, die dieses Gesicht erzeugten, spürten im 
Gefühl einer beseligenden Entkräftung ihr Blut von sich gehn und in 
diese so sehr Geliebten hineinschwinden. Das Gitter war gefallen. Sie, 
befreit und geklärt, er befreit und zu allen Aufgaben gekräfter, voll¬ 
endete Geschwister: sie sahen, sie hörten über sich auf dem festen 
Berg ihr lange getrenntes Blut zu einem großen und dauernden Brausen 
zusammenfließen. 


MODERNE MUSIK 

von 

ADOLF WEISSMANN 

D er Kunst und unter den Künsten zunächst der Musik fiel nach 
allgemeinem Urteil die Aufgabe der Weltversöhnung zu. Aber je 
verzweigter das Leben geworden ist, desto stärker offenbaren sich die 
Zusammenhänge zwischen Kunst und Weltwirtschaft. Diese mächtigste 
Großmacht scheint auch heute noch trennen zu wollen, was sich nach 
Vereinigung sehnt Freilich wird sie den Zuzammenschluß alles 
Produktiven nicht endgültig hindern können. 

Die deutsche Musik galt als seelenerweichende Macht Sie war 
darum während der dunkeln, schrecklichen Jahre, die wir durch¬ 
schritten haben, drüben ausgeschaltet, bei uns wiederum einziger Trost, 
von dem man nur allzuviel Gebrauch machte. Die Furcht vor dem 
Suggestiven der Musik aus politischen Gründen ist nun zwar im 
ganzen überwunden, man beginnt auch seelisch abzurüsten, aber die 
wirtschaftlichen Hemmungen bleiben stark genug, um eine gewisse 
Blindheit vor allem auch in unserer Mitte zu erhalten. 

Wie die Dinge jetzt liegen, ist das Heil der Genesung zunächst 
von dem nachschaffenden Künstler zu erhoffen, der sich zum Sprach- 



Adolf Weißmann, Moderne Musik 305 

rohr des Schaffens macht. Nach dem Mahlerfest in Amsterdam, das 
mindestens den Schein des Internationalismus für sich beanspruchen 
durfte, ist nun das amerikanische Richard-Strauß-Intermezzo be¬ 
deutungsvoll. Man kann ja wohl in keinem Schaffenden wie in 
Strauß die Zusammenhänge zwischen Musik und Weltwirtschaft be¬ 
obachten. Strauß ist ein hoher wirtschaftlicher Wert. Seine suggestive 
Kraft wird im Zentrum der Weltwirtschaft, in den Vereinigten Staaten, 
kapitalisiert. Und zugleich kann der Mann, der den Taktstock in 
eigener Sache ergreift, erproben, ob die Absperrung Deutschlands von 
der Weltmusik ihn selbst, den Generalnenner der deutschen Musik 
für das Ausland herabgewertet hat Vielleicht ist für die Welt¬ 
bedeutung der deutschen Musik nichts so entscheidend wie das von 
Frankreich so sehr umworbene Amerika, dieses Paradies darstellender 
Kunst. Man wird wohl nirgends in der Welt die Anfänge einer 
musikalischen Atmosphäre bestaunen können wie hier, nirgends wie 
in diesem scheinbar kunstverlassenen Lande das inbrünstige Suchen 
nach dem großen Unaussprechlichen finden, das Musik ist Die ganz 
einzige Hochschätzung eines tief menschlich musizierenden Künstlers 
wie Fritz Kreisler, die nun vergebliche Sehnsucht nach dem Klang¬ 
lyriker Nikisch ist ja nur aus diesem tiefen Drang zu einem Absoluten 
hin zu erklären, der sich inmitten aller Sensationslust kundgibt 

So stehen wir mitten in der Bewegung unserer Zeit Diese ist 
auch ftir die Kunst, für die Musik, im höchsten Grade kritisch. Man 
hat das Gefühl, einem Chaos gegenüberzustehen. Alles scheint ab¬ 
genutzt. Das Emotionelle, das Atemlose hat zunächst eine Rauschheit, 
dann eine Plötzlichkeit der Modulation hervorgerufen, die nun wieder 
zu einer Entwertung der Harmonik geführt hat. Das Gehirn, das 
sich der gefährlichen Lage der Musik bewußt wird, sucht diesem 
scheinbaren Zusammenbruch in einer rücksichtslosen Kontrapunktik einen 
Wall entgegenzusetzen. Man spürt in dieser Gewaltsamkeit Wirkungen 
eines chronischen Angstgefühls, die Quellen des Schöpferischen werden 
getrübt, nicht der gerade Weg, sondern ein Umweg, allerlei Umwege 
zu einem Ziele werden gesucht. Während das Gesicht der Musik 
durch diesen Krampfzustand verzerrt scheint, gibt es doch Anzeichen 
genug für einen schöpferischen Willen, der Teilerfolge zeitigt. Atona- 
lität als System ist Verneinung; wer sie mit Bewußtsein sucht, endet 
notwendig in einer Sackgasse. Es gibt keine Musik ohne tonalen 

Mittelpunkt. Sie müßte sonst auch architektonisch zusammenbrechen. 

20 



306 Adolf Weißmann, Moderne Musik 

Aber es gibt ein unbegrenztes Reich zwischen Tonalität und Atona- 
lität, in dem sich nur der durch den Kompaß einer zielsicheren 
Empfindung Gelenkte zurechtfindet. 

Merkwürdig genug: eiije überintellektuelle Musik scheint alle 
Fäden zur Urmusik zu zerreißen, und gleichzeitig knien gerade die 
von ihr Ergriffenen vor der Einfalt eines Bruckner und vor der Schein¬ 
einfalt Mahlers. Darüber hinaus verehren sie Mozart als das ewige 
Wunder verlorener Unschuld der Musik. Zwischen Mahler und 
Schönberg, der am bewußtesten ein Jenseits des Landläufigen sucht 
und alle Brücken zur Gewohnheitsmusik abbrechen will, ist ungefähr 
das weite Gebiet widerstreitender Musikempfindungen für die deutschen 
Musiker und Musikfreunde eingeschlossen. 

Und nun fragen wir: wie ist aus diesem Musikempfinden heraus 
unsere schöpferische Beziehung zur Umwelt wieder zu knüpfen? Wie 
ist der musikalische Austausch, der heute die Vorbedingung eines 
fruchtbaren Eigenschaffens der Völker ist, wieder herzustellen? 

Der Ausländer, der uns jetzt aufsucht, findet zu seinem Erstaunen 
das deutsche Musikleben völlig im Banne der klassischen Romantik. 
Hatte er sich während des Krieges der seelenerweichenden Macht 
dieser Vergangenheitsmusik nicht ausgesetzt, so ist sein Erstaunen be¬ 
greiflich. Denn das Tempo des musikalischen Denkens ist im Ausland 
sehr viel schneller geworden. Man hatte kurz vor dem Kriege in 
Paris das deutsche Lied in sich einzusaugen begonnen, man war in 
England und Amerika längst für die romantische deutsche Gefühlsart 
gewonnen. Zugleich aber begann unter den Schaffenden, die das 
Romantische überwinden sollten, Schünberg als eine Macht zu gelten. 
Verkürzung des Ausdrucks: das ging als Leitwort durch die Welt. 
Die musikerfüllte Malerei und die malerisch gerichtete Musik hatten 
ein Stück Weges vom Impressionismus aus abgeschritten. Arnold 
Schönberg und Igor Strawinsky bedeuteten die zwiefache Auslegung 
des gleichen Grundgedankens. Diese beiden Hirne beherrschten alle, 
die eine Umformung der Musik wollten. Während diese Wenigen 
als treibende, lösende, umwertende Kräfte wirkten, lebte die Bourgeosie 
mit ihren Göttern. Richard Wagner hatte ihre Sehnsucht befriedigt, 
Richard Strauß hatte sich dem Bourgeois stark genähert 

Seit t j> t4 stand Deutschland in einer Sonderentwicklung. Das Schlag¬ 
wort, das durch die Welt flog, hatte hier eine Erstarrung in den 
Formeln des Modernismus hervorgerufen, während zugleich der deutsche 



Adolf Weißmann, Moderne Musik 307 

Bourgeois sich inbrünstiger noch als früher in die Vergangenheit 
zurückwandte. Jenseits der Sperre aber war, nach völliger oder doch 
nahezu vollständiger Ausschaltung des deutschen Einflusses, gleichfalls 
eine Einseitigkeit entstanden. Von allen Hemmungen der Tiefe befreit, 
schwelgte die musikschaflende Umwelt in einer oft unernsten Mo¬ 
dernität. Witz, Ironie, Groteske ohne tiefere Bedeutung schienen zur 
Herrschaft gelangt. 

Das offenbart sich nun, da der Schleier fällt. Aber wenn Modernität 
überhaupt ein Bastardwort ist, wenn der neue Geist überhaupt ent¬ 
wicklungskräftig ist, dann läßt sich die Gemeinsamkeit der schöpfe¬ 
rischen Idee bald wieder hersteilen. 

Herzustellen ist sie nur durch einen neuen Rhythmus. Die auf¬ 
bauende Kraft des Rhythmus wird auf allen Seiten wiedererkannt. 
Nur seine Deutung ist verschieden. Es gab eine Zeit der Musikent¬ 
wicklung, da Rhythmus innerhalb der Taktlosigkeit gedieh. Das war 
die Periode musikalischer Unschuld. Kaum aber war der Takt in 
die Musik eingetreten, wurde er auch schon ihr Tyrann. Diese 
Tyrannei war am stärksten im deutschen Sprachgebiet, wo der Marsch 
als Ausdruck des Schrittgeftihls zur höchsten Entwicklung gelangte. 
Der Tanz war sein Genosse. Die Blütezeit dieser festgefügten Rhythmen 
war zugleich die der sogenannten klassischen Musik. Die Romantik, 
die das Moment der Farbe als herrschend in die Musik einführte, 
hat am Rhythmus gebohrt und im „Tristan“ einen endgültigen Sieg 
der antirhythmischen Elemente davongetragen. Allem Willensschwächen, 
das sich schöpferisch betätigen wollte, lag im „Tristan“ das große 
Beispiel vor. Und noch Debussy gründet seine ganze Eigenkunst 
letzten Endes auf ihn, so daß man die Müdigkeit der „Pelleas und 
Melisande“ musikalisch von einem herleiten kann, der freilich die 
Kraft hatte, sich von der Erschlaffung der Vorhaltmusik in der C-dur- 
Herrlichkeit der „Meistersinger“ zu erholen. Hier scheint wiederum der 
Marsch zu Ehren gebracht. Aber wir spüren sehr wohl, wie sich das 
Tristanerlebnis mit dem Ausdruck urdeutscher Männlichkeit hier kreuzt. 
Der Einbruch der Nerven in das Reich der deutschen Oper ist nicht 
mehr rückgängig zu machen. 

Debussy, der Meister reizvoller Kraftlosigkeit, der die Kunst der 
Nuance recht eigentlich durch assoziative Verknüpfung des Malerischen 
mit dem Musikalischen ersonnen und beschlossen hatte, fühlte am 
qualvollen Ende seines Lebens die Notwendigkeit, dieses Assoziations- 



$o8 Adolf Weißmann, Moderne Musik 

Verhältnis möglichst zu losen und eine neue Klassizität zu begründen. 
Sein Streichquartett war das letzte Zeugnis seiner kammermusikalischen 
Kunst gewesen. Seitdem hatten sich, unter Mitwirkung der Schwester¬ 
künste Malerei und Poesie, sehr rasch die Wandlungen vollzogen, die 
zu einer offenbaren Entwurzlung des Rhythmus führten. In der Tat 
war die in Debussy wirkende rhythmische Grundkraft jener Klein¬ 
rhythmus gewesen, der schon die Kunst eines Couperin trug und zum 
Aufbau großer Formen ungeeignet war. Während also in dem 
Wallonen Clsar Franck aller Einfluß der Liszt-Wagnerzeit die rhyth¬ 
mische Kraft nicht hatte zerstören können, war sie in Debussy von 
Hause aus zu schwach, um das Gebäude einer architektonisch groß 
entworfenen Kunst zu tragen. Als er darum, in der Zeit seiner 
Krankheit, wieder Sonaten ftir verschiedene Instrumente zu schreiben 
begann, war er doch trotz höchst entwickelter Meisterschaft nicht 
stark genug, die neuklassische Nachblüte seines Schaffens mit einem 
zwingenden Eigenwesen zu durchdringen. 

Die wunderbare Illusion, die Debussy in die Welt gesetzt hatte, 
war also von ihm selbst halb verleugnet. Mit der Rückkehr zur 
Kammerkunst hatte er zugleich die Notwendigkeit eines neuauf¬ 
bauenden Rhythmus verkündet 

Dies ist die Erbschaft, die er dem jungen Geschlecht hinterließ. 

Dieses Geschlecht hätte ja nun ihren Weg von Richard Strauß 
nehmen können. Wer so dächte, würde die ganze Richtung der 
musikschaffenden Jugend mißverstehen. Strauß gilt ihnen als durch¬ 
aus diesseitig. Wohl hat er im Rahmen materiell gerichteter Kunst 
eine aufbauende rhythmische Kraft wie kein anderer bewiesen. Aber 
darum eben handelt es sich: nicht etwa einen körperlich, sinnlich ge¬ 
nährten Rhythmus zur Tragkraft der neuen Musik zu machen, sondern 
ihn aus der metaphysischen Sehnsucht neu zu gebären. Man gesteht 
Richard Strauß zu, daß er im Sinne seiner gestaltenden Idee die 
Sonate in seiner sinfonischen Dichtung von der Schablone befreit 
habe. Aber eben die gestaltende Idee wird angefochten, wird als zu 
eng empfunden. So ist die deutsche Jugend, wenn sie schon Götter 
anbeten sollte, zu Mahler gekommen, den sein metaphysischer Ge¬ 
danke vorwärts treibt, dessen Musik aber im wesentlichen rückwärts 
gewandt bleibt, auch stark begrenzt ist. Weder Richard Strauß, der 
größere Musiker, noch Gustav Mahler, der größere Mensch, können 
Wegweiser in das Land musikalischer Zukunft bedeuten. Und so- 



Adolf Weißmann, Moderne Musik 309 

wendet sich die musikschafFende Jugend ganz von selbst dem zu, der 
die metaphysische Sehnsucht am inbrünstigsten ausspricht: Arnold 
Schönberg, in dem zugleich der allgemeine künstlerische Drang unserer 
Zeit, Form und Material zu überwinden, am folgerichtigsten, freilich 
auch am verhängnisvollsten auftritt. 

Man findet nun zwar in Schönberg den Willen zu einem über¬ 
sinnlichen Rhythmus, der das Melos trägt; im beharrlichen Kontra¬ 
punkt der Stimmen wird er verfochten, aber die Verkürzungen, die 
gewaltsam aufgesucht werden, sind starke Hemmung der Architektur, 
wie sie ja letzten Endes die Musik in ein Jenseits der Eindrucks¬ 
fähigkeit treiben. Wie schwer es Schönberg selbst fiel, seinen Hang 
zur Expansion zu überwinden, wie er noch am eindringlichsten 
redet, wo er ihm nachgibt, etwa im Fis-moll-Quartett, das ist kenn¬ 
zeichnend Air die inneren Kämpfe des Mannes. Von Hause aus 
weich, hat er schon in seiner Tondichtung „Pelleas und Melisande“ 
die Kraft zur Zusammenfassung nicht ganz gefunden, und findet 
sie nur durch einen Gewaltakt, der wiederum seine Musik als Bastard¬ 
erzeugnis der Dialektik und Empfindung enthüllt. Aber es bleibt als 
sein Verdienst die Aufzeigung der Probleme, die unsre Kunst bis 
ins Mark erschüttern. Und man kann sagen, daß Schönbergs Echo 
heut über die ganze Welt reicht. Sein Ethos, sein Inbrünstiges, sein 
Übersinnliches zwingt zum Hinhorchen, auch wenn seine Tat nicht 
überzeugt. 

Dabei ist der Ausgangspunkt der neugerichteten Kunst in West¬ 
europa ein so ganz anderer als in Mitteleuropa. Der Kern Schön¬ 
bergscher Musik ist letztens seine Lyrik. Diese wirkt echt und ist 
der fruchtbare Keim umwälzender Tat. Jenseits der Grenzpfähle aber 
ist sinnliche Urkunst am Werk. Der Tanz des russischen Balletts kreuzt 
sich mit französischem Geist, sinnliche Frische mit sinnlicher Er¬ 
schöpfung, und die Beeinflussung des Franzosentums durch das Russen- 
tum, das durch Mussorgsky den Impressionismus brachte, zeigt sich 
nun nicht mehr nur in der Farbe, sondern auch im Rhythmus, der 
aus der sinnlichen Welt ins Übersinnliche übertragen werden und zum 
Aufbau einer neuen Kunst dienen soll. Der Weg hierher ist freilich 
weit und dornig genug, wenn er überhaupt zum Ziel führt. Der 
russische Rhythmus hat bisher ja zwar bezaubernde Farbenpracht noch 
gesteigert, aber gerade darum den Aufbau großer Formen nicht ge¬ 
stattet. Zu alledem tritt nun der Negerrhythmus, Fox-trott, Jazz, Rag 
wollen die Sinnlichkeit bis zur Siedehitze treiben, aber auch den 



JIO 


Adolf Weißmann , Moderne Musik 

synkopierten Rhythmus ftir ein unsinnliches Leben reif machten. Die 
Exotik öffnet den Blick auch in geistige Fernen. 

Wir stehen bei Strawinsky, der ganz in der Sinnlichkeit des Tanzes 
zu wurzeln scheint, aber die metaphysische Sehnsucht in seiner Musik 
spiegelt Sein Weg ist voll Wirrungen. Der Geist macht tolle 
Sprünge. Der Witz führt zu Einseitigkeiten. Aber der Mensch der 
„Petruschka“ ist der des „Sacre du Printemps“ geworden, die Gegen¬ 
ständlichkeit ist von der Symbolik abgelöst, und der Rhythmus ab 
tragende Grundkraft möchte gern in seiner wachsenden Ungebunden¬ 
heit den Trieb zum Jenseitigen aussprechen, während er dem tanzenden 
Menschen mehr und mehr den Boden entzieht Nicht rein zufällig 
sucht der Mensch, der in die Urzeit des russischen Rituals zurück¬ 
lenkt, auch die Beziehung zu Bach. Und zuletzt will auch er jene 
Kontrapunktik der Stimmen und Farben, die dem Klangsinn raubt, 
während sie den innem Menschen beschenkt. Der Radikalismus des 
Russen Strawinsky mündet in die musikalische Metaphysik, ohne je 
inbrünstig zu werden wie die Ausdruckskunst Arnold Schönbergs. Denn 
sein Rhythmus, aus der sinnlichen Welt stammend, fährt ihn zuletzt 
auch wieder in die sinnliche Klangwelt zurück. 

Strawinsky bindet Rußland, Frankreich, England und selbst Italien 
aneinander, weil er Auge und Ohr verknüpft und die gesamtkünstlerische 
Richtung der Zeit in der verhältnismäßig sinnfälligsten Art Musik aus¬ 
drückt. Aber wohin dieser geistreiche Sinnenmensch zuletzt gelangt, 
weiß er wohl selbst nicht. Während er eben noch alles Melodische, 
Unverkürzte zu ironisieren schien und in seiner Sinfonie für Blasinstru¬ 
mente dem Andenken Debussys die seltsamste Huldigung bot, ist er 
heut Lobredner Tschaikowskys, dessen Ballett „Die schlafende Prinzessin“ 
durch ihn für London inszeniert wird. Schon beginnt man ihn 
einen Abtrünnigen, einen Rückschrittler zu nennen: in Paris, wo ein 
dünner Faden vom letzten Debussy aus in die Zukunft geknüpft wird 
und die „Sechs“, mit Arthur Honegger und Darius Milhaud an der 
Spitze, in der Kammermusik fruchtbar werden wollen. 

Aber eine klärende Bewegung ist überall erkennbar. Zwar war 
niemals der Wohlklang verdächtig wie heute, zwar scheint mehr ab 
je der Akademismus der Form entthront; aber es lebt in jeder neuen, 
aus echten Quellen fließenden Musik der Trieb, das Experiment als 
Selbstzweck zu verlassen und mit gesammelter Kraft den Ausgleich 
des Widerspruchsvollen zu Anden. 



Adolf Weißmann, Moderne Musik 


3 11 


Immerhin ist die Abneigung gegen das Fertige in der heutigen 
Musik noch immer sehr stark. Das Gärende der Zeit als künstlerischer 
Ausdruck lehnt sich ja gegen alle Abrundung auf. Man will aus der 
inneren Fülle, aus tiefer Problematik heraus gerade das vermeiden, 
was den Impressionismus ausgezeichnet hatte: Fertigkeit. 

So steht der neue Musikschaffende zwischen dem Experiment, das 
alle Gärende ausspricht, und einer neuen Klassizität, die sich noch nicht er¬ 
füllen will. Gleichzeitig aber leben noch die Ausläufer des musikalischen 
Impressionismus weiter. Und es zeigt sich, daß die Macht des Schlag¬ 
worts in der Musik, die allmählicher vorwärtsschreitet als die Malerei, 
sich nicht ebenso stark behaupten kann wie hier. Sehr bestimmt tritt 
die Ablehnung alles Romantischen auf. Während ein Hans Pfitzner in 
Deutschland noch ganz in Schumann und Brahms selig ist und weite 
Kreise des Bürgertums auf seiner Seite hat, hat sich das junge Geschlecht 
der Schaffenden von dieser Gemütsausbreitung abgewandt, will auch 
Wagner mit Ausnahme des „Tristan“ abschütteln: und ist doch Anton 
Bruckner geneigt, der gewiß die ungeheuerlichste Ausbreitung der 
Musik gegen alle Verkürzung bedeutet; mehr noch als Mahler, der 
Schöpfer des Liedes von der Erde, in dem sich der Zweifel an aller 
reinen Schönheit so hintergründig, so ergreifend ausdrückt. Hier ist 
Mahler ja wirklich Prophet geworden. 

Der Weg zum Klassischen, Evolution statt Revolution, mit Bach 
und Mozart, wird auch von denen beschritten, die Fürsprecher des 
Umsturzes schienen, wie Ferruccio Busoni. Der Künstler seltsamer Blut- 
und Kulturmischung, einer der stärksten Anreger unserer Zeit, scheint 
heut alles zu verleugnen, was er einst vertrat. Es ist als ob er, ein fau¬ 
stischer Mensch, nun alle Bleigewichte abwerfen wollte und sich zum 
leichtesten Produzieren zwänge. 

Dieser Halbitaliener mit der unerschütterlichen Bachgrundlage, der 
größte schöpferische Virtuose, dessen Schaffen noch den Nachhall des 
Virtuosentums zeigt, wird gewiß nicht vollenden, was er sich als Ziel 
gesetzt hat. Aber in seinem Vaterlande gibt es neben denen, die ex¬ 
perimentierend schaffen, wieMalipiero undCasella, einen Ildebrand Pizzetti, 
der den Weg zu einem modernen Klassizismus bis zum Ende beschreitet. 
Seine Violinsonate, ein Beispiel wiedererweckten Renaissancegeistes und 
freier Architektonik, seine Gesänge, wie mit Silberstift gezeichnet, 
leuchten vor. Und in diesem Zusammenhang taucht auch die Gestalt 
Philipp Jarnachs, des jungen, wahrhaft europäischen Künstlers auf. 



Wilhelm von Scholz, Gedichte 


3** 

Diese Menschen wollen selbstkritisch alle Reste des Problematischen, 
das sie erlebt haben, in der Form ausmerzen; sie arbeiten im Grunde 
schwer. Die Zeit kennt nicht mehr einen Richard Strauß, der eben noch 
unbeschwert schuf und weitverzweigte Partituren harmonisch gerichteter 
Musik hinwarf. Auch das neue Orchester soll ja Note für Note, Zeile 
ftir Zeile die Spuren eines neuen Gewissens, eines neuen Geistes zeigen. 

Indes werden auch alle Reize der Farbigkeit ausgekostet Innerhalb 
des deutschen Sprachgebietes enthüllt sich ein Franz Schreker in einer 
nicht gerade starken, aber fesselnden Mischkunst. In England, wo neue 
schöpferische Kräfte sich regen, wirkt neben einem durch die Fran¬ 
zosen von Debussy bis Strawinsky hindurchgegangenen Eug&ne Goossens 
der Nachimpressionismus der Frederick Delius, Cyrill Scott und Ralph V. 
Williams; in Amerika ist der eingewanderte Schweizer Emest Bloch 
stark in seiner hebräischen Empfindung, die im Begriff ist alles kolo¬ 
ristische Westlertum in sich aufzusaugen. 

Dies das Bild der modernen Musik: vielgestaltig, oft in der Pose 
befangen, dem Experiment verhaftet, aber in ihrem besten Teil durch¬ 
aus zukunfts kräftig. 


GEDICHTE 

von 

WILHELM VON SCHOLZ 

Haus 

A bend. Musik durchdringt den Stein, 

.Schritte das Holz der Tür, Latemenschein 
das Scheibenglas. Ein Haustor fällt 
ins Schloß. Ein Tritt steigt in sein Stockwerk auf. 
Ein Uhrschlag tönt die Stunde. Eine Stimme hält 
unter dem Fenster an und spricht hinauf 
zur Antwortstimme, Seele fließt 
redend herab, verklingt; ein Fenster schließt. 

Ein Schweigen geht im Schritthall fort. 

Wasser entrinnt dem Rohr und rauscht. Ein Wort 
hinter den Wanden lacht.. . 



Wilhelm von Scholz, Gedichte 


3*3 


Laute verhallen, Lichter verloschen. Stunden vergehen. Nacht. 
Von der Decke sinkt, aus den Wanden tritt, 
durch den Boden steigt Schlaf; 
unentrinnbar, betäubend: Schlaf. 

Traum sinkt, tritt, steigt mit. 

In schieiernder Luft 

wird die Lampe fern, klein, rot, 

schwindet, ist tot. 

Schwere schlafende Seelen sinken herein, 
augenlos, achtlos wie Tote in enge Gruft; 
atmen Mühe, Pein, 

Leib, Sorgen aus, 
atmen Leben ein. 

Rein Wachender kann aus ihrer Umatmung heraus; 
sinkt mit in ihren lebenden Schlaftod hin e in , 
erstickt in der eingemauerten Schlafwolke Haus. 

Begegnung 

Langsam hab* ich mich dir zugewandt 
Und umkreise dich wie Mond die Erde. 

Auf dir ruht mein Auge wie auf Land — 
gib mir deine Hand, 

daß i ch weiß, ob ich dich lieben werde. 

Voll Begehren tauch’ ich auf aus Ruh, 

fasse deine Hand — 

fasse deine Hand und fühle 

in mir fremde regungslose Kühle. 

Lasse deine Hand — 

bleischwer fällt sie deinem Körper zu. 

Heute 

Aus dem Heute wird ein Gestern, 
aus dem Heute wird ein Morgen. 

Jede Stunde eilt sich, teilt sich 
mit den Freuden und den Sorgen. 



Wilhelm von Scholz^ Gedichte 


3*4 


Und du siehst die rasche Welle 
vorwärts, rückwärts sich ergießen; 
aus dem Jetzt, der Zauberquelle 
Künftiges und Vergangenes fließen. 


Die Häuserwand 

Und immer wieder diese Häuserwand. 

Sie steht steinhell vor Weite, Himmel, Land. 
Ein unsichtbarer Streifen fernen Blaus 
schüttet den grauen sonnenlosen Schein 
zwischen die steilen Wände, Haus und Haus. 
Verdünntes, abgesonntes Licht, 

Licht aus herüberfallendem Widerschein 
dringt in den Schatten meines Zimmers ein; 
drängt ihn zurück, allein er lost ihn nicht — 


An die steinerne Geliebte 
I 

Du bist aus Stein. Nie wird mein Wort dich rühren. 
Du blickst in hohe Fernen unverwandt. 

Im Mantel birgt sich deine rechte Hand, 

den Schutz des Kragens bis vors Kinn zu führen. 

Die Krone überlastet dein Gewand. 

Dein Leib steht streng. Doch seinen Atem spüren 
die Falten alle, die dich rings berühren. 

Ihr Fall, von deiner offnen linken Hand 

geteilt und aufgehalten, hüllt dich ein; 
läßt nur Gesicht und linke Hand sich zeigen. 

Die Hand ruht still und dein Gesicht ist Schweigen. 

Ums Leben wissen beide. Werde mein! 

Ich liebe dich, schöne Frau, ich bin dein eigen 
unwandelbar und frei: Du bist aus Stein. 



Wilhelm von Scholz, Gedichte 


II 

Ich stelle keine Blumen vor dir auf. 

Doch deinen Sockel schmück' ich mit Kristallen. 
Hier darf nicht Zeit als welkes Blatt mehr fallen. 
Kristallen fühl’ ich mich zu dir hinauf. 

Durch des Jahrtausends fast verstäubten Lauf 
komm’ ich. Du wartest in zeitlosen Hallen. 

Ich komme nicht, zu Füßen dir zu fällen — 
und dennoh bitt’ ich: hebe du mich auf! 

Denn alle Frauen, die sich mir ergaben, 
sind eine nur, die ich vor dir nicht fand, 
sind namenlos; und ihre Seelen haben, 

mich liebend, längst sich von mir abgewandt, 
weil sie gewährten. Du gewährst nicht, nein. 
Das ewig Gleiche endet. Du bist Stein. 


III 

Ich liebe dich. Und dieser Liebe Sinn 
ist anders, als ich Liebe je erfaßt. 

Ist nicht Genuß und Rausch, nicht Leid und Last, 
nicht Wandel, nicht Verlust und nicht Gewinn. 

Die Liebe, die du zu verschenken hast, 
ist Seele eines Steins. Du gibst sie hin, 
daß ich, der Liebende, ihrer Eigner bin. 

Doch du liebst nicht. Frei bin ich jeder Last! 

Wie eine Tote kann ich still dich lieben — 
und dennoch, Süße, traur’ ich um dich nicht. 
Denn, was du je mir warst, bist du geblieben. 

Nie küß’ ich deinen Mund, der niemals spricht, 
nie faß’ ich deine Hand. Doch bist du mein. 

In mir ist deine Seele. Du bist Stein. 



Wilhelm von Scholz, Gedichte 


IV 

Doch deine Seele ist Leib, ist unsichtbar 
in Stein gehüllter Leib. Ich lieb ihn ganz. 

Ich liebe deinen Fuß, ein Reigentanz 
träumt wartend drin, liebe das Schultempaar, 

das schmale, mit der Steinagraffe Glanz, 
das unter Krön' und Kranz verborgene Haar, 
dein Auge, das so fern und kühl und klar 
von Menschen fortsieht. Was in des Gewands 

Steilfalten sich verbirgt, ist mir enthüllt: 
ich liebe Brust und Leib, den weiten Schritt, 
der ruhend dein Steinkleid mit Leben füllt. 

Doch Nase, Brauen, Stirn, den Schattenschnitt 
des süßen Munds, die Wangen trink' ich ein, 
die halbverhüUt sind. Und ich lächle: Stein. 


V 

Und steinern seh' ich deinen Gatten stehn, 
der. Schönste, dich genoß; in dessen Glut 
die Sinne dir erwacht; der in jdein Blut 
mit Leben eindrang; der das Untergehn 

in Lust dich lehrte und die süße Wut 
gelöster Triebe, das Ins-Ewige-Sehn 
aus Lusterschöpfung und das Widerstehn 
aus Haß der Lust — bis deine Seele, gut, 

reich und erfahren, frei ward der Umarmung, 
plötzlich aufwachend als ein eignes Sein 
in ihres Leibs aufglühender Erwarmung, 

den du der Seele schenkst, die spät dich liebt, 
der sich nur ewiger Liebe noch ergibt. 

Und ewig lieben nur: Seele und Stein. 



jhmius, Politische Chronik 


3*5 

geschickter Schachzug des Hauptfestredners — geschickt im Hinblick 
auf die Ungebärdigkeiten der bayrischen Volkspartei unter Doktor 
Heims Führung —, daß er das Bekenntnis zu einem alten Programm¬ 
punkt aus dem März 187* erneuerte: „Der föderative Grundcharakter 
des Reiches als eines Bundesstaates soll gewahrt und demgemäß den 
Bestrebungen, die auf eine Änderung des föderativen Charakters der 
Reichsverfassung abzielen, entgegengewirkt und von der Selbstbestim¬ 
mung und Selbständigkeit der Einzelstaaten nicht mehr geopfert werden, 
ab die Interessen des Ganzen unabweislich fordern.“ 

Aus den Schlingen des Gesetzes, nach dem das preußische Reich 
Bismarcks ins Leben trat, unter endgültigem Verzicht auf zehn Millionen 
in die schwarzgelbe Habsbutgerei verstrickter Deutscher, konnte es 
den Weg zu den überlieferten Formen des deutschen Föderalismus 
und zur Dauer versprechenden Lösung des Einigungsproblems nicht 
zurückfinden; die um sich greifende Wucht des ehernen preußischen 
Staatsgedankens stand dem im Wege. Aber die Einverseelung des ge¬ 
samten Deutschtums in Preußen gelang nicht; die am alemannischen 
Elsaß gemacht«^ .‘Erfahrungen hatten denen, die vor der Katastrophe 
senbn^rätflteiC schöft längst die Augen preußischer Einverseelungskünste 
geöffnet. Wenn nun aus den Kreisen der von je großdeutsch emp¬ 
findenden Katholiken des Südens wieder das Bekenntnis zum Föderalis¬ 
mus erschallt, so erblicke ich darin so wenig einen Zufall, wie in 
dem Umstand, daß aus ihrer Mitte auffallend gewandte parlamentarische 
Führernaturen in den Vordergrund treten, Männer, die einen Blick för 
die vom Schicksal uns abgezwungene Verschiebung unseres politischen 
Lebens aus den Geleisen der 31 ut und Eisen c -Bahn ins Ideelle, — 
in die Richtung gewisser uralter Überlieferungen haben. Ohne Zweifel ist 
politisch (nicht: wirtschaftlich) das preußische Übergewicht gebrochen, 
das rein deutsche Element, das der vergottete preußische StaatsbegrifF 
nie ganz zu bezwingen und das sich nie recht mit dem östlichen 
Kolonialdeutschtum zu versöhnen und zu vermischen vermochte, tritt 
wieder stärk hervor und übernimmt offenbar zeitweilig die Führung. 
Neu auflebende Klagen über süddeutsche Zuchtlosigkeit, die unbe- 
kehrte und bitter gemachte Treitschkejünger der allgemeinen Leichen¬ 
klage beimengen, dürfen uns über die Bedeutung dieser Verschiebungen 
nicht hinwegtäuschen; sie können und werden uns, neben den hoffent¬ 
lich nie verlöschenden disziplinierenden Wirkungen des vom Verge¬ 
waltigungstrieb gereinigten Preußentums, auch aus dem Druck und 
Düster der Fremdherrschaft leichter hinausflihren helfen. 



Jtmius, Politische Chronik 


3 *6 

ln dem Ring der ausschließlich materielle Interessen und Verbände 
vertretenden heidnischen* Parteien hat also das Zentrum, das am Haus 
Gottes Wacht hält und weder den Staats- noch den Nationalgedanken 
hypertroph werden läßt, seine besondere Aufgabe. In seiner Haltung 
zum Reichsganzen und zur Demokratie beweist es Takt, Voraussicht 
und politischen Instinkt; und wenn wir früher oft Ursache hatten, 
nach Verebbung des Kulturkampfunfugs, den Fortbestand dieser alle 
sozialen Schichten des Volkes in sich begreifenden Partei als Atavismus 
zu empfinden, so zählt sie heute gerade, wo wir wie auf schwimmenden 
Eisschollen dunklen Weiten zugetrieben werden, um ihrer Eigenheiten 
willen zu unseren stärksten politischen Aktiven. Es ist darum nur billig 
festzustellen, daß der im Zentrum zum Ausdruck gelangende deutsche 
Katholizismus als solcher nicht das geringste mit der plumpen sepa¬ 
ratistischen Bauernfängerei gewisser west- und süddeutscher Elemente 
zu tun hat, die schamlosen Landesverrat treiben. Immer wieder werden 
wir mit den schmutzigen Nachgeburten aus der Zeit überspQlt, wo 
der Hakatismus in jeglicher Gestalt, also im Zentrum wie in den 
Grenzmarken des Landes, noch als höchster Triumph deutscher Re¬ 
gierungskunst galt, und man wünschte sich das Gift herbei, das mit 
dieser schädlichsten Laus am Baume der naturbedingten Vaterlandsliebe 
aufräumt. 


II 

Herr Doktor Walther Rathenau, dessen markante Persönlichkeit ich 
unseren Lesern nicht vorzustellen brauche, ist Reichsminister für Aus¬ 
wärtige Angelegenheiten geworden. Der Selbstverständlichkeit, daß 
Selbstverständliches Ereignis wird, scheint man sich bei uns einiger¬ 
maßen entwöhnt zu haben, sonst wäre, was sich kürzlich bei und unter 
uns zur Belustigung der Welt abspielte, unmöglich. 

Was ist geschehen? Zu der Ernennung Rathenaus hat sich Herr 
Wirth sicherlich aus innerem Drang und Zwang gerade in dem Augen¬ 
blick entschlossen, wo die Partei unserer starken Industrieherren und 
Unternehmer sich anschickte, in den Kahn der großen Koalition zu 
steigen und der deutschen Politik nach innen und außen um der 
wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes willen das Rückgrat zu 
stärken. 

Lang überlegten sich’s die Herren, ob sie sich zum Ersatz der wei¬ 
land Naumannschen Parole ,Von Bebel zu Bassermann* hergeben, ihre 
widerstrebenden Gefühle, ihre faustdicken ressentiments gegen die am 



Jutiius, Politische Chronik 


3*7 

,Revolutionskarnev*l‘ beteiligten Parteien, ihre personellen Vorurteile 
aufgeben .. oder die sogenannte Erfüllungspolitik von selbst sich 
sollten tot laufen lassen. Das lange Zögern und Schwanken und der 
Kampf der Motive war an einer Partei durchaus verständlich, deren 
führende Köpfe rein wirtschaftlich eingestellt sind und in einer At¬ 
mosphäre automatischer Wirtschaftsführung groß und produktiv ge¬ 
worden sind; darum bestanden sie stierköpfig, ohne nach links noch 
rechts zu blicken, und ohne die Folgen für das Reich und die letzten 
Reste seiner Souveränität zu bedenken, auf der Ablehnung aller west- 
mächtlichen Diktate, wobei außer Rechnung gestellt sein mag, daß in 
der von ihnen alimentierten Presse und in ihrer Gefolgschaft allerhand 
unklare, unreife und unreine Motive die Stimmung und die Haltung 
beeinflußten. Und ich möchte in diesem Zusammenhänge nur nebenbei 
etwas gar nicht Nebensächliches erwähnen: daß in dieser Partei der 
Ungedanke, es sei im heutigen Deutschland möglich, zwischen Staat 
und Wirtschaft einen radikalen Strich zu ziehen, eine Zeitlang unheim¬ 
lich lebendig war; der Ungedanke, diesen aus der »Gosse* der Re¬ 
volution geborenen deutschen Staat durch beherzte Katastrophenpolitik 
zur Strecke zu bringen. (In Paranthese: Sagte Friedrich Wilhelm der 
Vierte, der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, er wolle nicht, 
daß zwischen Ihn und das Volk sich ein Stück Papier schiebe, so 
sagen nicht wenige unserer volksparteilichen Industrieherren, sie wollten 
nicht, daß zwischen Sie und Ihr Volk die Weimarische Verfassung trete.) 

Aber die Zeit schritt fort; die Pfade der zwangsläufig jasagenden 
Aufklärungspolitik, die finanziell eine Katastrophenpolitik für uns sein 
und ... für die anderen sehr bald werden mußte, wurden nun ein¬ 
mal beschritten; die Unruhe über die Schrecken der in Versailles ein¬ 
geleiteten Friedensära begann sich über den Planeten zu breiten, in 
London und Washington glommen die zarten Schimmer neuer, aus 
Leiden und Sorgen geborener Einsichten auf; Frankreich, das ver¬ 
hätschelte enfimt chlri unter den Völkern, wurde zum erstenmal 
seit Menschengedenken vom eisigen Hauche einer beginnenden Isolierung 
(die wir Deutsche aus vielfachen Gründen beklagen müßten) an¬ 
geweht; und nun begann sich auch das Gemüt der Volksparteiler 
den psychologischen Voraussetzungen einer, wenn überhaupt, mög¬ 
licherweise wirksamen deutschen Außenpolitik zu öffnen. Es ist 
wichtig, sich die Phasen dieses Zermürbungsprozesses zu verdeutlichen, 
die die deutsche Volkspartei zu durchlaufen hatte, ehe sie sich den 
Tatsachen wie sie sind zuwandte. 



3*8 


ftmius, Politische Chronik 


Nun stellten die Vernünftigen unter ihnen fest, daß der greulich 
fahrige Dilettantismus unserer öffentlichen Wirtschafts- und Fmanz- 
gebarung, die die Fundamente auch ihres neudeutschen Zwangsstaates 
unterspült, nur durch verantwortungsvolle Teilnahme der Unternehmer¬ 
schaft am Regierungs- und Verwaltungsgeschäft ein Ende gemacht 
werden könne; und sie wurden allmählich bereit, das nutzlose dema¬ 
gogische Kokettieren mit den stupiden Reaktionsfänadkern quand 
mime den Realitäten des Tages zu opfern. War ein Regieren unter 
Ausschluß der Mehrheitssozialisten möglich oder wünschbar? N ein. 
Durfte man annehmen, daß sie ihren Opportunismus (z. B. in Steuer¬ 
sachen) noch weiter trüben könnten, ohne von ihrer enttäuschten 
Gefolgschaft in Stich gelassen zu werden? Nein. Und konnten jene 
Vernünftigen zweifeln, daß bei der heutigen außenpolitischen Kon¬ 
stellation die Zeit für etwas anderes als eine Politik des Ad-absurdum- 
führens zu spät sei? Man wand sich und mußte schließlich wieder 
mit Nein antworten. Die Aufklärungsarbeit Dr. Rathenaus hatte 
immerhin unbezweifelbare Erfolge erzielt, wieviel sachliche Vorarbeit 
Sdnnes (??) und Mendelssohn auch geleistet haben mögen. Die un¬ 
vergleichlich wichtige, Versailles zum Teil sachlich erschlagende 
Motivierung, die die Bank von England ihrer Ablehnung einer Kredit¬ 
hilfe für Deutschland gab, schuf erst die Voraussetzung von Cannes; 
Cannes zieht irgendein Genua nach sich; und in dieser ganzen Kette 
von Bemühungen, das Reparationsproblem mürbe und gar zu machen, 
sind überall Rathenaus Sachkenntnis, Beredsamkeit und Kunst der 
Menschenbehandlung eingeschaltet. Wohlwollende Ausländer (ich 
darf Namen nicht nennen; sie stehen sehr, aber sehr hoch) pflegten 
zu fragen, ob wir denn so reich an Persönlichkeiten seien, daß wir 
uns erlauben dürften, „Kräfte“, wie die in Herrn Rathenau auf- 
gespeicherten, in dieser Zeit deutscher Not politisch brach liegen zu 
lassen. Nun wurden sie benutzt; der Reichskanzler — freilich auch 
er, nach alt-neuer Terminologie, ein Reichsfeind — fand sie durchans 
verwertbar und von schöpferischer Beschaffenheit; nichts natürlicher, 
als daß er seine Dankbarkeit erst in Worten, dann, dicht vor Genua, 
durch die Ernennung seines Gehilfen zum Außenminister bekundete. 

In diesem Vorgang ist so wenig Verwunderliches, daß er vielmehr 
in jedem anderen politisch reifen Lande die Regel wäre; doch wir 
leben in Deutschland. Die deutsche Volkspartei, die eben Ja gesagt, 
eben das Steuerkompromiß mitsamt der Zwangsanleihe, unter den be¬ 
kannten nationalliberalen Schlingbeschwerden, zu schlucken sich berat 



Jtmius, Politische Chronik 


1*9 


gefunden hatte, wird plötzlich stutzig, erklärt sich durch die Ernennung 
des ihren Industrieherren unbequemen und unsympathischen Mannes 
aus Juda überrumpelt und beansprucht, fünf Minuten vor zwölf, ihre 
Handlungsfreiheit... Möglich ist, daß Regiefehler bei der Vorbereitung 
der großen Koalition gemacht wurden, aber sie scheint doch so lange 
eine politische Notwendigkeit erster Ordnung, als die Unabhängigen 
jeden Opportunismus in Steuersachen, um nur von den Vordergründen 
zu sprechen, scheuen müssen; und als ohne die Mitarbeit der deutschen 
Unternehmerschicht Europa nicht aufgebaut werden kann. Auch mögen 
allerhand parteipolitische Bosheiten und Taktikerkunststücke mitgespielt 
haben, um vielleicht von links her die Geburt der großen Koalition 
zu erschweren; ich weiß es nicht. Aber: es ist fünf Minuten vor 
zwölf; und der Anfang einer Sabotage der eignen Zukunft steht 
einer um das deutsche Schicksal gewiß nicht bloß aus ideellen Grün¬ 
den bangenden Bürgerpartei nicht zu. 

Verronnen wie die Körner der Sanduhr mag das Tatsächliche am 
eben Berichteten sein, wenn diese Zeilen gedruckt sind; aber was da¬ 
hinter steckt, ist für den grauenhaften Zustand der politischen Uner- 
zogenheit und Unfertigkeit bezeichnend, in der das bismärckische und 
das neuwilhelminische Zeitalter die deutsche bürgerliche Gesellschaft, 
und zwar ihre besten baumeisterlichsten Schichten, zurückgelassen hat. 
Sie scheint anpassungsunfahig, wenigstens nach ihrem Verhalten seit 
dem Menetekel der russischen Revolution und dem Zusammenbruch 
unserer Generalsdiktatur zu schließen. Unter dem obrigkeitlichen 
Schutz einer politisch impotenten Beamtenherrschaft hat sie ihren 
Willen zur Ohnmacht, ohne Stolz, ohne Würde, ohne ahnungsvolle 
Voraussicht unabwendbarer Dinge, unter Beihilfe der akademischen 
Intelligenz als auszeichnende deutsche Besonderheit so lange gepriesen, 
bis das Haus brennt, und unsere Feinde türmen die Scheite; aber drin 
zanken sich die am meisten beteiligten und verantwortlichen Haus¬ 
besitzer, wahrend so etwas wie ein Dämmerschein nützlicher Werk¬ 
tätigkeit im fembesonnten Süden aufleuchtet, wie die Waschweiber, 
vertrödeln die kostbaren Minuten mit Gekränktsein und Übelnehmen, und 
lassen, Christen die sie sind, auf den so überaus wertvollen Mann aus Juda 
das Gekrächz ihrer Pressraben niedergehen, nur weil ein Mann von 
bei uns seltenem politischen Instinkt und Führereigenschaften, wie 
Dr. Wirth, sich in ihm einen Gehilfen seiner Politik wählt. 



Ho 


Jvntus, Politische Chronik 


III 

Genua: ich hoffe, daß die Vereinigten Staaten an der Konferenz 
die dort stattfinden soll, nicht teilnehmen werden. In einem Beitrag 
des Februarheftes der Neuen Rundschau wurde ausgeführt, daß Amerika 
den Friedensanfäng bestimmen wird, wie es das Kriegsende bestimmt 
hat. Von ganzem Herzen teile ich diese Ansicht. Wodurch hat 
— weiß man es nicht mehr? — Wilson das Werk von Versailles 
heillos verpfuscht? Weil er Waffenstillstandsforderungen unterstützte, 
die Deutschland wehrlos machten und dadurch ihn und seine den 
Verbündeten gegenüber entscheidend machtvolle Position aus der Reihe 
der für die Friedensbedingungen maßgebenden Faktoren ausschaltete. 
Die einzige Garantie gegen den imperialistischen Wolfshunger unsrer 
Gegner schwand damit, Wilson wurde Spielball der ihn umringenden 
Advokaten- und Politikergilde, die nun statt einer militärischen eine 
ideologische Mauer vor sich sahen, und nun das Werk errichteten, 
das uns in nie erahnte Schrecken des Friedens stürzte . .. Und nun? 
Harding und Hughes zögern, das heißt: sie zögern nicht mehr. Sie 
stellen dem europäischen Tollhaus ihre Bedingungen (Rüstungsminderung 
bei unsren Nachbarn im Westen und Osten; vernunftgemäße Anpassung 
unsrer Entschädigungspflichten an unsre Möglichkeiten), wohl wissend, 
daß sie mit ihrem Sack von Alliiertenschulden und ihren stetigen 
Druckmitteln in Händen auch die französische Sabotage des Friedens 
schließlich brechen können. Endlich: die Episode Poincard verzögert 
den Friedensanfang. Bleiben die Amerikaner fest, so dürfen wir hoffen. 
Es ist immerhin möglich, daß ihre bewußte Politik die Gelegenheit 
sucht, das Übel, das Wilsons Schwäche uns zugefügt, einigermaßen . . 
na, sagen wir: »gut* zu machen. 



ANMERKUNGEN 


Stimmen des Auslands 

A ndrl Suares veröffentlicht in den 
Pariser „Berits Nouveaux“ eine 
Rede zu Dostojewskis hundertstem 
Geburtstag: Worte eindringlicher Klug- 
heit und Verehrung und prinzipielle 
Gedanken über das Wesen dieser und 
jeder Kunst. Suares — der endlich 
auch in Deutschland an Boden gewinnt 
und dessen Aufsätze edelste franzö¬ 
sische Prosa darstellen — erklärt, daß 
alles eher vorübergeht, sich wandelt 
und altert als die Bücher. Nirgends 
ist Rußland heute so wie in Dosto¬ 
jewski. Mag eine Welt auch zugrunde 
gehen, sie bleibt unsterblich durch ein 
Buch. 

„Dostojewski erscheint zunächst als 
der größte Pessimist unter den Men¬ 
schen. Keine Auffassung ist falscher. 
Übrigens begeht man den gleichen Irr¬ 
tum bei einigen andern tiefen Men¬ 
schen: man nimmt ihren Schmerz am 
Leben für eine Verfluchung des Le¬ 
bens, und doch sind sie im Gegenteil 
von einer unglaublichen Liebe zum 
Leben besessen. Flaubert ist der 
wahre Pessimist: er liebt die Welt 
nicht; er erhofft nichts; er ist gut, 
und seine Güte nützt nichts; für ihn 
ist die Wahrheit ebenso vergeblich 
wie traurig; denn sie ist ein nichtiger 
Besitz. Weit entfernt, das Nichts zu 
verachten, sehnt er sich dorthin. Und 
selbst wenn die Natur ihn dem 
menschlichen Elend entreißt, so ver¬ 
derben die Menschen, ihre Dummheit 
und ihre Bosheit ihm die Natur. Unter 
den Antipoden Flauberts liebt Dosto¬ 


jewski in der Natur nur die gemein¬ 
same Mutter aller Menschen. Er strebt 
nicht nach dem Nichts und dem Ver¬ 
gessen, sondern nach dem Heil. Die 
menschliche Dummheit ist nicht der 
Pol, wo für ihn alle Meridiane sich 
treffen; aber die Liebe, wo alle großen 
Kreise des Gedankens und der Tat 
Zusammenfällen. Er weint, weil er 
unter allen Menschen der ist, der am 
meisten an das Glück glaubt und es 
immer stärker will. Ein voller Pessimist 
ist er nur im Geist: im Herzen ist 
er Optimist bis zur Ekstase . . . 

Deshalb hinterlassen Dostojewskis 
düsterste Romane einen so hellen 
und sanften Eindruck: am Ende von 
Tunnel und Mine ist der große freie 
Himmel geöffnet, und das Licht er¬ 
wartet uns am Ausgang der Finster¬ 
nis. Die Vernunft ist vielleicht weder 
überzeugt noch zufrieden; aber das 
Herz ist erfüllt. Selbst in den „Be¬ 
sessenen“, diesem furchtbaren und — 
man möchte glauben — verzweifelten 
Werk, diesem unvergleichlichen 
Meisterwerk, ist die letzte Revolution 
beschrieben; Lenin ist Zug für Zug 
gezeichnet; selbst der Sowjet ist vor¬ 
geahnt: der Bankerott jeder sozialen 
Erderschütterung ist offenbar. Nie war 
ein Buch tiefer und prophetischer ge¬ 
wesen. Es sollte von tödlicher Trauer 
sein, da alle Helden besiegt werden, 
alle in den Tod gehen, Verbrecher 
oder Opfer werden: aber Dostojewski 
läßt so stark fühlen, wofür sie unter¬ 
geben, ohne es je zu erklären, er 
zeigt so hell, daß die verkannte liebe 
notwendig diejenigen aus dem Leben 



3)i Anmerkungen 


treibt, die sie ▼erkennen, daß man in¬ 
mitten aller dieser Tode und Ruinen 
nur die lebendige Liebe siebt.“ 

Daniel Halevy sagt, in der 
„Revue de Geneve“, zum Thema: 
Frankreich und Deutschland: 
„Das französische Gleichgewicht be¬ 
deutet keineswegs ein Vertrocknen 
des französischen Herzens, ein Stehen¬ 
bleiben des französischen Geistes. Es 
bedeutet lediglich, daß Frankreich eine 
Nation ist, welche Grundlagen hat. 
Hat Deutschland welche?“ Diese Frage 
möchte Halevy nicht entscheiden, aber 
er zitiert Sätze Otto Flakes, die die 
Traditionslosigkeit des deutschen 
Geistes und ihre Folgen darlegen, um 
dann zu seinen eigenen Ergebnissen 
zu kommen: „Gebrochen in seiner 
Gegenwart, gebrochen in seiner Ver¬ 
gangenheit, kann Deutschland nur ein 
pathetisches ,Was nun?* aussprechen, 
und es erstaunt und beschuldigt uns 
gerne des Unverstandes, weil wir es 
sucht ebenfalls aussprechen. Daß es ein 
für alle Male es wisse: wenn es Apo¬ 
kalypsen sucht, erwarte es nichts von 
Frankreich und gehe allein zum Ziel 
seiner Katastrophen. Aber ist es be¬ 
greiflich, daß es ganz und gar so 
veranlagt sei? Dieses rheinische Bürger¬ 
tum, aus dem ein Goethe hervoiging 
(bei jeder Wendung unseres Gedankens 
kommt dieser Name als ein notwen¬ 
diges Zeichen wieder), was ist aus 
ihm geworden? Hat es nicht seine 
klugen Wünsche, die es zu uns zu¬ 
rückfuhren, oder besser gesagt — denn 
es ist wichtig, hier nicht die geringste 
Spur von nationalem Vorurteil einzu¬ 
führen —■ die es zu den abend¬ 
ländischen Traditionen zurückfuhren, 
an denen Frankreich so großen An¬ 
teil har? Das ist die Richtung, aus 
der, wie mir scheint, eine Begegnung, 
ein Austausch zwischen den Geistern 


Frankreichs und Deuschlands kommen 
kann. Aber heute handelt es sich 
nur darum zu ahnen, zu erforschen, 
zunächst die tieferen Voraussetzungen 
zu erkennen und durch unsere For¬ 
schungen das Kommen von weniger 
Inneren Tagen zu begünstigen.“ 

ln der New-Yorker „Nation“, die¬ 
ser unerhört klaren und unabhängigen 
Wochenschrift, gelangt dieser Aufruf 
zum Abdruck: 

„Viele meinen, daß die Zeit noch 
nicht gekommen sei, die deutsche In¬ 
telligenz zu ermutigen. Ich persönlich 
glaube, daß solche Meinung unrecht 
hat. Ein ausgedehnter Sommer, den 
ich in deutschen Universitätsstädten 
zubrachte, hat mich überzeugt, daß, 
obgleich der deutsche Professor ge¬ 
wöhnlich ein reaktionärer Monarchist 
ist, die studentischen Körperschaften 
die aufbauendste liberale Gruppe in 
der Republik sind. Wie das auch sein 
mag, sicherlich kann nur Sympathie 
zu den Tausenden von Studenten in 
Polen, Tschechoslovakei, Esthland, Li¬ 
tauen und Wien bestehen. Mit mei¬ 
nen eigenen Augen habe ich Tausende 
von Studenten gesehen, die in unge¬ 
heizten und unsanitären Baracken und 
verlassenen Speichern leben, unterer¬ 
nährt, in nicht viel mehr als Lumpen 
gekleidet, unglaubliche Opfer bringend, 
um ihre geschulte Intelligenz und ihr 
technisches Können dem Wiederauf¬ 
bau des zerstörten Europas zu widmen. 

Das sind die Fortschrittlichsten und 
Würdigsten in der nächsten Generation 
Zentral-Europas. Sie entbehren unsere 
Hilfe nicht allein als Wohltat für 
hungernde und leidende Menschen, 
sondern auch als Beistand durch unsere 
jüngeren und fortgeschritteneren Be¬ 
wohner, die eine beispiellose Gelegen¬ 
heit haben, die internationale Kamerad¬ 
schaft zu fördern .. .“ R. K. 



Anmerkungen 333 


Poincard 

M it Poincard, der jetzt sieben Vor¬ 
träge* über den Ursprung des 
Krieges als Buch hat erscheinen lassen, 
kommt der erste Souverän, der wäh¬ 
rend des Krieges im Amt war, zu 
Wort. Und zwar zweifellos derjenige, 
der neben Wilhelm II. am stärksten 
in die Verhältnisse eingegriffen hat. 
Seine Darstellung beginnt mit dem 
Verhältnis von Frankreich zu Deutsch¬ 
land seit 1870. Gegenüber den deut¬ 
schen Bewerbungen, die mit Droh¬ 
ungen abwechselten, habe sich Frank¬ 
reich ablehnend verhalten aus Pietät 
gegenüber den verlorenen Provinzen, 
aus Stolz, in vornehmer Resignation. 
Gesetzt nun, daß zu diesen edlen Ge¬ 
fühlen auch noch Ressentiment, Neid, 
Rachsucht treibend hinzugekommen 
wären, jedenfalls die französische Hal¬ 
tung hatte Linie, Einheit. Und jetzt 
erst nach der Niederlage haben wir 
gelernt, sie besser als früher zu wür¬ 
digen. Welche Disziplin des National¬ 
bewußtseins! 

Nur um zu Deutschland in diesem 
Zustand friedlicher, jedoch kühler 
Distanz bleiben zu können, habe sich 
Frankreich mit Rußland verbündet, 
mi r England verständigt. Doch hier 
vergißt Poincard eines: indem näm¬ 
lich Frankreich sich mit den gewal¬ 
tigen lebendigen Mächten von Ru߬ 
land und England verband, gab es, 
selbst wenn es sich innerhalb des Ver¬ 
bandes nicht passiv verhielt, seine 
passive Position auf. Es war nicht 
mehr jenseitig, in Unschuld, sondern 
indirekt in die aktive Gewaltpolitik 
eingetreten. Übrigens bei Besprechung 
der Entente mit England entschlüpft 
Poincard ein Satz von Bedeutung: 
„Wenn rieh der Horizont verdunkelte, 
hatten wir nicht die Sicherheit einer 


* Raymond Poincarä: Lea Origines de la 
Goare. Paris, Pion. 19a!. Deutsche Ausgabe 
bei der Verlagsgesellschaft für Politik und 
Geschichte, Berlin. 


englischen Intervention, und dies war 
ein Grund mehr, damit unsere Diplo¬ 
marie nie auf hörte, vorsichtig zu sein/' 
Ja, Frankreich war passiv, nicht aus 
Friedensliebe, sondern ganz einfach 
aus politischer Berechnung. Es konnte 
gar nicht aggressiv sein. Rußland wäre 
ihm von 1895 bis 1908 bei einer sol¬ 
chen Haltung nicht gefolgt und Eng¬ 
land nicht von 1909 bis 1914. Inner¬ 
halb seiner Allianzen war eben Frank¬ 
reich der schwächereTeil, der nicht füh¬ 
ren konnte, sondern sich anschmiegen 
mußte. Aber die innere Triebkraft der 
französischen Politik enthüllt sich in¬ 
direkt: nämlich nach 1898, als Ru߬ 
land kontinentale Friedenspolitik trieb, 
wandte sich Frankreich von Rußland 
ab, eher England zu; als dagegen nach 
1909 England Friedenspolitik trieb, 
neigte sich Frankreich offenbar wieder 
nach der russischen Seite. So stand 
es also fortwährend auf seiten der 
aggressiv gesinnten Macht. 

Bis 191a gibt Poincard eigentlich 
nur eine advokarische Zusammen¬ 
stellung der Geschehnisse. Dann aber 
wird er Minister des Äußeren, greift 
selbst in die Geschichte ein. Er reiste 
August 191a nach Petersburg, Sassa- 
now las ihm den Text der bulgarisch¬ 
serbischen Konvention vor. „Ich be¬ 
merkte zu ihm, daß dies in Wirklich¬ 
keit ein Kriegsvertrag sei, der nicht 
nur Hintergedanken bei den Serben 
und Bulgaren offenbart, sondern daß 
ihre Hoffnungen auch durch Rußland 
ermutigt zu sein schienen.“ Warum 
aber, da er die Kriegsgefahr so schön 
bemerkte, hat er sieb mit dem Ver¬ 
trag so leicht abgefunden? Er hatte 
sichtlich nur eine Sorge, nämlich daß 
England, durch diese agressive russische 
Balkanpolirik kopfscheu gemacht, von 
der Entente abfallen könnte. Oktober 
191a schreibt er an Cambon nach Lon¬ 
don: „Trotz der Irrtümer,“ — man 
bemerke das Bekenntnis: „Irrtümer“— 
„welche die russische Regierung be¬ 
gangen hat, bleibt sie dem Frieden 



334 Anmerkungen 


und dem Status quo treu, und sie 
wird sich um so weniger davon ent¬ 
fernen, je fester die Stütze ist, die 
sie in Paris und London findet.“ Die 
Ereignisse überstürzen sich: von der 
Annexion Marokkos (wer hat Marokko 
annektiert?) springt der Funke weiter 
nach Tripolis (wer steht ermutigend 
hinter Italien?), nach Serajewo. Hier 
sagt Poincare: „Helas!“ Es folgt der 
furchtbare Julimonat. BemerkenSwert 
ist, daß er immerhin einen Stimmungs¬ 
wechsel in Berlin am 30. Juli zugibt: 
„Im Geist der deutschen Regierung 
war eine gewisse Verwirrung entstan¬ 
den, hervorgerufen, wie es scheint, 
durch die Worte, die Grey dem Für¬ 
sten Lichnowsky gegenüber am Abend 
vorher gebraucht hatte.“ Und er 
führt das äußerst energischeTelegramm 
Bethmanns an Österreich an, in dem 
dieser zum Einlenken auffordert. Eine 
aktive Friedenspolitik Frankreichs wäre 
gewesen: vor allem den Entschluß 
Englands hervorzurufen, da man wohl 
in Paris wußte, daß die zögernde 
englische Haltung bestimmend auf 
Deutschlands Kriegsstimmung wirkte; 
bis zu diesem Entschluß aber mußte 
es mit größtem Nachdruck die mili¬ 
tärischen Maßnahmen Rußlands ver¬ 
hindern. Aber am 29. Juli drahtete 
Viviani nach Petersburg: „Ich glaube, 
daß es nicht opportun wäre, wenn 
Rußland unmittelbare Maßregeln er¬ 
griffe, die Deutschland einen Vorwand 
zur Mobilisation geben könnten.“ Wie 
schwach ist dieses „opportun“ in sol¬ 
chem Augenblick der Gefahr! Man 
vergleiche damit den Ton der Beth- 
mannschen Depesche an Österreich! 

Peinlich ist bei Poincare die fort¬ 
währende Projektion zweifellos poli¬ 
tischer Vorgänge auf eine moralisie¬ 
rende sendmentale Ebene. Das Ver¬ 
hältnis zu Rußland ist ihm pure Freund¬ 
schaft. Wie takdos von Deutschland, 
sich in eine solche Herzensangelegen¬ 
heit einmischen zu wollen! Die Entente 
Cordiale ist ihm die Sympathie zweier 


schöner Seelen. Nichts bei ihm wird 
als politischer Schachzug gewertet. 
Dabei war aber Frankreich seit 1870 
gerade infolge seiner Schwäche ge¬ 
zwungen, Politik zu treiben. Die dritte 
Republik hatte die beste Diplomatie 
in Europa. Waren die beiden Cambon 
in Berlin und London, Barrere in Rom, 
ein Hanotaux, ein Delcass6, ein Poin¬ 
care Moralisten oder Politiker? Warum 
schämt sich Erankreich seines diplo¬ 
matischen Sieges, welcher seinen mili¬ 
tärischen vorbereitet hat? Während es 
jetzt zur offenen Machtpolitik über¬ 
gegangen ist und für sein Verhältnis 
zu den anderen Staaten gar keine 
moralische Fiktion mehr beansprucht, 
behandelt es die vorige Epoche noch 
immer nicht mit der Offenheit, zu 
der es gerade durch den Sieg sich 
befähigt fühlen sollte. 

Der Stil dieses Kriegsbuches ist sehr 
gepflegt. Mit perlgrauen Handschuhen 
werden alle Vorgänge angefaßt und 
zierlich emporgehoben. Es gibt zu¬ 
gespitzte Antithesen, Apercus, Bon¬ 
mots, ironische Feinheiten, pathetische 
Steigerungen. (Vor allem schwelgt 
Poincare in der Schilderung von Mo¬ 
narchen- und Präsidentenzusammen¬ 
künften, vonTelegrammen, Empfangen, 
Besuchen im Elysee und den Haupt¬ 
städten. O Wilhelm Poincare!) Vor 
seinem akademischen Gorgonenblick 
erstarrt die Welt. Deutschlands Schuld 
ist eine konstante Größe, die der 
ebenso konstanten Unschuld Frank¬ 
reichs gegenübersteht. Offenbar ist er 
befähigt, die Rede in der Akademie 
bei der Verteilung des Monthyon- 
Tugendpreises zu halten. — Sollte es 
übrigens in Deutschland gar keinen 
ähnlichen Typ geben? Am ehesten 
wäre es der frühere preußische Be¬ 
amte. Daher finden sich bei Poin- 
car£ manche Bethmannsche Züge: die 
gleiche moralische Selbstsicherheit, die 
vornehm abweisende Haltung (das 
Lieblingswort des einen ist „schnöde“, 
das des anderen „infäme“), die gleiche 



Anmerkungen 5 $ 5 


Erstarrung. Nur war diese Art Staats¬ 
mann für die französische Politik bis 
1918 geradezu günstig, sie eignete 
sich für die passive Haltung, die ver¬ 
standesmäßig das Elementare unter 
sich verband, dann es ruhig, abwartend 
gewähren ließ und nur dann und wann 
selbst dabei die Hände in Unschuld 
wusch, während der gleiche Typ in 
Deutschland, dessen gefährliche Lage 
die größte aktive Beweglichkeit er¬ 
fordert hätte, im höchsten Maße ver¬ 
derblich war. 

Ferdinand Lion 

Exotische Kunst 

V om Ende des siebzehnten Jahrhun¬ 
derts an kam chinesische Kunst, 
namentlich Porzellan und Stickereien, 
nach Frankreich, wirkte rasch und wurde 
in den „Chinoiserien“ des achtzehnten 
Jahrhunderts spielerisch von der da¬ 
maligen Kunst und Mode Europas ver¬ 
arbeitet. Etwa um die Mitte des neun¬ 
zehnten Jahrhunderts kam, diesmal von 
Japan her, eine neue Welle ostasia¬ 
tischer Kunst herüber, ebenfalls via 
Paris, und wirkte von dort aus. Beide- 
male waren es Erzeugnisse später, schon 
manierierter klassizistischer Kunst, es 
war gerade jener Teil der Exotik, der 
durch Naturfeme und eine gewisse 
Ermüdung in Europa am wenigsten 
befremdend wirken mußte. Bekannt 
ist ja das auffallend anpassungsfähige 
Verhalten des Impressionismus gegen 
den japanischen Holzschnitt und Stoff- 
druck. Die übrige Kunst der exotischen 
Länder war für Europa nicht vorhan¬ 
den, mindesten nicht als Kunst, höch¬ 
stens als ethnographische Spezialität. 

Inzwischen sind, in den letzten 
zehn Jahren mit höchst beschleunigtem 
Tempo, die Exoten in Europa zur 
Wirkung gelangt. Kaum war eine neue 
Hinwendung der Künstler und Kunst¬ 
liebhaber zu Ägypten vollzogen, kaum 
waren die hochentwickelten Bildnereien 
von China, Indien, Siam, Java bei uns 


einigermaßen bekannt geworden, da 
brach eine ganz neue Woge herein, 
die eigentliche, die wilde Exotik, die 
Negerplastik, die Schnitzereien und 
Flechtereien Ozeaniens. Die Tanz¬ 
masken und Götzen, die primitiv-ero¬ 
tischen Bildnereien der Neger, die ur¬ 
alten Dämonenfiguren Chinas wurden 
uns bekannt, wurden uns merkwürdig, 
wurden uns wichtig. 

Darüber hat Wilhelm Hausen¬ 
stein (bei Piper, München) ein sehr 
schönes Buch soeben herausgegeben. 
Auf 1 öyTafeln sind exotische BUdwerke 
aller Länder abgebildet. Ihnen folgt 
ein Text, ein kühner und sympathischer 
Versuch Hausensteins, diesen erstaun¬ 
lichen Kunstgebilden gerecht zu wer¬ 
den. Das Buch heißt „Barbaren und 
Klassiker“, und seiner Besprechung 
durch einen Sachverständigeren soll 
hier nicht vorgegriifen werden. Es 
ist, soweit ich sehen kann, Hausenstein 
geglückt, jener wilden Kunst auch 
denkerisch nahe zu kommen, aber nicht 
ohne ein gesteigertes Ekelgefühl gegen 
Leben und Kunst Europas. 

Mir, der ich sehr fern von der Kunst¬ 
wissenschaft stehe, ist bei Hausenstein, 
und schon vor einigen Jahren bei Ein¬ 
steins Buch über Negerplastik, etwas 
anderes in den Sinn gekommen, etwas, 
das nicht besonders mit Kirnst zu tun 
hat, dafür mit jener Zeitstimmung, die 
das Wort vom „Untergang Europas" 
im Munde führt. 

Der siegreiche (übrigens prachtvolle, 
von mir mit Innigkeit begrüßte) Her¬ 
einbruch der bemalten Schädel, der 
behaarten Tanzmasken, der furchtbaren 
Chimären primitiver Völker und Zeiten 
in den stillen, sanften, etwas langwei¬ 
ligen Tempel der europäischen Kunst¬ 
gegenstände und Kunstanschauungen 
ist allerdings ein Zeichen von Unter¬ 
gang. Zwar nicht von jenem Unter¬ 
gang, den der bürgerliche Zeitungs¬ 
leser sich vorstellt, wenn er über 
Spengler böse wird, sondern von jenem 
natürlichen, richtigen, gesunden Unter- 



II 6 Anmerkungen 


gang, der zugleich Beginn der Wieder- 

S sburt ist — von jener Art Untergang, 
e nichts andres ist als ein Ermüden 
überzüchteter Funktionen in der Seele 
des Einzelnen wie der Völker, und ein 
zunächst unbewußtes Hinstreben nach 
dem Gegenpol. In Zeiten solcher 
Untergangsstimmungen kommen stets 
seltsame neue Götter auf, die mehr 
wie Teufel aussehen, das bisher Ver¬ 
nünftige wird sinnlos, das bisher Ver¬ 
rückte wird positiv, wird hoffnungsvoll, 
scheinbar wird jede Grenze verwischt, 
jede Wertung unmöglich, es kommt 
der Demiurg herauf, der nicht gut noch 
böse, nicht Gott noch Teufel ist, son¬ 
dern nur Schöpfer, nur Zerstörer, nur 
blinde Urkraft. Dieser Augenblick 
scheinbaren Unterganges ist derselbe, 
der im Einzelnen zum erschütternden 
Erlebnis, zum Wunder, zur Umkehr 
wird. Es ist der Moment des erlebten 
Paradoxen, der aufblitzende Augen¬ 
blick, wo getrennte Pole sich berühren, 
wo Grenzen fallen, wo Normen schmel¬ 
zen. Es gehen dabei unter Umständen 
Moralen und Ordnungen unter, der 
Vorgang selbst aber ist das denkbar 
Lebendigste, was sich vorstellen läßt. 

So empfinde ich den Aufmarsch der 
exotischen Kunst aus Brasilien, aus 
Benin, aus Neukaledonien, aus Neu¬ 
guinea. Sie zeigen Europa sein Gegen¬ 
bild, sie atmen Anfang und wilde 
Zeugungskraft, sie riechen nach Urwald 
und Krokodil. Sie führen zurück in 
Lebensstufen, in Seelenlagen, die wir 
Europäer scheinbar längst „überwun¬ 
den“ haben. Wir werden sie auch auf 


der Stufe der Ozeanier nicht wieder 
aufhehmen. Aufhehmen aber, nicht 
mit dem Verstände und der Wissen¬ 
schaft, sondern mit Blut und Herz 
müssen wir alle diese Teufel und 
Götzen erbarmungslos. Wut wir in 
unsem Künsten, in unsrer Geistigkeit, 
in unsem Religionen gewonnen, kul¬ 
tiviert, verfeinert und allmählich ver¬ 
dünnt und verflüchtigt haben, alle 
unsre Ideale, alle unsre Geschmäcke, 
damit haben wir eine Seite des Men¬ 
schen großgezogen, auf Kosten der 
Gegenseite, haben einem Lichtgotte 
gedient, unter Verneinung der finstern 
Mächte. Und so wie Goethe in sei¬ 
ner Farbenlehre das Dunkel nicht als 
Nichts, sondern als schöpferischen Ge¬ 
genpol des Lichtes besingt, so steht 
jetzt (nur nicht mit Goethes Bewußt¬ 
heit) die fortgeschrittenste Künstler¬ 
schaft und Geistigkeit Europas vor den 
Gebilden aus Borneo und Peru, staunt 
und muß anerkennen, ja anbeten, was 
vor kurzem noch Greuel und Gespenst 
war. Und plötzlich denkt man auch 
daran, wie die stärksten Menschen 
in der Kunst des späten Europa, Dosto¬ 
jewski und van Gogh, diesen wilden, 
fanatischen Zug ins Unheimliche haben, 
diesen Geruch nach Verbotenem, diese 
Verwandtschaft mit dem Verbreche¬ 
rischen. 

Der Weg ist längst beschritten, keine 
Mehrheitsbeschlüsse werden das Rad 
zurück rollen. Der Weg Fausts zu 
den Müttern. Er ist nicht bequem, 
er ist nicht lieblich; aber er ist not¬ 
wendig. Hermann Hesse 


Verantwortlich für die Redaktion t Dr. Rudolf Kayscr. 
Verlag von S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig. 





DEUTSCHLAND UND DER OSTEN 

von 

ALFRED WEBER 

I n unserer ganzen Geschichte haben wir Deutschen zwischen Westen 
und Osten gestanden. Kolonisatoren und Erzieher des europäischen 
Ostens bis an die asiatische Grenze, Mitverteidiger gegen die mon¬ 
golischen und türkischen Springfluten, Händler, deren Faktoreien in 
Nowgorod standen, Lieferanten nicht nur von Waren, sondern von 
Fürstengeschlechtern, beamteter Brief- und Geburtsaristokratie, von 
Bauernmaterial, das man vor zweihundert Jahren noch bis zur Wolga 
und zur Krim siedelte, das durchdringende, aufrüttelnde, organisierende 
Element, dessen Idiom die „Weltsprache* bis nach Konstantinopel und 
östlich bis zum Baikalsee war, in diesem ganzen Gebiet in Konkurrenz 
nur mit den großen früher eingedrungenen Mächten der griechischen 
Kirche, unzweifelhaft nicht mit jenem Einfluß in die Tiefe, wie diese, 
aber immer für die Neugestalt des Lebens mitbestimmend: so waren 
wir befruchtend und gebend in diese östlichen Grenzenlosigkeiten 
verwachsen, dies einzige Gebiet, in dem wir uns ungehemmt ent¬ 
falten konnten, und das auch nach unserem Sturz mit den Kolossal¬ 
büsten von Marx in dem unendlichen Rußland diesen deutsch-westlichen 
Einfluß heute noch symbolisiert und auf die Tafeln, auf denen die 
Märtyrer und Kämpfer seines Neuen stehen, neben russischen Namen 
unwillkürlich nur deutsche zeichnet. Nach dem einmaligen Ein¬ 
strömen der griechischen Kirche war tatsächlich der deutsche Einfluß 
der stete Neugebärer dieses Ostens. 

Unsere eigenen geistigen Neugestaltungen aber haben sich bis 
heute stets anderswo — von unserer Mitte bis zum Rhein — vollzogen. 
Sie hatten das Gesicht nach Westen und nach Süden (nach Frank¬ 
reich und Italien) gewendet, waren vom Südwind, der über die Alpen 
kam, genährt, standen im Herüber und Hinüber des germanisch¬ 
romanischen Widerspiels, das über den Rhein und das allgemeine 
Knochengerüst der mittelalterlichen Ökumene, die Alpen, erfolgte. 

22 


3 3 8 Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

Seitdem uns Bonifatius und seine Nachfolger geschaffen haben, sind 
wir trotz allem, was wir nach Osten hin gaben, dachten und voll¬ 
brachten, ein Teil jener höchst wunderbar und mannigfaltig durch die 
Jahrhunderte in immer neuen Farben leuchtenden geistigen Weltkugel 
gewesen, die um die Rheinachse sich drehte und die, solange man sie 
noch nicht zertrümmert hatte, das Einzige war, was die Berechtigung 
gab, von einem Begriff* wie dem Europas in mehr als geographischem 
Sinn zu sprechen. Unsere Aufgabe schien zu sein, an der Dynamik 
im Innern dieses Körpers teilzunehmen und soweit wir dabei gleich¬ 
zeitig nach Osten wirkten, die im europäischen Zentrum entwickelten 
Strahlen, in unserer Färbung und mit unseren Kräften dorthin fort¬ 
zuleiten. Wir waren das europäische Ausstrahlungsgebiet nach Osten. 

Diese Dymanik und das west-östliche Hindurchffuten ihrer Kräfte 
durch unseren Leib ist heute zu Ende, seitdem die geistige Welt¬ 
kugel, die man Europa nannte, selbst zerschlagen wurde, das germano- 
romanische Widerspiel beendet und eine Polarität ganz anderer Art, 
zwischen der angelsächsischen Weltsphäre und einem aufkommenden 
Europa-Asien an die Stelle gesetzt ist. Unsere frühere Stellung 
zwischen Osten und Westen ist damit erledigt. Wir stehen in einer 
von Grund aus anders orientierten, mit anderen Kräftezentren aus¬ 
gestatteten, in anderen Fluß und Gegenfluß der Strömungen ge¬ 
tauchten Welt. — Wir stehen auch in ihr noch immer zwischen Westen 
und Osten. Aber was wird der Westen, was wird der Osten nun¬ 
mehr für uns bedeuten? 

Der Westen ist jetzt das Angelsachsentum und seine Welt. In 
dieser angelsächsischen Sphäre sind zurzeit die politischen Herrschafts¬ 
kräfte der Erde versammelt. In ihrem Hin und Her und ihrem 
Ausgleich wird über das politische Schicksal des gesamten Globus 
heut entschieden, über die Repartition der kriegerischen Beherrschungs¬ 
mittel, die es fordert. Hier formt man die internationale politische 
Macht- und Kriegsmaschinerie mit gleichberechtigtem Gewicht der 
beiden angelsächsischen Zentren an der Spitze unter abgestufter Ein¬ 
gliederung der Kleineren. Hier sind die wesentlichen Wirschafts¬ 
kräfte, die großen Reichtumsmassen konzentriert, mit denen die Natur¬ 
kräfte der Erde weiter aufgeschlossen, organisiert und in den Arbeits¬ 
bau der kapitalistischen Wirtschaft hineingezogen werden. Der ganze 
Osten ist, von diesem großen Weltzentrum gesehen, nichts anderes als 
ein riesiges, bisher nur unvollkommen aufgeschlossenes Behältnis 
solcher noch einzufügender Kräfte, noch aufzuklärender und anzu- 



33 9 


Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

passender Menschenmassen, noch umzugestaltender Staats- und Wirt¬ 
schaftsformen, fÖr deren An- und Eingliederung man die modernen 
Formeln und Formen sucht und finden wird. Zivilisation und Kultur 
konzentrieren sich auf die Linie London-Newyork und ihre Ver¬ 
längerung nach Chicago und dem amerikanischen Westen. Dies ist 
die neue Weltachse, die an die Stelle der alten Rheinachse getreten 
ist, um welche die europäisch-kapitalistische Ursprungswelt sich drehte. 
Wie diese Rheinachse in der abendländischen Entwicklung an die 
Stelle des alten Mittelmeerschwerpunkts der antiken Welt getreten 
war, so haben sich nach langem Osdlüeren die Schwergewichte der 
neuen Weltbewegung jetzt definitiv an diese neue Weltachse gezogen. 
Was sich um sie zusammendrängt, an ihrer Ballung teilnimmt, in 
ihrem Turnus mitschwingt, lebt — alles andere ist nur Ausstrahlung 
und Widerspiegelung. Man spricht die Sprache der angelsächsischen 
Weltsphäre heut in jeder Hafenstadt der Erde, man wird an jedem 
Platz der Erde von ihrem Nachrichtendienst versorgt, zu jedem durch 
ihr Handels- und Schiffahrtsnetz getragen; — man empfängt von ihren 
beiden Polen die neuen geistigen Stichworte der Erde, wo man auch 
auf dem Globus ist. Die Welt wird geistig und physisch organisiert 
aus dieser nunmehr zu ihrem Gewichtszentrum und gleichzeitig zu 
einer großen Einheit gewordenen angelsächsischen Sphäre. 

Wird tatsächlich der Osten von ihr mit verschlungen werden, so 
daß die neue Polarität zwischen Westen und Osten, von der ich sprach, 
und in der wir stehen, nur ein Schein ist? — Ich glaube nicht Die 
starken politischen Befreiungszuckungen des asiatischen Körpers, die 
Tatsache, das hinter ihnen das nicht bezwungene und kaum zu be¬ 
zwingende Rußland steht, die Konkordanz der neuen Freiheitstendenzen 
mit der offiziellen Ideologie, welche die neue Weltherrschaft vertreten 
muß, — daß alles wäre angesichts der materiellen und technischen 
Überlegenheit der beiden angelsächsischen Zentren und ihrer aus¬ 
gesprochenen, ihnen gerade eigenen Gabe, auch im Namen der Freiheit 
doch tatsächlich zu regieren und zu herrschen, für die Zukunftsprognose 
der Selbständigkeit des Ostens vielleicht noch nicht entscheidend. 
Niemand kann wissen, wie die zu stellen ist, wie das politische Ge¬ 
sicht der Welt aussehen wird, wenn sich die Nebel des neu herauf¬ 
steigenden Jahrhunderts verzogen haben werden und ob nicht seine 
Züge für absehbare Zeit doch bestimmt sein werden von der Domi¬ 
nanz der angelsächsischen Kräfte. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. — 
Hier aber handelt es sich um das Geistige. Der Osten ist geistig 



34 ° Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

eine Masse, die man nicht ohne weiteres verschlingen kann, auch nicht 
mit noch so riesenhaften materiellen Kräften, die sich heute irgendwo 
massieren. Die leeren Flächen Australiens, der kulturarme Körper 
Afrikas, der ausgesogene und zerschlagene Südamerikas mögen — schon 
politisch und wirtschaftlich weitgehend angegliedert — das vielleicht 
noch weiter als bisher auch geistig werden. Sie werden vielleicht 
dauernd auch geistig nur Außenschläge des großen neuen angel¬ 
sächsischen Weltimperiums bilden, teilweise mitgefärbt von dem 
französischen, dem italienischen und spanischen Einfluß; — sie alle 
bis zur Jetztzeit weitgehend nicht nur physisch, sondern auch geistig 
internationale „Leergebiete“. Die großen alten Kulturwelten des 
Ostens aber stehen in ihrer physischen und geistigen Körperhaftigkeit 
schon gleichgewichtig neben den alten und ältesten Stufen der abend¬ 
ländischen Geschichtswelt. Sie mögen künftig in dieser oder jener 
Form der politischen und ökonomischen Abhängigkeit zu dem jetzt 
voll entfalteten angelsächsischen materiellen Magnetgebiet der Erde 
bleiben, — sie können geistig in ihrer Fremdartigkeit, Dichte und 
Massiertheit von ihm nicht aufgesogen, ja nicht einmal nach ihm 
ausgerichtet werden. Diese ganzen Gebiete wissen heute, was sie 
zivilisatorisch vom Westen übernehmen können, seine Maschinen, seinen 
Technizismus; — sie werden sich auch seine demokratisch-politischen 
Ideen zunutze machen, seine Wirtschaftsformen sich eigentätig adaptieren, 
ihre Kultur aber, die zwei- bis dreitausendjährige, unendlich reiche, 
vielgestaltige und tiefe Gestalten- und Ideenwelt, die aus ihrem Schoß 
erwachsen ist und sie geformt hat, die unabgestorbenen geistigen 
Kräfte, die daraus erfließen und deren Wiedererwachen die eigentlichen 
Quellen auch der heutigen politischen Beffeiungsströme sind, sie werden 
immer stärkste ungebrochene und unbrechbare Positionen bleiben, und 
ein Gewicht der geistigen Gegenpolarität gegen die angelsächsische 
Weltsphäre bedeuten, das nicht zusammenstürzt, mit jedem Tag mehr 
zunimmt Für Fortbestand und Leben dieser großen Welten wird der 
politische Gegenwartserfolg gleichgültig, die geistige Einstellung auf 
eigenen Boden, die Ausrichtung auf eigene kulturelle Ziele entscheidend 
sein, und bedeutsam weiter die geographische und Schicksals-Gemein¬ 
schaft mit dem europäischen Osten, der in gleicher Lage in anderer 
Weise und doch ähnlich auch das Gesicht nach Westen hin gewendet 
für sich selbst ringt. — Wer auch nur eine Ahnung von Rußland hat, 
weiß, es mag zivilisatorischen Einflüssen des Westens, wirtschaftlichen, 
vielleicht auch einmal politischen Formen, die er ausgebildet hat. 



34 * 


Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

zugänglich sein, sogar, wie heute zeitweise unter die Herrschaft deutsch¬ 
geformter westlicher Ideen kommen,—vom Angelsachsentum, seinem 
Wesen und seinen Ideen scheidet es sich wie Feuer von Wasser. Es 
wird sich zischend und voll Wut stets gegen den englichen Pragmatismus 
und seinen Menschentypus wenden; es wird, um ihm zu entgehen, 
lieber geistig zurück ins fernste Asien und in die Steppe flüchten. Es 
steht ihm gegenüber nicht nur schicksalsmäßig, sondern im tiefsten 
Sinne geistig und seelisch mit ganz Asien auf dem gleichen Boden. 

Welches ist die andere Ebene, auf der dies Europa-Asien, das zum 
Gegenpol der angelsächsischen Welt heraufwächst, im Gegensatz zu 
dieser steht? — Man kann sie nur als eine bewußt oder unbewußt in 
irgendeinem Sinn metaphysische bezeichnen. Auch das Angelsachsen¬ 
tum wuchs einst auf solchem Boden, insofern es im Rahmen der 
mittelalterlichen europäischen Welt und ihrer transzendenten Unter- 
bauung groß geworden ist. Es hat durch Anselm von Canterbury, 
Duns Scotus, Occam und andere so stark wie irgendeins der euro¬ 
päischen Völker zu jener geistigen Tiefengliederung der Dinge bei¬ 
getragen, in der das Mittelalter lebte und der die äußere Erscheinungs¬ 
welt nur „Transzendenz“ von etwas anderem, wirklich Seiendem be¬ 
deutete. Aber in keiner europäischen Sphäre ist jener Tiefenhintergrund 
des Daseins später so vollständig zugedeckt, ja vermauert worden, wie 
in der angelsächsischen. Ganz gleich, ob über den Puritanismus, der 
ja jedes Denken über die Substanz der Dinge ab- und ausschloß, über 
den Empirismus Bacons, dessen „regnum hominis“ den bloßen Prag¬ 
matismus schon vorwegnahm, oder über theoretischen Hedonismus, 
alle Wege führten in England auf die Ebene der bloß praktischen 
Lebenszwecke, von der Spekulation fort zu dem pragmatistischen Zweck¬ 
verkettetsein des Denkens und von einer über praktischen Zwecken 
stehenden Lebenshaltung zu einer solchen, die von diesen angefüllt 
ist. Nichts hat vielleicht die in den Grundzügen schon angelegte 
politische Meisterschaft dieser „Rasse“ so gesteigert als dies seitdem zu¬ 
nehmend mehr ausschließliche Verweilen im Bereich des praktisch 
Möglichen und Guten. Aber nichts trennt sie, seitdem sie sich zum 
fest fixierten Typus dieser Art geprägt und in ihrer Welt die tieferen 
geistigen Stockwerke verschüttet und verbaut hat, so definitiv von 
jenen Teilen der Erde, in denen man auch weiter noch in jenen 
tieferen geistigen und seelischen Daseinslagen lebt. 

Der ganze Orient, Rußland tun das. Und zwar in einer ganz 
bestimmten Art, die beide verbindet. Für beide ist überall das Dasein 



34 * Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

etwas Doppeltes, ein Sein in einer Welt des zweckbefreiten Absoluten 
und ein zweites in der Welt der zweckgebundenen Erscheinung, ein 
Leben in einer zwiespältigen Atmosphäre, in die der Pragmatist nicht 
niedersteigen, in der er nicht atmen kann und die ihm, wenn er sie 
sich doch zu adaptieren sucht, dann lediglich nach seinem festge¬ 
wordenen Wesen die anthroposophische Zweckgrimasse schneidet. 
Der ganze Orient und mit ihm Rußland aber kennen für die letzten 
Dinge keine Zwecke; sie sehnen sich nach Befi*eitheit von prak¬ 
tischen Zwecken; für sie ist das Höchste, mit möglichst viel von 
dieser Freiheit, wie mit einem transzendenten Schimmer, auch das 
Diesseits zu „verklären“; ihnen steht dieser „Sinn“ des Daseins höher 
als alles praktische Handeln. Sie sind daher durch die Tiefen¬ 
ketten dieser Stellungnahme im praktischen Handeln fortgesetzt ge¬ 
hemmt, verwirrt von einer Zwiespältigkeit der Ziele. Nichtstun ist 
gut, das Handeln problematisch. Die politische Unterlegenheit von 
ganz Europa-Asien, seine Schwäche in der äußeren (und zwar nicht 
bloß ökonomischen) Lebenspraxis hat hier ihre tiefste Wurzel. Politik 
und Lebenspraxis sind hier eingespannt in eine letzte Daseinszweiheit, 
die das technisch reine Handeln schwer macht, die es zwischen Abso¬ 
lutem und Bedingtem schwanken läßt, bei der das Absolute immer 
wieder das praktisch Mögliche verschlingt und immer wieder eine 
Zerbrochenheit, ein Zurückgeschlagenwerden auf einen letzten, in 
Wahrheit nur noch transzendenten Lebensgrund herbeiführt. — Das 
ist eine stets erneute Unglückseinheit zwischen dieser ganzen weiten 
Sphäre. 

In eben diese Schicksalsgemeinschaft aber sind wir Deutschen heute 
verschlungen. Wir sind es nicht bloß äußerlich, sondern letztlich aus 
dem gleichen inneren Grunde. Auch für uns gilt jene Doppelheit 
der Existenz, wenn auch in etwas anderer Form und anderer Zu¬ 
spitzung. Wir sind in eminentem Sinn ein Volk der Sachlichkeit, 
der Zweckeingestelltheit und der äußeren pragmatistischen Wirklich¬ 
keit. Wir sind aber in eben so hohem Maß ein solches jener 
zweiten metaphysisch-transzendenten Ebene, ja wir sind unter allen 
ehemals europäischen Völkern durch die Richtung, nach der wir uns 
entwickelt, die Prägung, die wir erhalten haben, das eigentlich alleinige 
europäisch-metaphysische Volk. In eigentümlicher Unverbundenheit 
stand beides bisher bei uns nebeneinander, so weitgehend, daß in 
unser sachliches zweckorientiertes Handeln jeweils überhaupt nur kleine 
Teile unseres Wesens und unserer tieferen Daseinshaltung eingingen. 



343 


Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

Wir waren imstande, dieses praktische Handeln gewissermaßen jenseits 
von Gut und Bose au vollziehen und hatten uns dafür in der letzten 
Zeit eine eigene Theorie geschaffen, die in ihrer Ehrlichkeit die andern 
Völker grauen machte. Aber wir waren in Wirklichkeit im höheren 
Sinne nicht imstande, zu handeln. Denn unser Handeln ging in seiner 
Losgelöstheit beinah schon wie ein unzweckmäßiges vor sich; es 
sog, weil es uns selber nicht in unserer Totalität bei seinem Inten¬ 
dieren und Vollziehen in sich aufhahm, tatsächlich auch nur geringe 
Teile des Daseins als beherrschten und beherrschbaren Körper in sich. 
Das ganze geistige Gebiet, die volle Breite der psychologischen Kräfte, 
ließ es, da es nur technisch und partial war, beiseite liegen. Es war 
keine eigentliche Zweckmäßigkeitsbeherrschung des Totaldaseins wie 
das angelsächsische Handeln; und es mußte, da es das nicht war, da 
es die Wirklichkeit nur teilweise beherrschen konnte und da wir nur 
partial in dasselbe eingingen, scheitern und uns aus dem Beherrschungs¬ 
versuch der Realität auf jene außerreale, metaphysische Ebene zurück¬ 
schleudern, auf der wir trotz allen äußeren Anscheins im eigentlichen 
Sinne immer lebten, genau so wie Rußland und der ganze Osten. 

Jetzt sind wir dorthin zurückgeschleudert und nun .auch äußerlich 
durch das gleiche Schicksal mit dieser Welt verbunden. Wir können 
nun erkennen, wohin wir in der großen Politarität zwischen ihr und 
dem Angelsachsentum für die fernere Zeit gehören. 

Das heißt noch nichts Unmittelbares für unsre künftige äußere 
politische Zugehörigkeit. Genau so wie die politische Zukunftsform 
des Ostens noch ganz unerkennbar ist, wie das aber für die grund¬ 
legende geistige Gegensätzlichkeit und ihre Existenz nichts ausmacht, 
können auch unsere politischen Wege diese oder jene sein, durch Zeit 
und Möglichkeit geboten. Es mag sein, daß wir für absehbare Zeit 
im Rahmen westlicher Kombinationen stehen werden; unsem Platz 
irgendwo in der vom Angelsachsentum geleiteten Weltgestaltung finden; 
die Fahrt im amerikanisch-englischen Tourenauto für uns den Weg zur 
Freiheit darstellt. Das entscheidet nichts Geistiges. — Unser östlich 
orientiertes geistiges Schicksal sagt auch noch nichts über Maß und 
Art der geistigen Einflüsse, die wir vom Westen und vom Osten her 
erhalten und hier- und dorthin weitergeben. Wir sind durch gleiche 
Kulturgrundlage Tradition*-, Sach- und Begriflsgemeinschaft mit der 
westlichen, daher auch mit der angelsächsischen Welt verbunden, aus 
demselben Europäertum geboren, in ähnliche äußere Lebensproblematik 
eingebettet. Das Herüber und Hinüber dorthin wird auch künftig 



344 Alfred Weber , Deutschland und der Osten 

leichter sein, vielfältiger auf gewohnten Bahnen laufen können, wenn 
auch die Eindrticke, die wir vom Osten her erhalten und dorthin 
geben werden, in ihrer großem Seltenheit wohl größere Tiefe haben 
werden, da wir mit ihm ja letztlich auf dem gleichen Boden stehen. — 
Unsere Schicksalsgemeinschaft mit dem Osten bestimmt nur unsere 
geistige Aufgabe an uns selber. Diese kann nur sein, die Doppel¬ 
heit der Existenz, die uns zerbrochen hat, zu fiberwinden und doch, 
um unser Tiefstes zu bewahren, so wie der Osten, in einem anderen 
Sinne in ihr zu bleiben; die Existenz im Unbedingten, die uns hand¬ 
lungsschwach gemacht hat, trotz aller Nöte uns zu erhalten, mit 
größtem inneren Schwergewicht zu vertiefen, aber zu lernen, die äußere 
Realität des Daseins bewußt nicht nur als etwas anderes — das haben 
wir schon vordem — sondern in ihrem Anderssein trotzdem mit ihr 
Verbundenes zu behandeln, das „Bedingte“ und „Mögliche“, das sie 
enthält und ausAillt, nicht losgelöst als bloß Mechanisches, vom Letzten 
Unberührtes, zu vollziehen, womit wir dann das Leben im Handeln nie 
umgreifen können, weil wir es nicht mit unserm Sein erfüllen, sondern 
das Bedingte und alltägliche Gute, bewußt es trennend, doch in dynamischer 
Beziehung zu jener anderen Welt, an ihr gemessen und durch sie kontrol¬ 
liert, zu leben; im Bewußtsein der Relativität des „Möglichen“, doch 
eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, auf der die Transzendenz, 
in der wir sind, zur Wirklichkeit heran drängt. Die vielleicht heroische 
Spannung der lebendigen Koexistenz von Beidem in uns, das „Trotzdem“, 
mit dem wir das Dasein in diesem Spannungsgrad gestalten müssen, 
wird, so scheint es, die Atmosphäre unserer Geistigkeit und zugleich den 
Weg bereiten, auf dem wir von unserer geistigen Tiefenlage aus allein 
uns einer äußeren Beherrschungsform des Daseins nähern können. 

Offenbar ein langer und zugleich ein neuer Weg. Daß er vom Morgen¬ 
hauch eines Neuanfangs umweht ist, gleichzeitig aber ältestes tausend¬ 
jähriges Leben mit sich führt, Erneuerung und doch Nicht-Vergessen dar¬ 
stellt, Jungwerden und gleichzeitig Altsein, dies und die gleiche Aufgabe: 
vom unverlorenen, transzendenten Boden einer Unbedingtheit zu irgend¬ 
einer Art der Alltagsformung im Rahmen neugewordener Bedingtheit zu 
gelangen, das stellt uns in den gleichen Rhythmus und die gleiche Richtung 
mit der in Marsch gekommenen Bewegung des übrigen Europa-Asien. 

Es ist natürlich töricht zu glauben, Methoden und unmittelbare Auf¬ 
gaben würden dabei in dieser neuverbundenen Weltsphäre die gleichen 
sein. Europa-Asien ist kein einheitlicher Körper von verwandter gesell 
schaftlicher, wirtschaftlicher und geistiger Formung, sondern eine Welt 



345 


Alfred Weber, Deutschland und der Osten 

der größten Mannigfaltigkeit, von keiner Denk-, Sprach- oder Form¬ 
gemeinschaft irgendwelcher Art, vielmehr von abgrundtiefsten Differenzen 
der seelischen Ausdrucksrichtung, geistigen Gegenstandsgestaltung und des 
praktischen Wollens; — eine Welt verschiedenartiger historischer Kultur¬ 
gebilde teilweise riesiger Gestalt und ältester Fixierung, teilweise bisher 
beinah flüchtiger Leere und wandelbarer Jungheit. In einem Teil 
dieser Körper wird aufgelöst, flüssig gemacht, die hart gewordene 
Substanz wie in Hochöfen umgeschmolzen und umgegossen werden 
müssen, in anderen das eingestürzte Bauwerk in neuen Formen wieder 
aufgerichtet, oder auf beinah öd gewordenem Brachfeld aus dem 
Nichts gestaltet, bei uns wahrscheinlich ohne wesentliche äußere Trans¬ 
formierung von innen her verwandelt werden müssen; an jeder Stelle 
eine andere Art der Tätigkeit und Aufgabe. Ein Spiel von Kindern 
natürlich ist es, dabei aus dem Gefühl der Einzigkeit und Eigenheit der 
Forderung, nunmehr ein Grübeln und ein Suchen nach dem eigenen 
Wesen, dem „deutschen Wesen“, zu beginnen. Man findet sein Ich 
durch keine Reflexion und Selbstzergliederung — sondern indem man 
es im Handeln gegen die Substanz der Dinge stellt. Dies Handeln 
aber wird wohl in dem großen nicht angelsächsischen Weltbereich 
allerdings weitgehend völkerindividuell sein. Das heißt vom eigenen 
seelischen Boden, in eigener Substanz, mit eigener Lösung. So aus 
der historischen Lage, so auch aus dem Tiefengrund des Wollens. Das 
Prinzip des Formungswillens mag in der angelsächsischen Welt, solange 
sie in tiefere geistige Daseinslagen noch nicht wieder durchstößt, viel¬ 
mehr im Zweckbereich sich aufhält, so wie die Werkwelt selber uniform 
sein, soweit es überhaupt in das Naturgewachsene eingreift und mehr als 
bloß Gesellschaftsform will. In der nicht angelsächsischen Sphäre 
wird sein Aufsteigen aus der dort vorhandenen letzten Daseinsebene so 
viel verschiedene Gestalten der Materialisierung suchen müssen, als es 
verschiedene äußere Substanz im Rahmen jener Spannung zwischen 
Absolutem und Bedingtem jener Doppelheit der Existenz dem Seelischen 
anverwandeln will. Gelingt hier überhaupt Gestaltung, wird sie sehr 
differenten Schnitt und Ausdruck haben. Die Aufgabe selber aber wird 
gemeinsam sein: das als Material des Daseins heut Gegebene, das zivili¬ 
satorisch-wirtschaftlich ganz modern Gebotene aus dem erhalten ge¬ 
bliebenen Tiefengrund zu formen. Mag das heroisch, in der Vollendung 
übermenschlich sein, es gibt dem Lebensatem, der durch das Gebiet 
hindurchweht, seinen herben und gleichzeitig starken Morgenduft. Wir 
tauchen durch ihn mit den Völkern östlich von uns in das gleiche Frührot. 



DIE ZERRÜTTUNG DER WELTWIRTSCHAFT 

von 

BERNHARD DERNBURG 

I 

ie Zerrüttung der Weltwirtschaft, die alle Völker und alle Zonen 
umgreift, ist letzten Endes die Folge einer falschen moralischen 
Einstellung der Völker und ihrer Führer. Der unlösliche wirtschaftliche 
Zusammenhang wird ebenso verkannt wie die politische Interdependenz. 
Statt der absoluten Solidarität, der reibungslosen Zusammenarbeit einer 
auf der Grundlage des Rechtes aufgebauten Gemeinschaft wird aus 
Gefühlen der Rache, der Furcht und der Besorgnis vor industrieller 
Verdrängung einer Politik nachgejagt, die den Vorteil des Einen in 
der politischen und wirtschaftlichen Unterdrückung und Aussaugung 
des Anderen findet. Dabei wird überdies die Natur der Austausch¬ 
mittel verkannt. Sie sind lediglich Vehikel des Verkehrs, sie spielen 
dabei die gleiche Rolle wie Transportmittel, Schiffe und Bahnen. Der 
wirkliche Verkehr besteht einzig in dem Austausch der Güter. Nur 
wo konsumiert wird, findet der Produzent Absatz, nur wo produziert 
wird, werden die Mittel zur Befriedigung des Konsums erworben. Die 
Steigerung der Produktion ist deshalb das Mittel, die Welt zu för¬ 
dern; alle Dinge die sie hindern: unnötige Generalkosten, verkehrs¬ 
hindernde Schranken wie Zölle, teuere Transportmittel, leistungsunfähige 
Arbeit, starke fiskalische Belastung und wirtschaftliche Unfreiheit ver¬ 
hindern die Ausdehnung der Produktion. Der Weltverkehr wie der 
Binnenverkehr bedarf ferner des Kapitals, des eigenen wie des ge¬ 
liehenen. Kredit ist aber Sache der Einschätzung der Zahlungsfähigkeit 
des Darlehennehmers und begrenzt durch die Kapitalkraft des Dar¬ 
lehengebers. Ist die erste ungünstig, die zweite nicht vorhanden oder 
in unwilligen Händen, so fehlt ein wichtiges Instrument des Verkehrs: 
er verarmt und verkrüppelt. Die Summe der Erzeugnisse schrumpft 
zusammen oder kommt nicht in den Verkehr, sondern wird unwirt¬ 
schaftlich verbraucht Die falsche moralische Einstellung, die für den 
Krieg ebenso verantwortlich ist wie ffir die Pariser Frieden, wertet sich 
in allen diesen Dingen aus. Dafi es nötig ist, solche gemeinplätzlichen 
Feststellungen gegenüber der Pariser Friedenspolitik zu machen, ist ein 
übles Zeichen. 




Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 547 


n 

Die Erkenntnis ist allerdings auf dem Marsche. Sie versuchte, durch 
den Wilsonschen Völkerbund eine Harmonie der Weltinteressen zu 
schaffen und „an Stelle der brutalen Gewalt der Waffen die Herrschaft 
des Rechtes zu setzen .* 1 Aber dieser Bund hat zum ausgesprochenen 
Zweck, ein Instrument zu garantieren, das gerade in äußerster Aus¬ 
beutung der durch Waffengewalt erzwungenen Lage und in Vernei¬ 
nung der moralischen Forderungen, die auch die Besiegten erheben 
dürfen, geschaffen wurde. Das kann zu nichts führen und verurteilt 
diesen Bund, wie er heute besteht, um so stärker zur Unwirksamkeit 
und Mißachtung, je stärker die Notwendigkeit erkannt wird, die Welt 
auf eine sittlichere Grundlage zu stellen. Die Washingtoner Kon¬ 
ferenz hat dies erkannt; die Aufgabe, die Mittel der Macht einzu¬ 
schränken, die Gefahren aggressiver Bündnisse zu verringern, imperia¬ 
listischen Tendenzen nach Ausnützung von Machtpositionen gegenüber 
schwachen Völkern die Spitze abzubrechen, hat sie dem Völkerbund, 
der damit nicht voran kam, abgenommen. Die Konferenz von Genua, 
die einen neuen Völkerbund nach den Worten Lloyd Georges ein¬ 
leiten soll, will die wirtschaftliche Weltordnung wiederherstellen. Sie 
steht unter dem Zeichen der internationalen Solidarität. 

III 

Die Völker pflegen nicht aus der Geschichte zu lernen, sie sind 
unfähig zu Abstraktionen. Das Sittliche muß ihnen beigebracht werden 
nicht als das Primäre — was doch soviel einfacher wäre und die Ver 
knotungen der internationalen Lage beinahe spielend auflösen würde, 
weil seine Imperative ohne weiteres durcbgreifen — sondern als ein 
Sekundäres, das, so zu sagen als angenehme Nebengabe, als geistiges 
Beruhigungsmittel sich mitergibt. Dieser materialistischen Einstellung 
zu dienen, glauben alle Staatsmänner ihren Völkern schuldig zu sein. 
Und beileibe keine „pazifistischen Phrasen**, keine „internationalen An¬ 
biederungen**, „keine volksfremde Anerkennung der zwischenstaatlichen 
Verflochtenheit** und keine Einstellung auf realpolitische Notwendig¬ 
keiten der Gegner. Unsere Situation leidet daran, daß kein Staats¬ 
mann die Kraft und Überzeugung gefunden hat, das Recht als Basis 
der Völkerbeziehung, die Unterdrückung des Machtprinzips um seiner 
eigenen Unsittlichkeit halber, ohne Rücksicht, lediglich um ihrer selbst 
willen, als kategorische Forderung zu verteidigen. Es muß immer zu¬ 
nächst bewiesen werden, daß der materielle Wohlstand gefördert wird. 



5 48 Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 

daß der Schaden des falschen Prinzips großer ist als sein momen¬ 
taner Nutzen, damit Revisionsforderungen vor den demokratischen 
Volksvertretungen Gnade finden. Wilson war ein falscher Prophet; 
ein wahrer ist seither nicht erstanden. Das ist das tragische der Lage, 
auch vom Standpunkt praktischer Resultate aus. 

IV 

Dr. Emst Schultze, Privatdozent an der Universität Leipzig*, hat 
ein lesenswertes Buch geschrieben, das die wirtschaftlichen Folgen der 
falschen Einstellung schildert. Dr. Schultze ist kein „Wirtschaftler“. 
Und das ist ein Glück. Denn die selbsternannten „Wirtschaftler“, die 
als eine gewisse Selbstverständlichkeit die Führung der politischen 
Geschäfte fflr sich verlangen, weil sie glauben, daß weil die Wirtschaft 
krank ist, nur sie die gegebenen Ärzte seien, haben uns in der Ver¬ 
gangenheit politisch wenig geholfen. Die Aufgaben der großen Führer 
sind aber heute die Einleitung einer großen Propaganda der Erkenntnis, 
also politische und völkerpsychologische, die oft gerade mit den Nei¬ 
gungen und Geschäftsgebräuchen der Wirtschaftler in Konflikt kommen 
müssen. Ist dieser Feldzug erfolgreich, so müssen von allen Seiten 
schwere Opfer gebracht werden, neue Einstellungen werden gefordert. 
Und gerade gegen die Geistesrichtung der führenden Wirtschaftskreise 
muß sich diese Tendenz durchsetzen. Wer daran zweifelt, sehe sich 
nur die apolitische Stellung an, die die deutsche Wirtschaft im Kriege 
eingenommen hat; das Rezept der sechs Verbände und dessen getreu- 
liche Befolgung uns gegenüber durch die Entente. Und der französische 
Wiederaufbau durch deutsche Hilfe kann nicht in Gang kommen, 
weil dabei den französischen Wirtschaftlern das Geschäft genommen 
wird. Welcher große deutsche „Wirtschaftler“ hielt es vor dem Kriege 
mit seiner Würde vereinbar, in die Arena des Parlaments herabzu¬ 
steigen; dazu waren die Herren Verbandssekretäre da, die man 
möglichst auf alle „bürgerlichen“ Parteien verteilte, die die „Interessen“ 
kräftigst vertraten und dafür bezahlt wurden. Wehe dem, der etwa 
aus eigener entgegenstehender Überzeugung aus der Reihe tanzte. Man 
wollte apolitisch sein und ist es geblieben. Das kann ganz gut und 
in der Ordnung sein, denn es muß auch Spezialisten geben, aber 
dann „ne sutor altre crepidam“. Ich möchte die „Wirtschaftler“ als 


* Dr. Emst Schultze: Die Zerrüttung der Weltwirtschaft. Stuttgart, bei 
Kohlhammer 191a. 



Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 3 49 

erfahrene, kräftige und kenntnisreiche Ratgeber nicht entbehren, be¬ 
sonders weil in der Bürokratie, die doch die Geschäfte des Reiches 
von Amtswegen führt, eine praktische Kenntnis kaum vorhanden sein 
kann. Nur das muß man hierbei bemerken: Als Wirtschaftler wird von 
deren hoher Akademie nur eine auf gewisse Anschauungen abgestempelte 
Führerklasse anerkannt, die früher die Kemtruppe des Vereins „mit 
dem langen Namen“ waren. Dr. Rathenau zum Beispiel und andere, 
die über ein Menschenalter Wirtschaft getrieben haben, ohne sich auf 
den „Herrn im Hause Standpunkt“ eingeschworen zu haben, gehören 
nach striktem Ritus nicht dazu. Also Dr. Schultze ist kein Wirt¬ 
schaftler, sondern ein Sucher; sein Buch liest sich wie ein interessanter 
Katalog all des Widersinns, der gegen die erfolgreiche Betätigung 
menschlichen Fleißes ausgedacht ist und der den Erfinder beinahe mehr 
schlägt als die Opfer. Die Einteilung des Buches ist übersichtlich, die 
Wertung der einzelnen Faktoren in ihrer Wirkung auf das Gesamt¬ 
bild etwas stecken geblieben, das Material — es liegt das in der 
schweren Erreichbarkeit, kostet doch das eine Buch von Keynes, ein 
schmächtiger Band von zoo Seiten, etwa 300 Mark deutscher Währung 
— ist nicht immer sicher. Aber ein interessantes und nachdenkliches 
Buch und deshalb wichtig, weil es dem politisch denkenden Deutschen 
bei der schweren Arbeit hilft, sich in die wirtschafts- und geldtech¬ 
nischen Probleme hineinzudenken, eine Arbeit, der er sich nicht ent¬ 
ziehen darf, wenn er vermeiden will, Schlagwortpolitikem zum Opfer 
zu fallen. 

V 

Das einleitende Kapitel bringt unter der Überschrift „Der Absturz 
Europas“ interessante Zahlen. Ihre Authentizität wird sich nicht überall 
nachweisen lassen, aber als Maßstab und Größenordnung sprechen sie 
eine eindringliche Sprache. So werden die Staatsschulden der wichtigsten 
Weltländer für 


1713 (Utrechter Friede) 

auf 

6 Milliarden Goldmark 

1 81 6 (nach den Napo- 

leonischen Kriegen) 

99 

*8 „ 

99 

1873 (nach dem deutsch- 

französischen Kriege) 

99 

i§9 9 6 „ 

99 

1914 


1 7 ^>4 99 

99 

19ZO 

»9 

IOIO „ 

„ angegeben. 


Diese Größenordnung zeigt, was die Summe von 13z Milliarden Gold¬ 
mark, die uns das an seiner inneren Unmöglichkeit zerschellte Londoner 



3 5 o Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 

Ultimatum zudachte, bedeutete. Die Gesamtkriegskosten waren (nach 
Professor E. H. Bogart, New York) 833 Milliarden Goldmark, während 
sämtliche Kriege zwischen 1793 und 1905 einschließlich nur 88,6 
Milliarden verschlangen. Auch hier sieht man das Ungeheure des 
unmittelbar hinter uns Liegenden. Man kann aus diesen Zahlen aber 
auch die großartige Entwicklung erkennen, die die Welt in den letzten 
Dezennien wirtschaftlich genommen hat Denn wenn auch den Kriegs¬ 
kosten vielfach ganz übertriebene Lieferungspreise zu Grunde lagen 
und ein großer Teil der Schulden nicht für Güter, sondern für per¬ 
sönliche Leistungen, Löhne, Gehälter ausgegeben ist, so muß doch 
ein großer Teil jener Milliarden neu erzeugten oder bereits aufge¬ 
speicherten Waren entsprechen. In die in den Reichtum der Welt auf 
diese Weise gerissene Lücke hat sich dann der Strom der gedruckten 
Kriegsschulden — äußerer und innerer — ergossen; ihre Summe er¬ 
gibt also einen Anhalt für die Weltverarmung durch den Krieg, denn 
neue geschaffene produktive Werte stehen diesen Aufgaben nur in 
geringem Umfang gegenüber. Um wieviele Jahrzehnte so der Wohl¬ 
stand und damit die Produktions- und Konsumfähigkeit der Welt zurück¬ 
geworfen ist, könnte Gegenstand einer interessanten Studie bilden. 
Aber die Zahlen geben auch einen Begriff von einer unermeßlichen 
Verschiebung der Vermögenswerte innerhalb der Völker und von Volk 
zu Volk. Dabei zeigen sie bei weitem nicht das ganze Bild. Denn 
die böse Tat muß fortzeugend Böses neu gebären. Der kapitalisierte 
Wert der Pensionen an Verstümmelte und Hinterbliebene kann auf 
über 100 Milliarden Goldmark angenommen werden (für die Entente 
steht er in der Reparationsrechnung mit 70 Milliarden). Die Fundie¬ 
rung der auf Zerstörung der Sachwerte in Nordfrankreich und Belgien 
gestellten Reparationsforderung von 6 2 Milliarden würde die Staats¬ 
schulden gleichfalls erhöhen, wenn sie überhaupt vorgenommen werden 
könnte. Und schließlich kommt als ganz unbekannter Faktor von 
phantastischem Ausmaß der Verlust der produktiven Werte und der 
laufenden Produktionsfahigkeit des durch den Krieg umgestülpten und 
zertrümmerten russischen Reiches. Alle diese Summen bilden die in 
allen Staaten herrschende Inflation, die auch da, wo sie sich nicht in 
der Vermehrung der Umlaufsmittel und Unterwertigkeit der Valuta 
zeigt, in der Steigerung der öffentlichen Auflagen, zum Beispiel in den 
Vereinigten Staaten zum Ausdruck kommt Da alle diese Papierwerte 
nur durch Gütervermehrung und Güterersparnis ersetzt werden und 
die öffentlichen Lasten nur durch solche getilgt werden können, ent- 



Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 3 51 

steht die Frage, ob die Welt durch die von der Nachkriegsordnung 
geschaffene wirtschaftliche Mechanik in einer meßbaren Zeit über¬ 
haupt dieser Bürde ledig werden und welche Erscheinungen in dem 
Prozesse auftreten müssen. Wären die verschiedenen Friedensinstrumente 
nicht wesentlich aus politischen Erwägungen und dem Nachgeben an 
Volkerstiramungen gemacht worden, hätte wirtschaftliche Erkenntnis, 
und die Rücksicht auf das materielle Wohlergehen und damit im hohem 
hfaße auf den Fortschritt der Zivilisation mit zu Gericht gesessen, 
oder wäre sie nicht dem Stimmungselement und der Machtpolitik 
zum Opfer gefallen, so hätten sie ganz anderen Prinzipien Ausdruck 
geben müssen, als tatsächlich der Fall war. So wird die weltwirt¬ 
schaftliche Produktion — wie die der Einzelwirtschaften — maßgeblich 
beeinflußt durch die Organisation, das heißt die zweckmäßige Ein- und 
Unterordnung der einzelnen Produktionsgebiete und -Arten im Hin¬ 
blick auf die rationellste Erzeugung und den zweckmäßigsten Absatz. 
Von dieser Organisation hängt das Verhältnis ab, in dem sachliche und 
persönliche Erzeugungskosten zu den allgemeinen Lasten, den Gene¬ 
ralien, stehen. Die Vorkriegswelt hatte in dieser Richtung einen hohen 
wirtschaftlichen Effekt erzielt Den politischen Einheiten waren wirt¬ 
schaftliche Einheiten angepaßt worden, der Austausch der Industrie¬ 
land Rohstoffländer war durch, einen geistreichen Transport-, Ver- 
teilungs- und Kredit-Apparat gesichert, und die politischen Einheiten 
waren von hinreichendem Umfang, um das Verhältnis staatlicher un¬ 
produktiver Belastung zu den sachlichen Herstellungskosten in zweck¬ 
mäßigen Grenzen zu halten. Dieses wirtschaftliche Weltsystem ist 
zerschlagen durch die politischen Aufteilungen. Die Politik der Iso¬ 
lierung Deutschlands vom weiteren Osten durch nationale Kleinstaaten, 
die Auflösung der Habsburgischen Monarchie, die Verteilung der 
deutschen Kolonien vermöge der Mandatslüge, die Zerstörung der 
russischen Lage an der See hat einmal durch die Vielheit der zu 
erhaltenden neuen Staaten die Gesamtregie Europas, die die Produk¬ 
tion ja erhalten muß, ungemein verteuert, sie hat weiter durch die 
Errichtung zahlloser Zoll- und Verkehrsschranken den freien Verkehr 
unterbunden und gleichzeitig durch die wirkliche Handelsverträge in 
Zentral-Europa hindernden Vertragsklauseln die Zusammenarbeit der 
jetzt politisch getrennten Gebiete erschwert. Die — mit wenigen 
Ausnahmen — ungenügende Ausstattung und die mangelnde Wirt¬ 
schaftsbasis dieser Neuländer nötigt zur Aufnahme gewaltiger Schulden, 
und schließlich hat die Fortdauer der Verhetzung nur der Kriegs- 



3 j i Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 

psychose, in deren beständiger Neuentflammung besonders die Nach- 
Kriegsschuld der Franzosen besteht, die Entgiftung der Atmosphäre 
mit nur zu viel Erfolg verhindert. So sind der Produktion überaus 
starke Schranken gesetzt, die die Gesundung auf lange hinauszog ern. 

VI 

Gilt für viele der Bewohner der neugebildeten Kleinstaaten der 
neue Zustand als eine Befreiung vom Joche fremder Unterdrückung 
und ist die Erkenntnis, daß die neue Gestaltung nicht nach jeder 
Richtung ein Glück bedeutet, sondern mit vielen Opfern erkauft 
werden muß, eine sehr langsame, so zeigt sich auch, daß die soziale 
Umschichtung, die Emanzipation des vierten Standes, die nach der 
Rolle, die der einzelne im Kriege spielte, nicht ausbleiben konnte, sich 
nur unter großen Leiden und Erschütterungen des Wirtschaftskörpers 
auswirken kann. Es ist wohl nicht zufällig, daß die drei Kaiserreiche 
Europas, in denen das Autoritätsprinzip am stärksten betont und eine 
wesentliche Basis des Staatsgedankens war, die größte Erschütterung 
und Zerstörung erfahren haben. Dabei schlug das von der russischen 
Autokratie reaktionär rechts festgehaltene Stimmungspendel natürlich, 
sobald es gelöst war, am weitesten nach links aus. Die von dem 
politischen Zwang befreiten und zum Einfluß gebrachten Massen 
fänden aber für ihre Wünsche zunächst keine bessere Parole als: 
Kampf gegen den Kapitalismus, Mitwirkung bei der Produktion, mehr 
Lebensgenuß und weniger Arbeit. Auch das durch die Politik zer¬ 
rissene Europa wird im Laufe der Zeit seine Assiette wieder finden, 
und der Forderungen des vierten Standes wartet in verständigen und 
sittlichen Grenzen ein großes Maß der Erfüllung. Aber alle diese 
Umschichtungen bringen zu ihrer Durchsetzung Kampf und Reibung; 
die zweckmäßigen, ja die erreichbaren Grenzen können anders nicht 
festgelegt werden. Der Doktrinarismus muß zunächst bei den Führern 
und danach durch diese in harter Arbeit bei den Massen überwunden 
werden. Und Kampf und Reibung schädigen die Produktion. „So¬ 
lange die organisierte Arbeiterschaft durch die Beherrschung der 
Eisenbahnen die Gurgel an der Kehle des Staates hat, kann die wirt¬ 
schaftliche Prosperität unseres Landes nicht wieder hergestellt werden“, 
las ich dieser Tage nicht in einer deutschen Zeitung, sondern in 
einer — New Yorker Zeitung! Da die Organisation der Produktion den 
Forderungen größerer sozialer Befreiung jetzt nur unter besonderen 
Schwierigkeiten folgen kann, die Arbeiter-Psychologie noch nicht durch 



Bernhard Dernburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 353 

Erkenntnis und Erziehung das feste Milieu findet, so verhindern ver¬ 
minderte Arbeitsleistung, Streiks und Sabotageakte jetzt in vermehrtem 
Umfange die Erhöhung der Produktion, wie sie theoretisch und praktisch 
gefordert werden muß. 

VII 

Diese Psychologie der Arbeit wird erklärlicher, wenn man die 
gewaltige Vermögensverschiebung im Kriege und nachher, das Auf¬ 
kommen der Konjunkturreichen und die große Entbehrung, die die 
Verarmung der Massen den meisten auf legt, ins Auge faßt. Eine 
starke Besteuerung, wie sie ohnedies durch die Finanzlage geboten 
ist, soll da abhelfen. Aber auch hier ist der mittlere Weg schwer 
zu finden; nicht deshalb, weil es etwa undenkbar wäre, durch An¬ 
sammlung eines Teiles des Kapitals des Volkes in den Händen der 
Allgemeinheit diese zur Trägerin des Betriebskapitales und des in¬ 
dustriellen Kredites zu machen; wären die Demokratien sachlich und 
wirtschaftsverständig und hätten sie Exekutive mit überlegener Ein¬ 
falt und unantastbarer Sittlichkeit, die sie in der Regel nicht hat, 
so wäre solches wohl denkbar. Der Kapitalausgleich, den der Staat 
durch seine Besteuerung vornimmt, dient aber nicht zur Ansammlung 
von Betriebskapital und macht ihn nicht kreditfähig, sondern er kon¬ 
sumiert gerade dieses Kapital, um die Löcher seines Budgets zu stopfen, 
und verbraucht es, um einen übertriebenen Apparat wirtschaftlich un¬ 
wesentlicher, ja schädlicher und hindernder Verwaltung zu bezahlen. 
So setzt er den Abbau der Sachgüter fort, deren Erhaltung und Ver¬ 
mehrung, wie wir oben gesehen haben, gerade die Gesundung der 
Wirtschaft und die Annäherung an den früheren Stand herbeiführen 
soll. Deswegen ist die Vermögensbesteuerung, wie sie Erbschaftssteuer, 
Vermögens- und Vermögenszuwachssteuer, Notopfer, Zwangsanleihe 
und wie die im Interesse ausgleichender Gerechtigkeit — und diese 
ist an sich vonnöten — alle heißen mögen, darstellen, wirtschafts- 
und gesundheitshindernd, so lange der unbalancierte Zustand der 
Staatswirtschaft andauert. Daß sich im übrigen die Forderungen der 
politischen Linken hier in an sich falschen Größenordnungen bewegen 
und in solchen teilweise in übertriebenem Maße durchgeführt sind, 
will ich zur Wahrung meines eigenen politischen Standpunktes hier 
erwähnen. 

vm 

Die Verschiebung der Kaufkraft hat sich nicht auf die Volks- 
genossen der einzelnen Kriegführenden untereinander beschränkt. Sie 

»3 



3 J4 Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 

kommt zwischenstaatlich in der veränderten Stellung der Vereinigten 
Staaten in der Weltwirtschaft zum Ausdruck. Diese sind der große 
Kriegsgewinnler. Nicht nur alles irgend bewegbare Gold der Welt 
häuft sich in ihren Schatzkammern und zwingt Amerika, zur Aufrecht¬ 
erhaltung seines Außenhandels beständig größere Kredite ins Ausland 
zu legen und dort Anlagen zu machen, zum Beispiel in deutschen 
Bankzetteln, wohl die größte zinslose Anleihegewährung, auch die 
alliierten Mächte stehen mit etwa zwölf Milliarden Dollar Gold in 
dem öffentlichen Schuldbuche in Washington. Als Marx seine Pol¬ 
theorie aufstellte, die sich im innerwirtschaftlichen Leben bisher nicht 
verwirklicht hat, obschon die Kriegskatastrophe nach dieser Richtung 
drängt, hat er schwerlich vorgefühlt, daß sie sich vielleicht zwischen¬ 
wirtschaftlich in gewissem Umfange bewahrheiten könne. Das ist 
aber jetzt der Fall. Die Zahlungs- und Kreditmittel der Erde sammeln 
sich in beängstigendem Maße an dem amerikanischen Pol, versklaven 
den Rest der Welt und hindern ihre Gesundung, die nur in wirt¬ 
schaftlicher Freiheit und Selbstbestimmung gedeihen kann. Die Wir¬ 
kung einer solchen falschen Güterverteilung tritt an dem amerikanischen 
Beispiel in ein helles Licht. Staaten, die nicht völlig autarkisch sein 
wollen, und auch Amerika will und kann es nicht, müssen den 
Güteraustausch suchen. Wenn nun der Exportüberschuß der Schuldner¬ 
welt dazu verbraucht wird, Geldforderungen zu befriedigen, sei es durch 
Sachleistungen direkt oder durch Devisenbeschaffung indirekt, so bleibt 
keine Substanz übrig, mit der die Schuldnerländer Handel treiben können, 
sie werden kaufun kräftig und die Waren des Gläubigerlandes finden keinen 
Absatz. So ist das entsetzliche Phänomen zustande gekommen, daß, 
während in Rußland fünfzehn Millionen Menschen Hungers sterben, der 
Farmer in den reichen Getreideböden des amerikanischen mittleren Westens 
sein Korn verbrennt, weil es den Transport nicht lohnt, das heißt niemand 
in der Lage ist, ihn zu bezahlen. Kommen aber die nötigen Rohstoffe 
wie Nahrungsmittel, deren die Schuldnerländer, die zum großen Teil auf 
Industrie eingestellt sind, aus Rohprodukten, die sie nicht erzeugen und 
die ihre Bevölkerung nicht selbst ernähren können, nicht zu ihnen, so 
schmilzt ihr Produktionsvolumen weiter zusammen, und ihre Verelendung 
führt zur Katastrophe. Das ist die Straße, auf der die Welt sich bewegt. 

IX 

„The world i$ out of joint“, sagt Hamlet. Wie kann sie wieder 
eingerenkt werden? Nicht mit der Mechanik der Wirtschaft, diese 



Bernhard Demburg, Die Zerrüttung der Weltwirtschaft 355 

ist heillos in Unordnung. Die große Losung, die nötig ist und nach 
manchen Konvulsionen kommen muß, liegt auf dem Gebiet des 
Sittlichen. Alle diese furchtbaren Dinge wären nicht eingetreten, 
wenn nicht die Staatskunst die moralischen Postulate von ihrem 
Throne gestoßen und dabei die Massen mit sich gerissen hätte. Die 
entsetzliche politische Immoral und wirtschaftliche Amoral, in der 
sich die Vorkriegswelt gefallen hat und die der Krieg bewußt fort¬ 
gesetzt und auf die Spitze getrieben hat, sind letzten Endes die Ur¬ 
sachen der wirtschaftlichen Weltzerrüttung. Nationaler und partikulärer 
Egoismus, geschichtliche Egozentrik, die Verneinung der sittlichen und 
wirtschaftlichen Interdependenz der zivilisierten Menschheit, die Ver¬ 
gewaltigung des Rechtsgedankens und des Abhandenkommens eines 
Weltliberalismus, der jedem nicht nur sein Recht zukommen lassen, 
sondern ihm darüber hinaus auf dem Wege des Austausches die Teil¬ 
nahme an allen guten Dingen als eine Forderung der Gesinnung zu¬ 
billigte, haben die Kriegskatastrophe geistig vorbereitet und politisch 
herbeigefährt. Die Friedens Verträge sind die Kriegs Fortsetzung, geboren 
aus gleicher Gesinnung. Diejenigen, die den Krieg geführt haben, 
sind zum großen Teil noch an der Macht. Persönlichkeit und Tradi¬ 
tion hindern die Umkehr, die ohnedem schwer genug ist und un¬ 
ermeßliche Opfer von allen fordert. Aber auch an der Einsicht ge¬ 
bricht es; man hat den Krieg gewonnen, also ist man im Recht 
und tut das Rechte. Daß, gewonnen oder verloren, der Krieg ein 
Verbrechen an der Zukunft der Menschheit war, daß auch wirt¬ 
schaftlich es, wie Norman Angell das schon 1909 überzeugend nach¬ 
wies, bei der gegenwärtigen Verflochtenheit der Menschheit, ge¬ 
wonnene Kriege nicht gibt, ist der gequälten Menschheit noch fremd. 
Da nun die Einsicht der Menschen nur an dem Symptomen erzogen 
werden kann, so muß jetzt die gewaltige Erziehungskampagne kommen, 
ausgehend von dem wirtschaftlichen Gebiete von Nöten; das ist der 
große Gedanke von Lloyd George, der diesen Feldzug in Genua ein¬ 
leiten will, und der die Mächte der Finsternis im wiederaufgelebten 
französischen Imperialismus Ludwigs XIV. und Napoleons dabei zum 
Gegner hat. Es ist nicht von ungefähr, daß die schon totgesagte 
Freihandelsschule sich auch auf dem Kontinent wieder regt; denn 
mit ihrer Verurteilung durch die Staatsmänner und Verächtlichmachung 
durch die Wirtschaft fing das Unheil an. Die Parole des Cobden- 
klubs: „Freetrade, Peace and Good will among Nations“ muß aber 
wieder als Gesinnungsausdruck über jedem Auswärtigen Amt der 



3 5 6 Bemard Shaw, Am Anfang 

Welt stehen. Asquith sprach vor wenigen Tagen auf dem Bankett 
des Klubs: „Von grundsätzlicher und dringender Notwendigkeit ist 
das Niederbrechen der Zollbarrieren; alle die neugeschaffenen Staaten 
hätten zur wirtschaftlichen Einheit zusammengefaßt werden müssen.“ 
Wichtiger aber ist die Niederbrechung der Barriere der Gesinnung. 
Nur sie werden zu jener Welt-Sasachtcia führen, die als eine gegen¬ 
seitige Vergebung der Schulden wie der Schuld eine Unvermeidlich¬ 
keit ist. Aus diesem Wechsel der Einstellung, für den hoffnungs¬ 
volle Anätze da sind, wird sich in langjähriger Wüstenpilgerschaft, 
zu der Europa-Frankreich nicht am wenigsten verurteilt ist, nach und 
nach die Zerrüttung der Weltwirtschaft beseitigen lassen. Hier helfen 
nur die großen Mittel und das Ungewöhnliche, und es ist eine be¬ 
schämende Tatsache, daß der Vischersche Satz, daß das Moralische 
sich von selbst versteht, zu diesen „ungewöhnlichen" Dingen gerechnet 
werden muß. 

Zu solchen Betrachtungen regt das Schultzesche Buch an, es gibt 
reiches Material und geistvolle Gedankengänge, wenn es auch in 
vielem eine andere Lösung versucht wie der Schreiber. 


AM ANFANG 

von 

BERNARD SHAW 


Der Garten Eden. Nachmittags. Den Kopf in einem dichten Beet von Johanniskräutern 
begraben, schläft eine ungeheure Schlange. Ihr Leib schlängelt sich in scheinbar endlosen 
Ringen durch die Zweige eines schon recht großen Baumes; denn der Schöpfungstage 
waren mehr, als wir annehmen. Sie ist noch keinem sichtbar, der ihre Gegenwart nicht 
ahnt, denn ihre grün-braune Farbe macht sie vollkommen unkenntlich. In der Nähe 
ihres Kopfes ragt unter den Kräutern ein niedriger Felsen hervor. 

Felsen und Baum befinden sich am Rand einer Lichtung, auf welcher ein totes Rehkalb 
mit gebrochenem Genick in schiefer Lage ruht. Adam kauert daneben, eine Hand auf 
den Felsen gestützt und surrt betroffen den toten Körper an. Er hat die Schlange zu 
seiner Linken nicht bemerkt. Er wendet sein Haupt nach rechts und ruft in großer 
Erregung. 


Adam: Eva! Eva! 

Evas Stimme: Was willst du, Adam? 

Adam: Schnell, komm her! Es ist etwas geschehen! 

Eva (läuft herzu): Was? Wb? (Adam weist auf das Rehkalb). Oh! (Sie tritt an 



3 57 


Bemard Shaw, Am Anfang 

den Kadaver heran, und er fühlt sich ermutigt, sie zu begleiten). Was ist mit den 
Augen des Tieres geschehen? 

Adam: Es sind nicht die Augen allein. Sieh her. (Er stößt den Ka- 
daver mit dem Fuß.) 

Eva: Oh, nicht doch. Warum wacht es nicht auf? 

Adam: Das weiß ich nicht, es schläft nicht. 

Eva: Schläft nicht? 

Adam: Versuch, es zu wecken. 

Eva (versucht, das tote Tier zu schütteln und umzudrehen): Es ist steif und kalt. 
Adam: Das weckt nichts mehr auf. 

Eva: Es hat einen sonderbaren Geruch. Bah! (sie staubt sich die Hände 
ab und wendet sich ab.) Hast du das Tier in diesem Zustand gefunden? 
Adam: Nein, es hat getollt und gespielt. Dann strauchelte es und 
stürzte; den Kopf voran. Und dann rührte es sich nicht mehr. Sein 

Genick ist nicht in Ordnung. (Er beugt sich nieder und will das Genick empor¬ 
heben und ihr zeigen.) 

Eva: Berühr’ es nicht. Komm fort. (Sie ziehen sich beide zurück und be¬ 
trachten das Rehkalb aus einigen Schritten Entfernung mit wachsendem Widerwillen.) 

Eva: Adam! 

Adam: Ja? 

Eva: Nimm an, du würdest straucheln und fallen: würdest du so 
daliegen? 

Adam: Ha! (Es schaudert ihn, und er setzt sich auf den Felsblock.) 

Eva (wirft sich neben ihn auf die Erde und umfängt seine Knie): Du mußt vor¬ 
sichtig sein. Versprich mir, vorsichtig zu sein. 

Adam: Wozu vorsichtig sein? Hier müssen wir ewig leben. Be¬ 
denke, was „ewig“ heißt. Früher oder später werde ich straucheln 
und fallen, vielleicht schon morgen, vielleicht erst nach so vielen 
Tagen, als Blätter im Garten und Sandkörner am Flusse sind. Einerlei. 
Eines Tages werde ich unvorsichtig sein und straucheln. 

Eva: Ich auch. 

Adam (entsetzt): Oh, nein, nein! Dann bliebe ich allein, allein für 
ewig. Du darfst dich niemals der Gefahr des Straucheins aussetzen, 
du darfst nicht herumlaufen, du mußt stillsitzen. Ich werde für dich 
sorgen und dir bringen, was du brauchst. 

Eva (wendet sich achselzuckend von ihm ab und umfaßt ihre Knöchel): Das be¬ 
käme ich sehr bald satt. Übrigens wenn es dir zustieße, bliebe ich 
allein, und dann könnte ich nicht stillsitzen, und schließlich würde 
es mir ebenso ergehen. 



358 Bernard Shaw, Am Anfang 

Adam: Und dann? 

Eva: Dann würden wir nicht mehr sein. Dann gäbe es nur mehr 
die Dinger auf allen Vieren und die Vögel und die Schlangen. 
Adam: Das darf nicht geschehen. 

Eva: Nein, das darf nicht geschehen, aber es könnte geschehen. 
Adam: Nein! ich sage dir, es darf nicht geschehen. Ich weiß, daß 
es nicht geschehen darf. 

Eva: Wir wissen es beide. Woher wissen wir das? 

Adam: Es gibt eine Stimme im Garten, die mir mancherlei erzählt. 
Eva: Der Garten ist manchmal voll von Stimmen. Die setzen mir 
allerhand Gedanken in den Kopf. 

Adam: Ich höre nur eine Stimme. Sie ist sehr leise, aber so nah, 
daß sie einem Geflüster aus meinem Innern gleicht. Es ist ausge¬ 
schlossen, daß ich sie mit irgend einer Stimme der Vögel, der Tiere 
oder mit deiner Stimme verwechsele. 

Eva: Es ist sonderbar, daß ich von allen Seiten Stimmen höre und 
du nur eine innere Stimme hörst. Aber ich habe ein paar Gedanken, 
die aus meinem Innern und nicht von den Stimmen herrühren. Der 
Gedanke, daß wir nicht auf hören dürfen zu sein, kommt aus dem 
Innern. 

Adam (verzweifelt) : Aber wir werden einmal aufhören zu sein. Wir 
werden wie das Rehkalb hinsinken und zerbrechen. (Er erhebt och and 
geht aufgeregt herum.) Ich kann diese Erkenntnis nicht ertragen. Ich mag 
das nicht. Es darf nicht sein, sag ich dir, und dennoch weiß ich 
nicht, wie ich es verhindern soll. 

Eva: Genau das ist auch mein Gefühl. Aber es ist sehr sonderbar, 
daß du es sagst. Man kann dich nicht zufrieden stellen, du änderst 
so oft deinen Sinn. 

Adam (zankt sie aus): Warum sagst du das? Worin habe ich meinen 
Sinn geändert? 

Eva: Du sagst: wir dürfen nicht aufhören zu sein; aber du pfleg¬ 
test dich darüber zu beklagen, daß wir immer und ewig leben 
müssen. Du sitzest manchmal stundenlang brütend und schweigend 
da und hassest mich in deinem Herzen. Wenn ich dich frage, was 
ich dir angetan habe, sagst du, daß du nicht an mich denkst, son¬ 
dern an das Entsetzen, ewig hier bleiben zu müssen, aber ich weiß 
sehr gut, daß du darüber entsetzt bist, mit mir ewig hier bleiben 
zu müssen. 

Adam: Oh! Du glaubst also, daß es dies ist. Nun, du bist im Irr 



559 


Bcrnard Shaw, Am Anfang 

tum. (Er setzt «eh wieder, verdrießlich.) Es ist das Entsetzen, ewig mit mir 
selbst sein zu mOssen. Dich hab ich gern, aber mich habe ich nicht 
gern. Ich möchte anders, ich möchte besser sein, immer wieder 
von vorne anfangen. Ich möchte mich häuten, wie die Schlange 
sich häutet. Ich bin meiner überdrüssig. Und dennoch muß ich 
mich ertragen, nicht einen Tag, nicht viele Tage, sondern ewig. 
Das ist ein furchtbarer Gedanke. Das ist der Grund, warum ich 
dasitze und brüte und schweige und haßerfüllt bin. Hast du daran 
nie gedacht? 

Eva: Nein, ich denke über mich nicht nach. Wozu nützt das? Ich 
bin, was ich bin, das kann nichts ändern. Über dich denke ich nach. 
Adam: Das solltest du nicht. Du beobachtest mich immer. Ich 
kann niemals allein sein. Du willst immer wissen, was ich gemacht 
habe. Das ist eine Last. Du solltest versuchen, ein eigenes Dasein 
zu haben, anstatt dich mit meinem Dasein zu beschäftigen. 

Eva: Ich muß über dich nachdenken, du bist faul, du bist schmutzig, 
du vernachlässigst dich, du träumst fortwährend, du würdest schlechtes 
Zeug essen und ekelhaft werden, wenn ich dich nicht beobachtete 
und mich mit dir beschäftigte. Und jetzt willst du gar trotz meiner 
Fürsorge eines Tages auf den Kopf fallen und tot sein. 

Adam: Tot? Was ist das für ein Wort? 

Eva (zeigt auf das Rehkalb): So wie das. Das nenne ich tot. 

Adam (erhebt sich und nähert sich dem Kadaver langsam): Es ist etwas Un¬ 
heimliches damit. 

Eva (kommt ihm nach): Oh! Es verwandelt sich in kleine weiße Würmer. 
Adam: Wirf es in den Fluß. Es ist unertiäglich. 

Eva: Ich wag nicht, es zu berühren. 

Adam: Dann muß ich es tun, obgleich mir ekelt. Es ver¬ 
giftet die Luft. (Er nimmt das Tier bei den Hufen und schleift es fort in die 
Richtung, aus der Eva kam, wobei er es so weit wie möglich von sich fort hält. Eva 
blickt ihm einen Augenblick lang nach, dann setzt sie sich von Ekel geschüttelt auf den 
Felsen und brütet vor sich hin. Der Leib der Schlange wird sichtbar und erglüht in 
wundervollen neuen Farben. Sie erhebt den Kopf langsam aus den Kräutern und flüstert 
Eva mit einem seltsam verführerischen, musikalischen Geflüster ins Ohr). 

Die Schlange: Eva! 

Eva (erschrickt): Wer ist das? 

Die Schlange: Ich bin’s. Ich bin gekommen, um dir meinen wunder¬ 
vollen neuen Hut ZU zeigen, schau! (Sie entfaltet einen wundervollen ametyst- 
artigen Hut.) 

Eva (bewunden sie): Oh, aber wer hat dich sprechen gelehrt? 



5 do Bemard Shaw, Am Anfang 

Die Schlange: Du und Adam. Ich bin wohl verborgen durch das 
Gras gekrochen und habe euch belauscht 
Eva: Das war wundervoll klug von dir. 

Die Schlange: Ich bin das klügste von allen Geschöpfen des 
Feldes. 

Eva: Dein Hut ist ungemein schön. (Sie streichelt und kost die Schlange.) 
Hübsches Ding. Liebst du deine Patin Eva? 

Die Schlange: Ich bete sie an. (Sieleckt Eva mit ihrer Doppelzangeden Nacken.) 
Eva (kost sie): Eva’s wunderschönes Lieblingsschlänglein. Eva wird sich 
jetzt niemals mehr vereinsamt fühlen, seit die Schlange mit ihr 
sprechen kann. 

Die Schlange: Ich kann über vielerlei sprechen. Ich bin sehr weise. 
Ich war es, die dir das Wort zugeflüstert hat, das du nicht gekannt 
hast: „tot“, „der Tod“, „sterben“. 

Eva (schaudernd): Warum erinnerst du mich daran, ich vergaß es, als 
ich deinen wundervollen Hut sah. Du darfst mich nicht an un¬ 
glückliche Dinge erinnern. 

Die Schlange: Der Tod ist kein unglückliches Ding, wenn man 
gelernt hat, ihn zu besiegen. 

Eva: Wie kann ich ihn besiegen? 

Die Schlange: Durch eine andere Sache, die man Geburt nennt. 
Eva: Was? (Sie versucht es auszusprechen.) Ge — Ge—Geburt? 

Die Schlange: Ja, Geburt. 

Eva: Was ist Geburt? 

Die Schlange: Die Schlange stirbt niemals. Eines Tages wirst du 
mich aus dieser wunderschönen Haut herausschlüpfen sehen: eine 
neue Schlange mit einer neuen, noch schöneren Haut: das ist Geburt. 
Eva: Das habe ich schon gesehen, das ist wunderbar. 

Die Schlange: Wenn ich das vermag, was vermag ich dann nicht? 
Ich sage dir, ich bin sehr schlau. Wenn du und Adam plaudern, 
höre ich euch fragen „Warum“? Immer „Warum“? Ihr seht Dinge 
und fragt „Warum“? Aber ich träume von Dingen, die niemals waren, 
und ich frage „Warum nicht“? Ich habe das Wort „tot“ erfunden, 
um meine alte Haut zu beschreiben, die ich abwerfe, wenn ich er¬ 
neut werde. Diese Erneuerung nenne ich „geboren werden.“ 

Eva: „Geboren“ ist ein wundervolles Wort. 

Die Schlange: Warum solltest du nicht so wie ich immer wieder 
und wieder geboren werden? Neu und schön ein jedesmal. 

Eva: Ich! Weil das nicht vorkommt, darum. 



9 


Bemard Shaw, Am Anfang $6 1 

Die Schlange: Das ist die Ursache, aber nicht der Grund. Warum 
nicht? 

Eva: Aber ich möchte es gar nicht, es wäre nett, wieder neu zu 
werden, aber meine alte Haut würde auf dem Boden liegen und 
genau so wie ich aussehen. Und Adam würde sehen, wie sie runzlig 
wird und — 

Die Schlange: Nein, das müßte er nicht, es gibt eine zweite Geburt. 
Eva: Eine zweite Geburt? 

Die Schlange: Höre, ich will dir ein großes Geheimnis verraten; 
ich bin schlau und ich habe gedacht und gedacht und gedacht. Ich 
bin auch sehr eigensinnig und muß haben, was ich will, und ich 
habe gewollt und gewollt und gewollt. Ich habe seltsame Dinge ge¬ 
gessen, Steine und Äpfel, die zu essen du dich fürchtest. 

Eva: Das hast du gewagt? 

Die Schlange: Ich habe alles gewagt und endlich fand ich ein 
Mittel, einen Teil des Lebens in meinen Leib zusammenzudrängen. 
Eva: Was ist das „Leben“? 

Die Schlange: Das, was den Unterschied zwischen dem toten und 
dem lebendigen Rehkalb ausmacht. 

Eva: Was für ein wunderbares Wort. Was ftir ein wunderbares 
Ding. Von all den neuen Wörtern ist „Leben“ das schönste. 

Die Schlange: Ja, durch mein Nachsinnen über das Leben habe 
ich die Macht gewonnen, Wunder zu tun. 

Eva: Wunder? Noch ein neues Wort! 

Die Schlange: Ein Wunder ist eine Unmöglichkeit, die trotzdem 
möglich ist Etwas, was sich niemals ereignen könnte und sich den¬ 
noch ereignet. 

Eva: Nenne mir irgend ein Wunder, das du vollbracht hast 
Die Schlange: Ich drängte einen Teil des Lebens in meinem Körper 
zusammen und schloß es in eine winzige, weiße Kapsel, die aus den 
Steinen bereitet war, die ich gegessen hatte. 

Eva: Und ^vozu nützte das? 

Die Schlange: Ich zeigte die kleine Kapsel der Sonne und ließ sie 

in ihrer Wärme, da brach die Kapsel auf, und eine kleine Schlange 

kroch heraus, die von Tag zu Tag größer wurde, bis sie so groß 

war wie ich selbst. Das war die zweite Geburt 

Eva: Oh, das ist wunderbar. Es wühlt mich innerlich auf, es 

schmerzt. 

Die Schlange: Es hat mich beinahe in Stücke gerissen, dennoch 




3 6 x Bernard Shaw, Am Anfang 

lebe ich und kann meine Haut sprengen und mich wie zuvor er¬ 
neuern. Es wird bald so viele Schlangen im Garten Eden geben, als 
mein Körper Schuppen hat. Dann wird der Tod machtlos sein. 
Diese und jene Schlange wird sterben, aber „die Schlangen“ werden 
leben. 

Eva: Aber wir übrigen werden früher oder später sterben wie das 
Rehkalb, und dann wird es nichts anderes mehr geben als Schlangen, 
Schlangen, Schlangen überall. 

Die Schlange: Das darf nicht sein. Ich bete dich an, Eva, ich 
mufi etwas haben, das ich anbete, etwas, das ganz verschieden von 
mir ist, wie du. Es mufi etwas GrÖfieres als die Schlange geben. 
Eva: Ja. Es darf nicht sein. Adam darf nicht vergehen. Du bist 
sehr schlau, sag mir, was ich tun soll. 

Die Schlange: Denke. Wolle. Ifi den Staub. Lecke den weifien 
Stein. Beifie in den Apfel, den du fürchtest. Die Sonne wird Leben 
spenden. 

Eva: Ich traue der Sonne nicht. Ich will selbst Leben spenden. 
Ich will noch einen Adam aus meinem Körper reifien und wenn ich 
auch meinen Körper dabei in Stücke risse. 

Die Schlange: Tu das, wage es. Alles ist möglich, alles. Höre mich 
an: Ich bin alt, ich bin die alte Schlange, älter als Adam, älter als 
Eva. Ich erinnere mich an Lillith, die vor Adam und Eva da war. Ich 
war ihr Liebling, wie ich deiner bin. Sie war allein, kein Mann 
war mit ihr. Sie sah den Tod, wie du ihn sahst, als das Rehkalb 
fiel, und sie wufite dann, dafi sie herausfinden müsse, wie sie sich 
erneuern und die Haut abstreifen könnte, so wie ich es tue. Sie hatte 
einen mächtigen Willen, sie strebte und strebte und wollte und wollte 
durch mehr Monde hindurch, als es Blätter an allen Bäumen des 
Gartens gibt. Ihre Qualen waren furchtbar, ihr Stöhnen verjagte 
den Schlaf aus Eden. Sie sagte, dafi es nie mehr geschehn dürfe: dafi 
die Last der Erneuerung des Lebens über alles Ertragen ginge, dafi 
es zu viel für ein Wesen sei. Und als sie die Haut abstreifte, sieh! da 
gab es nicht eine neue Lillith, sondern zwei, die eine glich ihr selbst, 
die andere glich Adam. Die eine warst du, die andere war Adam. 
Eva: Aber warum hat sie sich entzweigespalten und uns verschieden 
gemacht? 

Die Schlange: Ich sage dir doch, dafi die Arbeit für eins zu viel 
ist, zwei müssen sie teilen. 

Eva: Willst du damit sagen, dafi Adam sie mit mir teilen mufi? Er 



Bemard Shaw, Am Anfang 3 <$3 

will nicht. Er kann Schmerzen nicht ertragen, noch seinen Körper 
Mühseligkeiten aussetzen. 

Die Schlange: Das braucht er nicht. Für ihn wird es dabei keine 
Schmerzen geben. Er wird dich beschwören, ihn sein Teil voll¬ 
bringen zu lassen. Er wird in deiner Macht sein, infolge seines Be¬ 
gehrens. 

Eva: Dann will ich es tun, aber wie? Wie hat Lillith dieses Wunder 
zustande gebracht? 

Die Schlange: Sie hat es sich eingebildet. 

Eva: Was ist das: eingebildet? 

Die Schlange: Sie hat es mir erzählt. Es war wie eine wunder¬ 
volle Geschichte von etwas, das einer Lillith, die niemals vorhanden 
war, niemals geschah. Sie wußte damals nicht, daß die Einbildung 
der Anfang aller Schöpfung sei. Du bildest dir ein, was du dir 
wünschest, du wünschest dir, was du dir einbildest und schließlich 
schaffst du, was du wünschest. 

Eva: Wie kann ich aus dem Nichts etwas schaffen? 

Die Schlange: Alles muß aus dem Nichts geschaffen worden sein. 
Sieh dir die dicke Rolle harten Fleisches an deinem starken Arme 
an, das war nicht immer da, du konntest auf keinen Baum klettern, 
als ich dich zuerst sah. Aber du wolltest es und versuchtest es, und 
wolltest und versuchtest immer wieder, und dein Wille schuf aus 
dem Nichts die Rolle an deinem Arm, bis du deinen Wunsch erfüllt 
hattest und dich mit einer Hand hinaufziehen und dich auf den Zweig 
setzen konntest, der über deinem Kopfe war. 

Eva: Das war Übung. 

Die Schlange: Die Dinge nützen sich durch Übung ab, sie wachsen 
dadurch nicht. Deine Haare flattern im Winde, als wenn sie sich 
immer weiter und weiter ausbreiten wollten. Aber sie werden bei 
aller Übung im Flattern nicht länger, weil du es nicht so gewollt 
hast. Als Lillith mir erzählte, was sie sich in unserer stummen Sprache 
— denn es gab damals keine Worte — eingebildet hatte, forderte ich 
sie auf, es zu wünschen und zu wollen. Dann schuf das Ding sich* 
das sie gewünscht und gewollt hatte, zu unserem großen Erstaunen 
ganz von selbst in ihr, unter dem Druck ihres Willens. Dann wollte 
auch ich mich in zwei statt in einem erneuern, und nach vielen Tagen 
geschah das Wunder, und ich brach aus meiner Haut mit einer andern, 
mit mir verknüpften Schlange, und jetzt gibt es zwei Einbildungen, 
zwei Wünsche, zwei Willen, mit denen man schaffen kann. 



364 Bemard Shaw, Am Anfang 

Eva: Wünschen, Einbilden, Wollen, Schaffen, das ist eine zu lange 
Geschichte, finde mir ein Wort für das alles, du, die du so reich 
an Worten bist. 

Die Schlange: Ein Wort? „Empfangen“, das ist das Wort, das sowohl 
den Anfang in der Einbildung als auch das Ende in der Schöpfung 
bedeutet. 

Eva: Finde mir ein Wort für die Geschichte, die sich Lillith ein¬ 
gebildet und dir in eurer schweigsamen Sprache erzählt hat: Die Ge¬ 
schichte, die zu schön war, um wahr zu sein und dennoch wahr 
wurde. 

Die Schlange: Ein Gedicht 

Eva: Finde mir noch ein Wort, für das, was Lillith mir gewesen ist. 
Die Schlange: Sie war deine Mutter. 

Eva: Und Adams Mutter? 

Die Schlange: Ja. 

Eva (im Begriff, sich zn erheben): Ich will gehen und Adam sagen, er möge 
empfangen. 

Die Schlange (lacht): !!! 

Eva (unangenehm berührt und erstaunt): Was für ein hassenswertes Ge¬ 
räusch? Was ist mit dir? Noch nie hat jemand so einen Laut von 
sich gegeben. 

Die Schlange: Adam kann nicht empfangen. 

Eva: Warum nicht? 

Die Schlange: Lillith hat sich ihn nicht so eingebildet Er kann 
Einbildungen haben, er kann wollen, er kann wünschen, er kann 
sein Leben zu einem großen Sprung nach der Schöpfung hin zu¬ 
sammenreißen, er kann alle Dinge erschaffen, bis auf eines: seine 
eigene Gattung. 

Eva: Warum hat Lillith ihm das erspart? 

Die Schlange: Weil er Eva entbehren könnte, wenn er dazu fähig wäre. 
Eva: Das ist wahr, ich bin es, die empfangen muß. 

Die Schlange: Ja. Dadurch ist er an dich gefesselt. 

Eva: Und ich an ihn. 

Die Schlange: Ja, bis du noch einen Adam erschaffen hast 
Eva: Daran hatte ich nicht gedacht, du bist sehr schlau. Aber wenn 
ich noch eine Eva erschaffe, könnte er sich an die wenden und mich 
entbehren. Ich will keine Evas erschaffen, nur Adams. 

Die Schlange: Die können sich ohne Evas nicht erneuern. Früher 
oder später wirst du sterben wie das Rehkalb, und die neuen Adams 



Bemard Shaw, Am Anfang 365 

'werden unschöpferisch sein ohne neue Evas. Du kannst dir ein solches 
Ende einbilden, aber du kannst es nicht wünschen, kannst es daher 
nicht wollen, kannst daher nicht ausschließlich Adams erschallen. 
Eva: Wenn ich wie das Rehkalb sterben soll, warum sollte nicht 
alles andere auch sterben. Was liegt mir daran? 

Die Schlange: Das Leben darf nicht enden. Das ist das Wichtigste. 
Es ist dumm, wenn du sagst, daß dir nichts daran liegt. Es liegt dir 
doch etwas daran. Diese Sorge ist es, die deine Einbildungskraft 
erhellen, deine Wünsche entflammen, deinen Willen unwiderstehlich 
machen und schaffen wird aus dem Nichts. 

Eva (nachdenklich): Es kann so etwas wie „Nichts“ nicht geben. Der 
Garten ist voll, nicht leer. 

Die Schlange: Daran hatte ich nicht gedacht. Das ist ein großer 
Gedanke. Ja. So etwas wie Nichts gibt es nicht, es gibt nur Dinge, 
die wir nicht sehen können. Das Kamelion frißt die Luft. 

Eva: Ich habe noch einen Gedanken. Ich muß es Adam sagen. 
(Sie ruft) Adam! Adam! Kurru. 

Adams Stimme: Krii. 

Eva: Das wird ihm gefallen und seine melancholischen Anfälle heilen. 
Die Schlange: Sag ihm noch nichts. Ich hab dir das große Ge¬ 
heimnis noch nicht verraten. 

Eva: Was gibt es da noch zu verraten? Ich bin’s, die das Wunder voll¬ 
bringen muß. 

Die Schlange: Nein, er muß auch wünschen und wollen. Aber dir 
muß er seinen Wunsch und seinen Willen darbringen. 

Eva: Wie? 

Die Schlange: Das ist das große Geheimnis. Still, er kommt. 
Adam (kehrt zurück): Gibt es noch eine Stimme im Garten außer unseren 
Stimmen und „der Stimme“? Ich hörte eine neue Stimme. 

Eva (erhebt eich und läuft auf ihn zu): Denk dir nur, Adam, unsere Schlange 
hat sprechen gelernt und zwar dadurch, daß sie uns belauscht hat. 

Adam (entzückt): Wahrhaftig? (Er geht an Eva vorüber an den Stein und streichelt 
die Schlange). 

Die Schlange (erwidert liebevoll): So ist es, lieber Adam. 

Eva: Aber ich weiß noch wunderbarere Neuigkeiten als diese. Adam, 
wir müssen nicht ewig leben. 

Adam (läßt den Kopf der Schlange in seiner Erregung fidlen): Was? Eva, scherze 
in dieser Sache nicht mit mir. Wenn es nur eines Tages ein Ende und doch 
kein Ende geben könnte, wenn ich nur von der Qual befreit werden 



^66 


Bemard Shaw, Am Anfang 

konnte, mich selbst ewig ertragen zu müssen, wenn nur die Sorge tun 
diesen entsetzlichen Garten auf einen andern Gärtner fibergehen, wenn 
nur die Schildwache, welche „die Stimme“ eingesetzt hat, abgelöst werden, 
wenn nur die Ruhe und der Schlaf, die mich befähigen, alles Tag für Tag 
zu ertragen, nach vielen Tagen zu einer ewigen Ruhe, zu einem ewigen 
Schlaf emporwachsen könnten, dann vermöchte ich, meinen Tagen Trotz 
zu bieten, wie lange sie auch dauern mögen. Nur muß es einmal 
ein Ende geben, irgend ein Ende. Ich bin nicht stark genug, die 
Ewigkeit zu ertragen. 

Die Schlange: Du brauchst nicht einmal den kommenden Sommer 
zu erleben, und dennoch wird kein Ende sein. 

Adam: Das kann nicht sein. 

Die Schlange: Es kann sein. 

Eva: Es soll sein. 

Die Schlange: Es ist. Töte mich und du wirst morgen eine andere 
Schlange im Garten finden. Du wirst mehr Schlangen finden, als du 
Finger an deinen Händen hast. 

Eva: Ich werde andere Adams, andere Evas erschaffen. 

Adam: Ich habe dir schon gesagt, du darfst dich darüber nicht lustig 
machen. Das kann nicht sein. 

Die Schlange: Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, da du noch 
selbst ein Ding warst, das nicht sein konnte. Und dennoch bist du. 
Adam (betroffen): Das muß wahr sein. (Er setzt sich auf den Stein.) 

Die Schlange: Ich will Eva das Geheimnis verraten, und sie wird 
es dir verraten. 

Adam: Das Geheimnis? (Er wendet sich rasch der Schlange za, and wahrend er 
das tat, setzt er den Fuß auf etwas Scharf«».) Au! 

Eva: Was gibt’s? 

Adam (reibt sich den Faß): Eine Distel und da, dicht daneben ein Dom. 
Und Nesseln auch. Ich habe es satt, die Dinge auszuroden, damit 
der Garten auf ewig für uns schön bleibe. 

Die Schlange: Sie wachsen nicht sonderlich schnell. Sie werden noch 
sehr lange den Garten nicht fiberwachsen, nicht, bevor du deine Last 
hingelegt hast und für immer eingeschlafen bist. Warum solltest du 
dich damit plagen? Laß die neuen Adams sich einen Platz ausroden. 
Adam: Das ist sehr wahr. Du mußt uns dein Geheimnis verraten. 
Siehst du, Eva, wie wundervoll es ist, nicht ewig leben zu müssen? 
Eva (wirft sich mißvergnügt nieder und zapft du Gras aus): Das sieht einem 
Mann so ähnlich: im Augenblick, wo du erkennst, daß wir nicht 



Bemard Shaw, Am Anfang 367 

ewig leben müssen, sprichst du, als wenn es heute schon mit uns zu 
Ende ginge. Du mußt ein paar von diesen entsetzlichen Dingen aus 
dem Weg räumen, sonst werden wir uns zerkratzen und stechen, so 
oft wir vergessen, auf unseren Weg zu achten. 

Adam: Oh, ja, ein paar selbstverständlich, aber nur wenige. Ich werde 
sie morgen wegräumen. 

Die Schlange (lacht) 

Adam: Das ist ein komisches Geräusch, das du machst, das gefallt mir. 
Eva: Mir nicht. Warum machst du das schon wieder? 

Die Schlange: Adam hat etwas Neues erfunden. Er erfand „morgen“. 
Du wirst jetzt jeden Tag Dinge erfinden, seit dir die Last der Un¬ 
sterblichkeit abgenommen ist. 

Eva: Unsterblichkeit? Was ist das? 

Die Schlange: Mein neues Wort für: ewig leben müssen. 

Eva: Die Schlange hat ein wunderschönes Wort für „Auf-der-Welt- 
sein“ gebildet. 

Adam: Bilde mir ein schönes Wort für die Dinge, die man morgen 
tun wird, denn das ist doch eine große und segensreiche Erfindung. 
Die Schlange: Aufschub. 

Eva: Das ist ein süßes Wort. Ich wollte, ich hätte die Zunge einer 
Schlange. 

Die Schlange: Das kann noch werden. Alles ist möglich. 

Adam (springt mit plötzlichen Entsetzen auf): Ach! 

Eva: Was gibt’s jetzt wieder? 

Adam: Meine Ruhe, meine Flucht vor dem Leben! 

Die Schlange: Tod, das ist das Wort. 

Adam: In diesem Aufschub sehe ich eine furchtbare Gefahr. 

Eva: Welche Gefahr? 

Adam: Wenn ich den Tod bis morgen aufschieben kann, werde ich 
niemals sterben. Es gibt kein Morgen und kann niemals eines 
geben. 

Die Schlange: Ich bin sehr schlau, aber der Mensch hat tiefere 
Gedanken als ich. Das Weib weiß, daß es das Nichts nicht gibt. 
Der Mann weiß, daß es kein Morgen gibt. Ich tue gut daran, Mann 
und Weib anzubeten. 

Adam: Wenn ich den Tod erreichen soll, muß ich einen wirk¬ 
lichen Tag bestimmen und nicht „morgen“ sagen. Wann werde ich 
sterben? 

Eva: Du magst sterben, sobald ich einen andern Adam gemacht habe. 



3 68 Bemard Shaw, Am Anfang 

Früher nicht, aber dann, sobald du willst. (Sie erhebt «ich, geht hinter ihm 
vorbei und schlendert sorglos an den Baum heran, an den sie sich lehnt, während sie 
ein Glied der Schlange streichelt.) 

Adam: Selbst dann hat es damit keine Eile. 

Eva: Ich sehe, du willst es auf morgen verschieben. 

Adam: Und du? Willst du in dem Augenblick sterben, wo du eine 
neue Eva geschaffen hast? 

Eva: Warum sollte ich dann sterben? Hast du solche Eile, mich los 
zu werden? Eben noch wolltest du, daß ich stillsitze und mich nicht 
rühre, damit ich nicht hinsinke und sterbe, wie das Rehkalb. Jetzt 
liegt dir nichts mehr daran. 

Adam: Es ist jetzt nicht mehr soviel daran gelegen. 

Eva (ärgerlich zur Schlange): Dieser Tod, den du in den Garten gebracht 
hast, ist eine böse Sache. Er will, daß ich sterbe. 

Die Schlange (zn Adam): Willst du, daß sie sterbe? 

Adam: Nein. Ich bin es, der sterben soll. Eva darf nicht vor mir 
sterben. Ich wäre einsam. 

Eva: Du könntest eine von den neuen Evas bekommen. 

Adam: Das ist wahr. Aber vielleicht wären sie nicht ganz dasselbe. 
Das könnten sie nicht sein. Dessen bin ich sicher. Sie hätten nicht 
dieselben Erinnerungen. Sie wären — es fehlt mir ein Wort für sie. 
Die Schlange: Fremde. 

Adam: Ja. Das ist ein gutes, hartes Wort. Fremde. 

Eva: Sobald es neue Adams und neue Evas geben wird, werden wir 
in einem Garten von Fremden leben. Wir werden auf einander an¬ 
gewiesen sein. (Sie kommt nach hinter ihn und kehrt sich seinem Antlitz zn): Ver¬ 
giß das nicht, Adam, vergiß es niemals. 

Adam: Warum sollte ich es vergessen? Ich bin es, der darüber nach¬ 
gedacht hat. 

Eva: Auch ich habe über etwas nachgedacht. Das Rehkalb stolperte 
und fiel und starb, aber du könntest sanft hinter mir her kommen 

und (Sie faßt ihn plötzlich bei den Schultern und wirft ihn nach vorwärts aufs Gesicht) 

mich zu Boden werfen, so daß ich sterben müßte. Ich würde nicht 
zu schlafen wagen, wenn es keinen Grund gäbe, warum du mich 
nicht zu Tode bringen solltest 

Adam (raflt ach entsetzt empor): Dich zu Tode bringen!!! Was für ein 
furchtbarer Gedanke! 

Die Schlange: Töten, töten, töten, töten, das ist das Wort. 

Eva: Die neuen Adams und Evas wären imstande, uns zu töten. Ich 



Bemard Shaw, Am Anfang 369 

werde sie nicht erschaffen. (Sie setzt sich auf den Felsen, zieht Adam zu sich 
nieder und umklammert ihn mit ihrem rechten Arm.) 

Die Schlange: Du mußt. Denn, wenn du es nicht tust, wird alles 
ein Ende haben. 

Adam: Nein, sie werden uns nicht töten, sie werden empfinden, wie 
ich empfinde, es spricht etwas dagegen. „Die Stimme“ im Garten wird 
ihnen sagen, daß sie nicht töten dürfen, wie sie es mir sagt. 

Die Schlange: „Die Stimme“ im Garten ist deine eigene Stimme. 
Adam: Ja und nein. Sie ist etwas Größeres als ich. Ich bin nur 
ein Teil davon. 

Eva: „Die Stimme“ sagt mir nicht, daß ich dich nicht töten soll. 
Dennoch wünsche ich nicht, daß du vor mir stirbst. Ich benötige 
keine Stimme, um das zu fühlen. 

Adam (Er wirft seinen Arm mit einem Ausdruck von Kummer um ihre Schulter): 

Oh nein. Das ist klar ohne jede Stimme. Es gibt etwas, das uns 
zusammenhält, etwas, wofür es kein Wort gibt. 

Die Schlange: Liebe, Liebe, Liebe. 

Adam: Das ist ein zu kurzes Wort fiir eine so lange Sache. 

Die Schlange (lacht): ! ! ! 

Eva (wendet sich ungeduldig an die Schlange): Schon wieder dieser herzzer¬ 
reißende Ton? Tu das nicht. Warum tust du das? 

Die Schlange: Liebe mag bald ein zu langes Wort für eine so 
kurze Sache sein. Aber je kürzer sie ist, desto süßer ist sie. 

Adam (nachdenklich): Du verwirrst mich. Meine alte Sorge war schwer. 
Aber sie war einfach. Diese Wunder, die du zu vollbringen ver¬ 
sprichst, können mein Wesen verwirren, ehe sie mir die Gabe des 
Todes bringen. Ich war bedrückt durch die Last ewigen Lebens, aber 
ich war nicht verwirrten Geistes. Wenn ich nicht wußte, daß ich 
Eva liebte, wußte ich wenigstens auch nicht, daß sie aufhören könnte, 
mich zu lieben und dahingelangen könnte, irgend einen andern Adam 
zu lieben und meinen Tod zu wünschen. Kannst du einen Namen 
ftir diese Erkenntnis finden? 

Die Schlange: Eifersucht. Eifersucht. Eifersucht. 

Adam: Ein scheußliches Wort. 

Eva (rüttelt ihn): Du darfst nicht brüten, Adam, du denkst zu viel. 
Adam (irgeriich): Wie sollte ich nicht brüten, wenn die Zukunft ungewiß 
geworden ist. Alles ist besser als Ungewißheit Das Leben ist ungewiß 
geworden. Liebe ist ungewiß. Hast du ein Wort ftir dieses neue Eiend ? 
Die Schlange: Angst Angst Angst 


>4 



37© 


Beruard Shaw } Am Anfang 

Adam: Hast du ein Heilmittel dagegen? 

Die Schlange: Ja. Hoffnung. Hoffnung. Hoffnung. 

Adam: Was ist Hoffnung? 

Die Schlange: Solang du die Zukunft nicht kennst, weißt du nicht, 
daß sie nicht glücklicher sein wird als die Vergangenheit Das ist Hoffnung. 
Adam: Es tröstet mich nicht. Angst ist stärker in mir als Hoffnung. 
Ich muß Gewißheit haben. (Er erhebt sich drohend.) Gib sie mir oder ich 
werde dich töten, wenn ich dich das nächste Mal schlafend erwische. 
Eva (wirft ihre Arme um die Schlange.): Meine schöne Schlange, oh nein, 
wie kannst du auch nur an so etwas Entsetzliches denken? 

Adam: Angst wird mich zu allem treiben. Die Schlange gab mir Angst 
Jetzt soll sie mir Gewißheit geben oder selbst fortwährend Angst haben. 
Die Schlange: Zwinge die Zukunft durch deinen Willen. Tu ein 
Gelfibde. 

Adam: Was ist ein GelQbde? 

Die Schlange: Wähle einen Tag für deinen Tod und entschließe 
dich, an diesem Tag zu sterben, dann ist der Tod nicht länger un¬ 
gewiß, sondern gewiß. Laß Eva geloben, dich bis an deinen Tod 
zu lieben. Dann wird Liebe nicht mehr ungewiß sein. 

Adam: Ja, das ist herrlich, das wird die Zukunft zwingen. 

Eva (wendet sich unerfreut von der Schlange fort): Aber es Wird die Hoffnung 
zerstören. 

Adam (ärgerlich): Schweig still, Weib, Hoffnung ist böse. Glück ist 
böse, Gewißheit ist gesegnet 

Die Schlange: Was ist böse? Du hast ein Wort erfunden. 

Adam: Was immer ich zu tun fürchte, ist böse. Höre mich an, Eva, 
und du, Schlange, höre auch du, damit dein Gedächtnis mein Gelübde 
behalten möge: Ich will tausendmal die vier Jahreszeiten erleben. 

Die Schlange: Jahre. Jahre. 

Adam: Ich will tausend Jahre leben, und dann soll's genug sein. Ich 
will sterben und meine Ruhe haben; und ich will die ganze Zeit 
über Eva lieben und keine andere Frau. 

Eva: Und wenn Adam sein Gelübde hält, will ich keinen andern 
Mann lieben, bis er stirbt 

Die Schlange: Ihr habt beide die „Heirat“ erfunden. Was er dir und 
keiner andern Frau sein wird, ist der „Gatte“, und was du ihm und 
keinem andern Mann sein wirst, ist die „Gattin“. 

Adam (bewegt unwillkürlich seine Hand nach ihr hin): Gatte und Gattin. 

Eva (verschlingt ihre Hand mit der seinen): Gattin und Gatte. 



37* 


Bemard Shaw, Am Anfang 

Die Schlange (lacht): ! ! ! 

Eva (sie reißt sich von Adam los): Mach nicht diesen widerlichen Lärm, sag 
ich dir. 

Adam: Hör nicht auf sie. Das Geräusch ist gut. Es erleichtert mein 
Herz. Du bist eine lustige Schlange, aber du hast noch kein Ge¬ 
lübde abgelegt Was für ein Gelübde legst du ab? 

Die Schlange: Ich lege kein Gelübde ab. Ich überlasse mich dem Zufall. 
Adam: Zufall? Was soll das heißen? 

Die Schlange: Das heißt, daß ich die Gewißheit fürchte, wie du 
die Ungewißheit fürchtest. Es heißt, daß nichts gewiß ist außer der 
Ungewißheit Wenn ich die Zukunft zwinge, zwinge ich meinen 
Willen. Wenn ich meinen Willen zwinge, drossle ich die Schöpfung. 
Eva: Die Schöpfung darf nicht gedrosselt werden. Ich sage dir, daß 
ich erschaffen will, wenn ich mich auch bei der Schöpfung in Stücke 
reißen müßte. 

Adam: Schweigt alle beide. Ich will die Zukunft zwingen. Ich 
will von der Angst befreit werden. (Zu Eva) Wir haben unsere Gelübde 
abgelegt, und wenn du erschaffen mußt, sollst du in den Grenzen 
jener Gelübde erschaffen. Du sollst nicht länger auf diese Schlange 
hören. Komm! (Er packt sie bei den Haaren, am sie wegzaschleppen.) 

Eva: Laß mich zufrieden, du Narr. Sie hat mir das Geheimnis noch 
nicht verraten. 

Adam (laßt sie los): Das ist wahr. Was ist ein Narr? 

Eva: Ich weiß nicht, das Wort kam mir zugeflogen. Es ist, was du 
bist, wenn du vergißt und brütest und angsterfüllt bist. Laß uns der 
Schlange zuhören. 

Adam: Nein, davor habe ich Angst. Mir ist, als ob der Boden unter 
meinen Füßen wankte, wenn sie spricht. Bleib du da und höre ihr zu. 
Die Schlange (lacht): ! ! ! 

Adam (erheitert): Dieses Geräusch verbannt die Angst! Sonderbar. Die 
Schlange und das Weib sind im Begriff, einander Geheimnisse zuzu- 

flüstem. (Er kichert, entfernt sich langsam and stößt das erste Lachen aas.) 

Eva: Und nun das Geheimnis, das Geheimnis, (sie setzt sich anf den Fels- 
block and wirft ihre Arme am die Schlange, die ihr zuzuflüstem beginnt. — Evas Ant¬ 
litz erglänzt in angespanntem Interesse, das sich steigert, bis es verdrängt wird von einem 
Ausdruck unüberwindlichen Widerwillens. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen). 

Vorhang 


(Deutsch von Siegfried Trebitsch) 



AUFZEICHNUNGEN AUS PALÄSTINA 

von 

ARTHUR HOLITSCHER 

(Schluß) 

D ie Parteien der jüdischen Arbeiter in der Diaspora finden ihre 
Fortsetzung, besser gesagt, ihre Verwurzelung in den sozialistischen 
Vereinigungen der palästinensischen Arbeiterschaft. 

Dem rechten Flügel der „Poale Zion" („Arbeiter Zions") entspricht 
in Palästina — ungefähr — die „Achduth Haawodah" („Vereinigung 
der Arbeit“). Der aus den Diasporaparteien: „Hapoel Hazait“ („Ver¬ 
einigung der jungen Arbeiter“) und „Zeire Zion" (»Jung Zion“) ge¬ 
bildeten gemeinschaftlichen Organisation der „Hitachduth" entspricht 
in Palästina — ungefähr — die um einige Grade radikalere „Hapoel 
Hazair". Dem linken, ausgesprochen kommunistischen Flügel der 
„Poale Zion" Wiener Richtung, der jetzt um Aufnahme in die IH. Inter¬ 
nationale nachgesucht hat, entspricht in Palästina die (nach den Mai¬ 
pogromen) von der englischen Regierung verfolgte, dezimierte, im 
Lande nur mehr illegal arbeitende Partei der „Boruchows“ (sie ist 
nach dem Gründer der Welt-Poale Zion, dem bedeutenden russischen 
Theoretiker des Sozialismus und Hebraisten benannt), die auch nach 
den Anfangsbuchstaben ihres offiziellen Namens „Miphleget Poalim 
Zionistim Iwriim“ mit etwas verächtlicher Betonung die „Mopsi" ge¬ 
nannt wird. 

Wenn ich bei dieser letzteren Partei nicht mehr zu sagen brauche, 
als daß sie ihrer europäischen Organisation „ungefähr" entspreche, so 
bedeutet das: sie hat ein ganz klar umzirkeltes Programm, nämlich: 
Moskau; und auch: daß all die anderen palästinensischen Parteien, 
durch die geographische Distanz (aber nicht allein durch sie), in der 
sie sich zu den Diaspora-Organisationen befinden, von diesen wesent¬ 
lich abweichen. 

Die „Boruchows" (ihre Zahl ist eine numerisch äußerst geringe) 
lehnen im Prinzip jegliches Mitwirken an öffentlichen, an Regierungs¬ 
arbeiten ab. Sie bekennen sich hierdurch aktiv, wie durch passiven 
Widerstand zum Kampf gegen die englische Macht, die, wie Moskau 
betont, aus Palästina eine englische Kolonie zu formen bestrebt ist. Wenn 
die „Boruchows“ sich trotzdem bei Arbeiten der bekämpften Art be¬ 
tätigen, so tun sie es aus der Erwägung, daß Zellen geschaffen und 
eine gemeinschaftliche Organisation jüdischer und arabischer Arbeiter 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 373 ' 

versucht werden muß. Beim Bahnbau in Haifiä hatten sie bei diesem 
Beginnen einen ausgesprochenen Fehlschlag zu verzeichnen. Auf solch 
primitive Art läßt sich die Erfassung des vollkommenen unentwickelten 
Arabers nicht durchfahren. Die „Boruchows“ betonen ferner: daß 
man den Industriekapitalismus ja wohl nach Palästina hereinlassen 
müsse, und zwar in seiner extremsten, „amerikanischsten“ Form, damit 
definitive Verproletarisierung des jüdischen Arbeiters im Heiligen Land 
ihn auf das Niveau und in engste Gemeinschaft mit dem niederen, 
ausgebeuteten arabischen Landproletarier herabdrücke. Dann, meinen 
die „Boruchows“, und nur dann werde eine organisatorische Ver¬ 
einigung des jüdischen Einwanderers und der eingeborenen — jetzt noch 
feindseligen — Landbevölkerung zu erzielen sein. Sonst, meinen sie, 
— und ich muß sagen, mit vollem Recht! — sei vom Standpunkt des 
konsequenten Marxismus betrachtet, das Problem „Palästina“ unlösbar. 
Sie sehen, nüchterner und klarer als alle anderen, die Katastrophe, 
die ökonomische wie die des Rassen-Zusammenstoßes, über das Land 
hereinbrechen, falls diese letzte Phase: die Kapitalisierung Palästinas, 
gegen die sich heute das Gefühl auflehnt, nicht bald eintritt. Die 
„Boruchows“ beurteilen die Lage des heutigen Palästina sehr pessi¬ 
mistisch. Aus dem, was sie die Krise des palästinischen Zionismus 
nennen, sehen sie keinen Ausweg. Aber sie geben der Meinung Aus¬ 
druck: trotz aller Aussichtslosigkeit sei die Gesamtarbeit in Palästina 
mit allen Mitteln aufrecht zu halten — denn es gäbe kein Zurück! 

Ich komme nun auf das „Ungefähr“ der anderen Parteien Palästinas 
zu sprechen. 

Die Arbeiterparteien haben in Palästina ein ganz anderes Aussehen 
als in der Diaspora. Man wäre versucht zu sagen: Palästina verträgt 
gar kein Parteiwesen. Die Parteien Palästinas entsprechen gar nicht 
der Wirklichkeit. Sie sind lediglich atavistische Erinnerungen an die Zer¬ 
klüftung der Menschheit draußen, in der alten Welt, die im Zersetzungs¬ 
prozeß dahinschwindet. Fragt man nach der spezifischen Richtung, 
dem Programm dieser oder jener, nach der Distanz, in der sie sich 
von der Nachbarpartei rechts oder links befindet, $0 erhält man un¬ 
genügenden Aufschluß. Im Grunde verschwimmen die Konturen der 
palästinensischen Parteien; einzelne Persönlichkeiten, Führer von Gruppen 
färben und bestimmen das Wesen der Parteien viel deutlicher als aus 
Europa geholte oder übernommene Programme. Es verhält sich so: 
daß hier im Urvaterlande sich eine Arbeiterschaar zusammen gefunden 



* 374 Arthur Holitscher., Aufzeichnungen aus Palästina 

hat, die in einer überpersönlichen Gemeinschaft die verwilderte Heimat 
und in ihr die Zukunft aufbauen will. Das Licht über Zion hebt 
die Abschattungen der Parteien auf — es erscheint bei aller Differen¬ 
zierung der Tendenzen und Persönlichkeiten eine geeinte Phalanx 
von Arbeitern Zions. 

Darum könnte ich mir heute, in Tel-Awiw oder Jerusalem, wohl 
irgendwelche Verzweiflungsausbrüche von Chaluzim vorstellen — aber 
keinen Streik. Darum gibt es in der palästinensischen Landwirtschaft 
keinen Achtstundentag. Darum würde ich, obzwar in Palästina Men¬ 
schen von höchster Intelligenz beisammen sind, Rebellen gegen jede 
Vermechanisierung des Arbeitsprozesses, das heißt des werktätigen 
Individuums — der Einführung des Taylorsystems ohne Warnung bei¬ 
stimmen. Denn diesen Arbeitern ist ja um ihre Idee, ihre Illusion 
Erez Israel zu tun. (Nun, die mitgebrachte russische, die angestammte 
Ghetto-Indolenz, Trägheit der „breiten Natur", Nachgeben der Ner¬ 
ven fügt der Arbeit Palästinas, auch ohne aktive Sabotage, genug 
Schaden zu.) 

Russisch ist auch, daß es in Palästina letzten Endes so viele 
Parteien gibt wie Arbeiter. Jeder hat seine Theorie der Arbeit, seiner 
eigenen, der seiner Gruppe, der der Gesamtheit. Im Galuth legte er 
die heiligen Bücher aus, in Palästina Marx. 

Palästina befindet sich, ich wiederhole es, noch im Stadium des 
Experimentes. Für das Experiment bietet die Arbeit den ergiebigsten 
Boden. Vor allem aber die Kolonisationsarbeit. 

Ich bin in etwa zwanzig Siedlungen, Arbeitergruppen, Kolonien 
Palästinas herumgekommen; habe das Land, den Boden der Ebenen 
und der Berge in seinem wüsten Urzustand, im Stadium der ersten 
Vorbereitungen zur Bebauung und auch in jenem der Reife und des 
Triumphs gesehen. 

An zwanzig Orten habe ich Menschen im Schweiße ihrer Stirnen 
härteste körperliche Arbeit verrichten sehen — aber der Fluch des 
verlorenen Paradieses lastete mit nichten auf dieser Arbeit — denn ich 
habe diese selben Menschen wenige Tage nachher, auf dem Landarbeiter- 
Kongreß in HaifFa, ihre Arbeitsmethoden, Theorien, Entdeckungen 
mit voller Energie und hinreißender Kraft der Überzeugung vortragen 
und verteidigen gehört. 

Und da sich in Palästina jede Arbeitsmethode in der Formation 
der Gemeinschaft, die die Arbeit ausführt, widerspiegelt, diese jene. 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 375 

jene diese entscheidend beeinflußt — weiß ich nun, zugleich Aber 
Palästina, aber auch, etwas genauer, als ich es wußte, ehe ich den 
Menschen Palästinas begegnet bin, über den Sinn dieser Zeit 
Bescheid. 

Die soziale und kolonisatorische Bewegung der jungen Arbeiter 
verfolgt heute in Palästina zwei Richtungen: 

die eine strebt auf gemeinsam bewirtschaftetem Gebiet die große 
Kwuzah (Gruppe), das heißt: die große Gemeinschaft an, 

die andere, die der Moschaw Awdim (Arbeitersiedlung), das 
engere und innige Zusammenwirken kleiner Familiengruppen, von 
denen jede ihr Stück Land selbständig bewirtschaftet. 

Die große, kooperative Gemeinschaft vereinigt unter ko mmunis tischen 
Prinzipien alle Berufsgattungen in zentralisierter Formation zu gemein¬ 
samer Produktion und Konsum, 

die Siedlungsgenossenschaft, die mehr auf Privateigentum basiert, 
erinnert in ihrer Methode des Zusammenwirkens kleiner Gemein¬ 
schaften stellenweise, man konnte sagen, an das utopische Ideal der 
anarchistischen Föderation auf großem Gebiet frei beisammenlebender 
Nachbargruppen. 

Dies wäre auch so zu formulieren: im heutigen Palästina wollen 
sich zwei Arten von Landwirtschaft durchsetzen, 
die extensive der großen Kooperative 

und die intensive, die allein die kleine Gruppe durchführen kann. 
Für die letztere spricht vieles. Praktische Erwägungen. Manche 
wichtige Pflanzenart, die Durra, der Sesam, deren Anbau bisher ver¬ 
nachlässigt worden ist, Gemüsearten, insbesondere die Aubergine, ein 
bekömmliches Nahrungsmittel, gedeihen nur bei intensiver Wirtschaft. 
Kleinviehzucht, Bienen und Raupenzucht erfordern den Kleinbetrieb. 
Auch ist die Regelung der Arbeit bei solcher Art von Landbewirt¬ 
schaftung leichter, da Sommer- wie Winterarbeit ungefähr die gleiche 
Zahl von Arbeitern erfordert. Während bei extensiver Wirtschaft 
die Erntezeit Zuziehung von Hilfsarbeitern nötig macht, bleiben im 
Winter viele von den vereinigten Arbeitern der Kwuzah unbeschäftigt. 

Für die große Gemeinschaft aber spricht, mit der Notwendigkeit 
der Bebauung und Bepflanzung ausgedehnter Gebiete, vor allem der 
Geist dieser Zeit, der die Menschheit vom Privateigentum zum 
Sozialismus, von der kleinen Familiengruppe zur großen Kooperative 



\76 Arthur Holttscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

führt, in der das Eigentum des einzelnen in dem der Allgemeinheit 
aufgegangen ist. 

Die Arbeitersiedlung findet ihre Anhänger hauptsächlich unter den 
älteren Arbeitern Palästinas, vor allem unter den verheirateten. Die 
jungen Einwanderer und Einwandererinnen der Nachkriegszeit sind be¬ 
geisterte Bejaher der großen Kwuzah, der kommunistischen Gemein¬ 
schaft. 

Der Geist dieser Zeit hat ja den jungen Chaluz aus der alten Welt, 
in der er das Scheitern der hergebrachten Wirtschaftssysteme mit¬ 
erlebt hat, nach Palästina gebracht. Wie sollte er daran denken, die 
verendende Welt hierher in die neue herflber zu pflanzen? Er läßt 
sich daher auch zu keiner Art von Wirtschaft zwingen, benutzen oder 
mißbrauchen, die seinen sozialen Prinzipien widerspricht. Er opfert 
sich gern für das Land, in dem er seiner Gesinnung gemäß leben 
kann. Die zionistische Kommission ist klug genug, den Chaluz ge¬ 
währen zu lassen. Dem Fortschritt feindlich Gesonnene murren: die 
Kommission sei ja merkwürdig scharf links gerichtet Aber jeder, der 
die Verhältnisse kennt, weiß: die Arbeitswilligkeit, die Freude an seiner 
Arbeit, der Opfersinn des Chaluz ist der einzige Posten auf der Haben- 
Seite der palästinischen Wirtschaft dieser Tage. 

Die zionistische Kommission hat der großen Kwuzah wie der 
Moschaw Awdim auf dem Boden des jüdischen Nationalfonds aus¬ 
gedehnte Gebiete zur Durchführung ihrer Pläne überlassen. Beide be¬ 
finden sich in der fruchtbaren Jesreel-Ebene Nieder-Galiläas; sie heißen 
Nurriss und Mallul. 

Die großen sozialen Experimente Palästinas werden auf dem Boden des 
Jüdischen Nationalfonds unternommen. Die Kommunisten der Kwuzah 
wie die Siedler Malluls leben von dem, was ihnen die zionistische 
Kommission aus den amerikanischen Sammlungen zuweist. Jede Art 
Arbeit, das für den Ankauf von Inventar nötige Geld, die Kredite 
für die Bewirtschaftung des Bodens, die gesamte Existenz der Arbeiter 
und ihrer Organisationen, Wohl und Wehe des jüdischen Palästinas 
fließt aus freiwilligen Spenden philanthropisch gesinnter Zionisten in 
der Diaspora; nur zum kleinsten Teil aus Beiträgen der jüdischen 
Arbeiterparteien der Weltorganisation. 

Das ist das merkwürdige, zweideutige, beunruhigende Problem des 
palästinischen Sozialismus! 

Es erhebt sich vor dem aufrichtigen und zu Ende denkenden Sozia- 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 577 

listen, der sich diesem Problem gegenübersiebt, die Gewissensfrage: darfst 
du zu solcher Art Sozialismus „Ja“ sagen, für sie deine Stimme erheben? 
oder wäre es nicht besser, jene Quelle privater Wohltätigkeit versiegte 
und das jüdische Palästina verdorrte, in der Katastrophe, die die einen 
fürchten, die anderen herbeisehnen? Haben die Genossen mit ihrem 
„Es gibt kein Zurück!“ recht, oder gibt es heute noch ein Zurück? 

A.m stärksten interessiert den Sozialisten, der sich in Palästina um¬ 
sieht, das neuartige überraschende Gebilde der „Gdut Haawodah“, 
der Arbeitsarmee. 

Das ist eine radikale Formation, nach russischem Muster aufgebaut 
und von rein kommunistischen Grundsätzen bestimmt; zugleich eine 
Arbeiter- und militärische Organisation, die ihre Mitglieder unter 
strengen Bedingungen äußerer und innerer Disziplin zur Arbeit und 
zum Selbstschutz unter Waffen anhält 

Die Idee zur Gdut entstammt dem russisch-jüdischen Legionär 
Josef Trumpeldor, dem Märtyrer der jungen palästinensischen Koloni¬ 
sation, der vor zwei Jahren bei der Verteidigung der kleinen ober- 
galiläischen Niederlassung Tel-Chai gegen marodierende Beduinen 
gefallen ist Aus russischen Gefängnissen führte ihn die Revolution 
in die Freiheit Er kämpfte als Kapitän im englischen „Zion Mule¬ 
corps“ an vielen Fronten und zog mit Allenby in Jerusalem ein. Ich 
habe sein Bild in ganz Palästina gesehen. In Zelten, Baracken, Stein¬ 
häusern, neben denen Weizmanns, des Präsidenten und Herzls, des 
Schöpfers der Zionistischen Weltorganisation — an allen Orten, wo 
Arbeiter lebten und sich versammelten, öfter, als die der beiden anderen. 

Das geistige Haupt, Führer und Apostel der heurigen Gdut ist 
der junge russische Jude Jehuda Kopelewitsch, Freund und Genosse, 
auch Kerkergenosse Trumpeldors. 

Die Gdut — Kern der „großen Kwuzah“ von Nurriss — arbeitet 
in disziplinierten Bataillonen auf dem Lande, das ihr vom Jüdischen 
Narionalfonds zur Verfügung gestellt wird; sie übernimmt auch die 
Straßenarbeit, die ihr von der englischen Regierung, die Entwässerungs-, 
Bau- und Pflanzungsarbeiten, die ihr von der Kommission wie von 
den Kolonisten zugewiesen werden. Ihr Grundsatz ist, und sie hofft 
ihn in Nurriss durchführen zu können, daß die Gemeinschaft alles in 
eigenen Werkstätten zu produzieren hat, was für ihren Bedarf not¬ 
wendig ist — vorerst Kleider und Schuhe, später landwirtschaftliche 
Geräte usw. Wie die Einkünfte aus der gemeinsamen Arbeit, sind 



378 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

auch die Ausgaben zentralisiert. Die Gdut entsendet die Genossen, 
die sich ihr angeschlossen haben, zu jeder Art von Arbeit, nach Ma߬ 
gabe der Notwendigkeit der Arbeit und des Interesse der Genossen. 
Auch Araber nimmt die Gdut auf, falls diese mit den Grundprinzipien 
der Organisation einverstanden sind und sich der Disziplin fügen wollen. 
Nach Ablauf eines Probemonats erteilt der geschäftsführende Ausschuß 
die Genehmigung zur Aufnahme des Genossen, der Genossin in die 
örtliche Gruppe, der sie angehören. Diese verstreuten örtlichen Gruppen 
entsenden Delegierte in die Zentrale, die aus sich den geschäftsftihrenden 
Ausschuß wählt. Die Zentrale teilt nicht nur die Arbeit an die Mit¬ 
glieder aus, sondern „befriedigt auch die Kulturbedürfhisse, deren ihre 
Mitglieder im Lebenskämpfe bedürfen". Sie sorgt für Bibliothek, 
Vorträge, Unterricht, Kinoaufführungen usw. Bei mangelhaften Er¬ 
trägnissen örtlicher Gruppen steht dem zentralen Rat das Recht zu, 
solche Gruppen aufzulösen und unter die anderen Gruppen der Organi¬ 
sation zu verteilen. Jedes Mitglied der Gdut hat sich im Waffen¬ 
dienst für die Verteidigung der Gemeinschaft auszubilden und zu ver¬ 
vollkommnen. In dem Fragebogen, den der Aufzunehmende ausfüllt, steht 
neben der Rubrik: in welchem landwirtschaftlichen Berufe, Gewerbe 
oder Kunstzweig der Genosse in der Heimat gearbeitet habe! diese: bei 
welcher Waffengattung oder Sanitätsdienst er oder sie gedient habe! 

Auf diese Weise — von der Arbeit für die Gemeinschaft zum (wie ich 
aus führen werde sehr nötigen) Waffenschutz dieser Arbeit und dieser 
Gemeinschaft übergehend — will die Gdut eine ethische Form des 
Militarismus schaffen. 

Die Gdut — an ihrer Spitze steht außer Kopelewitsch der an¬ 
erkannte Organisator von Nurriss, der Ukrainer Lefkowitsch — ver¬ 
flögt schon heute über eine große Mitgliederzahl, und ihr Ansehen 
unter den jungen Arbeitern befestigt sich von Tag zu Tag. Sie wird 
durch das Beispiel ihrer Arbeit und ihrer sittlichen Auffassung des 
Problems der „großen Gruppe" die Arbeiterorganisationen Palästinas 
sicherlich beeinflussen. Man sagte mir, daß sie bereits eine Ver¬ 
einheitlichung aller Arbeitstarife in Palästina erzielt habe. Für uns Nicht¬ 
palästinenser ist sie wichtig, weil sie, an dem entgegengesetzten Ende 
anhebend, gleiche Ziele verfolgt, wie die „Arbeitsarmee" Trotzkis, die 
von der Demobilisierung stehender Kampfformationen des Roten Heeres 
ihre Bataillone bezieht. Ob die Zentralisierung radikalster Form in 
Palästina berechtigt und befähigt ist, die Gesamtarbeit des Landes zu 
lenken, darüber muß die Zukunft entscheiden. Daß dieser Wille zur 



Arthur Holttscber, Aufzeichnungen aus Palästina 379 

Zentralisierung sich (wie in Rußland) selber ad absurdum führen kann, 
bewies auf dem Kongreß von HaifFa ein Antrag des Delegierten 
Bin Gorion (eines Mannes von unbestreitbar interessanten Einfallen, doch 
mit unangenehmem „Kommissärs-Beigeschmack), der von jedem in der 
Gdut Organisierten bedingungslose Unterwerfung unter die Verfügungen 
der Zentrale, eine Art Mizraim mit Tarifen, forderte. Über diese 
wilde Zumutung ging der Kongreß ohne Debatte zur Tagesordnung über. 

Immerhin kann man in Palästina hitzige Übertreibungen an sich 
gesunder Theorien oft beobachten. Die Kommission hätte solchen 
Fällen gegenüber einen schweren Stand — es erweist sich aber, daß die 
Notwendigkeiten des Lebens, Einsicht in die gegebenen Verhältnisse 
des Landes und der in den Menschen selber begründeten Bedingungen 
der Entwicklung die jungen Heißsporne oft zur Nachgiebigkeit be¬ 
stimmen. Die Kommission und die junge Arbeiterschaft kommen 
sich sozusagen auf halbem Wege entgegen und die Arbeit wird ge¬ 
fördert. Im Grunde handelt es sich ja um diese Arbeit allein. 

Gespräch zwischen Kopelewitsch und mir, vor dem landwirtschaft¬ 
lichen Museum in Jerusalem. 

Ich: „Was seid ihr für Kommunisten. Wie die alten Chalukka- 
leute hier in den Bethäusem ihr Leben aus Spenden frommer Wohl¬ 
täter fristen, wie die alten Kolonisten anno dazumal ihren Unterhalt 
aus den Fonds der französischen „Alliance“, des Deutschen Hilfs¬ 
vereins, aus den Millionen des Barons Rothschild usw. zogen, so baut 
ihr euren Kommunismus auf Beiträgen auf, die amerikanische Kapita¬ 
listen einer im Grunde gutbürgerlichen Organisation, der zionistischen 
Kommission überweisen. Chalukka-Kommunistenü Der Kommunismus 
expropriiert in anderen Ländern den Kapitalismus, den er dort vor¬ 
findet. Ihr expropriiert kleinweise den amerikanischen Kapitalisten, 
je nach dem Posteinlauf, die Gutmütigkeit oder das „Wir wollen nicht 
wissen, was mit unserem Geld geschieht“ der amerikanischen Zionisten!“ 

Kopelewitsch: „Der Kapitalismus muß uns die Möglichkeit schaffen, 
daß wir kommunistisch leben können.“ 

Das Jüdische Landwirtschaftsmuseum in Jerusalem, eine Schöpfung 
des Leiters der zionistischen Kolonisationsarbeit, Jakob Ettinger, zeigt 
in mustergültiger Übersichtlichkeit und Vollendung neben den Ge¬ 
steins- und Tierarten des Landes Proben von allem, was dem steinigen 
Boden Palästinas abgerungen werden kann: Korn, Obst, Baum. 



380 Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus "Palästina 

Die Schrift, die Legende, aber auch der Chronist Flavius Josephus, 
berichten von den herrlichen Wäldern, Gärten, wogenden Feldern und 
üppigen Wiesen des Landes. Wo sind sie geblieben? Wo Kanaan, 
Mamre, der Eichenforst des heiligen Tabor? 

Stein, Fels, Sumpf; hier und dort wild ein Fleck Unterholz, zarte 
Wurzeln von Ziegenherden zernagt und vernichtet; ein paar Oliven¬ 
bäume in Gruppen; von hohen stacheligen Kaktushecken umgebene 
Baumpflanzungen, Getreidevierecke arabischer Bauern; und im Lande 
verstreut, auf Bergen, in Ebenen, Oasen, vereinzelt grüne Landstriche, 
Eukalyptushaine, Orangen, Bananen, Traubengärten jüdischer Siedler 
und Templer-Kolonisten. 

Auf der Reise nach Jaffa bestieg ich in Port-Said das kleine Schiff 
„Merano“ des Triester Lloyd. Wir blieben anderthalb Tage liegen, 
weil wir Bretter zu laden hatten. Auf den Brettern waren die Worte 
„Orangenkisten für Jaffa“ zu lesen. Das Holz kam aus Österreich. 
Es gibt also in Palästina keinen Wald. 

Der Boden hat aber auch keine Kohle, kein öl, kein Eisen. Ja, 
sogar die Steine taugen an Orten, wo man sie zum Bauen gut brauchen 
könnte, nicht viel. In Tel-Awiw am Strand entsteht eine Silikat- 
Ziegelfabrik. Der Stein um Jaffa ist zu porös. 

In die Kolonien, die seit vierzig »Jahren und darüber bestehen, 
muß Gefrierfleisch aus Australien, müssen Eier, Butter, Reis, Kartoffeln, 
ja Tomaten (aus Ägypten) eingeführt werden. (Dafür findet man in 
Kairo, in Alexandrien, eine Tagereise von den Orangengärten Jaffas 
bei Obsthändlern Apfelsinen aus Kalifornien und Florida). 

Was produzieren denn diese alten Kolonien, die vierzigjährigen? 
In den Kellereien des Barons Rothschild, in Rischon-le-Zion, ruht 
der schwere süße Wein Palästinas. Die Ausfuhr stockt — Amerika 
ist „trocken“, das ägyptische Pfund, die Währung des Landes, steht 
hoch, die Welt ist arm. 

Der Jude deckt, auf dem Land, in den Städten seinen Bedarf an 
Lebensmitteln zumeist beim arabischen Krämer, im Bazar. Aber der 
Araber kauft nicht beim Juden. 

Der Araber ist überhaupt bedürfnislos. In Tennen trampelt er das 
Korn aus den Halmen, mahlt es in Mühlen, wie die es war, an deren 
Rad gebunden Simson neben dem Ochsen im Kreise lief. Seine 
Nahrung sind flache Weizenfladen, Melonen und Kaffee. Seine Zelte 
sind grobe Matten auf Stangen, sein Trinkgefäß enthaarter Ziegenbalg. 
Lebt er in Dörfern, so sind seine Hütten aus Lehm und wenn es 



Arthur Holitscher, Aufrechnungen aus Palästina 381 


zwei Tage hintereinander geregnet hat, so schmilzt solch ein Dorf 
zu einer Kotlache nieder. Das Klima lost die Wohnungsfrage des 
Arabers auf die einfachste Weise — kaum dreißig Tage im Jahr ist 
der Aufenthalt unter schützendem Dach Notwendigkeit. 

Ein Dutzend EfFendis, das heißt wohlhabende eingesessene Familien 
besitzen das Land, das der Nationalfonds für die Kolonisation braucht. 
Der EfFendi läßt von seinem verelendeten Pächter oder Arbeiter nur 
einen geringfügigen Bruchteil seines Bodens bearbeiten, der Rest liegt 
brach. Verkauft er sein Land, so fährt der EfFendi nach Kairo, wenn 
möglich ohne seine Weiber, und sieht dort gute Tage. 

Hartnäckige Arbeit vermag aus dem Boden alles zu ziehen, was 
große Menschenmassen im Lande für ihre Nahrung, Kleidung, alle 
Erfordernisse ihres leiblichen Lebens bedürfen. In manch einer von 
den zwanzig Siedlungen, die ich in Judäas Gebirg, im Alluvialgebiet 
des nahen Transjordan südlich des Genezarethsees, in der Jesreel- 
Ebene besucht habe, sprossen schon wieder die Bäume, keimte das Ge¬ 
treide, reiften die Früchte des sagenhaften versunkenen Kanaan. 

Ich begleitete Jakob Ettinger auf einer Inspektionsreise durch die 
Siedlungen Galiläas. Agronom und Sozialist; Kenner des Bodens und 
der Menschen; Berater nicht nur, sondern Freund der Arbeiter, die 
ihm vertrauen und denen er hilft. Menschen einer wunderbar reinen 
und vollwertigen Art begegnet man in Palästina; ich habe manch 
einen in der zionistischen Kommission an ge troffen; ihre Tätigkeit 
löst die zuweilen beklemmende Unstimmigkeit auf, die sich bei der 
Gegenüberstellung: Chaluz — Exekutive einstellt. 

Ettinger hatte den speziellen Auftrag, Siedlungen, deren Ertrag den 
Erwartungen der Kommission nicht entsprach, auf ihren Strukturfehler 
zu untersuchen; sie durch technische Hilfsmittel zu sanieren; im 
ärgsten Falle aufzulösen und den Siedlern diese Notwendigkeit ver¬ 
ständlich zu machen. Wir kamen in Siedlungen, in denen gemischte 
Farmarbeit, Pflanzung und Viehzucht eingeführt werden sollte. Hier 
gab es oft tief in das private Leben der Siedler einschneidende Fragen 
zu erörtern — Frauen mußten zugezogen werden, die sich auf Gemüse¬ 
bau und Kleinvieh verstanden; den Siedlern mußte nahegelegt werden, 
daß Familiengründung zur Stabilisirung der kleinen Niederlassung 
vonnöten sei, weil das Kommen und Gehen der ledigen Genossen, 
die hier nur kurze Zeit arbeiteten und es dann anderswo versuchten, 
die Farm um jede Möglichkeit der Entwicklung brachte. In anderen 



38z Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

Siedlungen war die persönliche Sicherheit der kleinen Zahl Arbeiter, 
auf weiter wilder Öde, durch Beduinenstämme in den umliegenden 
Bergen gefährdet — solche Siedlungen mußten verstärkt oder verlegt 
werden; oft war solche Maßregel auch aus Gründen der Intensivierung 
der Arbeit durch die größere Arbeiterzahl nötig. Bei Erörterungen 
dieser Art ging’s nicht ohne Herzbrechen ab. Unser Weg führte aber 
auch in Siedlungen, in denen es lediglich Berichte, Wünsche und Vor¬ 
schläge der Siedler entgegenzunehmen galt. 

Wiederholt hielten wir uns in den beiden berühmten Siedlungen 
Kinereth und Degania auf, die in vielfacher Beziehung für das ge¬ 
samte Siedlungsproblem Palästinas charakterisch sind. — 

Degania wurde vor zwölf Jahren von der Jüdischen Kolonisations¬ 
gesellschaft auf Jordantals-Boden gegründet und an eine Arbeiter¬ 
genossenschaft abgegeben, die dort nach ausgesprochen kommunistischem 
Prinzip lebt und arbeitet, mit Erfolg arbeitet und in mustergültiger 
Harmonie lebt. Sie ist bereits seit mehreren Jahren imstande, die 
Hälfte ihres Reingewinns an den Nationalfonds zurückzuzahlen, und 
amortisiert auf diese Weise die in Land, Häuser und Geräte gesteckten 
Summen der Kommission. Die Bodenfläche dieser Siedlung beträgt 
etwas über dreitausend Dunam (der Dunam — gleich neunhundert 
Quadratmeter). 

Deganias Erfolg hat die Kommission zum Ankauf eines weiteren 
großen Landstriches in der Jordanebene veranlaßt, so daß sich dort, 
in meilenweiten Abständen von der ursprünglichen, jetzt Degania 
Aleph genannten Siedlung, die kleineren Farmen Degania Beth und 
Degania Gimmel gebildet haben. 

Degania Aleph besitzt ein steinernes Haus, große Stallungen, schönen 
parkartigen Garten, in dem Orangen und Mandelbäume blühen; wo 
ehemals Sumpf war, um die Siedlung herum, erhebt sich jetzt ein ge¬ 
waltiger Eukalyptushain; über den Jordanarm, der aus dem Genezareth- 
see an der Siedlung vorüberfließt, bauen die Arbeiter Deganias eine 
Brücke. In dieser gut bewirtschafteten und glücklich gedeihenden 
Siedlung von etwa fünfzig Arbeitern (darunter fünf Familien — es 
gibt auch einen Kindergarten von sechs, in Degania geborenen Kleinen) 
hat sich eine so innige Gesinnungs- und Arbeitsgemeinschaft aus¬ 
gebildet, daß das sozialreligiöse Prinzip des Kommunismus gleichsam 
aus dem Boden gewachsen, wie ein starker Baum Menschen und 
Raum überschattet Die glückliche Harmonie der meist jüngeren 
Leute fördert die ökonomischen Bedingungen. Die Arbeiter sind in 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 383 

ihrer Arbeitsteilung aufeinander abgestimmt, Abwanderung findet nur 
selten statt, und der Ruf der Gruppe bewirkt, daß sich Zuwachs aus 
«len besten und tüchtigsten Elementen der palästinensischen Arbeiter¬ 
schaft einfindet. 

Indes birgt dieser Idealzustand eine nicht zu unterschätzende Gefahr 
in sich. Der Umstand: daß man durch seine Arbeit imstande war, 
eine „Ehrenschuld“ gegenüber der Kommission abzutragen, ist schon 
ein Hebel privatkapitalistischen Ehrgeizes, der die Siedlung über andere 
hinauf hebt und sie von der im großen ganzen schwer ringenden 
und mit Verlusten arbeitenden Mehrzahl der jüdischen Siedlungen des 
Landes abtrennt. Man darf sagen, daß sich in Siedlungen, die sich 
selbst erhalten, ohne Defizit arbeiten, sehr bald eine peinlich indivi¬ 
dualistische Auffassung des Problems der Gesamtheit und des Besitzes 
an eigenem Boden einstellen kann. Widersprüche dieser spezifisch 
palästinensischen Art (Kommunismus der kleinen Gruppe mit privat¬ 
kapitalistischem Einschlag) begegnet man heute oft; es ist das Prinzip: 
Mallul; es zu bekämpfen wird Nurriss aufgerichtet, strebt die Gdut, 
die Armee der Arbeit an. 

In Degania Gimmel, eine halbe Stunde Autofahrt von Aleph, haben 
sich zwölf junge Menschen niedergelassen. Der wiederholte Besuch 
dieser kleinen Siedlung in der weiten Einöde des Transjordantals wird 
mir, daß weiß ich, lange in Erinnerung bleiben. 

Diese zwölf jungen Menschen — Ukrainer und Russen, darunter vier 
Frauen — haben das riesige Gebiet ihrer Siedlung selbständig bearbeitet, 
beackert, bepflanzt. Die Freude an dem Zusammensein, der gemein¬ 
schaftlichen Arbeit und Verantwortung prägte sich schon in der Sauber¬ 
keit und Wohnlichkeit ihrer kleinen primitiven Holzhütten aus, in denen 
ihre Schlafräume sich befanden, der Schuppen für Geräte, der Speise- 
und Leseraum, darin unsere Beratung vor sich ging. Von den Zwölf 
kamen nur sechs, vier Männer, zwei Frauen, zu uns herein, die anderen 
blieben draußen bei ihrer Arbeit, obzwar der Tag schon sank, obzwar 
sie wußten, daß der Besuch Ettingers ihre vitalsten Interessen betraf. 
Wir wurden mit Tee und Kuchen bewirtet. Während die Verhand¬ 
lungen begannen, sah ich mich in der Baracke um. Ich fand 
eine kleine Bibliothek, deren Zusammensetzung charakteristisch genug 
war — ich habe in vielen Hütten und Zelten ungefähr dieselbe fest¬ 
stellen können: hebräische Bücher, mitgebrachte, zumeist über Land¬ 
wirtschaft, Chemie; Übersetzungen moderner Skandinavier, Originale 
von Achad Haam, deutsche: die psychoanalytischen Schriften von 



384 Arthur Holttscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

Freud; ein Band Nietzsche, ein Band Tagore. Freud und Marx — 
der eiserne Bestand der Chaluz-Bibliothek! Sehr oft Bficher und Bro¬ 
schüren von Hans Blüher. (Viele deutsche und österreichische Chaluzim, 
aus der Wandervogel-, der freideutschen, der Blauweiß-Bewegung, 
erkundigten sich bei mir nach Blüher, seinen neuen Schriften, seinen 
Wandlungen, Anwandlungen.) 

Draußen um die kleine Siedlung zog sich, nach allen Regeln der 
Kunst und unter Aufsicht englischer Offiziere verfertigt, ein Schützen¬ 
graben. Die jungen Menschen von Degania Gimmel wußten nur zu 
gut, welche Gefahr sie zu jeder Stunde des Tages, in der sie hinter 
ihrem Pflug, der Nacht, in der sie mit dem Gewehr auf dem Rücken 
um ihre Hütten herumgingen, bedrohte. Die Araberstämme in den 
Bergen, der Transjordan! Und sie waren zwölf. Aber sie wider¬ 
standen. Widersetzten sich. Sie wollten nicht aufgelöst, nicht mit 
dem größeren Degania Beth vereint werden, sie wollten bei ihrer 
Erde bleiben, die sie, hier draußen, weit weg von den anderen, 
brauchte. Sie bearbeiteten ihr Stück, ein großes, weites Stück Landes, 
das sehr viel Pflege erforderte, sie hafteten solidarisch für ihr Stück 
Land. Brachte man sie weg, verfiel es. Hier, in der Einöde, waren 
sie zu Hause. In der Nachbarschaft jener Bergstämme. Seit einem 
Jahr schon verteidigten sie, mit Pflug und Gewehr, das Land, das 
ihnen zur Bebauung überlassen worden war, ihres. Eine föderalistische 
Zusammenarbeit mit Beth und Aleph war durch den Zusammenhang 
der drei Deganioth gegeben. Aber sie wollten Wege und Methoden 
finden, um ihre Arbeit zu intensivieren, stärker und konsequenter zu 
gestalten, um ihre kleine Gemeinschaft, so wie sie war, aufrecht zu 
erhalten, tun nicht in eine andere, fremde Gruppe aufgehen zu 
müssen. 

Hier sah ich die Verwurzelung des jungen Chaluz mit dem Boden 
der Urväter. Hier erlebte ich es an einem rührenden Beispiel, welche 
Art Selbständigkeit der Boden, die Idee, der Glaube in diesen aus 
dem Exil Stammenden, Verfolgten, Bedrückten, Heimatlosen entwickelt 
hatte. Kreuzfahrer . . . Puritaner, vom Felsen Plymouths ausgegangen, 
um in der Wildnis, von feindlichen Stämmen umlauert, ein Gottes¬ 
reich durch Arbeit aufzurichten . . . aber diese da — keine Zeloten, 
Kinder des Friedens, keine starrköpfigen, verbohrten Sektierer, sondern 
von herrlichem Frohsinn erfüllte Söhne, Töchter eines neuen Zeit¬ 
alters. Opfer bringen sie dar, mit jedem Atemzuge, jedem neuen 
Morgen, der sie noch leben sieht in der gefährdeten Einöde. Opfer 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 585 

bringend: barte Arbeit, Entbehrung, körperliche Not und Nieder¬ 
brechen, von herrlicher Zuversicht erfüllt, bauen sie den Altar des 
Dritten Tempels auf den Ebenen Erez Israels. 

Viele frohe, glückliche Menschen leben, jung, stark, unter der Sonne 
der alten steinigen Heimat. Ich sah nur diese jungen, arbeitenden 
Menschen an, die, um unseren Tisch sitzend, mit dem Leiter ihrer 
Arbeit, ihrem Freund, ernst und ruhig, aber im Innersten aufgewühlt, 
über die tiefsten wichtigsten Fragen ihres Stück Landes, ihrer Arbeit, 
ihrer inneren Existenz sprachen. Es waren die reinsten, schönsten 
jungen Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe. 

Hoch auf dem Berge, auf einem mit Mühe dem Felsgeröll ab¬ 
gerungenen Plateau über der Siedlung Kinereth, am Südwestende des 
Genezarethsecs leben fünfundzwanzig junge Arbeiter und Arbeiterinnen. 
Vom Sturmwind umbraust, der aus der tiefen Schlucht des Jordan¬ 
tales, von den Bergen Gileads herüberfliegt, bauen sie dort Terrassen 
aus Steinen, die sie aus dem Boden heben, herbeischleppen, aufeinander- 
türmen, als Schutzmauem für öl- und Mandelbäume, Trauben und 
Feigenbäume, die sie dort pflanzen werden. Seit acht Monaten leben 
sie in windverwehten Baracken, kämpfen mit Stein und Wind und 
den Widerständen des schwer ergründlichen tückischen Bodens um 
Ertrag und Erfolg ihrer Arbeit. Auch diese war eine frohe und 
glückliche Gruppe. Sie war dort oben vom Sumpffieber verschont; 
erfrischt von Wind und Kühle, ihres Lebens froh. Instruktoren sollten 
hierher, gemischte Farmwirtschaft, neue Siedler, die die Kolonie aus¬ 
bauen, festigen. Berg-Kinereth war mit allem einverstanden. — 

Aber unten, im alten Kinereth, der weitberühmten alten Siedlung 
Galiläas, der ältesten am Genezarethsee, blickten wir in betrübte 
Gesichter. 

Diese Kolonie will nicht recht gedeihen. Der Bodenbesitz Kinereths 
umfaßt sechsthalbtausend Dunam, es stehen steinerne Häuser da, rings¬ 
um sind große, ertragreiche Gemüseplantagen angelegt (hier war auch 
die Lchrfarm für Mädchen eingerichtet gewesen), der Hof mit Stallungen 
gibt Möglichkeit zur gemischten Farmarbeit unter den günstigsten 
Bedingungen — aber es ist ein Kommen und Gehen in dieser Kolonie^ 
eine Unrast und Mangel an Zusammenhalt, der die Arbeit hemmt 
und zuweilen ganz unterbricht. Sind es intime Momente der Unver¬ 
einbarkeit der Temperamente und Charaktere, die diese Kolonie 
zum Sorgenkind Palästinas machen? Viele von den ersten Ansiedlern 

*5 



5 8 6 Arthur Holitscber, Aufzeichnungen aus Palästina 

sind tot, die neuen können zusammen mit den alten, eingesessenen, 
die Form, die innere Form des Zusammenhaltes nicht herstellen, die 
allein alles Äußere, alle äußeren ökonomischen Formen der Existenz 
beeinflußt und bestimmt Solche tragischen Unstimmigkeiten, Zwie¬ 
spalte, vernichten alle gtinsdgen Vorbedingungen, heben jede Möglich¬ 
keit der Sanierung durch äußere Mittel und Methoden auf. Ernsteste 
Arbeit wird vertan; der Boden mag hergeben, was und soviel er 
kann, die Siedlung verdorrt. Es ist, als hätte jede Gruppe, jede dieser 
Kolonien ihren Schutzgeist oder Dämon. Die tüchtigsten, zum Opfer 
willigsten und fähigsten Menschen werden an Orten wie diesem 
schwach, matt, werfen bald die Flinte ins Korn, nicht selten das 
Leben von sich. Die Entbehrungen, die die Arbeit dem einzelnen 
auferlegt, werden nicht freudig getragen, weil jeder sich einzeln von 
ihnen belastet fühlt; die Frage reckt sich hoch — ob die Gemein¬ 
schaft diese Last rechtfertigt? Viele junge Menschen fliehen aus 
solchen Gemeinschaften zurück in das Land des Exils, woher sie 
kamen, verderben dort Die Übriggebliebenen aber bedrückt Ver¬ 
zweiflung. 

Auf meinen Fahrten durch die Kolonien und Siedlungen Palästinas 
bin ich mancher Tragödie dieser Art begegnet. Es sind lebende, 
sehr wache und empfindliche Menschen, die das heutige Palästina an 
der Arbeit sieht. Ihre Schicksale sind oft schwer zu lenken. Es be¬ 
darf der ganzen, vollen Menschlichkeit und Klugheit von Männern, 
wie Ettinger und des Aufbauers Palästinas, Arthur Ruppin, um hier 
Rat und Hilfe zu schaffen. 

Im benachbarten, glücklichen Degania lebt und dichtet der alte 
Arbeiter Gordon, verdienter Patriarch der Chaluzbewegung. Hat er 
an das Schicksal jener Kolonie drüben am See Galiläas gedacht, als 
er, nach einem ukrainischen Lied, dieses neu dichtete ... 

„Auf dem Pripjetschick 
Brennt a Feierl, 

Un dos Herz is kalt — 

Weil die Alten sennen 
Toiten schon lang — 

Un die Jungen alt . . .** 

Oft hörte ich die melancholische Weise, an Freitagabenden, an 
Samstagabenden, in Zelten und Baracken singen. An vielen Orten, 
von jungen Arbeitern, jungen Mädchen, frischen Stimmen und auch 
müden. 




Arthur Holitsehet', Aufzeichnungen aus Palästina 587 

All diese Kolonien, Siedlungen, neue und alte, stehen unter fort¬ 
gesetzter Kontrolle der Kommission. Das hat seine Vorzüge und 
Nachteile. 

In den Niederlassungen, sowohl kommunistischer Art wie in denen, 
wo mehr privatkapitalistische Initiative vorherrscht, weiß der Arbeiter 
und Siedler, daß für Defizite die Kommission mit ihren Mitteln auf¬ 
kommt. 

Dies kann Demoralisation zwiefacher Art erzeugen. 

Wozu die Anstrengung? Die Kommission gleicht den Verlust aus! — 

Aber auch das Gegenteil mag eintreten: eine Gruppe mag trotz 
jahrelanger Anstrengung fortgesetzt mit Verlust arbeiten, weil sie ver¬ 
hältnismäßig große Summen für nicht ausgesprochen produktive Arbeit 
ausgeben muß, Sumpfentwässerung, Pflanzung junger Bäume, die erst in 
4—5 Jahren Früchte tragen werden — vornehmlich aber darum, weil 
sie fllr dringende Anschaffungen von der mit Geldnot kämpfenden 
Kommission nur ungenügende Summen erhält und dadurch bei wich¬ 
tigsten Arbeiten behindert ist. Dann tritt, durch Einsicht der Frucht¬ 
losigkeit aller Bemühungen, leicht Müdigkeit ein, Indolenz, Gehenlassen, 
hol’s der Teufel, und die Wirtschaft ginge zugrunde, griffe die 
Kommission nicht mit rettender Hand ein. 

(Hierher gehört ja auch das Antichambrieren der Genossen, das 
wochenlang auf Geld — Warten vor dem Tor der Kommission in Jeru¬ 
salem. Das Knausern am fälschen Ort und auch überstürzte Hast bei 
der Ansiedlung von Arbeiterfamilien an ungenügend entwässerten 
Sümpfen. Die Siedlung, in der ich die Ungarn traf, war zwölf Jahre 
alt, der Sumpf immer noch nicht reguliert. In Chedera mußten drei 
Generationen von Kolonisten an Malaria sterben. Statt die Entwässerung 
sumpfiger Stellen großzügig, auf ersten Anhieb zu bewerkstelligen, 
führt man sie langsam, jahrelang, während dort schon gepflanzt und 
gebaut wird, durch, sehr zum Schaden von Leben und Energien — 
ein Fehler der Organisation, über den ich manche Klage anhörte.) 

Andrerseits aber kam ich mit Dr. Ruppin und Ettinger eines Tages 
in eine kleine Siedlung, nahe beim Meer, südlich von Jaffa. Wir 
traten in das Haus des Wortführers der Siedler ein, ein nettes Haus, 
mit einem gut gehaltenen Hühnerhof, den die Frau bewirtschaftete 
und der sich sehen lassen konnte. Der Hausherr — er wohnte und arbeitete 
seit zehn Jahren dort, hatte das ihm zugewiesene Stück Land erfolg¬ 
reich bebaut, schickte seine Kinder in die Schule, ins nahe Rischon- 
le-Zion — der Hausherr rückte bald mit einer Bitte heraus: die 



}88 Arthur Holitscher■, Aufzeichnungen aus Palästina 

Kommission möge ihm zwei Kfihe kaufen, er wolle seine Wirtschaft 
vergrößern. Es drängt sich nun die Frage auf: wo in aller Welt ist 
es noch Brauch, daß ein Bauer, der an die zehn Jahre auf seinem 
StQck Boden haust und es zu Wohlstand gebracht hat, sich an eine 
Kommission wendet, um sich von ihr Kfihe schenken zu lassen? Kann 
er selber keine Kfihe kaufen oder durch eine Kreditgenossenschaft be¬ 
schaffen, so hat er eben ohne Kfihe weiter zu wirtschaften. 

In der jfidischen Stadt Tel-Awiw aber erzählte mir jemand eine 
gute Geschichte: von einem reich gewordenen Hausbesitzer, der an 
Mieten monatlich sechzig Pfund einnahm, aber, wenn eine Fenster¬ 
scheibe in seinem Hause eingesetzt werden mußte, ins Bureau des Ba¬ 
rons Rothschild lie£ um sich die Scheibe „vom Baron“ schenken zu 
lassen. Er hatte vor vierzig Jahren sein kleines Anwesen, mit dem er 
anfing, aus den Wohltätigkeitsorganisationen „des Barons“ empfangen 
und die Gepflogenheit des Schnorrern war ihm geblieben . .. 

Auf dem Landarbeiterkongreß in Haifia, dessen ich schon Er¬ 
wähnung tat, bildete der Übergang von der Subvention zur Anleihe 
einen der Hauptpunkte der Besprechung. Auch von einer Arbeiterbank 
war die Rede, die, unabhängig von der zionistischen Kommission, 
Darlehen vermitteln würde. Die wirtschaftliche Sicherung der Arbeit 
in Palästina soll also in eine neue Phase eintreten .. . 

Auf diesem Kongreß war viel von der Verantwortung des Ein¬ 
zelnen gegenüber der Gemeinschaft, der kollektiven Verantwortung 
der Gemeinschaft gegenüber der Erde die Rede. Es fiel das Wort 
von den „Sklaven der Erde“! Aber es erwies sich, daß die Erde, die 
zu bebauen, zu erneuern man ins Land gekommen war, all diese 
Intelligenzen der hart arbeitenden Menschen beschwingt und befruchtet 
hatte. Die enge Verbundenheit des Zionpilgers mit dem geliebten 
Heimatboden gebar seltsam schone Seelenblüten. Oft waren die Reden 
von Pathos getragen; die Gebundenheit an gegebene Möglichkeiten 
und die Nöte des Tags vergessen; schwärmerische Pläne mit aus der 
Erfahrung geschöpften Theorien verquickt; man wußte nicht recht, zum 
Schaden oder zum Nutzen der praktischen Durchführbarkeit beider; 
Weltanschauungen prallten aneinander, begegneten sich, bekämpften 
sich in der Region der Ideen, hoch über der nüchternen Wirklichkeit 

So war's mit den Weltanschauungen: Mallul und Nurriss — der 
Moschaw Awdim und der Gdut Haarodah. 

Indes, beide haben schon sichtbaren Niederschlag gezeitigt, sind 


Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 389 

Wirklichkeit geworden, wenn auch nur noch Umrisse von lebenden, 
lebensfähigen Gebilden. 

Auf unserer Fahrt durch die Ebene Jesreel hielten wir uns in einem 
Zeltlager auf; das den Namen Mallul führte, und verweilten in einem 
anderen, dieses war Nurriss. 

Nur ein paar Worte zu Mallul. In dieser Siedlung, deren geistiger 
Führer Elieser Joffe ist, sind vorläufig achtzig Familien in Zelten 
untergebracht. Jede dieser Familien will 100 Dunam Landes zur selb¬ 
ständigen Bebauung haben, soll aber vorerst nur 50 erhalten. Die 
restlichen 50 nach dem Verlaufe von ftinf Jahren, wenn es sich er¬ 
wiesen haben wird, daß eine Familie imstande ist, ein Gebiet von 
über 50 Dunam ertragreich zu bewirtschaften. Bei der Ansiedlung 
dieser Leute soll der Fehler vermieden werden, den die Jüdische 
Kolonisationsgesellschaft seinerzeit begangen hat, als sie den Siedlern 
zu viel Boden zuwies, woraus Vergeudung der Kräfte, aber auch Ver¬ 
fall und Brachliegen des Landes sich ergab. Die Siedler von MalluJ, 
zum Teil ältere Leute, sind Pächter des Nationalfondsbodens und 
haben jährlich vom Anzahlungspreis dieses Bodens zwei Prozent an den 
Nationalfonds gemeinschaftlich abzugeben. 

Der Boden ist ftir die Bebauung günstig, die Ebene aber an dieser 
Stelle von Fieber heimgesucht. Frauen und Kinder der Siedler mußten 
ins hochgelegene Nazareth überfährt werden. 

Nurriss liegt tiefer südöstlich in der Ebene Jesreel, in der Nähe 
der Station Affule der Haifia-Damaskus-Bahn. Alte Namen steigen 
auf — es ist die Ebene des Armageddon, der völkermordenden Schlacht; 
Sunem verbirgt sich in den Ausläufern des Gilboagebirges, das zu 
Basan gehört, dem Fürstentum Ogs. Hier entspringt aus tiefer Felsen¬ 
grotte die Goliathquelle, ihr Wasser zieht sich durch regellos sumpfiges 
Gelände durch das ganze Gebiet Nurriss. 

Sechs Reihen Zelte erheben sich vor der Goliathquelle. Hundert- 
undzwanzig Menschen leben dort, aber es sollen sich ihnen bald 
weitere dreihundert zugesellen — Leute der Gdut, ungefähr sechzig 
Familien, eine Gruppe der „Haschomer Hazair“, der „jungen Wächter 
Palästinas“ und die berühmte kommunistische Kwuzah deutscher und 
tschechoslowakischer Intellektueller aus Chefzibah bei Chederah. 

Die Hündertzwanzig — nur wenige unter ihnen haben das dreißigste 
Jahr hinter sich, — Männer und Frauen, Russen, Deutsche, Arbeiter 



390 Arthur Halit scher, Aufzeichnungen aus Palästina 

und ehemalige Studenten — auch ein Christ ist da, ein alter Zimmer¬ 
mann — leben erst seit kurzem in der jungen Niederlassung. Sie 
kennen sich zum Teil noch gar nicht, die Gemeinschaft, die unter ihnen 
besteht, ist vorerst eine rein prinzipielle. Nur wenige sind verheiratet 
— jene sechzig Familien, von denen ich sprach, sollen drüben, auf 
den Hügeln jenseits der Bahnstraße angesiedelt werden, dort ist der 
Boden gesünder. Zwischen der Goliathquelle und jenen fernen Hügeln 
erstreckt sich das Gebiet Nurriss, ein weites, unabsehbares Feld, von 
Bergen gesäumt. 

An der Quelle waschen junge Mädchen die Wäsche der Hundert¬ 
zwanzig. In modischen Schuhen und engen Röcken, die noch aus 
Lodz, Odessa, München herübergebracht wurden, trippeln sie über die 
spitzen Steine, knien an trocknen Stellen nieder und bearbeiten die 
Hemden und Hosen mit breiten Klöppeln. Im Bach, der aus der 
Grotte fließt und sich zum Sumpf verbreitert, an den Rändern des 
regellosen Wasserlaufs, auf der Kwisch, die von den Zelten zum 
Bahndamm führen soll, stehen, bis an den Gürtel nackt, junge Männer 
mit Spaten, die glänzende Haut bronzen gebeizt von der prallen 
Sonne. Vom, in der Nähe des Sumpfes, schaufeln Frauen große Stein¬ 
blöcke aus dem Boden, Fußbreit um Fußbreit, jäten zähes Unkraut, 
sammeln Stein und Kraut in Körbe, die sie dann fortschleppen. Ich 
spreche ein junges Mädchen an, das mit einem solchen schweren 
Korb sich zu schaffen macht. Sie ist Wienerin, Studentin der Philo¬ 
sophie. Weit, am Ende des Feldes, bei der Bahn, fährt ein Gasolin¬ 
motor amerikanischen Ursprungs, ein Dampfpflug, langsam über den 
entsteinten, schwarzen, fruchtbaren Boden. In der Siedlung, höre ich, 
arbeitet ein junges Mädchen, Mitglied jenes Newyorker Klubs junger 
Jüdinnen, der den Pflug gespendet hat. Als das Geld beisammen und 
der Pflug gekauft war, hatte man in der Vorstadt Bronx eine Halle 
gemietet, den Pflug, mit Girlanden schön geschmückt, in die Mitte 
der Halle gestellt, und rings um ihn tanzte der Klub Foxtrott. Jetzt 
rattert der Gefeierte schwer und weithin hörbar über das Feld. Das 
Wiedersehen, sagte man mir, soll rührend gewesen sein. 

Ein riesenhafter junger Kerl sitzt auf dem Bock, und hinter dem 
Traktor bäumt sich die Erde in mächtigen Schollen. Weit weg, so 
weit, daß man ihn nicht sehen kann, aber noch auf Nurrissgebiet, 
arbeitet ein zweiter Traktor. In wenigen Tagen wird die Arbeit be¬ 
endet sein. Die Mädchen auf den steinbesäten Wiesen, die Jungen 
im Sumpf arbeiten mit angespannten Muskeln. 


% 



Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina jpi 

Ein Auto kommt über die Wiesen heran. Ihm entsteigen drei 
junge Leute mit Gewehren. Es ist der Selbstschutz, den die ver¬ 
streuten Siedler der Jesreel-Ebene gemeinschaftlich unterhalten. Das 
Auto fährt von Siedlung zu Siedlung. Es verbindet die entlegenen 
miteinander; sie fühlen sich beschützt und in guter Hut. Aber es gibt 
noch andre Beschützer der Siedlungen. 

Ein Cowboy, wunderbarer brauner Junge, in Khakihemd, Rauh¬ 
reiterhut, Lederhosen, macht seine Runde um Nurriss, auf prächtigem 
Pferd. Er galoppiert an uns vorbei. Grüßt Wir lachen ihm zu: 
„Schalom!“ Er hat ein gutes Gewehr geschultert, einen Patronengürtel 
um die Brust geschnallt. Sein Gaul ist von edlem Geblüt, der Junge 
läßt ihm die Zügel. Im Hui ist er dort oben, auf dem Hügel über 
der Goliathquelle, wo die Steinhäuser der ausquartierten Araber stehn. 
Als man das Land vom Effendi gekauft hat, erwarb man zugleich, am 
andern Ende des Emek, neues Land ftir die arabischen Arbeiter, die 
Nurriss jetzt verlassen mußten. Sie werden es an ihrem neuen Wohn- und 
Arbeitsort viel besser haben als an dem alten; finden dort gutes Land, 
das sie zu günstigen Bedingungen zu eigen erhalten sollen. 

Vor ihren Häusern, die sie bald verlassen werden, sitzen ein paar 
arabische Arbeiter im Burnus, rauchen und schauen auf das Leben 
hinunter, das sich am Fuße des Hügels, um die Quelle, vor den 
Zelten und auf dem sumpfdurcbzogenen Feld abrollt. Mit silbernen 
Armreifen um die braunen Gelenke, blau tätowiertem Kinn, die Augen 
von Kholstreifen umrändert, stehen ihre Frauen bei ihnen. Das Land ge¬ 
hört ja jetzt den Juden. Sie stehen und sitzen da, bunt gekleidet, regungs¬ 
los. Sie blicken hinunter auf die Schar von weiß und hellgelb gekleideten 
jungen Menschen, die dort, im Sonnenbrand, über die weite Ebene 
verstreut arbeiten; Steine zerhauen, schleppen (der Araber pflügt um den 
Stein herum); den alten Sumpf zuschütten; eine Straße bauen; Unkraut 
jäten; in den Zelten ein- und ausgehen, wo Nähmaschinen rattern, Schreib¬ 
maschinen klappern, wo gehämmert, gekocht, geplättet wird. 

Bunt gekleidet und stumm blicken die Araber und ihre Frauen 
hinunter auf die von unbegreiflichem Leben und unbegreiflichen 
Menschen erfüllte Ebene. 

Langsam und bedächtig reitet der junge Cowboy mit seinem Ge¬ 
wehr und seinen Patronen um den Raum der schweigsamen Araber¬ 
gruppe herum. Gewehr, Reiter und Pferd sind im Sonnenglanz in 
eins gewachsen. Er ist der Schomer, der Wächter, ein Nachkomme 
jener Schar, die dort unten von der Goliathquelle, unter Josuas Be- 



39* Arthur Holitscher, Aufzeichnungen aus Palästina 

fehl, aasging, das Land zu erobern, die Philister zu besiegen, vor 
Jahrtausenden. An dieser Quelle hat Josua die Probe über seine 
Krieger verhängt: vor dem Marsch ließ er sie aus der Quelle trinken. 
Wer wie ein Hund das Wasser mit der Zunge aufleckte, wurde aus 
der Schar gestoßen. Nur die mit vollem Mund schlürften, durften 
dem Heer weiter angehören. 

Langsam und bedächtig reitet der junge Schomer an den Arabern vor¬ 
über, gibt dann seinem Pferd die Sporen und jagt hinunter zu den Zelten. 

Rings um die Zelte rieht sich ein tiefer Schützengraben. Er ist 
tiefer und kunstvoller gebaut als jener um Degania GimmeL Der 
Schützengraben um Nurriss hat Laufgräben und Verbindungsgräben. 
Ein Huhn kann nicht über ihn hinüberhüpfen, er ist breit und 
tief. An einer Stelle ist, mannstief in die Erde gegraben und mit 
Sandsäcken bombensicher geschützt und gedeckt, ein Lazarett Ich 
springe in den Graben, öffne die Tür des Raums: vier sauber her¬ 
gerichtete, gebrauchsfertige Betten, mit schneeweißen Überzügen, ein 
Schrank mit Verbandzeug. 

Die Hundertzwanrig gehören der Gdut an. Sie wissen alle gut 
mit der Waffe umzugehen. Viele von ihnen haben im Weltkrieg 
gekämpft. Auch in der jüdischen Legion, an den Dardanellen, am 
Suezkanal, in Palästina, mit Trumpeldor, zuletzt bei der Verteidigung 
der jüdischen Kolonien, vor Jahren in Galiläa, in diesem Frühling in 
Jaffa, bei Chederah, bei Petach-Tikwah, vor Tagen noch in Jerusalem. 

Auch die „Hasch omer Hazair“ und die Chefzibahleute, die beiden 
politisch radikalsten Gruppen Palästinas, sind handfeste Burschen. Man 
will diesen starken und enthusiastischen jungen Menschen, deren 
Opfermut erprobt ist, die von der Malaria am ärgsten bedrohte, von 
den aggressiven Araberstämmen der Hügel ringsum am leichtesten zu 
überrumpelnde Gefahrzone von Nurriss als Wohnort anweisen. 

Sie werden Nurriss verteidigen. Sie werden nicht angreifen, aber 
sie sind auch keine Pazifisten, keine freiwilligen Märtyrer. Sie sind 
waffenkundige Schützer ihres Landes, ihrer Gemeinschaft. Sie ver¬ 
teidigen nicht nur ihr eignes, sie verteidigen auch das Leben ihrer 
Idee. Ihr Anführer ist ein tartarischer Bergjude. Seit langem Siedler 
und Polizist im Emek. Mit Revolver und Peitsche im Gürtel geht 
er zwischen den Zelten und dem Hügel der Araber auf und ab. Die 
Araber wissen, wer er ist. Sie blicken zu ihm hinunter, er zu ihnen 
hinauf. Sie kennen einander. — 

Dies ist Nurriss, die Heimat der jüdischen Arbeiterarmee. 



KASIMIR STANISLAWOWITSCH 

Novelle von 
I. A. BUNIN 


A uf der vergilbten Visitenkarte mit der Adelskrone entzifferte der 
. junge Portier vom Hotel „Versailles“ mühsam nur den Vor- und 
Vatersnamen: Kasimir Stanislawowitsch; dann folgte etwas, das noch 
mehr Silben hatte und noch schwieriger auszusprechen war. Der 
Portier drehte die Karte in den Händen herum, warf einen Blick in 
den Paff, den der Ankömmling zusammen mit der Karte überreicht 
hatte, zuckte die Achseln — von den Reuenden, die im „Versailles“ 
abstiegen, pflegte niemand Visitenkarten vorzuweisen — warf eins mit 
dem andern auf ein Tischchen und begann von neuem, sich in dem 
milchig silbernen kleinen Spiegel über diesem Tischchen zu betrachten 
und seine dichte Haartolle mit einem Taschenkämmchen aufzuplustern. 
Er trug eine ärmellose Unterjacke und gewichste Stiefel, die Gold¬ 
tresse an seiner Mütze war fettig und verschmutzt — es war ein 
übles Hotel. 

Kasimir Stanislawowitsch war am 8. April, am Freitag vor Ostern, 
von Kiew nach Moskau gefahren, auf irgend jemandes Telegramm 
hin, das nur das eine Wort „zehnten“ enthalten hatte. Irgendwie 
hatte er das nötige Geld zusammenbekommen und hatte in einem 
Coupd zweiter Klasse Platz genommen, das grau und trüb war, ihm 
aber sicherlich eine Empfindung von Luxus und Bequemlichkeit ein¬ 
flößte. Während der Fahrt wurde geheizt, und diese Couplwärme, 
der Geruch des Heizkörpers und das Knacken, Hämmern und Pochen 
darin mochten Kasimir Stanislawowitsch an andere Zeiten erinnern. 
Mitunter schien es, als ob der Winter noch einmal zurückgekehrt 
wäre; weißes, überaus weißes Schneegestöber deckte auf den Feldern 
die rostroten Stoppelborsten und die großen bleifarbenen Wasserlachen, 
auf denen wilde Enten schwammen, zu; aber das Schneetreiben hörte 
mehrfach ganz plötzlich wieder auf, taute weg, die Felder traten klar 
hervor, jenseits der Wolken spürte man eine Fülle von Licht, auf den 
Stationen glänzten die Bahnsteige schwarz von Nässe, und in den 
kahlen Pappeln schrieen die Saatkrähen. Kasimir Stanislawowitsch 
ging auf jeder größeren Station zum Buffett hinaus, kehrte mit Zeitungen 
in den Händen ins Coupl zurück, las sie aber nicht, sondern saß 
nur da und ertrank im Qualm seiner dicken, stark glimmenden 



}94 LA. Bunin, Kasimir Stanisla'wo'witsch 

Zigarretten, aus denen hin und wieder Funken fielen, und sprach mit 
keinem seiner Reisegenossen — Juden aus Odessa, die während der 
ganzen Fahrt Karten spielten — auch nur ein Wort. Er trug einen 
Herbstüberzieher mit abgenutzten Taschen, einen sehr alten Zylinder 
und neues, aber grobes Schuhzeug, — billige Marktware. Seine Hände, 
die charakteristischen Hände eines gewohnheitsmäßigen Säufers und 
eingesessenen Kellerbewohners, zitterten beim Anzünden der Streich¬ 
hölzer. Von Armut und Trunksucht zeugte auch alles übrige an 
ihm: das Fehlen der Manschetten, der abgetragene Papierkragen, die 
verschlissene Kravatte, das entzündete, maßlos zerfurchte und ver¬ 
knitterte Gesicht, die grell hellblauen Augen. Sein Backenbart war 
mit schlechter zimmetbrauner Farbe gefärbt und sah unnatürlich aus. 
Sein Blick hatte etwas Müdes und Verächtliches. 

Der Zug traf am nächsten Tage in Moskau äußerst unpünktlich 
ein, er hatte volle sieben Stunden Verspätung. Das Wetter war un¬ 
bestimmt, aber besser und trockener als in Kiew, und etwas Erregendes 
lag in der Luft. Kasimir Stanislawowitsch nahm, ohne zu handeln, 
eine Droschke und befahl, ihn direkt nach dem Hotel „Versailles“ 
zu fahren. 

„Ich kenne, Bruder“, sagte er, unvermutet sein Schweigen brechend, 
„dieses Hotel schon von meiner Studentenzeit her.“ 

Kaum hatte man dann seinen bescheidenen Korb, der mit einem 
dicken Bindfaden umschnürt war, auf sein Zimmer gebracht, als er 
sogleich wieder das „Versailles“ verließ. 

Es ging gegen Abend, die Luft war warm, die schwarzen Bäume 
auf den Boulevards grünten; überall waren viel Menschen, Equipagen, 
Lastfuhrwerke aller Art unterwegs. Moskau trieb Handel, ging seinen 
Geschäften nach, kehrte zur gewohnten hastenden Arbeit zurück, machte 
dem Feiertag ein Ende und freute sich unbewußt des Frühlings. Ein¬ 
sam, verlassen ist ein Mensch, der sein Leben vertan und zugrunde 
gerichtet hat, an einem Frühlingsabend in einer fremden Stadt voller 
Menschen! — Kasimir Stanislawowitsch ging zu Fuß über den ganzen 
Twerskoi-Boulevard, erblickte wieder einmal in der Feme die erzene 
Gestalt des sinnenden Puschkin, die goldenen und fliederfarbenen 
Kuppeln des „Strastnoi“-Klosters. 

Eine Stunde etwa saß er im Cafd Filippow, trank Schokolade und 
besah zerfetzte Witzblätter. Dann ging er in ein Lichtspielhaus, dessen 
transparente feurige Aufschrift in der dunkel blauenden Dämmerung 
weithin über den Twerskoi-Boulevard leuchtete. Nach der Kino-, 



I. A. Bunin, Kasimir Stanislawoivitscb 


395 


Vorstellung fuhr er in ein Restaurant auf dem Boulevard, das er gleich¬ 
falls von seiner Studentenzeit her kannte. Ein Greis fuhr ihn, der, 
zu einem Bogen zusammengekrümmt, kummervoll, griesgrämig, tief 
in sich selbst versunken war, in sein Greisenalter, in seine trüb ver¬ 
schwommenen Gedanken; während der Fahrt half er mit seinem ganzen 
Wesen ununterbrochen, zwangvoll und quälend seinem trägen Pferd 
nach, indem er ihm fortwährend etwas zubrummelte und es mitunter 
giftig vorwurfsvoll ausschalt. Endlich brachte er Kasimir Stanislawowitsch 
ans Ziel, wälzte für kurze Zeit den Druck von seinen Schultern und 
seufzte, das Geld in Empfang nehmend, tief auf. 

„Ich hatte nicht richtig verstanden, ich glaubte, du wolltest nach'm 
Restaurant ,PragV c sagte er, langsam sein Pferd wendend und schien 
sogar unzufrieden zu sein, obwohl es bis zum Restaurant Prag noch 
■weiter gewesen wäre. 

Ans „Prag“ kann ich mich auch noch erinnern, Alter“, antwortete 
Kasimir Stanislawowitsch, „du fährst sicher schon lange in Moskau 
herum, was?“ 

„Fahren?“ fragte der Alte, „das zweiundfünfzigste Jahr fahre ich“.... 

„Dann hast du vielleicht auch mich schon einmal gefahren“, sagte 
Kasimir Stanislawowitsch. 

„Kann sein,“ erwiderte der Alte trocken, „’s gibt viele Menschen 
auf Gottes Welt, alle kann man sich nicht merken . . .“ 

Von dem früheren Restaurant, welches Kasimir Stanislawowitsch 
gekannt hatte, war nur noch der Name übrig geblieben. Jetzt war 
es ein großes, wenn auch minderwertiges Lokal erster Ordnung. 
Über dem Eingang brannte eine elektrische Bogenlampe, die ein 
heliotropfarbiges, unangenehmes Licht auf die Fiaker zweiter Güte 
warf, deren Kutscher so roh und unbarmherzig zu ihren abge¬ 
triebenen, knochendürren, im Lauf schwer rohrenden Trabern sind. 
In dem feuchten Flur standen Kübel mit Lorbeerbäumen und Töpfe 
mit tropischen Gewächsen, wie man sie auf offenen Fuhren von Be¬ 
gräbnissen zu Hochzeiten und wieder zurück schafft. Im Vorraum 
stürzten gleich mehrere Kellner, die alle ebensolche dicken Haartollen 
wie der Portier vom „Versailles“ hatten, auf Kasimir Stanislawowitsch 
zu. In dem großen grünlichen Saal, der mit vielen breiten Spiegeln 
im Rokokostil eingerichtet war und in welchem in einem Winkel 
ein himbeerrotes ewiges Lämpchen glühte, war es noch leer, es 
brannten im ganzen nur einige wenige Flammen. Kasimir Stanislawowitsch 
saß lange allein und tatenlos da. Man fühlte, daß der lange Frühlings- 



3pö /. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch 

abend hinter den Fenstern mit den weißen Stores noch nicht völlig 
in Dunkel übergegangen war; von der Straße her hörte man das 
Klappen der Hufe auf dem Pflaster; inmitten des Saales plätscherte 
einförmig ein kleiner Springbrunnen in einem Aquarium, in welchem nur 
kümmerlich beschuppte schäbige Goldfische, die irgendwievon unten durch 
das Wasser hindurch beleuchtet wurden, herumschwammen. Ein Kellner 
in weißer Jacke legte das Gedeck auf, brachte Brot und eine kleine 
Karaffe mit kaltem Wodka. Kasimir Stanislawowitsch begann Wodka 
zu trinken, ohne einen Bissen von den Vorspeisen dazu zu nehmen, 
preßte die Flüssigkeit vor dem Hinunterschlucken kauend im Munde 
zusammen, biß, nachdem er sie geschluckt hatte, die Zähne auf¬ 
einander und roch mit anscheinendem Widerwillen an einem Stück 
Schwarzbrot. Plötzlich — er erschrak sogar — schmetterte durch den 
ganzen Saal ein Grammophon los und sang in allen Tönen — ein 
Gemisch russischer Lieder, bald übertrieben wilde und zügellose, bald 
Uber die Massen empfindsame, gedehnte und herzzerreißend-traurige 
Weisen. Und Kasimir Stanislawowitsch's Augen röteten und trübten 
sich vor Tränen bei diesem süßen näselnden Gestöhn. 

Dann brachte ihm ein Grusier, ein kaukasischer Kellner mit grauen 
krausen Haaren und schwarzen Augen, einen ganzen eisernen Spieß 
voll aufgereihter, halbroher, stark duftender Stückchen gebratenen 
Hammels, streifte das Fleisch mit einer gewissen verkommenen schlam¬ 
pigen Eleganz vom Spieß herunter auf den Teller und bestreute es, 
der größeren Einfachheit asiatischer Sitten halber, gleich eigenhändig 
mit Zwiebel, Salz und rotbrauner pulverfein zerriebener Berberitze, 
während das Grammophon, zu gewagten Windungen und Sprüngen 
herausfordernd, in dem leeren Saal gellend einen Cake-walk spielte... 

Darauf servierte man Kasimir Stanislawowitsch Roquefort, Obst, 
Rotwein, Kaffee, Likör . . . 

Das Grammophon war längst verstummt. Statt seiner spielte schon 
lange auf einer Estrade ein weißgekleidetes deutsches Damenorchester; 
in dem voll erleuchteten und nun ganz mit Menschen gefüllten Saale 
war es heiß geworden, die Luft, unsichtig trübe von Tabaksqualm, 
war dick gesättigt mit dem Geruch der Speisen; die Kellner wirbelten 
hin und her, Betrunkene verlangten Zigarren, von denen ihnen sehr 
bald übel wurde; die maitres d’hotel verausgabten sich in äußerster 
geschäftiger Aufmerksamkeit, gepaart mit angespannter Wahrung ihrer 
eigenen Würde; die wässerig trüben Tiefen der Spiegel gaben immer 
verworrener ein formlos großes, lärmendes, bunt zusammengesetztes 


I. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch 


3 97 


Bild zurück. Kasimir Stanislawowitsch ging ein paar Mal aus dem 
heißen Saal auf die kühlen Gänge hinaus, in den kalten Toiletten¬ 
raum, wo es seltsam nach Meer roch, ging gleichsam einige Schritte 
durch frische Luft und forderte zurückkehrend neuen Wein. Um 
eins flog er, die Augen schließend und durch die Nase tief atmend 
die Nachtkühle in seinen betäubten Kopf einziehend, in einem Fiaker, 
einem hohen Gefährt auf Gummindern, vor die Stadt hinaus in ein 
öffentliches Haus; im Fahren sah er in der Feme die endlose Kette 
der nächtlichen Lichter, die irgendwohin einen Berg hinunter und 
dann wieder hinauf führten, aber er sah das so, als ob er nicht er 
selbst, sondern irgend ein anderer wäre. In dem öffentlichen Haus 
geriet er beinahe ins Handgemenge mit irgend einem wohlbeleibten 
Herrn, der auf ihn eindrang und dazu schrie, daß ihn das ganze 
intellektuelle Rußland kenne. Dann lag er angekleidet auf einem 
breiten Bett, das mit einer gesteppten Atlasdecke bedeckt war, in 
einem nicht großen Zimmer, welches durch eine himmelblaue Laterne 
an der Decke nur halb erhellt wurde; es roch widerlich süßlich nach 
parfümierter Seife darin, an den Haken über der Tür hingen Kleidungs¬ 
stücke, neben dem Bett stand eine Schale mit Obst Das Mädchen, 
das verpflichtet war, Kasimir Stanislawowitsch zu unterhalten, aß 
schweigend, gierig, mit Genuß eine Birne, die sie mit ihrem Taschen¬ 
messer zerteilte; und ihre Freundin, welche dicke nackte Arme hatte 
und, nur mit einem Hemd bekleidet, fast wie ein kleines Mädchen 
aussah, schrieb eilig, ohne ihnen irgend welche Aufmerksamkeit zu 
schenken, am Toilettentisch einen Brief; sie schrieb und weinte 
dabei — worüber wohl? Es gibt viele Menschen auf Gottes Welt, 
alles kann man nicht wissen . . . 

Am io. April erwachte Kasimir Stanislawowitsch spät Nach dem 
Schrecken zu urteilen, mit dem er die Augen öffnete, wurde er für 
einen Augenblick durch den Gedanken, sich in Moskau zu befinden, 
und durch die Erinnerung an die gestrigen Vorgänge völlig betäubt. 
Er war nicht vor der fünften Morgenstunde heimgekehrt. Er schwankte, 
als er die Treppe des „Versailles“ hinaufstieg, ging aber ohne zu 
fehlen durch den langen, übelriechenden, tunnelartigen Korridor, 
welcher nur am Anfang durch ein schläfrig blakendes Lämpchen er¬ 
hellt wurde, auf sein Zimmer zu. Neben allen Zimmertüren standen 
Stiefel und Schuhe — alle fremden Menschen gehörig, die einander 
nicht kannten und einander feind waren. Plötzlich öffnete sich eine 



398 I. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch 

Tür und jagte Kasimir Stanislawowitsch fast einen kalten Schrecken 
ein: auf der Schwelle erschien, gleich einem schlechten Schauspieler, 
der in den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ spielen würde, ein 
Greis im Schlafrock; Kasimir Stanislawowitsch sah eine Lampe mit 
grünem Schirm und ein vollgepfropftes Zimmer, die Höhle eines ein¬ 
samen alten Sonderlings, mit Heiligenbildern in einem Winkel und 
mit unzähligen Schachteln von Zigarettenhülsen, die neben den Heiligen¬ 
bildern, fast bis zur Decke hinauf, eine auf die andere geschichtet 
waren . . . War das wirklich derselbe halbverrückte Verfasser von 
den „Lebensbeschreibungen der wahren Knechte Gottes“, welcher 
schon vor dreiundzwanzig Jahren im Hotel „Versailles“ gelebt hatte? — 
In Kasimir Stanislawowitschs dunklem Zimmer war es erstickend 
heiß; die Luft war trocken, beißend, mit allerlei Gerüchen ge¬ 
schwängert. Durch die Glasscheibe über der Tür drang schwaches 
Licht in die Dunkelheit. Kasimir Stanislawowitsch ging in den Al¬ 
koven , nahm den Zylinder von seinen äußerst spärlichen geölten 
Haaren, warf seinen Mantel auf das Kopfkissen des kahlen Bettes.. . 
Sobald er sich niedergelegt hatte, begann alles sich um ihn herum 
zu drehen, einem Abgrund zuzuwirbeln, und er schlief im Augenblick 
ein. Im Schlaf spürte er die ganze Zeit den schmutzigen Geruch des 
eisernen Wäschgeschirres, welches dicht neben seinem Gesicht stand, 
aber träumend sah er einen Frühlingstag, Bäume in voller Blüte, den 
Empfangssaal eines großen vornehmen Herrschaftshauses und eine 
Menge Menschen, die alle voll Furcht auf die jeden Augenblick be¬ 
vorstehende Ankunft des Metropoliten harrten, und diese gespannte 
Erwartung quälte, peinigte ihn die ganze Nacht hindurch . . . Jetzt 
schrillten die Klingeln in den Gängen des Hotel „Versailles“, Gelaufe 
entstand, Zurufe hallten hin und wider. In den Alkoven hinein 
schien durch die verstaubten Doppelfenster hindurch die Sonne, es 
war beinahe heiß . . . Kasimir Stanislawowitsch zog seinen Rock 
aus, klingelte und begann sich zu waschen. Der Hausdiener, ein 
blitzäugiger sechzehnjähriger Bursche mit fuchsrotem Flaum auf dem 
Kopf, kam in einem rosa russischen Hemd und einem langen Rock 
darüber angelaufen. 

„Weißbrot, den Samowar und Citrone“, bestellte Kasimir Stanis¬ 
lawowitsch, ohne ihn anzublicken. 

„Befehlen Sie auch von unserm Tee und Zucker?“, fragte flink mit 
Moskauer Aufgewecktheit der Hausdiener. 

Und nach einer Minute kam er wieder angeflogen, den kochenden 



/. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch 


199 


Samowar auf der flachen Hand in Schulterhöbe, spreitete im Nu das 
Tischtuch Uber den runden Tiscb vor dem Sofa aus, stellte das Tablett 
mit dem Teeglas und der zerbeulten kupfernen SpOlschale ab und 
setzte klirrend die Füßchen des Samowar auf das Tablett nieder . . . 
Kasimir Stanislawowitsch entfaltete, während der Tee zog, mechanisch das 
„Moskauer Tageblatt“, welches der Hausdiener zusammen mit dem Samowar 
hereingebracht hatte; sein Blick fiel auf eine Notiz: daß man gestern 
irgendwo einen Unbekannten in bewußtlosem Zustand aufgelesen 
habe.»Der Unglückliche wurde in ein Krankenhaus über¬ 

führt“, las er und warf die Zeitung fort. Er fühlte sich sehr flau 
und schlecht. Er stand auf und öffnete das Fenster — es ging nach 
dem Hof hinaus — frische Luft und Stadtgeruch strömte ihm ent¬ 
gegen, von fern drang das gedehnte, gesucht singende Rufen der Straßen¬ 
händler herauf, das Geklingel der Straßenbahn, die hinter dem gegen¬ 
überliegenden Haus in den Schienen summte, das ununterbrochene Rasseln 
der Equipagen, der melodische Widerhall der Glocken . . . Die Stadt 
lebte schon lange ihr geräuschvolles gewaltiges Leben an diesem 
blendenden, fast sommerlichen Frühlingstag. Kasimir Stanislawowitsch 
preßte den Saft einer ganzen Zitrone in ein Glas Tee, trank gierig 
diese trübe saure Flüssigkeit hinunter und zog sich dann wieder in 
den Alkoven zurück. Im „Versailles“ war es still geworden. Wohl¬ 
tuend war diese Ruhe; der Blick schweifte träge Uber den Anschlag 
des Hotelbüros an der Wand: „Ein Aufenthalt von drei Stunden wird 
als Tag gerechnet“; in der Kommode rumorte eine Maus, schleppte 
ein Stückchen Zucker fort, das irgend ein Durchreisender dort zurück¬ 
gelassen ... Im Halbschlummer blieb Kasimir Stanislawowitsch so im 
Alkoven liegen, bis die Sonne aus seinem Zimmer verschwunden war und 
eine andere schon abendkündende Frische durch das Fenster hereinzog. 

Dann brachte er sorgfatig 1 sein Äußeres in Ordnung: er schnürte 
seinen Korb auf, wechselte die Wäsche, holte ein billiges, aber sauberes 
Taschentuch hervor, fuhr mit der Bürste über seinen abgeschabt 
glänzenden Gehrock, den Zylinder und den Paletot, zog aus dessen 
zerrissener Tasche eine verschmutzte Kiewer Zeitung vom 15. Januar 
und schleuderte sie in einen Winkel. . . Nachdem er sich angekleidet 
und seinen Bart mit einem Färbekamm behandelt hatte, zählte er seine 
Barschaft — es blieben ihm im ganzen noch vier Rubel siebzig Kopeken 
in seinem Beutel — und ging aus. Punkt sechs war er bei einer 
niedrigen altertümlichen kleinen Kirche in der Moltschanowka-Straße. 
Hinter der Kirchenmauer schimmerte ein Baum mit hängenden Zweigen 




400 /. A. Bunin, Kasimir Stanislawowitsch 

im ersten zarten Grün, Kinder spielten herum — einem mageren kleinen 
Mädelchen, das Seil sprang, fiel immerfort ihr schwarzes Strümpfchen 
herunter — und auf einer Bank saßen bei ihren Kinderwagen mit 
den schlafenden Säuglingen Ammen in russischer Tracht. Der ganze 
Baum lärmte von Sperlingen, die Luft war lind, ganz, ganz sommerlich — 
sogar nach Staub roch es wie im Sommer — zartgolden färbte sich 
in der Feme hinter den Häusern der Himmel über dem Sonnenunter¬ 
gang, und man fühlte unwiderstehlich, daß es irgendwo auf der Welt 
wieder Freude, Jugend und Glück gab. In der Kirche brannte schon 
der Kronleuchter, und das Betpult stand bereit; vor dem Betpult lag 
ein kleiner Teppich ausgebreitet. Kasimir Stanislawowitsch nahm vor¬ 
sichtig, bemüht seine Frisur nicht zu verderben, den Zylinder ab, trat 
unsicher und befangen in die Kirche — schon seit dreißig Jahren war 
er in keiner Kirche mehr gewesen — und nahm in einem Winkel 
Platz, aber so, daß er das Brautpaar von dort aus sehen konnte. Er 
betrachtete die ausgemalten Gewölbe, hob seine Augen zur Kuppel 
empor, und jede seiner Bewegungen, jeder Seufzer hallte laut in der 
tiefen Stille wider. Die Kirche schimmerte in ihrem Golde, erwartungs¬ 
voll knisterten die Kerzen. Und nun kamen, sich bekreuzigend, aber 
freien und gewohnten Schrittes, die Priester, die Diener der heiligen 
Handlung herein, die Sänger und dann allerlei ältliche Frauen, Kinder, 
geputzte Hochzeitsgäste und eifrig besorgte Festordner. Als in der 
Vorhalle Geräusch entstand und die Räder der vorfahrenden Braut¬ 
kutsche vor den Treppenstufen knirschten, als alle sich dem Eingang 
zuwandten und das Begrüßungslied: „Tritt ein, tritt ein, du Taube 
mein** erschallte — da wurde Kasimir Stanislawowitsch totenbleich vor 
Herzklopfen, und unwillkürlich bewegte er sich ein wenig vorwärts. 
Und dicht, ganz dicht ging sie an ihm vorbei, sie, die nicht einmal 
etwas von seinem Dasein auf dieser Welt wußte; sie streifte ihn sogar, 
Maiglöckchenduft ausströmend, mit ihrer bräutlichen Hülle, und ging 
vorüber, den reizenden Kopf gesenkt, ganz unter Blumen und durch¬ 
sichtigen Schleiern, ganz schneeweiß und makellos, beglückt und 
schüchtern, wie eine Prinzessin, die zum erstenmal an den Tisch des 
Herrn zum heiligen Abendmahl tritt. Den Bräutigam, der untersetzt, 
breitschultrig, kurzgeschoren und strohblond, ihr entgegen ging, sah 
Kasimir Stanislawowitsch kaum. Und so lange die Trauung währte, 
hatte er nur eines vor Augen: den unter Blumen und Schleierhüllen 
geneigten Kopf und eine kleine Hand, die zitternd die mit weißer 
Bandschleife umwundene brennende Kerze hielt... 



I. A. Bunin , Kasimir Stanislawowitsch 401 

In der zehnten Abendstunde war er schon zu Haus. Sein Mantel 
war ganz mit Frühlingsluft durchtränkt: nachdem er beim Verlassen 
der Kirche vor dem Portal die mit weißem Atlas ausgeschlagene 
Hochzeitskutsche, deren blanke Fensterscheiben den Sonnenuntergang 
wiederspiegelten, gesehen hatte, nachdem zum letzten Mal hinter diesen 
Scheiben das Gesicht derjenigen aufgetaucht war, die man ihm auf 
immer ins Unbekannte entführte, war er lange in allerlei Winkel¬ 
gassen herumgeirrt und schließlich auf den Nowinskij-Boulevard 
herausgekommen . . . Jetzt zog er langsam mit zitternden Händen 
seinen Mantel aus, legte auf den Tisch eine Papiertüte mit zwei 
grünen Gurken, die er aus irgend einem Grunde vom Tragbrett eines 
Straßenhändlers gekauft hatte . .. Sogar durch das Papier hindurch 
rochen sie nach Frühling, und frühlingshaft, wie flüssiges Silber schien 
der Aprilmond, der hoch an dem noch nicht ganz nachtdunklen 
Himmel stand, durch die oberste Fensterscheibe herein. 

Kasimir Stanislawowitsch zündete die Kerze an, erhellte trübselig 
seine einsame, leere Zufallsherberge, setzte sich auf das Sofa, auf seinem 
Gesichte noch die Abendkühle fühlend, die er mitgebracht hatte . . . 
Lange, lange blieb er so sitzen. Er klingelte nicht, verlangte nichts, 
hatte sich eingeschlossen — alles das schien dem Hausdiener verdächtig, 
der gesehen hatte, wie Kasimir Stanislawowitsch mit schleppenden 
Füßen auf sein Zimmer gegangen war, wie er den Schlüssel aus der 
Tür gezogen hatte, um sie von innen abzuschließen. Der Hausdiener 
schlich mehrmals auf Zehenspitzen an die Tür und guckte durch das 
Schlüsselloch: Kasimir Stanislawowitsch saß auf dem Sofa und bebend, 
mit dem Taschentuch das Gesicht wischend, weinte er so bitterliche, 
so stromende Tränen, daß die zimmetbraune Farbe seines Bartes zer¬ 
floß und ihm die Backen beschmierte. 

In der Nacht riß er die Schnur von der Fenstergardine und, blind 
von Tränen, begann er sie an einem Haken des Kleiderständers zu 
befestigen. Aber die heruntergebrannte Kerze flackerte, die Papier¬ 
manschette versengend, bang auf; durch das abgeschlossene Zimmer 
wallten und huschten zitternd unheimliche, dunkle Schattenwellen, er 
war alt, schwach — und war sich selbst dessen wohlbewußt . . . Nein, 
von eigner Hand zu sterben, das ging über seine Kraft!- 

Am Morgen fuhr er drei Stunden vor Abgang des Zuges nach 
dem Bahnhof. Dort ging er langsam mit niedergeschlagenen verweinten 
Augen unter den Reisenden herum, blieb unvermutet bald vor diesem 
bald vor jenem stehen und murmelte halblaut, eintönig, ausdruckslos, 

26 



4oi Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

doch ziemlich rasch: „Um Christi willen ... ich bin in verzweifelter 
Lage ... zu einem Billet nach Brjansk . . . wenn auch nur ein paar 
Kopeken . ..“ 

Und einige gaben ihm, die Blicke von seinem Zylinder, von dem 
abgeschabten Sammetkragen seines Überziehers und von dem entsetz¬ 
lichen Gesicht mit dem entfärbten lila Backenbart abwendend, hastig 
und verlegen eine Kleinigkeit. 

Und dann tauchte er in der Menschenmenge, die nach dem Aus¬ 
gang zum Bahnsteig drängte, unter und verschwand darin, während 
man im Hotel „Versailles* aus dem Zimmer, das ihm zwei volle 
Tage lang gewissermaßen gehört hatte, den Eimer mit dem schmut¬ 
zigen Waschwasser hinaustrug, die Fenster weit der Aprilsonne öffnete, 
mit harter Hand die Stühle rückend den Kehricht zusammenfegte, 
hinauswirbelte, und mit dem Kehricht zugleich auch seinen zerrissenen 
Zettel, den er samt den Gurken vergessen hatte, und der unter den 
Tisch, unter das herabgeglittene Tischtuch gefallen war: „Ich bitte, 
niemandem schuld an meinem Tod zu geben. Ich war auf der Hoch¬ 
zeit meiner einzigen Tochter, welche . ..“ 

(Berechtigte Übertragung aus dem Russischen von Käthe Rosenberg.) 


VARIATIONEN ÜBER EIN CHOREO¬ 
GRAPHISCHES THEMA 

von 

OSKAR BIE 

I 

E ilt nicht davon, ihr Paare! Laßt mir die Erinnerung, die ich 
herauf beschwören will aus einer schöneren Zeit. Ich diktiere 
über euch. Die Maschine tickt. Jeder Ticker bedeutet ein Stück 
wundervoller Vergangenheit. Hier liegen Opplers Radierungen vor 
mir. Was ist an ihnen zu erklären? Was ich schreibe, war als Bei¬ 
wort zu ihnen gedacht, um einst mit ihnen vereinigt zu werden. Nun 
fehlen sie, aber gerade das scheint mir ein Phantasiereiz. Nun ist es 
wohl recht unzeitgemäß, was ich schreibe — aber darum liebe ich es 
noch mehr. Diese Blätter sind für uns alle das Erinnerungszeichen 



Oskar Bie, Variationen über em choreographisches Thema 403 

an das russische Ballett, das der schönste Märchentraum war, in 
einer Zeit, die weder die Kunst, noch die Arbeit rationierte. 
Das russische Ballett wurde aus der Verschwendung des absolutesten 
aller Herrscher über sein Land, über die Erde gestreut. Wir fühlten 
ein Wunder. Unsere Sinne wurden leicht. Unser Herz schlug 
lauter. Unsere Finger spreizten sich. Unsere Füße wippten. Unsere 
Augen leuchteten vor dieser noch nie erschauten Pracht und 
Lebendigkeit menschlicher Körper. Was war der Tanz bis dahin 
gewesen? Er war verstaubt hinter den Kulissen unserer Bühnen, er 
war verwaschen in der Lässigkeit unserer Gesellschaft. Die Russen 
öffneten uns sein Geheimnis. Niemals bei irgendeiner Theatervor¬ 
stellung entzückte uns solches Glück. Ein Rausch ging durch unsere 
Nerven, wie eine Brunst des Rhythmus, wie eine Religion des 
Taktes. Diese Menschen sprachen und sangen nicht, aber sie stili¬ 
sierten alle Freuden und alle Sünden in einem ungeheuren Gleichmaß 
ihrer Bewegung. Tiefes Leid wurde gesetzmäßige Schönheit, wie bei 
Mozart. Orgiastische Lust wurde Figur, wie bei Goethe. Uralte 
Tradition mischte sich mit kühnsten Träumen der Zukunft. Tech¬ 
nische Vollendung melodisierte alle Revolutionen. Wir hatten Welt¬ 
gefühl. Wir wußten nicht, ob sie sinnlich oder geistig waren, seelisch 
oder formal. Sie waren alles zusammen. Diese Stunden ungetrübten 
Genusses wurden Epoche für die Kunst und für uns. 

Was schreibe ich da? Glaubst du wirklich, Maschine, du kannst 
die Schönheiten dieser Erinnerung in der Permutation von vierund¬ 
zwanzig gleichmäßigen Buchstaben festhalten? Wieviel glücklicher 
ist der Zeichner. Er sammelt das Wesentliche seiner Eindrücke auf 
ein Blatt und gibt Gesehenes mit zu Sehendem wieder. Er wechselt 
nicht die Funktion, seine Erinnerung schaltet sich nicht um in ein 
Gebilde anderer Ausdrucksform. Mein Wort aber findet nichts als 
Widerstände. Es klammert sich an irgendwelche Vorstellungen, die 
sich schreibenderweise ausdrücken lassen, an Begriffe, an Technik, an 
Historisches, an Ästhetisches, und verliert sich in diesen vagen An¬ 
deutungen von Erlebnissen, die so ganz leiblich sind. Einmal kauert 
es auf dem trocknen Boden der Sachlichkeit, ein andermal klettert 
es in die süßen Bezirke der Phantasie und meistens dreht es sich in 
einem schwankenden Kreise um den köstlichen Gegenstand seiner 
Betrachtung. Ich bin eingenommen von der Anmut und Weltlichkeit 
dieser Blätter. Ein Duft genossener Abende und seliger Dankbarkeit 
steigt aus ihnen auf. Wie soll ich ihn festhalten? 



404 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

Viermal ruft uns der Karneval. Fokin hatte nach der Schumannschen 
Musik ein Ballett darüber gedichtet. Es war Tanz und Pantomime, 
wie man es auf diesem Blatte sieht. Der Zeichner skizziert ein Paar, 
das tanzt, und ein Paar, das sich verfolgt. Er hat den Vorteil, in 
einem Augenblick seine Bewegungen festzuhalten. Er hat den noch 
größeren Vorteil, diese Bewegungen auf ihre letzte Spannung zu 
wählen. Wir sehen hin und begreifen. Wir begreifen und erinnern 
uns. Grazie und Ausdruck des Spieles werden Musik in unserm 
Geiste. Was kann dagegen das Wort sagen? Ich sage: das eine Paar 
tanzt, und das andere verfolgt sich. Seminarerinnerungen kommen 
mir in den Kopf. Beschrieb ich nicht so als Student die Friese vom 
Theseion und pergamenischen Altar ? Welche dumpfe Luft um diese 
Worte. Lieblichste Gegenstände werden Objekte der Philologie. 
Schrecklich! Trübe Gasflammen, zerkaute Federhalter, vollgeschriebene 
Kollegienhefte. Fort, fort, weit fort, ihr Gespenster. Ich armer 
Schriftsteller habe das russische Ballett erlebt und soll Opplersche 
Radierungen beschreiben. Ich sage: das eine Paar tanzt, und das 
andere verfolgt sich. Und wenn ich gar sage, die Namen der Unken 
Tänzer weiß ich nicht mehr, die rechten stellen Florestan und Estrella 
dar? Und die rechte Tänzerin hieß Maikerskaja? Was ist damit 
gesagt? Schall und Rauch. Legt die Blätter vor euch hin und laßt 
meine Schreiberei. Ich habe schon so oft zu schönen Blättern Texte 
geschrieben. Ich war immer in der Gefahr, die Blätter durch meine 
Worte zu übertönen. Diesmal will ich es gewiß nicht tun. Oppler 
verfolgt mich nach rechts, ich tanze mit ihm nach links. Karneval! 

n 

Die Chiarina ist auf diesem Bilde zu sehen. Sie hat ein reizendes 
Kleid an, das unten in blauen Volants sich kräuselt. Es sieht so aus, 
als ob sie singe, aber so töricht wird sie nicht sein. Sie hat Besseres 
zu tun, als allgemeine Worte in Musik zu setzen. Sie setzt ihren 
Körper in Musik. Sie singt mit der linken ausgestreckten Hand eine 
Melodie, mit der sie uns verführen will, und spitzt diese Melodie sehr 
deutlich.in eine Blume zu. Die rechte Hand drückt sie gleichzeitig 
an die Brust und singt damit eine andere Melodie, in der sie etwas 
sehr Heimliches bekennt. Es kann sein, daß sie mit den Füßen, mit 
dem Rumpfe, mit dem Kleid, mit dem Hals, mit dem Kopf, mit 
den Augen und womöglich gar mit dem Mund noch viele andere 
Melodien singt, so viele schöne Melodien gleichzeitig, wie es gar 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 405 


keine Sängerin kann. Aber wie die Stimme einer guten Sängerin 
etwas ganz Persönliches und Eigenes in ihrem Timbre hat, so haben 
alle diese Melodien zusammen den einen gemeinsamen Reiz einer 
eigenen Persönlichkeit: irgendeinen Rhythmus, der sonst nicht vor¬ 
handen ist, ein Crescendo und ein Rubato, das nur aus ihrem Körper 
gewachsen ist. Eine individuelle Polyphonie! Ich erinnere mich, 
diese Chiarina war nicht eine der größten, aber sie hatte etwas 
Niedliches und Betuliches in ihrer Erscheinung, das mir wohl im 
Gedächtnis geblieben ist. Welche verschiedenen Persönlichkeiten waren 
in diesem russischen Ballett vereinigt, daß ihre Typen noch so weiter 
im Theater unseres Kopfes spielen können! 

Wenn ich so das Bild einer einzelnen Tänzerin sehe, steigt, da ich 
etwas schreiben muß, die ganze Galerie der großen Solistinnen der 
Tanzgeschichte vor mir auf. Höre, lieber Leser, und staune. Bis weit 
in das achtzehnte Jahrhundert hinein gab es überhaupt keine Tänze¬ 
rinnen. Der Mann besorgte diese Kunst, so wie er auch in der 
Oper den Gesang der Weiberrollen übernahm, selbst auf die Gefahr 
seiner Verstümmlung. Alle Ästhetik des Gesanges und des Tanzes 
mußte sich danach bilden. Als das Weib endlich die Tanzbühne 
eroberte, mußte den Augen der Menschen ein neuer Stern aufgehen, 
die weibliche Linie, die Eigenart der weiblichen Bewegung mußte 
ein neues Schönheitsideal schaßen. In früherer Zeit hatte die Religion 
die Sehnsucht nach dem Weibe aufgenommen. Der Madonnenkult 
war ihr beredtes Zeichen. Das Rokoko, Schöpfung des französischen 
Geistes, befreite die Frau nach der weltlichen Seite. Galanterie wurde 
Lebensanschauung und Lebenskunst. Die Frau formte das Organ der 
gesamten Kunst. Man weiß, daß einer dritten Epoche, unsrer Zeit, 
eine dritte Einstellung zur Frau Vorbehalten war, die soziale. 

Schwebt fort, ihr Madonnen, bleibt mir vom Leibe, ihr Eman¬ 
zipierten! Heute stehe ich auf der zweiten Terrasse der Frauen¬ 
geschichte und atme die Luft ihres Sonnenzeitalters. Sie herrscht in 
der Gesellschaft. Sie steigert die Galanterie aus einem Minnedienst 
zu einem Gesetze jeglichen schönen Verkehrs. Sie erzieht Auge, Sinn 
und Urteil der Männer, der Menschen, nach ihrem Willen und der 
Lust ihres Leibes. 

Die Camargo, die Salld, die Guimard treten auf den Plan. Die 
Prevost tanzt die ersten Solomusiken. Sie führen ein Geschlecht von 
Tänzerinnen an, das die rasende Bewunderung ihrer Zeitgenossen 
findet und das den ganzen Glanz des künstlerischen Lebens in einer 



40 6 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

abenteuerlichen Schönheit ausstrahlen läßt. Was es in dieser Zeit 
gab an Triumphen und Niederlagen, an Erfolgen und Ränken, an 
Orgien und Einsamkeiten, an Lastern und Techniken, fließt rauschend 
in ihr Leben ein. Denn sie sind die ersten Kfinstlerinnen, die aus 
Kunst ihren Körper dem Publikum darbieten. Aus Kunst und Leben. 
Sie sammeln auf ihre verführerische Existenz alle Sehnsüchte, die ge¬ 
mischt aus sinnlicher Begierde und Schönheitsbedürfnis ihre Person 
um Erfüllung anflehen. 

Man lese die Biographie der Guimard von Goncourt. 

Die Zeiten sind bürgerlicher geworden. Die Taglioni, die Elßler 
durchfluteten die Welt in heißer Wonne. Aber die Romantik ihres 
Erlebnisses besänftigte sich. Die Kette tanzender Frauen wuchs aus 
der Qualität in die Quantität. Sie bestimmten das Tanzurteil so 
ausschließlich, daß unsere Sinne kaum noch etwas von dem männ¬ 
lichen Tänzer wußten und lernten. Es ist so weit gekommen, daß 
er heute eine Ausnahme bildet, fast eine Komik. Nijnski rettete 
seinen Ruf noch einmal. Aber das hat Zeit. Ich bin noch bei der 
Tänzerin. Ich trenne mich schwer von ihr. 

Ihre Funktion spaltete sich bei den Russen in alle Spezies. Die 
Pawlowa wurde die Allherrscherin. Sie war Tänzerin und Schau¬ 
spielerin in einem. Sie spielte die alte Technik aus moderner Emp¬ 
findung und sie technisierte das moderne Stück auf seine festen 
Gesetze der Körperlichkeit. Die Karsavina setzte einen stärkeren 
persönlichen Reiz ein. Ihre Gestaltung war liebenswürdig, ihre 
Technik impulsiv, ihre Grazie melodisch. Wie viele andere gab es 
noch da, jede in ihrer Art. Die Geltzer heroisch. Die Lupochova quick. 
Die Piltz so springfreudig: Unsere liebe Chiarina mit dem blauen 
Kleidchen und der Blume in der Hand, die sich um unsere ganze 
Betrachtung nicht kümmert, obwohl wir sie gebeten haben, sie in 
ihre Schleppe zu nehmen. Noch steht sie auf dem Blatt. Sie wird 
wegspringen und uns auslachen. Aber selbst beim Wegspringen und 
Auslachen werde ich meine Betrachtung noch fortsetzen, um ihr die 
sogenannte persönliche Bewegung abzulauschen. Jetzt stehe ich da 
mit dem dummen Gesicht, weil ich eigentlich darüber schreiben 
wollte, daß die Solotänzerin erst durch diese ganze gesegnete 
historische Entwicklung dazu gekommen ist, uns zu sagen, was 
persönlicher Körper bedeutet, und daß wir jetzt erst durch diesen 
Prozeß verstehen . . . ach mein Gott! Verzeihe, Chiarina! Auf 
Wiedersehen! 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 407 

III 

Chopin. Chopin, als Episode bei Schumann. Chopin, als Figur 
auf Schumanns Karneval. Schumann war der Prophet Chopins in 
Deutschland. Ein seltner Fall von Kollegialität, nicht wahr? Er läßt 
ihn unter seinen Masken auftreten mit einer Melodie, in der beinah 
mehr Schumann als Chopin ist. Es ist ein lyrisches Intermezzo, nach 
dem größten Lyriker benannt. Fokin sieht noch weiter. Er entdeckt 
das Frauliche in Chopins Seele und erkennt das Kompliment, das ihm 
Schumann (nacht. Er träumt diese paar Zeilen Musik, und ihm ver¬ 
sinkt Schumann, versinkt Chopin, und drei Frauen im Reigen stehen 
vor seiner Phantasie. Drei Frauen im Reigen, sich hin und her wie¬ 
gend, Glieder lösend und schließend. Sinnbild von allem, was im 
Leben beruhigt, verschönt, musiziert. Chiarina ist die eine von ihnen. 
Sie hat mm Freundinnen gefunden und der pas de trois wird ein 
Gedicht in klingenden Reimen. In drei Melodien, von drei Körpern 
geschlungen, unter denen sie die Oberstimme hat. Welche Musik 
tanzt man in Noten, wenn man die Musik des Körpers tanzt? Gebt 
einen Augenblick Geduld. Welche Musik tanzt man? Ich muß es 
wissen, ich muß diese Frage mir einmal überlegen. 

Der Tanz braucht keine Musik, würden die Gelehrten sagen. Er 
braucht sich nur auf dem Takt aufzubauen. Den Takt kann er selber 
darstellen. Zur Not könnte ein Kerl daneben stehen, der ihn mit 
dem Hammer auf einem Holz angibt. Eins, zwei, drei oder eins, 
zwei, drei, vier, fünf, sechs, oder punktiert, eins — zwei, drei, oder — 
drei, vier. Fürchterlich! Der fürchterliche Gelehrte hat recht. Aber 
was ist recht? Beschränktheit, Logik, Wahrheit, Rechtlichkeit. Alle 
rationalen Tugenden, an deren Erfüllung wir sterben können. Geht 
mir davon mit der Vernunft. Die Kunst braucht Überfluß, Ver¬ 
schwendung, Unsinn. Die Musik zum Tanze ist ein schöner Unsinn. 
Sie ist eine reizende Parallele zum Tanze selbst, die ihn hebt, indem 
sie ihm dient, ihn steigert, indem sie ihn kontrastiert Wie zwei 
schöne Frauen, die in einem Wagen fahren. Die eine ist brünett, 
hat ein mattblaues Kleid und einen weißen Topfhut Die andere, 
etwas schmächtiger und kleiner, ist blond, hat ein dunkles Kleid und 
einen breiten Hut. Die Brünette weiß genau, daß sie nicht so wirken 
würde, wenn sie allein führe. Sie braucht den blonden Kontrapunkt 

So sprießt die Musik. Sie wächst auf demselben rhythmischen 
Boden, wie der Tanz, sie geht ins Ohr, wie er ins Auge geht. Sie 
gibt den musikalischen Nerven eine Nebenemotion, die die Haupt- 



408 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

emotion stützt und stärkt. Sie gibt dem Tanz eine wohlige Atmo¬ 
sphäre, in der er sich assoziativer bewegt. Darum, hört zu, ihr 
Tänzerinnen, darf sie nicht zu selbständig sein. Es darf keine Musik 
sein, die ihre Bedeutung in sich trägt und durch einen rhythmischen 
Ausdruck banalisiert werden würde. Nicht Mondscheinsonate. Nicht 
Brahms. Vielleicht Bach, der so metaphysisch ist, daß er auch den 
Tanz in sich schließt. Schumanns Karneval gewiß! Weil es eine 
Musik ist, die weniger aus einem innem Ringen kommt, als aus 
einem äußern Darstellungsbedürfnis. Weil sie die Musik eines geistigen 
Balletts ist, bei dem wir die einzige Sünde begehen, es leiblich zu 
machen. Die Russen haben immer ihre Musik mit Geschmack ge¬ 
wählt. Rimsky-Korsakoff, der auch voll innerer Gesichte ist, oder 
Tschaikowski, oder Chopin, die wiederum angenehm dekorativ be¬ 
gleiten. Niemals ein Dokument seelischen Ausdruckskampfes, immer 
etwas Formfertiges, Bildhaftes. Vielleicht ist es im letzten Grunde am 
besten, irgend eine unwichtige Musik zu nehmen, die genug Rhyth¬ 
mus und Illustration besitzt. Aber das ist für die klönen Leute. 
Die Russen mußten an üppigeren Quellen schöpfen. Sie waren ehr¬ 
geizig auch in dieser Beziehung. Sie hielten die schöne Mitte zwischen 
allzu selbständiger Musik und sklavischer Begleitung. Schumanns Karne¬ 
val war eine prächtige Entdeckung. Das Klavierstück wurde ausge¬ 
zeichnet für Orchester übertragen, es verlor nichts. Vielleicht gewann 
es noch an Sinnlichkeit Die Erinnerung an die Russen deckt sich 
bei uns leidenschaftlich mit dem Klange dieser verfeinerten Ballett¬ 
musik. In ihr geschah ihr großer Durchbruch. 

Schmiegsame Melodien, scharfe Charakterbilder steigen aus den Tönen 
auf. Sie verdeutlichen die Innenzeichnung der Pantomime und lösen 
ihre Kontur in ein süßes Sfiimato auf. Sie schweben fort in dem 
Andenken an diese Abende. Sie zittern weiter, als eine innere Musik, 
die Seele und Atem gibt Wer könnte den Tanz lieben, der nicht 
musikalisch wäre? Wer könnte ihn zeichnen, der nicht ebenso die 
Musik in sich hätte? Es war Chopin, es war Schumann. Chopin 
wurde Figur Schumanns. Schumann wurde Figur Fokins. Fokin 
wurde Figur dieser drei Mädchen. Die drei Mädchen wurden Figur 
Opplers. Oppler sank in meine Worte unter. Die Figur ist zu Ende, 
die Musik soll bleiben. 

IV 

Harlekin und Colombine stehen in inniger Umarmung im Vorder¬ 
grund und stellen sich uns vor, als der berühmte Herr Nijinski und 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 409 

das berühmte Fräulein Karsavina, die in dieser Komödie mit Musik 
und Tanz einen Rausch ihrer Liebe darzustellen haben, ohne törichte 
Worte mit bedeutenden Gesten. Fokin hat die Musik von Schumann 
aus der Klavierphantasie eines Balletts zu der Pantomime einer Bühne 
zurückgestaltet, geistreich, wie Schnabel den Karneval spielt, plastisch, 
wie ihn Kreutzer spielt, dramatisch, wie er ihn selbst erfinden muß. 
Er hat der Musik ein kleines Schauspiel untergelegt voll tragischer 
und komischer Gewalten, voll Spaziergang und Einsamkeit, voll Leiden¬ 
schaft und Intrigue, ein Abbild des Lebens, das sich in ausgewählten 
Körpern zeichnet. 

Was gibt uns Schumann? Er beginnt mit einer Einleitung, die in 
ein tänzerisch leichtsinniges Spiel sich verliert. Pierrot tritt auf, in 
weitatmenden Akkorden melancholisch gefärbt. Harlekin erscheint 
mit Sprüngen von derber Lustigkeit. Es entsteht das Ensemble eines 
langsam gesangreichen Walzers. Eusebius, jene Figur, die wir aus den 
Davidsbündlem als notwendigen Bestandteil von Schumanns Phantasie' 
kennen, zeichnet sich in dem sanften Profil seiner Melodie. Florestan, 
der unvermeidliche Schicksalsgenosse und der notwendige Ergänzer 
von Eusebius, enthüllt seine stürmischen Züge, die nur von seltenen 
Adagio-Bedenklichkeiten unterbrochen sind. Die Kokette hüpft da¬ 
zwischen mit ihren schnell geschürzten Punktierungen des Rhythmus. 
Die Papilions huschen vorüber. Eine Erinnerung beschäftigt Schumann, 
er läßt sein Fräulein Asch ASCH-SCHA die Tanzbeine heben nach den 
Noten ihrer Buchstaben. Ich glaube, Fokin haben diese Lettres dan- 
santes nicht interessiert. Er hat sie wohl ausgelassen, so wie er, 
wenn ich mich recht erinnere, auch den tanzenden Paganini ausließ, 
eine Konzession Schumanns an seine Zeit. Wir werden Ysaye nicht 
tanzen lassen. Aber nun führt Schumann seine Chiarina vor, der er 
die blumigste und verschlungenste seiner Melodien gegeben hat. Leise 
tritt auf einige Augenblicke Chopin hervor mit der stillen Anmut 
seines träumerischen Gesichtes. Schon erscheint Estrella. Sie hat eine 
affektuöse Melodie, deren Begehrlichkeit wir nicht widerstehen können. 
Eine Episode vereint die Paare, Reconnaissance genannt und hoffent¬ 
lich so von allen verstanden. Pantalon, der ewig düpierte Alte, rennt 
hinter Colombine her, und sie lassen sich von einem Presto in Sechs¬ 
zehnteln ihre Gefühle ausdrücken. Plötzlich die Valse allemande, be¬ 
dächtig, nachdenklich und als ihr Mittelteil besagter springender Paga¬ 
nini, der die Akrobatik der Violine auf das Klavier überträgt. Warum 
hat Fokin ihn schließlich doch nicht hineingenommen? Weil er sich 



41 o Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

auf das engere Drama beschränkte und nur bei Chopin eine Ausnahme 
machte, wegen der Schönheit der Melodie und der angenehmen 
lyrischen Unterbrechung. Schumann wird intimer. Er reiht das Aveu 
ein, ein Geständnis von solcher Zartheit, daß plötzlich der Rausch 
des Balles stille zu stehen scheint, und wir einen Augenblick erfahren, 
daß diese Masken Seelen haben. Masken? Schrieb Schumann etwas 
anderes als seelische Geständnisse? War sein Karneval je etwas anderes 
als ein Tagebuch rührender und ergreifender Erlebnisse? In der Prome¬ 
nade, in der er jetzt die Paare zusammenführt, haben sie sich etwas 
zu entdecken. In der Pause, die er nun voller Musik enthüllt, wer¬ 
den ihre Geheimnisse Dreivierteltakt. Und in dem Marsch der Davids- 
bündler gegen die Philister offenbart er, daß alle diese Karnevalisten 
nicht nur nicht Masken waren, nicht nur nicht ihre Seelen aushauchten, 
sondern Teile seiner eigenen Seele sind, seiner Kämpferseele, die einen 
Ball benutzt, um neue Musik gegen die Zopfigen, neue Formen gegen 
die Schriftkundigen und Pharisäer durchzusetzen. „Und als der Gro߬ 
vater die Großmutter nahm“, das alte Lied aus dem siebzehnten Jahr¬ 
hundert, wird das Spottlied gegen die Philister. Von der Musik in 
immer neuen Staffeln aufgebaut, bis alles lacht, stürmt, erobert, 
triumphiert. 

Jetzt habe ich mich verraten. Jetzt muß ich sagen, daß Fokin eine 
Musik, die ein Bekenntnis ist und schließlich doch eine Kampfansage, 
dazu benutzt hat, daraus ein Biedermeier-Ballett zu machen, ich wollte 
es nicht sagen, aber daran ist das verfluchte Klavier schuld, auf dem 
ich mir eben den Karneval wieder spielte, weil er so schön ist, weil 
er meine Jugend ist und weil ich an ihm Kunst verstehen lernte. 
Und so will ich gestehen, daß ich damals, als ich die Russen sah, 
als ich den Karneval zwanzig-, dreißigmal genoß, nicht an Schumann, 
nicht an sein und mein Seelenheil dachte, sondern mich inniglich 
freute, wie bildhaft diese Musik unter Fokin geworden ist. Wenn 
die Paare hintereinander im gleichen Schritt auf die Bühne tanzten, 
ging eine Welle von Wohlgefühl durch mein Herz. Wenn der trau¬ 
rige Pierrot vom am Souffleurkasten hängen blieb, wie eine falsche 
Interpunktion, war ich entzückt von diesem Ornament des Lebens. 
Wenn er, der Ungeschickte, Mondesbleiche, ewig Verlassene sich an 
einen Papillon kettete, um einmal nur Sonne und Flug eines freieren 
Daseins empfinden zu dürfen, entstand in mir ein wahrer Rhythmus 
von Weltanschauung. Und wenn der lustige Harlekin vor Colombine, 
die verständnisvoll auf einem Sofa sich hinbettete, sein Herz aus dem 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 411 

Busen riß, so war mir diese Bewegung mehr, als sämtliche vierund¬ 
achtzig Töne des Klaviers. Ja, so war es. Die Davidsbündler haben 
ausgekämpft, Fokin interpretiert sie mal so, mal so, läßt sie halt 
tanzen, und wenn die Philister noch einen Rest von Dummheit in 
sich fühlen sollten, so haben ihn Nijinski und Karsavina hoffentlich 
endgültig verscheucht. Gott, wer weiß, wie es schließlich mit der 
Seele bestellt ist? Der Körper ist zuverlässig, immer wandelbar und 
ewig neu. Nicht wahr, Ihr beiden? 

V 

Wir sehen kein bloßes Ballett, sondern ein Stück Theater. Die 
vorderen Reihen der Zuschauer und das Orchester dunkel und schattig, 
den Bühnenrahmen, ein Stück zurückgezogenen Vorhang und schräg 
auf die Bühne selbst, auf der in hellem Lichte vor Bäumen um ein 
mittleres Paar das Corps de Ballet in weißen Gazeröckchen sich 
bewegt. Hier ist das festliche Theaterbild, jene eigentümliche Stimmung, 
die von einer beleuchteten tanzenden Bühne in den erwartungsvollen 
dunklen Zuschauerraum -dringt. Man denkt an alte Stiche aus dem 
achtzehnten Jahrhundert. Man denkt überhaupt daran, wie eigentlich 
Ballett von Malern dargestellt worden ist, im Laufe der Stile und 
Moden. Darf ich bei der Gelegenheit etwas davon erzählen? Gerade 
diese Radierung reizt dazu. 

Ich muß die merkwürdige Beobachtung voranstellen, daß es sehr 
wenige künstlerische Ballettdarstellungen gibt. Man könnte das durch 
geistreiche Hypothesen erklären wollen, indem man von der Beweg¬ 
lichkeit des Tanzes und der Unbeweglichkeit des Bildes spricht, und 
$0 weiter. Aber ich finde es einfach imerklärlich. Ich finde, daß 
überhaupt erst unsere Zeit diesen Dingen auf den Geschmack ge¬ 
kommen ist, daß sie erst die malerischen und formalen Reize des 
Tanzes erkannt hat. Doch eben dies ist nicht eine Lösung unserer 
Frage, sondern nur ihre Bestätigung. 

Was wir aus dem achtzehnten Jahrhundert von Ballettdarstellungen 
haben, unterscheidet sich nicht von den konventionellen Festbildem. 
Auf diesen Stichen stehen die Tänzer in symmetrischer Haltung und 
tun nichts anderes, als eine Architektur, die in den Dekorationen 
angegeben ist, mit ihren Körpern zu erfüllen. Nun gut, jede Zeit 
spricht ihren Geschmack in den Idealen der Künstler aus. Der da¬ 
malige Geschmack war feudal und mathematisch. Aber man sollte 
wenigstens denken, daß nach dem Herauswachsen der Solotänzerin 



41 * Oskar Bte, Variationen über ein choreographisches Thema 

die Künstler freudig die Gelegenheit ergriffen hätten, ihre galante 
Ästhetik durch berauschende Schilderungen weiblicher Tanzherrschaft, 
durch eine glänzende Wiederbelebung der großen Szenerien dieser 
Körperfeste zu bekunden. Davon ist nichts zu spüren. Es gibt ein 
paar Tanzporträts der Camargo von Lancret, ein paar Menuettdar¬ 
stellungen aus der Gesellschaft und überhaupt aus diesem Gesellschafts¬ 
tanz allerlei nette und wichtige Stiche, wie von St. Aubin. Aber 
richtige breite, volle, satte, farbige und duftende Ballettbilder gibt es 
in der Malerei und Graphik so wenig, wie cs auf der Bühne viele 
gegeben hat. Allgemein kann man sagen: die ältere Zeit liebt korpo¬ 
rative Darstellungen, die spätere Einzelporträts. Heut liegt uns beides. 
Die Zeichner sitzen vor den Solotänzerinnen und versuchen, die Eigenart 
ihrer körperlichen Dynamik festzuhalten. Und sie skizzieren ebenso 
das Gesamtbild der bewegten Masse. Sie stellen sich linear zu ihrer 
Aufgabe und ebenso auch malerisch. Sie verbinden Porträt und Typus. 
Degas hat als Erster die Balletteuse im Gazeröckchen monopolisiert. 
Was ihn dabei reizte, war nicht nur alles Plötzliche und Bizarre der 
Bewegung, sondern vielleicht noch mehr das Malerische, das Farben¬ 
spiel, die Vielfältigkeit der Reflexe auf Stoff und Haut. Sein Im¬ 
pressionismus fand hier Schule und Gesetz in einem Objekt, das 
dennoch malerisch ausstrahlt. Ein solcher Fall kann sich niemals 
wiederholen. Es war eine ungemeine Spezialität. Bei andern geht 
das Malerische und Zeichnerische in die Naturelle auseinander. Renouard 
war in seiner Art Spezialist der Fixierung von Ballettstellungen, von 
choreographischen Formen. Soweit lag ungefähr die Übung bis zum 
Auftreten Opplers. 

Man kann sagen, daß er die Erfahrungen seiner wenigen Vorgänger 
zu einer neuen Einheit zusammenfaßt, ohne sich in diesem Fache zu 
spezialisieren. Sein Reizpunkt ist nicht die Balletteuse, sondern das 
moderne Ballett. Das Ballett in seinem ganzen Umfang farblicher und 
stilisierender Elemente, als Einzelfigur, als Ensemble, als Masse, im 
originalen Lichte, in der Beleuchtung der Phantasie, kurz in einem 
Komplex von optischen Schönheiten, den er uns von der Bühne in 
die Erinnerung vermittelt. Er umgibt seine Blätter mit dem ganzen 
Duft eines mondänen Zaubers, einer weltstädtischen Eleganz, der jenem 
Erlebnis ebenso eigentümlich war, wie er der weichen und gefälligen, 
aber immer präzisen und von der Wirklichkeit erzogenen Kunst 
Opplers anhaftet. Nicht Choreographie, nicht Porträt, nicht Technik, 
keine trockene Sachlichkeit ist auf diesen Blättern zu suchen. Der 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 413 

einzige Reflex und die einzige Valeur, für die sie sich interessieren, 
ist Reflex und Valeur, die sie jener Weltbühne zurückgeben, jenem 
russischen Theater, dessen Charme und Kraft uns alle mit ihm weckte 
und entzückte. 

Oppler holt im finsteren Publikum heimlich sein Skizzenbuch hervor 
und macht sich mit ein paar Zeichen Erinnerungsbilder an das Schnell- 
gesehene. Er hält eine Bewegung fest, eine Kreuzung, eine Gruppierung, 
ein malerisches Gegenspiel. Voll der vibrierenden Eindrücke ruft er 
in der Nacht die Vision der gesamten Erscheinung zurück. Am 
nächsten Morgen skizziert er eilig mit öl das reizvolle Bild aus dem 
Gedächtnis und setzt die gezeichneten Bewegungen, Rhythmen, Melodien 
wieder in ihr Milieu ein. Die Skizzen und Zeichnungen häufen sich 
in Mappen. Von Zeit zu Zeit steigt ein bestimmtes Motiv zwingender 
auf. Es gestaltet sich so und so, immer wieder anders, zuletzt end¬ 
gültig in der schwarzweißen Sprache. Ist der Beschluß gefaßt, so 
beginnt die Radierung. Es kann nie genug geschehen. Der Künstler 
heftet sich an die Füße seiner willigen Modelle. Er folgt ihnen 
hinter die Kulissen. Er folgt ihnen auf Reisen. Er geht mit nach 
Paris, wo die Russen die für sie gedichtete und komponierte „Josefs¬ 
legende“ von Richard Strauß aufführen. Er ist täglich mit ihnen 
allen zusammen. Er zeichnet in Proben und an den Abenden. Der 
Bund fürs Leben ist geschlossen. Arbeit um Arbeit. Kunst für Kunst. 

VI 

Rimsky-KorsakofF schrieb eine sinfonische Dichtung Scheherazade. 
Seine Musik, voll von orientalischer Pracht, klang wie eines der 
blutigen Märchen aus Tausend und einer Nacht Sie klang in Fokins 
Ohr so kräftig, daß sie aufs Auge übersprang und eine große Pan¬ 
tomime gebar, die sich über diese Musik öflbete. Die alte Fabel 
von der Untreue des Weibes wäre wenig Inhalt, sie ist hier mit 
einem Luxus von Personen ausgestattet worden, wie er nie wieder 
vorüberrauschte. Mein Wort wird lahm, wenn ich diese orgiastische 
Erinnerung noch einmal hervorzaubern will. Ein Bruder hat die 
Untreue seiner Frau erfahren, glaube ich. Er kommt, glaube ich, 
zu dem andern Bruder, und er beteuert ihm die Treue seines Harems. 
Sie gehen, erinnere ich mich, auf eine Jagd. Man wußte nicht recht, 
was sie wollten. Aber was Fokin wollte, sah man sofort Kaum 
war er die beiden Brüder los, die er aus irgendwelchen Motiven 
der Musik geformt hatte, jetzt weiß ich es, da begann die Orgie. 



414 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

Die Sklaven wurden aus den Käfigen gelassen, und Nijinski war der 
Obersklave. Sie stürzten sich auf die Weiber. Es kochte ein Rausch 
des lebendigen Blutes auf, der von einem Rausch des getöteten Blutes 
abgelöst wurde. Denn die Brüder kamen zurück und mordeten! Der 
Weg Fokins war von der Liebe zum Tod, von der Ekstase des 
Körpers zu seiner Versteinerung. Die Musik ließ es sich sagen. Sie 
gehorchte dem Befehl und machte wenig Anstalten, nach ihrer Art 
die Leidenschaften zu zähmen. Sie steigerte sie nur. Zwischen den 
orgiasdschen Massen und der aufgeregten Musik begann ein Streit 
um die höhere Sinnlichkeit. Der Körper besiegte den Ton, man 
hörte ihn kaum noch. Man hörte das Stück, das an Symphonieabenden 
eine gute Figur für sich macht, nur noch Figur der Bühne werden. 
Das Einzelne entfiel dem Blick. Das Gleiten Nijinskis — ich sehe es 
noch. Aber es war nur wie siedendes Wasser auf Höllenfeuer. Es 
war Schrei des Körpers, Triller der Erregung, Koloratur der Lust. 
Eingesogen von einem Ensemble, das in ungeheuerer elementarer 
Verve durcheinander stürmte, sich überschlug, sich ineinander krampfte, 
sich auf löste, um sich wieder zu vereinigen, aber niemals den Rhythmus 
verlor, den der Künstler auch der zügellosesten Bewegung als Maß 
zuerteilt. Seht auf die Orgie, wie sie der Maler zu erfassen strebte. 
Er hat die Impression des Trubels gegeben und dennoch die Figur 
gestaltet Er hat eine Vielfältigkeit sinnlichen Ausdruckes gemischt 
und dennoch die Linie gewahrt. Auch er hat der Tollheit den Takt 
und das Tempo vorgeschrieben, daß sie in der furchtbarsten Aus¬ 
gelassenheit doch niemals den Stil ihrer Kunst verrät. Das war die 
Aufgabe für den Ballettmeister, wie für den Radierer, die besondere 
Aufgabe der Scheherazade, das Gesetz der Wildheit aufzustellen, ln 
solchen letzten Augenblicken, in solcher äußersten Spannung, offenbart 
sich das Gewissen. O vornübergebeugte keuchende Brust! Aber 
wie könnte man wohl dies Gewissen, diesen Stil und diese Gesetz¬ 
mäßigkeit beschreiben? Weil sie als Normen zu abstrahieren sind. 
O geil erhobene Hände! Wir müssen der Phantasie überlassen, die 
Impression des Tänzers, wie des Graphikers, in jene köstliche Ver¬ 
wirrung zurückzuträumen, die das eigentliche Leben der Kunst im 
Augenblick des Eindruckes war. O Zuckungen krampfig geworfener 
Leiber! 

Diese schöne Verwirrung, dieses bunte Chaos des Lebens ist bis 
in eine Unendlichkeit hin auszudenken. Die Kunst, auch die Ballett¬ 
kunst, wird immer zwischen der Vielheit der Kräfte und der Einheit 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 415 

der Harmonie ihren Pendel schwingen lassen. Je sicherer das Be¬ 
wußtsein des Stiles ist, desto weiter darf die Kunst ihre Distanz 
nehmen. Ich habe nirgends dies Problem so wirklich gefunden, wie 
gerade in den Märchenballetts der Russen. Kleopatra gehörte dahin. 
Der Blaue Gott, den Nijinski verkörperte. Vor allem das fabelhafte 
Petruschkaballett mit der genialen Musik Strawinskis, das mit Mario¬ 
netten uns Tragödien spielt, mit Figuren ein Leben, so tief, wie nur 
irgendeine Dichtung, und doch so exakt, als sei es eben aus der 
Schule hervorgegangen. Kostüm, Dekoration, Regie, Musik, alles gehört 
zusammen. Gehörte wenigstens bei den Russen zusammen, die dies 
neue Gesamtkunstwerk, ohne das verräterische gesprochene Wort, zu 
seinem radikalsten Siege führten. Märchen wurde alles und dabei 
war es nur eine Folge bestimmter Pas und Mimiken. Alles schien 
in fernen Welten zu schweben und war doch greifbar an Körper 
und Naturgesetz. Die Musik war damit vollkommen in Einheit, denn 
sie ist ein Wesen, aus Mathematik und Mystik in unbegreiflicher 
Weise zusammengesetzt. Die Russen gaben auch bürgerliche Balletts, 
alte Geschichten, wie das schlecht bewachte Mädchen oder die Giselle 
von Adam. Aber selbst in diese Region leuchtete von dem Märchen¬ 
zauber ihrer Welt ein Schein, der Form und Phantasie auf eine be¬ 
neidenswerte Art versöhnte. 

Die dekorative Einheit des getanzten Märchens blühte in der 
Scheherazade. Üppige, hängende, wuchernde Dekorationen und 
Kostüme in jener heftigen Sprache, die die großen Kleiderkünstler 
der Russen verstanden, Benoit und vor allem Bakst. Bakst hat ein 
Repertoire von Kostümen geschaffen, das in der Ballettkunst lange 
Zeit einzig war, das für alle Folge Epoche machte. Der Linie des 
Körpers zu folgen oder diese Linie absichtlich zu durchbrechen, die 
Kontraste unserer Glieder auszugleichen oder zu übertreiben, die 
Musik der Farbe in vorher abgestimmter Polyphonie über das Kleid 
zu verteilen, oder groteske Kontraste zu schaffen, phantastischen Kopf¬ 
schmuck, wilde Behänge, entsetzliche Bauchillustrationen, alles Rusti¬ 
kale monumental zu machen, alles Zarte zu einem letzten Hauch zu 
verfeinern, und sämtliche Spiele von Frage und Antwort durchzu¬ 
kosten, die die Haut mit dem Stoff vollführt, Heimlichkeiten der 
Haut, Hemmungen des Stoffes, Geständnisse des Trikots und die 
tausend Nüancen, die das Gewand im Echo der Bewegung findet — 
das sind seine großen Künste. Die Russen schreckten vor nichts 
zurück. Sie haben zunächst eine Anarchie des Dekorativen losgelassen. 



41 6 Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 

die sich bis zu den kühnsten Revolutionen der Kulisse und des 
Kleides hervorwagte. Dann aber haben sie diese Anarchie gebändigt 
mit dem Zauberstab ihrer Schule und Technik, und haben uns für 
alle Zeiten gezeigt, wie auch das letzte Märchen unserer Einbildungs¬ 
kraft Gewißheit und Wirklichkeit werden kann, wenn man es in 
einen vollkommenen Stil setzt. Die Orgie der Scheherazade so zu 
tanzen und so zu kostümieren, so zu dekorieren, bedeutete eine Tat. 
Ich weiß nicht, ob ich sie habe erklären können. 

VII 

Wenn es nur ein Notturno ist. Das ist immer schön und sinnig. 
Es ist gleich, nach welcher Musik da getanzt wird. Bei „Schwanen- 
see“ war es Tschaikowski, bei den „Sylphiden“ war es Chopin. Irgend 
etwas Zusammengestelltes von Chopin, ich weiß nicht was, es ist j a 
immer voller Melodie und Süßigkeit. Und es klingt so leise, wie der 
Mondschein, und zarte Lüfte wehen durch die Musik, wie durch die 
Röckchen der Tänzerinnen und durch den gemalten Park und durch 
unser Gemüt. 

Ja, die Röckchen! Man hat sich sehr über sie aufgeregt, als die 
neue Tanzkunst aufkam. Man sagte: diese steife Toilette ist ein Ge¬ 
rüst des Körpers, nicht Leben und Bewegung auf ihm. Sie ist aus 
einer alten Zeit übriggeblieben, gleichsam ein Berufskostüm, das sich 
so herausgebildet hat, um die Beine gut zu zeigen, dem Rumpf seine 
Linie zu lassen, um so ein huschiges Etwas, als zitternden Kreis um den 
Körper zu legen, ein bißchen Frou frou, ein bißchen Koketterie, gutes 
Rokoko, aber doch fest und unveränderlich. Man sagte, daß das nun 
endgültig vorbei sein müßte. Denn der Tanz sei von der Architektur 
in die Malerei übergegangen, und alle Sinne seien darauf gerichtet, 
sämtliche individuellen Möglichkeiten des Kostüms auszukosten. Fort 
mit der Uniform, es lebe das Solo! 

Die Russen widerlegten diese Ansicht schlagend. Sie, die die größten 
Revolutionen machten, verteidigten die größte Tradition. Sie offenbarten 
uns zum ersten Mal wieder die entzückende technische Poesie des alten 
Balletts. Gewiß, das moderne Tanzkostüm hat an seiner Stelle sein 
Recht, und gerade die Russen haben bewiesen, welche weiten Wege 
es führen kann. Aber das Gazeröckchen ist nicht bloß trockne Über¬ 
lieferung, ist nicht Schule und Faulheit, nicht Zufall und Literatur, 
sondern es ist ein sehr lebendiges Instrument des Tanzes, dessen Reiz, 
wenn wir offen sprechen sollen, in einem wunderbaren Gemisch von 



Oskar ßie, Variationen über ein choreographisches Thema 417 

Tradition und Sinnlichkeit besteht, ron Arbeit und Liebe. Schwer 
zu sagen, was da alles zusammen wirkt. Es wurde die Uniform der 
Tänzerin aus einer bestimmten organischen Entwicklung in der Ge¬ 
schichte, aber gleichzeitig lieben wir es eben als Ausdruck dieser 
historischen Tatsache. Es ist historisch, aber zugleich ungemein kleid¬ 
sam. Es ist kleidsam und sehr praktisch. Kurz es ist eine reiche 
Kreuzung nützlicher, ätherischer, historischer und stilistischer Quali¬ 
täten. Wenn die Tänzerin es anzieht, so tritt sie damit in den eigen¬ 
tümlichen Zauberkreis ihres leicht beschwingten Berufes ein. Sie läßt 
alles Bürgerliche von sich fällen, sie verschwistert sich auch nicht mit 
dekorativen Musen, die um sie buhlen, sie bleibt nichts, als die Ballet¬ 
teuse und darf sich darauf verlassen, daß ihr Kleidchen alle Sugge¬ 
stionen ausschattet und auswirbelt, deren ihre Kunst bedarf. 

In der Mitte tanzt das Duett der beiden Solisten. Zur Seite be¬ 
wegen sich acht Sylphiden, die eben im Begriffe sind, ihre Ober¬ 
körper nach außen zu beugen, halb in der pendelnden Bewegung ihres 
Schrittes, halb um das Geheimnis der beiden in der Mitte nicht zu 
vertanzen. Die Gleichmäßigkeit ihres Schrittes, die Gleichmäßigkeit 
ihres Kostüms sind die Keime ihres Gedichtes — Spitzentanz, weiße 
wehende Röckchen, porzellanene Delikatessen, Zierlichkeit der Glieder, 
süßer Zwang des Parallelismus, alte Zeit, neue Zeit, Mondschein, Träumen 
und Vergessen. 

VIII 

AVir kommen nicht los von den Sylphiden. Warum tauchen wir 
immer wieder unter in diese Silberpracht? Weil eben gerade die Wider- 
holung, das Festgefügte, das Gleichgebaute uns dabei reizt, wie die 
Form einer alten Arie, die sich wiederholen muß, um sich zu be¬ 
stätigen und sich erst recht schon zu machen und in der Erinnerung 
sich zu vertiefen. Was ist es anderes, was wir hier sehen, als be¬ 
wegte Architektur? Was bedeutet die Gruppe, das Ensemble, das 
Korps anderes, als eine tektonische Gliederung der Körper nach 
den Gesetzen der Musik? Die beiden da in der Mitte haben ihren 
Pas de deux hinter sich. Er schließt mit einer Attitüde altbewährter 
Art, wobei die Tänzerin den einen Fuß nach hinten hochhebt, den 
Oberkörper ein wenig vorlegt und von dem Tänzer gehalten wird. 
Er hält sie nicht, weil sie sonst fallen würde, sondern weil diese 
Kombination der beiden Figuren eine bestimmte Gruppenplastik dar¬ 
stellt, die ihre besondere tänzerische Kultur hat. Der Tänzer wird 
zum Diener der Tänzerin. Er hat sie nachgeahmt. Er ist ihr begegnet. 

*7 



418 Oskar Bit, Variationen über ein choreographisches Thema 

Jetzt unterstreicht er ihre Apotheose durch seine stutzende Haltung. 
Das Korps auf beiden Seiten, sechzehn erste Violinen, neigt sich wieder 
nach außen, um die schon bewährte chiastische Linie noch einmal im 
größeren Maßstabe zu wiederholen. Alles ist Form, Bewährung, Sym¬ 
metrie, Überlieferung und doch immer wieder neue Lebenskraft. Das 
ist das technische Wunder. 

Die Russen haben die Schule des Weltballetts bewahrt, das etwa um 
achtzehnhundertzwanzig, -dreißig herum in dieser Form fertig war. 
Durch eine feste Zucht in den Schulen, durch dauernde Fortpflanzung 
der Lehren hat es diese Kultur bis heute bewahren können. Was wir 
sonst nur in alten BQchem lasen, wurde hier noch einmal Wirklich¬ 
keit. Ich hatte Bibliotheken studiert, aus einem dunklen Interessa für 
die Geschichte des Tanzes heraus, hatte die alten Schulen der Fran¬ 
zosen und Italiener durchgeackert, um mir ein annäherndes Bild dieser 
Kunst zu machen, die auf unsern Bühnen abgestorben war. Ich führte 
in meinem Kopfe gewaltige Balletts auf und probierte in einem heim¬ 
lichen Winkel des Zimmers die ehrwürdigen Schritte der großen 
Meister. Ich drehte verstaubte Choreographien in den Händen hin und 
her und rekonstruierte mit schwitzender Mühe mir die leichteste aller 
Künste. Ich schrieb ein dickes Buch Uber den Tanz, das von Sehn¬ 
sucht ebenso voll war wie von Gelehrsamkeit. Da kamen die neuen 
Tänzerinnen, und ich verwarf die alte Schule. Da kamen die Russen, 
und ich liebte die alte Schule. Ich verstand jetzt erst, was ich ge¬ 
lesen und studiert hatte. Am lebendigen Leibe offenbarte sich nur 
Magri und Castil-Blaze. Versteinerte Architektur bekam Blut und Nerven. 
Die Schritte sprachen, die Akkorde der Attitüden klangen. Der Rhyth¬ 
mus wurde kochender Puls eines Weibes. Beides muß sein. Das Solo, 
das der moderne Tanz emanzipierte, und die Gruppe, wie sie alte 
Kunst herausbildete. Das Duett, Terzett, Sextett, der Chor, wenn sie 
den mathematischen Trieben folgen, sind uns Symbole einer Natur¬ 
kraft. Sie heben die Beine, sie drehen die Rümpfe, sie strecken die 
Arme, aber sie stehen nur unter dem Befehl einer höheren Gewalt, 
die ihre Körper und Glieder benutzt, ewige Formen in ihnen zu ge¬ 
stalten. Der Ballettmeister der alten Zeit hütete die Disziplin seiner 
Truppe. Die Vorführungen waren ein soldatisches Spiel zum Ergötzen 
seines Herrschers. Triumph drückte sich aus in der Schematisierung 
der Masse, in der Bindung des Ensembles. Der Herr knetete die 
Menschen, wie er Häuser, Bäume, Feuer und Wasser knetete, nach dem 
Druck seiner tyrannischen Hand. Der Herrscher ist fort. Die Disziplin 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 4 1 9 

gehört sich selbst. Die Form ist erlöst ans dem Willen des Einzelnen 
zur Religion der Natur. Welches ist die mystische Kraft, die uns vor 
diesen gleichmäßig und geordnet tanzenden Körpern ergreift? Es ist 
das Naturgesetz, das dem Einzelnen die Diktatur genommen hat und 
seine Schönheit uns allen zurückgibt. Ihr wißt es nicht, wenn ihr 
entzückt seid von der wohligen Ordnung dieser Paare, von dem 
disziplinierten Schritt dieser Promenaden, Paraden und Runden. Aus 
uraltem Militärgeist sind elementare Grundkräfte emporgestiegen, frei 
von dem Geruch ihrer Kasernen, frei von der Knute ihres Selbst¬ 
herrschers. Sie sind Sylphiden geworden, gefällig, gehorsam, begeistert, 
reizender Mechanismus, klingendes Uhrwerk, gleichgefedert, Spitzen¬ 
tanz, weiße wehende Röckchen, porzellanene Delikatesse, Zierlichkeit 
der Glieder, süßer Zwang des Parallelismus, alte Zeit, neue Zeit, Mond¬ 
schein, Träumen und — niemals Vergessen. 

IX 

Heimkehr vom Ball. O, wie war es schön. Diese vielen Lichter 
und diese vielen Menschen und soviel, soviel getanzt, getanzt mit ihm, 
dem Herrlichen, welch wundervoller Mann, welche Eleganz, welcher 
Schwung in seinen Gliedern. O, ihm für immer anzugehören. Welcher 
wonnige Gedanke. Er hat ihr eine Rose gegeben, die sie noch in der 
Hand hält. Ach, wie müde ist sie. Aber die Erinnerung an ihn heißt 
ihr Herz noch lebhaft schlagen. Sie entkleidet sich langsam, um zu 
Bett zu gehen. Dann läßt sie sich auf einen Stuhl sinken und denkt 
noch einmal an ihn zurück, ehe sie sich dem Schlafe in die Arme 
gibt. Leise schlummert sie ein. Das Bild des geliebten Mannes steigt 
ihr im Traume auf, und noch einmal ist es ihr vergönnt, mit ihm zu 
tanzen, nicht mehr in Wirklichkeit, sondern nur noch im Märchen 
ihrer Phantasie. Es war ein schöner Traum. Er wird sie in die Nacht 
begleiten, und ihr erster Gedanke beim Aufwachen wird derselbe sein, 
wie der letzte beim Einschlafen. O selige Jugend! O Wonne der 
ersten Liebe! 

Nicht wahr, eine recht triviale Geschichte? Für Backfische erzählt, 
in glatte Reime gebracht und in Goldschnitt gebunden. Da seht ihr 
die Gefahr der Schöngeisterei beim Ballett, da seht ihr die Unmög¬ 
lichkeit, losgelöst von der sichtbaren Kunst solche Dinge zu erzählen. 
Wieviel Süßlichkeit, wieviel Banalität liegt darüber. Hier und immer. 
Alle Ballette haben etwas Dummes, Ungebildetes, Gewöhnliches in 
ihrem Texte, weil sie von den einfachsten Vorstellungen ausgehen 



4io Oskar Bia, Variationen über ein choreographisches Thema 

müssen, die sich zur Verkörperung im Tanze eignen. Ich sage: alle, 
aber das ist nicht ganz richtig. Gute Dichter haben Pantomimen ge¬ 
schaffen, in denen letzte Aufgaben der orchesdschen Kirnst gestellt 
werden. Ich nenne nur die Josefslegende, die ganz auf Bewegung 
im Raume gedacht ist. Aber wenn wir ganz ehrlich sein wollen, ein 
klein bißchen süßer Kitsch sitzt auch hier in versteckten Winkeln. 
Staubt das Ballett aus, und ihr werdet ihn entdecken. Macht nichts. 
Es gibt eine Berührung des Kitsches mit der Elementarität der Natur, 
die wahr und gesund ist. Schließlich sind die trivialen Dinge diejenigen, 
die als beste Weisheit bleiben. Auf den Ball gehen, viel tanzen, sich 
verlieben und im Schlafe von ihm träumen, das ist Alltäglichkeit, die 
nur von der Form geadelt zu werden braucht, um ewige Kunst zu sein. 

Darum erzähle ich nichts mehr. Ich sehe Nijinski und die Karsa- 
vina, wieder einmal in den tausend Verwandlungen, die sie durchzu¬ 
machen hatten, obgleich sie niemals etwas anderes tanzten, als Liebe 
und Liebe und Liebe. Hier stehen sie vor hohen Vorhängen, verti¬ 
kalen Dekorationen, die uns ihre Körper nach aufwärts ziehen. Der 
Mann, Nijinski, springt, als fliege er. Seine Füße sind Federn, sein 
Leib ist Geist Er schnellt hoch, an die hundert und tausend Meter, 
bis er in den Himmel kommt und die Sehnsucht seiner kleinen Dame 
tief, tief unten erblickt, die ihn endlich wieder zu sich lockt. Er 
springt und springt, wie die alten Tänzer des französischen Königs¬ 
hofes gesprungen sind, aber diese sprangen zur Ergötzlichkeit der Ge¬ 
sellschaft, er springt aus Freude an der Freiheit von der Erde. Schon 
springt er wieder und bleibt fünf Jahre lang in der Luft hängen, bis 
ein Krieg vorbei ist und die Menschen seine apollinische Kunst, seinen 
hermaphroditischen Körper, seinen doppelgeschlechtlichen Tanz sich 
wieder verdient haben. Mysterium des Menschen! Weiß die kleine 
Dame, was sie träumt? Unten im Orchester ertönt Webers Aufforderung 
zum Tanz, oben vollzieht sich dies kosmische Schauspiel einer unver¬ 
geßlichen Poesie über den Text, den ich zuerst erzählte. 

X 

Fokin hat die Partitur des gewählten Musikstückes in der Hand. 
Er geht auf und ab und vertieft sich in die pantomimische Welt, 
die dort noch versteckt liegt Die Ideen springen auf und formen 
sich. Er macht sich Notizen, er rückt die Szenen hin und her, trennt 
sie, vereinigt sie und bat allmählich den Plan des neuen Balletts ent¬ 
worfen. Er besetzt es mit den Künstlerinnen, deren Persönlichkeiten 



Oskar Bie, Variationen über ein choreographisches Thema 4 z 1 

ihm je für die Rollen geeignet erscheinen. Jetzt beginnen die Proben. 
Das gewöhnliche Kostüm dafür ist eine Art griechisches Kleid, das 
die Glieder gut frei läßt. Abschnittweise wird einstudiert, einzeln 
und im Ensemble. Der Ausdruck, die Gesten, die Schritte, die Grund¬ 
risse finden sich zusammen. Die letzten Proben werden im richtigen 
Kostüm ausgeführt, in irgendeinem Raum, der dafür zur Verfügung 
steht. Die Musik wird auf dem Klavier gespielt. Endlich geht man 
in das Theater, das Licht tritt dazu, die Dekorationen, das Orchester 
und dann, wenn alles vorbei ist, das Publikum. Eine unendliche 
Mühe, eine unermüdliche Arbeit, Emst, Wille und Geschmack sind 
nötig, um das Resultat zu erzielen, das wir kennen. 

Die Stadien der Probe sind beim Ballett noch reizvoller, als beim 
übrigen Theater. Wie soll ich sagen? Sinnlichkeit, Erotik, alle körper¬ 
liche Lust und Verführung, die am Abend sprühen müssen, um der 
Kunst Blut und Fleisch zu geben, werden hier durch die Sachlichkeit 
des Berufs, durch die Disziplin der Arbeit zugedeckt, wie selbstver¬ 
ständliche Voraussetzung. Es ist das Extrem des Dialogs der fran¬ 
zösischen Komödie. Diese spielt nachträglich mit einer Erotik, die 
man nicht erwähnt, weil sie als eine Tatsache des Lebens Besitz und 
Verständnis aller weltlichen Seelen geworden ist. Hier sind wir eben¬ 
soweit vor derselben Erotik, die sich als Produkt künstlerischer 
Wirkung schon einstellen wird, weil sie leiblich erglüht. Das ergibt 
eine merkwürdige Atmosphäre. Die Tänzer wissen kaum etwas davon. 
Der Maler und der Dichter riechen sie. Fokin, mit seinem scharf¬ 
geschnittenen, bartlosen, energischen und sehr künstlerischen Kopfe 
sitzt in gespannter Aufmerksamkeit links vom mit den Noten in der 
Hand und gibt seine Zeichen. Rechts hinten steht Djagilew, der 
Leiter der Truppe, ein freundlicher dicker Herr, aber doch von einer 
hoffnungsvollen Innerlichkeit in den Augen. Die Lupochowa hat 
ihren Soloschritt, Nijinski wartet auf sein Stichwort. 

Das Ballett hat sich vor den Kulissen schon gewandelt und dämm 
auch hinter den Kulissen. Hinter den Kulissen des Balletts war einst 
ein ausgesuchter Platz gewisser Galanterien. Heut lieben sie das we¬ 
niger. Sie sind Künstler, wie die andern. In Rußland mag es manch¬ 
mal noch so gewesen sein. Auf der Reise und in der Welt war es 
eitel Arbeit Maler und Schriftsteller huschen herum, um zu studieren, 
um Stellungen, Begegnungen, Gespräche zu erhaschen. Heut früh bin 
ich in der Probe, die draußen in irgendeinem Saal einer Brauerei ab¬ 
gehalten wird. Heut mittag bin ich bei der Pawlowa im Hotel, sie 



42 2 Chronik Weretrwags 

hat von mir gelesen und plaudert beim Dejeuner. Ihre französische 
Konversation wirbelt wie eine Pirouette um ihren Gegenstand, ich 
hocke verwirrt in meinem Sessel. Nach Tisch kommt irgendein gali- 
zischer Mann, sein Töchterchen der Prima Ballerina vorzuführen. Sie 
hat Schuhchen und Kleidchen mitgebracht, die Pawlowa sitzt gnädig 
am Fenster, der Vater steht ängstlich zur Seite, das Kind tanzt, auf 
dem Tische liegt das SdlJeben der Reste der Mahlzeit. Ich hocke 
und präge mir das Bild tief ein. Schicksale schienen mir darin ein¬ 
geschlossen zu sein. Heut abend bin ich hinter den Kulissen des 
Theaters und stehe in einer Parklandschalt. Der Vorhang ist noch 
herunter. Da schwebt sie herein, auf ihren Partner zu, sie stützt sich 
auf ihn und probiert das hochgehobene Bein. Sie stößt mich mit der 
Fußspitze weg. Sie sagt: pardon. Aber hat sie nicht recht? 


CHRONIK WERENWAGS 

IV 

I m vierten Jahr nach Niederlegung der Waffen ist es nicht mehr 
verfrüht, wenn auch die Geistigen in beiden Lagern einander die 
Frage vorlegen, der sie, mit richtigen Instinkt, bis in die jüngste Ver¬ 
gangenheit aus dem Weg gingen, der Frage: wann wird zwischen 
uns Friede sein und unter welchen Bedingungen? 

Die Antwort müßte lauten: es ist Friede, und wir stellen keine 
Bedingungen. Niemand in Frankreich gibt diese Antwort. Die 
CI artdeute allerdings bekannten sich zu ihr; aber wer steht hinter 
ihnen, was steht hinter ihnen? Nicht die Intelligenz des Landes, 
nicht die Wirklichkeit des Landes. Hier und da taucht in München 
oder Berlin ein Artikel, in Paris ein Gegenartikel auf: die deutsch¬ 
französischen Beziehungen; der vorsichtigen Erörterungen schmerzlicher 
Sinn ist: die Beziehungen sind nicht da. 

Was steht ihnen entgegen? Erstens der Krieg, dieser Krieg. 
Zweitens hüben wie drüben der Mangel an neuen Leistungen, an 
solchen Werten, die auch den Widerwilligen zwängen, die Sphäre 
des Feindes aufzusuchen, weil in ihr Dinge von geschichtlichem 
Rang vor sich gehen. Eine neue Malerei, eine neue Philosophie, 
eine neue Dichtung könnten die Menschen veranlassen, einander 



Chronik Weremvags 413 

aufzusuchen. Aber weder die Franzosen noch die Deutschen produzieren 
solche Werte. Drittens ein Fundamentalunterschied zwischen deutschem 
und französischem Wesen: das Verhältnis zum Nationalismus. Unter¬ 
suchen wir. 

In der ersten Periode nach dem Waffenstillstand, sie erstreckte sich 
Ober einige Jahre, nahm man bei uns an, der Geist sei berufen, den 
Abgrund zu überbrücken. Es waren die pazifistischen, die revolutionären, 
die radikalen Brücken, die man schlagen wollte. Zum erstenmal 
glaubte der Geist, er sei souverain — er glaubte es zugleich zum 
letztenmal, denn wir erkannten, daß der Geist an die Situation ge¬ 
bunden ist. 

Das Radikale hat einen einzigen Wert: daß es den Willen wach¬ 
hält; das Radikale ist die Verbindung mit dem Ewigen und Über¬ 
zeitlichen der großen Ideen; aber man kann die Ideen nicht auf den 
Markt werfen — die Nationalisten, die wenigstens in Saucen gute 
Köche sind, machen daraus ein Ingredienz mehr, das ist alles. 

Staunend zuerst, und dann nachdenkend sahn wir, wie national 
die französischen Geistigen waren; sie waren, sie sind es in einem 
Maß, das wir nationalistisch nennen. Wir haben auch unter den 
deutschen Schriftstellern Nationalisten, das heißt solche, die sich mit 
den deutschen politischen Zuständen, wie sie vor und im Krieg waren, 
also mit den wilhelminischen Zuständen identifizierten, Nationalismus 
ist Identifizierung mit den Zuständen; erst derjenige, der in Oppo¬ 
sition steht, nennt ihn Chauvinismus. Wenn der Opponent die Zu¬ 
stände billigte, würde er selbst mit Freuden national sein. Wir 
anderen also in Deutschland, die den wilhelminischen Geist nicht 
billigten, waren nach der Revolution irgendwie nichtnational und 
irgendwie antinationalistisch—in Frankreich aber waren unsre Kameraden 
national, wie vor dem Krieg, wie im Krieg. 

Nachdem die Republik sich zu festigen beginnt; nachdem wir mit 
unsrem unrealen Radikalismus Bankrott erlitten haben; nachdem die 
französischen Geistigen kühl zu verstehen geben, daß unsre Fiktion 
einer Krise des europäischen Geistes nur eine Wunschvorstellung derer 
sei, die sich in einer persönlichen, deutschen Krise befinden, stellen 
wir in uns eine Klärung fest: wir werden irgendwie nationaler. 

Und ich glaube, in einer würdigen, brauchbaren Form: die Ge¬ 
schicke der Nation sind die unsrigen, und es gilt, die Progression 
deutscher Geistesformen, die aus der Geschichte schreitet, um eine 
neue zu vermehren, in der wir leben können. 



4*4 Chronik Weremvags 

Die andren leugnen es, daß eine Krise des europäischen Geistes 
da sei, — streiten wir also nicht darüber, machen wir sie für uns 
sichtbar, dann wird sich eines Tages zeigen, ob der Westen die neuen 
Ideen, die wir vielleicht hervorbringen, ignorieren kann. Diese Ideen 
haben nur dann Wert, wenn sie an die Tore Europas pochen. Der 
Deutsche liebt es, anzukündigen, daß er etwas Neues in Angriff nehmen 
will, und glaubt naiv, das interessiere die Welt: dies also hat so 
wenig Wert, wie die berühmten deutschen Proteste. 

Es ergibt sich so ein doppeltes Verhalten. Erstens, unter uns zu 
bleiben, wenn wir eine neue deutsche Geistesform suchen, ganz wie 
wir zur Zeit der Klassik oder der Romantik auf uns angewiesen 
waren: leiste, erortre nicht, keine Kommentare. Zweitens, bei Be¬ 
gegnungen, aus dieser Konzentrierung auf sich selbst die Taktik zu 
ziehn, die die einzig richtige und, es sei wiederholt, die einzige 
würdige ist, die Taktik, Präliminarverhandlungen über Schuld und 
Gleichberechtigung abzulehnen. 

Die Schuldfrage kann jeden einzelnen brennend beschäftigen, sie 
ist aber nicht geeignet, zwischen mir und Suar&s, Thomas Mann und 
Rivi&re, oder wer immer in die Lage des Colloquiums kommt, er¬ 
örtert zu werden. Weil zwar der Deutsche von Rang bereit wäre, 
leidenschaftslos zu erörtern, nicht aber der Franzose, weil es sogar 
schon zuviel wäre, einander zu versichern, daß Gleichberechtigung 
bestehn solle. Ich wünsche nicht behandelt zu werden, als ob ich 
gleichberechtigt wäre (das mag in Cannes schon eine Höflichkeit sein), 
sondern ich wünsche, daß der Gedanke, ich könnte nicht gleich¬ 
berechtigt sein, bei meinem Partner nicht einmal auftaucht. 

Wenn französische Ärzte oder Astronomen, bevor sie auf einem 
internationalen Fachkongreß mit Deutschen Zusammentreffen, ver¬ 
langen — ich weiß nicht was, daß zuerst die sechzigste Gold¬ 
milliarde gezahlt sei, oder Wilhelm II. in London abgeurteilt werde, 
so mögen sie in ihrer Dummheit verharren, solang sie sich ihrer 
nicht schämen. Für geistige Menschen aber ist der Versailler Ver¬ 
trag eine Bilanz, die abschließt, nicht ein Saldo, das die neue Rech¬ 
nung belastet. 

Die Schuldfrage: es gibt sie insofern, als wir wissen, daß ein 
ganzes Volk nicht den Mut hatte, seine Geschicke selbst in die Hand 
zu nehmen, statt den Machthabern plan pouvoir zu erteilen. Das 
geht nur uns an. Eine andre Schuld gibt es nicht, der Rest ist 
Dämonie, Schicksalhaftigkeit. 



Chronik Weremoags 415 

Ich erinnere mich an einen Abend, den ich vor dem Krieg mit 
einem Politiker verbrachte, der heute bekannt geworden ist. Wir 
unterhielten uns von den Franzosen. Er unterschätzte sie ungeheuer, 
ich widersprach. Er sagte, ihre Vitalität sei erschöpft, sie schnitten 
Koupons, statt Zinsen durch Investierung in Kapital zu verwandeln, . 
die instinktive Angst eines an Blut nicht reichen Organismus vor Blut¬ 
verlust zersetze sie. Er berief sich auf seine geschäftlichen und 
praktischen Erfahrungen, ich auf die menschlischen und seelischen 
— ich sagte, das französische Naturell sei das der Katze, zäh und 
geschmeidig. 

Ich weiß nicht, ob er mich damals für einen sentimentalen In¬ 
tellektuellen hielt. Er hat heute, so oft er mit Franzosen unter¬ 
handelt, Gelegenheit, die Vitalität der Katze kennen zu lernen. Sowohl 
der Tiger Cllmenceau (ein Quasi-Tiger) als der Luchs Poincard (kein 
Quasi-Luchs) gehören zu dieser Rasse. Im Krieg lernten wir die 
französische Zähigkeit kennen, von der Bismarck, recht eigentlich der 
Vater des verhängnisvollen Urteils über den Franzosen, keine Ahnung 
hatte, und heute ihre seelische und geistige Auswirkung: die Un- 
versöhnlicbkeit, das Gedächtnis, die Unerbittlichkeit, mit der der 
gallische Sbylock Zoll um Zoll seine Forderung eintreibt. 

Ich begriff nie, warum man den Franzosen radikal nennt, wenn 
man unter Radikalismus die Bereitschaft versteht, bestehende Form zu 
zertrümmern. Der Franzose ist konservativ, seine geistige Geschichte 
die Abwandlung eines numerus clausus von Ideen, Werten und Pro¬ 
blemen, der Franzose ist Hüter der Tradition, er ist der Chinese 
in Europa. Das war seine Stärke — ob es seine Stärke bleiben 
wird, das ist die Frage. 

So erbärmlich unsre eigne Geistigkeit heute ist, man darf, ohne 
in Konstruktion zu verfallen, sagen, daß jenes neue Glied in der 
Progression deutscher Geistesformen, das wir suchen, einer Regeneration 
des protestantischen Triebes entspringen wird. Ich empfehle, bei 
diesem Begriff von dem Kirchenwerk Luthers abzusehn. Der Pro¬ 
testantismus ist älter als Luther, er ist sogar älter als der Katholizismus, 
da er ein Urprinzip ist: das totalistische, mystische, der Ordnung 
durch eine Idee widerstrebende und jede Ordnung der Existenz 
immer wieder sprengende. Er ist Gott so nah, daß er in ihm auf¬ 
geht, während man vom katholischen Prinzip, das unter andrem auch 
das attische war, sagen könnte, es projiziere Gott in seine Welt, in 
<lie Erscheinung, in die Form. 



4 16 Chronik Wernrwags 

Wenn der Deutsche revolutionär, schöpferisch, stark ist, ist er 
„protestantisch“, auch der deutsche Katholik, dann schleudert ihn eine 
Woge auf den Berg, den der große Pan bewohnt, ihn den ewigen 
Antipoden der rational, dogmatisch, konzentrisch, in heiligen Werten 
geordneten Welt. 

Der Protestant ist Proteus, und Proteus nimmt manchmal das 
Gesicht Bachs und Grünwalds an. Ich könnte nicht rechtfertigen, 
warum ich jene Woge uns heben fühle — ich fühle es. Dann wird 
das mit der Tradition gegürtete Frankreich sich nochmals als Hüter 
gegen den Einfall der Barbaren proklamieren, wie oft bisher. Aber: 
was wird es noch zu sagen haben, bei der fünften Verteidigung der 
überlieferten Werte? Die Regeneration der Latinität, die sich in 
Frankreich vor dem Krieg vollzog und ihm recht eigentlich die Kraft 
gab, den Krieg zu bestehn, zwingt dieses Volk noch mehr als bisher, 
das Erreichte zu behaupten, unradikal, unprotestantisch zu sein. Und 
es wird die alten Ideen zum hundertsten Mal variieren. Der Abstand 
zu einer erneuten Welt wird noch größer werden, so groß, daß das, 
was ewig scheint, die Katholizität und Latinität, seine Krise erleben 
muß. Es könnte sein, daß aus dem Vorzug eine Not wird. 

Das ist die Konstellation dessen, was heute das Problem der 
deutsch-französischen Beziehungen heißt. Man darf es sehr tief sehn, 
als neue Phase von Urprinzipien, von Form und Rhythmus, Ordnung 
und Woge, Dogma und Freiheit, Tradition und Progression, Klugheit 
und Jugend. Wir sind da, um den Geist vor Erstarrung zu bewahren, 
die Franzosen, um seine Auflösung in Musik zu verhüten. Eines ist 
soviel wert wie das andre, Kräftesystem auf dem magnetischen Feld 
Gottes, das Europa heißt. Keiner hat Anlaß zu Hochmut, und der 
Besiegte darf annehmen, daß an ihm die Reihe sei, von der Welle 
gehoben zu werden. 

Die Franzosen geben im rheinischen Land eine Revue heraus, 
Paradefeld für den Aufmarsch ihrer besten Namen. Der Schimmel 
ist kulturell frisiert, aber die Leine, die ihn lenkt, liegt in den 
Händen der Imperialisten. Nun sehe ich zwar hinter dem, was sich 
halb triumphierend, halb verschämt als französischen Imperialismus 
gibt, den Zwang der Situation, die heimliche Not, die positive Angst 
vor dem unerschöpflichen Reservoir des deutschen Menschenmeers, 
darüber hinaus aber auch die Eitelkeit. Und sie ist es, die mir als 
ein größeres Hindernis des geistigen Verkehrs erscheint als der 



Chronik Werewwags 417 

Imperialismus, von dem man nicht weiß, ob er nur der David sei, 
der gern Goliath sein möchte. 

Die Eitelkeit hat ihre Abstufungen; aber ob sie als Selbstbewußt¬ 
sein auftrete wie bei Jacques Ri viere* oder als bewußte Ablehnung 
wie bei Andrd Suar&s** oder als sentimentale Romantik wie bei Maurice 
Barr&s (er erfindet Romanfiguren, die an das Hirn des französischen 
Chirurgen erinnern, der noch jüngst, in diesem Jahr 19 zz, erzählte, 
ein deutscher Feldarzt habe eine französische Mutter entbunden und 
als sie ihm dankte, gesagt, er habe seinen Dank schon — dem Kind 
waren die Hände abgeschnitten), oder als Schnoddrigkeit der fran¬ 
zösischen Reisejoumalisten, die alle deutsche Namen haben: diese 
Eitelkeit, primäre Eigenschaft des dogmatischen Menschen, erscheint 
uns als so problematisch wie der französische Traditionalismus selbst. 
Rbodus liegt nicht an der Seine allein, es wird überall gesprungen, 
und kein Friede wird sein, bis jene Revue, pars pro toto t statt in 
Mainz in Paris gedruckt wird. 

Kein französischer Geistiger erhebt sich dagegen, daß deutsche 
Korrespondenten von der französischen Kammer ausgeschlossen sind. 
Welche Unwürdigkeit. Ein Engländer, wenn es auch der von den 
Franzosen .abgelehnte Keynes ist, hat vom Bankrott der französischen 
Intelligenz gesprochen. Ein Bankrott der Intelligenz wäre ein Bankrott 
der Moralität. Es ist Zeit, wieder intelligent und moralisch zu werden. 

Was Protestantismus als Idee sei, hat im Tiefsten Leopold Ziegler 
erkannt. Buddho, der Protestant, heißt ein Kapitel seines jüngsten 
Buches »Der ewige Buddho** (bei Otto Reichl). Wie kühn, im in¬ 
dischen Mythus von Krischna und in der Gestalt Buddhas Projek¬ 
tionen des protestantischen Urprinzipes zu sehn, und wie stark, es in 
ihnen zu erkennen. 

Alle Philosophien und Religionen entspringen und folgen einem 
Trieb — Identität mit dem Sein zu erlangen. Das katholische Prinzip, 
so ewig wie das protestantische, aber um eine Phase jünger, da es 
erlaubt ist anzunehmen, daß Ordnung oder Form nur da sein kann, 

4 „Die französische Intelligenz ist unvergleichlich: es gibt keine mäch¬ 
tigere, keine schärfere, keine tiefere .. auf philosophischem, literarischem und 
künstlerischem Gebiet wird nur das zählen, was wir sagen.“ 

44 „Die Deutschen haben angefangen, Hundefleisch zu essen, sie haben 
siebenhundert Hundeschlächtereien in Preußen und Bayern. Wie mans 
nimmt. Ich werde jedoch nicht vom Deutschen essen.“ 



4i 8 Chronik Werentoags 

wo Totalität und Gestaltlosigkeit war — das katholische Prinzip stellt 
die Idee Gott heraus, personifiziert sie, macht sie zum erschaffenden 
Grund und ist fortan an ein dualistisches Weltbild gebunden, Schöpfer 
und Kreatur stehen sich gegenüber. 

Identität ist hier nur möglich durch Verklammrung: Gott offen¬ 
bart sich und seinen Willen, das Geschöpf ordnet sich in Demut 
unter. Die Verschmelzung mit Gott wird in ein Jenseits verlegt, in 
dem aber noch immer der katholische Gedanke der Scheidung herrscht: 
die Verschmelzung erstarrt als Aufenthalt in der Nabt des weiterhin 
personifizierten Gottes. 

Das protestantische Prinzip, radikal durchdacht, ist notwendig gott¬ 
los, weil es gott-voll ist. Das Seiende ist selbst Gott, die Kreatur 
selbst ist Gott, das Geschehen selbst Gott. Gott ist die Kreatur, aber zu¬ 
gleich alles, was diese eine Kreatur nicht ist, das Außen der Kreatur. 

Für meine Vorstellung gibt es keinen tieferen Gedanken. Der 
deutsche Pantheismus hat ihn nicht erfaßt. Um Ziegler anzuführen: 
„Und nicht empedokleisch, ihr Christen, dürfen wir dies verstehn, 
als ob der indische Mahadeva zu sich selber spräche: Einst war ich 
Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und flutentauchender 
stummer Fisch. Sondern vedisch und upanischadisch und episch sollen 
wir es verstehn: Stets bin ich Knabe und Mädchen und Busch und 
Vogel und flutentauchender stummer Fisch.“ 

Das Wort Episch ist in diesem Satz eminent. Gott als episches 
Ereignis — welche Erhöhung und Rechtfertigung des epischen Schauens, 
das das Schauen schlechthin wird. Man sagt gewöhnlich, das Drama 
sei die Kunstform, die bis ins Herz der Dinge dringt. Ja in das 
epische Herz der Dinge: diesen Zusammenstoß erst entspringt das 
Tragische. 

Der katholische Dualismus zwischen Gott und Kreatur zwang zur 
Erlösungslehre, deren schlimme, gewundne Halbheit dem Umstand 
entspringt, daß volle Identität nicht möglich ist, wo Gott und Kreatur 
getrennt bleiben. Da der Mensch nicht zu Gott kam, mußte der 
Gott zum Menschen kommen, in Gestalt eines Abgesandten. Aber 
diese Zwangslage (des personifizierten) Gottes konnte nie Symbol für 
die protestantische Grundtatsache der Allgottheit sein, die Natur des 
Abgesandten mußte konstruiert werden: er ist als Person sowohl 
Gott als Mensch. Ziegler stellt dieser Zwitterhaftigkeit die naive, 
unbekümmerte Symbolik Krischnas entgegen, der fröhlich als Sohn 
eines Kuhhirten geboren werden konnte, weil kein Mystorationalismus 



Chronik Weremoags 419 

notig war, um wissen zo lassen, daß er zugleich alles das war, was 
er zeitlich nicht war. 

Protestantismus ist die Überwindung des Zeit- und Raumbegriffs, 
die Aufhebung der Kausalität, die Verweisung der Logik auf die 
raumzeitliche Welt. Was den Spott aller Voltairekopfe, mit Recht, 
herausforderte, die Trinität, ist im Indischen jedem Spott entrückt, 
weil es jeder Unklarheit entrückt ist. 

Zieglers Buch ist der Versuch, nach Neumanns Buddhaverdeutschung, 
Buddhaeindeutschung, den „europäisch umgestalteten Buddho religiös zu 
bezeugen“. Der Protestant Ziegler spricht religiös, in gehobner, frei 
schaltender Sprache, in fünf Unterweisungen. Die protestantische Woge 
hebt sich, in der Progression der deutschen Formen beginnt eine neue 
herauszutreten. 

Damit eine Woge werde, mußte Stauung stattfinden. Nietzsche 
war diese Aufstauung, diese erste Konzentration, dieser erste Beginn 
des neuen Impulses. Nietzsche der Protestant — niemand war deut¬ 
scher, man wird es erkennen. Er nahm die tausend Gesichter Krischnas 
an — es ist billig, vom Dogma der Einheit des Charakters ausgehend, 
ihm die Verwandlung des Gesichtes nachzurechnen und als Euckenianer 
mild festzustellen, daß er tragisch zerrissen sei. 

Er war der erste, der den Mut und die Kraft hatte, tragisch zu 
sein — tragisch wie Krischna, tragisch wie die Existenz, das Pandä- 
monium der Verwandlungen. Dies ist keine Tragik oder es ist die 
Tragik Gottes selbst. Gott ist tragisch, insofern er nur ist, indem 
er wird, ein Hoffmannscher Spuk, um mit Ziegler zu reden. 

Von zwei Büchern über Nietzsche hat das eine den Mitleidston, 
der dem Heroismus Nietzsches nicht gewachsen ist: Friedrich Mückle 
(„Nietzsche und der Zusammenbruch der Kultur“, bei Duncker und 
Humblot) erkennt, daß Nietzsches Erlebnisfbrm die des Musikers war 
und ist, indem er die Thesen Nietzsches musikalisch aufrollt, „zufrieden, 
wenn es uns gelungen sein sollte, den Weg zu weisen, der allein einen 
Zugang verschafft zum Verständnis dieser rätselhaftesten Gestalt der 
deutschen Geistesgeschichte.“ 

Mein Gott, dieser gehaltvolle Satz bietet einen Gesichtspunkt als 
Entdeckung an, den der Verfasser der Geburt der Tragödie aus dem 
Geist der Musik selbst geliefert hat Aber wie es mit der Musik 
geht, sie zerrinnt. Mucklen zerrinnt Nietzsche. Er paraphrasiert ihn 
so lange, bis die Symphonie wie in einem Konzertführer in Motive 



Junius, Politische Chronik 


45 ° 

zerfällt. Eine Symphonie ist ein Ganzes, der Kapellmeister Mückle 
schweißt sie nicht zusammen, er legt sie auseinander. 

Es gibt keine Einheit des Charakters, aber eine Einheit des Orts. 
Nietzsche ist und hat die Einheit des Orts. Man muß ihn, den 
Protestanten, protestantisch lesen, nicht mit dem kausalen Maßstab 
messen. Widersprüche sind gleichgültig. Er ist die Urform des neuen 
deutschen Menschen. 

Mückles erstes Wort über Nietzsche, es sei diesem nicht vergönnt 
gewesen, seine Seele als Musik zu offenbaren (nur musikalisch aufzu¬ 
rollen), ist auch sein letztes, eine Wertung. Ich muß sie zurück¬ 
weisen. Dinge des Geistes kann man nicht als Musik darstellen, die 
Forderung Mozartscher Melodien an einen Denker stellen, heißt von 
ihm verlangen, daß er das, was ausgesprochen werden will, in un¬ 
aussprechliche Symbolik verkleide. Musik ist Ding für sich, Denken 
auch. Bei Mückle spürt man etwas von dem Entsetzen des gezähmten 
und gesitteten Menschen vor dem Dämon. Dieses Wort von der 
„rätselhaftesten Erscheinung 1 * usw. 

Ein andrer, Heinrich Römer, beweist in seinem „Nietzsche** (bei 
Klinkhardt und Biermann) nicht, daß Nietzsche der erste Sturmvogel 
des Zusammenbruchs des modernen Menschen sei, er hat den Instinkt 
dafür, daß der Sturmvogel Morgenrot sieht. Er stellt in zwei Bänden 
(auch Mückle plant einen zweiten Band) seinen Heiden ruhig, ver 
ständig, vorsichtig und unermüdlich dar. Er beherrscht den Stoff* und 
breitet ihn in einer Weise aus, daß man dieses Werk als ein Lese¬ 
buch in Nietzsche und zugleich als ein Register für schnelle Orien¬ 
tierung empfehlen kann. 


POLITISCHE CHRONIK 

Dr. EDUARD BENESCH 

von 

JUNIUS 


I 

W äre Herr Doktor Eduard Benesch, der tschechoslowakische 
Ministerpräsident und, seit Begründung der Moldaurepublik, 
ffcr verantwortliche Redakteur der für und um Prag gemachten Außen- 



Junius, Politische Chronik 


45 1 

politik, nur eitel und nur zeitungsruhmsOchtig: er hätte wie wenige 
seiner Zeitgenossen das Ziel seines Strebens erreicht. Denn wieder 
läßt, wie in den Tagen der unverschmerzten oberschlesischen Ent¬ 
scheidung, sein Name die Rotationsmaschinen des ganzen Erdballs 
ächzen, nur wird diesmal dem kleinen Mann in der internationalen 
Presse das Gelingen der weit wesentlicheren Mission gutgeschrieben: 
die zwischen London und Paris gelagerten Konfliktsstoffe auf ein er¬ 
trägliches Maß herabgemindert und die Wege für eine gemeinsame 
europäische Aufbaupolitik frei gemacht zu haben. Wieviel daran wahr 
sein kann, werden wir gleich sehen; leider fragt man sich bei uns 
nicht, woher diesem tschechischen Politiker die Autorität zu solchem 
Einfluß und solcher Mitbestimmung in Dingen von allerschwerstem 
Gewicht zuströmt. Herr Benesch vertritt einen kleinen, durch die 
Konjunktur des Krieges plötzlich ans Tageslicht gehobenen Staat 
mit künstlichem Namen; und er vertritt ein zahlenmäßig nicht 
starkes slawisches Westvolk, dem noch gestern in der Dynamik der 
öffentlichen Weltmeinung neben den Polen eine unendlich geringere 
Bedeutung beigemessen wurde. Daraus schöpfte die Gedankenlosig¬ 
keit das Recht, die Charakterformel zu prägen: viel Eitelkeit und 
eine mit Überheblichkeit verquirlte Vielgeschäftigkeit. Diese ebenso 
dumme wie schädliche Beurteilung ist leider aus der deutschböhmischen 
in die reichsdeutsche Presse eingedrungen und muß zerstört werden. 
Die Quellen zu besserer Erkenntnis liegen offen da, man muß sie 
nur haben wollen. Und es ist Zeit, daß wir sie wollen. 

Selbstverständlich gehörte auch Herr Benesch zur Maffia. Selbstver¬ 
ständlich war ihm, wie Oberhaupt der gesamten tschechischen Intelligenz, 
zumal der jungen, akademisch gebildeten und vom europäischen Westen 
magisch angezogenen, das den Böhmen (nur ihnen?) immer wieder 
wortbrüchig gewordene Habsburgertum tief verhaßt. Selbstverständlich 
war er russophil und frankophil. Selbstverständlich war seiner Schicht 
das preußisch durchtränkte Deutsche Reich weder seelisches noch 
politisches Attraktionszentrum. Und selbstverständlich empfand er die 
Rolle, die Deutsche und Magyaren im alten Donaureich spielten, als 
hegemonische und teilte, mit sämdichen gleichaltrigen Genossen, nicht 
die Hoffnung des alternden Kramarsch auf die Möglichkeit eines Groß- 
österreichertums, einer österreichischen Internationale (sie bestand; war 
aber keine Friedens- und Lebensgemeinschaft, sondern ein Käfig voll 
zoologisch gewordener Nationen und Natiönchen); eines österreichischen 
Föderativstaates also . . . mit russenfreundlicher Außenpolitik und 



43 * 


Juntus, Politische Chronik 


Abschüttdung des bismärckischen Bündnisses. Er glaubte weder an die 
Beiehrbarkeit des magyarischen Ultrachauvinismus, der die Reichs- und 
Nationalitätenpolitik seit und vor Deaks Ausgleich terrorisierte, noch 
an die selbsterhalcende Klugheit der bis ins Willensmark geschwächten 
und dynastisch bis zum Verrat an ihrem Volkstum verkrüppelten 
Deutschösterreicher; noch daran, daß es für den Emanziparions- 
drang der Slavenmassen im Reiche andere Erlösungsmittd gäbe als 
die sprungbereite, organisierte, immer wache, immer nach Gelegen¬ 
heiten auslugende Konspiration. Diese Konspirationstechnik, die in 
Etappen sich auswirkte und in Teilerfolgen sich bezahlt machte, und 
der unter den Älteren, ruhig Gewachsenen nur Einspänner wie 
Masaryk femstanden, gehörte nun einmal zu den Erziehungsbehelfen 
der tschechischen Jugend. Kann man sich wundern, daß sie ihr 
seelisches Residuum in dem jetzt zur Macht gelangten Geschlecht 
zurückgelassen hat? Aber daneben, das muß gerechterweise hinzu¬ 
gefügt werden, war ehrlicher Wissenstrieb am Werk und hob das 
begabte Volk auf eine immer höhere Stufe; die gebildete und be¬ 
sitzende Oberschicht wurde breiter und umfassender, während unter 
Bauern und Arbeitern so gut wie keine Analphabeten anzutreffen 
waren. Die Manieren, — ja freilich, dem verzärtelten Wiener, der 
sich oft schon auf der Reise in die preußische Hauptstadt den 
Schnupfen holte, boten sie Anlaß zu unerschöpflichen Witzeleien und 
Spötteleien; die Tschechen sind eben keine oberflächlich gefirnißten 
Polen, aber sie sind unvergleichlich arbeitsamer, sparsamer und weniger 
dem Aberglauben verfallen; im Gegenteil, sie streben von alters her 
der Aufklärung zu: Hussens Volk besteht, paradoxerweise, aus puri- 
tanisierten Slawen. Daß Grundlage und Methodik der Bildung 
wesentlich deutsch waren, daß die tschechische Wissenschaft der 
deutschen, die sie großsäugte, getreu folgte und auch heute noch 
als Muster der Geistesdisziplinierung angesehen wird, weiß jeder; nur 
in den letzten Jahrzehnten entflohen die Jünglinge aus dem reich ge- 
wordenen tschechischen Bürgertum in die westlichen Schulen. 

Aus solcher Umwelt stieg Benesch empor: man ahnt, wie er durch 
sie für das politische Leben zugeschlifiFen wurde. Einer von vielen; 
und doch nicht der vielen einer. Er war Schüler Masaryks, des 
heutigen Präsidenten der Republik, und äußerlich Anhänger von dessen 
Realistenpartei; seinen Gesichtskreis hat er durch soziologische Studien 
in Berlin und Paris zu erweitern versucht, und dieser Schulung ver¬ 
dankt er wahrscheinlich seine unter Praktikern auffallende Methode, 



jhtnius, Politische Chronik 


433 


in politischen Zusammenhängen zu denken und seine diplomatische 
Arbeit zu systematisieren. Vor dem Erdbeben aber blieb sein politischer 
Ehrgeiz latent, er begnfigte sich mit simpler Handelslehrertätigkeit, 
was ihm von patriotischen Kannegießern, die eben noch vor jedem 
treu-deutschen Goluchowski Bilinski Andrassy oder Bunan ins Knie 
sanken, merkwürdigerweise noch heute als Defekt angemerkt wird. 

Die Stunde kam; und er floh, erst nach Genf, dann nach Paris; 
und unermüdlich arbeitend, schreibend (Ddtruisez rAutriche-Hongrie), 
agitierend, werbend, die nationalen Auslandskonvendkel organisierend 
gelang es seiner unerhört intensiven Aufklärungstätigkeit — neben 
der Masaryks — der mitteleuropäischen Politik der großmächtigen, 
aber abgründig unwissenden Westler ein territoriales und nationales 
Rückgrat zu geben. Selbst in Paris war es bis Anfang 1918 nicht 
leicht, von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Habsburgerreich 
zu zerschlagen und in eine Reihe völlig selbständiger Staaten zu 
zerlegen: man befürchtete das Eintreten eines Vakuums. Doch fand 
Benesch einen mächtigen Helfer in Professor Ernest Denis, dem Ge¬ 
schichtsschreiber Böhmens (der auch eine lesenswerte Fondation de 
TEmpire Allemand geschrieben hat) und einen noch weit mächtigeren 
in Wilsons von Masaryk befrachteter Ideologie des nationalen Selbst¬ 
bestimmungsrechtes. Es war nichts Geringes, Paris und besonders 
London so kühn zu machen, daß sie ein tausendjähriges, traditions¬ 
beladenes Gebilde, das für sie trotz allem so viel Sympathisches hatte, 
zu zerbrechen und den von den Diplomaten aller Schulen nach¬ 
geplapperten Satz über den Haufen zu werfen wagten: Wäre Öster¬ 
reich nicht, es müßte, als Brücke zwischen West und Ost, als Über¬ 
gang von den Germanen zu den Slawen, erfunden werden. Man 
fürchtete (mit Recht) die handelspolitischen und finanziellen Folgen 
der Radikalkur und fragte sich, was entstehen würde, wenn die wirt¬ 
schaftlichen Gemeinsamkeiten aufgehoben und als Fortschritt — der 
Rückschritt zum staatlichen und ökonomischen Kleinbetrieb gepredigt 
würde. Es blieb bei der von Masaryk und der Beneschgruppe emp¬ 
fohlenen Konstruktion, die für ganz Mitteleuropa erdacht war und 
Geltung erhielt, zumal da die Engländer sich über die Einzelheiten 
dieses Zerstörungsunternehmens, das dem Neubau den Weg bahnen 
sollte, keine grauen Haare wachsen ließen und die deutschöster¬ 
reichischen und deutschböhmischen Gegenargumente erst in der grau¬ 
sigen Not des Zuspät aus einer ratlos verstörten und mit einer wider¬ 
lich leeren Ideologie gefütterten Seele hervorkrochen. 


28 



434 


Junius, Politische Chronik 


So kam die mitteleuropäische Karte zustande, und Herr Benesch 
darf sich als einen ihrer Väter betrachten. Seine selbstverständlich 
sehr parteiische, nationalistisch eingefärbte und rücksichtslos ver¬ 
wertete Kenntnis der Dinge da unten hatte sich somit zu europäischer 
Geschichte kristallisiert, aber seit wann nennt man das — von den 
Geschädigten, die nicht gefragt werden, abgesehen — anders als 
patriotisch? Er hat, nach und neben Masaryk, die Slowaken aus 
ethnographischen Gründen für den Moldaustaat gefordert, das deutsch- 
böhmische Gebiet aber aus geschichdichen, wirtschaftlichen und strate¬ 
gischen Gründen, damit Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Volker 
(das die mit einemmal demokratisch fühlenden Deutschösterreicher 
auch für sich entdeckt hatten) über den Haufen werfend; aber welcher 
Patriot, im bisher überlieferten und wirksamen Sinne des Wortes, hat 
irgendwo anders gehandelt? So sind ja so ziemlich alle Nachfolge¬ 
staaten entstanden. Nirgends reine Nationalstaaten, überall Völker- 
gemengsel —; nur die besiegten Deutschen und Magyaren wurden, 
zu Erziehungszwecken und um den Grundsätzen zu huldigen, bis aufs 
Hemd ausgezogen und, wo es am Körper klebte, wurde ein Stück 
Fleisch mit herausgerissen. Dafür wurde dem Moldaustaat mit drei¬ 
einhalb Millionen Deutscher ein wahres Danaergeschenk gemacht. 
EQer ist der Schatten, über den gesprungen werden muß; ein ver¬ 
schämtes Gewaltverhältnis zwischen den zwei Nationen wird selbst 
tschechischer Fanatismus nicht zu verewigen vermögen . ., weil eine 
allumfassende Idee nicht verabschiedet werden kann, nachdem man 
sie für sich benutzt hat. 

Man wird nun, aus diesen spärlichen Andeutungen, bei uns vielleicht 
besser begreifen, worauf Benesch' Autorität in Paris und London be¬ 
ruhte. Er kennt die dort geltenden Menschen und Verhältnisse und 
Psychologien und hat bisher noch immer mit ihnen zu rechnen ge¬ 
wußt. Seine Außenpolitik baute sich folgerichtig auf den mit von 
ihm geschaffenen mitteleuropäischen Tatsachen auf. Die kleine Entente 
galt zunächst der territorialen Sicherung und der Abwehr jeder Form 
von Restaurationspolitik mit und ohne Habsburg; sie hatte (und hat) 
naturgemäß ihre Spitze gegen Ungarn, das sich lange genug gegen 
das kaudinische Joch aufgezwungener Straf- und Bußverträge und Tat¬ 
sachen wehrte, lange Zeit in Frankreich und in London Stützen fand 
und von Benesch, im Bunde mit Jugoslawien und Rumänien, mitleid¬ 
los in den Käfig „völkischer Reinheit“ gesperrt wurde. Da wurde 
Schach gespielt und Magyarien bald für Frankreich und England, bald 



Juntus, Politische Chronik 


4 35 


ftir Italien — dem die sQdslawische Adriamacht auf die Nerven fiel — 
der heimlich umworbene Springer. Doch Benesch zwang die große 
Entente, nachdem die wilde Bela Kun-Episode vorüber war und der 
Blick auf ein gegen den Kommunismus immunes Agrarland westliche 
Beklemmungen vertrieben hatte, bei der Stange zu bleiben, die Habs¬ 
burger endgültig abzusetzen, den Sammlungs- oder Restaurationsschwindel 
der erwachenden, das ist nie recht schlafen gegangenen Ungarn in den 
Bann zu tun (darüber fiel Paleologue am Quai d’Orsay), die fran¬ 
zösische Generalspolitik abzuschütteln und so die Luft ftir ein demo¬ 
kratisches und „nach dem völkischen Selbstbestimmungsrecht“ konstru¬ 
iertes Mitteleuropa zu reinigen: was nicht hindert, daß Ungarn, nicht 
nur wegen der Donauschififahrt, seine Freunde hat (und haben wird, 
die nicht immer die von Deutschland sein werden). Italiens Gefällig¬ 
keiten im Burgenhandel, die Benesch nicht zu neutralisieren vermochte, 
sind eindeutig . . 

Er ging jetzt einen Schritt weiter. Polen war und blieb unbequem. 
Einmal, weil Polen — Polen sind. Dann, hauptsächlich, wegen des 
seit je zum Königreich Böhmen gehörigen Teschener Kohlenbeckens, 
das die Warschauer Regenten selbstverständlich für sich beanspruchen, 
und wegen der polnischen Unterstützung der slowakischen Irredenta. 
Einem fragwürdigen Plebiszit zog der tschechische Staatsmann einen selbst 
mageren Vergleich vor. Diese Vergleichstheorie hat er dann in der 
oberschlesischen Frage den Polen zuliebe, aber keineswegs etwa aus sla¬ 
wischem Gemeingefühl sondern aus Berechnung, in London zur Gel¬ 
tung gebracht, damals mit intensiver italienischer Unterstützung. Wenn 
Lloyd George, kein Polenfreund wie man weiß, unbegreiflichen Ber¬ 
liner Erwartungen entgegen schließlich umfiel, so geschah es bekannt¬ 
lich — nicht zu den Polen sondern zu Briand hin, mit dem er 
glaubte europäische Politik, wie er sie versteht, machen zu können. 
Die deutsche Öffentlichkeit hat Herrn Benesch diese Vermittlertätig¬ 
keit nicht vergessen und vergeben, sie reagierte gefühlsmäßig auf den 
kleinen Mann in Prag, der sein Ziel des Ausgleichs und der Friedens¬ 
gemeinschaft — mit den Polen auf deutsche Kosten ohne jede Ge¬ 
heimtuerei betrieb; — der kalte Sadismus an der Themse, der wußte, 
was das oberschlesische Opfer für das deutsche Leben und die deutsche 
Wirtschaft und die Aussichten irgendwelchen ernsthaften Erfüllungs¬ 
willens bedeutete, — an der schielte sie scheu vorüber. Daß der Prager 
Politiker tschechische, nicht deutsche Interessen vertritt, wird man 
wohl im Auge behalten müssen; aber daß seine polnische Rechnung 



Juntus, Politische Chronik 


43 6 

psychologische Fehler hatte, war vorherzusehen und enthüllt sich jeden 
Tag immer deutlicher. Der Defensiwertrag mit Polen, der seine 
(überflüssige) Spitze nur gegen Westen, gegen Deutschland also haben 
kann, da Benesch jede Garantie für die polnischen Ostgrenzen abgelehnt 
hatte, läuft neben dem Versailler Vertrag einher wie die Postkutsche 
neben der Lokomotive; man beeilte sich daher auch gar nicht, ihn zu 
ratifizieren. Das versprochene tschechische desinteressement an den 
Selbständigkeitsbestrebungen des ruthenischen Ostgaliziens ist ein 
magerer Gewinn; es bleibt die polnische Unruhe an den Grenzen und 
über sie hinaus, die polnische Ungebärdigkeit, der polnische Anspruch, 
der Chorführer sämtlicher Westslawen zu sein. Diesen „Freund“ in 
die kleine Entente hineinzunehmen, hieße sie sprengen; das weiß 
Benesch natürlich so gut, wie er die ganz lockere Zugehörigkeit 
Rumäniens zu diesem von ihm geschaffenen Gebilde kennt. Ihm 
braucht heute nicht gesagt zu werden, daß in politischen Bünden kri¬ 
stallisierte Interessengemeinsamkeiten nur manövrierbar sind, solange 
sie eng umschriebene Aufgaben verfolgen, darüber hinaus werden sie 
Hemmung und Verlegenheit: der einst von Masaryk (in Amerika) 
geäußerte Wunsch nach einer latino-slawischen Union ist inzwischen 
schlafen gegangen. Ob es sich darum lohnte, deutsche Verstimmungen 
einzuhandeln? Es war eine Gelegenheit, von Prag aus europäische 
Politik auf weite Sicht zu machen; aber ich gebe zu, daß es für 
die im Hradschin regierenden Herren schwer sein mußte, mit Polen 
als Nachbar und den Deutschböhmen im Unterleib, in Deutschland 
berührenden Fragen zwischen Paris und London zu wählen: es lag 
ihnen näher und empfiehlt sich ihnen immer wieder, soweit es die 
Umstände gestatten und anraten, zwischen ihnen zu vermitteln. Und 
da taucht der zweite Grundsatz der Beneschen Politik auf: Um Eu¬ 
ropas Aufbau willen müssen England und Frankreich zusammenbleiben 
und Zusammenarbeiten; wäre es denkbar, daß die „heilige“ Einheit 
des westlichen Kriegsbundes durch innere Gegensätze ausgehöhlt und 
gesprengt würde, dann sänke das Gebäude der Friedensverträge zu 
einem Aschenhaufen zusammen, allen neu geschaffenen Staaten wäre 
die internationale Rechtsbasis entzogen, und das Chaos wäre da. (Man 
wird bemerkt haben, mit welcher Eifersucht besonders von Prag aus 
der Buchstabensinn der Verträge verfochten wird; und welch' üble 
Laune das in Venedig angesponnene italo-ungarische Gemächcl wegen 
des Burgenlandes dort verursachte.) 

Ich kehre einen Augenblick zu den für den engeren mitteleuro- 



Junitts, Politische Chronik 


437 


päischen Kreis gültigen Gedanken der territorialen Sicherung aus 
ei genen Mitteln zurück, dem der Gedanke einer wirtschaftlichen 
Konsolidierung aus eigenen Kräften, soweit sie eben reichen, an die 
Seite tritt Auch dabei spielte Polen, besonders als Transitland für 
Rußland, eine Rolle; aber wichtiger waren die Handelsverträge mit 
allen möglichen Staaten, selbst mit dem als Absatzgebiet lockenden 
Ungarn sucht man wieder in engen Kontakt zu kommen. Diese Ver¬ 
träge bilden nun einen stattlichen Haufen und sollen mit den für das 
Gedeihen des hypertrophen böhmischen Industrielandes normale Be¬ 
nehungen schaffen helfen; unter dem Vakuum der zerschlagenen Wirt¬ 
schaftseinheit im Donaubecken leidet es mehr als jedes andere. Hier 
stieß der Tätigkeitsdrang des tschechischen Staatsmannes gewiß nicht ins 
Leere; sein an sich so reiches Land gehört wirtschaftlich ja auch zu den 
Besiegten, es braucht dringendst Märkte und Kredite, die Hilfe aber 
von den großen Kapitalistenstaaten ließ auf sich warten; und die 
Zeit war kostbar. Allerhand technische Verkehrtheiten, die bei diesem 
Werk mit unterliefen und reichlichst kritisiert wurden, konnten die 
Tatsache der schließlichen Teilerfolge nicht verhüllen, wenigstens 
insofern als der Versuch zur Selbsthilfe fremde Hilfe anzog. Auch 
der Vertrag von Lana, dessen politische Seite bei den Sudetendeutschen 
und im Reich mit, wie ich glaube, übertriebener Leidenschaftlichkeit 
in den Vordergrund gestellt und als Verrat am deutschen Volkstum 
gebrandmarkt wird, dankt hauptsächlich wirtschaftlichen Motiven 
seine Entstehung und gehört darum in diesen Zusammenhang. Denn 
als Kampfgenosse gegen habsburgische oder, allgemein gesprochen, 
magyarische Restaurationsbestrebungen, die machtpolitisch irgendwie in 
alte Zustände zurückführen sollen, kann doch ein Realist wie Benesch 
diese kraftlose Wiener Karikatur eines Staates, mit die elendeste 
Verlegenheitsgeburt der Pariser, nicht ansehen; die Herren Masaryk 
und Benesch wissen auch ganz genau, daß gegen die Naturgewalt des 
nationalen Zusammengehörigkeitsstromes auf die Dauer kein Kraut 
gewachsen ist. Ob es darum von den Tschechen psychologisch klug 
war, den um das elementare Leben ihres Volkes bangenden Herren 
Hainisch und Schober papieme Lippenbekenntnisse, das heißt die Ver¬ 
pflichtung abzufordem, den Vertrag von St. Germain buchstabengetreu 
in Kraft und Geltung zu erhalten? Wie diese Dinge sich dereinst ge¬ 
stalten, weiß heute kein Mensch; an die territoriale Seite der Verträge 
zu rühren, daran denken innerhalb des deutschen Sprachgebietes nur 
politisch Unmündige; aber der Anschlußgedanke lebt und kann nicht 



4*8 


Junius, Politische Chronik 


sterben, da gibt es nichts zu nehmen und zu geben, weder durch 
Paragraphen noch durch ernstere Gewaltmittel. Was aber der Ver¬ 
trag von Lana — der, von diesen Überflüssigkeiten gereinigt, auch als 
Instrument der Völkerversöhnung außerordentlich wohltätig hätte 
wirken können — wirtschaftlich beiden Ländern bietet, ist nicht 
gering, er schaltet ganz bewußt Österreich in den großen Wirtschafts¬ 
zusammenhang des alten Reiches wieder ein, er will zum ökono¬ 
mischen Großbetrieb zurückführen oder versucht es wenigstens. 
Daß es mit den aufgebotenen Mitteln nicht gelingen kann, ist eine 
Sache für sich. 

Auch waren der stärksten Initiative auf handelspolitischem Gebiete 
unübersteigbare Schranken gesetzt, dessen mußte Herr Benesch bald 
gewahr werden. Auch sein Land ist in die europäische Wirtschafts¬ 
krankheit unauflöslich verstrickt, es wird auf seinen nächsten Absatz¬ 
gebieten (Serbien, Rumänien; der Balkan überhaupt) von dem mit 
der fatalen Valutaprämie gesegneten Deutschland ganz buchstäblich 
zu Tode „konkurrenziert", nachdem auch die Tschechenkrone den Marsch 
bergan angetreten hat Man kann sich daher vorstellen, mit welcher 
Aufmerksamkeit ein so systematisch arbeitender Kopf die Politik der 
Großmächte verfolgte, als sie sich anschickten, das radikal bis zum 
Verrecken durchrevolutionierte Reich im Osten in den allgemeinen 
europäischen Wirtschafts rahmen wieder einzuspannen und Genua am 
Horizont aufdämmerte. Für diese russische Aufbauarbeit die Ansprüche 
seines Industrielandes anzumelden, war sein legitimes Recht; und es 
war nur natürlich, und keineswegs Prestigesucht, wenn er als Sprecher 
der Staatengruppe nach dem Westen eilte, mit der ihn, von ihrer 
Funktion als naturgegebenen Absatzmärkten abgesehen, politische Bande 
verknüpfen, und als deren Generalbevollmächtigter ihm größeres Ge¬ 
wicht beigemessen werden mußte, als wenn er für sein Land allem 
zu sprechen gekommen wäre. 

Um sein Recht, in Sachen Rußlands gehört zu werden, brauchte 
sich Herr Benesch im übrigen nicht zu bemühen; wer das glauben 
machen will, tappt im Dunkeln. Im Gegenteil, man hatte allen An¬ 
laß, ihn jetzt zu suchen. Und daß man es besonders in Paris tat, ist 
über jeden Zweifel erhaben, gerade weil er Pariser Ansprüchen und 
Auffassungen zur Zeit der militärischen Interventionsbesessenheit (unter 
Poincare und Paldologue) mit charaktervoller Energie solange bekämpft 
hatte, bis sie sich unter schändlicher Einbuße an Menschen und Geld 
tot lief und auf die Unterstützung der polnischen Abwehr des Bol- 



Junius, Politische Chronik 


439 


schewistenandranges beschränkte. An diesem kritischen Punkte hatte die 
Frankophilie, die die tschechischen Nationaldemokraten blind machte, 
ihre Grenze, es war auch das einzige Mal, wo Benesch bisher die 
Stimmung des Volkes, dem er, sowenig wie den Parteien, im Grunde 
nie schmeichelte und nie nachlief, für sich hatte. Seine Autorität 
im Westen hat, wie man denken kann, darunter nicht gelitten; und 
er mag heute eine besondere Genugtuung darüber empfinden, daß 
seine Prognose triumphiert: die kommunistische Wirtschaftspraxis 
wird das ganze System von innen heraus aus den Angeln heben, 
es europareif machen und die Sowjetregierung den Kapitalistenstaaten 
in die Arme treiben. Nun aber, wo es gilt, die technischen Formen 
für den Wiederaufbau Rußlands und im Zusammenhang damit Mittel¬ 
europas zu finden, hat Frankreich das allergrößte Interesse, den Heer¬ 
bann seiner großen und kleinen Schützlinge um sich zu sammeln; 
aber während sich am Quai d'Orsay für die politische Angliederung 
des Baltenbundes unter Polens Führung und der Kleinen Entente unter 
Beneschs Leitung eine scheinbar klare Linie finden ließ (auch diese Kon¬ 
struktion ist künstlich), setzt doch die besonders in Prag angestrebte 
Konsortialbeteiligung am russischen Errettungswerk in die allergrößte 
Verlegenheit. Denn wie man, von der Nebelhaftigkeit der meisten 
Rußland betreffenden Pläne abgesehen, so viele und so stark aus¬ 
einanderlaufende Wirtschaftskräfte und Wirtschaftsinteressen auf einen 
Generalnenner bringen will, wird man in den Kapitalen dieses Ge¬ 
wimmels von Kleinstaaten so wenig wissen wie in Paris. Herr 
Benesch gibt die Verpflichtung zur Lösung solcher Herkulesaufgaben 
neidlos an die Wirtschaftstechniker ab, er hat ein Gefühl für 
die Schwächen seiner ökonomischen Kompetenz, aber unter fünf 
äußerst bezeichnenden Vorbehalten. Die Deutsche „Expansion“ muß, 
erstens, scharf überwacht, die Gefahr einer Monopolisierung der rus¬ 
sischen Aufbauarbeit durch Deutschland beseitigt werden. Die Führung 
gebührt, zweitens, auch in dieser Angelegenheit den für Europas 
Schicksal heute in erster Linie verantwortlichen westlichen Großmächten 
England und Frankreich, es ist also eine Lebensfrage für alle, daß 
sie eine gemeinsame europäische Politik haben und alle Gegen¬ 
ätze dieser Mission unterordnen. Es darf, drittens, keine Entscheidung 
getroffen werden, ohne daß vorher die Sachverständigen der östlichen 
Kleinstaaten vernommen und deren Wünsche und Bedürfnisse aufs 
sorgfältigste berücksichtigt würden. Es dürfen, viertens, alle wesent¬ 
lichen Probleme nicht anders als in Ausschüssen und Unterausschüssen 



440 


Junius, Politische Chronik 


behandelt und entscheidungsreif gemacht werden; allgemeine Kon¬ 
ferenzen können in der Regel keine nützliche Arbeit leisten. Tatsächlich 
wich Benesch ihnen aus, wo er nur konnte; man kann beinahe sagen, 
er habe die Konferenz von Porte Rosa, auf der die durch die Los¬ 
trennung vom österreichischen Mutterleib verursachten Beschwernisse 
der Nachfolgestaaten verhandelt wurden lange, sabotiert...Und es muß, 
endlich, ein positives Verhältnis zu Sowjetrußland gefunden, das heißt 
mindestens die de facto-Anerkennung seiner gegenwärtigen Regierung 
ausgesprochen werden. Der zuletzt angeführte Punkt ist von außer¬ 
ordentlicher Wichtigkeit, die politische Psychologie des Staatsmannes 
kristallisiert sich in ihm. Die ganze Haltung von Benesch in den 
verflossenen Jahren beweist, daß hier seine innersten Überzeugungen 
zum Ausdruck gelangen: er glaubt, Rußland gegenüber, nicht an 
forcierte Versprechungen, er glaubte nicht an papieme Bindungen, er 
glaubt an die Gewalt der Tatsachen, die für das westliche Unter¬ 
nehmertum auch in Sowjetrußland Sicherungen von selbst schaden 
wird. Für diese Überzeugungen wirkt er jetzt, so viel ich sehe, mit 
unermüdlichem Eifer; wie weit Poincard, aber auch die Belgrader ihm 
folgen werden, steht dahin. 

Die Stellung, die Benesch zu Genua einnimmt, ist damit gegeben. 
Es scheint als ob die Stabilisierung der Mark und die Beschaffung 
eines internationalen Kredits für Deutschland seine genuesischen Haupt¬ 
sorgen seien; das wird man verstehen, wenn man die Ursachen der 
Wirtschaftskrise kennt, von der sein schönes und von Natur so be¬ 
vorzugtes Land heimgesucht ist, zumal nachdem eine merkwürdige 
Art von Deflation es in besondere Preis- und Lohnbeklemmungen 
getrieben hat. Seine durch die Presse spazierenden Äußerungen über 
Deutschlands Wirtschaftsfunktion in Europa sind nicht von Zärtlich¬ 
keit für uns, sondern von Einsicht eingegeben. Daß in Genua das 
Thema Versailles nicht berührt werden dürfe, wird Herrn Benesch ge¬ 
wiß recht sein, seinen wiederholten Bekundungen nach scheint es ihn 
nervös zu machen; aber er ist zu klug, um nicht zu wissen, daß die 
europäische Finanzkrankheit mit dem Reparationsproblem organisch ver¬ 
knüpft ist; darüber hinwegreden, hieße in den Wind gestikulieren und 
dem Humbug, dem die Amerikaner klugerweise ausweichen, Altäre 
bauen. Es wird (wurde gesagt) ungebeten auftauchen, wie Bancjuos 
Geist bei Macbeths Bankett, und zwar nicht den Schlaf, wohl aber 
möglicherweise das Sauberkeitsgefühl dieses oder jenes Mitberaters 
beunruhigen. Ich vermute, Herr Benesch wird zu ihnen gehören; 



jfunius, Politische Chronik 


44* 


er wird sich, so wenig wie sein weiser Berater Masaryk, Ober den 
Ort täuschen, von dem aus die Sabotage des europäischen Friedens 
betrieben wird. 

Ob darum Herr Benesch wünschen kann, daß in den Garantiepakt 
zwischen England, Frankreich und Belgien die vom Nord nach Süd 
laufende Kette von Kleinstaaten-Bünden irgendwie einbezogen werden, so 
zwar, daß auch die östlichen Friedenschlüsse mit Menschenblut zu vertei¬ 
digende Schützlinge würden? In seinen vielen Memoranden und 
Rechenschaftsberichten vor Parlamentsausschüssen, in seinen „privaten“ 
Äußerungen, die beabsichtigterweise gleich öffentlich wurden, hat er 
bis zur Annäherung an Polen immer wieder durchblicken lassen, wie 
sehr er alle Rußland betreffende Territorialfragen als vor der un¬ 
bekannten Zukunft ungelöst und die durch die Umstände erzwungenen 
Losungen (Beßarabien, Ostgalizien, Litauen usw. usw.) als provisorisch 
betrachtet; er schweigt jetzt, aber er kann innerlich nicht umgelemt 
haben, er kann nicht glauben, daß mächtige nationale Gärungen, wie 
sie unter der Decke der grausigen Not in Rußland fortglimmen, durch 
Diktate von ein paar Westlern zur Ruhe verwiesen werden können. 
Und er wird sich darum schwerlich zur Aufgabe gedrängt haben, auch 
in diesem Punkt zwischen London und Paris zu „vermitteln“. Er ist 
zu klug dazu, sein eigenes nationales Erlebnis wird ihn warnen; zu¬ 
dem weiß er, wie sich die öffentliche Meinung in England zur 
ffanko-polnischen Forderung der Unterschrift unter einen solchen 
Blankowechsel verhält 

So ungefähr sieht, aus der Nähe betrachtet, Herr Benesch aus. 
Meinetwegen eitel, im Genuß der Macht, die ihm viele Intellektuelle 
unter seinen eigenen Landleuten mißgönnen, noch ein Neuling; aber 
noch weit ehrgeiziger als eitel, und von einem imponierenden Werk¬ 
trieb beseelt, der ihn mit gereifteren Erfahrungen zu hoher Bedeutung 
emporführen kann, — falls er die österreichischen Gewohnheiten der 
Konspirationstechnik in sich ausrotten und die Eifersucht der Partei¬ 
führer behandeln lernt Er wird sich, hoffentlich sehr bald, zur Er¬ 
kenntnis durchringen, daß den Etats Unis d'Europe weder durch anti¬ 
deutsche Gefühlsrückstände noch durch ein ungeheures Netz von 
Heiligen Allianzen gedient ist. Sein Wille zur Vorurteilslosigkeit muß 
noch rücksichtsloser werden. Aber auch in der inneren Politik ist 
diese auffallend begabte Mischung aus Temperament und Zucht des 
Kopfes mit der Zeit zu Ansichten gelangt, die ihm Ehre machen. 
Von der Bourgeoisie erhofft dieser Kleinbürgerssohn wenig, er hält 



44* 


Junius, Politische Chronik 


sie für unfähig, aus der verkrüppelnden Enge sozialer und nationaler (!) 
Vorurteile ins freie Land der Zukunft zu streben und mochte ganz 
offenbar Arbeiter und Bauern beider Nationalitäten zu Willensträgern 
seiner Politik im Parlament machen. Der Gedanke ist gut, und seine 
Rückgabe des alten Ständischen Theaters in Prag an die Deutschen 
verdient als erster Schritt zur Aussöhnung alle Achtung; nur wird er 
sich darüber nicht täuschen dürfen, daß mit kleinen Liebesgaben die 
Mindestforderungen jener deutschböhmischen Gruppen, die jede Form 
von Chauvinismus wie die Pest hassen und selber von den Alldeutschen 
verabscheut werden, nicht aus der Welt zu schaffen sind. Hier liegen 
die Aufgaben für den wahren tschechischen Staatsmann, der sein Volk 
erziehen muß, aus den mühsam erworbenen Eigenrechten kein System 
des Unrechts für andere zu schmieden und freiwillig auf Herrscbgelüste 
zu verzichten, ehe die günstige geschichtliche Konjunktur sich wieder 
ändert und die Weltstimmung eine andere wird. Das kluge englische 
Vorbild sollte Nacheiferung wecken. 



ANMERKUNGEN 


Stimmen des Auslands 

S elbst in Frankreich, das die apo¬ 
kalyptische Stimmung des deutschen 
Geistes von heute mit dem Hinweis 
auf die nie erschöpfende Kraft west¬ 
licher Kultur abzulehnen pflegt, wird 
doch allmählich die Problematik der 
europäischen Situation, die Erschöpfung 
der bisherigen kulturellen Tradition 
deutlich. Soschreibtim„MondeNou- 
veau“, einer der wenigen international 
gestimmten und radikalen französischen 
Zeitschriften, AndreLebey über „Die 
Gefahren der intellektuellen Situation“: 
„Die bisherige Ordnung der Dinge 
— mag man es bedauern oder nicht — 
ist vorbei. Wir erschöpfen uns ohne 
Zweifel unnütz auf so vielen Pfaden, 
weil wir uns hierüber nicht Rechen¬ 
schaft ablegen; dank der Zweideutig¬ 
keit, welche uns schlecht tröstet — denn 
man beraubt sich nicht des Wahren, 
ohne darunter zu leiden —, gelingt es 
uns, weder die Vergangenheit wieder 
herzustellen noch die Zukunft herbei¬ 
zurufen. Dieses Wahre im Verhält¬ 
nis zu unserer Zeit, aber wahr nur 
durch dieses Verhältnis zu ihr und 
ihren wie unseren Bedürfnissen — es 
versteckt sich, aber wir spüren trotz¬ 
dem, daß es uns ruft, daß wir es 
brauchen und daß wir den Mut haben, 
es zu erobern. Auch die glückliche 
Resignation ist uns also untersagt: aber 
da sie erlösen würde, verschaffen wir 
sie uns durch verschiedene Ausflüchte, 
was uns weiter auf Irrwege fuhrt. Wenn 
wir nicht ein wenig, durch Denken, 
diese Zukunft vorwegnehmen, auf die 


wir losmarschieren, die wir wohl oder 
übel leben müssen und die uns flieht, 
je nachdem wir uns der besonderen 
Kraft versagen, die durch ihr Gleich¬ 
gewicht das unsrige herbeifuhren 
würde, werden wir sie immer weniger 
besitzen; wir werden im Gegenteil 
sie nur völlig erleben, wenn wir er- 
kannt haben, wohin sie geht, was sie 
zu ihrem Dasein verlangt, was sie 
ausmacht. Eine so einfache Augen- 
scheinlichkeit zugeben, bedeutet be¬ 
reits einen Schritt auf sie zu und in 
Erwartung, sie entschlossen zu wollen, 
ihr beipflichten. Das führt uns natür¬ 
lich zur neuen Ideologie, die die wirt¬ 
schaftlichen und sozialen Erscheinungen 
regeln wird, die in eine normale, 
regelmäßige Bahn zu bringen, weder 
der alten noch der neuen Welt ge¬ 
lang. Nichtsdestoweniger muß man 
es versuchen. So kann man sich er¬ 
neuern. So seine geistige Mission er¬ 
füllen, die man nicht in Stich lassen 
kann, ohne Gefahr des Untergehens. — 
Anders werden wir die Vernunft der 
Dinge nicht erreichen. Anders werden 
wir nicht Revolutionäre sein; denn 
Gewalt und Macht dauern und fhichten 
nicht, wenn der Gebt sie nicht fuhrt 
oder beherrscht. Wir kommen nicht 
weiter, weil alle Parteien, unbeweg¬ 
lich und ohnmächtig in ihren Haltungen, 
gleich diskreditiert bleiben, bb in die 
Form und Verfahren ihrer Kämpfe.“ 

Jaques Riviere,in der „Nouvelle 
Revue Franqaise“, spricht bei Gelegen¬ 
heit Dostojewskis von dem prin¬ 
zipiellen Unterschied zwbchen dessen 



444 Anmerkungen 


und der französischen Epik. Bei Dosto¬ 
jewski die Abgrunde, die dunklen Tiefen 
der menschlichen Seele; bei den Fran¬ 
zosen das sachliche Gegenüber zu allen 
Komplexen, die dargestellt und organi¬ 
siert werden: „Wir geben niemals 
den Taumel der menschlichen Seele 44 . 
Deshalb diese Meinung Rivieres: „Wir 
sollten Mißtrauen gegen uns haben, 
wir Franzosen, mit unserer Neigung 
zu vereinfachen, die Dinge auf einen 
Nenner zu bringen. Aber wenn wir 
uns auch noch so wenig vor dieser 
Neigung in Acht nehmen und sie nie¬ 
mals den Schritt auf die Komplikation 
des Wirklichen nehmen lassen, so kann 
sie uns doch Verkettungen merken 
lassen, die auch Wirklichkeit sind und 
Teil der seelischen Natur. 

Denn das menschliche Wesen, so 
sonderbar es sei, so lange es nicht 
unsinnig ist, und vielleicht auch dann 
noch —: das menschliche Wesen ent¬ 
geht in seinem Grunde nie einer ge¬ 
wissen Logik. Von einer Handlung 
zur andern findet es sich wieder; 
es kann unaufhörlich gegen die Ver¬ 
nunft handeln und dennoch einer ge¬ 
wissen Idee gehorchen, allgemeiner: 
einer gewissen Lage, einer gewissen 
Falte seines Gehirns, das eine Art 
Form seines geistigen Lebens ist. 
Und selbst wenn es sich widerspricht, 
wer kann, so lange er es nicht analy¬ 
siert hat, versichern, daß dieser Wider¬ 
spruch etwas anderes sei als die (durch 
die Ereignisse verursachte) Ablehnung 
einer natürlichen Richtung? 

Eher als den Geist in eine psycho¬ 
logische Unendlichkeit sich verirren 
lassen, kann man sehr gut denken, daß 
die Aufgabe des Romanciers sei, ihn, 
durch die alleinige Kontinuität seiner 
Bilder, ihn zu diesem heimlichen, aber 
konkreten und erkennbaren Ereignis 
Zurückzufuhren. Die Anstrengung 
seiner Vernunft kann ihm in seiner 
Vorstellung des Lebens sehr gut helfen. 
Er kann, indem er es zeichnet, das 
Gesetz eines Individuums aufsuchen, 


ohne deshalb weder in Abstraktion 
noch in Schematismus zu verfallen. 
Seine Geduld, sein Instinkt für die 
Widerstände werden hier die größte 
Wichtigkeit haben. Aber wenn er 
damit ausgestattet ist und gleichzeitig 
mit dem, was ich die Fähigkeit des 
Zusammen Wachsens mit den Intuitionen 
nannte, so kann er ein Werk schaffen, 
das, selbst an Tiefe, alles übertrifft, 
was das abenteuerliche Genie Dosto¬ 
jewskis hat begründen können. Denn 
in der Psychologie — ich muß es noch 
einmal sagen — braucht man wahr¬ 
haftige Tiefe: das ist die, welche man 
erforscht . 44 

In der Londoner „Nation 44 wird 
vom Unterschied zwischen englischer 
und französischer Wissenschaft ge¬ 
sprochen: „Fast ebenso sehr wie der 
Unterschied zwischen englischer und 
französischer Literatur wird der zwi¬ 
schen englischer und französischer 
Wissenschaft bemerkt. Der englische 
wissenschaftliche Geist ist im Ganzen in¬ 
tuitiv, beweglich und sehr geneigt zu 
einer anschaulichen Darstellung von 
besonders praktischer Art. Der fran¬ 
zösische wissenschaftliche Geist liebt 
es andererseits, die verwickelte Realitär 
zu so wenig wie möglichen Begriffen 
zu vereinfachen und dann ein unfehl¬ 
bares logisches Gebäude zu errichten. 
Maxwell war ein hervorragender Typus 
des großen englischen Wissenschaftlers, 
aber wir haben die Autorität Poincares, 
der sagte, daß die große „Abhandlung 
über Elektrizität und Magnetismus 44 
im französichen Leser Gefühle des 
Mißtrauens erwecke. Weit entfernt, 
einen unfehlbaren logischen Bau vor¬ 
zufinden, meint er, daß verschiedene 
Teile von verschiedenen Gesichts¬ 
punkten her beschrieben sind, und daß 
diese Gesichtspunkte selbst miteinander 
unvereinbar sind. Auch Maxwells Vor¬ 
liebe für riesig komplizierte mecha¬ 
nische Modelle, die dazu dienen sollen, 
gewisse verwickelte Gleichungen zu 



445 


Anmerkungen 


veranschaulichen, ist für den franzö¬ 
sischen Leser ein Stein des Anstoßes. 
Was sollen solche Modelle beweisen? 
. . . Aber diese Vorliebe für Modelle 
ist charakteristisch für die englische 
Schule, und es ist charakteristisch, daß 
kontinentale Physiker nie fähig waren, 
das zu verstehen. Sie ist zweifellos 
ein Zeichen der englischen Abneigung, 
außerhalb der Erfahrung zu forschen. 
Der englische Wissenschaftler vertraut 
der Logik weit weniger als der Er¬ 
fahrung. Der Franzose hat viel weniger 
Achtung vor der Erfahrung. Er ist 
gewillt, in einer Weise zu verein¬ 
fachen, welche dem englischen Geist 
fast unerträglich ist: die Welt an¬ 
zusehen als eine Sammlung von kleinen 
Billardkugeln mit Kräften, die sich um¬ 
gekehrt zum Quadrat der Entfernung 
verändern". R. K. 


Carl Ludwig Schleich f 

E ine Gesellschaft von Gelehrten und 
Künstlern unterhielt sich einst über 
Voltaire. „Welch ein großer Mann 
ist das", meinte der Mathematiker. 
„Schade nur, daß er von Mathematik 
wenig versteht.“ „Welch ein herr¬ 
licher Geist", meinte der Historiker. 
„Schade nur, daß seine historischen 
Schriften nichts taugen." Der Reihe 
nach stellten der Dramatiker, der Phi¬ 
losoph, der Lyriker fest, daß Voltaire 
ein großer Mann sei, nur leider auf 
dramatischem, philosophischem, lyri¬ 
schem Gebiete wenig geleistet habe. 
An diese Anekdote aus dem kleinen 
Ploetz wurde man oft erinnert, wenn 
man Ärzte, Literaten und Musiker 
über Carl Ludwig Schleich befragte. 
Jeder wies ihn mit der Gebärde des 
Fach-Titanen aus dem eigenen Arbeits¬ 
gebiet, um sofort zu betonen, daß 
Schleich jenseits der Ressortsgrenzen 
eine verehrungswürdige Persönlichkeit 
sei. Allen, die nur Marionetten ihrer 
Begabung sind, allen Monomanen der 


Arbeitsteilung mußte der faustische 
Wille, die dämonische Kraft, die im 
bürgerlichen Leben Geheimrat Schleich 
hieß, unheimlich sein. Er war nun ein¬ 
mal kein Spezialist, der bienenfleißig 
die Parzelle beackert, auf die ihn Stu¬ 
dium und erster Erfolg geführt. Er 
war ein Souverän mit allem Zauber 
und mit allen Launen des Herrschers. 
Sein Herrschaftsgebiet war das Uni¬ 
versum. 

Dieser Polyhistor war ein Aktivist 
lange vor Erfindung des Wortes. Das 
Leben dieses schwer an preußische 
Disziplin zu gewöhnenden Chefarztes 
war ein pausenloses Wirken. Nulla 
dies sine linea. Ob der „jeweilige 
Stand der Wissenschaft“, den des Stu¬ 
denten Schleich Zechgenosse Gottfried 
Keller so glücklich verspottet hat, alle 
Theorien des Forschers zögernd oder 
garnicht gebilligt hat, schiert uns heute 
nicht. Was die Zunft ihm angetan, 
er hat es ihr reichlich vergolten. Denn 
dieser Pommer war ein Kämpfer ohne 
Furcht und Tadel. Selbst der Dumm¬ 
heit, an die sich die Götter nicht wa¬ 
gen, warf dieser tapfere Medizinmann 
den Fehdehandschuh ins breite Gesicht. 
Der gütige, liebenswürdige Gelehrte 
konnte hassen wie Bismarck und er¬ 
littenes Unrecht mit der Intensität 
eines Michael Kohlhaas empfinden. 

Als Schleich alt wurde, schenkten 
ihm die Olympischen eine zweite Ju¬ 
gend. In den drei letzten Jahren hat 
er außer seinen Lebenserinnerungen 
zahlreiche kleine Schriften veröffent¬ 
licht, die meist Wegweber in uner¬ 
forschtes Gelände der Wissenschaft 
sind. Schleich war, wie alle wahrhaft 
produktiven Naturen, ein großer An¬ 
reger. Die Phantasie beflügelte sein 
Wbsen, die Intuition war Herold sei¬ 
ner Erkenntnis. Dieser Professor war 
in Wahrheit ein Bekenner, ein wehr¬ 
hafter Streiter im ewigen Krieg gegen 
Herzensträgheit und Sattheit der Ein¬ 
gesessenen. Allen lebendigen Kräften 
war Schleich ein guter Kamerad. In 



44 6' Anmerkungen 


seinen Freanden sah er die Welt. Mit 
Strindberg hat er getollt, mit Dehmel 
gegrübelt, er durfte sich verschwenden, 
denn er war ein Begnadeter, ein Rei¬ 
cher. Der Becher der Welt — ihm 
wurde er niemals schal. 

Das Beste, was sich über ihn sagen 
läßt, stammt von ihm selbst. Einst, 
zu mitternächtlicher Stunde, im Kreis 
der Getreuen, sprach er mehr zur 
eigenen Seele als zu den wein frohen 
Freunden: „Wozu trinke ich eigent¬ 
lich? Ich bin doch sowieso schon im¬ 
mer berauscht.“ Wirklich, er war 
immer berauscht vom ewig strömen¬ 
den Nektar des Seins, vom diony¬ 
sischen Trunk des eigenen Wesens. 

Ob der Vielseitige ein Genie war? 
Die übernächste Generation mag’s re¬ 
gistrieren. Sicher ist, daß er — im 
Sprachgebrauch einer Zeit, die blüten¬ 
frischer war als unser papiemes Sä- 
kulum — ein genialischer Mensch war, 
ein seltener Wurf der Natur. Er war 
kein Schemen, er war Fleisch und 
Blut. Er war kein Homunkulus, er 
war Mensch. Er war kein Buch, er 
war Leben. 

Viele haben ihn bekämpft, viele 
haben ihn verehrt; geliebt haben ihn, 
glaube ich, sogar seine Feinde. 

Paul Mayer 

Alt-Spanien 

ln einem reichen und schönen Buche 
-■•legt August L. Mayer, dem wir 
schon manchen wertvollen Beitrag zur 
Kenntnis spanischer Kunst verdanken, 
spanische Architektur und spanisches 
Kunstgewerbe vor uns hin (Alt-Spanien, 
mit 3 jo Abbildungen. 1921. Delphin- 
Verlag, München). Das Buch ist als 
dritter Band jener kurz vor dem Kriege 
begonnenen Serie „Architektur und 
Runstgewerbe des Auslands“ zu be¬ 
trachten, in der „Alt-Holland“ und 
„AJt-Dänemark“ vorangingen. 

Mit einer merkwürdigen, faszi¬ 


nierenden Fremdheit steht die spa¬ 
nische Baukunst aus den Abbildungen 
vor uns auf: kompliziert, widerspruchs¬ 
voll, überraschend, selten überzeugend; 
in ihrem eigensten Wesen schwer zu 
fassen; mit vielen Fäden deutlich und 
eng an Europa geknüpft, französischen, 
italienischen, deutschen, holländischen 
Einfluß, ja französische, italienische, 
deutsche und holländische Einfuhr 
empfangend, $0 daß die Formen der 
europäischen Gotik, der europäischen 
Renaissance herrschen — und trotz¬ 
dem unter diesen Formen in einem 
Geiste arbeitend, der fremd bleibt, 
der etwas anderes will, der aber nicht 
zum klaren Ausdruck seines Willens 
kommt. Die Formengewalt scheint nur 
eben soweit zu reichen, um jenes 
Element des Fremden in die allge¬ 
mein-europäischen Bestandteile zu tra¬ 
gen, das heißt: sich nicht ersticken 
zu lassen. Aber zur schöpferischen, 
architektonischen Phantasie vermag sie 
sich selten zu erheben. 

Man kann vielleicht dieses immer 
wieder spürbare Element unter der 
europäischen Form als ein hart klirren¬ 
des Rittertum bezeichnen. „Männlich“ 
nennt August L. Mayer nicht nur die 
spanische Glaskunst, sondern das ge¬ 
samte Kunstgewerbe des Landes. Ich 
meine aber, auch die Architektur ist 
männlich, ja soldatisch. In den ein¬ 
facheren, durchsichtigeren Gebilden 
des Kunstgewerbe ist dieser Zug frei¬ 
lich besser zu greifen, und deshalb 
hätte Mayer vielleicht mit Nutzen 
dem Beispiel des Holland-Bandes fol¬ 
gen können, der mit den Stühlen, 
Truhen usw. beginnt und über Türen, 
Portale, Tore, Häuser bis zum Stadt¬ 
bilde weiterschreitet. Gerade die Möbel 
sind auch für Spanien außerordentlich 
instruktiv, z. B. der Feldtisch aus dem 
Besitze des Marques de Santillana zu 
Madrid. Der knappe Kriegs- und Zelt¬ 
charakter dieses Stückes steckt auch 
unter den reichen und selbst den 
luxuriösen Stühlen und Sesseln, deren 



Anmerkungen 447 


Beine auf den Boden stoßen wie ein 
herrischer Degen. Die Neigung zum 
Spiel ist auffallend gering. Wohl liebt 
man Aufwand und Pracht, aber auch 
die Pracht hat das Kalte, Fremde, 
Pflichtgemäße, entbehrt der Naivität. 
Jene Techniken, in denen Spanier das 
Vollendetste geleistet haben, sind sehr 
bezeichnend die am engsten zum 
Waffenwesen in Beziehung stehen¬ 
den: Schmiedekunst und Lederarbeit. 
Leider enthält unser Buch keine 
Rüstungen und Waffen. — Von den 
Bauten sind am eindrucksvollsten die 
alten Festungen . . . wie la Conca, das 
Castillo Manzanares el Real, das Casdllo 
San Servando bei Toledo oder jenes 
zu Alcala de Guadeira. Und sucht 
man unter den Rathäusern, Kirchen, 
Hospitälern, Adelshäusem usw. der 
späteren Zeit nach jenen, die einem 
eigenen spanischen Wesen am näch¬ 
sten kämen, so findet man Bauten, 
die eine strenge, herbe, wie aus mäch¬ 
tigen Platten gefugte Front als einen 
harten, fast rasselnden Panzer über 
sich nehmen — wie die Casa del Calbito 
zu Santiago de Compostella (1758) 
oder — eines der interessantesten 
Werke — die Fassade von Santa Clara 
ebendort (erste Hälfte des 18. Jahr¬ 
hunderts). Man spricht hier sehr rich¬ 
tig von einem „Plattenstil“, der na¬ 
türlich nicht mit dem ungefähr der 
Frührenaissance entsprechenden „estilo 
plateresco“ zu verwechseln ist. Das 
Charakteristische der genannten Front 
liegt aber nicht allein im Plattenstil, 
sondern ebensosehr in dem mächtig 
geschienten Eckpfeiler. Das ist ein 
Gebilde, das sich ähnlich wiederfindet 
zum Beispiel in dem Palacio de Duque 
della Victoria in Logrono (18. Jahr¬ 
hundert). 

Ein besonderes Verdienst des Buches 
sind die köstlichen Aufnahmen mau¬ 
rischer Architektur (Granada, Cdrdoba). 
In ihrer reinen, klaren und wunder¬ 
voll reichen Einfachheit sind diese 
Bauten wohl das absolute Gegenstück 


zu den spanischen. Niemand hat sich 
mit einem feineren Verstehen in das 
Werk des Aben Cencid vertieft als 
Karl Ernst Osthaus in dem Al¬ 
hambra-Kapitel seiner „Grundzüge der 
Stilentwicklung“. (Hagen 1918, Folk- 
wang-Verlag.) Dieses Buch des sel¬ 
tenen Mannes, das eine so unmittel¬ 
bare und großgesehene Darstellung 
künstlerischer Zusammenhänge ist, be¬ 
weist, wie verschieden die gleichen 
Dinge aussehen, dem, der sie nur 
vom Schreibtisch aus kennen darf, 
und dem, der sie auf seinen Reisen 
sah. Eine kostbare Ergänzung der bis¬ 
herigen Spanien-Literatur, ja eine 
grundlegende Erweiterung unseres Wis¬ 
sens um dieses Land ist das Buch 
Kurt Hielschers „Das unbekannte 
Spanien“ (mit 304 Abbildungen. Emst 
Wasmuth Verlag Berlin 1911), das 
einen unerhörten Schatz von Land¬ 
schaften, Volkstypen, Bauten, Innen¬ 
räumen usw. bringt. Die Abbildungen 
beruhen auf Aufnahmen des Verfas¬ 
sers, den man ohne Übertreibung als 
vorbildlichen Photographen bezeichnen 
darf. Er geht nicht auf malerische 
Wirkungen aus, sondern auf letzte 
dokumentarische Klarheit und Exakt¬ 
heit. Bilder wie der Stierkampf auf 
dem kleinen engen Marktplatz in Po- 
sages sind von wilder Schönheit und 
einer merkwürdigen Phantastik. 

Adolf Behne 


La Fontaine und Pierre Mille 

Tn einem kürzlich erschienenen Aufsatz 
* über die deutsch-französischen Be¬ 
ziehungen zitiert Thomas Mann den 
sehr komischen Ausspruch des Pariser 
Journalisten Mille: Frankreich sei ent¬ 
schlossen, gegenüber deutscher Mystik 
und deutschem Militarismus „solide¬ 
ment rationaliste et classique“ zu 
bleiben. 

Ich denke, daß Pierre Mille nichts 
gegen La Fontaine einzuwenden hat; 



44 S Anmerkungen 


der ist doch wohl rationalistisch und 
klassisch genug. Man könnte auch 
Rabelais oder Racine oder Voltaire 
nennen; ich wähle La Fontaine, weil er 
in Deutschland die gleiche Lesebuch¬ 
popularität besitzt wie in Frankreich, 
und weil, bei allem Respekt vor 
Sainte-Beuve, Taine und Brunetiere, 
die liebevollste Arbeit über ihn von 
einem Deutschen stammt: von Voßler 
nämlich*. Sie erschien 1919, ist also 
wohl im Kriege entstanden. Welch er¬ 
staunliches Schauspiel: mitten im här¬ 
testen Kampf schreibt ein Münchener 
Barbar ein Buch über einen höchst 
französischen Franzosen, nicht etwa 
um zu zeigen, daß er nichts taugt, 
oder daß er alles gestohlen hat, sondern 
indem er mit echtester Freundschaft 
der glücklichen Vollendung seines 
Wesens nachgeht. Alles: La Fontaines 
kluge und spitze Anmut, seine leichte 
und heitere Melancholie, seine spröde 
und bewegliche Form ist hier ein- 
gefangen und ausgedrückt; eine sehr 
schwierige und nur mit feinstem Takt 
zu lösende Aufgabe, wenn man die 
wechselnde und nie recht greifbare 
Kunst dieses Dichters bedenkt, deren 
ganzer Reiz in Duft und Farbe liegt. 
Und man ist versucht zu sagen: es 
mußte ein Deutscher kommen, um in 
der Hefe von La Fontaines Gemüt 
einen Einsiedler und verträumten Edel¬ 
anarchisten zu finden, und um hinter 
vielfältiger Schwäche, Gespaltenheit, 
Launenhaftigkeit die unbeirrte dich¬ 
terische Seele zu erkennen. 

Wir armen Deutschen! Wir lesen 
mit Entzücken die Verse dieses 
klassischen Franzosen; und wenn wir 


* Kaii Voßler, La Fontaine und sein Fabel¬ 
werk, Heidelberg, 1919. 


die allerschönsten und berühmtesten 
hören (sur les humides bords des 
royaumes du vent), so zittern unsere 
anarchisch-militaristischen Herzen; zu 
solcher Vollendung erheben wir sehn¬ 
süchtig unsere Arme, main tendue 
sans rancune, und La Fontaine, weniger 
grausam als Pierre Mille, empfingt 
uns mit gastfreundlichem Lächeln. 

Erich Auerbach 


Notiz 

I n der „Chronik Werenwags“ unseres 
Februarheftes wurde davon ge¬ 
sprochen, daß der Professor Eugen 
Lerch in der rechtsstehenden „Mün¬ 
chener Zeitung“ einigen deutschen 
Schriftstellern, die Arbeiten über heu¬ 
rige französische Dichter wie Peguy, 
Rolland, Claudel veröffentlicht haben, 
dies als „Anbiederung mit der Neger¬ 
nation“ (ein für einen Romanisten 
doppelt überraschender Ausdruck) an- 
rechnete, hingegen in der linker stehen¬ 
den „Frankfurter Zeitung“ den Kampf 
gegen die französische Literatur öffent¬ 
lich brandmarkt. Diese Meinungsver¬ 
schiedenheit gab Anlaß zu einigen 
kritischen Sätzen. 

Herr Professor Lerch legt Wert 
auf die Feststellung, daß sich sein 
Aufratz in der „Münchener Zeitung“ 
(der übrigens schon am 9. Juni 1920 
erschienen ist) gegen eine Beurteilung 
lebender, zum Teil deutschfeind¬ 
licher Franzosen wandte, die er als 
eine Überschätzung empfindet — sein 
Aufsatz in der „Frankfurter Zeitung“ 
aber gegen eine Herabwürdigung der 
großen Toten Frankreichs (Moliere 
usw.). 

R. K. 


Verantwortlich fUr die Redaktion: Dr. Rudolf Kayser. 
Verlag von S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig. 





INTERNATIONALE UND EUROPÄERTUM 

von 

RUDOLF PANNWITZ 
I 

D ie nachfolgenden Betrachtungen und Gedanken über Internationale 
und Europäertum möchten die Grundlinien eines deutschen Kultur- 
Eüropäismus vorzeichnen. Sie sind darum ihrem Wesen nach unpoli¬ 
tisch. Wo sie aber das Gebiet des Politischen berühren, da betreten 
sie es nur als ein unumgängliches Überganggebiet. Darum sei ihnen 
auch erlaubt, so ferne wie sie sich von allem Streite aller Parteien 
halten, mit größerer Freiheit Überzeugungen und Ergebnisse auszu¬ 
sprechen, die nur, wdnn mit ihrer Hilfe Massen gegen Massen bewegt 
werden sollten, verletzen könnten. Wer verantwortlich und leidenschaft¬ 
lich auf eine künftige Kultur hinwirkt und in dieser den Besten seines 
Volkes den vielleicht ersten Platz sucht, der darf nicht vor alten noch 
neuen Gefühlswerten, wofern er nur sie zu ehren weiß, in öffent¬ 
licher Rede haltmachen. Und so sei denn gleich zu Beginne aus¬ 
gesprochen, daß diese Betrachtungen und Gedanken einer Gesinnung 
entspringen, die, bis in jede Folgerung hinein, die Politik, wo sie nicht 
eine reine Dienerin der Kultur ist — und wo 'koimte sie das sein! — 
der Kultur unterzuordnen, ja aufzuopfem bereit ist. So erscheint ihr 
jeder Zustand eines Volkes, jeglicher Staat, die Richtung einer Ent¬ 
wicklung, Erfolg aller Art nur dann erhaltens- und befördemswert, 
wenn durch sie nicht die Aussicht auf eine große Kultur verringert wird. 

Eine solche Gesinnung hätte man früher international genannt. In 
diesem Fälle aber ist sie der Ausdruck von Ideen und Idealen, die ge¬ 
rade zu denen, die sich international nannten und noch nennen, im 
Gegensätze stehn. Es handelt sich um einen konkreten Europäismus 
in einem schöpferischen Sinne. International heißt wörtlich: zwischen 
den Völkern. Eben dies hat es bedeutet und bedeutet es noch. Es 
leuchtet ein, daß etwas, was zwischen den Völkern sich befindet, sie 
wohl in eine gemeinsame Atmosphäre tauchen und hüllen, aber nicht 

*9 



450 Rudolf Panmoitz, Internationale und Europäertum 


ihre organischen Kerne miteinander verbinden und sie so zu einem 
Org anism us höherer Stufe aufbauen kann. Die internationalen Be¬ 
strebungen haben wirklich genau jenes bis zu einem Grade geleistet, 
aber dieses überhaupt nicht vermocht. Jenes mag nützlich sein, dieses 
wird täglich nötiger. Diese Erkenntnis formte — schon 1914 — den 
Begriff des Übernationalen. Sie hatte das sichere Bewußtsein, damit 
nichts Bedenklich-Neues zu beginnen, sondern etwas Ewiges zu festigen. 
Wir Deutschen brauchen nur um hundertundfünfzig Jahre zurückzu¬ 
blicken, so finden wir in Herders eindeutigem Lebenswerke die uner¬ 
meßlich fruchtbare Leistung eines übernationalen Geistes. Dies ist vor¬ 
bereitende Synthese von Naturen und Kulturen. Cf Goethes Person 
ward dasselbe kristallinisch als individuale Natur und Kultur, er wurde 
das Beispiel und Vorbild eines deutschen Kultureuropäismus. Weniger 
bekannt ist, daß auch der Größte der Slawen, von dem man es kaum 
annehmen würde, nämlich Dostojewski, den gleichen Weg beschritten 
hat. In seiner mehr berühmten als begriffenen Puschkinrede spricht er 
dem Küssen eine schöpferische Liebe zu, die imstande sei, alle anderen 
Völker jedes aus seinem eignen Geiste zu verstehen und zu vollenden, 
so daß er berufen sei, den Dom der Dome Europa tatsächlich aufzu¬ 
bauen. Dies ist im genauesten Sinne des Wortes übernational gefühlt. 

Hier aber drängt sich die Frage auf, ob solche übernationale Ge¬ 
sinnung einen Grund oder ein Recht habe, sich auf Europa zu be¬ 
grenzen und in einen Europäismus einzuschließen. Logisch gewiß nicht, 
aber real. Es handelt sich ja nicht um eine die Menschheit umfassende 
Religion, sondern um etwas, was mit vorhandenen Kräften in ge¬ 
gebenen Lagen geleistet werden soll. Noch vor kurzem und vielleicht 
auch heute erwidert man in einem Atemzuge dem Bekenner eines 
konkreten Europäertums, Europa sei viel mehr als sich verwirklichen 
lasse und Amerika dürfe doch nicht ausgeschlossen werden. Selbst¬ 
verständlich ist ein Europa unmöglich, bevor es genügend viele, klare, 
starke, unter sich einige Europäer gibt — Napoleon allein hat es nicht 
zu gründen vermocht Selbstverständlich kann aus dem heutigen Europa, 
das vielleicht mehr zu Amerika als Amerika zu ihm gehört, Amerika 
nicht ausgeschlossen werden. Beides sagt das eine, daß es ein Europa 
noch nicht gibt, und so bleibt erlaubt, darauf, daß es entstehe, hin¬ 
zuwirken, wofern eine konkrete und realisierbare Idee leitend ist 

Bisher sind die Begriffe Internationale und Europäertum ineinander- 
geschwommen. Dies ist auf keinen Fall richtig. Denn die Versuche 
der geistigen oder weltlichen Erbauung Europas waren durchaus nicht 



Rudolf Panmoitz, Internationale und Europäertum 451 

internationalen Charakters, und die internationalen Bewegungen in 
Europa dienten allgemeinen und menschheitlichen Idealen und hatten 
wo überhaupt eine, doch nie eine bestimmte Vorstellung von Europa. 
Also die Geschichte selber hat Internationale und Europäertum scharf 
unterschieden. Es ist unredlich und sehr schädlich, wenn neuerdings 
dies verwischt werden soll, weil Gescheiterte der Internationale sich 
plötzlich besinnen, daß sie und ihre Ahnen ja doch auch schon von 
Europa geträumt haben. Auf der anderen Seite darf das Europäertum 
nicht eng und politisch gefaßt werden. Es muß die Summe und die 
Reife einer langen Kultur bedeuten und eine Gesinnung in die Zu¬ 
kunft, die daraus folgt und darüber hinausgeht Es muß ein Ende 
und ein Anfang sein, eine geschichtliche Lage, die zur Entscheidung 
zwingend uns innerlich ergriffen hat, lebendiges Bewußtsein und schaf¬ 
fender Wille geworden ist. Auch ein politisches Imperium Europaeum 
würde weder auf den Erdteil sich beschränken noch eine Kulturgrenze 
ziehn, es würde nur seinen ganzen Schwerpunkt auf dem eigenen Kon¬ 
tinente haben und auch alle Meere nur befahren, um diesen aufzubauen. 

II 

An dieser Stelle der Betrachtungen über Internationale und Europäer¬ 
tum wird es unvermeidlich, die Gegenstände der Politik zu behandeln, 
und zwar deswegen, weil die Politik ihnen nicht genugtut, sie selber 
aber bestimmend werden für jede Kultur oder Unkultur. Ein Krieg, 
der Europa noch mehr zerreißt und schwächt, als es schon zerrissen 
und geschwächt ist, soll sich nicht wiederholen — Imperialismus und 
Revolutionen sollen verhütet, ein gemeinsamer Aufbau soll geleistet 
werden — die alten Formen, auch die liberalen und sozialistischen, 
auch die Demokratie, der Parlamentarismus, der mechanistische Zukunfts¬ 
staat, sind in unserer innem und äußern Welt überlebt, wenngleich 
nicht überwunden, neue, geistigere, wirklichere müssen geschaffen 
werden — das soziale und das ökonomische Problem bedürfen einer 
allgemeinen ob auch nicht überall der gleichen Lösung — eine Frie- 
dung der Klassen und eine Blüte der Wirtschaftlichkeit ist die Voraus¬ 
setzung für das Gedeihen jedes einzelnen: über dieses sind sich heute 
die Bewohner Europas wohl einig, soweit sie aus einer geschichtlichen 
Gegenwart eine geschichtliche Zukunft fördernd entwickeln und nicht 
Ideale oder Interessen blind durchsetzen möchten. 

Für den tiefer Denkenden und Wollenden liegt in solchen klein- 
und großbürgerlichen Wünschen nichts Würdiges, und viele würden 



45 2 Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'dertum 

es vorziehn, wenn dieser Scheinkosmos zum Chaos sich auflöstc und 
endlich einmal die Elemente frei würden. Dagegen ist nichts zu sagen, 
aber auch nichts dafür. Wer vollkommen hoffnunglos ist, daß in 
absehbarer Frist aus Menschen Menschen gemacht werden können und 
wem die innere Verwandlung durchaus die Hauptsache ist, wer das 
heutige Geschlecht für zu schwach halt durch Übermächte und Er¬ 
eignisse anders als berauscht, zerstoßen und erschöpft zu werden: dem 
ist die Herstellung eines äußeren Rahmens, worin alles Aufgeregte und 
doch nicht Leidenschaftliche sich beruhige, eine Sache, die, ohne über¬ 
schätzt zu werden, ordentlich geleistet werden muß, ein bescheidener 
Dienst, zu dem auch die Besten nicht zu gut, eher noch auch sie noch 
nicht tauglich sind. Eine Menschheit — nicht nur Gesellschaft — die, 
auf die Nieren geprüft, fast ausschließlich bürgerlich ist, fühlt, denkt 
und will — alles Revolutionäre läuft auf Massenwohlfahrt hinaus und 
die individuale Opposition bleibt ein Paroxysmus der Bürgerlichkeit, 
Propheten aber sind Isolierte —: eine solche Menschheit hat kein an¬ 
ständiges Recht und nicht einmal die Fähigkeit, sich gegen die Bürger¬ 
lichkeit zu kehren, sondern die einzige Aufgabe, eine nicht verächt¬ 
liche Bürgerlichkeit zu verwirklichen. Nicht außen, sondern innen 
mag der Einzelne sich darüber erhöhen. Der Weise wird es nicht 
unter seiner Höhe finden, den Zeitgenossen zur Verwirklichung ihres 
Möglichen zu helfen, der Religiöse nicht unter seiner Berufung, das 
Geschichtlich-Gebotene zu heiligen. 

Um einer bürgerlichen Gesellschaft in Europa das Dasein zu er¬ 
halten und zu erheben, bedarf es eines geeinigten europäischen Staaten- 
bündes. Die Lage des englischen Empire einerseits, die Lage des deut¬ 
schen Volkes anderseits werden dies am besten verdeutlichen. 

Die Weitsichtigen in England rechnen bekanntlich seit langem mit 
einer Lebensgefahr des englischen Empire und haben nur gegen den 
welthändlerischen Liberalismus nie sich durchsetzen können. Heute 
muß jeder in Europa die Folgen eines Verlustes der englischen Domi¬ 
nions für England und Europa ins Auge fassen. Wenn nicht eine 
entscheidende politische Wendung geschieht oder schon geschehen ist, 
so ist das europäische Weltreich nicht mehr zu retten. Ob nämlich 
in einem kommenden amerikanisch-japanischen Kriege Japan oder 
Amerika siege (wer klar blickt, weiß, wer siegen wird), und die 
Hochfinanz-Weltkonferenz von Washington kann das weltgeschichtlich 
Unumgängliche höchstens hinausschieben: der Sieger wird es sich 
nicht entgehen lassen, die nach Selbständigkeit strebenden Dominions 



Rudolf Pannwitz , Internationale und Europ'aertum 455 

sich eng zu verbinden und damit ein europäisches Weltsystem end- 
gfiltig unmöglich zu machen. Eine Verbindung Englands oder 
Europas mit dem Sieger vor oder nach seinem Siege würde daran 
nichts Wesentliches ändern. Die Grundfehler nämlich, die an der Zer¬ 
setzung des englischen Empire die Schuld tragen, sind durch nichts 
anderes zu tilgen als dadurch, daß in letzter Stunde noch das Rich¬ 
tige ganz getan werde. So riesige Gebilde wie diese ehemaligen Kolo¬ 
nien ließen sich auf die Dauer nicht als Kolonien verwalten, sie mußten 
nebengeordnete Bestandteile eines Weltreiches werden. Man konnte 
sie nur dann fest in der Hand behalten, wenn, zumal bei der Zunahme 
ihrer Intelligenz und der Abnahme der englischen Intelligenz, man sie 
sich selbst verwalten und nur außen- und handelspolitisch mit dem 
Mutterlande enger verbunden ließ. Man mußte sie vor allem mit un¬ 
löslichen Knüpfungen der Produktion und des Handels mit England 
und über England hin mit Europa verbinden, mit allem, was sie pro¬ 
duzieren oder produzieren können, sich von ihnen versorgen lassen. 
Das heißt in Kürze: man mußte nicht alte Kolonien besitzen, sondern 
ein modernes Imperium gründen. Zuletzt durfte man auch nicht das 
verhängnisvolle Beispiel geben, daß Europäer gegen Europäer bis zur 
Vernichtung kämpften und die eine Partei sich überseeischer Hilfe be¬ 
diente. Danach nämlich kann kein Asiat mehr begreifen — und mit 
Recht — was ihn an England oder Europa binde. Die Gefahr wäre 
noch geringer, wenn Asien Asien sein wollte und wenn es sich um 
Asien allein handelte. Aber das, woran wir zugrunde gegangen sind, 
will Asien jetzt als gleichberechtigt, gleichaufgeklärt sich gewinnen, 
und auch für Afrikaner und sogenannte Wilde, zumal wenn man sie 
als Soldaten der einen Europäer gegen die andern Europäer verwendet 
hat, wird es sehr leicht und rasch begreiflich, was ein Maschinen¬ 
gewehr, eine Selbstbestimmung und ein Dollar ist Jetzt ist die un¬ 
glückliche, verworrene Lage, daß Amerika, welches ursprünglich durch 
Auswanderung und Losreißung von Europa entstand, darauf angewiesen 
scheint entweder Europa durch Überschüttung mit Produkten und Krediten 
von sich abhängig zu machen oder es durch Unterstützung des jeweilig 
etwas schwächeren Teiles, sowie England ehemals den Kontinent in 
dem sogenannten „Gleichgewichte“, das keinen Aufbau zuläßt zu er¬ 
halten. So aber gelangt weder Amerika zu der einzig möglichen Lö¬ 
sung seiner Krise, zu einem neuen inneren Aufbau seines überindustra- 
lisierten und brachen Landes, noch Europa zu dem Entsprechenden, 
der Wiederherstellung und Ordnung seiner Produktion und seines 



! 


454 Rudolf Panmvitz, Internationale und Europaertum 

Handels. Jetzt wähnt Frankreich, Amerika gegen England benutzen zu 
können, und Deutschland, durch Amerika wieder weltkonkurrenzfähig 
zu werden — und man wird sich allerseits täuschen, nicht weniger, 
als man sich mit Rußland getäuscht hat. Erst wenn wir als Europa 
konsolidiert sind, werden wir unser Verhältnis zu Amerika bestimmen 
können und in diesem Verhältnisse selbständig genug bleiben können. 
Solange wir aber als Europa nicht konsolidiert sind, könnte auch 
selbstlosere überseeische Hilfe uns nur auf halten, das Notwendige selbst 
zu leisten. Und was wird, wenn Amerika in einen Krieg verwickelt 
wird, wenn Amerika, auch sollte es nicht erliegen, alle Kräfte auf sich 
selbst wenden muß? Der Dollar als solcher ist wie jede Valuta als 
solche wertlos, dagegen ein sich selbst versorgendes, in sich verkettetes 
modernes Imperium eine fast vollständige Garantie gegen alle Welt¬ 
konstellationen bedeutet. Die letzten Monate haben deutlich erwiesen, 
daß — schon vor Jahren man all das hätte einsehen sollen. 

Der Untergang Österreich-Ungarns sollte alle, denen am englischen 
Empire gelegen ist, bedenklich machen. Auch in Österreich-Ungarn 
war das Problem, unter einem seit alters herrschenden Volke eine Viel¬ 
heit von Völkern und Staaten in einem Reiche zusammenzuhalten, 
auch da verstand man es nicht, Autonomie und Zentralismus jedes an 
der rechten Stelle walten zu lassen noch auch einen gemeinsamen un¬ 
zerstörbaren Wirtschaftkörper aufzubauen. Auch mit Österreich-Ungarn 
verging etwas, das trotzdem unzerstörbar weil natürlich notwendig, ja 
geschichtlich ewig war und auf dessen lebendige Kräfte und Formen 
gerade die, welche Mitteleuropa zu rekonstruieren gewillt und ge¬ 
zwungen sind, mehr und mehr zurückgreifen müssen, genau so wie 
unter seinen eingewurzelten Fehlern alle, die je zu ihm gehörten, heute 
wie damals kranken und leiden. Was Österreich-Ungarn geleistet hat 
und was cs nicht geleistet hat — man möge beides gegeneinander 
noch so verschieden begrenzen — dieses beide lehrt eines und dasselbe: 
daß im kleinen wie im großen ein statisches oder stabiles System 
nicht auf nationaler noch internationaler, sondern nur auf übernatio¬ 
naler Grundlage bestehen kann; daß Zentralismus und Autonomie nicht 
als Gegensätze einander bestreiten dürfen, sondern als Gegenpole Zu¬ 
sammenwirken müssen; daß nicht Weltkoalitionen und Welthandel, 
sondern nur ein geschlossenes Reich, ein geographisches, historisches 
und wirtschaftliches Kontinuum einige Bürgschaft auf Bestand gibt. 
Also Österreich-Ungams Untergang sollte der Übergang zur Erhaltung 
von Englands Empire werden. Mit Faktoren wie Canada, Australien 



Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'äertum 455 

(das eine in Amerika, das andre zwischen Japan und Amerika gelegen) 
ist auf die Dauer nicht zu rechnen, wenn man historisch denken kann, 
und selbst Indien ist auch günstigen Falles nicht sicher. Dagegen wäre 
ein Verlust von Vorderasien und Afrika, selbst abgesehen von der 
wirtschaftlichen Katastrophe, für Europa der Verlust seiner Macht¬ 
stellung und damit seiner Sicherheit in der Welt: es wäre dann das 
Mittelmeer nicht mehr ein Binnensee, sondern Europa wäre zur See 
und zu Lande, wirtschaftlich, politisch und strategisch, ein Spielball 
und etwa auch Schlachtfeld außereuropäischer Weltimperialismen — 
noch nicht heute und morgen, aber sicherlich dann, wann es an der 
Reihe ist. Genau das, was Amerika in seiner großen Zeit getan hat, 
muß Europa heute, wo die Gewichte sich verschoben haben, tun, zu 
seiner Stärkung und zu seinem Schutze: sich isolieren, um sich zu 
konsolidieren. Das bedeutet nicht, daß es mit Amerika oder Japan 
freundschaftliche und vertragliche Beziehungen abbreche, sondern, daß 
nicht fortgesetzt und wechselnd ein Teil gegen den andern sich auf 
Amerika oder Japan stütze, wie einst Athen und Sparta auf Persien, 
anstatt daß man miteinander eins werde, um dann gemeinsam das 
Verhältnis nach außen zu bestimmen und hierbei selber seine Forde¬ 
rungen und Bedingungen stellen zu können. Wir können nicht nur 
nicht Paraguay und Uruguay, sondern nicht einmal Japan und Amerika 
in unsere „inneren“, das heißt intereuropäischen Angelegenheiten ein- 
reden lassen, und wir können nicht vor einem vermeintlichen Bunde 
aller Völker, das heißt der meisten Staaten, unsere Zwistigkeiten aus¬ 
tragen oder auch nur aussprechen, wenn wir nicht jede europäische 
Würde und das gesamte europäische Interesse frevelhaft verscherzen 
und dem Hohne preisgeben wollen. Es handelt sich nicht darum, daß 
der Weltverkehr, der Welthandel, die Verbindung mit überseeischen 
Weltmächten, das Prinzip internationaler Regelungen aufgegeben und 
eine europäische Eigenbrödelei und kulturlose und unmoderne Ab¬ 
schließung dagegen gesetzt werde, sondern allein darum, daß jenes 
nicht alles beherrsche, alles verschlinge und unsere Zukunft zwischen 
zwei Weltmeere zerreiße und zerstreue, daß vielmehr jenes in natür¬ 
liche und sichere Grenzen gefaßt werde, wo es heute anarchisch und 
chaotisch wuchert. Es handelt sich auch nicht darum, die sogenannte 
private Initiative des Handels und der Produktion auszuschalten, im 
Gegenteile darum, sie, die nur noch scheinbar besteht, wiederherzu¬ 
stellen, indem gegenüber alles zerrüttenden politischen und ökonomischen 
Weltvertrustungen ein Weltsystem, unser Weltsystem organisch begründet 



45 6 Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ’dertum 

wird, so daß es seine Festigkeit nach außen, seine Freiheit nach 
innen gewinne und die ihm Zugehörigen imstande seien, nach ihrem 
eigenen Willen, nach ihrem verbundenen Willen, und nicht wie in 
einem Glücksspiele, Waren und Werte zu geben und zu nehmen, ihre 
eigenen Markte und danach den Weltmarkt zu beschicken. In einem 
Worte: konzentrische und nicht exzentrische Politik und Wirtschaft. 

ffl 

Der größere Teil der Internationale, die letzten anderthalb Jahr¬ 
hunderte „menschlicher Entwicklung“, Ideologen und Ideologien, Inter¬ 
essen und Interessenten, sind, anständig oder unanständig, jedenfalls 
kurzsichtig gegen einen konkreten Europäismus. Es muß zunächst fest¬ 
gestellt werden, welche Geschichte, welche Zusammensetzung, welche 
Beweggründe, welche Überzeugungen und welche Werte die Inter¬ 
nationale hat. 

Das älteste noch wirksame Element der Internationale ist die Römisch- 
Katholische Kirche. Sie als Erbin zugleich der Religion Christi und 
des Imperiums Roms ist weder durch ihren Geist noch mit ihrer 
Macht an ein Volk gebunden. Sie wurde die Mitträgerin jenes mittel¬ 
alterlichen Reiches, das ein halb übernationaler Versuch zu einem Europa 
wenigstens bei den größten der Kaiser immer wieder einmal wurde. 
Sie wächst heute, trotz gesunkener Macht, an Einfluß, ohne daß sie 
selbst sich erneuert hätte und fast allein aus Gründen der von ihr 
unabhängigen Weltlage. Alle revolutionären Bewegungen haben damit, 
daß sie die Regierung übernehmen konnten, ihren Zauber verloren 
und sich kompromittiert Eine Reaktion folgt historisch-mechanisch. 
Der Protestantismus hat sich aufgelöst und seine geistige Entwicklung 
hat seine Kirche längst überholt; denn auf den Bahnen, die er lief, 
sind die Aufklärung, Kant, die idealistische Metaphysik und Nietzsche 
die Tausendmeilen-Zeiger. In dem kriegerischen Zusammenbruch der 
alten Welten, wo Interessen und Ideale auf das wildeste sich ver¬ 
mengten und jede geistige Macht sich prostituierte und kapitulierte, 
blieb die Katholische Kirche als einziger überstaatlicher Neutraler übrig, 
und wäre sie wirklich so stark oder so weltlich wie man gerne an¬ 
nimmt, so hätte sie den Frieden vermittelt oder eine neue Ordnung 
geschaffen. Aber es darf nicht wundern, wenn in den nächsten Zeiten 
unter den Elementen der Internationale sie wieder entschiedener her¬ 
vortreten wird. Ob sie eine politische Reaktion durchaus befördern 
wird, bleibt dabei mehr als zweifelhaft. Sie würde damit ihre Situation, 



Rudolf Pannwitz, Internationale und Europaertum 457 

daß sie die einzige unabhängige Organisation höherer Werte ist, nur 
aufs Spiel setzen, und als die eine von zwei Parteien würde sie 
keine dauernde Wirkung haben. 

Da Rußland und der Balkan für die Zukunft immer wichtiger 
werden, muß daran erinnert werden, daß die ältere christliche Kirche, 
die Griechisch-Katholische, nicht international ist und nie international 
sein wird. Ihre Schicksale wurden zeitig mit den ost- und südost¬ 
europäischen Völkern verflochten und ihre und deren Stufe blieb von 
der des übrigen Europa getrennt. So ist sie heute schon fast und 
wird morgen ganz sein: die historisch-religiöse Verknüpfung der Slawen. 
Sie muß und sie wird auch eine Wiedergeburt in Dostojewski erleben, 
alsdann wird sie zwischen einer nationalen und einer übernationalen 
Kirche wohl schwanken, vielleicht hierhin vielleicht dorthin sich neigen, 
nie aber international werden wollen noch können. 

Das andere Element der Internationale ist kurz der Protestantismus 
zu nennen, wenn man den Begriff im wörtlichen und zugleich weite¬ 
sten Sinne faßt. Die Aufklärung, die modernen Intellektuellen, der 
Sozialismus, die Revolution und jede Art Opposition gegen Staat und 
Volk gehören hinzu. — Aus der Aufklärung stammt der ganze nicht 
reiche Hausrat von Ideen und Idealen, womit die Internationale vom 
Demokratismus bis zum Bolschewismus sich selbst und ihren Anhängern 
genügt hat. Fast allein der ausgebaute Gefühlswert des Massenindivi¬ 
dualismus, verbündet mit einem zum Humanitätprinzip verwässerten 
Christentum und Konfuzianismus hat ausgelangt. Hier war nichts 
Urbewegung, alles Gegenbewegung, wie notwendig und berechtigt 
auch diese war, so unschöpferisch blieb sie. Zum Beispiel begeisterte 
man sich, und begeistert sich noch heute, unausgesetzt für die „Demo¬ 
kratie“, übersah aber, und übersieht noch, daß dies eine monströse 
Vorstellung von einem Nonsens ist, daß eine Demokratie entweder 
nirgends und niemals es gab, oder sie in jedem Falle etwas vollkommen 
Verschiedenes, gar nicht anders als nur äußerlich Vergleichbares war. 
Dagegen hat man sek dem siebzehnten Jahrhundert nicht mehr ernst¬ 
lich über die Republik als die res publica der Römer nachgedacht. 
Die Aufklärung leistete politisch ihr Bestes, wo sie, als eine Freiheit 
des Geistes, mit Katholisch-Volkhaftem oder Mittelalterlich -Boden¬ 
ständigem sich band. Es kam da sogar im engeren zu Synthesen, wie 
sie Maria Theresia und Friedrich der Große, Napoleon, Freiherr von 
Stein, Disraeli, Bismarck auf noch so verschiedene Weise darstellen 
— so zum Beispiel in den Verfassung- und Verwaltung-Plänen von 



45 8 Rudolf PattnwitZj Internationale und Europ'äertum 

Planck. — Die modernen Intellektuellen waren eine Schicht von In¬ 
dividuen, die sich unabhängig von den alten Ordnungen wußten, und 
sowohl in der Sehnsucht wie im Geschmack verbunden fühlten. Sie 
selber wissen heute am besten, was sie zuviel und was zu wenig 
hatten, und daß sie selbst ebenso wie das, wogegen sie sich auflehnten, 
gespenstische Vergangenheit sind. — Daß trotz dieser Unzulänglichkeit 
und ihrer Folgen Bedeutung und Wirkung der Internationale nicht zu 
unterschätzen sind, zeigt der Sozialismus, der, ideenarm, einer Klasse 
dienend, bis vor kurzem nur Opposition und jetzt, als er ans Ruder kam, 
unfähig etwas hervorzubringen, ja, selber sich spaltend und ins Wesen¬ 
lose verlierend, dennoch die letzten Jahrzehnte hin fast überall für 
die Massen und für die Geistigen die Richtung «ngab und alles Ge¬ 
staltlose, in Religion und Staat nicht Einbegriffenc, in sich aufnahm 
und organisierte. Er war, nach der Kirche, die erste praktische Ver¬ 
wirklichung überstaatlicher Machtordnung sowohl in den einzelnen 
Staaten wie über sie hinaus, und er, obwohl nicht er allein, hat die 
Staaten zersetzt, ja, den Staat selbst zersetzt. Zu gründe gegangen ist 
der Sozialismus an der Starrheit, mit der er unwirkliche Ideologien 
und allzuwirkliche Interessen scheinbar vereinigte: er vermochte es 
weder zu Anfang des Krieges, sein ideelles Fundament zu bewahren, 
noch zu Ende des Krieges, als Regierender, das Parteiinteresse daran¬ 
zugeben. Der Bolschewismus war die letzte Phase, der Todeskrampf 
des Sozialismus. Verzweifelte Religiosität und verzweifelte Höllen¬ 
maschinerie, alle ältesten und alle jüngsten Ohnmächte, fänatisierten 
den historischen Augenblick, und das Unwirklichste vom Unwirklichen 
wurde überwirklich. 

Es besteht noch eine Internationale, die ganz ohne Idee und hohem 
Sinn ist, der, aber nahezu alle Zeitgenossen mehr oder weniger ange¬ 
hören. Es ist die Internationale der ungebundenen Interessen. Sie, 
die, um Geld zu machen, stets das Vaterland verraten und das Volk 
verdorben hat, die ihre Unternehmungen über Länder und Meere 
verzweigt und zuletzt die tatsächliche Herrschaft über alle Staaten er¬ 
rungen hat. Es wäre fälsch, sie in einem einzelnen Stande zu suchen. 
Das ganze Volk, das ganze Vaterland, bei uns und bei allen Nach¬ 
barn, gehört zu ihr, jeder ist bereit, ihre Gewissenlosigkeit zu teilen 
und ihre Früchte zu genießen, und wer dazu nicht bereit ist, der ist 
dieselbe Stunde ein Hungernder oder Märtyrer. Sie ist, über persön¬ 
liche, parteiische, politische Ursprünge und Verschuldung hinaus, 
der allgemeine Zustand geworden genau so wie der Schleichhandel 



Rudolf PanwwitZj Internationale und Europ'äertum 459 

im kleinen. Sie, in der alle Gegenparteien und Gegeninteressen 
sich begegnen und wechselnd vereinigen und veruneinigen, bestimmt 
auch die Politik der Völker und Staaten, und da sie selbst unstatisch, 
ja anarchisch ist und daraus ihre Vorteile zieht, so ist sie die unüber¬ 
windliche Hinderung an jeder Konsolidierung, auch an der Europas. 
Nicht das ist das Unerträgliche, daß in ihr Egoismen und Interessen 
herrschen — es haben immer Egoismen und Interessen geherrscht — 
sondern daß die herrschenden Egoismen und Interessen der Architektur 
der grundlegenden Ordnungen nicht mehr entsprechen, sondern diese 
vollständig zersetzt und überwuchert haben, sich beliebig zusammen 
ballen und auseinander fallen, ein Chaos. Die politischen Verläufe 
zeigen es jeden Tag, daß längst nicht mehr die Staaten selbst, sondern 
nur noch zwischenstaatliche Mächte, die jeden einzelnen Staat zersetzt 
haben, bestimmend sind. Darum ist vorläufig jede Konsolidierung 
logisch unmöglich, darum ist aber auch dieser Zustand nicht allzu 
lange mehr haltbar. 

Das Beispiel des Völkerbundes hat am deutlichsten gezeigt, wie die 
ideellen und die materiellen Elemente der Internationale sich bis zur 
Wirkungslosigkeit verschränkten. — Wilson kam mit Idealen und Inter¬ 
essen, guten Glaubens, beides mit einem durchsetzen zu können, nach 
Europa. Sein Völkerbund sollte diesen Idealen und Interessen zugleich 
das ohnmächtige und rettungverlangende Europa verpflichten. Er ver¬ 
gaß das Elementare, daß, wenn ein Völkerbund möglich wäre, die 
Völker niemals Staaten gegründet hätten, und ferner, daß ein alle 
umfassender Bund, selbst Staatenbund, politisch dasselbe wäre wie physi¬ 
kalisch eine unendliche Kraft: ein Nonsens. In den griechischen Am- 
phiktyonien gab es einen wirklicheren Anfang eines Völkerbundes. 
Aber das waren die an einem religiös und patriotisch unersetzlichen 
Heiligtum Teilhabenden, die dessen Erhaltung sich gegenseitig und 
nach außen hin sicher stellten, die in dessen Bezirk gemeinsame Gelder 
steuerten und einen Bankverkehr unterhielten, die auf diesem konkreten 
Fundamente Mäßigungen der Kriegführung, den Anfang eines Völker¬ 
rechtes, aufstellten. Das bedeutet: eine modernisierte hierarchische Form 
ermöglichte eine Art Völkerrecht. Unser Völkerrecht konnte nicht 
standhalten, da seine hehren Prinzipien oder Fetzen Papiere jedenfalls 
nichts Heiliges, sondern alles, was da war, schützen wollten. Wilson 
wurde nicht nur betrogen, wie Keynes es darstellt. Man scheint es 
nicht bemerkt zu haben, daß Cllmenceau Wilson fast zu seinem Ge- 
folgsmanne und den Völkerbund zu seinem eignen Instrumente machen 



4 <5 o Rudolf Panmoitz, Internationale und Eurofäertum 

konnte, weil er ihm durchaus ehrlich und richtig bis zur vollen Über¬ 
zeugung begreiflich machte, daß Amerika von Europa viel abhängiger 
ist, Amerika auf Europa viel angewiesener ist als umgekehrt. Die nach¬ 
folgenden Jahre haben diese Tatsache klargestellt Denn die ameri¬ 
kanischen Republikaner haben nur rhetorisch ihr Desinteressement an 
Europa betont, jeden Augenblick, wo die Gefahr einer Selbständigkeit 
Europas sich näher zeigte, in Todesangst die Faden angezogen. Sie 
haben die gleiche Politik wie die Demokraten gegenüber Europa inne¬ 
gehalten, nur andere Methoden für praktischer geachtet: nämlich alles 
Staatliche hinter das Private versteckt, wie die andern alles Private 
hinters Staatliche, wo ja doch wirklich Privates und Staatliches, soweit 
es überhaupt etwas bedeutet, nirgend, und am wenigsten in Amerika, 
zu trennen und die Form fast gleichgültig ist. So nun ist der Völker¬ 
bund ungefähr dasselbe wie die große Entente geworden, die große 
Entente anderseits ungefähr dasselbe wie der Völkerbund, und eines 
wie das andere aktionsunfahig weil — international. 

Die Internationale ist wirksam und fruchtbar als Opposition gegen 
nationale Engigkeiten und Roheiten, als Trägerin allgemein mensch¬ 
licher Ideen und Interessen, als Schwebung und Schwingung und ge¬ 
sellschaftliche Verbindung zwischen den Völkern — sie ist kraftlos und 
nichtig, sogar zerstörend und auflösend als interpolitische Situation, 
als interpolitische Organisation, als interpolitisches Instrument 

IV 

Die Lage des englischen Imperiums im besonderen, die damit ge¬ 
gebene Lage Europas im ganzen weisen auf eine Konsolidierung Europas. 
Die geistigeren Elemente der Internationale wirken eher dagegen als 
dafür, die Interessen-Internationale wirkt dagegen. Die Nationalismen 
wirken'dagegen, eine Übernationale gibt es nicht Also scheint keine 
Hoffnung zu bestehn, daß das Unumgängliche verwirklicht werde. 

Nim aber kommt die Lage des deutschen Volkes und jedes aus¬ 
zudenkenden deutschen Staates in Europa Gewicht gebend hinzu. Das 
deutsche Volk und, wie er auch immer sei, ein deutscher Staat, kann 
nur in der Mitte Europas sich befinden. Danach haben sie, da einen 
Stillstand es nicht gibt, geschichtlich, nur zwei Bahnen offen: ent¬ 
weder sich nach allen Seiten auszudehnen oder sich nach allen Seiten 
abzuschließen. Für das erste gab es zwei Augenblicke: den nach dem 
Kriege 1870 und den des letzten Krieges. Es war von Bismarck 
nicht so falsch, daß er sich saturiert erklärte, wie es von Wilhelm II. 



Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'äertum 461 

falsch war. Ober die Meere auszugreifen, und eine Welt-Flotten- und 
-Handelsmacht zu gewinnen. Das Richtige war eine konsequente 
Kontinentalpolitik, nach Osten und Südosten orientiert. Eine solche 
setzte aber eine römische Fähigkeit, Länder und Volker zu koloni¬ 
sieren, voraus, wie auch England sie nicht hat, noch weniger Deutsch¬ 
land, dazu eine innere Festigkeit und Stetigkeit und den feinsten 
weltpolitischen Takt Bismarcks so sehr angefochtener Verzicht auf 
alles Ausgreifende, mochte er selbst in einer Zagheit seiner Person 
liegen, entsprach vor allem der tragischen Lage: zu dem Einzigen, 
was für Deutschland richtig gewesen wäre, war Deutschland noch nicht, 
überhaupt nicht imstande. Denn die zweite Bahn, die offen war, ver¬ 
langte entweder die Zufriedenheit eines Rentiers oder einen für ein 
modernes Volk unerreichbaren Grad der Reife: die Abkehr von aller 
äußeren Macht, die Wendung allein auf die innere Wiedergeburt. 
Was man während des Krieges „den Platz an der Sonne“ nannte und 
was man heute „die Erhaltung der Existenz“ nennt, das hat ja nichts 
mit solcher Art Umkehr zu tun, sondern bedeutet, nicht einmal ver¬ 
logen, sondern ganz naiv: „weltkonkurrenz-fähig bleiben“, da eine 
andere Art Leben und Blüte von Volk und Staat unvorstellbar bleibt. 
Eine solche auszufinden wird dennoch, gemäß der tragisch-großen 
Lage der Deutschen, ihre letzte Zuflucht werden. Darum mögen sie 
über solche, die bei Zeiten soweit hinausschauen und schaffen, nicht 
allzu überlegen herab urteilen. 

Die Lage des deutschen Geistes ist nicht anders als die des deut¬ 
schen Staates. Seiner Art nach befindet er sich zwischen den älteren 
westeuropäischen Kulturen und den neu erwachenden osteuropäischen. 
Mit jenen verbindet ihn eine lange gemeinsame Geschichte und sogar 
dies, daß er bei ihnen auch heute noch keineswegs ausgelernt hat, 
mit diesen ein Wille in nie gewesene Zukunft, inneres Chaos und 
Schöpfertum. 

Weder mit den Westmächten noch mit den Westkulturen war ein 
Konflikt erlaubt. Weitere Wechselwirkungen und wachsendes Hinaus¬ 
reifen, bis die Frucht selber vom Baume fiel, ostwärts, war geboten. 
Das deutsche Volk ist das Volk des langsamen, doch unaufhaltsamen 
Prozesses, jede Gewaltsamkeit bringt es rückwärts, nicht vorwärts. So 
hätte es auch die Abkehr von der französischen Kultur ehemals noch 
schwerer zu büßen gehabt — da es keineswegs in der Lage eines 
„Abiturienten“ war —, wenn nicht hernach Goethe ebenso viele Schritte 
rückwärts wie vorwärts getan hätte. So ist die nach Osten gerichtete 



4<Sz Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ'äertum 

Politik während des Krieges und nach dem Kriege falsch gewesen. 
Denn es war undenkbar geworden, so verworren und geschwächt das 
eigne Volk und der eigne Staat waren, und da kein einziger großer 
Staatsmann lebte, in das gärende Rußland, ganz gleich zu welchem 
Ziele, hineinzugreifen und dort überhaupt etwas auszurichten, geschweige 
denn das Rechte. Es wäre möglich gewesen, anstatt der amerikanistischen 
Flotten- und Kolonialpolitik, eine kontinentale auf Österreich-Ungarn 
und Rußland konzentrierte neueuropäische Politik in eindeutiger Kon¬ 
sequenz durchzuführen. Wäre aber die spätere Politik gegenüber Ru߬ 
land geglückt oder würde je etwas Ähnliches auch nur einigen Erfolg 
haben, so würde die unerbittliche geschichtliche Folge sein, daß Ost- 
elbien irgendwann russisch, anstatt daß Rußland von Deutschland „durch¬ 
drungen“ würde. Eines Beweises bedarf es nicht mehr — die Belehr¬ 
baren wissen es selbst, die Unbelehrbaren lernen es nie. Auf dem 
geistigen Gebiete liegt es ebenso. Die Deutschen haben es nicht ver¬ 
mocht, in das russische Chaos eine rettende Idee zündend hineinzu¬ 
werfen, aber wacker mitgearbeitet, den dortigen Wahnsinn zu syste¬ 
matisieren und desgleichen dilettantische Versuche in der revolutio¬ 
nären Umgehung jedes Problems gemacht. 

Die Elemente und Fundamente einer osteuropäischen Religion und 
Politik liegen in Dostojewski fest, die Elemente und Fundamente einer 
west- und mitteleuropäischen Religion und Politik liegen in Goethe 
und Nietzsche fest. Diese drei Europäer, Dostojewski einerseits, Goethe 
und Nietzsche anderseits, so verstanden, wie die Chinesen, reichlich 
nach seinem Tode, ihren Kungfutse verstanden haben. Dieses muß 
heute gesagt werden, wenn es auch in einem Aufsatze nicht ausgeführt 
werden kann und erst in späterer Zeit gesehen werden wird. Ost¬ 
europa dort und Mittel- und Westeuropa hier haben soviel jedes mit 
sich selbst zu schaffen, daß keines dem anderen helfen kann, daß 
jedes erst eine gewisse Reife erlangen muß, ehe eine volle Gemein¬ 
samkeit fruchtbar werden kann. Zusammen lernen können sie nicht, 
jedes hat anderes, vor allem anders zu lernen. Mitteleuropa wiederum, 
zumal Deutschland und die tschechoslowakische Republik, haben vom 
Schicksale bestimmt eine Stellung dazwischen, und so werden sie, ob 
sie wollen oder nicht, ob es ihnen gedeihe oder nicht, auch an beiden 
Entwicklungen einen Anteil haben, wenngleich Deutschland den stärkeren 
an der westlichen, die tschechoslowakische Republik den stärkeren an 
der östlichen — vielleicht. Die Deutschen wiederum, die Volksangehörige 
in Polen, in der tschechoslowakischen Republik, in Österreich, in der 



Rudolf Pannwitz , Internationale und Europliertum 463 

Schweiz, in Italien, in Frankreich haben, haben dadurch ein gewisser¬ 
maßen nationales Interesse an Europa. Es muß sich aus all diesen 
Tatsachen ergeben, welcher Weg ihnen verboten, welcher ihnen ge¬ 
boten ist. 

Die mehr oder minder lateinischen Völker und Staaten haben eine 
höhere politische Kultur als alle späteren und bleiben in ruhigerer 
Balance. Die slavischen Völker und Staaten haben einen natur- religiösen 
Hang zur Gemeinschaft. Versagt er auch heute bei ihnen wie bei allen 
in der Bourgeoisie, so zeigt ihn doch, in seiner besonderen Art, das 
tschechische wie das jugoslavische Militär. Der Deutsche ist weder zur 
Politik noch zur unmittelbaren Gemeinschaft begabt. Er erzwingt 
freilich, durch neue Ideen, große Individuen und konsequente Mecha¬ 
nisierung, politische und soziale Leistungen ersten Ranges, doch nie 
ohne Einbuße seiner tieferen Kräfte und höheren Fähigkeiten und nie 
ohne daß zuletzt die Götter sich rächten und ihm den Preis all seines 
Schweißes entzögen. Er ist, in unheimlicher Weise, sogar innerlichst 
eine Mitte: zu nichts Heiligem groß genug, zu nichts Weltlichem 
klein genug. So aber muß sich seine wahre Aufgabe zuletzt ihm doch 
unzweifelhaft darstellen. Schon Bismarck wußte, daß die Slaven und 
die Lateiner, wohl durch ihren beiderseits starken Bestandteil keltischen 
Blutes, einander verwandter sind als beide mit den Germanen und, 
sind die Deutschen auch keine Germanen, so doch tatsächlich auch 
mit den Deutschen. So werden die Slaven auch von Natur immer 
wieder gen Westen neigen. Dies könnte nur in einem Falle anders 
werden: wenn alle Schule und aller Zauber der größeren und frischeren 
Kultur, wenn der Schwerpunkt des geistigen Europa vom Westen in 
die Mitte, in das deutsche Volk selbst rUcken würde. Dem nämlich 
würden die Leitenden der Slaven nicht eine Stunde widerstehen. 

Gibt es für die Deutschen überhaupt noch einen anderen Weg, auf 
dem sie nicht von den anderen überholt oder erdrückt werden? Und 
wäre dieser einzige Weg unwirklicher als Kriegsschiffe, Luftschiffe, 
Weltindustrie und Welthandel? Noch dazu für ein Volk, dessen größte 
Geschichte durchaus eine Geschichte des Geistes ist und das heute 
wieder anfängt zu glauben, daß es an den Geist glaube. Ja, handelte 
es sich um einen egozentrischen Geist, eine literarische Kultur — unsere 
Götter lehren uns durchaus nur das Leben, die Bewältigung dieser 
Wirklichkeit. Sie verbieten uns kein Militär, keine Industrie, keinen 
Reichtum: sie fordern nur, daß jedes gegen jedes sein Maß habe, daß 
alles der Weisheit und dem Willen eines Geistes diene. Man darf nur 



4^4 Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ'äertum 

reich sein, wenn man ein Athen oder mindestens ein Nürnberg auf- 
bauen kann. Man darf nur eine Industrie haben, wenn sie der Qualität 
der Ware verantwortlich sich weiß und in ihren Konsequenzen den 
Menschen nicht depraviert. Man darf nur Militär haben, wenn es mehr 
leistet, als mit dem Feuer spielen und Emst machen: wenn es das 
Heer der öffentlichen, das Vaterland und Europa aufbauenden Arbeit 
ist. Aber solches sind nur Beispiele und Hinweise. 

Was haben die Deutschen auf allen anderen Wegen zu gewärtigen? 

Die größte Hemmung, die eigentliche Ohnmacht der älteren Völker 
und Staaten ist, daß sie nicht mehr elastisch sind, im Gedanken die 
Starrheit des rein kapitalistischen modernen Ökonomismus und des 
bald reaktionären, bald sozialistischen, im ganzen liberalen Staatsideals 
zu überwinden, so daß sie eher noch an die Möglichkeit des Kom¬ 
munismus wie an eine schöpferische durchaus neue Idee glauben würden. 
Sollen die Deutschen, ohne innere Not, eben da stehn bleiben? 

Die Schwäche der neuen Völker und Staaten ist nicht so sehr, daß 
sie noch nicht genug konsolidiert wären — sie sind es ftr die Kürze 
ihres Bestandes in erstaunlichem Grade — als daß ihnen die Orientierung 
fehlt Wollen nun die Deutschen, anstatt ein Schwergewicht zwischen 
der westlichen Starrheit und östlichen Labilität zu sein, etwa versuchen, 
Zahl gegen Zahl, Armee gegen Armee, Industrie gegen Industrie, Handel 
gegen Handel, Politik gegen Politik, Koalition gegen Koalition sich 
gegen die alten und neuen Staaten zu behaupten, die in jedem Falle, 
wie man endlich gelernt haben sollte, wo Deutschland, als die Mitte 
Europas, zu großer Macht gelangte, sich gegen es verbinden würden? 
In den nächsten Jahren schon wird ganz Europa lernen, daß der Kon¬ 
tinent unvergleichlich wichtiger als das Weltmeer ist — also zu einer 
kontinentalen Konkurrenz-Unternehmung ist es für Deutschland jetzt 
zu spät. Jeder Konflikt mit den Slawen aber würde zur Vernichtung 
führen, weil zum Waffen- und Handelssiege noch immer nur Mo¬ 
dernität gehört, diese aber, wie man an Japan gesehn hat, von in¬ 
telligenten Völkern überaus schnell vollständig erlernt werden kann, 
so daß diese dann, da sie alle Vorzüge vitalerer Rassen nicht so schnell 
einbüßen, durchaus überlegen sind. Es liegt heute wirklich so, daß 
für die Deutschen das Vornehmste und Anständigste zugleich das einzig 
Zweckmäßige ist. 

Einzelne Deutsche, denen vertraut werden sollte, würden heute fähig 
sein, und auch eine Jugend würde dazu zu erziehen sein, allen Natio¬ 
nalismus und Internationalismus zu überwinden und sich in den Dienst 



Rudolf Pannwitz, Internationale und Europ'äertum 465 

einer neuen europäischen Idee zu stellen. Sie haben mehr erfahren 
und gelernt als andere, sie wollen es sich nur noch nicht zugeben, 
da sie den Grad ihrer Enttäuschung zu bekennen und die Größe der 
Aufgabe zu übernehmen Scham haben — die, auf welche es nunmehr 
ankommt. 

V 

Die Gründung einer neuen Welt braucht die Arbeit mindestens eines 
Geschlechtes. Wie soll sie auch nur angedeutet werden in einem knappen 
Aufsatze. Es genügt schon, wenn hier fühlbar wird, daß sie notwendig 
und nicht ganz unmöglich ist. Glaublich kann sie nur werden, indem 
sie sich verwirklicht, aber wenn sie als wünschenswert erschiene, so 
wäre viel erreicht. 

Die Entwicklung Deutschlands müßte in ungefährer Richtung einer 
solonischen Verfassung, die der slawischen Länder in ungefährer Richtung 
gracchischer Reformen verlaufen. Beide aber müßten ein Maß und 
Ausmaß gewinnen, das nicht mehr modern genannt werden könnte. 
Das Wesentliche der Solonischen Verfassung liegt in ihrer allwissenden, 
pessimistischen Ironie. Sie setzt ehrlich die Korruption des ganzen 
Volkes voraus und hält einen Kampf dagegen für vergeblich. Sie er* 
kennt die übelste Pluto-Demokratie als Tatsache an und gibt ihr ohne 
sie zu bestreiten eine Form. Wahrlich aus keinem ihr entsprechenden 
Ideale, sondern aus dem härtesten Wirklichkeitsinn. So wird zunächst 
eine neue weniger geltende Währung eingeführt, in der die Schulden 
zu zahlen sind, also sich mechanisch reduzieren. Dann werden die 
Einzelnen, nach dem Maße ihres realen Besitzes, das ist normalen Er¬ 
trages, eingeschätzt: erhalten in demselben Maße Rechte und Pflichten. 
Also es wird mit der Plutokratie Emst gemacht und sie wird eben 
dadurch soweit als möglich aufgehoben — unter dem antiken Begriffe 
des Bürgers als des der Gemeinschaft nicht Zugehörigen, sondern die 
Gemeinschaft Mitbildenden, in welchem Begriffe Bürger und Gemein¬ 
schaft Organ und Organismus sind, ohne jede zwischengeschaltete Ab¬ 
straktion noch Individualismus noch Kommunismus. Ebenso wird mit 
der Demokratie Emst gemacht und sie wird eben damit soweit als 
möglich aufgehoben: das ganze Volk wird politisiert und muß politisch 
tätig werden, so daß am Ende, bei dem raschen Wechsel der Ämter, 
ja der dauernden Umschüttelung der Lose, jeder der Aufpasser für jeden 
wird. Dasselbe geschieht mit der alten Aristokratie, indem sie, bei der 
Führung der Geschäfte und allem, was sich modernisieren läßt, ohne 
die frühem Privilegien, doch durch eine neue Behörde, nicht ohne 

30 



4 66 Rudolf Pannwirz, Internationale und Europ'dertum 

aufdringliche Mystik zur Wächterin Ober Sitten und Religion, das heißt 
kurz, der Tradition bestellt wird, unter der Form einer so ungenau 
umschriebnen Aufsichtskörperschaft, daß von hier aus je nachdem alles 
oder nichts geleistet werden kann. Das heißt: sämtliche Gewichte 
gegen sämtliche Gewichte, so raffiniert, so subtil, zumal in das Einzelne 
hinein (das hier nicht berührt werden kann), daß das Ergebnis, bei 
einem begabten und gelenkigen Volke, nur das genialste und relativ 
geformteste Spiel werden konnte. So waren auch alle zufrieden, fühlten 
sich alle privilegiert, und glaubte, mit vollem Grunde, jede Partei, sie 
werde, durch ihre besonderen Rechte, schon obsiegen. Dies griechische 
Beispiel, eine von einem Weisen geschaffene Verfassung, ist nicht äußer¬ 
lich nachzuahmen. Denn wir sind keine Griechen, und unsere Lage 
ist nur sehr vergleichsweise jener des damaligen Athen entsprechend. 
Wohl aber müßte, in der Hauptrichtung, für uns ein ähnlicher Weg 
eingeschlagen werden, wie für die Seinen ihn Solon vorzeichnete. 

Vollkommen anders liegen die Verhältnisse bei den südöstlichen 
Völkern, zumal den Slawen, halb ausgenommen nur die uns schon 
näheren Tschechen. Dort müßte verhütet werden, daß die Völker sich 
verbürgerlichen und verstaatlichen, modernisieren und politisieren, da 
für solche Entwicklungen selbst den Leitenden noch die geschichtliche 
Reife fehlt, sie durch Übereilung, Oberflächlichkeit, Unpräzision, Ge¬ 
waltsamkeit, falschen Zentralismus und jeden Dilettantismus ihre un¬ 
ersetzlichen Volkskräfte verderben und geradezu aufreiben würden. Es 
wird sich nicht streiten lassen, daß die Entente, heimlich, bei ihrer 
zweideutigen Freundschaft zu den Slawen und allen jungen Staaten, 
und mit ihrer beharrlichen Forderung der Demokratisierung, während 
sie selbst klugerweise sich allmählich cntdemokratisiert, genau dies 
Ergebnis haben möchte. Es wäre vielleicht den Westvölkern das An¬ 
genehmste, wenn irgendwann einmal Slawen und Deutsche sich gegen¬ 
seitig auffressen würden. Wie könnte es anders sein! Die Slawen haben 
soviele Zukunft, daß, wenn sie jetzt schon zu Macht kommen, die 
Macht der alten Staaten abnehmen muß. Die aber kommen nicht los 
von dem Begriffe der kapitalistischen und politischen Macht des ver¬ 
gangenen obwohl noch nicht überwundenen Weltalters. Also es geht 
ihnen um ihr Leben. Wollen aber die Slawen, und mit ihnen alle 
jüngeren Bauemvölker, sich europäisieren, so bedürfen sie des Um¬ 
weges über eine Enteuropäisierung. Was in Dostojewskis, eines sehr 
guten und gar nicht reaktionären Europäers, politischen Schriften gegen 
das Westlertum im Westen und Osten steht und was sein uneigen- 



Rudolf Panmoitz, Internationale und Europ'aertum 4 6j 

nütziger und rein religiöser großartiger Panslawismus ist (Übrigens der 
einzige Schutz gegen einen Mittel- und Westeuropa einst zerstörenden 
kulturlosen Panslawismus), das muß zunächst gelernt und gelehrt werden. 
Dazu müssen ferner die Lehren des klassischen Chinesen Ku Hung-Ming, 
des letzten Lehren einer menschheitlichen und zugleich bürgerlichen 
Religion, begriffen und befolgt werden. Dafür dürfen nicht Vereine 
und Anstalten gegründet werden, sondern junge doch reife Menschen, 
die es völlig durchdrungen haben, müssen einzeln in die Länder gehn 
und von Mensch zu Mensch es sprechen, ohne Absicht, reinen Willens, 
ohne Ziel, fürs Wachstum. Dann wird eine Zeit folgen, die weitere 
Aufgaben zeigen wird. Positiv aber, was man heute positiv nennt, 
darf in jenen Staaten und Völkern keine Politik getrieben werden, 
am wenigsten innere Politik, sondern nur von sachverständigen und 
anständigen Menschen Erziehung und Verwaltung geleistet werden, dieses 
mit Aufwande aller Mittel und Kräfte, in mustergültiger Weise. Übrigens 
ist uns Mittel- und Westeuropäern allen eine solche Entwicklung im 
Osten und Südosten auch nur zu wünschen, da wir mitleiden würden, 
wenn durch Modernisierung, Industrialisierung und Politisierung diese 
lebensfrischen Völker unsere Kollegen, Konkurrenten, Rivalen würden 
und eine solche Übersteigerung aller Übersteigerungen entstünde, daß 
in absehbarer Zeit alle alle zermahlen müßten. Nein, sie sollen nicht 
durch uns verleitet werden, unsere Fehler zu wiederholen, und wir 
selbst wollen, soweit wir es vermögen, unsere Fehler eindämmen. Mit 
der Andeutung „gracchische Reformen“ war darauf hingewiesen, daß 
große politische und soziale Umwälzungen in Ost- und Südosteuropa 
in zweckmäßigerer und geistvollerer Form geleistet werden könnten, 
als das heute gänzlich dilettantisch und unwirksam versucht wird. 

VI 

Die Deutschen aber sollten an dem tragischen Zeitpunkte, wo 
keine Art Politik ihnen logisch übrig bleibt und wo ihr Staat ohn¬ 
mächtig und zukunftlos geworden ist, die morschen Brücken hinter 
sich abbrechen und eine neue Entwicklung der Entpolitisierung und 
über den Staat hinaus versuchen. Sie sollten sich, ohne Ausgleiten 
in Vertrustungen und Sozialisierungen, auf ihre Individualismen und 
deren Bindung zu Genossenschaften besinnen, desgleichen mit der libe¬ 
ralen Phrase von der privaten Initiative tieferen Geistes Ernst machen. 
Es wäre Individualismus, Genossenschaft, private Initiative, wenn man, 
im Einzelnen beginnend und auf die bescheidenste Weise anfängend 



4^8 Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ'äertum 

da wo es geht und nirgend anders, und sei es zunächst zwischen 
einem Schuster, einem Schneider und einem Bäcker oder Fleischer, 
sich von dem Banne des Wirtschaft- und Weltmarkt-Ringes soweit 
frei machte, daß man die Gegenstände, die man hat und die, welche 
man braucht, auf die Werte, die sie einem tatsächlich darstellen, ganz 
abgesehn von New York, London und Zürich, privatim einander 
reduzierte und auf Grund freier Vereinbarung tauschte. Dasselbe 
würde in der Folge zwischen befreundeten Staaten ebenso wie zwischen 
befreundeten Unternehmungen durchführbar sein. Selbstverständlich 
nicht als Prinzip, welches sämtliche Konsequenzen antizipierend und 
mechanisierend, vor jedem organischen Prozesse die reine Idee experi¬ 
mentell ad absurdum führen würde. Dergleichen kann nur von ge¬ 
lenkigen und lebendigen Menschen halb triebhaft versucht werden und 
wie eine kräftige Vegetation sich durchsetzen. Wäre dergleichen mög¬ 
lich, so Märe der Gewinn groß. Es würde sehr viel Geld gespart, es 
würde der Wirtschaft eine wirkliche Grundlage gewonnen, sie würde 
endlich wieder zu einer Sachwirtschaft sich entwickeln (auf welchem 
anderen Wege sollte sie das jemals vermögen?) und es würden für 
Währung und Valuta in lebendigem Prozesse sich reale Kriterien 
wieder bilden, also eine Regeneration der Geldwirtschaft allererst er¬ 
möglichen. Voraussetzung ist freilich, daß man keinen exzentrischen 
Welthandel wolle, sondern einen konzentrischen Aufbau, der freilich, 
so wenig wie er für den ganzen Staat geschehen muß, so wenig er 
von ihm geleistet werden kann, ebenso wenig an seinen Grenzen 
haltmachen muß, sondern je nach denen, die zu ihm sich entschließen, 
seine überstaatlichen Kreise riehen wird. Voraussetzung ist also auch, 
was Napoleon einst sagte und was heute noch gilt, wie überlegen 
sich auch die meisten darüber fühlen, und was, wie damals es gegen 
den englischen Ökonomismus sich richtetete, heute gegen jede Art 
Amerikanismus sich richten muß: „i. der Ackerbau, die Seele, die 
erste Grundlage des Reichs, 2. die Industrie, der Wohlstand, das 
Glück der Bevölkerung, 3. der Außenhandel, der Überfluß, der gute 
Gebrauch der beiden andern. Der Außenhandel, unendlich unterhalb, 
in seinen Ergebnissen, den beiden andern, ist ihnen ebenso beharrlich 
untergeordnet gewesen in meinem Gedanken. Derselbe ist für die 
beiden andern gemacht, die beiden andern sind nicht für ihn ge¬ 
macht. Die Interessen dieser drei wesentlichen Grundlagen gehen 
auseinander, sind oft entgegengesetzt. Ich habe ihnen beharrlich ge¬ 
dient, nach ihrem natürlichen Rang, aber ich habe sie nie auf einmal 



Rudolf Panmvitz, Internationale und Europ’äertum 4 6 p 

befriedigen gekonnt noch gedurft." Es ist hier nicht die Stelle, zu 
beweisen, daß es sehr vieles zwischen Himmel und Erde gibt, was 
Ober die Schulweisheit unserer Praktiker hinausgeht, was aber ältere 
Praktiker, wie etwa das Kulturvolk der Chinesen, in dem Grade zu 
verwirklichen wußten, daß sie nicht siebzig sondern Hunderte von 
Millionen regieren und versorgen konnten, noch ist es hier die Stelle, 
elastischen und genialen Fachleuten laienhaft vorzugreifen in Sachen, 
die letzthin nicht gedacht, sondern nur gemacht werden können. Es 
soll mit diesem auch nur ein Wink gegeben werden, daß jenseits 
des Weltmarktes nicht eine Verelendung zu liegen braucht und daß 
lebendige Formen neuer Wirtschaft neue Staaten sogar begründen 
und zu ihrem Teile ein europäisches Imperium realisieren können. 
Kaufen und verkaufen, Geld verdienen und reich werden (den Be¬ 
sorgtesten zur Beruhigung) läßt sich aber auf dem Lande genau so 
wie auf dem Wasser, zumal da auf dem Lande viel mehr wächst 
und alles billiger ist wie auf dem Wasser. 

Ein letztes Beispiel dafür, was Deutschland an diesem Zeitpunkte 
zu einem werdenden Europa beitragen und damit sich selbst in ihm 
unentbehrlich machen kann, sei der Hinweis auf eine mögliche Über¬ 
windung des Staates. Auch diese freilich wird europäisch und nicht 
international gedacht werden müssen. Eine Internationale ohne Staat 
kann nur ein Chaos werden, ein Imperium Europaeum braucht nicht 
mehr im alten Sinne Staat zu sein. Der moderne Staat, außer etwa 
dem früheren englischen, präjudiziert das Volk und isoliert sich von 
ihm. Auch die extremste Demokratie bleibt ein massenindividualistisch 
reformierter Despotismus. Sie ist nicht organisch, kann nicht organisch 
werden. Ehe nicht Gemeinden, Länder, Stände, Berufe, wirtschaftliche 
Komplexe selbständige Verbände miteinander schließen, worin sie, 
unbekümmert um die Zentralstellen, die weder Geld noch Einsicht 
haben, nicht nur ihre rohesten Interessen wahmehmen, sondern alle sie 
betreffenden öffentlichen Arbeiten auf sich nehmen, ehe nicht Arbeit¬ 
geber und Arbeitnehmer, ohne jede Politisierung, von Falle zu Falle 
sich miteinander kleine Staaten einrichten und so gut es geht sich un¬ 
abhängig machen, ehe nicht dergleichen überall wie ein Frühlingswuchs 
entsteht und von Stelle zu Stelle sich gegenseitig verzweigt, so daß 
jeder weiß, wofür er sein Geld beisteuert und da auch unmittelbar 
mitredet, so daß was organisch zusammengehört, sich selbst verwaltet 
und Zentralstellen aus der Notwendigkeit höherer Organisations-Bil¬ 
dungen, durch lebendiges, natürliches Wachstum entstehen: solange 



470 


Hermann Bahr, Stifter 

wird keine’ Verfassung- noch Verwaltung-Reform, ne sei noch so 
richtig gedacht, fruchten. Ehe nicht das Volk, ohne Revolution, ohne 
Politik auch, selber aufzuleben beginnt und seine ganze Sache von 
Falle zu Falle selber in die Hand nimmt, solange nicht das Volk er¬ 
blüht, wird kein Staat helfen, wird jeder Staat schaden. Auch solche 
Gedanken und Dinge sind nicht möglich noch unmöglich an und 
für sich, sie sind „indiskutabel“, in welchem Sinne imme r man das 
Wort verstehen will. Sie werden Sinn oder Unsinn je nach der Ent¬ 
wicklung, welche die wirklichen lebendigen Menschen nehmen. Und 
so können sie hier nur stehn als Anregungen und Gleichnisse, als 
Übergänge in Zukünfte. 

Ein Abschluß auch nur weniger Betrachtungen über Internationale 
und Europäertum kann nicht sein. Anderseits muß an irgendeiner 
Stelle abgebrochen werden. So geschehe das hier, noch ehe das 
geistige Problem mehr als angerührt ist. Denn dessen Unendlichkeit 
würde erst Interesse gewinnen, wenn alles näher Liegende plastischer 
geworden wäre, als dieser Versuch, für den Gedanken eines Imperium 
Europaeum die heutigen Deutschen überpolitisch zu interessieren, in 
seiner Knappheit es ausgestalten kann. 

(Geschrieben im November 1921) 


STIFTER 

von 

HERMANN BAHR 

I m Sorrentiner Winter von 1876 auf 1877 keimte „M enschlic hes, 
AUsmncBschliches“, in der ersten leisen Ernüchterung Nietzsches' 
von seinem Wagnertraum, als er, aus Verzückung aufgeschreckt, nun 
das Enthusiastische, das Hymnische seines Wesens bei Verstand, Zweifel» 
Spott, Witz und Übermut in die Lehre gab, Ree hieß der Schul¬ 
meister, und sich zum erstenmal die Tugenden des Tageslichts ahnen 
ließ. Wirklich „Mittag des Lebens“ ist in diesem Buch: der große 
Pan schläft und mit ihm sind alle Dinge der Natur eingeschlafen, 
„einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte“; dieses Lächeln von 
Ewigkeit aus dem Schlafe der Natur hat so bezaubernd kein anderes 
seiner Bücher für mich. Hier schweigt der tiefe Widerstreit seiner 



47 * 


Hermann Bahr, Stifter 

inneren Möglichkeiten noch» sie ruhen einander in Armen und er 
ahnt nicht, noch ahnen sies, daß sie ihn zerreißen werden, wie den 
Aktäon seine Hunde, denn er ahnt noch nicht, daß er bei höchster 
Fähigkeit, alles in der Idee zu fassen, unfähig bleiben sollte, sich irgend 
etwas davon zur eigenen persönlichen Erfahrung, zur Gestalt, zum 
ruhig abgesonderten Besitz werden zu lassen. Niemals war er der 
Einsicht in alle Bedingungen für den „Glockenguß der Kultur** näher 
als in diesem „Narren buch“, aus dem wir lernen sollen, „wie Vernunft 
kommt — zur Vernunft“. Und an einer Stelle darin hat man auf¬ 
atmend wirklich das erlösende Gefühl, wenigstens die Vernunft der 
Kunst sei hier auf alle Fälle wieder zur Vernunft gebracht. Es scheint 
aber, daß diese Stelle gerade den Künstlern bisher unbekannt geblieben 
ist, noch immer. Sie handelt von der „R evoluti on in der Poesie“ 
und erkennt in ihrem Bruch mit der Tradition das Endender Kunst . 
Schon sieht er si^Vöh^elr Magie des Todes umspielt, gerWeaarin 
liegt ihr großer Reiz, ihre Macht über uns, wie doch auch erst von 
den absterbenden Hellenen das Hellenische ganz genossen worden sei. 
„Den Künstler wird man bald als ein herrliches Überbleibsel ansehen 
und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und 
Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren erweisen, wie wir 
sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist viel¬ 
leicht aus Empfindungen früher Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf 
unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist 
schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und 
leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.“ 
Nietzsche nimmt den Verlust der Kunst also nicht tragisch, denn er 
steckt damals so tief in seinem Idealismus“, daß er sich einen Ersatz 
für den Künstler weiß: im wissenschaftlichen Menschen. „Der wissen¬ 
schaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.“ 
Es ist fast unheimlich, wie leicht er über den Abschied von der Kunst 
hinwegkommt. Er erkennt gerade hier so klar, wodurch die Kunst 
irre geworden ist und wodurch sie nur immer bei jedem Schritte 
noch mehr irre geführt wird, er sieht gerade hier so tief in ihr 
Wesen, daß er nun nur bei dieser Einsicht stehen zu bleiben, ihre 
Schlüsse zu ziehen und ihre Bewährung durch die Tat zu fordern 
hätte. Daß er dies unterläßt und mit einem stillen Gruß vorüber 
geht, ruhig über die Kunst hinweg und ins Leere der Zukunft hinaus, 
läßt sich nur aus einer fatalistischen Ergebung in den Aberglauben 
an einen unablässigen „Fortschritt“ erklären; man denkt unwillkürlich 



47 * 


Hermann Bahr, Stifter 

an Goethes Wort, auch der größte Mensch einer Zeit hänge doch 
immer noch mit ihr durch irgend einen Irrtum zusammen. Nietzsche 
hat hier mit einer Klarheit, wie vielleicht niemals ein anderer Deutscher, 
in der französischen Tragödie des achtzehnten Jahrhunderts die letzte 
Kunst hohen Stils erblickt. „Sich so zu binden, kann absurd er¬ 
scheinen; trotzdem gibt es kein anderes Mittel, um aus dem Natura¬ 
lisieren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste, vielleicht 
allerwirklichste, zu beschränken ... Lessing machte die französische 
Form, das heißt die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in 
Deutschland und ... so machte man einen Sprung in den Naturalis¬ 
mus — das heißt in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm ver¬ 
suchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von neuem wieder 
auf verschiedene Art zu binden wußte . . . Schiller verdankt die 
ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn 
auch verleugneten Vorbild der französischen Tragödie und hielt sich 
ziemlich unabhängig von Lessing . .. Den Franzosen fehlten nach 
Voltaire auf einmal die großen Talente, welche die Entwicklung der 
Tragödie aus dem Zwang zu jenem Schein der Freiheit (Nietzsche 
hat nämlich vorher auf die Geschichte der Musik verwiesen, die 
zeige, „wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie 
endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist das 
höchste Ergebnis einer notwendigen Entwicklung in der Kunst“) 
fortgeführt hätten; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch 
den Sprung in eine Art von Rousseauischem Naturzustand der Kunst 
und experimentierten. Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaires Ma- 
hojcnet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durdf'jgfien Ab¬ 
bruch der Tradition ein für allemal der europäischen Kultur verloren 
gegangen ist. Voltaire war der letzte der großen Dramatiker, welcher 
seine vielgestaltige, auch den größten tragischen Gewitterstürmen ge¬ 
wachsene Seele durch griechisches Maß bändigte . .. wie er einer der 
letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes 
und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen 
können, ohne inkonsequent und feige zu sein.“ Nun schildert er die 
zerstörenden Folgen jener revolutionären „Entfesselung“ der Kunst aus 
den alten Bindungen von Maß und Gesetz, die man durch „die 
Zügel der Logik“ ersetzen zu können vergeblich hofft, er schildert 
„die hereinbrechende Flut von Poesieen aller Stile aller Völker“, die 
„das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes 
Wachstum noch möglich gewesen wäre“, schildert; wie das Publikum 



475 


Hermann Bahr, Stifter 

verlernt, „in der Bändigung der darstellenden Kraft, in der organi¬ 
sierenden Bewältigung aller Mittel die eigentlich künstlerische Tat 
zu sehen“ und es klingt, als ob er prophetischen Gemüts von unseren 
Tagen spräche, wenn er fortfährt: „So bewegt sich die Kunst ihrer 
Auflösung entgegen und streift dabei, was freilich höchst belehrend 
ist, alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommen¬ 
heit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen, sie interpre¬ 
tiert, im Zugrundegehen, ihre Entstehung, ihr Werden“. Dann aber 
ruft: er einen unverdächtigen Zeugen an, „einen der Großen, auf 
dessen Instinkt man sich wohl verlassen kann“, Byron, der eingestand, 
er hätte sich, je mehr er darüber nachdenke, nur immer mehr davon 
überzeugt, daß wir allesammt auf dem falschen Wege sind. Einer 
wie der Andere: wir folgen alle einem innerlich fälschen revolutionären 
System — unsere oder die nächste Generation wird noch zu derselben 
Überzeugung kommen. „Und“, setzt nun wieder Nietzsche selber ein, 
„und sagt im Grunde Goethes gereifte künstlerische Einsicht aus der 
zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau dasselbe?, jene Einsicht, mit 
welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen 
gewann, daß man im Großen und Ganzen behaupten kann, Goethe 
habe noch gamicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? 
Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen 
Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was 
alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, 
Aussichten, Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der 
Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandlung 
und Bekehrung so viel: sie bedeutet, daß er das tiefste Verlangen 
empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den 
stehengebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der 
Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit 
anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen 
sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören 
nötig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an 
die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hilfsmittel der Erinnerung, 
des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine 
Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeit¬ 
alters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die 
Freude aufgewogen, daß sie einmal erfüllt gewesen sind und daß auch 
wir noch an dieser Erfüllung teilnehmen können. Nicht Individuen, 
sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, 



474 


Hermann Bahr, Stifter 

sondern eine allegorische Allgemeinheit, Zeitcharaktere, Lokalfarben zum 
fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige 
Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die ein¬ 
fachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, patho¬ 
logischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen 
Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern 
die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und 
Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so 
wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten.* 4 

ln diesen paar Sätzen, von denen das alles lesende, nichts davon 
sich tätig aneignende Deutschland bisher keinerlei Gebrauch versucht 
hat, steckt eigentlich unsere ganze Literaturgeschichte seit Lessing, mit 
dem ja die „Entbindung 44 , in jedem Sinn, begann. Und auch das un¬ 
begreifliche Paradox dieser Geschichte wird hier schon aufgedeckt; 
nämlich dafi Goethe, ihr gewaltigster Ausdruck, ihre Vollendung, zu¬ 
gleich aber eben damit wieder ihre Überwindung, von ihr unter lauten 
Ausrufen der Bewunderung und Verehrung völlig beiseite geschoben 
worden ist: dafi der Reinertrag Goethes, das Ergebnis seines Denkens 
wie seines Dichtens, eben der Wiederfund wesentlicher Kunst, un¬ 
genützt und fruchtlos bleibt. Sie folgt ihm nicht auf seine Höhe, 
sie drückt sich unter ihm scheu vorüber, ja sie verleugnet ihn nicht 
blofi, sie versperrt den Zutritt, ja verrammelt jeden Ausblick auf ihn. 
Seine Tat war, die Revolution, von der er emporgebracht worden 
war, niederzumachen: er hat die Freiheit der Kunst in ihrer Ergebung 
ins Gesetz erkannt, er hat, was gerade dem Deutschen am schwersten 
wird, Mafi gefühlt, und das iicixpomv SövaoOai, nach dem der 
Jüngling so glühend verlangte, hat sich der Greis als dienen lernen 
und gehorchen können verdeutscht Wenn wir den Prometheus des 
Monologs mit dem Prometheus der Pandora vergleichen, haben wir 
an' der^Verwandlung dieser Gestalt die Sinnesänderung Goethes: der 
sich dort den Göttern zu trotzen und ein Geschlecht nach seinem 
eigenen Bilde zu formen vermafi, sieht sich hier in die Reihe der 
irdisch Nützenden verwiesen — 

Groß beginnet ihr Titanen, aber leiten 

Zu dem ewig Guten, ewig Schönen, 

Ist der Götter Werk, die laßt gewähren. 

Mit diesem Künstler, der in sich die Götter gewähren läfit, ist die 
Revolution in der Kunst überwunden, sie kehrt an ihr altes Werk 
der selber gehorchenden Leitung zu dem ewig Guten, ewig Schönen 



475 


Hermann Bahr, Stifter 

zurück. Aber von einer Fortwirkung dieser Lebenstat Goethes ist 
in unserer Literatur nicht viel zu merken und es fällt auf, daß selbst 
Nietzsche, der an jener Stelle die Leistung Goethes ahnt, dennoch so 
spricht, als hatte Goethe zwar die Wahrheit erkannt, aber doch selber 
auch den Sturz der Kunst nicht mehr aufhalten können. Nietzsche 1 I 
verschweigt, daß Goethe die Tradition wieder herges tellt hat in einer 
Reihe von Werken: den~Ö nterh altungen deutscher Ausgewanderten, 
dem Märche n, der natürlichen Tochter, den Wahlverwandtschaften, 
dem Epimenides, den Wanderjähren und dem zweiten Taust. Diese 
Werke Dezeugen, daß Goethe nicht bloß, wie Nietzsche von ihm j 
rühmt, die große Kunst im alten Sinn „verstand“, sondern auch, was i 

Nietzsche keinem nach Voltaire mehr zubilligen zu wollen scheint; 
selber „übte“. Daß Sinn und Form dieser Werke freilich unverstanden, 
unerkannt und unwirksam blieben, gehört zu den deutschen Geheim¬ 
nissen; es hängt vielleicht damit zusammen, daß Goethes merkwürdiges 
Wort vom Sansculotten wahr geblieben ist und auch heute noch 
„in Deutschland der Sansculott in der Mitte steht“. 

In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sagt der Geist¬ 
liche, dessen Geschichte vom Prokura*»- so viel Beifall gefunden hat, 
daß die Gesellschaft noch mehrere von ihrer moralischen Art zu hören 
wünscht, er wisse leider keine zweite, denn alle moralischen Er¬ 
zählungen seien immer im Grunde dieselbe. Der gute Mann hätte 
hinzufügen können, daß es eigentlich allen Künsten so geht, daß alle 
Werke der echten Kunst, ob sie sich des Worts, des Bilds oder des j 
Klangs zum Ausdruck bedienen, schließlich doch nur immer wieder ( 
dasselbe sagen, ja daß vom Anbeginn der Kunst her nur immer wieder 
ein und dasselbe Werk von neuem erscheint, freilich stets als ob es 
zum erstenmal erschiene. In der Begabung, das uralte Werk wie zum 
erstenmal erscheinen zu lassen, zeigt sich die Kraft der Meisterschaft 
und sinkende Zeiten suchen sich im Gefühl ihrer Schwäche nun 
damit zu helfen, daß sie dem alten ewigen Werk, dessen sie sich 
unfähig wissen, ein neues, und das eben auf seine Neuheit pocht, 
unterschieben. Es ist kein Zufall, daß Goethe gerade um die Zeit, 
als ihm der Sinn der echten Kunst aufgeht, immer ärgerlicher aller 
Versuche höhnt, „original“ zu wirken sich „autochthon“ zu geben. 

Gern wär ich Überliefrung los 
Und ganz original; 

Doch ist das Unternehmen groß 
Und führt in manche Qual. 





4 76 Hermann Bahr, Stifter 

Als Autochthone rechnet ich 
Es mir zur höchsten Ehre, 

Wenn ich nicht gar zu wunderlich 
Selbst Überliefrung wäre. 


Sind nun die Elemente nicht 
Aus dem Komplex zu trennen. 

Was ist denn an dem ganzen Wicht 
Original zu nennen? 

Die Geistesart, die schon im Humanismus spukt, vom Barock noch 
einmal zurückgedrängt, im achtzehnten Jahrhundert aber vorherrschend 
wird, ist ein einziger, an Kraftaufwand bewundernswerter Versuch, 
Überlieferung loszuwerden, die Elemente aus dem Komplex zu trennen 
und den Menschen von der Natur auszunehmen, dabei noch unter 
fortwährender Berufung auf die Natur, wodurch gerade nun Goethe, 
bei seinem unbestechlichen Wahrheitssinn, von dem Wahn, der auch 
ihn in seiner Jugend betört hat, geheilt wird: die Natur ist es, von 
der er den Begriff des Gesetzes empfangt, und nun hat er ihn nur 
noch auch nach innen zu wenden, auf sich selbst und sein Talent 
anzuwenden, und die große Kunst in ihrer ganzen Majestät ist 
wiedergefunden: 

Das Sein ist ewig: denn Gesetze 
Bewahren die lebendgen Schätze, 

Aus welchen sich das All geschmückt. 

Das Wahre war schon längst gefunden, 

Hat edle Meisterschaft verbunden; 

Das alte Wahre, faß es an! 

Sofort nun wende dich nach innen: 

Das Zentrum findest du da drinnen, 

Woran kein Edler zweifeln mag. 

Wirst keine Regel du vermissen: 

Denn das selbständige Gewissen 
Ist Sonne deinem Sittentag. 

In diesen Versen ist seine neue Poetik enthalten. Es war schon die 
Homers. Schon Homer war auch nicht mehr autochthon. Und auch 
Homer wußte das schon: so nahm er einfach den Gilgamesch her 
und redigierte ihn zum Odysseus um. Das ganze Griechenland ist 
nicht autochthon: seine Kunst ist eine Renaissance Ägyptens, wie Rom 
wieder aus Renaissancen Athens und die Geschichte des christlichen 
Abendslands aus lauter Renaissancen Roms besteht; ob das Abendland 
auch in Zukunft noch eine Geschichte haben wird, hängt vielleicht 




477 


Hermann Bahr, Stifter 

nur davon ab, ob in den Slawen Kraft genug ist, nun ihre Renaissance 
Roms aufzubringen, eine byzantinische Renaissance Roms. Und so 
darf man getrost sagen, daß eigentlich in allen Künsten von allen 
Völkern aller Zeiten unablässig nur immer wieder ^ .dasselbe Kunst¬ 
werk geschaffen wird, ganz dasselbe, das nur jedesmal wieder, herrlich 
wie am ersten Tag, sich zum erstenmal der Menschheit mitzuteilen 
scheint. Heinrich der Innsbrucker Archäolpg, hat neulich in 

seiner synthetischen Schrift über Bachs »Chromatische“ (Ve rlag Ge org 
Stilke, Berlin) dargetan, daß sie thema tisch^l cn Partheno nfries, Giottos 
Fresken in der Skrovegnikapelle, Dantes Commedia, die Neunte 
Beethovens und Goethes Faust enthält, daß also diese sä mt li c hen Werke, 
wenn auch in verschiedenen Mundarten, eigentlich alle nur immer 
wieder ein und dasselbe Werk sind. So fand ich mir hier be¬ 
stätigt, daß es überhaupt im Grunde nur ein einziges Kunstwerk gibt, 
nach dem alle ringen wie nach dem erlösenden Wort, das der Mensch¬ 
heit immer schon auf der Zunge liegt und nur doch bisher noch 
nie so rein ausgesprochen worden ist, daß nicht immer wieder von 
Zeit zu Zeit einer meint, es noch heller, noch stärker sagen zu können, 
sagen zu müssen. Nur wer nichts als dieses eine Kunstwerk allein meint, 
verdient den Namen eines Künstlers; daran erkennen sie auch einander. 
Goethe hat von Jugend auf die Gestalt gesucht, aber erst, als ihm auf¬ 
ging, daß Gestalt ja nichts anderes als Erscheinung des Gesetzes ist, fand 
auch er den Weg zu dem einen unabänderlichen ewigen Werk, zur 
Erinnerung ans verlorene Paradies. 

Emst Cassirer hat den Sinn der Pandora so formuliert: „Das Reich 
der Form gewinnt Leben und Wirklichkeit im Reich der Tat.“ Oder 
man kann’s vielleicht auch so sagen: Idee sehnt sich nach Erfahrung 
und hinwieder Erfahrung nach Idee, sie berühren einander immer 
wieder einen Atemzug lang und finden sich doch nie, wir aber er¬ 
hoffen es dennoch immer von neuem, wir lassen nicht ab, auf die 
Wiederkunft Pandorens zu hoffen, wir glauben an das dritte Reich. 
Dieser Glaube blieb fortan das Thema Goethes. Auch der zweite 
Faust enthält im Grunde wieder nur die Geschichte vom Prokurator, 
wenn auch auf anderen Umwegen. Alle Kunst geht immer nach 
demselben Ziel, aber jede geht ihren besonderen Umweg. Sich den 
Umweg nach eigener Laune wählen zu dürfen, darin besteht die 
Freiheit der Kunst und im Spiel dieser Freiheit mit ihrer Gebunden¬ 
heit an Maß, Zahl und Ziel besteht der unerschöpfliche, sie stets von 
neuem verjüngende Reiz der Kunst 




47 8 Hermann Babr, Stifter 

Seit Jen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, sozusagen 
einer Fibel künstlenscEerElementarlebre, gingGöefhc wieder auf die 
( große fcanst zu. Wer kam ihm nach oder ging ihm auch nurriadi? 
Die Romantik. Aber selbst sie doch eigentlich bloß in den Inten¬ 
tionen. Nur Brentano und Kleist waren ihren eigenen Forderungen 
auch an bildender Kraft gewachsen: die Geschichte vom braven Kasperl 
und schönen Annerl und die jetzt erst von Professor Josef Körner 
ausgegrabene "von der Schachtel mit der Friedenspuppe, wie derPrinz 
von Homburg, der Kohlhaas und das Käthchen von Heilbronn folgen 
Goethen auf seiner neuen Bahn zur alten Kunst, deren sich später 
meistens nur entsinnt, wer dadurch seiner künstlerischen Schwache 
nachzuhelfen oder diese mit der guten Gesinnung zu decken meint, 
ahnungslos, daß in der Kunst die höchste Kraft erst ein Recht auf 
die gute Gesinnung gibt; wo nichts zu bändigen ist, kann sich kein 
Bändiger bewähren und so freut sich der Himmel der Kunst immer 
am liebsten gerade der reuigen Sünder. Blicken wir aber nach Un 
bändigen aus, die sich gebändigt hätten, wen als Kleist und Brentano 
finden wir unter Deutschen noch, nach Goethe? Goethes Vermächtnis 
einer völlige 1 * Durchdrungenheit des Sinnlichen vom Sittlichen, völlige 
Durchblutung des Sittlichen mit Sinnlichkeit erzwingenden und uns 
dadurch den Augenschein der Ewigkeit in der Zeit erbringenden 
Kunst, wer hat es angetreten, wer lebendig aufbewahrt, wer fruchten 
lassen? Grillparz er und Stifter. Denn scho n Feuchtersieben , den rühren¬ 
den, die Kunst ganz rein und groß erblickenden Mann, dürfen wir 
nicht nennen, so wenig als etwa Mörike oder Fontane, weil sich 
jene höchste Kunst imm er nur als Siegespreis nach höllischen Wider¬ 
ständen ergibt und darum immer irgendwie geheime Zeichen, gleichsam 
einen Dampf der überwundenen Gigantomachie tragen muß. Denn 
höchste Kunst kann nur, wer um sich gerungen hat, erringen: nur 
wer sich zuvor sich selbst entrungen hat. Höchste Kunst ist immer 
Frucht einer Entsagung; sie setzt etwas voraus, dem zu entsagen da¬ 
für steht, sie setzt einen bösen Dämon voraus, mit dem wir fast 
uns selber und alles, was uns bisher das Leben licht und lieb ge¬ 
macht hat, niederzuringen fürchten und dennoch niederzuringen 
aus Gewissen wagen: das Kunstwerk ist immer die Feier einer uns 
selbst fast unerträglichen Entsagung, die ganz hohen Kunstwerke 
sind Selbstdemütigungen großer, ja bis tieFlns Böse hineinreichender 
Menschen. Wenn ein ganz Großer ganz klein wird, das ergibt 
•die höchsten Kunstwerke. Wer von Anfang klein ist und es nicht 




Hermann Bahr, Stifter 47p 

nötig hat, erst in Schmerzen klein zu werden, was braucht der erst 
die Kunst? 

Goethinert ist in Deutschland immer wieder worden: jede wirklich 
junge Jugend holte sich vom Goethe der Wertherzeit, dem hymnisch 
seinen Überdrang ausschnaubenden, die Stichworte für ihren stürmischen 
Trotz, während wieder der reifende, sich ins allgemeine Dasein be¬ 
quemende Welt-, Geschäfts- oder Lebemann im Goethe der Iphigenien¬ 
zeit Schutz davor fand, sich den Philister eingestehen zu müssen; der 
Deutsche meint doch überhaupt, daß Dichter zum Zitieren da sind. 
Aber das Ergebnis der letzten fünfunddreißig Jahre Goethes, der Gehalt 
seiner Reife, die Summe seines Denkens und Dichter hat doch lebendig 
fortgewirkt nur in Grillparzer und Stifter. Seit den „Unterhaltungen 
Deutscher Ausgewanderten“ hatte Goethe den Begriff einer „höchsten 
Kunst, wo die Individualität verschwindet und das, was durchaus recht 
ist, hervorgebracht wird.“ Das Werk ist ihm fortan kein individueller 
Ausdruck mehr, es soll nicht von irgendeiner Persönlichkeit Zeugnis 
geben, nein: die Individualität muß darin „verschwinden“, sie muß so 
völlig daraus verschwunden sein, daß nichts als „was durchaus recht 
ist“, übrig bleibt. Dieser „höchsten Kunst nähern sich die besten 
Meister in ihren glücklichsten Augenblicken“. Solche Werke haben 
seit Goethe, so viel ich weiß, unter den Deutschen doch eigentlich 
nur Grillparzer und Stifter, bewußt keinen eigenen Ausdruck, sondern 
nichts als was durchaus recht ist, anstrebend, hervorgebracht. Die 
Dämonen haben in Grillparzer wilder gehaust als in Stifter: sie sind 
im „Bruderzwist“ am gewaltigsten gebändigt, in „Libussa“ hat er sie schon 
tanzen gelehrt und im „armen Spielmann“, der vielleicht die schönste 
seiner Dichtungen ist, gehen sie brav äußerin* mit ihm. Die Dämonen 
St ifters sind von Jugend auf gedämpft; immerhin darf man sein Ende 
nicht vergessen: Selbstmord. Jenen „glücklichsten Augenblicken der 
besten Meister“ fehlt ihr Schatten nicht. 

Stifter ist durch sein berühmtes Jugendwerk unkenntlich geworden. 
„Studien“ hat er es genannt und es war in der Tat eine Reihe von 
Vorarbeiten, in welchen er sich vom Maler, zu dem er sich geboren 
glaubte, zum Dichter umschalten lernte. Sie sind schuld, daß er ein 
halbes Jahrhundert lang als ein Schriftsteller für die reifere Jugend, 
bestenfalls als ein österreichischer Claudius oder Brockes galt. Das 


* Ein Austriazismus: ein Hund wird äußerin geschickt, wenn man ihn 
auf die Gasse läßt zur Bewahrung seiner Zimmerreinheit. 



480 


Hermann Bahr y Stifter 

ist selbst gegen die „Studien“ ungerecht, weil sich hier ein Land¬ 
schafter des Wortes zeigt, wie wir ihn nur noch an Goethe haben: 
die Landschaften im „Hochwald“ und im „Beschriebenen Tännling“ 
halten den Landschaften der „Harzreise“ oder der „Wahlverwandt¬ 
schaften“ durchaus stand, auch an Sicherheit ihrer Richtung auf das, 
was man in dem Sinne, wie Goethe von der Urpflanze spricht, Ur- 
landschaft nennen möchte. Wer aber hätte den „Studien“ das anmerken 
sollen, da sie doch nur noch von Schulkindern gelesen wurden? Vom 
„Nachsommer“ hinwieder wußte man ja nichts mehr als das abschreckende 
Wort Hebbels, der, wenn sich jemand bereit fände, diese Erzählung 
bis ans Ende zu lesen, ihm dafür die polnische Krone versprach. 
Nietzsche hätte sie sich aufsetzen dürfen, er hat den „Nachsommer“ 
dem wenigen beigezählt, was „eigentlich von der deutschen Prosa¬ 
literatur übrig bleibt und verdient, immer wieder und wieder gelesen 
zu werden“. Aber selbst Nietzsche hat den „ Witiko“ nicht gekannt, 
Stift ers hfichfteq W erk, vielleicht das reinste, das einem österreichischen 
Dichter jemals bescbieden ward, das einzige, das an besonnener Bild¬ 
kraft, an innerer Ausgewogenheit von zuströmender Eingebung und 
abdämmender Vergeistung, an Meisterschaft die Nähe Goet hes e rreicht. 
Es war seit Jahren verschollen. Es hätte, häum erschienen, gleich den 
Ruf zu langweilen. So wenig als der „Nachsommer“ den Vergleich 
mit „Soll und Haben“, hielt es den mit „Ekkehard“ oder gar dem 
„Trompeter von Säkkingen“ aus, es war kein Buch zur Verdauung 
auf dem Sofa nur ein Viertelstündchen; Butzenscheiben fehlten, es 
fehlte die bettnässende Rührung und, ohne die gewohnte sentimentale 
oder phychologisierende Sauce, nur darstellend, nichts aber besprechend, 
den Grundsatz Stifters bewährend: „Gestalten machen, nicht Worte!“, 
war dieses Erzbild einer eisernen Zeit alsbald durch seine „Weit¬ 
schweifigkeit“ und „Langweiligkeit“ so berüchtigt, daß der Verleger, 
als er schließlich nach Jahren die erste Auflage wie durch ein 
Wunder doch noch los geworden, zur zweiten keinen Mut fand. 
Man wagte sich nur mit abgekürzten verstümmelten Ausgaben hervor 
und erst jetzt, fÜnfundfünfzig Jahre nach der ersten Auflage, bringt 
uns der Inselverlag, dem wir schon die Erweckung des „Nachsommers“ 
verdanken^ auch den unentstellten „Witiko“ wieder. 

In einer populären deutschen Literaturgeschichte steht über Stifter 
geschrieben: „Dem wackeren, doch etwas philisterhaften Manne fehlt 
alle nun doch einmal dem Dichter nötige Leidenschaft“. Der „Witiko“ 
zeigt in diesem Philister einen Artisten von solcher Leidenschaft am 



Hermann Babr, Stifter 481 

Werk, wie wir in unserer ganzen Literatur kaum einen zweiten haben. 
Läßt man hier nur irgendeine Wendung, ja nur einen einzigen Satz 
weg, gleich ist ein Verlust an Gestalt zu fühlen — wie viele sonst 
halten denn dieser entscheidenden Probe stand? „Witiko“ ist so durch 
und durch komponiert wie „Tristan“ oder „Meistersinger“. Jahrelang hat 
Stifter, in seiner Erbitterung nach Vollkommenheit, Rastlosigkeit, 
Unersetzlichkeit, Unfehlbarkeit, Erlesenheit, Entschiedenheit des einen, 
an seiner Stelle schlechthin mit nichts anderem zu vertauschenden, 
zugleich kürzesten, aber auch drangvollsten, alles was er will, aber 
nichts als was er soll, sagenden, jedes 4 peu pris verabscheuenden, 
durchaus müssenden Ausdrucks nur etwa mit Flaubert vergleichlich. 
Tag um Tag um jeden Satz gerungen. Tag um Tag immer von 
neuem daran gehämmert, gestichelt und gefeilt, es war ihm immer 
wieder noch nicht „knapp und einfach“ genug, $0 tief war er, fast 
bis zur Besessenheit, von seiner Empfindung für das Urgeheimnis 
aller Prosa durchdrungen: in soluta oratione, dum versum effugercs, 
modum tarnen et numerum quemdam oportere servari, wodurch allein 
der Rede jener naturalis, non fucatus nitor zuteil wird, den Cicero, 
vielleicht gerade weil er ihm selber versagt blieb, so sehr bewundert 
hat. „Möge nur,“ schrieb Stifter an seinen Verleger, „möge nur Gottes 
Segen geben, dafi ich in der Gestaltung des Stoffes nicht zu weit 
hinter seinem Ernste zurückgeblieben bin. Mühe habe ich nicht 
gescheut und wenn Sie einmal den Stoß Blätter sehen werden, die 
Abfälle sind, werden Sie staunen und wenigstens einen Teil der Zeit 
begreifen, der an diesem Witiko hängt. Ich könnte fast sagen, daß 
ich dieses Buch mit meinem Herzblut geschrieben habe“. Doch als 
er nach solchen schöpferischen Qualen dann endlich so weit war 
versichern zu können: „Ich glaube, daß jetzt Alles knapp ist und 
klappt!“, als ihn die beseligende Hoffnung überkam, „etwas der 
Hoheit der Dichtkunst nicht Unwürdiges erschaffen“ zu haben, als 
er „ewig an dem Werke feilend, bohrend, nörgelnd“ und es sich 
Satz um Satz selbst immer wieder laut vorlesend, „um zu hören, ob 
es fließt“, ob die Form „nicht zu weit ab vom Gehörigen liege“, nun 
wirklich sein Ideal: „Bündigkeit, Klarheit, Lückenlosigkeit und Höhe 
der Behandlung“ erreicht fand und dieses Werk vollendet war, in dem 
die Gestalten in einer gesicherten Freiheit stehen wie bei Phidias, das 
Schicksal schreitet wie in der Nibelungen Not und über alles die 
Macht einer rauschenden Musik ordnend dahinströmt, da blieb ihm 
dennoch wieder versagt, was allein, nach Goethes Wort, „den Meister 



481 Hermann Bahr, Stifter 

belohnet: der zart antwortende Nachklang und der reine Reflex aus 
der begegnenden Brust“. Die Deutschen wußten mit dieser „böhmischen 
Ilias“ nichts anzufangen und die Tschechen hatten keine Lust, sie sich 
von einem Deutschen erzählen zu lassen. Findet sie jetzt ein weniger 
stumpfes Geschlecht! 

Ich wage nicht anzunehmen, daß wir seither an begegnenden 
Brttaeir beträchtlich zugenommen haben. Den artistuchetiReiz des 
-Werks wird man heute vielleicht eher spüren als vor einem halben 
Jahrhundert Es gibt immerhin jetzt einige tausend Deutsche, die so 
tun, als wären Nietzsche und George keine bloßen Zwischenfälle. 
Daß der -Wiriko“ in weltgeschichtlicher Breite zeigt, mit welcher 
Naturgewalt das Sittengesetz verfahrt, wird ihn auch dem Leser heute 
nicht besonders empfehlen. Aber es könnte vielleicht geschehen, daß 
manch einer, nach dem wohlgebundenen, auf so feinem Papier ge¬ 
druckten, zierenden Werk greifend, beim Zahnarzt oder während die 
Geliebte sich kleidet, darin blätternd, hat er es erst zu lesen ange¬ 
fangen, auf einmal im Lesen nicht mehr aufhören mag, staunend 
festgehalten von der Aktualität, mit der es heute wirkt, einer Aktualität, 
die fast etwas Erschreckendes hat: das alte Buch scheint ja nur auf 
uns gewartet zu haben, eigens für uns geschrieben, nur von uns 
handelnd, von unseren Fragen, inneren Nöten und Zweifeln, in durch¬ 
sichtiger Verkleidung! Es geht nämlich im „Witiko“ um die Geburt 
• einer neuen Legitimität und die, sozusagen, Illegitimierung der alten: 
darf, soll, kann ererbtes, verbrieftes Recht jemals entkräftet, hinwieder 
Ungesetz, Aufruhr und Willkür bloßer Gewalt berechtigt werden. 
Recht um sein Recht und Unrecht zu Rechten kommen) Um nichts 
anderes geht es doch aber auch uns jetzt, in allen Dingen! 

Das zwölfte Jahrhundert ist die Zeit, Böhmen der Platz, Witiko, 
ein Mann des Bischofs von Passau, der Held des Romans. Der zieht 
aus, um „ein rechter Mann“ zu werden. Er weiß voraus: „Ich werde 
niemals ein niederer Mann sein“, denn: „Ich will zu dem Höchsten 
streben, ich will das Ganze tun, was ich kann.“ So weiß er sich 
sicher. Und er spricht zu seiner Mutter Wentila: „Ich liebe die 
Menschen und strebe, gegen sie gut zu sein.“ Die Mutter antwortet: 
„So ist dein Vater Wok gewesen und dein Großvater Witek.“ Und 
er sagt dem Kardinal Guido: „Ich suche zu tun, wie es die Dinge 
fordern und wie die Gewohnheit will, die mir in der Kindheit ein¬ 
gepflanzt worden ist.“ Der Kardinal erwidert: „Wenn du zu tun 
strebst, was die Dinge fordern, so wäre gut, wenn alle wüßten, was 



4*5 


Hermann Bahr, Stifter 

die Dinge fordern; denn dann täten sie den Willen Gottes.“ Da 
muß Witiko freilich bekennen: „Oft weiß ich nicht, was die Dinge 
fordern.“ Doch der Kardinal bestärkt ihn: „Dann folge dem Gewissen 
und du folgst den Dingen.“ So tut Witiko. Die Huld seines Fürsten, 
die Gunst seiner Leute, die Hand des geliebten Mädchens, Ehre, 
Wohlstand und Liebe lohnen es ihm. 

Es ist aber in jenen Zeiten nicht gerade leicht zu wissen, „was 
die Dinge fordern“, und mancher „rechte Mann“ verzagt, wo denn 
eigentlich das Recht stehe. Der alte Herzog Sobeslaw ist gestorben, 
bevor er seinen Sohn Wladislaw, den er sich zum Nachfolger be 
stimmt hat, völlig hätte „zur Reife erziehen“ können. So haben die 
Herren des Landes Grund, an diesem Wladislaw zu zweifeln und be¬ 
vor noch der alte Herzog stirbt, wählen sie auf dem Wysehrad einen 
anderen Nachfolger, der auch Wladislaw heißt Doch scheint der alte 
Herzog selber auch an seinem Wladislaw zu zweifeln, denn als er 
von jener ungesetzlichen Wahl auf dem Wysehrad hört, rät er selbst, 
sterbend, dem eigenen Blut zum Verzicht, zur Unterwerfung unter 
den anderen. So steht nach dem Tode des alten rechtmäßigen Herzogs 
nun Wladislaw gegen Wladislaw. Welchem von den beiden neuen 
Herzogen hat da jetzt ein rechtwilliger Mann zu dienen 1 Welcher 
Wladislaw ist der rechtmäßige neue Herzog? Der, von Aufrührern 
gewählt, zu Prag sitzt oder der, vom Vater ernannt, sich ohnmächtig 
versteckt hält? Gewiß: dieser hat das geschriebene Recht für sich, 
aber er ist ein „niederer Mann“, das zeigt er ja schon selber dadurch, 
daß ihm die Kraft und auch der Mut zu seinem Rechte fehlen. Ge¬ 
wiß: der andere Wladislaw, aufrührerisch gewählt, hat nicht das 
Recht ftir sich, so sehr er sichtlich der Mann dazu wäre; zunächst 
ist er Herzog doch nur „durch die Tatsache und durch die Macht?. 
Es steht also machtloses Recht gegen rechtlose Macht und das 
Recht steht bei einem, der weder den rechten Sinn dafür hat 
noch den rechten Gebrauch davon macht, und die Macht dagegen 
steht bei einem, der, rechten Sinnes, rechten Gebrauch von ihr 
macht „Und so ist jetzt überall kein Recht“ Für wen soll sich 
also da, wer recht zu handeln gesinnt und gewillt ist, entscheiden? 
Der machtlose Herzog, der es von Rechts wegen wäre, handelt nicht 
als Herzog und der rechtlose Herzog, der es tatsächlich ist, handelt 
wie ein guter Herzog: wer von beiden ist also Rechtens Herr im 
Land, wem zu dienen ist eines rechten Mannes Pflicht? Ja die Rat¬ 
losigkeit wächst noch, als die Wähler des unrechtmäßigen guten 



4*4 


Hermann Bahr, Stifter 

Herzogs, durch deren Aufruhr gegen Recht und Brauch er zum 
Herzog geworden, bald darauf, weil er sich von ihnen nicht, wie 
sie gerechnet hatten, als Werkzeug ihrer Laune, Willkür und 
Herrschsucht zur Knechtung der Schwachen und Armen im Lande 
mißbrauchen läßt, von ihm abfällen, sich den von ihnen im vor¬ 
aus entthronten Herzog aus seinem feigen Versteck holen und einen 
neuen Aufruhr beginnen, den Aufruhr des bisher machtlosen, ur¬ 
sprünglich rechtmäßigen, innerlich niemals herzoglichen Herzogs gegen 
den unberechtigten, bisher die Macht ausübenden, jetzt in seiner Macht 
bedrohten, innerlich zum Herzog geborenen Herzog! Wer, wohin er 
sich auch stelle, kann guten Gewissens dort stehn? Aber jetzt be¬ 
greifen wir erst, was mancher Freund Stifters nie begreifen wollte^ 
selbst sein treuer Biograph Alois Raimund Hein nicht, warum aus 
der drängenden Fülle böhmischer Geschichte Stifter sich unter allen 
den „nibelungenartigen Riesendingen“ gerade diesen Stoff zunächst aus¬ 
gesucht hat, vor anderen sogar, die seiner künstlerischen Absicht noch 
näher kamen, der Absicht, „die schreckliche Majestät des Sittengesetzes, 
welches die hohen Frevler, die in ihrer Macht sonst furchtbar wären, 
zerschmettert und ihre Gewaltpläne wie Halme knickt, so kraftvoll 
und glänzend darzustellen, daß die Menschen im Anblick des Ent¬ 
setzlichen, das infolge von Freveln Schuld und Unschuld trifft, 
zitternd und bewundernd sich der Macht beugen, die das Böse ver¬ 
bietet.“ Wenn er sich dennoch vor allem für den Witiko entschied, 
so war’s, um gleich am Eingang zu seiner böhmischen Ilias die Grund- 
kraft aller böhmischen, ja der gesamten abendländischen Geschichte, 
seit es und solang es ein gemeinsames Abendland gab, erscheinen zu 
lassen, ihren geheimen Motor: das unüberwindliche, niemals ver¬ 
stummende, alles verwirrende, selbst immer wieder von Verwirrung 
bedrohte, zuletzt aber doch alles auch wieder einlenkende Bedürfnis 
nach Legitimität Schon Goten und Langobarden beherrscht es, sie 
ruhen niemals, bei keinem Sieg, bei keiner Macht solange nicht irgend¬ 
ein schützender Abglanz von Legitimität darauf fallt, und wär’s auch 
nur einer gestohlenen, einer erschwindelten, einer bloß angeheirateten. 
Von einer „germanischen Hypnose der mit einem Weibe verknüpften 
Legitimität“ spricht “Albert von Hofmann im ersten Band seiner 
„Politischen Geschichte der Deutschen“. War sie wirklich zunächst 
germanischer Herkunft (ihr Gesicht erinnert eher an Züge des römischen 
Rechts), so hat sie jedenfalls rasch genug auch alle anderen abend¬ 
ländischen Völker angesteckt und wenn es sich dann die Legitimität 



4*5 


Hermann Bahr, Stifter 

auch langst nicht mehr so leicht macht, an Weibern zu hangen, sie 
wirkt noch jahrhundertelang überall in Europa fort, nicht bloß in 
seinem Eckfenster Böhmen. Nirgends will Macht, noch so gesichert, \ 
sich mit sich selber begnügen: es ist ihr zu wenig, bloß Macht, sie j 
will auch noch im Rechte sein und hat sie keins, so wird sie in ihrer 1 
Not gewahr, daß sie ja versuchen kann. Recht zu schaßen: es aus sich 
selber zu schaßen. Daß Recht, wenn es seine Pflichten unerfüllt läßt, 
▼erwirkt werden, daß Unrecht, wenn es die Pflichten des Rechts über¬ 
nimmt, nicht bloß begnadigt, sondern mit der seinen frechen Beginn 
schamhaft überwachsenden Zeit berechtigt werden kann, ist eine Ent¬ 
deckung der Christenheit. Und es ist der Inhalt des Epos vom 
Jahrhundert Witikos. 

Witiko der rechte Mann, hält es erst mit dem Wladislaw, den sich 
der alte Herzog zum Nachfolger bestimmt hat. Als der andere Wladis¬ 
law, der kein Recht hat, zur Macht kommt, geht Witiko heim in 
seinen Wald und bestellt sein Haus. Als aber Aufruhr, der wider 
alles Recht den gerechten Herzog emporgehoben hat, sich nun gegen 
ihn kehrt und gegen ihn den berechtigten Unrechten Herzog ausspielt, 
da geht Witiko zum guten Unrecht über und hilft mit, daß daraus 
ein neues Recht wird. Der brave alte Stifter, der „etwas philister¬ 
hafte Mann“, hat unmittelbar vor seiner Ernennung zum Hofrat dieses 
Revolution$huch mit dein Herzblut eines echten Konservativen ge¬ 
schrieben. Wo Revolution dauernd gesiegt hat, war es immer der 
Sieg einer Legitimität, der Sieg ungesetzlichen Rechts über ein zum 
Unrecht gewordenes -Gesetz. 

Der auf dem Wysehrad durch Aufruhr zum_ Herzog, ausgeoifene 
Wladislaw ist ein besserer Mann und führt die bessere. Sache- eis 
der zum Herzog berechtigte Wladislaw. Unrecht ist es, wie der rechte 
Mann Herzog wurde. Muß es Unrecht bleiben? Nun ist er einmal 
Herzog und wenn er es auch nur durch Gewalt ist, „die Guten“ 
geben doch zu ihm. Denn sie sagen sich: „Das Gute, das geworden 
wäre, wenn die Männer auf dem Wysehrad an dem Rechte gehalten 
hätten, und das Gott auch mit dem minderen Manne Wladislaw ein¬ 
geleitet hätte, kann nun nicht mehr werden. Der Herzog Wladislaw 
wird ein anderes Gute bringen und er wird das Schlechte, das aus 
dem Unrecht auf dem Wysehrad folgen muß, zu vermindern streben.“ 

Sie wissen, daß, wenn aus Unrecht gleich in eines guten Mannes Ver¬ 
waltung Recht werden kann, doch an diesem unberechtigt entstandenen, 
mißgeborenen Recht immer eine Schuld kleben wird, die noch erst 



48 6 Hermann Bahr, Stifter 

abgebüßt werden muß. Neues Recht muß seinen Makel immer durch 
tiefes Leid erst sühnen; es muß erst rein und vom Frevel frei gebrannt 
werden. Dann erst wird aus gu tem Unrecht durch Buße schließlich 
Recht. So denkt Witiko,so nancTelt er: RechteFSmn gib'fiHm den 
Mut; daß er es für s eine P flicht hält, gelegentlich auc h einmal Un¬ 
recht tun zu müssen, in Gotte* Namen! Er scheut es nicht, wenn er 
meint nicht anders zu können. Im Großen und im Kleinen. Er 
läßt in der Schlacht einmal, wider seine Pflicht, absichtlich den Feind 
entwischen; er weiß: das ist nicht recht!, aber er wagt’s um der 
guten Folgen willen. Er argumentiert da fast wie Aljoscha, der in 
seiner Herzensreinheit auch, um dem Bruder zur inneren Wiedergeburt 
zu helfen, auf allerhand „Unehrenhaftes“ sinnt. „Jetzt hab ich dich 
auf dem Jesuitenweg ertappt“, ruft Mitja, „abküssen müßte man dich 
dafür!“ Und Aljoscha lacht Und der Herzog dankt es dem Witiko 
mit hohem Lob. Ist damit gemeint, der Zweck heilige die Mittel? 
Das würde Witiko nicht sagen. Das hat auch Bismarck nie gesagt 
Sie glauben nur zu fühlen, daß ein zum rechten Zwecke notwendiges 
Mittel gar nicht erst geheiligt werden muß, weil das sachliche Gebot 
gar nicht unsittlich sein kann. Witiko meint, daß es auf den rechten 
Sinn der Tat ankommt, den allein haben wir zu verantworten, der 
rechte Sinn wirkt recht. „Wo das Rechte in dem Sinne ist, fließt 
es für den Bedarf hervor.“ Der rechte Sinn muß freilich deshalb noch 
nicht immer auch Recht behalten. Der Ausgang meiner Tat liegt nicht 
| bei mir, der liegt in Gottes Hand. Dieses still ergebene, demütig tap- 
! fere flttöv iv yo6yqotv xe ttttt klingt durch das ganze Buch. Am ge- 
1 waltigsten spricht’s der Herzog aus, der durch Unrecht zu seinem Recht 
kommt, selber nur ein gesteigerter Witiko, ein bewußter. Der sagt 
auf dem freien Platze vor dem Herzogsstuhl seinen versammelten Kriegs¬ 
herren und Unterführern: „Ich bin nicht wie mein Großvater, mein 
Vater und mein Oheim. Ich bin auf sie gefolgt. Ich weiß nicht, 
ob ich ihnen an Gaben gleich oder untergeordnet bin; aber im Guten 
will ich ihnen gleich sein. Vor diesem ehrwürdigen Stuhle, der schon 
so viele große und gute Fürsten getragen und manche Verirrungen 
gesehen hat, kann ich es aussprechen, daß ich die Pflichten treu in 
mein Herz geschrieben habe, die mir durch diesen Stuhl entstanden 
sind. In dem Kampfe, der naht, werde ich entweder siegen, und 
dieses wird nach dem Ratschlüsse Gottes dem Lande zum Heile sein, 
wir werden Gott preisen; oder ich werde unterliegen und dieses wird 
nach dem unerforschlichen Ratschlüsse Gottes dem Lande zum Heil« 



Hermann Bahr, Stifter 487 

sein, wir werden auch Gott preisen. Wir kleinen Menschen können 
das Höchste nicht sehen; aber wir, die wir hier versammelt sind, 
glauben, daß wir auf dem Rechte stehen, und wir müssen das Recht 
mit der Herzhaftigkeit und der Einsicht, die wir haben, zu Ende 
bringen." So spricht der Herzog und aus seinem Munde spricht ein 
Geschlecht, das sich jung und anfangend, die Welt erneuend fühlt, 
kein Geschlecht von Erben und Enkeln hoher Ahnen, das nun bloß 
dankbar zu verwahren hat, dem sein Recht schon angeboren ist, son¬ 
dern ein neu heraufkommendes, das nichts mitbringt, das sich alles selber 
erst erbringen muß, ein Geschlecht, das in die Welt tritt, damit, indem 
es seine Kraft zu Rechten bringt, nun endlich Recht erst wieder zu 
Kräften kommt, ein Geschlecht, das seine Macht berechtigen und da¬ 
durch Recht endlich wieder ermächtigen will, ein Geschlecht, das sich 
selber als Stammvater einer frischen Reihe hoher Ahnen fühlt. 

Witiko, der Mann des Bischofs von Passau, und sein Herzog Wladislaw 
gleichen einander darin, daß jeder seiner Neigung getrost folgen darf 
in dem sicheren Gefühl, „daß außer der Neigung noch etwas in uns 
ist, , das ihr das Gleichgewicht halten kann", im gelassenen Zutrauen 
zu „dem guten und mächtigen Ich, das $0 still und ruhig in uns 
wohnt" Diese Worte stehen aber nicht mehr im Witiko, sondern 
schon in der Geschichte vom Prokurator, die von Stifter nur sozu¬ 
sagen ins Böhmische des zwölften Jahrhunderts übersetzt worden ist 
Und wer hinhorcht, dem klingt da wie dort, aus dem Böhmerwald 
wie aus der italienischen Seestadt, der beherzte Schritt entgegen, mit 
dem in der chromatischen Fuge der Mensch aus einer zerstürzten 
Welt tapfer wieder an den Bau geht. 

Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie; 

Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich. 



ARTHUR SCHNITZLER 


von 

RICHARD SPECHT 

M enschen, die an ihrem wahren Leben und an ihrem Glück 
vorübergehen, oder an denen das Glück vorübergeht. Menschen 
von sehr empfindlicher Zartheit, hochmütig isoliert und doch darunter 
leidend, daß keiner ganz zum andern kann. Menschen der Selbst« 
bcWährung, der edlen Form, der guten Haltung; liebenswürdige Me¬ 
lancholiker, gar nicht lebenstüchtig, ein bißchen verwöhnt und weh¬ 
leidig, von jeder Banalität beleidigt. Enttäuschte und doch immer 
wieder Suchende der Liebe, stille Ironiker und schönheitsbedüiftige 
Egoisten. Dann wieder solche, die einfach jung sind; die einen sorglos, 
die andern schwersinnig, beide bezaubert vom Leben, von der Liebe, 
die ihnen Mittelpunkt und Wesenssinn ist; alles andere, am meisten 
aber die „ernsten Dinge": Beruf; Arbeit... bedeutet ihnen nur Arabeske. 
(Ein einziger dieser jungen Leute ist anders: der Felix im „Einsamen 
Weg", der sich ruhig und fest mit den Wichtigkeiten des Daseins 
auseinandersetzt und an allen kleinen Abenteuern vorbei in ein wert¬ 
voll tätiges Leben zu schreiten scheint) Menschen, die abseits vom 
wirren Treiben der Zeit stehen, von einer zumeist sehr wienerischen 
Kultiviertheit, etwas verzärtelt und doch nicht ohne Härte in ihrer 
Selbstsucht, Ästheten der Geistigkeit, zumeist fern aller praktisch¬ 
manuellen Arbeit: Schriftsteller, Maler, Ärzte, feine Skeptiker mit weichen, 
zärtlichen, behutsamen, weißen Händen, denen alles heftige Zugreifen 
und Zuschlägen fremd ist. Frauen, die nichts als zu lieben verstehen, 
die nur selten etwas Mütterliches haben, um die selbst im Alter noch 
der Schimmer vergangener süßer Stunden schwebt; und wenn sie 
wirklich Mütter sind, ist ein Zwiespalt da, weil sie zu schwer daran 
vergessen oder gar darauf verzichten können, immer noch Geliebte zu 
sein, Frauen, die nur einmal lieben können, sich ganz und gar her¬ 
schenken und daran zugrunde gehen, weil sie es gar nicht zu begreifen ver¬ 
mögen, daß in der Welt noch für anderes Raum ist als für ihr eigenes, 
wundervoll inniges Erleben; andere, die nichts schwer nehmen, nie¬ 
mals an dauerndes Glück an eines Einzigen Seite denken, weder durch 
Überfülle der Empfindung noch durch Enttäuschungen belastet sind 
und in anmutiger Natürlichkeit, glückspendend und empfangend, von 
einem zum anderen gleiten, oft ohne die ungeheuren Geschehnisse 



489 


Richard Specht, Arthur Schnitzler 

zu bemerken, durch die sie schreiten oder die sie verschulden, und 
gar nicht fähig. Aber sie (oder über sich) zu staunen und in Ver¬ 
wirrung zu geraten; ohne Dimenhaftigkeit, eher unschuldig und jedes¬ 
mal wieder gleichsam neu jungfräulich und doch wieder nur durch 
die Kindlichkeit und die Unbefangenheit erträglich, mit der sie zu 
lieben und sich zu geben wissen; und noch andere, die bewußt sind 
und sich in dieser Bewußtheit peinigen, die begehren und begehrt 
sein wollen, aber nicht den Mut haben, unbekümmert um das 
Unrecht eines falschen Sittengesetzes, das der Frau verwehrt, was dem 
Mann erlaubt ist, ihrem Gefühl zu folgen, und an denen es sich rächt, 
wenn sie diesen Mut doch einmal haben, ohne daran zu denken, ob 
sie nicht doch die eine, einzige Sünde begangen haben: des großen 
Mysteriums nicht würdig zu sein, das die Vereinigung von Mann und 
Weib bedeutet, weil es nicht der auserwählte, nur irgendein zufällig 
begehrter Mann war, dem sie sich schenkten, in einer Stunde der Lust, 
nicht in einer der wahren Liebe, die schwer vom großen Geheimnis ist 
und in die ewige Kette des Werdens sich spannt Dann wieder Männer, 
die das Wahrhafte des Lebens erkannt haben, der Welt abhanden ge¬ 
kommen and, auf alles Äußerliche, auf Taten, Ruhm, Reichtum und 
Ehre verachten und nur mehr mit Menschenseelen spielen; und solche, 
die nach manchem Irren und Tasten endlich zu sich selbst gekommen 
sind und ihr wahres Wesen, ihren eigentlichen Beruf behaupten, 
weder durch Niedertracht noch durch Verlockungen mehr abzulenken, 
und ja kaum mehr zu verwirren sind. Die meisten aber sind solche, 
die nicht zweckhaft, nur schon leben. Menschen der Großstadt und 
des Luxus, selber irgendwie verspielt, ins Spiel von Liebe, Leid, Wahn 
und Wahrheit, Schein und Sein, Tod und Leben verwoben, unfähig, 
zu altem (und boshaft und verbittert um sich schlagend, wenn die 
Jugend zu schwinden droht), unpathetisch, ohne sonore Lautheit, von 
einer vergeistigten Sinnlichkeit und einer Kultur des Tones und des 
Wesens, die etwas spezifisch Wienerisches sind oder vielleicht richtiger: 
waren. Ein österreichischer Totentanz.. . Denn diese Menschenart, 
wenn sie in diesen letzten Jahren des Wahnsinnes und der Verpobelung 
nicht überhaupt ausgestorben ist, hat sich in Exklusivität und Ver¬ 
borgenheit geflüchtet; sie ist nicht widerstandsfähig und nicht vulgär 
und brutal genug, um in der Untergangsmenschheit des Menschheits- 
Unterganges von heute bestehen zu können. Es sind Menschen, die 
mehr Hirn als Bizeps, mehr Nerven als Herz haben, voll Anmut der 
Haltung und von einem so feinen Reiz des Betragens und des Geistes, 



49 o Richard Specht, Arthur Schnitzler 

daß man sich unter ihnen sofort in bester Gesellschaft fühlt. Die 
Menschen Arthur Schnitzlers. 

Zum mindesten die der ersten Reihe, die Vordergrundsmenschen. 
Die der zweiten Reihe sind robuster: zufriedene bürgerliche Existenzen, 
Tenniskünstler, Sonderlinge, Streber, Episodisten des Daseins. Oft 
wirklich nur Folien und Stichwortbringer (oder gar „Räsonnäre„). 
Aber auch sie, mögen sie oft nur zur Kontrastwirkung, zur Charakte¬ 
ristik der sozialen Sphäre oder als treibende Kräfte der äußeren 
Vorgänge vom Dichter in sein Werk entsandt worden sein, haben alle 
eine so starke Lebendigkeit und Evidenz, daß sie wirklich mit einem 
weiterleben: sie geboren fortan zu den „persönlichen Bekannten“, 
man denkt an sie und kann von ihnen sprechen wie von wirklich 
Lebenden. Es gibt nicht viele Dichter, deren Gestalten so fest und 
so überzeugend lebensvoll im Raume stehen (wobei zunächst noch 
ganz davon abgesehen sei, was sie uns zu sagen haben); die mit 
solcher Kraft die Gegenwart vor uns, mit uns leben. Nicht nur 
innerhalb der „Handlung“. Ihr Vorher und Nachher ist uns, ohne 
daß irgendwie darüber umständlich gesprochen würde, vollkommen 
diaphan. Oft hat man den Eindruck, daß sie über den Willen ihres 
Schöpfers hinaus ihr Eigenleben führen, nicht immer so, wie er es 
bestimmt hatte. (Schnitzler selbst hat dieses Gefühl in der wunder¬ 
lich geistreichen Groteske „Vom großen Wurstel“ ausgedrückt.) Immer 
aber sind sie voller Wirklichkeit, keine Schreibtischgeschöpfe, atmende 
Wesen von äußerster Bestimmtheit des Charakters und mit allen 
Widersprüchen, Untiefen und Rätseln der menschlichen Seele. Dieses 
Eigenleben seiner Gestalten ist einer der stärksten Reize des Dichters 
Schnitzler. 

Seine Landschaft: Wien und der Wiener Wald, fast hätte ich 
gesagt: das Wien Heros und Leanders; solch ein Hauch von un¬ 
schuldiger Leidenschaft und zarter Sinnlichkeit ist seine Atmosphäre. 
Im übrigen, es sind nur Teile von Wien, die in Schnitzlers Dichtung 
lebendig: die grünenden Vorstädte, die Hänge des Kahlenbergs, die 
Weinländen Grinzings, die Waldungen der Sofienalpe und der stille 
Sommenheidenweg, der von alten, gleichsam vergilbten Landhäusern 
über die hügeligen Höhen in liebliche Einsamkeiten führt. Sonst aber 
ist eigendlich nur die „innere Stadt“ Wiens zum Schauplatz Schnitz- 
lerscher Werke geworden; nicht die Arbeiterviertel und die Geschäfts¬ 
plätze, die lärmenden Märkte und die Bankpaläste, sondern die alten, 
vornehmen Straßen mit den unscheinbaren Häusern, in denen dann, nach 



4P* 


Richard Specht, Arthur Schnitzler 

einem Aufgang Aber dumpfige, gewundene, ausgetretene Stiegen weite, 
schone Wohnräume überraschen, mit edlen, dunklen Bildern, ziervollen 
Porzellanvitrinen, schweren Teppichen und Vorhängen, gewichtigen, 
breiten, luxuriösen Biedermeiermöbeln und (manchmal) Makartbuketts 
in den Ecken, hinter einer Büste oder Konsole. (Das Makartbukett 
spürt man hie und da bei ihm auch in Werken von „modernem 
Komfort“.) Der kühle Duft der Kirchen, verlassene, brunnendurch- 
rauschte Plätze, winklige Höfe mit fuchsienbewachsenen Fenstern, 
offenen Holzstiegen und efeuumschlungenen Gängen, über deren 
Geländer Teppiche und Wäschestücke hängen, eine grüne Pumpe mit 
knarrendem Schwengel in der Mitte und ein paar verstaubten Oleander- 
bäumen, einsame Gärten, die wie ein Schubertlied wirken, beglückend 
und traurig zugleich, trauliche kleine Häuser, aus deren Fenster manch¬ 
mal liebe, blonde Mädchenköpfe spähen und-Aber eigentlich 

sind das gar nicht Schnitzlers „Schauplätze“, die ja zumeist viel ele¬ 
ganter und mondäner sind (dabei gar keine k. k. Eleganz haben, 
sondern die echte der alten Kulturen) und vor allem viel moderner 
sind — und doch hat man, wenn man seiner Dichtungen gedenkt, 
zunächst nicht die Vorstellung der „wirklichen“ Milieus, sondern 
eben die jener ganz und gar wienerischen Atmosphäre, die gleichsam 
als sublimierte Musik dieser Stadt und ihren Menschen und Häusern 
wunderlich reizend zu eigen ist Dies sind die Kulissen zu diesen 
Puppenspielen und Mysterien der Seele, und sie werden nicht vor¬ 
lauter, als es sich gehört: nicht auf sie kommt es an (sogar wenn 
sie in irgendeinem Sinn „mitspielen“ dürfen), sondern auf das Stück 
selbst, bei dem es ja auch beinahe gleichgültig wird, was sich äußer¬ 
lich darin begibt; nur die inneren Vorgänge sind wichtig, die 
Krankheiten, Heilungen oder das Sterben der Gefühle, die Schattierungen 
der Seele, die Zwischenstufen und Zwischenspiele, die Ambivalenzen 
des Gemüts, das Wissendwerden um Unaussprechliches. Daß Arthur 
Schnitzler einer der wenigen ist, der all dies Unsagbare doch zu 
sagen oder doch spüren zu machen weiß, daß er ein Auf hellender 
ist und Menschen von heute viel Aufschlußgebendes über sie selbst 
zum erstenmal gesagt hat — das ist seine Bedeutung für die Dichtung 
unserer Tage. Daneben wirken die Anlässe und Stofflichkeiten selber 
beinahe sekundär; man könnte sie preisgeben. Ich gebe sie nicht 
preis. Keineswegs. Denn es sind Köstlichkeiten, Dokumente (oft 
auch solche des Dichters: Auflehnung gegen das Theater im Theater¬ 
spiel und wieder ein Kapitulieren vor seinen holden Attrappen), 



4?» Richard Specht , Arthur Schnitzler 

sind äußerst feine Marionettenhantierung, geistreiche Lebensausschnitte 
mit den seltsamsten Schnittpunkten der Schicksalslinien, sind Ergiebig¬ 
keiten eines Fabulierkünstlers, der gleichzeitig ein Ordner und Verein- 
facher ist (wenn er auch manchmal hinterher zu komplizieren scheint). 
Ich gebe sie nicht preis, keineswegs und am wenigsten den Bausch¬ 
und Bogenschützen der Kritik. Aber sie machen nicht seinen Wert 
aus. Wenn auch einen seiner starken Reize. 

Seme Welt: das weite Land der Seele. Gewiß nicht nur jene 
Welt, in der man sich nicht langweilt, jene Welt, die schon mehr 
„monde“ ist (denn auch das gehört nur zur Peripherie seines Wesens, 
nicht zu seinem Zentrum). Aber auch darauf kommt es nicht an. 
Nicht auf die soziale Welt; nicht einmal auf die Gegenden der Seele. 
Sondern auf den, der sie bereist. Sondern auf den, der auf ihr ruht. 
Sondern auf den Blick, der auf ihr ruht. Sondern auf die Hand, die 
sie gestaltet^ auf den, der ein Mehrer unseres Wissens um uns selbst 
ist und uns die Empfindung gibt, daß hier, im Abbilden von Menschen, 
die uns als solche vielleicht wenig angehen, von einer Welt, die 
vielleicht nicht die unsere ist (oder es nicht mehr ist), doch unsere 
Sache verhandelt wird. Und nur unsere Sache. Mea res ... Das hat 
Schnitzler getan. Er ist ein Mehrer unsres Wissens um uns selbst 
Sogar wenn er in Renaissanceszenen Dolche zücken, Giftbecher trinken, 
Menschenleiber verstümmeln läßt Sogar wenn ein mittelalterlicher 
Arzt Wunder der Hypnose verrichtet oder wenn Spiel und Dasein, 
Komödiantenkniffe und blutige Wahrheit ineinandergreifen, während 
Revolution gemacht und die Bastille gestürmt wird. Unsere Sache. 
Das ist sein Wert. Daß er geheimste Regungen ans Licht gehoben 
hat, die bisher nicht im Bewußtsein waren und daß er es mit so 
zarten Fingern getan hat wie kaum einer zuvor. Daß er, auch in 
scheinbar nichtigen Stofflichkeiten, immer wieder Ausblicke frei gemacht 
hat: ins Geistige, ins Ewigmenschliche, ins Ewigtierische. Daß er 
Werte verschoben, Wichtigkeiten gesehen und Nichtigkeiten entlarvt, 
Zusammenhänge des Lebens aufgedeckt, die feinen Ursachen grober 
Schicksalskomödien gezeigt hat Daß er gar keine Symbole braucht, 
um einen Lebenssinn darzustellen (ja, nicht einmal „Problähme“, sogar 
wenn er sich manchmal um welche müht und dann oft konstruiert, 
statt zu gestalten). Einfacher: daß er ein Dichter ist Und einer, 
der zu Menschen von heute spricht. Selbst dann, wenn er von 
Menschen spricht, die von gestern sind. 



4 91 


Richard Specht, Arthur Schnitzler 

Er entblättert ererbte Begriffe, entfärbt sie von allen Wichtigkeiten, 
zeigt ihre Wesenlosigkeit und ihren Schein und streut sie gleich 
welkem Laub hin. Treue, Gesinnung, Mut, Beständigkeit der Ge¬ 
fühle, Vaterlandsliebe, Gemeinschaftsempfindung, Freundschaft — unter 
einem scharfen Blick werden all die großen Worte klein und ihres 
Pathos beraubt, und was noch von ihnen standhält, wird zu Regungen 
des Selbsterhaltungstriebes entwertet oder als Selbsttäuschung enthüllt. 
Wenigstens soweit es die Menschen der Gesellschaft betrifft, die 
Schnitzler gestaltet. Denn manchmal schimmert in all diesen Szenen 
und Erzählungen eine andere Anschauung durch und nicht nur die 
Sehnsucht nach einem ethischen Imperativ und nach Geschöpfen, die 
sich unter ihn gestellt haben, sondern auch die Möglichkeit eines 
richtigeren, weniger egoistischen, mehr von innerer Wahrheit und von 
Echtheit des Fühlens als vom Geist und von der Gesittung beherrschten 
Lebens. Dichtungen einer Übergangszeit; Vorzeichen einer neuen flir 
den, der das zweite Gesicht und das zweite Gehör für die Imponde¬ 
rabilien dieser schwermütig reichen Werke hat und der hinter ihre 
Vordergrundsprobleme horcht und schaut . . . Dinge von morgen, 
ahndevoll an Dingen von gestern gezeigt... 

Noch Schnitzlers Großvater (nicht mehr sein Vater) hätte bei der 
Erörterung solcher Fragen vermutlich gesagt: machen Sie Schabbes 
damit. .. Dieser Großvater (der übrigens Zimmermann hieß — erst 
sein Sohn wurde zu der Namensänderung in „Schnitzler“ angehalten, 
und es wirkt fast symbolisch, daß der Enkel etwas von beidem hat: 
vom dramatischen Zimmermann und vom Schnitzler von Gedanken- 
und Gefühlsarabesken) — dieser Großvater hätte anders recht gehabt, 
als er meinte; denn heute machen wir wirklich „Sabbath“ damit — 
es ist uns ein Fest, nicht nur müßiges Spintisieren in freien Feiertags¬ 
stunden, diesen feinen, rätselhaften Dingen nachzuspüren, die mit 
solchem Seher- und Versteherblick hier ans Licht gehoben werden. 
Denn gerade darin, nicht im Parfüm einer mondänen Erotik, nicht 
in der Schilderung einer absterbenden Gesellschaft und ihrer Expo¬ 
nenten, sondern im Erfühlen und Aussprechen seelischer Subtilitäten, 
die vor ihm keiner in Worte und Stimmungen gebracht hat, liegt, 
neben seiner besonderen Kraft im Formen lebendiger Geschöpfe, die 
fortan zu uns gehören, die Bedeutung Arthur Schnitzlers. Und darin 
ist er ein bereichernder Wert. 



494 Richard Specht, Arthur Schnitzler 

Niemals hat er aufgehört, sich als Arzt zu fühlen. Nur nebenbei 
bemerkt: wie bezeichnend es für die ewig wache Lust an schaden¬ 
froher Verkleinerung und an mißtrauischem Zweifel ist, dafi man 
einen Arzt, der „auch“ dichtet, ebensowenig ernst nehmen wollte 
(und will) als einen Dichter, der dazu noch ein Arzt ist. Und ein 
scharfblickender, verstehend kluger, schöpferischer dazu, der nicht am 
Lehrbuch klebt, sondern der seiner lebendigen Erfahrung und seiner 
Empfindung für individuelle Physis und Psyche folgt. Solch ein 
wirklicher Arzt war Arthur Schnitzler und ist es noch: ich darf es 
aus eigensten Erleben feststellen. Das wird keinen flberraschen, dem 
es klar geworden ist, dafi es ja Oberhaupt keinen Beruf gibt, der 
ohne produktive Begabung, ja ohne eine Art kfinstlerischer Fähigkeit 
zu Vollkommenheiten gelangen kann; ideale Schuhe, die dem Fufi 
die rechte Form geben und den Gang beflügeln, wird nur ein Schuster 
schaffen, der irgendwie intuitiv und in voller, erfinderischer Freude 
an seinem Handwerk arbeitet; die andern sind eben nur — Schuster. 
Und wenn ein produktiver Mensch sich (nicht aus äufierlicher Not, 
sondern aus innerem Getriebensein) vielfach betätigt, so wird eben 
alles, was er arbeitet, nur verschiedenartiger Ausdruck des gleichen 
Wesens sein; das Spezialistentum ist nur eine unerfreuliche Folge 
unserer Soziologie geworden. In diesem besonderen Fall aber steht 
es obendrein so, dafi der Arzt und der Dichter einander immerwahrend 
befruchtet haben, dafi der diagnostische Blick, die psychologische 
Bravour des Erzählers und Dramatikers dem Stflck Arzt in ihm xuzu¬ 
messen sind und dafi die Intuition, das Verständnis für alles Mensch¬ 
liche, für alle Komödien und Tragödien des Lebens und Sterbens und 
Leidens, das die viel zu wenigen, die Arthur Schnitzler als Art 
kennen lernten, in dankbarem Erinnern tragen, des Dichters Teil ist 
(Sofern hier Oberhaupt Grenzscheidungen vorgenommen werden 
können.) Sicher ist, dafi Schnitzler zeitlebens ein Heimweh nach dem 
Arztberuf nicht überwunden hat; dafi er heute noch, wenn er den 
stillen, abgeschiedenen, fliederdurchblühten Hof des Allgemeinen 
Krankenhauses durchschreitet, auf dem man unwillkürlich wie auf 
Fufispitzen geht, immer noch das GefOhl hat, dafi hier sein eigent¬ 
liches Zuhause sei. Und auch, wenn man mit ihm über seine Gestalten 
spricht, hat man oft nicht nur die Empfindung, dafi man mit ihrem 
Schöpfer debattiert, sondern dafi man ihren Hausarzt befragt, der 
nicht nur Ober das Seelische, sondern auch Ober ihren körperlichen 
Habitus, Ober ihre kleinen Gewohnheiten und Defekte, ja ebenso 



Richard Specht, Arthur Schnitzler 495 

Ober die Prognose des Künftigen genauen Bescheid weiß. Wobei 
es ja merkwürdig ist, daß — ich sage es immer wieder — all diese 
Gestalten derart mit einem leben, so intensiv und und so fest im 
Raume stehen, daß man sich wirklich wie Ober persönliche Bekannte, 
über ihr Vorher und Nachher, nicht nur über ihr Gegenwärtiges, 
unterhalten kann und daß das einen besonderen Reiz hat. Davon 
noch in anderm Zusammenhang; so wie der ärztliche Einschlag in 
diesem Dichterwerk noch im einzelnen festzustellen sein wird. Nicht 
nur in der Meistererzählung „Sterben“, die ja eigentlich eine ideale 
„Krankengeschichte“ ist, wunderbar exakt bei allem dichterisch Ge¬ 
schauten, Gestalteten, Erfühlten, aber ganz von der ruhigen Präzision, 
mit der ein „Fall“ im Klinischen Journal behandelt sein sollte, wenn 
andre etwas Wahrhaftes daraus erfahren sollen. Ich weiß, daß das 
extrem ausgedrückt ist, und tatsächlich ist diese schöne, unverschnörkelt 
einfache, oft bis zum Peinigenden wahrhafte Erzählung in ihrer 
Menschengestaltung und ihrer Landschaft so ganz und gar dichterisch, 
daß alles psychologisch Analytische daran und alles gleichsam wissen¬ 
schaftlich Referierende nicht erkältend wirkt; der „Fall“ ist von einem 
Arzt gesehen, aber von einem Dichter geformt. (Wiederum extrem 
formuliert, denn tatsächlich sind ja hier beide nicht zu trennen und 
nicht abzugrenzen: Schnitzler ist schließlich nicht links der Arzt und 
rechts oben der Dichter und unten der weltmännische Lebemann 
Anatol — obwohl manche sich das so vorzustellen scheinen.) Aber 
auch in anderen Werken ist vor allem der Arzt schöpferisch geworden: 
im „Professor Bemhardi“, im „Paracelsus“, in der Novelle „Doktor 
Gräsler, Badearzt“. Nicht als ob einem Schriftsteller von starker Kraft 
der Beobachtung und Einfühlung das Stoffliche an ihnen, das Milieu, 
ja die Einzelheiten der Gestaltung nicht glücken konnte, auch wenn 
er nie das Doktordiplom erworben hätte; aber das Hintergründliche 
daran, die berufliche Physiognomik sozusagen und die geistigen und 
menschlichen Charakterzüge, konnten nur einem Wissenden gelingen, 
dessen Liebe seinen bösen Blick geschärft, seinen guten Blick ge¬ 
weitet und der zu alledem zum Humor des lächelnd Abseitsstehenden, 
resigniert Betrachtsamen sich hinaufgefunden bat. Wie groß diese Liebe 
zu dem innerlich aufgegebenen Beruf ist, zeigt sich auch in der auf¬ 
fallenden Tatsache, daß es nur wenige Stücke von Schnitzler gibt, in 
denen nicht der Gestalt eines Arztes eine wesentliche Rolle zugeteilt 
wäre und daß unter diesen vielen — von dem ganzen Kollegium im 
„Professor Bernhardi“ vollkommen abgesehen — nur zwei unsympathisch 



49 6 Richard Specht, Arthur Schnitzler 

sind: die des Ferdinand Schmidt im „Vermächtnis“, der aber an sich 
eine mißglückte Figur ist, in der Schablone des Theaterintriganten 
erstarrt, beinahe persönlich animos gezeichnet, nicht nur einer der 
gütelosen, brutalen Mediziner, denen ihr Beruf nur ein Geschäft ist, 
sondern nicht einmal das; er wirkt so wenig „ärztlich“, daß es bei¬ 
nahe verwunderlich ist, daß Schnitzler ihm nicht lieber einen anderen 
Beruf zugeteilt hat. (Und ist, nebenbei, so verwandt mit dem Arzt in 
Saltens „Emst des Lebens“, daß man beinahe versucht wäre, an eine 
Anregung durch das gleiche Modell zu glauben.) Und dann ist da 
der verbitterte, tückisch gewordene, hinterhältige Dr. Eckold in der 
„Stunde des Erkennens“ (Komödie der Worte), der so kalt und höh¬ 
nisch den Ehebruch seiner Frau rächt und diese Rache „genießt** — und 
der schließlich doch in seiner Kleinheit unterliegt, weil ihm eben das 
Beste des Arztes fehlt: das Erkennen und Verstehen. Sonst aber ist 
es eine famose Galerie von gütigen, feinen, liebreichen und seelisch 
taktvollen Menschenexemplaren, die Schnitzler in seinen Dramen als 
Berufsgenossen hingestellt hat: von dem liebenswürdigen, wenn auch noch 
ein wenig blaß und unbestimmt konstruierten Dr. Weidner im „Frei¬ 
wild“ und dem mit zwei Strichen glaubhaft gemachten Dr. Bernstein im 
„Vermächtnis“ bis zu dem netten Dr. Halmschläger der „Letzten Masken**, 
dem erschütternden Sonderling im „Medardus“, den beiden noblen, 
schwermütig lebensabgewandten, nur mehr in ihrer Arbeit ruhenden 
Professoren in der „Gefährtin“ und in „Stunde des Erkennens“ (die 
einander irgendwie ähnlich sind), den nicht ganz erfreulichen, ein 
wenig komödiantischen Episodisten in der „Gefährtin“ und wieder 
den eitlen, sonoren Doktor in der Erzählung „Der Tod des Jung¬ 
gesellen“, bis zu den ärztlichen Prachtgestalten des wissenden, mensch¬ 
lich warmen, klugen und verstehenden Arztes im „Ruf des Lebens“, 
des äußerlich unscheinbaren, aber innerlich reichen, verläßlichen, wahr¬ 
haften Dr. Mauer im „Weiten Land“, des zartfühlenden, resignierend 
bescheidenen und doch seines Werts bewußten Dr. Reumann im 
„Einsamen Weg“ und gar der beiden jüdischen Ärzte im „Weg ins 
Freie“: des alten Dr. Stäuber, zu dem offensichtlich ein berühmter 
Wiener Internist aus der Oppolzer-Schule Modell gestanden ist: ein 
milder, weiser, gütiger Gelehrter, reif und abgeklärt, selbstlos und väter¬ 
lich — am wenigsten vielleicht gegen den eigenen Sohn, der aggressiver 
ist, zwiespältig, ohne Wohlwollen, zwischen Medizin und Politik 
schwankend, bitter geworden und doch schließlich zu einer Synthese 
seines Wesens gelangend. Damit aber ist die Reihe noch nicht 



Richard Specht, Arthur Schnitzler 497 

erschöpft, auch wenn die absonderlichen Kopfe nicht in Betracht ge¬ 
zogen werden, die der Ärztekomödie „Professor Bernhardi“ soviel 
Lebendigkeit geben: der junge Dr. Alfred in „Sterben" zum Beispiel, 
noch nicht so eingehend gestaltet wie die späteren, mehr plakatiert, 
aber sehr sympathisch in seiner Sicherheit, Frische und Wärme; sein 
Namensvetter, der in der „Gefährtin" eine etwas klägliche Rolle 
spielt und (es ist bezeichnend) wieder just kein Arzt sein müßte, er 
hat gar keine beruflichen Spezialzüge; der Gatte in „Die Toten 
schweigen", den ich mir so vorstelle wie den alten Dr. Stäuber in 
jüngeren Jahren; der geschniegelte, weltmännische Professor im „Weg 
ins Freie", der dreist zugreifende junge Doktor in „Frau Beate und 
ihr Sohn" und dazu noch ein paar unwesentliche Nebenfiguren, die 
diese stattliche Gilde vervollständigen. Und drei Hauptfiguren Paracelsus, 
Bernhardi, Gräsler, von denen im Zusammenhang mit der Betrachtung 
der Werke gesprochen werden soll. 

Daß alle dichterische Gestaltung Abspaltungen des eigenen Ich 
bedeutet, kann kaum deutlicher werden als durch die Tatsache dieses 
Reichtums an Menschenexemplaren, die alle dem Berufe angehören, 
dem der Dichter entsagen mußte. Hier waltet weder Zufall noch 
Bequemlichkeit der Wahl, sondern Notwendigkeit Der Arzt Arthur 
Schnitzler, der in seinem Werke schon durch die ganze Art der 
Betrachtung, der Seelenenthüllung, der Weltanschauung und sogar oft 
des besonderen Tons spricht, hat sich zu alledem in einem ganzen 
Zug von Gestalten exemplifizieren müssen, in denen er sein eigenes 
unterdrücktes Leben fortlebt. Ja ich glaube: erst in dem Augenblick, 
in dem Schnitzlers Arzttum sich in Dichtertum umgesetzt hat und 
eins mit ihm geworden ist, hat er wirklich schöpferisch werden 
können. Bis dahin, solange er den Arzt verleugnete und gleichsam 
vor ihm versteckt schriftstellerte, war er Epigone, hat heinesiert, 
gegrillparzert, gehebbelt, französelt; dann erst, als er sich selber nicht 
in Kategorien teilte, sondern als Ganzer seiner selbst bewußt wurde, 
konnte er der werden, der er ist. Daß diese Selbsterkenntnis mit 
Erlebnissen zusammenfiel, die ihn wachrieten, Intensität des Gefühls 
entzündeten und gleichzeitig die Kraft der Wahrhaftigkeit, des Ein¬ 
stehens für sein Ich und die Wertlosigkeit jeder Pose vor sich und 
anderen, den Mut, sich zu bekennen, — und ebenso, daß er gerade zu 
jener Zeit die Freunde und Gefährten fand, deren Umgang für ihn 
gleichsam ein geistiges Training bedeutete und dazu jene Kontrolle 
und das Korrektiv, deren jeder in den Perioden der Selbstausprägung 



49 8 Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

bedarf — das liegt in der Linie des Schicksalmäßigen, die sich in 
jedem Leben erwählter Menschen zeigt und die nur Kurzsichtige und 
Leichtfertige mit Zufallsfügungen und blindem Ungefähr verwechseln 
können. Mehr als das: wo immer sich diese Gesetzmäßigkeit des 
Erlebens zeigt, das immer wiederkehrende Wunder, daß zur rechten 
Stunde der rechte Mensch, das rechte Buch, das rechte Ereignis als 
Hilfe in einer geistigen oder materiellen Not kommt, aus der es 
kaum mehr Rettung zu geben schien — dort wird man, ohne fehl 
zu gehen, auf den Wert und das Berufensein des Menschen schließen 
dürfen, dem dies begegnet. Jedes Leben steht unter einem Plan. 
Aber er ist nirgends so überwältigend sichtbar wie im Leben der 
Männer, die zu geistigem Schaßen bestimmt and. Schnitzler ist sogar 
darin zu sehr Arzt, um derlei zuzustimmen. Es bleibt trotzdem wahr. 
Auch fllr ihn. 

(Aus dem Bache: Arthur Schnitzler von Richard Specht, du in Kürze im Verlage 
S. Fischer, Berlin erscheint). 


ARTHUR SCHNITZLER 

ZU SEINEM SECHZIGSTEN GEBURTSTAG 
(iy. Mai 1922) 

I ch saß wieder einmal im „Weiten Land". Ich fühlte mich un¬ 
gewohnt behaglich. Ich beneidete diese Zeit und diese Dichtung 
um ihre Freude am Leben, auch am schmerzlichen, um ihre gefühl¬ 
volle Bejahung, um das Glück, das sie fand und das sie brachte. 
Wußten wir das damals? Wir waren so unpolitisch und unproblematisch. 
Wir haben jetzt viele Politiker, die die Menschen glücklich machen 
wollen, jedoch unglücklich machen, weil die Menschen so beschlagen 
oder brutal and, daß sie nicht einsehn: von morgen ab konnten sie 
glücklich sein, wenn sie nur ernstlich wollten. Wir haben viele 
Dichter, die sich den Kopf und den Stil über selbstgeschaßene Probleme 
der Schuld und des Unglücks zerbrechen. Aber wir haben die Freude 
verloren. Sein Werk ist eine Walzerkette, mit dem Tropfen Melan¬ 
cholie, der darin wienerisch tränt Die Träne ist geblieben, das Glück 
ist dahin. Mit dem Wunsche nach Glück stehen wir heute gerade 
vor ihm. Das ist unser Glückwunsch, in einem sehr wahren Sinne 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 499 

des Wortes. Nicht Kritik, nicht Zeitgrenze, sondern es ist ein 
moralischer Instinkt. Darf ich mit diesem Präludiumwunsch nach 
Glück die Festreden aus dem Kreise unserer Zeitschrift, die für ihn 
Heimatboden war, eröffnen? OSKAR BIE 

Ich schrieb einmal, vor Jahren, an Arthur Schnitzler: Es gibt keine 
drei Dichter, denen ich als Schriftsteller mehr zu verdanken hätte als 
Ihnen, und keinen einzigen, dem ich, was ich ihm verdanke, lieber 
verdankte. 

Mag dies auch nur eine persönliche Bemerkung und als solche, 
was mich betrifft, völlig bedeutungslos sein, so hat sie doch in bezug 
auf Schnitzler eine weiterreichende und tiefer begründete Bedeutung. 
Denn in der Lage, in der ich mich bei jenem Geständnis befand, 
dürfte sich ein namhafter Teil des österreichischen wie auch des 
deutschen Schrifttums ein gestandener-, zum Teil auch uneingestandener¬ 
maßen befinden. Die österreichische Literatur, das österreichische 
Theater zumal verdankt einem Dichter, den man an seinem Jubiläums¬ 
tage den größten österreichischen Dramatiker seit Anzengruber nennen 
wird — und der es auch ist — natürlich unendlich viel. Wieviel, mag 
derjenige, der die kritische Wage schwingt, haargenau bestimmen oder 
abschätzen. Aber nicht darauf allein wird es bei dieser Bestimmung 
ankomnen, wieviel Gewichte er hierzu benötigt, sondern auch auf 
jenes kleine Übergewicht der Sympathie, das der Blick des Wägenden, 
demjenigen des Dichters begegnend, seinem reichen Werk aus freien 
Stücken zulegt. Es gibt zwar keine Dankbarkeit in der Literatur, 
aber es gibt noch immer, in seltenen Fällen, Liebe. Und sie sich 
gewonnen haben, ist auch Talent und vielleicht noch etwas mehr 
als Talent raoul auernheimer 

Was meinst Du, lieber Arthur, wieviel wird in hundert Jahren von 
Dir noch am Leben sein? Und wieviel von mir? Wie viel von uns 
allen? Du fragst vielleicht, ob ich Dich das grad an Deinem sech¬ 
zigsten Geburtstag fragen muß, aber kannst Du Dich erinnern, daß 
ich je schicklich war? Und Du wirst auch gleich sehen. Du kommst 
bei meiner Frage weit besser weg, als Du vermutest; ich fürchte: 
besser als irgend einer sonst von uns! Es sieht dir ja nicht gleich, 
anzunehmen, daß Du zeitlose Werke geschaffen hast, ewige, wie man 
die nennt, mit denen nach Jahrhunderten noch die Schuljugend so 
geplagt wird, daß auch der Erwachsene, wenn er den Namen hört 



joo Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

im ersten Schreck sie zu kennen verlogen vorgibt. Wer sich aber 
nicht schmeichelt, den kommenden Generationen solche Qualen be¬ 
reitet zu haben, wovon soll er sich Nachruhm erhoffen? Warum soll 
in hundert Jahren jemand uns lesen? Was wird denn in hundert 
Jahren Oberhaupt sein, dort wo wir jetzt sind, wo vor einiger Zeit 
noch unser altes Österreich war? Nun, ich vermute: da wird in 
hundert Jahren wieder jenes Österreich sein, wenn auch vielleicht ein 
bißchen anders, ein bißchen verrückt, nämlich mehr nach Osten, viel¬ 
leicht auch unter einer anderen Firma, wahrscheinlich unter einem 
anderen Namen, ich denke, daß es Böhmen heißen wird, den heiligen 
Benes wird es als Erzvater verehren, und dieses neu betitelte Reich, 
als Eckfenster Europas, wieder für die Länder des Abendlands genau 
so wichtig, geheimnisvoll und unverständlich, wie es unter dem alten 
Namen war, wird nun, gerade weil es auf seine neue Form sehr stolz 
sein wird, das Bedürfnis aller neuen Formen haben: sich mit Ahnen 
zu versehen und sich möglichst weit zurückzudatieren; es wird leiden¬ 
schaftlich historisch gesinnt sein. Und in seiner Urgeschichte wird 
das letzte Kapitel, bevor das Erwachen der Menschheit beginnt, ja von 
uns handeln: denk Dir, wie ungeheuer interessant wir dann sein werden, 
als die letzten Stammväter, um die gleichsam der Urwald noch rauscht! 
Und wenn man dann die Sitten, Denkweisen, Lebensarten des sanften 
Abendrots, in dem das Österreich der Vorwelt verglomm, durchforscht 
haben wird, wird man sich an den Künstler halten, der jenes Abend¬ 
rot von 1890 bis 19ZO am reinsten zu spiegeln scheint. Und der, 
lieber Arthur, bist Du! (Denn ich selber komme ja da schon deswegen 
nicht in Betracht, weil ich das Abendrot für einen Sonnenaufgang 
hielt; ich muß mich im besten Fall mit der Unsterblichkeit eines 
Spaßvogels begnügen, zum Gaudium der Enkel.) Du hast, wie kein 
anderer unter uns, den letzten Reiz des verschimmernden Wien mit 
zarter Hand gefaßt. Du warst der Arzt an seinem Sterbebett, Du hast 
es tiefer geliebt als irgend einer von uns, weil Du schon wußtest, 
daß keine Hoffnung mehr war: gerade die namenlose Melancholie, 
die mich zuweilen ungeduldig gegen Deine Werke, ja fast mit Dir 
selbst werden ließ, sichert Dir ihre Zukunft: als ein rührender Ab¬ 
schied von Österreich leben sie, so lang ein dankbares Erinnern an 
die Kaiserstadt nicht ganz erloschen sein wird. Du bist der letzte 
Dichter ihrer Agonie gewesen. 

Unter den Plänen der Zeit, in der es fast aussah, als ob ich etwas 
wie der Burgtheaterdirektor wäre, war auch der einer neuen Inszenierung 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 501 

Deiner „Liebelei“, nämlich „im Kostüm“: die Dekoration des ersten 
Aktes genau nach der Einrichtung Deiner Junggesellenwohnung von 
189z kopiert, das Zimmer des zweiten und dritten in der gewissen 
vorstädtischen Mischung von ein paar ererbten echten Biedermeier- 
stücken mit scheußlichster billiger nachgemachter Tapezierherrlichkeit 
aus den siebziger Jahren; und alle durchaus in der Tracht nach der 
Mode von damals, viel „echter“ als in der Premiere, zu deren Zeit 
Regisseure derlei „Nuancen“ noch gar nicht oder ganz fälsch verstanden. 
Hätte ich heute beim Theater noch was zu reden, ich würde Dir 
zu Deinem Sechzigsten eine ganze Reihe Deiner Stücke so, mit dem 
Wohigeruch ihres Augenblickes, Vorspielen, sie müßten, wenn man 
ihnen ihr Alter gibt, auf einmal wieder ganz jung sein. Du selbst 
aber wirst, wenn sie sich Dir einst in ihrer zweiten und dritten oder 
(haben wir denn nicht noch so schrecklich viele Geburtstage vor 
uns?) vierten Pubertät zeigen, staunen, welch unverwüstlich lebendiger 
Ausdruck und Abdruck jener sterbenden Zeit sie bleiben! 

HERMANN BAHR 

Wienerisches in den letzten Zügen, die ein leichtes Rot auf die 
Wangen schminken. Verklingen des letzten Straußwalzers in schon 
ansetzendes Klappern des Xylophons. Duft, dem die Kunst schon 
etwas nachhelfen muß, damit man ihn noch wahrnimmt. Graue, die 
sich bereits in Erschlaffung auflöst: diese für Wien eigentümliche 
künstliche Natur ist, scheint mir, in Schnitzlers Arbeiten aufgefängen 
und festgehalten, vielleicht auch für spätere Geschlechter, so wenig 
monumental Schnitzler sich auch hat, dieser etwas ironische Sentimentale. 
Ein kritischer ästhetischer Rigorismus würde hier mit falscher Wage 
wägen, unpassendem Maß messen. Es ist schon viel, die Gesellschaft 
seiner Zeit nie gelangweilt, aber immer interessiert, nie belogen, aber 
immer geliebt zu haben. 

FRANZ BLEI 

Arthur Schnitzler erleidet das Leben: den Zauber kurzbemessenen 
Daseins, der Jugend, der Liebe, der Freundschaft, die Schönheit un¬ 
vergänglicher Kunst; er erleidet es mit jener Süße der Schwermut, 
die wir aus der Melodie seines Werkes kennen. 

Arthur Schnitzler erleidet die Welt: das Unrecht in jeder Stunde des 
Lebens, von Menschen am Menschen begangen, von Machthabern aus 
Mißwollen und Unverständnis verübt; die Beschränktheit ahnungsloser. 



joi Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

in Konvention verstrickter, Menschen; sie haben seine Sprache ge¬ 
schärft, seinen Dialog geschliffen. 

Schnitzler prägt keine engumrissenen Charaktere; seine Gestalten ent¬ 
hüllen sich aus der Fülle ihrer Problematik, aus unverschuldeter Schuld 
vor unseren Augen. Schicksalgebundene Menschen als Produkt ge¬ 
sellschaftlicher Zustände bevölkern das dramatische Werk Schnitzlers, 
und so keimzeichnet sich der Geist und das Ethos seines Schaffens 
nicht aus Widerstand gegen das Individuum als vielmehr gegen eine 
Gesellschaft gerichtet, der er mit bezaubernder Ironie begegnet 

Schnitzlers Werk, von warmer Menschlichkeit getragen, gliedert 
sich als Lebensbesitz seiner Ahnenreihe Turgenjew, Tschechow, Chopin 
an. Ihm. heute zu danken, hat der Mensch, der Freund und Verleger 
willkommenen Anlaß. s. FISCHER 

ipti scheint das Jahr der Sechzigjährigen zu sein, Schnitzler er¬ 
öffnet den — Reigen. Es ist zwar deutsch, selbst bei einer Gratulation 
seinen Vorbehalt zu machen oder gar eine Kritik zu schreiben, ich 
erlaube mir aber zu finden, daß das schlechter Geschmack ist Ent¬ 
weder schickt man einen ehrlichen Gruß oder schweigt 

Aber warum nicht den Gruß schicken? Er gebührt jedem, der 
etwas gab und sich sichtbar machte. Esprit de corps? Gewiß. Man 
muß den Geist der gemeinsamen Angelegenheit hüten. Man ehrt 
das, was man selbst für das höchste Gut hält, die Verwaltung der 
geistigen Dinge, indem man einen ehrt, der ein Verwalter war. 

Schnitzlers Tag fallt in eine für ihn ungünstige Zeit Sein Wien 
ist nicht mehr, und da wir nicht untergehen wollen, bestätigen wir 
mit einer gewissen Grausamkeit die Tatsache — wir sagen, was war, 
ist erledigt Wir fühlten schon vor dem Krieg, daß eine Gesellschaft 
sich zum Sterben anschickte. Man wird ohne große Mühe einmal 
aus Schnitzlers Werk die Ahnung dieses Sterbens herauslesen: nicht 
daß das seine Absicht gewesen wäre, er glaubte nur sich zu gestalten. 
Solche Verrückungen des Gesichtswinkels sind eine der merkwürdigsten 
Erscheinungen des geistigen Lebens, jeder von uns ordnet sich anders 
ein, als er eingeordnet wird. 

Auch in Deutschland gibt es viele Arten des Verhaltens zum Leben; 
die sogenannte wienerische ist eine Ergänzung der metaphysischen 
oder idealistischen oder knorrigen oder welche immer die eigentlich 
deutsche sein soll — eine Ergänzung, die nur ein Rassenfanatiker 
schelten könnte. Glauben wir doch nicht, daß wir, die heute von 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 503 

Ideen bewegt werden, keine Verwendung mehr hätten für die Eleganz, 
den gesellschaftlichen Charme, die Sinnlichkeit Schnitzlerscher Stücke 
und Romane. 

Die Melancholie Schnitzlers ist vielleicht zu unfrei, um sich bis zur 
Größe zu erheben, seine Ironie nicht schmerzhaft genug — aber Melan¬ 
cholie und Ironie sind da, also ist die Musikalität seines Werkes da. 
Und welch ein sauberer, ehrlicher Arbeiter. Es ist noch nicht sicher, 
bei welchem Kitsch die Revolutionäre enden werden, wir erlebten be¬ 
reits seltsame Wandlungen und mancher Aristophanes ist schon Sardou 
geworden; Schnitzler blieb sich treu. 

Und was seine Prosa betrifft, so mag es charaktervollere geben, 
aber keine reinere; man rechne ihn zu den Hütern der Sprache. 

OTTO FLAKE 

Die bleibende Bedeutung Schnitzlers scheint mir in dreierlei zu 
liegen. 

Zunächst hat er als einer der ersten den impressionistischen Menschen 
auf die Bühne gestellt; dieser impressionistische Mensch hatte den un¬ 
geheuren Vorsprung, nicht mehr aus einer oder aus zwei Seelen zu 
bestehen, sondern aus einem ganzen Gesellschaftsstaat von Seelen, die 
sich in steter Verschiebung und Gegeneinanderbewegung befinden und 
dennoch stets ein gesetzmäßiges und symmetrisches Gebilde hervor¬ 
bringen, ganz wie in einem Kaleidoskop. Um dies erkennen und ge¬ 
stalten zu können, muß man die Gabe besitzen, die Welt sozusagen 
mit Facettenaugen zu betrachten: als ein vielflächiges Gebilde, das 
zahllose Seiten und Ecken hat; und diese Gabe hat Schnitzler in 
hohem Maße bewährt. 

Sodann aber hat er, was mit dem ersten eng zusammenhängt, den 
Mut und die Kraft besessen, in die geheimnisvolle Dunkelkammer 
des menschlichen Unterbewußtseins hinabzusteigen und dort jene be¬ 
deutsamen und widerspruchsvollen Verschränkungen, Rückbeziehungen 
und Polaritäten aufzuspüren, deren Entdeckung sich an den Namen 
Siegmund Freuds knüpft. Man kann sagen: er hat bereits zu einer 
Zeit, als diese Lehren noch im Werden begriffen oder nur auf einen 
kleinen Kreis von Fachgelehrten beschränkt waren, die Psychoanalyse 
dramatisiert. 

Und schließlich — und das scheint mir das Wichtigste, obgleich es 
vielleicht manche für eine sekundäre und subalterne Funktion halten 
werden —: er hat in seinen Romanen und Theaterstücken das Wien 



5 04 Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

des Fin de siede eingefangen and für spätere Geschlechter konserviert; 
eine ganze Stadt mit ihrer einmaligen Kultur, mit dem von ihr ge¬ 
nährten und entwickelten Menschenschlag, wie er sich in einem be¬ 
stimmten Zeitpunkt der Reife und Überreife auslebte, ist durch ihn 
klingend und leuchtend geworden. Er hat damit für seine Zeit etwas 
ähnliches geleistet wie Nestroy und Schwind für das Wien des Vor¬ 
märz. Seine Werke sind ein unverlierbares Stück seelische Kostüm¬ 
geschichte. Er hat eine Art Topographie der Wiener Seelenverfassung 
um 1900 geschaffen, an der man sich später einmal zuverlässiger, 
reicher und genauer orientieren wird als an den dickleibigsten Kultur¬ 
historien. EGON FRIEDELL 

Arthur Schnitzlers warme und feine Begabung besitzt einen Zug, 
der in Deutschland selten ist, Grane. Es ist deutsche Grazie, keine 
französische. Seine Gestalten, sein Theater ist unaufdringlich bis zur 
möglichen Grenze. Man wird diesen deshalb manchmal ein wenig 
blaß anmutenden Schriftsteller immer wieder revidieren müssen, um 
die farbigen Reize und großen Schönheiten seines Werkes nicht zu 
verlieren und für den deutschen Dauerbesitz zu retten. Den Sinn für 
Schnitzler besitzen, heißt Kultur besitzen, und sich von Schnitzler 
angezogen fühlen, heißt die Kultur suchen. Es sollte vielmehr als es 
geschieht, Schnitzler gespielt werden. GERHART HAUPTMANN 

Schnitzlers Theaterstücke sind vollkommene Theaterstücke, gebaut, 
um zu fesseln, zu beschäftigen, zu unterhalten, in geistreicher Weise 
zu überraschen; sie tun dem Augenblik genug und vermögen noch 
nachträglich, das Gemüt und die Gedanken zu beschäftigen; ihre 
Handlung und ihr Dialog beschwingen einander wechselweise, die 
Charaktere sind vorzüglich erfunden, leben ihr eigenes Leben und 
dienen doch nur dem Ganzen. Wenn man diese Stücke auf der 
Bühne sieht, hat man das Gefühl: derjenige, der sie gemacht hat, ist 
auf den Brettern zuhause und hat keinen anderen Ehrgeiz, als durch 
das Theater zu wirken. 

Schnitzlers Erzählungen sind lebendig, spannend; sie haben immer 
das nötige Detail, aber nie zu viel davon, sie haben Psychologie, aber 
die Psychologie dient nur dazu, den Gang des Ganzen in einem 
reizenden Rhythmus bald zu verlangsamen, bald zu beschleunigen, de 
stecken voll Beobachtung, aber auch die Beobachtung ist dem eigent¬ 
lichen Reiz der Erzählung untergeordnet. Man hat das Gefühl, daß 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 505 

sie von einem Mann herrühren, dessen primäres Talent das Talent des 
Erzählens kurzer oder eigentlich mittellanger Erzählungen ist. In 
beiden Formen: Drama und Erzählung ist er durchaus ein Künstler, 
und war es vom ersten Tage an. Es ist ein erstaunlicher Gedanke, 
daß die kleinen Scenen aus dem Leben einer erfundenen Figur 
„Anatol“, die heute aller Welt in Europa und über Europa hinaus 
geläufig ist, und eine kurze in ihrer Art volkommen reife und meister¬ 
hafte Erzählung „Reichtum* 1 das erste waren, womit er vor so vielen 
Jahren henrortrat. 

Ihm sind alle Instrumente zu Dienst, die das Handwerk einem er¬ 
fahrenen und sehr nachdenklichen Künstler in die Hand gibt, um 
selbst den scheinbar unergiebigen Stoff ganz zu bezwingen und der 
Materie ihren inneren Reichtum zu entlocken. Keines davon gebraucht 
er mit größerer und reizvollerer Virtuosität als die Ironie. Je kühner 
er diese anwendet, je mehr er seinen Stoff und seine Motive mit ihr 
in die Enge treibt, desto weiter erscheint paradoxerweise sein geistiger 
Horizont. So würde ich sagen, daß neben der „Liebelei“, die eine 
Arbeit von ganz einziger Art ist, einige seiner kleinen Kunst¬ 
werke — Erzählungen oder Dramen — durch den Zauber der Ironie 
als die größten erscheinen. Ihnen allen wohnt nicht nur die An¬ 
deutung inne, daß der Schöpfer dieser kleinen Welten mehr von der 
Welt weiß, als er zu sagen vorhat — dies ist ein gewöhnlicher Reflex 
aller Ironie —, sondern auch dieses Besondere: man ahnt, er hätte 
noch mehr und vielleicht noch stärkeres zu geben, als ihm bisher zu 
geben gefallen hat oder gestattet war. Unter diesen Umständen kann 
man nicht vom Alter eines solchen Menschen sprechen, denn es ist 
durchaus möglich, daß ein solcher von einem Teil seiner Kräfte noch 
niemals sichtbaren Gebrauch gemacht und auch einen Teil seiner 
Jugend irgendwo zurückbehalten oder verborgen hat. 

HUGO VON HOFMANNSTHAL 

Arthur Schnitzlers Lebenswerk läßt sich nicht aus der öster¬ 
reichischen Dichtung, nicht aus der deutschen Literatur mehr hinweg¬ 
denken. Es ist in seiner Fülle, seinem dramatischen und epischen Ge¬ 
halt ein Bestandteil des deutschen geistigen Besitzes geworden. Das 
empfinden heute nicht nur seine engeren Landsleute. Uber seine öster¬ 
reichische Heimat hinaus wissen ihm Tausende und Abertausende für 
die künstlerischen Erlebnisse, die sie ihm schulden. Dank. Weil er 
Graue, Humor und schmerzhafte Melancholie besitzt, hat man ihn des 



50 6 jirthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

öfteren mit Maupassant verglichen. Nach meinem Gefühl zu unrecht 
Nur aus dem tiefen Grunde seiner Heimat ist sein Wesen und seine 
dichterische Art zu begreifen, gleichgültig ob er einem kulturellen oder 
erotischen Problem dichterische Geltung verschafft. Er gehört zu den 
Wenigen, die sich selbst die Treue gehalten haben unbekümmert um 
das Geschrei des Marktes. Wenn Nietzsche von südlicher Musik spricht, 
so darf man vielleicht bei Schnitzler von südlicher Dichtung reden. 
Bei allem Bekenntnisdrang, bei allem großartigen Ernste, der seinen 
Lebenswerken eigen ist, fühlt man sich noch beglückt durch eine 
Wärme, der nichts Menschliches fremd ist. 

FELIX HOLLAENDER 

Ich habe Schnitzler, vom allerersten Anfang her, begleitet und geliebt. 
Meine Sätze stehn in der „Welt im Drama“: Band 4 Seite 119—142. 
Band II, Seite 275—305». 

Er war ein Mehrer des Reichs: für die Frage der Vermischung 
oder Unvermischbarkeit zweier Seelen. 

ALFRED KERR 

Schnitzler: das ist überaus süßes Leben und das bittere Sterben¬ 
müssen. Schnitzler: das ist grausames Wissen um unsere Nichtigkeit 
zwischen den Abgründen und Schwermut über so vieles, das wir wohl 
vermocht hätten, aber versäumt haben. Schnitzler: das ist auch wieder 
Jubel, gehaltenes, zartes, mitleidendes Mitjubeln bei unseren vergäng¬ 
lichen Freuden, unseren Eintagsschönheiten, unserem Glück, über das 
kein Gott wacht. 

Veredeltes neunzehntes Jahrhundert ist Schnitzler, glaubenslos, einsam, 
resigniert und trotz allem heiter, warme Menschlichkeit im kalten 
Schicksal, gewitzter Geist mit so viel Anmut. Er ist beste Zeitseele 
und bestes Wien. So stellte ihn seine Stadt in sein Jahrhundert. So 
ward er Meister. HEINRICH MANN 

Ich bin der wiederkehrenden Gelegenheit froh, Arthur Schnitzler 
meiner alten und immer neuen Bewunderung zu versichern. Die 
Stunden, ich wiederhole es, die ich im Theater oder zu Hause im 
Lesestuhl mit der Anschauung seiner Werke verbrachte, waren solche 
künstlerischer Geborgenheit, unzweifelhaftesten Vergnügens, glücklich 
erhöhten Lebensgefühls. Vollendet österreichisch, ist er heute für 
jene seelische Sphäre in eine ähnlich repräsentative Stellung hinein- 
gewachsen, wie etwa Hauptmann für das Reich. Seine Schöpfungen 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 507 

besitzen allen Schmelz, alle Geschmackskultur, alle Liebenswürdigkeiten 
des Österreichertums; aber als ihr besonderes Charakteristikum er¬ 
scheint mir eine gewisse Lebensstrenge, die weh tut — und die wohl 
eigentlich nicht österreichisch ist. Hofmannsthal ist traumhaft intensiv, 
aber er hat nicht dies, und auch Altenberg hat es nicht. Es mag 
vom Ärztlichen herrühren, — das Unempfindliche, Unerbittliche. Es 
ist außerdem erotischer Ernst, die Lebensstimmung des Friedrich 
Hofreiter im „Weiten Land", der sagt: „Ah, hältst du das für so 
besonders lustig?“ Steinrück, eine schrofFe Natur, sprach es un¬ 
übertrefflich. Leidenschaft... ist sie österreichisch? Aber von An¬ 
fang war auch das andere im Spiel: Weisheit; zuerst als Skepsis und 
Lockerheit, dann immer männlicher und gütiger sich ausbreitend. Was 
aber wäre liebenswert, was ehrwürdig, was ergäbe Dichterwerk, 
Dichterleben, wenn nicht die Vereinigung von Leidenschaft und Weis¬ 
heit, Strenge und Güte? THOMAS MANN 

Oie Stellung des repräsentativen oder von einer bestimmten Ge¬ 
sellschafts-, auch einer nationalen Schicht zur Repräsentation erhobenen 
Schriftstellers der letztverflossenen dreißig Jahre war und ist eine höchst 
eigentümliche. Sofern er überhaupt eine geistige und moralische Wir¬ 
kung erzielen wollte, die nachhaltiger und eingreifender war als die 
des jeweiligen einzelnen Produkts, mußte er auf das freie und alle 
nahe Beziehung scheinbar ausschaltende Spiel der Phantasie verzichten 
und seine Figurenwelt dem Bedingten und den Bedingnissen der Zeit 
ausliefern. Um sich dann aber in Art und Charakter zu bewahren, 
bedurfte er eines beständigen sichtbaren Einsatzes von Persönlichkeit, 
einer Überbetonung des parteinehmenden Menschen fast, und diese 
Persönlichkeit stand hinter dem Geschaffenen wie ein Baumeister, der, 
die Maße und Formen noch in der Hand tragend, dem Bau nur mit 
seinen Augen glaubt, es aber nicht wagt, ihn seiner wahren Bestimmung 
zu überlassen. Diese eigentümliche allgemeine Verfassung des Dichters 
hat natürlich ebenso eigentümliche Dichtergestalten hervorgebracht, und 
eine der eigentümlichsten unter ihnen ist Arthur Schnitzler. Persön¬ 
liches Gewicht und persönliche Form treten reizvoll zutage, auch wo 
Verknüpfung und Gehalt zum unpersönlich Welt-, Geschichts- und Zeit¬ 
haften drängen; eine strenge spröde Wahrhaftigkeit macht ihn mi߬ 
trauisch gegen die bildhafte Übertragung, ja man könnte beinahe sagen, 
daß sie ihn mißtrauisch gegen die Kunst und ihr verwirrendes Spiegel¬ 
wesen überhaupt macht; aber eine romanische, südliche, heitere Anmut 



508 Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

des Geistes befähigt Um, dieses Mißtrauen in eine Qualität zu ver¬ 
wandeln und ihm mit leichter Hand ironisch schwebende GebUde 
entgegenzusetzen. (Dies ist auch die Quelle des vielfachen Mißver¬ 
ständnisses, denen er sein ganzes Leben hindurch preisgegeben war.) 
Die Rätsel des sinnlichen und fibersinnlichen Daseins beunruhigen ihn 
quälend; doch während er diese unbefangen, sogar mit Naivität in 
sich aufnimmt und sich halb skeptisch, halb phUosophierend der Be¬ 
drängnis zu entledigen sucht, wird er an jenen zum Kritiker der Ge¬ 
sellschaft, verspäteter Enzyklopädist, und imaginiert Beziehungen, die 
die Konflikte darsteUen wollen, ohne sie zu losen. Da er sich weder 
zu hassen noch zu lieben entscheidet, gab ihm die Natur den Spott 
und das Verstehen, eine oft mütterliche Art von Verstehen. Da er 
viel zu feinnervig und zu rücksichtsvoll ist, zu zertrümmern, sucht er 
gerecht zu werden, ja gerecht zu sein. Wo er träumt, neigt er all— 
sogleich zur psychologischen Utopie; wo er lächelt, beruft er sich 
schon Uber die Menschen hinweg auf das Schicksal, und für seine Ge¬ 
schöpfe nimmt er alle Verantwortungen vorweg, um sie auf seiner, 
der Tradition entrissenen Wage sorgfältig und genau zu wägen. Eine 
sinnvolle und edle Bemfihung, eines Arztes der Seelen und Erkenners 
der irdischen Dinge würdig; und eine, die alterslos bleibt wie die 
Menschheit selbst. jakob Wassermann 

Wie schwer ist es, und zumal auf kargem Raum, über einen 
Dichter etwas auszusagen, was vor dem inneren Wahrheitssinn bestehen 
kann. Wie alles Lebendige, wie jeder Organismus erregt ein Gedicht 
tausend Gedanken, Assoziationen, Erkenntnisse, es wechselt mit dem 
Lichte der Stunden, Jahreszeiten und Lebensalter Farbe und Gesicht, 
es ist unfaßbar. Wer getraute sich, den nächsten Menschen, der mit 
ihm das Leben teilt, zu deuten?? Und vor dem geheimnisvollen 
ewigen Wachstum eines Kunstwerks haben so viele die kecke Stirne 
der Definition! — Daß aber ein Werk, umfriedet von den Seiten des 
Buchs, sich verwandeln kann und immer wieder neue Züge trägt, 
ist eben Zeichen, daß es Organismus ist, Gedicht! 

Ein Meister, wie Arthur Schnitzler, ist unter den Deutschen 
ein höchst seltener Fall. Schnitzler ist in unserm heutigen Schrifttum 
gewiß der einzige Vertreter der Latinität Unter diesem Wort ver¬ 
stehe ich im Gegensatz zu allem Ausladenden, Verzweigten, Roman¬ 
tischen, Erziehungsromanhaften die Kunst der klaren geschmeidigen 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 50p 

Linie. Die Novellen und Einakter Schnitzlers vor allem zeigen die 
Schärfe des nicht malenden, sondern zeichnerischen Menschen, des 
Künstlers, dem die notwendige unbeirrbare Abwicklung, die rapide 
Logik höherer Schaffensrausch ist, als Überraschung und Verweilen 
während des Weges. Ich nenne hier Novellen wie „Leutnant Gustl“, 
„Die Toten schweigen“, „Die Hirtenflöte“, die Dramen „Der grüne 
Kakadu“, „Die letzten Masken“, „Literatur“, „Komtesse Mizzi“. — In 
diesen Werken herrscht eine großartige Nüchternheit, die erschüttert, 
weil sich hinter ihr die Scham einer starken Moralität verbirgt. Es 
ergreift uns die fast pedantische Geste eines Mannes, der mit bewußter 
Wortblässe und einem akkuraten kalten Vortrag die Leidenschaft 
seines Auges Lügen straft. Hierin ist Schnitzler mit Lessing zu ver¬ 
gleichen, ja in seiner Freude an der rationalen Lösung des Spiels 
nimmt er eine Richtung der deutschen Poesie wieder auf, die mit 
Lesring abbricht. Bewundernswert ist des Meisters Formensinn, sein 
Takt, sein Gefühl für Gleichgewichtsverteilung, für Steigerungen und 
Pausen. Diese gelungenen Maße allein schon bereiten dem Leser der 
Novellen die seltene ästhetische Befriedigung: Dies ist richtig. — Aber 
in diesen menschlichen Tugenden der Form bewährt sich nur der 
Meister und sein reiner Wille. Tiefer bewährt sich der Dichter. 

Was ist das zentrale Gefühl dieses Dichters, was die Quelle seines 
Schaffendrangs, sein Urkonflikt, seine tragische Problematik, sein Wesens¬ 
nerv, sein Abgrund, aus dem Erkenntnis und Bekenntnis aufsteigt? — 
Soweit aus den Geheimnissen eines künstlerischen Werkes die Lösung 
dieser Frage versucht werden darf, möchte ich dies antworten: Wesens¬ 
nerv ist die uneingestandene, bange, leidenschaftliche Sehnsucht, zu 
lieben und geliebt zu werden. In der Welt Schnitzlers herrscht eine 
fatale Einsamkeit, eine prädestinierte Beziehungslosigkeit der Seelen. 
Aber auch Eros herrscht, die zueinandergewandten Seelen reißen an 
der Kette; vergeblich, sie sind allzu bedingt, unbewußt bejahen sie 
ihre Einsamkeit. — So auch muß man die Rolle des Todes in diesen 
Dichtungen verstehn. Nicht der heroische, nicht der religiöse Tod 
wird geschaut, nicht der notwendige Tod, in den sich der Mensch 
nach den Worten des alten Testaments „gesättigt an Leben“ ergibt, 
nicht der Tod, der nur eine durchbrochene Larve bedeutet!! — Von 
den Schnitzlerschen Menschen wird der Tod, das Vergehn, das Auf¬ 
hören gefürchtet, weil Lieben und Geliebtwerden ihnen niemals er¬ 
schöpfend gelingt, weil der unendliche Vorhalt nicht aufgelöst ist, 



5io Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

die Melodie ihre Kadenz nicht fand, auf Kind-Stufe der Eros stehen 
geblieben, der Stand der Sehnsucht nicht fiberschritten ward. 

Schnitzler sieht nicht — wie ihm seit manchem Jahrzehnt die Kritik 
nacbsagt — den Tod als Arzt; er sieht ihn als Ethiker. In dem 
vielleicht unbewußten System seiner Weltanschauung bedeutet Tod 
die Strafe ffir Einsamkeit. 

Des Dichters Frauengestalten sind im Gegensatz zu seinen Männer¬ 
figuren das heroische Element des Werks. Die Frau als die dem Leben 
Nähere durchbricht zuweilen die Mauer der Vereinsamung, sie erliegt 
dem Ruf des Lebens, sie verliert ihr Ich an die Liebe. Ich denke hier 
vor allem an Schnitzlers herrliche Novelle: „Die Hirtenflöte“. Das 
Weib ist das eudämonische Prinzip, und es klingt unter dem Spiegel 
all dieser Schriften, trotz Zweifels und analytischer Schärfe, ein ver¬ 
borgener Hymnus an die einsamkeitsvemichtende Kraft des Weibes mit 

Schnitzler arbeitet mit den antipathetischen, ametaphysischen, un¬ 
parteiischen Mitteln seiner Generation, dennoch empfinde ich ihn vor 
allem als Ethiker. — Ffir einen tieferen Blick zeigt er immer wieder 
ein und dieselbe Leidenssituation: „Den einsamen Weg“, die Verschul¬ 
dung am Leben, die Todesangst als Folge des „Nichtgelebthabens“. 

So ist er der dichterisch große, vollkommene Ausdruck des unein- 
gestandenen Schuldgefühls der bürgerlichen Epoche. Sein menschlich 
hohes, künstlerisch ungemein präzises, anmutiges und bedeutendes Werk 
lebt und wird leben. — Aber da er hinter der Maske der Skepsis 
und Ironie tief gelitten hat, so gehört er zu den Geretteten, zu den 
Menschen, die weiterschreiten!! 

Wer je in die blauschönen, leidenschaftlich klaren Augen dieses 
nunmehr Sechzigjährigen, in diese jungen Feuer geblickt hat, der 
weiß, daß noch in manchem Werk der Dichter uns die Auflösung 
und Lösung seiner Musik schenken wird, und daß der einsame Weg 
noch lange nicht sein strahlendes Ziel gefunden hat. 

FRANZ WERFEL 

Arthur Schnitzler, ich habe ihn, in seiner Stadt, seiner Welt auf¬ 
wachsend, von ferne seit erster Bewußtseinsffühe als Dichter geliebt 
und liebe ihn noch mehr, seit ich an vielfacher Gelegenheit die pracht¬ 
volle, warme, gütige Fülle seiner Menschlichkeit rein bewährt sehen 
konnte. Ihn bloß zu rühmen an seinem festlichen Tag, wäre mir 
leicht. Aber es drängt mich, mehr zu tun: in jener Aufrichtigkeit 



Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 511 


von Arthur Schnitzler zu sprechen, die wir bei ihm in allen mensch¬ 
lichen Dingen lernten und mit dieser Aufnchdgkeit offen zu sagen, 
daß mein Glaube an sein Werk ein höherer ist als jener der Stunde 
(so laut sie sich auch gebärden mag). 

Denn ich fühle in Wahrheit, in innerster, aufrichtiger Wahrheit 
so: Arthur Schnitzlers Werk macht jetzt, gerade um die Stunde seines 
festlichen Jahres, eine schwere, wohl die schwerste Krise seiner innem 
und äußern Wirkung durch. Jener Teil, jener sehr wesentliche seines 
Theaters, seiner Novellistik, der Sittenschilderung ist, kann heute und 
gerade heute einer jungen Generation nicht mehr recht erkennbar 
und mitfühlbar sein: sie werden, die Jüngeren, im Augenblick vielleicht 
gar nicht verstehen, was uns an diesen Werken so wichtig und so 
bezaubernd war, und ich vermag es wiederum zu verstehen, was eine 
eben aufkeigende Generation (und nur diese allein) ungewiß macht 
vor Kunstwerken, deren geistigen Reiz, deren dichterische Absicht sie 
zweifellos nicht verkennen kann. Irgend ein Zusammenhang ist, das 
spüren sie, zerstört, und wir wissen selbst, wer ihn zerstört hat: 
die Zeit, der Krieg, jene beispiellose Verwandlung der Sphäre, die ge¬ 
rade Österreich am erbittertsten umgestülpt hat. Stifter war um 18 66 
ein ähnliches geschehen in Österreich, und Jean Paul um 1870 in 
Deutschland: auf einmal war eine Jugend da, dort eine liberale, hier 
eine hastig-tätige, die nach einem Kriege sich und ihre Probleme in so 
zarten, so edel kristallisierten, so seelischen Formen nicht mehr gespiegelt 
fand. Noch einmal mußte die Zeit sich wenden und zurückschwingen, 
bis wir diese Dichter wieder erkannten und erfühlten. Jenen war aber 
die Zeit nur allmählich weggewendet worden: die Welt Arthur Schnitzlers 
jedoch hat der Wirbelsturm von fünf Jahren mit einer in der Geschichte 
unerhörten Vehemenz zerstampft, hier ist einem Dichter das Beispiellose 
geschehen, daß ihm seine ganze Welt, aus der er schuf, seine ganze 
Kultur für lange oder immer vernichtet scheint. Die Typen, die un¬ 
vergeßlichen, die er geschaffen, die man gestern, die man an seinem 
fünfzigsten Geburtstag noch auf der Straße, in den Theatern, in den 
Salons von Wien, seinem Blick fast schon nacbgebildet, täglich sehen 
konnte, sie sind plötzlich weg aus der Wirklichkeit, sind verwandelt. 
Das »süße Mädel“ ist verhurt, die Anatols machen Börsengeschäfte, 
die Aristokraten sind geflüchtet, die Offiziere Kommis und Agenten 
geworden — die Leichtigkeit der Konversation ist vergröbert, die 
Erotik verpöbelt, die Stadt selbst proletarisiert. Manche der Probleme 
wiederum, die er geistig so bewegt und klug abgewandelt, haben eine 



5 ii Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag 

andere Vehemenz bekommen, das Judenproblem vor allem und das 
soziale. Konflikt ohnegleichen: als Spiegel hat dieser größte Schildern 
Wiens und der österreichischen Geistigkeit sein Werk vor die öster¬ 
reichische Welt gestellt. Da stirbt das alte Österreich Uber Nacht, und 
das neue, das in dem treugehaltenen Bilde sich hastig suchen würde, 
vermöchte sich nicht mehr zu erkennen. Nicht er ist seiner Welt, 
sondern die Wirklichkeit ihrem Dichter untreu geworden. 

Ähnliche Krise der Wirkung bleibt keinem Kflnstler erspart. Manche 
haben sie zu Beginn ihres Werkes, haben sie dann, wenn die Epoche, 
die sie vorauserkannt haben, sich selbst noch nicht erkennt, manche 
wieder, wenn ihre Welt leise wegzualtem beginnt Schnitzlers Welt 
aber ist — beispielloses Schicksal — ihm unter den Händen weggerisen 
worden, ehe sie welk, ehe sie ausgelebt war, und wir wissen es: für 
immer. Und sie wäre wirklich dahin, ffir immer dahin, wenn nicht 
einer — eben er, Arthur Schnitzler — sie gehalten, uns erhalten hätte, 
wenn diese vorbeigelebte und im Wirbel weggetragene Welt nicht in 
Formen und Typen, in ihrem Geist und ihrem Gefühl, ihrer unzer¬ 
störbaren Kunstgegenwart Bildnis und überdauernde Gestaltung hätte 
in seinen Werken. Nur scheinbar besteht ja ein Künstler durch seine 
Epoche, ein Dichter durch seine zeidiche Sphäre: in Wahrheit besteht 
jene durch ihn allein. Nicht die Epoche dauert, und das Werk welkt 
hin: die Epoche altert ab, das Werk aber erneut sich als Kultur, als 
Kostüm, als Gegenwart ewiger Vergangenheit Alles was dies Wien 
um die Jahrhundertwende, dies Österreich bis zu seinem Einsturz war, 
wird einmal — denn der Name der francisco-josefinischen überspannt 
zu weiten Raum — nur durch Arthur Schnitzler recht erkannt, nach 
ihm recht benannt werden können. Die ersten Jahre unserer öster¬ 
reichischen Kultur haben nicht die Dichter geschildert: Haydn, Schubert, 
Waldmüller sprechen allein für den Jahrhundertanfang. Dann erst 
kommen Grillparzer, Stifter, Raimund als Bildner, als Deuter dieser Stadt, 
dieses Reichs. Nach ihnen wäre dann Schweigen gewesen oder nur 
mehr wieder Musik: hier aber steht er am Ende des Jahrhunderts, 
Geist vom Geiste dieser Stadt, treu ihren Traditionen und bildet in 
leichten und nachdenklichen Spielen, in schwebenden und doch dauern¬ 
den Gestalten das Wesen dieser merkwürdigen Kultur. Nur ein paar 
Jahre noch, ein Jahrzehnt vielleicht, dann dunkelt schon eine leise 
Patina von Geschichte auf diesen seinen Bildern und Gestalten. Was 
heute Gegenwart von gestern scheint, wirkt dann rein als Vergangen¬ 
heit, wirkt in seinen vollendeten Teilen als Klassik und dichterische 



5 1 3 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Dauer und eine junge Generation ist da, eine zweite oder dritte, die 
unsere Liebe, unsere Verehrung zu diesem hinter aller Leichtigkeit so 
ernsten, trotz aller Grazie so tiefen Künstler aufs neue beglückt 
billigen und begleiten wird. Möge er ihr noch in voller Schaffens¬ 
kraft begegnen! 

STEFAN ZWEIG 


PHANTASTISCHE NACHT 


Erzähltug von 
STEFAN ZWEIG 


H eute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte 
das Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben, 
um die ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal 
geordnet zu überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich 
einen unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer 
darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbar¬ 
keit der Vorgänge schildern zu können. Mir fehlt jede sogenannte 
künstlerische Begabung, ich habe keinerlei Übung in literarischen 
Dingen und, abgesehen von einigen mehr scherzhaften Produkten im 
Theresianum, habe ich mich nie im Schriftstellerischen versucht. Ich 
weiß zum Beispiel nicht einmal, ob es eine besonders erlernbare 
Technik gibt, um die Aufeinanderfolge von äußeren Dingen und 
ihre gleichzeitige innere Spiegelung zu ordnen, frage mich auch, ob 
ich es vermag, dem Sinn immer das rechte Wort, dem Wort den 
rechten Sinn zu geben und so jene Balance zu gewinnen, die ich von 
je bei jedem rechten Erzähler im Lesen unbewußt spürte. Aber ich 
schreibe diese Zeilen ja nur ftir mich, und sie sind keineswegs bestimmt, 
etwas, was ich kaum mir selber zu erklären vermag, anderen ver¬ 
ständlich zu machen. Sie sind nur ein Versuch, mit irgend einem 
Geschehnis, das mich ununterbrochen beschäftigt und in schmerz¬ 
haft quellender Gärung beunruhigt, in einem gewissen Sinne endlich 
einmal fertig zu werden, es festzulegen, vor mich hinzustellen und 
von allen Seiten zu umfassen. 

Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt, 
eben aus jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht 

33 



514 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

verständlich machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von 
einer so zufälligen Angelegenheit dermaßen erschüttert und amgewühlt 
worden zu sein. Denn das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Er¬ 
lebnis. Aber wie ich dies Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu 
bemerken, wie schwer es für einen Ungeübten wird, beim Schreiben 
die Worte in ihrem rechten Gewicht zu wählen, und welche Zwei¬ 
deutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit sich an das einfachste 
Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein „kleines“ nenne, 
so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinne, im Gegensatz zu 
den gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze Volker 
und Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im zeit¬ 
lichen Sinne, weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum um¬ 
spannt als knappe sechs Stunden. Für mich aber war dies — im all¬ 
gemeinen Sinn also kleine, imbedeutsame und unwichtige — Erlebnis 
so ungeheuer viel, daß ich heute — vier Monate nach jener phan¬ 
tastischen Nacht — noch davon glühe und alle meine geistigen Kräfte 
anspannen muß, um es in meiner Brust zu bewahren. Täglich, stündlich 
wiederhole ich mir alle seine Einzelheiten, denn es ist gewissermaßen 
der Drehpunkt meiner ganzen Existenz geworden, alles, was ich tue 
und rede, ist unbewußt von ihm bestimmt, meine Gedanken be¬ 
schäftigen sich einzig damit, sein plötzliches Geschehen immer und 
immer wieder zu wiederholen und durch dieses Wiederholen mir als 
Besitz zu bestätigen. Und jetzt weiß ich auch mit einemmal, was ich 
vor zehn Minuten, da ich die Feder ansetzte, bewußt noch nicht 
ahnte: daß ich mir dies Erlebnis nur deshalb jetzt hinschreibe, um 
es ganz sicher und gleichsam sachlich fixiert vor mir zu haben, es noch 
einmal nachzugenießen im Gefühl und gleichzeitig geistig zu erfassen. 
Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich vorhin sagte, ich wollte 
damit fertig werden, indem ich es niederschreibe; im Gegenteil, ich 
will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben mich 
warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu 
können. Oh, ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes 
schwülen Nachmittags, jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich 
brauche kein Merkzeichen, keine Meilensteine, um in der Erinnerung 
den Weg jener Stunden Schritt für Schritt zurückzugehen: wie ein 
Traumwandler finde ich jederzeit, mitten im Tage, mitten in der 
Nacht in seine Sphäre zurück, und jede Einzelheit sehe ich darin mit 
jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz kennt und nicht das weiche 
Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das Papier die Umrisse 



5*5 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft ergrünten Landschaft hin« 
zeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz Und das weiche, staubige 
Qualmen der Kastanienblüten: wenn ich also noch einmal diese 
Stunden beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie zu vertieren, 
sondern aus Freude, sie wieder zu finden. Und wenn ich jetzt in 
der genauen Aufeineinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht 
darstelle, so werde ich um der Ordnung willen an mich halten müssen, 
denn immer schwillt, kaum daß ich an die Einzelheiten denke, eine 
Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine Art Trunkenheit faßt mich, 
und ich muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß sie nicht, ein 
farbiger Rausch, ineinander stürzen. Noch immer erlebe ich mit 
leidenschaftlicher Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913, 
da ich mir mittags einen Fiaker nahm . . . 

Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder 
werde ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines 
Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhänge 
etwas erzählen soll, merke ich ent, wie schwer es ist, jenes Gleitende, 
das doch alles Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zu fassen. 
Eben habe ich „ich“ hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni 
1913 mir mittags einen Fiaker nahm. Aber dies Wort wäre schon 
eine Undeutlichkeit, denn jenes „Ich“ von damals, von jenem 7. Juni, 
bin ich längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate seitdem ver¬ 
gangen sind, obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen Ich wohne 
und an seinem Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand 
schreibe. Von diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch 
jenes Erlebnis, ganz abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd 
und kühl und kann ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen 
Kameraden, einen Freund, von dem ich vieles und wesentliches weiß, 
der ich aber doch selbst durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über 
ihn sprechen, ihn tadeln oder verurteilen, ohne überhaupt zu emp¬ 
finden, daß er mir einst zugehört hat. 

Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in wenigem 
äußerlich und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die 
man besonders bei uns in Wen die „gute Gesellschaft“ ohne be¬ 
sonderen Stolz, sondern ganz als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt. 
Ich ging in das sechsunddreißigste Jahr, meine Eltern waren früh ge¬ 
storben und hatten mir knapp vor meiner Mündigkeit ein Vermögen 
hinterlassen, das sich als reichlich genug erwies, um von nun ab den 
Gedanken an Erwerb und Karriere gänzlich zu erübrigen. So wurde 



ji 6 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

mir unvermutet eine Entscheidung abgenommen, die mich damaJs 
sehr beunruhigte. Ich hatte nämlich gerade meine Universitatsstudien 
vollendet und stand vor der Wahl meines zukünftigen Berufes, der 
wahrscheinlich dank unserer Familienbeziehungen und meiner schon 
früh vortretenden Neigung zu einer ruhig ansteigenden und kon¬ 
templativen Existenz auf den Staatsdienst gefallen wäre, als dies elter¬ 
liche Vermögen an mich als einzigen Erben fiel und eine plötzliche 
arbeitslose Unabhängigkeit zusicherte, selbst im Rahmen weitgespannter 
und sogar luxuriöser Wfinsche. Ehrgeiz hatte mich nie bedrängt, so 
beschloß ich, einmal dem Leben erst ein paar Jahre zuzusehen und 
zu warten, bis es mich schließlich verlocken würde, mir selbst einen 
Wirkungskreis zu finden. Es blieb aber bei diesem Zuschauen und 
Warten, denn da ich nichts Sonderliches begehrte, erreichte ich alles 
im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und wollüstige Stadt 
Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das nichtstuerische 
Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu künstlerischen Voll¬ 
endung, zu einem Lebenszweck heranbildet, ließ mich die Absicht 
einer wirklichen Betätigung ganz vergessen. Ich hatte alle Befriedigung 
eines eleganten, adeligen, vermögenden, hübschen und dazu noch ehr¬ 
geizlosen jungen Mannes, die ungefährlichen Spannungen des Spiels, der 
Jagd, die regelmäßigen Auffrischungen der Reisen und Ausflüge und 
bald begann ich diese beschauliche Existenz immer mehr mit wissender 
Sorgfalt und künstlerischer Neigung auszubauen. Ich sammelte seltene 
Gläser, weniger aus einer innern Leidenschaft, als aus der Freude, 
innerhalb einer anstrengungslosen Betätigung Geschlossenheit und Kennt¬ 
nis zu erreichen, ich schmückte meine Wohnung mit einer besondern 
Art italienischer Barockstiche und mit Landschaftsbildem in der Art 
des Canaletto, die bei Trödlern zusammenzufinden oder bei Auktionen 
zu erstehen, voll einer jagdmäßigen und doch nicht gefährlichen 
Spannung war, ich trieb mancherlei mit Neigung und immer mit 
Geschmack, fehlte selten bei guter Musik und in den Ateliers unserer 
Maler. Bei Frauen mangelte es mir nicht an Erfolg, auch hier hatte 
ich mit dem geheimen sammlerischen Trieb, der irgendwie auf innere 
Unbeschäftigtkeit deutet, mir vielerlei erinnerungswerte und kostbare 
Stunden des Erlebens aufgehäuft, allmählich vom bloßen Genießer 
mich zum wissenden Kenner steigernd. Im ganzen hatte ich viel er¬ 
lebt, was mir angenehm den Tag Rillte und meine Existenz mich als 
eine reiche emfinden ließ, und immer mehr begann ich, diese laue 
wohlige Atmosphäre einer gleichzeitig belebten und doch nie er- 



5*7 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

schütterten Jugend zu lieben, fast ohne neue Wünsche schon, denn ganz 
geringe Dinge vermochten sich schon in der windstillen Luft meiner 
Tage zu einer Freude zu entfalten. Eine gut gewählte Kravatte konnte 
mich fast froh machen, ein schönes Buch, ein Automobilausflug oder 
eine Stunde mit einer Frau mich restlos beglücken. Ganz besonders 
wohl tat mir in dieser meiner Daseinsform, daß sie, ganz wie ein 
tadellos korrekter englischer Anzug, in keiner Weise der Gesellschaft 
auffiel. Ich glaube, man empfand mich als eine angenehme Er¬ 
scheinung, ich war beliebt und gerne gesehen und die meisten, die 
mich kannten, nannten mich einen glücklichen Menschen. 

Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, ob jener Mensch von damals, 
den ich als Fremden zu vergegenwärtigen bemühe, sich selbst so wie 
jene andern als einen Glücklichen empfand, denn nun, wo ich aus 
jenem Erlebnis für jedes Gefühl einen viel volleren und erfÜllteren 
Sinn fordere, scheint mir jede rückerinnemde Wertung fast unmöglich. 
Doch vermag ich mit Gewißheit zu sagen, daß ich mich zu jener 
Zeit keineswegs als unglücklich empfand, blieben doch fast nie meine 
Wünsche unerfüllt und meine Anforderungen an das Leben uner¬ 
widert. Aber gerade dies, daß ich mich daran gewöhnt hatte, alles 
Geforderte vom Schicksal zu empfangen und darüber hinaus nichts 
mehr ihm abzufordern, gerade dies zeitigte allmählich einen gewissen 
Mangel an Spannung, eine Unlebendigkeit im Leben selbst. Was sich 
damals unbewußt in manchen Augenblicken der Halberkenntnis in 
mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich Wünsche, sondern 
nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker, unbändiger, 
ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und vielleicht 
auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine allzu¬ 
vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem 
Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, 
daß ich immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art 
Erstarrung in mein Gefühl gekommen war, daß ich — vielleicht 
ist es am besten so ausgedrückt — an einer seelischen Impotenz, 
einer Unfähigkeit zur leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. 
An kleinen Zeichen erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir 
auf, daß ich im Theater und in der Gesellschaft bei gewissen sen¬ 
sationellen Veranstaltungen, öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher 
bestellte, die mir gerühmt worden waren und sie dann unaufgeschnitten 
wochenlang auf dem Schreibtische liegen ließ, daß ich zwar mechanisch 
weiter meine Liebhabereien sammelte, Gläser und Antiken kaufte. 



518 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

ohne sie aber dann einzuordnen und mich eines seltenen und lang¬ 
gesuchten StUckes bei unvermutetem Erwerb sonderlich zu freuen. 

Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise 
Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten 
Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im 
Sommer — auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die 
von nichts Neuem sich lebhaft angelockt fühlte — in Wien geblieben, 
als ich plötzlich aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit 
der mich seit drei Jahren eine intime Beziehung verband und von 
der ich sogar aufrichtig meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir 
in vierzehn aufgeregten Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen 
Mann kennen gelernt, der ihr viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn 
im Herbst heiraten und zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende 
sein. Sie denke ohne Reue, ja mit Glück an die mit mir gemeinsam 
verlebte Zeit zurück, der Gedanke an mich begleite sie in ihre neue 
Ehe als das Liebste ihres vergangenen Lebens und sie hoffe, ich 
werde ihr den plötzlichen Entschluß verzeihen. Nach dieser sachlichen 
Mitteilung überbot rieh dann der aufgeregte Brief in wirklich er¬ 
greifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht zürnen und nicht zu 
viel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle keinen Versuch 
machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit gegen mich 
begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch bei 
einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn sie 
sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und 
als Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: „Tue 
nichts Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!“ 

Ich las diesen Brief, zuerst überrascht von der Nachricht und 
dann, als ich ihn durchblättert,- noch ein zweites Mal und nun mit 
einer gewissen Beschämung, die sich, bewußt werdend, rasch zu einem 
innem Erschrecken steigerte. Denn nichts von allen den starken und 
doch natürlichen Empfindungen, die meine Geliebte als selbstver- 
verständlich voraussetzte, hatte sich auch nur andeutungshaft in mir 
geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer Mitteilung, hatte ihr nicht 
gezürnt, hatte schon gar nicht eine Sekunde an eine Gewalttätigkeit 
gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte des Gefühls in 
mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht selbst er¬ 
schreckt hätte. Da .fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines 
Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen 
aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war. 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 519 

und nicht« rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte 
sie zurückzuerobem, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl, 
was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem 
wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke 
war mir zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß 
bereits in mir fortgeschritten war, — ich glitt eben durch wie auf 
fließendem spiegelnden Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu 
sein, und ich wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichen¬ 
haftes war, noch nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Ver¬ 
wesung, aber doch schon rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosig¬ 
keit, die Minute also, die dem wahren, dem körperlichen Sterben, 
dem auch äußerlich sichtbaren Verfall vorangeht. Seit jener Episode 
begann ich mich und diese merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerk¬ 
sam zu beobachten wie ein Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf 
ein Freund von mir starb und ich hinter seinem Sarge ging, horchte 
ich in mich hinein, ob sich nicht eine Trauer in mir rühre, irgend¬ 
ein Gefühl sich in dem Bewußtsein spanne, dieser mir seit Kind¬ 
heitstagen nahe Mensch sei nun für immer verloren. Aber es regte 
sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas Gläsernes vor, durch das 
die Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen zu sein, und so sehr 
ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen auch anstrengte, 
etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden 
wollte, es kam keine Antwort aus jener innem Starre zurück. Menschen 
verließen mich, Frauen gingen und kamen, ich spürte es kaum anders 
wie einer, der im Zimmer sitzt, den Regen an den Scheiben: zwischen 
mir und dem Unmittelbaren war irgendeine gläserne Wand, die ich 
mit dem Willen zu zerstoßen nicht die Kraft hatte. 

Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf nur diese Erkenntnis 
doch keine rechte Beunruhigung, denn, ich sagte es ja schon, daß 
ich auch Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. 
Auch zum Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte 
mir, daß dieser seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, 
wie etwa die körperliche Impotenz eines Mannes nicht anders als in 
der intimen Sekunde offenbar wird, und ich setzte oft in Gesellschaft 
durch eine künstliche Leidenschaftlichkeit im Bewundern, durch 
spontane Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse Ostentation 
daran, zu verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteillos und 
abgestorben wußte. Äußerlich lebte ich mein altes behagliches, 
hemmungsloses Leben weiter, ohne seine Richtung zu ändern, Wochen, 



5 1£> 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Monate glitten leicht vorüber und füllten sich langsam dunkel zu 
Jahren. Eines Morgens sah ich im Spiegel einen grauen Streif an 
meiner Schläfe und spürte, daß meine Jugend langsam hinüberwolltc 
in eine andere Welt. Aber was andere Jugend nannten, war in mir 
längst vorbei. So tat das Abschiednehmen nicht sonderlich weh, 
denn ich liebte auch meine eigene Jugend nicht genug. Auch zu 
mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl. 

Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr 
gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und 
Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den andern, wuchsen 
und gilbten hin wie die Blätter eines Baums. Und ganz gewöhnlich, 
ohne jede Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen begann 
auch jener einzige Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich 
war damals, am 7. Juni 1913, später aufgestanden aus dem noch 
von der Kindheit, von den Schuljahren her unbewußt nachklingendem 
Sonntagsgeföhl, hatte mein Bad genommen, die Zeitung gelesen und 
in Büchern geblättert, war dann, verlockt von dem warmen sommer¬ 
lichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer drang, spazieren gegangen, 
hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso überquert, zwischen 
Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen mit irgend einem 
von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei Freunden 
zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder Vereinbarung 
ausgewichen, denn ich liebte es, insbesondere am Sonntag ein paar 
unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall 
meiner Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgend einer spontanen 
Entschließung gehörten. Als ich dann von meinen Freunden kommend, 
die Ringstraße querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der 
besonnten Stadt und ward froh an ihrer frühsommerlichen Geschmückt- 
heit. Die Menschen schienen alle heiter und irgendwie verliebt in 
die Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles einzelne fiel mir auf 
und vor allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün die Bäume 
mitten aus dem Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast 
täglich hier vorüberging, wurde ich dieses sonntäglichen Menschen¬ 
gewühls plötzlich wie eines Wunders gewahr und unwillkürlich bekam 
ich Sehnsucht nach viel Grün, nach Helligkeit und Buntheit. Ich 
erinnerte mich mit ein wenig Neugier des Fraters, wo jetzt zu 
Frühlingsende, zu Sommeranfang, die schweren Bäume wie riesige 
grüne Lakaien rechts und links der von Wagen durchflitzten Haupt¬ 
allee stehen und reglos den vielen geputzten eleganten Menschen 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 511 

ihre weißen Blütenkerzen hinhalten. Gewohnt, auch dem flüchtigsten 
meiner Wünsche sofort nachzugeben, rief ich den ersten Fiaker an, 
der mir in den Weg kam und bedeutete ihm auf seine Frage den 
Prater als Ziel. „Zum Rennen, Herr Baron, nicht wahr?“ antwortete 
er mit devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst, 
daß heute ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau, 
wo die ganze gute Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam, 
dachte ich mir, während ich in den Wagen stieg, wie wäre es 
noch vor ein paar Jahren möglich gewesen, daß ich einen solchen 
Tag versäumt oder vergessen hätte! Wieder spürte ich, so wie ein 
Kranker bei einer Bewegung seine Wunde, an dieser Vergeßlichkeit 
die ganze Starre der Gleichgiltigkeit, der ich verfallen war. 

Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das 
Rennen mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle 
Auffährt der Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten 
mit knatternden Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis 
her. Der Kutscher wandte sich am Bock und fragte, ob er scharf 
traben solle, aber ich hieß ihn die Pferde ruhig gehen lassen, 
denn mir lag nichts an einem Zuspätkommen. Ich hatte zuviel 
Rennen gesehen und zu oft die Menschen bei ihnen, als daß mir 
ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, es entsprach besser 
meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des Wagens die blaue 
Luft wie Meer vom Bord eines Schifies lindrauschend zu fühlen und 
ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume anzusehen, die 
manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar Blütenflocken 
zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und wirbelte, ehe 
er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig, sich so 
wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen, ohne 
jede Anstrengung beschwingt und fbrtgetragen sich zu empfinden: 
eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der 
Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter 
wiegen zu lassen von dem weichen frühsommerlichen Tag. 

Aber es war schon zu spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz. 
Ein dumpfes Brausen schlug mir entgegen. Wie ein Meer scholl es 
dumpf und hohl hinter den aufgestuften Tribünen, ohne daß ich die 
bewegte Menge sah, von der dieses geballte Geräusch ausging, und 
unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn man von der 
niedern Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade empor¬ 
steigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und 



5 22 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift Ober die 
weite grauschaumige Flache mit ihren donnernden Wellen. Ein 
Rennen mußte gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem 
Rasen, auf dem jetzt wohl die Pferde hinflitzten, stand, ein farbiger 
dröhnender, wie von einem innem Sturm hin- und hergeschüttelter 
Qualm, die Menge der Zuschauer und Spieler. Ich konnte die Bahn 
nicht sehen, spürte aber im Reflex der gesteigerten Erregung jede 
Phase. Die Reiter mußten längst gestartet, die Knäuel sich geteilt 
haben und ein paar gemeinsam um die Führung streiten, denn schon 
lösten sich hier am den Menschen, die geheimnisvoll die für mich 
unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten, Schreie los und auf¬ 
geregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte ich die Biegung, 
an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen Rasenoval an¬ 
gelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer zusammen- 
gefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das ganze 
Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus 
diesem einen ausgespannten Hals gröhlte und gurgelte mit Tausenden 
zerriebenen Einzellauten eine immer höher gischtende Brandung. Und 
diese Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum 
bis zum gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Geflehter 
hinein. Sie waren verzerrt wie von einem innem Krampf, die Augen 
starr und funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, 
die Nüstern pferdhaft gebläht Spaßig und grauenhaft war nflrs, 
nüchtern diese unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir 
stand auf einem Sessel ein Mann, elegant gekleidet mit einem sonst 
wohl guten Gesicht, jetzt aber tobte er, von einem unsichtbaren 
Dämon beteufelt, er fuchtelte mit dem Stock in die leere Luft hinein, 
als peitschte er etwas vorwärts, sein ganzer Körper machte — unsagbar 
lächerlich für einen Zuschauer — die Bewegung des Raschreitens 
leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln wippte er mit den Fersen 
unablässig auf und nieder über dem Sessel, die rechte Hand jagte 
den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die Linke knüllte 
krampfig einen weißen Zettel. Und immer mehr dieser weißen Zettel 
flatterten hemm: wie Schaumspritzer gischteten sie über dieser grau- 
durchstürmten Flut, die lärmend schwoll. Jetzt mußten an der Kurve 
ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einemmal 
ballte sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die 
immer wieder einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und 
diese Schreie schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 515 

Ich stand inmitten dieser dröhnenden Tobsucht kalt wie ein Felsen 
im donnernden Meer und weiß noch heute genau zu sagen, was ich 
in jener Minute empfand. Das Lächerliche vorerst all dieser fratzen¬ 
haften Gebärden, eine ironische Verachtung für das Pöbelhafte des 
Ausbruches, aber doch noch etwas Anderes, das ich mir ungern 
eingestand — irgendeinen leisen Neid nach solcher Erregung, solcher 
Brunst der Leidenschaft, nach dem Leben, das in diesem Fanatismus 
war. Was müßte, dachte ich, geschehen, um mich dermaßen zu er¬ 
regen, mich dermaßen ins Fieber zu spannen, daß mein Körper so 
brennend, meine Stimme mir wider Willen aus dem Munde brechen 
würde? Keine Summe konnte ich mir danken, deren Besitz mich so 
anfeuem könnte, keine Frau, die mich dermaßen reizte, nichts, nichts 
gab es, was aus der Starre meines Gefühls mich zu solcher Feurig- 
keit entfachen könnte! Vor einer plötzlich gespannten Pistole würde 
mein Herz, eine Sekunde vor dem Erstarren, nicht so wild hämmern 
wie das in den tausend, zehntausend Menschen rings um mich für 
eine Handvoll Geld. 

Aber jetzt mußte ein Pferd dem Start ganz nahe sein, denn zu 
einem einzigen, immer schriller werdenden Schrei von tausenden 
Stimmen gellte jetzt wie eine hochgespannte Saite ein bestimmter 
Name empor aus dem Tumult, um dann schrill mit einem Male zu 
zerreißen. Die Musik begann zu spielen, plötzlich zerbrach die Menge. 
Eine Runde war zu Ende, ein Kampf entschieden, die Spannung 
löste sich in eine quirlende, nur noch schlaff nachschwingende Be¬ 
wegtheit. Die Masse, eben noch ein brennendes Bündel Leidenschaft, 
fiel auseinander in viele einzelne laufende, lachende, sprechende Men¬ 
schen, ruhige Gesichter tauchten wieder auf hinter der mänadischen 
Maske der Erregung; aus dem Chaos des Spiels, das für Sekunden 
diese Tausende in einen einzigen glühenden Klumpen geschmolzen 
hatte, schichteten sich wieder gesellschaftliche Gruppen, die zusammen¬ 
traten, sich lösten, Menschen, die ich kannte und die mich grüßten. 
Fremde, die sich gegenseitig kühl-höflich musterten und betrachteten. 
Die Frauen prüften sich gegenseitig in ihren neuen Toiletten, die 
Männer warfen begehrliche Blicke: jene mondäne Neugier, die der 
Teilnahmslosen eigentliche Beschäftigung ist, begann sich zu entfalten, 
man suchte, zählte, kontrollierte sich auf Anwesenheit und Eleganz. 
Schon wußten, kaum aus dem Taumel erwacht, all diese Menschen 
nicht mehr, ob dies promenierende Zwischenspiel oder das Spiel selbst 
der Zweck ihrer gesellschaftlichen Vereinigung war. 



514 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Ich ging mitten durch dies laue Gewühl, grüßte und dankte, atmete 
wohlig — war es doch die Atmosphäre meiner Existenz — den Duft 
von Parfüm und Eleganz, der dies kaleidoskopische Durcheinander 
umschwebte, und noch freudiger die leise Brise, die von drüben aus 
den Praterauen, aus dem sommerlich durchwärmten Walde manchmal 
ihre Welle zwischen die Menschen warf und den weißen Musselin 
der Frauen wie wollüstig-spielend betastete. Ein paar Bekannte wollten 
mich ansprechen, Diane, die schöne Schauspielerin, nickte einladend 
aus einer Loge herüber, aber ich ging keinem zu. Es interessierte 
mich nicht, mit einem dieser mondänen Menschen heute zu sprechen, 
es langweilte mich, in ihrem Spiegel mich selbst zu sehen, nur das 
Schauspiel wollte ich umfassen, die knistemd-sinnliche Erregung, die 
durch die aufgesteigerte Stunde ging (denn der andern Erregtheit ist 
gerade dem Teilnahmslosen das angenehmste Schauspiel.) Ein paar 
schöne Frauen gingen vorbei, ich sah ihnen frech, aber ohne inner¬ 
liches Begehren, auf die Brüste, die unter der dünnen Gaze bei jedem 
Schritt bebten, und lächelte innerlich über ihre halb peinliche, halb 
wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so sinnlich abgeschätzt und frech 
entkleidet fühlten. In Wirklichkeit reizte mich keine, es machte mir 
nur ein gewisses Vergnügen, vor ihnen so zu tun, das Spiel mit dem 
Gedanken, mit ihren Gedanken machte mir Freude, die Lust, sie 
körperlich zu berühren, das magnetische Zucken im Auge zu fühlen, 
denn wie jedem innerlich kühlen Menschen war es mein eigentlichster 
erotischer Genuß, in andern Wärme und Unruhe zu erregen, statt 
mich selbst zu erhitzen. Nur den Flaum von Wärme, den die Gegen¬ 
wart von Frauen um die Sinnlichkeit legt, liebte ich zu fühlen, nicht 
eine wirkliche Erhitzung, Anregung bloß und nicht Erregung. So 
ging ich auch diesmal durch die Promenade, nahm Blicke, gab sie 
leicht wie Federball zurück, genoß ohne zu greifen, befühlte Frauen 
ohne zu fühlen, nur leicht angewärmt von der lauen Wollust des 
Spiels. 

Aber auch das langweilte mich bald. Immer dieselben Menschen 
kamen vorüber, ich kannte ihre Gesichter schon auswendig und ihre 
Gesten. Ein Sessel stand in der Nähe. Ich setzte mich hin. Rings¬ 
um begann in den Gruppen eine neue wirblige Bewegung, unruhiger 
schüttelten und stießen sich die Vorübergehenden durcheinander; 
offenbar sollte ein neues Rennen wieder anheben. Ich kümmerte mich 
nicht darum, saß weich und irgendwie versunken unter dem Kringel 
meiner Zigarette, der sich weißgekräuselt gegen den Himmel hob. 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 5*5 

wo er heller und heller wie eine kleine Wolke im Frühlingsblau 
vcr ging. 

In dieser Sekunde begann das Unerhörte, jenes einzige Erlebnis, 
das noch heute mein Leben bestimmt. Ich kann ganz genau den 
Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die Uhr 
gesehen: die Zeiger kreuzten sich und ich sah ihnen mit jener un¬ 
beschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten. 
Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. Juni 
1913. Ich blickte also, die Zigarette in der Hand, auf das weiße 
Zifferblatt, ganz beschäftigt mit dieser kindischen und lächerlichen 
Betrachtung, als ich knapp hinter meinem Rücken eine Frau laut 
lachen hörte, mit jenem scharfen erregten Lachen, wie ich es bei 
Frauen liebe, jenem Lachen, das ganz warm und aufgeschreckt aus 
dem heißen Gebüsch der Sinnlichkeit vorspringt. Unwillkürlich bog 
es mir den Kopf zurück, schon wollte ich die Frau anschauen, deren 
laute Sinnlichkeit so frech in meine sorglose Träumerei schlug wie 
ein funkelnder weißer Stein in einen dumpfen, schlammigen Teich — 
da bezwang ich mich. Eine merkwürdige Lust am geistigen Spiel, 
am kleinen ungefährlichen psychologischen Experiment, wie sie mich 
oft befiel, ließ mich innehalten. Ich wollte die Lachende noch nicht 
ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust meine Phantasie 
mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein Gesicht, 
einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze lebendige 
atmende Frau um dieses Lachen zu legen. 

Sie stand jetzt offenbar knapp hinter mir. Aus dem Lachen war 
wieder Gespräch geworden. Ich hörte gespannt zu. Sie sprach mit 
leichtem ungarischen Akzent, sehr rasch und beweglich, die Vokale 
breit ausschwingend wie im Gesang. Es machte mir nun Spaß, dieser 
Rede nun die Gestalt zuzudichten und dies Phantasiebild möglichst 
üppig auszugestalten. Ich gab ihr dunkle Haare, dunkle Augen, einen 
breiten, sinnlich gewölbten Mund mit ganz weißen starken Zähnen, 
eine ganz schmale kleine Nase, aber mit steil aufspringenden zittern¬ 
den Nüstern. Auf die linke Wange legte ich ihr ein Schönheits¬ 
pflästerchen, in die Hand gab ich ihr einen Reitstock, mit dem sie 
sich beim Lachen leicht an den Schenkel schlug. Sie sprach weiter 
und weiter. Und jedes ihrer Worte ftigte meiner blitzschnell ge¬ 
bildeten Phantasievorstellung ein neues Detail hinzu: eine schmale 
mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid mit einer schief gesteckten 
Brillantspange, einen hellen Hut mit einem weißen Reiher. Immer 



ji 6 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

deutlicher ward das Bild, und schon spürte ich diese fremde Frau, 
die unsichtbar hinter meinem Rücken stand, wie auf einer belichteten 
Platte in meiner Pupille. Aber ich wollte mich nicht umwenden, 
dieses Spiel der Phantasie noch weiter steigern, irgendein leises Rieseln 
von Wollust mengte sich in die verwegene Träumerei, ich schloß 
beide Augen, gewiß, daß wenn ich die Lider aufräte und mich ihr 
zuwendete, das innere Bild ganz mit dem äußern sich decken würde. 

In diesem Augenblick trat sie vor. Unwillkürlich tat ich die 
Augen auf — und ärgerte mich. Ich hatte vollkommen daneben ge¬ 
raten, alles war anders, ja in boshaftester Weise gegensätzlich zu 
meinem Phantasiebild. Sie trug kein grünes, sondern ein weißes Kleid, 
war nicht schlank, sondern üppig und breitgehüftet, nirgends aus der 
vollen Wange tupfte sich das erträumte Schönheitspflästerchen, die 
Haare leuchteten rötlichblond statt schwarz unter dem helmförmigen 
Hut. Keines meiner Merkmale stimmte zu ihrem Bilde, aber diese 
Frau war schön, herausfordernd schön, obwohl ich mich, gekrankt 
im törichten Ehrgeiz meiner psychologischen Eitelkeit, diese Schönheit 
anzuerkennen wehrte. Fast feindlich sah ich zu ihr empor, aber auch 
der Widerstand in mir spürte den starken sinnlichen Reiz, der von 
dieser Frau ausging, das Begehrliche, Animalische, das in ihrer festen 
und gleichzeitig weichen Fülle fordernd lockte. Jetzt lachte sie wieder 
laut, ihre festen weißen Zähne wurden sichtbar, und ich mußte mir 
sagen, daß dieses heiße sinnliche Lachen zu dem Üppigen ihres 
Wesens wohl in Einklang stand; alles an ihr war gleich vehement und 
herausfordernd, der gewölbte Busen, das im Lachen vorgestoßene 
Kinn, der scharfe Blick, die geschwungene Nase, die Hand, die den 
Schirm fest gegen den Boden stemmte. Hier war das Weibliche 
Element, Urkraft, bewußte, penetrante Lockung, ein fleischgewordener 
Wollustruf. Neben ihr stand ein eleganter, etwas fanierter Offizier 
und sprach eindringlich auf sie ein. Sie hörte ihm zu, lächelte, 
lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn gleichzeitig glitt 
ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin, gleichsam allen zu: sie 
sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem, der vorüberging 
und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen ringsum ein. 
Ihr Bück war ununterbrochen wanderhaft, bald suchte er die Tribünen 
entlang, um dann plötzÜch, freudigen Erkennens, einen Gruß zu er¬ 
widern, bald streifte er — während sie dem Offizier immer lächelnd 
und eitel zuhörte — nach rechts, bald nach links. Nur mich, der 
ich, von ihrem Begleiter gedeckt, unter ihrem Blickfeld lag, hatte er 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 517 

noch nicht angerührt. Das ärgerte mich. Ich stand auf — sie sah 
mich nicht. Ich drängte mich näher — nun blickte sie wieder zu 
den Tribünen hinauf. Da trat ich entschlossen zu ihr hin, lüftete 
den Hut gegen ihren Begleiter und bot ihr meinen Sessel an. Sie 
blickte mir erstaunt entgegen, ein lächelnder Glanz überflog ihre 
.Ablagen, schmeichlerisch bog sie die Lippe zu einem Lächeln. Aber 
dann dankte sie nur kurz und nahm den Sessel, ohne sich zu setzen. 
Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen entblößten Arm stützte sie 
-weich an die Lehne und nützte die leichte Biegung ihres Körpers, 
um seine Formen sichtbarer zu zeigen. 

Der Ärger über meine fälsche Psychologie war längst vergessen, 
mich reizte nur das Spiel mit dieser Frau. Ich trat etwas zurück an 
die Wand der Tribüne, wo ich sie frei und doch unauffällig fixieren 
konnte, stemmte mich auf meinen Stock und suchte mit den Augen 
die ihren. Sie merkte es, drehte sich ein wenig meinem Beobachtungs¬ 
platze zu, aber doch so, daß diese Bewegung eine ganz zufällige 
schien, wehrte mir nicht, antwortete mir gelegentlich und doch un¬ 
verpflichtend. Unablässig gingen ihre Augen im Kreise, alles rührten 
sie an, nichts hielten sie fest — war ich es allein, dem sie begegnend 
ein schwarzes Lächeln zustrahlten, oder gab sie es an jeden? Das 
war nicht zu unterscheiden, und eben diese Ungewißheit irritierte 
mich. In den Intervallen, wo, wie ein Blinkfeuer, ihr Blick mich 
anstrahlte, schien er voll Verheißung, aber mit der gleichen stahl¬ 
glänzenden Pupille parierte sie auch jeden andern Blick, der zu¬ 
flog, ohne jede Wahl, ganz nur aus koketter Freude am Spiel, vor 
allem aber, ohne dabei für eine Sekunde, scheinbar interessiert, das 
Gespräch ihres Begleiters zu verabsäumen. Etwas blendend Freches war 
in diesen leidenschaftlichen Paraden, eine Virtuosität der Koketterie 
oder ein ausbrechender Überschuß an Sinnlichkeit. Unwillkürlich 
trat ich einen Schritt näher: ihre kalte Frechheit war in mich über¬ 
gegangen. Ich sah ihr nicht mehr in die Augen, sondern griff sie 
fachmännisch von oben bis unten ab, riß ihr mit dem Blick die 
Kleider auf und spürte sie nackt. Sie folgte meinem Blick, ohne 
irgendwie beleidigt zu sein, lächelte mit den Mundwinkeln zu dem 
plaudernden Offizier, aber ich merkte, daß dies wissende Lächeln 
meine Absicht quittierte. Und wie ich jetzt auf ihren Fuß sah, der 
klein und zart unter dem weißen Kleide vorlugte, streifte sie mit 
dem Blick lässig nachprüfend ihr Kleid hinab. Dann, im nächsten 
Augenblick, hob sie wie zufällig den Fuß und stellte ihn auf die 



j28 Ernst Robert Curtius, Über Andre Gide 

erste Sprosse des dargebotenen Sessels, so daß ich durch das durch¬ 
brochene Kleid die Strümpfe bis zum Knieansatz sah, gleichzeitig 
schien aber ihr Lächeln zu dem Begleiter hin irgendwie ironisch oder 
malitiös zu werden. Offenbar spielte sie mit mir ebenso anteillos 
wie ich mit ihr, und ich mußte die raffinierte Technik ihrer Verwegen¬ 
heit haßvoll bewundern, denn während sie mir mit falscher Heimlich¬ 
keit das Sinnliche ihres Körpers darbot, drückte sie sich gleichzeitig in 
das Flüstern ihres Begleiters geschmeichelt hinein, gab und nahm in 
einem und beides nur im Spiel. Eigentlich war ich erbittert, denn ich 
haßte gerade an andern diese Art kalter und boshaft berechnender Sinn¬ 
lichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so blut¬ 
schänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt, viel¬ 
leicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. Frech trat ich näher und 
griff sie brutal an mit den Blicken. „Ich will dich, du schönes Tier“, 
sagte ihr meine unverhohlene Geste, und unwillkürlich mußten meine 
Lippen sich bewegt haben, denn sie lächelte, mit leiser Verächtlichkeit 
den Kopf von mir wegwendend, und schlug die Robe über den ent¬ 
blößten Fuß. Aber im nächsten Augenblick wandelte die schwarze 
Pupille wieder funkelnd her und wieder hinüber. Es war ganz deutlich, 
daß sie ebenso kalt wie ich selbst und mir gewachsen war, daß wir 
beide kühl mit einer fremden Hitze spielten, die selber wieder nur 
gemaltes Feuer war, aber doch schön anzusehen und heiter zu fühlen 
inmitten eines dumpfen Tags. 

(Schluß folgt im nächsten Heft) 


ÜBER ANDRtf GIDE 

von 

ERNST ROBERT CURTIUS 

A ndrd Gide hat den Erfolg nie umworben. Er hat von jeher 
alle Pariser Methoden des Sich-zur-Geltungbringens verschmäht. 
Er hat der Kritik nicht geschmeichelt und sich der Presse nicht emp¬ 
fohlen. Die ersten Auflagen seiner Bücher, die heute mit hohen 
Preisen bezahlt werden, haben Jahre gebraucht, um vergriffen zu werden. 
Daß von „La Porte dtroite“ (1910) — zum nicht geringen Erstaunen 



Emst Robert Curtius, Über Andre Gide 519 

des Verlegers — schnell hintereinander ein paar Auflagen notig wurden, 
lag nur an einer Besprechung der „Times“, die dem Buch viele Be¬ 
wunderer in England verschaffte. Wie ja überhaupt Gides Kunst von 
Anfang an außerhalb Frankreichs Verständnis und Sympathie fand. 
Vor allem auch in Deutschland, wo Franz Blei, Rainer Maria Rilke, 
Felix Paul Greve ihr durch Verdeutschungen neue Freunde zuführten. 
Dem breiten literarischen Publikum ist Gide freilich jahrzehntelang 
ein Unbekannter geblieben. Die offizielle Kritik ignorierte ihn oder 
tat ihn mit Schlagwörtern ab. 

Er ließ in der Stille sein Werk reifen. Er arbeitete und schwieg. 
Er schwieg — incredibile dictu! — während des ganzen Krieges. Vom 
August 1914 bis zum Juni 1919 hat Gide nichts drucken lassen, 
außer einer Vorrede zu den „Fleurs du Mal“. Man ahnt, daß dieses 
Schweigen, das sich so nachdrücklich von dem disharmonischen Ge¬ 
räusch der europäischen Kriegsliteratur abhebt, in einem sittlichen 
Taktgefühl wurzelte. Gide fühlte sich solidarisch mit seiner Nation, 
die in ungeheurer Kraftanstrengung um ihr Dasein kämpfte. In den 
Phrasenchor der Kriegsliteratur konnte er nicht einstimmen. Aber der 
in ihm lebendige soziale Instinkt des französischen Geistes verbot ihm 
auch, durch den Individualismus eines sehr persönlichen und aller 
Reglementierung spottenden Denkens die geistige Einheitsfront zu zer¬ 
setzen. Darum wahrte er das Schweigen. Und diese Haltung er¬ 
leichtert es gerade uns Deutschen, uns seinem Werk wieder zuzuwenden. 
Denn er hat nie in die gehässigen Verleumdungen eingestimmt, durch 
welche die meisten seiner schreibenden Landsleute sich erniedrigt und 
für uns erledigt haben. 

Man darf sagen, daß Gide heute in der geistigen Elite Europas 
eine Schätzung genießt, wie sie nur wenigen zuteil wird. Wenn der 
laute Erfolg und die Sensation des Marktes ihn bisher gemieden haben, 
so liegt das nicht nur an der Zurückhaltung, die er dem literarischen 
Getriebe gegenüber gewahrt hat, sondern vielleicht noch mehr an dem 
Wesen seiner Kunst. Er ist kein leichter Autor. Er läßt sich nicht rubri¬ 
zieren. Sein Denken verläuft in vielfachen Windungen und überraschenden 
Kurven. Er verwirrt die feststehenden Einteilungen und Maßstäbe. 
Er ist unbequem und schwer übersehbar. In keinem seiner Bücher 
hat man ihn ganz. Jedes gibt nur eine Seite von ihm wieder. Nur 
aus der Zusammenschau seines ganzen Werkes treten die bestimmenden 
Züge seiner Persönlichkeit hervor. Und dieses Werk ist zerstreut in 
vielen Bänden, die zum Teil vergriffen und unzugänglich sind. 

34 



Emst Robert Curtius, Über Andri Gide 


5}o 

Um so mehr ist es zu begrüßen, daß Gide sich entschlossen hat, 
einen Aaswahlband vorzulegen, in dem er das zusammenfügt, was 
ihm selbst als das Bezeichnendste von seinem bisherigen Schaffen er¬ 
scheint. Die in den „Morceaux Choisis“* vereinigten Seiten werden 
auch die Kenner seiner Kunst überraschen. Sie bringen neben Be¬ 
kanntem vieles, was bisher nur in — oft entlegenen — Zeitschriften 
zugänglich war, dazu unveröffentlichte Fragmente von außerordentlichem 
Glanz der Diktion. Sie stellen die vom Künstler selbst getroffene 
Sichtung und Ordnung seiner Produktion dar, die nun schon drei Jahr¬ 
zehnte eines organischen Wachstums umfaßt. 

Die „Morceaux Choisis“ tragen das Motto „les extremes me tou- 
chent“ — charakteristisch für den Stil eines Künstlers, der es liebt, 
vielfältige Bezüge zu verschränken. Immer haben ihn die äußersten 
Schwingungsausschläge des Gefühls angezogen, haben ihn die Extreme 
des Seelischen berührt Aber eben dadurch hat er sich die Mi߬ 
billigung aller Parteien, Schulen und Cliquen zugezogen. Weil er 
sich nicht festlegen ließ, schalt man ihn disziplinlos. Weil er sich 
in keinem Dogma abschloß, nannte man ihn haltlos und zersetzend. 
Weil er es keiner Partei recht gemacht hat greifen ihn heute die 
Fanatiker aller Parteien an. Nationalisten, Sozialisten, Katholiken 
nehmen ihn aufs Korn. Und so kann er in zwiefachem Sinn sagen, 
daß die Extreme ihn berühren. 

Gide hat in einem seiner frühen Bücher den tiefsten Trieb seines 
Wesens in der Formel ausgedrückt: „Das Höchstmaß von Menschen¬ 
tum in sich aufnehmen (assumer le plus possible d’humanitd)“. Das 
grenzenlos Schweifende und dürstend Unersättliche, das stete Glühen 
und bebende Weiterdrängen: das war die Erregung, um derentwillen 
man seine Bücher liebte. Sie haben alle dasselbe Thema: Aufbruch 
und Ausbruch. Sie gestalten alle den heftigen Drang des Aus¬ 
brechens aus der Gewohnheit der Sicherheit dem Beritt dem Gesetz, 
der Moral. Es sind Dokumente des ewigen Wandertriebs einer Seele, 
die von immer neuen Fernen verlockt wird. Sie blicken suchend in 
neue Länder und in einen neuen Tag. In ihrem geheimsten Rhythmus 
ahnt man den stürmischen Schlag eines revolutionären Herzens. 

Freilich ist er nur einem feinen Ohr vernehmbar. Denn Gides Kunst 
fordert von sich und verwirklicht die gehaltenste Zucht In ihr ist 
nichts Unbeherrschtes. Jede Erregung ist zur Form gebändigt aller 


4 Paris 1921. Im Verlage der „Nouvelle Revue Fran^aise“. 



Emst Robert Curtius, Über Andre Gide 


Schrei ist Klang geworden. Nirgends ein Sichgehenlassen, ein Hinaus¬ 
schleudern seelischen Rohstoffs. Diese Kunst ist ein Triumph des be- 
vmfiten Formwillens. Sie läßt sich nicht vom Gefühl fortreißen, 
sondern nimmt es als Rohstoff; dem der Geist sein Gesetz aufprägt. 
Alle Unrast des Herzens ist reine Eurhythmie geworden. Selten 
empfangt der Geist solche Genugtuung. Meist spricht sich heftige 
innere Bewegung in tobendem Stammeln aus, und beherrschte Form 
birgt seelische Armut. Aber Meisterschaft ist nur da, wo der wider¬ 
strebende Gehalt dem künstlerischen Gesetz untertan wird, und wo 
wir durch die gebändigte Form hindurch noch die bebende Bewegt¬ 
heit des Seelischen spüren. Oder wie Gide es ausspricht: JL'oeuvre 
dassique ne sera forte et belle qu’en raison de son romantisme 
domptd“*. 

Der Begriff des Klassischen wird von Gide immer wieder umkreist 
Für ihn wie für Nietzsche ist der Klassizismus nicht eine ästhetische, 
sondern eine moralische Angelegenheit Er ist die Ausdrucksform der 
adligen Seelen. „C'est l’art d’ezprimer le plus en disant le moins. 
C’est un art de pudeur et de modestie. Chacun de nos dassiques 
est plus dmu qu’il ne laisse paraitre d’abord.** Klassizismus, wie Gide 
ihn auffaßt, ist Askese: Verricht auf alle Selbstgefälligkeit des Persön¬ 
lichen; Läuterung der Individualität; Formwerdung der Seele. Gides 
Empfänglichkeit für alle Lebensäußerungen des Geistes ist zu groß, 
als daß er nur klassische Kunst gelten ließe. Verehrt er nicht in 
Dostojewski eine der tiefsten Offenbarungen der Kunst? Aber er 
fügt rieh dem lebendigen Gesetz des französischen Geistes ein, und 
wie Nietzsche weiß er, daß nur in Frankreich der Begriff des Klassi¬ 
zismus einen wirklichen Sinn hat Wenn es jemand vermag, für den 
europäischen Geist heute die französische Klassik wieder lebendig zu 
machen, so wird es Gide sein. Er ringt mit menschlichen Problemen, 
die uns alle angehen; er löst sie durch eine Methode sittlich-künst¬ 
lerischer Selbstgestaltung, die er als die des Klassizismus deutet Und 
eben dadurch vermittelt uns die Einsicht in seine Problemstellung ein 
neues Verständnis der Kräfte, die im französischen 17. Jahrhundert 
wirksam waren. Durch Gide gesehen, wird Racine uns neu und 
überraschend. Racine hat aus den aufrührerischen Gewalten dunkler 


* Es ist derselbe Kunstwille wie in der neuen Wendung des Kubismus 
zu Ingres. Braque empfiehlt, wie Westheim mitteilt, ganz klassizistisch 
,4» regle qui corrige l’dmodon“. 



53 * 


Ernst Robert Curtius, Über Andrt Gide 


Leidenschaft klare Harmonien komponiert. Gide treibt seine schwei¬ 
fenden Begierden und sein Empörertum durch die sieben Feuer einer 
künstlerischen Alchemie, bis die Elemente verwandelt und gereinigt 
im silbernen Glans klassischer Gebilde erstrahlen. 

Gides Klassizismus ist persönliche Synthese der Vielfalt seiner Wesens¬ 
elemente. Und das sind nicht nur die Spannungen der eigenen Seele, 
sondern auch die Gegensätze der geschichtlichen Kräfte, durch die er 
bl utsmäßig bestimmt ist. Nordisches und Südliches sind in ihm ge¬ 
mischt. Seine väterliche Familie stammt aus dem Languedoc, die 
mütterliche aus der Normandie. In einem autobiographischen Fragment, 
das die „Morceaux Choisis“ mitteilen, deutet Gide an, wie er die 
widersprechenden Einflüsse dieser beiden so charakteristisch verschiedenen 
Landschaften und Kultursphären in sich verschränkt fühlt. Was ihn 
zum künstlerischen Schaffen getrieben hat, war die Notwendigkeit, 
diese entgegengesetzten Stimmen zum Einklang zu führen. „Ohne 
Zweifel sind nur diejenigen zu machtvollen Bejahungen fähig, welche 
der Impuls ihrer Erblichkeit in einer einzigen Richtung treibt. Im 
Gegensatz dazu rekrutieren sich, wie ich glaube, die Schiedsrichter 
und Künstler aus den Kreuzungsprodukten, in denen gegensätzliche 
Forderungen gleichzeitig existieren und sich entwickeln, indem sie sich 
neutralisieren." Schlichtung seelischen Widerstreites, Ausgleich diver¬ 
gierender Kräfte, Herrschaft des Universalen über das Besondere: das 
sind die Funktionen, die der Kunst aus solchen seelischen Voraus¬ 
setzungen erwachsen. Es sind die Wesenszüge des klassischen Geistes. 

Die nordsüdliche Spannung der Erblichkeit kreuzt sich bei Gide 
mit dem noch tiefergreifenden Gegensatz zwischen der älteren and 
der jüngeren Form des westlichen Christentums. Gides Vater tot 
P rotestant, die Mutter Katholikin. Der puritanische Calvinismus det 
väterlichen Tradition war die Atmosphäre des Hauses und bestimmte 
den Geist der Erziehung. Dieser ererbte Protestanismus prägt sich 
stark aus in Gides literarischer Persönlichkeit. Von ihm hat Gide das 
grübelnde Forschen in der Bibel, die Auflehnung gegen die Satzung 
der Autorität, das innere Ringen mit Gewissensentscheidungen. Der 
protestantische Emst des Suchens nach einer persönlichen sittlichen 
Überzeugung trifft bei ihm zusammen mit dem Psychologismus des 
französischen klassischen Geistes und gibt seinen moralischen Analysen 
das innere Gewicht und seiner Moralkritik die echte Tiefe. Die 
religiöse Erziehung hat den sittlichen Sinn in ihm geweckt und fein¬ 
fühlig gemacht, aber ihn zugleich mit einer Gesetzes-Ethik abgefunden. 



Emst Robert Curtius, Über Andre Gide yjj 

-Aber eben dem geschärften sittlichen Empfinden wird eine nach all¬ 
gemeinen Regeln urteilende Moral unerträglich. Gerade aus lebendigem 
«ethischen Werten heraus muß Gide die überkommene Ethik ablehnen: 
nicht etwa, um sich der Willkür zu überantworten, sondern um das 
verborgene „individuelle Gesetz“ (der Begriff Simmels trifft Gides 
Denken am genauesten) des Sittlichen aufzufinden, das jedem in nur 
ftlr ihn gültiger, aber auch verbindlicher Gestalt aufgegeben ist. Er 
muß die starren Konventionen der offiziellen Moral beiseite räumen, 
um die neue Lebensregel zu finden, mit der er den ihm vorgezeichneten 
ethischen Wert, — „sein“ Gutes (Scheler) —, verwirklichen kann. 
Diese Regel lautet: agir selon la plus grande sinceritl. Es zeigt sich, 
daß das Leben nach dieser Maxime die stetigste Anspannung des 
: Willens und den klarsten Blick erfordert „Jamais je ne m'apparus 
plus moral qu’en ce temps oü j'avais ddddd de ne plus l’itre, je veux 
dire: de ne Titre plus qu’ä ma fa^on.“ Pflicht wird jetzt, alles ab¬ 
zulegen, was nicht aus innerstem Zentrum der Persönlichkeit empor¬ 
quillt: alle vertrauten, ererbten Gedanken, Anschauungen, Fühlweisem 
Diese Selbstentäußerung vom sittlichen Besitz der Väter erscheint als 
Vorbedingung für das reine Herausstellen des eigenen Gehaltes, der 
schließlich, von allen Hüllen befreit, sich nur mehr darbietet als „une 
volonti aimante“. Es ist ein gefährlicher Weg, den Gide hier vor¬ 
zeichnet Wir denken an Thomas Manns Worte: „Was eigentlich 
das Sittliche, was das Moralische sei — Reinheit und Selbstbewahrung 
oder Hingabe, das heißt Hingabe an die Sünde, an das Schädliche 
und Verzehrende, ist ein Problem, das mich früh beschäftigte. Große 
Moralisten waren meistens auch große Sünder. ... Das Gebiet des 
Sittlichen ist weit, es umfaßt auch das Unsittliche.“ „Et je sais 
bien,“ sagt eine von Gides Gestalten, „que cet exc&s de renoncement, 
ce reniement de la vertu par amour de ia vertu m£me, ne paraitra 
qu’un sophisme abominable k l’äme pieuse qui me lira. Paradoxe ou 
sophisme qui dis lors indina ma vie, si le düble me le dicta, c’est 
ce que j’examinerai par la suite . ..“ Der moralische Individualismus 
führt hier auf steilen Pfaden in eine Einsamkeit, wo Abgründe gähnen. 

Aber dem hält die Wage der harmonische Humanismus, den Gide 
ja auch als Blutserbe besitzt Und zu dem bis zur Paradoxie ge¬ 
steigerten moralischen Autonomismus tritt ausgleichend ein Ideal 
antikischer serenitas. „Les Grecs qui nous ont laissd de Phumanitd, 
non par le peuple de leurs statu es seulement, mais par eux-mimes, 
une image si belle, reconnaissaient autant de dieux que d’insdncts, et 



5)4 Ernst Robert Curtius, Über Andr( Gide 

le problimc pour eux dtait de maintenir l’Olympe intime en dquilibre, 
non d’asservir et de rdduire «ucun des dieux.** Problematisch gespannt 
zwischen Puritanismus und Paganismus wölbt sich Gides ethisches 
Denken über den Gegensätzen, die seit der Renaissance den euro¬ 
päischen Geist mit ach selbst uneins machen. Gegenüber jener Sinnen¬ 
feindschaft, die, aus der Spätantike übernommen, in der Geschichte 
des Christentums eine so bestimmende Macht gewonnen hat, gegen¬ 
über der Verketzerung des Glückes und der Lust, mit der philo¬ 
sophischer Rigorismus das Leben verdunkelt hat, erhebt sich in Gides 
Künstlertum ein hellklingender Hymnus auf das Leben. Er feiert du 
Dasein als Gestaltwerdung der Freude. Er reinigt die Natur von den 
Verleumdungen scheelblickender Neider und Finsterlinge. Er wird 
zum Künder eines Eudämonismus, in dem sich Daseinsjubel mit reli¬ 
giöser Ergriffenheit vermählt. „Que l’homme est n 6 pour le bonheur, 
certes toute la nature l’enseigne. C’est l’efibrt vers la voluptd <jui 
fait germer la plante, emplit de miel la rache et le coeur de riomme 
de bontd.“ Etwas von der Weihe antiker Hymnik, von Lucrez und 
vom Pervigilium Veneris liegt über solchen Seiten. Du Glück des 
Seins und die schöpferische Liebe werden als Mächte der Güte und 
der Sittigung empfunden. Die Menschen haben in verblendetem Un¬ 
verstand du Leben arm und eng gemacht Es könnte so viel schöner 
sein, als sie zugeben wollen. Nicht in der Vernunft; sondern in der 
Liebe liegt die Weisheit Mit liebender Aufgeschlossenheit beugt sich 
Gide über den Reichtum des Dueins, mit zärtlicher Pflege möchte er 
den verkrüppelten, wundenübcrsäten Leib der Menschheit heilen. Er 
möchte ihm die drückenden Verbände abnehmen und ihn nackt der 
Sonne aussetzen. Hier ist der Ort, wo der viel beanstandete Indi¬ 
vidualismus von Gide in naturhafter Entfaltung zu den Fragen des 
Gemeinschaftslebens gedrängt wird. Man ahnt in dem Immoralisten 
den Emanzipator, in dem Selbstanalytiker den sozialen Umstürzler. 
Dieser Klassizismus ist mit Zukunftsenergie geladen. „II faut dtre sans 
lois pour dcouter la loi nouvclle.“ 

Ist das moralischer Anarchismus? Wer tiefer in die neuen Fragmente 
eindringt, mit denen uns die „Morceaux Choisis“ bekannt machen, 
wird sich in eine leidenschaftliche Bewegung, in ein erschütterndes 
Ringen hineingezogen finden. Es sind explosive Gewalten in diesen 
schimmernden Sätzen gebunden. Der aus Marmor gemeißelte Dialog 
bebt von inneren Spannungen. Manche Seiten verherrlichen antikisch¬ 
nackt und antikisch-fromm die freie Schönheit beseelter Sinnlichkeit 



555 


Emst Robert Curtius, Über Andri Gide 

Heidnische Lebenserhöhung feiert ihre Feste. War Gides Moralkritik 
nur ein verschlungener Weg zur Rückeroberung jener berauschten 
Schönheit»- und Erdenliebe, die wir der Renaissance zuschreiben? Zur 
'Wiederaufrichtung der olympischen Altäre? Es gibt in der Geschichte 
nie ein reines Zurück. Und in Gide sind die christlichen Seelen- 
snächte zu wirksam, um ihn in einem neuen Hellenismus versanden 
zu lassen. Die Erfahrungen mystischer Jahrhunderte kann er nicht 
von sich abtun. Dieser Heide hat die Heilsfrage des Evangeliums 
gehört. Wollte er sich taub npachen, er könnte sie nicht zum 
Schweigen bringen. Wohl sucht er das Evangelium zu reinigen von 
allen Deutungen der Kirchen und Schulen. Er entdeckt, daß ihm 
der finstere Geist der Weltverleugnung fern ist; daß seine Sittenlehre 
nicht aus Verboten besteht; noch mehr, daß es Freude gebietet und 
Erfüllung aller Freude verheißt. Und doch ... Und doch weckt cs 
in der Seele eine innerste Bewegung, die nicht mehr auf das Glück 
gerichtet ist, und die es unmöglich macht, sich liebend und begehrend 
an die Erdendinge zu verlieren. Nachdem er alle Bürden der Tra¬ 
dition abgeworfen, sich aller von außen kommenden Verfälschungen 
seines Wertfühlens entledigt, und frei und unbeschwert den Weg reiner 
Selbstverwirklichung beschritten hat, trifft Gide auf diesem Wege 
wieder mit einer Erfahrung der Seele zusammen, die dem Sinn des 
Evangeliums gleichgerichtet ist. „ .. . il s’agit de contempler Dien 
du regard le plus dair possible et j’dprouve que ebaque objet de cette 
terre que je convoite, se fäit opaque, par cela m£me que je le con¬ 
voite, et que, dans cet instant que je le convoite, le monde entier 
perd sa transparence, ou que mon regard perd sa dartd, de sorte que 
Dieu cesse d’6tre sensible ä mon äme et qu’abandonnant le Crdateur 
pour la erdature, mon äme cesse de vivre dans fttemitd et perd 
possession du royaume de Dieu.* 4 

Vielleicht lösen sich die Widersprüche in Gides Denken angesichts 
dieser Worte. Die Einheit seines Weges ist beschlossen in der Licht¬ 
suche. Von dem Grau des Puritanismus wendet er sich zu den bunten 
Farben des leuchtenden Lebens. Aber dies bunte Leuchten selbst wird 
schattende, erdige Trübe, gemessen an dem reineren Licht des Gött¬ 
lichen. Der weiße Strahl der Gottesliebe allein kann dem Lichtsucher 
das letzte Ziel sein. Und so hören wir jetzt die Formel: contempler Dieu 
du plus dair regard possible — als Replik und Entsprechung zu dem 
„assumer le plus possible d’humanitd'* der früheren Epoche. Gewandelt 
hat sich die Blickrichtung; geblieben ist die Intensität: le plus possible. 



53 6 Emst Robert Curtius, Über Andrd Gide 

Freilich wäre es falsch, die Entwicklung von Gides Denken künst¬ 
lich zu vereinfachen. Die Linie, die ich herauszuheben versuchte, ist 
deutlich sichtbar. Aber sie ist nur eine unter vielen. Klärung ist 
erreicht, Klarheit nicht. Klarheit kommt letzten Endes nie aus geistiger 
Synthese, sondern aus sittlicher Entscheidung. Das dritte Reich ist 
eine Fata Morgana des Geistes. Wer ihr nachfolgt, verhungert in der 
Wüste. Und noch einer anderen Gefahr ist Gide ausgesetzt. Je mehr 
er einerseits dem Licht der übernatürlichen Klarheit zustrebt, um so 
mehr muß er von den außernatürlichen Mächten der Finsternis be¬ 
droht sein. Je mehr der Dialog seines eigenen Innern aus dem 
Psychologischen in die Sphäre des substantiellen Seins hineinwächst, 
um so mehr wird er zu einem metaphysischen Kampf der Urgewalten. 
Ein faustisches Schaudern steigt beklemmend aus manchen Bekennt¬ 
nissen auf. Und der Schatten eines schwarzen Riesenflügels streift in 
satanischem Umriß manchmal über diese zum Licht emporgehobene 
Seelenlandschaft. 

Das sind nun freilich Dinge, die jenseits der literarischen Sphäre 
~ liegen. Aber Gides Bedeutung ruht ja eben darin, daß sein Werk 
höchste Literatur und zugleich mehr als Literatur ist; wie es echt 
französisch und zugleich überfranzösisch ist. Es hat den Anschein, 
als würde durch Gide wieder einmal der französische Klassizismus 
eine weltbürgerliche Ausdrucksform des europäischen Geistes. Wenn 
er es vermag, so ist es, weil Gide aus dem Bezirk aller großen 
Kultursphären geistige Elemente aufgenommen und seinem Stil ein¬ 
geschmolzen hat. Er ist ein europäischer Autor französischer Nation. 
Das ist der beherrschende Eindruck, mit dem wir die „Morceaux 
Choisis“ aus der Hand legen. Sie zeigen Gides Wesen in neuer Ge¬ 
stalt. Das Bild, das wir bisher von ihm hatten, war das des Ironikers, 
des Gedankenlyrikers, des Artisten. Nach sieben Jahren des Schweigens 
tritt er hervor mit der reifen Ernte einer Lebensarbeit und mit den 
Erstlingen neuen Schöpfertums: als ein Meister der Kunst und ein 
Wortführer des europäischen Geistes. 



REISE IN DIE STADT 


von 

FRIEDRICH BURSCHELL 

E s hilft nichts, daß man sich sperrt. FQr einige Zeit mag es Trost 
gewähren, rings um sein abgeschiedenes Zimmer Tannen im Schnee 
und in reiner Sonne zu haben, aber ist man auch nur zur geringsten 
Tätigkeit bestimmt, die Ober den Umkreis des nächsten Bodens hinaus¬ 
geht, so wird es zur Pflicht, nicht zu vergessen, was draußen über 
Seen und Flössen in den großen Städten sich regt, mitzuschwingen. 
Widerstände lebendiger zu spOren und prüfend sich selber wieder 
einmal im Gewühl umhertragen zu lassen. 

Lockungen der Feme und Abenteuer sind es nicht mehr, obwohl 
es noch immer dieselbe Freude ist, dem Unbekannten oder auch nur 
der Möglichkeit sich anzuvertrauen. Man weiß es wohl: die Welt ist 
grau geworden, und sieht es in mir selber nicht erfreulich aus, von 
draußen fließt es nicht in mich herein. Denn kaum hat man die 
vertrauten Menschen, die einem eben noch so nahe waren, klein und 
unterlegen zurückgelassen, kaum hat man nach der ersten Lust an der 
rollenden, glatten Fahrt sich zurückgesetzt und um sich gesehen, so 
fallt schon die fremde Welt über einen her. 

Man rüstet sich wie zu einem Kampf, man ist auf der Hut, die 
Gesichter im Wagen und die Luft weissagen nichts Gutes; nur daß 
die Nacht es mildert und fern, auf das Rauschen des eigenen Blutes 
abgestimmt, die Räder rollen und die Achsen stampfen. Vom Schlaf 
soweit entfernt wie vom Wachen, eingemummt, thronend, erhobenen 
Kopfes läßt man es nicht so ganz wirklich werden, was geschieht, 
die Menschen kennt man schon, man hat sie im Traum einmal ge¬ 
sehen, wie Wasser in einer Höhle rieseln und tropfen die Worte. 

Hier neben mir haben zwei die Stimmen ausgetauscht. Ein Prälat 
sitzt da, wuchtend, mit riesigem Körper und ragendem Schädel, doch 
er stottert, die Stimme ist kläglich verzogen. Ihm gegenüber, nervös 
und ängstlich auf seine Würde bedacht, die Reisedecke, die allen An¬ 
spruch darauf erhebt, als Prunkstück angesehen zu werden, immerzu 
über den Knien zurechtzupfend, vermutlich eine Art höherer Beamter, 
doch es predigt, es orgelt aus seiner Kehle. 

„Reichstag!“ ruft er schallend dem Schaffner entgegen. Ich denke 



53 * 


Friedrich ßurscbeü, Reise in die Stadt 


sofort, ich kann mich dem nicht entziehen: also so sieht ein Ab¬ 
geordneter aus. Und richtig, als ich vorhin durch die Gange ging, 
sah ich ganze Horden der vom Volk Erwählten beieinandersitzen, ein 
gespenstischer Anblick, ein Haufen Mediokrität, dumpfe, erboste, un- 
ausgelüftete Kleinbürger, und die Gespräche, die man im Vorbeigehen 
zu schmecken bekam — armes deutsches Reich! 

Aber jener, der mit der vertauschten Stimme, der mit der prunk¬ 
vollen Reisedecke hub jetzt an, seine Litanei zu singen. Der Prälat, 
der Stotternde, hatte einen gemeinsamen Bekannten erwähnt. „Karl 
Maria,“ orgelte der andere, „Karl Maria — ein Ikaros!“ die griechische 
Endung schwoll mächtig an, seine Stimme beruhigte sich nicht: „Eine 
Ikarosnatur, ein Ikaros!“ Und schließlich der erstaunliche Abgesang: 
„Wie geschwellt waren diese Seelen einstmals!“ Er sah sich nm, 
niemand nahm Notiz, lebhaft zog er an seiner Reisedecke, der Prälat 
stotterte noch ein paar Worte, dann schnarchte er. 

Aber als hätten sie nur darauf gewartet, streckten rieh in der Ecke 
zwei Kopfe, deren Beruf unschwer zu erraten war, zueinander und 
ein sonderbares Wispern begann. Ich sage, daß es ein Wispern war, 
aber zugleich war es ein unbeschreibliches Gleiten, eine unerschöpfliche 
Fülle aller Unter- und Nebengeräusche des Sprechens. Durch das 
Stampfen und Schnarchen drangen die Tone jetzt lauter, und meine 
Ohren bekamen es zu hören: „Ich sag Ihnen, Ihm Pofel rührt der 
sich nicht. Ich habn gleich mitgebracht, hinten im Schlafwagen 
is er?“ „Was is es?“ „Gummi!“ „Gummi? No und die Anzahlung?“ 
„Die Anzahlung? Dreihunderttausend!“ „Dreihunderttausend? Drei¬ 
hunderttausend — is das Wenigste!“ 

Und in meinem Gemüt, während das Wispern, das Zischen und 
Speicheln neben mir weiterging, sprach ich zu mir: Das ist der Stern 
Erde, Menschen wandeln auf ihm, erhabene Gestalten, Ebenbilder 
Gottes, von ihren Stirnen leuchtet das Mal der höheren Bestimmung, 
Propheten, Heilige, Weise und Dichter sind unter ihnen aufgestanden, 
aber welch klägliche Hölle hat diese armseligen Wesen ausgespieen, 
mit denen man durch die Nacht zu fahren verdammt ist! Was treiben 
sie, was tun sie anders, als daß sie hemmen und hindern, als daß 
sie den Boten Gottes schon an der Schwelle vertreiben und weit, tief 
hinten nur im Grund des einsamen Herzens der Funke glimmt! 

In Berlin sah ich etwas Merkwürdiges: man baut Häuser dergestalt 
um, daß man die unteren Stockwerke mit expressionistischem Stuck 



Friedrich Bttrscbeü y Reise in die Stadt 


559 


fiberzieht, der himbeer- und zitronenfarben angestrichen wird, während 
oben die pompöse alte Berliner Gipsarchitektur trostlos auf die ver¬ 
rückte Zeit herniederschaut. Expressionistisch ist der Stuck natürlich 
nur für den Bürger, dem zwischen dem Wohlwollen für soviel unter¬ 
nehmungslustige, farbige Eleganz und der Abneigung gegen die schiefen 
Proportionen das erhebende Bewußtsein bleibt, ein fortgeschrittener 
Mann zu sein. 

Nun hat man ja auch im Barock gerne umgebaut und die strenge 
Renaissance mit üppigen, prahlenden Formen überkleidet; aber falls 
sonst kein Unterschied anzutreffen wäre, müßte man doch daran fest- 
halten, daß es selbst im leichtsinnigsten Barock erheblich solider zu¬ 
ging. Dort hat man vorsichtigerweise den Leuten zuvor das Geld 
aus der Tasche gezogen und als Ersatz gewissermaßen und zur Ehre 
Gottes Chöre und Altäre hingestellt, aus denen sich manche Hoffnung 
für ein späteres Wohlergehen ziehen ließ. Diese modernen Kult¬ 
stätten jedoch scheinen einzig zu dem Zweck errichtet, den Leuten 
soviel Geld als möglich aus der Tasche zu locken, und um ein 
späteres Wohlergehen kümmern sie sich höchstens auf eine ihnen 
selber sehr unerwünschte dialektische Weise, insofern nämlich, als 
Katzenjammer und Reue schon manchen Menschen umgebildet haben. 

Zu allem Überfluß war vor einem solchen Bußhaus wider Willen 
ein Plakat angebracht, das erschütternd die alte und die neue Zeit 
symbolisierte und in lockenden Farben den Umschwung malte, der 
nach Leid und Tränen, nach Millionen Erschlagener und der freilich 
um ihr Feuer gebrachten Frage nach dem Sinn so schamlos und un¬ 
angefochten sich geben darf. Hinter grauem Spinngewebe sitzt die 
alte Zeit, dargestellt in dürftigen, träumerischen Gestalten mit langem 
Haar und vor Wassergläsern, aber im himbeer- und zitronenfarbenen 
Säkulum tanzen vor erlesenen Gedecken befrackte Herren und feine 
Damen, und strahlendes Licht ergießt sich über sie. 

Selbst wenn sie nicht so fein sind wie auf dem Plakat, wenn ihre 
Köpfe noch hohler und ihre Herzen noch leerer sein sollten, so 
daß man eher Erbarmen mit ihnen haben müßte, dieweil sie ihre 
Strafe längst vorweggenommen haben, bleibt es erstaunlich genug, wie 
rasch man sich schon in Sicherheit glaubt und wie geduldig diese 
Deutschen sind, die es einmal doch in der Hand gehabt hätten. 

Erschreckender aber beinahe noch ist der Blick, den man in das 
private Leben zu richten Gelegenheit bekommt. Berlin war zwar schon 



Friedrich Burschell, Reise m die Stadt 


54 ° 

früher eine unbegabte Stadt, wo es um Freude, Schmuck und Heiter¬ 
keit des Daseins ging, aber da es öffentlich geordnet war wie kaum 
eine andre Gemeinde und jeder nur mit sich selber zu tun haben 
wollte, konnten Gleichgestimmte Freiheit der menschlichen Beziehungen, 
Geselligkeit und Laune jeder Art ungestört in ihren Bezirken pflegen. 
Was jedoch jetzt zumeist zu sehen ist, auch bei Menschen, die es 
einst anders gewohnt waren, ist in hohem Grade mitleiderregend und 
jammervoll. Es geht eine fried- und freudlose Luft durch diese 
Stadt, die mit der wirtschaftlichen Not allein nicht zureichend erklärt 
werden kann. Was ist in diese Menschen gefahren, daß sie so ge¬ 
reizt und gehetzt nie zu sich selber kommen? Wozu haben sie ihre 
Apparate, mit deren Hülfe doch angeblich das Unvermeidliche rascher 
und einfacher erledigt werden soll? Die Not allein hat sie nicht ge¬ 
heißen, sich die Seele aus dem Leib zu schreien, so zu rennen und 
zu stoßen und das ohnedies Erbarmungslose noch erbarmungsloser zu 
verwirren. 

Es ist wie eine Strafe des Schicksals, wie eine Rache der ent¬ 
täuschten Blütenträume, daß diesen Menschen jetzt, sichtbar beinahe, 
die Teufel im Nacken sitzen. Berlin ist hier nur der sehr deutliche 
Ausdruck. Schließlich hat allein noch der Bauer, der über das Aus¬ 
tauschzentrum seines Landstädtchens nicht hinaussieht, den ruhigen 
Blick. Überall sonst war einmal etwas und es ist nicht mehr, oder 
es steht zu erhoffen, aber es ist noch nicht. Selbst die mächtige 
Industrie kann höchstens für ein Jahr mit Aufträgen gesättigt sein; 
was dann kommt, weiß sie nicht. Der Bauer aber weiß, daß jedes 
Jahr die Sonne scheint und daß es regnet, er weiß, daß die Natur 
ihm immer zu Willen ist, und steht das Korn schlecht, so geraten 
die Kartoffeln, und gibt die Kuh keine Milch, so gedeihen die Säue. 
Nicht an der umstellungsbereiten Industrie, nicht an den gleitenden 
Bürgern ist die Revolution gescheitert und nicht durch sie ist der 
Weg zu einer lebenswerten Existenz so schwierig verstellt, der Bauer 
hat es entschieden, die einstmals getretenen, ausgesogenen, geschundenen 
Bäuerlein, die treu dem unverfälschten Evangelio unter Christi Fahne 
gegen den Übermut der Herren zu Felde zogen. 

Es geht freilich unselig und verzweifelt genug in der Stadt zu, aber 
der Ruf zur Rückkehr in die Natur, zur Idylle, zur beruhigten Linie 
und zur Klassizität ist dennoch weit davon entfernt, eine Lösung zu 
bringen. Es läßt sich mit den Dingen nicht mehr spielen. Im acht- 



Friedrich. Burschell, Reise in die Stadt 


541. 


zehnten Jahrhundert mochte es angehen, im blühenden Hain erste 
Ahnung der Freiheit in frohen Liedern zu singen. Die Schwärmerei 
ist zu Ende, mit bunten Bändern ist nicht viel geholfen; in dem 
dunklen, unentschiedenen Stadium dieser Tage, unter einer völligen 
Anarchie des Stils und der Lebenshaltung mag es auf lange Zeit 
hinaus möglich sein, Sekten und Gruppen zu diesem oder jenem zu¬ 
fälligen Lösungsversuch zu begeistern, Ernstes aber. Nachdrückliches 
und in die Zukunft Weisendes kann nur geschaffen werden, wo das 
gesamte Leben eingesetzt wird. Wem es also Ernst ist mit der Rück¬ 
kehr zur Natur, wer hieraus eine Verpflichtung abzuleiten sich be¬ 
rufen fühlt, darf nicht am Anschauen von Gräsern und Getier, von 
Wolken und Gestein sich begnügen, er muß wie ein Bauer leben 
und besser noch selber ein Bauer sein, wie es manche bereits ver¬ 
sucht haben. 

Aber dann muß man wissen, auf welche Seite man tritt. Wer 
wünschte sich nicht Zufriedenheit und Ruhe, aber die Frage ist, um 
welchen Preis diese Güter erkauft werden. Der Bauer jedenfalls, der 
satte, natürliche Mensch kennt kein anderes Verlangen, als seinen 
Zustand mit allen Mitteln, an denen die Natur so reich ist, immer 
fester und sicherer zu erhalten. Er konnte nur solange Christ sein, 
als er litt. Seit langem ist er der Heide, der verschmitzte kreatürliche, 
nur den Dämonen und dem Schicksal unterworfene, zäh haftende 
Mensch. Man muß nur sehen, wie sie Regen erbittend, Gebete 
leiernd hinter Fahnen und Priester durch ihre Felder streifen. 

Wer auf diese Seite tritt, soll wissen, daß es mit noch so schönen 
Vorätzen nicht getan ist und die Natur mit aller ihr innewohnenden 
Grausamkeit ihren Tribut einzieht. Wer von der Gemeinheit der 
Städte, von der schweren dunklen Zeit sich an den Busen der Natur 
zu flüchten gewillt ist, sehe sich vor, daß er nicht einem noch viel 
erbarmungsloseren Gesetz verfallt Ruhe und Zufriedenheit sind er¬ 
strebenswerte Güter, aber wenn sie mit Enge, mit zwangsläufiger 
Beschränkung und mit notwendiger Feindschaft gegen alles über¬ 
natürlich Trächtige, gegen Geist und Sinn und die unerledigte Frage 
erkauft werden müssen, so möge man zum mindesten wissen, wem 
man sie unterordnet Darum: es bleibt eine private Angelegenheit, 
wenn man für einige Zeit auf Wälder und Berge sehen will statt 
auf graue Häuser, aber man soll es nicht programmatisch tun und 
gar erst keine Rettung davon erwarten. 

Die Wege sind dunkel, aber nur der Verzagte kehrt um. 



•54* Friedrich Burschell, Reise in die Stadt 

Man darf sich nur von der Stadt nicht überrumpeln lassen; die Ge¬ 
meinheit drängt überall vor, doch das Edlere sieht nur der gläubige Sinn. 

In der Stadt ist, wie man sagt, alles zu finden, und somit müßte 
auch das Gute, sucht man es nur richtig, oder zum mindesten die 
Möglichkeit dazu in ihr aufgefunden werden. Denn in solcher Dunkel¬ 
heit leben wir, daß wir uns schon mit dem Möglichen zufrieden 
geben müssen. Der häßliche Anblick, die freudlose Luft, das ge¬ 
triebene, jagende Leben, es ist nicht zu leugnen, auch die ursprüng¬ 
liche Kraft scheint dahin, es kommt zu keiner Gestalt, zu keinem 
wahrsagenden Bild mehr, unfertig, lässig, ohne Schwung, fremd her¬ 
geholt und im Beginn schon von müder Skepsis gelähmt ist das 
meiste, frecher Witz übertönt die wenigen, verhallenden Stimmen der 
Reinen, gewiß, auch dies: aber daran, und sollte es auch nur an der 
Möglichkeit sein, hat man festzuhalten, daß die Menschen in der 
Stadt bereiter und aufgewühlter sind und nur hier der Zugang za 
finden ist, nicht auf dem Land, wo nicht Schrift noch Lehre noch 
Beispiel den völlig verhärteten Sinn zu treffen vermögen. 

Und reden wir schon einmal Fraktur, lassen wir die Ästhetik bei¬ 
seite, schweigen wir auch von Paradiesessehnsucht, vom Verfangen 
nach Vollkommenheit, nach Glück und seligem Leben, das dennoch 
immer in uns brennen soll, sehen wir nur ungerührt auf die wirk¬ 
lichen Dinge, unbekümmert, wieviel noch fehlt, und mit einem 
raschen Blick nach rückwärts, dann lichtet sich schon die Dunkelheit, 
dann tut sich eine andere Bühne auf, das unheimliche, wirkliche 
Leben, die langsame, stetige Mühe, Not und Arbeit, und tausend 
Widerständen zum Trotz geht es unablässig voran, mit schweren 
Schritten geht es unablässig voran und von Verzweiflung kann nicht 
mehr die Rede sein. 

Vor einer schwarzen Einfährt sah ich einen Mann stehen, der ein 
rotes Schild auf der Brust trug mit der Aufschrift: In diesem Betrieb 
wird gestreikt. Der Mann sah freundlich und wohlwollend aus, aber 
der Sonntagsanzug schien nicht recht für ihn gemacht Zu ihm ge¬ 
sellte sich wie von ungefähr ein andrer ebenso wohlwollender Mann, 
nur daß diesem die grüne Uniform sehr viel besser zu Gesicht stand. 
Soviel ich sehen konnte, unterhielten sich die beiden freundlich und 
gleichgestellt einige Zeit, von einer Feindschaft war jedenfalls nichts 
zu merken. Aber deutlich und ganz bestimmt konnte ich die Blicke 
einiger Vorübergehender sehen, denn ganz nackt und unverhohlen 
apiegelte sich ihnen Haß, Wut und die unterdrückten Gelüste derer, 



Friedrich Burscbeü, Reise in die Stadt 


543 


die es von Jahrhunderten her anders gewohnt waren, mit solchem 
Pack umzuspringen. Oh, dies ist nur ein kleiner, schmaler Ausschnitt, 
eine kaum beachtete, sehr alltägliche Sache, aber vermochte man es 
sich nur vorzustellen, wieviel kostbares Blut vergossen wurde, wieviel 
Mühe, Not und Arbeit aufgewendet werden mußte, damit diese all¬ 
tägliche Sache möglich wurde, damit das Menschenantlitz nur ein 
wenig freier sich heben kann, vermöchte man sich das mit einem 
ehrfürchtigen Schauer und in der Wirklichkeit vorzustellen, man wäre 
nicht zufrieden, o nein, aber man wüßte, wohin die schweren Schritte 
gehen und man schlösse sich ihnen an, ungeachtet der schmählichen 
Worte, daß es sich nur um eine Lohnbewegung handelt. 

Man mag die Entwicklung beklagen, die kaum noch etwas anderes 
als ökonomische Interessen zu kennen scheint, und man braucht 
durchaus kein Ästhet zu sein, um zu konstatieren, daß es nicht mehr 
schön auf der Welt ist; aber von jeher sah man das Erreichte nicht, 
von jeher war die Zukunft dunkel und immer gehörte Mut zum 
Leben. Denn nie wird ein Übel dadurch vermindert, daß man es 
beklagt. Und nicht in der Vorherrschaft der ökonomischen Interessen 
liegt das Unselige unsrer Situation, sondern genau im Gegenteil darin, 
daß diese durchaus erwünschten, von unmittelbarster Not diktierten 
Interessen durchkreuzt und geschwächt sind und sich gegen die dunklen 
Mächte der Politik und des harten Sinns noch nicht durchzusetzen 
vermochten. 

Es kann schlechthin nicht sichtbarer gemacht werden, was zunächst 
zu tun und zu ordnen ist, deutlicher kann nicht mehr gesprochen 
werden, als es mit dieser Parallele geschieht: in Rußland verhungern 
viele Millionen Menschen, Mütter schlachten ihre Kinder und drüben 
in Amerika, nicht weit weg, heizen sie mit schönem gelbem Getreide 
ihre Kesselt Nicht anders wie wir auf Folter, Inquisition und Hexen¬ 
verbrennung mit einem Schauder, daß soviel Wahnsinn einmal möglich 
war, zurückblicken, wird der Spätergeborene unfaßlich vor der brutalen 
Dummheit und Unbeweglichkeit unsrer Epoche stehen. 

Solange dies nicht geändert ist, hat es durchaus seinen Sinn, wenn 
nichts anderes gedeihen will, es sei denn es beziehe sich mit deut¬ 
licher Weisung auf den unerträglichen Zustand dieser Erde. Es ist 
ja eine lächerliche, nichtswürdige Arroganz, hinter der sich zumeist 
doch nur der müde, gebrochene Mensch verbirgt, wenn man meint, 
den großen Überbau des Geistes, die wahreren, erstrebenswerteren 
Güter, «ich noch ungestört und indifferent gegen die wirtschaftlichen 



544 


Friedrich Burschell, Reise in die Stadt 


Bestrebungen leisten zu können. Dies war in gesicherten Zeiten 
möglich; unter ökonomisch stabilen Verhältnissen und in einer durch- 
gebildeten, ihrer selbst gewissen Gesellschalt konnten Symbole und 
Gestalten wachsen, das Leben sich mit Bildern schmücken, es konnten 
Religion, Sitte und Gesetz in Erz und Stein mit dem Gepräge und 
Denkmal der Dauer ihre dennoch nicht von Gott verliehene Kraft 
beweisen. Denn jene Zeiten waren nur für eine unverhältnismäßig 
geringe Oberschicht gesichert, während unten das namenlose, trüb 
gemischte Gewimmel der Abgabepflichtigen bei dem starken Licht, das 
auf die Herrschenden und Mächtigen fiel, nur umso tiefer im Schatten 
stand und es von der bunten Fülle nur eine noch buntere Willkür 
des Rechts zu spüren bekam. Wir wollen uns um diesen Blick nicht 
mehr betrügen lassen. Seit der herrliche, kluge Lessing ausrief, allen 
Resignierten zur Auflichtung empfohlen: „Geh deinen unmerklichen 
Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit 
wegen nicht an dir verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln, 
wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen!“, ja 
gerade seit jenen Tagen sind die schweren Schritte unaufhaltsam vor¬ 
gerückt, die dünne Schicht zerbrach, die Sicherungen schmolzen und 
aus dem Gewimmel hob sich hier und dort mit Zügen eines andern 
Edelmuts das unverstellte Menschenantlitz immer offener. Viel haben 
die Freigewordenen, die Bürger wieder verdorben, doch es war ein¬ 
mal im Gange. Drängt aber nun gar nach dem mörderischen Krieg, 
dessen grausame Lehren von vielen scheinbar vergessen sind, an einem 
Wendepunkt so radikaler Art, daß selbst ein Rückschlag nicht viel 
aufhalten kann, auch der unterste Mensch zur Bestätigung seiner ihm 
nicht länger vorzuenthaltenden Person, ist es dann so wunderlich, 
daß die darauf freilich noch nicht eingerichtete Welt, wo niemals 
die Mächtigen gern sich aus ihren Bastionen vertreiben ließen, in 
Krämpfen darniederliegt, daß die Gemeinheit aus der Verwirrung 
ihren Profit schlägt und allenthalben dem Einzelnen die Zeit sich so 
häßlich und trübe anläßt? Unter Gestank und Dreck und großen 
Schmerzen wird der Mensch geboren, der Anblick ist nicht empfehlens¬ 
wert, und warum sollte die Erde, die in Wehen liegt, es anders 
halten und warum sollte man nicht auch hier, ist erst einmal das Kindlein 
geboren, das genau wie die andern winzigen Wesen schreiend und 
mit greisenhaften Runzeln keinen Gefallen am Leben zu haben scheint, 
warum sollte man nicht auch dieser Wiege, die als Wiege einer 
vollendeteren Menschheit, als wahrer Orient der Humanität nicht 



Friedrich ßurscbell, Reise in die Stadt 


5 45 


ganz so unbegründet angesprochen werden kann, anstatt mit groben, un¬ 
geschickten Flüchen mit besser angebrachten guten Wünschen sich nahen? 

Alles aber verdanken die Menschen sich selber, von oben wird ihnen 
nicht geholfen, Segen oder Fluch liegt allein noch in ihren Händen. 

Derjenige wird sich den größten Dank um die Menschheit ver¬ 
dienen, — und er braucht darum kein Originalgenie zu sein, denn 
die wahren Lehrer und Meister haben in hebreicher oder zorniger 
Rede stets dasselbe gemeint, — dem es gelingt, den Menschen klar 
zu machen, in den Fäusten welcher Dämonen, in welch dumpfer 
Verstrickung und welche Herren über sich duldend sie bisher gelebt 
haben. Nicht vom Paradies, nicht einmal vom Vernunftstaat her, 
schon in der fahlen Dämmrung dieser Tage kann man erkennen, 
daß bei den Gaben, die dem Menschen verliehen sind, seien sie auch 
noch so unausgebildet, die Barbarei, die Dummheit und der Aberwitz 
seines Treibens in so phantastischem Ausmaß länger nicht mehr zu 
halten sind. 

Man soll mich nicht der Verstiegenheit zeihen, es kommt mir alles 
darauf an, zu überzeugen und Mut zu machen, und wenn ich wieder 
von einer sehr alltäglichen Sache berichte, so geschieht es doch darum, 
weil sie nach allen Seiten hin sich bestätigen und erweitern läßt. 

Ein Mann, dessen Name gepriesen sei, hat ausgerechnet, daß auf 
dem Münchner Oktoberfest für rohes, idiotisches Saufen und Lustbar¬ 
keiten aller Art, deren Stumpfsinn man sich leicht vorstellen kann, eine 
Summe ausgegeben wurde, die ausgereicht hätte, um eine ganze 
Gartenstadt aufzubauen. Aberwitz, scheint mir, ist ein sehr gelinder 
Ausdruck einer Welt gegenüber, die täglich über die Not an men¬ 
schenwürdigen Wohnungen klagt, aber die Initiative nicht besitzt, 
— denn das Geld, der oft beredete Nerv aller Dinge, ist wie man 
sieht vorhanden — anzupacken und zu tun, was die Not erfordert. 
Aber dieses Beispiel mag nicht stichhaltig sein, denn es läßt sich ein¬ 
wenden, daß im Oktoberfest ein Urtrieb des Menschen sich mani¬ 
festiert, der sich nicht so leicht ausrotten läßt, und stärker ist als 
alle Gründe des bloßen Nutzens oder gar einer vagen Humanität, 
weshalb vielleicht auch dieses selbe Fest von der über alle Zweifel 
schädlichsten Veranstaltung des Weltkriegs sich ohne Widerstreben 
ausrotten ließ — genug: um mit einem stärkeren Beispiel zu beschwören, 
.will ich daran erinnern, daß auf den ersten erschütternden Auftuf 
Nansens hin, der kein ungehörter geistiger Mensch ist, sondern mit 



Friedrich BttrscheU, Reise m die Stadt 


54* 

bevollmächtigter Stimme im Völkerbundsrat sitzt, zu einer Zeit, als 
es noch möglich war, mit amfassenden Vorkehrungen der russischen 
Hungersnot wirkungsvoll zu begegnen, England, die reichste in Frage 
kommende Macht, die dazu notige Summe verweigerte, die gleiche 
Summe, die es oft genug unbedenklich für ein einziges Großkampf- 
schifF ausgegeben hatte. Phantastische Barbarei und Dummheit, scheint 
mir, ist ein sehr gelinder Ausdruck einer Welt gegenQber, deren 
Schäden zu offenbar sind, als daß sie nicht wüßte, wo sie liegen, 
und die nichts oder das wenige zu spät oder nach langen Zänkereien 
unternimmt, um sie zu heilen. 

Wie, dies wäre gesagt, um Mut zu machen? Angesichts eines so 
unverbesserlichen Geschlechtes sollte man es wagen, von einer Vor¬ 
sehung zu reden, von Schritten, die unablässig vorwärts rücken, und 
gar von der Geburt eines neuen Geistes, vom Dämmern eines wahren 
Orients! Gemach, nicht ganz umsonst ist uns die älteste tiefste Weis¬ 
heit überkommen: zwar nicht immer geht neben Schuld und Ver¬ 
fehlung das Bewußtsein eben dieser Schuld einher, aber es gibt eine 
Sünde, die so lebhaft brennt, so sichtbar den gesunkenen Stand an¬ 
zeigt, und was man um der Sünde willen hinter sich ließ, daß gleich 
Adam, dem in das Elend und den bitteren Tod Verstoßenen, die 
Menschen eine Stimme hören können, und von nun ab hilft keine 
Ausrede mehr, von nun ab wissen sie, was gut und böse ist. Es ist 
in ihre Hand gelegt, die Wahl ist frei, und wenn sie auch dem 
Schicksal nicht entgehen und Arbeit, Not und Mühe über sie gesetzt 
sind, so bleibt es doch ihnen überlassen, worauf sie die Mühe ver¬ 
wenden, ob zum Guten oder zum Bösen und ob der lange schwere 
Weg zur Klarheit oder zur Finsternis führt. 

An solcher Erkenntnis hat man sich zu stärken, es ist nicht an der 
Zeit, wehleidig zu sein, und wer morgen gleich das Paradies erwartet, 
dessen Leben ist verloren für die Dauer und den Aufstieg des 
Menschengeschlechts. 

Doch ich müßte das Schönste und Tröstlichste verschweigen, 
würde ich nicht noch von einem Anblick sprechen, in dem die 
höchste Form des Daseins nicht eben nur verheißungsvoll, sondern 
unmittelbar zum Herzen ging. Es ist sonderbar genug, daß in einer 
Stadt, wo nun schon den ganzen Winter hindurch Lotte auf allen 
Litfaßsäulen öffentlich und wie es scheint mit sehr geringem Erfolg 
ermahnt wird, doch nicht immer nackt herumzulaufen, dieses auch 



Friedrich Burschell, Reise m die Stadt 547 

eu finden ist Freilich, es ist von lange her und nur im Anschauen 
tröstet es unser Herz, im Gefühl, daß es so fromme Hände einmal 
gab, die dieses bildeten, sonst aber ist es ein Glück zu nennen, wenn 
man von solcher Reinheit rieh treffen lassen und noch erröten kann. 

Im Kaiser-Friedrich-Muscum steht, vermutlich erst seit kurzem, in 
dem Saal hinter Riemenschneider eine anonyme gotische Holzgruppe. 
Sie steht in der Mitte des Saales, man kann sie deutlich sehen. Der 
unbekannte Meister wird in der südwestdeutschen Gegend gesucht. 
Die Gruppe ist nicht eben groß; auf einem kantigen Block, aus ihm 
herausgeschnitzt, ritzt Jesus und eng neben ihm Johannes. Es ist gar 
nicht anders möglich, als daß es der Jünger ist, den der Herr lieb 
hatte, der auch an seiner Brust beim Abendmahl gelegen war. Wenn 
es überhaupt eine Grenze gibt, wo das Kunstwerk an das heiligste 
Geheimnis stößt, so ist sie hier erreicht. So sehr, daß die hohe 
Kunst des Meisters vergessen werden kann und nur Natur und höchstes 
Dasein bleiben. 

Das abgebrauchteste, übel gehetzte Wort kommt hier zu seinem 
Sinn: das Werk ist in einer Weise deutsch, derart ist in ihm der 
verschüttete Grund unsres Wesens, verstärkt durch die ehrwürdigste 
Gestalt, ans Licht gehoben, daß einem die Augen übergehen vor Stolz 
und Scham zugleich. 

Jesus ritzt ruhig auf dem kantigen Stein, alle Tugenden spielen sich 
zur gewölbten Stirne hinauf, schön ist das Antlitz nicht, es scheint 
sogar ein wenig derb, doch welch heitere Gewißheit bricht aus dem 
Emst dieser Züge! Johannes aber, dessen flach ausgestreckte Hand auf 
der kräftig stützenden Hand Christi ruht, wie vermöchte man ihn 
mit Worten wiederzugeben, da in ihm doch das Geheimste getroffen 
ist Unendliche, unsagbare Hingabe, Vertrauen und Liebe zum Herrn, 
so versucht man es auszudrücken. Jugendlich schön, in Begeisterung 
prangend, mit geschlossenen Augen, beinahe das Gesicht eines Engels. 
Alles aber, der ruhige Block, der Herr und der Jünger, die Erde und 
ihre mögliche Erlösung werden zusammengehalten durch die jäh ab¬ 
gebogene, nie zu vergessende, im Überdenken gelinde erscheinende 
Linie, mit der Hals und Kopf des Jünglings an die Schulter des ge¬ 
liebten Meisters sinken. 

Es könnte sein, daß wieder einmal geglaubt wird, und es ist gut, 
so lebendig daran erinnert zu werden, was das Tiefste unsres Volkes 
war und was aus dem verschütteten Grund heraufzuholen ist, wenn 
anders wir noch hoffen sollen. 



POLITISCHE CHRONIK 

von 

JUNIUS 

I 

R eifen Menschen braucht nicht gesagt zu werden, daß böse Dämonen 
die geschichtlichen Machtkämpfe treiben. Mehr denn je werden sie, 
die den Weltkrieg, die Art, wie in den so genannten Friedensverträgen 
die Lüge unser Menschenschicksal verpfuscht hat, und die Geißelungen 
des sowjetistischen Imperialismus erlebt haben, sich des schmerzensreichen 
Bekenntnisses von Jakob Burckhardt erinnern: Die Macht, — ja, das 
ist das Böse an sich .. Nie mehr dürfen wir das vergessen, wenn 
wir das Moskauer Experiment begreifen wollen, denn nie und nirgends 
haben Menschen, die (nehmen wir an) das Gute wollten, so plan¬ 
mäßig, mit so viel Absichtlichkeit und Theorie und dialektischem 
Fanatismus das Böse — ein unausscböpfbares, menschenverschlingendes 
Meer davon — geschaffen. Bringet Hilfe, sucht die Lawine des Hunger¬ 
todes, die Massenmillionen verschüttet und vorher kannibalisiert, auf¬ 
zuhalten, ,opfert*, spendet Liebe und Labsal so viel und so oft Ihr 
könnt, sucht der Menschenfresserei zu wehren, die sich da unten in 
den fruchtbarsten Gebieten des Russenreichs — mit der Dialektik als 
Geburtshelferin, wie ich innerlichst glaube — angesiedelt hat, aber 
laßt Euch über den Grad, den Umfang und den besonderen Giftgebalt 
der von den Moskauer Imperialisten der proletarischen Idee verübten 
Irrungen nicht mehr täuschen. Nachdem sie nun, in der verzweifelten 
Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit von Staat, Volk und Wütschaft, 
den Weg blanker Kapitulation ihrer theoretischen Grundbekenntnisse, 
der Kompromisse, der denkbar zynischesten Opportunitätspolink be¬ 
schriften haben, meinen viele ihr Urteil über die östlichen Terroristen 
milder fassen zu sollen. Seit wann ist in der Geschichte, der Politik, 
dem Leben, dem Strenge und Härte alleinige Konstruktionsmittel sind, 
mildes Verzeihen der Schlüssel zur Wahrheit? Die Aufforderung dazu 
lese ich auch aus den russischen Berichten des so klugen und durch¬ 
gebildeten Herrn Paul Scheffer heraus, aber wenn man sich in die endlos 
gcwundeten Antithesen hineinfühlt, in diese vom unbedingten Willen 
zur Objektivität a tout prix getragenen Darstellungen: so endet man, 
erregt, mit der Feststellung, daß die Überspannung einer Tugend ein 
Laster, — daß der Preis für diesen Objektivitätsdrang Verrat am 



jfunius, Politische Chronik 


549 


Wahrheitswillen sein kann. ,Es ist wahr*, sagt er in seiner am i. März 
im Berliner Tageblatt veröffentlichten Zusammenfassung, ,es ist wahr, 
daß Rußland zu normalen Verhältnissen zurückkehrt, aber im selben 
Atemzug muß man sagen, daß es nicht wahr ist Über Rußland zu 
sprechen, heißt ein endloses Gegeneinanderausspielen von Gedeihen und 
Verderben. Sie stehen oft ganz eng nebeneinander. Die größten 
Gegensätze sind oft nächste Nachbarn. Der Kontrast von Hoffnung 
und vollendetem Unglück findet sich überall und in allem. Es macht 
jede Sache aus.* Was soll der mit einigem Urteil begabte Leser dazu 
sagen, nachdem er in endlosen Perioden über die Ausdrucksformen 
des vollendeten Unglücks aufgeklärt wurde und vom Gedeihen nichts^ 
aber auch gar nichts vernommen hat; und nachdem der Berichterstatter 
unserer nun schon gesicherten Erkenntnis der Ursachen, des Ganges 
und der politischen, wirschaftlichen und seelischen Wirkungen der 
russischen Revolutionen nichts Wesentliches hinzugefügt und nur — 
aufmerksamer und mitfühlender Beobachter der er ist — die aus den 
Tiefen auftauchenden sinnlichen und sittlichen Reflexe auf geistreiche 
Weise festzuhalten versucht hat 

Lassen wir den etwaigen (?) Schuldanteil der Moskauer an der 
Hungerkatastrophe beiseite, schon um den menschlich befreienden Drang 
zu helfen, der sich gerade unter den in materieller Enge Lebenden regt, 
nicht zu ersticken: es bleibt, daß die Leninleute, wie der russischen 
Wirtschaft, so auch Marxens Lehre das Rückgrat gebrochen haben. 
Das wird jetzt, wo das Zerstörungswerk vollendet ist, so recht deut¬ 
lich, indem sie, um der Rettung willen, zu den «zivilisatorischen Seiten 
des Kapitals* ihre Zuflucht nehmen. Das Wort, das Marx seiner Kritik 
der politischen Ökonomie (1859) auf den Weg gab, gilt zu allen 
Zeiten: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Pro¬ 
duktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue 
höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die 
materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesell¬ 
schaft selbst ausgebrütet worden sind.** Der soziale, die Reife für die 
höhere Stufe zeugende Entwicklungsprozeß wird also dem naturge- 
schichtlichen gleichgesetzt; Gewalt, der Terror allein schaffen aber diese 
Reife nie, weil sie das Gesetz von den wirtschaftlichen Stufenfolgen 
nicht umbiegen können, sie können nur den Durchbruch zur Reife 
erzwingen helfen. An diesem Bollwerk aus Erz zerbricht auf die Dauer 
der Zäsarenwahn jedes menschlichen Willens, hier findet er seine Grenze; 
und weil Marx das immer wieder lehrte und die Lehre forschend 



55 ° 


Jvnius, Politische Chronik 


unterkellerte, darum wurde ihm Fatalismus vorgeworfen. Wundervoll 
klar hat diese Grundanschauung des sogenannten wissenschaftlichen 
Sozialismus, die nun von den Bolschewisten auf gröbste verzerrt wird, 
Engels in der Streitschrift gegen Dtthring umschrieben: „Wenn man 
sagt, die Lohnknechtschaft sei nur dasselbe wie die Sklaverei, dann 
könnte man auch sagen, die Menschenfresserei sei dasselbe wie die 
Lohnknechtschaft, denn das Ursprüngliche war nicht die Sklaverei, 
sondern daß man die Unterworfenen auffraß. Wie oft auch in der 
Geschichte die bloße Gewalt gegen die ökonomische Entwicklung 
war, — entweder geht sie mit der ökonomischen Entwicklung, dann 
erfüllt sie ihren Zweck, oder sie geht gegen die ökonomische Ent¬ 
wicklung, dann unter Umständen wird der Zwang (namentlich wenn 
rohe Völker über kultivierte Völker herfällen) zum Ruin der ganzen 
Kultur, oder dann setzt sich doch im Laufe der Zeit das ökonomische 
Moment durch gegen die Gewalt, die Gewalt unterliegt.“ So 
dachten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki entwicklungsgeschidit- 
lich und aus der Seele, das heißt dem ökonomischen Bedürfnis des 
russischen Bauern heraus, und sie dachten nicht daran, für ihn, der 
die Mehrheit des Volkes bildet, höhere Rechte zu fordern als die 
»ökonomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung* 
guthieß. Die Bolschewiki verfuhren umgekehrt: einem Lande mit 
dünnem Aufputz bürgerlicher Gesellschaft wurde die Gewalt, wie wenn 
sie wirtschaftliche Reife schüfe, als Basis der Produktionsverhältnisse 
unterschoben, darüber eine der Sacharbeit feindliche, die schöpferische 
Leistung unterbindende allmächtige büreaukratische Despotie übcrgestflJpt, 
die Gesellschaft zu ihr, als Staat, in ein Hörigkeitsverhältnis gesetzt 
und nun dieser natur- und geistwidrigen »Schöpfung 1 zugerufen: Ar¬ 
beite, wirke. Das nannte man dann in einem vor- oder frühkapita¬ 
listischen Bauernlande die Diktatur der Arbeiterklasse, es war tatsächlich 
die Diktatur von klassenlosen Intellektuellen und endet in einen fluch¬ 
würdigen Bankrott der Dinge und der Menschen. Lassalle, Marx, 
Engels haben mit ihm nur negativ zu tun, durch die Verfälschung ihrer 
Lehre und Lehren, oder positiv höchstens insofern, als sie die Hegel- 
sche Vergottung des Staates ins Gewissen der aufsteigenden Arbeiter¬ 
klasse gehämmert haben. 

Diese Anmerkung genüge ftir heute. Die Art, wie der Cyniker 
Radek seinen »idealistischen Amoralismus* auf Rundreisen in den 
Westländem spazieren führt und nun sogar das frühere Bundesverhältnis 
($ 116!) des Zarenreichs mit den plutokratischen Herren der Welt 



’Junius, Politische Chronik 


55 * 


zugunsten der Dritten Internationale flott zu machen versucht, um auf 
den deutschen Willen zur Hilfe beim Wiederaufbau einen Druck zu 
Oben: das wird zur Fortsetzung des Themas, das uns mit wachsender 
Verwirrung bedroht, veranlassen. Wer aber, nach allerhand Vorstudien, 
Ober die Soziologie des Bolschewismus sich unterrichten mochte, dem 
empfehle ich die im Verlage der Berliner Freiheit erschienene Schrift 
von N. Gefimoff. Er wird dann vielleicht besser verstehen, warum 
das todesmatte Hundertmillionenvolk trotz seinem revolutionären GlQck 
zu — »normalen 4 Verhältnissen zurOckzukehren trachtet 

• 

n 

Unmittelbar bevor die Pforten zum Friedenstempel von Genua ge¬ 
öffnet wurden, trafen sich in Berlin die Vertreter der drei Arbeiter- 
Internationalen: z, 2*/, und 3, um dem Hohn auf den Begriff der 
Internationale ein Ende zu machen und die der Wiedervereinigung 
des gesamten Weltproletariats im Wege stehenden »Mißverständnisse* 
zu beseitigen. Als ob sie, ohne tiefere seelische und ökonomische 
Ursachen, bloß aus dialektischer Verwirrung, entstanden wären; und 
als ob nicht die Entwicklung der letzten acht Jahre den Sprengstoff 
unter die national getrennten und in sich zerfallenen Gruppen des 
Proletariats geworfen, die früher gemeinsam bekannten Programme 
zerfetzt, die überlieferten Grundanschauungen zernagt, die marxistischen 
Grundbegriffe ausgehöhlt und erneut zur Bewährung an der Wirk¬ 
lichkeit aufgefordert hätte. Der Kongreß verlief denn auch, trotz der 
leeren sonnenlosen Schlußerklärungen, ergebnislos, die Affekte tobten 
sich in der ohnmächtigen Form nach innen fressenden Ingrimms aus, 
das gemeinsame alte Vokabular schützte nicht vor Insulten, und die das 
Schicksal mit Skorpionen gezüchtigt hatte, wie die Russen, standen sich, 
zum bleichen Entsetzen der anderen, als Todfeinde gegenüber. Die Rede 
des Belgiers Vandervelde bewies, daß nicht einmal eine ungefähr gleiche 
Plattform gegen die blödeste Form des Nationalismus gefunden werden 
kann; denn wenn belgische und französische Arbeiter sich, zum Schutz 
eigener Interessen, hinter die »gerechten* Friedensverträge verschanzen, 
so ist der Weg zur Internationale, — sagen wir bescheidener: zu 
einem auch für die Besiegten erträglichen Friedenszustand, noch weit 
Ich sage das nicht aus Schadenfreude, sondern aus Wehmut über ein 
gut gemeintes aber schlecht bedachtes Unternehmen. Solange große 
und kulturell hochstehende Teile des Proletariats die Gesinnungen un¬ 
berührt lassen, die als Konstruktionsprinzipien der Friedensverträge 



55 * 


Jun 'tus, Politische Chronik 


gedient haben, kann von den Zäsaren des Nationalismus und der nationalen 
Plutokratien der Friede sabotiert werden. Alsdann die Hauptsache: der 
Kampf um die Methoden der gesellschaftlichen Erneuerung durch den 
Sozialismus ist noch in den Anfängen; die russischen Ausrottunga¬ 
methoden haben Bankrott gemacht, weil sie über die Bourgeoisie hinaus 
das Volk selbst ins Mark trafen, ihre Rettung gelang nicht einmal 
rhetorisch dem dialektischen Zauberkünstler Radek; was aber sonst 
vorgebracht wurde, erreichte denkerisch und soziologisch ein äußerst 
bescheidenes Maß, selbst die vielen starken Kopfe und Temperamente, 
die die Versammlung zierten, konnten die Lähmung durch die un- 
ausgereifte Zeitlage nicht los werden und blieben in Verlegenheits- 
Wendungen stecken. Die wahre Ursache wollen sich die meisten 
öffentlich nicht eingestehen: weder das Schuttwegräumen noch der 
Wiederaufbau der Weltwirtschaft, die Voraussetzung eines Leben und 
Freuden spendenden Sozialismus, ist ohne Mitwirkung des Unter¬ 
nehmertums, der westlichen Kapitalverwalter und der privaten Initiativ¬ 
kräfte denkbar, an dieser Tatsache hat das Diktaturbestreben des Prole¬ 
tariats auf unbestimmte Zeit eine Grenze. Die Klassenkampfidee wird 
sich an dieser Tatsache wund reiben, wenn sie nicht neue Kompromi߬ 
formen sucht, um sich zur Geltung zu bringen. Diese stehen tausend¬ 
fach zur Verfügung, nicht nur fiskalisch und nicht nur durch fast 
radikale und gesellschaftlich auf die Dauer wahrhaft umgestaltend 
wirkende Beseitigung des Erbrechts; aber noch trauen sich wenige 
Proletarierführer, diese unvermutet neue Gesellschaftslage in den Pro¬ 
grammen zu berücksichtigen und die Massen zu ihrer Anerkennung 
zu zwingen. Ehe das nicht geschehen ist und das Erziehungswerk 
sich nicht auf die Belebung des erstarrten ökonomischen Denkapparats 
erstreckt haben wird, werden die sozialistischen Parteiprogramme genau 
so wenig wie die öden Werbeschriften der Bürgerparteien ihren Toten¬ 
kopfcharakter verlieren. Immerhin: hier lag auch auf diesem verlorenem 
Kongreß — oder wie man die Veranstaltung nennen mag, die Inter¬ 
nationale in Brüchen zu leimen — der wehmütige Schimmer einer 
großen Menschheitssache; und wer in die Leidenszüge dieser ernsten 
und sinnenden Männer schaute, fühlte sich zwar erschüttert, zugleich 
aber berechtigt, ein klein wenig zu hoffen. Oder sollte man von 
den imperialen Verfechtern der Zahn um Zahn-Rechnung in Genua, 
wohin manche von den Kongreßlem zu pilgern sich anschickten, die 
beseligende Osterbotschaft erwarten dürfen? 



Jun ius, Politische Chronik 




III 

m m 

.Äußerlich gesitteter, ,beherrschter% den Salonkonventionen ge- 
mäßcr werden sich die bürgerlichen Gegenspieler dieser verzankten 
Internationalisten in der Genuesenstadt vielleicht schon benehmen, aber 
den Kolumbustyp, in dem das heilige Feuer glimmt, werden wir 
unter den großen Herren da unten gewiß nicht finden. Ein jeder 
von ihnen ist mit seinem »Vertrauensvotum* im Koffer angelangt, 
diesem lahm gewordenem Gaul ausgeleierter parlamentarischen Routine, 
die in dieser bitteren Zeit wie ein salzloses Narrenspiel anmutet Da 
ist Herr Poincard, manche nennen ihn einen ins Keltische übertragenen 
XJr-boche; — ich bemerke, daß dieser Politiker aus Lothringen stammt 
und sich möglicherweise die germanische Blutbeigabe atavistisch in 
ihm bemerkt macht Aber neben der Dickköpfigkeit und dem Starr¬ 
sinn bis ins Kleinste und Unwesentlichste, was Genialität von vorn¬ 
herein ausschließt, ist Herr Poincard auch ein vollendeter französischer 
Rechtsformalist, der mit seinem blitzsauberen Begrifisapparat eindeutige, 
kompromißfeindliche Politik macht Er hat Cannes sabotiert und hat, 
so viel an ihm lag, Genua sabotiert, noch ehe es in die Erscheinung 
trat Diese Haltung gebietet Achtung, so verächtlich, an europäischen 
Maßstäben gemessen, sein politisches Gesamtwerk sich dereinst darstelien 
wird. Seelisch hat sich sein Leben um den Revanchegedanken 

kristallisiert, mit ihm als Apperzeptionszange hat er zäh und unab¬ 
lenkbar die Alliancen konstruieren helfen, die, durch unsere inneren 
Fehler, Mängel, Schwächen, Blindheiten fett gemästet, zum europäischen 
Brande führen mußten. Nun fordert er die buchstabengetreue 
Realisierung des Versailler Vertrages, jede sachliche Belehrung, nun 
gar von unserer Seite, prallt am Panzer seiner Exekutionspolitik ab, 
ihre Marschroute bestimmt der alte überlieferte französische Imperialis¬ 
mus — man braucht nicht einmal zu den Reunionskammem des 
vierzehnten Ludwig hinabzusteigen, es genügen z. B. die Konvent¬ 
reden ttber die Rheingrenzen —: und nun treibt er seine politische 
Inflationsmethode so weit, als seine früheren Verbündeten England 
und Amerika es irgend vertragen. Auch unter dem klassischen Oppor¬ 
tunisten Briand hat Deutschland weiter opfern müssen, sein Sammet¬ 
händchen hat uns Oberscblesien aus dem Leibe gerissen; aber vor 
dem Medusenhaupt der europäischen Wirtschaft begann auch ihn zu 
frösteln. Poincard respektiert offenbar nicht einmal diese Grenze, 
er duldet nicht, daß das Reparationsproblem in den Zusammenhang 
der Wiederaufbau-Überlegungen gestellt wird, — es sei denn, daß 



554 


Junivs, Politische Chronik 


England und Amerika für die deutsche Schuld an Frankrach bürgen, 
Garantien geben d. h. Geld durch Anleihen schaffen. In diesem 
Programm fehlt kein Steinchen und hinter jedem Vertragsparagraphen 
steht das gewaltige Heer, das er der Furchtpsychose des an sich so 
friedliebenden Volkes abtrotzt Ihn ficht nicht einmal der Eishaudi 
der Isolierung Frankreichs an, das Memento Washingtons überholt 
er, er setzt ihm die groß angelegte Propaganda von dem geflissent¬ 
lich arrangierten deutschen Bankrott, von der bewußten Unter¬ 
besteuerung, von den trotz aller Verbote vorhandenen Kadres für die 
deutschen Revancheheere entgegen; und was Rußland betrifft, so 
bedingt er sich Garantien für die Vorkriegsschuld, aber auch Siche¬ 
rungen für die westlichen Rechtskonventionen aus, unter deren Schatz 
Leben, Arbeit und Eigentum der herbeigerufenen Helfer zu stehen hätten, 
das heißt also eine ,Probezeit c , von deren positivem Ergebnis die 
Anerkennung der heutigen russischen Regierung abhängig sei. Hier 
haben wir eine Politik und eine Gesellschaftsauffassung von schatten¬ 
loser Klarheit, die die Parlamentsmehrheit seines Volkes bisher noch 
hinter sich, und für die einzustehen er scheinbar den großen Heerbann 
der kleinen Satrapenvölker im Osten und Südosten augenscheinlich ge¬ 
wonnen hat. Kein Wunder ist, daß solch charaktervoller Starrrinn Loyd 
George Programmdiktate aufzuerlegen vermochte, dem Mann, in dem 
heute ein zündender Einfall — Genua! — auf blitzt, und der morgen 
vor seinem eigenen genialischen Konzept kapituliert 

IV 

Was sich vor Genua ereignete; ist für ihn typisch. Er hatte; in 
diesem konkreten Falle, nicht die Kraft, den an rieh richtigen Ge¬ 
danken, an dem freundlichen Verhältnis zu Frankreich festzuhalten, so 
lange es unter Opfern geht, der europäischen Not ein für allemal 
unterzuordnen, wegen der Gefahr, in dem Morast der Halbheiten und 
der geknickten Überzeugungen zu versinken: wie vor ihm, aus anderen 
Ursachen und unter wesentlich günstigeren Umständen, Wilson. Zn 
erklären ist dieser tragische Widerspruch, der unsere Wüstenwanderung 
nicht eben abkürzen und ungezählte Völker auf der via dolorosa der 
Passion von Genua aus zunächst noch weitertreiben wird, aus ein¬ 
geborener Schwäche des Ethos, des Triebwerks in jedem großem 
Staatsmann. 

Herr Loyd George fühlte das Bedürfnis, zu Erziehungszwecken 
für seine Schöpfung Genua das Memorandum zu veröffentlichen, 



Junius, Politische Chronik 


555 


das er vor drei Jahren, damit die Friedensbedingungen aus weiser poli¬ 
tischer und menschlicher Voraussicht geboren würden, verfaßte und 
den verbündeten Regierungen, insbesondere dem Frankreich Cle- 
menceaus überreichen ließ. Wenn am europäischen Jammer gänzlich 
Unbeteiligte, also Mond- oder Marsbewohner, einen Preis aus¬ 
geschrieben hätten, die Voraussetzungen und das Grundsätzliche eines 
dauerhaften Friedens logisch verkettet aufzuzeichnen: dieses stilistische 
Meisterwerk hätte ihn erhalten. Es war an die Adresse des Meist- 
beteiligten, also Frankreichs, gerichtet. War nicht seine Veröffent¬ 
lichung in diesem Augenblick wie eine Beschwörung des harthörigen 
Genossen, die aus banger Seele strömte, damit auch in ihm neben 
dem aufgeklärten nationalen Egoismus die Gewissenskräfte wach 
würden? Es ist nicht schwer, wird da ausgeführt, einen Frieden 
zusammenzuflicken, der dreißig Jahre hält; aber dann sind die Greuel 
des Krieges vergessen, ein neues Geschlecht ist inzwischen heran¬ 
gewachsen, und wehe wenn es objektiven Grund hat, die Friedens¬ 
bedingungen als hart, ungerecht, unerträglich einschnürend, die natio¬ 
nale Würde zertrampelnd zu empfinden. Es drängt sich, berauscht von 
den heroischen Bildern der Massenschlächterei, zum Kampf um die ver¬ 
lorene Freiheit, ohne Rücksicht auf Gut, Geld und Leben, von einer 
unsterblichen Idee getrieben. So war es immer, und so wird es bleiben. 
Das Beispiel Frankreichs nach Siebenzig bezeugte diese ewige Wahrheit 
der Geschichte. Harte Bedingungen, erbarmungslos strenge mögen auf¬ 
erlegt werden, aber Anmaßung und Ungerechtigkeit in der Stunde des 
Triumphes werden nie vergeben und vergessen. Man horcht auf und 
denkt, analogisch, an Bismarck in Nickolsburg; aber wie der Kampf 
um die Vormachtstellung in deutschen oder von deutschen Dynastien 
beherrschten Ländern neben dem Weltkampf an Bedeutung zusammen¬ 
schrumpft, so ist auch das von Lloyd George empfohlene Schlichtungs¬ 
prinzip unendlich umfassender. Er warnt davor, neue Irredentaherde, 
neue nationale Sprengstofflager zu schaffen, noch mehr Deutsche, 
Angehörige also einer der tüchtigsten und machtvollsten Rassen des 
Planeten, unter fremde (lies: polnische) Herrschaft zu stellen, noch 
mehr Magyaren in die slavischen Nachfolgestaaten zu stopfen und 
so den Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung durch strategische, 
wirtschaftliche oder verkehrstechnische Erwägungen (die mit anderen 
Mitteln zu berücksichtigen seien) zu fälschen, zu verraten; und fordert, 
zweitens, für die Entschädigungszahlungen eine Dauer, die mit dem 
Kriegsgeschlecht erlischt. Wird anders verfahren, so erhalten wir 



55 * 


jfunius, Politische Chronik 


einen Scheinfrieden mit tausend Reimen zu neuen Kriegen im Leibe. 
Bei einem QbergedemQtigten Deutschland rechnete Lloyd George 
damals mit der Alternative des Bolschewismus und des Anschlusses an 
die Flut der Weltrevolution aus nationalen Gründen, — auch dies 
ein kluger wenn auch zeitbedingter Gedanke, der aber auf den 
»Tiger*, wie man weiß, den Eindruck verfehlte. In diesen Geleisen 
läuft die Denkschrift weiter, zuweilen durch Sandwüsten der Banalität, 
dann aber wieder allgültige politische Gesichtspunkte zu prägnanten 
Formeln kristallisierend. Da breiten sich schon, als Möglichkeiten 
vorweggenommen, die die europäische Atmosphäre verpestenden 
schmutzigen Nachgeburten der Versailler Fehlgeburt vor dem erlauchten 
Leser aus, auf dessen Einsicht und Willen die Denkschrift doch zu 
wirken bestimmt war; die Gefahren einer umfänglichen und auf lange 
Zeiten berechneten Besetzung deutscher Gebiete werden geschildert; die 
Aufgabe eines Völkerbundes wird umschrieben und in dessen Mittelpunkt 
die Verpflichtung zur Rüstungsbeschränkung der Hauptsignaturauchte zu 
Wasser und zu Lande gestellt und die Aufnahme des zwangsweise ent¬ 
militarisierten Deutschland sofort nach Bildung einer stabilen demo¬ 
kratischen Regierung empfohlen, aber auch schon der sogenannte 
Garantiepakt zwischen den angelsächsischen Staaten und Frankreich ent¬ 
worfen. Nicht alles ist da Gold, was glänzt, trotzdem zeigt der ganze 
Entwurf die genialische Hand des Verfassers, der auch fordert, daß 
Deutschland sofort beim Friedensabschluß unbehinderter Zugang zu den 
Rohstoffen und Märkten der Erde zu den gleichen (!) Bedingungen wie 
den Verbündeten gegeben werde, und daß diese alles zu tun hätten, 

um es wieder auf die Beine zu bringen. Spricht da der alte Freihändler, 

der um das Schicksal der britischen Stapelindustrien bangt und an die 
nährende Funktion der zerschlagenen mitteleuropäischen Märkte für 
sie denkt? Diese Denkschrift war also bestimmt, europäische Politik 

zu machen, ihre Veröffentlichung just vor Genua war daher (sollte 

man meinen) zu gleicher Leistung berufen, soweit der in Versailles 
an ihr verübte Verrat dies noch zuließ. Aber dann ging der Staats¬ 
mann nach Boulogne und unterwarf sich Poincar i in den vier für 
das Gelingen Genuas entscheidenden Punkten: keine Erörterung der 
Verträge, die »heilig* bleiben; keine Erörterung des Entschädigungs¬ 
problems, also des Einflusses der Verschuldung eines Landes auf sein 
Geldwesen und seine Zahlungsbilanz; keine Erörterung der Abrüstung»- 
fragen; keine Anerkennung Sowjetrußlands, es sei denn, daß Garantien 
nach rückwärts (Anerkennung der zarischen Schuldenmasse), nach 



Jtmius, Politische Chronik 


557 


vorwärts (Anerkennung der westlichen Rechtssatzungen für Westler und 
deren Eigentum, die an der russischen Aufbauarbeit sich beteiligen 
wollen), nach innen (Herstellung demokratischer Freiheit für Nicht¬ 
kommunisten), nach den Grenzen hin (Anerkennung, zum Schutz dieser 
Grenzen, der mit den Randstaaten abgeschlossenen Verträge) gegeben 
würden. 

Vergißt dieser mit Energie und Rhetorgaben überreich begnadete 
Mann heute, was er gestern gesagt und gewollt hat? Der Politiker 
muß kompromissein, aber nur in der Richtung der von ihm gewollten 
Entwicklungslinie, in der Richtung eines Ideals also; daß er es bei 
jeder Wegbiegung in die Ecke stellt, vergißt, verrät, macht ihn je 
länger desto mehr nicht nur seinen Koalitionskonservativen verdächtig, 
sondern, wie es scheint, verächtlich, ohne daß seine außerordentliche 
Energieentfaltung während des Krieges und seine glänzende irische 
Leistung ihn seinen früheren liberalen und Arbeiterfreunden genähert 
hätten. Immer nur Taktik, es wird zum Ekel; so wenig wie die 
Natur läßt sich die Geschichte foppen. Wir aber, die wir das fun¬ 
kelnde Kraftzentrum Lloyd George bewundern, haben doch gelernt, 
von einer Vergeßlichkeit, die in Gewissenlosigkeit mündet, blutwenig 
zu erwarten. Die politische General beichte, mit der er sich vor der 
Reise in den Süden das Vertrauen des Parlaments errang, wird denn 
auch auf Schritt und Tritt von der Denkschrift Lügen gestraft, am 
gründlichsten dort, wo sie, nach St. Germain (Westungarn) und S&vres, 
von der Unverletzlichkeit der Verträge und der zu ei haltenden (aber 
Europa wirtschaftlich krank machenden) ökonomischen Souveränität 
der neuen Kleinstaaten spricht Unter solchen Auspizien ist die Konferenz 
in Genua eröffnet worden. 


V 

Strategisch betrachtet ist die Lage in Genua doch vollkommen 
klar. Gerade weil Wiederaufbaufragen das einzige Konferenzthema 
von Belang bilden, werden Deutschland und Rußland in ein Lager 
gedrängt und wird alles rein Macht- und Nationalpolitische beiseite 
geschoben werden müssen. Tritt nun aber, indem die Erörterungen 
über die Kredit- und Währungsfragen sich aus dem akademischen 
Dunstkreis heraus den Torderungen der Stunde — als welche die 
Forderungen des Lebens und der Zukunft sind — zuwenden: tritt 
dann der Schulmeister d’outre Rhin hervor und droht die Konferenz 
zu sprengen, weil sichs zeigt, daß zum Beispiel deutsche Inflation und 



55 * 


jktnius, Politische Chronik 


Kriegslasten siamesische Zwillinge sind und von dem Einem sprechen 
das andere zu berücksichtigen zwingt: so ist der deutschen Mission die 
Haltung vorgeschrieben, was immer zunächst die Folgen seien. Ihre 
leitenden Kopfe können nicht immer, aus taktischen Gründen, die 
leidenden Köpfe sein. Ein deutscher Katholik und ein deutscher 
Jude, die, um der völkerpsychologischen Wirkung willen, ein Jahr 
lang das Unmögliche möglich zu machen suchten, haben das Recht; 
endlich der deutschen Geduld eine Grenze zu setzen, weil unbelehr¬ 
barer Starrsinn das Mögliche unmöglich macht; und weil gerade diesen 
Männern machtpolitische Hintergedanken weltenfern liegen. Nicht nur 
die Russen werden für solche Haltung Verständnis haben, denn sie 
allein kann, im gegebenen Fall, die großen Völker des Westens auf* 
rütteln, und ihre Fürsprecher in eine Bahn zu zwingen, die endlich 
in Friedensland führt. Doch warten wir ab, was vor, was hinter den 
Kulissen geschieht; und ob man wagen wird, das alte Feuerwerk 
diplomatischer Tricks in dieser neuen Konstellation wieder einnul 
abzubrennen. 



ANMERKUNGEN 


Stimmen des Auslands 

I n einem Aufsatz der „Revue de 
Gendve“ spricht Fernand Bildens- 
perger über den „Amerikanismus 
ohne Maschinen“ im heutigen 
Europa. Der Krieg hat die amerika¬ 
nisierende Bewegung des alten Erd¬ 
teils gefördert, eine Entwicklung, die 
radikal von patriarchalischen Vorstel¬ 
lungen, vom Beieinander derFamilie,von 
sozialen Bindungen mit noch kleinem 
und privatem Radius fortdrängt und 
einen Zustand anstrebt, der in Beruf 
und Vergnügen, Arbeit und Muße, 
Religion und Sport die alten Grenzen 
sprengt. 

„Dreimal haben in der Kultur¬ 
geschichte offensichtlich amerikanische 
Einflüsse auf die alte Welt eingewirkt; 
doch jedesmal, wie es natürlich ist, 
fanden sich alte Traditionen bedroht 
und verhinderten, daß die Tat von 
drüben sich voll entfaltet: das Leben 
selbst und das, was wir den Fortschritt 
nennen, sind aus diesen Konflikten ent¬ 
standen. Die amerikanische Unab¬ 
hängigkeits-Erklärung hat die bekannte 
Anziehung auf das Abendland aus- 
geübt, und die französische Revolution 
war in ihren Anfängen durch die Ab¬ 
trennung von den britischen Kolonien 
zum guten Teil bestimmt worden. 
Nach 1830, als man sah, daß die Heilige 
Allianz nicht der endgültige Zustand 
Europas war und daß die Restaurationen 
schlecht gerechnet hatten, schien die 
„Demokratie in Amerika“, wie A. de 
Tocqueville sagte, einer der Pole der 
Welt zu werden, und Finanzen, Straf¬ 


vollzug, die staatsbürgerlichen Organi- 
nisationen der Vereinigten Staaten 
boten sich tausend Beobachtern als 
eben so viel Versprechen und Er¬ 
mutigungen dar. Endlich, beim Nahen 
des Krieges von 1870 und als der 
Liberalismus sich plötzlich den Pro¬ 
blemen der Volkserziehung, des Frauen- 
Unterrichts, des Schulzwangs gegenüber 
sah, bat man noch einmal Nordamerika 
um Rezepte und um Programme. Und 
jedesmal sollte der Elan, der selbst 
ohne ihr Wissen die junge trans- 
adandische Kultur ermutigt hatte, mit 
Gewohnheiten und Überlieferungen, 
die ihren Wett und ihren Adel 
hatten, schonend verfahren und sich 
abfinden: die Kräfte-Komponente ist 
wie in der Mechanik auch die große 
Angelegenheit in der Soziologie. 

Der „Amerikanismus ohne Ma¬ 
schinen“ ist ohne Zweifel eine Episode 
derselben Art. Der okzidentale Mensch 
wünscht nichts mehr, als seine Muße 
zu vermehren, seine Würde zu sichern; 
erverabscheut dagegen, was seine Arbeit 
übermäßig in eine einfache mechanische 
Tätigkeit verwandelt; er bemerkt nicht 
— oder noch nicht — einen Daseins¬ 
typus, wo einerseits intensiver Ertrag, 
andererseits Erholung erbarmungslos 
polarisiert sind; er bewahrt eine ge¬ 
heime Zärtlichkeit für eine Kombination 
von Persönlichkeit und Technik und 
widerspricht im Grunde seines Herzens 
dem Anblick der „Taylorisation“. Wird 
er die wahre Formel finden können 
und die Widersprüche der Gegenwart 
ordnen? Wird er dadurch, daß er 
besseren Werkzeugen die Sorge über- 


5 6 o Anmerkungen 


läßt, das grobe Werk zu vollenden, 
das er heute zu oft Intelligenzen über¬ 
gibt, die für besseres bestimmt sind, 
eine vernünftigere Stufung der mensch¬ 
lichen Werte ermöglichen? . . 

ln den „Berits Nouveaux“ 
(Paris) charakterisiert Paul Fierens die 
belgische Literatur: 

„Wenn ein Belgier mit Gerechtig¬ 
keit von Belgien spricht, hat er zwei 
Versuchungen zu bekämpfen. Denn 
sein nationaler Dämon ist gleichzeitig 
ganz Hochmut und ganz Skeptizismus. 
Wenn du ihn verspottest, ist er ge¬ 
kränkt; wenn du ihm ein Lob erteilst, 
scherzten Niemals geizig an Selbst¬ 
verachtung, erträgt er keine Ein¬ 
wendungen als die seinigen, und der 
Widerspruch reizt seine Laune in je¬ 
dem Fall. 

Im Augenblick, wo ich die letzten 
Anstrengungen unseres literarischen 
Daseins würdige, erprobe ich das Ge¬ 
fühl eines Kritikers, der soeben einen 
„Dreijahrs-Salon“ durcheilte und nun 
summarisch berichten soll. Hat er 
einen Meister entdeckt, dessen Werk 
die Bestrebungen derSchule zusammen¬ 
faßt? Nein. Und diese negative Fest¬ 
stellung treibt ihn zum Pessimismus. 
Der Horizont erscheint ihm wüst und 
die Landschaft ohne Versprechen. Da 
er nun die geringste Hoffnung zählen 
muß, beginnt er, zufällig zu betrachten, 
was ihn umgibt. Sein Interesse wird 
schnell finden, wo man anknüpfen 
kann, und allmählich wird das Ver¬ 
trauen und eine hellere Lebens¬ 
auffassung wiederkehren. Ja, es gibt 
Kräfte, die sich ordnen, Richtungen, 


die sich klären, ein langsamer Arbeits¬ 
beginn, der förtdauem wird. 

Die junge belgische Literatur, die 
mir anfangs nichtig erschien, ohne 
ein großes Werk, das man als be¬ 
zeichnendes nennen könnte, erscheint 
mir schon als Feld vielfacher Erfah¬ 
rungen, als Ort einer tröstlichen Frucht¬ 
barkeit. Ich wette, daß diese Ahnung 
Sicherheit werden wird; beim Examens¬ 
termin werde ich vielleicht der erste 
Überraschte sein, wenn man vielleicht 
nicht den einzigartigen Schatz entdeckt, 
aber mindestens viele verschiedene 
Reichtümer feststellt. 

Es fehlt uns der Zusammenhang der 
Kräfte, aber die Arbeit einiger Einzelnen 
trägt ihre Früchte. Es kann auch sein, 
daß eine gewisse geistige Langsam¬ 
keit — von der die Vlamen mehr als 
die andern betroffen sind und sie 
übrigens zu benutzen wissen — die 
literarische Entwicklung auf völlig un¬ 
bekannte Ziele verzögert. Um die 
Dinge gerade heraus zu sagen, könnten 
wir zu wenig als „Vorhut“ erscheinen. 
Warum verbergen, daß die junge 
französische Literatur uns bezaubert? 
Dennoch glaube ich, daß die besten 
unter uns recht haben, wenn sie sich 
nicht kampflos unterwerfen wollen. 
In einem Anfall von gesteigerter Be¬ 
geisterung haben mehrere einfach Er¬ 
scheinungen nachgeahmt und sich in 
der Nachahmung verloren. Ohne dem 
Aberglauben des völkischen Charakters 
zu huldigen, kann man wünschen, daß 
der Gewinn der französischen Eigen¬ 
schaften nicht gleichzeitig der Verlust 
einer unbestreitbaren Eigentümlich¬ 
keit ist.“ R. K. 


Verantwortlich fllr die Redaktion: Dr. Rudolf Kayser. 
Verlag von S. Fischer, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig. 





DIE KRISE DES DEUTSCHEN STAATES 

von 

M. J. BONN 

D er große Krieg und seine Folgen haben trotz aller ungeheuren 
Verluste das Gefüge des Deutschen Reichs nicht zu zertrümmern 
vermocht. Wohl aber besteht Gefahr, und ernsthafte Gefahr, daß 
das Band, das alle Bewohner des deutschen Reichsgebiets eint, im 
Innern zerrissen wird. 

Im Krieg ist die deutsche Staatsidee ins Ungeheure überspannt 
worden. Den Pädagogen aller Grade, die Jahrzehnte lang nicht müde 
geworden waren, geduldigen Schülern zu predigen, daß der Einzelne 
nichts sei und der Staat alles, war auf allen Meeren und auf den 
Schlachtfeldern dreier Kontinente Gelegenheit geboten, die Richtig¬ 
keit ihrer Lehren zu erweisen. Griechische Staatsweisheit und 
preußischer Drill hatten sich einander vermählt, um die blutigen 
Opfer entgegenzunehmen, deren Hekatomben der Weltkrieg ihnen 
zutrieb. Aber als die Vergötterung des Staates zum ersten Male in 
der Weltgeschichte härteste Wirklichkeit geworden war und jedes 
Volk tatsächlich zu einer Maschine gemacht hatte, in der der Einzelne 
nur ein surrendes Rädchen war, das ohne eigenes Wollen dem An¬ 
trieb einer allmächtigen Regierung gehorchte, da war in Deutschland, 
dem eigentlichen Tempel der praktischen Staatsvergötterung, der Staat 
innerlich bereits geborsten. 

In England, in Frankreich und in Amerika waren nach allmählichem 
Schwanken die Männer, die an der Spitze standen, in die Lage ver¬ 
setzt worden, ihren Völkern unverrückbare Ziele zu weisen und in 
rücksichtsloser Machtanspannung ihren Beauftragten die Mittel zur 
Verfügung zu stellen, die zur Erreichung dieser Ziele notwendig 
waren. In Deutschland war es anders. Während das deutsche Volk 
wieder und wieder bereit war, der Welt seinen Glauben an die 
Lehre seiner Führer zu beweisen, und die Einzelnen ihr Leben hin- 
gaben, weil das Ganze alles war, war der Staat bereits gespalten. 

36 


j6z M. y. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 

Die Regierung, in der sich der Wirklichkeit gewordene Staat ver¬ 
körperte, hatte eine Spitze: den deutschen Kaiser. Für ihn aber 
galt in ganz anderem Sinne, als sie ursprünglich gemeint war, die 
Maxime des konstitutionellen Staates „Le roi rhgne, mais il ne gou- 
verne pas“. Er war zu einer politischen Atrappe geworden, der wohl 
seinen moralischen Einfluß den Männern zur Verfügung stellte, die 
für ihn die politische Regierung führten, der aber die militärischen 
Rebellen nicht hindern konnte, im Kampfe gegen diese Regierung 
die Grundlagen des Staates zu unterwühlen. Diejenigen, die die 
politische Spitze des Staates bildeten und die Ziele zu bestimmen 
hatten, die dem deutschen Volke notwendig waren, wurden immer 
wieder von denen gehemmt, die die Mittel zu ihrer Verwirklichung 
hätten erfolgreich anwenden sollen. Und diejenigen, denen die Ver¬ 
wendung dieser Mittel anvertraut war — eine Aufgabe, die dem 
grenzenlosesten Ehrgeiz hätte genügen können — suchten der politischen 
Führung immer neue Aufgaben aufzuzwingen, obwohl sie selbst iu- 
gaben, daß nur in seltenen günstigen Momenten die verfügbaren 
Mittel zur Bewältigung der alten Aufgaben ausreichten. Nach außen 
verdeckte die Person des Kaisers die Kluft notdürftig, die die deutsche 
Regierung, das heißt die Trägerin des höchsten politischen Willem, 
spaltete; nach innen kehrten Zwecke und Mittel sich gegeneinander. 

In diesem Kampfe brach der deutsche Staat so auseinander, daß eine 
Revolution kommen konnte, ungleich allen andern Revolutionen: 
Sie war kein gewaltiges Erdbeben, bei dem sich flammenspeiende 
Krater bilden; sie war das fast lautlose Versinken längst erstarrter 
Kegel, über deren einstürzende Ränder dann die glühende Lava abfioß. 

Die Revolution brachte eine Partei ans Ruder, die an staatliche 
Machtvollkommenheit glaubte. Grenzenlos waren die Aufgaben, die 
die deutsche Sozialdemokratie dem Staat stellte, unbeschränkt das 
Vertrauen, — trotz aller Kriegserführungen — das sie der Möglichkeit 
von Regierungseingriflen entgegenbrachte. Aber als sie, von der 
Revolution gegen die Klippen der Macht geworfen, das Ruder des 
Staatsschiffs fest in die Hand nehmen wollte, zerbrach es ihr unter 
den Händen. 

Zwischen der Frage: Wer ist der Staat? wer sind die Klassen, die 
die höchste Macht in der Hand haben? Und der Frage: Was soll 
der Staat? bestehen enge Zusammenhänge. 

Der Staat vor der Revolution war ursprünglich in seinen Grund¬ 
lagen aufgebaut gewesen auf dem Grundbesitz und dem Beamtentum. 



M. y. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 565 

Mehr und mehr war das letztere in den Vordergrund getreten, und 
mehr und mehr hatte sich die Auffassung gebildet, daß dieses Beamten- 
tum imstande sei, durch einen festen zentralen Willen alle Aufgaben 
zu losen, die das Interesse des Gemeinwohls erfordern könne. Aber 
hinter dieser Staatsfront waren zwei neue Mächte emporgestiegen: 
die Industrie und die organisierte Arbeiterschaft. Beide waren aus 
dem Wirtschaftsleben geboren und ursprünglich in ganz anderer 
Weise wirtschaftlich, nicht politisch orientiert gewesen als der Grund¬ 
besitz, ehe der Bund der Landwirte ihn rein wirtschaftspolitisch ein¬ 
zustellen suchte. Das Zentrum des Weltgeschehens für die einen 
waren Preise, für die andern Löhne. Diesen wirtschaftlichen Zielen 
widmeten sie ihre Kraft, politische Macht als Mittel zu ihrer Er¬ 
reichung erstrebend. Beide standen damals im Staate. Die Industrie 
war vielfach durch Staatshilfe, wie Schutzzölle, groß geworden. Sie 
war längst über die Stufe hinausgewachsen, wo sie die Hilfe des 
Beamtentums zur Erfüllung rein wirtschaftlicher Zwecke benötigt 
hatte. Sie verachtete es innerlich und beeinflußte es auf Hinter¬ 
treppen, aber sie brauchte es als Machtmittel der organisierten Arbeiter¬ 
schaft gegenüber. Sie konnte zwar das Koalitionsrecht nicht verhindern; 
sie versuchte, ihm aber häufig praktische Schranken zu ziehen. Und 
sie wusste, wenn es hart auf hart ging, würde die Staatsmacht hinter 
ihr stehen. Die Arbeiterschaft, stark ideologisch gerichtet, war gegen 
den bestehenden Staat, aber nicht gegen den Staat als solchen. Sie 
schwärmte von einer allmächtigen Regierung, die das Wirtschaftsleben 
nach gerechten Regeln ordnen sollte, in der Hoffnung, daß der Tag 
nicht fern sei, wo sie selbst die Macht in die Hand nehmen werde. 

Der 9. November hat ihr diese Macht gebracht. An dem Tage, 
an dem der deutsche Staat mit der deutschen Arbeiterklasse identisch 
geworden zu sein schien, und wo für eine kurze Spanne Zeit 
Deutschland eine reine Arbeiterregierung besaß, haben der industriell 
organisierte Kapitalismus und mit ihm ein großer Teil der Gebildeten 
sich innerlich vom Staate losgelöst. Der alte Staat war versunken, 
der neue Staat suchte, sozialistische Ideale zu verwirklichen. Vielleicht war 
cs möglich, das zu verhindern. Es war aber nicht möglich, wenigstens 
auf absehbare Zeit vom Standpunkt des Unternehmertum aus, diesen 
neuen Staat zu beherrschen. Das Unternehmertum machte nicht so¬ 
fort Opposition. Es kehrte nur dem Staat einstweilen den Rücken 
und ging seinen Privatgeschäften nach. Es hatte erkannt, daß in 
Deutschland eine wirtschaftliche Hochkonjunktur entstehen würde, wie 



564 M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 

sie die Welt nie gekannt hatte, wenn nur das Gespenst des Bolsche¬ 
wismus gebannt werden konnte. Wahrend spielerische Theoretiker, 
und zwar meist solche ohne grfindliche Kenntnis volkswirtschaftlicher 
Theorien, die Pläne einer neuen Weltordnung zeichneten, die das 
Ende des Kapitalismus bringen sollten, legten die Führer des deutschen 
Wirtschaftslebens in stiller Beharrlichkeit die Fundamente des neu¬ 
deutschen Kapitalismus in solchen Tiefen, daß nur ein russischer 
Sturm sie hätte erschüttern können. Sie bauten, dank den günstigen 
Verhältnissen, eine wirtschaftliche Monopolmacht auf, wie sie kein 
anderes Land gesehen hat, und traten, als sie den freien Wettbewerb 
durch solche Monopole außer Kraft gesetzt hatten, dem Staate 
gegenüber, Airs ungehemmte Spiel der freien Kräfte ein. 

Derweilen suchte der neue Staat mit Hilfe eines Beamtentums, das 
in reiner Verwaltungstätigkeit Höchstleistungen aufzuweisen hatte, 
dessen wirtschaftliche Unfähigkeit der Krieg aber jedem erwiesen 
hatte, ein neues Gemeinwesen zu verwirklichen. 

Aber dieser neue Staat hatte den Glauben an sich verloren. Wie 
eng die Grenzen erfolgreicher, planmäßiger, wirtschaftlicher Gestaltung 
gesteckt waren, schien der Krieg erwiesen zu haben. Seihst bei den 
Sozialdemokraten fanden die Planwirtschaftler auf die Dauer wenig 
Gegenliebe. Der Rätegedanke, der aus Rußland herüberflutete, unter¬ 
grub bei den Arbeitermassen den Glauben an eine starke, demo¬ 
kratische, aktionsfällige Zentralregierung. Aus ständigen Phantastereien, 
russischen Reminiszenzen, bürokratischer Unfähigkeit und kluger Be¬ 
rechnung der Interessenten entstanden auf allen Gebieten des Wirt¬ 
schaftslebens unter dem Schlagwort „Sozialisierung* neue Selbst¬ 
verwaltungskörper, Organisationen, die die Aufgaben der Zentralregierung 
an sich rissen, und in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer allenfalls 
mit Beamten zusammensaßen, nicht um etwa die Angelegenheiten zu 
erledigen, die den inneren Betrieb dieser Gruppe darstellten und damit 
in der Tat als Selbstverwaltung bezeichnet werden könnten, sondern 
um die Preise festzusetzen, die die Andern zu bezahlen hatten. Das 
Prinzip der Selbstverwaltung wurde zum Deckmantel monopolistischer 
Organisationen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Ausbeutung 
der Gesamtheit sich zusammenfanden. Die Arbeitnehmer bildeten 
sich dabei ein, die Interessen der Gesamtheit der Konsumenten 
und ihre eigene Stellung sei genügend gesichert, wenn nur eine 
paritätische Vertretung vorhanden sei; sie verkannten, daß sie vielfach 
dabei zum bloßen Werkzeug der Produzenten wurden. Zur höchsten 



M. J. Bonn , Die Krise des deutschen Staates 565 

Blüte sind derartige Bestrebungen in einzelnen Außenhandelsstellen 
gediehen. 

In den mächtigen Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer 
entwickelten sich daher allmählich Gebilde, die nicht im Staate und 
unter dem Staate stehen, sondern die sich bewußt neben den Staat 
stellten. In den Tagen nach dem Kapp-Putsch ist eine lebhafte Be¬ 
wegung entstanden, die aus Vertretern der Gewerkschaften der ver¬ 
schiedensten Richtungen eine ausschließliche Arbeiterregierung bilden 
wollte. Eine derartige Regierung wäre in letzter Linie nicht dem 
Parlament und damit der Wählerschaft verantwortlich gewesen, sie 
wäre vielmehr das Werkzeug der Arbeiterorganisationen geworden, 
die in andern Ländern, zum Beispiel in Australien, neben dem Parla¬ 
ment die Regierung kontrollieren. 

Ähnliche, wenn auch verhülltere, Bestrebungen zeigen sich auf Seiten 
der Industrie. Das tritt auf zwei Gebieten deutlich zutage. Die 
Macht eines jeden Staates beruht in letzter Linie auf seinem Finanz¬ 
wesen. Das Finanzwesen des Deutschen Reiches ist infolge des Krieges, 
der Revolution und der Reparationsleistungen in Unordnung geraten. 
Es ist unmöglich gewesen, gerade diejenigen ausgiebig zur Besteuerung 
heranzuziehen, die am ehesten imstande waren, die Lasten zu tragen. 
In gewissem Sinne gibt die Industrie das offen zu. Sie wird nicht 
müde, auf den Bankerott der Staatswirtschaft hinzuweisen und zu 
betonen, daß die Privatwirtschaft völlig geordnet sei. Sie gesteht 
damit, allerdings wohl unbewußt, zu, daß die Privatwirtschaft dem 
Staate die Mittel zu seiner Existenz verweigert; denn zu allen Zeiten 
hat als grundlegende Wahrheit der Finanzwissenschaft das alte Wort 
gegolten: „Die Taschen der Untertanen sind die besten Schatzkammern 
der Fürsten.“ Heute erklären die mächtigen Führer der Wirtschaft 
unverhohlen, daß ihre Taschen gefüllt seien; die Schatzkammer des 
Staates ist leer, da der Staat zu schwach ist, zuzugreifen. Die Wirt¬ 
schaft will dem Staat, dem sie nicht länger Aufgaben stellen kann, 
die notwendigen Mittel nicht bewilligen. Der deutsche Mittelstand 
und mit ihm die deutsche Kultur sind im Begriff, in einer Hochflut 
von Papiergeld zu ertrinken, da mächtige Industriegruppen den heu¬ 
tigen Staat als erledigt betrachten und eine Besteuerung durch Geld¬ 
entwertung anderen Formen der Steuererhebung vorziehn. Sie fühlen 
sich nicht länger gebunden, für seine Schuldverpflichtung einsustehen. 

Dabei unterschätzen sie seine Lebenskraft doch bedeutend. So schlecht 
die Lage des Deutschen Reiches schon gewesen ist, so ist es doch 



5 öd M. J. Bonn , Die Krise des deutschen Staates 


immer noch imstande gewesen, auf dem Wege der Anleihe durch 
Begebung von Schatzwechseln Milliarden unterzubringen. Manches 
große Auslandsgeschäft ist nur dadurch zustande gekommen, daß das 
Reich hinter den Unternehmern als Bürge auftrat. Und wenn es 
keine Auslandskredite erhielt, so liegt es nicht daran, daß es kredit¬ 
unwürdiger ist als die deutsche Industrie, sondern daran, daß es in¬ 
folge des Londoner Ultimatums eine Prioritätsschuld von 138 Milli¬ 
arden Gold zu tragen hat. 

Ein Teil der Industrie ist aber nicht mit rein negativem Verhalten 
zufrieden. Er sucht bewußt, das letzte Stück Staatsmacht zu zer¬ 
brechen, das noch vorhanden ist. Er greift nach den Eisenbahnen, 
nicht weil dieselben ein Defizit haben, das verschwinden muß, 
sondern weil der Besitz der Eisenbahnen die höchste wirtschaftliche 
Macht im Staate darstellt Man braucht für den Staatsbetrieb im 
Eisenbahnwesen nicht zu schwärmen. Ein festgefügter Staatsbetrieb 
kann auf ihn verzichten. Aber ein Staat, dessen Leben nur noch 
schwach ebbt, kann es nicht vertragen, daß Privatinteressen die Hand 
an seine Gurgel legen, seien es kapitalistische oder kommunistische 
Saboteure. 

Wie weit die Auflösung des deutschen Staatswesens schon gediehen 
ist, zeigt eine Betrachtung der auswärtigen Politik. Die auswärtige 
Politik ist das Verhältnis der verschiedenen Gemeinwesen zueinander. 
In ihr tritt der Charakter nationaler Geschlossenheit und Einheitlich¬ 
keit ganz anders zutage als in der inneren Politik. Aber diese Ein¬ 
heit war schon vor dem Kriege vielfach durchbrochen. Auf der 
einen Seite hatte die radikale Arbeiterbewegung die internationale 
Solidarität der Arbeiterklasse in den Vordergrund geschoben und 
damit zum Ausdruck gebracht, daß eine horizontale, alle gleichge¬ 
lagerten Schichten der verschiedenen Völker einschließende Zusammen¬ 
fassung gegenüber dem vertikalen nationalen Aufbau des einzelnen 
Volkes die Grundlage der auswärtigen Politik sein müsse. Auf der 
anderen Seite waren wirtschaftliche Fragen in der Außenpolitik in 
den Vordergrund geschoben worden. Fragen der Handelspolitik, der 
kolonialen Erschließung, der internationalen Finanz spielten eine ent¬ 
scheidende Rolle. Damit griffen von selbst die großen nationalen 
Wirtschaftsinteressen über ihre Grenzen hinaus und schlossen sich zu 
internationalen Verbänden zusammen, die Absichten der nationalen 
Wirtschaftspolitik außer acht lassend, wenn nicht gar durchkreuzend. 
Während das Schlagwort ^Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ 



M. jf. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 5 67 

meist nur auf internationalen Kongressen der Arbeiterschaft wirkte, 
war der Ruf „Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch!“ zwar niemals 
laut in die Welt ergangen, wohl aber instinktmäßig von großen 
Interessengruppen befolgt worden. 

Seit alten Zeiten haben mächtige Interessen die Außenpolitik der 
Länder beeinflußt und den Versuch gemacht, sie in eine ganz be¬ 
stimmte, ihnen dienliche Richtung zu treiben. So haben zum Beispiel 
die Zucker- und Ölinteressenten der Vereinigten Staaten einen starken 
Einfluß auf deren auswärtige Politik Kuba oder Mexiko gegenüber 
ausgeübt. Der Kampf zwischen der europäischen Waffenindustrie vor 
dem Kriege um Waffenlieferungen an die Türkei, Serbien, Bulgarien 
und China hat häufig die große Politik der europäischen Kanzleien 
vom richtigen Pfade abgebracht. 

Darüber hinaus haben große Interessen im Aufträge ihrer Regierung 
Aufgaben übernommen, denen sich die betreffende Regierung damals 
nicht gewachsen fühlte. Die ostindischen Kompagnien haben ihren 
Ländern Kolonialreiche beschert, die zu gewinnen und zu behaupten 
diese damals kaum imstande gewesen wären. Und die großen 
Siedlungskolonien der Welt sind häufig von Unternehmern erschlossen 
worden, die auf eigene Rechnung und Gefahr eine neue Welt auf- 
bauten. Die Geschichte der englischen Kolonisation in Irland ist 
nichts anderes als eine Reihe von mehr oder minder erfolgreichen 
Versuchen, Irland durch Konquistadoren von England abhängig zu 
machen. 

Um diese Dinge handelt es sich heute nicht mehr. Heute sind 
vielfach Gruppen an der Arbeit, die ohne Rücksicht auf den Willen 
der eigenen Staatsgewalt, ja vielfach im Gegensatz zu ihr, auswärtige 
Politik machen, in der Hoffnung, den Staat vor vollendete Tatsachen 
zu stellen. Auch das ist keine neue Erscheinung. Der Einfäll 
Dr. Jamesons in die südafrikanische Republik sollte die englische 
Regierung zur Annektion des Transvaals zwingen. Wieder und wieder 
haben amerikanische Ölinteressenten in Mexiko den Versuch gemacht, 
die Angliederung Mexikos an Amerika zu erzwingen, gelegentlich 
durch Teilnahme an mexikanischen Verschwörungen. Ähnlich waren 
die Bestrebungen der Gebrüder Mannesmann in Marokko gerichtet 

Ganz deutlich schält sich hier das Bestreben heraus, die äußere 
Politik aus den Händen des Gemeinwesens zu nehmen und sie nicht 
nur im Interesse gewisser Gruppen zu gestalten, sondern sie von 
diesen Gruppen durchführen zu lassen, die ihre Privatinteressen für 



5<S8 M. jf. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 


Gesamtinteressen halten. Dabei werden natürlich nicht immer rein 
wirtschaftliche Beweggründe in den Vordergrund geschoben; man läßt 
gern mehr oder minder idealistischer Deklamation den Vortritt. Man 
braucht nur an die Fiume-Romanze der italienischen Faszisten zu 
denken und an die Drohungen der Ulsterleute im Sommer 1914, 
sie wollten sich in den Schutz des Deutschen Reichs begeben. In 
geradezu klassischer Weise verbindet sich nationalistische Romantik 
mit naiver wirtschaftlicher Selbstsucht in dem deutschen Balrikum- 
abenteuer. 

Schon während des Kriegs ist in Deutschland eine starke Agitation 
entfesselt worden, die eine Durchdringung der auswärtigen Politik mit 
wirtschaftlichen Gesichtspunkten forderte. Man hat wohl gefühlt, daß 
die große Politik des deutschen Reiches SchifFbruch gelitten hatte. Man 
nahm ohne weiteres an, daß daran die deutschen Vertretungen im Aus¬ 
lände schuld gewesen seien. Man tat das um so lieber, als man bei 
ihn en häufig nicht das gewünschte Entgegenkommen beim Abschluß 
privater Geschäfte gefunden hatte. Man sprach der deutschen Diplomatie 
die politische Begabung ab, weil die deutsche Regierung den Berichten 
ihrer Vertreter, häufig unter dem Druck der wirtschaftlichen Interessen 
der Heimat, nicht genügend Glauben geschenkt hatte. Und weil man 
selbst aus der Fülle der politischen Probleme nur die wirtschaftlichen 
sah, glaubte man, alle Politik sei Wirtschaftspolitik. Da nvan über¬ 
dies bei wirtschaftlichen Verhandlungen mit den Wettbewerbern oft 
gut abgeschnitten hatte, hielt man den erfolgreichen Wirtschaftler 
ohne weiteres für politisch befähigt. Man meinte allen Ernstes, 
die deutsche Politik werde sichere Erfolge haben, wenn erst der 
Diplomat durch den Kaufmann ersetzt sei, oder wenn er zum min¬ 
desten ein vollgerütteltes Maß wirtschaftlicher Detailkenntnisse besitze. 

Der Sturm der Weltgeschichte hat dann fast alle hervorragenden 
Diplomaten des kaiserlichen Deutschland hinweggefegt. Nun suchte 
man die offenen Stellen nach Möglichkeit mit Praktikern und mit 
Konsuln zu besetzen, denn Politik war ja Wirtschaft. Man tat das 
gerade zu einer Zeit, wo die „reine Politik“ den Frieden von Versailles 
geschaffen hatte und dabei ganz bewußt allen wirtschaftlichen Er¬ 
wägungen Hohn gesprochen hatte. Aber auch bei einer anderen 
Weltlage wären weder die Konsuln noch die Mehrzahl der aus dem 
praktischen Leben stammenden neuen Beamten imstande gewesen, die 
wirtschaftlichen Fragen zu bewältigen, um die es sich hier handelte. 
Wirtschaftliche Tatsachen kennen — insbesondere, wenn es rieh 



M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 5 69 

um Kenntnisse aus zweiter oder dritter Hand handelt — ist etwas 
ganz anderes, als wirtschaftliche Zusammenhänge erkennen, und zwar 
Zusammenhänge von der weltumspannenden Große der heutigen 
Fragen. Das zeigte sich fast bei allen Behörden. Man hatte überall 
dem Geist der Zeit Zugeständnisse machen müssen und sich allerlei Neu¬ 
ankömmlinge aufdrängen lassen. Mit dem gesunden Selbsterhaltungs¬ 
trieb alter Institutionen schied man die Begabten meist bald aus, wenn 
man sie nicht unschädlich machen konnte. Die Unbegabten assimilierte 
man liebevoll. Man nahm von den Theoretikern meist nur solche, 
die wenig von Theorie verstanden und von den Praktikern am liebsten 
die, die keine Praxis hatten. So überdauerte man den Sturm der 
Zeiten. Diese Zähigkeit war durchaus nicht unberechtigt, denn die 
Kandidaten, für die die Parteien sich einsetzten, waren häufig, 
wenigstens solange die Konjunktur dauerte, in der Gesinnung tüch¬ 
tiger als in der Bewährung. 

Das Ergebnis war, daß das wirtschaftliche Erkennen und das poli¬ 
tische Wollen und Können an den Zentralstellen zur Lösung der 
großen Fragen nicht ausreichte. Man hielt bestenfalls die Ämter auf 
der Höhe der alten Zeit, soweit es sich um Verwaltung handelte. 

Aber die Probleme der Gegenwart waren keine reinen Verwaltungs¬ 
probleme. Sie waren insbesondere, soweit es sich um die Probleme 
des Friedensvertrages handelte, Konstruktionsprobleme größten Stils. 
Man hatte die „reine Politik“ in der kaiserlichen Zeit auch in den 
Parlamenten so wenig gepflegt, daß Männer, die politisch führen 
konnten, selten waren. Fand man einen, so empfand man ihn als 
unbequem. Man war empört darüber, daß ein leitender Minister 
nicht die gleichen Detailkenntnisse besaß, die man von seinen Ministerial- 
referenten beanspruchte, und nur Verständnis Air Lagen und Menschen 
bewies. Und man war innerlich recht froh, wenn eine derartige un¬ 
bequeme Persönlichkeit sich an der Unhaltbarkeit in der auswärtigen 
Lage verbrauchte und wieder verschwand. 

Was das Wissen betraf, so holte man es sich von „Sachver¬ 
ständigen“. 

Die moderne Welt kann ohne ausgiebige Mitarbeit der Nächst¬ 
beteiligten ihre wirtschaftlichen Fragen nicht lösen. In der Heimat 
der modernen Regierungskunst, in England, hatte man das längst er¬ 
kannt Die englischen parlamentarischen Untersuchungen, die die 
Regierung unter Zuziehung aller Beteiligten veranstaltet hatte, füllen 
nicht nur eine Bibliothek voll von wertvollstem Material, sie sind 



yjo M. y. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 

auch oft die Grundlage einer tief einschneidenden Gesetzgebung ge¬ 
worden. Neben dieser öffentlichen Befragung geht die vertraulich 
persönliche Befragung hervorragender Männer des Wirtschaftslebens 
einher, wie sie zum Beispiel Lloyd George in größtem Umfänge an¬ 
gewendet hat. Bei diesen Befragungen läßt ach die Regierung von 
den Beteiligten informieren, sie läßt sich nicht von ihnen dominieren. 
Sie sucht sich die Leute aus, denen sie vertraut, sie läßt sich aber 
nicht Vertreter von Verbänden aufdrängen. Sie dankt ihnen för den 
guten Rat, betrachtet sich aber nicht für verpflichtet, ihn zu befolgen. 
Sie stellt die Ziele der Politik selbst fest, sie erörtert nur die Brauch¬ 
barkeit der Mittel und die etwaigen Folgen. 

In Deutschland hat dagegen schon das alte System Interessenten 
berufen, weniger um sich zu informieren, als um Widerstände aus¬ 
zuschalten, denn man fürchtete die mächtigen Interessen mehr als die 
politischen Parteien. Seit den Verhandlungen von Versailles gab es 
nun etwas wie ein Institut der „Sachverständigen“. Man rief Ver¬ 
treter aller einflußreichen Interessen zusammen und nannte sie Sach¬ 
verständige. Man wählte dabei vielfach Personen nicht sowohl wegen 
ihrer Sachkenntnisse aus, sondern wegen der Stellung, die sie bei ihren 
Verbänden hatten. Es kam dabei nicht sowohl darauf an, die größte 
Masse von Wissen, als die größte Menge von Branchen zusammen¬ 
zubringen und niemanden zu verstimmen. Man stellte den Sach¬ 
verständigen keine bestimmt formulierten Fragen, man überließ sie 
sich selber, insbesondere, seit sie in Versailles vorübergehend er¬ 
folgreich gegen die Leitung untüchtiger Beamter rebelliert hatten. Man 
betonte der öffentlichen Meinung gegenüber geflissentlich nicht, daß es 
„Interessenten“ waren, da man augenscheinlich der Meinung war, die 
Übereinstimmung einflußreicher Interessenten verbürge sachverständige 
Unparteilichkeit. 

Diese Sachverständigen haben in der Tat höchst wichtige Arbeit ge¬ 
leistet, die die verschiedenen Ämter oft vielfach schon infolge von 
Ressortsstreitigkeiten nicht leisten konnten. Man ließ sie dabei rnhig 
in die Politik übergreifen. Niemand gab sich die Mühe, das ge¬ 
waltige Wissen, das in solchen Versammlungen vorhanden ist, syste¬ 
matisch herauszulocken und kritisch zu verwerten. Es genügte, 
daß sie gesprochen hatten und unter Umständen mit ihrem Spruch 
die Regierung deckten, wobei es dieser ja unbenommen blieb, sie 
gelegentlich als bloße Attrappe zu verwerten. Man hatte überdies 
eine so geringe Meinung von dem eigenen Können, daß man glaubte, 



M. J. Bonn, Die Krise des deutschen Staates 


57 * 


eine Erklärung der Vertreter des deutschen Wirtschaftslebens werde 
wie eine Bombe in den Reihen der Gegner wirken, während man 
einer eigenen Erklärung nicht viel Kraft zutraute. Man wußte nicht, 
-wie man auf die öffentliche Meinung fremder Länder wirken sollte, 
man tiberließ diese Aufgabe gerne anderen Leuten, die es sich zu¬ 
trauten, und man merkte dabei nicht, daß die Bürokratie und die 
von ihr beratene Regierung außenpolitisch abdankte. 

Der tiefste Punkt dieser Entwicklung waren wohl die Verband* 
lungen in Spa im Sommer ipzo, bei denen auf Wunsch der deutschen 
Regierung Herr Stinnes das Wort zu Ausführungen ergriff, die sach¬ 
lich nichts neues brachten und nichts neues bringen konnten, die 
aber als politischer Pronunziamento ohne Vorwissen der Regierung 
gedacht waren und als solches wirkten. Man hat in Deutsch¬ 

land gejubelt, „daß endlich einer es den andern gegeben habe.** Man 
hat augenscheinlich nicht begriffen, daß man damals am Ende der 
deutschen Außenpolitik stand. Denn wenn eine Regierung bei Ver¬ 
handlungen mit den Häuptern anderer Regierungen in einer technischen 
Frage für einen Berater das Wort erbittet, und dieser Berater ohne 
vorherige Fühlungnahme mit seiner Regierung eine eigene politische 
Note anschlägt, dann hat die Regierung zu seinen Gunsten abgedankt, 
wenn sie ihn nicht sofort abschüttelt Und wenn sie mit ihm ein 
Spiel mit verteilten Rollen gespielt hat, so hat sie ihm eine Ver¬ 
antwortung zugeschoben, die sie hätte tragen müssen. Man kann 
Herrn Stinnes keinen Vorwurf daraus machen, daß er die sich ihm 
bietende Gelegenheit benutzt hat, um seine private Außenpolitik zu 
machen. Die Regierung, die ihm dazu die Hand bot, entstaatlichte 
die Außenpolitik. 

Seitdem ist in der deutschen Politik manches anders geworden. 
Der Einfluß der Sachverständigen-Nebenregierungen bei der Regierung 
hat abgenommen, aber die Versuche, außerhalb des Parlamentes neben 
der Regierungspolitik private Außenpolitik zu treiben, haben nicht 
aufgehört. Die auswärtige Politik wird weiter entstaatlicht. 

Auf der einen Seite versuchen die großen Arbeiterverbände eine 
gemeinsame, ihren Klasseninteressen entsprechende Linie festzulegen. 
Auf der anderen Seite suchen die Untcmehmergruppen über die 
Staatsgrenzen hinaus sich mit Berufsgenossen und Wettbewerbern zu 
einigen und eine zwischenstaatliche Weltwirtschaft herbeizuführen. 

Während sie zuhause nationale Bewegungen und nationalistische 
Instinkte schüren, gehen sie draußen internationale Bindungen ein, in 


l 




57 * Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 

der naiven Voraussetzung, daß ein Erfolg ihrer Privatinteressen an und 
für sich eine Förderung der-nationalen Interessen sei. In anderen 
Ländern beachten sie die Staatsgewalt und sind bereit, ihren leisesten 
Winken tu folgen, in Deutschland verachten sie sie. Als im Sommer 
des vergangenen Jahres die deutsche Industrie der deutschen Regierung 
tur Zahlung der Reparationsverpflichtungen ihren Kredit zur Ver¬ 
fügung stellen sollte, hat im entscheidenden Moment eine mächtige 
Gruppe als Gegengabe die Auslieferung der deutschen Bahnen ge¬ 
fordert. Und obwohl sie wissen mußte, daß die deutsche Regierung 
diesem Verlangen nicht nähertreten könnte, ist in London Ober die 
Entstaatlichung der deutschen Bahnen verhandelt worden. Auch heute 
ist noch in Deutschland, nicht nur bei den Bolschewisten, eine Außen¬ 
politik möglich, die Privatpolitik, nicht Reichspolitik ist. Solche Be¬ 
strebungen hat es als Emigrantenpolitik nach Revolutionen immer 
gegeben. Das Neue in Deutschland ist, daß solche Politik von Persön¬ 
lichkeiten gemacht wird, die in deutscher Erde wurzeln und doch 
nicht erkennen, daß jede Außenpolitik, die nicht einheitlich ist, er¬ 
folglos bleiben muß. 

Nach innen und nach außen verfolgen starke Kräfte ein Ideal der 
staatlosen WirtscÄft, das mächtigen, rein wirtschaftlich gerichteten 
Monopolen — auch wenn die Arbeiter daran beteiligt sind — die 
Kulturinteressen des deutschen Volkes ausliefert. Das ist die Krise 
des deutschen Staates. Wenn sie nicht bald ihren Höhepunkt Ober¬ 
schreitet, wird Deutschland in absehbarer Zeit den Völkern der Erde 
wenig anderes bedeuten als ein „wirtschaftlicher Begriff 1 *. 


DIE KRISIS DES HISTORISMUS 

von 

ERNST TROELTSCH 

D u Wort „Historismus** ist im heutigen Sprachgebrauch zunächst 
ein Scheltwort, eine Entladung von allerhand Beschwerden gegen 
historische Belastung, kompliziertes historisches Denken und die Ent¬ 
schlußkraft schwächende historische Bildung. Es gehört in diesem 
Sinne in die allgemeine heutige Rebellion gegen die Wissenschaft 
Oberhaupt hinein, in der sich die Enttäuschung einer leidenden, dem 




Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 


571 


intellektuellen Fortschritt nicht mehr trauenden Menschheit Luft macht. 
Man zerstört die Mittel der Lebenserhaltung» weil das Leben mit ihrer 
Hilfe, Freilich auch unter Mitwirkung von hundert ganz anderen 
Umständen, nicht erfreulicher geworden ist. Ähnlich haben die Hand¬ 
werker die Maschinen bei ihrem Aufkommen in ihrer blinden Wut 
zerstört. Wie freilich das Leben ungeheurer Massen ohne die Mittel 
der Wissenschaft sich gestalten soll, darflber macht man sich keine 
Gedanken. Da gibt es prachtvolle poetische Bilder neuer Ursprünglich¬ 
keit und Lebensfrische oder mystischen Erkenntnisersataes, indessen 
die Lehrer und Diener der „alten“ Wissenschaften durch ihre fort¬ 
gesetzte Arbeit dafür sorgen, dafi die Welt an dieser Romantik und 
Mystik nicht allzusehr leidet und ihren mühseligen Gang weiter geht. 

Aber nicht von dieser allgemeinen Frage möchte ich reden, sondern 
von der besonderen inneren Krise der Historie, die nicht erst aus 
dieser allgemeinen Erschütterung der Geister, sondern aus dem innern 
Gang und Wesen der Historie selbst entspringt Da zeigt dann das 
Wort „Historismus“ sofort einen anderen, einen sachlichen Sinn. 
Es bedeutet dann die Historisierung unseres ganzen Wissens und Emp¬ 
findens der geistigen Welt, wie sic im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts 
geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der 
I endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit 
durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. 
Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Flufi des historischen 
Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher 
Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn 
für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten 
Obcrindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die 
Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen 
Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und 
darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunft¬ 
wahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesell¬ 
schaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungs- 
iwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende 
Form beziehen. Der Historismus in diesem Sinne ist die erstlich« 
Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem 
und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich 
moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken 
und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise 
sich grundsätzlich unterscheidet Das geistige Leben ist nicht mehr 



l 




J7 4 


Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 


Teilhaber an Oberirdischen und Obersinnlichen, festen, unveränderlichen 
Wahrheiten, auch nicht mehr Erhellung der allgemein-menschlichen 
Vernunft- oder Commonsense-Wahrheiten gegenüber den Irrungen des 
Aberglaubens und der Phantastik, nicht mehr die Erforschung des 
Naturrechts und ein darauf begründeter Umbau von Staat und Ge¬ 
sellschaft, sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets rieh ver¬ 
ändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den 
Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden. 
Das sind dann die jeweiligen größeren oder kleineren individuellen 
historischen Gebilde, die sich der geschichtlichen Selbsterkenntnis mit 
so viel Liebe und Hingebung als Mutterboden des eigenen Daseins 
erweisen, aber bei jeder Überschau von hoher genommenem Aug- 
punkt aus als treibende, sich bildende und wieder auflösende Er¬ 
zeugnisse des Stromes darstellen. Der tiefere innere Zusammenhang 
dieses Stromes selbst mit den bewegenden und im Einzelfalle formenden 
geistigen Kräften bleibt dabei dunkel, da die Historie ebenso wie 
die Naturwissenschaften den Zusammenhang mit der Philosophie grund¬ 
sätzlich gelöst hat und autonom mit eigenen Mitteln das Werden 
und seine Gebilde erforschen will. 

In diesem Sinne steht der Historismus als eigenes großes Prinzip 
dem Naturalismus gegenüber, der gleichfalls kein Scheltwort bedeutet 
oder bedeuten soll, sondern du große Prinzip, die gesamte Körper¬ 
welt einschließlich der Lebens-, der Nerven- und Gehimprozesse nach 
den allgemeinen naturwissenschaftlichen Prinzipien der Naturkausalität 
zu erforschen. Zwischen Historismus und Naturalismus teilt sich der 
Stoff des modernen realwissenschaftlichen Denkens auf. Der Streit 
um die gegenseitige Grenzberichtigung und um die volle Selbständig¬ 
keit der Historie in diesem Nebeneinander ist eines der Hauptprobleme 
des modernen Denkens geworden, wobei vor allem die in der Mittel¬ 
stellung begriffene Biologie schwierige Streitfragen darbietet. Es ließe 
sich nachweisen, daß diese ganze wissenschaftliche Situation das not¬ 
wendige Ergebnis der Grundwendung der modernen Philosophie zur 
Bewußtseinsanalyse und Gegenstandstheorie seit der Cartesianischen 
Neubegründung der Philosophie ist Die auf die Körperwelt hin¬ 
deutenden Daten unseres Bewußtseins werden naturwissenschaftlich, 
die auf eigenseelische Gehalte und Veränderungen bezogenen Daten 
werden historisch-genetisch erforscht, wobei die Quellenkritik und 
Tatsachenricherung Voraussetzung und Grundlage ist Die Historie 
ist von den beiden wissenschaftlichen Großmächten die spätere und 




Emst Trocltscb, Die Krisis des Historismus 


575 


! 

* 

♦ 

* 

i 

i 


bat ihre Selbständigkeit der Naturalisierung der Philosophie und dea 
Bewußtseins erst abkämpfen müssen, hat aber dann, seit die Auf¬ 
klärungshistorie und Kritik im neunzehnten Jahrhundert zu den großen 
historischen Forschungen ausgeblüht ist, einen selbständigen Rang und 
eine ungeheure Wirkung erlangt trotz aller verbleibenden Grenz¬ 
streitigkeiten und der wechselnd bald mehr hierhin bald mehr dorthin 
gerichteten Gunst der Zeitlagen. Daß der Naturalismus zuvorkanv 
das kommt von dem Übergewicht naturwissenschaftlicher Schau und 
Forschung, das die Antike bei ihrer Erneuerung in der Renaissance 
darbot und das zugleich technischen Bedürfnissen der Zeit entgegen¬ 
kam. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie die moderne Welt 
aussehen würde, wenn ihre Wissenschaft mit der Psychologie, und 
zwar mit einer nicht durch die Analogien der Naturwissenschaft ge¬ 
bundenen Psychologie und einer von ihr erleuchteten Historie begonnen 
hätte. Jedenfalls sind nun aber die Dinge nicht so gegangen, sondern 
umgekehrt. Aus der von den Naturwissenschaften inspirierten Kritik 
der Aufklärung an der vergangenen Kultur und dann aus dem 
empirisch-genetischen Geist des Gegensatzes gegen den mathematischen 
Apriorismus sind in der englischen Erführungsphilosophie, bei Vico, 
Hamann und Herder die Richtungen auf die Geschichte als Ent¬ 
wicklungsgeschichte entsprungen. Das Naturrecbt, das geschieh ts- 
philosophische Surrogat der Aufklärung, das bis zu Kant und Fichte 
reicht, ist —'wenigstens in Deutschland — überwunden. Der lange Rück¬ 
stand ist dann durch eine um so glänzendere und raschere Entfaltung 
der Historie und ihrer Hilfswissenschaften in Geographie, Philologie 
und Soziologie abgelöst worden. Und heute empfinden wir die Pro¬ 
blematik, die hierin steckt, ebenso schwer, wie wir diejenige empfinden, 
die in der den Geist bedrohenden Geistesschöpfung der Naturwissen¬ 
schaften liegt 

Zuerst diente die Historie der Kritik und der Wegräumung der mittel¬ 
alterlich-kirchlichen Kultur. Dann schuf sie in der Romantik in 
der von ihr inspirierten großen Historie du Gegengewicht gegen den 
revolutionär-rationalistischen Geist, einerlei, ob das in der Weise 
Rankes und Adam Müllen oder in der Comtes und Taines geschah. Darauf 
diente sie den großen nationalen Einigungsvenuchen der europäischen 
Völker und ihrer nationalen Selbstverticfung, einerlei, ob das in der 
Weite Sybels und Teitschkes oder in der Seeley’s oder Thiers’ geschah. 
Schließlich ergab sie sich einem grundsätzlich unparteiischen wert¬ 
freien Realismus, der die historische Wahrheit und den Werde- 



-V 



5 7 * Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 

Zusammenhang überall, wo er sich darbietet, möglichst objektiv und sach¬ 
lich erforschen will und auf das Ideal einer allgemeinen Verknüpfung 
dieser Zusammenhänge in einem Bild des Menschheitswerdens grund¬ 
sätzlich losgehen muß, obwohl die Häufung der kritischen und sach¬ 
lichen Forschung gleichzeitig dieses Ideal immer unmöglicher macht 
und den Meistern des Faches verbietet. Um so häufiger und gründ¬ 
licher ist dieses Ideal dann von Dilettanten und Improvisatoren versucht 
worden, darunter so mächtigen Geistern wie Nietzsche. Neuerdings 
haben Spengler und H. G. Wells, jeder auf seine, für die beider¬ 
seitigen Nationalitäten höchst charakteristische Weise, dieses geheime 
und unentbehrliche Ideal moderner Historie durchzuführen unter¬ 
nommen. Der eine predigt den pflanzenartigen Wechsel der histo¬ 
rischen Vegetationen und das Ideal der Ergebung in die Niedergangs¬ 
periode, der ändere den Fortschritt zu der endlichen, seit dem 
Renaissance-Zeitalter geforderten, Weltorganisation der Völker und den 
Optimismus der Rettung durch englisch-amerikanische geistige Welt¬ 
herrschaft und politische Weltkontrolle. Dazu kommt, daß der Welt¬ 
krieg eine große historische Periode allem Anschein nach wesentlich 
beschlossen, alle bisherigen selbstverständlichen Maßstäbe erschüttert 
und damit alle Entwicklungsbilder ihrer zusammenfassenden Form be¬ 
raubt hat Ein unendliches Rätseln und Deuten an der Geschichte, 
verwegene Neukonstruktionen, pessimistische Verzweiflungen oder 
skeptische Beschaulichkeiten sind die Folge. Es ist Hochkonjunktur 
für Geschichtsphilosophie geworden, während die fachmäßige Forschung 
sich von alledem grundsätzlich zurückbält und ihre alten Problem¬ 
stellungen und Interessen, ihren alten Objektivitätsstandpunkt und zu¬ 
meist auch die alten Wertmaßstäbe festhält In dieser Lage empfindet 
die Zeit den allgemeinen historischen Relativismus und die liebevoll 
kritische Erforschung der einzelnen Strecken des Lebensstromes wie eine 
Qual oder eine Sinnlosigkeit und überträgt ihre allgemeinen Ent¬ 
täuschungsgefühle gegenüber der Wissenschaft vor allem auf die Historie. 
Neukatholizismus, neuer oder ältester Rationalismus, wissenschaftsfreie 
Schwärmerei und Inspiration, okkultistische Theosophie und Ähnliches 
besetzen du Feld. 

Aber die Gründe der offenkundigen Krisis des Historismus liegen 
noch tiefer. Auch der Naturalismus, sofern er Philosophie und 
Weltanschauung bestimmt, ist heute tief erschüttert. Aber er läßt 
sich von beiden leichter lösen, hat festere Methoden und exaktere 
Mittel, hängt mit technischen Lebensnotwendigkeiten innerlich und 




Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 


577 


praktisch zusammen. Er selbst in seinem eigenen Wesen bleibt un¬ 
berührt und entwickelt aus dem strengsten Fachgeist heraus heute die 
großartigsten neuen Probleme. Der Historismus dagegen besitzt schon 
in sich selbst diese Festigkeit nicht und hängt anderseits mit den 
wechselnden und feinsten Lebensfragen viel zu eng zusammen. Bei 
ihm kommt sie zum guten Teile aus ihm selbst heraus, aus seinen 
eigenen Problemstellungen. Will man daher seine Krise nicht nur 
leidenschaftlich und äußerlich in ein paar Büchern erfassen, so müssen 
ihre Gründe noch tiefer aufgedeckt und noch weitere namhaft ge¬ 
macht werden. Die bisher genannten Gründe sind wesentlich die 
Konsequenzen des Entwicklungsbegriffes, der den alten stolzen Fort¬ 
schritts- und Menschheitsbegriff zum Begriff endloser Bewegung und 
der Bildung bloß vorübergehender, relativ dauernder Sinn- und Kultur¬ 
zusammenhänge gemacht hat und all du wesentlich vergleichend be¬ 
handelt, die Einheitlichkeit du Zielu verschwinden läßt. Es gibt 
außerdem noch eine ganze Reihe weiterer Schwierigkeiten. 

Du erste ist die Aufrollung der erkenntnistheorerisch-logischen 
Probleme der Historie. Diese Aufrollung geschah im Zusammenhang 
mit der allgemeinen Wendung der Philosophie zur Erkenntnistheorie 
und Logik, die in der Zeit der drohenden Ausbildung du Natura¬ 
lismus zum Materialismus allein noch die Würde und Aufgabe du 
Philosophie und mit ihr die für alle Erkenntnis grundlegende Würde 
des Geistes behaupten zu können schien. Insbuondere glaubte man nur 
auf diesem Wege den besonderen Sinn der Historie und ihre Bedeutung 
für die Erforschung des geistigen Lebens wahren zu können. Du war 
in der Tat die durch die gesamte geistige Lage geforderte Frage¬ 
stellung, und die Antworten haben sehr wichtige Beiträge sowohl 
zur Festigung der Historie als zur Anerkennung ihrer geistig-ethischen 
Bedeutung erbracht. Allein am Ende aller Logik und Methodik steht 
die Frage: wie verhält sich die vom denkenden Geiste nach seinen 
Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zu¬ 
sammenhang der Dinge selbst) Oder mit der besonderen Anwendung 
auf die Historie ausgedrückt: wie weit kann die Historie du reale 
Geschehen überhaupt erfassen und wiedergeben 1 Alle Historie ist 
Auslese und Umformung eines ungeheuren Materials, das seinerseits 
aus einer unendlich breit und tief strömenden Masse bewegten Lebens 
hervorragt oder herausgezogen werden kann. Dabei soll von den 
sehr schwierigen und oft nicht sicher zu lösenden Problemen der 
Quellenkritik und Tatsachenfeststellung gar nicht einmal die Rede 

37 




578 Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 

•ein, da die eigentliche Aufgabe der erkennenden und darstellenden 
Synthese — die Franzosen haben oder hatten eine eigene Revue de 
•ynthhse historique — erst nach deren Erledigung beginnt. Was in diese 
darstellende Historie eingeht, ist ein winziger Ausschnitt der völlig 
unerreichbaren und unzählbaren tatsächlichen Vorgänge, die sich 
zuletzt ihrerseits aus Komplikationen unendlich vieler psychischer Einzel- 
Vorgänge und ihrer Zusammenhänge mit Natur und Körper zusammen- 
setzen. Es haben also alle in die Historie eingehenden Tatsachen 
ftlr sie wesentlich repräsentative oder stellvertretende Bedeutung. Nicht 
der Einzelvorgang als solcher ist es, der hier in Betracht kommt; 
sondern die in ihm enthaltene Hindeutung auf in ihm sich offen¬ 
barende allgemeine Tendenzen und Strebungen, die durch ihn sichtbar 
und auch zugleich durch ihn wieder bestimmt werden. Faßt man 
aber diese Tendenzen und Allgemeinheiten ins Auge, so sind sie 
Oberhaupt nicht exakt, sondern nur intuitiv und verstehend als 
Sinneinheiten erfaßbar. Diese Sinneinheiten sind unbegrenzbar ver¬ 
schieden und jedesmal individuell gefärbt, verlangen also eine un¬ 
geheure Empfänglichkeit und Kongenialität, Lebens- und Sachkenntnis 
des Historikers, sobald er einen größeren Zusammenhang bearbeitet. 
Und nur die großen Zusammenhänge sind von allgemein mensch¬ 
licher Bedeutung und verleihen der Historie einen einheitlichen Ein¬ 
fluß auf Bildung und Lebensorientierung. Die hieraus sich ergebenden 
Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Auf der einen Seite ist die 
Folge das immer mehr sich zerteilende Spezialistentum, das um der 
Exaktheit willen immer kleinere und gleichgültigere Gegenstände be¬ 
arbeitet, um mit sicherer, den Naturwissenschaften ebenbflrtiger 
Methode strenge Erkenntnisse, eigentliche Wissenschaft zu gewinnen. 
Bei der Bedeutung der Philologie fOr solche Exaktheit läuft es auf 
eine Philologisierung der Historie hinaus. Der Zustand, der damit 
eingetreten ist, bedarf keiner näheren Beschreibung. Die Seminar¬ 
historie ist ein Triumph der Wissenschaft, aber sie interessiert nur 
Fachleute, und zwar jeweils nur solche des gleichen engeren Gebietes. 
Unter einem oder ein paar Dutzenden von Fachkennem treibt sich 
dann das Thema hin und her, dient wesentlich als Ausweis der Fach- 
tflehtigkeit der Verfasser und beschäftigt wesentlich nur die Rezensions¬ 
blätter. Wo aber die Historiker an die eigentliche Aufgabe der 
Historie, an die Synthese großer Entwicklungszusammenhänge hersit- 
gehen, da entsteht die peinigende Frage nach der Objektivität solcher 
Historie, nach ihrer Entsprechung mit dem wirklichen Verlauf. Ist 



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Emst Tro eit sch, Die Krisis des Historismus 


579 


sie mehr als scharfsinniges logisches Arrangement der Tatsachen, oder 
ist sie wirklich geradezu Dichtung) Die Invektiven Schopenhauers 
gegen die Historie, daß sie lediglich fable convenue sei, allenfalls 
auch fable non convenue, werden immer von neuem laut Gewiß 
gibt es eine Anzahl von klassischen Meisterwerken der Synthese wie 
Rankes, Jacob Burckhards, Tocquevilles, Mommsens, Gardiners Leistungen. 
Aber wie Ranke selbst sagte, neue Zeiten bringen neue Fragestellungen, 
und jedes Zeitalter muß die großen Zflge der Geschichte von seinem 
Standpunkt aus neu verstehen. Wo aber bleibt dann die Realität und 
Objektivität? Jedenfalls würde das sehr tief dringende geschichts¬ 
philosophische Untersuchungen zur Beantwortung verlangen. Aber 
gerade dazu hat man nicht Zeit und Lust, auch fürchtet man die 
Philosophie in der exakten Wissenschaft So ist die Folge, daß die 
Synthesen in den Händen der Historiker immer seltener werden und 
in die Hände der Dilettanten geraten. Seit der Polemik des heute 
neu aufgelegten Rembrandt-Deutschen gegen die Fachhistorie ist die 
große synthetische Dilettantenhistorie immer weiter und weiter an- 
gcwachscn, zum Teil geistvolle und glänzende Werke wie die Nietzsches 
und Spenglers, zum Teil und vor allem ein Haufen besserer und 
schlechterer Journalistik. Da ist die Folge eine seltsame Mischung von 
historischer Skepsis und leichtgläubigster Mystik. Ein Mann wie 
Spengler bezeichnet grundsätzlich die Historie als Dichtung und ver¬ 
achtet die Forderungen gemeiner Richtigkeit als spießbürgerliche und 
und pedantische Illusion. Ein Mann wie H. G. Wells, das angelsächsische 
nüchtern-optimistische Gegenbild zu Spenglers deutschem romantischen 
Pessimismus, deckt sich bezüglich der Richtigkeit durch die Kontrolle 
einzelner Fachmänner, proklamiert aber als Ziel seiner großen, in 
vieler Hinsicht auch großartigen Synthese, die Stellung der praktischen 
Gegenwartsaufgabe der europäischen Völkerwelt. Skepsis, Dichtung, 
praktische Kultursynthese haben sich der Historie außerhalb der Fach- 
i arbeiterschaft bemächtigt. Die letztere scheint ihren Kritikern zurück- 
geblieben, pedantisch, unfruchtbar, in Illusionen gefangen. Das ist 
I Krisis genug, und die engere Krisis der Historie selbst kann nun mit 
der allgemeinen Krisis des außerwisscnschaftlichen Geistes in ein ge¬ 
meinsames Bett münden. Skepsis und Phantastik hier wie dort! 

Das zweite ist die Einführung des soziologischen Elementes in 
die historische Forschung, Kausalerklärung und intuitive Vereinheit- 
■ lichung. Der einseitigen Geistes- oder Staats- und Rechtsgeschichte 
tritt die Auffassung entgegen, daß alle geistig-kulturellen und staatlich- 





5 So Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 

organisatorischen Bildungen aufruhen auf den jeweiligen gesellschaft¬ 
lichen Grundlagen des Lebens und daß diese wiederum zwar nicht 
allein, aber doch sehr stark durch den ökonomischen, technischen 
und dementsprechend in Sitte und Privatrecht bestimmten Stand der 
Gesellschaft bedingt sind. Das haben die praktischen Engländer, die 
Schöpfer der klassischen National-Ökonomie, längst auf ihre Weise 
gesehen, und aus der Schule Benthams heraus hat Grote in seiner 
History of Greece diesem Gedanken eine erste große Wirkung ver¬ 
schafft. Dabei möge man nicht vergessen, daß aus der deutschen 
Romantik und Philosophie heraus August Böckh auf ganz analoge 
Fragestellungen in seinem „Staatshaushalt der Athener 4 * gekommen ist. 
Eine große allgemeine Bedeutung aber haben diese Theorien dann 
erlangt unter den Erfahrungen der französischen Revolution und ihrer 
Nachwirkungen in den Schulen St. Simons und August Comtes, die 
die Schöpfer der Soziologie als einer neuen Wissenschaft, ja geradezu 
als des Ersatzes Dir Geschichte, geworden sind. Der armselig-ideolo¬ 
gischen Geschichtschreibung der Aufklärung und den individualistischen 
Revolutionsidealen setzen seitdem die französischen Historiker zu einem 
großen Teil eine von Klassen- und Rassenkämpfen, von den Gesell¬ 
schafts- und Organisationsproblemen her orientierte Geschichte entgegen. 
Auch hier darf man die volle Analogie der deutschen Romantik nicht 
übersehen, die auch ihrerseits die Bildung der realen Gemeinschaft 
als Hauptproblem erkannte. Wenn sie dabei auch wesentlich auf die 
Staatsidee und die Realpolitik hinauslief, so sind bei Adam Müller, 
List, Rodbertus und Raumer doch die ökonomisch-soziologischen Ver¬ 
hältnisse als geschichtsbestimmend im Vordergrund geblieben. Vor sllem 
aber hat hier die große industrielle, technische und soziale Umwälzung 
des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Aufgipfelung zu der marxisti¬ 
schen Wissenschaft oder ökonomischen Geschichtstheorie umwälzend ge¬ 
wirkt. Die wissenschaftliche Bedeutung dieser letzteren, wenn man dabei 
von der praktisch viel wichtigeren agitatorischen und die sozialistische 
Klassen-Ideologie begründenden absieht, ist doch eine außerordent¬ 
liche Einschärfung und Vertiefung der soziologischen Probleme und 
ihres Zusammenhangs mit den realsten Lebensbedürfnissen, wie sie 
die Sozialökonomie behandelt. Ihr Einfluß ist in Wahrheit ungeheuer. 
Die Soziologie mag so unfertig sein wie sie will und in dieser Hin¬ 
richt den Historikern allen möglichen Anlaß zu Angriffen auf sie und 
damit zur Selbstberuhigung Ober die Krisis ihrer Wissenschaft geben, 
sie ist in Wahrheit eine neue Art zu sehen und zu fragen. Man 




Ernst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 581 

mag bei den ökonomischen Gesamtzuständen wieder nach den geistig- 
psychologischen und historisch-individuellen Grundlagen fragen, die 
Tatsache, daß sie, so wie sie geworden, den auf ihrer Grundlage sich 
erhebenden geistigen, staatlichen und rechtlichen Bildungen eine starke 
und dauernde Bestimmung dann ihrerseits erteilen, ist nicht zu bestreiten. 
Man kann die materialistischen oder halbmaterialistischen Voraus» 
Setzungen des Marxismus gründlich beseitigen, seine soziologische Lehre 
selbst bleibt von größter Bedeutung und verlangt den vielseitigsten 
Ausbau. Damit aber werden alle historischen Probleme noch ganz 
ungeheuer viel komplizierter. Das Spiel und Widerspiel ökonomisch- 
sozialer, geistig-kultureller und politisch-rechtlicher Elemente wird in 
jedem Einzelfall eines großen Kulturzusammenhangs eine jedesmal be¬ 
sonders zu lösende Aufgabe. Die großen religions- oder philosophie¬ 
geschichtlichen Durchblicke werden in ihrer Geradlinigkeit unmöglich, 
die gegenseitigen Abhängigkeiten des geschichtlichen Lebens unendlich 
viel schwerer durchschaubar. Jene rein geistigen Elemente gestatteten bei 
ihrer gedanklichen Natur eine logische Ausspinnung der Entwicklung, 
ergaben damit einen logischen Leitfaden, an dem die Vorgänge auf¬ 
gereiht und auseinander herausgeholt werden konnten. Jeder solche 
rein logische Leitfaden fällt aber weg, wenn man die bestimmende 
Bedeutung des ökonomischen und Sozialen auch fUr diese Dinge er¬ 
kennt und überdies von der marxistischen Illusion sich befreit, als 
hätten die ökonomischen Elemente ihrerseits eine logisch-dialektische 
Entwicklungsfolge. Damit aber entfallen im weitesten Umfange die 
Konstruktionsmöglichkeiten für die großen Synthesen. Der Horizont 
ist erweitert, aber aus dieser Erweiterung entstehen erst recht lauter 
ganz spezialistische Problemstellungen. Die Aufgabe der historischen 
Darstellung der eigentlichen individuellen Entwickelungsverläufe bleibt 
neben einer vergleichenden allgemeinen Soziologie freilich genau wie 
vorher die wesentliche Aufgabe der Historie. Aber diese Aufgabe ist 
erschwert und kompliziert. Vor allem hängt jedes Eingreifen der 
Historie in gegenwärtige Lebensfragen und damit auch ihre eigentliche 
Bedeutung und Wirkung daran, daß sie die gegenseitigen Kompli¬ 
kationen der ökonomisch-sozialen, der geistig-kulturellen und staatlich¬ 
rechtlichen Mächte gerade in der Gegenwart selber sieht und dazu 
eine Stellung zu nehmen im Stande ist. Aber gerade vor solcher 
Riesenaufgabe schreckt die gegenwärtige Historie begreiflicherweise 
zurück und flüchtet sich lieber in ihren ältem Stil der reinen Kontem¬ 
plation der Fülle des Historischen und der patriotischen oder geistes- 



X 



5St Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 

geschichtlichen Konitraktion, in die Anschauung vom Werden der 
europiischen Humanität oder vom Werden des modernen Staates oder 
von Kunst- und Literaturgeschichte. Damit entsteht dann der Ein¬ 
druck ihres vielleicht wesensnotwendigen Versagens vor den Aufgaben 
der Gegenwart, oder die Probleme fallen den Dogmatikern, Ästheten 
und Nationalökonomen in die Hand. Jedenfalls ist auch hier ein 
Punkt, wo ihre eigenen inneren Schwierigkeiten mit den furchtbaren 
Erregungen und Hilflosigkeiten der außenwissenschaftlichen Gesamt- 
läge Zusammentreffen. 

Das Dritte ist die aus alledem folgende und Überdies eigene Gründe 
besitzende Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der 
Begründung als im sachlichen Inhalt. Das herkömmliche Wertsystem 
seit dem Zusammenbruch des christlich-theologischen und des dynastisch- 
absolutistischen war das des humanitären Fortschrittes, der Autonomie 
der Vernunft, die in Recht, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissen¬ 
schaft, Religion und Kunst sich aus eigenem Vermögen und eigenem 
Triebe entfaltet und die moderne Kultur als Menschheitsangelcgenheit 
aus sich hervorbringt. Dieses Wertsystem konnte man mehr inter¬ 
national-universalgeschichtlich oder mehr national-individualisierend in 
seiner Bedeutung für Sammlung, Einheit und Selbstdurchsetzung des 
nationalen Staates auffissen. Das entere war die Neigung des kosmo¬ 
politischen, an der Selbstvervollkommnung interessierten achtzehnten 
Jahrhunderts, das zweite die des neunzehnten, das auf die Erfahrungen 
der französischen Revolution und des Napolconismus zurückblicktc. 
Insbesondere die deutsche Historie hat cs in diesem letzteren Sinne 
aufgefäßt und damit die Einigung und Wiedererhebung unserer Nation 
aufs wirksamste unterstützt. Aber gleichzeitig wurden diese Kultur¬ 
ideale von einer steigenden Skepsis angenagt. Die allein übrigbleibende 
philosophische Begründung der Geltung und inneren Notwendigkeit 
dieser Werte ging mit dem Zerfall der Philosophie, mit Darwinismus, 
Ethnologie, evolutionistisch-psychologischer Erklärung aller Werte in 
die Brüche. Die Härten des Konkurrenzkampfes und das Völkerringen 
um den Besitz des Erdballs, der neue Machiavellismus und die all- 
* gemeine Skepsis lösten die Humanitätsidee auf oder glaubten sie als 
Heuchelei und Rassenideologien zu enthüllen. Die Vergröberung der 
Kultur durch ihre Massenausbreitung und die überbewußte Intellek- 
tualität in ihrer Erzeugung stießen feinere Geister ab. Der Kampf 
Nietzsches gegen diese ganze Kultur wirkte erschütternd bis in ihre 
letzten Begründungen hinein. Schopenhauers Skepsis gegen Geschichte 




Emst Troeltsch, Die Krisis des Historistmu 583 

und Fortschritt, gegen die abendländischen, letztlich aus Antike und 
Christentum stammenden, Optimismen und Aktivitäten drang wie 
feiner Staub bis in die geschätztesten Teile des Bildungsapparates. 
Die Zerbrechung der alten Werttafeln ward Parole und neue Wcrt- 
tafeln gab es im Grunde nicht Damit entfiel der Historie das Steuer, 
mit dem sic den ungeheuren Lebensstrom befahren konnte. Es gab 
keine BegrUndungsmöglichkeit für Werte mehr. Die Ethik erschien 
als die fraglichste aller Wissenschaften. Und doch hatte sie von einer 
solchen Ethik bis dahin in Wahrheit gelebt Aber nicht bloß die 
Begründung entfiel, sondern auch inhaltlich gerieten die europäischen 
Werte in eine furchtbare Zersetzung. Altertum und Mittelalter hatten 
ein ontologisch-metaphysisch begründetes Wertsystem gekannt und 
von da aus die praktischen Werte des Lebens in eine einheitliche 
Hierarchie geordnet Diese Hierarchie zerbrach. Die verschiedenen 
Werte wandten sich gegeneinander und jeder einzelne wurde fraglich. 
Max Weber, in seinem aufregenden Vortrag Ober den Beruf der 
Wissenschaft, redet höchst charakteristisch und sehr heidnisch von 
einem Polytheismus der Werte, den das Altertum bei seinem all¬ 
gemeinen Polytheismus naiv und ohne Schaden ertragen und den 
das Christentum durch seinen Monotheismus der Werte gebändigt habe. 
Die moderne Religionslosigkeit mache aber heute Polytheismus und 
Monotheismus gleich unmöglich, weil sie Überhaupt keinen Theismus 
hat. Die Folge sei die Anarchie der Werte und die Notwendigkeit 
rein persönlicher, außerwisscnschaftlichcr Stellungnahme. Alles kämpft 
gegen alles: die Kultur und der Fortschritt, die Skepsis und das 
Ästhetentum gegen die Christlichkeit» vor allem gegen den lange Zeit 
mit der Kultur identifizierten Protestantismus; die Realisten, Modernen, 
Völkischen und Expressionisten gegen die Antike, die Verehrer des 
Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, die dionysi¬ 
schen und apollinischen Erneuerer der Antike gegen Christentum und 
Moderne zugleich. Kampf gegen Kapitalismus und Bürgertum, gegen 
Imperialismus und Krieg, Kampf ftlr Nation, Staat, Krieg und Real¬ 
politik, fUr eigenständig nationale oder für internationale und pazi¬ 
fistische Kultur, für Wirtschaft gegen Politik und für Politik gegen 
Wirtschaft! Dazu die Spaltung zwischen Amerikanismus und Euro- 
päismus und das unaufhaltsame Vordringen des Amerikanismus nach 
Europa, der Gegensatz westeuropäischer und russischer Wertungen, die 
in Europas Mitte mit krampfhaft gesuchten eigenen und selbständigen 
durcheinanderfließen I In all diesen Kämpfen dringen von außen 




584 Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 

fernöstliche indische, buddhistische, chinesische Wertungen ein und 
versprechen dem wirren Europa Frieden und Erlösung, wenn es von 
seinem Macht- und Gewaltgeist, seiner Aktivität und seinen antik¬ 
christlichen Ideen der Autonomie der Persönlichkeit lasse. Den Gipfel 
der Verwirrung hat zuletzt der Weltkrieg geschaffen, der eine Menge 
alter Wert-Selbstverständlichkeiten und entsprechender historischer 
Konstruktionen zerstört, aber neue nicht eröffnet hat. All das gehört 
zunächst dem allgemeinen Leben an. Aber da diese Werte selbst alte 
historische Werte sind und in Entstehung und Gehalt vor allem von 
der Historie uns vorgeführt wurden, so ist das zugleich eine Krise 
der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge. Sie hat durch den 
von ihr schwer zu vermeidenden, alles erklärenden und alles ver¬ 
stehenden Relativismus die Erschütterung der Werte angebahnt. Aber 
andererseits lebt jede ihrer Thema- und Fragestellungen, alle Heraus¬ 
schneidung historischer Gegenstände aus dem flüssigen Continuum des 
Lebens, alle Konstruktion und Bildung von Leitfaden doch von einer 
allgemein anerkannten WcrtJehre. Es ist ihre Aufgabe, die historischen 
Werte anschaulich und suggestiv zu machen, indem sie nur sachlich 
ihre Bildungsgeschichte erzählt, und die modernen Gegenwartentschei¬ 
dungen vorzubereiten durch die Orientierung Uber die geschichtliche 
Fülle und den Zusammenhang der Wertwelt. Indem sie selber sich 
dem bloßen Alles-Verstehen ergab, hat sie sich in einen innern Wider¬ 
spruch hineingearbettet, und dieser Widerspruch wurde in den Sturm 
des allgemeinen Lebens hineingerissen. Dabei wurde er zum Brand 
entfacht, der sie selber zu verzehren droht. 

Das alles zusammen genommen, ist eine wirkliche Krisis des Historis¬ 
mus. Man kann zu seiner Beruhigung die Biographien und Tagebücher 
der Leute lesen, die 1848 erlebt haben, und feststellen, daß auch da¬ 
mals alles zu wanken schien und dann alles sich wieder zurcchtzog. 
Aber man wird zweifeln dürfen, ob sich wirklich alles zureebtgezogen 
hat und ob nicht die Geister von damals heute vermehrt wieder¬ 
gekehrt sind. Vor allem ist doch gerade für die Historie die Krisis 
gar keine in den letzten Ereignissen begründete, sondern eine logisch 
in der Sache liegende; die heutige Weltrevolution hat ihr nur besonders 
grelle Schellen angehängt. Sie hat die verschiedenen Länder und Völker 
allerdings in sehr verschiedenem Maße ergriffen. Am wenigsten natürlich 
die Amerikaner, die nur wenig Geschichte haben und Europa ab ein 
Museum betrachten. Sie haben mehr Zukunft als Vergangenheit und 
haben dementsprechend rieh ihren Vers auf die Gesamtlage bereits 






Emst Troeltsch, Die Krisis des Historismus 


5*5 


gemacht: ein von amerikanischer Weltkontrolle getragener demokratischer 
Pazifismus. Das ist die Lehre, die sie aus der Geschichte ziehen und 
begründen und in deren Licht sie das Werden der historischen Weh 
sehen. Immerhin ist es ein Engländer, H. G. Wells, gewesen, der diese 
amerikanische Lehre in eine weltgeschichtliche Form gegossen hat und 
seinen auf sich selbst begrenzten Landsleuten die Notwendigkeit uni¬ 
versaler Geschichtsbetrachtung damit klar machen will. In England ist die 
Krisis des Historismus mehr erst als Krisis des christlichen Wertsystems 
durch historische Kritik und historische Vergleichung fühlbar. Davon 
handelt ein Buch von Bouquet „Is Christisnity the Final Religion?** 
Hier ist die Krisis klar erkannt. Doch heißt es charakteristisch gleich 
auf der ersten Seite: „das angelsächsische Temperament ist mehr aus¬ 
dehnungslustig als nach innen gerichtet und neigt mehr zu missio¬ 
narischen Unternehmen als zur Prüfung der Gründe seines Glaubens.** 
Und Sidney Low sagt irgendwo, daß die Engländer stolz seien, ein 
unlogisches Volk zu sein und sich lediglich an ihre Erfahrung statt 
an Spekulation zu halten. In Frankreich hat Barrls, einer der Haupt¬ 
urheber des Krieges, den Historismus durch den Historismus gewaltsam 
überwunden, indem er gegen Entwurzlung und Intellektualismus, 
Ästhetentum und Universalismus die strengste und schärfste Bejahung 
der eigenen Nation und aller ihrer historischen Eigentümlichkeiten 
und Rechte und Ansprüche fordert. In Italien hat der Futurismus den 
Kampf gegen alle Historie eröffnet und eine brutale Machtentfaltung 
der Gegenwart als Erlösung von ihr, von Museen und Bädekem 
proklamiert. Wie die russischen Intellektuellen und Historiker heute 
Ober ihre westlichen oder slavophilen historischen Theorien und 
Ober Historie überhaupt denken mögen, weiß niemand. Dort wird 
das ungeheuerste Gegenwartsexperiment gegen alle bisherige Geschichte 
gemacht und neue Erfahrung gewonnen, die neues Geschichtsdenken 
begründen wird und damit alles alte vorerst antiquirt. Am schärfsten 
ist die Krisis natürlich in Deutschland, dem Mutterlande der modernen 
I Historie, wo sie am reichsten und breitesten entfaltet war und wo 
alles auch in gänzlich unphilosophischen Zeiten und beim äußersten 
Realismus mit einem Hauch von Philosophie oder doch mindestens all¬ 
gemeiner Konsequenz-Macherei und prinzipiellen Betrachtungen ge¬ 
schwängert ist. Hier hat der Weltkrieg insbesondere alles historische 
Denken völlig durcheinandergeworfen, alte Konstruktionen und Ma߬ 
stäbe entwertet und völlig neue Probleme aufgegeben, freilich auch 
zugleich gegen alle Historie doppelt und dreifach skeptisch gestimmt. 





5 84 Enut Troeltscb, Die Krisis des Historismus 

So versteht man die heutige Krisis des Historismus als eine tiefe 
Innere Krise der Zeit Oberhaupt. Es ist kein blos wissenschaft¬ 
liches, sondern ein praktisches Lebensproblem. Welchen Ausgang 
gibt es? 

Es ist selbstverständlich unmöglich, hier in der Kürze den Ausweg 
anzugeben, wie er mir als gangbar vorschwebt Ich werde das in 
einem Buche Uber den modernen Historismus versuchen, das ich 
noch in diesem Jahre herauszubringen hoffe. Hier ist nur möglich, 
die verschiedenen tatsächlich versuchten Auswege su bezeichnen. Ich 
werde mich dabei dieses Mal wesentlich an unsere deutschen Ver¬ 
hältnisse halten. 

Viele suchen den Ausweg in einem radikalen Wissenschaftshaft und 
grundsätzlichen Antihistorismus. Persönliche Inspirationen und souveräne 
Diktate treten an Stelle der Wissenschaft, wofür man du Vorbild Nietzsches 
gern benutzt, der freilich ein historisch fein gebildeter Geist war und 
dieser Bildung den Gehalt auch in seinen verwegensten Visionen im Grunde 
doch verdankte. Er dachte stets in Genealogien und hatte die Kultur 
du Humanismus. Andere stürzen sich auf einen radikalen Rationalismus, 
den sie bald mehr pazifistisch, bald mehr sozialistisch, bald mehr 
utopistisch oder nüchtern zweckrationell verstehen. Hier beruft man 
sich gern auf Kant und den Neukantianismus, wobei man wiederum 
und allzugern den vorkritiseben Kant vergiftt, der mit aller natur¬ 
wissenschaftlichen und anthropologisch-geographischer Bildung gesättigt 
war und von da aus das Material veraussetzte, auf du er seinen 
Kritizismus anwandte. Alles das gehört zum Rausch und Wahn der 
Revolution. Schon vorher vorhandene Neigungen einzelner Kreise 
sind durch sie in den Wirbel der Aufregungen hineingerissen und 
für eine Zeitlang als Schaum in die Höhe gespritzt worden. Mit den 
wachsenden Enttäuschungen, die der Revolution folgten und weiter 
folgen werden, werden auch diese Dinge wieder in ein ruhigeres 
Geleise zurückkehren und den Anschluß an ein ernsthaftes Wissen 
von Kultur und Geschichte suchen. 

Ein anderer Ausweg ist die Begrenzung auf die eigene Geschichte 
und eine stark gefühlsmäßige und ausschließende Behandlung dieser. 
Ähnlich wie einst im Kampfe gegen die Napoleonische Knechtschaft 
und die dauernde Gefahr einer Wiedererweckung der französischen 
Revolution der eigene Volksgeist und die eigene Vergangenheit 
romantisch verherrlicht und zum Mittel einer nationalen Wiedergeburt 
und Einigung gemacht wurden, so ersteht auch heute wieder eine roman- 




Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 


5*7 


tisch-germanische Geschichtsauffassung und Verwertung, die man heute 
„völkisch“ nennt. Sie kehrt sich freilich heute ähnlich wie die Theorie 
der Slavophilcn gegen das gesamte Westlertum, damit auch gegen 
die englische und amerikanische Welt, während man damals das 
Germanentum mit an England veranschaulichte und in Burke geradezu 
einen der Bannerträger der neuen antirevolutionären Geschichtsbetrach¬ 
tung pries. Auch nach andern Seiten hin ist der völkische Gedanke 
heute brennender und einseitiger als damals. Er kehrt sich gegen 
einen großen Teil der eigenen Volksgenossen und ist fast eine Klassen¬ 
ideologie des in seiner Existenz bedrohten Bürgertums geworden. Ja, 
er kehrt sich sogar gegen die damals hochverehrte und als dem 
Deutschtum wahlverwandt betrachtete Antike und möchte die Erziehung 
nur mit völkisch-deutschen Kulturmitteln bestreiten. Daß er gleich¬ 
zeitig das damals kaum in Betracht kommende Judentum zum Haupt¬ 
gegner erkoren hat und in dieser Frontstellung seine wesentlichsten, 
durch die moderne Rassenmythologie erhitzten Sätze gewinnt, ist 
allbekannt. Alles in Allem ist es die volle Parallele zu der Art, wie 
Barres für viele Franzosen das Problem des Historismus gelöst hat, 
nur weniger ästhetisch und künstlerisch verbrämt. Daß darin ein 
tiefer und untrüglicher Instinkt neben ungeheuerlichen Einseitigkeiten, 
politischem Unverstand und alle Humanität verleugnender Derbheit 
liegt, ist ohne weiteres klar. Weltpolitische Nötigungen des Völker¬ 
verkehrs und die sicher zu erwartende Rückkehr zu unsrer großen 
humanen und universalen Historie werden die Bäume nicht in den 
Himmel wachsen lassen. Auch innerhalb unseres eigenen Volkes muß 
ein Ausgleich kommen. Das Bürgertum kann sich nicht auf die Dauer 
grundsätzlich isolieren. Die uns von allen Seiten aufgedrängte welt¬ 
politische Neuorientierung wird zu liistorischcr Besinnung und humanem 
Universalismus zurückfuhren. 

Der grundsätzlichste Ausweg ist freilich die Verneinung der ganzen 
kulturellen und politischen Entwicklung seit Ausgang des Mittelalters, 
die zu den heutigen geistigen, sozialen und politischen Krisen geführt 
hat, der Verzicht auf die Gewinnung von Weltanschauung und 
Lebensmaximen aus freier Betrachtung der Geschichte und auf die 
rationale Gestaltung der Gesellschaft aus frei schaffender Vernunft. 
Die Rückkehr zur kirchlichen Autorität und einer modernisierten 
ständischen Lebensordnung scheint allein die unheilbaren Probleme 
der Moderne lösen zu können. Dabei steht natürlich der Katholizismus 
weitaus im Vordergrund, der eine grundsätzliche wissenschaftliche 




588 Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 


Universalität und ständische Soziallehren besitzt, der überdies nuancen¬ 
reich und anpassungsfähig ist, weil er nicht aus Dogma und Theorie 
allein besteht. So sehen wir in der Tat eine starke Neukräftigung 
des Katholizismus vor uns. Er stellt die verständigste und wichtigste 
politische Partei und entfaltet in Bildungskreisen einen sehr geistreichen 
Neukatholizismus. Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Ausweg von 
sehr vielen gesucht werden wird und daß dem Katholizismus eine 
große Rolle in der praktischen Lösung unseres Problems beschieden 
sein wird. Der deutsche Protestantismus dagegen wird schwerlich in 
dieser Hinsicht eine große Bedeutung erlangen. Soweit er dogmatisch 
konservativ ist, steht er den Völkischen nahe. Der freie Protestantis¬ 
mus aber war und ist mit dem Historismus eng verbunden, holt aus 
der Breite der Geschichte die humane Bedeutung des Evangeliums 
heraus und ergänzt sie aus weiteren historischen Elementen, die die 
Geschichte in die christlichen eingeschmolzen hat. Dagegen aber 
wendet sich die Ungunst der Zeit von allen Seiten. Er setzt geordnete 
Allgemeinverhältnisse voraus, innerhalb deren die freie Individualität 
die historischen Kräfte frei verbinden kann, ohne doch damit die 
Grundlage der institutioneilen Regelungen zu zerstören. Ihn trifft die 
geistige und politische und soziale Krisis am schwersten. Andre religiöse 
Kräfte werden sich schwerlich als Ausweg erheblich geltend machen. 
Das Sekten- und Gemeinschaftschristentum greift zwar gleichfalls um 
sich, aber eine geistig führende Bedeutung ist ihm sicherlich nicht 
beschieden. Hier gibt es keine Form und kein Dogma, und das sind 
die Dinge, nach denen die Zeit sich sehnt. Augenblicklich glauben 
viele, das in einer Theosophie zu finden, die mit modernstem Ge¬ 
schäftsbetrieb, politisch-sozialen Theorien der Staatsauflösung, Nietzsche¬ 
artigen Geschichtsvisionen verbündet ist und dem jeweils höheren Ein¬ 
weihungsgrade immer festere Dogmen verspricht. Es ist der stärkste 
Ausdruck der weitgreifenden Verzweiflung an Vernunft und Wissen¬ 
schaft und ein Geschichtsbild auf Grund von Visionen- und Geheim¬ 
offenbarungen. Wie lange derartige Dinge ihre Zugkraft behalten, 
hängt von allgemeinen psychologischen und realen Verhältnissen ab, 
die niemand berechnen kann. 

Der letzte Ausweg ist derjenige, der für den wissenschaftlich ge¬ 
sinnten Menschen allein in Betracht kommt: eine neue Berührung von 
Historie und Philosophie. Die Philosophie selbst ist, wie jedermann 
sehen kann, in einer tiefen Umwandlung und Neubildung begriffen 
und wagt sich wieder an die alten großen Hauptprobleme der 




Emst Troeltscb, Die Krisis des Historismus 589 

Philosophie. Von ihr aus rauft auch das schwere Problem des 
Historismus in Angriff genommen werden. Dabei handelt es sich 
nicht darum, die historische Facharbeit mit philosophischen Ideen au 
imprägnieren. Diese wird vielmehr bleiben müssen wie sie ist, und nur 
in ihrer Themenstellung und ihren Gegenständen dem Bedürfnis nach 
dem Groften, Bedeutenden und Wirksamen mehr Rechnung tragen 
müssen. Dagegen mufi die allgemeine Weltanschauungsbedeutung und 
der Bildungsertrag der Historie neu durchgedacht und neu befestigt, . 
auf das Mögliche und Erreichbare begrenzt, hier aber mit vollster 
Lebendigkeit herausgeholt werden. Du Problem der historischen 
Lebenskenntnis im Verhältnis zu gegenwärtiger Schöpfung und Kultur- 
syntbese muß mit allem Nachdruck gestellt und die universal¬ 
geschichtliche Unterlage für solche Gegenwartsschöpfung mit aller 
Kraft und liefe neu gestaltet werden. Du sind Aufgaben nicht der 
Historie selbst, sondern der auf die Historie bezogenen Philosophie, 
Antworten auf Fragen, die freilich aus der Historie selbst heraus ent¬ 
springen. Ob Historiker oder Philosophen du Problem bearbeiten, ist 
dabei gleichgiltig. Auf Zusammenarbeit sind sie jedenfalls angewiesen. 
Die geistige Lage der Zeit verlangt nicht bloß, wie man allenthalben 
heute hören kann, die Erlösung vom Naturalismus als von einem Philo¬ 
sophie und Bildung überwuchernden Prinzip, sondern mehr noch 
vielleicht die Erlösung vom Historismus und seiner begleitenden Skepsis, 
Ermüdung und WirklichkeitsHucht. Hiermit aber wird dann nicht 
bloß der Historismus einen Richtpunkt, sondern auch die forma¬ 
listisch, abstrakt und technisch gewordene Philosophie einen neuen 
Lebensgehalt finden. Der Historismus verlangt nach Ideen, die Philo¬ 
sophie nach Leben. Beiden kann durch solche Verbindung geholfen 
werden. 

Wie weit eine solche vom Boden der Wissenschaft aus erfolgende 
Lösung des Problems die allgemeine außerwissenschaftliche Krise zu 
bannen helfen kann, ist dann freilich eine Frage für sich. Hier 
scheiden sich die grundsätzlichen I Lebensstellungen, der moderne Mensch, 
der die Freiheit und Beweglichkeit des Gedankens für ein wesentliches 
Element der in tausendfachen praktischen Verwicklungen sich ab¬ 
spielenden Kultur hält, und der mittelalterliche Mensch, der seine 
Kraft und Stärke in dogmatischer Gebundenheit und Ehrfurcht hat 
und dafür dann den Rest frei spielen lassen kann. Wohl möglich, 
daß uns auf dem Kontinent eine mittelalterliche Rückbildung bevor- 
steht, zuvor aber müßte mehr als die Hälfte unsres Mensch e nbesta n d e s 




59° 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

verschwunden sein. So lange der Lebensquell unerschöpflich springt, 
so lange werden wir auch dem Leben und seiner, die moderne Welt 
nicht allein, aber grundsätzlich mitbestimmenden Sclbstdarstellung als 
Geschichte im Vertrauen zur Vernunft und Wissenschaft uns hingeben. 
Das ist Glaubenssathe, wie cs das mittelalterliche Dogma, solange 
es naiv war, auch gewesen ist. 


PHANTASTISCHE NACHT 


Erzählung von 
STEFAN ZWEIG 

Schlufl 

P lötzlich erlosch die Gespanntheit in ihrem Gesicht, der funkelnde 
Glanz glomm aus, eine ärgerliche Falte krUmmte sich um den eben 
noch lächelnden Mund. Ich folgte der Richtung ihres Blicks: ein kleiner 
dicker Herr, den die Kleider faltig umplustcrtcn, steuerte eilig auf 
sie zu, das Gesicht und die Stirn, die er nervös mit dem Taschen¬ 
tuch abtrocknete, von Erregung feucht. Der Hut, in der Eile schief 
auf den Kopf gedrückt, ließ seitlich eine tief heruntergezogene Glatze 
sehen (unwillkürlich empfand ich, es müßten, wenn er den Hut ab- 
nehme, dicke Schweißperlen auf ihr brüten, und der Mensch war mir 
widerlich), ln der beringten I land hielt er ein ganzes Bündel Tickctts. 
Er prustete förmlich vor Aufregung und sprach gleich, ohne seine Frau 
zu beachten, in lautem Ungarisch auf den Offizier ein. Ich erkannte 
sofort einen Fanatiker des Rennsportes, irgendeinen Pferdehändler 
besserer Kategorie, für den das Spiel die einzige Ekstase war, das er¬ 
lauchte Surrogat des Sublimen. Seine Frau mußte ihm offenbar 
jetzt etwas Ermahnendes gesagt haben (sic war sichtlich geniert von 
seiner Gegenwart und gestört in ihrer elementaren Sicherheit), denn 
er richtete sich, anscheinend auf ihr Geheiß, den Hut zurecht, lachte 
fie dann jovial an und klopfte ihr mit gutmütiger Zärtlichkeit auf 
die Schulter. Wütend zog sie die Brauen hoch, abgestoßen von dieser 
ehelichen Vertraulichkeit, die ihr in Gegenwart des Offiziers und viel¬ 
leicht mehr noch der meinen peinlich wurde. Er schien sich zu 
entschuldigen, sagte auf ungarisch wieder ein paar Worte zu dem 
Offizier, die jener mit einem gefälligen Lächeln erwiderte, nahm aber 
dann zärtlich und ein wenig unterwürfig ihren Arm. Ich spürte, daß 




Stefan Zweig, Phantastische Nacht 


59 * 


ie sich seiner Intimität vor mir schämte und genoß ihre Erniedrigung 
nit einem gemischten Gefühl von Spott und Ekel. Aber schon hatte sie 
ich wieder gefaßt und während sie sich weich an seinen Arm drückte, 
;litt ein Blick ironisch zu mir hinüber, als sagte er „Siehst du, der 
lat mich und nicht du“. Ich war wütend und degoutiert zugleich. 
Eigentlich wollte ich ihr den Rücken kehren und weitergehen, um 
hr zu zeigen, daß die Gattin eines solchen ordinären Dicklings mich 
licht mehr interessiere. Aber der Reiz war doch zu stark. Ich blieb. 

Schrill gellte in dieser Sekunde das Signal des Starts, und mit einem- 
nal war die ganze plaudernde, trübe, stockende Masse wie umgeschüttelt, 
3oß wieder von allen Seiten in jähem Durcheinander nach vom 
cur Barriere. Ich hatte eine gewisse Gewaltsamkeit notig, nicht mit¬ 
gerissen zu werden, denn ich wollte gerade im Tumult in ihrer Nähe 
bleiben, vielleicht bot sich da Gelegenheit zu einem entscheidenden 
Blick, einem Griff, irgendeiner spontanen Frechheit, und so stieß ich 
mich zwischen den eilenden Leuten beharrlich zu ihr vor. In diesem 
Augenblick drängte der dicke Gatte gerade herüber, offenbar um einen 
guten Platz an der Tribüne Ausblick zu ergattern, und so stießen wir 
beide, jeder von einem anderen Ungestüm geschleudert, mit so viel 
Heftigkeit gegeneinander, daß sein lockerer Hut zu Boden flog und die 
Ticketts, die daran lose befestigt waren, in weitem Bogen wegspritzten 
und wie rote, blaue, gelbe und weiße Schmetterlinge auf den Boden 
staubten. Einen Augenblick starrte er mich an. Mechanisch wollte ich 
mich entschuldigen, aber irgendein böser Wille verschloß mir die 
Lippen, im Gegenteil, ich sah ihn kühl mit einer leisen frechen und 
beleidigenden Provokation an. Sein Blick flackerte eine Sekunde lang 
unsicher auf, von einer rot aufsteigenden, aber ängstlich sich drückenden 
Wut hochgeschnellt, brach aber feige zusammen vor dem meinen. 
Mit einer mir unvergeßlichen, fast rührenden Ängstlichkeit sah er mir 
eine Sekunde in die Augen. Dann bog er sich weg, schien sich 
plötzlich seiner Ticketts zu besinnen und bückte sich, um sie und den 
Hut vom Boden aufzulesen. Mit unverhohlenem Zorn, rot im Ge¬ 
sicht vor Erregung, blitzte die Frau, die seinen Arm gelassen hatte, 
mich an: ich sah mit einer Art Wollust, daß sie mich am liebsten 
geschlagen hätte. Aber ich blieb ganz kühl und nonchalant stehen, 
sah lächelnd, ohne zu helfen, zu, wie der überdicke Gemahl sich 
keuchend bückte und vor meinen Füßen herum kroch, um seine 
Ticketts aufzulesen. Der Kragen stand ihm beim Bücken weit ab wie 
die Federn einer aufgeplusterten Henne, eine breite Speckfalte schob 



5?2 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

sich den roten Nacken hinauf, asthmatisch keuchte er bei jeder 
Beugung. Unwillkürlich kam mir, wie ich ihn so schnauben sah, ein 
unanständiger und unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in 
ehelichem Alleinsein mit seiner Gattin vor, und, übermütig geworden 
an dieser Vorstellung, lächelte ich geradeaus in ihren kaum mehr be¬ 
herrschten Zorn. 

Aber jetzt schien der Unglückselige endlich alle seine Ticketts 
zusammengerafft zu haben, nur eines, ein blaues, war weiter fort¬ 
geflogen und lag knapp vor mir auf dem Boden. Er drehte sich 
keuchend herum, suchte mit seinen kurzsichtigen Augen — der Zwicker 
saß ihm ganz vorne auf der schweißbenetzten Nase — und diese 
Sekunde benützte meine spitzbübisch aufgeregte Bosheit zur Ver¬ 
längerung seiner lächerlichen Anstrengung: ich schob, einem schul¬ 
jungenhaften Übermut willenlos gehorchend, den Fuß rasch vor und 
setzte die Sohle auf das Tickett, so daß er es bei bester Bemühung 
nicht Anden konnte, solange mir’s beliebte, ihn suchen zu lassen. 
Und er suchte und suchte unentwegt, überzählte dazwischen ver¬ 
schnaufend immer wieder die farbigen Pappendeckelzettel: es war 
sichtlich, daß einer — meiner! — ihm noch fehlte, und schon wollte 
er inmitten des anbrausenden Getümmels wieder mit der Suche an¬ 
heben, als seine Frau, die mit einem verbissenen Ausdruck meinen 
höhnischen Seitenblick krampfhaft vermied, ihre zornige Ungeduld 
nicht mehr zügeln konnte. „Lajos“, rief sie ihm plötzlich herrisch zu, 
und er fuhr auf wie ein Pferd, das die Trompete hört, blickte noch 
einmal suchend auf die Erde — mir war es, als kitzelte mich das 
verborgene Tickett unter der Sohle, und ich konnte einen Lachreiz 
kaum verbergen — dann wandte er sich seiner Frau gehorsam zu, die 
ihn mit einer gewissen ostenstativen Eile von mir weg in das immer 
stärker aufschäumende Getümmel zog. 

Ich blieb zurück ohne jedwedes Verlangen, den Beiden zu folgen. 
Die Episode war für mich beendet, das Gefühl jener erotischen 
Spannung hatte sich wohltuend ins Heitere gelöst, alle Erregung war 
von mir geglitten und nichts zurückgeblieben als die gesunde Sattheit 
der plötzlich vorgebrochenen Bosheit, eine freche, fast übermütige Selbst¬ 
zufriedenheit über den gelungenen Streich. Vorne drängten sich die 
Menschen dicht zusammen, schon begann es zu wogen und, eine 
einzige schmutzige schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen, 
aber ich sah gar nicht hin, es langweilte mich schon. Und ich 
dachte daran, hinüber in die Kriau zu gehen oder heimzufahren. 



591 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Aber wie ich jetzt unwillkürlich den Fuß zum Schritt vorwärtstat, 
bemerkte ich das blaue Tickett, das vergessen am Boden lag. Ich 
nahm es auf und spielend zwischen die Finger, ungewiß, was ich 
damit anfangen sollte. Vage kam mir der Gedanke, es „Lajos“ 
zurückzugeben, was als vortrefflicher Anlaß dienen könnte, mit seiner 
Frau bekannt zu werden, aber ich merkte, daß sie mich gar nicht 
mehr interessierte, daß die flüchtige Hitze, die mir von diesem Aben¬ 
teuer angeflogen kam, längst in meiner alten Gleichgültigkeit ausgekühlt 
war. Mehr als dies kämpfende verlangende Hin und Her der Blicke 
verlangte ich von Lajos’ Gattin nicht — der Dickling war mir doch 
zu unappetitlich, um Körperliches mit ihm zu teilen — den Frisson 
der Nerven hatte ich gehabt, nun fühlte ich bloß mehr lässige Neu¬ 
gier, wohlige Entspannung. 

Der Sessel stand da, verlassen und allein. Ich setzte mich gemäch¬ 
lich nieder, zündete mir eine Zigarrette an. Vor mir brandete die 
Leidenschaft wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen 
reizten mich nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an 
die Meraner Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und 
in den sprühenden Wasserfall hinabgesehen hatte. Ganz so war dies 
wie hier: auch dort ein mächtig aufschwellendes Rauschen, das nicht 
wärmte und nicht kühlte, auch dort ein sinnloses Tönen in eine 
schweigendblaue Landschaft hinein. Aber jetzt war die Leidenschaft 
des Spiels beim Crescendo angelangt, wieder flog der Schaum von 
Schirmen, Hüten, Schreien, Taschentüchern über die schwarze Brandung 
der Menschen hin, wieder quirlten die Stimmen zusammen, wieder 
zuckte ein Schrei — nun aber andersfarbig — aus dem Riesenmaul der 
Menge. Ich hörte einen Namen, tausendfach, zehntausendfach jauch¬ 
zend, gell, ekstatisch, verzweifelt geschrien: „Cressy! Cressyl Cressy!“ 
Und wieder brach er, eine gespannte Saite, plötzlich ab (wie doch 
Wiederholung selbst die Leidenschaft eintönig macht!). Die Musik be¬ 
gann zu spielen, die Menge löste sich. Tafeln wurden emporgezogen mit 
den Nummern der Sieger. Mechanisch blickte ich hin. An erster 
Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch blickte ich auf das blaue 
Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch hier 
die Sieben. 

Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen, 
der gute Lajos richtig gesetzt. So hatte ich mit meiner Bosheit den 
dicken Gatten sogar noch um Geld gebracht: mit einemmal war 
meine übermütige Laune wieder da, nun interessierte es mich zu 

3 » 



594 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

wissen, um wieviel ihn meine eifersüchtige Intervention geprellt. 
Ich sah mir den blauen Pappendeckel zum erstenmal genauer an: es 
war ein Zwanngkronen-Tickett und Lajos hatte auf „Sieg 11 gesetzt. 
Das konnte wohl schon ein stattlicher Betrag sein. Ohne weiter 
nachzudenken, nur dem Kitzel der Neugierde folgend, ließ ich mich 
von der eilenden Menge hindrängen in der Richtung zu den Kassen. 
Ich wurde in irgendeinen Queue hineingepreßt, legte das Tickett 
vor und schon streiften zwei knochige, eilfertige Hände, zu denen 
ich das Gesicht hinter dem Schalter gar nicht sah, mir neun Zwanzig¬ 
kronenscheine auf die Marmorplatte. 

In dieser Sekunde, wo mir du Geld, wirkliches Geld, blaue 
Scheine hingelegt wurden, stockte mir du Lachen in der Kehle. 
Ich hatte sofort ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich 
die Hände zurück, um du fremde Geld nicht zu berühren. Am 
liebsten hätte ich die blauen Scheine auf der Platte liegen lassen, aber 
hinter mir drängten schon die Leute, ungeduldig, ihren Gewinn aus¬ 
bezahlt zu bekommen. So blieb mir nichts übrig, als, peinlich berührt, 
mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine zu nehmen: wie blaue 
Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich unbewußt von mir 
wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie genommen, nicht zu 
mir selbst. Sofort übersah ich du Fatale der Situation. Wider meinen 
Willen war aus dem Scherz etwas geworden, was einem anständigen 
Menschen, einem Gentleman, einem Reserveoffizier nicht hätte unter¬ 
laufen dürfen, und ich zögerte vor mir selbst, den wahren Namen 
dafür auszusprechen. Denn dies war nicht verheimlichtes, sondern 
listig weggelocktes, — gestohlenes Geld. 

Um mich surrten und schwirrten die Stimmen. Leute drängten und 
stießen von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit 
der weggespreizten Hand. Wu sollte ich tun? An du Natürlichste 
dachte ich zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich ent¬ 
schuldigen und ihm du Geld zurückerstatten. Aber das ging nicht 
an und am wenigsten vor den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch 
Reserveleutnant; und ein solches Eingeständnis hätte mich sofort meine 
Charge gekostet, denn selbst wenn ich du Tickett gefunden hätte, 
war schon du Einkassieren des Geldes eine unfaire Handlungsweise. 
Ich dachte auch daran, meinem in den Fingern zuckenden Instinkt 
nachzugeben, die Noten zu zerknüllen und fortzuwerfen, aber auch 
dies wu inmitten des Menschengewühls zu leicht kontrollierbar und 
dann verdächtig. Keinesfalls wollte ich aber auch nur einen Augen- 



595 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

blick das fremde Geld bei mir halten oder gar in die Briefrasche 
stecken, um es später irgendjemandem zu schenken: das mir seit 
Kindheit so wie reine Wäsche anerzogene Sauberkeitsempfinden ekelte 
sich vor jeder, auch nur flüchtigen, Berührung mit diesen Zetteln. 
Weg, nur weg mit diesem Gelde, fieberte es ganz heiß in mir, weg, 
nur irgendwohin wegl Unwillkürlich sah ich mich um und wie ich 
ratlos im Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte 
Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen 
zu drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in Händen. Und 
der Gedanke war mir Erlösung. Zurückwerfen das Geld an den bos¬ 
haften Zufall, der es mir gegeben, wieder hinein in den gefräßigen 
Schlund, der jetzt die neuen Einsätze, Silber und Scheine gleich 
gierig hinunterschluckte — ja, das war das Richtige, die wahre Be¬ 
freiung ! 

Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die 
Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon 
stand der erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein 
Pferd zu nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich 
in das Reden rings um mich. „Setzen Sie Ravachol?“ fragte einer. 
„Natürlich Ravachol“, antwortete ihm sein Begleiter. „Glauben Sie, 
daß Teddy nicht auch Chancen hat?“ „Teddy? Keine Spur. Er hat 
im Maidenrennen total versagt. Er war ein Bluff.“ 

Wie ein Verdurstender schluckte ich die Worte ein. Also Teddy 
war schlecht, Teddy würde bestimmt nicht gewinnen. Sofort beschloß 
ich ihn zu setzen. Ich schob das Geld hin, nannte den eben erst 
gehörten Namen Teddy auf Sieg, eine Hand warf mir die Ticketts 
zurück. Mit einemmale hatte ich jetzt neun rotweiße Pappendeckel¬ 
stücke zwischen den Fingern statt des einen. Es war noch immer 
ein peinliches Gefühl, aber immerhin: es brannte nicht mehr so auf¬ 
reizend, so erniedrigend wie das knittrige bare Geld. 

Ich empfand mich wieder leicht, beinahe sorglos: jetzt war das 
Geld weggetan, das Unangenehme des Abenteuers erledigt, die An¬ 
gelegenheit wieder zum Scherz geworden, als der sie begonnen. Ich 
setzte mich lässig in meinen Sessel zurück, zündete eine Zigarette an 
und blies den Rauch gemächlich vor mich hin. Aber es hielt mich 
nicht lange, ich stand auf, ging herum, setzte mich wieder hin. Merk¬ 
würdig: es war vorbei mit der wohligen Träumerei. Irgendeine 
Nervosität stak mir knisternd in den Gliedern. Zuerst meinte ich, 
es sei das Unbehagen, unter den vielen vorbeistreifenden Leuten Lajos 



59 6 Stefan Zweig, 'Phantastische Nacht 

und seiner Frau begegnen zu können, aber wie konnten sie ahnen, 
daß jene neuen Ticketts die ihren waren. Auch die Unruhe der 
Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie genau, 
ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drangen begannen, ja ich er¬ 
tappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu bücken, 
die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. Das also war es — 
Ungeduld, ein springendes inneres Fieber der Erwartung, der Start 
möge schon beginnen, die leidige Angelegenheit für immer erledigt sein. 

Ein Bursche lief vorbei mit einer Rennzeitung. Ich hielt ihn an, 
kaufte mir das Programm und begann unter den unverständlichen, in 
einem fremden Jargon geschriebenen Worten und Tips herumzusuchen, 
bis ich endlich Teddy herausfand, den Namen seines Jockeys, den 
Besitzer des Stalles und die Farben rot-weiß. Aber warum interessierte 
mich das so? Ärgerlich zerknüllte ich das Blatt und warf es weg, 
stand auf, setzte mich wieder hin. Mir war mit einemmal heiß ge¬ 
worden, ich mußte mir mit dem Taschentuch über die feuchte Stirn 
fahren und der Kragen drückte mich. Noch immer wollte der Start 
nicht beginnen. 

Endüch klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in 
dieser Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln 
gleich einem Wecker erschreckt von irgend einem Schlaf aufriß. Ich 
sprang vom Sessel so heftig weg, daß er umfiel und eilte — nein, 
ich Uef — gierig nach vorne, die Ticketts fest zwischen die Finger 
gepreßt, mitten in die Menge hinein, gleichsam von einer rasenden 
Angst verzehrt, zu spät zu kommen, irgendetwas ganz Wichtiges zu 
versäumen. Ich kam noch, indem ich Leute brutal beiseite stieß, 
bis an die vordere Barriere, riß rücksichtslos einen Sessel, den eben 
eine Dame nehmen wollte, an mich. Meine ganze Taktlosigkeit und 
Tollwütigkeit erkannte ich sofort an ihrem erstaunten Bück — es 
war eine gute Bekannte, die Gräfin R., deren hochgezogenen zornigen 
Brauen ich begegnete — aber aus Scham und Trotz sah ich an ihr 
kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das Feld zu sehen. 

Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt 
ein kleines Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten 
von den kleinen Jockeis, die wie bunte Poüchinelle aussahen. Sofort 
suchte ich den meinen darunter zu erkennen, aber mein Auge war 
ungeübt und mir flimmerte es so heiß und seltsam vor dem Bück, 
daß ich unter den Farbenflecken den rotweißen nicht zu unterscheiden 
vermochte. In diesem Augenbück klang die Glocke zum zweiten 



597 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Male, und wie sieben bunte Pfeile von einem Bogen flitzten die Pferde 
in den grünen Gang hinein. Es mußte wunderbar sein, dies ruhig 
und nur ästhetisch zu betrachten, wie die schmalen Tiere galoppierend 
ausholten und, kaum den Boden anstreifend, über den Rasen hin¬ 
federten, aber ich spürte von all dem nichts, ich machte nur ver¬ 
zweifelte Versuche, mein Pferd, meinen Jockei zu erkennen und fluchte 
mir selbst, keinen Feldstecher mitgenommen zu haben. So sehr ich 
mich bog und streckte, ich sah nichts als vier, fünf bunte Insekten, in 
einen fliegenden Knäuel verwischt, nur die Form sah ich allmählich jetzt 
sich verändern, sah, wie das leichte Rudel sich jetzt an der Biegung 
keilförmig verlängerte, eine Spitze Vortrieb, indes rückwärts einige 
des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen wurde 
scharf, drei oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten Pferde 
klebten wie farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob sich 
das eine, bald das andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich 
streckte ich meinen ganzen Körper aus, als könnte ich durch diese 
nachahmende, federnde leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre Ge¬ 
schwindigkeit steigern und mitreißen. 

Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten 
schon an der Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren 
jetzt wie grelle Raketen aus dem trüben Tumult. Neben mir stand 
einer, die Hände frenetisch gereckt, und wie jetzt ein Pferdekopf 
vordrängte, schrie er fußstampfend mit einer widerlich gellen und 
triumphierenden Stimme „Ravachol! Ravachol!“ Ich sah, daß wirk¬ 
lich der Jockei dieses Pferdes blau schimmerte, und eine Wut über¬ 
fiel mich, daß es nicht mein Pferd war, das siegte. Immer unerträg¬ 
licher wurde mir das gelle Gebrüll „Ravachol! Ravachol!“ von dem 
Widerling neben mir, ich tobte vor kalter Wut, am liebsten hätte 
ich ihm die Faust in das aufgerissene schwarze Loch seines schreien¬ 
den Mundes geschlagen. Ich zitterte vor Zorn, ich fieberte, jeden 
Augenblick fühlte ich, konnte ich etwas Sinnloses begehen. Aber da 
hing noch ein anderes Pferd knapp an dem ersten. Vielleicht war 
das Teddy, vielleicht, vielleicht — und diese Hoffnung befeuerte mich 
von neuem. Wirklich war mir, als schimmerte der Arm, der sich 
jetzt über den Sattel hob und etwas niedersausen ließ auf die Kroupe 
des Pferdes, rotfarben, er konnte es sein, er mußte es sein, er mußte, 
er mußte. Aber warum trieb er ihn nicht vor, der Schurke? Noch 
einmal die Peitsche! Noch einmal! Jetzt, jetzt war er ihm ganz nahe! 
Jetzt, nur eine Spanne noch! Warum Ravachol? Ravachol? Nein, 



5 p 8 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

nicht Ravachol! Nicht Ravachol! Teddy! Teddy! Vorwärts Teddy! 
Teddy! Teddy! 

Plötzlich riß ich mich gewaltsam zurück. Was — was war das? Wer 
schrie da so? Wer tobte da „Teddy“, „Teddy“. Ich selbst schrie ja 
das. Und mitten in der Leidenschaft erschrak ich vor mir. Ich 
wollte mich halten, mich beherrschen: inmitten meines Fiebers quälte 
mich eine plötzliche Scham. Aber ich konnte die Blicke nicht weg¬ 
reißen, denn dort klebten die beiden Pferde knapp aneinander, and 
es mußte wirklich Teddy sein, der an Ravachol, dem verfluchten, 
aus brennender Inbrunst von mir gehaßten Ravachol hing, denn rings 
um mich gellten jetzt andere lauter und vielstimmiger in grellem 
Diskant „Teddy“, „Teddy“, und der Schrei riß mich, den für eine 
wache Sekunde Aufgetauchten wieder in die Leidenschaft. Er sollte, 
er mußte gewinnen, und wirklich, jetzt, jetzt schob sich hinter dem 
fliegenden Pferde des blauen Jockei ein Kopf vor, eine Spanne nur und 
jetzt schon zwei, jetzt sah man schon den Hals — in diesem Augen¬ 
blick schnarrte grell die Glocke, und ein einziger Schrei des Jubels, 
der Verzweiflung, des Zornes explodierte. Ftir eine Sekunde fällte 
der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann 
stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik. 

Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab. 
Ich mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich 
vor begeisterter Erregung. Eine Ekstase, wie ich sie nie gekannt, 
durchflutete mich, eine sinnlose Freude, daß der Zufall so sklavisch 
meiner Herausforderung gehorcht; vergebens versuchte ich mir vor¬ 
zutäuschen, es sei wider meinen Willen gewesen, daß dieses Pferd 
jetzt gewonnen habe und ich hätte gewünscht, das Geld verloren zu 
sehen. Aber ich glaubte es mir ja längst nicht mehr und schon spürte 
ich ein grausames Ziehen in meinen Gliedern, es riß mich magisch 
irgendwohin, und ich wußte, wohin es mich trieb: ich wollte den 
Sieg sehen, ihn spüren, ihn fassen, Geld, viel Geld, blaue knisternde 
Scheine in den Fingern spüren und dies Rieseln die Nerven hinauf. 
Eine ganz fremde böse Lust hatte sich meiner bemächtigt, und keine 
Scham wehrte mehr, ihr nachzugeben. Und kaum, daß ich mich er¬ 
hob, so eilte, so lief ich schon bis zur Kasse, ganz brüsk, mit ge¬ 
spreizten Ellenbogen stieß ich mich zwischen die Wartenden am 
Schalter, schob ungeduldig Leute beiseite, nur um das Geld, das Geld, 
leibhaftig zu sehn. „Flegel“, murrte hinter mir einer der Weggedrängten, 
ich hörte es, aber ich dachte nicht daran, ihn zu fordern, ich bebte 



599 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

ja vor unbegreiflicher krankhafter Ungeduld. Endlich war die Reihe 
an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues Bündel Banknoten. 
Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren sechshundert- 
undvierzig Kronen. 

Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt 
weiter spielen, mehr gewinnen, viel mehr. Wo hatte ich nur meine 
Rennzeitung? Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich, 
eine neue zu erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Er¬ 
schrecken, wie plötzlich alles rings auseinanderflutete dem Ausgang 
zu, daß die Kassen sich schlossen, die flatternde Fahne sank. Das 
Spiel war zu Ende und dies die letzte Runde gewesen. 

Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann sprang ein Zorn in mir 
auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich konnte mich nicht damit 
abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich spannten und bebten, 
das Blut so heiß, wie seit Jahren nicht mehr, in mir rollte, alles zu 
Ende sein sollte. Aber es half nichts, mit trügerischem Wunsch die 
Hoffnung künstlich zu nähren, dies sei nur ein Irrtum gewesen, denn 
immer rascher entflutete das bunte Gedränge, schon glänzte grün der 
zertretene Rasen zwischen den vereinzelt Gebliebenen. Allmähli ch 
empfand ich das Lächerliche meines gespannten Verweilens, so nahm 
ich den Hut — den Stock hatte ich offenbar am Tourniquet in der 
Erregung stehen gelassen — und ging dem Ausgang zu. Ein Diener 
mit servil gelüfteter Kappe sprang mir entgegen, ich nannte ihm die 
Nummer meines Wagens, er schrie sie mit gehöhlter Hand über den 
Platz, und schon klapperten scharf die Pferde heran. Ich bedeutete 
dem Kutscher, langsam die Hauptallee hinabzufahren. Denn gerade 
jetzt, wo die Erregung wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine 
lüsterne Neigung, mir noch einmal die ganze Szene in Gedanken zu 
erneuern. 

In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor, unwillkürlich 
blickte ich hin, um ganz unbewußt sofort wieder wegzusehen. Es 
war die Frau mit ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht 
bemerkt. Aber sofort überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl, 
als sei ich ertappt. Und am liebsten hätte ich dem Kutscher zu¬ 
gerufen, auf die Pferde einzuschlagen, nur um rasch aus ihrer Nähe 
zu kommen. 

Weich glitt auf den Gummirädem der Fiaker dahin zwischen den 
vielen andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von 
Frauen an den grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten. 



<5oo Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Die Loft war weich und süß, schon wehte von erster Abendkühle 
manchmal ein leiser Duft durch den Staub herüber. Aber das frühere 
wohlig-träumerische Gefühl kam nicht wieder: die Begegnung mit 
dem Geprellten hatte mich peinlich aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug 
durch eine Fuge drang es mit einemmal in meine überhitzte Leidenschaft. 
Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern die ganze Szene durch und 
begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein Gentleman, ein Mitglied der 
besten Gesellschaft, Reserveoffizier, hochgeachtet, hatte ohne Not 
gefundenes Geld an mich genommen, in die Brieftasche gesteckt, ja 
dies sogar mit einer gierigen Freude, einer Lust getan, die jede Ent¬ 
schuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor einer Stunde noch 
ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte gestohlen. Ich 
war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu erschrecken, sagte 
ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen leise trabte, 
unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: „Dieb, Dieb, Dieb, 
Dieb!“ 

Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt geschah, es ist ja 
so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß ich, daß ich 
mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines Gefühls, 
jede Oscillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist nur 
mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt wie kaum irgend 
ein Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, 
diese absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines 
Empfindens bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgend ein 
Dichter, ein Psycholog das logisch zu schildern vermochte. Ich kann 
nur die Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten 
Aufleuchten nach. Also: ich sagte zu mir „Dieb, Dieb, Dieb“. Dann 
kam ein ganz merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein 
Augenblick, wo nichts geschah, wo ich nur — ach, wie schwer ist 
es, dies auszudrücken! — wo ich nur horchte, in mich hineinhorchte. 
Ich hatte mich angerufen, hatte mich angeklagt, nun sollte dem 
Richter der Angeschuldigte antworten. Ich horchte also und es 
geschah — nichts. Der Peitschenschlag dieses Wortes: Dieb! von 
dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken und dann hin¬ 
stürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham, weckte 
nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich 
dann gewissermaßen noch näher über mich selbst — denn ich spürte 
zu wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte — 
und horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht doi 

Echo, auf den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, 
der dieser Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschah wiederum 
nichts. Nichts antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort 
„Dieb“, nun schon ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige, 
das gelähmte Gewissen aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. 
Und plötzlich — in «einem grellen Blitzlicht des Bewußtseins, wie 
wenn plötzlich ein Streichholz angezündet und über die dämmernde 
Tiefe gehalten wäre — erkannte ich, daß ich mich nur schämen 
wollte, aber nicht schämte, ja, daß ich sogar irgendwie geheimnis¬ 
voll stolz, sogar beglückt war von dieser törichten Tat. 

Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir 
selbst erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu 
schwellend, zu ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das 
war nicht Scham, nicht Empörung, nicht Selbstekel, was so warm 
mir im Blut gärte — das war Freude, trunkene Freude, die in mir 
aufloderte, ja sogar funkelte mit hellen spitzen Flammen von Über¬ 
mut. Denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten zum erstenmal seit 
Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl nur gelähmt 
gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter der ver¬ 
sandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene heißen 
Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der 
Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinauf¬ 
gepeitscht waren. Auch in mir also, auch in mir, in diesem Stück 
atmenden Weltalls, glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische 
Kern alles Irdischen, der manchmal vorbricht in den wirbelnden 
Stößen der Begier, auch ich lebte, war lebendig, war ein Mensch 
mit bösem und warmen Gelüst. Eine Tür war aufgerissen vom 
Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan in mich hinein, und 
ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies Unbekannte in 
mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und langsam 
— während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die 
bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte — stieg ich, Stufe um Stufe 
hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in diesem 
schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen 
Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indeß tausend 
Menschen um mich lachend und schwätzend wogten, suchte ich mich, 
den verlorenenen Menschen in mir, tastete ich Jahre ab in dem 
magischen Lauf des Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötz¬ 
lich aus den verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich 



6 oi Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

erinnerte mich, schon einmal als Schulknabe dem andern ein Taschen¬ 
messer gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen 
zu haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte. Ich ver¬ 
stand mit einemmal das geheimnisvoll Gewittemde mancher sexueller 
Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zer¬ 
treten gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem 
herrischen Ideal des Gentlemans — daß aber auch in mir, nur tief, 
ganz tief unten in verschütteten Brunnen und Röhren die heißen 
Ströme des Lebens gingen wie in allen andern. Oh, ich hatte ji 
immer gelebt, nur nicht gewagt zu leben, ich hatte mich verschnürt 
und verborgen vor mir selbst, nun aber war die gepreßte Kraft auf¬ 
gebrochen, das Leben, das reiche, das unsäglich gewaltsame hatte mich 
überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich ihm noch anhing; mit 
der seligen Betroffenheit der Frau, die zum erstenmal das Kind sich 
regen spürt, empfand ich das Wirkliche — wie soll ich es anders 
nennen — das Wahre, das Unverstellte des Lebens in mir keimen, 
ich fühlte — fast schäme ich mich solch ein Wort hinzuschreiben - 
wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder blühte, 
wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich im 
Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht 
von Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen 
mitten im klaren Licht eines Rennplatzes zwischen dem Geschwirr von 
tausenden müßigen Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen, 
er grünte und trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab. 

Von einem vorüberfabrenden Wagen grüßte ein Herr und rief 
— offenbar hatte ich den ersten Gruß übersehen — meinen Namen. 
Unwirsch fuhr ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden 
Zustand des sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, 
den ich jemals erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich 
ganz von mir weg: es war mein Freund Alfons, ein lieber Schul¬ 
kamerad und jetzt Staatsanwalt. Mit einemmal durchzuckte es mich: 
dieser Mensch, der dich brüderlich grüßt, hat jetzt zum erstenmal 
Macht über dich, du bist ihm verfallen, sobald er dein Vergehen 
kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte dich aus diesem 
Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen Existenz 
und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt hin¬ 
ter vergitterten Fenstern, zum Abhub des Lebens, zu den andern 
Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen 
getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht doj 

am Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt 
sie den Herzschlag an — dann verwandelte auch dieser Gedanke sich 
wieder in heißes Gefühl, in einen phantastischen frechen Stolz, der 
jetzt selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen rings¬ 
um musterte. Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches 
Lächeln, mit dem ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die 
Mundwinkel, wenn ihr mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet 
ihr meinen Gruß wegstäuben mit verächtlich geärgerter Hand. Aber 
ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch schon ausgestoßen: heute nach¬ 
mittags habe ich mich herausgestürzt aus euerer kalten knöchernen 
Welt, wo ich ein Rad war, ein laudos funktionierendes in der großen 
Maschine, die kalt in ihren Kolben abrollt und eitel um sich selber 
kreist — ich bin in eine Tiefe gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich 
bin lebendiger gewesen in dieser einen Stunde als in den gläsernen 
Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch gehöre ich, nicht mehr zu 
euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer Höhe oder Tiefe, nie 
mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures bürgerlichen Wohlseins. 
Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den Menschen an Lust 
im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr wissen, wo ich 
war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem 
Geheimnis? 

Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde 
fühlte, indeß ich, ein elegant angezogener Gendeman mit kühlem 
Gesicht grüßend und dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr! 
Denn während meine Larve, der äußere, der frühere Mensch, noch 
Gesichter fühlte und erkannte, rauschte innen in mir eine so taumelnde 
Musik, daß ich mich niederdrücken mußte, um nicht etwas heraus¬ 
zuschreien von diesem tosenden Tumult. Ich war so voll von Gefühl, 
daß mich dieser innere Schwall physisch quälte, daß ich wie ein Er¬ 
stickender die Hand gewaltsam an die Brust pressen mußte, unter der 
das Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz, Lust, Erschrecken, Ent¬ 
setzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln und abgerissen, alles 
schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte, daß ich atmete und 
fühlte und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl, das ich seit Jahren 
nicht empfunden, machte mich trunken. Nie hatte ich mich selbst 
auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so ekstatisch als 
lebendig empfunden wie in der Schwebe dieser Stunde. 

Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte 
die Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach 



604 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Hause fahren sollte. Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über 
die Allee hin: mit Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt, 
wie weit die Trunkenheit Ober die Stunden sich ausgegossen hatte. 
Es war dunkel geworden, ein Weiches wogte in den Kronen der 
Bäume, die Kastanien begannen ihren abendlichen Duft durch die 
Kühle zu atmen. Und hinter den Wipfeln silberte schon ein ver¬ 
schleierter Blick vom Mond. 

Es war genug, es mußte genug sein. Aber nur nicht jetzt nach 
Hause, nur nicht in meine gewohnte Welt! Ich bezahlte den Kutscher. 
Als ich die Brieftasche zog und die Banknoten zählend zwischen die 
Finger nahm, lief’s wie ein leiser elektrischer Schlag mir vom Gelenk 
in die Fingerspitzen: irgendetwas in mir mußte noch wach sein also 
vom alten Menschen, der sich schämte. Noch zuckte das absterbende 
Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte schon wieder meine 
Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus meiner Freude. 
Der Kutscher bedankte sich so überschwänglich, daß ich lächeln 
mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr 
fort. Ich sah ihm nach so wie man vom S chiff noch einmal auf einen 
Strand zurückblickt, an dem man glücklich gewesen. 

Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in 
der murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa 
sieben Uhr sein, und unwillkürlich bog ich hinüber zum Sachergarten, 
wo ich sonst immer nach der Praterfahrt in Gesellschaft zu speisen 
pflegte und in dessen Nähe der Fiaker mich wohl bewußt abgesetzt 
hatte. Aber kaum, daß ich die Gitterklinke des vornehmen Garten¬ 
restaurants berührte, überfiel mich eine Hemmung: nein, ich wollte 
noch nicht in meine Welt zurück, nicht mir in lässigem Gespräch 
diese wunderbare Gärung, die mich geheimnisvoll erfüllte, weg¬ 
schwemmen lassen, nicht mich loslösen von der funkelnden Magie 
des Abenteuers, der ich mich seit Stunden verkettet fühlte. 

Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik und unwill¬ 
kürlich ging ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand 
es als Wollust, dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hin¬ 
getriebensein inmitten einer weichwogenden Menschenmenge hatte 
einen phantastischen Reiz. Mein Blut gärte auf in diesem dicken 
quirlenden Brei heißer menschlicher Masse: aufgespannt war ich mit 
einemmal, angereizt und gesteigert wach in allen Sinnen von diesem 
beizend qualmigen Duft von Menschenatem, Staub, Schweiß und 
Tabak... Alles dies, was mich vordem, ja selbst gestern noch, als 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 605 

ordinär, gemein und plebejisch abgestoßen hatte, was der soignierte 
Gentleman ein Leben lang hochmütig gemieden hatte, das zog meinen 
neuen Instinkt magisch an, als empfände ich zum erstenmal im Ani¬ 
malischen, im Triebhaften, im Gemeinen eine Verwandtschaft mit mir 
selbst. Hier im Abhub der Stadt, zwischen Soldaten, Dienstmädchen, 
Strolchen fühlte ich mich in einer Weise wohl, die mir ganz unver¬ 
ständlich war: ich sog die Beize dieser Luft irgendwie gierig ein, 
das Schieben und Fressen in eine geknäulte Masse war mir angenehm, 
und mit einer wollüstigen Neugier wartete ich, wohin diese Stunde 
mich Willenlosen schwemmte. Immer näher grellten und schmetterten 
vom Wurstelprater her die Tschinellen und die weiße Blechmusik, 
in einer fanatisch monotonen Art stampften die Orchestrions harte 
Polkas und rumpelnde Walzer, dazwischen knatterten dumpfe Schläge 
aus den Buden, zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt 
sah ich schon mit irrsinnigen Lichtern die Karuselle meiner Kindheit 
zwischen den Bäumen kreisen. Ich blieb mitten auf dem Platze stehen 
und ließ den ganzen Tumult in mich einbranden, mir Augen und 
Ohren vollschwemmen: diese Kaskaden von Lärm, das Infernalische 
dieses Durcheinander tat mir wohl, denn in diesem Wirbel war etwas, 
das mir den innem Schwall betäubte. Ich sah zu, wie mit geblähten 
Kleidern die Dienstmädchen sich auf den Hutschen mit kollernden 
Lustschreien, die gleichsam aus ihrem Geschlecht gellten, in den 
Himmel schleudern ließen, wie Metzgergesellen lachend schwere 
Hämmer auf die Kraftmesser hinkrachten, Ausrufer mit heisern Stimmen 
und affenhaften Gebärden über den Lärm der Orchestrions schreiend 
hinwegruderten und wie alles dies sich quirlend mengte mit dem 
tausendgeräuschigen, unablässig bewegten Dasein der Menge, die 
trunken war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und 
von der eigenen warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber 
wach geworden war, spürte ich auf einmal das Leben der andern, 
ich spürte die Brunst der Millionenstadt, wie sie sich heiß und auf¬ 
gestaut in die paar Stunden des Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte 
an der eigenen Fülle zu einem dumpfen, tierischen, aber irgendwie 
gesunden und triebhaften Genuß. 

Und allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausge¬ 
setzten Berührung mit ihren heißen, leidenschaftlich drängenden Körpern 
ihre warme Brunst selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften 
sich, aufgebeizt von dem scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne 
spielten taumelig mit dem Getöse und empfänden jene verwirrte 



6o6 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

Betäubung die mit jeder starken Wollust unverweigerlich gemengt ist 
Zum erstenmal seit Jahren, vielleicht Oberhaupt in meinem Leben, 
spürte ich die Masse, spfirte ich Menschen als eine Macht, von der 
Lust in mein eigenes abgeschiedenes Wesen flberging. Irgend ein Damm 
war zerrissen, und von meinen Adern gings hinüber in diese Welt, 
strömte es rhythmisch zurück, und eine ganz neue Gier überkam mich, 
noch jene letzte Kruste zwischen mir und ihnen abzuschmelzen, ein 
leidenschaftliches Verlangen nach Paarung mit dieser heißen, fremden, 
drängenden Menschheit. Mit der Lust des Mannes sehnte ich mich 
in den quellenden Schoß dieses heißen Riesenkörpers hinein, mit der 
Lust des Weibes war ich aufgetan jeder Berührung, jedem Rufj jeder 
Lockung, jeder Umfassung — und nun wußte ichs, Liebe war in mir und 
Bedürfnis nach Liebe wie nur in den zwielichthaften Knabentagen. 
Oh, nur hinein, hinein ins Lebendige, irgendwie verbunden sein mit 
dieser zuckenden, lachenden, aufatmenden Leidenschaft der andern, nur 
einströmen, sich ergießen in ihren Adergang; ganz klein, ganz namen¬ 
los werden im Getümmel, eine Infusorie bloß sein im Schmutz der 
Welt, ein lustzitterndes funkelndes Wesen im Tümpel mit den Myri¬ 
aden — aber nur hinein in die Fülle, hinab in den Kreisel, mich ab¬ 
schießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit ins Unbekannte, 
in irgend einen Himmel der Gemeinsamkeit. 

Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste 
alles zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussels, das 
feine Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer auf¬ 
sprühte, die chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder 
einzelne Laut in mich und flimmerte dann noch einmal rot und 
zuckend an den Schläfen vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick 
mit einer phantastischen Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der 
Seekrankheit), aber doch alles gemeinsam in einem taumeligen Ver¬ 
bundensein. Ich kann meinen komplizierten Zustand unmöglich mit 
Worten ausdrücken, am ehesten gelingt es noch vielleicht mit einem 
Vergleiche: wenn ich sage, ich war überfüllt mit Geräusch, Lfrm, 
Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die mit allen Rädern rasend 
rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der ihr im nächsten 
Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. Seit Stunden hatte 
ich nicht gesprochen, niemandes Hand gedrückt, niemandes Blick 
fragend und teilnehmend gegen den meinen gespürt und nun staute, 
unter dem Sturz der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das 
Schweigen. Niemals, niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 07 

Mitteilsamkeit, nach einem Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten 
von Tausenden und Zehntausenden wogte, rings angespült war von 
Wärme und Worten und doch abgeschnürt von dem kreisenden Ader¬ 
gang dieser Fülle. Ich war wie einer, der auf dem Meere verdurstet. 

Und dabei sah ich, diese Qual mit jedem Blick mehrend, 
wie rechts und links in jeder Sekunde Fremdes sich anstreifend 
band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend zusammenliefen. 
Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen im Vor- 
rübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten 
Wort schon unterfaßten, wie alles sich fand, zusammentat: ein Gruß 
beim Karussel, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes 
schmolz in ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach 
ein paar Minuten, aber doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung, 
war das, wonach alle meine Nerven jetzt brannten. Ich aber, ge¬ 
wandt im gesellschaftlichen Gespräch, beliebter Causeur und sicher in 
den Formen, ich verging vor Angst, ich schämte mich, irgend eines 
dieser breithüftigen Dienstmädchen anzureden, aus Furcht, sie möchte 
mich verlachen, ja ich schlug die Augen nieder, wenn jemand mich 
zufällig anschaute und verging doch innen vor Begierde nach dem 
Wort. Was ich wollte von den Menschen, war mir ja selbst nicht 
klar, ich ertrug es nur nicht länger, allein zu sein, und an meinem 
Fieber zu verbrennen. Aber alle sahen an mir vorbei, jeder Blick 
strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein Bursch 
in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick war 
grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er 
auf die schwingenden Holzpferde. Sein schmaler Mund stand offen wie 
lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr, um mitzufähren und sog 
nur Lust aus dem Schreien und Lachen der anderen. Ich stieß mich 
gewaltsam heran an ihn und fragte — aber warum zitterte meine 
Stimme so dabei und war ganz grell überschlagen? — „Möchten Sie 
nicht auch einmal mitfahren?“ Er starrte auf, erschrak — warum? 
warum? — wurde blutrot und lief fort, ohne ein Wort zu sagen. 
Nicht einmal ein barfüßiges Kind wollte eine Freude von mir: es 
mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar Fremdes an mir sein, daß ich 
nirgend mich einmengen konnte, sondern abgelöst in der dicken 
Masse schwamm wie ein Tropfen Oel auf dem bewegten Wasser. 

Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben. 
Die Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle 
war verrostet vom aufgewühltem Qualm. Ich sah mich um: rechts 



608 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

und links zwischen den strömenden Menschengassen standen kleine 
Inseln von Grün, Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten 
Holzbänken, auf denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier 
und der sonntäglichen Virginia. Der Anblick lockte mich: hier rückten 
Fremde zusammen, verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig 
Ruhe im wüsten Fieber. Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich 
einen fand, wo eine Büigersfamilie, ein dicker vierschrötiger Hand¬ 
werker mit seiner Frau, zwei heitern Mädchen und einem kleinen 
Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe im Takt, scherzten einander zu, 
und ihre zufriedenen leichtlebigen Blicke taten mir wohl. Ich grüßte 
höflich, rührte an einen Sessel und fragte, ob ich Platz nehmen dürfe. 
Sofort stockte ihr Lachen, einen Augenblick schwiegen sie (als wartete 
jeder, daß der andere seine Zustimmung gebe), dann sagte die Frau 
gleichsam betroffen „Bitte! Bitte!" Ich setzte mich hin und hatte so¬ 
fort das Geflihl, daß ich mit meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune 
zerdrückte, denn sofort schwelte um den Tisch ein ungemütliches 
Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die Augen von dem rot- 
karrierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig verstreut 
war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle befremdet beobachteten 
und sofort fiel mir — zu spät! — ein, daß ich zu elegant war für 
dieses Dienstbotengasthaus mit meiner Derbydress, dem Pariser Zylinder 
und der Perle in meiner taubengrauen Kravatte, daß meine Eleganz, 
der Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht von Feind¬ 
lichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der 
fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Usch, dessen 
rote Karras ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder 
abzählte, festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn 
und doch wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es 
war eine Erlösung, als endlich der Kellner kam und das schwere 
Bierglas vor mich hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand 
regen und beim Trinken scheu über den Rand schielen: wirk¬ 
lich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne Haß, aber doch mit 
einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den Eindringling in ihre 
dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt ihrer Klasse, daß 
ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu meiner Welt ge¬ 
hörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die einfältige Freude 
am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagssitzen mich hertrieb, 
sondern irgend ein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie 
mißtrauten, so wie der Junge vor dem Karussell meinem Geschenk 



r>\ 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht dop 

- mißtraut hatte, wie die tausend Namenlosen da draußen im Gewfihl 

1 meiner Eleganz, meiner Weltmännischkeit in unbewußter Feindlichkeit 

- ausbogen. CJnd doch, fühlte ich: fände ich jetzt ein argloses, ein» 
£ Faches, herzliches, ein wahrhaft menschliches Wort der Anrede zu 

ihnen, so würde der Vater oder die Mutter mir antworten, die Töchter 

- geschmeichelt zulacheln, ich könnte mit dem Jungen hinüber in eine 
? Bude schießen gehen und kindlichen Spaß mit ihm treiben. In fünf, 
: zehn Minuten würde ich erlöst sein von mir, eingehüllt in die arg- 

2 lose Atmosphäre bürgerlichen Gesprächs, gern gewährter und sogar 
^ geschmeichelter Vertraulichkeit — aber dies einfache Wort, diesen 
:: ersten Ansatz im Gespräch, ich fand ihn nicht, eine falsche, törichte, 
£ aber übermächtige Scham würgte mir die Kehle, und ich saß mit ge¬ 
senktem Blick wie ein Verbrecher an dem Tisch dieser einfachen 
Menschen, gehüllt in die Qual, ihnen mit meiner verbissenen Gegen- 

■r. wart noch die letzte Stunde des Sonntags verstört zu haben. Und 
: in diesem hingebohrtem Dasitzen büßte ich all die Jahre gleichgültigen 
c Hochmuts, an denen ich an abertausend solchen Tischen, an Millionen 
und Millionen brüderlicher Menschen ohne Blick vorübergegangen war, 
einzig beschäftigt mit Gunst oder Erfolg in jenem engen Kreise der 
: Eleganz; und ich spürte, daß mir der gerade Weg, die unbefangene 

Sprache zu den Menschen jetzt, da ich ihrer in der Stunde meines 
Ausgestoßenseins bedurfte, von innen vermauert war. 

So saß ich, ein freier Mensch bisher, qualvoll in mich geduckt, 
immer wieder die roten Carrls am Tischtuch abzählend, bis endlich 
der Kellner vorbei kam. Ich rief ihn an, zahlte, stand von dem kaum 
angetrunkenen Bierglase auf, grüßte höflich. Man dankte mir freund¬ 
lich und erstaunt: ich wußte, ohne mich umzuwenden, daß jetzt, kaum 
daß ich ihnen den Rücken zeigte, das Lebendig-Heitere sie wieder 
überkommen, der warme Kreis des Gesprächs sich schließen würde, 
sobald ich, der Fremdkörper ausgestoßen war. 

Wieder warf ich mich, aber nun noch gieriger, heißer und ver¬ 
zweifelter in den Wirbel der Menschen zurück. Das Gedränge war 
inzwischen lockerer geworden unter den Bäumen, die schwarz in den 
Himmel überfluteten, es drängte und quirlte nicht mehr so dicht und 
strömend in den Lichtkreis der Karusselle, sondern schwirrte nur schatten¬ 
haft mehr am äußersten Rand des Platzes. Eine andere Art Gesichter 
tauchte jetzt auf: die Kinder mit ihren Ballons und Papierkoriandolis waren 
schon nach Hause gegangen, auch die breithinrollenden sonntäglichen 
Familien hatten sich verzogen. Nun sah man schon Betrunkene johlen, 

39 



6 io Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

verlotterte Burschen mit lungerndem und doch suchendem Gang sich 
aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der einen Stunde, in der ich 
festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen, diese seltsame Welt mehr 
ins Gemeine hinabgeglitten, aber gerade jene phosphoreszierende Atmo¬ 
sphäre von Frechheit und Gefährlichkeit gefiel mir irgendwie besser 
als die bürgerlich-sonntägliche von vordem. Der in mir aufgereizte 
Instinkt witterte hier ähnliche Gespanntheit der Begier: in dem vor¬ 
treibenden Schlendern dieser fragwürdigen Gestalten, dieser Aus¬ 
gestoßenen der Gesellschaft, empfimd ich mich irgendwie gespiegelt. 
Auch sie wilderten doch mit einer unruhigen Erwartung hier nach 
einem flackernden Abenteuer, einer raschen Erregung, und selbst sie, 
diese zerlumpten Burschen, beneidete ich um die offene freie Art ihres 
Streifens, denn ich stand an die Säule eines Karussells atmend ge¬ 
preßt, ungeduldig, den Druck des Schweigens, der Qual meiner Einsam¬ 
keit aus mir zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines 
Anrufs, eines Worts. Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, 
der vom Reflex der kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und 
starrte von meiner Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll 
jeden Menschen anblickend, der vom grellen Schein angezogen für 
einen Augenblick sich herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir 
ab. Niemand wollte mich, niemand erlöste mich. 

Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären 
zu wollen, daß ich, ein kultivierter, eleganter Mann der Gesellschaft, 
reich, unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet, 
eine ganze Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden, 
rastlos sich schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig-, vierzig-, 
hundertmal dieselbe stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer 
mit denselben idiotischen Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an nur 
vorüberkreisen ließ und aus verbissenem Trotz, aus einem magischen 
Gefühl, das Schicksal in meinen Willen zu zwingen, nicht mich von 
der Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos handelte in jener Stunde, 
aber in dieser sinnlosen Beharrung war eine Spannung des Gefühls, 
eine so stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie Menschen sonst 
vielleicht nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod; mein 
ganzes, leer vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und 
staute sich bis hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von 
meinem sinnlosen Wahn, zu bleiben, zu verharren, bis irgend ein 
Wort, ein Blick eines Menschen mich erlöse, so sehr genoß ich diese 
Qual. Ich büßte etwas in diesem Stehen an dem Pfahl, nicht jenen 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht du 

Diebstahl so sehr, als das Dumpfe, das Laue, das Leere meines früheren 
Lebens: und ich hatte mir geschworen, nicht früher zu gehen, bis 
mir nicht ein Zeichen gegeben sei, mich das Schicksal nicht frei¬ 
gegeben. 

Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht 
sich heran. Eines nach dem andern losch in den Buden das Licht, 
und immer stürzte dann wie eine steigende Flut das Dunkel vor, 
schluckte den lichten Fleck auf dem Rasen ein: immer einsamer war 
die helle Insel, auf der ich stand, und schon sah ich zitternd auf 
die Uhr. Eine Viertelstunde noch, dann würden die scheckigen Holz¬ 
pferde still stehen, die roten und grünen Glühlampen auf ihren ein¬ 
fältigen Stirnen abknipsen, das geblähte Orchestrion aufhören zu 
stampfen. Dann würde ich ganz im Dunkel sein, ganz allein hier in 
der leise rauschenden Nacht, ganz ausgestoßen, ganz verlassen. Immer 
unruhiger blickte ich über den dämmernden Platz, über den nur ganz 
selten mehr ein heimkehrendes Pärchen eilig strich oder ein paar 
Burschen betrunken hintaumelten; quer drüben aber in den Schatten 
zitterte noch verstecktes Leben, unruhig und aufreizend. Manchmal 
pfiff oder schnalzte es leise, wenn ein paar Männer vorüberkamen. 
Und bogen sie dann, gelockt von dem Anruf, hin zum Dunkel, so 
zischelten in den Schatten Frauenstimmen, und manchmal warf der 
Wind abgerissene Fetzen grellen Lachens herüber. Und allmählich 
schob sichs um den Rand des Dunkels frecher hervor, gegen den 
Lichtkegel des erhellten Platzes, um sofort wieder in die Schwärze 
zurückzutauchen, sobald im Vorübergehen die Pickelhaube eines Schutz¬ 
mannes im Reflex der Laterne schimmerte. Aber kaum, daß er weiter¬ 
ging auf seiner Runde, waren die gespenstigen Schatten wieder da, 
und jetzt konnte ich sie schon deutlich im Umriß sehen, so nahe 
wagten sie sich ans Licht. Es war der letzte Abhub jener nächtigen 
Welt, der Schlamm, der zurückblieb, nun da sich der flüssige Menschen¬ 
strom verlaufen: ein paar Dirnen, jene ärmsten und ausgestoßensten, 
die keine eigene Bettstatt haben, tags auf einer Matratze schlafen und 
nachts ruhlos streifen, die ihren abgebrauchten, geschändeten, magern 
Körper jedem für ein kleines Silberstück hier irgendwo im Dunkel 
auftaten, umspürt von der Polizei, getrieben von Hunger oder irgend 
einem Strolch, immer im Dunkel streifend, jagend und gejagt zugleich. 
Wie hungrige Hunde schnupperten sie allmählich vor zu dem erhellten 
Platz, nach irgend etwas Männlichem, nach einem vergessenen Nach¬ 
zügler, dem sie seine Lust ablocken könnten für eine Krone oder 



du Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

zwei, um sich dann einen Glühwein zu kaufen in einem Volkskaffee 
und den trüb flackernden Stumpf Leben sich zu erhalten, der ja ohne¬ 
hin auslöscht in einem Spital oder einem Gefängnis. 

Der Abhub war dies, die letzte Jauche von der hochgequollenen 
Sinnlichkeit der sonntäglichen Masse — mit einem grenzenlosen Grauen 
sah ich nun aus dem Dunkel diese hungrigen Gestalten geistern. 
Aber auch in diesem Grauen war noch eine magische Lust, denn 
selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich Vergessenes und 
dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe sumpfige Welt, die ich 
vor Jahren längst durchschritten und die nun phosphoreszierend mir 
wieder in die Sinne funkelte. Seltsam, was diese sonderbare Nacht 
mir plötzlich entgegenhielt, wie sie mich Verschlossenen plötzlich auf¬ 
faltete, daß das Dunkelste meiner Vergangenheit, das Geheimste meines 
Triebes in mir mm offen lag! Dumpfes Gefühl verschütteter Knaben¬ 
jahre stieg auf, wo scheuer Blick neugierig angezogen und doch feig 
verstört an solchen Gestalten gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo 
man zum erstenmal auf knarrender feuchter Treppe Einer hinaufgefölgt 
war in ihr Bett — und plötzlich, als ob Blitz einen Nachthimmel 
zerteilt hätte, sah ich scharf jede Einzelheit jener vergessenen Stunde, 
den flachen Öldruck über dem Bett, das Amulett, daß sie auf dem 
Halse trug, ich spürte jede Fiber von damals, die ungewisse Schwüle, 
den Ekel und den ersten Knabenstolz. All das wogte mir mit einem 
Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne Maß strömte 
plötzlich in mich ein und — wie soll ich das sagen können, dies Un¬ 
endliche! — ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so brennendem 
Mitleid jenen verband, gerade weil sie der letzte Abschaum des Lebens 
waren. Mein von dem Verbrechen einmal angereizter Instinkt spürte 
von innen heraus dieses hungrige Lungern, das dem meinen in 
dieser phantastischen Nacht so ähnlich war, dies verbrecherische Offen¬ 
stehn jeder Berührung, jeder fremden zufällig anstreifenden Lust. 
Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit dem gestohlenen 
Geld brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da drüben endlich 
Wesen, Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte, das von 
andern Wesen, vielleicht auch von mir etwas wollte, von mir, der 
nur wartete, sich wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden 
Willigkeit nach Menschen. Und mit einmal verstand ich, was Männer 
zu solchen Wesen treibt, verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes, 
ein schwellender Kitzel ist, sondern meist bloß Angst vor der Einsamkeit, 
vor der entsetzlichen Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 13 

und die mein entzündetes Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich 
erinnerte mich, wann ich zum letztenmal dies dumpf empfinden: in 
England war es gewesen, in Manchester, einer jener stählernen Städte, 
die in einen lichtlosen Himmel von Lärm brausen wie eine Unter¬ 
grundbahn, und die doch gleichzeitig einen Frost von Einsamkeit 
haben, der durch die Poren bis ins Blut dringt. Drei Wochen hatte 
ich dort bei Verwandten gelebt, abends immer allein irrend durch 
Bars und Klubs und immer wieder in die glitzernde Music-Hall, nur 
um etwas menschliche Wärme zu spüren. Und da eines Abends hatte 
ich so eine Person gefunden, deren Gassenenglisch ich kaum verstand, 
aber plötzlich war man in einem Zimmer, trank Lachen von einem 
fremden Mund, ein Körper war da, irdischnahe und weich. Plötzlich 
schmolz sie weg, die kalte schwarze Stadt, der finstere lärmende Raum 
von Einsamkeit: irgend ein Wesen, das man nicht kannte, das nur 
dastand und wartete auf jeden der kam, löste einen auf, ließ allen 
Trost wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter 
Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das 
für die Einsamen, die Abgesperrteu in sich selbst, dies zu wissen, dies 
zu ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgend ein Halt ist, sich fest¬ 
zuklammern an ihm, mag er auch überschmutzt sein von vielen 
Griffen, starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies, 
gerade dies hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsam¬ 
keit, aus der ich taumelnd aufstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an 
einer letzten Ecke immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in 
sich aufzufängen, jede Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen, 
jede Hitze zu kühlen für ein kleines Stück Geld, das immer zu ge¬ 
ring ist für das Ungeheure, das sie geben mit ihrem ewigen Bereit¬ 
sein, mit dem großen Geschenk ihrer menschlichen Gegenwart. 

Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder 
ein. Es war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts 
in das Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. 
Aber niemand kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen 
Kreis, schon scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau 
•die Lösung des Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den 
Haken, bereit, nach dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über 
die Bude herabzulassen. Nur ich, ich allein, stand noch immer da, 
an den Pfosten gelehnt und sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur 
diese fledermausflatternden Gestalten strichen, suchend wie icb, wartend 
wie ich und doch den undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischen- 



61^ Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

einander. Aber jetzt mußte eine von ihnen mich bemerkt haben, denn 
sie schob sich langsam her, ganz nah sah ich sie unter dem gesenkten 
Blick: ein kleines, verkrOppeltes, rhachitisches Wesen ohne Hut mit 
einem geschmacklos aufgeputzten Fähnchen von Kleid, unter dem ab¬ 
getragene Ballschuhe vorlugten, das Ganze wohl allmählich bei Höker¬ 
innen oder einem Trödler zusammengekauft und seitdem verscheuert, 
von Regen zerdrückt oder irgendwo bei einem schmutzigen Aben¬ 
teuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben mir stehen, 
den Blick wie eine Angel spitz herwerfend, ein einladendes Lächeln 
über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem stocken. Ich konnte 
mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich nicht fortreißen : 
wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um mich be¬ 
gehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese 
gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort, 
einer Geste bloß wegschleudem könnte. Aber ich vermochte mich 
nicht zu rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in 
einer Art wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer — während 
die Melodie des Karussells schon müde wegtaumelte — die nahe Gegen¬ 
wart, diesen Willen, der um mich warb, und schloß die Augen für 
einen Augenblick, um ganz dieses magnetische Angezogensein irgend 
eines Menschlichen aus dem Dunkel der Welt mich überfluten zu 
fühlen. 

Das Karussell hielt inne, die walzemde Melodie erstickte mit einem 
letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sab gerade, 
wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu 
langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich 
erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fort- 
gehen lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der 
mir entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten 
die Lichter, prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu 
Ende. 

Und plötzlich — ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh auf¬ 
springenden Gischt schildern — plötzlich — es kam so jäh, so heiß, 
so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre — plötzlich 
brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler ge¬ 
sellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet, 
wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so un¬ 
geheure Wunsch, diese kleine schmutzige rhachitische Hure möchte 
nur noch einmal, nur noch einmal den Kopf wenden, damit ich zu 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 615 

ihr sprechen könne. Denn ihr nachzugehen, war ich nicht zu stolz 
— mein Stolz war zerstampft, zertreten, weggeschwemmt von ganz 
neuen Gefühlen — aber zu schwach, zu ratlos. Und so stand ich da, 
zitternd und durchwühlt, hier allein an dem Marterpfosten der Dunkel¬ 
heit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit meinen Knaben jahren, 
wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster gestanden, als eine 
fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und immer zögerte und 
verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung — ich stand, zu Gott auf¬ 
schreiend mit irgend einer mir selbst unbekannten Stimme um das 
Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub Menschheit möge 
es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick rückwenden 
zu mir. 

Und — sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie 
zurück. Aber so stark mußte mein Aufrucken, das Vorspringen meines 
gespannten Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend 
stehen blieb. Sie wippte noch einmal halb herum, sah mich durch 
das Dunkel an, lächelte und winkte mit dem Kopf einladend hinüber 
gegen die verschattete Seite des Platzes. Und endlich fühlte ich den 
entsetzlichen Bann der Starre in mir weichen. Ich konnte mich wieder 
regen und nickte ihr bejahend zu. Sie lachte. Der unsichtbare Pakt 
war geschlossen. Ntin ging sie voraus über den dämmerigen Platz, 
von Zeit zu Zeit sich um wendend, ob ich ihr nachkäme. Und ich 
folgte. Das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder 
die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht be 
wußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen, 
hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlang¬ 
samte sie den Schritt. Nun stand ich neben ihr. 

Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas 
machte sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, 
der Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. 
Sie blickte sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Ver¬ 
längerung der Gasse deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht 
war: „Gehn wir dort hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.“ 

Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung 
betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit 
einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille 
hatte keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir, 
wenn man, an einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit 
einen steilen Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst 



6i6 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

sich irgendwie wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt 
und man, statt zu bremsen, sich mit einer taumelnden und doch be¬ 
wußten Schwache willenlos an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht 
mehr zurück und wollte vielleicht gar nicht mehr, und jetzt, wie sie 
vertraulich sich an mich drückte, faßte ich unwillkürlich ihren Arm. 
Es war ein ganz magerer Arm, nicht der Arm einer Frau, sondern wie der 
eines zurückgebliebenen skrofulösen Kindes, und kaum daß ich ihn durch 
das dünne Mäntelchen fühlte, überkam mich mitten in dem gespannten 
Empfinden ein ganz weiches, flutendes Mitleid mit diesem erbärmlichen, 
zertretenen Stück Leben, das diese Nacht gegen mich gespült Und 
unwillkürlich liebkosten meine Finger diese schwachen, kränklichen 
Gelenke so rein, so ehrfürchtig wie ich noch nie eine Frau berührt 

Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein 
kleines Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes übelriechendes 
Dunkel fest zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, ob¬ 
wohl man kaum mehr einen Umriss bemerken konnte, daß sie gsnt 
vorsichtig an meinem Arm sich umwandte und einige Schritte spater 
noch ein zweitesmal. Und seltsam: während ich gleichsam in einer 
Betäubung in das schmutzige Abenteuer hinabglitt, waren doch meine 
Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit einer Hellsichtigkeit, der 
nichts entging, die jede Regung wissend bis in sich hineinriß, merkte 
ich, daß rückwärts am Saum des überquerten Pfades schattenhaft um 
etwas nachglitt und mir war es, als hörte ich einen schleichenden 
Schritt. Und plötzlich — wie ein Blitz eine Landschaft prasselnd weiß 
überspringt — ahnte, wußte ich alles: daß ich hier in eine Falle ge¬ 
lockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure hinter uns lauerten, 
und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle zog, wo ich ihre 
Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit, wie sie nur 
die zusammengepressten Sekunden zwischen Tod und Leben haben, 
sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit, ® 
entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die 
elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein 
Pfiff konnte Leute herbeirufen: in scharfen umrissenen Bildern zuckten 
alle Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf. 

Aber seltsam — diese aufschreckende Erkenntnis kühlte nicht, 
sondern hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augen¬ 
blick, im klaren Licht eines herbstlichen Tages selbst das Absur e 
jener Stunde nicht ganz erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder 
Fiber meines Wesens, daß ich unnötig in eine Gefahr ging, aber wie 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 617 

ein feiner Wahnsinn rieselte mir das Vorgefühl durch die Nerven. 
Ich wußte ein Widerliches, vielleicht Tötliches voraus, ich zitterte 
vor Ekel, hier irgendwie in ein Verbrechen, in ein gemeines 
schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber gerade für die nie ge¬ 
kannte, nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich betäubend über¬ 
strömte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier. Etwas — war 
es Scham, die Furcht zu zeigen oder eine Schwäche? — stieß mich 
vorwärts. Es reizte mich, in die letzte Kloake des Lebens hinab¬ 
zusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze Vergangenheit zu ver¬ 
spielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des Geistes mengte 
sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit allen 
meinen Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem 
Verstand klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das 
Gehölz am Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich 
mehr abstieß als lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur 
für ihre Spießgesellen herzog. Aber ich konnte nicht zurück. Die 
Schwerkraft des Verbrecherischen, die sich nachmittags im Abenteuer 
auf dem Rennplätze an mich gehangen, riß mich weiter und weiter. 
Ich spürte nurmehr die Betäubung, den wirbeligen Taumel des Sturzes 
in neue Tiefen hinab und vielleicht in die letzte: in den Tod. 

Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick 
unsicher herum. Dann sah sie mich wartend an: 

„Na — und was schenkst Du mir?" 

Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich 
nicht. Im Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich 
verschwenden zu dürfen. Hastig griff ich in die Tasche, schüttete 
alles Silber und ein paar zerknüllte Banknoten ihr in die aufgetane 
Hand. Und nun geschah etwas so Wunderbares, daß mir heute noch 
das Blut warm wird, wenn ich daran denke: entweder war diese arme 
Person überrascht von der Höhe der Summe — sie war sonst nur 
kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen Dienst — oder in der 
Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast beglückten Gebens 
mußte etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn sie trat zurück 
und durch das dicke übelriechende Dunkel spürte ich, wie ihr Blick 
mit einem großen Erstaunen mich suchte. Und ich empfand endlich 
das lang Entbehrte dieses Abends: jemand fragte nach mir, jemand 
suchte mich, zum erstenmal lebte ich für irgend jemanden dieser Welt. 
Und daß gerade diese Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen 
verbrauchten Körper durch die Dunkelheit wie eine Ware trug und 



61S Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

die, ohne den Käufer auch erst anzusehen, sich an mich gedrängt, 
nun die Augen aufschlug zu den meinen und nach dem Menschen 
in mir fragte, das steigerte nur meine merkwürdige Trunkenheit, die 
hellsichtig war und taumelnd zugleich, wissend und aufgelöst in eine 
magische Dumpfheit. Und schon drängte dieses fremde Wesen sich 
näher an mich, aber nicht in geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter 
Pflicht, sondern ich meinte, irgend etwas unbewußt Dankbares, einen 
weibhaften Willen zur Annäherung darin zu spüren. Ich faßte leise 
ihren Arm an, den magern rhachitischen Kinderarm, empfand ihren 
kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich über all das hinaus ihr 
ganzes Leben: die geliehene schmierige Bettstelle in einem Vorstadt¬ 
hof, wo sie von morgens bis mittags schlief zwischen einem Gewürm 
fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie würgte, die Trunkenen, 
die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die gewisse Abteilung 
im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal, wo man ihren 
abgeschundenen Leib nackt und krank jungen, frechen Studenten als 
Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer Heimats¬ 
gemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie verrecken 
ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen überkam 
mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine 
Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern 
Arm. Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte. 

In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. 
Ich sprang zurück. Und schon lachte eine breite ordinäre Männer¬ 
stimme. „Da haben mirs. Ich hab’ mirs ja gleich gedacht." 

Noch ehe ich sie sah, wußte ich wer sie waren. Nicht eine 
Sekunde hatte ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung vergessen, 
daß ich umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte 
sie erwartet. 

Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr 
eine zweite, — verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam 
das ordinäre Lachen. „So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu 
treiben. Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt 
Hopp nehmen." 

Ich stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich emp¬ 
fand keine Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war 
ich endlich in der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt 
mußte der Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich 
dumpf — schwindelig entgegengetrieben. 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 619 

Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen 
hinüber. Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der 
vorbereitete Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wieder¬ 
um waren ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander 
an, offenbar erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, 
irgend eine Angst. »Aha, er sagt nix“, rief schließlich drohend der 
eine. Und der andere trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie 
müssen mit aufs Kommissariat“. 

Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den 
Arm auf die Schulter und stieß mich leicht an. „Vorwärts“, sagte er. 

Ich ging. Ich wehrte mich nicht, weil ich mich nicht wehren 
wollte: das Unerhörte, das Gemeine, das Gefährliche der Situation 
betäubte mich. Mein Gehirn blieb ganz wach, ich wußte, daß die 
Burschen die Polizei mehr fiirchten mußten als ich, daß ich mich 
loskaufen konnte mit ein paar Kronen, — aber ich wollte ganz die 
Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich genoß die grausige Erniedrigung 
dieser Nacht in einer Art wissender Ohnmacht. Ohne Hast, ganz 
mechanisch, ging ich in die Richtung, in die sie mich gestoßen 
hatten. 

Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zu¬ 
ging, schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann 
fingen sie wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. „Laß ihn 
laufen“, sagte der eine (ein pockennarbiger kleiner Kerl), aber der 
andere erwiderte, scheinbar streng, »Nein, das geht nicht. Wenn das 
ein armer Teufel tut wie wir, der nix zum Fressen hat, dann wird 
er eingelocht Aber so ein feiner Herr — da muß a Straf sein“. 
Und ich hörte jedes Wort und hörte darin ihre ungeschickte Bitte, 
ich möchte beginnen, mit ihnen zu verhandeln: der Verbrecher in 
mir verstand den Verbrecher in ihnen, verstand, daß sie mich quälen 
wollten mit Angst und ich sie quälte mit meiner Nachgiebigkeit. Es 
war ein stummer Kampf zwischen uns beiden und — oh wie reich 
war diese Nacht! — ich fühlte inmitten tötlicher Gefahr hier mitten 
im stinkenden Dickicht der Praterwiese zwischen Strolchen und einer 
Dime zum zweitenmal seit zwölf Stunden den rasenden Zauber des 
Spiels, nun aber um den höchsten Einsatz, um meine ganze bürger¬ 
liche Existenz, ja um mein Leben. Und ich gab mich diesem un¬ 
geheuren Spiel, der funkelnden Magie des Zufalls mit der ganzen 
gespannten, bis zum Zerreißen gespannten Kraft meiner zitternden 
Nerven hin. 



6 io Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

„Aha, dort ist schon der Wachmann,“ sagte hinter mir die eine 
Stimme, „da wird er sich nicht zu freuen haben, der feine Herr, 
eine Wochen wird er schon sitzen.“ Es sollte böse klingen und 
drohend, aber ich horte die stockende Unsicherheit. Ruhig ging ich 
gegen den Lichtschein zu, wo tatsächlich die Pickelhaube eines Schutz¬ 
mannes glänzte. Zwanzig Schritte noch — dann mußte ich vor ihm 
stehen. 

Hinter mir hatten die Burschen aufgehört zu reden, ich merkte, wie 
sie langsamer gingen; im nächsten Augenblick mußten sie, ich wußte 
es, feig zurdcktauchen in das Dunkel, ihre Welt, erbittert über den mi߬ 
lungenen Streich und würden ihren Zorn vielleicht an der Armseligen 
auslassen. Das Spiel war zu Ende: wiederum, zum zweitenmal, hatte 
ich heute gewonnen, wiederum einen andern fremden unbekannten 
Menschen um seine böse Lust geprellt. Schon flackerte von drüben 
der bleiche Kreis der Laternen und wie ich mich jetzt umwandte, 
sah ich zum erstenmal die Gesichter der beiden Burschen: Erbitterung 
war und eine geduckte Beschämung in ihren unsichern Augen. Sie 
blieben stehen in einer gedrückten enttäuschten Art, bereit ins Dunkel 
zurückzuspringen. Denn ihre Macht war vorüber: nun war ich es, 
den sie fürchteten. 

In diesem Augenblick Qberkam mich plötzlich — und es war, als 
ob die innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte 
und heiß das Gefühl in mein Blut überliefe — ein so unendliches, 
ein brüderliches Mitleid mit diesen beiden Menschen. Was hatten 
sie denn begehrt von mir, sie, die armen hungernden, zerfetzten 
Burschen von mir, dem Übersatten, dem Parasiten: ein paar Kronen, 
ein paar elende Kronen. Sie hätten mich würgen können dort 1® 
Dunkel, mich berauben, mich töten und hatten es nicht getan, hatten 
nur in einer ungeübten, ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken 
um dieser kleinen Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche 
lagen. Wie konnte ich es da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frech¬ 
heit, der Verbrecher aus Nervenlust, sie, diese armen Teufel, n0C ^ 
zu quälen? Und in mein unendliches Mitleid strömte unendliche 
Scham, daß ich mit ihrer Angst, mit ihrer Ungeduld um mein cr 
Wollust willen noch gespielt Ich raffte mich zusammen: jetzt, ge«“' 
jetzt, da ich gesichert war, da schon das Licht der nahen Straße nu 
schützte, jetzt mußte ich ihnen zu willen sein, die Enttäuschung ,uJ " 
löschen in diesen bittern hungrigen Blicken. 

Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. „Warn® 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht dzi 

wollen Sie mich anzeigend, sagte ich und mObte mich, in meine 
Stimme einen gepreßten Atem von Angst zu quälen. „Was haben 
Sie davon? Vielleicht werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. 
Aber Ihnen bringt es doch keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir 
mein Leben verderben?“ 

Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen 
Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich 
weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte 
der eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend: 
„Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht“. 

Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es 
irgendwie fälsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie 
warteten. Und ich wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln 
würde um Gnade. Und daß ich ihnen Geld bieten würde. 

Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, 
der sich in mir regte, jeden Gedanken, der hinter den Schläfen zuckte. 
Und ich weiß, was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie 
warten lassen, sie noch länger quälen, die Wollust des Wartenlassens 
auskosten. Aber ich zwang mich rasch, zurück, weil ich wußte, daß 
ich die Angst dieser beiden endlich erlösen mußte. Und ich begann 
eine Komödie der Angst zu spielen. Ich bat sie um Mitleid, sie 
möchten schweigen, mich nicht unglücklich machen. Ich merkte, wie 
sie verlegen wurden, immer unsicherer und ungeduldiger, diese armen 
Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher 
zwischen uns stand. 

Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nach dem sie so lange 
lechzten. „Ich,... ich gebe ihnen . .. hundert Kronen“. 

Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie sich 
nicht erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war. 

Endlich faßte sich der eine, der Pockennarbige mit dem imruhigen 
Blick. Zweimal setzte er an. Es ging ihm nicht aus der Kehle. 
Dann sagte er — und ich spürte, wie er sich schämte dabei —: „Zwei¬ 
hundert Kronen.“ 

„Aber hörts auf*, mengte sich plötzlich das Mädchen ein. „Ihr 
könnt’s froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja 
gar nix getan, kaum, daß er mich angerührt hat Das ist wirklich 
zu stark.“ 

Wirklich erbittert schrie sie’s ihnen entgegen. Und mir klang das 
Herz. Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus 



6 zi Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

dem Gemeinen stieg Güte, irgend ein dunkles Begehren nach Ge¬ 
rechtigkeit aus einer Erpressung. Wie das wohl tat, wie das Antwort 
gab auf den Aufschwall in mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen 
mit den Menschen, nicht sie quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham: 
genug! genug! 

„Gut, also zweihundert Kronen.“ 

Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz 
langsam, ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff 
hätten sie mir sie wegreißen können und flüchten in das Dankei 
hinein. Aber sie sahen scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir 
irgend ein geheimes Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, 
sondern ein Zustand des Rechts, des Vertrauens, eine menschliche 
Beziehung. Ich blätterte die beiden Noten aus dem gestohlenen Pack 
und reichte sie dem einen hin. 

„Danke schön“, sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg. 
Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes 
Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham — oh, alles fühlte ich 
ja in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! — bedrückte mich. 
Ich wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der 
ich seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie 
er. Seine Demütigung quälte mich und ich wollte sie ihm weg¬ 
nehmen. So wehrte ich seinem Dank. 

„Ich habe ihnen zu danken“, sagte ich und wunderte mich selbst, 
wie viel wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. „Wenn 
Sie mich angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich 
erschießen müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser 
so. Ich gehe jetzt da rechts hinüber und Sie vielleicht dort auf die 
andere Seite. Gute Nacht“. 

Sie schwiegen wieder einen Augenblick. Dann sagte der eine „Gute 
Nacht“ und dann der andere, zuletzt die Hure, die ganz im Dunkel 
geblieben. Ganz warm klang es, ganz herzlich, wie ein wirklicher 
Wunsch. An ihren Stimmen fühlte ich, sie hatten mich irgenwo tief 
im Dunkel ihres Wesens lieb, sie würden diese sonderbare Sekunde 
nie vergessen. Im Zuchthaus oder im Spital würde sie ihnen viel¬ 
leicht wieder einmal einfallen: etwas von mir lebte fort in ihnen, ich 
hatte ihnen etwas gegeben. Und dieses Gebens Lust erfüllte mich 
wie noch nie ein Gefühl. 

Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles 
Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 zj 

gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt 
hinein. Alles empfand ich, als lebte es nur für mich allein und mich 
wieder mit allem strömend verbunden. Schwarz umstanden mich die 
Bäume, sie rauschten mir zu, und ich liebte sie. Sterne glänzten von 
oben zu, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend 
von irgendwoher und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte 
mir mit einemmal, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen und 
Freude des Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu. 
Oh wie leicht ist es, fühlte ich, Freude zu machen und selbst froh 
zu werden aus der Freude: man braucht sich nur aufzutun und schon 
fließt von Mensch zu Menschen der lebendige Strom, stürzt vom 
Hohen zum Niedern, schäumt von der Tiefe wieder ins Unendliche 
empor. 

Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich 
eine Hökerin, müde, gebückt, über ihren kleinen Kram. Bäckereien 
hatte sie, überschimmelt von Staub, ein paar Früchte, seit Morgen 
saß sie wohl so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdig¬ 
keit knickte sie ein. Warum sollst du dich nicht auch freuen, dachte 
ich, wenn ich mich freue? Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot 
und legte ihr einen Schein hin. Sie wollte eilfertig wechseln, aber 
schon ging ich weiter und sah nur, wie sie erschrak vor Glück, wie 
die zerknitterte Gestalt sich plötzlich straffte und nur der im Staunen 
erstarrte Mund mir tausend Wünsche nachsprudelte. Das Brot zwischen 
den Fingern, trat ich zu dem Pferde, das müde an der Deichsel hing, 
aber nun wandte es sich her und schnaubte mir freundlich zu. Auch 
in seinem dumpfen Blick war Dank, daß ich seine rosa Nüster streichelte 
und ihm das Brot hinreichte. Und kaum, daß ich’s getan, begehrte 
ich nach mehr: noch mehr Freude zu machen, noch mehr zu spüren, 
wie man mit paar Silberstücken, mit ein paar farbigen Zetteln Angst 
auslöschen, Sorge töten, Heiterkeit aufzünden konnte. Warum waren 
keine Bettler da? Warum keine Kinder, die von den Ballons haben 
wollten, die dort ein mürrischer, weißhaariger Hinkfuß in dicken 
Bündeln an vielen Fäden nach Hause stelzte, enttäuscht über das 
schlechte Geschäft des heißen Tages. Ich ging auf ihn zu. „Geben 
sie mir die Ballons.“ „Zehn Heller“, sagte er mißtrauisch, denn was 
wollte dieser elegante Müßiggänger jetzt mitternachts mit den farbigen 
Ballons? „Geben sie mir alle“, sagte ich und gab ihm einen Zehn¬ 
kronenschein. Er torkelte aufj sah mich wie geblendet an, dann gab 
er mir zitternd die Schnur, die das ganze Bündel hielt Straff fühlte 



6 i 4 Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

icb es an dem Finger ziehn: sie wollten weg, wollten frei sein, 
wollten hinauf, in den Himmel hinein. So geht, fliegt wohin ihr 
begehrt, seid freit Ich ließ die Schnüre los, und wie viele bunte 
Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen Seiten liefen die Leute 
her und lachten, aus dem Dunkel kamen die Verliebten, die Kutscher 
knallten mit den Peitschen und zeigten sich gegenseitig rufend mit 
den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die Räume hin zu den 
Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an und hatte 
seinen Spaß mit meiner seligen Torheit. 

Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und 
wie gut, Freude zu geben! Mit einemmale brannten die Banknoten 
wieder in der Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie 
vordem die Schnüre der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von 
mir ins Unbekannte hinein. Und ich nahm sie, die gestohlenen des 
Lajos und die eigenen — denn nichts empfand ich mehr davon, als 
Unterschied oder Schuld — zwischen die Finger, bereit, sie jedem hin¬ 
zustreuen, der eine wollte. Ich ging hinüber zu einem Straßenkehrer, 
der verdrossen die verlassene Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle 
ihn nach irgend einer Gasse fragen und sah mürrisch auf: ich lachte 
ihn an und hielt ihm einen Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne 
zu begreifen, dann nahm er ihn endlich und wartete, was ich von 
ihm fordern würde, ich aber lachte ihm nur zu, sagte „kauf dir was 
Gutes dafür“ und ging weiter. Immer sah ich nach allen Seiten, ob 
nicht jemand etwas von mir begehre, und da niemand kam, bot ich 
an: einer Hure, die mich anspracb, schenkte ich einen Schein, zwei 
einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene Lucke einer 
Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von Staunen, 
Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf ich 
sie einzeln und zerknüllt ins Leere, auf die Straße, auf die Stufen 
einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzel¬ 
weibchen bei der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott 
segnen, ein armer Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend 
und doch beglückt auf ihrem Weg entdecken würden, so wie ich 
selbst staunend und beglückt in dieser Nacht mich selber entdeckt 

Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, 
die Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgend 
ein Taumel in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die 
letzten Blätter weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als oh ich 
hätte fliegen können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, 



Stefan Zweig, Phantastische Nacht 6 25 

der Himmel, die Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz 
neuen Gefühl des Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in 
den heißesten Sekunden meiner Existenz hatte ich so stark empfunden, 
daß alle diese Dinge wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und 
daß ich lebte und daß ihr Leben und das meine ganz das gleiche 
war, eben das große, das gewaltige, das nie genug beglflckt gefühlte 
Leben, das nur die Liebe begreift, nur der Hingegebene umfaßt. 

Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als 
ich, selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und 
der Gang zu meinen Zimmern schwarz sich auftat Da stürzte plötzlich 
Angst über mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, 
wenn ich die Wohnung dessen beträte, der ich bis zu dieser Stunde 
gewesen, mich in sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung wieder 
aufnahm mit dem, was diese Nacht so schön gelöst Nein, nur nicht 
mehr dieser Mensch werden, der ich war, nicht mehr der korrekte, 
fühllose, weltabgelöste Gentleman von gestern und einst — lieber hinab- 
stfirzen in alle Tiefen des Verbrechens und des Grauens, aber doch 
in die Wirklichkeit des Lebens! Ich war müde, unsagbar müde und 
doch fürchtete ich mich, der Schlaf möchte über mir zusammen¬ 
schlagen und all das Heiße, das Glühende, das Lebendige, das diese 
Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mit seinem schwarzen 
Schlamm und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und unverhaftet 
gewesen sein wie ein phantastischer Traum. 

Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten 
Tage und nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. 
Seitdem sind nun vier Monate vergangen, und die Starre von einst 
ist nicht wiedergekehrt, ich blühe noch immer warm in den Tag 
hinein. Jene magische Trunkenheit von damals, da ich plötzlich den 
Boden meiner Welt unter den Füßen verlor, ins Unbekannte stürzte 
und bei diesem Sturz in den eigenen Abgrund den Taumel der Ge¬ 
schwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des ganzen Lebens berauscht 
gemengt empfand, — diese fliegende Hitze, sie freilich ist dahin, aber ich 
spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes Blut mit jedem Atem¬ 
zuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des Lebens. Ich 
weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen Sinnen, 
anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich wage 
ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich 
weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgend einen heißen 
Sinn für mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, 

40 



6i6 


Stefan Zweig, Phantastische Nacht 

für den ich kein Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seit¬ 
dem verbiete ich mir nichts mehr, weil ich die Normen und Formen 
meiner Gesellschaft als wesenlos empfinde, ich schäme mich weder 
vor andern noch vor mir selbst. Worte, wie Ehre, Verbrechen, Laster 
haben plötzlich einen kalten blechernen Klangton bekommen, ich ver¬ 
mag sie ohne Grauen gar nicht auszusprechen. Ich lebe, indem ich 
mich leben lasse von der Macht, die ich damals zum erstenmal so 
magisch gespürt Wohin sie mich treibt, frage ich nicht, vielleicht 
einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein, was die andern Laster 
nennen, oder einem ganz Erhabenem zu. Ich weiß es nicht und will 
es nicht wissen. Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft lebt, der 
sein Schicksal als ein Geheimnis lebt 

Nie aber habe ich — dessen bin ich gewiß — das Leben inbrünstiger 
geliebt und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige, 
das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgend eine seiner Formen 
und Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe 
ich unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen 
vor einer Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes 
mich begeistern. Ich achte mit einemmal auf Alles, nichts ist mir 
gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf Ver¬ 
gnügungen und Auktionen durdiblätterte) täglich hundert Dinge, die 
mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich 
auf. (Jnd das Merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen 
auch außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein 
Diener, den ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unter¬ 
halte mich oft mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an 
einem beweglichen Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom 
Tod seines Töchterchens erzählt und es hat mich mehr ergriffen als 
die Tragödien Shakespeares. Und diese Verwandlung scheint — ob¬ 
zwar ich, um mich nicht zu verraten, mein Leben innerhalb der 
Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze — allmählich transparent 
zu werden. Manche Menschen sind mit einemmal herzlich zu mir, 
zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde auf der 
Straße zu. Und Freunde sagen mir, wie zu einem, der eine Krankheit 
überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fanden mich 
verjüngt 

Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben 
beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder ver¬ 
meint, alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen. 


617 


Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 

und ich verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die 
warme lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier 
sich hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn — 
er ist der erste, der mich beglückt^ der erste, der mir das Blut gewärmt 
und mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner 
Erweckung hier aufzeichne, so schreibe ich’* doch nur für mich allein, 
der all dies tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen ver¬ 
mögen. Gesprochen habe ich zu keinem Freunde davon: sie ahnten 
nie, wie abgestorben ich schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie 
blühend ich nun bin. Und sollte mitten in dies mein lebendiges Leben 
der Tod fahren und diese Zeilen je in eines andern Hände fällen, so 
schreckt und quält mich diese Möglichkeit durchaus nicht. Denn 
wem die Magie einer solchen Stunde nie bewußt geworden, wird 
ebensowenig verstehen, als ich selbst vor einem halben Jahre hätte 
verstehen können, daß ein paar flüchtige und scheinbar kaum ver¬ 
bundene Episoden eines einzigen Abends ein schon verloschenes 
Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich mich 
nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene 
weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz: vor ihm schäme ich 
mich nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, 
kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den 
Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen. 


DICHTUNGEN NACH SHELLEY 

von 

ALFRED WOLFENSTEIN 

H erz der Herzen“ steht auf dem Grabmal des Dichters, der vor 
einem Jahrhundert im großen Meere versunken ist. Sein 
rührendes Leben und sein bezauberndes Werk ist weltberühmt ge¬ 
worden, noch immer wenig gekannt Eine engelhafte, zugleich zur 
menschlichen Tat geneigte Gestalt wie die seine ist in der neuen Zeit 

Eine Auswahl von Shelleys Gedichten erscheint in neuer Übertragung von 
Alfred Wolfenstein zum hundertsten Todestag des Dichters (8. Juli 191a) 
bei Paul Cassirer, Berlin. 



6i 8 Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 

selten erschienen. Was wir suchten: wenn wir in dies schone Ge¬ 
sicht blicken, das wie bei allen geistig Handelnden ganz in die oben 
Sphäre von Stirn und Augen entrückt ist, so finden wir die Erfüllung 
von Dichtertum und Kämpfertum in Einem. Allerdings, die Leidenschaft 
für die Freiheit Irlands oder das utopische Glück der Erde wird in 
seiner Kunst zur überwirklichen Melodie. Aber von ihrem Stern her will 
sie die Erde lenken. Denn der Dichter lebt als der nichtanerkannte 
Gesetzgeber der Welt. Das ist Shelleys ungeduldiger Wunsch, seinem 
Geschlechte Gutes zu tun. Das ist sein Schmerz, zu fühlen, wie der 
Wille des liebevollen und begeisterten Einzelnen stets unendlich großer 
als seine Macht und seine Aufnahme bei den Menschen ist; heute 
neu problematisch in der Zeit der Massen. Doch eine Dichtung wie 
die seine verwandelt auch die zeitliche Verzweiflung in Leben nach 
dem Tode und bewahrt, zum Besten der Erde, den Geist vor einer 
„Unsterblichkeit von Vergessenheit**! 

Unter den hier folgenden drei reinen Trauergesängen enthält 
Adonais in der neunten Strophe sein Selbstbildnis. 

Klage 

O Welt! O Zeit! O Leben! 

Bin auf der letzten Stufe. 

Seh zitternd diese, darauf stand ich eben. 

Wann ist der ersten Wiederkehr? 

Nicht mehr. 

Aus Tag und Nacht genommen 
Ist Freude. Und es war nicht schwer. 

Der Winter, Frühling, Sommer 
Erregen mir das Herz 
Nicht mehr. Nicht mehr. 

In Niedergeschlagenheit bei Neapel 

Die Sonne glüht, die starke See 
Tanzt her mit himmlischem Gesicht, 

Auf blauen Inseln, hohem Schnee 
Ruht Mittag schichtend Licht auf Licht. 



Alfred Wolfensteirij Dichtungen nach Shelley 

Die Erde dampft und schüttet Licht 
Auf aller Pflanzen reines Kleid. 

Wie aus viel Stimmen Eines spricht 

Umtont mich Vogel, Wind und schreit 

Herüber selbst die Stadt so sanft wie Einsamkeit. 

Ich seh zum unbetretnen Grund, 

Wo Grün und Purpur sich verschlingt. 

Land küßt der obem Welle Mund, 

Daß sie in Sternenschauem springt. 

Ich sitz im Sande, fließend winkt 
Das mittägliche Mittelmeer, 

Gemessene Bewegung schwingt 
Mit ihren guten Klang hierher — 

Daß ich ihn nicht allein vernähme, wünscht ich sehr. 

Gesundheit flieht mich, ruhig nicht 
Kann Körper oder Seele sein. 

Auch dieses glückliche Gesicht 
Des Sinnenden, der heilige Schein 
Und Ruhm des Innern, ist nicht mein. 

Nicht Liebeslust noch Lust der Macht — 

Rings haben Viele viel und schrein. 

Man lebe, daß man herrscht und lacht. 

Mir wurde wohl ein andrer Kelch gereicht zur Nacht. 

Doch hier ist auch Verzweiflung leis 
Und gleicht den Wellen und dem Wind, 

Ich konnte mich und all mein Leid 
Hinlegen wie ein müdes Kind, 

Das alles trug, gehorchend blind — 

Bis Tod kommt an des Schlummers Ort 

Und mir in warmer Luft gerinnt 

Die Wange — Wassers Takt und Wort 

Rauscht über mein ersterbend Hirn eintönig fort. 

Wohl manche zürnen, ich sei kalt. 

Daß ich in schöner Stunde klag 
Und daß mein Herz, zu frühe alt. 

Im Lichte schlägt verlornen Schlag. 



Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 

O zürnt nur. Ich bin der: Mich mag 
Der Mensch nicht doch bedauert mich. 

Und gamicht gleich ich diesem Tag, 

Der ausgenossen — königlich 

Doch im Gedächtnis bleibt, auch wenn er längst erblich. 

ADONAIS 

Elegie auf den Tod von John Keats 

Ich wein um Adonais, er ist tot. 

O weint um Adonais! taut auch keine 
Klage den ewigen Frost, ftihllose Not, 

Um dieses teure Haupt. Und du, zum Steine 
Am Grab der Zeit erwählte Stunde, weine 
In alle kommenden hinein dein Leid. 

In mir, so sprich, in mir starb Adonais! 

Eh Zukunft nicht vergißt Vergangenheit, 

Entschwindet nicht sein Ruf und hallt in Ewigkeit. 

Wo warst du, als er dieses Leben ließ, 

Azurene Mutter? Saßest du umklungen 
Von Echos seiner Kunst im Paradies, 

Als er des massigen Todes dumpfen Lungen 
Sein Lied entgegen sang? Er hat gesungen 
Wie Blume lacht des Leichnams, den sie deckt: 

Mit allem Guten nun hinabgeschlungen! 

An seiner Stimme isset schon versteckt 

Der, der uns klagen hört und grinsend Zähne bleckt. 

Du lieblichster der Singenden! Dein Land 
Bei Freiheitsmördern, falschen Priestern bieder 
Vertrocknets: Du bist kühn hinein gerannt 
In Golf des Dunkels und tauchst aufwärts wieder — 

Hier glimmen noch recht lang ihr Leben nieder 
Die Kerzen, heimisch in der Nacht, die hetzt 
Hinweg der großen jungen Sonnen Lieder! 

Nur wenige bleiben noch, die jedes Netz 
Zerreißend weiter gehn nach eigenem Gesetz. 



Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 6 3 

Der Jüngste, Liebste brach, — vorbei flog Sturm. 

Nun Schatten weiß umgleiten den Erstarrten, 

Dahinter kriecht der ewige Hunger, Wurm 
Der Fäulnis — Doch als ob sie noch verharrten. 

Eh sie zum letzten Ziel ihn lenken: Garten 
Italiens schützt ihn! Holde Luft bestreicht 
Dies Grab. Er liegt, als müsse es noch warten! 

Ein sonniger Strom von Träumen macht vielleicht, 

Daß ihn der Tod noch nicht, Leben nicht mehr erreicht. 

Und Einer zitternd faßt sein kaltes Haupt 
Und fächelt es mit breitem Mond sch ein fittig: 

«Du Kummers Seufzen uns und Hoflhungs Hauch, 

Du Lieber bist ja noch! Seht, seht inmitten 
Des Augs die Träne, seinem Hirn entglitten 
Aus gutem Traum! vom Tau der Frühe schwer!" 

Ach Engel des verlornen Paradieses, 

Sie war von dir. Du fühlst es. Keine mehr 

Kommt uns von dort. Die Wolke ist zerdrückt, ganz leer, 

Verflucht, der wagte, mordend mit dem Wort, 

Den Engelgeist, der Erde Gast, zu jagen 
Aus diesem Leib! Wie Kain flieh er fort. 

Weh mir, der Frühlung kam, mit süßen Tagen 
Fliegt Biene mit, lebendige Flammen schlagen 
Aus grünem Eidechs, goldner Schlange auf — 

Und doch, dem Winde will der Hauch versagen. 

Die Wellen nehmen sinnlos ihren Lauf, 

Der Morgen steigt mit rotem Haar: Wen weckt er auf? 

Dann wieder sinkts herab, ein Glanz zum Mund, 

Zum Mund, der sonst wie roter Blitze Klingen 
Durchs wache Haupt bis in den weichen Grund 
Des Herzens wußte ganz hindurch zu dringen: 

Doch diesem späten Kuß kann nichts gelingen. 

Durch eisige Lippen wie Kometenschein, 

Durch dunklen Körper, schweift er, zu verblinken. 

Dann kommen Andre. Alle. Lange Reihn 
Gleich Nebeln auf dem Morgenflusse ziehen ein. 



6$i Alfred Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 

Es naht der Wunsch, verstrickt in Lust und Scheu, 
Beschwingter Glaube und verhallte Schickung, 

Mit seufzenden Kindern langsam Furcht und Reu, 
Der Jubel blind, doch mit des Lächelns Blickern 
Geliebtes viel. Gesichte viel, sie nicken. 

Als hofften sie von ihm noch auf Gestalt. 

Berghirten kommen, Kleid und Kranz in Stücken, 

Und Pilger der Unsterblichkeit, Gewalt 

Des Ruhmes festigt sie wie Himmel Erde ballt 

Und Einer unter den Geringem geht. 

Befremdende Erscheinung, ungeleitet. 

Wie letzte Wolk verhauchenden Sturmes weht 
Und Donner in die Stille übergleitet 
Sein Auge, wie Aktaions, aufgeweitet, 

Es ist, als sah er nackt, ganz nackt Natur 
Und suche nun erschüttert Wüsteneien — 

Gedanken, bellend, ruheloser nur. 

Verfolgen wie ein Wild des eignen Vaters Spur. 

Ein Geist gleich Panthern farbigschon und schnell, 
Liebe gehüllt in Kummer, Kraft mit rauher 
Ohnmacht so breit gegürtet Überhell 
Wie sterbende Lampe. Zornig auf der Lauer 
Liegen die Stunden. Kurzen Regens Schauer. 

Indeß wir sprechen, frierts ihn nicht zu Eis? 
Verlassnes Tier in abgehetzter Trauer 
Um seine Herde. Wenn die Wangen heiß 
Das Leben überfliegt, das Herz jedoch sinkt weiß. 

Sein Haupt von Blumen, die verblühn, umrankt. 

Ein Speer an tauigem Efeuband getragen, 

Gekrönet vom Zypressenzapfen, schwankt 
In seiner Hand, so wie die Hand vom Schlagen 
Der Pulse zuckt, die kaum die Schläge wagen. 

Er kommt zuletzt Die wunde Stirn liegt bloß. 

Die Andern stehn und lächeln unter Klagen: 

Sie kennen ihn, der dort erschauert groß 
Und in des Andern Tod enthüllt sein eignes Los. 



Alfred. Wolfenstein, Dichtungen nach Shelley 

Doch stille, Adonais ist nicht tot. 

Wir sind es 1 die in flinker Fäulnis hausen. 

Am hellen Tag der zehrenden Hoffnung Brot 
Wir sind es, lassen wir mit trägem Grausen 
Ein geistig Schwert durch Nichtigkeiten sausen. 

Bekämpfend ziellos ein Gespenstgesicht 
Er aber wacht Der Fülle Stürme brausen 
Um ihn. Der Tod ist tot, nicht er. Klagt nicht. 

Du Frühe, deinen Tau verwandle in froh Licht! 

Er wurde eins mit aller Welt. Im Ton, 

Der dröhnt, im Ton, der sirrt, ist er zugegen, 

Rings in Natur, in Stein und Pflanze wohnt 
Er mit der Kraft, in die er wie ein Regen 
Zurück floß, und umarmt auf allen Wegen 
Die Schönheit, schöner uns von ihm geschenkt — 

Zuletzt mitschaffend an des Bildners Segen, 

Der schlackenlos den Stoff 7 der Welt durchdenkt 

Und ihn in Baum und Tier und Mensch zum Himm el lenkt. 

Sein Körper geh nach Rom. Es ist das Grab 
O nicht von dir, von uns. Paradies und Wüste. 

Wie Beige stehn da Trümmer auf und ab. 

Um der Verheerungen Gebeine dttstem 
Zypressen. Religionen, Reiche flüstern 
Dir zu: Nimm unser Grab, du unser Sohn. 

Geh bis zur Marmorflamme: Pyramide, 

Dort unter süßer Sonne ruhen schon 

Viel Junge, grüßend dich mit kaum erloschnem Ton. 

Das Eine bleibt, das Viele wandelt rund. 

Hell immer ist der Himmel, flüchtig geben 
Die Dinge Schatten. Diese Halle bunt. 

Dies von den langen Fenstern glühende Leben 
Befleckt die weiße Ewigkeit. Spitz heben 
Sich Türme, bis der Tod sie tritt in Grund. 

Und du? Verlassncs Herz, kannst du noch beben. 

Siehst dich noch um und schränkst dir Wahrheit ein? 

Was Adonais ist, wie sollten wirs nicht sein? 



6 34 Iwan Goü s Paris Stern der Dichter 

Von allem ging die Hoffnung fort: es stößt 
Nun dich an, auch zu gehn. Das Jahr vernichtet 
Sich selbst. Vom Glanze Mann und Frau entblößt. 

Dir winket nur, was dich zugrunde richtet 
Doch jenes Licht, das rings die Welt umlichtet. 

Die Schönheit, die vom schweren Fluch erlöst. 

Die Liebe, die sich Luft, Tier, Mensch erdichtet: 

Ist Glut, nach der euch dürstet, — die mich weiht 
Aufzehrend letzten Dunst der kalten Sterblichkeit. 

Die Seele, die ich rief, steigt in mich ein. 

Weit fort von Land, weit fort von Angst getrieben. 
Die immer wollt dem Sturm nicht Segel leihn. 

Spürt nun mein Geist sein Boot durch Donner stieben. 
Auf sind der Erde Massen. Auf die sieben 
Himmlischen Sphären. Dunkel hingeneigt 
Fahr ich — Doch mir entgegen, mich zu lieben. 

Ein Stern vom innersten der Himmel zeigt 

Die Heimat, wo der Weg zu ewigen Geistern steigt. 


PARIS STERN DER DICHTER 

von 

IWAN GOLL 


Tj lektrisiertes Paris: 

1 j Du bist die Dame aus rosa Papier, oder rot oder violett, je 
nach dem Stand des Barometers auf den Neujahr-Postkarten, mir 
Liebe oder Einsamkeit bringend. 

Du bist die Kartenlegerin, im dritten Stockwerk links, mit mystischer 
Siam-Katze auf dem Klavier, die den kleinen Liebesanfängerinnen 
einen blonden Matrosen oder bärtigen Herrn verspricht, je nachdem 
Karo-Bube fiel oder Pik-König. 

Du bist die falsche Indianerin, die auf der Messe des Boulevard 
St. Jacques mit zwei kupfernen Haltern des Elektrisierapparates mißt, 
wie groß mein Herz heute ist. 

Du bist die feine Dame in Chinchilla, die im Vestibül der Hotels 
meublds, neben der Stechpalme und dem verschwiegenen Lift die 



Iwan Goüj Paris Stern der Dichter 635 

großen Wunder zerstört, weil das rote Strumpfband zu schnell auf¬ 
sprang. 

Du bist die blasse Daktylo, ganz ohne poudre de riz, enge be¬ 
dachte Bürgerin, unerreichbar, und darum am meisten geliebt. 

Nein: du bist die dreißigjährige Frau, von der ich als Jüngling 
träumte: matte hellbraune Schultern, lange, lange Augenbrauen mit 
Sentimentalität darunter, Origan de Coty, türkische Kissen, und der 
Gemahl immer im Ministire de la Marine beschäftigt. 

Oder bist du die ärmliche Klavierlehrerin, verwaschener Gummi¬ 
mantel; die in der Salle Carfee des Louvre auf mein imaginäres 

Rendezvous täglich wartet? Und ich war noch nie im Louvre! 

Schade. Sonst wären wir zusammen zur rive gauche zurückgewandert. 
Und hätten in der verkrümelten rue St. Sulpice nach alten Erst¬ 

auflagen und jungen Dichtem gesucht, beides vergebens. 

Silhouette des Pantheons im Regen: steinernes Karussell, auf dem 
die Statuen aus Erz statt der Holzgäule kreisen. Es blättert roman¬ 
tische Tünche von den engen Gäßchen mit solchen Namen: Rue du 
cheval vert oder Rue du bon Dieu — Seminaristenpelerinen. Katholische 
Armeelieferanten. Blau-weiß-rof. Irgendwo lebte Marat: ein Märchen. 
Um das Hotel des Grands Hommes scharen sich die edlen Fenster, 
hinter denen kleine Familien ans Heil der Sorbonne glauben. Für 

diese Menschen ist Paris noch die größte Präfektur Frankreichs. 

Der Boulevard St. Michel ist längst boul’ mich 7 nicht mehr. Stu¬ 
denten der Mansarden sind Requisit. Die kleinen Mädchen Charles 
Louis Philippes wissen schon, daß die Chinesen eine gute Valuta 
haben. Im Cafe de la Source tunkt Marie Donadieu ihr Herz in 
Kaffee. Und der Vater auf dem Lande freut sich ihrer geistreichen 
Briefe. Jardin du Luxembourg: Wald der angehenden Dichter. Deine 
Sonnenuntergänge rein wie Alexandriner von Hugo. In den Teichen 
fahren die Segelbötchen bis nach Madagaskar. Efeu der Fontaine de 
Medicis, von dem auch Murger ein Blatt gepflückt hat! Im Schoß 
der Göttinnen leben die Ratten von den Kuchen der Liebespaare. 
Schicksal schlendert durch die Alleen. 

Du hast noch soviel Zeit zu verschwenden. Man muß an die Seine 
gehen, die Mutter von Jahrhunderten. An ihren Zitzen wurde die 
kleine Kokotte groß. Romantik der Mttllablagen: du bist die reine. 
Im Justizturm werden Kommunisten bedroht. Der Gefängniswagen 
über den Brücken der Zeit, mit dem bärtigen Schutzmann im Schnee 



6 3 6 Iwan Goll, Paris Stern der Dichter 

ist Tradition. Die alte schwarzangestrichene Tramway Lcs Halles- 
Malakoff im Begräbniszug der Madame Jules. Unter den Brücken 
angeln kleine Rentner nach dem silbernen Rotaug. Da ist das könig¬ 
liche CMtelet, dessen damastene Logen für Metzgerinnen und Ver¬ 
sicherungsagenten des Nachkriegs nicht zu kostbar sind. Morgen, in 
den wurstbehangenen Hinterzimmem, träumt das dicke Herz vom 
indischen Lord. Der Diamant am Mittelfinger brennt. Nichts ist so 
republikanisch wie der Boulevard Sebastopol. Etwas Zola gefällig! 
Ich will Artides de Paris den Deutschen und den Negern verkaufen; 
oder auch nur auf der foire de Neuilly. Damit soll man Millionär 
werden können. Man biegt links ab, dann rechts in die rue Saint 
Merri. 

Salut, Apollinaire: 

II s’arreta au coin de la rue Saint-Martin 
Jouant l’air que je chante et que j’ai inventd 
Les femmes qui passaient s’arritaient pr&s de lui 
U en venait de toutes parts 

Lorsque tout-ä-coup les doches de Saint-Merry se mirent a sonner. 
Das bist du: Apollinischer Troubadour dieser armen BUrgerstadt Du 
hast hundert blaue Augen an deinen Mantel gesteckt, Dichter, wie andere 
Blumen und goldene Pailletten zum bal masqul der Welt anstecken. 
Ein Liebesgesang ist Inhalt deiner Alltagsstraßen. Der Poet lächelt 
die Menschen entlang. Er blitzt sie an und nimmt sie auf in sich: 
Scheibe des Autobus, in der die Häuser nach oben und nach unten 
wackeln, Avenuen in den Himmel projiziert, Laternen wie Meteore 
herumgeschleudert, Figuren im Tempo gerafft, hier eine, eine hier. 

Je chante toutes les possibilitls de moi-meme hors de ce monde 

et des astres. 

Zu einer Zeit, wo das Kino existierte, aber noch nicht auf eine 
Kunstformel gebracht war: ein Werk aus der Summe der Bewegungen 
gebaut Ein Herbststrauß von verkniffenen Lächeln, unmöglichen 
Zornen, armseligen Schmerzen. Flaneur in der Philosophie des Alltags. 
Ewigkeit durch das heutige Mittagessen dividiert Die Klugheit des 
kleinen Manns poetisch statuiert So eine seltsame Güte konnte noch, 
ohne Hintergedanken, in dem gutmütigen Paris des Vorkriegs — jetzt 
eine Märchenwelt — existieren. 

Mais nous qui mourons de vivre loin Tun de l’autre 
Tendons nos bras et sur ces rails roule un long train de mar- 

chandises. 



Iwan GoUj Paris Stern der Dichter 6 37 

Und eines Nachts, da die Sterne über den Quais beflügelt sind, 
heimwandemd nach Auteuil, fügt sich tausendfaches Erlebnis zu dieser 
einen Dichtung „ZAnc“, Inschrift diesem zwanzigsten Jahrhundert. 
Leben und Lyrik müssen romantisch sein: es ist immer noch Zeit, 
es einzusehen. Erschaffung der buntesten Ibisse oder Pihis. Jauchzen 
Gottes. Vertriebener Juden gekauerter Schmerz in der Gare St. Lazare. 
Alles und das einzelne. Ein seltsam warmes Herz in Papier wickeln 
und einer armen Frau in der Metro schenken. 

Nur ein dicker Mann kann ein großes Herz haben und ein guter 
Onkel sein. Die Dünnen lassen die Welt büßen für ihre Magerkeit. 
Apollinaire litt nicht um des Leides willen. Denken Sie sich einen 
Heine vor einem dampfenden Gänsebraten, von sieben Spektral-Weinen 
umlodert. Undenkbar. Das ist Guillaume. Kein Franzos von Geburt, 
deshalb der erste wahre Liederdichter französischer Sprache. „La 
chanson du Mal-Aimä“, „Pont Mirabeau“, „Rhdnanes“. 

ln dieser Zeit geistern Picassos Pierrots um Montmartre. Dieses 
Paradox: seelenhafte Gentlemen. Gar nicht maskiert, nur sentimental. 
Zivilisiert, sehr zivilisiert. Die Marie Laurendn führte ihre rosa Rehe 
auf den kleinbürgerlichen Hügel. Es war sehr innig, als es noch 
keine Theorien gab. Und das war vor dem Krieg. 

Der Rue Ravignan, in der alle zusammen lebten, ist nur Max Jacob 
treu geblieben. Letzter Ort, wo heute noch Frühling ist. Wo an 
einem Regentag plötzlich lilaroter Flieder aus Mauern brennt. Und 
über ein zersplittertes Tor hängt italienisiert ein Feigenbaum. In 
diesem Dorf ist noch nicht von Europa die Rede. Im kandiszucker¬ 
weißen Sacrä-Coeur wird noch täglich der Prophet erwartet, und das 
Glöcklein des Angelus klingt lerchensilbem. 

Halt: geh nicht fünf Schritte weiter. 

Rue Pigalle, da habens die Nelly-Bars gut. Die echten Argentinier 
verstehen sich auf Veuve Cliquot. Die Anlage dieser glücklichsten 
Straße der Welt ist methodisch schattiert: 1 Dancing, 1 Hautarzt, 
1 Bar, 1 Hautarzt usw. Man spart die Autokosten. Die roten 
Knospen gedeihen bei Zentralheizung prachtvoll. Und warum gäbe 
es unweit davon nicht die Rue des Martyrs? Das Tabarin proklamiert 
die Nacktkultur. Sehr alte Fleischerinnen tanzen dort den sehr alten 
Can-Can, besonders für irische Offiziere erfunden. Von der Galerie 
herab funkeln die Friseure. Kühl sind die Augen der Garderobiere 
und die Lippen deiner Tänzerin. Das Moulin-Rouge mahlt, mahlt 



Iwan Gollj Paris Stern der Dichter 


8 

alle Herzen zu Blutwurst. Im Kriege brannte es symbolisch ab: die 
Wurst Fabriken wurden an die Front verlegt. Jetzt blfiht das Geschäft 
wieder. Die amerikanischen Don Quichottes lenken ihre 80 HP- 
Rosinanten erfolgreich dagegen. Jede Lanze trifft in die Mitte. Die 
Seidenstrumpf-Fahne flattert über dem Kastell. Die Lune Rousse hangt 
tief in die Stadt und verfährt Verbrecher. Niagarafalle des Jazz zum 
Tanz der Neger auf der Place Clichy . .. 

Du gehst die fünf Schritte nicht weiter. 

Gabrielle heißt die Straße, in der Max Jacob jetzt seine täglichen 
Gedichte schreibt. Ist er ein Mönch, wie man behaupten will? All- 
morgendlich, bevor der Milchmann kam, begibt sich dieser galanteste 
aller Monokelträger in den kleinen Vorhof des schneekalten Sacrd- 
Coeur zur Beichte. Daß so viele mißratene Verse eine SQnde seien, 
war nicht von Priestern vorgesehen. Der Dichter gibt der braun¬ 
äugigen Diana den gerundeten Arm und lädt sie ein zum Seligsein. 
In seinem Geist ist Salz wie in der bretonischen Luft, aus der er 
kommt. Wellen treiben seine Verse, rauschen gekräuselt in rührendem 
Rhythmus. Man weiß nie, wie beim Meer, wo sie beginnen und 
enden. Sie brauchten das auch nicht zu tun. Am Meeresstrand, im 
Sand, der Gedichte sind bunte und perlmutterne Muscheln, kleine 
Witzchen, wie Goldfische, die sich als Walfische aufwerfen. Das 
Lächeln Max Jacobs hat nichts zu verbergen. Sein Organ hat keinen 
neuen Rhythmus erfunden. Plätschern. Aber er stammt aus der 
heroischen Zeit Apollinaires und seine Romantik ist die pariserische 
der blauen Pierrots. Alle fünf Jahre schreibt er eine Poetik: das 
kommt, weil er arm ist und Zeit hat. Heute haben nur die Armen 
noch Zeit, über etwas nachzudenken. 

Der Flieder gegenüber seinem Haus färbt ab. 

Die Rue Cortot ist holperig wie der Weg nach Bosco (Tessin), 
kein romanischer Garten. Holzveranden. Die Hinterwand, blau an¬ 
gestrichen: war’s eine Wand oder der Himmel, ich weiß nicht mehr. 
Hier hört man die ferne Sonne aus den Nachtfabriken der Vororte 
aufsteigen. Hier gibt es noch kindlich plauschenden Regen, der redet, 
um gar nichts zu sagen. Türen, die mit grauen Flügeln auf- und 
zugehen. Ein Dach ist eine Persönlichkeit mit allen schattierten Ge¬ 
fühlen eines Alltags. Geräusche sind so metaphysisch geklärt: — So 
dichtet Pierre Reverdy. 

Jeder Dichter hat eine besondere Materie als Sprache. Der Vers 



Iwan Goll> Paris Stern der Dichter 639 

der Parnassiens war aus Bronze. Der der Klassiker Marmor. Heredia 
schnitt in Elfenbein. Apollinaires Stil ist Porzellan. Es gibt Dichtungen 
aus Ebenholz, am Blech, aus Glas, am Lehm. 

Pierre Reverdys Verse sind Wasser. Vom klarsten Quell der Natur 
geschöpft. Wasser, perlend frisch, vom Gletscher der UrgefÜhle ge¬ 
löst. Indes, subtiler Chemiker, (und ohne Alchimie) verwandelt 
Reverdy seinen Stoff bald in wehenden Dampf, bald malt er Eis¬ 
blumen an den Himmel. Dann wieder regnet es Seele und entlaufen 
uns Wolken der Hoffnung. Man trinkt, und dies erreicht Reverdy: 
man trinkt seine asketische Mischung und wird entwöhnt aller 
Alkohole und Limonaden. Kein Ardfice, kein Nachgeben mit Parfüm 
und Geschmack: Reinheit der Sprache, Reinheit des Dings. Aller¬ 
dings: dies Wasser ist kein Stärkungsmittel, kein Vichy noch Appollinaris, 
und wenn das Buch geschlossen ist, bleibt kein Trost für morgen. 
Diese Dichtung ist einmalig, ganz auf eigene Substanz basiert, ohne 
Anlehnung: einmalig wie der Apfel, den wir aßen, das Wasser, das 
wir tranken. Kein Vers bleibt bis morgen auf der Zunge. Rasch 
versiegt. Und wenn in der Nacht ein Traum um die Kehle dörrt: 
nicht Reverdy wird es sein, den wir rufen. 

Draußen ist gemeiner Sonntag. 

Sacrd-Coeur, ein Ausflugsort für die Pariser. 

Drahtseilbahn. Aussichtsturm. Fernrohre (man entdeckt die Ruine der 
Oper, den Käfer des Invalidenturms und dort die Libelle des Eiffel¬ 
turms). Postkarten, schlimmer als in Lourdes oder Baden-Baden, 
Christi Berlocken und Hlg. Marientaschentüchlein, von Ehrenlegionären 
feilgeboten oder dem Mütterchen, das in der Klinik des Tabarin nicht 
mehr zu heilen war, und deren Nase und Auge von ausgelaugter 
Liebe tropfen. 

Aber Skyskraper bedrohen schon den letzten Hügel der Musen. In 
einem solchen wohnt Paul Dermle mit seiner Gazelle Clline Amaul d, 
deren Gedichte schon unromantisch sind, wie Eisenbeton zwischen 
Gänseblumenwiesen. 

Wieviel weicher und lyrischer ist Marcel Sauvage, der aus Liebe zu 
seiner Stadt täglich sich auf den Autobus „Montmartre-Saint-Michel“ 
hißt, und dort, alle Stimmungen modernen Erlebnisses stenographierend, 
seinen Versband „Voyage en Autobus“ nennen konnte. 

Der Grieche Jean Morias hat der französischen Poesie die Radnesche 
Reinheit wiedergeschenkt Der Pole Kostrowicki hat als Appollinaire 



Iwan Goü 3 Paris Stern der Dichter 


640 

des „Lieds“ ungebundene Schwalbenhaftigkeit gelehrt. Fremde waren 
es oft (und Oskar Wilde schrieb seine „Saloml“ auf französisch, und 
d’Annunzio mehr als ein TheaterstQck), die aus der Musikalität des 
französischen Ausdrucks mehr machten, als schöne Reime: Dichtung, 
kosmische. 

Crdation pure ist die Forderung, die der Chilene Huidobro an 
sich und alle stellt „L’art est l’humanisation de la nature.“ Nicht 
schildern und kopieren, was da ist, sondern mit dem Attribut des 
Menschlichen ausgestattet neue Daseinswerte schaffen. Dichtung ist 
auch einer. Dichtung ist Erschaffung einer neuen menschlichen Natur. 
Kunst soll menschlichem Gefühl ganz entstammen, wie jener Vogel: 
dessen Glieder Kupfer, dessen Herz Elektrizität, dessen Rumpf Holz, 
dessen Flügel Seide, dessen Füße Gummi sind. 

So wird des Dichters Wort metaphysisch ganz aus menschlichem 
Geist Natur und Alltag menschliche Begriff:. 

Auf der gleichen Kurve des Globus tanzt ein anderer Lyriker: 
Pierre Albert-Birot. Er steht nie an einem bestimmten Ort der Welt, 
weil dieser überhaupt unbestimmbar ist. Höchstlyrische Empfindung des 
Überallseins. Lyrik ist Relativität — Relativität ist Lyrik. 

Birots Gedicht ist ein Operngucker: kleiner perlmutterner Schmuck 
in der Hand, mit den zwei unendlichen Möglichkeiten, zwischen denen 
der Mensch steht: makrokosmisch im sicheren Sternall Adler zu spielen, 
oder umgekehrt, die dicken Linsen ans Auge haltend, der Realität 
göttliche Wurmhaftigkeit und Kleinheit einzusehen. Ein gutes Ge¬ 
dicht ist immer entweder: Projektion des Kleinsten ins Größte (Ge¬ 
legenheitslyrik) oder umgekehrt (Kosmische Lyrik). 

Die Natur, inbezug zum Menschen, ist doch an sich schon Metapher. 
Warum also in einer Beschreibung umschreiben? Die Natur, mit 
dem „Wort“ ausgedrückt, ist das nicht grundlegende Funktion der 
Kunst? Gott war der erste, der größte, der einzige Dichter. Die 
Tatsachen: Wese, Lerche, Löwenzahn, sie nachzuschafien ist vielleicht 
albern? In diesem Fall bleibt demütige Einfachheit allein Trumpf. 

Birot setzt die Dinge der Welt auf Papier über, wie sie sind. Und 
sonst schweigt er. O Schweigen, wenn das ein Dichter kann.. Von 
einem liebenden Paar sagt man, daß es schweigt, wo es sich am 
besten und ganz versteht. Birot plauscht und redet nicht in seinen 
Gedichten. Pathos ist Gift für die Lyrik. Er spielt mit der Welt wie 
mit einem Baukasten, wirft sie immer um und baut sie immer von 
neuem auf. Er schneidet Sterne aus seinen Papierbogen aus. Die 



Iwan Goü } Paris Stern der Dichter 641 

Meridiane wirbelt er um den Zeigefinger. Seifenblasen der Planeten: 
denen man ja sowieso nicht länger als zwei Minuten nachschaut. 
Dann, beim Abschied, steckt er einem „31 poemes de poche“ in die 
Tasche, und das Büchlein hält die Wage zum Portefeuille an der 
anderen mit den blauen und grünen Banknotengedichten. Mit diesen 
ereilst du in einem Mercedes-Auto Nizza in einem Tag, aber mit den 
weißen Blättern Birots den Saturn viel schneller. 

Heute ist Gott eine Frage der Pferdekräfte. 

Rimbaud II., ewiger Vagant, als Prinz des Geistes geboren, den 
aber ekelte Krone und Geist, und der nicht weiß, ob er König von 
Paris oder Abessinien lieber wäre, von Sehnsucht nach einer Feme 
getrieben, die es nicht gibt, und dabei mit solcher Wut die Sentimen¬ 
talität der anderen und des Lebens verdammend, der man anmerkt, daß 
er selbst ihr Knecht ist, in welchen Hafen, in welches Dorf er flüchten 
mag: Blaise Cendrars! Als Europäer sind Sie schon geboren: eine 
Mutter in der Schweiz, zwei Freundschafen in Paris, Vater in Ru߬ 
land, ein Kind in Rom und in Newyork, und überall „le mal du 
pays!“ 

Je suis en route 

J’ai toujours iti en route. 

Doch immer wieder kehrt Cendrars nach Paris zurück. Acht Tage 
Freund um Freund, und die braunen „Turin sec“ fließen die Cafös 
entlang. Tanz im Atelier Brancusi. Vertrag mit einer Aerobusfirma. 
Abfährt. Dieser Dichter hat seinen Zeitgenossen voraus, daß er säuft. 
Der Chinese sagt bildlich, zum Ausdruck einer Freude: laßt mich 
hundert Glas Wein trinken. Sowas ist zu allen Zeiten und sogar 
für den kitschigsten Horaz ein Plus gewesen. Den Modernen rettet 
diese Art Naivität des Genusses vor sonst zu trockener Cerebralität. 
Darum ist Cendrars elastischer und ein reinerer Tänzer als der 
Italiener Marinetti, der Amerikaner Sandbury oder der nur seelen- 
besoffene Deutsche Ehrenstein. 

Mit Intensität des Telegraphenfunkens ballt sich das Geschehnis. 
Die Wort-Individualität in höchster Machtentfältung löst sich aus dem 
grauen Getümmel der Satzgefüge. Und das ist Dich-tung. Was uns 
am tiefsten ins Blut springt: die Depesche mit drei Worten der 
Liebenden, des Vatertodes oder des Kaisersturzes. Drei Worte er¬ 
schüttern dich mehr als drei Seiten: aber was für Worte: lavaheiße, 
weißerhitzte Eisen, volkentquollene Schreie. Oder plötzlich auch die 

4 » 



6 +i Iwan GoüParis Stern der Dichter 

basalen Titel eines Abendblatts, die du dreihundertsechzigmal mit 
Suppe aßest, und die diesmal dein Hirn anglflhn, weil ein Dichter 
sie auf seine Weise modulierte. „Die alte Logik der gedachten Satze 
wird durch die dichterische Assoziation verdrängt“: so deutet Jean 
Epstein das Phänomen des neupoetischen Stils in seinem bedeutenden 
Buch: „La polsie d’aujourd'hui: Un nouvel dtat d’intelligence.“ 

„Le critdrium de vdritd littdraire dtant devenu la ressemblance avcc 
la persde-associadon, la logique rationelle se trouve bannie de la 
Iittdrature.“ 

Aber in einem Brief an den Verfasser jenes also subtil-wissenschaftlichen 
Werkes zeichnet Blaise Cendrars sich und den Willen seiner Zeit 
akuter: 

„Construction, simultanisme afrtrmation. Calicot-Rimbaud: change¬ 
ment de propridtaire. Affiches. La fa^ade des maisons mangdes par 
les lettres. La rue enjambde par le mot. La machine moderne dont 
l'homme soit se passer. Bolchevisme en action. Monde.“ 

Aber zwischen den alternden Armutsparadiesen Quartier Latin und 
Montmartre rauscht heute der Boulevard des Italiens. Diese Milch¬ 
straße von Europa, und zwar aus kondensierter Nestle-Milch. Auf 
einen Kilometer zehn Millionen Kilowatt konzentriert. 

Affiche am Neubau, ein großes M hakt deinen Blick an. ,»Lc 
Pneu Michelin use la route.“ Welch ein Argument greift in deine 
Gedanken. Ein grauer Autoreifen, ein Kautschuk-Meridian rollt um 
die Erde, rollt unendliche weiße runde Landstraßen lang, frißt sie auf, 
eine nach der andern: der Pneu, der Pneu rast durch die Welt: ein 
letzter Reif, durch den der Sonnen-Clown springt... 

Boulevard: 

Films laufen über die Wände. Charlot stiehlt einen neuen Winterhut 
im Schaufenster. Menschen aus Stein, Frauen aus Stemgewebe, Urwald 
wächst im Makadam! Das Heiratsbüro hat geschlossen. Herr Poincard 
läßt sich einen Zahn plombieren. Im Birkenwald der Photographie 
nimmt ein Fräulein Pyramidon ein und kann nicht sterben. Der 
letzte Autobus flieht aus Cythera! 

Dichtung steht an die Fenster des „Matin" projiziert. Eine 
prophetische Hand verkündet die Dramen der Welt. Dieser rote 
Palast ist wichtiger als der Louvre. Journalisten schattieren das Profil 
der Zeit, und ihr Linoleumschnitt schneidet den Himmel in kleine 
Gravüren auseinander. Die Epopöe rollt aus der Rotationsmaschine. 



Iwan Goü 3 Paris Stern der Dichter 645 

Der Redakteur Andft Salmon, abgesehen davon, daß er von Departe¬ 
ment zu Departement rast, um die Morde und vitriolierten Lieben 
der Kleinbürger zu reportieren, schrieb „Prikaz“: Poem der russischen 
Revolution: Mosaik von noch elektrisch-zittemden Telegramm-Nach¬ 
richten, abgestandenen Reise-Erinnerungen, Phantasie der den Boulevard 
erschütternden Extraausgaben. Auch dem „Age de l’Humanift“ merkt 
man an: Andrl Salmon wäre ein Revolutionär, wenn er nicht einen 
so schlechten Magen hätte. Aber er ist ein Gaukler auf Lokomotiven, 
ein Gelehrter der Fahrpläne. Er lebt von der Hand ins Hirn. 
Windhund, der aus dem Alltag die Trüffeln der Weltgeschichte klaubt 
Sperber, seine Generation überflügelnd, und immer auf dem Fluß 
obenan. 

Dem allzukurzen Heute verkauft, überließen so viele neue Dichter 
Frankreichs den Russen und Deutschen die Ehre der Revolution. 
Sie sahen die Wahrheit erst nach dem Krieg ein. Vielleicht waren 
sie echter, urwüchsiger: sie liebten das Schauspiel der Schlacht: 
Apollinaire besang die Sternenbilder der Gasbomben, Cendrars das 
Lustgefühl des Bluts und Pierre Drieu la Rochelle das männliche 
stierische Brüllen, wenn Rümpfe sich bäumen. Drieu, der Mann. 
Der fest Schreitende. Der genau weiß, was los ist. Der alle Tradition 
dem Kleiderhändler verkauft. Der dem ersten Revolutionär der vierten 
Republik, Raymond Le ft b vre, die bronzenste Biographie schrieb. 
Dessen Name erst morgen klingen wird. Der in Paris nicht die 
Parfümeriegeschäfte, sondern die patinaalten Kasernen weiß. Der 
Bildhauer. 

Ich wandere weiter. 

Garde Rlpublicaine, sittsame Männer, mit Pferdeschweifen am 
Hinterkopf, und langen Artilleriemänteln im Schnee: ihnen verdankt 
der Präsident der Republik seine Königlichkeit. 

Martiale Republik. 

Aber abends, im Dienste der Kammergesetze, stehen sie vor den 
Folies-Bergere und machen Reklame für den Eintritt in die Ver¬ 
gnügungssteuer. 

In den Ministerien wimmeln die Dichter. Nach Paul Claudel 
wird auch Paul Morand einmal Gesandter in Peking sein. Dahin 
paßt er: seine Augenbrauen sind sehr mongolisch geschnitzt. 

Bis dahin machte er sich boshaft über Europa lustig. In lyrischer 
Bildhaftigkeit: also immer diplomatisch. Wie das Ankurbeln eines 



<*44 /w<7« Goü } Paris Stern der Dichter 

Motors, Mund gepreßt. Arm gestrafft, Ruck: schon singt die Maschine: 
Gedicht. Und der Anfang der Arbeit ist schon der Endeffekt. Wich* 
tig der Angriff. Wichtig die ersten Striche, Vierecke, Substraktionen 
des Ingenieurs auf dem Plan einer Straße: nicht die Straße selber. 
Wir lesen Wetterberichte von einer Tafel, Kurse von einer Kurve, 
Romantelegramme aus Strich und Punkt: ein Gedicht von Morand 
aus Lichtsignalen. Alle Säuren, Gase, Öle, Winde, alle Rohprodukte 
der Natur und der Kultur liegen seinen Medikamenten zur Basis. 
Seine Mischungen sind streng antiseptisch. Er arbeitet aus Liebe zur 
Arbeit, nicht aus Liebe zum Menschen. Wie alle Chirurgen. Seine 
Poesie eine Blinddarmoperation: denn alles ist faul, was unter sein 
Federmesser gerät. Und dazu lächelt er freundlich, und findet alles 
charmant: der Dichter hilft dem Diplomaten. Oder umgekehrt? 

Der Frühling der Tuilerien heilt vieles auch. 

Der Gärtner in diesem Frühling. 

Die Individualität dieses Volks, wo jeder persönlich flucht und 
nicht in Massen (wie bei den Deutschen), weil jeder persönlich denkt 
und nicht in Massen. Dieser Mann, als er um sieben Uhr in der 
Untergrundbahn herfuhr, las im Matin oder in der Humanitl nicht 
nur die Eseleien des Finanzministers, sondern auch den Artikel über 
Edison. Er geht nie in Meetings, aber er ärgert sich doch über die 
Dummheit der Politiker. Eines Morgens, ohne vorher Europa zu be¬ 
nachrichtigen, wird er das Tulpen beet stehen lassen, und links um 
die Ecke das Auto des Ministers anhalten. 

Aber heute sind die Tuilerien noch ein Kunstwerk. Und der Place 
de la Concorde ein Juwel, ein weißer Diamant, in dessen Facetten 
die Brunnen der Sonne springen, oder die blendenden Augen der 
Nächte, die Perlen am Hals der Margarinekomtessen chez Maxim's. 

Aber da bist du, verzognes Paris, hier „Madelaine", Kirche mit 
griechischem Porticus, da „Madeleine und Madeleine“, Schneiderinnen 
der schlanksten Schönheit, Parfüms von Bichara, seidener Wind, 
Fliederbuketts der Duchesse d'Uzfcs, weißes Auto der Tantiemendichter, 
Dancing der billigen Nymphen — über euch, am Kupferdraht der 
Bogenlampen, auf einem Seil a 1000 Volt tanzt Jean Cocteau, der 
mit Strohhalmen das Blut der Wölfin schlürft, und sich ewige Jugend 
als Preis seiner Liebe ausbedang. Seit vielen Jahren erfüllt ihm die 
Zauberin seinen Wunsch. Nervöser magerer Apoll, der seine In¬ 
spirationen, die allzu gewaltigen, mit Aspirin dämpft. Seine weißen 
Knaben saugen Coctailmilch. Dafür haben eigene Bars sich gegründet: 



Iwan Goüj Paris Stern der Dichter 645 

Coc- Jazz- Bands, und der Firmentitel ist der eines seiner Balletstücke — 
^le Boeuf sur le Toit“. Samstag abends, im Tam-Tam knöcherner 
Trommeln und Zigarrenschachtelschnarren setzt er sich auf den vio¬ 
letten Flügel und singt auf einer blechernen Flöte, deren Gesang aus 
dem Tumult des Tango, — unwirkliche, rosige Venus — aufschwebt, 
Nlirakel neuer Musik, göttliche Stimme über der Stumpfheit der Welt. 

Seine Dichtungen auch sind Stimmen über der Dumpfheit der 
Welt. Genuß einer kristallenen Rose auf geschminkten Lippen. Hin¬ 
gabe mit elfenbeinernen Fingern. Aber dazu der konzentrierteste, 
durch Jahrhunderte gekelterte, akuteste esprit, der esprit, fine Cham¬ 
pagne ä trois Itoiles, die beste Blüte Europas. Etwas ganz Seltenes, 
ganz Letztes, Oxydation einer Urmaterie, die nur die Krankheit einer 
nikotinisierten Epoche hervorbringen konnte: Schlußakkord einer 
Zivilisation, deren letzter Trumpf, die Einfachheit ist. Vier Uhr früh. 
Zwischen Gott und Tier. Zwischen Stern und Hering. 

Nachher klingt die Sirene der Außenviertel. 

Das Haar der Frauen rostet. 

Nachher ward das Nichts. 

Dies Wort, das am Anfang der großen Orientkultur ist, beendigt 
die westliche Agonie. Verwundete wie auf den Schlacht- und 
Kartoffelfeldern, die Eingeweide hängen uns heraus, und wir stapfen 
darin, unsere Füße stolpern. Vom Alkohol der Selbstironie besoffen, 
schreien geistige Selbstmörder das Anathem gegen den goldenen Wurm. 
Allgemeines Sternkotzen. Man hebt diese papiemen Sterne auf, und 
es sind Zeilen von Ribemont-Dessaignes oder Philippe Soupault, immer 
nur Zeilen, die wirkungsvoll blenden, aber uns Hunger machen. 

Es wird gewiß bald eine Kinosprache geben. 

Es wird eine Radiogramm-Lyrik geben: die einzig lesbare zwischen 
den Ärobusstationen: Madrid-Siam. 

Aber eine schreckliche Epidemie des Zweifels, schlimmer als Grippe, 
bedroht unser heutiges Herz, und daran sind die Diplomaten teilweise 
schuld. Auch die Poesie geht durch den Magen. Wenn auch ein 
dicker, fetter Lyriker ein größeres Monstrum ist, als ein magerer und 
unterernährter Bankier: Pyramidol schwächt die Seele. 

Es gibt Leute, die das Heil im Sport suchen. 

Eichenlaub um das amerikanisch geschnittene Haar wird auch ein¬ 
mal wieder Europäer krönen. Aber es kommt letzten Endes nicht 
auf den Sport, sondern die Muskeln an, die der Heutige gegen Nerven 
preisgab. 



646 Iwan GoU, Paris Stern der Dichter 

Auch die Lyrik kann nicht von Wolken allein leben, selbst von 
Tabaks wölken nicht. Sie braucht eine Form, Stahlgerippe, Eisenbeton. 
Vor einem Neubau wagt man nie, an das Haus zu denken, das 
steigen wird: starben wir nicht bis dahin? Und man begnügt sich 
mit den Zeitplakaten, die an den Holzbarrikaden eine staubige Leere 
verdecken. 

Einen Neubau versucht im „Poeme sur trois plans“ Nicolas Beauduin. 
Versuch, das Soprano-Solo des lyrischen Gedichts ins Orchestrale zu 
verbreitern. Der Dichter schreibt nicht mehr einen Brief, rein, von 
oben nach unten, sondern wie im großen Kontobuch auf verschieden 
geteilten Feldern: hier das Haben des Realen, dort das Soll des Ver¬ 
gleichbildes, Additionen, Subtraktionen, Striche, Saldo. 

Wird einmal ein Elektrizitätswerk neuer Formdichtung dastehn? 
Der Ingenieur wird einem Betriebs- und Seelendirektor weichen. 
Dieser wird schlanke Ampeln, kristallene Monde schaffen mit menschen¬ 
erfundener heiliger Helle. Die flutende Energie der Flußstrome zu 
Zentren geleitet und zu Blitzen kondensiert. Dazu gehört eine starre 
Form; geometrisch-göttliches Gesetz. Uns sind Sonett und Jambus 
ebenso undenkbar wie Herdfeuer und Ölkandelaber: aber den Bogen¬ 
lampen wird eine neue Technik entsprechen. 

Paris brennt. 

Die Platinnadel des Eiffelturms erglüht im Zenit, jedesmal wenn 
einer in der Welt sie anspricht. 

Die Liebe der Menschen ist zentrifugal. 

Paris ist der Mittelpunkt. Seine Dichter ein Chor von Knaben, 
die einem morgenden Genie voranschreiten. Dieses aber wird an die 
Pforte des Orients pochen. Der Kubismus, der starre Prophet, kündigt 
ihn schon an. 

In den Straßen tanzt einstweilen das Volk. 

Reklame-Indianismus. 

Die Lyrik ein Artide de Paris: Parfüm Arys. 

Die französischen Revolutionen fangen so an. 



CHRONIK WERENWAGS 


v 


S echs Monate, den Winter Ober, wohnte er in den Bergen, zurück¬ 
gezogen, der Stadt fern, in Arbeit vergraben. 

Arbeit, was ist das? Projektion des innren Chaos in Ordnung aus 
eigner Kraft. Flucht ist es in eine künstliche Welt und Aufbau 
dieser Welt. Ungeachtet der Worte Flucht und Künstlich gibt es 
keine andre Ordnung noch eine andre Wirklichkeit. Denn selbst die 
'Wirklichkeit außerhalb von uns wird erst dem zur Ordnung, der den 
Willen zur Ordnung gebiert. 

Es machte jung, sich so in Klarheit zu ordnen. Er lachte über 
das, was sie im nähergelegenen München oder im ferneren Berlin 
Politik nannten — sie bereiteten ihre Händel hinter den Kulissen so 
schlecht vor, daß die offne Szene der großen Tage nicht einmal die 
Bühne war, auf der das Intrigenstück glatt heruntergespielt wurde. 
Schlechte Regisseure und üble Schauspieler; sie kündigten an, daß sie 
die neue Pantomime Parlamentarismus einstudiert hätten, aber dann 
konnten sie nicht durch den Reif springen, Hunde, die schamlos nach¬ 
einander schnappten. 

Sechs Monate Zurückgezogenheit, hygienischer Wechsel von Schreiben 
und Gang durch den verschneiten Wald, reinigten. Als der März sanft 
ohne Sturm kam, die erste Drossel auf der Tanne im Abend das 
Herz beunruhigte, der erste Fink der Morgenstunde das innre Ohr 
lauschen machte, denn Beunruhigung und Lauschen sind im Frühjahr 
die menschliche Form des lilafarbenen Knospens, war sein Mut so groß, 
daß selbst das Wissen um die Gier, die Bosheit, die Lieblosigkeit der 
Bauern nur ein Wissen war um Gegebenheiten der tätigen Sphäre. 

Er lachte, wenn er am Eingang des Ortes die Plakate des Bauern¬ 
theaters sab, in dem sie alte Hierarchie denen vorspielten, die auf 
einen Abend aus der illuminierten Hotellerie der Abhänge herabsdegen, 
um sich vom Sektzwang beim Braustüblbier zu erholen. Korrupter 
als die Bauern eines Kurortes war niemand, es sei denn die Ärzte, 
die in diesem Winter ihre Sanatorien verkauften — die Sanatorien 
wurden sofort als Grandhotels wiedererofinet, es brachte das zehnfache 
ein. Was ging es ihn an, er war nicht Berthold Auerbach und nannte 
zwölf Hodler ein Malerdutzend — für ihn war der Eingang des Ortes, 
wo die Plakate hingen, der Ausgang, dahinter begann der Aufsdeg zum 
schäumenden Bach, dessen Quelle auf dem Scheitel der hohen Kuppe lag. 



648 Chronik Weremoags 

Als die Zeit sich erfüllte, da der Heiland zu Oberammergau an 
einem Theaterkreuz vor denen hängen mußte, die beim Grinsen die 
Plomben aus Dollargold zeigten, räumte Werenwag seine Zimmer der 
besser zahlenden Miß und fuhr zu den Preußen, Ober die Orte, die 
an der Nordsüdachse lagen. 

Der Himmel wurde blaß, sobald die Ebene erreicht war, und die 
Häuser grau in dem Maß, als die Stadt sich näherte. Früher hatte er 
die Gegensätzlichkeit von Stadt und Land geliebt und er liebte noch 
immer die unvereinbaren Dinge, aber diesmal genoß er nicht seine 
Fähigkeit, Unvereinbares doch zu vereinigen, indem er aus einer Sphäre 
in die andre sprang: diesmal erfaßte ihn das Mitleid und das Grauen 
— er wußte, in der Stadt erfüllte sich der Fluch, der auf die Kreatur 
gelegt war, dieses „Im Schweiß deines Angesichts sollst du Sklave 
ohne Hoffnung sein.“ 

Die Straßen des Bahnhofsviertels waren wie die Petersburgs, wie 
die Dostojewskischer Romane. Was in diesen Häusern wohnte, haßte 
sich und das Leben, die andren und Gott. Keine Möglichkeit der 
Erlösung; sechzig Jahre schleppten sich die Füße über den Boden, 
der mit einer harten Kruste verdeckt war und die Füße schon des 
Dreißigjährigen müde machte. Wo im Asphalt die natürliche Erde 
durchzubrechen drohte, kamen Männer mit Kesseln und flickten den Riß. 

Im Gebirge gab es nicht Jahreszeiten in dem Sinn, daß man die 
eine verwünschte, um die andre herbeizusehnen, alle waren schon — 
hier stöhnte man über den Winter, und der Sommer kam spät, ohne 
Freude, trübe Monate waren nutzlos eingeschoben. 

Er begleitete am ersten Morgen seinen Freund beim Einkäufen. 
Lädchen reihte sich an Lädchen, die Schaufenster waren ein Verschlag, 
in den Äpfel, Blusen, Brote geworfen wurden, Schaufenster der Volks¬ 
viertel. In den Metzgerläden drängten sich die Frauen, schleifend 
kamen sie in Morgenschuhen, das Netz am Arm, in der verkrampften 
Hand das Papiergeld. 

Nur Frauen, vor dem Ladentisch und hinter ihm — in der meta¬ 
physischen Stunde der Leichenzerteilung, Suppentopfkannibalinnen. 
Mägde schleppten aus den unnennbaren Hinterräumen die Kübel mit 
abgehackten Füßen und hielten wie Tempelmädchen in Prozession die 
Weidenteller, auf denen sich die gefleckten Schlangen der Bratwürste 
ringelten. 

Gehirne waren Hügel und Hackfleisch war Gebirge. An den Wänden 
hingen halbierte Körper, in denen Nierenfettknollen Erdfrüchten oder 



Chronik Weremuags 


64p 

Waben intesdner Bienen glichen — vom kindlichen Schwänzchen der 
Zweimeterriesen träufelte Blut, der Schoßhund der Dame mit den 
Papilloten im Haar leckte es auf. Gebrühte Köpfe haben im Wasser 
den Ausdruck menschlichen Leids angenommen, so blickten die Augen 
gesottner Heiliger. 

O Bruder Mensch, den sein Gott zwingt, den Bruder Tier zu töten, 
welche Not, welche Ohnmacht über uns, welches Grauen. Nimmt die 
Not zu, wird jedes Geschöpf in den Kreis des Fressbaren gezogen, — 
in äußerster Not der Mensch selbst, in Rußland schlachten Mütter 
ihre Kinder; spricht man es aus, knurren die Hüter der Idee. 

Übelkeit würgte ihn, er trat aus dem Laden, um in der Luft zu 
warten, einer Luft aus Brikettrauch, Benzindampf und gefegtem Staub. 
Ein halbwüchsiges Mädchen streifte ihn, hübsche große Gonokokke, 
die die Million kleiner barg. Alle Jungen in der Stadt haften den 
gleichen Zug um Nase und Mund, es kam von innen, die Hefe im 
Blut quoll au£ der Fremdkörper im Blut machte die Wangen schwellen 
und erzeugte die laszive Geste der Umarmung. 

Sie trieben es von zwölf bis fünfzig und glaubten, freier als die 
zu sein, die dumm genug waren, in Büro und Fabrik zu gehen — 
sie waren eingereiht wie sie, Glied im Mechanismus Stadt. Sie trieben 
es bis fünfzig, dann kehrten sie jungfräulich wieder, um mit zwölf 
von der garenden Hefe im Blut zum Schlafburschen, Zimmerherrn oder 
Lehrjungen getrieben zu werden. 

Eine Million fast zählte die Stadt, und sie besaß doch kein Gesicht. 
Nicht das Gesicht, das von innen nach außen durch einen Willen, 
einen Geist, eine Idee geformt wird. Sie besaß das äußere Gesicht 
eines Konglomerats. 

Früher einmal hatte ein König ihr ein Gesicht gegeben, ein floren- 
tinisches, es war lange her und das Gesicht war erstarrt. Die Könige 
waren gestürzt und dieses Volk verfügte nicht über die Kraft, ohne 
fremden Zwang sich in Klarheit zu ordnen. Das schien Werenwag 
allgemeinstes, typischstes deutsches Schicksal zu sein — weiches Material 
wartete auf den, der es vergewaltigte. Darum hielten sie an der Monarchie 
fest, ihr Instinkt sagte ihnen: wer die Macht über uns an sich reißt, 
gibt uns sein Gesicht — er gibt uns ein Gesicht 

In dieser bayrischen Stadt existierte weder öffentliche Meinung noch 
kontrollierende Presse. Niemand wachte über bürgerlichen Rechten, 
alle bekannten sich masochistisch zur Bürgerpflicht des Parierens. Wer 



6$o Chronik Werenwags 

über sie herrschte, gab ihnen nicht ein Gesicht, er machte es ihnen, 
wie einer einem Mädchen ein Kind macht, das Mädchen sagt knicksend: 
bittschon, gnädiger Herr, ich bin so frei. 

Über das Konglomerat regierte der Bürokrat, das reimte sich. Ging 
die Sonne auf, donnerten die Fäuste der Detektive an die Zimmer- 
tttren des Hotels — seit kurzem aber auch an die der Privatwohmingen. 
Das größte Blatt der Stadt, das sich, von einer unstolzen Partei nicht 
abgeschüttelt, demokratisch nannte, war eifriger als jedes andre, die 
Polizei zu decken; es brachte reizende Anekdoten von ihrem segens¬ 
reichen Wirken: die Beamten trafen eine Frau in Kindesnoten an, 
ohne sie wäre das Weib verblutet. Oder: die Detektive haben eine 
Haussuchung gemacht, es ist wahr, aber ihr höfliches Benehmen be¬ 
rührte menschlich angenehm. Aus der Hand fressen, das ist deutsch: 
bittschön, gnädiger Herr, ich bin so frei. 

Der Ausländer frißt nicht so willig aus der Hand, das war die 
einzige Sorge, die die Gemüter im Augenblick bewegte. Denn wie, 
wenn in diesen Sommer, der einen Fremdenstrom ohnegleichen 
bringen soll, ein Amerikaner sich gegen die Detektive, die so höf¬ 
lich sind, zur Wehr setzt und ihnen endlich den Fußtritt gibt, der 
ihnen gebührt? Es gäbe Krieg zwischen Amerika und Bayern; Bayern 
würde besiegt und müßte das Werdenfelser Ländchen abtreten; in 
Garmisch und Partenkirchen würde der Dollar eingeführt und der 
treuherzigste Wunsch der Bauern wäre endlich erfüllt. 

Werenwag besuchte einen Freund, der jenseits der Isar wohnte. 
Schöner Fluß schäumte unter schönen Brücken, hier war weiter 
Himmel und Abendwind, alsbald wurden seine Gedanken milder. 

Der Freund empfing ihn in der Bibliothek und zeigte ihm die Ar¬ 
beit von sechs Monaten: Arbeit, sagte er, ist Flucht aus der Welt der 
Gesichtslosen in die eigene künstliche Welt, es gibt keine andre Ord¬ 
nung noch eine andre Wirklichkeit 

Vorausgesetzt, antwortete Werenwag, daß die Aufrichtung dieser 
künstlichen Welt nichts bedeutet als: ein Beispiel geben, wie Klar¬ 
heit und Ordnung möglich sind — daß sie möglich sind. Künstlich 
ist die Welt des Geistes nur insofern, als die Realität ohne das Pathos 
einer Idee Chaos bleibt. 

Ich bin es müde, sagte der Freund, inmitten von Deutschen zu 
leben; sie zwingen dazu, unter dem Künstlichen nicht den Widerstand 
gegen das Gewährenlassen zu verstehn, sondern ihm den Sinn des 
Eremitenhaften und Individualistischen zu geben. Ich bin es müde, 



Chronik Werewwags 651 

aber ich wohne unter Deutschen, also ziehe ich mich zurück und 
projiziere mich in ein Werk, ohne zu fragen, ob irgendeiner der 
Gesichtslosen mir folgt, mich versteht, in mir einen Führer oder 
Narren sieht. 

Es fiel das Wort vom Minoritätsbewußtsein. Der Freund erläuterte 
es: alles Wesentliche in Deutschland ist gegen die gebildete Masse, 
ohne Kontakt mit ihr geschaffen worden. Hier wächst die Krone 
nicht auf dem nationalen Stamm, sondern im Morast wachsen einzelne 
Stämme. Ihre Gesamtheit ergibt über die Jahrhunderte hinweg die 
deutsche Idee, aber eine deutsche Wirklichkeit war nie und wird 
nie sein. 

Hatte der Freund recht? Werenwag ging nach Hause. Die Bräu¬ 
keller leerten sich, man sah nur Betrunkene. An jeder Ecke lehnte 
sich einer gegen die Wand und erbrach das Bockbier. Das Jahr 
hatte mit dem Fasching begonnen, jetzt war Bockbierzeit, dann kam 
die Gewerbeschau, dann die Dult, dann das Oktoberfest, dann ein 
November- oder Dezemberbier, wer kannte sich aus. Hätte ein 
Machiavell das beste Mittel überlegt, um diese Bevölkerung von Re¬ 
volutionen abzuhalten und sie zu beherrschen, dann hätte er das Bier 
und das Gaudi erfunden. Sieh dir doch die Gestalten an: welche 
Hirne, die von diesen Bäuchen ernährt wurden. 

Das Seltsame war nur, daß der bayrische Mensch eine ganz be¬ 
stimmte Ideologie besaß: er hielt sich für den Mann der positiven 
Werte, der Ordnung, der bürgerlichen Eigenart. Schließlich taumelten 
nicht alle von der Betrunkenheit des einen Tags in die des andren, 
sie hatten ohne Zweifel eine Idee der nationalen Form, die sie zu 
verwirklichen wünschten. 

Was war es mit der „Ordnung“, als deren Zelle sie sich priesen? 
Er, Werenwag selbst, operierte mit diesem Begriff der Ordnung und 
verstand darunter den Entschluß, das Chaos, dem jeder ausgesetzt war, 
der das Leben nur erduldete, umzuformen — sie hier verstanden unter 
Ordnung die Aussage, daß an einem erreichten Zustand, der also 
auch Ordnung war, nichts geändert werden dürfe. 

Der Unterschied der Auffassung war der von Beharrung und Ak¬ 
tivität. Im Deutschen war Ordnung ein Substantiv — er seinerseits 
fühlte, daß älter und wesentlicher als das Substantiv das Verbum 
war: das Ordnen erzeugte den Begriff Ordnung; Begriffebilden war 
ein aktiver Vorgang. 

So glaubte er dem deutschen Defekt auf die Spur zu kommen: 



Chronik Werenvtags 


6 $ i 

wie die Substantive ihre aktive Schwingung verloren, so verlor das 
deutsche Naturell seine Elastizität. Es wandelte sich nicht, wenn Zeit 
war, sich zu wandeln. 

Indem er an den Freund zurückdachte, sagte er: es ist gut, aber 
auch gefährlich, die Gegensätze absolut herauszuarbeiten. Die Minder¬ 
heit — die Mehrheit, die Gesichtslosen — die Gesichttragenden, das 
hat nur den Wert, eine Aufgabe zu sehn. Alle gehören zusammen; 
wer weiß, wie man ein Gesicht bekommt, soll es lehren und vor-Ieben. 

Als er nach Berlin fuhr, las er in einer Zeitschrift den Titel eines 
Artikels: Atüncben, die dümmste Stadt. Das war kurz und bündig und 
es war wahr; es gab im Augenblick keine dümmere Stadt, jeder 
Blick in die Zeitungen dieser Kapitale lehrte es. Was war zu sagen? 
Daß die Dummheit, die in Bayern die konzentrierte Form von ein¬ 
gekochtem Fleischsaft annahm, das ganze Land überspann: alle, die 
bis zum Sturz der Monarchie die Macht verwaltet, übrigens auch ge¬ 
schaffen hatten, das ganze Bürgertum war dumm, insofern es den 
Begriff Ordnung, einen unentbehrlichen Begriff, unaktiv auffaßte. 

Das Land hatte einen geistigen Tiefstand wie kaum je in seiner 
Geschichte erreicht. 

Die gebildeten Schichten waren unfähig, sich zu wandeln. Von 
den schmutzigsten Demagogen geführt, setzten sie ihre beste Kraft 
daran, das Rad rückwärts zu drehen — weiß Gott, man kam in den 
Zeitungsstil, wenn man daran dachte. Der Mangel an Elastizität war 
der deutsche Defekt Ein Defekt der Intelligenz, der zu einem De¬ 
fekt der Moral wurde. Wer die Not der Zeit nicht versteht, ist 
dumm; wer die Notwendigkeit der Zeit nicht versteht, wird auto¬ 
matisch unmoralisch. 

Etwas war richtig an der Forderung der Feinde, moralisch ab¬ 
zurüsten — es hieß, die Ideen, Ideale, Ideologien der Vergangenheit 
verabschieden, willig werden, mutieren. 

Ihn befreite es, den Defekt benennen zu können. Man vermochte 
die schwache Stelle eines Baues zu zeigen, man wußte, wo man an¬ 
zusetzen hatte. Zwar die Gegensätze herausarbeiten, aber sich nicht 
mit dieser psychologischen Erkenntnis zufrieden geben. Formeln sind 
nie Resultate. Resultate sind erst da, wo Impulslehre gegeben wird. 

Morgens zwischen fünf und sieben fuhr er durch das Industrieland 
zwischen Jena und Halle. Wo die Fabriken so flammten, die Bahn¬ 
höfe so hell im Licht der Kugelschalenmonde lagen, wo so intensiv 



Chronik Werenvoags <*53 

gearbeitet wurde, war der Dummheit eine Grenze gesetzt. Mochten 
sie da unten, wo die habgierigste alJer Klassen ihre Bauernscheunen 
mit Papiergeld füllte, sich mit ihrem nutzlosen Konservativismus 
brüsten — in dem Maß, wie er sich Berlin näherte, schien es ihm, 
daß er klarere Luft atme. 

Berlin war, heute an München gemessen, die ehrlichere Stadt. Ihr 
Amerikanismus mochte abstoßend sein — sie machte kein Hehl daraus; 
sie lebte nicht hinter pompösen Pitdattrappen ein ideologisch ver¬ 
brämtes Kleinbürgerleben; sie nahm nicht den Fremden den Geldbeutel 
ab, indem sie sie zugleich verwünschte; sie war nicht ein Konglo¬ 
merat, sie hatte ein Gesicht und trug ohne viele Worte ihr Teil dazu 
dabei, das neue deutsche Gesicht zu formen. Berlin war ein dyna¬ 
misches Ereignis, an München gemessen, das ein flächiges war. 

Er wurde noch einmal an München erinnert, als er las, daß sie dort 
den einzigen los sein wollten, der ihrer Stadt noch etwas wie einen 
Inhalt gab, den jüdischen Kapellmeister, der Mozart spielen konnte. 
Der Teutone wird der Muse sagen: Endlich allein, und die Holde 
wird antworten: Heil, Starker. Diese teutoburgische Inzucht ist ein 
Greuel wie Unzucht mit einem Neger. 

Er war des geduldigen Tons satt, er zog sich nicht zurück, griflF 
an. Machen wir den Dummen den Ruf, auf den sie Anspruch haben, 
dachte er, ich schlage vor: Deutschland, das dümmste Land. Petition 
an das Parlament: kraft seiner Souveränität zu beschließen, daß die 
Inschrift über dem Portal des Reichstags geändert werde, sie soll 
heißen: Dem trägsten Volk. Die Zeitungen könnten zehn Feuilletons 
füllen, indem sie die Frage erneuerten, ob das in deutscher oder 
lateinischer Schrift eingehauen werden müsse. 

Vor der Dummheit streckte man die Waffen oder man schlug ihr 
die Geißel des Hohns um die Ohren. Man verdummt mit, wenn 
man nicht hassen darf. Er fand die Deutschen verächtlich und war 
notabene nicht Jude. Er hatte es satt, täglich die Kloake der natio¬ 
nalen Presse aufstinken zu lassen, von Professoren, Studenten, Beamten 
und Richtern zu lesen, die, den verlogenen Tabellenatlas ihres arm¬ 
seligen Kaisers unter dem Arm, die Unverschämtheit hatten, für die 
Leiden des Volkes andre verantwortlich zu machen. 

Alles Leid war durch die Nationalisten über das Land gekommen, 
und es kam noch immer durch sie über es, weil die Franzosen genau 
wußten, was sie von diesem Geist zu erwarten hatten. Die Franzosen 



6 54 Chronik Werenvoags 

waren unklug, indem sie durch ihre Unbarmherzigkeit den Haß gegen 
sich legitim machten, gewiß, aber nicht darauf kam es hier an. Schon 
war nicht mehr davon die Rede, daß die feindlichen Volker auch 
Schuld am Kriege hatten; schon waren die Deutschen die einzigen, 
die schuldlos dastanden. Das Pack. 

Kr sah in Berlin nach Monaten zum ersten Mal wieder Offiziere. 
Hatte sich sein Blick geschärft, oder waren die Gesichter der Offiziere 
noch gesichtsloser geworden — er sah sie, wie Grosz sie gezeichnet 
hat. Aber er hielt sich nicht bei den Offizieren auf, sie interessierten 
ihn nicht. Er sah die deutsche Wirklichkeit und sagte: sie ist Karikatur 
des Menschen geworden. Mensch ist, wer Instinkt fflr Personen und 
Ideen hat; wenn einer, statt Instinkt zu haben, duldet, daß durch 
einen Konfektionseingriff ein Schema von Begriffen in ihn eingebaut 
wird, ist er Karikatur. 

Die Instinktlosigkeit — das war das aussagende Wort über dieses Volk. 
Er beobachtete die Menschen bei ihren Vergnügungen, in ihren 
pseudosakralen Cafifs, wo der Kellner wie ein Affe addierte, während 
deutscher Witz und deutsches Chanson sich bodenständig spreizten. 
Es schien ihm als seien diese Leute zu ihren Vergnügungen verurteilt , 
und offen gesagt, er verstand nicht, was sie erwarteten, wenn sie 
sich zusammensetzten und nicht, welche Anforderungen sie an ihre 
Kabarettsänger stellten. 

Die Lust, die darin besteht, daß die einen zuhoren, die andren ihnen 
Vorspielen, und beide eine kleine Kommunion mit dem vollriehen, was 
das eigentlich Menschliche ist, mit Erregung, mit Spannung und Ent¬ 
spannung — diese Lust war nicht da. Sie alle waren stofflich, aber nicht 
nervös; lärmend, aber nicht heiter; hungrig, aber nicht differenziert. 

Sie waren nicht anspruchsvoll genug, um rasch zufrieden zu sein, 
denn das ist kein Widerspruch: wer das Derbe nicht liebt, läßt sich 
entzücken, sobald er nur ein wenig Geist, ein wenig Eleganz, ein 
wenig Heiterkeit begegnet. 

Im Theater saß vor ihm eine junge Frau, Arme und Schulter nackt, 
die Oberarme waren zu dick, die Kurve, die vom Nacken zu den 
Achseln lief, zu untersetzt: in jedem andren Land hätte eine Frau ge¬ 
wußt, daß diese Partien nicht delikat genug waren, und es vermieden, 
sie zur Schau zu tragen — hier kam weder sie noch ihr Gatte auf diesen 
Gedanken. Die Männer hatten keine Augen und die Frauen keinen 
Instinkt, im allgemeinen, um nicht ein zu allgemeines Urteil zu fallen. 



Chronik Wereniuags 655 

Sah er über die junge Frau hinweg auf die Bühne, so fiel ihm auf, daß 
das Zusammenspiel der Künstler kein Fluidum erzeugte, daß nicht ein 
Kreis um die Spielenden lag, der magische Ring, in dem Energieen ein¬ 
ander durchdringen; offenbar war der Regisseur ein Philologe. Kleiner 
und so verräterischer Zug: an dieser Bühne galt die Parole: keine Ab¬ 
lenkung durch Requisiten; also kleidete man die Schauspieler, da die 
Biedermeierzeit vorgeschrieben war, zwar in Halsbinde und kartierte 
Hose, vermied aber wie eine Todsünde, an die Fenster einen Vorhang 
zu hängen oder an den Tisch einen Polsterstuhl zu stellen. Deutsche 
Pedanterie — auch als Antichrist war er nur ein Philister, heißt es 
in einem Buch. 

Er las eine Broschüre: „Verrat am Deutschtum“. Sie war von 
Wilhelm Michel verfaßt, bei Paul Steegemann verlegt. In einem 
wundervollen Deutsch geschrieben, sprach sie das erlösende Wort aus: 
der deutschnationale Antisemitismus ist undeutsch. Das Wesen des 
deutschen Menschen, das Wesen der deutschen Leistungen, das Wesen 
der deutschen Vergangenheit, sofern sie unsterblich blieb, ist Gerechtig¬ 
keit. Es ist Verzicht auf Haß. 

Wir haben genau soviel Judenhaß, sagte Michel, als wir Mangel 
an Volksgestalt, Mangel an nationaler Verfestigung haben, genau so¬ 
viel Judenhaß wie Abhängigkeit vom Fremden, Formlosigkeit, Schwäche 
der Selbstempfindung, Unordung in allen Wertsetzungen. 

Vorzüglich. Das Maß des Judenhasses gibt die Entfernung an, die 
uns noch von unsrem Sein trennt. Wer nicht seine Form besitzt, 
haßt fremde Form. Ein Phänomen der Vitalität war zurückgeführt 
auf einen Defekt der Vitalität. Das war neue Psychologie, fördernde 
Psychologie, ärztliche, helfende, erkennende Psychologie. 

Die deutsche Dummheit bestand darin, daß man behauptete, ein 
Gesicht zu haben, während man noch keines oder keines mehr hatte. 
Dummheit ist Selbstzufriedenheit, Selbstzufriedenheit lärmt. Kluger 
Wilhelm Michel, Sie haben den deutschen Michel erkannt, und es 
ist gut hinzuzu fügen, daß auch Sie nicht Jude sind. 

Ein Volk hat sein Gesicht verloren, es hat keinen Mythus mehr 
von sich selbst. Es starrt auf die Vergangenheit und müht sich wie 
Sisyphus in Arbeit. Die Not des Tages veredelt es nicht, während 
sonst Not wenn nicht veredelt, doch wenigstens Gesicht und Haltung 
verleiht. Ein Volk hat sein Gesicht verloren, erschütternder Vorgang. 

Der Körper ist gesund, aber der Geist nicht einmal krank, sondern 
nicht da. Ein paar Dichter reisen im Land herum und sammeln 



Öj6 Chronik Weremoags 

Ehren, es ist nicht schwer, unter Blinden einäugiger König zu sein. 
Die Dichter machen es sich und ihrem Volk zu leicht, sie sagen ihm, 
daß die Deutschen auch Menschen sind — natürlich sind sie Menschen, 
aber bei Lessing antwortet jemand einmal: Das ist nicht .viel, oder: 
Ist das Alles? Ich weiß es nicht mehr genau. 

Korrupt, verdummt, instinktlos, ohne Fluidum und Intelligenz — 
welche Bilanz. Es ist Nacht über Germanien und vom Morgenrot 
weiß man nur, daß es erfahrungsgemäß dämmern wird. Die Deutschen 
sind gutes Material, aber zu den Merkmalen des Begriffes Material 
gehört: passive Weichheit. Sie seufzen: der letzte Deutsche war 
Bismarck, und wissen nicht, wie verräterisch diese Aussage ist — wenn 
doch nur einer käme und mir endlich das Kind machte. Germania 
ist ein Weib; wenn du zu ihr gehst, vergiß die Gedanken und Er¬ 
innerungen nicht. 

Andere setzten auf die Russen. Berlin war in dem Maße eine 
russische Stadt geworden, daß er darauf gefaßt war, im Herbst, wenn 
er wiederkommen würde, Einreiseerlaubnis beim russischen Komitee 
für Zuweisung von Wohnungen an Deutsche zu holen. Ja, die 
Russen, sagten die Frauen mit einem Augenaufschlag und die Männer, 
indem sie den Zeigefinger reckten. 

Nun, er legte keinen Wert darauf, den Import östlicher Seele ver¬ 
stärken zu helfen, wohl aber packte ihn etwas, das man bei den 
Russen gewöhnlich übersieht, die spezifisch russische Form von 
Vitalität — eine Überführung der Vitalität in Spiel, Eleganz und Prä¬ 
zision, eine Wärme des Zusammenspiels, eine Fähigkeit, Fluidum 
zu erzeugen, die wertvoller als direktes Angebot von Ethos ist, 
ein künstlerischer Sinn, der schon weiß, daß die zärtlich-groteske, 
die heitermagische Marionette schöner und tiefer als jede andre 
Kunst, es sei denn die heroische heißen darf. O die deutschen 
Regisseure, die philologisch auf Stil ausgehn und keine Ahnung 
haben, daß sie der Materie verfallen sind, Naturalisten auch als 
Expressionisten. 

Er begegnete, wenn es nicht indiskret ist, es zu erzählen, einem 
Deutschen, der ihm alle Hoffnung auf seine Rasse zurückgab. Es war 
Rittner, der vor fünfzehn Jahren der Bühne den Rücken kehrte. Er 
hatte ihn nie spielen sehen, aber er fühlte, was es bedeuten würde, 
wenn dieser Mann spielte, der die herrlichste aller Kombinationen 
darstellt, Nerven und Charakter, Stoßkraft und menschliche Differen¬ 
ziertheit, dazu das klare Organ eines Italieners. Ein geistiger Mensch, 



jfunius, Politische Chronik 


657 


in dem der Geist nicht isoliert ist, Synthese aus Intelligenz und 
Seele. Wenn die Filmdiva ins Kloster geht, ist es Kitsch; daß dieser 
Mann fortging und einen Bauernhof bestellt, ist Geheimnis, das 
respektiert sein will. 

Und doch, respektierend gesagt, diejenigen, die können, sollten die 
Dinge nicht denen überlassen, die nicht können. 


POLITISCHE CHRONIK 

von 

JUNIUS 

I 

L ängst schien die Erinnerung an die Münchener Proletarier- und 
Räteregierung, von Ekel umsponnen, im Gedächtnis zu modern, 
als Gerichtszank zwischen an sich gleichgültigen Personen sie auf¬ 
frischte, die Kriegsschuldfrage von neuem aufrollte und die Aufmerk¬ 
samkeit wieder einmal auf den Typus des Literatenpolitikers lenkte, 
— keineswegs die anziehendste Abart in der politischen Menagerie. 

Man spricht nicht gern von diesen Dingen, zumal wenn man selber 
im Geistigen beheimatet ist und die Sehnsucht nach dem verlorenen 
Paradies der »reinen* Vernunft sein Seelisches durchtränkt; darf man 
sie darum für gewesen halten und zum übrigen Tageskehricht legen? 
Ich weiß wohl, Rücksichten der Zweckmäßigkeit, von den allerwärts 
fortwuchernden und den Willen zur Objektivität verkrüppelnden 
Psychosen abgesehen, erheben gegen die Erörterung von Kriegs¬ 
ideologien und Kriegsmoralen bei unserer heutigen Lage im Innern und 
nach außen hin Einspruch. Aber es geht um die Würde einer großen 
Nation, die mit der Alleinschuld am Weltbrand bebürdet wurde; 
sie lange befleckt durch die Zeiten zu tragen, ist eine Zumutung, 
die ein ehrliebendes Volk abzuschütteln sucht, nachdem einmal die 
Lähmungen der Ermattungsdepression gewichen sind und die seit dem 
Waffenstillstand und der Fabrikation der Friedensverträge durchlebten 
Zeiten über die wahren geschichtlichen Triebkräfte auch die blödesten 
Augen geöflhet haben. Die Bewegung, dem Vertrage von Versailles 
das moralische Rückgrat zu brechen, plätscherte so lange in Neben- 
gewässem unserer öffentlichen Meinung herum, im Ringe der durch 
wüstes und blindes Alldeutschtum schuldig Gewordenen, als Hoff¬ 
nung bestand, daß der babylonische Turm der aus den Verträgen 

4* 



dj 8 


Junius, Politische Chronik 


abgeleiteten Diktate und Forderungen nicht den Weg zum Frieden 
verschütten und die besiegten Volker unter ein Martyrium der Fron- 
und Lohnknechtschaft sondergleichen zwingen werde. Aber die Hoff¬ 
nung ist in die Rumpelkammer der Volksaberglauben verflogen, wie 
man weiß; die bösesten Erwartungen wurden durch die Friedens- 
traktätler beschämt. Nun ist die Bewegung zu einem breiten Strom an¬ 
geschwollen, sie hat sogar die demokratische (oder filr Demokratie und 
Republik vorherbestimmte) Masse des Volkes ergriffen, sie ist in Kreise 
gedrungen, die den alldeutschen Maulhelden — als den Hauptschuldigen 
am nationalen Niedergang — Todfeindschaft geschworen haben, aber 
die von den Eisner und Genossen ihnen zugemutete Entmannungskur 
als Masochismus der Selbstbezichtigung heftig ablehnen und die Kriegs¬ 
schuldigen dort suchen, wo sie in Wahrheit zu finden sind: auf beiden 
Seiten der ehemals feindlichen Heerlager. 

Es gehört zum Bilde des Literaten-Politikers Eisner, daß er die 
,Kürzung* des Schoenschen Gesandtschaftsberichtes nicht als Fälschung 
empfand. Es gehört zum Bilde des Literaten-Politikers, daß er glaubte, 
die von ihm, dem Wahrheitspriester Eisner, beglaubigte Alleinschuld 
der deutschen Herrenkaste am Kriege werde seinem Volke günstige, 
milde, christliche, demokratische Friedensbedingen erwirken. Es ge¬ 
hört zu seinem Bilde, daß er meinte, den an der großen Koalition 
gegen uns beteiligten und ideell von Seinesgleichen (?), nämli ch 
Woodrow Wilson, geleiteten Nationen schwebe als Hauptaufgabe vor, 
uns von der Giftpflanze einer böswilligen und den Weltfrieden be¬ 
drohenden Obrigkeit zu befreien (to make Germany safe fbr 
democracy) und uns dann aufzunehmen... ja wohin? in die Gemein¬ 
schaft der durchradikalisierten, entbürgerlichten, von den Diktatoren 
des Proletariats a la Eisner oder a la russe einem klassenkampflosen 
Paradies entgegengeführten Völker? Hier, vor eine auseinander¬ 
gebrochene politische und soziale Wirklichkeit gestellt, entglitt der 
von Hause gütige und auf Theaterreize Uberempfangliche Mann ins 
Nebelreich der Phrase und der Geste, er begann aus historischen 
Erinnerungen an allerhand Revolutionsverläufe zu agieren; die grauen¬ 
haft mißverstandene Gestalt Lenins, des Moskauer Imperators der 
proletarischen Idee, auf der einen, die Helden des Konvents auf der 
anderen Seite gaben die lockenden Vorbilder her; und eines jener 
zwischen Oktoberwiese und Handgranate eingeklemmten Possenspiele 
hob an, die auf die deutsche Revolution von 1918 den karne¬ 
valistischen Stempel prägten. 



Junius, Politische Chronik 


*59 


Der weichmütige und völlig unschöpferische Ästhet, der sich vor¬ 
dem in groteskem Mißverstand seines angeborenen seelischen Stand¬ 
ortes einen Marxisten nannte und noch während der Schlächterei zu 
den radikal-marxistischen Zimmerwäldnern zählte, — er ahnte nicht, 
daß die von den schuldigen ,Spitzenträgem* aller Nationen in den 
farbigen Büchern gesammelten diplomatischen Dokumente nur die 
Formen fixieren, in denen die geschichtlichen Explosivgewalten an 
die Oberfläche dringen .. . Eisner durfte sich mit aller Heftigkeit 
gegen die großmäulige und gernegroße Geschäftsleitung des anden 
rdgime zuhause wenden, das versteht sich; das taten andere auch. Er 
durfte die falsche Romantik, die fälsche Rhetorik, das fälsche Zäsaren¬ 
tum der nachbismärckischen Zeit aufs Blut bekämpfen; das taten andere 
auch. Er durfte während des Krieges die deutsche Regierungsanarchie 
mit ihren vielen großen und kleinen Nebenregierungen rücksichtslos 
bloßstellen, aber nie die sich heranwälzende Gefahr einer imperialistischen 
Vergewaltigung durch die rein macht- und wirtschaftspolitisch be¬ 
stimmten Gegner aus dem Auge verlieren und, Marxist der er sein 
wollte, mit der Möglichkeit einer von Westen her zu erwartenden 
^gerechten' Regelung europäischer Angelegenheiten nicht rechnen. Die 
Zimmerwalder sagten: Krieg und Kapitalismus, Krieg und Nationalis¬ 
mus hängen ursächlich zusammen; bekämpfen wir daher unterschied¬ 
los die bürgerliche Gesellschaft als solche, die so unmenschliche 
Großschlächtereien unvermeidbar macht. Was tat Eisner? Er starrte, 
Illusionist der er war, als der Zusammenbruch gekommen war, wie hyp¬ 
notisiert auf den Schoenschen Bericht und .. die guten Gesinnungen 
der siegreichen Westler. Als er in München die Macht an sich ge¬ 
rissen hatte — es war nicht schwer, sie Hel ihm inmitten der besonders 
im Bürgertum eingerissenen Demoralisation beinahe von selbst zu —, 
da wars begreiflich, daß in dem aus dem Gefängnis befreiten Manne 
sich zunächst das Ressentiment regte und sein erster Gedanke auf die 
Züchtigung des Bourgeois zielte, der so lange in feudale mimicry 
befangen war, während der guten und ,großen* Zeiten in politischer 
Selbstentmannung sich überbot und mit seinen aristokratisierenden 
Talmimanieren auf das gesamte Deutschtum den Haß der Welt lud. 
Hier lag das wahre deutsche Schuldkonto, das beglichen werden 
mußte; aber das war eine innere Angelegenheit, die Einmischung (als 
Richter) der mit eigenen Sünden reich beladenen Sieger, deren seit 
Jahren sauber gedruckte Neuordnungsprogramme und öffentliche 
Geheimverträge den Kurs der neuen Zeitrechnung eindeutig verkün- 



66 o 


jfunius, Politische Chronik 


dcten, durfte der Volksmann am wenigsten herbeisehnen oder gar 
herbeibetteln. Wir wissen, daß Eisner es tat, und wie er es tat. 
Der Durchbruch zur deutschen Demokratie war dadurch von allem 
Anfang unsagbar erschwert, gleich von vornherein litt sie an Rückgrats- 
verkrtimmung und machte bald, die gezüchtigt werden mußten, zu 
Herren der Lage. Täglich zeigen sich die Folgen. Würdelos gerade 
nach außen hat sie ihren Weg angetreten, die Mannhaftigkeit, die 
ihr Erstgeburtsrecht sein sollte, scheint sie bei ihrem Eintritt in die 
deutsche Geschichte verloren zu haben . . . 

Ich rüge nicht Eisners revolutionäre Anfänge. & hatte das Recht, 
dem Bürgertum zuzurufen: Fort mit Euch; Ihr habt den Anspruch 
auf die Leitung Eures Volkes verspielt, Ihr seid von dem Genius der 
Geschichte fortgejagt, macht Platz für neue, aus der Tiefe aufsteigende 
Schichten und Menschen; — er mußte so Sprechens er war ja Sozialist. 
Aber er durfte nicht übersehen, wie die Konstellation am Ausgange 
des Krieges war. An der Spitze der pharisäisch geblähten Sieger¬ 
staaten standen die mächtigsten und in ihrem Herrschbereich uner¬ 
schütterten Kapital- und Rohstoffverwalter der Welt, von ihrer Gnade 
hing, durch Kreditgewährung, unsere Erhebung aus dem Staube, hing 
unsere Erholung ab; und es mußte damals wie heute jedem Ein¬ 
sichtigen sonnenklar sein, daß sie nur einem Unternehmertum, das 
irgendwie paritätisch mit dem Arbeitsvolk für das Neue Deutschland 
gut sorgen könnte, gewährt werden würden. Eine deutsche Revolution 
konnte darum schon aus diesen Gründen kein anderes Ziel haben als 
die Festigung dieser Parität in Verfassung und Praxis, jedes andere 
Beginnen mußte die deutsche Revolution schneller, als sonst in der 
Geschichte üblich ist, in den Kreislauf der Reaktion zurücktreiben. 
Eisner blieb blind. Er glaubte, während er den unvorstellbar dilet¬ 
tantischen Versuch machte, einen gemütlichen Kinderschreck von 
Bolschewismus im Lande der Bierdörfer einwurzeln zu können — den 
er doch schließlich wieder ablehnte; er wollte die Konstituante; und 
als ihn die Kugel traf, war er im Begriff, die Präsidentschaft nieder¬ 
zulegen —: er glaubte allen Ernstes durch seinen Selbstbezichtigungs¬ 
drang dem deutschen Volke die guten Gesinnungen und den Gnaden¬ 
segen der plutokradschen Großkophtas auf der Gegenseite zu sichern. 

Der in die Politik, das heißt ins Leben verschlagene Literat sieht 
eben nicht, was ist. Er berauscht sich an der Geste, er ist trunken 
vom Schwall beschwörender Worte, er versimpelt das Millionfaltige 
durch Einheitsformeln, er kommandiert wo er gehorchen sollte, er 



Juritus, Politische Chronik 


66 1 


verwechselt ,sterile Aufgeregtheit* (mit Simmel zu reden) mit schöpfe* 
rischer Leidenschaft, die den Willen bei einer Richtung festhält, er 
tragiert Rollen und spielt in Heldenpose Theater, — ein Narr seiner 
gutgläubigen und mit Schreibtalent und Sentimentalität gefütterten 
Eitelkeit, bis sich unter ihm plötzlich der Krater öffnet und den 
Mann mitsamt seinem Narrenspiel verschlingt. 

II 

• • 

Äußerlich betrachtet, ist Genua aus den Lenden Washingtons ge¬ 
boren; der Gedanke einer allumfassenden, alle konflikthaltigen Gegen¬ 
sätze auslöschenden oder wenigstens zeitweilig neutralisierenden Europäer¬ 
konferenz wurde tatsächlich zuerst während der pazifischen Tagung 
in der amerikanischen Bundeshauptstadt von den Agenturen in die 
Welt gesetzt. Für seinen Schöpfer Lloyd George ein bezeichnender 
Vorgang. Die Verlockungen dieser Analogie waren groß, das läßt 
sich nicht leugnen. Die Fessel des längst ausgehöhlten Bündnisses mit 
Japan, das den Eintritt in die lebensnotwendige angelsächsische 
Brüderschaft hemmte, war für Größerbritannien unerträglich geworden. 
Der Druck des Zarentums auf das englische Zentralasien, auf Indien, 
aber auch auf das Meerengengebiet und Kleinasien war gewichen; 
aber dafür waren, nach siegreich bestandener Gottesprobe des Welt¬ 
kriegs, die neuen Aufgaben des zur Konsolidierung drängenden Im¬ 
periums selbst für die englischen Schultern allein zu gewaltig, war 
der Wille der aus Selbsterhaltungstrieb immer stärker dem Macht¬ 
bereich von Washington zutreibenden Dominions Kanada, Australien, 
Neuseeland zu eindeutig geworden. Hier kann man wirklich von 
einer „Zwangsläufigkeit** der Entwicklung sprechen, man sah sie in 
London seit vielen Jahren herankommen, ohne in ein ödes Deklaranten- 
tum zu verfallen, längst ehe die Vereinigten Staaten der Gläubiger¬ 
staat der Welt und, mit Flotten und Heeren und Industrierüstung, ein 
politisches Machtzentrum allerersten (und für die Behauptung der weißen 
Herrschaftsstellung entscheidenden) Ordnung geworden waren. Die in 
Washington zu verhandelnden Probleme waren daher, bei der ge¬ 
schichtlichen Zusammengehörigkeit und dem gemeinsamen Interesse 
der zwei Hauptteilnehmer und der Sprachgemeinschaft und der 
Kulturaffinität der führenden Schichten, mit wenigen Worten zu um¬ 
schreiben: Beschränkung der Seerüstung, wobei Japan nachgeben mußte; 
Verhüten einer japanischen Monopolstellung in ganz China; Sicherung 
industrieller Ausbeutungsrechte für die angelsächsischen Reiche („Offene 



66 i 


fimius, Politische Chronik 


Tür“); endlich die Möglichkeit, durch Stärkung der chinesischer» 
Souveränität den Bestand der bisherigen „weißen“ Besitzungen und 
Konzessionen zu sichern. Darum verspricht das dort in der Welt des 
Stillen Ozeans geschaffene Provisorium längere Dauer, inzwischen ge¬ 
winnen die macht- und wirtschaftspolitischen Interessen der Angel¬ 
sachsen Zeit, völlig ineinander zu wachsen. Mußte einen mit Energie 
geladenen Mann wie Lloyd George ein solcher Vorgang nicht zum 
Versuch eines gleichen Unternehmens in Europa verführen? 

Ich halte es für wahrscheinlich, daß sich seine Phantasie sogar zu 
der Vorstellung erhob: Wie wir in Washington das Bündnis mit 
Japan los wurden — das Opfer an Irland wog dem sonstigen Gewinn 
für das Imperium gegenüber leicht —, so können wir in Genua des 
noch viel drückenderen Bündnisses mit Frankreich ledig werden? Es 
bohrt sich wie ein Skorpion in unser Fleuch, seit das entmachtete 
und in seine Binnenlandexistenz zurückgedrängte Deutschland für uns 
nur noch ein dringend benötigter Markt geworden ist; und seine 
unelastische Gendarmenpolitik, die Gläubiger- und Siegerrechte über 
das Leben und die Lebensnot stellt und gegen Deutschland wie Ru߬ 
land, räumlich und nach Bewohnerzahl zwei Drittel des Kontinents^ 
immer und immer wieder das System der erworbenen Rechte 
geltend macht. Es gleicht heute jenem Latium, das (nach Livius) 
weder den Frieden noch den Krieg ertragen konnte; und dieser Zu¬ 
stand macht es zum Querulanten. Gelänge es also, zwischen den zwei 
feindlichen Gruppen des Kontinents Brücken zu schlagen, gelänge es 
die bisher nur papierne Solidarität zwischen ihnen wenigstens zum 
Gegenstand einer mündlich an einem und demselben Beratungstisch 
angestellten Berechnung zu machen, so wäre das Fundament zu einem 
Bau gelegt, in dem große und kleine Bünde und die zwischen den 
Kannibalen eingeklemmten Neutralen nebeneinander Platz hätten. Und 
gelänge es endlich, die „große“ Politik dem Sach- und Fachverstand der 
Valuta- und Marktausgleichverständigen unterzuordnen, so wäre die 
europäische Allianz im Anmarsch, wenn nicht gar fertig. Dies war 
Sinn und Aufgabe von Genua. Phrasien? Ja, dieser große Realist 
und Menschenkenner landete schließlich dort, wo die verantwortungs¬ 
losen Phantasten siedeln, nachdem er wider seine besseren und in der 
Tat einwandfreien Einsichten (wie wir im letzten Rundschauheft ge¬ 
sehen haben) die Bibel von Versailles, das Londoner Ultimatum und die 
Konferenzbedingungen von Cannes und Boulogne hat schaffen und Ge¬ 
setz werden lassen. In den Fußangeln, die er selbst über Europa 



Jun 'tus, Politische Chronik 


66 3 


gelegt hat, verfangen sich jetzt in Genua seine eigenen Tritte. Weder 
seine persönliche Wärme, noch seine leuchtende Beredsamkeit, die die 
bange horchenden Völker immer wieder mit Hoffnung füllen, noch 
sein unvergleichliches Verhandlungsgeschick konnten bis zu diesem 
Augenblick (dem sechsten Mai) jenes von Frankreich behütete System 
der erworbenen Rechte erschüttern. Seine Treuga Dei, sein Gottes¬ 
friede, der uns zumuten könnte, ein zweites Mal unser Versailler 
Todesurteil zu unterschreiben (Bulgarien, Ungarn und die Angoraleute 
protestieren schon anticipando) und für uns, in seiner von großen und 
kleinen Ententlem mit Militärbündnissen bepackter Gestalt^ unbedingt 
unannehmbar wäre, ist bislang eine schwammig trübe Erscheinung. Der 
ganze Osten hat noch schwimmende Grenzen. England hat sich 
— übrigens auch die Tschechoslowakei und Jugoslawien — bisher ge¬ 
hütet, die östlichen Friedensschlüsse anzuerkennen oder gar vertrags¬ 
mäßig zu garantieren und für polnische oder rumänische Ansprüche 
Willigkeit zu Blutopfem zu versprechen. Wilna, Ostgalizien, Beß- 
arabien hängen politisch in der Luft, jeder neue Tag kann Brände 
um sie entfachen: keiner der Leidtragenden denkt daran, die Brand¬ 
versicherung zu übernehmen. Insoweit scheiden wir aus: gegen uns 
ist der „Boden“ von Versailles noch ganz solide, auf ihm finden sich 
unsere großen und kleinen Freunde in Einmütigkeit zusammen. Das 
Reparationsproblem, auf lange Zeit hinaus die Herzkammer unseres 
Schicksals, ist bis zum 31. Mai auf Eis gestellt; nur hinter den Türen 
darf es verhandelt werden. Rußland hingegen stand im ausgesprochenen 
Mittelpunkt der Konferenz, ihm wurde von vornherein gesagt, es 
müsse, um Hilfe und Wiederaufbaumittel zu erlangen, zuvor durch 
das kaudinische Joch der kapitalistischen Anschauungen kriechen; 
Poincard wenigstens hat diese formelle Anerkennung „unentwegt“ ver¬ 
kündet und sein Programm in Rechtsparagraphen gepreßt. So war 
die Konferenz, nach ihren eigenen Voraussetzungen, von Beginn an 
mehr Dom als Rose; und die Sachverständigenausschüsse für Wirt¬ 
schaft, Finanzen und Verkehr standen in der Rang- und Wertordnung 
klaftertief unter der Politik. Daher liefen die Geleise sofort aus¬ 
einander, da eben zwischen den großen, aber auch den kleinen 
Alliierten kein Einheitswille und kein Einheitsinteresse bestand. Das 
heißt also: die Konferenz war politisch und seelisch spottschlecht, 
nämlich nur rhetorisch vorbereitet, sofern ihr die Aufgabe gesetzt 
war, das russische und das deutsche Problem Lösungen entgegen- 
mführen. Nur dann war sie, bei dieser Zwiespältigkeit unter den 



Juritus, Politische Chronik 


66^ 

westlichen Verbündeten, berechtigt, wenn Lloyd George entschlossen 
war, für den Fall fortgesetzter Kompromißfeindlichkeit Frankreichs den 
Schnitt zu machen und eigene Wege zu wandeln. Ist er bereit, es so weit 
kommen zu lassen? darf er es so weit kommen lassen? Wie würde Europa 
aussehen, wenn die große Koalation — eine Attrappe meinetwegen, die 
aber in ihren Wirkungen mehr als Attrappe ist —auch formell zerfällt und 
die Klein- und Mittelstaaten ohne polizeiliche Kontrolle sich die ihnen 
gemäßen Mittelpunkte wählen, wenn die Großen und die Mittleren 
und die Kleinen ihre Aktionsfreiheit wieder erlangen und Frankreich 
„marschiert“? Chaos? Krieg Aller gegen Alle? Wird Lloyd George 
vor diesem Gespenst nicht doch lieber zu seiner alten Technik und 
Taktik des Nachgebens und Umfallens seine Zuflucht nehmen? Man 
sieht die äußerliche Beflissenheit ihrer Chorführer, nicht umsonst 
trompeten die Agenturen in den verstörten Weltraum: Herr Benesch 
suche zu vermitteln und biete den in Verlegenheit geratenen Großen einen 
ganzen Sack von Ausgleichsformeln für den europäischen Generalpakt an.. 

Flimmernd, Augen- und Seelenweh verursachend rollte sich dieser 
Film in Genua bisher ab und die in der Kolumbusstadt sich tummelnden 
Staatsmänner, Diplomaten, Journalisten und parasitären Zwischenträger 
laufen möglicherweise noch, wenn dieses Heft den Leser erreicht; mit 
verbundenen Köpfen herum. Aber ein Ereignis, das uns Deutsche 
vor allem angeht: der Ostern in Rapallo mit Sowjetrußland Unter¬ 
zeichnete Vertrag scheint, geschichtspsychologisch, die Funktion über¬ 
nommen zu haben, die innere Unfertigkeit dieser Veranstaltung schneller 
als sonst geschehen wäre an die Oberfläche zu bringen, wie Medizin¬ 
männer Tränkchen geben, um eine im Körper lauernde Infektion 
hervorzutreiben. 


III 

Solche Deutung aus der Rückwärtsbetrachtung der Späteren und 
Wissenden ist natürlich möglich, doch ist von bewußter Dämonie, 
die die sogenannte Ostertat (wir lieben Fichdsche Ausdrücke) der 
deutschen Delegation in Genua bestimmt hätte, nicht die Rede. Der 
Abschlus des Rapallovertrags, dessen materielle Inhalte zunächst sehr 
gering sind, stellt sich als eine Notwehrhandlung dar. Aus diesem 
Motiv wurde er jedenfalls geboren. Ort und Zeitpunkt seiner Ver¬ 
öffentlichung waren zweifellos Gefahrenmomente, dessen werden Wirth, 
Rathenau und von Maltzahn, der willenstarke Kopf der russischen 
Abteilung im Auswärtigen Amt, sich bewußt gewesen sein. Das 



Junius, Politische Chronik 


66 5 


Odium der Sonderbündelei mit aktivisdschen Hintergedanken, wovon 
die lauernde, stoffhungrige Propaganda unserer Mißgönner sofort zu 
berichten wußte, war an sich nicht tragisch zu nehmen, wenn aus¬ 
geschlossen blieb, daß Loyd George und die Italiener die deutsche 
Handlung nicht als Störung empfänden und der englische Mißmut 
das Interesse für das Reparationsproblem nicht abschwächte. Die 
östliche Richtung unserer Wirtschaft, deren gewaltiger Apparat doch 
nicht ewig leer laufen, doch nicht ewig von der Paradoxie unsrer 
schwindsüchtigen Wahrung leben kann und doch endlich auf natür¬ 
lichen Grundlagen Substanz ansetzen muß, hatte unsere Delegation die 
Pflicht mit allen Mitteln vor Benachteiligung zu schützen; aber so¬ 
weit sich die Dinge von hier aus übersehen lassen, war eine sofortige 
deutsche Sonderaktion mit den Russen nur dann erlaubt, wenn die 
Verhandlungen der Alliierten mit Moskau die Absicht enthüllten, 
Deutschland immer wieder zu differenzieren, es nicht als gleich¬ 
berechtigten Vertragskontrahenten zu betrachten und auch Rußland 
im Verhältnis zu uns post festum unter die Nutznießer von Versailles 
zu stellen. Aber gleichzeitig drohten Gefahren von der anderen, der 
russischen Seite. Ich erinnere daran, daß gewisse sehr ,wendige c 
Vertreter von Moskau (wie Radek und Sinowjev) selbst mit dem 
Differenzierungsgedanken gespielt haben; vor Genua und nach Rapallo; 
es sollte eben unter allen Umständen, also nötigenfalls auch mit dem 
Mittelchen eines kleines Verrats an Deutschland der Weg zu Frankreich 
und den Pariser Plutokraten gefunden werden: — was könnten wir 
armen Teufel ihnen denn bieten, bis auf das, was nicht wegläuft und 
für Rußland immer bereit sein wird... So war die Lage für uns 
nicht eben einfach: auch Rußland war gegen uns in weit stärkerer 
Stellung; ihm war das Rückgrat durch kein Versailles gelähmt. 
Der Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung der Zusammen¬ 
hänge ist aber noch nicht schlüssig, zumal die Verhandlungen mit 
den Sowjetlcuten bisher in dem Sumpf nicht nur der französisch¬ 
belgischen, sondern auch der russischen Intransigenz stecken geblieben 
sind. Ich enthalte mich daher jeder weiteren Kritik, wobei ich aber 
schon heute die Befürchtung nicht unterdrücken kann, daß der 
Abschluß des Rapallovertrages in unserem öffentlichen Bewußtsein die 
ganz elementare Bedeutung des Reparationsproblems zeitweilig ver¬ 
dunkelt hat und ein ernüchterndes Erwachen bevorsteht. Und ferner: 
daß er die Vielzuvielen, die nicht zulemen können, in neue Orgien 
des Mißverstehens treiben könnte. Wenn das nationalistische Deutschland 



666 


Jurtius, "Politische Chronik 


das bolschewistische Rußland aus anderen als wirtschaftlichen Lebens¬ 
notwendigkeiten heraus sucht und sich machtpolitische Gedanken an 
diesem ,Bund‘ entzünden, so werden ihm bitterste Enttäuschungen 
erblühen. So war von ihren Schöpfern die Ostertat von Rapallo 
nicht gemeint. 

IV 

Daß die kommunistische Wirtschaftspraxis in Rußland gründliche 
Bankrott gemacht und Lenin zu den Mischformen des Staatskapitalis¬ 
mus seine Zuflucht genommen hat, wurde hier wiederholt festgestellt. 
Seine Konzessionen in Genua sind einfach gewaltig, da hilft kein Ver¬ 
tuschen. Die Bereitwilligkeit, die Vorkriegsschulden anzuerkennen, die 
privaten Eigentümer des Auslands zu entschädigen und für die neu vom 
fremdem Kapital zu erwachenden Sachinteressen Rechtssicherheiten 
(meinetwegen in verschämter Form) zu leisten: das bedeutet, daß man vor 
dem verruchten Götzen Mammon schließlich doch die Fahnen senkt. 
Aber solange Lenin Hüter der weltrevolutionären Idee bleibt und von 
der Autorität dieser Mission lebt und die Sowjetbürokratie im Nie߬ 
brauch der Gewalt sitzt, sind seinen Konzessionen an westlich-kapi¬ 
talistische Rechtsformen doch bestimmte Grenzen gesteckt; und daß 
Frankreich sie mit letztem Ruck ins Nichts stoßen will, macht den 
Westler-Frieden mit Rußland, wie es scheint, unmöglich. Lloyd 
George, der das ideele Moskau in seinem ursprünglichen radikalen 
Ausdruck für einen verlorenen Posten hält, möchte in Etappen ver¬ 
fahren, er versteht, welchen Wert die kommunistische Ideologie noch 
heute für die bedrängten Leninleute hat; ihn bringt daher die fran¬ 
zösische Systemsucht — von dem politischen Nebengedanken Poincards 
zu schweigen — zur Verzweiflung. Wenn der englische Staatsmann 
bewußt und nach einem für eine europäische Friedens- und Aufbau¬ 
politik feststehenden Plane die Konferenz berufen haben sollte, dann müßte 
ihm die sabotierende Eigenwilligkeit seines südlichen Kriegsgenossen 
den Weg ins Freie erleichtern. Es kann sein, daß der Druck dieser 
(für ein in den Traditionen der splendid isolation und des europäischen 
Gleichgewichts zur Weltmacht emporgestiegener Land) unerträglichen 
Lage ihn zu eindeutigen Handlungen treibt, es kann sein, daß er, 
dem der parlamentarische Boden — und mehr als dieser nur — unter 
den Füßen wankt, die Schicksalsfrage vor das häusliche Forum trägt 
und mit einem Schlage das Gesamtproblem Europa aufrollt, ohne 
rückwärts zu blicken, und dadurch die bisher nur im Affekt und um 
taktischer Zwecke willen angedrohte Umgruppierungen der Kontinen- 



Junius, Politische Chronik 


667 

talstaaten erzwingt. Der Atem stockt, indem man an solche Möglich¬ 
keiten denkt. Die Entwicklungslinie unserer kontinentalen Geschicke 
liegt in dieser Richtung, das wird man nicht wohl leugnen dürfen. 
Immerhin bleiben stärkste Zweifel Pflicht, die aus der Persönlichkeit 
des Mannes und der Beschaffenheit der öffentlichen Meinungen sich 
herbeileiten. Den Übergang würden dann Sonderabschlüsse der ein¬ 
zelnen Staaten mit Rußland bilden .. . 

Aber — der krause Weltlauf drängt tausend Zweifelsfragen auf — 
es scheint mir einer der wesentlichsten Gründe, weswegen das russische 
,Hilfswcrk‘ in Genua wahrscheinlich scheitern wird, bagatellisiert zu 
werden. Nicht allein die vollständige Wiedereinsetzung der Ausländer in 
ihre Eigentumsrechte an Ort und Stelle, wo sie möglich ist, ist wohl der 
eigentliche Erisapfel, obwohl Franzosen mit ihrem belgischen Vor- und 
Stoßtrupp die ,restitution‘ als solchen benutzen (die Entschädigung in 
Rententiteln würde die Hunderttausende französische Sparer befriedigen): 
auch die von den Russen erhobene Forderung eines von den Regierungen 
zu gewährenden Milliardenkredits in bar hat als Sensation gewirkt. 
Das elende System des Abgefundenwerdens mit winzigen Erleichterungen, 
in das wir hineingeraten sind und das uns der Österreicherei zutreibt, 
muß auf die Russen abschreckend wirken. Mit den lumpigen Krediten 
privater Gruppen und allerhand Handelserleichterungen, sagen sie 
daher, sei nichts getan und sei die Annahme des umschacherten 
Memorandums in den Augen des russischen Volkes allzu teuer erkauft. 
Also auch von dieser Seite türmen sich die Schwierigkeiten. Trotzdem: 
ob die Russen, mit der deutschen Freundschaft unter dem Arm, sich 
gestatten dürfen, in ihre Isolierzelle zurückzukriechen und geduldig 
auf das Weichwerden der Westler zu warten, möchte ich bezweifeln. 
Sie werden die angeknüpften Fäden nicht wieder aus der Hand fallen 
lassen; erst recht nicht, wenn die tausendfach angelöcherte Schweinsblase 
Genua platzen und ein übersichtlicherer Aufmarsch von Freund und Feind 
beginnen sollte. 

V 

Sonntag, 14. Mai. Während das kalte Licht eines fröstelnden 
Maimorgens auf die Korrekturfahnen fällt, läuten die Glocken. Geburt 
oder Grab? Wir werden sehen. Ein Glück jedenfalls, das mit dem 
Ende der Konferenz auch der melodramatisch aufgeputzten Bericht¬ 
erstattung in den Zeitungen ein Ende gesetzt sein wird, nicht eher 
werden die Tatsachen ihre Sprache wieder gewinnen und der Tand 
geistreicher Verdeutelung abwerfen können. 



ANMERKUNGEN 


Stimmen des Auslands 

I n der „Revue de Geneve“ schildert 
ein Türke die Krankheit Konstan¬ 
tinopels: 

„Die Fortdauer der internationalen 
Besetzung Konstantinopels trägt über¬ 
aus zur Krise des Orients bei. Ihr 
schwieriger Mechanismus ist eine der 
Quellen unseres Leidens. Ihr außer¬ 
ordentliches Personal# zugleich über¬ 
flüssig und schädlich, wird reich bezahlt. 
Sie brauchen sich wahrlich nicht über 
die Verlängerung dieses Zustandes 
zu beklagen. Aber das kommt teuer zu 
stehen: nicht allein dieser unglück¬ 
lichen Stadt, sondern auch dem Frieden 
der Welt. 

Der Sultan-Kalif gilt in der ganzen 
mohammedanischen Welt als der 
Sklaverei verfallen, da seine Resi¬ 
denz, seine Hauptstadt von frem¬ 
den Truppen besetzt ist. Nun, 
die islamische Religion erlaubt nicht 
diese Herabwürdigung ihres Ober¬ 
hauptes. Daher alle die Schwierig¬ 
keiten, die in Asien entstehen, in 
Vorder- und Zentral-Asien, im moha- 
medanischen Indien, im größeren Teil 
der arabischen Länder ebenso wie im 
mohammedanischen Afrika. Wenn die 
Mächte die Autorität des Sultans 
und seine Geltung als Kalif aufrecht¬ 
erhalten wollen und also nicht eines 
der letzten Bollwerke gegen die 
Revolte der orientalischen Welt und 
gegen die uralasiatische soziale Anarchie 
versinken lassen, so müssen sie un¬ 
verzüglich die Räumung Konstanti¬ 
nopels vornehmen. So wird auch das 


Mißverständnis zwischen Angora und 
dem Sultan-Kalifen auf hören. Die 
anatolischen Ereignisse dürfen nicht 
das Schicksal des Sultan-Kalifen beein¬ 
flussen. Die Weisheit des Mustafa 
Kemal Pascha ist eine Garantie und 
die des Sultans Mehmed VI. ist eine 
andere. Diese beiden großen Symbole 
der türkisch-muselmanischen Gemein¬ 
schaft, in Bezug auf die eine und 
unteilbare politische Ordnung und die 
moralische Ordnung der muselma¬ 
nischen Welt überhaupt, werden rieh 
aussöhnen, sobald das größte Hinder¬ 
nis beseitigt ist.“ 

Das Londoner „Athenaeum“ be¬ 
richtet über die Theaterausstellung 
in Amsterdam: „Es gibt dort viele 
deutsche Zeichnungen, welche wirk¬ 
liche Brauchbarkeit besitzen; denn sie 
versuchen, die Aufgabe zu lösen, wie 
man ökonomisch und in kleinen The¬ 
atern Stücke auffuhren kann, welche 
eine große Zahl von Schauplätzen ver¬ 
langen. Solche Stücke sind in Deutsch¬ 
land ziemlich häufig; Goethes Zeit¬ 
genosse Büchner, der oft wieder auf¬ 
geführt wird, ist für die Bühne ebenso 
schwierig wie Goethe im „Faust 4 *, und 
das Beispiel des „Faust 44 ist durch 
Wedekind und viele moderne Drama¬ 
tiker befolgt worden. Wie weit die 
deutschen Entwürfe für die englische 
Bühne benutzt werden können, ist eine 
andere Frage; denn die deutsche Arbeit 
ist für Repertoire-Theater geplant, in 
denen die Zuhörer einer äußersten 
Sparsamkeit an Material geneigt sind, 
und Bühnenhände hervorragende Lei- 


Anmerkungen 66p 


stungen vollbringen wollen. Die 
Deutschen machen mehr als wir Ge* 
brauch von verschiedenen Höhen. Rie¬ 
sige Treppenstufen werden auf Rollen 
gebaut und leicht während eines Abends 
verschoben; Pirchans „Richard III.“ 
(Berlin, Staatstheater) erreichte auf 
diesem Wege wundervolle Wirkun¬ 
gen. . . . Die ganze Vorführung des 
„Richard III.“ wartief ergreifend. „Der 
Marquis von Keith“ (Wedekind), ein 
Stück aus dem modernen Münchener 
Leben, war fast ganz in schwarz und 
weiß —weiße Wände als Hintergrund, 
schwarze Möbel, schwarze Kostüme, 
deren Schnitt seltsam verzerrt und 
übertrieben war. Aber zusammen da¬ 
mit gingen unzählige Einzelheiten der 
Bühnengestaltung, die dieselbe phan¬ 
tastische Atmosphäre ausatmen. Die 
jetzigen Bühnenbilder waren starr archi¬ 
tektonisch in dieser ständigen An¬ 
wendung der verschiedenenWände und 
streng vertikalen Linien. Ein anderes 
Schwarz-Weiß-Experiment wieder für 
ein Stück von Wedekind, „König 
Nikolo“ (Stuttgart), von F. Cziossek 
benutzte einen schwarzen Hintergrund, 
auf welchem die verschiedenen Scenen 
durch ganz konventionell weiß ge¬ 
zeichnete Umrisse angedeutet waren. 
Hier wurden wieder verschiedeneStufen 
benutzt, und die Farbe spielte sowohl 
bei den Kostümen wie beim Licht eine 
große Rolle. Man muß sich immer 
wieder bewußt werden, daß das Licht 
ein integrierender Bestandteil des 
Bühnenbildes ist. In dieser Richtung 
haben die englischen Theater viel von 
Deutschland zu lernen.“ 

Aus einer „Botschaft an die 
Franzosen“, die Anatole France 
in der New Yorker „Nation“ ver¬ 
öffentlicht: 

„Fort mit dem Kriegsgeist! 

Sicher müssen wir angemessene Re¬ 
parationen fordern und erhalten. Das 
ist nur gerecht. Aber verlangen wir 
doch nicht mit knabenhafter Heftig¬ 


keitSummen von einer einzigen Nation, 
welche alle Staaten der Welt, wenn sie 
ihreKassen leeren, nicht zahlen könnten. 

Ich sage nicht zu meinen Lands¬ 
leuten: Haßt nicht; vergeßt! Ich 
kenne die menschliche Natur zu gut, 
um eine so wirkungslose Ermahnung 
auszusprechen. Ich sage: Seid ver¬ 
nünftig und friedlich. Setzt nicht 
länger das Eperiment der rohen Ge¬ 
walt fort, das den, der es ausübt, 
ebenso sicher vernichtet wie den, an 
dem es ausgeübt wird. 

Franzosen, strebt nicht nach einer 
Vorherrschaft, die auf dem Lande wie 
auf dem Meere in Zukunft unmöglich 
ist! Träumt nicht von Siegen und 
Eroberungen; laßt euch nicht gelüsten 
nach dem Schicksal des großen Eng¬ 
lands; es ist nicht beneidenswert. 
Mäßigen wir uns; unser Dasein hängt 
davon ab. 

Verringern wir unsere Armeen. Ver¬ 
kürzen wir die Dienstzeit. Es ist 
überaus notwendig, diese riesigen und 
unnützen Ausgaben zu sparen. 

Im allgemeinen Elend der Nationen 
ist Frankreich vielleicht am wenigsten 
elend. Wir leiden nicht unter der 
Arbeitslosigkeit wie die englischen Ar¬ 
beiter. Wenn unsere kleine Bourgeoisie 
betrübt wäre, so erhält sie noch etwas 
von den großen, während des Krieges 
gewonnenen Reichtümem, mythischen 
Reichtümem, durch nichts aufrecht 
erhalten, die jeden Tag dahinschwinden 
können. 

Das Heute ist erträglich — aber das 
Morgen? Ein Elend, das wir nicht 
fühlen, umgibt uns. Es dehnt sich 
über weite Gebiete aus und gewinnt 
jeden Tag an Boden; es nähert sich 
und droht, uns zu überschwemmen. 
Mit ihm zu kämpfen, wenn es mög¬ 
lich ist, haben wir nur ein Mittel: 
Frieden, wahren Frieden; nicht einen, 
der in hochtrabenden Verträgen steht 
und auf trägem Papier, sondern jenen, 
der in den Herzen ist, den Frieden, 
der Europa erneuern wird. 



6 yo 


Anmerkungen 


Um Gottes willen: wenn wir den 
Ruhm lieben, wenn wir wünschen, 
die erste Nation der Welt zu sein, 
laßt es uns durch Vernunft, durch 
Weisheit sein, durch ein richtiges 
Verständnis für das, was möglich und 
was gut ist, durch einen ruhigen 
Blick, der das Menschengeschlecht 
umfaßt; laßt uns schließlich, gemäß 
der wundervollen Worte Goethes, gute 
Europäer sein.“ R. K. 

Geburt 

M an möchte über die Prosadichtung 
„Geburt“ der Mechtild Lieh* 
nowsky* das Wort der Bettina schrei¬ 
ben: „Dies Buch ist für die Guten 
und nicht für die Bösen.“ Die Bösen 
wären auch die, die hiervonliterarischer 
Leistung sprechen, von der epischen 
Fachlichkeit, von der Handschrift einer 
Schriftstellerin. Mit den gewohnten 
Kriterien der erzählenden Gattung 
kommt man nicht aus: weil das Ur- 
phänomen dieses Buches so eigen¬ 
willig ist, so fern allem fröhlichen Er- 
zählertum, der üblichen Neigung, 
die Fakten der Welt und der Seelen 
zu Handlungen zu verarbeiten. Und 
da der Name der Bettina nun einmal 
genannt ist, so sei bekannt, daß nie¬ 
mand ihr näher ist als diese Mechtild 
Lichnowsky: in der seelischen Erfüllt¬ 
heit, in dieser Art von Geistigkeit, die 
nicht Intellektualität ist, sondern das 
Beisammen von Menschen, Tieren, 
Landschaften und einem Denken, das 
unschwer und gut die Körper durch¬ 
dringt. Dieses Buch hat keine jener 
Eigenschaften, die den „guten Roman“ 
ausmachen: straffe Komposition; deut¬ 
liche Konturierung der Gestalten; einen 
Gehalt, der klug über sie und Atmo¬ 
sphäre und Sprache verteilt ist. Es ist 
eine langsam sich entfaltende Er¬ 
zählung, zwischen die Briefe und Tage- 

* Erich Reiß, Verlag. Berlin 


bücher eingeschaltet sind. Aber be¬ 
zeichnend ist, daß diese Feststellung 
für den Charakter des Buches nichts 
besagt. Daß es in eine ganz andere 
Geographie einzuzeichnen ist: eben 
dort, wo „Goethes Briefwechsel mit 
einem Kinde“, „Godwi“, „William 
Lovell“ leben. Ist MechtUd Lich¬ 
nowsky also eine Romantikerin? Weder 
im Bildungssinne der ideologischen Be¬ 
geisterung noch im sentimentalen der 
allzu gleitenden Gefühle. Aber in dem 
ungewöhnlicheren eines Denkfühlens, 
das in die geheimsten Zellen der 
Menschen und Dinge vorstößt, alles 
beseelend, alles erfüllend mit Land¬ 
schaft, Atem, tiefen Blicken und hellen 
Nächten. „Grausam wie der weiße 
Himmelskörper betrachtet der Mensch 
das Sein der andern. Er schreitet 
gewichtlos wie ein Toter — mit sieg¬ 
reichem Willen wie ein Lebender. 
Und, was der Stern nicht kennt, Musik 
ist im Menschen, dem die Nacht ge¬ 
hört.“ 

Die epische Situation ist heute so 
sehr umstritten, so fragwürdig, daß es 
an der Zeit ist, das Fazit zu riehen. 
Das Leben ist so oft kopiert, alle 
mögli chen Kombinationen menschlicher 
Orte so durchprobiert und die kühlen 
Analysen bis zu den letzten Atomen 
getrieben worden, daß es nunmehr 
wieder allein auf das Dichterische an¬ 
kommt: auf die Wahrhaftigkeit, die 
von allen Konventionen, den litera¬ 
rischen wie den gesellschaftlichen, sich 
befreite, die die Flüchtigkeiten des Le¬ 
bens zergleiten läßt und Welt gestaltet 
aus dem innersten, glühendsten, reich¬ 
sten Kräftezentrum: dem wissend ge¬ 
wordenen Gefühl. Ich will keinerlei 
Forderung stellen und keinerlei Kritik 
geben. Aber aus diesem Wissen um 
das Dichterische (das ewig dasselbe ist) 
muß eine schmerzliche Armut der 
letzten Jahre verzeichnet werden. Das 
Buch von Mechtild Lichnowsky hat die- 
sesDichterische in lange vermißterFülle. 
Menschen, Tiere und alle Räume der 



Anmerkungen 67X 


Zeit und der Häuser sind Anschauung 
geworden ihrer sprechenden, heilenden 
Blicke. Jenes Leben, das nie in Hand¬ 
lung sich einfangen läßt, das ganz 
Musik, Farbe, Leidenschaft ist, ab¬ 
sichtslose Erfüllung stiller Ahnungen — 
es leuchtet hier durch das Schreiten 
der Menschen, durch ihre Worte, ihre 
Gebärden, ihre Schicksale. Und es 
bedeutet Glück. Jenes Glück, das ein 
sanfter und wissender Ephebe des Gei¬ 
stes in diesem Buche, so umschreibt: 

„Das Glück ist eine Bewegtheit, 
kein Empfangen in Ruhe; es ist eine 
Bewegtheit wie das Leben selbst und 
greift ein in mich, verändert Formen 
in mir, Richtungen — macht mich erst 
lebendig • . . auch mich bewegt es.“ 
Rudolf Kayser 

Die Stimme Asiens 

/^Vstasiatische Kunst und Kultur ist 
^ seit einiger Zeit ein sehr wesent¬ 
licher Brennpunkt der geistigen Inter¬ 
essen Europas. Es vergeht kaum eine 
Woche, in der nicht eine der öst¬ 
lichen Welt gewidmete Publikation er¬ 
scheint, das Publikum strömt in die 
ostasiatischen Sammlungen, Vortrags¬ 
reihen werden veranstaltet, und auch 
die Künstler lassen sich vielfach von 
diesen Erzeugnissen anregen. 

Dies ist die dritte Welle, die von 
Ostasien über Europa hinflutet. Das 
Rokoko erfuhr in Porzellan und Gobe¬ 
lins die erste nachhaltige Einwirkung. 
Und als in den sechziger Jahren des 
vergangenen Jahrhunderts die japa¬ 
nischen Holzschnitte in Paris auftauch¬ 
ten, meinten die Impressionisten eine 
neue, ihrem eigenen Streben artver¬ 
wandte und ihre tiefsten Ideen ver¬ 
wirklichende Welt zu entdecken. Selbst 
van Gogh schwebte die Farbigkeit und 
Flächenbewältigung dieser Schnitte wie 
ein nie erreichbares Ziel vor. (Einige 
ahnten freilich damals schon das Mi߬ 
verständnis; es war doch wohlClzanne, 


der die Dekorationen Gauguins mit 
geringschätzigem Achselzucken „chi¬ 
nesische Bildchen“ nannte.) 

Seither hat sich eine Generation 
um die Erkenntnis des Ostens ge¬ 
müht. Forschungsreisen wurden unter¬ 
nommen, Museen eingerichtet, Einzel¬ 
forschungen, philosophische und völker¬ 
kundliche Werke veröffentlicht. Dies 
alles blieb zunächst jenseits der all¬ 
gemeinen Aufmerksamkeit und man 
kann auch nicht sagen, daß die For¬ 
schung trotz nachhaltiger und scharf¬ 
sinniger Arbeit das Wesen östlicher 
Kultur und Geistigkeit, das Werden 
und den Sinn dieser Kunst aufgehellt 
hätte. Bezeichnend für die allgemeine 
Unsicherheit ist, was Otto Kümmel, 
der Leiter der Berliner ostasiatischen 
Sammlungen, in einem kürzlich er¬ 
schienenen sehr anregenden Buch „Die 
Kunst Ostasiens“ sagt: „Die Kunst 
Ostasiens ist uns freilich zu einem 
großen, vielleicht zum besten Teile, 
noch unbekannt. . . Aber selbst dem 
Bekannten stehen wir heute noch mit 
unsicherem Gefühle gegenüber ... daß 
ein großes Museum eine ganze Samm¬ 
lung von Massenkopien nach Werken 
der europäischen Hauptmeister erwirbt 
und als Meisterwerke ausstellt, daß 
eine Sammlung europäischer Meister¬ 
werke für gewöhnliche Trödelware 
erklärt wird, ist nicht mehr möglich. 
Über ostasiatische Kunst aber ist in 
Europa kein Urteil unmöglich.“ 

Inzwischen kam die große Flut. Sie 
gewann besonderen Umfang dadurch, 
daß ein immer mehr sich verbreitern¬ 
des Interesse für die indische und 
chinesische Religionsphilosophie ein¬ 
setzte und empfing wohl ihre stärksten 
Impulse aus den infolge der Kata¬ 
strophe des Krieges wachsenden Zwei¬ 
feln an der Sendung der europäischen 
Kultur. „Untergang des Abendlandes“ 
war das ein wenig bequeme Stich¬ 
wort. Tagore wurde auf dem Boule¬ 
vards als Messias gefeiert. 

Trotz grundsätzlicher Einwendungen 



ö 7 2 Anmerkungen 


gegen die Bewegung, die, ihre Mission 
anzuregen überschreitend für viele 
Vorbild, Sehnsucht oder Mode wurde, 
wird man dankbar die mannigfachen 
Bereicherungen, die fremde Art immer 
der eigenen hinzuzufugen hat, aner¬ 
kennen und in diesem Sinn zahlreiche 
der in den letzten Jahren erschienenen 
Publikationen und das in ihnen dar¬ 
gebotene Bildermaterial entgegen¬ 
nehmen. Weitergehende Ansprüche 
freilich müssen zurückgewiesen wer¬ 
den. Auch auf die Gefahr des Mißver¬ 
ständnisses und des Vorwurfes reaktio¬ 
närer Gesinnung soll nachdrücklich be¬ 
kannt werden: Diese Schöpfungen 
liegen für den, dem Kunst und Kultur 
mehr bedeutet als eine Angelegenheit 
ästhetischer Neigung, geschichtlicher 
und formaler Entwicklung, notwendig 
jenseits der Grenzen des Daseins. Wir, 
die auf anderem Boden aufwuchsen, 
in anderem Glauben und änderer Kul¬ 
tur wurzeln, haben keinen Zugang zu 
den Schöpfungen jener Welt, der über 
ästhetisches Wohlgefallen und mannig¬ 
fache formale Berührungen hinaus¬ 
ginge. Wir werden sie bewundern, 
aber sie werden uns im letzten immer 
fremd bleiben. Die Pfeiler unserer 
Welt sind der romanische Dom und 
der gotische Wasserspeier. Unter an¬ 
derem Himmel wuchs und lebt Buddha 
und der indische Tempel. Dies Be¬ 
kenntnis hat nichts mit europäischer 
Überheblichkeit zu tun, es behauptet 
vielmehr gerade die Grenzen euro¬ 
päischen Denkens, Fühlens und Ge- 


staltens. Die Zeiten, da Missionar und 
Kaufmann mitleidig und herablassend 
an den Kunsterzeugnissen Asiens vor¬ 
übergingen, sind vorüber. 

Aber Abendland bedeutet für uns 
nicht ein Gewand, das man je nach 
Laune und Tageszeit anzieht und ver¬ 
tauscht, vielmehr Wirzel und Atem. 
Drüben ist vielleicht der Ausgleich, 
die Harmonie von Geist und Körper, 
von Diesseits und Jenseits. Der Rhyth¬ 
mus des Tanzes mag Jenen Gottes¬ 
dienst und Lebenstrieb in einem be¬ 
deuten. Schicksal und Wesen des abend¬ 
ländischen Menschen aber ist, seit der 
Stunde, da das Christentum in die 
Welt kam, der Dualismus von Geist 
und Fleisch. Ein jeder muß seinen 
Weg bis ans Ende gehen. 

Kurt Pfister 


Vom Kriege 

E uren Feind sollt ihr suchen, euren 
Krieg sollt ihr führen, und ffir 
eure Gedanken!“ Also sprach Zara¬ 
thustra und dachte Werenwag, ah er 
die „spitze“ Feder nahm und -a® 
Februarheft — über den Professor 
Lerch schrieb. Gern erklären vir 
Herrn Lerch: nie harten wir die Ab¬ 
sicht, Sie zu beleidigen. Aber sollen | 
die spitzen Federn denn rosten, ist 
das Wort der Kritik, der scharfen 
Kritik, verboten; sind wir reich ge¬ 
nug, um den Kampf entbehren w 
können? R. K* 


Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Rudolf Kayaer. 
Verlag ▼onS. Racher, Berlin. Druck von W. Drugulin, Leipzig. 






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