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Full text of "Die Alkoholfrage. v.1.1904"

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Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen 


des Alkohols. 


Herausgegeben von 

Prof. Dr. Böhmert, Dr. med. Meinert 

Geh. Regierungsrat in Dresden in Dresden 

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unter Mitwirkung von: ' 

G. Asmussen, Oberingenieur, Hamburg. Geh. Med.-Rat Dr. A. Baer, Berlin. 
Hofrat Dr. Binswanger, Prof. d. Psychiatrie, Jena. 

Prof. Bäumlei, Freiburg. Direktor Dr. Böhmert, Bremen. 

Dr. C. Brendel, Arzt, München. Dr. Delbrück, Direkt, d. Staatsirrenanst., Bremen. 
Prof. Dr. Emminghaus, Direktor der Lebens-Versicherungsbank, Gotha. 

Dr. Eggers, Bremen. Dr. Fock, Hamburg. Prof. Dr. Forel, Chigne. 
Professor Dr. A. Fränkel, Halle. Hofrat Dr. med. Ganser, Oberarzt am Stadt-Irren- 
und Siechenhaus, Dresden. Prof. Gaule, Zürich. Hofrat Prof. M. Gruber, München. 
Dr. Gudden, Bonn. Geh. Med.-Rat Dr. Guttstadt, Berlin. Pastor Haacke, Rickling. 

Dr. med. H. Hänel, Dresden. Landesrat Hansen, Kiel. Prof. Hilty, Bern. 
Prof. Dr. K. B. Lehmann, Würzburg. Dr. Milliet, Bern. Prof. Dr. med. Ad. Schmidt, 
Dresden. Dr. Scheven, Dresden. Dr. med. Stegmann, Dresden. 

Dr. phil. W. A. Stille, Hannover. Eisenbahndirektor a. D. de Terra, Marburg. 
Prof. Harald Westergaard, Kopenhagen. 


I. JAHRGANG. 



Dresden, 

Verlag von O. V. Böhmert. 
1904 . 


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Yo rwort 

zu dem 

Jahrbach der Alkoholfrage für 1904. 


J^ie seit Ende März 1904 bisher allvierteljährlich er¬ 
schienenen vier Hefte der Zeitschrift „Die Alkohol¬ 
frage“ werden hiermit in der Form eines Jahrbuches mit einer 
Uebersicht des Inhalts nach Abhandlungen, Untersuchungen und 
Besprechungen der Oeffentlichkeit übergeben, um die den 
Herausgebern und Mitarbeitern vorgezeichneten Aufgaben und 
Ziele im Zusammenhänge näher zu kennzeichnen. Unsere 
Zeitschrift soll durch die objektive Darstellung neuer Tatsachen, 
fruchtbringender Gedanken und gereifter Erfahrungen ein wissen¬ 
schaftliches und wirtschaftspolitisches Repertorium für die 
Alkoholfrage werden und zugleich allen wahren Freunden und 
Förderern der Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbestrebungen 
als Einigungspunkt dienen. Es hat der Redaktion während des 
verflossenen Jahres weder an Stoff, noch an ermutigendem Zu¬ 
spruch, noch an treuer Mitarbeit gefehlt. Insbesondere hat die 
von der Redaktion begonnene exakte Untersuchung der 
Alkoholfrage auf Grund von Fragebogen für Massige oder Ent¬ 
haltsame allgemeines Interesse erweckt. Nicht weniger als 
50 Personen aus den verschiedensten Ständen, Berufszweigen 
und Altersstufen haben sich an der Enquete beteiligt. Es be¬ 
finden sich darunter wissenschaftliche Autoritäten ersten Ranges. 
Die in vier Vierteljahrsheften erschienenen Antworten können 
ebenso wie die wissenschaftlichen Abhandlungen, Berichte und 
Besprechungen nunmehr in diesem Jahrbuche im Zusammen¬ 
hänge näher geprült werden. Sie enthalten den Beweis, dass 
die Wirkungen des Alkohols auf den menschlichen Organismus 


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immer deutlicher erkannt werden und dass auch die Erkenntnis 
der sozialen Schäden des Alkohols für das Völkerwohl sich 
immer weiter verbreitet. Vielleicht gelingt es einem grossen 
internationalen Bunde edler Männer und Frauen, nach und 
nach eine sittlich-religiöse Erneuerung des Menschengeschlechts 
anzubahnen und an Stelle von Völkerkriegen mit ihrem Elend 
das Kant’sche Ideal eines allgemeinen Weltfriedens doch 
noch zu verwirklichen. Jedenfalls verbreiten sich in der Gegen¬ 
wart, mitten unter äusseren kriegerischen Verwickelungen und 
inneren politischen und sozialen Kämpfen, auch neue inter¬ 
nationale Pflichtbegriffe, Regungen eines neuen Völkergewissens 
und Ahnungen eines edleren Menschentums. Die Geister sind 
wirklich überall erwacht, um neue Kulturideale in sich aufzu¬ 
nehmen und auch an der Lösung der Alkoholfrage, mit der 
die Sittlichkeitsfrage eng zusammenhängt, ernsthaft mitzu¬ 
arbeiten. 

Zu dieser Mitarbeit an den neuen Kulturidealen der 
Gegenwart sind auch die Herausgeber dieser neuen Zeitschrift 
und dieses Jahrbuchs bereit und entschlossen. 

Die Herausgeber der Zeitschrift 
„Die Alkoholfrage“. 


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Inhaltsverzeichnis 

des I. Jahrganges der Alkoholfrage. 


I. Abhandlungen: Seite 

Abstinententag in Bern. Der fünfte schweizerische.172 

Asmussen, G.: Der Guttempierorden in Deutschland. 90 

Blaue Kreuz, Das, und die Bekämpfung des Alkoholismus .... 175 
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Programme und Ziele der älteren und neueren 

deutschen Bewegung für Mässigkeit und Enthaltsamkeit. 5 

Böhmert, Prof. Dr. Victor: Warum ich enthaltsam geworden und ge¬ 
blieben bin. 68 

Böhmert, Prof. Dr. Victor: Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage 51 
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Eine Untersuchung der Alkoholfrage auf Grund 

von Fragebogen für Mässige und Enthaltsame.177 

Böhmert, Prof. Dr. Victor, Weitere Untersuchungen der Alkoholfrage auf 

Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame .... 315 u. 413 
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Ein Programm und Plan zum örtlichen Wirken 

für Mässige und Enthaltsame.107 

B r e n d e 1, C.: Ueber den Fortschritt der Bestrebungen gegen den Alkoholis¬ 
mus in Bayern. 79 

Eggers, Dr. jur.: Die Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholis¬ 
mus in Charlbttenburg. 75 

Emminghaus, Dr. A.: Die Bekämpfung des Alkoholismus auf ver¬ 
schiedenen Wegen . 47 

Forel, Dr. August: Abstinenz und Wissenschaft.145 

Gaule, Justus: Muskeln oder Nerven ?. 22 

Gudden, Dr. C.: Ueber verschiedene Formen des Alkoholismus, seine 

Folgen und Behandlung.159 

Haacke, Pastor, Die Trunksucht als Krankheit und Laster .239 

Hansen, P. Chr., Landesversicherungsrat: Wie ich Enthaltsamer wurde . 54 

Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 356 

Hartmann, Prof. Dr. Martin: Ueber die Aufgabe der höheren Schule im 

nationalen Kampfe gegen den Alkoholismus , 165 


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Hirt, Dr. med.: Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.109 

H o 1 i t s c h e r, Dr. med. A., Alkoholsitte und Opiumsitte.841 

Hauptversammlung, Die 21., des Deutschen Vereins gegen den Miss¬ 
brauch geistiger Getränke in Erfurt.• .... 304 

Kruse, Pastor, Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkohol¬ 
kranken .398 

Marcuse, J.: Ueber den Alkoholismus in Frankreich.170 

M e i n e r t, Dr. med.: Das Rotenkirchner Eisenbahn-Unglück und der Alkohol 37 
Meinert, Dr. med.: Der II. deutsche Abstinententag zu Altona .... 290 
Meine rt, Die Bewegung gegen den Aikoholismus am Ende des Jahres 1904 390 

Nüchternheit und Landleben in Schleswig-Holstein.394 

Peipers, Dr. med.: Die Kuranstalt Siloah in Lintorf in 25jähriger Arbeit 396 
Reinhard, Karl: Der VI. Nordische Enthaltsamkeitskongress in Kopenhagen 298 
Scharrelmann, N.: Die Bedeutung und Zukunft der Jugendtogen des 

Guttemplerordens.279 

Scheven, Katharina: Der Kampf gegen den Alkoholismus, eine soziale 

Aufgabe der Frau.255 

Stegmann, Dr. med. A.: Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Ge¬ 
sundheit?" .373 

Stille, Dr. phil. W. A.: Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika 83 
Stille, Dr. phil. W. A.: Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten . . 151 
Stille, Dr. phil. W. A.: Das „mässige“ Trinken der Deutschen in Amerika 384 

de Terra, Eisenbahndirektor: Abstinenz im Eisenbahndienst. 67 

Walther, Karl: Der Most.127 

Was wir wollen. 1 

Wegscheider-Ziegler, Frau: Wie bewahren wir Mütter unsere 

Kinder vor dem Alkoholgenuss?.367 

Westergaard, Prof. H.: Was lehrt die Statistik in Betreff des Einflusses 

der geistigen Getränke anf die Gestrndhcit?.227 


Eine Untersuchung der Alkohotfrage 
auf Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame. 


Von Professor Dr. Victor Böhmert. 

S. 51. 177. 315. 413. 

Folgende 50 Antworten sind eingegangen: 

No. 49. Beck, Dr. Hermann, Schriftsteller, Tegel bei Berlin.428 

„ 29. Bez^ola, Dr. med. Dominik, Irrenarzt in Chur.320 

„ 39. Bönicke, Georg Heinrich Albert, Buchdrucker in Dresden . . . 416 

„ 19. Bonne, Dr. med. Georg, in Klein-Flottbeck (Holstein).196 

„ 35. Buddee, Landgerichtsdirektor Karl, in Greifswald.326 

„ 2. Bunge, Professor Dr. von, in Basel.179 

„ 21. Davidsohn, Redakteur Georg, in Berlin.200 

„ 27. Delbrück, Dr. med., Direktor in Bremen.318 

„ 44. Eggers, Rechtsanwalt Dr., in Bremen.422 

„ 1. Fick, Professor Adolf, in Wtirzbtrrg.178 

„ 5. Fick, Professor, Dr. med. Rudolf, in Leipzig.182 

„ 6. Fick, Pjrektor Dr. jur. Friedrich, jn . . . y , r f 183 



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No. 7. Fick, Dr. med. Adolf, in Zürich.184 

„ 3. Forel, Dr. August, in Chigny b. Morges.180 

„ 36. Frege, Eisenbahnbeamter Kurt, in Dresden.327 

„ 4. Gaule, Professor Justus, in Zürich.181 

„ 10. Gudden, Maler Rudolf, in Frankfurt a. M.187 

„ 9. Gudden, Dr. med. Clemens, in Pützchen-Bonn.186 

„ 26. Hahn, Dr. med. von, Oberstabsarzt a. D., in Görbersdorf . . . 317 

„ 28. Hähnel, Franziskus, Schriftsteller und Lehrer, in Bremen . . . 319 

„ 42. Hansen, Landesversicherungsrat in Kiel.419 

„ 40. Heim, Professor Dr. Ludwig, in Erlangen.417 

w 14. Hirt, Dr. med. Eduard, in München.191 

„ 33. Hoff mann, Fräulein Ottilie, in Bremen.324 

„ 43. Hoppe, Nervenarzt, Dr. Hugo, in Königsberg.420 

w 50. Je dicke, Fabrikbesitzer Friedrich Otto, in Dresden.430 

w 23. Ingermann, Prokurist Rudolf, in Flensburg.204 

„ 45. Josephson, Pastor Hermann, in Bremen.424 

„ 15. Kotowowicz, Dr. med. Benno, in Hannover.192 

w 25. Kraepelin, Professor Dr. Emil, in Münschen.316 

„ 18. Krukenberg, Frau Elisabeth geb. Conze, in Kreuznach .... 195 

„ 31. Kruse, Pastor, Vorsteher der Heilanstalten in Lintorf.322 

„ 11. Legrain, Dr. med., in Paris.188 

„ 12. Legrain, Madame, in Paris .189 

„ 16. Marcuse, Dr. med. Julian, in Mannheim.193 

„ 48. Mosig, Arbeiter, in Hannover.427 

„ 24. Neurath, stud. phil. Otto, in Berlin.206 

„ 34. Pavel-Rammingen, Freiherr von, in Gotha ..325 

„ 32. P e i p e r s, Dr. med., Anstaltsarzt in Lintorf.323 

„ 46. Schulz, Kaufmann Bruno, in Dresden.425 

„ 22. Schüre r, Lehrer Gotthold Georg, in Dresden.202 

„ 30. Spinner, Oberhofprediger Dr. theol. in Weimar.321 

„ 13. Stegmann, Dr. med. A., in Dresden.190 

„ 20. Stille, Dr. Werner Adolf, in Leipzig.198 

„ 17. Stubbe, Pastor Christian, in Kiel.194 

„ 41. de Terra, Otto, Eisenbahndirektor a. D., in Marburg.418 

„ 37. Weber, Sir Hermann, Arzt in London.414 

„ 8. Weichselbaum, Professor Dr. Anton, Wien.185 

„ 47. Wiedner, Jugenderzieher im Ehrlich'schen Gestüt, Dresden . . 426 

„ 38. Wilson, Parlamentsmitglied Henry J., in Sheffield in England . 415 

Viertel jahrschronik für Januar, Februar, März 1904 .... 96—100 

Vierteljahrschronik für April, Mai, Juni 1904 . 207—215 

Vierteljahrschronik für Juli, August, September 1904 .... 328—335 

Vierteljahrschronik für Oktober, November, Dezember 1904 432—438 


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Besprechungen: 

Abnahme des Bierkonsums in München.223 

Alkohol in den Tropen.222 

Lieber den Alkoholgenuss bei den amerikanischen Arbeitern.338 

Alkoholgenuss und wirtschaftliche Arbeit .436 

Alkoholic Beverages and Longevity.216 

Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie.221 u. 336 

Die Belastung des Arbeiterbudgets durch den Alkoholgenuss.102 

Bericht über den IX. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus in 

Bremen.101 

Der Bieralkoholismus unter den Deutsch-Amerikanern.339 

Geistige Getränke.225 

Gesundheits- und Mässigkeitslehre in den Schulen.336 

Sterblichkeitsverhältnisse der Gastwirte.224 

Beiträge zum Alkoholismus der arbeitenden Klassen.442 

Handbuch der eidgenössischen Fabrikinspektion.442 

Ueber die hauptsächlichsten Hindernisse der Alkoholbewegung.443 


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Was wir wollen! 

Ansprache an alte und neue Leser. 

Die seit Beginn des Jahres 1900 im Verlag von O. V. 
Böhmert in Dresden erschienene Vierteljahrsschrift „Der Alko¬ 
holismus“ hat als ein gemeinschaftliches Unternehmen des 
Verlegers mit den bisherigen Herausgebern Dr. A. Baer, Prof. 
Dr. Böhmert, Dr. jur. von Strauss und Torney und 
Dr. med. Waldschmidt mit Ende des Jahres 1903 aufgehört 
zu erscheinen, weil zwischen den beiden durch einen Separat¬ 
vertrag mit dem Verleger gebundenen Herausgebern Prof. Dr. 
Böhmert und Dr. med. Waldschmidt eine Einigung über die 
Form der Weiterführung des Unternehmens nicht erzielt werden 
konnte. 

Die von den Unterzeichneten beiden Herausgebern begrün¬ 
dete und von Dresden aus geleitete Zeitschrift 

„Die Alkoholfrage“ 

Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen des Alkohols 

erscheint zu dem Abonnementspreis von jährlich 6 Mark in 
Dresden im Verlage von O. V. Böhmert, welcher auch die 
ersten vier Jahrgänge der Zeitschrift „Der Alkoholismus“ als 
Eigentum behalten hat und allen neuen Abonnenten auf Wunsch 
jeden Jahrgang von 1900—1903 zu 4 Mark nachliefern wird. 

Die neue Zeitschrift will im alten Gewände des „Alko¬ 
holismus“ als Vierteljahrsschrift einesteils wissenschaftliche 
Untersuchungen über die Wirkungen des Alkohols auf den 
menschlichen Organismus und auf den Wohlstand der Völker 
veröffentlichen und anderenteils über alle auf die Förderung 
der Massigkeit und Enthaltsamkeit gerichteten Bestrebungen 

Die Alkoholfrage. 1 


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und Massregeln von Vereinen, Gemeinden und Staaten unpar-.^J 
teiisch berichten. ■"% 

Das Hauptbestreben der Zeitschrift soll dahin gerichtet 
sein, eine Verständigung zwischen den zahlreichen Vereinen 
und Privatpersonen, welche sich sowohl für Massigkeit als auch 
für Enthaltsamkeit interessieren, durch praktische Toleranz und 
ruhige Prüfung der verschiedenen Standpunkte herbeizuführen. 

Das gleiche Bestreben war schon vor mehr als 4 Jahren 
bei Begründung der Zeitschrift „Der Alkoholismus" massgebend. 
Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
zeigte sich damals auch geneigt, einer für solche wissenschaft¬ 
liche Zwecke begründeten Zeitschrift eine Subvention von 
500 Mark zu bewilligen, er hat dieselbe jedoch niemals geleistet, 
obwohl die Zeitschrift vom Verleger nur mit Opfern ins Leben 
gerufen und fortgeführt werden konnte. 

Die Verlagshandlung glaubt, wegen dieser ungünstigen 
Erfahrungen der ersten Jahre das Vertrauen auf die Zukunft 
eines ähnlichen Unternehmens nicht verlieren zu dürfen; sie 
hält es jedoch im Interesse einer objektiven Haltung für ratsam, 
dass die Zeitschrift mehr wissenschaftlich als agitatorisch zu 
wirken sucht, dass sie sich mehr der Wahrheitsforschung als 
der Polemik widmet und nicht von einem einzelnen Vereine 
abhängig wird, sondern mit allen für die Volksgesundheit 
arbeitenden Vereinen zusammen wirkt, mögen sie nun die 
Massigkeit oder die Enthaltsamkeit auf ihre Fahne schreiben. 
Die Zeitschrift soll allen wirklich wissenschaftlichen Unter¬ 
suchungen und praktischen Erfahrungen hinsichtlich der Wir¬ 
kungen des Alkohols ihre Spalten öffnen, sobald die betreffen¬ 
den Artikel nur leidenschaftslos gehalten sind und unnötige 
Streitereien, gehässige Angriffe oder allgemeine unbewiesene 
Behauptungen vermeiden. 

Die Herausgeber dieser Zeitschrift möchten schon durch 
den veränderten Titel „Die Alkoholfrage“ statt des bisherigen 
Titels „Der Alkoholismus“ andeuten, dass sich die neue Zeit¬ 
schrift mit der wissenschaftlichen Untersuchung vieler noch 
ungelöster Fragen beschäftigen will. Zu diesem Zwecke sollen 
sich die Wissenschaften der Heilkunde und Volkswirtschafts¬ 
lehre noch enger als bisher verbinden und als Haupthilfsmittel 
„die Statistik“ benutzen, welche sich nicht auf Einzel- 


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Beobachtungen verlassen, sondern erst aus Massen Beobach¬ 
tungen Schlüsse ziehen darf. 

Bei der sogenannten „sozialen Alkoholfrage“ wird man vor 
allem nicht vergessen dürfen, dass der Wille des einzelnen 
Menschen und die öffentliche Meinung weit mehr durch das 
gute Beispiel als durch Wort und Schrift zur Aenderung der 
Trinksitten bewogen werden können, und dass die Enthaltsam¬ 
keitsbestrebungen mit den Mässigkeitsbestrebungen mindestens 
gleichberechtigt und der Förderung besonders deshalb bedürftig 
und würdig sind, weil sie vorzugsweise von den unbemittelten 
Klassen unsres Volkes getragen werden und dieselben rascher, 
leichter und nachhaltiger von dem Laster der Trunksucht be¬ 
freien helfen, als es der blossen Massigkeit möglich ist. 

Es hat sich in den beiden Jahrzehnten seit der Begründung 
■des deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
im Jahre 1883 und seit dem gleichzeitigen Vordringen der Gut- 
templer-Logen viel bittrer Streit zwischen den Massigen und 
Enthaltsamen im deutschen Reiche entwickelt. Wir sind weit 
entfernt, diese Kämpfe etwa tragisch zu nehmen, da sie auf 
weite Kreise anregend und belebend einwirken; wir halten 
uns jedoch verpflichtet, den seit zwei Jahrzehnten im Dresdner 
Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger Getränke kon¬ 
sequent festgehaltenen versöhnlichen Standpunkt zu 
den Enthaltsamkeitsbestrebungen auch innerhalb des deutschen 
Vereins zu befürworten und haben Grund zu der Annahme, 
dass auch die Leitung des Deutschen Vereins, kräftig unter¬ 
stützt durch ihren neuen rührigen Generalsekretär, lebhaft be¬ 
müht ist, die auf jedem internationalen Antialkohol-Kongress 
zu Tage tretenden Differenzen zwischen Mässigen und Enthalt¬ 
samen wenigstens innerhalb der deutschen Mässigkeitsvereine 
auszugleichen und überhaupt in der Alkoholfrage lieber die 
einigenden als die trennenden Punkte zu betonen. 

Es erscheint aussichtslos, die Kluft zwischen Mässigen und 
Enthaltsamen durch theoretische Erörterungen ausfüllen zu 
wollen; dagegen ist es sehr wohl möglich, praktische Toleranz 
.zu üben und für die Förderung der Volksgesundheit und Ver¬ 
edelung der Volkssitten gemeinsam zu arbeiten. Es gibt ver¬ 
schiedene Wege, je nach der Verschiedenartigkeit der Menschen¬ 
naturen und ihrer Gewohnheiten, diese gemeinsamen Ziele zu 

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erreichen. Auch hier wird sich die Arbeitsteilung zwischen 
verschiedenen Vereinen mehr empfehlen, als der Streit um 
den richtigen theoretischen Standpunkt. Die Enthaltsamkeits- 
bestrebungen sind ebenso notwendig wie die Mässigkeits- 
bestrebungen. Es muss allseitig anerkannt werden, dass die 
Enthaltsamen durch die Trinkerrettung eine der wichtigsten 
und schwierigsten Aufgaben in der Alkoholfrage zu lösen 
suchen und dass ihre Geretteten nach Tausenden zählen, gegen¬ 
über denjenigen, die in den Anstalten aufgenommen werden 
und nach ihrer Entlassung erst recht des Beistandes der Ent¬ 
haltsamen bedürfen. Die Arbeit der Massigen liegt auf einem 
andern Gebiete. Sie haben die hohe Aufgabe, alle Volksklassen 
über die Wirkungen des Alkohols zu belehren und aufzuklären 
und sie zur Massigkeit erziehen zu helfen, zugleich aber auf 
Gesetzgebung und Verwaltung einzuwirken, um gesundheitliche 
und sittliche Gefahren von der Bevölkerung abzuwenden, undi 
dazu bedürfen wir der Einigkeit auf allen Seiten. 

In der Erziehung zur Einigkeit auf allen Seiten wollen 
wir auch eine Hauptaufgabe der neuen Vierteljahrsschrift „D i e 
Alkoholfrage“ erblicken, welche wir hierdurch allen Lesern 
zur Anschaffung, Weiterverbreitung und Förderung empfehlen! 

Prof. Dr. Böhmert und Dr. med. Meinert.. 


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I. Abhandlungen. 




Programme und Ziele 

der älteren und neueren deutschen Bewegnng 
für Mässigkeit nnd Enthaltsamkeit. 

Von Prof. Dr. Victor Böhmert. 


i. Allgemeine Bemerkungen. 

Unsere Zeit ringt auf vielen Gebieten nach Erneuerung, 
Reinigung und Erlösung von tiefen gesundheitlichen und sitt¬ 
lichen Schäden, welche die weitesten Kreise der Bevölkerung 
in allen Kulturstaaten bedrohen. Aeussere Feinde und Kriegs¬ 
not pflegen uns nur vorübergehend zu beunruhigen; innere 
Feinde, innere ansteckende Krankheiten und schlechte Sitten 
können lang dauerndes Unheil anrichten und nur durch lange 
innere Kämpfe, durch Erziehung eines besseren Geschlechts 
und durch edlere Sitten allmählich überwunden werden. Die 
schlimmsten inneren Feinde der modernen Kulturvölker sind 
die alkoholischen und geschlechtlichen Ausschweifungen. Sie 
sind mit der Ueppigkeit und mit dem Materialismus unserer 
Tage unheimlich vorwärts geschritten und üben eine Art sozialer 
Weltherrschaft, gegen welche sich die Völker durch einmütigen 
internationalen Wetteifer in guter Jugenderziehung, edler Gesellig¬ 
keit und zweckmässiger Wohlfahrtspflege schützen müssen. Grosse 
und kleine Völker haben auf diesem Gebiete hervorragende 
Leistungen aufzuweisen. In neuerer Zeit sind Amerika und 
England, Norwegen, Schweden, Finnland und die Schweiz 
in vielen Richtungen Vorbilder geworden. 

Die nordamerikanische Union hat schon in ihren ersten 
grossen Staatsmännern Franklin und Jefferson eifrige Vorkämpfer 
des Alkohols besessen. Von Amerika sind die ersten alkohol- 


Zeile 2 von unten lies Bekämpfer statt Vorkämpfer. 


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Abhandlungen. 


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gegnerischen Vereinigungen des 19. Jahrhunderts ausgegangen. 
In Amerika begann dann in den 40er und 50er Jahren des. 
vorigen Jahrhunderts auch die Bewegung für Totalabstinenz 
und für gesetzliche Prohibition, welche letztere im Staate Maine 
1851 zuerst durchgeführt wurde. Von Nordamerika ist auch 
der Guttemplerorden und der Kreuzzug der Frauen gegen den 
Alkohol ausgegangen. Diese Vorgänge in Nordamerika haben 
namentlich England wirkungsvoll beeinflusst. Im Jahre 1853 
erfolgte in England, unter dem Eindruck des Vorgehens 
amerikanischer Staatsmänner und Volksfreunde in verschiedenen 
Staaten der Union, die Begründung der grossen Vereinigung, 
•welche unter dem Namen „The United Kingdom Alliance“ sich 
die Aufgabe stellte, auch in ganz Grossbritannien die Gesetz¬ 
gebung in Betreff des Alkohols ähnlich wie in Amerika umzuge¬ 
stalten. Diese britische Gesellschaft, welche im Jahre 1903 ihr 
öOjähriges Jubiläum würdig feierte, hat unter der langjährigen 
Leitung von Sir Wilfred Lawson, des bedeutendsten Vertreters 
der Enthaltsamkeitsbewegung im englischen Parlament, eine 
sehr ausgedehnte Tätigkeit entfaltet und in dem letzten Jahr¬ 
zehnt ihr Streben namentlich dahin gerichtet, die Schankrechts¬ 
bewilligung einer lokalen Volksabstimmung und Volksüber¬ 
wachung zu unterwerfen. Ueber alle mustergültigen Vorgänge 
in der amerikanischen und englischen Antialkohol - Bewegung 
berichtet ausführlich der schwedische Professor Dr. Johan 
Bergman in Stockholm in seiner soeben im Monat März 1904 
auch in deutscher Uebersetzungerschienenen „Geschichteder Anti¬ 
alkohol-Bestrebungen“*). In diesem bedeutungsvollen Werkeist die 
Geschichte des Alkoholgenusses und der Alkoholbekämpfung in 
Indien und im alten Egypten und Vorderasien sowie im klassischen 
Altertum, im Mittelalter, im Zeitalter der Reformation, im 17. Jahr¬ 
hundert und im Aufklärungszeitalter bis auf die allerneueste 
Zeit in sehr übersichtlicher Weise geschildert. Eine besonders 
ausführliche Darstellung ist der modernen Alkoholbewegung 
in Nordamerika und Europa und namentlich in den skandina¬ 
vischen Ländern gewidmet. 

*) Geschichte der Antialkohol-Bestrebungen. Aus dem Schwedischen über¬ 
setzt, neu bearbeitet und herausgegeben von Dr. R. Kraut. Vollständig in drei 
Lieferungen ä 2.40 Mk. = 7 Mk. 20 Pf. Hamburg 1903 und 1904. Druck und 
Verlag von Gebrüder Lüdeking. 


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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 7 


Prof. Bergman berichtet auch über die deutsche Bewegung 
für Massigkeit und Enthaltsamkeit und ergänzt die schon sehr 
reichliche deutsche Literatur, welche sich namentlich an den 
Namen des Pfarrer Martius knüpft, noch durch manche 
interessante neue Mitteilungen. Er unterlässt es nicht, „die 
umfangreiche schriftstellerische Wirksamkeit von Pfarrer 
Martius“ und „vieler anderer eifriger Mitarbeiter“ anzuerkennen. 
Er bemerkt auch zu der Schrift von Martius „über die 
ältere deutsche Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung“*), 
dass diese Schrift „wertvolles Material enthalte“, er wirft ihr 
jedoch vor, dass „der Verfasser einseitig tendenziöse Zwecke 
verfolge“ und versuche: „aus der Geschichte jener älteren 
Bewegung den Beweis zu erbringen, dass die moderne 
Bewegung gegen den Alkoholismus Mässigkeits vereine 
erfordere“. Es ist nicht die Aufgabe dieser Abhandlung, auf 
die Polemik des Prof. Bergman und des Uebersetzers Dr. Kraut 
gegen Martius und andere deutsche Mässigkeitsfreunde näher 
einzugehen, wir wollen vielmehr versuchen, über die ältere und 
neuere deutsche Bewegung objektiv zu berichten und dabei 
auch den Nachweis zu führen, dass selbst innerhalb des deutschen 
Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke von Anfang 
an ganz verschiedene Ansichten und Standpunkte, Programme 
und Ziele aufgetaucht sind und noch immer vertreten werden. 
Unsere neue Vierteljahrsschrift „Die Alkoholfrage“ steht auf 
dem streng wissenschaftlichen internationalen Standpunkte der 
Wahrheitsforschung, sie will die Wirkungen des Alkohols und 
die zur Bekämpfung der Alkoholgefahr in alten und neuen 
Zeiten und Staaten angewendeten Mittel unparteiisch darstellen 
und prüfen und dabei die Erfahrungen fremder Länder ebenso 
berücksichtigen, wie diejenigen im eigenen Vaterlande und an 
Ort und Stelle. Das eben erschienene Werk von Prof. Berg¬ 
man und Dr. Kraut: „Die Geschichte der Antialkohol-Bestre¬ 
bungen“ erleichtert uns unsere Aufgabe ebenso wie das jüngst 
erschienene bahnbrechende Werk des Finnländers Dr. Helenius 
„Die Alkoholfrage“, welches der Schreiber dieser Zeilen 

*) Die altere deutsche Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung (1838—1848) 
und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Ein Wort zur Verständigung zwischen 
Mässigen und Enthaltsamen von Dr. Wilhelm Martius. Dresden. Verlag von 
O. V. BÖhmert 1901. 


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Abhandlungen. 


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iu der Abhandlung „Die Alkoholfrage in der Vergangenheit 
und Gegenwart“ in Heft IV der Vierteljahrsschrift „Der Alko¬ 
holismus“*) eingehend besprochen hat. 


2. Die ältere deutsche Bewegung von 1796—1848. 

Das deutsche Volk hat schon am Schlüsse des 18. und 
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beachtenswerten 
Anlauf zur Bekämpfung des Alkoholismus genommen. Der 
bekannte deutsche Arzt C. W. Hufeland, der als Staatsrat und 
Königl. Leibarzt im Jahre 1836 in Berlin starb, hatte schon im 
Jahre 1796 sein berühmtes Buch „Die Kunst, das menschliche 
Leben zu verlängern“, veröffentlicht. Dieses später in zahlreichen 
Auflagen unter dem Titel „Makrobiotik“ erschienene und in 
viele fremde Sprachen übersetzte Werk hatte bereits alle spiri- 
tuösen Getränke, sie mögen Namen haben wie sie wollen, als 
lebensverkürzend bezeichnet und u. A. bemerkt: „dass sie wie 
flüssiges Feuer das Leben im eigentlichsten Sinne zu einem 
Verbrennungsprozess machen“ . . . und Hautkrankheit, künst¬ 
liches Alter, Husten, Engbrüstigkeit, Lungenkrankheit, Wasser¬ 
sucht und was das schlimmste ist, eine schreckliche Abstumpfung 
des Gefühls, nicht allein im Physischen, sondern auch im Mora¬ 
lischen, erzeugen“. Ausserdem hat Hufeland auch noch in 
einer besonderen Abhandlung „Ueber die Vergiftung durch 
Branntwein“ (Berlin, 1802) eine doppelte Art von Vergiftung 
und ihren Wirkungen näher beschrieben: „eine schnelle, 
durch den Genuss einer grossen Quantität auf einmal, und eine 
langsame oder schleichende, durch den täglich [fortgesetzten 
Genuss in kleinen Portionen“. Hufeland macht besonders auf¬ 
merksam auf die schleichende Vergiftung, „die man gewöhnlich 
dann erst erkennt, wenn es zu spät ist, ihr abzuhelfen“ und 
richtet gegen den Schluss an die Bevölkerung u. A. folgende 
ergreifende Mahnworte: „Wodurch kann man dieser für die 
Menschheit so gefährlichen Seuche sowohl im einzelnen als im 
ganzen Grenzen setzen ? Das erste ist wohl, dass man die noch 

*) Sämtliche 4 Jahrgänge der Zeitschrift „Der Alkoholismus“. Eine Viertel¬ 
jahrsschrift zur -wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage. Herausgegeben von 
Dr. A. Baer, Prof. Dr. Böhmert, Dr. jur. von Strauss und Torney und Dr. Wald¬ 
schmidt, können in der Verlagshandlung von O. V. Böhmert in Dresden zum Preise 
von 4 Mk. pro Jahrgang durch jede deutsche Buchhandlung bezogen werden. 



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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 9 


Unverdorbenen, besonders Kinder und junge Leute, vor dieser 
traurigen Gewohnheit sichert, und ich mache es hierdurch Eltern, 
Erziehern und Predigern zur heiligen Pflicht, durch Beispiel und 
ernstliche Warnung dagegen zu arbeiten!“ . . . 

In demselben Jahre, in welchem Hufelands erstes Werk 
erschienen war, veröffentlichte auch das „Dresdner Sanitäts- 
Kollegium“ am 14. Oktober 1796 eine „Belehrung für das 
Publikum von dem grossen Nachteile, welcher aus dem Miss¬ 
brauche des Branntweins für die Gesundheit und die Seelen¬ 
kräfte entsteht.“ 

Die in Deutschland erschienenen Schriften gegen den 
Alkohol und die Jahresberichte der amerikanischen Temperenz- 
gesellschaft bewirkten, dass in Preussen der König Friedrich 
Wilhelm III. im Jahre 1833 offiziell sich von der Regierung der 
Vereinigten Staaten Auskunft über die Bewegung gegen den 
Alkoholismus erbat. Diese Auskunft wurde von dem beredten 
Amerikaner Robert Baird erteilt, dessen Buch über die Erfolge 
der amerikanischen Bewegung auf Befehl des Königs Friedrich 
Wilhelm ins Deutsche übersetzt wurde und die Bekämpfung 
des Alkohols in Deutschland mächtig anregte. Schon vor Robert 
Bairds Ankunft in Deutschland hatte in Sachsen Prinz Johann 
(der spätere König) im Jahre 1832, angeregt durch eine Reise 
nach England, denVersuch gemacht, eine Bewegung gegen den 
Alkoholismus ins Leben zu rufen und zu diesem Zweck eine 
Gesellschaft in Dresden begründet. Infolge der in Preussen 
und Sachsen von oben herab durch Fürsten, hohe Beamten, 
Aerzte, Geistliche und Lehrer gegebenen Anregungen gelang 
es in derZeit von 1832—1848 eine grosse Zahl von Mässigkeits- 
und Enthaltsamkeits-Vereinen in Deutschland zu gründen. Als 
die hervorragendsten Vertreter der Mässigkeits- und Enthalt¬ 
samkeitsagitation vor 1848 wirkten namentlich folgende Männer: 
Professor der Medizin Dr. Kranichfeld in Berlin, Pastor J. H. 
Böttcher, Prediger zu Jensen in Hannover, ferner der katholische 
Pfarrkaplan Johann Mathias Seling in Osnabrück, Freiherr Albert 
von Seid, der Osnabrücker Bürgermeister Dr. Stüve und Pro¬ 
fessor V. A. Huber. 

Die erste deutsche Bewegung gegen den Alkohol erreichte 
in den Jahren 1841 —1847 ihren Höhepunkt. Sie war besonders 
stark in Norddeutschland und fand in Hamburg einen Mittel- 


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Abhandlungen. 


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punkt. Prof. Bergman berichtet in seiner neuesten Geschichte 
der Anti-Alkohol-Bestrebungen über einen „Pöbelauflauf am 
18. Januar 1841 in Hamburg, der in der ganzen europäischen 
Anti-Alkohol-Bewegung seinesgleichen sucht“. In Hamburg 
war am 29. Oktober 1840 ein „Verein gegen das Branntwein¬ 
trinken“ gegründet worden, der sich sehr rasch entwickelte und 
am Ende des Jahres bereits 605 Mitglieder zählte. Um die 
Agitation noch energischer zu betreiben, hatte der aus zehn 
angesehenen Bürgern bestehende Vorstand eine öffentliche Ver¬ 
sammlung anberaumt, die am 18. Januar 1841 abends 8 Uhr in 
der Aula des Johanneums, einer Gelehrtenschule, stattfinden 
sollte. Schon vor der festgesetzten Zeit war der etwa 600—700 
Personen fassende Saal gedrängt voll von Ruhestörern, welche 
von einigen Wirten mit reichlichem Branntwein versehen waren. 
Es kam im Saale zu einem Tumult, so dass der Vorstand die 
Versammlung aufheben musste. Als die Versammelten den 
Saal verlassen wollten, wurde die Verwirrung noch schlimmer. 
Eine zahlreiche Menschenmenge strömte aus den in der Nähe 
des Johanneums befindlichen Schenken und Bordellen, um die 
in der Versammlung begonnene Demonstration auf der Strasse 
fortzusetzen. Betrunkene Gäste warfen Branntweinflaschen, 
Eisstücke, Schneebälle in die Menge. Ein sich wie irrsinnig 
gebärdender Volkshaufen drang in den Versammlungssaal, liess 
seine Wut am Mobiliar des Saales aus, schaffte Branntwein zur 
Stelle und machte die Aula zum Schauplatz eines sehr wilden 
Bacchanals. Da man derartige Störungen nicht voraus geahnt 
hatte, kam erst 11 Uhr abends die Bürgergarde zur Stelle, um 
dem tollen Treiben ein Ende zu. machen. 

Der Bericht über diesen Pöbelauflauf machte den Weg 
durch die Presse der ganzen Welt und bewirkte eine sympa¬ 
thischere Stellungnahme des anständigen Publikums zur Enthalt¬ 
samkeitssache, nachdem man einmal deutlich gesehen hatte, 
welche Elemente sich der Bewegung vorzugsweise entgegenstellten. 
Besonders in Hamburg stieg die Mitgliederzahl des Vereines 
gegen das Branntweintrinken im Jahre 1842 von 606 auf 1430 
Mitglieder. Auch die Behörden wandten ihr Interesse der 
Bewegung zu. Die Branntweinverabreichung beim Militär wurde 
eingestellt und die Malzakzise aufgehoben, da man glaubte, 
durch Förderung der Bierbrauerei den Schnapskonsum dauernd 



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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. U 


herabdrücken zu können. Allerdings verminderte sich der 
letztere auch anfänglich ein wenig; aber durch das seit dieser 
Zeit rasch aufblühende Braugewerbe ward der Alkoholismus 
tatsächlich nicht eingedämmt, sondern nur in breitere und ge¬ 
fährlichere Bahnen gelenkt. 

Auf der ersten Generalversammlung der deutschen Mässig- 
keitsvereine in Hamburg im Jahre 1843 konnte festgestellt 
werden, dass die Zahl der norddeutschen Vereine bereits auf 
452 angewachsen und der Boden für die Bewegung fast aller¬ 
orten geebnet war. Auf der zweiten Generalversammlung, 
welche 1845 in Berlin unter Pastor Böttchers Vorsitz tagte, 
zählte man schon 1072 norddeutsche Vereine mit zusammen 
425 532 Mitgliedern. In Oberschlesien allein wurden 1844 bereits 
500000 Enthaltsame gezählt. Im Fürstentum Osnabrück gab 
es 41 Vereine, denen 18 706 Erwachsene angehörten und 18 
Schülervereine (sog. Hoffnungsscharen) mit 3751 Mitgliedern. 
Die schwach bevölkerte Insel Sylt zählte allein 310 Mitglieder. 
Die Gesamtziffer aller Enthaltsamen des ganzen Deutschlands 
betrug nach Prof. Bergman zirka 1,650000. 

Nach Martius war die alte deutsche Bewegung gegen den 
Alkohol schon im Jahre 1847 an einem toten Punkte angelangt. 
Er schreibt: „Was mit den bisher angewandten Mitteln erreicht 
werden konnte, war erreicht. Jetzt mussten neue Wege be¬ 
treten werden. In der Braunschweiger Generalversammlung 
der norddeutschen Vereine gegen das Branntweintrinken (1847) 
schlugen die einen vor, Petitionen an die Regierungen zu richten. 
Man entgegnete aber, der preussische Minister des Innern habe 
zwar Geldbeiträge für die Vereine in Aussicht gestellt, ersuche 
aber, ihn selbst mit allen Petitionen zu verschonen und Peti¬ 
tionen an den Bund, die von Versammlungen ausgingen, seien 
durch Bundesbefehl streng verboten. Dann schlug man die 
Bildung eines Gesamtausschusses der damals bestehenden 32 
Landes- und Provinzialvereine vor. Aber dieser Antrag wurde 
als für jetzt nicht zweckmässig abgelehnt. So traf der Stoss 
des nächsten Jahres die deutschen Mässigkeits- und Enthalt¬ 
samkeitsvereine gerade in dem Zeitpunkt ins Herz, wo eine 
feste Vereinigung besonders nötig gewesen wäre.“ Auch Prof. 
Bergman erblickt in der Dürftigkeit der Vereinsorganisation 
einen wesentlichen Grund des Stillstands und Rückgangs der 


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Abhandlungen. 


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ersten deutschen Anti-Alkohol-Bewegung. „Der Zusammenhang 
einzelner Vereinsmitglieder und der Vereine unter einander war 
ein sehr loser. Es wurden keine regelmässigen Mitgliederbei¬ 
träge erhoben und die Unkosten nur durch freiwillige Beiträge 
gedeckt.“ Sowohl Bergman wie auch Martius stimmen darin 
überein, dass ein Hauptgrund des Verfalles der älteren deutschen 
Bewegung gegen den Alkohol auch darin lag, dass nur der 
Branntweingenuss, aber nicht auch der übermässige Wein- und 
Biergenuss bekämpft wurde. 

Nach der Ansicht des Schreibers dieser Zeilen ist der 
Hauptgrund des Verfalls der älteren deutschen Bewegung doch 
wohl darin zu suchen, dass die Pariser Februar-Revolution 
des Jahres 1848 den Anstoss zu der grossen politischen natio¬ 
nalen Bewegung gab, welche zur Berufung der deutschen 
Nationalversammlung nach Frankfurt a. M., zum Krieg der 
Schleswig-Holsteiner gegen Dänemark, zum Konflikte zwischen 
Preussen und Oesterreich und zu einer Reihe anderer wichtiger 
öffentlicher Ereignisse und schliesslich zur Begründung des 
Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches führte. Erst 
nach Erringung seiner nationalen Einigung gewann das deutsche 
Volk wieder die nötige innere Ruhe und auch grösseres Interesse 
für alle Wohlfahrts- und Kulturbestrebungen der Gegenwart. 
In der älteren Bewegung gegen den Alkohol hatte man sich 
durch den äusserlich glänzenden Erfolg einer rasch zündenden 
religiösen Bewegung wohl auch verleiten lassen, die noch zu 
leistende Arbeit zu unterschätzen. Man hatte wohl die Gemüter 
vorübergehend entflammt, aber die Geister noch nicht genügend 
belehrt und überzeugt. In der Gegenwart erkennt man aller¬ 
orts an, dass die Bewegung für Massigkeit und Enthaltsamkeit 
nicht allein eine sittlich religiöse, sondern auch eine gesund¬ 
heitliche und volkswirtschaftliche Angelegenheit ist, welche von 
Männern und Frauen aller Berufskreise, natürlich in erster 
Linie auch von Geistlichen, Lehrern, Aerzten, Volkswirten und 
Beamten gefördert werden muss. Ganz besonders bedürfen 
wir in der Gegenwart einer Mitwirkung der Naturforscher, 
Biologen und Aerzte, um die wirklichen Wirkungen des Alkohols 
auf den menschlichen Organismus gründlich zu erforschen und 
dem Volke begreiflich zu machen, damit die unentbehrlichen 
Massregeln der Staatsgewalt durch die öffentliche Meinung und 


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Böhraert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 13.', 


die Einsicht und den ernsten Willen aller Volksfreunde getragen 
und auch gewissenhaft ausgeführt werden. 


3. Die neue deutsche Bewegung von 1883 bis zur 

Gegenwart. 

Das deutsche Volk hat seinen neuesten ernsten Anlauf zu 
einer planmässigen Bekämpfung des Alkoholismus im Jahre 
1883 genommen, nachdem es seinen politischen Nationalstaat 
im Jahre 1871 begründet und sowohl nach Aussen wie auch 
im Innern etwas befestigt hatte. Die neueren Bestrebungen 
für Massigkeit und Enthaltsamkeit sind wie die älteren durch 
die medizinische Wissenschaft und ärztliche Erfahrung vorbereitet 
worden. Wie Hufelands „Makrobiotik“ die ältere Bewegung 
am Ende des 18. Jahrhunderts vorbereitete, so hat das im Jahre 
1878 erschienene Werk von Dr. Baer „DerAlkoholismus“ 
für die neueste deutsche Bewegung bahnbrechend gewirkt. Ein 
zweiter wackerer deutscher Pionier für die Mässigkeits-Bestre- 
bungen war der frühere Verlagsbuchhändler Adolf Gump- 
recht, welcher bereits im Jahrgang 1879 der Vierteljahrsschrift 
„Der Arbeiterfreund“, Organ des Zentral Vereins für das Wohl 
der arbeitenden Klassen, eine längere Abhandlung „Der 
Kampf gegen den Alkohol ismus“ veröffentlichte, worin 
das Werk von Dr. A. Baer eingehend besprochen und auch in 
weiteren Volkskreisen verbreitet wurde. Auch die besonders 
von Gumprecht angeregte und als publizistisches Organ des 
Zentralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen seit dem 
April 1877 in Dresden zweimal wöchentlich nur für Zeitungen 
herausgegebene „Sozialkorrespondenz“, deren Artikel von den 
abonnierenden Zeitungen ohne Quellenangabe abgedruckt werden 
dürfen, hat beinahe allwöchentlich Aufsätze gegen den Alko¬ 
holismus veröffentlicht, welche allen Mitgliedern des Dresdner 
Bezirksvereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke als 
monatliches Vereinsorgan „Volksgesundheit“ noch jetzt unent¬ 
geltlich zugehen. Gumprecht hat auch durch seine Schrift 
„Wider den Trunk“, die von Dresden aus in 10000 Exemplaren 
in ganz Deutschland verbreitet wurde, die deutsche Bewegung 
gegen den Alkohol sehr wirksam gefördert. Als ein dritter 
besonders verdienstvoller Pionier der neueren deutschen Mässig- 
keitsbestrebungen ist der Bremer Schriftsteller August 


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Abhandlungen. 


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Lammers zu nennen, welcher sich als politischer und volks¬ 
wirtschaftlicher Publizist in der Zeit von 1857—1892 mit Feuer¬ 
eifer an allen nationalen und humanen Bestrebungen agitatorisch 
und organisatorisch beteiligte. Lammers besass eine ausser¬ 
ordentliche Initiative und Befähigung zu Vereinsgründungen und 
wurde dabei sehr wirksam unterstützt durch seine ausgedehnte 
persönliche Bekanntschaft mit hervorragenden Politikern und 
öffentlich wirkenden Männern, die er als ein von Elberfeld 
gewähltes Mitglied des preussischen Abgeordnetenhauses näher 
kennen gelernt hatte. Er hatte als Redakteur der Elberfelder 
Zeitung die vortreffliche Elberfelder Armenpflege näher kennen 
gelernt und wurde im Jahre 1880 einer der Hauptbegründer 
des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, 
welcher die Elberfelder individuelle Armenpflege rasch über 
ganz Deutschland verbreiten half und überhaupt ein Mittelpunkt 
für humane Bestrebungen wurde. Viele Tausende von deutschen 
Armenpflegem lernten sehr bald erkennen, dass im Alkohol- 
genuss eine Hauptursache der Verarmung zu erblicken sei. 

Den Bemühungen von Lammers und seinen Freunden 
gelang es, eine grosse Anzahl hervorragender Männer der ver¬ 
schiedensten Parteirichtungen zu bestimmen, im März 1883 zu 
Kassel einen „Deutschen Verein gegen den Missbrauch 
geistiger Getränke“ zu begründen. Lammers wurde von 
diesem Verein als Geschäftsführer angestellt und hat sich im 
Dienste dieses Vereins und zahlreicher verwandter Bestrebungen 
für Armenpflege, Handfertigkeits-Unterricht, Sparkassenwesen, 
frühzeitig aufgerieben. Lammers erhielt vom Vorstand des neu 
gebildeten Deutschen Vereins zunächst den Auftrag, in Gemein¬ 
schaft mit Dr. A. Baer die skandinavischen Länder zu bereisen 
und dort die erfolgreiche Bewegung gegen den Alkohol näher 
zu studieren. Wir verdanken dieser Reise die wertvolle Schrift 
über Alkoholgesetzgebung der skandinavischen Länder und 
über das Gothenburger System. Lammers beteiligte sich auch 
an den internationalen Kongressen gegen den Alkohol in Zürich 
und Christiania. Er verbreitete in Deutschland auch die erste 
Kenntnis von den Guttemplern, welche im Jahre 1883 in 
Flensburg ihre erste Loge gründeten. Lammers widmete sich 
auch mit grossem Eifer der Gründung von Bezirksvereinen 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke in verschiedenen 



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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 15 


deutschen Städten. Er versammelte schon im Mai 1883 um 
sich in Dresden einen kleinen Kreis von Mässigkeitsfreunden 
und veranlasste dieselben im November 1883 einen der ersten 
und stärksten deutschen Bezirksvereine ins Leben zu 
rufen. 

Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke musste sein Augenmerk zunächst darauf richten, 
überall in deutschen Landen Mitglieder zu gewinnen, Bezirks¬ 
und Orts vereine und Vertreterschaften zu errichten und die 
Bevölkerung über die Gefahren des Alkohols und über den 
Stand der Alkoholfrage durch Wort und Schrift in Familien 
und öffentlichen Versammlungen, in Kirchen und Schulen, in 
grossen und kleinen Werkstätten, in Gerichten und Gefäng¬ 
nissen aufzuklären. Insbesondere hat man sich in Zeitungen 
und Flugschriften an das grosse Publikum und in Petitionen, 
Anträgen und Beschwerden an die Behörden und Regierungen 
gewendet. Während der Deutsche Verein auf die Reichs¬ 
regierung und den Reichstag einzuwirken suchte, waren die 
• einzelstaatlichen Bezirks- und Ortsvereine bemüht, ihre Ministerien 
und Landesbehörden zu legislatorischen und administrativen 
Massregeln im Sinne der Vereinszwecke zu bestimmen. 

Es ist in dieser Richtung auch manches erreicht worden, 
was sogar ziffermässig nachgewiesen werden kann. Es haben 
z. B. die statistischen Ermittelungen über das Konzessionswesen 
im Schankbetrieb in den Jahren 1879 bis 1903*) ergeben, dass 
■die sächsischen Schankwirtschaften mit und ohne Branntwein¬ 
schank und die Branntwein - Kleinhandlungen eine erhebliche 
Abnahme erfahren haben. Auf j e 10000 Einwohner kamen 
in Sachsen Gastwirtschaften 1879: 15,8, 1893: 13,5 und 1903: 
12,1; Schankwirtschaften mit Branntweinschank 1879: 31,6, 
1893: 26,5, 1903: 24,2; Schankwirtschaften ohne Branntwein¬ 
schank 1879: 5,0, 1893: 3,1 1903: 2,0; Branntwein-Kleinhändler 
1879: 16,8, 1893: 12,8, 1903: 10,1. Die Kleinhandlungen für 
Branntwein haben in allen sächsischen Regierungsbezirken 
abgenommen, am meisten im Regierungsbezirk Bautzen, wo sie 
in der Zeit von 1879—1903 auf 10000 Einwohner von 17,7 auf 
•8,8 herabgegangen sind. Ein Hauptgrund der Abnahme der 
Branntweinverkaufsstätten im Regierungsbezirk Bautzen wird 

*) Siehe Zeitschrift des Königl. sächs. Statist. Bureaus, Jahrg. 1904, Heft I. 


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Abhandlungen. 


wohl darin liegen, dass seit dem Inkrafttreten der deutschen 
Gewerbenovelle vom 31. Juli 1879 bei Erteilung von Konzessions¬ 
gesuchen die Bedürfnisfrage einer strengeren Prüfung unterzogen 
wurde. Leider geschieht dies nicht überall in Deutschland, 
so dass sich die Bestrebungen der deutschen Mässigkeitsfreunde 
jetzt vorzugsweise dahin richten: dass der Ausschank alkoholi¬ 
scher Getränke dem Privaterwerb möglichst entzogen und die 
ausschliessliche Berechtigung dazu den Gemeinden oder den 
von den Behörden anerkannten gemeinnützigen Gesellschaften 
übertragen werde. 

Während die Anträge auf Einschränkung der Konzessionen 
für Schankwirtschaften bisher in Deutschland noch lange nicht 
genug Beachtung gefunden haben, sind die Gutachten der 
Mässigkeitsvereine für Entmündigung von Trinkern erfolgreicher 
gewesen. Die Bestimmungen des neuen deutschen bürgerlichen 
Gesetzbuches über die Entmündigung von Trinkern sind von 
grosser Wichtigkeit. Es ist dadurch die Errichtung neuer Trinker¬ 
heilanstalten in erfreulicher Weise gefördert und schon viel Elend 
gelindert oder ganz abgewendet worden. 

Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke hat in den beiden letzten Jahrzehnten ferner durch 
zahlreiche von ihm selbst herausgegebene oder veranlasste 
Schriften sehr verdienstlich gewirkt. Es sind z. B. infolge eines 
im Juni 1897 vom Deutschen Verein erlassenen Preisausschreibens 
vier gediegene Preisschriften erschienen über das Thema: 
„Welche Anforderungen sind an die künftige Einrichtung und 
Verwaltung von Trinkerheilanstalten und Trinkerasylen zu stellen 
und welcher weiteren Massnahmen auf dem Gebiete der Gesetz¬ 
gebung, Verwaltung und Vereinstätigkeit bedarf es zur wirk¬ 
samen Durchführung der Bestimmungen des Bürgerlichen 
Gesetzbuches über die Entmündigung wegen Trunksucht?“ 

Noch wichtiger erscheint uns die Tätigkeit der Mässigkeits¬ 
vereine für Reform der Trinksitten. Es haben sich in den 
letzten 20 Jahren, wie überhaupt auf sozialem Gebiete, so nament¬ 
lich inbetreff der Volksgeselligkeit ganz neue Anschauungen 
und nicht unerhebliche Wandlungen vollzogen, um den Massen 
der Bevölkerung Ersatz für den Alkohol und für rein materielle 
Genüsse durch edlere Erholungen zu verschaffen. Die Arbeit 
der Mässigkeitsfreunde ist auf diesem Gebiete keine vergebliche 


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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. YJ 


gewesen. Die Bewegung gegen die Trunksucht, für welche 
man anfänglich nur Spott hatte, ist in weite Kreise eingedrungen 
und fängt an, populär zu werden. Das Volksgewissen ist 
geschärft worden, so dass man heute einen Trunkenbold viel 
strenger beurteilt und die Trunkneigung viel weniger belächelt 
oder entschuldigt, als vor dem Jahre 1883. 

Wenn auch die durch den Alkohol verschuldete Schwächung 
der deutschen Bevölkerung noch sehr gross ist und namentlich 
das stundenlange Gewohnheitstrinken den Haushalt und das 
Familienleben der weitesten Volkskreise arg schädigt, so hat 
die Vereinstätigkeit im Bunde mit den Bemühungen von Staat, 
Gemeinde, Kirche und Schule doch manche erfreulichen Er¬ 
fahrungen zu verzeichnen und nicht nur einen Umschwung in 
den Anschauungen über die Gefahren des Alkohols bewirkt, 
sondern auch die Sitten und Volkserholungen hier und da 
schon wesentlich veredeln helfen. 

Dieser unleugbare Umschwung ist nicht nur den deutschen 
Mässigkeitsvereinen, sondern in gleichem Masse den Enthalt¬ 
samkeitsvereinen zu verdanken, welche .in der Zeit von 1883 
bis 1903 in allen Kreisen der deutschen Bevölkerung Boden 
gewonnen haben. 

In erster Linie sind die deutschen Guttempler zu 
nennen, welche besonders im letzten Jahrzehnt unter der Führung 
von Ingenieur Asmussen in Hamburg alljährlich an Zahl zuge¬ 
nommen haben und im Jahre 1903 schon über 23 000 Mitglieder 
in Deutschland zählten.*) 

Von der Schweiz aus haben ferner die „Vereine zum 
blauen Kreuz“ auch in Deutschland Eingang gefunden. Das 
„Blaue Kreuz“ ist ein auf religiöser Grundlage stehender 
abstinenter Trinkerrettungsverein, welcher sich zugleich die 
Bekämpfung der tyrannischen Trinksitten mit ihren fürchter¬ 
lichen Folgen zur Aufgabe gemacht hat. Er zählte im Jahre 1902 
etwa 10000 Mitglieder und über 3700 Angehörige. In demselben 

*) Indem wir die Leser dieser Abhandlung auf den in diesem Heft enthaltenen 
Artikel von Ingenieur Asmussen über die Entwickelung des Guttemplerordens in 
Deutschland und auf den Artikel des Herrn Eisenbahndirektor de Terra über den 
r Deutschen Verein abstinentet Eisenbahner“ verweisen, versprechen wir, die Ent¬ 
wickelung der übrigen deutschen Abstinenzvereine in späteren Heften dieser Zeitschrift 
ebenfalls näher darzulegen. — Die Redaktion. 

Die Alkoholfrage. 2 


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Abhandlungen. 


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Jahre 1902 haben sich etwa 1500 Angehörige abgezweigt und 
den „Deutschen Bund evangelisch - kirchlicher Blaue Kreuz- 
Verbände“ gegründet. 

Der hochverdiente erste Vorsitzende des deutschen Zweig¬ 
vereins des Blauen Kreuzes, Oberstleutnant a. D. K. v. Knobels¬ 
dorf, der in Berlin und auf Reisen durch religiöse Vorträge 
weithin wirkte, ist am 24. Januar 1904 gestorben. Neben ihm 
hat bisher Pastor F i s c h e r in Barmen, der sich durch Gründung 
alkoholfreier Erholungsstätten für Arbeiter besondere Verdienste 
erworben hat, dem Verein die meisten Anhänger gewonnen. 

Weiter wirkt in Deutschland noch seit 1889 der Alkohol¬ 
gegnerbund, der sich 1895 mit dem „Internationalen Verein 
zur Bekämpfung des Alkoholgenusses“ verbunden hat und auf 
dem Boden völliger Enthaltsamkeit steht. 

Ferner erwähnen wir unter den für alle Stände und Berufe 
bestimmten deutschen Vereinen den von Fräulein Ottilie Hoff- 
mann am 17. Juli 1900 in Bremen gegründeten „Deutschen 
Bund abstinenter Frauen, welcher die deutsche Frauen¬ 
welt gegen den Alkohol organisieren will und nach dem Vor¬ 
gang von allen 45 vereinigten Staaten von Nordamerika den 
besonders wichtigen Zweck hat, beim naturwissenschaftlichen 
Unterricht in den Staatsschulen auf die Einführung von systema¬ 
tischer Belehrung über die Wirkungen des Alkohols auf den 
menschlichen Organismus hinzuwirken. 

Unter den deutschen Enthaltsamkeitsvereinen für be¬ 
stimmte Stände sind zu erwähnen: a) der „Verein 
abstinenter Aerzte“ des deutschen Sprachgebietes“, der 
jetzt etwa 150 Mitglieder zählt; b) der „Verein abstinenter 
Lehrer, welcher seinen Hauptstützpunkt in Schleswig-Holstein 
und den Lehrer J. Petersen in Kiel zum Vorsitzenden hat; 
c) der von Eisenbahndirektor de Terra begründete „Deutsche 
Verein abstinenter Eisenbahner“; d) der vor etwa 
D/a Jahren begründete „Deutsche Verein abstinenter 
Kaufleute“, welcher seinen Sitz in Hamburg hat und über 
120 deutsche Städte verbreitet ist und seine Grundsätze in den 
„Kaufmännischen Abstinenz-Blättern“ vertritt; e) der „Verein 
abstinenterPastoren“, der sich unter dem Pastor F. Lamp 
in Plön im Jahre 1903 gebildet hat und im Januar 1904 53 Mit¬ 
glieder zählte. Als offizielles Organ dient dieser Vereinigung 


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Böhmert. Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 19 


„Der Abstinent“; f) der „Deutsche Verein abstinenter 
Studenten“, der im Juli 1902 zu Kiel gegründet wurde und 
bestimmt ist, eine Zentralorganisation der seit 1898 an einzelnen 
deutschen Hochschulen bestehenden akademischen Enthaltsam¬ 
keitsvereine zu werden (auf dem Bremer internationalen Kongress 
gegen den Alkoholismus war u. a. der Verein abstinenter 
Studenten in Berlin vertreten); g) Germania, Abstinenten- 
bund an deutschen Schulen, der die abstinenten Schüler¬ 
vereine, welche in verschiedenen deutschen Städten entstanden 
sind, zu einem Bunde zusammenfügen will und zur Zeit etwa 
15 Ortsgruppen gebildet hat; h) der „Deutsche Ar beite r- 
Abstinenten-Bund“ hat sich im April 1908 im Anschluss 
an den Bremer Antialkoholkongress gebildet und in § 2 seiner 
Satzungen als Zweck: „die Bekämpfung des Alkoholgenusses 
und der Trinksitten innerhalb der Arbeiterschaft“ bezeichnet. 
Der Zweck soll erreicht werden: a) durch Aufklärung über 
die hygienischen, sittlichen und sozialen Schäden des Alkohol¬ 
genusses ; b) durch das persönliche Beispiel der Enthaltsamkeit 
von allen alkoholischen Getränken ; c) durch Belehrung der 
Jugend in eigens zu diesem Zwecke gebildeten Jugendabteilungen. 
Als offizielles Organ dient dem Bunde seit dem 1. Sept. 1903 
das neue Blatt „Der abstinente Arbeiter“. — Auf dem Bremer 
internationalen Kongress gegen den Alkoholismus waren bereits 
11 deutsche Arbeiter-Abstinenten-Vereine vertreten aus Altona, 
Arnstadt, Berlin, Bremen, Dresden und Umgegend, Hamburg, 
Kiel, Leipzig, Schleswig, Stettin, Stuttgart und 3 Wiener Arbeiter- 
Abstinenten-Vereine. 

Alle im vorstehenden aufgezählten Enthaltsamkeitsvereine 
gehören zu den eifrigsten Förderern der deutschen Anti-Alkohol- 
Bewegung und sind in der Lage, die Agitation gegen die 
modernen Trink- und Tafelsitten in den verschiedensten Berufs¬ 
und Alterskreisen und namentlich auch in den weniger bemit¬ 
telten Volkskreisen zu verbreiten, an welche die Mässigkeits- 
freunde bisher nur teilweise herankommen konnten. Deutsch¬ 
land besitzt in den Mitgliedern der Enthaltsamkeitsvereine eine 
Phalanx entschlossener Männer und Frauen, welche die not¬ 
wendige Aenderung der Trinksitten vor allem bei sich selbst 
im Bunde mit ihren Standes- und Berufsgenossen durchführen 
und durch den eigenen Wandel ihrer Umgebung ein gutes 

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Abhandlungen. 


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Beispiel geben wollen. — Viele Hunderte von Mitgliedern des 
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
denken und handeln ebenso, und sind durch die Statuten des 
Deutschen Vereins in keiner Weise genötigt, die Enthaltsamkeit 
weniger hoch zu schätzen als die Massigkeit. Die Statuten des. 
Deutschen Vereins und der Bezirksvereine bezeichnen als 
Vereinszweck: „dem Missbrauch geistiger Getränke mit allen 
zu Gebote stehenden Mitteln zu steuern". Unter den „Mitteln 
gegen den Missbrauch“ ist Enthaltsamkeit im allgemeinen gewiss 
ebenso wirksam, wie Massigkeit, und eigene Enthaltsamkeit 
jedenfalls am wirksamsten. 

Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke hat von Anfang an die Enthaltsamkeit nicht weniger 
hoch geschätzt wie die Massigkeit. Der Hauptbegründer August 
Lammers hat auf die im Jahre 1883 in Deutschland gleichzeitig 
auftretenden Guttempler nicht nur zuerst aufmerksam gemacht, 
sondern auch ihr Fortschreiten immer freudig begrüsst. 

Ganz abgesehen von dem Wortlaut der Satzungen hat 
man im Deutschen Verein von Anfang an die Enthaltsamkeit 
ebenso wie die Massigkeit praktisch geübt und befürwortet. 
Erst im letzten Jahrfünft sind nach und nach innerhalb des. 
Ausschusses des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geist. 
Getränke Streitigkeiten über den Mehrwert oder Minderwert 
von Massigkeit oder Enthaltsamkeit aufgetaucht, die man durch 
ein „Entweder — oder!“ und durch Umfragen bei einigen 
deutschen Professoren entscheiden zu können glaubte. Der 
Dresdner Bezirksverein stellte infolgedessen an den Vorstand 
des Hauptvereins das Ersuchen: dass die im Deutschen Verein 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke stark angewachsene 
abstinente Richtung sowohl in den „Mässigkeitsblättern“ des 
Hauptvereins mehr zu Worte kommen als auch durch abstinente 
Mitglieder im Hauptvorstand Sitz und Stimme erlangen möge. 
Der Vorstand des Deutschen Vereins hat in loyalster Weise 
beschlossen, dem Wunsche des Dresdner Bezirksvereins zu 
entsprechen. Der neue Geschäftsführer des Deutschen Vereins, 
Herr J. Gonser, hat sich durch seine persönliche Vermittelung in 
Dresden und Berlin alle selbständig und versöhnlich arbeitenden 
deutschen Bezirksvereine und Vertreterschaften zu besonderem 
Danke verpflichtet. Wir werden nun im Dresdner Bezirksverein 


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Böhmert, Programme u. Ziele dei älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 21 


fortan mit dem deutschen Hauptverein wieder ebenso freudig 
Zusammenarbeiten wie früher und stellen an alle Freunde der 
Massigkeit und Enthaltsamkeit das Ersuchen, bei ihrer Mitarbeit 
an unserer Zeitschrift unnötige Streitigkeiten mit nahe ver¬ 
wandten Richtungen zu vermeiden und immer mehr an die 
Sache als an die Personen zu denken. Die Enthaltsamen haben 
ebensoviel Veranlassung wie die Massigen sich untereinander 
zu vertragen, denn unter den Blaukreuzlern sind schon 
Absonderungen von einander vorgekommen und unter den 
sozialistischen abstinenten Arbeitervereinen ebenfalls. Man sollte 
bei allen rein humanen Bestrebungen von der kirchlichen oder 
politischen Parteistellung lieber absehen und Ansichten über 
die idealste Kirchen- oder Staats- oder Gesellschaftsform lieber 
in kirchlichen, politischen und philosophischen Fachzeitschriften, 
als in antialkoholischen Zeitschriften und Vereinigungen aus- 
tauschen. Wir Freunde der Massigkeit und Enthaltsamkeit 
sind verpflichtet, in unserem schwierigen Kampfe mit Millionen 
Feinden und Interessenten stets mehr die einigenden als die 
trennenden Punkte zu betonen und wohl zuweilen getrennt zu 
marschieren, aber vereint zu schlagen! 


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Abhandlungen. 


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Hnskeln oder Nerven? 

Von Justus Gaule in Zürich. 


Das klingt so ganz physiologisch dieser Titel und er ist 
es doch gar nicht. Die Frage Muskel oder Nerven beschäftigt 
die ganze Menschheit, sie erfüllt die Politik, sie bildet einen 
grossen Teil dessen, was wir die soziale Frage nennen, sie ist 
bestimmend in der Ethik und vielem andern. Doch ich will 
mich näher erklären. Mit Muskeln und mit Nerven hat uns 
die Natur ausgestattet. Beide können wir durch die Uebung 
weiter entwickeln und diese Entwicklung füllt den grössten 
Teil dessen aus, was wir Erziehung nennen. Nach welcher 
Richtung soll nun die Erziehung sich wenden? 

Das ganze Mittelalter ist erfüllt von der Entwicklung der 
Muskelkraft. Unter dem Einfluss jener Tradition stehen wir 
auch heute noch. Sollen wir dabei bleiben? Wir lesen, wie 
die Ritter ein Schwert schwangen, das andere Sterbliche kaum 
zu heben vermochten, wie der gewaltige Lanzenstoss den 
Gegner vom Pferde warf oder wie das Schild von dem Speer 
durchdrungen ward. Die Dichter preisen uns das als die 
höchste Entfaltung der Manneskraft, der Tapferkeit, der Tugend. 
Und wir glauben das. Allmählich aber, wenn wir die Ge¬ 
schichte verfolgen, bemerken wir, wie ein anderes Ideal an die 
Stelle tritt. Die Neuzeit kommt und mit ihr die Schusswaffe, 
die Erfindung des Pulvers, die als entscheidend für die Grenze 
zwischen Mittelalter und Neuzeit angesehen wird. Nicht mehr 
die Körperkraft des Mannes ist es, welche den Gegner tötet, 
sondern die Kraft des Pulvers, welches das Geschoss treibt. 
Die Aufgabe des Schützen besteht darin, die Kugel zu lenken, 
zu zielen. Mit andern Worten sein Auge, sein Gehirn, seine 
Nerven sind an die Stelle seiner Muskeln getreten. Auch der 


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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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Schwächste kann den Stärksten töten, wenn er die ruhigeren, 
sichereren Nerven besitzt. Und immer mehr macht sich diese 
Nervenkraft im Kriege geltend, immer mehr werden die Nerven 
von Hunderten, Tausenden, Millionen Menschen durch ein 
einziges Gehirn zusammengefasst im Kampfe. Das ist modernes 
Heldentum. Nun aber beginnt die Ablösung der Muskeln durch 
die Nerven sich auch im Frieden geltend zu machen. Im Grunde 
ist die Angst vor der Maschine, die in unsern Zeiten die Arbeiter¬ 
kreise bewegt, ja nichts anderes. In alter Zeit da trat die 
Muskelkraft des Ochsen direkt das Weizenkorn aus seiner 
Hülse. Er drosch. Dann trat ein Werkzeug, der Dresch¬ 
flegel an seine Stelle. Aber noch wurde der geschwungen von 
der Muskelkraft des Menschen. Aber dann kam die Dresch¬ 
maschine und machte auch dem ein Ende. So geht es auf 
einem Gebiete nach dem andern. Schon beginnt man unser 
Zeitalter das Maschinenzeitalter zu nennen und viele fürchten, 
den Menschen ganz in den Hintergrund gedrängt zu sehen neben 
der Maschine. Eine Zeit lang dachte man, vor etwas kompli¬ 
zierten, abwechslungsreichen Bewegungen würde die Maschine 
halt machen. Aber es werden immer neue, immer ingeniösere 
Maschinen erfunden. Schon webt der Jacquardstuhl die feinsten 
Muster, schon stickt die Stickmaschine, schon ersetzt das 
Automobil die Pferde. Und es ist kein Wunder. Wo die 
Maschine und der Mensch konkurrieren, muss die Maschine 
siegen. Worin aber konkurrieren sie, was ist ihnen gemeinsam 
in der Leistung ? Das ist die Bewegung, erschwert durch eine 
gewisse Last, das was wir messen durch die Hebung eines 
Gewichts auf eine Höhe. Alle sogenannten mechanischen 
Leistungen lassen sich auf diese Einheit zurückführen, das 
heisst, sie setzen sich zusammen aus Komplikationen dieser 
Einheit. In Bezug auf alles, was aus dieser Einheit sich zu¬ 
sammensetzen lässt, muss die Maschine siegen. Denn sie 
gewinnt die Kraft, welche diese Einheit leistet, durch die Oxy¬ 
dation der Kohle und der Mensch gewinnt sie durch die Oxy¬ 
dation seiner Muskeln. Die Muskeln aber kann der Mensch 
nur aufbauen durch Genuss von Kohlenhydraten, Fetten. und 
Eiweisskörpern. Diese Stoffe aber sind immer teurer als Kohle 
und sie können nicht mehr Kraft leisten als diese. Wie tief 
der Mensch auch seine Lebenshaltung herabdrücken mag, mit 


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Abhandlungen. 


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wie wenig er leben kann, immer bleibt sein Leben teurer als 
die Kohle. Es muss teurer bleiben, gemäss der auf unserer 
Erdoberfläche herrschenden Bedingungen. Selbst wenn ein 
Tier nur Hafer und Heu frisst wie das Pferd, so muss es 
doch dem Automobil weichen, welches Benzin frisst, eine 
Kohlen- und Wasserstoffverbindung. Bei den Lastwagen-Auto¬ 
mobilen kann man nicht sagen, dass das mit Rücksicht auf 
die Schnelligkeit oder die Mode geschieht, es geschieht eben 
mit Rücksicht auf die Billigkeit. 

Ist das nun ein Unglück für die Menschheit? Und gibt 
es keinen Ausweg aus diesem Unglück? Wenn die Muskel¬ 
leistung der Menschen mit Sicherheit ersetzt werden kann 
durch die Kraftleistung der Maschine und wenn diese Kraft¬ 
leistung billiger, das heisst zweckmässiger durch die Oxydation 
der Kohle oder eine andere physikalisch-chemische Kraftquelle 
besorgt werden kann, als durch die Muskeln des Menschen, 
wird da nicht die Majorität der Menschen auf den Aussterbe¬ 
etat gesetzt? Mir scheint es nicht. Es tritt bloss eine Ver¬ 
schiebung in den Leistungen des Menschen ein. Die Muskel¬ 
kraft ist eben nicht die einzige Leistung, deren er fähig ist, er 
besitzt daneben auch die Nerven. Und in der Beziehung kon¬ 
kurriert die Maschine nicht mit ihm, im Gegenteil, sie dient 
ihm. Auf dem Automobil sitzt an der Bremse, an dem Lenk¬ 
apparat der Mensch, welcher die Maschine steuert. Auf dem 
Dampfer, auf dem Eisenbahnzug, die ihre Bewegung den 
Maschinenkräften verdanken, herrscht der Kapitän oder der 
Führer. Mit andern Worten die eigentliche Kraftentwicklung 
überlässt der Mensch den anorganischen Kraftquellen; aber 
seinen Nerven allein ist es Vorbehalten, diese Kräfte zu lenken 
und zur Wirksamkeit zu bringen. Und dann wollen doch alle 
diese Maschinen, welche auf der Oberfläche der Erde arbeiten, 
welche sie, uns dienend, umgestalten, nicht bloss gelenkt, sie 
wollen auch gebaut, geplant, erfunden sein. Aber das kann 
doch bloss das Gut weniger Menschen sein, ein solches Planen 
und Erfinden erfordert doch eine gewisse Bildung. Eine ge¬ 
wisse Bildung erfordert es schon, aber warum sollte diese 
Bildung nur das Gut weniger Menschen sein? Wenn man in 
Amerika durch Fabriken geht und die Menge der arbeitsparen¬ 
den Werkzeugmaschinen da betrachtet, so erhält man in der 



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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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Regel die Auskunft: „die meisten der Verbesserungen an unseren 
Maschinen verdanken wir den Arbeitern, die daran arbeiten“. 
Indem die Arbeiter die Maschinen bedienten, kamen sie also 
auf den Gedanken, wie das, was die Maschine leistet, auf eine 
vorteilhaftere Art aus den Kräften, die die Maschine bewegen, 
gewonnen werden könne. Dazu gehört aber eine gewisse Ein¬ 
sicht in die Natur dieser Kräfte, in das, was dieselben leisten 
können. Was ist das anders, als was wir Bildung nennen? 

Was aber hat nun diese Betrachtung mit der Aufgabe 
dieser Zeitschrift zu tun? 

Vor kurzem wurde ich in einer melancholischen Weise an 
diesen Zusammenhang erinnert. Ein junger Freund von mir, 
Dr. R. Wlassak, besuchte das Gebiet von Mährisch-Ostrau und 
entwarf eine Schilderung von dem dort herrschenden Alko¬ 
holismus. Wlassak sagt in seiner Beschreibung folgendes: An 
der mährisch-schlesischen Grenze, in der Nähe der Orte Mäh¬ 
risch- und Polnisch-Ostrau, Witkowitz und Karwin befinden 
sich ausgedehnte Kohlenlager, die seit langem intensiv ausge¬ 
beutet werden. Neben den Kohlenbergwerken hat sich eine 
grossartige Eisenindustrie entwickelt, die besonders in Witko¬ 
witz ausgedehnte Anlagen aufzuweisen hat. Das ganze Gebiet 
bildet heute eines der grössten Industriezentren Oesterreichs. 
Nach einigen Bemerkungen über die sozialpolitischen Zustände 
dieses Gebietes fährt Wlassak fort: Dass die Lebenshaltung 
der Arbeiter dieses Gebietes eine äusserst tiefe und traurige 
ist, kann nicht Wunder nehmen. Wie tief sie ist, erhellt am 
besten aus der Tatsache, dass einzelne Unternehmer sich gegen 
eine amtliche Erhebung, die sich auf die gesamten Lebensver¬ 
hältnisse der Arbeiter beziehen sollte, auf das äusserste wehrten. 
In allen Schilderungen der Ostrauer Verhältnisse nehmen die 
Klagen über den Alkoholismus der Arbeiter einen breiten 
Raum ein. Von allen Seiten wird zugestanden, dass der Alko¬ 
holismus hier wie eine Seuche wütet. Nun geht Wlassak nach 
Mährisch-Ostrau, um diesen Alkoholismus zu studieren. Hören 
wir, was er von dort berichtet. „An einem Wochentage des 
Monat Februar kam ich in Mährisch-Ostrau an. Das äussere 
Bild, das die Stadt besonders in ihren äusseren Teilen dar¬ 
bietet, ist das typische eines wachsenden Industrieortes. Zur 
Arbeitszeit sind die Strassen wenig belebt. Die Leute, denen 


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Abhandlungen. 


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man begegnet, sind städtisch gekleidet. Neben Gebäuden, die 
mit einem gewissen provinzialen Prunk ausgestattet sind, stehen 
alte, schmutzige Häuser. Die Schaufenster der Kaufläden zeigen 
in bunter Mannigfaltigkeit, meist ohne alle Spezialisierung, die 
Dinge des einfachen Lebensbedarfs. Doch fällt eines sofort 
auf: in den Fenstern fast keines Kaufladens fehlt der Genius 
loci, eine Kollektion von Schnapsflaschen zum Teil in den 
absonderlichsten Formen. Eigentliche Schenken bemerkt man 
in den neueren Strassen nur wenige. In der inneren Stadt, 
besonders unter den Lauben, ist dies anders. Hier reiht sich 
dichtgedrängt Schenke an Schenke. Tagsüber stehen sie fast 
leer und selbst an dem Abend eines Wochentags sind sie für 
gewöhnlich nur spärlich besucht. Schon könnte man glauben, 
dass es eine Uebertreibung ist, wenn man diese Gegend als 
einen Herd des schwersten Alkoholismus bezeichnet. Der Abend 
eines Auszahlungstages der Bergarbeiter belehrt bald eines 
anderen. Stellt man sich in der Nähe eines Schachtes auf, so 
sieht man folgendes: Scharenweise begeben sich die entlohnten 
Bergarbeiter, häufig von ihren Frauen und Kindern, die sie 
erwartet haben, begleitet in die umliegenden Schenken, die 
plötzlich ganz gefüllt sind. Hier entwickelt sich nun ein leb¬ 
haftes, aber eigentlich nicht lärmendes Treiben. Die Leute 
sitzen plaudernd bei einander, die 1 / 8 oder 1 j i Liter-Flasche mit 
Schnaps vor sich. Ehepaare sitzen vor einer gemeinsamen 
Flasche, die dann freilich auch öfters neu gefüllt wird. Die 
Frauen trinken aber immerhin merklich weniger als die Männer. 
Eine kleine Minderzahl, höchstens 1 / 10 der Anwesenden, trinkt 
Bier. Doch ist dies oft mit Schnaps gemischt. Man kann es 
häufig sehen, dass in ein grosses Glas Bier ein bis zwei Gläs¬ 
chen Rum hineingegossen werden. Wie gewöhnlich dies ist, 
erhellt daraus, dass die Sprache der Schenke einen eigenen 
Namen für dieses Gemisch hat, es heisst dies „Bier mit Speck“. 
Besonders jüngere Bergleute, die überaus zahlreich unter den 
Gästen vertreten sind, scheinen dieses Getränk zu lieben. 
Gegessen wird bei dieser Gelegenheit in den Schenken so gut 
wie niemals etwas. Es handelt sich also lediglich um die Be¬ 
friedigung des Bedürfnisses nach Alkohol, um die selbstver¬ 
ständliche Gewohnheit, wenn die vorhandenen Mittel es erlauben, 
nach dem Verlassen der Arbeit oder auch zu Beginn derselben 



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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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Schnaps zu trinken. Man kann auch nicht sagen, dass es der 
Wunsch nach Geselligkeit ist, der in diesem Fall die Leute in 
die Schenke treibt, denn sie verweilen hier nur ganz kurze 
Zeit, die Schenken sind bald wieder nur spärlich besucht. 

Nicht nur die Schenken aber haben sich nach der Lohn¬ 
zahlung gefüllt, nicht weniger Zuspruch finden die Buden der 
„Gemischtwarenhändler“, die in der Nähe der Schachte liegen. 
Hier darf nach dem Buchstaben des Gesetzes freilich kein 
Schnaps getrunken werden. Dagegen ist der Verkauf in „ver¬ 
schlossenen“ Flaschen jedem Kaufmann freigestellt, es bedarf 
hierzu keiner Konzession. Ist der Kaufmann nun besonders 
gewissenhaft oder ist er eben mit der so und so vielten Ordnungs¬ 
strafe wegen unbefugten Ausschanks belegt worden, so muss 
der Käufer mit der Schnapsflasche vor die Tür. Rasch ist der 
Verschluss der Flasche — eine Papiermarke — entfernt, mit 
der einen Hand hält er noch die Türklinke des Ladens, mit 
der andern führt er die Flasche an den Mund. Ohne abzu¬ 
setzen wird der Inhalt hinuntergegossen, die Tür geöffnet und 
eine neue Flasche geholt. Das Bild ist bedeutsam, durch nichts 
verhüllt macht sich hier der Trieb nach Betäubung geltend. 

Sehr interessant ist das Bild des Sonntag vormittags. 
Die Stadt ist da gefüllt mit Leuten aus der Umgebung, die 
ihre Einkäufe besorgen, die Schenken und zum Teil auch die 
Kirche besuchen. Besonders traurig mutet es an, in den Kauf¬ 
läden zu sehen, wie die Arbeiterfrauen, die ihren Wochen¬ 
bedarf an Lebensmitteln holen, auch beträchtliche Mengen von 
Schnaps mitnehmen. Auch junge Burschen trifft man in den 
Läden, die sich irgend eine besondere Schnapssorte — sehr 
beliebt scheint die Marke „Kaiserbirnschnaps“ zu sein — in 
einer grösseren Menge kaufen. Auch die völlig besetzten 
Kneipen sind zum grössten Teil mit jüngeren Leuten gefüllt. 
Nicht selten sieht man junge Burschen, die einen Einkauf be¬ 
sorgt, z. B. ein Paar armselige baumwollene Kleidungsstücke 
gekauft haben, in die Kneipe wandern und dort mit dem Paket 
unter dem Arm schliesslich auf einer Bank volltrunken einschlafen. 

Mit dieser Skizzierung der Trinksitten der Schenke und 
der Strasse ist aber das Bild der Alkoholisierung der Arbeiter 
von Ostrau nicht erschöpft. Kaum weniger wichtig ist die 
Gewohnheit, während der Arbeit und im Hause Alkohol zu 


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Abhandlungen. 


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konsumieren. Ein Gang durch die Schenken an einem Samstag 
nachmittag oder an einem Sonntag belehrt darüber, wie viel 
Schnaps nach Hause geholt wird. Ueberall trifft man Frauen, 
Kinder oder junge „Schlepper", die den Familienbedarf ein¬ 
kaufen. Wie tief gewurzelt die häusliche Gewohnheit, Schnaps 
zu trinken, ist, ersieht man am besten daraus, dass viele 
Arbeiterfamilien bei dem Kaufmann, bei dem sie ihre Lebens¬ 
mittel einkaufen, zwei „Bücher“ haben, in welchem die auf Kredit 
genommenen Waren eingetragen werden, eines für die eigent¬ 
lichen Lebensmittel, ein zweites hauptsächlich von dem Mann 
benutztes für den Schnaps. Mit Schnaps wird denn auch der 
Tag begonnen. Das gewöhnliche Frühstück der Ostrauer 
Arbeiter ist nämlich mit „Kvit“ (ein Teil 96proz. Alkohol und 
zwei Teile Wasser) versetzter schwarzer Kaffee. Auch die 
Frauen und Kinder geniessen das. Ein Ostrauer Arzt teilte 
mir mit, dass ein Lehrer in Lassy — ein kleiner Ort in der 
Nähe von Ostrau in Schlesien — die Kinder seiner Klasse 
befragte, was sie zum Frühstück bekämen. Von den 80 Kindern 
bekamen nur zwei Milchkaffee, alle andern mit Rum oder 
„Kvit“ versetzten Kaffee oder „Tee“. 

Welche Folgen, fragt Wlassak weiterhin, hat diese furcht¬ 
bare Alkoholisierung der Ostrauer Bevölkerung? Die erste und 
wichtigste ist wohl die, dass im Laufe der Jahre eine ungeheuere 
Zahl von Menschen im engeren Sinne des Wortes trunksüchtig 
werden. Zahlenmässige Angaben können (aus später von Wlassak, 
nicht von mir, zu erwähnenden Gründen) nicht gemacht werden. 
Aber eine Reihe von Tatsachen spricht schon ohne dies eine 
beredte Sprache. Ein sehr erfahrener alter Arzt mit grosser 
Praxis in der Arbeiterschaft erzählte Wlassak, dass es der ge¬ 
wöhnliche Gang der Dinge ist, dass die Leute, je länger sie den 
Ostrauer Trinksitten ausgesetzt sind, desto mehr und mehr 
einen Genuss kennen: die Alkoholisierung. Derselbe Arzt 
erzählte eine kleine Episode, die das gut kennzeichnet. 
Eine Arbeiterfrau in der Nähe von Ostrau, war in die Stadt 
gegangen, um ihren Wochenvorrat an Lebensmitteln einzu¬ 
kaufen, wie dies dort üblich ist. Absichtlich oder unabsichtlich 
hatte sie es aber unterlassen, die Schnapsration für den Mann 
mitzubringen. Als sie ohne diese nach Hause kam, geriet der 
Mann in so sinnlose Wut, dass er der Frau die Lebensmittel, 



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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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für die viele Kronen (angeblich 32) ausgelegt waren, entriss 
und sie sämtlich auf die Strasse schüttete. Man würde aber 
fehlgehen, wenn man meinte, dass nur ältere Leute in diesem 
Grade „süchtig“ werden. In verschiedenen Schenken wurden 
noch jugendliche Stammgäste gezeigt, die Tag für Tag ihre 
4—6 Seidel d. h. 1,4 bis 2,1 Liter Schnaps in der Kneipe 
trinken. Es kann da nicht Wunder nehmen, wenn man hört, 
dass im Falle von Geldmangel das Trinkfen von denaturiertem 
Spiritus, der mit etwas Zucker vermengt wird, durchaus keine 
Seltenheit ist. Das allerschlimmste ist aber, dass nicht selten 
ganze Familien völlig der Trunksucht anheimfallen. In Gemein¬ 
schaft mit dem Gemeindearzt besuchte Wlassak in Elgosch — 
dem kleinen Ort in der Nähe von Ostrau — ein Haus, das aus¬ 
schliesslich von Bergarbeitern bewohnt wird. Der Arzt wollte 
dort einen Patienten, den er an einem Anfall von Delirium 
tremens behandelt hatte, besuchen. Die Szene, die die Wohnung 
dieses Mannes darbot, war das schlimmste, was Wlassak von der 
vernichtenden Wirkung des Alkohols gesehen hatte. In einer 
Umgebung von nicht nur grenzenlos ärmlichem, sondern auch 
grenzenlos vernachlässigtem Hausrat tanzten um den Arzt und 
Wlassak, schwer betrunken, schreiend und gestikulierend fünf oder 
sechs Personen: Mann, Frau und Kinder. Wlassak bemühte sich 
mit Hilfe seines Führers herauszubekommen, wie viel Insassen 
diese Wohnung habe. Es war unmöglich, eine vernünftige Ant¬ 
wort zu bekommen. Beim Verlassen des Hauses stellte er an 
den Arzt die Frage, wie viele von den 20 Familien des Hauses 
er wohl für trunksüchtig halte. Ohne Zögern antwortete er: 
„Etwa 18“. 

Genug von diesem Nachtbild. Wlassak erzählt noch vieles, 
was es vervollständigt, aber ich will ihn ja nicht abschreiben. 
Und die Vorstellung von dem unglücklichen Zustand, in dem 
diese Gruppe von Menschen lebt, kann nicht mehr gesteigert 
werden. In meinen Nerven wenigstens hat diese letzte Szene, 
die er erzählt, lange nachgezittert. 

Wenn wir uns nun als Menschenfreunde der Frage zu¬ 
wenden, „was tun, um diesem Unglück zu helfen, um diesen 
Zustand zu verbessern“ so ist die erste Bedingung der Lösung 
die Erkenntnis, was hier eigentlich vorliegt. Mir wenigstens 
als Vertreter der Wissenschaft ist eine causale Heilung des 


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Abhandlungen. 


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Uebelstandes immer als die einzige wirkliche erschienen. Was 
also liegt vor, frage ich. Nun die Schäden, die der Dämon 
Alkohol anrichtet, scheint die nur zu klar liegende Antwort. 
Gewiss der Dämon Alkohol ist das Mittel, durch das die Schäden 
angerichtet werden, darüber kann kein Zweifel sein. Die Zer¬ 
rüttung der Gesundheit und der Vermögensverhältnisse der 
Arbeiter, das Elend der Familien, der Stumpfsinn, die Vertierung 
der heranwachsenden Jugend, das fühlt sich nur zu zweifellos auf 
den Alkohol zurück. Aber ist der Alkohol nicht blos das Mittel, 
sondern in letzter Instanz auch die Ursache dieses Unglücks? 
Das ist nicht so sicher, wenn man es wissenschaftlich betrachtet. 
Die Form, in der der Alkohol der Ostrauer Arbeiterschaft dar¬ 
geboten wird, ist nicht eine besonders verführerische. Alkohol 
und Menschen sind doch überall dieselben. Wenn nicht die 
Form in Ostrau eine besondere ist, warum ist denn das Schicksal 
der Ostrauer Arbeiterschaft nicht ein ganz verbreitetes ? Es ist 
auch ein verbreitetes, wird man sagen, überall in der Welt findet 
man Trinker und Elend, das die Trunksucht veranlasst. Ja 
überall in der Welt findet man Menschen, die eine gewisse 
Schwäche gegenüber dem Alkohol haben, es steckt eben von 
diesem Teufel, der im Alkohol sitzt, auch etwas in dem Menschen 
drin, und die beiden wollen Zusammenkommen. Aber überall 
in der Welt ist es doch nur ein kleiner Bruchteil der Mensch¬ 
heit, der diese Schwäche hat, die anderen Menschen wider¬ 
stehen ihr und erhalten sich und ihren Kindern das Lebensglück. 
Warum nicht in Ostrau? Sind da die Menschen anders organisiert? 
Das müsste man denn doch untersuchen. Ja das sind die be¬ 
sonderen Lebensverhältnisse, die dort herrschen, höre ich sagen. 
Ja da müssen wir eben herausbringen, was an diesen Lebens¬ 
verhältnissen besonderes ist. Wenn wir das nicht können, wenn 
wir bei einer grossen Gruppe von Menschen, bei der die indi¬ 
viduellen Organisationen sich ihrer Verschiedenheit nach aus- 
gleichen, die sozial, klimatisch, zeitlich in denselben Bedingungen 
leben, die eine ganz gleichartige Beschäftigung haben, wenn 
wir da die Besonderheit, das Wesentliche der Lebensverhältnisse 
nicht ergründen können, dann müssen wir es überhaupt auf¬ 
geben, Sozialreformer spielen zu wollen. 

Was ist nun die Beschäftigung dieser Bergwerksarbeiter? 
Ja sie hacken und picken von den Wänden der Gänge im 



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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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Bergwerke die Steinkohle los, sie schaufeln dieselbe auf Karren 
zusammen und sie rollen die Karren bis zum Förderschacht 
hin. Eine rein muskulöse, mechanische Arbeit ist das, man 
kann sie einfach in Gestalt von so viel Kilogrammmetern oder 
Kalorien, die pro Tag geleistet werden, ausdrücken. Und was 
ist ihre Lebensführung? In den Zwischenräumen der Arbeit 
suchen sie diejenige Menge von Kohlenhydraten, Eiweisskörpern 
und Fetten zu geniessen, die an Geldwert am billigsten ist und 
die sie in Muskelsubstanz umwandeln können. Die Erholung 
und der Schlaf gibt ihnen dann die Zeit, in der diese Um¬ 
wandlung der aufgenommenen Nahrung in Material, das zur 
Arbeit bereit ist, geschieht. In Wirklichkeit haben wir hier 
nichts vor uns als Maschinen einer besonderen Art, die die in 
den Nahrungsmitteln vorhandenen Kräfte in Arbeit umzusetzen 
gestatten. Und was suchen diese Menschen in dem Alkohol? 
Betäubung suchen sie. Wlassak spricht es aus und es kann 
auch kein Zweifel darüber sein, nach dem Gesehenen, das 
er schildert. Sie suchen in dem Alkohol keinen Genuss, denn 
sie trinken sogar denaturierten Spiritus, sie suchen keine Ge¬ 
selligkeit, denn sie verlassen die Kneipe alsbald wieder. Sie 
wählen das Getränk, den Weg, der am schnellsten zur Be¬ 
trunkenheit, zur Betäubung führt. Denn sie wollen vergessen, 
dass sie Menschen sind. Dass sie Menschen sind, und auch 
ein Gehirn haben, ist ihnen nur eine Qual. Zu ihrer Arbeit, 
zur Umsetzung der Nahrung in Muskelarbeit brauchen sie das 
Gehirn nicht. Und das Gehirn hat einige unangenehme Eigen¬ 
schaften. Zu denen gehört die, • wenn auch noch so unvoll¬ 
kommene Voraussicht der Zukunft, die es enthüllt. Dass das 
Morgen, das Uebermorgen schlechter sein könne wie das Heute, 
dass die Kraft d. h. die Fähigkeit der Umsetzung der Nahrungs¬ 
mittel in Muskelarbeit mit dem Alter abnehme, muss vergessen 
werden; dass die Eigenschaft der Menschen, andere Menschen 
zu erzeugen ihn in Beziehung bringe zu einer Frau, zu Kindern, 
zu einer Familie muss vergessen werden. Und damit stimmt auch 
was Wlassak erzählt, vom Verhältnis der Arbeiterschaft zu den 
Unternehmern in diesem Revier. Explosionsartig, sagt er, 
entlade sich von Zeit zu Zeit, der angesammelte Groll in un¬ 
genügend vorbereiteten und organisierten Arbeitseinstellungen. 
Das Gehirn mit seiner Voraussicht hat eben mit diesen Arbeits- 


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Abhandlungen. 


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einstellungen wenig zu tun. Desto mehr die blosse Entfaltung 
der Muskelkraft in den begleitenden Ruhestörungen. Ob man 
die Spannkräfte der Nahrungsmittel im Abhacken von Stein¬ 
kohle oder im Totschlägen von Nebenmenschen verbraucht, 
bleibt sich, wenn das Gehirn ausser Spiel bleibt, schliesslich 
gleich. Und auf der anderen Seite wird auch der Unternehmer¬ 
standpunkt, wenn auch nicht sympathisch, so doch begreiflich. 
Ihm sind die Leistungen der Arbeiterschaft nur mechanische 
Leistungen. Wer wird es ihm verdenken, wenn er sich die 
am billigsten arbeitenden Maschinen verschafft ? Die Konkurrenz 
nötigt ihn ja dazu. Wenn sie es heute noch nicht tut, wird 
sie es morgen tun. Und wie die Maschine die Spannkräfte der 
Kohle durch Oxydation gewinnt, so der Arbeiter die der Kohlen¬ 
hydrate, Eiweisskörper und Fette — nichts weiter. 

Aber muss es dabei bleiben? Muss der Arbeiter auf dem 
Standpunkt eines blossen Muskeltiers stehen bleiben? Das ist 
die Frage, die allein eine Besserung in Aussicht stellt. Der 
Alkohol ist es, welcher den verderblichen Circulus vitiosus 
bedingt, denn er tötet gerade die Kraft ab, welche den Arbeiter 
über diesen Standpunkt erheben könnte, die des Gehirns. 
Wlassak zitiert ein Wort des früheren sozialdemokratischen 
Abgeordneten für Ostrau E. Berner. Derselbe erzählt in einer 
Artikelserie über die Witkowitzer Verhältnisse im „Metall¬ 
arbeiter“ von den Arbeitern der Kupferwerke: „Um die Arbeiter¬ 
bewegung kümmern sie sich nicht, das einzige Schlagwort, das 
sie kennen, ist: nach der Schicht einen „Bittern“. Die Arbeiter¬ 
bewegung, das ist der Kampf, den der Arbeiter führt, um mehr 
Lohn, um mehr von dem Schönen, das das Leben darbietet, 
der Kampf, den das Hirn führt, um die Erhebung über den 
Standpunkt des blossen Muskeltiers. Wie diese Sehnsucht 
nach dieser Erhebung auch in dem Ostrauer Arbeiter ursprünglich 
steckt, und wie sie allmählich verloren geht, lehrt auch die Er¬ 
zählung, die ein sehr erfahrener, alter Arzt Wlassak machte: 
„Wenn die jungen Burschen von ihrem Dorle nach Ostrau 
kommen, aus Verhältnissen, denen gegenüber diese „Stadt“ 
etwas höchst anziehendes ist, erwächst zunächst der Wunsch 
nach allerhand herrlichen Genüssen und Dingen, vor allem 
natürlich nach besserer Kleidung. Je älter die Leute werden, 
desto mehr geht dies verloren, sie vernachlässigen ihr Aeusseres, 



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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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sie kennen nur noch eines, die sinnlose Gier und Sucht nach 
Alkohol. 

Mit wem führt nun der Arbeiter diesen Kampf um mehr 
Lohn ? Mit dem Unternehmer. Schritt für Schritt zeigt uns die 
Geschichte der Arbeiterbewegung, wie dabei der Arbeiter Vorteil 
um Vorteil errang, wie er mehr und mehr von den Gütern 
des Lebens erstritt. Oder handelt es sich dabei bloss um eine 
andere Bewertung der Muskelarbeit, den Ertrag der Kalorien, 
die der Arbeiter leistete und die vorher in die Tasche des 
Unternehmers floss und jetzt diesem entrissen wird? Handelt 
es sich nicht auch um einen Kampf der Arbeiter mit sich selbst, 
um einen Kampf des Gehirns mit den Muskeln? Um das zu 
verstehen, müssen wir uns einmal auf die andere Seite der 
Welt begeben, nach Amerika. Schon längere Zeit ist die 
amerikanische Konkurrenz dem europäischen Fabrikanten lästig. 
Zuerst handelte es sich nur um den Export nach Amerika, bei 
dem der Wettbewerb mit dem Amerikaner eintrat. In diesem 
Wettbewerb waren Wind und Sonne nicht auf beiden Seiten 
gleich verteilt. Hohe Schutzzölle schützten den Amerikaner 
und machten es unmöglich, europäische und amerikanische 
Arbeit mit dem gleichen Massstab zu messen. In neuester Zeit 
aber droht sich die Richtung des Verkehrs umzukehren. Der 
Amerikaner beginnt nach Europa zu exportieren und der euro¬ 
päische Fabrikant fürchtet den Wettbewerb in seinem eigenen 
Lande, er versucht Zollschranken aufzurichten, die ihn schützen, 
statt solche, die ihm schaden, einzureissen. Das mag gehen für 
ein paar Artikel, die Amerika unter besonders günstigen Be¬ 
dingungen hervorbringt, so tröstete man sich. Da dröhnte wie 
ein Paukenschlag ein Ereignis in die Ohren, das die Ein¬ 
leitung einer neuen Epoche in dem industriellem Wettbewerb 
der alten und neuen Welt bildet. Die englische Regierung 
schloss bezüglich des Baues einer Brücke mit amerikanischen 
Fabrikanten statt mit englischen den Kontrakt ab. Das Roh¬ 
material einer solchen Brücke ist Eisen und England galt seither 
für das Land, in dem Eisen am billigsten hervorgebracht werden 
könnte. Aber das Rohmaterial spielt in dem Preise einer 
Brücke die geringste Rolle. Es ist die Verarbeitung, der Lohn 
der Werkleute, welche das Eisen bearbeiten, die den Preis be¬ 
dingen. Und hier an der gleichen Aufgabe, nicht geschützt 

Alkoholfrage. 3 


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Abhandlungen. 


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durch einen Zoll, schlägt der amerikanische Arbeiter den eng¬ 
lischen Arbeiter, der in Bezug auf die Bearbeitung des Eisens 
als der erfahrenste und geschulteste in der alten Welt gelten 
kann. Nicht dass der Lohn des amerikanischen Arbeiters 
geringer ist als der des englischen. Jede Einsichtnahme der 
tatsächlichen Verhältnisse besagt uns das Gegenteil. Aber 
für denselben Lohn muss bei dem Bau einer Brücke ein 
Amerikaner mehr Arbeit verrichten als ein Engländer. Woher 
kommt das? Es muss eine andere Arbeit sein, eine andere Ver¬ 
wendung seiner Zeit und Leistungen. Als man zuerst in Europa 
hörte, dass in Amerika ein Mann zwölf Webstühle bediene, wollte 
man das nicht glauben. Welcher Abstand gegen den alten Hand¬ 
webstuhl! Schritt für Schritt hat die Maschine dem Menschen die 
beim Weben notwendigen Bewegungen abgenommen und zuletzt 
ist der Mensch ganz entbunden von der mechanischen Leistung 
beim Weben, nur noch sein Nervensystem wird gebraucht, 
um das Weben zu überwachen. Das ist die Charakteristik 
des amerikanischen Arbeiters, er ist ein Nervenmensch ge¬ 
worden. Nicht mehr seine Muskeln rivalisieren mit der Maschine 
um die Kraftleistungen, nein er beherrscht die Maschine und 
er verbessert sie, damit sie ihm rascher diene. Jetzt ist der 
Moment gekommen, wo die beiden Typen „der Muskel- und 
der Nervenmensch“ sich miteinander .messen. Schon zeigt 
sich, wie die Wagschale sich zu Gunsten der Nervenmenschen 
neigt, und sie muss es immer mehr, je mehr sich unsere Ein¬ 
sicht in die Kraftquellen vertieft. In dem Masse als -dies ge¬ 
schieht, wird es dem Nervenmenschen gelingen für immer neue 
Kraftleistungen Maschinen zu erfinden und diese Maschinen 
müssen immer billiger arbeiten als Menschen. 

Wie aber ist der amerikanische Arbeiter ein solcher 
Nervenmensch geworden? Die Engländer haben eine Kommission 
nach Amerika geschickt, um das zu erforschen und dieselbe 
kam zu dem Schlüsse, der amerikanische Arbeiter wohnt besser, 
kleidet sich besser, nährt sich besser wie der englische. Das 
meint, er schätzt Genüsse, die das Nervensystem gewährt, 
höher als der englische. Denn schöne Wohnung, gute Kleidung 
und eine Ernährung, die über die Zufuhr eines gewissen Kost- 
masses hinausgeht, sind Genüsse des Nervensystems und sie 
bedeuten, dass dieses Nervensystem anspruchsvoller als das 



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Gaule, Muskeln oder Nerven. 


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des englischen Arbeiters ist. Sie bedeuten aber auch, dass 
dasselbe vor Schädlichkeiten bewahrt wird. Die Temperenz- 
vereine in Amerika weisen nicht mit Unrecht auf die alkohol¬ 
freie Luft des Lebens in Amerika hin, um den Erfolg des 
amerikanischen Arbeiters zu erklären. Von jenen Unglücklichen 
in Mährisch-Ostrau, die nur ein einziges Schlagwort kennen, 
nämlich nach der Arbeit einen „Bittern“ zu geniessen, zu den 
Arbeitern Amerikas, denen gegenüber die Trinksitten und die 
alkoholischen Getränke fast verschwunden sind, ist ein weiter 
Schritt. Dort bringt der Arbeiter nur Muskelleistungen hervor, 
hier nur Nervenleistungen. Dort ist die Lebenshaltung des 
Arbeiters auf das kümmerlichste herabgedrückt, denn seine 
Leistung rivalisiert mit der der Maschine. Hier ist die Lebens¬ 
haltung relativ üppig. Und doch sind die Lohnkämpfe in 
Amerika nicht heftiger als in der alten Welt, trotzdem werden 
die Unternehmer in der neuen Welt nicht ärmer wie in der 
alten. Sie können eben dem Arbeiter mehr geben, weil er 
ihnen mehr zurückgibt. Die Nervenarbeit der Arbeiter ist eben 
viel lukrativer, als die Muskelarbeit, ein Gehirn kann die Kräfte 
von vielen Maschinen lenken, kann sich mechanische Leistung 
in fast unbegrenztem Masse untertan machen. 

Soll es daher auf der Basis der seitherigen Leistung zu 
einer Rivalität zwischen alter und neuer Welt kommen, so wird 
die alte Welt unterliegen müssen. Und sie ist doch schon mit 
solchen Industriebezirken wie Mährisch - Ostrau unglücklich 
genug. Von da bis zu den fortgeschrittensten Bezirken ist 
ein weiter Schritt, aber überall spielt die Grundlage der Muskel¬ 
arbeit auch eine grosse Rolle, überall ist es noch ein Abstand, 
der uns von dem Uebergange zur Nervenarbeit trennt. Wie 
sollen wir den überwinden? Vor allem durch Bekämpfung 
dessen, was das Nervensystem zu jeder weiteren Entwicklung 
unfähig macht, des Alkoholismus. Mich dünkt, dass in der 
Beziehung etwas mehr geschehen sollte, als geschieht. Woher 
sollen denn die Unglücklichen in Mährisch-Ostrau wissen, was 
sie eigentlich tun? Wo erfahren sie etwas über ihr indivi¬ 
duelles Schicksal nicht nur, nein auch über die Rolle, die 
diese Betäubung durch Alkohol in der Welt spielt? Die 
amerikanischen Mässigkeitsvereine rühmen sich nicht mit Un¬ 
recht, dass die alkoholfreie Atmosphäre ihres Landes, ein Produkt 

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Abhandlungen. 


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des Unterrichtes sei, der über die Wirkungen des Alkohols, 
schon in den Schulen erteilt wird. Was eigentlich mit dem 
eigenen Körper geschieht, wenn in denselben Alkohol einge¬ 
führt wird, sollte das Kind erfahren, so gut wie es etwas über 
die Wirkung eines Blitzschlages oder eines Eisenbahnunglückes 
erfährt. Die Amerikaner aber haben durch Einführung des 
Schulunterrichtes über den Alkohol, vielleicht ohne es zu wollen, 
ihrem Lande noch einen grösseren Dienst geleistet, als sie 
dachten. Man kann einen solchen Unterricht nicht erteilen 
ohne den Schüler mit den Grundzügen der Physiologie be¬ 
kannt zu machen. Und diese Grundzüge kann man wieder 
nicht erklären, ohne eine Vorstellung davon zu geben, dass 
das menschliche Leben auch bestimmten Gesetzen gehorcht 
und dass es eingepasst ist durch diese Gesetze in den Rahmen 
der gesamten Natur. Jene Einsicht, die dem Amerikaner 
eigentümlich ist, in die Causalität der ihn umgebenden Welt, 
jene Fähigkeit, die er hat, in diese Welt einzugreifen, von der 
Ursache auf die Wirkung übergehend, sie ist zum Teil eine 
Folge des Unterrichtes, den er in frühester Jugend genoss. 
Und wenn er ihn selber nicht hatte, so ergänzt die Umgebung,, 
der Ton, auf den jede Unterhaltung mit seinen Mitmenschen 
gestimmt ist, seinen Vorstellungskreis. Mit anderen Worten 
der Uebergang vom Muskelmenschen zum Nervenmenschen 
beginnt in frühester Jugend mit dem Unterricht. Und wenn 
Wlassak verzweifelt fragt, was gibt es für eine Hülfe gegen¬ 
über Missständen wie in Ostrau, so möchte ich antworten, die 
Hülfe muss und kann beginnen beim Unterricht. Der Fall 
von Mährisch-Ostrau ist krass, aber im Grunde genommen ist 
unsere ganze alte Kultur bedroht, wenn wir nicht schon im 
Unterricht einen ganz anderen Einblick in die Causalität ge¬ 
winnen, die die Welt wie unser eigenes Leben beherrscht. 

Die Arbeiter, wir alle müssen den Uebergang gewinnen, 
vom Muskel- zum Nervenmenschen. Und um dies zu erreichen, 
müssen wir uns ein Ziel stecken. Nämlich wir müssen erstreben, 
dass der Unterricht in den Volksschulen erweitert wird, durch 
ein Kapitel, in dem von den Kräften des menschlichen Organis¬ 
mus, von den Gefahren, die ihn bedrohen, von den Möglich¬ 
keiten, die das Leben darbietet, der Lehrer in sachverständiger 
Weise spricht. 


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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 37 


Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und 

der Alkohol. 

Von Dr. med. Meinert in Dresden. 


Auf der Königl. Sächsischen schmalspurigen Eisenbahnlinie 
Wilkau-Carlsfeld-Wilschhaus entgleiste am 16. August 1903, 
abends gegen 3 / 4 10, der nur während des Sommers an Sonn- 
und Festtagen von Schönheide nach Kirchberg verkehrende 
Personenzug No. 3153, bestehend aus Lokomotive und 14 Wagen, 
auf Bärenwalder Flur kurz nach der Abfahrt von Rothenkirchen. 
Nur die beiden letzten Wagen (ein Personen- und der Zug¬ 
führerwagen) blieben unbeschädigt auf dem Gleise stehen. Die 
übrigen stürzten einen mehrere Meter hohen Damm hinab. Die 
Lokomotive riss sich los und stürzte, nachdem sie noch ein 
Stück von etwa 15 Metern neben den Schienen hingerutscht 
war, ebenfalls die Böschung hinunter, wobei sie sich überschlug. 
Das in Kürze der Hergang des Unglückes, bei welchem drei 
Personen ihr Leben einbüssten und über 100 mehr oder weniger 
schwer verletzt wurden. 

Unter den leicht Verletzten befand sich auch Lokomotiv¬ 
führer Lohse, welcher beschuldigt wurde, durch übermässig 
schnelles Fahren das Unglück herbei geführt zu haben. Die 
Haupt Verhandlung gegen ihn fand statt am 24. und 25. Februar 
1904 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Zwickau. 
Ihr bis zur Beendigung der Zeugenaussagen beigewohnt zu haben, 
bereue ich um so weniger als der durch die letzteren so gut 
wie erwiesene Zusammenhang der Katastrophe mit dem in den 
Stunden vorher von Lohse konsumierten Alkohol durch die 
Tagespresse nur eine oberflächliche Würdigung erfuhr. 


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Abhandlungen. 


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Die Voruntersuchung hatte ergeben, dass Lohse am Un¬ 
glückstage zunächst von Kirchberg nach Rothenkirchen ge¬ 
fahren war, wo er in der Heberlein'sehen Restauration mit dem 
Schaffner Pampel und dem Arbeiter Unger sich unter die „Ge¬ 
mütlichen“ (ein Gesangverein aus Planitz) mischte und wahr¬ 
scheinlich 15—20 Glas Bier trank. 1 / a 8 Uhr verspätete (trotz 
mehrfachen Drängens des Stationsbeamten) Abfahrt nach Schön¬ 
heide. Von dort, wo Lohse abermals Bier trank, zurück. 
Abfahrt 9.15 (d. i. mit viertelstündiger Verspätung). Lohse in 
angeheiterter Stimmung. Fahrgeschwindigkeit bei einem Gefälle 
von 1 : 40 beängstigend schnell, worüber sich Personen, die in 
Neuheide aussteigen, beim Zugführer vergeblich beschweren. 
Zwischen Neuheide und Stützengrün dieselben Klagen. In 
Rothenkirchen Aufenthalt. Die „Gemütlichen“ steigen hier in 
die ersten beiden Wagen ein, in denen Lohse, der die Loko¬ 
motive verlassen hat, sie besucht. Er nimmt ein Glas Bier von 
ihnen an und äussert: „In Bärenwalde können wir noch einmal 
einkehren“. — Ehe aber diese nächste Station erreicht war, 
geschah das Unglück. Unmittelbar vor demselben muss der 
Zug entsprechend der Strecke, die er nach seiner Bremsung 
noch durchlaufen hat, mit mehr als 60 km Geschwindigkeit 
gelaufen sein (Aussage des als Zeuge und Sachverständiger 
vernommenen Baurat Mehr in Zwickau). 

Ohne Zweifel ist Emil Lohse ein Gewohnheitstrinker, der 
sich aber weder selbst für einen solchen hält, noch von anderen 
dafür gehalten wird. Er ist 34 Jahre alt, mittelgross und von 
nicht unsympathischem Aeusseren, seit 1900 Reserve-Lokomotiv¬ 
führer, als welcher er seit ebensolange die Strecke befährt, auf 
welcher sich das Unglück zutrug. Vorbestraft wurde er bereits 
wegen Ueberfahren eines Geschirres und verwarnt wegen Auf¬ 
fahrens auf einen Zug mit Verletzung eines Hilfsweichenstellers. 
Nach Trinkerart renommierte er mit seinen Trinkleistungen, so 
lange nichts passierte, und leugnete sie, bezw. suchte sie abzu¬ 
schwächen, nachdem das Unglück geschehen war. Auf vor¬ 
handenes Schuldbewusstsein deuten die Aeusserungen, die 
er auf der Unglücksstätte tat, nachdem er sich von seiner 
Ohnmacht erholt hatte: „Macht kein Gerede, ich kann nichts 
dafür“, und „Ich kann nichts dafür, und wenn ich auch mehrere 
Jahre sitzen muss.“ 



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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 


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Sehr charakteristisch war bei Lohse, sowie beim Zug¬ 
führer Pampel, der sich mit ihm unter die „Gemütlichen“ 
gemischt hatte, die Promptheit und Schneidigkeit, mit welcher 
sie festen Blickes beim Verhör den Präsidenten mit ihren Un¬ 
wahrheiten und Ausreden bedienten. Sie verfehlten dadurch 
gewiss nicht, bei Unerfahrenen zunächst den Eindruck von 
Charakterfestigkeit und Zuverlässigkeit hervorzurufen, während 
es sich doch tatsächlich um das handelte, was Otto v. Leixner 
kürzlich bei den Alkoholikern als die „mannesunwürdige 
Schneidigkeit, die innerlich hohl und leer ist“ bezeichnet hat. 

Aus der Vernehmung des Lokomotivführers Lohse. 

Vors.: Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf dieser Strecke ist 25 Kilo¬ 
meter die Stunde. Sie sollen aber erheblich schneller gefahren sein? Wie verhält 
sich das? 

L.: Ich bin nicht schneller gefahren, auf keinen Fall schneller als 5 Kilo¬ 
meter über die Vorschrift. 

Vors.: Worauf führen Sie denn die Entgleisung zurück? 

L.: Es kann am schlechten Wagenmaterial gelegen haben, es kann sich 
aber auch eins an der Bremse vergriffen haben, (er erzählt darauf den Fall eines 
12jährigen Kindes, welches so etwas getan habe). 

Später, nach der Vernehmung von Zeugen: 

Vors.: Haben Sie nicht die Verspätung durch schnelleres Fahren einholea 
wollen ? 

L.: Nein! ich habe nur die Fahrzeit innegehalten! 

Vors.: Haben Sie stets 25 Kilometer Geschwindigkeit gehabt? 

L.: Ja! 

Vors.: Woher wissen Sie das? 

L.: Das haben wir im Gefühl! 


Vors.: Wieviel haben Sie an diesem Tag Bier getrunken? 

L.: Höchtens 3 1 / 2 Glas an dem Nachmittag! 

Vors.: Wieviel in Rothenkirchen? 

L.: Ungefahr 2 Glas! 

Vors.: Die Zeugen behaupten mehr. 

L.: Ich muss doch wissen wieviel! 

Vors.: In Schönheide sollen Sie sich mit 15 und 20 Glas gebrüstet haben. 
L.: Ich bin stets sehr launig. 

Vors.: Sie sollen in Rothenkirchen viel Bier bestellt haben. 

L.: Ich habe die anderen freigehalten. 

Vors.: Haben Sie ihnen dabei Bescheid gegeben? 

L.: Einige Male. 

Vors.: Sie sollen, als Sie die in Rothenkirchen Eingestiegenen begrüssten, 
die Absicht geäussert haben, in Bärenwalde noch einmal einzukehren? 


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Abhandlungen. 


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L.: Nein, das ist nicht wahr! 

Vors.: Die Leute waren entsetzt über die grosse Geschwindigkeit, mit welche^ 
Sie von Rothenkirchen aus fuhren. 

L.: Wenn ’s zu schnell gegangen wäre, hätte ich das Bremssignal gegeben. 

Von besonderem Interesse war die Vernehmung des 
Zugführers Pampel. 

Nach den Ausführungen von Baurat Mehr, Zwickau, trägt 
der 48jährige Pampel die Schuld daran, dass die Fahrge¬ 
schwindigkeit des Zuges sich nachträglich nicht genau fest¬ 
stellen liess. Pampels Berichte über die Fahrzeit sind nicht in 
vorschriftsmässiger Form abgefasst, nach Meinung des genannten 
Sachverständigen, „zur Verschleierung der Fahrzeiten, wie sie 
eigentlich eingehalten worden sind“. Ich halte es für wahr¬ 
scheinlicher, dass der jedenfalls stark angetrunken gewesene 
Pampel bei dem Zustand seines Gehirns überhaupt ausser 
Stande war, richtige Eintragungen zu machen. 

Vors.: Sie trafen im Rothenkirchener Bahnhofsrestaurant mit Lohse zusammen, 
welche Beobachtungen machten Sie an ihm? 

P.: Wie Lohse kam, wurde er von mehreren Planitzern in Empfang genommen. 
Wie viel er getrunken hat, weiss ich nicht. In Schönheide haben wir uns gesagt 
„Nun essen wir Abendbrot.“ Dazu haben wir ein Glas Bier getrunken. 

Vors.: Hat Lohse in Rothenkirchen viel getrunken? 

P.: Nein! Er hat nicht viel getrunken. Er hat nicht mehr getrunken, als 
wie ich. Ich habe 2 Glas getrunken. Es wurde überhaupt nicht viel getrunken. 

Vors.: Lohse soll angeheiteit weggegangen sein. 

P.: Nein! Lohse’s Temperament ist überhaupt so! 

Vors.: Er soll sich in Schönheide damit gebrüstet haben, schon 20 Glas Bier 
getrunken zu haben. 

P.: Davon weiss ich nichts! 

Vors.: Der Bahnhofswirt in Schönheide soll ihm nachgerufen haben, „Emil 
schmeiss’ nicht um!“ Und Lohse soll geantwortet haben: „Na, du brauchst mich 
nicht aufzuheben!“ 

P.: Davon habe ich nichts gehört! 

Vors.: Wie ist die Fahrt bis Rothenkirchen gegangen? Sehr schnell? 

P.: Mir ist nichts aufgefallen! 

Vors.: Es soll sich in Rothenkirchen jemand bei Ihnen beschwert haben 
über die grosse Geschwindigkeit. 

P.: Bei mir hat sich Niemand beschwert! 

Vors.: Schon von Schönheide aus soll mit übergrosser Geschwindigkeit ge¬ 
fahren worden sein. 

P.: Ich habe natürlich nichts bemerkt. 

(Der Vorsitzende macht ihn darauf aufmerksam, dass es gar nicht natürlich 
sei, hiervon nichts bemerkt zu haben). 


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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 


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Auch als ihm die gegenteiligen Aussagen zahlreicher 
Zeugen mitgeteilt werden, bleibt P: dabei, dass der Zug nicht 
schneller gefahren und Lohse nicht aufgeregter gewesen sei als 
gewöhnlich. 

Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er Uebung im Be¬ 
messen der Geschwindigkeit besitze, gibt er eine zwar ver¬ 
worrene, aber immer noch selbstgefällige Antwort. Auch leugnet 
er, dass die Mitfahrenden gegeneinander geworfen worden seien 
und behauptet in demselben Atem, dass das Einfahren in eine 
Kurve überhaupt die Leute in die Ecken schleudere. Er gibt 
zu, bei der Fahrt sich vergeblich bemüht zu haben, eine Lampe 
anzuzünden. 

Ueberhaupt tat man gut, sich bei den Aussagen der meisten 
Zeugen zu erinnern, dass an jenem Tage viel getrunken worden 
war. Namentlich an den 40—50 „Gemütlichen“ in den beiden 
vordersten Wagen schienen die Schrecknisse der Fahrt ziemlich 
spurlos vorübergegangen zu sein, weil sie bis auf die wenigen 
Frauen in ihrer Mitte, wohl ziemlich alle betrunken waren. Sie 
sangen, als das Unglück passierte, gerade nach der Begleitung 
eines Harmonikaspielers das Lied „An der Saale kühlem Strande.“ 

Der Staatsanwalt verfuhr deshalb richtig, wenn er be¬ 
sonderen Wert auf die Bekundungen einiger weniger nach 
dieser Richtung hin unverdächtiger und dabei gebildeter 
Zeugen legte. 

ZeugevonBose,F örsterkandidat aus Schönheide, 30 Jahre, 
welcher mit seiner Frau und einem Kollegen jenen Zug nur 
von Wilschhaus bis Neuheide benutzte, also nicht mit verun¬ 
glückte, schildert die Fahrt als eine sehr schnelle, so dass die 
Damen schrien und sie alle hin und her geworfen wurden. Er 
habe sich deshalb in Neuheide beim Zugführer beschwert, von 
diesem aber die Antwort erhalten: „Der ist nur etwas laut 
gefahren!“ 

Vors.: Was sagen Sie dazu, Pampel? 

Pampel: Ich weiss natürlich nischt davon. 

Vors.: Waren Sie nüchtern? 

Pampel: Ich war damals nüchtern. 

Vors.: (zu von Bose) Wo stand Pampel: 

v. B.: Auf dern Bahnsteig. 

Pampel: Ich stand auf dem Wagen! 

Vors.: Erinnern Sie sich nicht, dass der Zeuge Sie angeredet hat: 


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Abhandlungen. 


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Pampel: leb habe nischt gehört! 

Vors.: Aber Sie haben doch geantwortet? 

Pampel: Ich habe nischt gesagt! 

Verteidiger: Es könnte sich doch auch um einen Irrtum auf Seite des Herrn 
von Bose handeln, 

von Bose erkennt Pampel mit voller Sicherheit wieder und bleibt dabei, 
dass derselbe auf dem Bahnsteig gestanden und obige Antwort gegeben habe. 

Pampel: Da müsst ich doch ooch was wissen! 

Vors.: Pampel, ist es vielleicht Ihrer Erinnerung entschwunden? 

Pampel: Das müsste sein! — im Uebereifer des Dienstes, weil alles 
so schnell ging. Wie ich sage, durch meinen Diensteifer könnte ich das überhört 
haben. Ich habe keine Erinnerung. 

Zeuge ErnstWeigel, Maschinist an der elektrischen 
Zentrale in Niederplanitz, 25 Jahre alt, Mitglied des Gesang¬ 
vereins „die Gemütlichen“, mit verunglückt: Ihm wäre im 
Bahnschlösschen zu Rothenkirchen aufgefallen, dass der als 
Gast eingeführte Lohse sehr viel Bier trank, und er habe zu 
seiner Frau geäussert: „Na, wenn der nur nicht seinen Ver¬ 
stand hier lässt“. Als Maschinist wisse er, dass durch das 
Biertrinken die Aufmerksamkeit leide. Betrunken sei L. nicht 
gewesen. „Bei dem einen äussert sich das so, bei dem 
andern so“. 

Zeuge Hermann Schubert, Reichsbankvorstand aus 
Reichenbach i. V., 56 Jahre alt, verunglückte gleichfalls mit (Schien¬ 
beinverletzung). Er schilderte in anschaulicher Weise die tolle 
Fahrt, bei welcher sein ihn begleitender Schwiegersohn vom 
Lokomotivführer bemerkte, „der scheint betrunken zu sein“. 
Schubert sagte voraus, dass bei der nächsten Kurve das Unglück 
eintreten werde, und es trat ein. 

Vors.: Lohse, Sie hören, dass Sie doch offenbar die erlaubte Fahrgeschwin¬ 
digkeit überschritten hatten. 

Lohse: Ich habe meine vorschriftsmässige Geschwindigkeit gefahren! 

Die Mehrzahl der über dreissig Zeugen sagte anders und 
oft geradezu gegenteilig als in der Voruntersuchung aus. Das 
war höchst charakteristisch für die feuchtfröhliche Stimmung, 
in welcher sie sich am 16. August befunden haben mochten. 

Unter Hintansetzung der Wahrheit ergriffen selbst Zeugen 
— wahrscheinlich chronische Alkoholiker — welche unter dem 
frischen Eindruck des Geschehnisses sich über Lohse entrüstet 
hatten, heute für ihn Partei. Leute z. B., die sich zwar gleich¬ 
zeitig mit ihm im Schönheider Bahnrestaurant befunden, aber 



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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 43 


dort gar nicht Gelegenheit gehabt hatten, ihn zu beobachten, 
behaupteten gleichwohl, dass er bei dieser Gelegenheit nur ein 
Glas Bier getrunken habe. In ebenso geschickter wie wohl¬ 
wollender Weise entlockte ihnen der Vorsitzende das Geständnis, 
dass sie über die Trinkleistungen Lohse’s an jenem Abende 
gar nichts wussten. 

In etwa 6 Fällen nun wiederholte sich etwa folgendes 
ergötzliche Verhör: 

Vors.: Wie erschien Ihnen die Fahrgeschwindigkeit? 

Zeuge: Nicht schneller als gewöhnlich. 

Vors.: Schwankten die Wagen bedeutend? 

Zeuge: Nein die Wagen schwankten nicht. 

Vors.: Waren die Drinsitzenden nicht ängstlich? 

Zeuge: Nein niemand war ängstlich. 

Vors.: Aber Sie sagen ja heute ganz das Gegenteil von dem aus, was Sie 
einige Tage nach dem Unglück zu Protokoll gegeben haben? Welche von Ihren 
Aussagen sind denn richtig? 

Zeuge: Ich sage die Wahrheit! 

Vors.: Ja wenn Sie heute die Wahrheit sagen, haben Sie früher die 
Unwahrheit gesagt. 

Zeuge: Ich habe nur die Wahrheit gesagt! . 

Vors.: Also ist es wahr gewesen, was Sie früher angegeben haben: dass 
der Zug mit rasender Geschwindigkeit ging, dass die Wagen sehr schwankten, dass 
die Leute schrieen und von ihren Plätzen geworfen wurden? Ich mache Sie noch¬ 
mals auf die Heiligkeit des Eides aufmerksam, den Sie geleistet haben. Also, 
welches ist die reine Wahrheit. Das was Sie zuerst oder das was Sie heute 
gesagt haben? 

Zeuge: Dann wird wohl wahr sein, was ich zuerst gesagt habe. 

Als Kuriosum sei eingeschaltet, dass der Verteidiger 
dem ersten Zeugen dieser Art mit der Frage beisprang: Halten 
Sie es nicht für möglich, dass Sie durch die Entgleisung eine 
Gehirnerschütterung erlitten hatten und infolge derselben zunächst 
ungenau aussagten ? 

Der Zeuge erwiderte, dass das wohl möglich sei. 

Der Staatsanwalt aber verbat sich solche „Suggestiv¬ 
fragen“. 

Dieselben Zeugen, welche sich in derartige und ähnliche 
Widersprüche verwickelten, und überhaupt die meisten Zeugen 
bekundeten übereinstimmend, dass Lohse nicht angeheitert, 
sondern in seiner gewöhnlichen Stimmung gewesen sei. Dass 
sei „so sein Temperament“ hiess es gewöhnlich. 


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Abhandlungen. 


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Wieviel von allen diesen merkwürdigen Aussagen, auf 
die verworrenen Erinnerungsbilder alkoholisiert gewesener oder 
chronisch alkoholisierter Gehirne, wieviel auf die bekannte 
Neigung der Trinker zur Lüge und wieviel endlich auf eine 
wohl nicht ganz von der Hand zu weisende Verabredung unter 
den „Gemütlichen“ und Lohse’s sonstigen Freunden (in einem 
ihm günstigen und möglichst übereinstimmenden Sinne auszu¬ 
sagen) kam, lässt sich natürlich nicht feststellen. 

Die ganze Verhandlung bewies wieder einmal wie schwierig 
unter Umständen für Behörden und Richter Vorkommnisse festzu¬ 
stellen sind, bei welchen der Alkohol sein Wesen getrieben hat. 

Wie so oft schon, so zeigte sich auch diesmal wieder, dass 
die Volksauffassung einen schädlichen Einfluss der geistigen Ge¬ 
tränke auf das menschliche Handeln nur bei dem im landläufigen 
Sinne „Betrunkenen“ anerkennt und die Existenz eines ohne 
grobe Gleichgewichtsstörungen verlaufenden Rausches einfach 
nicht zugibt. Wer'noch „Direktion“ hat, den kann, glaubt 
man, auch der Alkohol noch nicht haben. 

Auch der als einziger medizinischer Sachverständiger (und 
zugleich als Zeuge) vernommene 37jährige praktische Arzt 
Dr. Bernhardt aus Bärenwalde konnte sich in dieser Be¬ 
ziehung als Sohn seines Volkes nicht verleugnen. Er war mit 
dem vorher von ihm verbundenen Angeklagten nachts gegen 
2 Uhr von der Unglücksstelle im Hilfszug zurückgefahren und 
berichtete hierüber: 

„Lohse machte einen deprimierten Eindruck. Dass er 
betrunken gewesen sein soll, ist nicht wahr. Er hat ganz 
wenig getrunken gehabt. Ich sass neben ihm. Er roch nicht 
nach Bier. Nach 3—4 Glas riecht man schon aus dem Mund 
nach Bier.“ 

Der Vorsitzende bedeutete Herrn Dr. Bernhardt, dass 
dies wohl individuell sei und keinesfalls nach 5—6 Stunden, 
die seit dem Biergenuss verstrichen waren, noch zutreffe. 

Nach noch verschiedenen anderen Zwischenfragen an die 
Sachverständigen wird die Beweisaufnahme für geschlossen 
erklärt. 

Der Staatsanwalt hält die Schuld des Angeklagten für 
erwiesen. Er sei mit mindestens 50—60 Kilometern Geschwin- 



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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 


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digkeit gefahren, namentlich von Rothenkirchen aus unerlaubt 
schnell. Und die Veranlassung zu diesem schnellen Fahren mit 
seinen Folgen sei auf Dienstwidrigkeiten des Angeklagten zurück¬ 
zuführen, der sich bei seinen Bekannten Vergnügens halber zu 
lange aufgehalten hat und deshalb nicht rechtzeitig zur Stelle 
war. Und wie er seine Lokomotive wieder bestieg, sei er in 
mindestens aufgeregter Stimmung gewesen, verursacht durch 
das Trinken, wenn er das auch nicht in übermässiger Weise 
getan haben sollte. Charakteristisch sei auch für die Staats¬ 
anwaltschaft, dass der Angeklagte nochmals in einen Wagen 
gekommen sei, wo er sich nicht aufhalten durfte und wo er 
sagte: „In Bärenwalde können wir noch mal einkehren“. Er 
habe seine Gedanken mehr auf das Vergnügen als auf den Dienst 
gerichtet gehabt und daraus seien alle nachfolgenden Vorgänge 
•entsprungen. Der Staatsanwalt beantragte die Verurteilung des 
Angeklagten wegen der fahrlässigen Gefährdung eines Eisen¬ 
bahntransportes in idealem Zusammenhänge mit fahrlässiger 
Tötung und Körperverletzung. Auch beantragte er die Unfähig¬ 
keit des Angeklagten zur Bekleidung eines Amtes im Eisen¬ 
bahndienste auszusprechen. 

Der Verteidiger erörterte die Unzulänglichkeit der 
menschlichen Erkenntnis und das Unvermögen, alle Verhält¬ 
nisse und Vorkommnisse in ihren letzten Ursachen zu ergründen. 
Er verwies auf die Widersprüche, die sich in den Aussagen 
der Zeugen finden und behauptete, dass der Eindruck, welchen 
die Schwankungen der Wagen auf einzelne Zeugen gemacht 
haben und die Befürchtungen, welche hieran geknüpft wurden, 
auf die Sensibilität der betreffenden Zeugen zurückzuführen 
seien. Andere Zeugen bekundeten das Gegenteil, wie z. B. der 
nicht unglaubwürdige Pampel. Die anscheinend verfänglichen 
Aeusserungen des Angeklagten nach dem Unfälle seien auf 
die kleine Gehirnerschütterung zurückzuführen, die den Ange¬ 
klagten betroffen habe. Dass der Angeklagte zu viel getrunken 
habe, sei nicht dargetan. Der Verteidiger gab sich übrigens 
durch mindestens 10 Schmisse, die man in seinem Gesichte 
zählte, als alter Couleurstudent zu erkennen. Er beantragte die 
Freisprechung des Angeklagten. 

Nach kaum halbstündiger Beratung des Gerichtshofes ver¬ 
kündet der Vorsitzende folgendes Urteil: 


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46 


Abhandlungen. 


Wegen Vergehens gegen § 316 Str. G. B. im Zusammen¬ 
treffen mit fahrlässiger Tötung und Körperverletzung wird der 
Angeklagte zu 2 Jahren 6 Monaten Gefängnis verurteilt. 

Aus der Begründung des Urteils sei folgendes mitgeteilt: 

Durch den Eisenbahnunfall sind 3 Menschen getötet und 
mindestens 50 verletzt worden. Es ist ein erheblicher Material¬ 
schaden entstanden. Die an die Hinterbliebenen und Verletzten 
gezahlte Entschädigungssumme beträgt 100 000 Mk. Es ist also 
durch den Unglücksfall in verschiedener Hinsicht grosses Unheil 
angerichtet worden. Der Gerichtshof ist zu der Ueberzeugung ge¬ 
kommen, dass allein der Angeklagte die Verantwortung hierfür 
zu tragen hat, indem er durch die mehr als doppelte Ueber- 
schreitung der ihm vorgeschriebenen Fahrgeschwindigkeit die 
Entgleisung mit ihren Folgen verschuldete. Die Begründung 
schliesst sich in der Darstellung der Ursachen des Unfalles an 
die Ausführungen der Staatsanwaltschaft an. Entlastend für 
den Angeklagten komme in Betracht, dass er bisher noch nicht 
gerichtlich bestraft ist; erschwerend fallen die schlimmen Folgen 
ins Gewicht, die seine Unvorsichtigkeit gehabt hat. Der 
Angeklagte bleibt in Haft. 


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Emminghaus, Die Bekämpfung des Alkoholismus auf verschiedenen Wegen. 47 


Die Bekämpfung des Alkoholismus 
auf verschiedenen Wegen. 

Von Dr. A. Emminghaus, Gotha. 


Ganz unverkennbar hat in den letzten zwanzig bis fünf¬ 
undzwanzig Jahren in Deutschland das Interesse an allen den 
Fragen, die mit dem Alkoholmissbrauch Zusammenhängen, lang¬ 
sam aber stetig zugenommen. Vor dieser Zeit hatte man weder 
eine Ahnung von dem Umfange, noch von den Folgen dieses 
Missbrauchs. Wer darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre 
ungläubigem Lächeln oder dem Spott begegnet. Sah man 
unsere Trinksitten für nicht eben gesundheits- und bildungs¬ 
fördernd an, so hielt man sie doch im ganzen für keineswegs 
so gefährlich, dass viel Aufhebens davon zu machen wäre. 
Und, da seit Alters namentlich die deutsche Poesie kaum einen 
Lebensgenuss so viel und so schön verherrlicht hatte, wie den 
„beim Becherklang“, so ward der frischweg für einen spiess- 
bürgerlichen Nörgler erklärt, der darauf hinwies, dass doch 
wohl auch in diesem Lebensgenuss das schon von Kleobulos 
aus Lesbos empfohlene Masshalten vonnöten sei. 

Wenn das heute anders ist: wenn in weiten Kreisen die 
Gefahren des Alkoholmissbrauchs für Staat und Gesellschaft, 
insbesondere aber die bösen Folgen der Alkoholvergiftung für 
den Vergifteten klar erkannt werden, wenn man den nicht 
mehr bespöttelt, der hierauf aufmerksam macht und der Massig¬ 
keit ernsthaft das Woit redet; wenn auf Hochschulen, in Militär- 
und Marinekreisen, in Parlamenten und Gemeinde-Versammlungen 


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48 


Abhandlungen. 


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das Verlangen nach Beseitigung oder Zuriickdrängung des 
Alkoholmissbrauchs zu eingehenden Erwägungen der Mittel und 
Wege führt; wenn sich die medizinische Wissenschaft und die 
Publizistik heute auf das Lebhafteste mit diesem Gegenstände 
beschäftigt — so ist das gewiss ein Verdienst des vor zwanzig 
Jahren von einer kleinen Anzahl gemeinsinniger Männer aus 
verschiedenen Gegenden des Reichs begründeten Vereins gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke. 

Die ungemein rührige und umsichtige Tätigkeit dieses 
Vereins ist unzweifelhaft auch die Ursache, dass anderwärts 
schon längst geweckte Bewegungen für gänzliche Enthaltsamkeit 
vom Genuss geistiger Getränke — die Blaukreuzvereine, die 
Guttemplerlogen u. a. — auch auf deutschem Gebiet ziemlich 
breiten Boden gewonnen haben. 

Diese anderen Bewegungen werden mit ebensoviel flam¬ 
mender Begeisterung ins Werk gesetzt, wie der Verein gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke sich ruhiger Besonnenheit 
bei seinen Arbeiten befleissigt. Jene bald mehr, bald weniger 
religiös gefärbte Begeisterung, die wir, um jede ungerechtfertigte 
Nebendeutung auszuschliessen, nicht als Fanatismus bezeichnen 
wollen, ist um so nötiger und wird von den Führern um so 
wirksamer geweckt, da sie es auf die Gewinnung der breitesten 
Massen der Bevölkerung absehen und dieselben nicht allein 
behüten, sondern auch bekehren wollen. 

Es darf nicht wundernehmen, dass hierbei einige Ueber- 
treibungen platzgreifen. So wenn das Blaue Kreuz die Trunk¬ 
sucht fast als die Wurzel alles Uebels in der Welt betrachtet 
und eine gelungene Heilung von der Trunksucht immer als 
einen Glaubenssieg ansieht. So wenn alle Enthaltsamkeitsvereine 
nicht nur aller Welt völlige Enthaltsamkeit ansinnen, sondern 
auch von dem Zeitpunkte, wo dieses Ziel erreicht sein werde, 
den Himmel auf Erden prophezeien. 

Gewiss, dem Trinker, den man heilen will, muss man für 
alle Zeit jeden Alkoholgenuss versagen. Aber es ist doch nicht 
jeder trunksüchtig, der ab und zu an dem Genüsse eines alkoho¬ 
lischen Getränkes sich erfreut. 

Die bestehenden Enthaltsamkeits-Vereine, die in erfreu¬ 
lichem Wetteifer auf verschiedenen Wegen dem gleichen Ziele 



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Emminghaus, Die Bekämpfung des Alkoholismus auf verschiedenen Wegen. 49 


zustreben, haben mit Aufopferung edler Kraft schon Grossartiges 
geleistet, wenn sie Hunderte, ja Tausende von der Trunksucht 
geheilt und ihnen das Verharren in der Enthaltsamkeit möglich 
gemacht haben. Und es wäre ein grosser Segen, wenn ihre 
Mitgliederzahl und ihre Wirksamkeit sich verhundertfachte. 
Aber auch dann dürfte der Verein gegen den Missbrauch 
geistiger Getränke die Hände nicht in den Schoss legen und 
wäre dessen Aufgabe, die ja nur teilweise mit der jener anderen 
Vereine übereinstimmt, noch lange nicht erledigt. Recht ver¬ 
kehrt und bedauerlich ist es, wenn jene Vereine, denen es 
vielleicht gelingen wird, soviele tausend Anhänger zu gewinnen, 
wie dieser hundert zählt, hochmütig und geringschätzig auf 
diesen herabsehn; denn einen besseren und mächtigeren Bundes¬ 
genossen haben sie nicht und werden sie nie gewinnen. 

Zunächst verlangt der Verein und sucht er mit allen Mitteln 
zur unverbrüchlichen Norm zu machen vollkommenste Alkohol¬ 
enthaltung bei Kindern und jugendlichen Personen, bei solchen 
Personen, die zum Missbrauche neigen, bei solchen, die schon 
alkoholvergiftet sind, und bei solchen, deren Enthaltsamkeits¬ 
beispiel Bedingung ihrer beruflichen Wirksamkeit ist. 

Sodann wirkt er energisch auf die Errichtung zweckent¬ 
sprechender Trinkerheilanstalten hin. 

Ferner sorgt er für die Erzeugung und Verbreitung alkohol¬ 
freier Getränke und für Einrichtungen, durch die der Ersatz 
alkoholischer Getränke durch alkoholfreie zur Sitte wird. 

Weiter lässt er durch seine naturwissenschaftlich und 
medizinisch geschulten Mitglieder Wesen und Wirkung des 
Alkohols auf den menschlichen Organismus untersuchen und 
feststellen, ob und inwieweit und unter welchen Bedingungen 
der Alkohol als Heilmittel wertvolle Dienste leistet. 

Endlich aber sucht er mit allen Mitteln auf die Aenderung 
der Trinksitten und auf die Gesetzgebung, betr. das Schank¬ 
wesen und die steuerliche Behandlung alkoholischer Getränke, 
im Sinne der Massigkeit einzuwirken. 

Man sieht: in manchen und wichtigen Punkten geht die 
Mässigkeits- mit der Enthaltsamkeits-Bewegung Hand in Hand. 
Die Führer der einen müssen es begrüssen, dass die der anderen 
für gewisse Personenkreise Enthaltsamkeit fordern, die der 
anderen müssen es begrüssen, dass das Blaue Kreuz und die 

Die Alkoholfrage. 4 


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50 


Abhandlungen. 


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Guttemplerloge um den geheilten Trinker eine Schutz wehr 
bilden, die ihn vor dem Rückversinken in das Uebel bewahren 
kann. Auch in der Beförderung der wissenschaftlichen Erkenntnis 
unterstützen sich beide Richtungen; vielleicht dass die eine der 
wissenschaftlichen Forschung, die andere der volkstümlichen 
Darstellung ihrer Ergebnisse mehr Fleiss zuwendet. 

Aber in einem Stücke, in der Einwirkung auf die Trink¬ 
sitten und auf die Gesetzgebung, ist die Mässigkeitsbewegung 
auf ihre eigene Kraft angewiesen. Denn die Führer der Ent¬ 
haltsamkeitsbewegung wollen Beseitigung aller alkoholischen 
Getränke und auf diesem Wege werden ihnen in absehbarer 
Zeit viele Tausende, wird ihnen aber niemals die überwiegende 
Mehrheit der Bevölkerung folgen. Sie wollen nicht Reform der 
Gesetzgebung in dem Sinne, dass der Massigkeit Vorschub 
geleistet wird, sondern sie wollen gesetzliches Verbot jedes 
Alkoholgenusses. Und mit dieser Forderung werden sie bei 
dem Gesetzgeber immer tauben Ohren predigen. 

Die vorstehenden Ausführungen machen weder auf Neu¬ 
heit, noch auf Originalität Anspruch. Aber sie werden aufs 
Neue dartuen, wie töricht und zweckwidrig es ist, wenn die 
verschiedenen Richtungen, die den Alkoholismus bekämpfen, 
es untereinander nicht nur an Achtung, sondern auch an Ein¬ 
tracht fehlen lassen. 


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Böhmert, Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage. 


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Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage. 

Von Prof. Dr. Victor Böhmert. 


Bei jeder Beantwortung einer theoretischen oder prak¬ 
tischen Frage ist die Methode der Untersuchung oder die Art 
und Weise der Beobachtung, Erforschung und Lösung von 
grosser Wichtigkeit. Man kann schwierige Rechenexempel 
entweder durch einfaches Multiplizieren und Addieren, durch 
Dividieren und Subtrahieren oder durch Logarithmen oder durch 
die Rechenmaschine lösen und sich durch die Methode oder 
das Verfahren die Lösung sehr erleichtern. Man kann bei juri¬ 
stischen, volkswirtschaftlichen, naturwissenschaftlichen, philoso¬ 
phischen und anderen Untersuchungen entweder d e d u c t i v ver¬ 
fahren, indem man aus allgemeinen Grundsätzen besondere Sätze 
abzuleiten und einzelne streitige Fälle, Ansprüche oder Behaup¬ 
tungen zu entscheiden und zu beweisen sucht, oder man kann 
die i n d u c t i v e Methode anwenden und aus einer grösseren 
Anzahl von Tatsachen, Beispielen, Fällen und Erfahrungen zu 
allgemeinen Schlüssen oder Wahrheiten zu gelangen suchen. 

Das Auffinden wirklicher Wahrheiten oder grosser allge¬ 
meiner Gesetze und das Entdecken neuer Kräfte ist nur wenigen 
Sterblichen vergönnt; aber Bausteine zum Aufbau neuer Wissens¬ 
gebiete oder Beiträge zur Vermehrung der vorhandenen Schätze 
des menschlichen Wissens können von vielen ernst arbeitenden 
Männern oder Frauen geliefert und herbeigeschafft werden. 

Zur Untersuchung der Wirkungen des Alkohols auf den 
menschlichen Organismus bedarf es einer grossen Summe von 
Beobachtungen, Erfahrungen und Experimenten. Am wirk¬ 
samsten erscheinen uns Experimente am eigenen menschlichen 
Körper, welche von vielen zuverlässigen Personen aus ver¬ 
schiedenen Berufen und Altersstufen mit verschiedenen Lebens¬ 
schicksalen herrühren und mit Hilfe der statistischen Methode 
durch gleichmässige Fragen-Formulare erhoben, verglichen und 

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Abhandlungen. 


objektiv zusammengestellt der Prüfung des Publikums vorgelegt 
werden. 

Herr Prof. Carl Fränkel in Halle ist im Juli 1902 von dem 
Vorstande des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke ersucht worden, die hervorragendsten Vertreter der 
ärztlichen Wissenschaften zu befragen, ob in Bezug auf den 
Alkohol Massigkeit oder völlige Enthaltsamkeit geboten sei? 
Er hat infolgedessen an 93 Professoren folgende 2 Fragen 
gerichtet: 

1. Halten Sie den Genuss alkoholischer Getränke unter allen 
Umständen, also auch schon in kleinen Mengen für ge- 
sundheitschädlich und bedenklich und 

2. wenn das nicht der Fall, wo würden Sie etwa die erlaubte 
Grenze ziehen wollen? 

Die von 89 Professoren auf diese beiden Fragen erteilten 
Antworten haben viel Interesse erweckt, aber auch viel Wider¬ 
spruch gefunden. Wir wollen diese Antworten nicht kritisieren, 
sondern anstatt der von Professor Fränkel aufgestellten, uns 
ungenügend erscheinenden zwei Fragen, ein bestimmter ge¬ 
fasstes Fragen-Formular vorlegen, welches wirkliche Tatsachen 
und praktische Erfahrungen zu ermitteln sucht und sich an 
solche Personen wendet, die an sich selbst Versuche angestellt 
und entweder ihren früheren Alkoholgenuss einmal wesentlich 
eingeschränkt oder eine Zeit lang völlige Abstinenz geübt haben. 
Das nachstehend abgedruckte Fragen-Formular ist dazu be¬ 
stimmt, von Männern oder Frauen ausgefüllt zu werden, welche 
sich mit der Alkoholfrage eingehend beschäftigt und, sei es nun 
als blosse Mässigkeitsfreunde oder als Abstinenten, an sich selbst 
oder an Personen ihrer Umgebung exakte Beobachtungen an¬ 
gestellt haben. Wir hoffen, dass sich recht viele Leser dieser 
Vierteljahrsschrift, und namentlich Aerzte, bereit erklären werden, 
mit den beiden Herausgebern und Redakteuren in eine nähere 
geistige Verbindung zu treten und das Fragen-Formular zunächst 
ernstlich zu prüfen und entweder Verbesserungsvorschläge zu 
machen oder eventuell das Fragen-Formular wirklich auszu¬ 
füllen, damit auf Grund von Massenbeobachtungen und Massen¬ 
erfahrungen positive Beiträge zur exakten Lösung der Alkohol¬ 
frage aus den verschiedensten Gegenden, Berufszweigen und 
Altersgruppen herbeigeschafft werden. Man wird, wie das bei 


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Böhmert, Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage. 


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allen statistischen Untersuchungen nötig ist, viele ungenügend 
ausgefüllte Fragen-Formulare zur Ergänzung oder Berichtigung 
zurückschicken und alle Fehler des Materials offen darlegen 
müssen und nur mit grosser Vorsicht allgemeine Schlüsse ziehen 
dürfen, aber doch wertvolle Beiträge zur Lösung der Alkohol¬ 
frage liefern können. Die aufgestellten 12 Fragen sollen nur 
gewisse Hauptpunkte zur Berücksichtigung empfehlen. Besonders 
wünschenswert ist es, dass der Befragte in der Antwort auf 
Frage 12 allgemeine Bemerkungen und Tatsachen von Wichtig¬ 
keit mitteilt, oder die sämtlichen 12 Fragen im Zusammenhänge 
beantwortet. 


Fragen-Formular für Mässige oder Enthaltsame. 

1. Name des Befragten:. 

2. Tag und Jahr der Geburt:. 

3. Geburtsort und Land:. 

4. Beruf des Befragten:. . 

5. Bildungsgang des Befragten:. 

6. Gehört der Befragte einem Mässigkeits- oder Enthaltsamkeitsverein an? (Name 

des Vereins):. 

7. Hat der Befragte seinen früher üblichen Alkoholgenuss eingeschränkt oder einmal 

die Enthaltsamkeit versucht? Und wie lange?. 

8 . Welche Ursachen und Beweggründe führten zum Entschlüsse der Enthaltsamkeit? 

9. Welche Unterbrechungen der Enthaltsamkeit haben stattgefunden?. 

10. Welche Folgen hatte die Enthaltsamkeit? 

a) Für das körperliche Befinden?. 

b) Für die geistige Arbeit?. 

c) Für das Gemüt und die Freude am Leben?.. 

11. Welche Erfahrungen in Betreff des Alkohols machte der Befragte: 

a) In seiner Familie?. 

b) In seinem Berufe?. 

C) In seinen gesellschaftlichen Beziehungen?. 

d) Im öffentlichen Leben?. 

12. Welche allgemeine Bemerkungen und Tatsachen von Wichtigkeit kann der 

Befragte noch mitteilen?. 


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Abhandlungen. 


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Wie ich Enthaltsamer wurde. 

Von Landes versicherungsrat P. Chr. Hansen. 


Es war in der ersten Hälfte des Monats Juli 1896. In 
Kiel hatte die Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke stattgefunden. Die Teil¬ 
nehmer an dieser Zusammenkunft, die aus den verschiedensten 
Gegenden des deutschen Vaterlandes in die Ostseestadt ge¬ 
kommen waren, traten die Rückreise an. Da verabredeten 
mein verehrter Freund und dereinstiger Lehrer, Geheimrat 
Dr. Böhmert aus Dresden — der während der eben abgelaufenen 
Tage so nachdrücklich für die Zwecke jenes Vereins eingetreten 
war — und ich uns, nach dem etwa 80 km nördlicher gelegenen 
Flensburg zu fahren, um von dem dort gegen den Alkohol 
geführten Kampfe an Ort und Stelle nähere Kenntnis zu nehmen. 
Eine ganz bestimmte Absicht leitete uns. Eben damals begann 
sich die Aufmerksamkeit auf die vom Norden her über die 
deutsche Landesgrenze gelangte Bewegung der Guttempler, der 
Abstinenten, der Anhänger einer absoluten Enthaltsamkeit 
gegenüber dem Genüsse geistiger Getränke, zu richten. Freilich 
in weiten Kreisen, selbst in nächster Nähe herrschten noch die 
sonderbarsten Anschauungen über die Bestrebungen dieser 
Leute. Meist erblickte man in ihnen weltfremde Schwärmer, 
die allerdings eine ganz lobenswerte Sache vertreten mochten, 
aber es sicherlich niemals zu einem durchgreifenden praktischen 
Handeln bringen würden. Vielfach wurden die Guttempler 
wohl auch als Sektierer angesehen, gegen deren Tendenzen 
vom kirchlichen Standpunkt aus wesentliche Bedenken geltend 
zu machen seien. Die Stadt Flensburg bildete derzeit recht 
eigentlich einen Ausgangs- und Mittelpunkt der Enthaltsamkeits- 


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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde. 


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bewegung auf deutschem Boden. Die Haupttruppe der in jener 
Zeit noch so kleinen Schar der Zugehörigen des „Independent 
Order of good-templars“ stand ausser in Flensburg im nördlichen 
und westlichen Schleswig. Daneben war denn freilich in Ham¬ 
burg das Signal zum Sammeln gegeben worden, aber das ist 
auch so ziemlich alles, was vor etwa acht Jahren als „Abstinenz¬ 
partei“ in Deutschland bezeichnet werden konnte. Die Männer, 
welche diese Sache in die Hand genommen hatten oder sie 
zielbewusst und kraftvoll weiterführten, wollten wir beide an 
der Arbeit beobachten. 

Mir als Kind der schönen Talstadt Flensburg, der rührigen 
Handels- und Industriestadt im Herzogtum Schleswig, bereitete 
es keinerlei Schwierigkeit, diejenigen Persönlichkeiten ausfindig 
zu machen, bei denen wir uns gleich nach der Ankunft die 
zutreffende Belehrung verschaffen konnten. Unser erster Gang 
führte uns zu einem hoch angesehenen Geistlichen, der freilich 
nicht Mitglied eines Guttempler - Ordens war, aber doch, aus 
lebhaftem Interesse für dessen Ziele, sich mit dem Wirken des 
Ordens sehr genau bekannt zu machen gesucht hatte. Der 
Geistliche sprach mit grosser Anerkennung über die Guttempler, 
die in gewissen Dingen wohl eine Art Einseitigkeit und in ihren 
Ansichten einen Fanatismus, der ihm nicht gerade Zusage, be¬ 
tätigten, jedoch zweifellos eine von keiner andern Richtung zu 
übertreffende segensreiche Tätigkeit entfalteten. Er könne nur 
seine Freude darüber aussprechen, dass diese Bewegung gerade 
innerhalb seiner Gemeinde in Fluss gekommen sei; er an seinem 
Teile suche sie zu fördern, wo und wie er dies vermöge, und 
gern habe er auch Anlass genommen, bei einer nicht lange 
vorher abgehaltenen sonntäglichen Zusammenkunft der Gut¬ 
templer, die mit einem Gottesdienste in der Kirche begonnen, 
eine religiöse Ansprache zu halten, obwohl einzelne seiner 
Kollegen hiergegen Bedenken gehegt zu haben schienen. Be¬ 
gleitet von diesem Geistlichen suchten wir einen ehrsamen 
Handwerksmeister, einen Hufschmied, in seinem Hause auf. 
Dieser gehört zu den „Veteranen“ der Partei; er war einer 
der Ersten gewesen, der die Ideen des Guttemplerwesens aus 
einer kleinen Versammlung in einer ländlichen Gemeinde in 
die Stadt Flensburg gebracht und ihnen den Weg zur Weiter¬ 
verbreitung geebnet hatte. Wir trafen ihn in seiner Werkstatt, 


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Abhandlungen. 


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am Ambos stehend. Von der Esse her leuchtete das glühende 
Feuer über den sonst ziemlich dunklen Raum, in dem sich bei 
fleissiger Arbeit noch mehrere Gehülfen und Lehrlinge befanden. 
Freundlich hiess uns der Meister willkommen und lud uns ein, 
nachdem er sich das Schurzfell gelöst hatte, in seine im ersten 
Stock gelegene Wohnung zu treten. Wir folgten und fanden 
hier eine einfache, aber behagliche Häuslichkeit, in der offenbar 
eine brave, ordnungsliebende Hausfrau waltete. Mit grosser 
Bereitwilligkeit sprach sich der Meister über seine Person und 
die von ihm hoch gehaltene Sache aus. Offen bekannte er, 
dass er von Anfang an ein gutes Geschäft gehabt habe, das 
aber im Laufe der Jahre in Verfall gekommen sei — weshalb? 
weil er sich dem Laster des Trunkes ergeben habe. Es habe 
ihm auch früher nicht am guten Willen gefehlt, sich der unheil¬ 
vollen Neigung zu entziehen, die, wie ihm in guten Stunden 
ja nicht zweifelhaft sein konnte, ihn zu einem unrettbar ver¬ 
lorenen Menschen machen müsse, aber aller festen Vorsätze 
ungeachtet, sei er immer wieder gestrauchelt. Da habe er 
denn eines Tages, vor etwa sechs Jahren, von der aus Skan¬ 
dinavien nach Nordschleswig gekommenen Guttempler-Bewegung 
gehört und erfahren, dass in der Nähe von Gravenstein in einer 
dortigen Loge eine Versammlung stattfinden solle. Dorthin sei 
er mit einigen Freunden gefahren und was er hier kennen 
gelernt, habe ihn zu einem andern, zu einem, wie er glaube, 
besseren Menschen gemacht. Die Eindrücke, die er aus 
dieser Versammlung mit heimgenommen, hätten sein Leben 
neu gestaltet. Für ihn stände unverrückbar fest, dass nur die 
totale Enthaltsamkeit den gefährdeten Menschen retten und den 
gesunden Menschen gesund erhalten könne. Und es bedürfe 
einer Vereinigung, wie sie gerade in einer Guttemplerloge 
geboten sei, um die Schwachen zu stärken und die Ideen der 
Abstinenz in immer weitere Kreise zu tragen und zu immer 
allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Er habe seine ganze 
Kraft daran gesetzt — so weit ihm sein jetzt zu neuer Blüte 
gelangtes Geschäft dies nur irgend gestatte — für die Gut¬ 
templersache zu wirken. Erfreulich sei das, was man bis jetzt 
erreicht habe. In Flensburg habe sich schon eine grosse Zahl 
überzeugungstreuer, begeisterter Anhänger gefunden und unaus¬ 
gesetzt komme man weiter. So mancher dem wirtschaftlichen, 



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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde. 


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sittlichen und gesundheitlichen Untergang geweihte Mensch sei 

— wie er selbst — durch den Orden auf den rechten Weg 
gekommen. Gewiss, es gebe heute noch manche Leute, welche 
die Bestrebungen bespöttelten, aber mögen sie das tun! „ W i r 
wissen, für welche Ideale wir kämpfen; wir wissen, dass wir 
für die edelsten Güter der Menschen eintreten und wir sind 
überzeugt, dass unsere Ziele schliesslich vollauf zur Verwirk¬ 
lichung gelangen müssen.“ In grosser Lebhaftigkeit sprach der 
Mann. Hell leuchtete sein Auge während der Rede, in der 
jedes Wort dafür Zeugnis ablegte, dass sie ihm vom Herzen 
kam und in der absolut nichts Gemachtes enthalten war. Und 
wie freute sich der Meister, als seine Frau hereintrat und er 
uns mit ihr bekannt machte und ihr den Zweck unseres 
Besuches erzählte! 

Dankerfüllt schieden wir aus dem Hause, in welchem wir 
hoch interessante Einblicke in ein einfaches und für weitere 
Kreise doch so bedeutsam gewordenes Menschenleben getan 
hatten. 

Wir benutzten die ferneren Stunden des Tages, um uns 
weiter über Umfang und Art und Weise der agitatorischen 
Arbeit der Guttempler zu informieren, wobei uns immer wieder 
bestätigt wurde, dass die ganze Bewegung wesentlich oder fast 
ausschliesslich von „kleinen Leuten“ ausgegangen sei und nach 
wie vor gestützt werde, während die sog. bessere Bevölkerung 

— einzelne Ausnahmen abgerechnet — höchstens bis zu einer 
wohlwollenden Anerkennung derselben gehe, ihr vielfach frei¬ 
lich auch entweder ganz kühl oder gar ablehnend gegenüber 
stehe. Den stärksten Anhang unter den Arbeitern, so sagte 
man uns, hätten die Guttempler auf der grossen Flensburger 
Schiffswerft erreicht. Von dort mussten wir also noch selbst¬ 
verständlicheinen Vertreter, der uns über die in Betracht kommen¬ 
den Verhältnisse Auskunft geben konnte, gewinnen. Ein solcher 
stellte sich uns für eine spätere Stunde, „nach Abendbrotzeit“, 
zur Verfügung. Es war dies ein sog. Nieter, ein junger Arbeiter, 
der uns alsdann in unserm Hotel aufsuchte. Ein ganz einfacher 
Mann, den ich persönlich von Hause aus genau kannte. Böhmert 
übernahm das Ausfragen, denn unser Gast gehörte zu den Leuten, 
die ohne einen äusseren Anstoss zunächst nicht allzuviel sagen, 


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Abhandlungen. 


namentlich nicht in Gegenwart von Fremden, die sie für sozial 
höher stehend erachten. Allmählich kam unser Freund mit 
seinen Erklärungen „in Zug“. Wir erfuhren zuerst, dass er 
früher bei der kaiserlichen Marine in Kiel gedient und eigentlich 
hier das Trinken gelernt habe. Nach seiner Entlassung vom 
Militär sei er in seine Geburtsstadt Flensburg zurückgekehrt 
und habe, nachdem er auf der Werft Beschäftigung gefunden, 
sich bald nachher verheiratet. Er besitze jetzt drei Kinder. 
Leider müsse er sagen, dass auch unter den Werftarbeitern 
das Trinken von Schnaps, noch mehr wie Bier, eine sehr grosse 
Rolle gespielt habe und da sei er denn wieder in Versuchung 
geraten, der er oftmals nicht habe widerstehen können. Manch¬ 
mal sei die Neigung zum Alkoholgenuss mit gewaltiger Macht 
über ihn gekommen; gleichgesinnte Kollegen hätten ihn an sich 
gezogen und nur zu bereitwillig sei er mit gegangen. Nun 
spiele bei der Werftarbeit der sog. Gruppenakkord eine grosse 
Rolle, d. h. es werden Arbeiten zur gemeinsamen Ausführung 
an eine grössere Anzahl von Personen gegen einen festen Lohn¬ 
betrag, der dann auch nachher auf die Beteiligten repartiert 
werde, abgegeben. Die Aufgabe könnte nur dann ordnungs- 
mässig gelöst werden und es sei lediglich dann von einem 
guten Verdienste die Rede, wenn alles Hand in Hand arbeite. 
Da habe sich jedoch die Trinkneigung des Einen und des Andern 
nicht selten als ein arges Hindernis gezeigt, bis eines schönen 
Tages innerhalb einer Akkordabteilung von irgend einer Seite 
der Vorschlag gemacht geworden sei: das Trinken bei der Arbeit 
wie ausserhalb der Arbeit völlig aufzugeben und sich den Gut¬ 
templern, von denen man nicht selten höre, anzuschliessen. 
Der Vorschlag war ernsthaft gemeint und er fand Zustimmung, 
fast bei Allen. So sei man enthaltsam und so sei man Gut¬ 
templer geworden. Er sei Guttempler seit zwei Jahren und er 
wisse gar nicht Worte genug zu finden, um auszusprechen, wie 
glücklich er sich als solcher fühle. „Ich habe“ — so ungefähr 
fuhr er fort — „ein gegenüber dem früheren ganz verändertes 
Leben geführt. Ich meinte oftmals, das Trinken nicht entbehren 
zu können, auch nicht während der Arbeit. Ich ging nicht 
selten abends aus und blieb bis spät in die Nacht fort. Am 
nächsten Morgen war ich krank und elend und musste manch¬ 
mal die Arbeit aussetzen. Vor allem muss ich sagen, dass ich 


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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde. 


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öfter an den Montagen bis zum Mittag „blau“ machte. Es tut mir 
noch heute leid, wie ich damals bisweilen gegen Frau und 
Kinder gehandelt habe. Das ist alles ganz anders geworden. 
Ich fühle mich allezeit kräftig und zur Arbeit gut aufgelegt. 
Die schwerste und anstrengendste Tätigkeit greift mich nicht 
so sehr an, wie das früher zeitweilig ein gewöhnlicher Werktag 
tat. Meine Frau ist überglücklich, dass ich der Loge beigetreten 
bin. Sie huldigt ebenfalls absoluter Enthaltsamkeit in Bezug 
auf geistige Getränke und wird das auch unsern Kindern gegen¬ 
über durchführen. Und wie kommen wir heutzutage wirt¬ 
schaftlich vorwärts! Früher herrschte regelmässig Schmalhans 
im Hause. Jetzt reicht der Lohn aus und können wir noch ein 
wenig zurücklegen. Ich habe mir ein Stück Gartenland ge¬ 
mietet. Da bin ich tätig in jeder freien Stunde, die ich mir 
mache. So wie mir geht es meinen Kollegen, mit denen ich 
zusammen arbeite. Bei uns gibt es nun keinen „blauen Montag“ 
mehr. Aber flott geht die Arbeit, wenn wir Kessel zu nieten 
oder Platten zu befestigen haben u. s. w. Ist einmal ein grosses 
Stück vollendet, so kommt es vor, dass wir an einem Mittwoch 
Mittag abbrechen und alsdann Nachmittags mit Frau und Kind 
ins Gehölz gehen und dort gemeinsam Kaffee und Kuchen ge¬ 
messen. Das ist dann ein Freuden- und Erholungstag für Alle 
und am nächsten Tage fluscht die Arbeit wieder doppelt gut! 
Eine ganze Anzahl von Werftarbeitern gehört den Guttempler¬ 
logen an, von denen neuerdings eine dritte hier begründet ist. 
Der Anhang auf der Werft mehrt sich unausgesetzt. Der 
Schnaps- und Bierverbrauch ist wesentlich eingeschränkt worden 
und wir haben nur den Wunsch, aber auch die Hoffnung, dass 
dies künftighin in noch weiterem Masse der Fall sein möge. 
Die Guttemplerlogen sind die grösste Wohltat für uns Arbeiter 
wie für Alle, die sich anschliessen. Wie viel Glück tragen sie 
in die Familien! Freilich wirft man uns bisweilen vor, dass in 
unsern Logen das Formen wesen eine grosse Rolle spiele. Mit 
einigem Rechte kann man das sagen, aber es hat eine tiefe 
Bedeutung. Wer dessen Sinn versteht, will es gewiss nicht 
missen. Wir wissen, dass wir erst am Beginne stehen, haben 
aber die feste Zuversicht, dass wir dereinst zu einer Macht, zu 
einer, das grösste Uebel der Welt, den Alkohol, besiegenden 
Macht uns entwickeln werden. Es gibt kein anderes Mittel 


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Abhandlungen. 


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gegen den Alkohol als die totale Abstinenz; alles Andere 
ist Halbheit und etwas ganz Unvollkommenes!“ 

Seltsam, wie die Züge des einfachen Nieters während 
seiner Auseinandersetzungen einen, man möchte sagen, durch¬ 
geistigten Ausdruck annahmen. Er hatte schliesslich eine Be¬ 
redsamkeit entwickelt, deren ich ihn niemals fähig gehalten 
hätte. Unwillkürlich wurde ich an das Bibelwort von der Aus- 
giessung des heiligen Geistes über die Jünger Jesu erinnnert: 
„Und sie redeten mit feurigen Zungen“. Zu später Stunde 
schieden wir. Warm und herzhaft drückten wir dem Manne 
die schwielige Rechte. Böhmert und ich zogen uns in unsere 
Zimmer zurück, nachdem wir uns darüber verständigt hatten, 
früh aufstehen zu wollen, um einen gemeinsamen Morgenspazier¬ 
gang zu unternehmen. 

Schon um 6 Uhr trafen wir fast gleichzeitig im Frühstücks¬ 
zimmer ein. Unser erstes Wort, das aus beider Mund fast 
gleichzeitig hervorkam, war: wie der andere geschlafen habe 
und übereinstimmend lautete die Antwort: „Gar nicht“. Die 
Erklärung dafür war die, dass uns beide die schlichte Rede 
des Flensburger Arbeiters in Verbindung mit den sonstigen 
Eindrücken des Tages die ganze Nacht hindurch auf das Ein¬ 
gehendste beschäftigt hatten. „Und was haben Sie sich danach 
gesagt?“ so lautete eine Frage, die auch nahezu im gleichen 
Moment der eine wie der andere äusserte. Die Antwort 
beider: „Wir machen es nach dem Vorbilde des Arbeiters 
und des Handwerksmeisters, die wir gestern kennen 
gelernt haben“. Dieser Ausspruch kam aus innerlich be¬ 
wegtem Herzen, beide aber haben wir das uns selbst gegebene 
Wort treu gehalten. 

Wir sind allerdings nicht Guttempler geworden, aber je 
länger desto mehr haben wir die grossen Verdienste der Gut¬ 
templer-Bestrebungen erkannt und anerkannt. Mit aufrichtiger 
Sympathie haben wir die gewaltigen Fortschritte der Abstinenz¬ 
sache in Deutschland verfolgt und sie als eine Macht ersten 
Ranges im Kampfe gegen den Alkohol schätzen gelernt. 

Freilich sind wir beide der Ansicht, dass auch die Gut¬ 
templerbewegung allein den Feind nicht besiegen kann. Es 
müssen noch weitere Kräfte wider ihn aufgeboten werden und 
deshalb betrachten wir auch die gegen den Missbrauch geistiger 



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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde. 


C)1 


Getränke gerichteten Bestrebungen als eine durchaus unerläss¬ 
liche Mithilfe. Und daneben wollen wir ein verständiges Ein¬ 
greifen der Gesetzgebung und der Verwaltung, womit Gott sei 
Dank denn unterdess auch begonnen worden ist. 

Ich darf von mir behaupten, früher stets ein mässiger 
Mann gewesen zu sein. Allezeit habe ich das Trinklaster als 
ein nationales Unglück, als die bedauerlichste Schattenseite in 
unserm Volksleben angesehen. Aber ich gestehe offen, dass 
ich die volle Wichtigkeit der Alkoholfrage doch erst von dem 
Zeitpunkte an zu würdigen weiss, wo ich jeden Alkohol¬ 
genuss aufgegeben habe. Da ist es mir in so vielen Dingen, 
die unmittelbar oder mittelbar mit dem Alkoholismus Zusammen¬ 
hängen, wie Schuppen von den Augen gefallen. Erst danach 
habe ich begriffen, wie eminent wichtige Pflichten Staat und 
Gesellschaft und die Einzelnen haben, dieser Grundursache so 
vielfachen Jammers sozialer, wirtschaftlicher und moralischer 
Natur entgegen zu wirken. — 

Noch eine persönliche Bemerkung! Es ist mir 
unendlich leicht geworden die Abstinenz im täglichen Leben 
durchzuführen. Ich bin ein Mensch, der gern einmal an 
einer frohen Gesellschaft teilnimmt, der die Geselligkeit mit 
Vorliebe pflegt; ich habe das aber mit eben so viel Freude 
und Genugtuung nachher wie vorher getan und tun können. 
Freilich haben kluge Leute mich vielleicht hier und da als 
Sonderling angesehen. Stets Hess ich mir das gefallen, der 
Regel nach hat man mir jedoch gesagt: „Sie handeln durch¬ 
aus recht“. Und wer das nicht hat anerkennen und glauben 
wollen, dem habe ich ruhig seine Meinung gelassen. 

In gesundheitlicher Beziehung konnte ich nur erfreuliche Ver¬ 
änderungen an mir verspüren, seitdem ich Abstinent geworden 
bin. Meine geistige wie körperliche Leistungsfähigkeit ist erhöht, 
meine Widerstandsfähigkeit gegenüber Erkältung und ähnlichen 
Anfechtungen des Lebens zweifellos verstärkt worden. 

Meinen Kindern lasse ich die Freiheit, wie sie sich zur 
Frage der Abstinenz stellen wollen. Es muss hier die eigene 
freie Entscheidung das letzte Wort sprechen. Ich bin aber der 
Meinung, dass das Beispiel ihres Vaters für meine Kinder nicht 
verloren sein wird. 


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Abhandlungen. 


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Und so darf ich denn sagen, dass ich von Herzen den 
Tag zu segnen habe, der mir die Bekanntschaft mit dem Hand¬ 
werksmann und dem Werftarbeiter in Flensburg, diesen beiden 
auch noch heute treuen Guttemplern, verschaffte. Und ich 
möchte annehmen, dass Freund Böhmert nicht anders urteilt, 
wenn er an die Julitage des Jahres 1896 zurückdenkt. 


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Böhmert, Warum ich enthaltsam geworden und geblieben bin ! 


63 


Warum ich enthaltsam geworden und 
geblieben bin! 

Von Prof. Dr. Victor Böhmert. 


Mein Entschluss, enthaltsam zu werden, ist im Monat Juli 1896 
in der Stadt Flensburg in Gemeinschaft mit meinem Freunde 
und früheren Zuhörer, dem Kieler Landesversicherungsrat 
P. Chr. Hansen, gefasst worden. Hansen hatte mich in der im 
Julil896 abgehaltenen Jahresversammlung des Deutschen Vereins 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke in Kiel gebeten, ihn 
nach seiner Vaterstadt Flensburg zu begleiten, um die Verhält¬ 
nisse und Einrichtungen der Guttempler an Ort und Stelle näher 
kennen zu lernen. Unsere beiderseitigen Erlebnisse und Reise¬ 
eindrücke sind von Freund Hansen anschaulich und wahrheits¬ 
getreu geschildert worden. Ich möchte meinem eigenen Berichte 
über die mit meinem Entschlüsse für Enthaltsamkeit zusammen¬ 
hängenden Tatsachen und Gründe eine Probeausfüllung des 
von mir vorgeschlagenen „Fragen-Formulars für Mässige oder 
Enthaltsame“ vorausschicken: 


Probeausfüllung des Fragen-Formulars für Mässige oder 

Enthaltsame. 


1. Name des Befragten: 

2. Tag und Jahr der Geburt: 

3. Geburtsort und Land: 

4. Beruf des Befragten: 

5. Bildungsgang des Befragten: 


1. Karl Victor Böhmert. 

2. 23. August 1829. 

3. Dorf Quesitz bei Markranstädt in 
Sachsen. 

4. Jurist, Volkswirt und Statistiker. 

5. Volksschule: Rosswein. Gymnasium: 
Fürstenschule Meissen. Universität: 
Leipzig. Justizdienst in Leipzig und 


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Abhandlungen. 


()4 


6. Gehört d. Befragte zu einem 
Mässigkeits- oder Enthalt- 
samkeits-V erein ? (Name des 
Vereins): 

7. Hat der Befragte seinen 
früher üblichen Alkoholge¬ 
nuss eingeschränkt, oder 
einmal die Enthaltsamkeit 
versucht? Und wie lange? 

S. Welche Ursachen und Be¬ 
weggründe führten zum Ent¬ 
schlüsse der Enthaltsamkeit? 


9. Welche Unterbrechungen 
der Enthaltsamkeit haben 
stattgefunden ? 

10. Welche Folgen hatte die 
Enthaltsamkeit? 

a) für das körperliche Befinden 

b) für die geistige Arbeit 

c) für das Gemüt und die 
Freude am Leben. 

11. Welche Erfahrungen in Be¬ 
treff des Alkohols machte 
der Befragte: 

a) in seiner Familie und in 
seinem Hause? 

b) in seinem Berufe? 

c) in seinen gesellschaftlichen 
Beziehungen zu früheren 
Freunden? 

d) im öffentlichen Leben? 

12. Welche allgemeine Bemer¬ 
kungen und Tatsachen von 
Wichtigkeit kann der Be¬ 
fragte noch mitteilen ? 


Meissen. Volkswirtschaftliche Stel¬ 
lungen in Heidelberg, Bremen, Zürich 
und in Dresden, schliesslich als 
Direktor des Köngl. Sachs. Statist. 
Büreaus und Professor der Tech¬ 
nischen Hochschule. 

6. Mitglied des Deutschen Vereins gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke u. 
des Dresdner Bezirksvereins gegen den 
Missbrauch geistig. Getränke seit 1883. 

7. Ich lebe enthaltsam seit dem 12. 
Juli 1896 bis heute (9. April 1904). 


8. Der Besuch der Flensburger Gut¬ 
templerlogen und frühere Erfahrungen 
in der Dresdener Armen- und Trinker¬ 
pflege. (Siehe Allgem. Bemerkungen 
zu Frage 12). 

9. Etwa 3 — 4 Mal bei festlichen Ge¬ 
legenheiten ein halbes Glas. 

10. Das körperliche und geistige Allge¬ 
meinbefinden war günstiger als früher. 
Erschlaffung, Ermüdung und Einge¬ 
nommenheit d. Kopfes traten seltener 
ein. Das Gemüt war gleichmässiger 
und harmonischer gestimmt. 

11. Die Enthaltsamkeit bereitete mir an¬ 
fänglich in den gesellschaftlichen Be¬ 
ziehungen einige Schwierigkeiten, ge¬ 
währte aber von Jahr zu Jahr mehr 
äussere und innere Befriedigung, weil 
ein Umschwung in den Trinksitten 
unverkennbar ist und durch das eigene 
Beispiel wirksamer gefördert wird 
als durch Wort und Schrift. 

12. Siehe den nachstehenden allgemeinen 
Bericht. 


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Böhmert, Warum ich enthaltsam geworden und geblieben bin ! 


65 


Allgemeine Bemerkungen zu Frage 12. 

Zunächst muss ich bemerken, dass ich kein förmliches Gelöbnis 
der Enthaltsamkeit abgelegt habe und dass ich nicht Guttempler ge¬ 
worden bin, wie Dr. Wilhelm Martius in seiner Schrift »Die ältere deutsche 
Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung« (Dresden 1901) auf S. 104 
irrtümlich berichtet hat. Mein in Flensburg 1896 gefasster Entschluss, 
enthaltsam zu werden, war dadurch vorbereitet, dass ich mich schon seit 
dem Jahre 1884, als Vorsitzender des Dresdner Bezirksvereins gegen 
Missbrauch geistiger Getränke, an der individuellen Trinkerpflege zwar 
lebhaft beteiligt, aber als Nichtabstinent gar keinen Erfolg gehabt und 
vielmehr vielfach den Vorwurf gehört hatte, dass die Mässigkeitsmänner 
den »kleinen Leuten« ihren Schnaps entziehen, selbst aber Wein, Bier, 
Cognak usw. forttrinken wollten. Ich hielt mich trotz dieses Vorwurfes 
nicht verpflichtet, meinen üblichen Alkoholgenuss aufzugeben, zumal da 
ich, als Sohn eines unvermögenden Geistlichen mit starker Familie, von 
Jugend auf immer genötigt war, einfach und mässig zu leben, und erst 
im 27. Lebenjahre zu einer Berufsstellung gelangte, welche mir gestattete, 
zum Mittagstisch regelmässig 1 bis höchstens 2 Glas Wein zu trinken. 
Auch mein Biergenuss war als Junggeselle, selbst in den Studienjahren,, 
meist auf 1—2 Gläser des Abends beschränkt, da mich ein Genuss von 
mehreren Gläsern Bier in der Regel beschwerte und zur Arbeit unfähig 
machte. Nach meiner Verheiratung im 32. Lebensjahre habe ich mich 
gewöhnt, zum Abendbrot in der Regel Tee zu trinken, während ich mir 
in Gesellschaften den Weingenuss nie ängstlich versagte. Als ich nun 
im Juli 1896 von Flensburg nach Haus zurückkehrte mit dem Entschlüsse, 
künftig enthaltsam zu leben, war meine Familie besorgt, dass der 
plötzliche Verzicht auf Wein bei Tisch, nach 40 jähriger Gewöhnung, im 
67. Lebensjahre meiner Gesundheit schaden könne. Glücklicher Weise 
beruhigte der befragte Arzt meine Familie durch die Versicherung, dass 
ich als Enthaltsamer wahrscheinlich zehn Jahre länger leben würde. Und 
in der Tat habe ich mich in den letzten acht Jahren als Abstinent 
körperlich gesunder, geistig klarer und im Herzen ebenso fröhlich wie 
früher gefühlt. Das Magenweh, welches mich in früheren Jahren 
nicht selten heimsuchte und das ich gewöhnlich durch ein halbes Glas 
Cognak zu bekämpfen suchte, ist nach und nach immer seltener wieder¬ 
gekehrt und jetzt fast ganz verschwunden. Während ich früher nach 
Weingenuss und noch mehr nach Biergenuss immer eines längeren 
Mittagsschlafes bedurfte, kann ich als Abstinent mit einem auf 2 o Minuten 
beschränkten Mittagsschlafe bequem auskommen und fühle mich dann 
nach einem Spaziergange von 30 — 50 Minuten zu geistiger Arbeit mehr 
gekräftigt und leistungsfähiger als früher. Ich war in den letzten acht 
Jahren einmal an Influenza und ein zweites Mal an einer Lungenent¬ 
zündung erkrankt, bin jedoch ohne Wein und ähnliche Mittel, durch 
gute Kost mit Zitronen-Limonade und durch frische Luft ziemlich 
rasch genesen und kann mir noch im 75. Lebensjahre bei drängender 
Geschäftslast noch 8 —10 Stunden geistige Arbeit am Tage zumuten, die 

Die Alkoholffage. 5 


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66 


Abhandlungen. 


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ich dann allerdings manchmal durch einige Stunden Schlaflosigkeit in 
der Nacht büssen muss. Der regelmässige Genuss von Obst, meist im 
gekochten Zustande, Mittags und Abends, und von Limonade mit leichtem 
einfachen Gebäck erscheint mir als der beste Ersatz von Alkohol, da¬ 
gegen halte ich nicht viel von sogenannten alkoholfreien Weinen und 
Bieren. Auch ziehe ich Brunnenwasser dem Seiterswasser bei weitem 
vor. Mein Appetit des Mittags ist vortrefflich, während ich des Abends 
zum Tee nicht viel geniesse und insbesondere abends wenig Fleisch esse. Am 
Morgen beginne ich mein Tagewerk regelmässig mit tüchtigen Waschungen 
und Turnübungen, trinke dann eine Tasse Milch, wandere eine halbe 
Stunde und pflege dann erst zu frühstücken und die angekomraenen 
Zeitungen und Briefe zu lesen. Die Morgenarbeit wird gegen 8 l / 2 Uhr 
begonnen und durch ein zweites Frühstück, bestehend aus einer Tasse 
Kakao mit Semmel unterbrochen. 

Vor dem auf 2 Uhr angesetzten Mittagsessen wird gewöhnlich eine 
halbe Stunde im Freien herumgewandert. Dem Mittagsessen folgt ein 
Mittagsschlaf von etwa 20—30 Minuten mit Zeitungslektüre, dann 
wiederum ein Spaziergang. Daran reihen sich 3—4 Arbeitsstunden. 
Die Arbeit des Tages wird meist um 8 Uhr abgeschlossen; die Zeit 
nach dem Abendessen wird meist der Lektüre und der Unterhaltung mit 
der Familie gewidmet, sobald nicht Versammlungen oder dringliche 
literarische Verpflichtungen abhalten. 

Der Schreiber dieser Zeilen hat über seinen Tageslauf besonders 
deshalb etwas ausführlicher berichtet, weil er andere Berichterstatter zu 
ähnlichen Mitteilungen über ihre Lebensführung, Arbeitszeiten, Ess- 
und Trinksitten und Erholungen veranlassen und manche Leute beruhigen 
möchte, welche im späten Alter Bedenken tragen, ihre Lebensgewöhnung 
noch wesentlich zu ändern. Mir hat die plötzliche Aenderung meiner 
Lebensweise und Trinksitte nichts geschadet, sondern eher genützt und 
mich vor Erschlaffung bewahrt. Ich habe allerdings mein Amt als 
Direktor des Kgl. sächs. statistischen Bureaus im 66. Lebensjahre und 
meine Professur an der Technischen Hochschule im Alter von 74 Jahren 
niedergelegt, aber verschiedene literarische und Vereins-Verpflichtungen 
noch beibehalten und die Redaktion der neuen Vierteljahrsschrift »Die 
Alkoholfrage« im 75. Jahre noch freudig übernommen mit dem Wunsche, 
dass es mir vergönnt sein möge, noch einige Jahre körperlich gesund 
und geistig frisch mit am Webstuhl der Zeit zu arbeiten. 

Schliesslich will ich noch bemerken, dass ich weder meiner 
Familie noch meinen Gästen und anderen Mitmenschen meine Trinksittten 
aufnötige, sondern ihnen die freie, eigene Entscheidung selbst überlasse 
und nur gegenüber der unmündigen Jugend und gefährdeten oder er¬ 
krankten Trinkern einen erzieherischen Zwang für geboten erachte. Im 
Uebrigen huldige ich in der Alkoholfrage und sonst dem Grundsätze, 
dass man gegen sich selbst streng und fest, gegen Andersdenkende aber 
duldsam sein und Gegensätze lieber vermitteln und ausgleichen, als seine 
Mitmenschen trennen und erbittern sollte! 



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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst. 


67 


Abstinenz im EisenbahndiensL 

Von de Terra, Eisenbahndirektor a. D.*) 


In Nordamerika, das für die Entwickelung der Eisenbahn¬ 
technik in mehrfacher Hinsicht geradezu bahnbrechend gewesen 
ist, hat man frühzeitig erkannt, dass nichts in dem Masse ge¬ 
eignet ist, die für die Sicherheit des Betriebes besonders wert¬ 
vollen Eigenschaften des Personals zu beeinträchtigen, wie der 
Genuss alkoholischer Getränke. Um zu dieser Einsicht zu ge¬ 
langen, hatte es für die praktischen Amerikaner keiner um¬ 
fassenden wissenschaftlichen Untersuchungen bedurft. In der 
Hauptsache waren sie dabei auf die Beobachtungen und Er¬ 
fahrungen des täglichen Lebens angewiesen. Und diese hatten 
über die Eigenschaft des Alkohols als eines Nerven- und namentlich 
Hirngiftes schlimmster Art längst keinen Zweifel mehr gelassen, 
noch bevor sich die deutsche Wissenschaft das grosse Verdienst 
erwarb, diese Eigenschaft durch sorgfältige Untersuchungen 
zweifellos festzustellen. In Amerika säumte man nicht, die ge¬ 
wonnene Einsicht nutzbringend zu verwerten. Schon vor geraumer 
Zeit haben die amerikanischen Eisenbahnverwaltungen begonnen, 
von ihrem Personal völlige Alkoholenthaltsamkeit zu verlangen 
oder doch wenigstens bei ihm zu bevorzugen. Zunächst in 
den besonders verantwortlichen Dienstzweigen, wie dem Zug¬ 
dienst. Bei einer vor längerer Zeit an die Direktionen von 25 
amerikanischen Eisenbahn-Gesellschaften gerichteten Umfrage 
erklärte der Direktor einer grossen Eisenbahn - Gesellschaft: 

*) Nach einem Vortrage des Verfassers über „Alkohol und Verkehrswesen“, 
der soeben in 2. Auflage mit einem Anhang: „Die Wirkung geringer Alkoholmengen 
auf die Gehirntätigkeit“ im Verlag von G. Hildebrandt’s Buchhandlung in Stolp i. P. 
erschienen ist. (Preis 20 Pf.) 

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68 


Abhandlungen. 


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„Auf keiner unserer Linien lassen wir jemanden, der Alkohol 
trinkt, eine verantworliche Stellung bekleiden. Die Erfahrung 
hat uns gelehrt, dass man sich auf solche Leute nicht verlassen 
kann, und wir wollen das Leben des Publikums, das unsere 
Züge benutzt, nicht auf’s Spiel setzen.“ Der Bericht über die 
Umfrage schloss mit den Worten: „Die Phrase von der per¬ 
sönlichen Freiheit, gilt nicht für einen Dienst, zu dem nüchterne 
Leute und klare Köpfe nötig sind.“ 

Gegenwärtig hat sich die völlige Alkoholenthaltsamkeit 
unter dem amerikanischen Eisenbahnpersonal dermassen ver¬ 
breitet, dass fast das ganze Personal aus „Temperenzlern“, was 
in Amerika gleichbedeutend mit Enthaltsamen ist, besteht. Die 
grossen Linien scheiden nach und nach alle Angestellten aus,, 
die in oder ausser Dienst alkoholische Getränke geniessen. Sie 
machen bekannt, dass nach einem bestimmten Zeitpunkt über¬ 
haupt keine Personen mehr bei ihnen beschäftigt würden, die 
nicht völlig alkoholenthaltsam sind. 

Und zwar gilt das nicht bloss für das untere Personal; 
auch die höheren Beamten müssen sich dem unterwerfen. 

Dieses Vorgehen wird dadurch ausserordentlich erleichtert, 
dass in Amerika die Ueberzeugung von der Schädlichkeit nament¬ 
lich des gewohnheitsmässigen Alkoholgenusses und des grossen 
Nutzens der völligen Enthaltsamkeit schon in sehr viel weitere 
Kreise des Volkes gedrungen ist, sehr viel mehr Gemeingut der 
gesamten Bevölkerung geworden ist, als es in anderen Ländern 
trotz umfassender wissenschaftlichen Untersuchungen darüber 
bisher geschehen ist. 

Nächst Amerika ist man in der Bekämpfung des Alkohol¬ 
genusses bei dem Eisenbahnpersonal bis jetzt am weitesten in 
England gegangen. Auf der grossen englischen Westbahn 
dürfen den Beamten und Arbeitern keine alkoholischen Getränke 
verabreicht werden. Begründet wird diese Massregel mit der 
Erfahrung, dass „die meisten auf ein Verschulden von Beamten 
zurückzuführenden Betriebsunfälle in angetrunkenem Zustande- 
herbeigeführt werden“. Insgesamt gibt es unter dem englischen 
Eisenbahnpersonal etwa 50000 Enthaltsame. Etwa 20000 davon 
sind zu einem Verein zusammengeschlossen, der 1882 aus der 
eigenen Initiative der englischen Eisenbahnbediensteten hervor¬ 
gegangen ist. 



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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst. 


69 


Auch in Frankreich ist man der wachsenden Gefahr gegen¬ 
über nicht untätig gewesen. Seit mehreren Jahren haben die 
grossen französischen Eisenbahngesellschaften den Kampf gegen 
den Alkohol bei ihrem Personal damit aufgenommen, dass sie 
es durch wissenschaftliche Vorträge über Wesen und Wirkungen 
des Alkohols aufklären lassen. Auf dem Bremer Kongress teilte 
Dr. Legrain-Paris, der verdienstvolle langjährige Führer der 
französischen Antialkoholbewegung mit, dass er im Laufe des 
vorigen Winters im Aufträge der französischen Westbahn deren 
Personal nicht weniger als 40 derartiger Vorträge gehalten habe. 
Einer Nachricht zufolge, die sich in der Monatsschrift „L'Alcool“ 
des französischen Alkoholgegnerbundes (Union Frangaise Anti- 
alcoolique) findet, ist die französische Ostbahn seit drei Jahren 
in dieser Richtung tätig. Der Erfolg ist nicht ausgeblieben. 
Die alkoholgegnerische Vereinigung der französischen Eisen¬ 
bahnbeamten und -Arbeiter (Societe antialcoolique des Employes 
et Ouvriers des chemins de fer) zählt gegenwärtig rund 12000 
Mitglieder, von denen der vierte Teil, also etwa 3000, völlig 
alkoholenthaltsam ist.*) 

In Russland sind neuerdings die Bahnärzte beauftragt 
worden, Untersuchungen über die Verbreitung des Alkoholismus 
bei dem Eisenbahnpersonal anzustellen und sich über die ge¬ 
eigneten Mittel zur Bekämpfung dieses Uebels zu äussern. Von 
dem Ausfall dieser Untersuchungen soll dann das weitere Vor¬ 
gehen in dieser für die Eisenbahnen wie für die Gesamtheit 
gleich wichtigen Angelegenheit abhängen. Da die russische 
Regierung den hohen Wert der Enthaltsamkeitsbewegung für 
die Bekämpfung des Alkoholübels voll zu würdigen scheint, — 
ihr amtlicher Vertreter auf dem Bremer Kongress trat dort 
nachdrücklich für völlige Enthaltsamkeit ein — so darf ange¬ 
nommen werden, dass man sich nicht mit mehr oder minder 
unwirksamen halben Massregeln begnügen wird. 

Welchen Standpunkt die deutschen Eisenbahnverwaltungen 
zu der Alkoholfrage einnehmen, ist aus den Mitteilungen der 
Tageszeitungen so bekannt, dass es kaum eingehender Aus- 


*) Diese der genannten Monatsschrift entnommenen Zahlen scheinen nach 
neueren Mitteilungen an anderer Stelle nicht ganz zutreffend zu sein; völlig sichere 
Angaben waren bisher leider nicht zu erlangen. 


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70 


Abhandlungen. 


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einandersetzungen darüber bedarf. Die preussische Eisenbahn¬ 
verwaltung, die das grösste einheitliche Betriebsunternehmen 
in Europa umfasst, hat schon früher, aber auch in neuerer und 
neuester Zeit, durch eine ganze Reihe von Anordnungen be¬ 
wiesen, dass sie durchaus gewillt ist, den Alkoholgenuss bei 
ihrem Personal soweit einzuschränken, als es bei der unbestreit¬ 
baren Macht unserer Trinksitten und gegenüber dem tief ein¬ 
gewurzelten weitverbreiteten Aberglauben von der Zuträglich¬ 
keit „massigen“ Alkoholgenusses angängig erscheint. Haupt¬ 
sächlich bewegen sich diese Anordnungen auf dem Gebiete der 
Vorbeugung. In den wohnlicher und behaglicher als früher 
ausgestatteten Aufenthalts- und Erfrischungsräumen (Kantinen) 
werden neben leichtem Bier auch alkoholfreie Getränke zu 
billigen Preisen feilgehalten. Branntwein ist vollständig aus¬ 
geschlossen. Auch ist in diesen Räumen überall Gelegenheit 
zur Erwärmung mitgebrachter Speisen und Getränke, wie Kaffee, 
geboten. Für Unterhaltung ist durch Einrichtung von Büchereien 
gesorgt. Bei strenger Kälte werden dem Zugpersonal in be¬ 
stimmten Zwischenräumen erwärmende Getränke, Kaffee oder 
Warmbier (das beim Kochen den grössten Teil des Alkohol¬ 
gehalts einbüsst) unentgeltlich verabreicht. Auf allen Stationen 
der preussisch-hessischen Staatsbahnen bis herunter zu den 
kleinsten Haltestellen ist ferner dafür gesorgt, dass frisches 
Trinkwasser auf den Bahnsteigen oder doch in deren unmittel¬ 
barer Nähe unentgeltlich zu haben ist, eine äusserst wohltätige 
Einrichtung, die leider noch nicht auf allen deutschen Bahnen 
durchgeführt ist. Der Genuss alkoholischer Getränke während 
der Dienstzeit ist gänzlich untersagt oder doch nur unter be¬ 
stimmten einschränkenden Voraussetzungen gestattet, die sich 
in der Praxis allerdings schwer kontrollieren lassen werden. 
Noch wäre hier zu erwähnen, dass die Entnahme alkoholfreier 
Erfrischungen in den Bahnhofswirtschaften namentlich durch 
Herabsetzung der früheren teilweise ganz unverhältnismässig 
hohen Preise dafür ausserordentlich begünstigt worden ist. 

Diese Massnahmen fallen in dem schwierigen Kampfe 
gegen den Alkoholismus zum grössten Teil allerdings unter die 
sogenannten „kleinen Mittel“. Das darf aber ihre Wertschätzung 
nicht beeinträchtigen. Die Hauptsache ist, dass sie mehr oder 
minder den ausgesprochenen Zweck haben, auf die bisherigen 



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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst. 


71 


Trinkgewohnheiten, den bisherigen Trinkzwang, einschränkend 
zu wirken; dass sie ferner dem beständig wachsenden Teile 
des Eisenbahnpersonals (wie des reisenden Publikums), der 
nicht mehr bei jedem Anlass zu alkoholischen Getränken greifen 
mag, die Gelegenheit zu wirklicher Erfrischung geben. 

Sehr bemerkenswert ist das neuerliche Vorgehen der 
Generaldirektion der sächsischen Staatsbahnen. Diese hat den 
sächsischen Landesverband des Deutschen Vereins gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke ersucht, ihren Beamten und 
Arbeitern durch geeignete Aerzte Vorträge über die Alkohol¬ 
frage und ihre Bedeutung für die Eisenbahner halten zu lassen. 
Der genannte Landesverband hat sich selbstverständlich gern 
dazu bereit erklärt. In Dresden, Bautzen, Leipzig, Chemnitz 
und Zwickau soll niit den Vorträgen begonnen werden.*) Wenn 
auf diesem Wege, wie nicht anders zu erwarten, ähnliche Er¬ 
folge wie bei den französischen Bahnen erzielt werden, darf 
mit Sicherheit angenommen werden, dass er in Sachsen weiter 
verfolgt werden wird und dass auch andere deutsche Eisen¬ 
bahnverwaltungen ihn beschreiten werden. 

Der besondere Wert der Alkoholenthaltsamkeit für den 
Betriebs- und Verkehrsdienst, und zwar nicht bloss der Eisen¬ 
bahnen, ist überaus einleuchtend. Er wird eigentlich von keiner 
Seite bestritten. Auch nicht von denen, die — meist um der 
eigenen Trinkgewohnheiten willen — den sogenannten „massigen“ 
Alkoholgenuss aufs hartnäckigste verteidigen. Selbst der in 
letzter Zeit vielgenannte Professor Dr. Hueppe in Prag hat in 
seinem in Bremen gehaltenen Vortrage über „Körperübungen 
und Alkoholismus“ anerkennen müssen, dass schon geringe 
Alkoholmengen die feinere Gehirntätigkeit beeinträchtigen. Bei 
denjenigen Fertigkeiten, sagt er, von denen das Schicksal von 
Menschen abhängt, wie bei der Führung eines Dampfschiffes 
oder einer Lokomotive, muss demnach der Alkoholgebrauch 
unter Umständen die schwersten Bedenken erwecken, und 
viele Zusammenstösse von Schiffen und viele Eisenbahnunfälle 
sind sicher nur der Trunkenheit des Personals zuzuschreiben. 
Der Staat ist deshalb entschieden berechtigt, die Frage zuzu- 


*) Ist inzwischen geschehen. 


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72 


Abhandlungen. 


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lassen, ob für derartige Berufe Abstinenz von Alkohol gefordert 
werden soll. 

Von der Möglichkeit, eine derartige „radikale“ Forderung 
aufzustellen oder durchzuführen, sind wir jedoch in Deutschland 
noch sehr weit entfernt. Erst dann, wenn das Verständnis für 
die Schädlichkeit gewohnheitsmässigen Alkoholgenusses und für 
den Nutzen völliger Enthaltsamkeit, besonders für den gefahr¬ 
vollen und verantwortlichen Verkehrsdienst, in alle Kreise 
unseres Volkes gedrungen sein wird, wenn diese Einsicht ge- 
wissermassen Gemeingut der Gesamtheit geworden sein wird, 
wie es in Nordamerika und in anderen nordischen Ländern 
schon heute der Fall ist, erst dann wird es möglich sein, im 
Interesse des Gesamtwohls eine derartige Forderung zu stellen, 
ohne dass sie als ein ungerechtfertigter Eingriff in die persönliche 
Freiheit des einzelnen empfunden und bekämpft wird. Bis 
dahin aber werden die deutschen Eisenbahnverwaltungen nicht 
umhin können, die auf Einschränkung des Alkoholgenusses und 
namentlich die auf Verbreitung der Enthaltsamkeit gerichteten 
Bestrebungen privater Natur nach Möglichkeit zu fördern und 
zu unterstützen. In erster Linie auf dem Wege der Aufklärung 
und Belehrung unter Mitwirkung geeigneter Aerzte. Ferner 
durch weitere Ausdehnung der vorerwähnten Wohlfahrtsein¬ 
richtungen. Die darauf zu verwendenden Mittel werden sicher¬ 
lich reichen Gewinn tragen. Auch die Bestrebungen des am 
26. Januar 1902 mit etwa 120 Mitgliedern ins Leben gerufenen, 
jetzt über 600 Mitglieder in 16 Ortsgruppen umfassenden 
„Deutschen Vereins enthaltsamer Eisenbahner“*) werden hier¬ 
nach vielleicht eine wohlwollende Förderung verdienen. Tat¬ 
sächlich kann der Verein die Betätigung solchen Wohlwollens 
auch schon dankbar verzeichnen. Die Generaldirektion der 
bayerischen Staatsbahnen hat den Aufruf des Verfassers „An 
alle deutschen Eisenbahner (Beamte und Arbeiter)“ als „geeignet, 
sachdienliche Aufklärung über die Bedeutung der Antialkohol¬ 
bewegung für das allgemeine und individuelle Interesse zu 
geben“, in mehreren tausend Abdrücken bei ihren Dienststellen 
verbreiten lassen. Ausserdem ist sie dem Verein als unter- 


*) Die Vereinszeitschrift ,.Der enthaltsame Eisenbahner“ erscheint monatlich. 
Bezugspreis 50 Pfg. vierteljährlich. 



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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst. 


73 


stützendes Mitglied beigetreten, wie dies kurz zuvor schon die 
Berufsgenossenschaft der deutschen Privatbahnen getan hatte. 
Auch die Generaldirektion der badischen Staatsbahnen hat ihren 
Beitritt erklärt. Je mehr sich die dem Verein bezeugten Sym¬ 
pathien auch praktisch betätigen, desto eher wird es gelingen, 
alle Schwierigkeiten zu überwinden, die sich einer grösseren 
Verbreitung seiner gemeinnützigen Bestrebungen bisher in den 
Weg gestellt haben. 


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Abhandlungen. 


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Die Sonderausstellung zur Bekämpfung des 
Alkoholismus in Charlottenburg. 

Von Dr. jur. EQQ6rS, Bremen. 


Vor einem Jahre hatten wir den ersten internationalen Kongress 
gegen den Alkoholismus auf deutschem Boden. Seit dem 13. März 
dieses Jahres haben wir eine Sonderausstellung zur Bekämpfung des 
Alkoholismus in einem Gebäude des deutschen Reichs.*) 

Solche Tatsachen sind wohl geeignet, das Vertrauen und den 
Mut der Alkoholgegner — der Mässigen und Enthaltsamen — zu heben. 
Nach mehr als 20 jähriger, mühevoller und manchmal aussichtslos 
erscheinender Arbeit auf dem schwer zu beackernden deutschen Boden 
sehen wir endlich die Saat aufgehen, wir sehen Blüte um Blüte knospen 
und können teilweise auch schon von einer Ernte, von einem Bergen 
und Geniessen der Früchte sprechen. Zu solchen Gedanken und Ge¬ 
fühlen regt die Betrachtung der Sonderausstellung an! 

Und noch eine Erwägung drängt sich auf. „Ach, ich bin des 
Kampfes müde!" Dieser Stossseufzer entringt sich in letzter Zeit manchesmal 
der Brust des Alkoholgegners. Nicht müde des Kampfes gegen den 
Alkoholismus, wohl aber des Kampfes unter den Kämpfern. Die grösste 
Zahl der Mitglieder der verschiedenen Vereine wünscht mit den Nachbar¬ 
vereinen Frieden zu halten. Auf dem Bremer Kongress hat man mit 
aller Energie gegenseitig den Standpunkt präzisiert. Das hatte historisch 
seine volle Berechtigung, es war nötig, um einmal Klarheit in die Lage 
zu bringen, um auch einmal vor der breitesten Öffentlichkeit zu zeigen, 
dass nicht alle Alkoholgegner dasselbe wollen, dass die Endziele der 


*) In der Frauenhoferstrasse zu Charlotten bürg befindet sich die unter der 
Verwaltung des Reichsamts des Innern stehende Ständige Ausstellung für Arbeiter¬ 
wohlfahrt, ein Museum für alle den Arbeiterschutz und die Arbeiterwohlfahrtspflege 
umfassenden Bestrebungen. In diesem Museum ist ein besondeier Saal den Bekämpfungen 
der Tuberkulose eingeräumt worden. Ein weiterer Saal ist uns überlassen worden, 
zunächst auf ein Jahr; es ist jedoch begründete Aussicht vorhanden, dass unsere, 
ebenso wie die Tuberkulose-Ausstellung, so gut wie dauernd dort bleiben wird. Es 
mag ausdrücklich hervorgehoben werden, dass diese beiden Sonder-Ausstellungen sich 
nicht nur an die Arbeiterklasse, sondern an alle Klassen der Bevölkerung wenden. 



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Eggers, Die Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus etc. 75 


Mässigkeit und Enthaltsamkeit verschieden sind. Das ist auf dem 
Kongress geschehen, und es ist in Anschluss an den Kongress noch in 
Vorträgen, Aufsätzen und sonstigen öffentlichen wie privaten Auseinander¬ 
setzungen geschehen. Ob es immer mit der wünschenswerten Duldung 
von beiden Seiten, ob es immer mit der vom idealen Standpunkt zu 
fordernden Versöhnlichkeit des Tones erfolgte, das soll hier nicht unter¬ 
sucht werden. Jedenfalls ist man in weiten Kreisen dieser Kämpfe 
überdrüssig* Man sehnt sich nun „andere Töne zu hören und freuden- 
vollere“. Wie weit können Mässige und Abstinenten Zusammengehen ? 
Was ist das Einigende? Empfiehlt es sich nicht auch, die Alkoholfrage 
nach allen Richtungen hin noch zu studieren, anstatt von einem Dogma 
aus alles zu konstruieren ? 

Gerade die Frage des Studiums der Alkoholfrage gewinnt in 
Deutschland immer mehr Bedeutung. Wir haben viele feine, wissen¬ 
schaftliche Köpfe unter uns, die sich durch den Lärm der Agitation 
zurückgeschreckt fühlen, die weder geneigt sind, irgend eine Theorie 
ohne weiteres zu acceptieren, noch in die Propaganda einzutreten. Es 
wäre ausserordentlich viel gewonnen, wenn wir alle Gebildeten dahin 
bringen könnten, sich einmal ernstlich mit unserer Frage zu beschäftigen. 
Zu Agitatoren lässt sich immer nur eine kleine Anzahl von Menschen 
heranbilden. Wenn man mit einer Idee durch dringen will, so kommt es 
darauf an, die öffentlichen Männer zu gewinnen. Wir können nicht alle feinen 
Geister, wir können erst recht nicht 58 Millionen Deutsche zu Mitgliedern 
von Abstinenz- und Mässigkeitsvereinen machen, wir können aber wohl 
dahin kommen, dass die Majorität der Deutschen mit unserer 
Bewegung sympathisiert. Dahin müssen wir kommen, 
das wird andererseits auch genügen. Wenn dann die Zeit erfüllt ist — 
sei es für die Mässigkeit, sei es für die Abstinenz — dann werden die 
kraftvollen Rufer im Streite, die Vorkämpfer mit ihren organisierten An¬ 
hängern vorangehen und werden den Ausschlag gebenden Teil der 
Nation mit sich reissen. Wenn wir aber dahin nicht kommen, wenn 
wir nicht das Sektenhafte, das uns Alkoholgegnern — ernsthaften 
Mässigen wie Enthaltsamen — immer noch anhaftet, überwinden, dann 
wird unsere Reform zerschellen, wie so viele Reformen in den Strudeln 
der Weltgeschichte untergegangen sind, obgleich sie manchesmal von 
tüchtigen Menschen unter glänzender Führung unternommen wurden. 

Die Ausstellung soll das Studium der Alkoholfrage erleichtern, 
der Besucher soll das Studium ohne Umstände und Beeinflussung 
pflegen können. Die Ausstellung soll aber auch in dem Alkoholbekämpfer 
den Eindruck hervorrufen, dass sich hier ein Arsenal voll schneidiger 
Waffen befindet, die nicht nur zur Erweiterung der Waffenkunde auf¬ 
gebaut sind. Die Waffen sollen in dem Alkoholgegner die Lust, den 
Wunsch, den unwiderstehlichen Trieb erwecken, sich ihrer im Kampfe 
zu bedienen. Wir Alkoholgegner brauchen mit dem Losschlagen nicht 
so lange zu warten, bis Theorie und Praxis uns noch mehr, noch bessere 
Waffen gegeben haben. Wir sind auch bei allem Respekt vor der 


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76 


Abhandlungen. 


Wissenschaft, insbesondere der deutschen Wissenschaft, nicht verpflichtet, 
mit gefalteten Händen einen Majoritätsbeschluss oder gar einem ein¬ 
stimmigen Beschluss der Vertreter der Wissenschaft in den tausend und 
abertausend Streit- und Zweifels-Fragen über Alkohol und Alkoholismus 
entgegenzuharren. Wir haben lange genug die Verheerungen des 
Alkoholismus schweigend erduldet. Jetzt ist die Zeit des Schweigens 
vorbei. Und die des Klagens auch. Jetzt wollen wir ausziehen zum 
fröhlichen Kampfe! Wir wollen zu einem greifbaren Ziele kommen. 
Zu einem greifbaren Erfolge, wie ihn unsere Vorfahren in den Befreiungs¬ 
kriegen, wie ihn unsere Väter in den Kämpfen um die Einheit Deutsch¬ 
lands gehabt haben. Diese weltgeschichtlichen Taten sind auch nicht 
auf den Majoritätsbeschlüssen deutscher Professoren aufgebaut worden. 
Ein hervorragender deutscher Gelehrter hat sehr richtig gesagt, dass, 
wenn wir mit der Bekämpfung des Alkoholismus so lange warten wollten, 
bis die deutsche Wissenschaft ihr endgiltiges Urteil über alle und jede, 
grosse und kleine Wirkungen des Alkoholgenusses abgegeben hätte, das 
deutsche Volk sich unterdessen um seine Existenz gesoffen haben würde. 

Die Sonderausstellung soll also neben ihrem theoretisch-wissen¬ 
schaftlichen auch einen praktisch-propagandistischen Charakter haben. 
Es ist sehr zu hoffen, dass das in der Ausstellung deponierte Kapital 
niemals von toter Hand nach büreaukratischen Grundsätzen verwaltet 
wird. Eine lebendige, befruchtende Kraft soll es immer ausströmen. 
In engem Zusammenhang mit den Antialkoholvereinen, mit verwandten 
Bestrebungen, mit dem grossen Publikum, mit den Behörden soll es 
stets gehalten werden. Möge die Ausstellung viele Freunde finden. 
Und einige Feinde ! Einige entrüstete, ihrer Entrüstung lauten Ausdruck 
gebende Feinde. Wenn die Ausstellung keine Angriffe erfahren würde, 
so wäre das vielleicht ein sehr bedenkliches Zeichen, ein Zeichen, dass 
sie für das grosse Publikum langweilig ist, da sie nicht den geringsten 
Widerspruch hervorruft. Möge man auf die Ausstellung schelten, wenn 
man nur davon spricht. Die gerechte Würdigung wird dann schon mit 
der Zeit kommen. 

Bei der Eröffnungsfeier wurde gesagt, dass es sich noch nicht 
eigentlich um eine Einweihung als vielmehr eine Grundsteinlegung 
handeln könne. In der Tat bietet die Ausstellung schon viel An¬ 
regung und Belehrung, es muss das alles aber noch ausserordentlich 
gesteigert und ausgebaut werden. Es kann nach und nach die Aus¬ 
stellung sich zu einer Zentralstelle für die gesamte Antialkoholbewegung 
Deutschlands ausbilden. Und wenn man ganz kühn denken will, so könnte 
man sich diese deutsche zu einer Zentralstelle der Bekämpfung des Alkoho¬ 
lismus auf der ganzen Welt entwickeln sehen. Was wäre dabei so Wunder¬ 
bares? Der Kampf wird jetzt schon in der Hauptsache international 
geführt, Deutschland wäre geographisch und kulturell wohl geeignet, eine 
Zentralstelle zu erhalten. Eine günstigere Stelle als die jetzt geschaffene 
lässt sich kaum denken. Eine freie Organisation im gastlichen Schutze 
des Staates! 


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Eggers, Die Somlerausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus etc. 7 ( 

Das sind Zukunftshoffnungen, zunächst handelt es sich um Gegen¬ 
wartsarbeiten. Es wird in der nächsten Zeit vor allem darauf ankommen, 
die wichtigsten Tatsachen und Gesichtspunkte des Kampfes gegen den 
Alkoholismus in kurze schlagende Anschauungs-Formeln zu bringen. 
Zuverlässige, leicht fassliche Statistiken, Tabellen, bildliche Darstellungen, 
das ist’s, was wir vor allem, und viel mehr als bisher, für unseren Aus¬ 
stellungsraum brauchen. — Und ferner muss unsere Bibliothek zusammen¬ 
gestellt werden. Wir haben von vielen wichtigen Publikationen ein, 
teilweise zwei bis drei Exemplare erhalten, so dass wir eines davon im 
Ausstellungsraum auslegen konnten und die anderen nun in der Biblio¬ 
thek Verwendung finden sollen. Wir beabsichtigen die Bibliothek einmal 
alphabetisch nach den Autoren, zweitens soweit möglich nach Materien 
zusammenzustellen. Die Benutzung der Bibliothek wird zuerst nur in 
dem Ausstellungsgebäude stattfinden können, wir werden dann aber sobald 
wie möglich auch eine Leih-Bibliothek einrichten und in derselben die 
Hauptwerke in grösserer Anzahl führen. — Wenn das die wichtigsten 
Arbeiten sind, so wollen wir alles Andere nicht ausser Acht lassen. 
Unser Bestand muss dauernd auf dem Laufenden erhalten bleiben. Wir 
bitten, dauernd uns alles auf die Alkoholfrage Bezügliche zuzuaenden: 
Bücher, Broschüren, Flugblätter, Artikel aus Zeitschriften und Zeitungen, 
Abbildungen, Statistiken, Tabellen, Modelle, Apparate. Wir werden mög¬ 
lichst alles bringen und, soweit der Platz nicht reicht, für gute Aufbe¬ 
wahrung und späteren Aufbau beim Wechsel der Ausstellungsgegenstände 
sorgen. Wir beabsichtigen, in unserer Ausstellung später von Zeit zu 
Zeit Unterausstellungen zu machen, indem wir z. B. ein Mal alles, was auf 
Heer und Marine oder auf Gewerbe und Landwirtschaft oder auf geistige 
und künstlerische Arbeit, auf den Occident und Orient, auf die Tropen 
und unsere Kolonien etc. Bezug hat, nach speziellen Gruppen zusammen¬ 
stellen. Wir glauben, immer wieder Neues und Interessantes bieten zu 
können. Wir hoffen auch, dass eine Reihe von bemerkenswerten Vor¬ 
trägen in dem herrlichen Vortragssaale des Ausstellungsgebäudes gehalten 
werden wird. 

Sehr wichtig wird es dabei sein, in richtiger Weise das Publikum 
immer wieder auf die Ausstellung anfmerksam zu machen. Durch Be¬ 

sprechungen ! Durch Inserate! Durch Plakate! Durch Plakate be¬ 
sonders auf allen Bahnhöfen Berlins und seiner Vororte, dann aber auch 
aller grösseren deutschen Städte. Der Reisende, der nach Berlin kommt, 
soll immer wieder daran erinnert werden, dass es dort eine Ausstellung 
zur Bekämpfung des Alkoholismus gibt, und dass die Ausstellung unent¬ 
geltlich zu besichtigen ist. »Dort« sagte ich eben nicht ganz korrekt, 
die Ausstellung liegt ja »ausserhalb« Berlins. Sie liegt in Charlottenburg, 
aber doch nicht ausser aller Welt, Fraunhoferstrasse, 4—5 Minuten zu 
gehen vom »Knie«, also bei den vorzüglichen Verbindungen nach dem 
Knie« mit der Untergrundbahn oder der den Tiergarten durchqueren¬ 
den elektrischen Bahn bequem zu erreichen. 

Die Tages-Presse hat eingehend und beinahe durchweg sachlich 
und anerkennend über die Ausstellung berichtet. Den ausführlichsten 


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Abhandlungen. 


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und wohlwollendsten Bericht brachte der »Vorwärts«. Die Ausstellung 
wird über Erwarten stark besucht, der Ausstellungsraum kann manchmal 
die Besucher nicht fassen. Es zeigt sich bei dieser Gelegenheit wie 
bei den Beratungen über die lex Douglas und bei dem Bremer Kongress, 
welch lebhaftes Interesse die Alkoholfrage in letzter Zeit im Publikum 
findet. Die Alkoholfrage ist ein Modethema und mehr als das geworden, 
man beginnt allmählich überall eine Vorstellung von der Bedeutung 
dieser Frage zu bekommen. Diese Vorstellungen zu vertiefen, das ist 
der wesentliche Zweck der Ausstellung. Eine kurze Beschreibung der 
Ausstellung ist von der Leitung herausgegeben und von derselben unent¬ 
geltlich zu beziehen. Es sei gestattet, mit dem Schluss dieser Beschreibung 
auch diese Ausführungen zu schliessen: 

Der Zweck der Ausstellung wird erreicht sein, wenn die weitesten 
Kreise der Bevölkerung davon überzeugt sein werden, dass die — einige 
Individuen angehende — Trunksuchtsfrage früherer Zeiten 
etwas ganz anderes ist als die — Alle angehende — Frage der allmäh¬ 
lichen Alkoholisierung unserer ganzen Nation, dass die Lösung dieseF 
modernen Alkoholfrage nicht ohne schwere Gefahren aufge¬ 
schoben werden kann, dass Gesetze und Verordnungen allein keine 
Hülfe bringen, sondern dass das ganze deutsche Volk, Männer und 
Frauen, Arm und Reich, Jung und Alt, Nüchterne und die durch den 
Alkoholgenuss Gefährdeten, an der gemeinsamen Aufgabe arbeiten müssen : 
unser Vaterland zu befreien von der unwürdigen Tyrannei der Trink¬ 
sitten, von den schmachvollen Ketten des Alkoholismus! Es wäre 
feige undundeutsch, d i es e m s c h w e r e n a b e r n o t w e n d i g 
g ew ordenen Kampf aus dem Wege zu gehen! 


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Brendel, Ueb. d. Fortschritt d. Bestreb, geg. d. Alkoholismus in Bayern. 79 


Ueber den Fortschritt der Bestrebungen gegen 
den Alkoholismus in Bayern. 

Von C. Brendel, München. 


Dass es in dem Bierlande Bayern einen nenneswerten Grad von 
Alkoholismus gebe, kam der öffentlichen Meinung hier erst im letzten 
Jahrzehnt zum Bewusstsein; sogar medizinische Fachleute verkannten 
das Bestehen einer weitverbreiteten Alkoholisierung der Massen durch 
Bier. In einer Statistik der Abhängigkeit des Irreseins vom Alkoholis¬ 
mus wurde im Gegensatz zu andern deutschen Ländern von Bayern 
allen Ernstes behauptet, dass diese Ursache in den bayrischen Irren¬ 
anstalten überhaupt kaum beobachtet würde. 

Getreu Liebigs Ausspruch »das Bier ist flüssiges Brot«, tat man 
sich auf den hohen Bierverbrauch noch etwas zu Gute, sah ihn als einen 
wesentlichen Vorzug vor dem schnapstrinkenden Norden an und hörte 
gern sogar von den dortigen Mässigkeitsfreunden das Bier als vermeint¬ 
lichen Verdränger des Schnapses gepriesen. München galt als der Bier¬ 
vorort in Deutschland und zum guten blauweissen Patriotismus gehört 
das Biertrinken. 

Vor etwa io Jahren begann in Bayern ein Umschwung. Am 
pathologischen Universitätsinstitut konnte die Tatsache nicht unbeobachtet 
bleiben, dass gesunde Männerberzen an Leichen, mögen ihre Träger an 
irgend welcher Krankheit gestorben sein, ein ebenso seltener Befund 
waren, als krankhaft vergrösserte und erweiterte, erschlaffte auffallend oft 
und dann immer bei notorischen Biertrinkern vorkamen. 

Für den Beginn der Mässigkeitsbewegung in Bayern war das Ein¬ 
treten Pettenkofers massgebend. Als treuer Wächter der öffentlichen 
Gesundheit allgemein anerkannt und verehrt, musste sein offenes Be¬ 
kenntnis zum Nachdenken und Nachahmen auffordem. Der Glaube an 
den hohen Wert, zum mindesten an die Ungefährlichkeit des gebräuch¬ 
lichen Biergenusses war erschüttert. Der Zusammenhang einer Masse 
von Leiden und Schäden, sowohl am Körper des Individuums wie der 
staatlichen Gemeinschaft mit den herrschenden Trinksitten wurde erkannt 
und eine lebhafte Agitation sorgte seitdem für eine stetige Ausdehnung 


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Abhandlungen. 


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und Vertiefung dieser Erkenntnis. Freunde und Gesinnungsgenossen 
von aussen führten uns neue wirksame Kräfte zu und von hier ging 
wieder mancher Anstoss nach aussen in geschriebenem und gesprochenem 
Wort, zur Aufklärung, Mitarbeit und zum Beispiel. 

Und doch könnte jede Art von Erfolg bezweifelt werden, wenn 
man das Münchener Leben betrachtet, wo das Bier alles zu beherrschen 
scheint. Der Besuch und 3 ierverbrauch beim Oktoberfest, zur Zeit 
des Bocks und Salvators, Märzen- und Bennobieres etc., das Faschings¬ 
treiben, wo Bachus und Venus wüste Phäakenopfer gebracht werden, 
das Aufkommen mächtiger neuer Bierpaläste, das Kneipen- und Keller- 
Leben, das Trinken zwischen und bei der Arbeit, das Schleppen der 
Bierfässer und Bierkrüge und — Bierbäuche in den Strassen Münchens, 
das Leben und Treiben des Hofbräuhauses usw., all das spricht wenig 
für den Sieg der Mässigkeit oder gar der Enthaltsamkeit in München. 

Im Bierkultus schienen alle Gegensätze sich auszugleichen und auch 
im sonst kampflustigen Landtag schwieg aller Widerspruch, wenn es 
sich z. B. um die Errichtung einer neuen Bierprofessur an der staat¬ 
lichen Brauakademie in Weihenstephan handelte; da kam in Jahren die 
einzige einstimmige Annahme einer Vorlage zu Stande. Entblödete 
sich doch vor ein paar Jahren der Deutsche Verein für Volks¬ 
hygiene nicht, seine Tagung mit einem Festgelage im Hof bräuhaus 
zu eröffnen, wobei es zuging, wie etwa bei einem Brauerkongress, und 
jeder der Festgenossen aus der Hand des Stadtoberhauptes eine bleibende 
Erinnerung an das Fest mit nach Haus bekam, einen echten Münchner 
Masskrug. Auch jetzt sieht man noch als Regel bei Sitzungen sogar 
ernster wissenschaftlicher Vereine das Bierglas fast vor jedem Anwesenden, 
aber — es wird seltener als früher nachgefüllt oder gar nicht und die 
Zahl der Nichtbiertrinkenden nimmt allenthalben auffällig zu. Kurz, 
München trinkt weit weniger als früher. Die krampfhaften verführerischen 
Veranstaltungen, die Reklame der Bierinteressenten, deren treue Gefolg¬ 
schaft und ihre Trinkgelage können die Tatsache nicht aus der Weit 
schaffen, dass München seit io Jahren stetig weniger trinkt. Im letzten 
Rechnungsbericht, von 1902, ergab sich nicht nur eine relative Abnahme 
des Bierverbrauchs auf den Kopf der Bevölkerung, sondern sogar eine 
mächtige absolute Abnahme trotz starkem Zuwachs der Bevölkerung; 
denn 1902 trank München 1517998 Hektoliter, während es im Vor¬ 
jahr 1901 noch 1 712 995 Hektoliter vertrunken hatte. Der Bierkonsum 
betrug noch 1886—1890 jährlich auf den Kopf der Bevölkerung 
487 Liter, sank 1891—1895 bereits auf 412 L., 1896 auf 401 und so 
stufenweise auf 395, 391, 364, 356 und im Jahre 1901 auf 341 und 
1902 auf 298 Liter, allerdings immer noch eine respektable Leistung, 
welche etwa der Gesamtausfuhr der riesigen Münchener Bierproduktion 
entspricht und die Bierausfuhr des ganzen deutschen Reiches über seine 
Grenzen übertrifft. 

Wie hat sich nun hier die Agitation gegen den Alkoholismus 
geäussert? Vor 10 Jahren bildete sich in München ein Zweig des 



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Brendel, Ueb. d. Fortschritt d. Bestreb, geg. d. Alkoholismus in Bayern. 81 


Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke, der bald 
auch in ganz Bayern zahlreiche Mitglieder fand. Nur in Augsburg 
entstand ein zweiter Zweigverein, der ein ziemlich stilles Dasein führt, 
während unsere Bemühungen, auch in anderen bayrischen Städten z. B. 
Nürnberg, Ansbach, Würzburg, Erlangen Zweigvereine zu gründen, bis 
jetzt immer scheiterten. 

Bald entstand hier auch eine Abteilung des Alkoholgegnerbundes 
sowie eine Guttemplerloge und auch in Nürnberg kam es dazu, in 
Augsburg besteht ein Zweig des Blauen Kreuzes. Was diesen allen an 
Zahl abgeht, ersetzen sie durch Rührigkeit und Energie. Ihre befruch¬ 
tende Tätigkeit hat auch auf den »Mässigkeitsverein« günstig eingewirkt; 
viele Mitglieder gehören gleichzeitig den verschiedenen Vereinen an und 
stets herrschte das beste gegenseitige Einvernehmen zum Nutzen der 
gemeinsamen Bestrebungen. Der hohe Wert des persönlichen Beispiels 
und Vorbildes wurde allseitig anerkannt. 

Als Agitationsmittel wirkten ausser Vorträgen aus der Reihe der 
eigenen Vereinsmitglieder oder wertvoller Gäste die Beeinflussung der 
Presse, eine schwierige Sache gegenüber dem Alkoholkapital, ferner Ver¬ 
teilung vieler Schriften aus unserer reichen Antialkoholliteratur, Heraus¬ 
gabe und Verbreitung eigener Druckschriften, besonders aber die Förderung 
einer Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen, die aus unseren Kreisen 
wenigstens den Anstoss erhielten und Segen seit Jahren stiften. 

Da sind zu neuen Wärmehallen (mit billiger Milch — Kaffee und 
Suppen), Kaffeebuden, die schon vor 5 Uhr geöffnet und besonders gegen 
den Frühschnaps gerichtet sind, öffentliche Speisehallen (mit etwa 3000 
Besuchern täglich, ohne Alkoholkonsum) und neuerdings auch ein alkohol¬ 
freies feineres Restaurant, der Jungbrunnen, gekommen. 

Die bayrische Bahnverwaltung hat mehrere Verbesserungen zur 
Abstellung von Missbräuchen angeordnet. 

Das Kultusministerium hat das Anerbieten des Mässigkeitsvereins, 
durch eines seiner berufensten Mitglieder in allen bayrischen Lehrer- 
seminarien Vorträge über die Alkoholfrage halten zu lassen, angenommen 
und wirksam gefördert. 

Aehnliche grössere Vortragsabende mit Diskussion sind in den 
Priesterseminarien begonnen worden und sollen auf alle auszudehnen 
versucht werden, am liebsten auch auf alle Mittelschulen. 

Einige Vorträge wurden auch an der Universität gehalten, aber 
leider verhalten sich auch hier wie anderwärts noch viele, denen es an 
der Erkenntnis einer Berechtigung der Bekämpfung der Trinksitten nicht 
fehlt, noch schwächlich und schüchtern. Doch ist auch hierin das 
Wachstum des Pflichtgefühls des Individuums gegenüber den sozialen 
Aufgaben nicht zu verkennen, und die gut aufgenommenen Vorträge in 
Gewerkschaftsversammlungen fanden fruchtbaren Boden. 

Die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung und der Behörden 
musste auch auf die viel zu wenig beachtete Ausdehnung des Schnaps¬ 
konsums in München gelenkt werden. Eine Eingabe an den Magistrat 

Die Alkoholfrage. 6 


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Abhandlungen. 


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bezweckt, den Schnapsbuden das Oeffnen vor 8 Uhr morgens zu ver¬ 
bieten. Hat sich doch ergeben, dass im Durchschnitt bis dahin jede 
Schnapsbude schon 80 Gäste täglich aufnimmt. Die Angelegenheit ist 
in Untersuchung. 

Das Vordringen der Trinkgewohnheiten auf dem Flachland bis 
in die entlegensten Ortschaften, vorzugsweise eine Folge des aufdring¬ 
lichen Flaschenbierhandels, muss bekämpft werden als eine der schäd¬ 
lichsten Neuerungen im Bauemleben. 

Der beträchtliche Verbrauch von Natur- und Kunstweinen wird 
hier noch nicht kontrolliert, ebensowenig der Verschleiss der namenreichen 
Schnaps-, Likör- und Kognak-Fabrikation. 

Wir kennen es ja zur Genüge, mit wie zarten Händen die ganze 
Getränkebereitung und der Verkauf und die Besteuerung allenthalben 
angefasst wird. Um so fester muss unserseits eingegriffen werden und 
daran soll es auch künftig in stets steigendem Grad nicht fehlen. 


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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika. 


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Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ 

in Amerika. 

Von Dr. W. A. Stille in Leipzig. 


Kein Kulturland hat schwerer an den Folgen der Trinkgewohn¬ 
heiten gelitten, als die Vereinigten Staaten von Amerika, in keinem 
anderen Lande ist aber auch mit solchem Feuereifer und solcher Aus¬ 
dauer gegen die berauschenden Getränke gekämpft worden, und in 
keinem anderen Lande hat endlich eine solche Klärung der öffentlichen 
Meinung über den Volksfeind Alkohol stattgefunden, wie in den Ver¬ 
einigten Staaten. 

Lange Zeit hindurch schien den Kämpfern für die Enthaltsamkeit 
das gänzliche Verbot von Herstellung und Verkauf der berauschenden 
Getränke (die »Prohibition«) das wirksamste Mittel zur Bekämpfung des 
alten Uebels; und wirklich hat dies Mittel gute Dienste geleistet, bis 
man endlich zu einem anderen Hülfsmittel übergehen konnte, nachdem 
genügende Aufklärung im Volke verbreitet und die öffentliche Meinung 
umgestimmt war. Dies neue Mittel ist die »local Option«, d. h. das 
Bestimmungsrecht der einzelnen Kommunen, ob und unter welchen 
Bedingungen jedesmal in dem gegenwärtigen Jahre Schanklizenzen aus¬ 
gegeben werden sollen, — oder nicht. Ein Staatsgesetz aber bestimmt 
ausserdem noch eine hohe jährliche Abgabe an den Staat, für jede 
Schanklizenz. 

Die Statistik weist immer noch für Amerika einen nicht geringen 
Verbrauch alkoholischer Getränke auf, aber es ist auch bekannt, dass 
heutzutage fast nur noch unter dem eingewanderten Teil der Bevölkerung 
die Trinkgewohnheiten fortbestehen, und dass die eingeborenen Amerikaner 
fast durchgängig die alkoholischen Getränke meiden. Sogar die Kinder 
der Deutschen in Amerika wachsen so unter dem Einfluss amerikanischer 
Sitten auf, dass sie zum Teil schon abstinent leben, zum grösseren Teil 
aber sich einer strengeren Mässigkeit befleissigen, als ihre Väter. 

Wie sehr der gute Ton unter Anglo-Amerikanern die Enthaltsam¬ 
keit von geistigen Getränken erheischt, wird man daraus entnehmen, 
dass man in Amerika in den Hotels an table d’höte keinen Wein 

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Abhandlungen. 


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bekommt. Der Kellner würde erstaunt sagen: »Aber meine Herren, Sie 
können doch unmöglich verlangen, dass ich Ihnen hier, in Gegenwart 
der Damen, Wein bringe!« Auch wird man sich aus den Zeitungen 
entsinnen, dass, als vor zwei Jahren dem Prinzen Heinrich zu Ehren in 
der Marine-Akademie zu Annapolis ein Festmahl gegeben wurde, dass 
da kein Wein auf der Tafel erschien. 

Die Kämpfe um die alkoholischen Getränke haben seit etwa 
70 Jahren in Amerika eine erstaunlich grosse Rolle gespielt Das ganze 
Volk war mit dieser Frage beschäftigt. In den Legislaturen der ein¬ 
zelnen Staaten gab es regelmässig wiederkehrende Kämpfe um Ein¬ 
führung oder Ablehnung der Prohibition, Kämpfe um höhere Besteuerung 
des Schankgewerbes, um Bestrafung der Wirte für die Vergehen der 
Betrunkenen, usw. Die protestantischen Kirchen englischer Sprache 
kämpften eifrig für die Enthaltsamkeit, und wo es die öffentliche Meinung 
zuliess, taten auch die Lehrer in den öffentlichen Schulen ein gleiches. 
Bei den Wahlen des Bürgermeisters in den grossen Städten ging es 
heiss her, denn dieser Beamte hat die Pflicht, durch die Polizei die 
Schankstätten überwachen zu lassen und darauf zu sehen, dass die 
Sonntagsgesetze nicht übertreten werden. 

Im Laufe der langen Zeit und infolge der beständigen Agitation 
haben überall in den Vereinigten Staaten die Trinksitten eine Einschränkung 
erfahren, von der wir hier in Deutschland weit entfernt sind. Und das. 
ist geschehen sogar ohne die wissenschaftliche Erkenntnis, die man, dank 
der deutschen Forschungen, heute über die Wirkung der alkoholischen 
Getränke besitzt. Wie schlimm es dagegen im Anfang des 19. Jahr¬ 
hunderts noch aussah, mag man aus folgender Angabe entnehmen. Im 
Jahre 1817 hatte sich in New-York eine Gesellschaft zur Bekämpfung 
der Trinksitten gebildet, das »Bürgerkomitee«. Dies berichtete, dass 
damals in New-York ein Achtel der ganzen Bevölkerung Armenunter¬ 
stützung empfing, dass aber sieben Achtel dieses Pauperismus allein vom 
Trunk herrühre. In demselben Jahre berichtete der Bürgermeister von 
New-York, dass in der Stadt, welche damals 115 000 Einwohner zählte, 
2500 Trinklokale existierten, d. h. eins auf 46 Einwohner! Aehnlich 
sah es in Baltimore, Philadelphia und anderen Städten aus. Es mussten 
notwendig kräftige Massregeln ergriffen werden gegen das Alkoholelend. 
In den 20 er und 30 er Jahren regte es sich auch mächtig. Ueberall 
entstanden »Mässigkeitsvereine«, die freilich in Wirklichkeit Enthaltsam¬ 
keit verlangten, da man längst aus Erfahrung wusste, dass der Entschluss 
des Trinkers, hinfort mässig zu sein, immer fruchtlos bleibt. Trotz des 
Eifers der Temperenzler ist es gewiss, dass um das Jahr 1840 noch 
viel getrunken wurde. In diesem Iahre fand nämlich jene Präsidenten¬ 
wahl statt, die noch heute im Volke unter dem Namen »the hard cider 
campaign« bekannt ist, und damit hat es folgende Bewandtnis: Der 
General Harrison, der die Indianer bei Tippecanoe geschlagen hatte 
und der im Volke den Kosenamen »Old Tippecanoe« hatte, war Präsi¬ 
dentschaftskandidat. Er war ein volkstümlicher Held, und es wurde ihm 


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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika. 


85 


nachgerühmt, dass er selbst seinen Apfelwein baue und ihn selbst tränke. 
Tyler war Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der Schlachtenruf hiess: 
:> Old Tippecanoe and Tyler too« und dabei gab es gegorenen Apfel¬ 
wein (hard cider) in ungemessenen Mengen. Die Begeisterung erreichte 
eine unglaubliche Höhe und Harrison und Tyler wurden gewählt mit 
grosser Majorität. 

Gleich nach dem »hard cider campaign« kam die Ernüchterung. In 
allen Staaten setzte eine starke Bewegung ein für die gänzliche Abschaffung 
der berauschenden Getränke, und im Jahre 1851 war die Sache so weit 
gediehen, dass die Temperenzler im Staate Maine das bekannte Maine 
Liquor Law durchsetzten, ein Gesetz, von dessen Bestimmungen sogleich 
die Rede sein soll. Andere Staaten folgten bald nach, so Vermont im 
Jahre 1853. In New-York gelang es nicht, das Gesetz durchzubringen; 
dass aber doch stark in der Richtung für die Abschaffung der berauschenden 
Getränke gearbeitet wurde, wird man daraus ersehen, dass im Jahre 1852 
in New-York der Guttempler-Orden gegründet wurde, der rasch sich 
verbreitete. Im ganzen Lande wurde die 50 er Jahre hindurch eifrig für 
und wider die Abschaffung gekämpft. Gegen die Abschaffung taten 
sich bald die Brauer und Brenner zusammen, und in allen Staats¬ 
legislaturen gab es Umtriebe, zum Teil recht dunkler Art, denn man 
weiss, dass die Brauer und Brenner es sich viel, sehr viel Geld kosten 
liessen, die Prohibitionsgesetze zu hintertreiben. 

Die Bestimmungen des Maine Liquor Law, also jenes Prohibitiv- 
Gesetzes, das im Jahre 1851 im Staate Maine Gesetz wurde und das 
sich über 50 Jahre behauptet hat, sind im wesentlichen folgende. Es 
verbietet unter Androhung hoher Strafen für den Staat Maine jede Her¬ 
stellung und jeden Verkauf, jedes Verschenken oder Verabreichen irgend¬ 
welcher alkoholischer Getränke, Wein, Bier, Branntwein, Obstwein usw. 
Nur bei ärztlichen Verordnungen tritt eine Ausnahme ein. Der Arzt 
darf also zur Stärkung usw., als Heilmittel alkoholische Getränke ver¬ 
ordnen und der Apotheker darf die ärztliche Verordnung ausführen. Er 
darf nicht beim Glase verkaufen und darf nicht dulden, dass man in 
der Apotheke trinkt, aber flaschenweise darf er verabreichen. Hierbei 
ist noch zu bemerken, dass das Gesetz nur den Verkauf verbietet, 
nicht aber den Kauf, sodass also der Einführung alkoholischer Getränke 
aus anderen Staaten nichts im Wege steht. 

Als das Maine Liquor Law in Kraft getreten war, entstand die 
wichtige Frage nach seiner Durchführbarkeit. In der ganzen Union 
wartete man mit Spannung auf die Erfolge. Der augenscheinlichste 
Erfolg war zunächst der, dass die Aerzte viel in Anspruch genommen 
wurden. Da gab es so viele Schwächezustände zu heilen, namentlich 
des Magens, dass man sich an den weisen Rat erinnerte, den Paulus 
dem Timotheus gegeben hat, um seines Magens willen, ein wenig Wein 
zu trinken, und die Aerzte waren auch so gefällig, den Wünschen der 
Patienten nachzukommen. Das gab gute Zeiten für die Apotheker und 
neue Apotheken taten sich auf in allen Gassen. Aber nicht jedermann 


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86 


Abhandlungen. 


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kann die teuren Getränke aus der Apotheke bezahlen und so entstand 
bald ein lebhafter Schmuggelhandel und man kaufte Spirituosen unter 
allerhand falschen Namen. Erfindungsreiche Aerzte stellten allerlei mit 
Medikamenten versetzte Liköre her, Hessen sich diese als Medizinen 
patentieren und diese Patentmedizinen wurden überall öffentlich verkauft. 
In Trinkhallen, wo man scheinbar nur Mineralwässer bekam, setzte man 
den Wässern allerlei Sirupe zu, auch eine braune Flüssigkeit, die unter 
dem Namen Kaffee ging, die aber in Wirklichkeit Rum war, oder Brandy. 

Die Gegner der Prohibition protestierten laut gegen solches Treiben. 
Das ganze Gesetz sei nichts als ein heuchlerischer Trug der Frömmler 
und Augenverdreher, der Pfaffen und der Weiber. Aber nun die andere 
Seite: Trotz aller dieser Missbräuche und Uebelstände war doch der 
Erfolg höchst bedeutungsvoll und wirksam. In erster Linie ist da zu 
nennen die Zerstörung der öffentlichen Trinksitten und 
Gebräuche. Um zu verstehen, was das zu bedeuten hat, muss man 
sich die amerikanischen Trinksitten, ja den Trinkzwang, richtig vorstellen. 
In allen Staaten gilt folgender Brauch: Wer ein Trinklokal besucht und 
dort Bekannte trifft, die nicht bereits trinken, der ladet die Bekannten 
ein zum Mittrinken. Natürlich hat dann jeder der Eingeladenen eine 
Art moralischer Verpflichtung, auch seinerseits eine Runde zu bestellen. 
Ist der Bekanntenkreis so gross, dass man nicht alles trinken kann, 
was vorgesetzt wird, so darf man ein kleines Glas fordern, was der 
Wirt ganz gern sieht. Zum Schluss, wenn jeder eine Runde hat kommen 
lassen, kommt der Wirt an die Reihe mit der Schlussrunde. Diese 
Regel ist in ländlichen Distrikten noch heute fast unverbrüchlich, 
namentlich im fernen Westen, ausnahmslos in Minendistrikten. Dass 
die Sache obligatorisch und mitunter geradezu kein Spass ist, zeigt 
folgende Anekdote, die den Trinkzwang drastisch schildert: Ein Herr 
aus Boston reist in Colorado und da er in einem Hotel mit Andern,, 
die er zum Mittrinken eingeladen hat, am Schenktisch steht und eben 
sein Glas zum Munde führt, fällt ein Schuss. Die Kugel zerschmettert 
das Glas unseres Bostoners. Da ruft Jemand, der in der Ecke des 
Zimmers sitzt und beim Aufrufen übersehen ist: »Verzeihen Sie, mein 
Herr, in Ihrem Glase war eine Fliege«. Der Bostoner Herr versteht 
den Wink und ladet höflich den Gast aus der Ecke ein, mitzutrinken. 

Wird man aufgefordert mitzutrinken, so darf man nicht ablehnen, 
wenigstens nicht in ländlichen Distrikten, jedenfalls nicht im fernen 
Westen, z. B. in den Silberminen Colorados, dies gilt nämlich als eine 
schwere Beleidigung und führt, wenn die Gesellschaft schon etwas ange¬ 
trunken ist, gar leicht zu Tätlichkeiten. 

In den 50 er und noch am Anfang der 60 er Jahre stiess man 
auf Schritt und Tritt auf die Trinkgebräuche. Auf dem Lande und in 
kleineren Orten war es (ausser in den Temperenzstaaten) überall Gebrauch, 
dass wenn man in einem Laden etwas gekauft hatte, der Verkäufer 
dem Kunden mit einem Gläschen Whisky aufwartete. Vielerwärts war 
es auch den Kunden überlassen, sich selbst zu bedienen, dazu stand 



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die Karaffe nebst Gläsern auf dem Warentische, meist neben dem 
Schreibpult. Die Frauen verschmähten auch ihr Gläschen nicht, nur 
pflegten sie den Whisky mit Wasser und Zucker versetzt vorzuziehen. 
Man wird diesen Brauch um so mehr erklärlich finden, wenn man 
erfährt, wie wohlfeil damals der Whisky war; er kostete dem Land¬ 
kaufmann etwa 18 Cents die Gallone, d. h. ungefähr 22 Pf. pro Liter. 

Um jene Zeit waren die Arbeiter fast im ganzen Lande dem 
Whiskytrunk stark ergeben, was noch einen besonderen Grund hat, der 
erwähnt zu werden verdient, nämlich die Gewohnheit viel, ja zu viel 
Fleisch zu essen, namentlich Schweinefleisch. Man ass es dreimal 
täglich, und es ist ja bekannt, dass der Genuss von fettem Fleisch das 
Verlangen nach Spirituosen anregt. 

Was wurde nun aus den öffentlichen Trinkgebräuchen, als das 
Temperenzgesetz eingeführt war? Die Temperenz-Partei hatte das Gesetz 
auf ihrer Seite und sie wachte scharf über seine Durchführung. Trink¬ 
lokale, wo offenkundig alkoholische Getränke verkauft wurden, gab es 
nicht mehr, in den Hotels und Restaurants durften solche Getränke 
nicht mehr gereicht werden, denn das war immer gefährlich, weil es 
viele Temperenzler gab, die spionierten und kundschafteten. Im eigenen 
Hause durfte man auch seinen Gästen keine verbotenen Getränke vor¬ 
setzen. Das Trinken aus den Apotheken war ein teures Vergnügen 
und entbehrte auch der feuchtfröhlichen Umgebung. Immerhin musste 
das Trinken mit Vorsicht betrieben werden. Wer berauscht angetroffen 
wurde, wurde scharf ausgefragt, wo er den guten Stoff bekommen habe 
und der Schleichhandel wurde riskant und die Getränke teuer und schlecht. 

Aber noch ein Moment kam in Betracht, von dessen Macht man 
sich bei uns in Deutschland nicht leicht eine richtige Vorstellung machen 
wird; es war das was die Gegner der Temperenz den Fanatismus der 
Temperenzler nannten. Es war eine Art religiöser Fanatismus. Sämtliche 
protestantische Kirchen englischer Sprache traten mit Macht für die 
Sache der Enthaltsamkeit ein. Die Zeit um Anfang der 50 er Jahre 
war überhaupt eine Periode religiösen Eifers. Die inneren Missionen 
entfalteten eine rege Tätigkeit, überall hielt man Abendgottesdienst, verteilte 
Traktätchen und in den Kirchen hörte man brünstige Gebete, der Herr 
möge die umnachteten Gemüter der Menschen erhellen und sie befreien 
aus der Nacht und dem Nebel der giftigen Getränke (intoxicating drinks). 

Unsere deutschen Landsleute nannten dies Treiben Heuchelei und 
Fanatismus. Was Heuchelei anlangt, so waren sie sicherlich im Irrtum 
befangen, denn ohne Frage steckte sehr viel ernstes Wollen, ja sehr 
viel Begeisterung darin; es war ein Ringen nach Wiedergeburt. Am 
Schluss der begeisterten Reden für Enthaltsamkeit wurden die jungen 
Leute aufgefordert, to sign the pledge, d. h. das schriftliche Versprechen 
völliger Enthaltsamkeit zu geben. Sie kamen in Scharen, und es war 
nicht leerer Schaum; die grosse Mehrzahl hielt das Versprechen und sie 
wurden Mitkämpfer für die Sache der Temperenz. 


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Abhandlungen. 


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Bald zeigte sich, dass es fast nur die alten Trinker und die Aus¬ 
länder waren, die noch im Trinken beharrten, und da diese nun ihr 
reiches Kontingent stellten zu den von der Polizei für allerlei Vergehen 
Bestraften, so kam das Trinken wirklich in Misskredit. Der gute Ton 
verlangte schon die völlige Enthaltsamkeit. Die guten Folgen blieben 
nicht aus. Wie überall, wo die Enthaltsamkeit wirklich Boden fasst, 
zeigte sich bald eine starke Abnahme von Verbrechen und Vergehen 
aller Art, namentlich solcher, wo Roheit und Gewalttat ins Spiel kam. 

Im Jahre 1853 folgte Vermont dem Beispiele seines Nachbarstaates 
Maine. Ein Temperenz-Gesetz wurde durchgesetzt, mit ganz ähnlichen 
Bestimmungen wie die des Maine Liquor Law, und es stellten sich auch 
in Vermont ganz ähnliche Resultate heraus. Nach und nach folgten 
noch 15 andere Staaten. Dies geschah unter immerwährenden Kämpfen. 
Manches tragi-komische Stückchen Hesse sich davon erzählen, wie z. B. 
das von dem grossen Siege der Brauer und Wirte in der Stadt New-York 
im Jahre 1854, wo vor Gericht durch Experiment »bewiesen« wurde, 
das deutsche Lagerbier gehöre gar nicht zu den berauschenden Getränken 
— und von dem darauf folgenden beispiellosen Rausch am nächsten 
Sonntag, wo wankende und johlende Gestalten aus allen Biergärten 
taumelten und die Polizei gar nicht alle einstecken konnte. 

Der Kampf um die Durchführung der Sonntagsgesetze schürte 
mächtig das Feuer des Kampfes um die alkoholischen Getränke. Der 
Anglo-Amerikaner hielt es für eine ruchlose Entheiligung des Sonntags 
(des Sabbaths, wie der gebräuchliche Ausdruck war), wenn an diesem 
Tage des Herrn Volksfeste im Freien gehalten wurden, nach deutscher 
Weise mit Bier und Blechmusik. In den grösseren Städten, wo viele Deutsche 
lebten, war es immer eine wichtige Frage, wer zum Bürgermeister gewählt 
wurde. Natürlich kamen da allerhand dunkle Machenschaften zu stände. 

Was war nun aber das wirklich wertvolle Endresultatat der Prohibi¬ 
tion? Hat sie der Enthaltsamkeitsbewegung wesentlichen Nutzen gebracht? 
Gewiss, der erste und hervorragendste Nutzen war der, dass die 
öffentlichen Trinksitten und -Gebräuche gebrochen 
wurden. Damit fiel die Hauptgelegenheit zum Trinken 
fort. Der leidige Trinkzwang war vernichtet und die 
Verführung der jungen Leute bis auf ein Geringes 
verschwunden. 

Aber auch nach der Einführung der Prohibitiv-Gesetze war die 
eifrige Tätigkeit der Temperenzler nötig, und dieser Arbeit ist haupt¬ 
sächlich die endliche Umwandlung der öffentlichen Meinung 
zu danken. Die Temperenzler wurden nicht müde, immer und immer 
wieder darauf hinzu weisen, dass das Elend, die Verbrechen, die Armut 
zum allergrössten Teil von dem heimlichen Trunk herrühren. Dies 
ergab sich zweifellos aus den Berichten der Polizei und des Armen¬ 
amtes. Das heimhche Trinken kam in Misskredit und es gehört heut¬ 
zutage unter Anglo-Amerikanern durchaus zum guten Ton, die Enthalt¬ 
samkeit nicht blos zu preisen, sondern auch zu üben. 



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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika. 


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Die Uebelstände, die mit der Prohibition notwendig verbunden 
sind und sich nie werden völlig beseitigen lassen, wie Schmuggelhandel, 
Verkauf von Spirituosen in Apotheken und in geheimen Räumen in 
den Hotels, haben endlich dahin geführt, dass man statt der Prohibition 
ein anderes und wirksameres Mittel zur Bekämpfung der Trinksitten 
fast in allen Staaten eingeführt hat. Im Mai 1903 gab es nur noch 
drei »Temperenzstaaten« und auch diese waren bereits auf dem Wege 
zu dem neuen Mittel zu greifen, nämlich den hohen Staatsabgaben x für 
Schanklizenzen, zusammen mit der local Option, d. h. dem Bestimmungs¬ 
recht jeder Kommune darüber, ob und unter welchen Bedingungen 
überhaupt Schankstätten zugelassen werden sollen. Das Staatsgesetz 
beschränkt schon die Anzahl der erlaubten Schankstätten nach der Be¬ 
völkerungszahl ; und die Bedingungen, welche die Staatsgesetze ferner 
vorschreiben, sind meistens so, dass der Wirt nur mit sehr grosser 
Vorsicht im Stande ist, sein Haus überhaupt für das Publikum offen 
zu halten, denn gar leicht kann etwas Vorkommen, wodurch seine 
Lizenz hinfällig wird. 

Diese amerikanische Einrichtung, die unter dem Namen local 
Option bekannt ist, verdient eine ausführliche Darlegung. 


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Abhandlungen. 


Der Guttemplerorden in Deutschland. 

Von G. Asmussen, Hamburg. 


Im Frühling 1883 kamen die ersten Pioniere des Guttemplerordens 
von Dänemark über die Königsau nach Nord-Schleswig, am 12. Juli 
1883 wurde in Hadersleben die erste Loge gestiftet, sie erhielt den 
Namen »Pionier« Nr. 1. Im Sommer 1887 drang die Propaganda bis 
Flensburg vor, am 9. Oktober wurde dann hier die erste Loge — 
»Digynia« — mit deutscher Geschäftssprache gegründet. 

Anfangs standen die nordschleswigschen Logen direkt unter der 
Weltloge, erst am 13. Februar 1888 wurde in Apenrade Deutschlands 
Grossloge I gestiftet. Ihr Arbeitsfeld ist ein kleines geblieben, es 
erstreckt sich von der dänischen Landes- bis zur deutschen Sprach¬ 
grenze ; die Geschäftssprache der unter dieser Grossloge stehenden 
Logen ist bis heute die dänische. Einfache Männer und Frauen aus 
dem Volke sind zuerst es gewesen, die die Kraft fanden, drückende 
Fesseln zu sprengen, die den Mut hatten, dem Hohn der Trinkenden 
und der Macht der Trinksitten zu trotzen. Es steht dort im Norden 
mancher Mann im groben Arbeitskittel an der Werkbank, und es geht 
mancher in Holzschuhen hinter dem Pfluge, dessen Name genannt zu 
werden verdient, wenn von den Kämpfern wider den Volksfeind Alkohol 
die Rede ist. Ausser diesen waren es tüchtige Männer aus dem Lehrer¬ 
stande, die ihre Kraft in den Dienst der guten Sache stellten. 

Viele Hindernisse standen der Arbeit des Ordens in Nord-Schleswig 
entgegen: kleinliches Pharisäertum und Vorurteile mancher Art, die 
Interessen der Produzenten und die zähe Anhänglichkeit der Trinkenden 
an Tee- und Kaffeepünsche, an Grog und Bier. Ein böses Paten¬ 
geschenk war namentlich das »leichte Bier«, das Grossloge I von 
Dänemark mitbekommen hatte. Es war dort zu Anfang den Guttemplern 
Bier bis zu 2^ Alkoholgehalt erlaubt; das hat wieder und wieder 
grossen Schaden getan und einmal beinahe die ganze Grossloge fort¬ 
geschwemmt. Die gefälligen Brauer und Händler lieferten gerne das 
»Guttempler-Bier« und die Wirte verzapften es fleissig. Natürlich nahm 
man es mit den 2 % nicht so genau, — wer konnte auch jede Flasche 



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As müssen. Der Guttemplerorden in Deutschland. 


91 


analysieren! Und wenn 2% nicht schaden, dann können 2 1 j t % und 
3 % auch nicht gefährlich sein — so dachten wenigstens die Verkäufer. 
Die Käufer allerdings merkten wohl den Schaden und was sie selbst 
nicht merkten, das sahen andere. Dies Bier züchtete auch »Völlerei«, 
man trank eben einige Flaschen mehr, um den genügenden Nutzeffekt 
zu erzielen, es brachte in bösen Verdacht und in Verruf, es lockerte 
die Disziplin und zog das »Geschäfts-Guttemplertum« gross, es verleitete 
zur Heuchelei und zu Rückfällen — kurz es führte zu haltlosen Zu¬ 
ständen. Gerne nahmen die Führer und Leiter der Bewegung den 
Kampf gegen das »harmlose« Bier nicht auf, er erschütterte denn auch 
den Bau in den Grundfesten und zersplitterte manchen Stamm, der im 
Innern nicht kernfest war. Es musste aber gegen diesen Feind, der 
in den eigenen Reihen wütete, der Kampf immer energischer aufgenommen 
werden, und er wurde von den Guttemplern in »Deutschlands Gross¬ 
loge II« weiter geführt, bis vor einem Jahre jedes »Bier« — sei es 
wie es wolle — völlig herausgedrängt war. 

Die Entwickelung von Deutschlands Grossloge I war folgende: 


1888: 18 

Logen 

mit 506 

Mitgl. 1896: 46 

Logen mit 1202 Mitgl. 

1889: 26 

» 

» 742 

» 1897: 47 

» 1303 » 

lS 9 o: 35 

» 

» 985 

» 1898: 5 2 

> » 1523 » 

1891 : 46 

- 

:> I215 

» x8 99 ; 57 

» 1743 » 

1892: 52 


» II36 

> 1900: 62 

> 1829 » 

' s 93 : 45 

» 

889 

» 1901: 69 

:> » 190 5 * 

1894: 43 

» 

970 

» 1902: 74 

» » 2000 » 

1895: 44 

* 

1086 

» Febr. 1904: 84 

» » 23OO » 

Die 

bereits 

erwähnten Sprachverhältnisse 

führten zunächst, am 


20. Januar 1889, zur Gründung einer Distriktloge für die Logen deutscher 
Zunge; sie bildete den Uebergang zu »Deutschlands Grossloge II«, 
deren Stiftung am 6. Oktober 1889 in Flensburg erfolgte. Diese ent¬ 
wickelte sich in folgender Weise: 


1889: 9 

Logen mit 

184 

Mitgl. 

1896: 40 Logen mit 1286 

Mitgl. 

1890: 13 

» » 

386 

» 

1897: 64 » » 2215 

» 

1891 : 18 

» » 

5*9 

» 

1898:103 » 4154 

» 

1892: 21 

» » 

630 

» 

1899: 175 » :> 6375 

» 

1893: 23 

» » 

636 

» 

1900: 259 :> 3 9273 

» 

1894 : 28 

» » 

73 ° 

» • 

1901 : 348 » 3 12234 

» 

i8 95 : 3 2 

» » 

I 9°3 : 

875 » 

553 Logen 

1902: 446 s > 15952 

mit 19984 Mitgliedern. 

» 


Die Schwierigkeiten, die sich der Propaganda für die Prinzipien 
des Ordens entgegenstellten, als er sich anschickte, altdeutschen Boden 
zu betreten, waren wohl grösser noch, als im Norden. Hinter der uralten 
schleswigschen Landesfeste, der Dannewirke, die von »Sliasvic« bis zur 
»Aegidora« reichte, hatte sich schon eine stattliche Schar von Streitern 
zusammengeschart, die dem König Alkohol die bitterste Fehde angesagt 
hatte. Früher war dieser Dänenwall das Bollwerk gewesen, hinter dem 
die Danomanen den vom Süden eindringenden Christenheeren Widerstand 


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92 Abhandlungen. 

geleistet hatten; jetzt bildete er lange Zeit die Grenze, welche die vom 
Norden vorrückende Schar der Guttempler nicht zu überschreiten 
vermochte. 

Vor ii Jahren gab es zwischen Eider und Elbe noch keinen Gut¬ 
templer ; zwei schwache, sehr weit nach Deutschland hinein vorgeschobene 
Vorposten kämpften mit geringen Aussichten und wenig Erfolg um Leben 
und Existenz. — Die uralte, heilige deutsche Trinksitte, die vielgerühmte 
deutsche »Tugend der Trunkfestigkeit« galt damals noch als ein unüber¬ 
windliches Hindernis, jeder der es anzutasten wagte, wurde von den 
feuchtfröhlichen Verteidigern mit Hohn und Spott überschüttet und 
niedergeschrieen. Der I. O. G. T. aber verstand es, seine Kämpfer in feste 
Reihen einzugliedern, er gab ihnen mit seiner musterhaften Organisation 
eine feste Rüstung; Wissenschaft und Praxis aber lieferten den Kämpfern 
Wehr und Waffen. Wohl lichteten Quertreibereien, Anfeindungen mancher 
Art, Schwäche und Feigheit hier und da die Reihen, das hinderte aber 
den allgemeinen Fortschritt nicht. Aus mühevollem Ringen und manchen 
Kämpfen heraus entwickelte sich die deutsche Enthaltsamkeitsbewegung, 
als deren Pionier und Träger der I. O. G. T. zu betrachten ist. 

Die ersten Logen in grösseren deutschen Städten wurden gestiftet: 
In Berlin am i. November 1891 : »Berolina« Loge No. 23, der am 
4. Juli 1892 die »Harmonie« Loge No. 26 in Leipzig folgte. Die 
Mutterloge der Hamburg-Altonar Logen, die »Holsatia« No. 31, wurde 
am 28. Mai 1899 in Altona gestiftet. In Dresden wurde am 15. April 1894 
die Loge »Saxonia« gegründet. Die erste bayrische Loge entstand am 
29. April 1894 in Nürnberg. 

Von Flensburg aus ging die Bewegung zunächst westwärts bis an 
die Nordsee uud hinüber nach Sylt. Von hier aus ist dann wieder 
manches Samenkorn nach dem Festlande hinüber getragen. — Wie ein 
Eiland in der Alkoholflut stand lange die »Heimat« Loge No. 20 in 
Simonsberg bei Husum; von hier aus drang der Orden nach Eiderstedt 
und nach Ditmarschen. Wie er dort wirkte, das sagt uns Gustav Frenssen 
in seinem Roman »Die drei Getreuen« : 

»Der Mann, Christoff Dwenger, war ein tüchtiger, fleissiger 
Arbeiter; aber ein Quartalstrinker. Wenn die wilde Gier über ihn 
kam, was alle fünf bis sechs Wochen geschah, vertrank er das Geld, 
das er gerade in der Tasche hatte, oft den Verdienst einer Woche, 
machte Streit, schrie, prahlte, schlug Weib und Kind, kurz, handelte 
wie ein unvernünftiges Tier. Später, nach Jahren, ist er in den 
Orden der Guttempler eingetreten, der so segensreich in unserer 
Provinz gearbeitet, der manchen kalten Herd warm gemacht und viele 
traurige Frauen- und Kinderaugen leuchtend gemacht hat. Unter 
dem Schutze dieser Brüderschaft hat er den zweiten Teil seines 
Lebens still, nüchtern und glücklich verbracht, hat seine Frau wieder 
auf blühen und seine Kinder gross und brav gesehen.« 

Damit verlassen wir die meerumschlungene älteste Heimatsstätte 
des Guttemplerordens. In Hamburg-Altona fand der I. O. G. T. nun 



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Asmussen, Der Guttemplerorden in Deutschland. 


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zunächst einen festen Stützpunkt. Erst langsam, dann rasch anwachsend 
und erstarkend, breitete er sich über alle Teile der Nachbargebiete aus, 
drang nach Norden in das holsteinische Gebiet vor, bis sich in Rendsburg 
und Kiel der Norden und der Süden wieder die Hände reichten, und 
besetzte Lübeck und Bremen. So wurde Hamburg-Altona zu einem 
Zentralpunkt der Propaganda und hat diese Stellung bis heute behauptet; 
beide Distrikte zusammen zählen ca. 130 Logen. 

Am 3. Oktober 1896 wurde in Bremen die erste Loge des 
Ordens gestiftet, es war die »Bruderliebe« Loge No. 56; sie wurde 
der Ausgangspunkt einer kräftigen Bewegung, die westwärts bis nach 
Oldenburg, Emden und Leer vordrang, nach Süden und Osten aber bis 
an die Wesermündung und bis nach Stade ihre Wellen schlug, wo sich 
dann die von Hamburg und die von Bremen abstammenden Guttempler 
in der Arbeit begegneten. 

In Westfalen wurde durch einen aus der Schweiz nach Deutsch¬ 
land zurückkehrenden Guttempler der erste Funke angefacht; am 
5. November 1896 entstand in Bochum die »Samariter« Loge No. 64. 
Die »Wacht am Rhein« in Köln wurde am 24. Mai 1900 gestiftet. 

Die erste Loge im fernen Osten entstand am 9. Dezember 1897 
in Elbing. Im äussersten Süden wurde am 24. April 1898 die »Alemania« 
Loge No. 112 gegründet. Es waren wackere Zollbeamte, die von der 
schweizerischen Grenze aus in Baden einrückten und in Brombach diese 
erste Burg des Ordens bauten. In Thüringen wurde am 26. Februar 1899 
durch die Stiftung der »Thuringia« Loge No. 172 das Banner des I. O. G. T. 
entfaltet, und zwar in Erfurt. 

Von Berlin aus rückte der Orden in Pommern ein, die »Franzburg« 
Loge No. 309 wurde am 26. August 1900 gestiftet; die erste Loge in 
Mecklenburg war die »Obotrita«, sie erhielt die No. 322 und entstand 
am 7. Oktober 1900 in Ludwigslust. Die Hauptstadt Hannover erreichte 
der Orden am 10. September 1899, der nördliche Teil war schon früher 
mit Logen besetzt. Die erste schlesische Loge war die »Silesia« 
No. 362, die am 18. November 1900 in Grünberg gestiftet wurde. Im 
Hessenlande entstand die erste Loge zu Anfang des Jahres 1901. Nach 
den Reichslanden kam der Orden im Frühling 1902; hier hat er viel 
Anfeindung seitens der katholischen Geistlichkeit erfahren. An manchen 
Orten, ringsumher im deutschen Vaterlande, sind in den letzten Jahren 
Anfänge einer Guttempler-Bewegung geschaffen. Der Boden ist hart 
und es hält nicht selten recht schwer, Wurzel zu fassen; die Erfahrung 
hat aber gezeigt, dass überall Erfolge erzielt werden können, wenn mit 
Mut und Ausdauer gearbeitet wird. Es kommt aber darauf an, dass 
tüchtige und überzeugte Männer und Frauen sich entschliessen, die Hand 
an den Pflug zu legen. 

Der Leiter von Deutschlands Grossloge II ist H. Blume in Hamburg, 
derselbe erteilt gern Auskunft. Schriften sind zu beziehen durch die 
Geschäftsstelle der Grossloge, Flensburg, Neustadt 45. 


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94 


Abhandlungen. 


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Vor mehr als io Jahren wurde auch das /Jugendwerk« in das 
Programm der Grossloge aufgenommen; vor einigen Jahren ist es vom 
Lehrer Koopmann-Sylt reorgarnisiert und umfasst jetzt eine raschan- 
wachsende Zahl von Jugendlogen mit z. Z. ca. 3500 Mitgliedern. 

Die in Deutschland arbeitenden Guttempler bringen im Jahre 
ca. 150000 Mark an baren Ausgaben für ihre Logenarbeit auf — die 
sonstigen für Agitationsturen und ähnliche Propagandaarbeit nötigen Geld¬ 
ausgaben der einzelnen Mitglieder garnicht gerechnet. Für mehr als 
20000 Mark Drucksachen wurden im Jahre 1903 verbreitet; über 
30000 Logensitzungen, ungefähr 1500 Agitations-Versammlungen und 
demselben Zwecke dienende »offene Abende wurden abgehalten. Im 
letzten Jahre wurden 107 neue Logen gestiftet. In zahlreichen Städten 
und Dörfern wurden von Logen oder von einzelnen Ordensmitgliedem 
alkoholfreie Gasthäuser geschaffen; in Hamburg-Altona allein sind 11 
solcher »Logenhäuser« entstanden, von denen 5 im Besitze der Logen 
bezw. »Baugenossenschaften«, die anderen gemietete Räumlichkeiten sind. 

Nur für Mitglieder des Ordens bestimmt sind 8 Unterstützungs¬ 
kassen, die bei Sterbefällen den Hinterbliebenen 500 Mark auszahlen. 
Eine Krankenzuschusskasse ist von Hamburg-Altona aus in Wirksamkeit 
getreten. 

Zahlreiche Gesangs- und dramatische Vereine pflegen die Kunst, 
sie bringen Leben und Abwechselung in die festlichen Veranstaltungen. 
Guttempler-Tumvereine, Athleten-, Fecht-, Radfahr-, Spiel- und Wander¬ 
klubs bieten Männern und Jünglingen, Frauen und Jungfrauen vortreff¬ 
lichen Ersatz für »die Freuden« der Kneipe oder der häuslichen Trink¬ 
sitte. — Wie komisch berührt den, der das alles weiss und kennt 
die noch oft auftauchende Redensart von den »asketischen Wasser- 
trinkem und den aller Weltfröhlichkeit abholden Abstinenzaposteln«. 

Die Geschichte des Guttempler - Ordens und sein Wirken in 
Deutschland lehrt deutlich, dass die Enthaltsamkeitsbestrebungen recht 
bedeutende Erfolge zu erzielen vermögen. Diese zeigen sich nicht nur 
in den Fortschritten und dem Anwachsen des Ordens, sondern auch in 
dem Entstehen und Erstarken anderer Enthaltsamkeitsvereine. 

Namentlich sind es die abstinenten Berufsvereine, die sämtlich auf 
dem Felde entstanden sind, das der I. O. G. T. beackert hatte. Er 
förderte diese nach Kräften, und was lebenbringend in manchem der 
Berufsvereine pulsiert, ist Blut von seinem Blut. 

Musterhaft in Form und Ausbau hat der Guttempler-Orden es 
verstanden, religöse und politische Reibereien aus seinen Reihen fern 
zu halten. Die Angehörigen der verschiedensten Stände finden hier 
ein Feld wo sie, unbeschadet ihrer Ansichten und Anschauungen aut 
jenen Gebieten, gemeinsam arbeiten können gegen den gefährlichen 
Feind jedes wahren gesundheitlichen, sozialen und sittlichen Fortschrittes. 
— Trotz der einheitlichen Grundprinzipien und Arbeitsweise hütet sich 
der I. O. G. T., in Formen zu erstarren, sondern wusste noch immer, sich 
dem Volkscharakter und der Zeit anzupassen. 


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Asmuss-en, Der Guttempleiorden in Deutschland. 


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Dem Guttemplerorden ist die Abstinenz nicht Selbstzweck, er 
glaubt nicht, dass die Enthaltsamkeit allein den Menschen vollkommen 
mache und die soziale Frage ohne Weiteres löse. Er ist aber davon 
überzeugt, dass die Alkoholfrage bei der Lösung- der verschiedenen 
gesundheitlichen, sozialen und sittlichen Fragen von grösster Wichtigkeit 
und tief einschneidender Bedeutung ist. Er lehrt, dass die Selbstreform 
die Grundlage aller anderen Reformen ist, dass also auch der einzelne 
Mensch die Alkoholfrage zuerst für sich und an sich selbst lösen muss, 
dass er aber durch den Verzicht auf alkoholische Reizmittel nichts auf¬ 
gibt, sondern nur gewinnt an Genussfähigkeit und Lebensfreude. Die¬ 
selbe Forderung stellt er an die Allgemeinheit: das Beispiel ist der • 
beste Lehrmeister. — Der Tempelritter, den so manche Fahnen des Ordens 
zeigen, trägt das Schwert, um die Gegner abzuwehren, sein Schild aber 
zeigt das Malteserkreuz. Der Guttempler soll furchtlos in die Schranken 
treten gegen die Söldlinge des Königs Alkohol und die Macht der 
Trinksitten, er will aber gleichzeitig die schützen und stützen, welche der 
Mörder Alkohol schlug und hilflos liegen liess. Er soll gehorsam sein 
den Ordensgesetzen, er soll Selbstzucht und Nächstenliebe üben. 

Wo in diesem Geiste gekämpft und gearbeitet wird, da bleibt der 
Erfolg nicht aus. Es ist nun zu wünschen, dass dem Orden in allen 
deutschen Gauen immer mehr Mitkämpfer erstehen — denn die Not ist 
gross! — Wir, das jetzt kämpfende Geschlecht, werden »das gelobte 

LancN- nicht sehen, wo der Alkohol seine Geissei nicht schwingt, wo 

Vorurteil und Alkoholaberglaube nicht mehr herrschen. Aber auf dem 
Wege, wo w i r nur mit Mühe im Strom festen Fuss fassen konnten, 
werden unsere Kinder schon sicherer gehen. Und wenn unser Arm das 
Schwert nicht mehr zu schwingen vermag, wenn unseren Händen die 

Kelle entfällt, dann werden sie in die Lücken eintreten: besser ge¬ 

wappnet und gerüstet werden sie die Schutzmauern verstärken und den 
Ordensbau höher führen. Die Wahrheit wird siegen, sie wird uns frei 
machen! 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


Unter dieser Ueberschrift gedenken wir in jedem Hefte, die 
während des letzten Vierteljahres vorgekommenen wichtigsten Ereignisse 
sowie neue Gesetze und Regierungsmassregeln, hervorragende gemeinnützige 
Schöpfungen und die Vereinsbewegung auf dem Gebiete der Alkohol¬ 
frage zu registrieren. 

Chronik Ober die Monate Januar, Februar und März 1904. 

Von internationaler Bedeutung für die ganze Alkoholfrage ist das 
im März 1904 erfolgte Erscheinen des Berichts über den IX. inter¬ 
nationalen Kongress gegen den Alkoholismus, abgehalten in 
Bremen vom 14.—19. April 1903. Im Aufträge des Organisations¬ 
komitees herausgegeben und redigiert von Franziskus Hähnel. Jena, 
Verlag von Gustav Fischer. Der inhaltreiche Bericht, welchem in diesem 
Hefte erst eine vorläufige, allgemeine Besprechung gewidmet ist, wird 
allen Freunden der Mässigkeit und Enthaltsamkeit für lange Zeit 
eine Fülle von Belehrung bieten und auch zu kritischen Bemerkungen, 
Ergänzungen und Vervollständigungen wiederholt Veranlassung bieten. 

Als eine internationale Tat dürfen wir auch die Sonder-Aus- 
stellung zur Bekämpfung des Alkoholismus in Charlottenburg, 
Fraunhoferstrasse 11—12, bezeichnen, welche im März 1904 eröffnet 
worden und dazu bestimmt ist, eine internationale Bildungsstätte zur 
dauernden Aufbewahrung der gesamten Alkohol-Literatur und Statistik 
und zur Darstellung der Wirkungen des Alkohols und der Bewegung 
gegen den Alkoholismus zu werden. Der Zweck des Unternehmens ist 
in diesem Heft unserer Zeitschrift von Herrn Rechtsanwalt Dr. Eggers 
näher dargelegt. 

Als ein internationales Werk ist ferner erwähnenswert die im 
Februar 1904 in Hamburg vollständig erschienene deutsche Uebersetzung 
der Geschichte der Anti-Alkoholbestrebungen von Professor 
Dr. Johan Bergmanin Stockholm. Aus dem Schwedischen übersetzt, 
neu bearbeitet, und herausgegeben von Dr. R. Kraut in Hamburg. 


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Vierteljahischronik über die Alkoholfrage. 


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Druck und Verlag von Gebrüder Lüdeking in Hamburg 1904. Preis 
7 Mk. 20 Pf. Der Uebersetzer hat das bereits im Jahre 1900 er¬ 
schienene schwedische Original durch grössere und kleinere Zusätze 
wesentlich ergänzt und die bedeutenden Fortschritte, welche die Bewegung 
gegen den Alkoholismus seit 1900 in den meisten Ländern gemacht 
hat, bis auf die allerneueste Zeit übersichtlich dargestellt. Verschiedene 
wichtige Mitteilungen dieser internationalen Geschichte der Anti-Alkohol- 
Bestrebungen sind bereits in der Abhandlung des Herausgebers, »Programme 
und Ziele der älteren und neueren deutschen Bewegung gegen den 
Alkohol« in Heft I dieses Jahrganges berücksichtigt. 

In Deutschland macht die Bewegung gegen den Alkoholismus 
bedeutende Fortschritte. Von der Königl. preuss. Staatsregierung 
sind dem Abgeordnetenhause in Erledigung der Beschlüsse des Abge- 
ordneten-Hauses vom 11. Juni 1902 eine Reihe wichtiger Entschliessungen 
mitgeteilt worden. Danach ist u. a. der Ausschank geistiger Getränke 
in den frühen Morgenstunden, wo es nach den örtlichen Verhältnissen 
angezeigt erscheint, verboten worden. —- Ferner sind gemein¬ 
verständliche Schriften über die schädlichen Wirkungen des über¬ 
triebenen Alkoholgenusses mehrfach verteilt worden, so z. B. ein Vortrag 
des Prof. C. Fränkel, in Halle a. S., über »Gesundheit und Alkohol« und 
die vom Regierungsrat Quensel verfasste Schrift »Der Alkohol und seine 
Gefahren«. Ferner ist im Kultusministerium für Schulzwecke eine 
kurzgefasste, gemeinverständliche Denkschrift: »Die Nachteile des über¬ 
mässigen Alkoholgenusses. Kurze x\nleitung für die Belehrung in den 
Volksschulen und höheren Schulen,» ausgearbeitet und in dem Zentral¬ 
blatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung veröffentlicht worden. — Dem 
im Kaiserl. Gesundheitsamte bearbeiteten »Alkoholmerkblatt gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke ist durch Empfehlung« und Abdruck in 
dem »Ministerialblatt für Medizinal-Angelegenheiten eine entsprechende 
Verbreitung gegeben. Die Regierungspräsidenten sind veranlasst worden, 
behufs Bekämpfung des übertriebenen Alkoholgenusses die Errichtung 
von Räumen zur Unterkunft für alleinstehende Arbeiter und Arbeite¬ 
rinnen nach dem Vorgänge auf dem Gebiet der Eisenbahn- und 
Bergwerks-Verwaltungen allen Beteiligten zu empfehlen und dahin zu wirken, 
dass solche Anlagen auch Vorrichtungen zur Erwärmung von Speisen 
oder Kantinen erhalten, sowie, dass für Gelegenheit zur Erfrischung durch 
alkoholfreie Getränke usw. gesorgt wird. — Hinsichtlich einer etwaigen 
Aenderung der Reichsgesetzgebung sind Verhandlungen eingeleitet 
worden, die noch nicht zum Abschlüsse gelangt sind. 

Ferner haben der Kultusminister, der Minister des Innern und der 
Handelsminister ein gemeinsames Rundschreiben an die Oberpräsidenten 
in Betreff des Flaschenbierhandels gerichtet, worin sie als dringend 
wünschenswert bezeichnen, den Flaschenbierhandel allgemein konzessions¬ 
pflichtig und von dem Nachweis eines vorhandenen Bedürfnisses ab¬ 
hängig zu machen und worin sie an das Verbot des Hausierhandels mit 
Flaschenbier nach § 56, Nr. 1 der Reichsgewerbeordnung, erinnern. 

Die Alkoholfrage. 7 


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Vierteljahrschronik über die Alkohol frage. 


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Die Württemberg. Oberschulbehörde hat das im Kaiserl. 
Gesundheitsamt ausgearbeitete »Alkohol-Merkblatt« den Schulbehörden 
zur Beachtung zugesandt und u. a. empfohlen, durch Vorträge und 
Lehrproben auf den Schulkonferenzen eine sachgemässe und fruchtbare 
Behandlung des Merkblattes im Schulunterricht zu erzielen. 

Im Königreich Sachsen ist am 17. Januar 1904 die von dem 
Dresdner Bezirksverein und sächsischen Landesverband gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke begründete sächsische Heilstätte für 
Alkoholkranke in Cunnertswalde bei Moritzburg feierlich eingeweiht 
worden. Da die Räume dieser Anstalt bereits voll besetzt sind, soll 
sofort zur Errichtung einer zweiten Heilanstalt in der Nähe von Cunnerts¬ 
walde geschritten werden. 

Der Sächsische Landesverband gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke hatte in einer Petition an die Kammer gebeten : 

1. dass im Königreich Sachsen eine mit behördlichem Ansehen und 
behördlichen Befugnissen ausgestattete, durch staatliche Mittel 
unterstützte Landeskommission zur Bekämpfung der Trunksucht 
eingesetzt werde, 

2. dass die vom Dresdner Bezirksverein gegen den Missbrauch geisti¬ 
ger Getränke begründete sächsische Heilstätte für Aikoholisten in 
Cunnertswalde und die weiter von ihm geplanten Trinkerheilanstalten 
aus staatlichen Mitteln unterstützt werden. 

Der Königliche Kommissar bemerkte zu dieser Petition Folgendes: 
»Die Königliche Staatsregierung erklärt wiederholt ihre Bereitwilligkeit, 
die auf Bekämpfung der Trunksucht gerichteten Bestrebungen auch an 
ihrem Teile nach Kräften zu fördern und wird seinerzeit gern daraut 
zukommen, aus ihr zur Verfügung gestellten Mitteln die sächsiche Heil¬ 
anstalt für Alkoholkranke zu Cunnertswalde zu unterstützen, zumal da 
sie trotz ihres kurzen Bestehens nach den angestellten Erhebungen zu 
schönsten Hoffnungen berechtigt. Die Regierung muss hingegen Be¬ 
denken tragen, für Einsetzung einer mit behördlichem Ansehen 
und behördlichen Befugnissen auszustattenden, mit staatlichen Mitteln 
zu unterstützenden Landeskommission für Bekämpfung der Trunksucht 
sich auszusprechen.« 

Die deutsche Bewegung für Mässigkeit und Enthaltsamkeit hat 
einen schweren Verlust erlitten durch den Tod des Oberstleutnant 
a. I). Kurt von Knobelsdorf, des Vorsitzenden des deutschen Vereins 
zum Blauen Kreuz. Derselbe ist nach längerem Leiden im Alter von 
65 Jahren am 24. Januar 1904 in Berlin verstorben. Er hatte eine 
glänzende militärische Laufbahn aufgegeben, um sich der Arbeit des 
Blauen Kreuzes zu widmen und hat in vielen Familien und früheren 
Stätten des Elends wieder Glück und Frieden gebracht. 

Der Berliner Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke hat in seiner Mitgliederversammlung vom 13. Februar 1904 
beschlossen, seine Heilstätte »Waldfrieden« durch Angliederung 
einer geschlossenen Abteilung durch Neubauten zu e r weitern. 



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Vierteljahrschronik über die Alkobolfrage. 


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Ueber die zur Zeit herrschenden Trinksitten der Tübinger 
Studenten hat der Tübinger Universitäts-Professor Dr. med. P. Grützner 
im Märzheft der Mässigkeits-Blätter des Deutschen Vereins gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke einen hochinteressanten Aufsatz veröffentlicht. 
Um klar zu sehen, wie es mit dem Trinkzwang in Tübinger Universitäts¬ 
kreisen steht, hatte Grützner an sämtliche akademische Verbindungen die 
Umfrage gerichtet, ob sie »Abstinenten« aufnehmen? Im ganzen handelt 
es sich dabei um 32 Verbindungen mit 1037 Mitgliedern (von insge¬ 
samt 1506 Studierenden). Die Umfrage wurde von 6 Verbindungen 
mit 212 Mitgliedern mit »Ja« beantwortet; eine zweite Gruppe, 4 Ver¬ 
bindungen (darunter auch ein Korps) mit 142 Mitgliedern, knüpft an 
ihr »Ja« gewisse Bedingungen; die dritte Gruppe (4 Verbindungen 
mit 191 Mitgliedern) lehnt die Aufnahme nicht rundweg ab, sondern 
macht sie ebenfalls, wie die zweite Gruppe, von gewissen Bedingungen 
abhängig. Eine vierte Gruppe schliesslich hat die Anfrage mehr oder 
weniger bestimmt verneint, meistens mit dem Hinweis darauf, dass 
studentisches Leben und volle Enthaltsamkeit nicht recht vereinbar seien. 
Dies sind neun Verbindungen mit 201 Mitgliedern. Keine grundsätzliche 
Stellung nahmen drei Verbindungen mit 83, gar keine Antwort gaben 
sechs mit 141 Mitgliedern. Danach haben sich im ganzen für Aufnahme 
von Enthaltsamen ausgesprochen 545, vertreten durch 14 Verbindungen, 
also die starke Hälfte der Verbindungsstudenten. Aus diesem Ergebnis 
schliesst Grützner, dass es auch in den studentischen Kreisen dank der 
Aufklärung über die Schädlichkeit geistiger Getränke und dank der Auf- 
rüttlung der Gewissen durch die Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine 
vorwärts geht. 

Der Gesamt-Parteitag der Sozialdemokratie in Oester¬ 
reich hat am 14. November 1903 folgenden Antrag einstimmig 
angenommen: 

»Der Parteitag erblickt im Älkoholismus einen schweren Schädiger 
der physischen und geistigen Kampfesfähigkeit der Arbeiterklasse, einen 
mächtigen Hemmschuh aller organisatorischen Bestrebungen der Sozial¬ 
demokratie ; — die daraus erwachsenden Schäden zu beseitigen, darf 
kein Mittel unbenutzt bleiben. 

Das erste Mittel in diesem Kampfe wird stets die ökonomische 
Hebung des Proletariats sein; eine notwendige Ergänzung hierzu 
bildet aber die Aufklärung über die Alkoholwirkung und die 
Erschütterung der Trinkvorurteile. 

Der Parteitag empfiehlt daher allen Parteiorganisationen und Partei¬ 
genossen die Förderung der alkoholgegnerischen Bestrebungen und 
erklärt als einen ersten wichtigen Schritt in diesem Kampfe 
die Abschaffung des Trinkzwanges bei allen Zusammenkünften 
von Parteiorganisationen. 

Den für die Abstinenz gewonnenen Parteigenossen ist als wirk¬ 
samstes Mittel der Agitation gegen den Alkohol der Zusammenschluss 

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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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in Abstinenzvereinen zu empfehlen, die ihrerseits dafür zu sorgen haben, 
dass ihre Mitglieder ihrer Pflicht gegen die politische und gewerkschaft¬ 
liche Organisation nachkommen.« 

Zum Schutze der Jugend vor dem Alkoholismus ist 

man besonders in Holland bestrebt, die weitgehendsten Gesetze zu 
erbitten. Die holländische Regierung hat der zweiten Kammer 
eine Vorlage zur Abänderung des Ausschankgesetzes unterbreitet. Um 
wesentliche Verbesserungen dieses Gesetzes zu erzielen, wird folgende 
Petition gegenwärtig vom Nederlandche Onderwijzers Propagandaklub 
der Bevölkerung vorgelegt: Die Regierung wolle verbieten: i. dass 
Personen unter 18 Jahren, die nicht von Aelteren begleitet sind, Lokali¬ 
täten besuchen, wo irgend ein alkoholisches Getränke verkauft wird; 
2. dass solchen Personen, wenn unter Begleitung Aelterer in einer 
solchen Lokalität anwesend, irgend ein alkoholisches Getränk verabfolgt 
wird; 3. dass Personen unter 18 Jahren in solchen Lokalitäten als 
Arbeitskräfte gebraucht werden. In Amsterdam allein haben schon jetzt 
über 16 000 Einwohner, darunter mehr als 1600 Lehrerinnen und Lehrer, 
diese Petition unterzeichnet. 


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II. Besprechungen. 





Bericht über den IX. internationalen Kongress gegen 
den Alkoholismus, abgehalten in Bremen vom 14.—19. April 1903. 
Im Aufträge des Organisationskomitees herausgegeben und redigiert von 
Franziskus Hähnel. Jena, Verlag von Gustav Fischer. Kurz vor 
Schluss der Redaktion geht uns dieser ausgezeichnete Bericht zu, den 
wir mit einigen kurzen Geleitworten versehen wollen, indem wir uns 
eine ausführliche Besprechung Vorbehalten. Der Bericht stellt ein 
respektables Zeugnis für die auf dem Kongress geleistete Arbeit und 
zugleich für die eifrige, hingebende Tätigkeit des Organisationskomitees, 
vor allem aber des trefflichen Herausgebers dar. Er gibt nicht nur die 
sämtlichen in den Geschäftssitzungen des Kongresses erstatteten Referate 
und die sich daran anschliessenden Diskussionen nach stenographischen 
Aufzeichnungen wieder, sondern er enthält auch ausführliche Berichte 
über die Verhandlungen aller Sonderveranstaltungen des Kongresses, so- 
dass auch z. B. die bei der Zusammenkunft im Künstlerverein gehaltene 
und viel beachtete Rede des Prof. Peter Behrens-Düsseldorf über 
3Alkohol und Kunst« zum ungekürzten Abdrucke gelangte. Danach ist 
es kein Wunder, wenn der Bericht einen sehr erheblichen Umfang 
(536 enggedruckte Seiten) erhalten hat und es muss besonders anerkannt 
werden, dass es gelang, diese Riesenarbeit, bei der zahlreiche Korre¬ 
spondenzen nach aller Herren Länder zu erledigen waren, in der 
verhältnismässig kurzen Frist von einem Jahre zu bewältigen. 

Erst nach dem Erscheinen des Berichts ist eine unbefangene 
Würdigung der Gesamtleistung des Kongresses möglich. Schon ein 
flüchtiger Ueberblick über den Inhalt zeigt uns, dass wir eine wahre 
Fundgrube für alle Freunde der Massigkeit und Enthaltsamkeit vor uns 
haben. Mit einem Bienenfleisse sondergleichen sind die Argumente und 
Beweise, ist namentlich das Tatsachenmaterial von allen Seiten 
zusammengetiagen worden. Der Bericht würde eine der wichtigsten 
und erfolgreichsten Agitationsschriften gegen den Alkoholismus sein, 
wenn er eben nicht gerade wegen seiner Gründlichkeit für die allgemeine 
Verbreitung zu lang wäre. Aber dieser Mangel, wenn man ihn so 
nennen soll, ist eben die selbstverständliche Kehrseite der vielen und 
grossen Vorzüge, die er besitzt und wir wollen ihn gern dafür mit in 
den Kauf nehmen. Auf den Inhalt im Einzelnen einzugehen, ist an 
dieser Stelle nicht möglich, nur eine Bemerkung drängt sich uns bei 
der Durchsicht auf. Während des Kongresses konnte man in vielen 
deutschen Zeitungen lesen, es sei zu unerfreulichen Zusammenstössen 


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Besprech ungen. 


zwischen den Freunden der Massigkeit und der Enthaltsamkeit, ja 
geradezu zu wüsten Provokationen gekommen. Man hatte danach 
in vielen Kreisen den Eindruck, als hatten sich die Abstinenten förm¬ 
lich verschworen, das Einvernehmen mit den Massigen zu stören, und 
ein Zusammenarbeiten mit ihnen unmöglich zu machen und dieser Ein¬ 
druck ist von den Alkohol-Interessenten geflissentlich verbreitet worden. 
Liest man jedoch die Verhandlungen aufmerksam durch, so erhält man 
den entgegengesetzten Eindruck. Ja, ich möchte geradezu sagen: der 
Bremer Kongress hat den erneuten Beweis dafür geliefert, dass ein 
Zusammenwirken der beiden Richtungen recht wohl möglich ist. Nur 
darf allerdings keine von der anderen verlangen, dass sie gerade in den 
für sie entscheidenden Punkten ihre Meinung ändern solle. Wenn 
gelegentlich ein unnötig scharfer Ton angeschlagen wurde, so sind daran 
eigentlich die Mässigen selbst schuld. Wir finden wenigstens die erste 
agressive Bemerkung in der offiziellen Begrüssungsrede des Vertreters 
der österreichischen Regierung, des Professors Hueppe, der gleich im 
Anfang mit unwilligem Stirnrunzeln von asketischen Bestrebungen und 
abstossenden Tugendbolden sprach. Dass man auf diesen Trompeten- 
stoss auf der Gegenseite nicht nur mit Friedensschalmeien antwortete, 
kann nicht Wunder nehmen. Aber von unversöhnlichen Gegensätzen, 
von Unmöglichkeit des Zusammenwirkens zu sprechen, ist angesichts des 
erfreulichen Gesamtresultats, das sich aus dem Berichte ergibt, eines 
Resultats, zu dem sowohl Mässige wie Enthaltsame redlich beigetragen 
haben, schlechterdings unmöglich. 

Wie kommt es nun, dass die Besprechungen in der Presse doch 
diesen ungünstigen Allgemeineindruck überall verbreitet haben ? Wir 
greifen wohl nicht fehl, wenn wir die Ursache darin suchen, dass sich 
die Berichterstatter allzusehr daran gewöhnt haben, dem Publikum das¬ 
jenige vorzusetzen, von dem sie glauben, dass es ihm am besten behagt. 
Und der deutsche Bierphilister will nun einmal in seinem Biergenuss 
nicht gestört sein. Daraus ergibt sich aber für alle künftigen Kongresse 
die unbedingte Forderung, dass die Berichterstattung für die Presse 
von dem Komitee selbst in die Hand genommen werden muss. Man 
darf sich nicht auf die Berichte sensationshungriger Reporter verlassen, 
von denen man eine objektive Darstellung um der Sache willen nicht er¬ 
warten kann. Es ist ein Verdienst des Berichts, auf diese offene Wunde 
in unserem Zeitungswesen hingewiesen zu haben. Leider ist der Sache 
durch diese Art der Berichterstattung mancher Schaden erwachsen, der 
durch den nachfolgenden ausführlichen Bericht nicht immer wieder 
gutgemacht werden kann._ W. B. 

Die Belastung des Arbeiterbudgets durch den Alkohol¬ 
genuss. Eine sozialstatistische Studie auf dem Gebiete der Alkohol¬ 
frage von Dr. H. Blocher und Dr. J. L an dm an n. Basel 1903. Die 
Verfasser haben sich unter finanzieller Beihilfe des Schweizerischen Ab¬ 
stinenzsekretariats der mühsamen Arbeit unterzogen, das in dem 6. und 
7. Jahresbericht (1891 und 1892) des amerikanischen Arbeitskommissars 


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Besprechungen. 


103 

(Commissioner of labor) aufgespeicherte Material von rund 8500 Arbeiter¬ 
budgets, die sich sowohl auf die Vereinigten Staaten selbst (6809) als auf 
einige europäische Staaten (1735) verteilen, einer Durchsicht in Bezug 
auf die Rolle zu unterziehen, die der Alkohol in finanzieller Hinsicht 
im Arbeiterhaushalt spielt. Ausser diesen Budgets wurden noch 160 
andere bearbeitet, die in einem von dem Senator Aldrich erstatteten 
Bericht »Retail Prices and Wagest (Washington 1892) veröffentlicht worden 
sind. In der Methode haben sich die Verfasser der von Ernst Engel 
(Die Lebenskosten belgischer Arbeiterfamilien früher und jetzt«. 
Dresden 1895) entwickelten angeschlossen, die darin besteht, dass statt 
des schwankenden Begriffs der Familie oder der Haushaltung derjenige 
einer Konsumenteneinheit zu Grunde gelegt wird. Engel fand diese 
in dem neugeborenen Kinde, das eine Einheit repräsentiert. Der Ein¬ 
heitssatz steigert sich mit jedem Lebensjahre um ein Zehntel und zwar 
beim Manne bis zum 25., beim Weibe bis zum 20. Jahre, so dass also 
ein erwachsener Mann einem Werte von 3,5, eine erwachsene Frau 
einem solchen von 3,0 entspricht. Dem Einheitssätze legte Engel zu 
Ehren seines Lehrers Quetelet den Namen „Quet« bei. Eine Arbeiter¬ 
familie, die aus einem Ehepaare und 4 Kindern im Alter von 3, 5, 7 
und 9 Jahren besteht, , würde demnach 3,5 -]- 3,0 -j- 1,3 -|- 1,5 -|- 1,7 
—j— 1,9 = 12,9 Konsumenteneinheiten (Quets) enthalten. Wir möchten 
gleich hier dem Bedenken Ausdruck geben, dass eine solche Einheit, 
so wichtig und unentbehrlich sie auch sonst bei derartigen Vergleichen 
sein mag, doch gerade bei Vergleichen über die Ausgaben für geistige 
Getränke und Tabak nicht recht geeignet ist. Kinder und Frauen spielen 
gewiss beim allgemeinen Konsum von Wohnung, Nahrung und Kleidung 
eine ausserordentlich wichtige Rolle, bei dem von geistigen Getränken 
und Tabak kommen sie kaum in Frage. Hier müsste man als Einheit 
etwa einen erwachsenen Mann zu Grunde legen und Kinder und Frauen 
entweder gar nicht oder nur zu einem ganz geringen Satze mit in Rechnug 
stellen. Ein zweites Bedenken richtet sich gegen die Vollständigkeit 
der von den Arbeitern gemachten Angaben selbst. Es liegt auf der 
Hand, dass die Ausgaben für alkoholische Getränke sehr schwer genau 
festzustellen sind, weil sie vielfach bei Gelegenheit der Arbeit oder im 
Vorübergehen gemacht werden und weil die Arbeiter sich oft scheuen 
werden, gerade über diesen Teil ihrer Verwendungen Rechenschaft abzu¬ 
legen. Ganz besonders wird das in Ländern der Fall sein, wo die 
Abstinenzbewegung bereits grössere Fortschritte gemacht hat, wie in den 
Vereinigten Staaten. Wenn von den 6809 Familien der Vereinigten 
Staaten nur 3064 und von 1611 Familien in europäischen Staaten nur 
1054 Angaben über Alkoholkonsum gemacht haben, so kann das nicht 
damit erklärt werden, dass die übrigen ganz oder zum grössten Teil aus 
Abstinenten bestanden haben, sondern eben nur damit, dass diese 
anderen Angaben entweder nicht machen konnten oder nicht machen 
wollten. Ist das der Fall, so wird man aber auch bei den Familien, 
die wirklich Angaben gemacht haben, berechtigte Zweifel darüber hegen 
dürfen, ob denn diese Angaben auch wirklich vollständig und richtig 


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104 


Besprechungen. 


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sind. Man wird somit nur mit grosser, von den Verfassern selbst dringend 
empfohlener Vorsicht an die Beurteilung der von ihnen berechneten 
Tabellen herantreten dürfen. 

Aus den Ergebnissen heben wir hervor, dass die bearbeiteten 
Arbeiterbudgets den schon von Engel ausgesprochenen Satz durchaus 
bestätigen, dass die prozentuale Ausgabe für alkoholische Getränke mit 
zunehmenden Einkommen nicht fällt, sondern steigt. Engel fand für 
seine 5 Klassen aus dem Jahre 1853 folgende sehr bezeichnende 
Proportion ? 

Familien-Einkommen von: 
unter Mk. 600 600 — 900 900 — 1200 1200—2000 über 2000 
Ausgaben f. alkoholische 

Getränke in Prozent: 1,03 2 ,OS 3,02 4,37 6,44 

Ausgaben f. Kulturzwecke: 1,88 2,75 3,49 6,17 5,94 

Die Ausgabe für alkoholische Getränke steigt also in viel rascherer 
Progression als das Einkommen und als die Ausgaben für edlere Kultur¬ 
bedürfnisse und ein ganz ähnliches Ergebnis konstatierten die Verfasser 
bei den 160 Haushaltungsbudgets des Senator Aldrich, von denen 
allerdings nur 60 Angaben über den Alkoholkonsum machen. Bei den 
übrigen 8500 Budgets liegen keine Angaben über die verhältnismässige 
Belastung der einzelnen Einkommensklassen vor. Eine sehr mühsam 
berechnete Tabelle ist leider mit den Unterlagen verloren gegangen. 
Dagegen liegt eine Tabelle über den Alkoholkonsum nach Berufsgruppen 
vor, wobei in jeder Gruppe die Familien mit eingeborenen und einge¬ 
wanderten Haushaltungsvorständen besonders nachgewiesen sind. Es 
ergibt sich daraus, dass die der Glasverarbeitung angehörigen Familien 
bei Weitem den grössten Alkoholgenuss (233,13 Mk. pro Jahr) hatten, 
während auf 66 Familien des Eisenerzbaus nur 36,40 Mk., auf 323 
Familien der Wollwarenfabrikation nur 78,46 Mk., auf 689 Familien der 
Baumwollenfabrikation nur 63,03 Mk. für alkoholische Getränke kommen. 
Die Durchschnittslöhne der untersuchten Familien waren in der Glas¬ 
fabrikation bei Weitem am höchsten, im Eisenerzbau am niedrigsten, was 
die oben ausgeführte Regel weiter bestätigt. Auch die Höhe des Alkohol¬ 
konsums nach der Nationalität des Haushaltungsvorstands wird unter¬ 
sucht, wobei sich ergibt, dass die eingeborenen Familien im Allge¬ 
meinen weniger Alkohol konsumieren, die deutschen und französischen 
etwa eine mittlere Stellung einnehmen und die ungarischen und belgischen 
sich durch eine ganz ausserordentliche Höhe des Spirituosenverbrauchs 
auszeichnen. Bedenken muss hier allerdings der verhältnismässig geringe 
Alkoholverbrauch der 441 irischen Familien erregen, die in der Tabelle 
weit günstigere Zahlen aufweisen, als die deutschen und selbst als die 
englischen. _ W. B. 


Verantwortlicher Redakteur: Piof. Dr. Viktor Böhmert, Dresden, Glacistsasse 18. 
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacistrasse 18. 

Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul. 



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I. Abhandlungen. 





Ein Progranun und Plan zun örtlichen 
Wirken iör Massige und Enthaltsame. 

„Die Geister sind erwacht, es ist eine Lust zu leben und 
zu wirken!“ Mit diesen Worten begrüssen die Herausgeber 
dieser Zeitschrift alle diejenigen Männer und Frauen, Jünglinge 
und Jungfrauen, welche ihre Einzelkräfte gern einem nützlichen 
Schaffen und Wirken für das Wohl ihrer Umgebung und ihrer 
Gemeindegenossen widmen möchten. 

Man meldet uns aus verschiedenen Orten, dass es nicht 
nur in den Köpfen, sondern auch in den Gemütern der Menschen 
mächtig gärt, dass man den wirtschaftlichen, kulturellen und 
sittlichen Fortschritt aller Volksklassen gern fördern und in 
Mässigkeits- und Enthaltsamkeits-Vereinen tätig sein möchte. 
Es sind in solchen Vereinen hier und da bereits Herren- und 
Damen-Ausschüsse gebildet worden, welche darüber beraten 
wollen, wie man am besten entweder allein oder im Bunde mit 
der Armenverwaltung oder Polizeiverwaltung oder mit Aerzten, 
Geistlichen und Lehrern Zusammenarbeiten könne. Man möchte 
sich in industriellen Städten namentlich auch an Erhebungen 
und Untersuchungen über die Wohnungs-, Gesundheits-, Nah¬ 
rungs- oder Verbrauchs-Verhältnisse der Bevölkerung, über den 
Stand der Krankheits-, Unfall- und Trunksuchts-Fälle beteiligen, 
man bemerkt jedoch mit Recht, dass es dabei mit allgemeinen 
Redensarten oder mit Anführung einzelner grausiger Fälle 
nicht getan sei, sondern dass man bei den Erhebungen 
in mittleren und kleineren Gemeinden sich gleichmässiger 
Formulare bedienen müsse, die an Private, an Behörden und 
Verwaltungsorgane zwecks Ausfüllung zu senden wären, um 
mit deren Beantwortung zu ganz bestimmten unanfechtbaren 
Ergebnissen zu gelangen. Man würde durch Aufstellung gleich- 

Die Alkoholfrage. 8 


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Abhandlungen. 


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massiger Erhebungsformulare der örtlichen Kleinarbeit bei der 
wissenschaftlichen Untersuchung der Alkoholfrage ausserordent¬ 
lich dienlich sein können. Wir möchten, dieser Anregung ent¬ 
sprechend, für Untersuchungen der Alkoholfrage in einzelnen 
Gemeinden folgende Hauptpunkte hervorheben: 

A. Ermittlung der Grösse und Verteilung des 
Verbrauchs an Branntwein, Wein und Bier (mit Unter¬ 
scheidung der einfachen und schweren Biere), soweit dies durch 
die Steuer- und Verkehrsstatistik möglich ist. Schätzung der 
vom Publikum gemachten Ausgaben für geistige Getränke. 

B. Ermittlung der Zahl der Schankstätten, Gastwirt¬ 
schaften und Verkaufsläden von geistigen Getränken unter Ver¬ 
gleichung mit der Einwohnerzahl der betreffenden Gemeinden. 

C. Ermittlung der Zahl der durch den Alkoholgenuss 
bedingten (direkten und indirekten) Fälle von 1. Verunglückungen 
und Unfällen, 2. Selbstmorden, 3. Irrsinn (in öffentlichen und 
privaten Irrenheil- und Pflegstätten), 4. Verbrechen (in Gefäng¬ 
nissen und Strafanstalten), 5. Erkrankungen (in Krankenhäusern, 
Trinkerheilanstalten etc.), 6. Verwahrlosungen der Kinder infolge 
von Trunksucht der Eltern, 7. Verarmung, bei welcher der 
Alkohol die Haupt- oder Nebenursache bildet. 

Neben den Untersuchungen und Beratungen über einige, 
im vorstehenden erwähnten Hauptpunkte der Alkoholfrage wird 
sich die Tätigkeit von örtlichen Mässigkeits- und Enthaltsam¬ 
keits-Vereinen vor allem auch gewissen Veranstaltungen und 
persönlichen Bemühungen, insbesondere auch der individu¬ 
ellen Trinkerpflege zuwenden müssen, um sowohl die 
bereits Gefallenen und Gefährdeten, als auch die Kinder und 
Familien derselben vor weiterem Unglück zu bewahren. 

Fast alle Veranstaltungen und Fürsorge - Bestrebungen, 
welche zur Bekämpfung der Gefahren des Alkohols erforderlich 
erscheinen, sind bereits im Jahre 1884 in dem ersten Programm 
des Dresdner Bezirksvereins gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke empfohlen worden. Dasselbe lautet folgendermassen: 

Programm und Arbeitsplan des Dresdner Bezirksvereins gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke 

(abgedrackt in dem Rechenschaftsbericht über die Vereinstätigkeit vom 
28 . November 1883 bis März 1885 ). 

Der Vorstand des Dresdner Bezirksvereins betrachtet den Kampf 
gegen die Trunksucht als eine Vorstufe für die soziale Emporhebung 



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Ein Programm u. Plan z. örtlichen Wirken f. Massige u. Enthaltsame. 107 

aller Volksklassen und hat von diesem Standpunkte aus ein Programm 
beraten, wonach für die nächsten Wintermonate namentlich folgende 
Aufgaben ins Auge gefasst werden sollen: 

1. Förderung der Errichtung von Kaffeestuben womöglich in allen 
42 Armenpflegebezirken Dresdens. 

2. Verkauf von Marken auf Kaffee, Tee, Warmbier, Suppen etc. 
in den Kaffeestuben an die Mitglieder des Vereins zur eigenen Benutzung 
oder zur Verteilung an Bedürftige. 

3. Verbreitung populärer Vereinsschriften und weitere Herausgabe 
von »Mitteilungen des Dresdner Bezirksvereins gegen den Missbrauch 
geistiger Getränke«. 

4. Veranstaltung von populären Vorträgen über Gesundheitspflege 
und Volksernährung. 

5. Veranstaltung von Unterhaltungsabenden und edleren Volks¬ 
erholungen. 

6. Weitere Ausbildung der bereits organisierten individuellen Trinker¬ 
pflege nach Art der individuellen Armenpflege und Gewinnung von Helfern 
und Helferinnen für diese Tätigkeit. 

7. Veranstaltungen zur Unterweisung von Fabrikmädchen und 
Arbeiterfrauen im Kochen und Haushalten. 

8. Anregung von Orts- und Bezirksvereinen in verschiedenen Teilen 
Sachsens und Versorgung derselben mit den in Dresden erscheinenden 
Druckschriften und Mitteilungen. Veranstaltung von Landesversamm¬ 
lungen der zu einem Landesverband vereinigten Orts- und Bezirksvereine. 

9. Versorgung der sächsichen Lokalpresse mit Artikeln gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke und Besprechung der Vereinsangelegen¬ 
heiten in allen sächsischen Kalendern. 

10. Aufforderung an ärztliche, juristische, theologische, pädagogische, 
kaufmännische, gewerbliche, landwirtschaftliche, Turn-, Gesang- und Arbeiter- 
Vereine, sowie an Wohltätigkeits- und andere Gesellschaften, die Bestre¬ 
bungen des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke durch Vor¬ 
träge, Schriftenverteilung, durch eigenes gutes Beispiel der Mitglieder und 
sonst auf jede Weise mit Rat und Tat zu fördern und sich auch an den 
Beobachtungen, Untersuchungen und Mitteilungen des Vereins zu beteiligen. 

11. Veranstaltung von privatstatistischen und öffentlichen Erhebungen 
über den Einfluss des Alkohols auf die sanitarische und soziale Lage der 
Bevölkerung, auf Zunahme von Krankheiten, Verbrechen, Selbstmorden. 
Statistik der Schankstätten, der Einfuhr und Produktion und des Ver¬ 
brauchs geistiger Getränke. 

12. Agitation für die Entmündigung der Trunkenbolde. 

13. Agitation für gesetzliche und administrative Bestimmungen, 
wonach Spirituosen unter das Nahrungsmittelgesetz fallen und Fälschungen 
derselben bestraft werden und die Vergiftung der Bevölkerung durch 
den Fusel verhütet wird. 

14. Agitation für folgende Massregeln: 

a) Beschränkung und Konzessionierung von Schankwirtschaften; 

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Abhandlungen. 


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b) Beschränkung der Verkaufszeit von Spirituosen; 

c) Beschränkung der Personenzahl der Trinker durch Verbot des 
Ausschankes an Minderjährige; 

d) Einführung von Schanksteuern für kommunale Zwecke; 

e) schärfere Handhabung polizeilicher und strafrechtlicher Be¬ 
stimmungen ; 

f) Einführung der Lohnauszahlungen in der Mitte der Woche; 

g) Anregung von Vereinbarungen, wonach für gewisse Arbeits¬ 
leistungen und Verhältnisse kein Schnaps, sondern gesundere 
Getränke, wie Kaffee, Bier, Limonaden etc. verabreicht werden. 

15. Aufforderung an staatliche und kommunale Behörden und an 
grosse Unternehmer, welche viele Arbeiter beschäftigen, Kaffeebuden und 
Volksküchen zu errichten, die Volksernährung verbessern zu helfen und 
die Bestrebungen der Vereine gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
nach den verschiedensten Richtungen hin kräftig zu unterstützen (unter 
Berufung auf die Massregel der Generaldirektion der sächsischen Staats¬ 
bahnen). 

16. Endlich kräftige Förderung und wirksame Unterstützung der 
Bestrebungen des allgemeinen deutschen Vereins gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke, welchem in erster Linie die Aufgabe zu¬ 
fällt, bei den gesetzgebenden Gewalten des Deutschen Reichs alle ent¬ 
sprechenden Schritte zu tun, damit die bestehende Gesetzgebung über 
das Schankwesen in Deutschland geändert und den Einzelstaaten und 
Kommunen die Möglichkeit zu selbständigem Einschreiten und zu wirk¬ 
samen Vorbeugungs- und Verhütungsmassregeln gegeben wird. 

Wir haben geglaubt, im Jahre 1904 an das im Vorstehenden 
abgedruckte Programm vom Jahre 1884 erinnern zu sollen, um 
den tatsächlichen Beweis zu führen, dass sich die deutsche 
Mässigkeitsbewegung von Anfang an die weitesten Ziele ge¬ 
steckt und auch die Enthaltsamkeitsbestrebungen und die 
individuelle Trinkerpfege seit 20 Jahren mit in den 
Kreis ihrer Wirksamkeit aufgenommen hat. Ueber die vom 
Dresdner Bezirks verein in Pflege genommenen Trinker liegen 
besondere Akten und Protokolle vor, welche unter dem Titel: 
„Bilder aus der individuellen Tr inkerpf lege" als 
„vertrauliches Manuskript" gedruckt sind. 

Der Dresdner Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke hat mehr als zwei Jahrzehnte lang nach dem von 
ihm aufgestellten ersten Programm gearbeitet und sich bemüht, 
den verschiedensten Richtungen in der Antialkohol-Bewegung 
gerecht zu werden, um dadurch zur Verständigung und zum 
Zusammenwirken aller Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine 
beizutragen. 



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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


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Alkohol and Zurechnungsfähigkeit.*) 

Von Dr. med. Eduard Hirt, München. 


An und für sich bezeichnet das Wort Zurechnungsfähigkeit 
keinen ärztlichen Begriff. Es bedeutet vielmehr einen Zustand 
von allgemein menschlichem Interesse, der aber heute ins¬ 
besondere für das Urteil des Strafrichters von Wichtigkeit ist. 
Denn die Zurechnungsfähigkeit ist die notwendige Voraussetzung 
der richterlichen Zurechnung, d. h. der Verantwortlichmachung 
für eine Tat, für eine Gesetzesübertretung. Die strafrechtliche 
Auffassung der Zurechnungsfähigkeit stimmt heute im Wesent¬ 
lichen noch vollkommen mit der im Volke lebenden Ueber- 
zeugung überein, dass der Einzelne sein Tun und Lassen ganz 
allein für sich zu verantworten habe, und noch mehr mit der 
theologischen Auffassung moralischer Verantwortlichkeit. . Diese 
Anschauungen stützen sich hauptsächlich auf das trügerische 
Gefühl der Freiheit, das die Menschen bei vielen ihrer 
Handlungen haben, und auf die weitverbreitete Meinung, 
dass der Mensch so handeln könne, wie es ihm 
beliebe. Damit hängt das Gefühl der Verantwortlichkeit aufs 
Engste zusammen. 

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist somit 
die Frage der Willensfreiheit. Nun geben aber heute 
alle Gebildeten, unbeirrt durch die verschiedenen religiösen und 

*) Da die Frage der Zurechnungsfähigkeit bei Gesetzesübertretungen gegen¬ 
wärtig Aerzte, Juristen und Sozialpolitiker lebhaft beschäftigt und da die bürgerliche 
Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich vor den vermindert Zurechnungs¬ 
fähigen zu schützen, noch bevor diese ein Verbrechen begangen haben, so erscheint 
es der Redaktion dieser Zeitschrift geboten, den Gegenstand auch mit Rücksicht auf 
die Alkoholfrage einer näheren wissenschaftlichen Beleuchtung zu unterziehen. 

Die Redaktion. 


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Abhandlungen. 


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philosophischen Richtungen, denen sie anhängen mögen, zu, 
dass nur der Mensch zurechnungsfähig ist, dessen Willens¬ 
entschlüsse durch keinerlei krankhafte Seelenvorgänge in ihm 
bestimmt oder mitbestimmt werden. Diese Auffassung liegt 
auch dem § 51 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches zu 
Grunde, dessen Wortlaut für unsere Frage massgebend ist. 

Er heisst: 

Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn 
der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich 
in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krank¬ 
hafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch 
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen 
war. 

Erst mit der gesetzlichen Festlegung der Einsicht, dass 
krankhafte Seelenzustände die Willensfreiheit beeinträchtigen 
oder aufheben können, ist es Sache der Aerzte geworden, in 
der Frage der Zurechnungsfähigkeit mitzusprechen. Wir wollen 
nun unsere Aufgabe in drei Teile einteilen: 1. in die Er¬ 
örterungen darüber, was man unter Zurechnungsfähigkeit im 
ärztlichen Sinne zu verstehen hat; 2. in die Darlegung der 
Veränderungen, die der Alkohol auf dem Gebiete seelischen 
Geschehens hervorbringt; 3.’ in die Betrachtung der Be¬ 
ziehungen, die zwischen den Alkoholwirkungen und den Vor¬ 
bedingungen der Zurechnungsfähigkeit bestehen. 

Wo von Zurechnungsfähigkeit die Rede ist, handelt es sich 
immer um ein Zurechnen von Handlungen, da An¬ 
sichten, Gesinnungen u. dgl. m. dem Gesetze nicht unterstehen. 
Eine Feststellung jenes Begriffes muss daher von den Tat¬ 
sachen ausgehen, die wir über das Zustandekommen mensch¬ 
lichen Tuns kennen. Natürlich kommen erzwungen e Taten 
hier nicht in Betracht; sie erscheinen uns selbstverständlich als 
unverantwortlich. Alles andere Tun aber erscheint uns als 
Ergebnis eines Wollens. 

Das Wollen finden wir bekanntlich als eine besondere 
Art seelischer Vorgänge in unserem Innern. Wir erkennen es 
an dem Willensgefühl, welches einen Teil unseres Tuns, unsere 
Handlungen im engeren Sinne, begleitet. Dieses Gefühl sagt 
uns, dass wir selbst es sind, der jetzt dies oder jenes tut. 
Deshalb erscheint uns unser Wollen aus uns selbst entsprungen, 


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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


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„unser“ Eigentum, wir selbst als seine alleinigen Herren und 
Lenker. Wenn wir so ein Wollen „frei“ nennen, so können 
wir damit nur „frei von äussseren Einflüssen“ meinen und 
somit ist diese Freiheit des Wollens im Grunde unsere 
Freiheit, die Freiheit unseres Ich. Darum halte ich mich ver¬ 
antwortlich für meine Handlungen. Anders bei dem Tun, 
das wir, wie im Traume, im' Halbschlaf u. dgl., automatisch 
oder gar reflektorisch vollziehen. Bei ihm fühlen wir nicht 
uns als die Täter; wir sagen daher: ich weiss nicht, wie ich 
dazu kam, es war auf einmal geschehen; von Verantwortlich¬ 
keit fühlen wir uns hier immer frei. 

Die erwähnten Gefühle der Willensfreiheit und Ver¬ 
antwortlichkeit sind zum Ausgangspunkt einer lange Zeit 
herrschenden Willenslehre geworden, die viel Verwirrung an¬ 
gerichtet hat. Sie nahm an, dass unsere Willenshandlungen 
vom Willen als einer ganz frei und unabhängig wirkenden 
Kraft bestimmt würden. Unterstützt wurde diese Auffassung 
noch durch die geläufige Selbsttäuschung, der die meisten 
Menschen unterliegen, wenn sie rückschauend ihre Handlungen 
betrachten; sie meinen dann in vielen Fällen, dass sie auch 
anders hätten handeln können. Mit der genannten Willenslehre 
ist dem Willen eine Stellung ausserhalb des Causalitätsgesetzes 
angewiesen und das Gesetz von der Constanz der Kraft ist 
durchbrochen. Da diese Gesetze sich sonst überall bei der 
Betrachtung der Welt bewährt haben, muss uns jede schein¬ 
bare Ausnahme vorsichtig machen. Wir wollen daher die 
Stützen genannter Willenslehre schärfer prüfen. 

Wenn ich rückschauend meine, ich hätte in einem be¬ 
stimmten Falle auch anders handeln können, so kann erstens 
die Beurteilung der damals herrschenden Beweggründe durch 
die Betrachtung aus der Ferne, welche die Genauigkeit meiner 
Erinnerung verwischt, erschwert sein, und zweitens erscheinen 
die damals wirkenden Triebfedern notwendig in falscher Be¬ 
leuchtung und falschem Verhältnisse, weil Erinnerungen das 
Gemüt stets weniger erregen, wie augenblickliche Eindrücke. 
Wir werden sehen, wie bedeutungsvoll dieser Sachverhalt ist. 
Sehen wir vorläufig von ihm ab und machen wir uns nur klar, 
dass der Satz: „Ich hätte damals auch anders handeln können“, 
die Ergänzung fordert: „wenn ich gewollt hätte.“ Warum aber 


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Abhandlungen. 


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habe ich nicht anders gewollt? Mein Tun hatte damals, wie 
stets, einen bestimmten Zweck. Dieser konnte zwar von dem 
Zweck meiner sämtlichen anderen Handlungen verschieden sein, 
deckte sich mit den Zwecken dieser aber doch in dem einen 
Punkte, dass er im Augenblicke meiner Tat von mir gebilligt 
wurde. Widrigenfalls wäre meine Tat ja unterblieben. Die 
Vorstellung dieses Zweckes bildete vor Ausführung meiner Tat 
den Inhalt eines zu der schliesslich vollzogenen Handlung 
hindrängenden Wollens. Ich kann darum auch sagen, mein 
Wille billigte die Tat. Der vorgestellte Zweck war ein 
Beweggrund oderMotiv meines Willens oder mein 
Beweggrund. Die Billigung meiner Tat kann ich schon 
vor ihrer Ausübung erfahren haben. Ich kann sie zu be¬ 
sonderer Kenntnis genommen haben, mit dem Vors atze oder 
Entschlüsse, ihr entsprechend zu handeln. Erkannt kann 
ich sie nur an einem Gefühle haben, das die Vorstellung 
meines Beweggrundes begleitete, das sehr verschiedener Art 
gewesen sein kann, sicherlich aber ein Lustgefühl war. 
Dieses Gefühl bezeichnete also die Stellungnahme meines Ich, 
oder meines Willens zu dem vorgestellten Zweck. Da es ein 
Lustgefühl war, sagte es dazu ja und Amen, und bewirkte ein 
Streben nach Verwirklichung dieses Zweckes. Wäre es 
ein Unlustgefühl gewesen, dann wäre dieses Streben nach 
Verwirklichung nicht aufgetreten. Lust und Unlust heissen 
daher die Triebfedern unseres Handelns. Bei alledem ist 
es einerlei, was den Zweck unseres Tuns bildete und woher 
die Vorstellung desselben stammte; sie kann aus der Erinnerung 
aufgestiegen sein, oder sich unmittelbar an eine Wahrnehmung 
angeschlossen haben; ihre Herkunft kann uns bewusst ge¬ 
worden oder unbekannt geblieben sein. 

Tatsächlich ist aber eine Willenshandlung selten ein so 
einfacher Vorgang. In der Regel ist der Entschluss nach der 
Vorstellung eines Zweckes und der Stellungnahme unseres Ich 
zu ihm nicht fertig. Meist tauchen eine Anzahl von Beweg¬ 
gründen auf, welche als Gründe und Gegengründe unseres 
Handelns erscheinen, und eine Reihe von Gefühlen bezeichnet, 
ob wir die einzelnen billigen oder verwerfen. Auf diese Weise 
wird die Willenshandlung zur Wahlhandlung. Sie ist die 



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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


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Folge eines Willensentschlusses, der endlich aus dem Kampf 
der Motive unter der Triebkraft wechselnder Gefühls¬ 
erregungen als feststehende Richtschnur unseres Handelns her¬ 
vorging. Auch die Bildung des Entschlusses und das daran 
sich anschliessende Streben nach Verwirklichung desselben wird 
von eigenartigen Gefühlen markiert, so dass man den ganzen 
Willensvorgang in einen gesetzmässigen Ablauf von Gefühlen 
auflösen kann. In dieser Tatsache, dass unser Ich einer Zweck¬ 
vorstellung gegenüber Stellung genommen hat, ehe es zu einem 
Handeln kam, liegt das die Willenshandlungen vor den reflek¬ 
torischen Bewegungen und automatischen Verrichtungen Aus¬ 
zeichnende. Je umfassender und eingehender diese Stellung¬ 
nahme war, desto deutlicher ist unser Freiheits- und Verant¬ 
wortlichkeitsgefühl. Es macht deshalb für dasselbe viel aus, 
ob wir in einer Sache nach reiflicher Ueberlegung oder durch 
die Umstände gedrängt handeln. Es muss aber auch für die 
Richtung der Entschliessung bedeutungsvoll sein, ob unser 
Handeln das Ergebnis wohlabgewogener Gründe, sachlichen 
Wissens und innerer Ruhe ist, oder ob wir es mit der Tat 
eines leidenschaftlich erregten Menschen zu tun haben, der 
über die Tragweite seiner Beweggründe sich nicht im Klaren 
ist. Fragen wir indessen uns zunächst einmal, wer dieses 
Ich ist, das da Stellung nehmen, ja oder nein sagen soll? 
Was weiss ich überhaupt von diesem Ich? Eine genaue Selbst¬ 
besinnung lehrt, dass dieses Ich derselbe ist, den ich auf eine 
Summe von Erfahrungen in einer bestimmten Weise habe ant¬ 
worten sehen; derselbe, von dem sich sagen lässst, dass er so 
oder so zu handeln gewohnt ist, der diesen oder jenen Charakter 
offenbart, diesen oder jenen Grundwillen hat. Kurz, mein Ich 
ist die Zusammenfassung aller der Wahrnehmungen, die ich 
über mich selbst gemacht, oder anders ausgedrückt, in denen 
ich mich selbst erlebt habe. Es muss also in erster Linie der 
Zusammenhang der gerade mir eigentümlichen Gefühle und 
Triebe sein, durch die ich mich von anderen meinesgleichen 
unterscheide, und durch welche ich anders als andere, indi¬ 
viduell, handle. Es ist das Subjektive gegenüber dem Objek¬ 
tiven. Und die Kenntnis des Subjektiven, dessen Zusammen¬ 
fassung eben das Subjekt, das Ich ist, hat ihre tiefste Quelle 
in der Beobachtung der Willenshandlungen und ihrer Vor- 


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Abhandlungen. 


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bedingungen, der Willensvorgänge. Nur auf sie kann sich das 
Urteil über eine Persönlichkeit mit Sicherheit stützen. 

Stellen wir also die Frage, „was ist Wille, woher kommt 
er?“ so kann die Antwort nur lauten :Wille istdieSelbst- 
wahrnehmung eines im Wirbel der Begebenheiten sich 
ringend und strebend fühlenden Ichs. Er ist das 
Unterscheidungsmerkmal von Ich und Nichtich und das Ver- 
hältnismass von diesen beiden. Dem Leuchtenden, Klingenden, 
Riechenden, Harten, Weichen, Warmen und Kalten setzen wir 
ebenfalls ein Leuchtendes, Klingendes, Riechendes usw., unserem 
Körper entgegen. Er ist in das ewig hin- und herflutende 
Meer wechselnder Erscheinungen miteingeschlossen. Von aussen 
gesehen, ist daher er und die ganze Welt Bewegung, Stoss 
und Gegenstoss, Anziehung und Flucht. Sie spiegeln sich im 
Bewusstsein als tausend Vorstellungen und ihre Bedeutung für 
unser Selbst spiegelt sich als Wille. Wenn uns unser Wille 
nun als frei erscheint, so kann das nur einen Sinn haben, 
nämlich: frei von äusseren, unserem Ich fremden Einflüssen. 

Nach alledem ist unser Wollen so frei und unfrei, wie 
wir selbst. Von frei im Sinne von „ursachelos“ oder „dem 
Causalitätsgesetze entzogen“ kann keine Rede sein. Jedes 
Einzelwesen ist ein Blatt am Baume der Menschheit; und wie 
der Gärtner, der eine Baumart kennt, der weiss, wie gerade 
dieser Baum aufgewachsen ist, und unter welchen besonderen 
Einflüssen er bisher gelebt hat, sagen kann, welches Licht-, 
Luft- und Nahrungsbedürfnis seine Zweige haben, so lassen sich 
auch die Willensstrebungen der Menschen, die eben ihre Be¬ 
dürfnisse und Strebungen zum Ausdrucke bringen, nur aus 
ihrer Abstammung, ihrer Anlage und ihren Erfahrungen 
verstehen. Durch diese Kräfte sind sie mit Notwendigkeit 
bedingt. 

Es lässt sich von hier aus verstehen, warum gerade 
religiöse und ethische Rücksichten der allgemeinen Anerkennung 
dieser deterministischen Willenslehre im Wege stehen. Wenn 
der Mensch unter bestimmten Verhältnissen sich zu einer 
Handlungsweise, die vielleicht den herrschenden sittlichen und 
rechtlichen Anschauungen widerstreitet, entschliessen muss, 
so kann es fraglich erscheinen, ob man ihn dafür moralisch 
verantwortlich machen darf. Freilich wäre es andererseits 


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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


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überaus niederdrückend, wenn es wirklich im Belieben des 
Menschen stünde, die Einflüsse der Erziehung, der Belehrung 
und der lebendigen Erfahrung zu vernachlässigen. Aus der 
Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Menschen die 
persönliche Anlage so geraten ist, dass unter 
halbwegs gesunden äusseren Verhältnissen ver¬ 
brecherische Taten vermieden werden, ergibt sich 
aber jedenfalls eine soziale Ver an t w o r t li c h ke i t. Reichen 
die natürlichen sozialen, menschenfreundlichen Triebe, unterstützt 
durch die Aussicht auf Bestrafung im Falle einer Rechtsverletzung 
nicht aus, um einen Menschen auf der Bahn des Rechtes zu er¬ 
halten, so hat die Gesellschaft die Pflicht, die verbreche¬ 
rischen Neigungen durch eine angemessene Bestrafung für 
die Zukunft womöglich in Schranken zu halten. Personen, die 
von verbrecherischem Tun nicht durch Mitleid und Gerechtigkeits¬ 
gefühl, sondern nur durch die Furcht vor dem Gesetze ab¬ 
gehalten werden, gibt es gewiss recht viele. Bei ihnen hängt 
es oft von der Art der Verhältnisse ab, in die hinein sie ge¬ 
boren, und unter denen zu leben sie gezwungen sind, ob wir 
sie später als gewöhnliche Verbrecher wiederfinden oder als 
Spitzbuben von der Sorte, welche man nicht hängt. 

Die bisherigen Erörterungen zeigen, dass die Zurechnungs¬ 
fähigkeit insbesondere von zwei Vorbedingungen ab¬ 
hängt: es muss zur Zeit der Tat erstens ein Zustand vor¬ 
handen sein, in welchem die Beweggründe unseres Handelns 
uns klar und deutlich zum Bewusstsein kommen und von uns 
gewürdigt werden können, und zweitens muss die Umsetzung 
unseres Wollens in entsprechende Handlungen eine ungestörte 
sein. Eine Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit kann 
demnach einmal durch alle Zustände getrübten oder krankhaft 
veränderten Bewusstseins und sodann durch jene Vorgänge 
Zustandekommen, die unser Handeln mehr oder weniger unserem 
Willen entziehen. Auf dem erstgenannten Wege führen 
geistige Schwäche, Verwirrtheit, Sinnestäuschungen, Wahn¬ 
vorstellungen u. dgl. zur Unzurechnungsfähigkeit, auf dem 
zweiten Wege insbesondere erleichterte Auslösung von Be¬ 
wegungen, sog. psychomotorische Erregung. Sie lässt auch bei 
klarem Bewusstsein keine Zeit zu einem geordneten Verlaufe 
des Willensvorganges. 


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Abhandlungen. 


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Es ist kein Zweifel, dass das Gesetz mit den Ausdrücken 
„Zustand von Bewusstlosigkeit“ und „krankhafte Störung der 
Geistestätigkeit“ diese Arten von geistigen Störungen meint. Die 
Schwierigkeiten für den ärztlichen Sachverständigen entstehen 
dadurch, dass er genötigt ist, zwischen Zurechnungsfähigkeit 
und Unzurechnungsfähigkeit an einer Stelle eine scharfe Grenze 
zu ziehen, während doch tatsächlich von den Fällen vollster 
Zurechnungsfähigkeit bis zu denen zweifellosester Unzurechnungs¬ 
fähigkeit alle Grade von Uebergängen Vorkommen. Gerade 
bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nach Alkohol¬ 
genuss macht sich der Mangel einer naturgemässen Abstufung 
der Verantwortlichkeit schwer fühlbar. 

Es ist zweckmässig, die Erscheinungen der akuten Ver¬ 
giftung, der chronischen Vergiftung und die mittelbaren, mehr 
oder weniger zufälligen Alkoholwirkungen und ihre Bedeutung 
für die Zurechnungsfähigkeit gesondert zu betrachten. Diese 
verschiedene Wirkungsweise des Giftes lässt sich etwa 
folgendermassen kennzeichnen: 

Einmaliger Alkoholgenuss, wenn es sich auch nur um ge¬ 
ringe Mengen, etwa 40—60 ccm. handelt, erschwert die Auf¬ 
fassung äusserer Eindrücke, verlangsamt die Gedankenver¬ 
bindung und disponiert zu verfrühten und überstürzten Be¬ 
wegungen. Grössere Alkoholmengen beeinflussen die Wahr¬ 
nehmung so stark, dass es schwer oder unmöglich werden 
kann, sich mit dem Betrunkenen zu verständigen. Die Ver¬ 
arbeitung der Sinnesreize entbehrt der sicheren Leitung durch 
Zielvorstellungen, die Vorstellungen schliessen sich vielmehr 
nach äusseren, zufälligen Merkmalen zusammen, als da sind 
Gleichklang von Worten, eingelernte Wortfolgen, Reime. Hier¬ 
durch wird der Gedankengang verflacht, an Stelle des sinnlich 
Zusammengehörigen lenken ihn eingeübte Sprachbewegungen. 
Neben grosser Breite zeichnet die Reden Angetrunkener eine 
auffallende Leere aus. Diese wird um so merklicher, je mehr 
sich die lähmende Wirkung des Weingeistes auch auf die 
psychomotorischen Leistungen erstreckt. Hierdurch kommt es 
mehr und mehr zu Stockungen des Gedankenablaufes, zu 
Wiederholungen derselben Worte und endlich zu mehr oder 
weniger vollständiger Bewusstlosigkeit. 



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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


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Die wohltuende Wirkung auf unsere Stimmung, welche 
mässige Alkoholmengen ausüben, hängt wohl unmittelbar mit 
einer psychomotorischen Erregung, der Erleichterung der 
Bewegungsauslösung, zusammen. Bei höheren Graden der 
Vergiftung finden wir dann jene laute Fröhlichkeit oder die 
abstossende Selbstüberhebung und ein unsinniges Kraftgefühl 
an den Angetrunkenen deutlich hervortreten, lauter Eigen¬ 
schaften, welche unüberlegte, rohe und gewalttätige Handlungen 
sehr fördern. Erst mit Eintritt der Lähmung auch auf diesem 
Gebiete legt sich die gefährliche Reizbarkeit des Betrunkenen. 
Eine weitere überaus wichtige Störung unseres Seelenlebens 
im Rausche ist die geschlechtliche Erregung. 

Alle diese Eigentümlichkeiten bringen den Rausch in nahe 
Verwandtschaft zu jenen Geistesstörungen, die wir als manische 
bezeichnen. Bedenkt man nun die erschreckende Häufigkeit 
der Betrunkenheit, so kann es nicht verwundern, dass der 
grössere Teil jener Verbrechen, die mit der Alkoholvergiftung 
mittelbar oder unmittelbar Zusammenhängen — es sind das 
nach Kraepelins Schätzung etwa 70 °/ 0 aller Straftaten! — 
nicht der Trunksucht, sondern dem Gelegenheitstrunke 
ihre Entstehung verdanken. Die Art der Vergehen ist für den 
Einblick in die dabei wirksamen Momente äusserst lehrreich: 
Verletzung des öffentlichen Anstandes, Widerstand, Ruhe¬ 
störung, Beleidigungen, Sittlichkeitsvergehen, Gewalttaten bis 
zum Totschlag sind die gewöhnlichen Gesetzesverletzungen 
durch Betrunkene. 

Die Folgen des chronischen Alkoholmissbrauches, 
soweit sie hier von Interesse sind, bestehen in der zunehmenden 
Verdummung und der gemütlichen Verrohung des Trinkers. 
Es ist sehr schwer, mit Bestimmtheit im Einzelfalle zu erkennen, 
ob man es schon mit den ersten Anfängen der chronischen 
Alkoholvergiftung nach der eben genannten Richtung zu tun 
hat, oder noch mit „normalen“ Erscheinungen. Sicher ist nur, 
dass in schweren Fällen die geistige Verarmung der Trinker 
den Grad einer unverkennbaren Verblödung erreichen kann. 
Die Urteilslosigkeit ist namentlich in Bezug auf die eigene 
Person sehr deutlich, erstreckt sich aber auf alle Gebiete, 
sofern die Verwertung von Gedächtnisstoff gefordert wird, der 
erst in den Zeiten schon beginnender Vergiftung erworben 


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Abhandlungen. 


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werden sollte. An alle diese Erfahrungen ist die Erinnerung 
niemals eine treue. Da nun der fortgesetzte Alkoholmissbrauch 
auf gemütlichem Gebiete ausser der Abstumpfung für Höheres 
und der Ertötung des Ehrgefühles, des Bewusstseins der Ver¬ 
antwortlichkeit, der Scham und der Willenskraft, insbesondere 
auch Misstrauen, erhöhte Reizbarkeit und schwere Verstimmung 
hervorbringt, so bildet sich gar nicht selten eine voreinge¬ 
nommene Beurteilung des persönlichen Schicksales heraus, die 
überall Anfeindung wittert und zu ausgeprägtem Verfolgungs¬ 
wahne werden kann. Diese Verrücktheit der Trinker äussert 
sich namentlich durch die' Verkennung des Verhältnisses zu 
nahen und nächsten Personen. Eine sehr gewöhnliche Form 
ist der Wahn ehelicher Untreue der Frau, der Eifersuchts¬ 
wahn. 

Auch beim chronischen Alkoholismus sind es bestimmte 
Straftaten, die man immer wiederkehren sieht. Entsprechend 
der Willensschwachheit der Trinker fehlen Verbrechen, welche 
Ueberlegung, Tatkraft und Nachhaltigkeit des Entschlusses er¬ 
fordern, fast ganz. Dagegen finden sich überaus häufig Zech¬ 
prellereien und Betrügereien anderer Art, Diebstähle, Hehlereien, 
schwere Pflichtversäumnisse und Gewohnheitsbettel. Alle diese 
Vergehen finden ihre Erklärung einmal in der moralischen Ver¬ 
kommenheit und sodann auch in der Gedankenlosigkeit und 
Urteilslosigkeit des Trinkers. Es kommen aber auch gar nicht 
selten Gewalttaten bei Trinkern vor, die durch die Reizbarkeit, 
die Wahnvorstellungen und den Verlust einer festen Selbstbe¬ 
herrschung entstehen. 

Die bisher genannten Schädigungen des Seelenlebens durch 
den Alkohol unterscheiden sich in den einzelnen Fällen nur 
dem Grade nach. Ihnen gegenüber steht eine Reihe von 
Störungen, deren Gestaltung ausser vom Alkohol noch von 
anderen Momenten wesentlich beeinflusst wird: die kompli¬ 
zierten oder pathologischen Räusche, welche die 
Reaktion eines von Haus aus krankhaft veranlagten Nerven¬ 
systems auf das Gift darstellen, und gewisse Geisteskrank¬ 
heiten, nämlich das Delirium tremens, der hallucinatorische 
Wahnsinn und die Korsakow’sche Psychose, in denen wir die 
vereinigte Wirksamkeit des chronischen Alkoholmissbrauches 



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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


119 


und einer eigenartigen, aber in ihrem Wesen noch nicht ge¬ 
nauer gekannten Ernährungsstörung zu sehen haben. 

Die Erscheinungen des pathologischen Rausches treten 
nicht selten schon nach sehr geringem Alkoholgenusse auf. 
Infolgedessen können die äusseren Merkmale des gewöhnlichen 
Rausches, namentlich das auffallende Gebahren, lallende Sprache 
und schwankender Gang, ganz fehlen. Dagegen zeichnen sie 
sich durch eine meist plötzliche Bewusstseinstrübung aus, die 
zu Verkennung von Personen und Umgebung Veranlassung 
gibt, und auf gemütlichem Gebiete durch hochgradige Reizbar¬ 
keit, meist auch Angst, mit blindestem Bewegungsdrang. 
Diese Zustände treten mit Vorliebe im Anschluss an unver¬ 
mutete Begegnungen auf, insbesondere bei Zuredestellungen 
durch Schutzleute, Zusammentreffen mit einem missliebigen 
Bekannten, häufig suchen sie auch den bereits eingeschlafenen, 
aus zufälligen Gründen aber wiedererweckten Trinker heim. 
Während ihrer Dauer, bezw. durch ihr Einsetzen reisst in¬ 
dessen der Faden der vorher gesponnenen Vorstellungen nicht 
völlig ab, vielmehr vereinigen sich die rasch auftretende Angst 
und der blinde Drang zu wütenden Angriffen oft in verhäng¬ 
nisvoller Weise, um den Kranken zu einer sinnlosen Gewalttat 
zu drängen, die eine planvolle Vorbereitung im gesunden Zu¬ 
stande vortäuschen kann. An diese einfachen Zustände ab¬ 
normen Bewusstseins, die namentlich auch bei alten, entarteten 
Säufern aufzutreten pflegen, schliessen sich verwandte Fälle 
mit mehr oder weniger zahlreichen Sinnestäuschungen an. 
Neben dem sehr raschen Auftreten und der Tatsache, dass es 
immer schon vor der akuten Vergiftung krankhaft geartete 
oder durch chronischen Alkoholismus entartete Personen sind, 
welche in der beschriebenen Weise reagieren, ist für die Be¬ 
urteilung dieser Zustände noch besonders der kurzdauernde, 
episodenhafte Verlauf von Wichtigkeit. Nach Stunden, oft 
schon nach Minuten der Erregung beendet ein tiefer Schlaf 
häufig die kurzdauernde Störung. Nach dem Erwachen sind 
die Kranken klar, meist aber ohne Erinnerung an das Vor¬ 
gefallene. Es ist leicht erklärlich, dass es insbesondere Ver¬ 
letzungen der öffentlichen Schicklichkeit, Notzuchtsversuche, 
Widerstand und Körperverletzungen, bzw. Totschlag sind, 


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120 


Abhandlungen. 


welche in derartigen Geistesstörungen versucht oder ausgeübt 
werden. 

Delirium tremens und hallucinatorischer Wahnsinn der 
Trinker entwickeln sich unter Vorläufererscheinungen, wie 
Magenstörungen, Schwindel, Kopfschmerz, Unruhe, Nieder¬ 
geschlagenheit, nächtlichem Aufschrecken und Angstanfällen. 
Nach tage-, ja wochenlangem Bestehen dieser Störungen und 
nach nur gelegentlichem Auftreten von Trugwahrnehmungen 
brechen dann meist während einer Nacht massenhafte Sinnes¬ 
täuschungen über den Erkrankten herein, beim Delirium 
tremens vorwiegend solche des Gesichtssinnes, beim Trinker¬ 
wahnsinn hauptsächlich. solche des Gehörs. Ihr Inhalt ist 
häufig ein bedrohlicher. Die Orientierung über Umgebung und 
Zeit geht dem Kranken verloren, sein Bewusstsein wird getrübt. 
Alle diese letztgenannten Momente begünstigen das Zustande¬ 
kommen gefährlicher Abwehrhandlungen. Das Gleiche gilt von 
der Korsakow’schen Psychose, die gewöhnlich mit einem 
Delirium beginnt. Auch manche Fälle von Epilepsie zeigen 
eine durch chronischen Alkoholgenuss begünstigte Neigung zu 
ängstlichen Delirien mit Gefahr für die Umgebung. In anderen 
spielt dagegen der Alkohol nur eine scheinbare Hauptrolle bei 
der Entstehung von Vergehen, namentlich Diebstählen und 
Zechprellereien, ich meine die sog. Dipsomanie. Bei ihr hat 
man es wahrscheinlich mit echten epileptischen Dämmer¬ 
zuständen zu tun, die sich periodisch wiederholen und sich in 
einem unwiderstehlichen, triebartigen Drang, zu trinken, äussern, 
ähnlich den sonstigen triebartigen Manien der Epileptiker, z. B. 
dem Wandertriebe. 

Nachdem wir nun die Vorbedingungen der Zurechnungs¬ 
fähigkeit und die Störungen, welche der Alkohol in unserem 
Seelenleben hervorbringt, kennen gelernt haben, wollen wir 
versuchen, die Bedeutung der letzteren für die Zurechnungs¬ 
fähigkeit klarzustellen. 

Wir haben gesehen, dass sämtlichen Folgezuständen der 
akuten sowohl, wie der chronischen Alkoholvergiftung eine mehr 
oder weniger tiefe Bewusstseinstrübung bezw. geistige Schwäche 
eigen ist, durch welche der klare Ueberblick über die Trag¬ 
weite von Handlungen, das gesunde Urteil über die Bedeutung 
der einzelnen Beweggründe und die unumschränkte Herrschaft 


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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


121 


über den früher erworbenen Erfahrungsschatz gestört ist. Bei 
sehr vielen vom Alkohol erzeugten Zuständen ist aber ausser¬ 
dem noch die Umsetzung unseres Wollens in entsprechende 
Handlungen eine durchaus veränderte, da sich vielfach eine aus¬ 
gesprochene Erleichterung der Bewegungsauslösung nachweisen 
lässt. Eine solche hat sich sowohl in den ersten Stadien der 
akuten Vergiftung mit voller Deutlichkeit herausgestellt, als auch 
bei chronischen Alkoholisten, an denen sie namentlich als Reiz¬ 
barkeit und Neigung zu brutalen Gewalttaten zu Tage tritt, 
und ebenso in den verschiedenen Formen komplizierter Rausch¬ 
zustände, die sich sämtlich durch unwiderstehlichen Bewegungs¬ 
drang oder, richtiger gesagt, Trieb zu gewaltsamer motorischer 
Entladung auszeichnen. Man kann daher ruhig sagen, dass die 
Zurechnungsfähigkeit in allen vom Alkohol- 
genussabhängigen Geisteszuständen beeinträch¬ 
tigt ist. Das Gesetz verlangt indessen vom Sachverständigen, 
dass er darüber urteile, ob diese Beeinträchtigung bis zur Auf¬ 
hebung der freien Willensbestimmung geführt hat, d. h. nach 
unseren früheren Auseinandersetzungen bis zur Vernichtung 
der ruhigen, ungestörten Bestimmbarkeit durch Beweggründe, 
die der gesunden Erfahrung entstammen und einer gesunden 
Wertung unterliegen. Es ist nicht zweifelhaft, dass die alko¬ 
holischen Geistesstörungen im engeren Sinne, also Delirium 
tremens, hallucinatorischer Wahnsinn und Korsakowsche Krank¬ 
heit in das normale Seelenleben so tief umändernd eingreifen, 
dass während ihrer Dauer die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben 
ist. Bei ihnen haben wir es mit Krankheiten zu tun, die, von 
äusseren Zufälligkeiten unbeeinflusst, einen ganz bestimmten 
Verlauf nehmen. Im Gegensatz dazu stellen die abnormen 
Alkoholreaktionen Seelenstörungen dar, die meistens nur durch 
zufällige äussere Umstände, durch Begegnungen u. dergl. aus¬ 
gelöst oder doch kenntlich gemacht werden. Die erste Schwierig¬ 
keit der Beurteilung von Handlungen, die möglicherweise im 
Zustande des pathologischen Rausches verübt sein können, ist 
daher meistens der Nachweis, ob ein solcher tatsächlich be¬ 
standen hat. Gerade das plötzliche Auftreten schwerer gemüt¬ 
licher Umwälzungen, das äusserlich scheinbar geordnete Ge- 
bahren, die sinnlose Wut des Täters im Augenblicke der Tat, 
der baldige Eintritt tiefen Schlafes und unter Umständen die 

Die Alkoholfrage. 9 


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Abhandlungen. 


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Erinnerungslosigkeit nach dem Erwachen können auf die rich¬ 
tige Eährte leiten. Dazu kommt, dass man es mit alten ent¬ 
arteten Säufern oder von Haus aus Entarteten, mit Epileptischen, 
Schwachsinnigen, Hysterischen u. dergl. zu tun hat. Ist durch 
Berücksichtigung dieser und ähnlicher Gesichtspunkte die Art 
des fraglichen Zustandes einmal festgestellt, so ist die Annahme 
der Unzurechnungsfähigkeit damit gegeben. Es darf nicht 
irre machen, dass sich die Tat vielleicht gegen eine Person 
richtete, mit welcher der Angeklagte schon lange in Feindschaft 
gelebt hatte. Der Anblick dieser kann wie das rote Tuch in 
der Arena gewirkt haben, und ein Widerstand gegen den ver¬ 
brecherischen Antrieb war eben durch die Trübung des Be¬ 
wusstseins und die enorme Affekterregbarkeit unmöglich. 

Viel schwieriger als die Beurteilung dieser nach Auftreten, 
Verlauf und Ausgang wohlgekennzeichneten Krankheitsbilder 
gestaltet sich die Tätigkeit des ärztlichen Sachverständigen 
gegenüber den von alten, einfach entarteten Säufern verübten 
Vergehen. Wo die Schwere der Störung die Bedeutung einer 
ausgesprochenen Psychose, sei es Verblödung, sei es Verfolgungs¬ 
wahn, erreicht hat, kann zwar die Stellungnahme des Beurteilers 
nicht zweifelhaft sein. Gerade die schweren Gewalttaten der 
Trinker, die im Eifersuchtswahn ihre Erklärung finden, kon¬ 
trastieren auffallend mit der stumpfsinnigen Abfindung mit wirk¬ 
lichen Benachteiligungen oder Hintergehungen und zeigen, ein 
wieviel mächtigerer Beweggrund eine Wahnvorstellung für das 
krankhafte Seelenleben, dem sie entspross, werden kann, als 
die inhaltlich vielleicht übereinstimmende Vorstellung des leidlich 
Gesunden. In Verlegenheiten können also nur die Zustände 
zwischen Gesundheit und deutlicher Krankheit führen, die 
im Gesetze nicht berücksichtigt sind. Wo die Urteilskraft des 
Kranken zwar deutlich herabgesetzt, seine Willensstärke unter¬ 
graben und auf der anderen Seite seine Erregbarkeit, seine 
Neigung zu Jähzorn oder seine Begehrlichkeit gesteigert sind, 
wo aber doch die Einsicht in das Verbrecherische einer 
Handlung erhalten, Ueberlegung und Selbstbeherrschung 
nicht aufgehoben waren, da ist man heute in Ermangelung 
der Anerkennung von verminderter Zurechnungsfähigkeit 
gezwungen, entweder zu den mildernden Umständen seine 
Zuflucht zu nehmen, oder, wenn das wegen der Art der Straf- 



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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


12;5 

tat nicht geht, die Bedeutung der krankhaften Einflüsse für die 
Begehung der Handlung zu übertreiben bezw. unrechtmässiger 
Weise zu vernachlässigen. In solchen Fällen müssen die ver¬ 
schiedensten Rücksichten mitsprechen. Vielleicht lässt sich aus 
dem Strafregister erkennen, dass man es mit einem immer tiefer 
sinkenden Menschen zu tun hat, der mehr und mehr den ver¬ 
schiedenen Anreizungen unterliegt. Das würde darauf hindeuten, 
dass die Schwere des Vergehens in strenger Abhängigkeit von 
der zunehmenden Grösse des geistigen Verfalles und der sitt¬ 
lichen Kraft steht. Oder Not und Elend können sich mit der 
Schwächung der Willenskraft vereinigen und zur Ueberwältigung 
des Rechtsbewustseins und besserer Gefühle führen. Besondere 
Beachtung verdienen aber jedenfalls die Leidenschaftsverbrechen, 
deren Antrieben gegenüber der Trinker ganz anders, nämlich 
viel wehrloser wie der gesunde Mann dasteht. 

Sowohl der Häufigkeit nach, als auch nach den einer ge¬ 
rechten Beurteilung durch sie erwachsenden Schwierigkeiten, 
stehen nun aber die einfachen Rauschzustände gewiss in vor¬ 
derster Reihe. Vom ärztlichen Standpunkte betrachtet, stellen 
sie nichts dar als sehr rasch verlaufende und meist zu glück¬ 
lichem Ausgange gelangende Geistesstörungen, deren Schwere 
aber zu ihrer kurzen Dauer und ihrem verhältnismässig gut¬ 
artigen Charakter in starkem Missverhältnis steht. Trotzdem 
ist es schwer, den Richter zur Annahme der Unzurechnungs¬ 
fähigkeit infolge akuter Alkoholvergiftung zu bringen. Es kann 
gar nicht bezweifelt werden, dass die Erschwerung der intellek¬ 
tuellen Leistungen, die bekannten Umwälzungen auf gemütlichem 
Gebiete und die ungemein beschleunigte Umsetzung von Willens¬ 
antrieben in Handlungen, die ja die Grundstörungen des Rausches 
bilden, den Verlust der Zurechnungsfähigkeit mindestens eben= 
soleicht herbeiführen, wie die ähnlichen Abweichungen vom 
gesunden seelischen Verhalten im Zustande massiger Tobsucht. 
Auch würde man gewiss gegen keine andere, zu derartig ein¬ 
greifenden Umwälzungen auf seelischem Gebiete führende Ver¬ 
giftung so ungerechtfertigte Ausnahmen von der Anwendung 
des § 51 machen, wie gegenüber der Trunkenheit. Es muss 
besonders erwähnt werden, dass weder aus dem äusseren Ver¬ 
halten des Betrunkenen, noch aus dem Verhalten seiner Er¬ 
innerung zuverlässige Schlüsse auf die Tiefe der Berauschung 

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Abhandlungen. 


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gezogen werden können. Die Beeinflussung der intellektuellen 
Verrichtungen einerseits und der psychomotorischen Vorgänge 
andererseits ist dazu eine nach Eintritt, Schwere und Dauer 
individuell viel zu wechselvolle. Man muss daher wie bei der 
chronischen, so auch bei der akuten Vergiftung neben der 
Störung des Täters auch die äusseren Umstände möglichst genau 
beachten und untersuchen, ob dieselben zu einer Steigerung 
der Rauscherscheinungen bezw. zu einer strafbaren Aeusserung 
derselben besonders geeignet waren. Es kommen hier alle die 
Leidenschaften entfesselnden Verhältnisse in Betracht. Die tief¬ 
gehende Erregung in politisch unruhigen Zeiten, bei Gelegenheit 
von Streiks, besonders wenn die Gemüter grosser Massen durch 
unruhvolle Erwartung erhitzt zwischen Sorgen und Hoffnungen 
schwanken, vermag unter dem Einfluss von recht massigen 
Alkoholmengen sehr leicht eine Höhe zu erreichen, dass auch 
der sonst Besonnene und Zurückhaltende durch kleine Anlässe 
entflammt und zu schweren Verbrechen hingerissen wird. Noch 
störender und klarer wird man daher gegenüber diesen akuten 
Alkoholvergiftungen die mangelnde Rücksichtnahme unseres 
Strafgesetzes auf die mannigfachen Zwischenstufen zwischen nor¬ 
malem Verhalten und schwerer geistiger Veränderung empfinden. 
Zu einer Beurteilung, welche den Angeklagten straffrei macht, wird 
man sich deshalb auch bei nur mässig schwerer Berauschung 
um so eher entschliessen, je zahlreichere Momente, von welchen 
eine Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit anzunehmen ist, 
sich ausser der Alkoholintoxication noch nachweisen lassen. 
Besonders angeborene Instabilität, vorhergehende Kopfverletz¬ 
ungen u. dergl. m. können schwer ins Gewicht fallen. 

Würde man aber von Seiten der Gerichte den Zuständen 
akuter Alkoholvergiftung gegenüber so verfahren, wie es die vor¬ 
urteilslose ärztliche Beurteilung im Hinblick auf den § 51 des 
Deutschen R.-Str.-G. verlangt, so würde damit nicht nur dem 
Rechtsbewusstsein des Volkes häufig entgegengehandelt, es würde 
zweifellos die Trunkenheit zu einem noch viel beliebteren Ent¬ 
schuldigungsgrund zahlreicher Affekt- und Gelegenheitsver¬ 
brechen und nicht selten zu einer unkontrollierbaren Ausrede 
werden. Das ist aber doch nur solange eine notwendige Folge 
der psychiatrischen Betrachtungsweise, als sich der Staat nicht 



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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit. 


125 


entschliesst, von seinem Rechte und seiner Pflicht, Sicherheits- 
massregeln gegen gemeingefährliche Personen zu treffen, auch 
Trinkern gegenüber vollen und ganzen Gebrauch zu machen. 
Wie der als unzurechnungsfähig erkannte und dann ausser Ver¬ 
folgung gesetzte Geisteskranke in die Irrenanstalt verbracht 
wird, woselbst er entweder bis zu seiner Heilung zurückgehalten 
oder dauernd verwahrt werden kann, so gehört der Gewohn¬ 
heitstrinker in die Trinkerheilanstalt. Eine Entmündigung des¬ 
selben ohne gesetzliche Bestimmungen, welche seine zwangs¬ 
weise Heilung ermöglichen, ist ein ganz zweckloses Vorgehen. 
Diese Bestimmungen fehlen aber bis heute in unseren Ge¬ 
setzen. Der Richter und die Verwaltungsbehörde sind ge¬ 
zwungen, den mit mehr oder weniger Recht bestraften oder 
freigesprochenen Trinker seinem Schicksale zu überlassen, das 
ganz regelmässig über kurz oder lang den Kranken wieder vor 
den Richtertisch führt. Hier könnte also eine entsprechende 
Ergänzung unserer gesetzlichen Bestimmungen sehr viel Unheil 
verhüten. Anders liegt die Frage bei den Gelegenheitstrinkern, 
welche mit dem Gesetze in Widerspruch geraten. Ich sehe hier, 
natürlich von denen ab, die sich absichtlich berauscht machen, 
sei es, um sich Mut anzutrinken zu einem Verbrechen, dessen 
Begehung ihnen in nüchternem Zustande unmöglich wäre, oder 
sei es, um sich mildernde Umstände zu sichern. Ich will nur 
kurz auf zwei Punkte hinweisen, dass es weder richtig zu sein 
scheint, diese Verbrechen dann so hoch wie möglich zu bestrafen, 
wie es nach russischem Gesetze geschieht, noch überhaupt, in 
dem vor der Trunkenheit gefassten Entschluss den Anstoss 
zum Abrollen der Causalkette zu sehen, deren Abschluss die 
Straftat bildete (von List). Die Trunkenheit hob ja gerade die 
gesunde Bestimmbarkeit durch die Erfahrungen und Rücksichten 
des gesunden Lebens auf, also gerade die Voraussetzungen der 
strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit. Folgerichtig wäre es nur, 
die Straftat selbst entsprechend der erzielten Beeinträchtigung 
der Zurechnungsfähigkeit zu ahnden, aber die absichtliche Be¬ 
rauschung mit Nachdruck zu bestrafen. Abgesehen aber von 
den Vergehen, die in selbstverschuldeter Trunkenheit verübt 
werden, fragt es sich, ob sich die Berauschung überhaupt ver¬ 
hüten lässt. 


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Abhandlungen. 


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Bekanntlich ist es bei der Herrschaft der heutigen Trink¬ 
sitten nur sehr wenigen möglich, sich vor einer gelegentlichen 
schweren Vergiftung durch Alkoholgenuss zu schützen. Man 
wird daher bei der Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit von 
Alkoholtrinkern schliesslich unwillkürlich zu der Frage veran¬ 
lasst: ob nur Diejenigen schuldig sind, welche sich in einem 
fast unausweichlichen Zustande geistiger Benebelung zu einer 
Straftat hinreissen lassen, oder auch diejenigen Glieder der 
bürgerlichen Gesellschaft, welche diese massenhaften gemein¬ 
gefährlichen Geistesstörungen bei allen möglichen Gelegenheiten, 
bei Volksfesten, Kirchweihen, Geburtstagen der Landesfürsten etc 
entstehen lassen und sich mit der Hoffnung trösten, dass mit 
dem Aufgebot von einigen Gensdarmen ihre Folgen verhütet 
werden könnten! — 


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Walter, Der Must. 


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Der Most. 

Ein Beitrag zur Alkoholfrage, mit besonderer Berücksichtigung 
der württembergischen Verhältnisse. 

Von Karl Walter -Ulm. 


Unter den alkoholischen Getränken spielt in Süddeutsch¬ 
land, insbesondere in Württemberg, der „Most" eine grosse 
Rolle. Ueber sein wahres Wesen und seine Bedeutung ist man 
aber nicht bloss ausserhalb unseres engeren Vaterlandes sondern 
gerade auch in den Gebieten seiner stärksten Verbreitung noch 
vielfach nicht genügend aufgeklärt, und über die davon ge¬ 
nossenen Mengen sind bis jetzt nur wenig zuverlässige sta¬ 
tistische Angaben veröffentlicht worden. Nachstehend habe ich 
deshalb versucht, an der Hand eigener Beobachtungen und auf 
Grund von Informationen das wichtigste über diesen Gegen¬ 
stand zusammenzustellen, insbesondere aber im Anschluss 
an die Angaben des statistischenHandbuches für 
das Königreich Württemberg einmal mit Zahlen 
nachzuweisen, von welch’ grosser Bedeutung 
dieses Getränk für uns Schwaben geworden ist. 

Unter Most versteht der Süddeutsche den gegorenen Saft 
des Kernobstes, der aber im Gegensatz zum eigentlichen Apfel¬ 
oder Birnenwein durch Beimischung von Wasser ziemlich ver¬ 
dünnt wird. Wenn ich im Anschluss an die Darlegung über 
dieses Nationalgetränk der Schwaben auch den aus getrockneten 
Weinbeeren bereiteten Rosinenmost heranziehe, so geschieht 
dies deshalb, weil dieser gewissermassen das neuerdings immer 
mehr sich einbtirgernde alkoholische Ersatzgetränk für den 


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Abhandlungen. 


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Most bildet und wie dieser als Hausgetränk statistisch bis jetzt 
nur ganz spärlich verwertet worden ist. 

Es ist eine irrige Ansicht, wenn man annimmt, 
der Most habe von jeher bei uns eine grosse Be¬ 
deutung gehabt. Vor 50 Jahren noch gab es viele Gemeinden, 
wo man ihn kaum dem Namen nach kannte, und auch da, wo man 
die herrlichen Früchte unserer Obstbäume damals schon zu der 
Herstellung dieses alkoholischen Getränkes verwendete, geschah 
dies nur in ganz kleinen Mengen. Gewöhnlich wurde im Herbst 
ein einziges Fass von bescheidenem Umfang damit gefüllt und 
der Inhalt desselben für den nächsten Sommer aufbewahrt, wo 
er den Bauern als ausserordentlicher Trank für die Zeiten der 
strengsten Feldarbeit, da und dort auch dem Handwerker und 
andern Arbeitern als Vespertrunk*) diente. 

Damals wurden von den Landleuten die Aepfel und 
Birnen massenhaft gedörrt und als „Schnitze“ und „Hutzeln“ 
trocken aus der Hand oder gekocht gegessen. Die „Schnitz¬ 
truhe“, ehemals ein notwendiges Möbel, das man zum Schutz 
gegen die begehrliche und immer hungrige Jugend sorgsam zu 
schliessen pflegte, führt nur noch in wenigen Bauernhäusern 
ein beschauliches Dasein, träumt hier von früheren süssen 
Tagen oder dient jetzt anderen Zwecken. Das Quantum des 
gegenwärtig gedörrten Obstes kann nun meist in einer be¬ 
scheidenen Schublade des Küchenschranks aufbewahrt werden 
und wird hauptsächlich an Weihnachten zur Bereitung des 
Hutzel- oder Schnitzbrotes verwendet. 

In jenen Zeiten wurde aber nicht bloss das Obst in 
rationeller Weise verwertet; auch ein anderes wichtiges Pro¬ 
dukt der Landwirtschaft, die Milch, fand damals bei der 
Landbevölkerung eine zweckmässigere Verwendung als in 
unseren Tagen. Sowohl süsse als „gestandene“ d. h. saure 
Milch, wie auch die Buttermilch wurde täglich von alt und 
jung zu allen Tageszeiten genossen, und gerade in den Zeiten 
der anstrengendsten Feldarbeiten wussten unsere Bauern den 
Wert dieses durststillenden und kräftigenden Getränks und 


*) Unter Vesper versteht der Württemberger die vormittags und nachmittags 
üblichen oft recht reichlichen Zwischenmahlzeiten, die ausser dem Getränk meist 
aus Brot mit oder ohne Zusatz von Käse oder Wurst bestehen. 



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Walter, Der Most. 


129 


Nahrungsmittels sehr zu schätzen. Wenn man zugleich bedenkt, 
dass damals als Frühstück noch rauhe Suppen oder Haferbrei 
genossen wurden und dass man fast das ganze Jahr nichts 
anderes als Roggenbrot im Haus hatte, so drängt sich jedem 
Einsichtigen von selbst auf, wie ungleich zweckmässiger noch 
vor kaum einem halben Jahrhundert die Ernährung unserer 
Landbevölkerung gegen die unserer jetzigen Zeit war, wo 
neben der mehr und mehr wachsenden Alkoholflut auch Kaffee¬ 
genuss und immer weitere Verbreitung des teureren und weniger 
kräftigen Weissbrotes zu konstatieren ist. Insbesondere ist 
sowohl vom Standpunkt des Volkshygienikers wie des National¬ 
ökonomen das mehr und mehr sich einbürgernde Molkereiwesen 
zu verdammen. Diese Molkereien sind die Hauptursachen, 
dass unserem Volke, selbst der zartesten Jugend, immer mehr 
die Milch entzogen wird. Wohl kommt dafür bares Geld in 
die Hände unserer Bauern. Wohin dasselbe aber zum grössten 
Teil wieder wandert, wird von den Befürwortern dieser An¬ 
stalten wohlweislich verschwiegen; dass jedoch ein grosser Teil 
der für Milch eingenommenen Summen in andere, für das Wohl 
des Volkes nur schädliche Flüssigkeiten umgesetzt wird, ist dem, 
der die Verhältnisse kennt, kein Geheimnis. 

Welche Bedeutung aber diese alkoholischen Flüssigkeiten 
und zwar insbesondere der Most allmählich bei uns erlangt 
haben, soll zunächst beleuchtet werden und zwar an der Hand 
von Zahlen. 

Die nachstehenden Angaben bezeichnen den 
Durchschnitt, wie er sich nach dem „Statistischen 
Handbuch für das Königreich Württemberg" aus 
den Jahren von 1890 b i s 1899 für unser Land ergibt. 

Jährl. Obstertrag a) Aepfel = 443911 dz. 

„ „ b) Birnen — 213577 dz. 

Zus.: = 657488 dz. Wert 5218406 Mk. 

jährl. Einfuhr an Mostobst = 572530 dz. „ 4680240 „ 

Ertrag und Einfuhr zus.: — 1230018 dz. „ 9898646 Mk. 

Ausfuhr (haupts. Tafelobst) = 40700 dz. „ 325600 „ 

Verbrauch im Land = 1189318 dz. „ 9573046 „ 

Von dieser Summe ist das noch in Abzug zu bringen, was 
als T a f e 1 o b s t im Lande selbst verkauft oder von den eigenen 


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180 


Abhandlungen. 


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Produzcnt('n in den Keller gelegt wird. Hierüber findet sich 
nirgends statistisches Material. Da aber gerade in den obst¬ 
reichsten Gegenden von vielen Obstgutbesitzern gar nichts, von 
andern kaum 1 — 2 °/ 0 für diesen Zweck zurückbehalten wird 
und von dem eingeführten Obst nur ein ganz verschwindender 
Bruchteil auf Tafelobst entfällt, so wird die von mir hierfür 
angenommene Zahl von 10 °; 0 zweifellos eine zu hohe sein. Um 
mich jedoch in diesem Fall gegen jeden Vorwurf tendenziöser 
Darstellung zu sichern, soll trotzdem dieser Prozentsatz für 
Tafelobst in Abzug kommen. Alsdann ergibt sich als jährlicher 
Verbrauch an Mostobst für Württemberg die Summe von 
1070 387 dz. Da man aus 1 dz. etwa 100—120 1 unseres 
Getränkes bereitet, so wird die Summe von rund 1100000 hl*) 
ziemlich genau dem Quantum des jährlich in Württemberg ge¬ 
trunkenen Mostes entsprechen. Bei einer Einwohnerzahl von 
2 100 000 Seelen kommen alsdann auf den Kopf der Bevölkerung 
etwa 52 1 Most. 

Nun ist ja leider Tatsache, dass die Kinder und zwar oft 
schon in zartester Jugend bei uns alkoholische Getränke aller 
Art bekommen, in einzelnen Fällen sogar verhältnismässig 
grosse Quantitäten; aber doch repräsentiert die von ihnen 
konsumierte Menge nur einen verschwindenden Bruchteil 
jener 1 100000 hl, welche hauptsächlich von den erwerbenden 
Erwachsenen getrunken werden. Wenn wir auf je einen 
Erwachsenen den ihm zukommenden Anteil ausrechnen, wobei 
allerdings auch der von den noch nicht erwachsenen Familien¬ 
gliedern genossene Most inbegriffen ist, so erhalten wir ganz 
bedeutsame, charakteristische Ergebnisse. 

In Württemberg werden mit Einschluss der helfenden 
Familienangehörigen und der Bewohner ohne Berufsangabe 
rund 980000 Erwerbstätige gezählt. Diese Summe entspricht 
etwa der Zahl der Erwachsenen, und danach kämen auf je 
einen derselben etwa 112 1 Most. Da aber doch anzunehmen 
ist, dass die einzelnen weiblichen Erwachsenen nur ausnahms¬ 
weise dieses Quantum trinken, so ist ziemlich sicher, dass auf 
den Kopf eines jeden männlichen Erwachsenen 

*) Die jährliche Ausfuhr von Obstmost, welche durchschnittlich 4690 hl. 
beträgt und welcher eine durchschnittliche Einfuhr von 821 hl gegeniibersteht, kann 
als unwesentlich nicht in Rechnung gezogen werden. 



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Walter, Dev Most. 


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in Württemberg i in Jahr auf d i e s e We i s e e t w a 150 1 
Most ko m m e n und diese Zahl soll deshalb auch besser 
unten als Verbrauch der einzelnen erwachsenen männlichen 
Person zu Grunde gelegt werden.*) Das Quantum, welches 
auf den Kopf dieser Kategorie von Einwohnern kommt, lässt 
sich aber auch in der Weise ermitteln, dass wir bei der Berech¬ 
nung des Durchschnitts die Zahl der über 16 Jahre oder über 
20 Jahre alten männlichen Bewohner Württembergs in Betracht 
ziehen. Am 1. Dezember 1900 betrug diese Zahl 669 177 resp. 
588193. Im ersteren Fall käme auf den Kopf pro Jahr etwa 
164 1, im anderen Fall 187 1. Letztere Zahl hat insofern eine 
besondere Bedeutung, als die finanzielle Last der für die 
alkoholischen Getränke ausgelegten Summe hauptsächlich auf 
den Schultern der über 20 Jahre alten männlichen Bewohner 
unseres Landes ruht; darnach gibt jeder derselben, den Preis 
für 1 1 Most zu 15 Pf. angenommen, jährlich allein für Most 
über 27 Mk. aus. 

Daneben wird sehr viel Rosinenmost gemacht, ein 
greuliches Getränke, das nur von ausgesprochenen Alkoholikern 
regelmässig getrunken werden kann. Aber auch diese gemessen 
es nur als Getränke in der Not, und fast alle gehen jederzeit 
wieder zu anderen alkoholischen Getränken über. Als durch¬ 
schnittliche Jahreseinfuhr an Mostrosinen ergibt sich aus den 
Jahren 1895—99 die Summe von 63 684 Doppelzentnern im 
Wert von rund 1 Million Mk. Aus diesen werden etwa 
320000 hl Rosinenmost bereitet. Dies macht pro Kopf und 
Jahr über 15 1 und nach obiger Berechnungsart für ein Er¬ 
wachsenes etwa 36 1, für jeden männlichen Erwachsenen aber 
etwa 43 1. 

Fassen wir dieses Ergebnis zusammen, so kommen in 
Württemberg an Obst- und Rosinenmost 
auf jeden Kopf der Bevölkerung jährl. 67 1 (2,68**) 1 Alkohol) 

auf je 1 Erwachsenes. 144 1 (5,77 1 Alkohol) 

auf je 1 männlichen Erwachsenen . . 193 1 (7,72 1 Alkohol) 

*) Wenn wir die 300000 weiblichen Erwerbstätigen von der obigen Zahl in 

Abzug bringen und den Durchschnitt auf die noch übrigen 680000 männlichen 
Erwerbstätigen berechnen, so erhalten wir sogar 216 1 pro Kopf und Jahr. 

**) Da Obstmost durchschnittlich 3 — 4%, der Rosinenmost durchweg aber mehr 
als 4% (6—8%) reinen Alkohol enthält, so ist 4 % als Durchschnittsgehalt für beide 
Getränke nicht zu hoch. 


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Abhandlungen. 


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Legen wir dem ßierverb rauch dieselben Verhältnisse 
zu Grunde, so ergibt sich aus der Tatsache, dass der Ver¬ 
brauch an diesem Getränke im Jahr 1898 pro Kopf und Jahr 
192,5 1 betrug, folgendes Ergebnis: 

für jeden Kopf der Bevölkerung jährl. 192,5 1 ( 7,7 1*) Alkoh.) 

für je 1 Erwachsenes.414,0 1 (16,5 1 Alkoh.) 

für je 1 männlichen Erwachsenen . . 555,0 I (22,2 1 Alkoh.) 

In Württemberg beträgt also der jährliche Konsum an 
Obstmost, Rosinenmost und Bier: 
für jeden Kopf der Bevölkerung . . 259,5 1 (10,38 1 Alkohol) 

für je 1 Erwachsenes. 558,0 1 (22,27 1 Alkohol) 

für je 1 männlichen Erwachsenen . . 748,0 1 (29,92 1 Alkohol) 

Der Jahresverbrauch an Wein betrug in Württemberg im 
Jahr 1896—97 auf den Kopf der Bevölkerung 30*/ s 1 und an 
40 %ige*n Branntwein 5 1. Nehmen wir den durchschnittlichen 
Gehalt des getrunkenen Weines zu 10°/ 0 an, so entsprechen 
diese 35 1 /« 1 in ihrem Gehalt an Weingeist einem Quantum von 
etwa 140 1 einheimischem Bier. Nicht gerechnet sind dann 
immer noch die nicht unbedeutenden Mengen von Champagner, 
Medizinalweinen, Johannisbeerwein, ferner der aus unreifem 
Obst, aus Zwetschgen und Pflaumen bereitete Most und sämt¬ 
liche den Fabriken und Apotheken entstammenden künstlichen 
Getränke, wie Schräders Kunstmost, Eders Haustrunk u. a. 
Umgerechnet auf Bier resp. Most, das diesem ja in Bezug auf 
Alkoholgehalt ziemlich gleichwertig ist, kommt also in Württem¬ 
berg pro Jahr 

auf jeden Kopf der Bevölkerung 399,5 1 oder rund 400 1 (15,41 Alk.) 


auf je 1 Erwachsenes.8611 (33,11 Alk.) 

aufje 1 männl. Erwachsenen . . . 1153 1 (44,31 Alk.) 


Nehmen wir als durchschnittlichen Preis für 1 1 Bier und 
Most 20 Pf. und für 1 1 Wein und Branntwein 70 Pf. an, so reprä¬ 
sentieren die auf den Kopf der Bevölkerung pro Jahr entfallen¬ 
den Getränke einen Wert von 76,65 Mk., für ein Erwachsenes 
macht dies 164,32 Mk. und für jedes männliche Er¬ 
wachsene 221,10 Mk. 

*) Wenn die württembergischen Biere durchschnittlich vielleicht auch etwas 
weniger als 4 % absoluten Alkohol enthalten, so kann hier doch diese Zahl zu 
Grunde gelegt werden, weil der mehr und mehr sich steigernde Konsum von stärkeren 
eingeführten Bieren wieder ausgleichend wirkt. 


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Walter, Der Most. 


133 


In Württemberg werden also jährlich über 160 Mill. Mk. 
für geistige Getränke ausgegeben. Ueber 95 °/ 0 unsrer Volks¬ 
masse ist in Haushalte von zwei und mehr Personen einge¬ 
gliedert. Die Zahl der Haushalte betrug am 1. De¬ 
zember 1900 rund 433000. In jedem derselben 
werden also jedes Jahr durchschnittlich über 
3 70 Mk. für geistige Getränke verausgabt, also 
täglich mehr als 1 Mk. 

Welche Bedeutung die angeführten Zahlen für das Leben 
unsres Volkes haben, wird jedem ohne weiteres einleuchten. 

Welches sind die Ursachen dieser gegen früher so sehr 
veränderten Verhältnisse? 

Nicht bloss die ungeheuere Zunahme des Bierkonsums, 
auch die mehr und mehr um sich greifende Ver¬ 
breitung des Mostes lässt sich nur erklären aus 
den modernen Verkehrs Verhältnissen und aus 
den verbesserten technischen Hilfsmitteln der 
Gegenwart. Früher zerquetschte man das Obst auf primitive 
Weise in einem Holztrog durch runde, flache Steine von etwa 
1 m Durchmesser. Der Trog bildet den Ausschnitt eines 
Kreises, in dessen Zentrum die etwa 4 m lange durch die 
Mitte des Steines gehende Stange befestigt war. Ein Stück 
derselben von etwa 70 cm Länge ragte noch auf der andern 
Seite heraus. Hier war beim Hin- und Hertreiben des Steines 
der Platz des Hausvaters. An dem grösseren inneren Stück 
der Stange schoben seine Angehörigen, und ich entsinne mich 
noch gut solcher echt schwäbischer Familienszenen, wo bis zu 
dem kleinen „Jakoble“ oder „Michele“ im Kinderrock alles bei 
der Bereitung des Haustrunkes mithalf. Die Mostpresse im 
Hintergrund, meist ein roher blöckischer Aufbau aus gewaltigen 
eichenen Balken mit hölzerner Spindel, vervollständigte das echt 
ländliche Bild. Diese primitiven Einrichtungen, welche die 
Mostbereitung zu einer ziemlich umständlichen und zeitraubenden 
Arbeit gestalteten, sind jetzt meist verschwunden und fast durch¬ 
weg durch rasch arbeitende Maschinen ersetzt, welche entweder 
mit der Hand getrieben werden oder an ein Kraftwerk ange¬ 
schlossen sind. InwenigenStunden wird jetzt durch 
diese Obstmühlen und eisernen Pressen dasselbe 
Quantum Most erzeugt, wozu man vorher an- 


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Abhandlungen. 


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nähernd so viele 4"age brauchte — und dennoch 
umfasstdiejährliehe Periode desMostens gegen¬ 
wärtig denselben Zeitraum wie früher, und Wochen 
hindurch hört man landauf landab überall .das Getriebe dieser 
verbesserten Zubereitungsweise des Mostes. 

MitdieservermehrtenMostproduktionkonnte 
aber der Obstertrag des Landes trotz eifrigster 
Anstrengungen der obstbauenden Grundbesitzer, 
welche vielfach von staatlichen und lokalen Be- 
hörden unterstützt werden, nicht gleichen Schritt 
halten. Die natürliche Folge davon waren eine stets wachsende 
Nachfrage nach ausländischem Obst, so dass die Händler immer 
weiter entlegene Gebiete aufsuchten. Die modernen Verkehrs¬ 
verhältnisse aber ermöglichten dann, dass diese Nachfrage fast 
jedes Jahr befriedigt werden konnte, dass ferne Länder ihre 
Obsternten einem der reichsten Obstländer zuführen konnten. 
In den Jahren 1890—1899 betrug die Einfuhr an Mostobst zu¬ 
sammen 5 725 300 Doppelzentner. Die in erster Linie dabei in 
Betracht kommenden Länder sind: Hessen, Oesterreich-Ungarn, 
die Schweiz, Italien und Frankreich. Wenn man bedenkt, 
dass diese Gebiete durchschnittlich Hunderte 
von Kilometern von uns entfernt sind und dass 
es sich dabei um die rasche Lieferung von Hun¬ 
derttausenden von Zentnern innerhalb einiger 
Wochen handelt, sospringtjedermannvon selbst 
in die Augen, welch einschneidende Bedeutung 
unser modernesVerkehrswesen für den Alkoho¬ 
lismus unserer Zeit bekommen hat. 

Die gegenwärtige Zubereitungsart des Mostes 
ist eine einfache. Das Mostobst wird in den Obstmühlen durch 
die eisernen Zähne rotierender Walzen erfasst, zerrissen und 
alsdann von zwei Steinwalzen zerquetscht. Der unten in grossen 
Kübeln sich ansammelnden Masse wird Wasser in grösseren 
oder kleineren Mengen zugesetzt. Hauptsächlich nach dem 
Grad des Wasserzusatzes richtet sich dann der Alkoholgehalt 
des gegorenen Getränks. Der mit Wasser verdünnte Obstbrei 
kommt meist sogleich in die Presse. Da, wo man mit der Zeit 
nicht zu eilen braucht, lässt man ihn gern auch 1—2 Tage 
stehen, da in diesem Fall das Ergebnis der Auspressung nach 



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Walter, Der Most. 


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Qualität und Quantität ein erhöhtes sein soll. Von der Presse 
gelangt der süsse Most sofort in die Fässer, wo er zunächst 
eine stürmische und dann eine Nachgärung durchmacht. Im 
Lauf des Winters setzen sich die nichtflüssigen Bestandteile, 
und das Getränk hat nun eine klare Farbe. Reiner Birnen- 
most ist ganz hell; Apfelmost ist satter in der Färbung, und diese 
wechselt zwischen gold- und grünlichgelb. Der süsse Most 
ist von der Presse weg ein herrliches Getränk und wird na- 
mantlich von der Jugend sehr begehrt. Alkoholiker können 
ihm aber so wenig als der Milch oder frischem Obst Geschmack 
abgewinnen, und vielfach gönnen solche ihren Angehörigen 
davon nur geringe Mengen, da es nach ihrer Ansicht schade 
wäre, wenn man den süssen Most wegtrinken würde. Doch 
schon nach kurzer Zeit, streng genommen schon nach einigen 
Stunden, beginnt die Alkoholbildung, weshalb gewissenhafte 
Abstinenten nur unter Beobachtung einer gewissen Vorsicht 
süssen Most geniessen oder ihre Angehörigen geniessen lassen. 
Sehr beliebt bei dem Volk ist der sogenannte „Räse“, wie der 
in Gärung begriffene und bereits säuerlich schmeckende Most 
genannt wird, der wegen seines hohen Kohlensäuregehaltes 
äusserst prickelnd mundet, obwohl er andrerseits wegen seiner 
Hefenbestandteile, die im Körper weiter gären, oft sehr unan¬ 
genehme Begleiterscheinungen zu stände bringt. 

Der Most hält sich in guten Kellern 2—4 Jahre. Doch 
erreicht er ein längeres Alter als 2 Jahre nur in sehr seltenen 
Fällen. Meist legt man Most für 1 Jahr in den Keller und nur 
in sehr obstreichen Herbsten will man sich für ein zweites oder 
gar drittes Jahr versehen. Gewöhnlich wird dann aber durch 
übermässigen Genuss dieses Quantum schon vor Ablauf eines 
Jahres weggetrunken. So betrug der Obstertrag in Württem¬ 
berg im Jahr 1888 über 3 Millionen Doppelzentner. Diese 
Menge entspricht etwa dem dreifachen jährlichen Obstverbrauch 
Württembergs, wie er sich aus dem lOjährlichen Durchschnitt 
der Obsternte und der Einfuhr ergibt. Darnach hätte in diesem 
reichen Obstjahr Most für 3 Jahre gekeltert werden können. 
Aber trotzdem wurden im Jahr 1889 zu dem Ertrag von 21 000 
Doppelzentnern wieder über 400 000 Doppelzentner eingeführt, 
und im Jahr 1890 trotz der eigenen Ernte von über 800000 
Doppelzentnern wieder mehr als 400000 Doppelzentner, ein 


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Abhandlungen. 


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deutlicher Beweis dafür, dass vielfach das Quantum, das für 
3 Jahre hätte reichen sollen, vorher weggetrunken war. Im 
Jahr 1900 wurden sogar 3 750 000 Doppelzentner Obst geerntet 
und dazu noch J / 2 Million Doppelzentner eingeführt. In der 
Zeit nach diesem reichen Herbste kam es aber auch tatsächlich 
vor, dass der Most in Eimern und Kübeln vom Keller herauf¬ 
geholt wurde und wochenlang ganze Familien, alt und jung, 
aus dem mehr oder weniger ausgesprochenen Zustand der Be¬ 
trunkenheit nicht herauskam. 

Aber nicht bloss in solchen Zeiten des Ueberflusses, auch 
sonst spielt gegenwärtig der Most eine grosse Rolle im Leben 
der Schwaben, hauptsächlich bei der Ländbevölkerung. In 
den Städten bürgert er sich zwar auch mehr und mehr ein, 
und wie bedeutend die hierfür aufgewendeten Summen allein 
in Ulm sind, wo doch hauptsächlich Bier getrunken wird, be¬ 
weist die Tatsache, dass der Konsumverein dieser Stadt, der 
ja nur einen Teil der Bürgerschaft mit diesem Getränke ver¬ 
sorgt, jeden Herbst 3—400 000 1 Most bereiten und seinen 
Mitgliedern in den Keller besorgen lässt. In den Städten 
schwankt der durchschnittliche jährliche Verbrauch einer most¬ 
trinkenden Familie zwischen 200—500 1; auf dem Lande jedoch 
sind für einen Bauernhaushalt Mengen von 2 — 3000 1 ganz 
gewöhnlich und Familien, die jährlich noch mehr brauchen, 
keine Seltenheit. 

Seine Bedeutung verdankt der Most seiner Eigenschaft 
als Haustrunk, zu dem er sich, wenn man von seinem 
Alkoholgehalt absieht, zweifellos sehr eignet. Im Gegensatz 
zum Bier lässt er sich jahrelang frisch erhalten, er ist billig 
und mundet erfrischend und anregend, obwohl auch bei ihm 
infolge seines Alkoholgehaltes die lähmenden Nachwirkungen 
nicht ausbleiben. Aber gerade durch seine Eigen¬ 
schaft als Haustrunk wird er für so viele zum 
Verderben. Er ist eben jederzeit in jedem Quantum zur 
Hand, und nach der landläufigen Logik kostet er nichts. Denn 
das eigene Obst rechnet man nicht als bares Geld, und hat 
man das Obst gekauft, so betrachtet man diese Auslagen als 
einmaligen tiefen Griff in den Geldbeutel, um dann in Zukunft 
um so mehr recht oft und ohne Rücksicht auf letztem eines 
guten Trunkes sich erfreuen zu können. Diese Sorglosigkeit 


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Walter, Der Most. 


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bringt es mit sich, dass man diesem Getränke gegenüber viel¬ 
fach den Begriff „Sparsamkeit“ nicht kennt. Jedem Besucher, 
vielfach auch Hausierern, Boten u. s. w. bietet man ein Glas 
„Moscht“ an, die Dienstboten bekommen ihn täglich meist 
zweimal, vielfach aber auch drei- bis viermal zu dem Essen. 
In den Zeiten der Heu- und Getreideernte aber erhält ein 
Arbeiter vielfach im Tag 5—10 1 und manchmal noch mehr. 
Oft wird im Arbeitskontrakt von Erntearbeitern die regel¬ 
mässige Verabreichung derartiger Quantitäten als Bedingung 
festgelegt. Es gibt sehr viele Häuser, in welchen der Most¬ 
krug den Tag über nur auf dem Weg zum Keller leer ist, und 
gar nicht selten sind die Fälle, wo er Abends gefüllt neben 
das Bett gestellt wird. Dann ist aber über kurz oder lang in 
einer solchen Familie auch mindestens einer zum notori¬ 
schen Säufer herabgesunken, der dann meist neben dem 
Most auch dem Bier, Wein oder Branntwein verfällt. In den 
Trinkerrettungsanstalten der hier in Betracht kommen¬ 
den Gebiete rekrutiert sich ein grosser Teil der Insassen aus 
solchen, welche in erster Linie der Most dahin gebracht hat. 
In wie vielen Fällen verschuldet der Most nicht den frühen 
Tod des Familienvaters, den Niedergang der Haushaltung, ja 
der ganzen Familie! 

Am verhängnisvollsten wirkt aber dieses 
schwäbische Volksgetränk dadurch, dass es fast 
überall regelmässig den Kindern verabreicht 
wird, meist in dem guten Glauben, dasselbe wirke kräftigend 
auf die Jugend. Schulkinder, die täglich x / 2 — 1 1 Most be¬ 
kommen, sind keine Seltenheit, und in vielen Häusern, wo der 
Mostkrug nie leer ist, wird der Genuss dieses Getränkes seitens 
der Kinder gar nicht kontrolliert. Aber nicht bloss Schul¬ 
kinder, auch die Kleinen, ja die Kleinsten, also auch Säuglinge 
erhalten davon. Es gibt Mütter, die stolz darauf sind, dass ihre 
Lieblinge schon Most trinken „wie ein Altes", und es hält sehr 
schwer, solchen das Verkehrte ihres Handelns klar zu machen. 
Aeusserst zahlreich sind die Fälle, wo Kinder der ersten Lebens¬ 
jahre in der Saugflasche regelmässig Most statt Milch bekommen. 
Es wäre höchste Zeit, dass die Einsichtigen alle Mittel aufbieten 
würden, um zunächst wenigstens diesem krassen Missbrauch 
entgegenzuarbeiten. 

Die Alkoholfrage. 10 


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Abhandlungen. 


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Vor allem wäre nötig, dass man unser Volk, welches 
dieses Getränk fast durchweg nicht bloss für harmlos sondern 
auch für sehr kräftigend hält, über den wahren Wert des¬ 
selben aufklären würde. Während reiner Apfelwein, d. h. 
vergorener Apfelsaft ohne Wasserzusatz 7 °/ 0 und mehr Alkohol 
enthält, schwankt der Gehalt dieses schwäbischen Hausgetränks 
zwischen 2 und 4 °/ 0 , entspricht also ganz dem durchschnitt¬ 
lichen Alkoholgehalt des Bieres. Nach Mitteilungen aus dem 
städtischen Untersuchungsamt Ulm enthalten die hier unter¬ 
suchten Mostarten durchschnittlich 3—4 °/ 0 . Birnenmost ist im 
allgemeinen weniger gehaltreich als der aus Aepfeln bereitete. 
Bei gewohnheitsmässigem Trinken wirkt aber der Most nicht 
bloss durch seinen ziemlich hohen Alkoholgehalt schädigend 
auf den menschlichen Organismus, sondern namentlich auch 
durch die grossen Flüssigkeitsmengen, die dem Körper 
zugeführt werden. Die Organe, welche diese abnormen Mengen 
zu verarbeiten und auszuscheiden haben, müssen mit der Zeit 
erkranken und den Dienst versagen. Dazu kommt, dass dieses 
Getränk vielfach auch dann noch genossen wird, wenn es bereits 
einen ausgesprochenen „Essigstich“ hat, was namentlich 
im Sommer der Fall ist. Dies muss auf die Verdauung und 
die Blutbildung äusserst schädlich wirken. 

Der Rosinenmost hat einen Alkoholgehalt von 8—10 %• 
Doch wird dieser vielfach durch reichlichen Zusatz von Zucker 
bis auf das Doppelte erhöht. Die Leute kennen ganz gut diese 
Eigenschaft, und der Volkswitz bringt dies zum Ausdruck, 
indem er den Rosinenmost auch Turmelin (turmelig = berauscht) 
benennt, ferner Karussellmost, Himmelfahrtstee und Hecken¬ 
most (weil sich die Betrunkenen hinter die Hecken legen). Ein 
Hauptgrund der Verbreitung dieses heimtückischen Getränkes 
liegt in dem Umstand, dass es sich zu jeder Jahreszeit auf ganz 
einfache Art bereiten lässt. Man setzt einfach den Rosinen ein 
entsprechendes Quantum laues Wasser zu, lässt das Ganze 
einige Tage stehen und giesst die Brühe in ein Fass, wo sie 
bald gärt und dann klar wird. Manche verkürzen noch den 
Prozess, indem sie die Rosinen sogleich in das Fass werfen 
und Wasser dazu schütten, sodass die Beeren als Bodensatz 
im Fass bleiben. Da diese Prozedur sich jederzeit vornehmen 
lässt und die Rosinen das ganze Jahr zu haben sind, so wird 



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Walter, Der Most. 


130 


der Rosinenmost hauptsächlich von solchen Leuten getrunken, 
welche selten eine Summe, wie sie im Herbst bei grösseren 
Obsteinkäufen nötig ist, zur Hand haben. Mit einem Aufwand 
von etwa 20 Mk. können sie dann bei Bedarf 200—300 1 dieses 
Getränkes anrichten. Auch brauchen sie auf diese Weise einen 
geringeren Vorrat an Fässern und sind nicht auf grössere Keller¬ 
räume angewiesen. Kommt es doch vielfach vor, dass dieses 
Getränk gar nicht in den Keller kommt, sondern in einer 
Kammer angemacht und von dort weg getrunken wird. Es 
sind deshalb hauptsächlich Fabrikarbeiter, Tagelöhner und 
niedere Angestellte, welche sich mit Rosinenmost begnügen. 

Wer nun glaubt, Obst- und Rosinenmost werde eben an 
Stelle des vorher üblichen Bieres getrunken, täuscht sich. In 
diesem Fall müsste der Bierkonsum gegen früher zurückgehen. 
Aber sowohl die Statistik wie die Beobachtungen des täglichen 
Lebens zeigen uns, dass letzteres nicht der Fall ist, dass 
vielmehr daneben der Rierverbrauch in steter 
Steigerung begriffen ist. 

Er betrug im Jahr 1828 pro Kopf und Jahr etwa 45 1 


1840 

87 1 

1858 

108 1 

1865 

113 1 

1871 

152 1 

1884 

154 1 

1898 

192 1. 


Vor 30—40 Jahren noch gab es vielfach in den Dörfern 
nur am Sonntag Bier und zwar nicht in allen Wirtschaften. 
Jetzt findet man in denselben Dörfern eine weit grössere Anzahl 
von Wirtschaften, und jahraus jahrein wird Bier in Flaschen 
oder vom Fass ausgeschenkt. Uebrigens befremden den, der 
mit der Alkoholfrage einigermassen vertraut ist, diese Tat¬ 
sachen durchaus nicht. Es tritt hier genau dieselbe Erscheinung 
zutage, wie die, welche man bei Empfehlung des Bieres gegen 
den Branntweingenuss machte. Wie neben der Brannt¬ 
weinpest eine riesige Bierflut entstand, so hat 
der gesteigerte Mostgenuss einen vermehrten 
Bierkonsum zur Folge. 

Es kann und darf so nicht weiter gehen. Wenn wir 
bedenken, dass in Württemberg an Bier und dem ihm an 


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t40 


Ähhnndhingeti. 


Alkohol gleichwertigen Most zusammen jährlich pro Kopf etwa 
260 1 konsumiert werden und diesem die Tatsache gegenüber¬ 
stellen, dass in Bayern, das allgemein als das durch Alkohol 
am schwersten belastete deutsche Land angesehen wird, jährlich 
„nur“ etwa 240 1 Bier auf den Kopf kommen, so liegt der 
Schluss nahe, Württemberg in dieser Hinsicht den Rang vor . 
Bayern zu geben. Wie gross der Mostkonsum in Bayern ist, 
entzieht sich unserer Betrachtung. Doch angenommen, er 
würde pro Kopf und Jahr 20 1 betragen, was zweifellos zu 
hoch gegriffen ist, so würden unter dieser Voraussetzung die 
w ii r 11 e m b e r g i s c h e n und bayerischen Verhält¬ 
nisse in Bezug auf die ausschlaggebenden Ge¬ 
tränke die gleichen sein, wir also in Bezug auf Mass- 
halten zum mindesten keinen Vorzug vor unsern Nachbarn 
haben. 

Frankreich wurde bisher als das Land des grössten 
relativen Alkoholkonsums bezeichnet. Nach Hoppe beträgt 
derselbe im Jahre 1803 in Alkohol ä 100 % pro Kopf und 
Jahr 13,81 1. Diesen 13,81 1 in Frankreich stehen aber 15,4 1 
reiner Alkohol gegenüber, welche jährlich im Durchschnitt auf 
den Kopf des Württembergers entfallen. In Bezug auf den 
Alkoholgenuss sind also die württembergischen 
Zustände noch schlimmer als diejenigen Frank¬ 
reichs, und so lange uns nicht mit Zahlen etwas 
anderes bewiesen wird, müssen wir leider zu¬ 
geben, dass Württemberg von keinem Land der 
Erde in Bezug auf die Höhe des relativen Alkohol¬ 
genusses übertroffen wird. 

Hier muss geholfen werden, und mit Erfolg 
kann dies nur geschehen, indem man dem Most gegen¬ 
über dieselben taktischen Massnahmen ergreift, wie gegen die 
anderen alkoholischen Getränke. Im Kampf gegen den 
Alkohol darfderMostnicht alsharmloserGeselle 
gerne geduldet oder gar empfohlen werden. Als 
Hausgetränk vermager vielmehr in gewisser Hin- 
sicht mehr Unheil anzurichten als das nichtimmer 
so zur Verfügung stehende Bier; man denke z. B. nur 
an den Mostgenuss der Jugend. Anhänger des Mässigkeits- 
prinzips wie der Abstinenz, staatliche und lokale Behörden 



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Walter, Der Most. 


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sollten einig sein in dem Bestreben, die ungeheuren Schädi¬ 
gungen, welche in materieller wie ideeller Hinsicht durch den 
Most angerichtet werden, möglichst einzuschränken. Für uns 
Schwaben droht die Mostfrage eine Existenzfrage zu werden. 
Die bestehenden Verhältnisse müssen sich entweder gewaltig 
zum Bessern ändern — oder rapid verschlimmern. Alle Er¬ 
fahrungen auf diesem Gebiet lehren uns, dass Zu¬ 
stände, wie sie derzeit in Schwaben herrschen, 
nicht an halten können. Hier heisst es „entweder — 
oder“. Unsre Gegenwart bedeutet eine Krisis, die überwunden 
werden muss, wenn sie nicht im andern Falle schwere dauernde 
Schädigungen zur Folge haben soll. 

Meine Ausführungen könnte man mit Recht als unvoll¬ 
ständig bezeichnen, wenn ich nicht zum voraus einige Einwände, 
die zweifellos manchem hierbei kommen, widerlegen würde. 
Die Frage, ob man jeden Mostgenuss verbieten oder bloss 
mässigen Genuss desselben empfehlen soll, will ich hier nicht 
beantworten. Sie gehört nicht in den Rahmen meiner Erörte¬ 
rungen, weil das Für und Wider dieser prinzipiellen Frage von 
Berufeneren schon vielfach erörtert worden ist. Aus meiner 
Forderung, dass dem Most gegenüber taktisch 
dieselben Massnahmen zu ergreifen sind, wie 
gegen jedes andere alkoholische Getränke, wird 
jedereinzelne, das für ihn geltende herausfinden. 

Was soll dann aber mit unseren Aepfeln und 
Birnen, mit unseren Obstbäu in en geschehen? 
Diese Frage vor allem werden in der Annahme, dass der 
Mostkonsum bedeutend zurückginge oder gar verschwände, 
alle Besitzer von Obstgütern mit Recht erheben. Zu ihrer 
Beruhigung darf ihnen aber sofort versichert werden, dass 
auch nicht ein Baum in diesem Falle verschwinden müsste, 
dass sich vielmehr der Obstbau dann erst zu einem ncch 
erträglicheren Zweig der Landwirtschaft gestalten Hesse als 
er es gegenwärtig ist. Wie wäre das möglich ? 

Mit dem verringerten Alkoholkonsum würde stetig eine 
grössere Nachfrage nach Tafelobst Hand in Hand gehen. 
Bei planmässiger Belehrung und Einwirkung durch Lehrer, 
Aerzte, Behörden und Vereine Hesse sich diese Nachfrage so 


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Abhandlungen. 


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steigern, dass der jeweilige Ertrag unseres Landes derselben 
kaum genügen würde. Noch viel zu wenig wird auf die ausser¬ 
ordentlich hohe Bedeutung des Obstgenusses hinge¬ 
wiesen. Jeder, der mit der Nahrungsmittellehre einigermassen 
vertraut ist, weiss, dass in unserem Obst ein Reichtum der 
edelsten Stoffe enthalten ist, der geradezu unersetzlich ist, dass 
in ihm eine Masse von Spannkräften angesammelt ist, die eine 
Menge anderer Nahrungsmittel, die zum grössten Teil teurer 
und weniger zuträglich sind, vollauf ersetzen könnten. Insbe¬ 
sondere ist das Obst im stände, unserem Körper die so über¬ 
aus wichtigen anorganischen Bestandteile (Nährsalze) zuzuführen, 
die namentlich für unser heranwachsendes Geschlecht von grosser 
Bedeutung sind. Die erfrischende und durststillende Eigenschaft 
des Obstes wird noch viel zu wenig geschätzt, seine stärkende, 
blutbildende und aufbauende Wirkung auf Schwache, Kranke 
und Genesende wird vielfach noch nicht genügend gewürdigt. 
Und in wie hervorragender Weise eignen sich nicht unsere 
Aepfel und Birnen, roh und gedörrt, zur Zubereitung aller 
möglichen Arten von schmackhaften Speisen. Als¬ 
dann wäre noch darauf hinzuweisen, dass die moderne Technik 
und Wissenschaft in der Zubereitung äusserst haltbarer, zu¬ 
träglicher und wohlschmeckender alkoholfreier Obst- und 
Traubensäfte schon jetzt Bedeutendes leistet. Bei stärkerer 
Nachfrage würden dann auch die Preise für diese derzeit noch 
etwas teueren Getränke zürückgehen. 

Mögen diese Andeutungen genügen, auf die hohe Be¬ 
deutung des Obstes als Volksnahrungsmittel hingewiesen zu 
haben! 

Sämtliche Faktoren, die gegen die Alkoholnot ankämpfen, 
müssen sich eben stets bewusst bleiben, dass es von grosser 
Wichtigkeit ist, nicht bloss den Feind zurückzudrängen, sondern 
die eroberten Gebiete auch sofort anzubauen d. h. positive Rat¬ 
schläge zu geben, an Stelle der bisher gewohnten Genüsse 
andere, reinere zu empfehlen. 

Wie viel herrliches Tafelobst bieten heute schon unsere 
Fluren jeden Herbst, vor allem in unsern Unterländer Luiken, 
deren Schicksal gegenwärtig fast durchweg das Vermosten ist! 
Selbst eingefleischte Alkoholiker können beim Anblick der 
herrlichen Aepfel manchmal ausrufen: „s’ist schad, dass man’s 



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Walter, Der Most. 


143 


mostet!“ Und sie haben recht. Den Kindern raubt man die 
prächtige, bekömmliche Gottesgabe und reicht ihnen das ge¬ 
gorene Kindergift, den Most. 

Andererseits ist nicht zu leugnen, dass bei einer Massen¬ 
nachfrage in Tafelobst viele Sorten, die seither als Mostobst 
Verwendung finden, in Zukunft den Ansprüchen nicht mehr 
genügen würden. Diesem Missstand aber wäre durch Veredeln 
der bisherigen Bäume leicht abzuhelfen. Auch könnten manche 
Sorten, die sich nicht zum Essen eignen, als Kochobst oder 
Hutzeln Verwendung finden. Zweifellos aber würde unser Obst¬ 
bau bei ausschliesslicher Kultur von Tafel- oder Dürrobst sich 
zu einem Zweig unsrer Landwirtschaft ausbilden, der nicht nur 
eine hohe Kulturaufgabe erfüllen würde, sondern auch vom 
Gesichtspunkt des Nationalökonomen von grösster Bedeutung 
wäre. Die Produzenten und Konsumenten von Tafelobst würden 
in Zukunft infolge dieser Massenproduktion Gewinn haben. 
Bei grossem Angebot werden sich dann die Preise für Tafel¬ 
obst etwa in der Mitte zwischen den gegenwärtigen Preisen 
des Most- und Tafelobstes bewegen. Erstere werden .also 
durchschnittliche grössere Summen für ihre Obsternten einnehmen 
und letztere billigeres Tafelobst einkaufen können. Vom Stand¬ 
punkt des Sozialhygienikers wäre zu bedauern, wenn bei aus¬ 
schliesslicher Kultur von Tafelobst auch nur 1 kg davon aus¬ 
geführt würde, obwohl wahrscheinlich wäre, dass wir in besseren 
Jahren eine Ueberproduktion hätten. Zum mindesten aber 
blieben dann die Millionen, welche jetzt alljährlich für Mostobst 
ins Ausland kommen, unsrem Volk erhalten. 

Die Arbeit der Obsternte würde zwar in Zukunft bedeutend 
umständlicher und zeitraubender; allein die erhöhten Preise 
würden den vermehrten Aufwand an Zeit und Arbeitskräften 
rechtfertigen. Ausserdem könnte die seither für das Mosten 
aufgewendete Zeit dieser Arbeit zugewiesen werden. Der 
jährliche Obstertrag Württembergs beziffert sich auf etwa 600 000 
Doppelzentner. Das macht auf den Kopf pro Jahr etwa 25 bis 
30 kg; für die Familie etwa 150 kg. Dieses Quantum, das auf 
etwa 12—15 Mk. kommen würde, könnte sich auch die ärmste 
Familie leisten. 

Aber auch die reichsten Herbsterträge könnten, falls das 
Volk von der hohen Bedeutung des Obstgenusses durchdrungen 


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144 


Abhandlungen. 


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wäre, im eigenen Lande Absatz finden; denn auch das fünf¬ 
fache Quantum, das in diesem Fall Abnehmer finden müsste, 
könnte so verwendet werden, dass kein Apfel verloren ginge. 
Die Ausgaben pro Familie für das erhöhte Quantum würden 
sogar verhältnismässig geringere sein, da in diesem Fall die 
Preise niederer wären und um 40—50 Mk. sich eine Fülle 
schönsten Obstes in den Keller bringen liesse. 

Was sollen dann aber unsere Bauern, unsere 
Arbeiter trinken? Diese Frage höre ich schon längst von 
verschiedenen. Auch hierüber liesse sich ein Büchlein schreiben; 
doch sind solche schon in grösserer Anzahl vorhanden, so 
dass ich mich auf weniges beschränken kann. Vor allem sei 
auf die Zeiten unserer Väter und Grossväter hingewiesen, die 
doch auch ihr Feld bestellten und ihre Ernten besorgten und 
dabei nur ausnahmsweise geistige Getränke genossen. Ist denn 
der Strom an Milch, der damals quoll, versiegt? Kennt nie¬ 
mand mehr in Schwaben die Zubereitungsart des gedörrten 
Obstes, das eine so ungemeine durststillende Kraft hat? Und 
soll denn das Wasser wirklich bloss für das Vieh gut genug sein? 

Wissen wir nicht, dass bei uns die meisten Menschen 
überhaupt viel zu viel trinken, dass man also z. B. auch un¬ 
nötig viel Wasser gemessen kann? Ist nicht bekannt, dass bei 
geeigneter naturgemässer Ernährung schon durch die Speisen 
der grösste Feil unseres natürlichen Bedarfs an Wasser dem 
Körper zugeführt wird? 

Diese Andeutungen mögen genügen, dass bei gutem Willen 
hier nicht bloss gut Ersatz geschaffen werden kann, sondern 
dass durch den Uebergang zu einer andern Art von Nahrungs¬ 
und Genussmitteln, wie sie z. B. das Obst bietet, unserem Volk 
reichlicher Gewinn in jeder Hinsicht erwachsen würde. 

Ich bin mir wohl bewusst, dass meine Forderungen sich 
nicht so rasch verwirklichen werden. Aber solche idealen Zu¬ 
stände sollen wenigstens angestrebt werden, und wenn jeder 
nach seinen Kräften darnach strebt, bessere Zeiten herbeizu¬ 
führen, so kann vieles überwunden und geändert werden. Der 
Dank unseres Schwabenvolks, unserer zukünftigen Generation 
ist jedem sicher, der hier mithilft. 


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Forel, Abstinenz und Wissenschaft. 


145 


Abstinenz und Wissenschaft. 

Von Dr. August Forel. 


Der Genuss des Alkohols und der narkotischen Mittel 
entstand in der Menschheit zweifellos dadurch, dass die Neu¬ 
gierde eines höher sich entwickelnden Gehirnes ihn die Gärung 
gezuckerter Flüssigkeiten und ihre angenehme berauschende 
Wirkung entdecken liess. Diese Entdeckung einmal gemacht, 
suchte der Mensch durch alle Mittel seines Geistes und seiner 
Kultur, berauschende Getränke oder Substanzen zu produzieren, 
ohne sich klar über die ganze Tragweite der Folgen ihres Ge¬ 
nusses zu werden. Immerhin fand man zu allen Zeiten gewisse 
Propheten und Weise, die den Genuss der narkotischen Mittel 
und speziell des Alkohols als verderblich, betörend, den Menschen 
entwürdigend und lähmend bezeichneten und denselben ver¬ 
boten ; so z. B. Mohammed. 

Der Mensch ist aber vor allem ein gedankenloses Gewohn¬ 
heitstier und pflegt, seinen Gefühlen und Träumereien folgend, 
alle möglichen Unsitten, die denselben schmeicheln, zu dogma- 
tisieren, zu kanonisieren, für heilig zu erklären und dann nach¬ 
träglich durch die ganze Wucht einer sophistischen Logik zu 
verteidigen. Keine soziale Unsitte ist jedoch so geeignet, sich 
in der Gesellschaft einzuwurzeln, als diejenige des Genusses 
narkotischer Mittel, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens 
ist ihre Wirkung direkt angenehm, da der narkotische Rausch 
die starken und unangenehmen Empfindungen lähmt, Schmerz und 
Unglück vergessen lässt und so den Menschen über die Unan¬ 
nehmlichkeiten des Augenblickes hinwegtäuscht. Zweitens, weil 


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146 


Abhandlungen. 


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der Genuss der Nareotica sehr rasch eine künstliche Sucht, ein 
künstliches Bedürfnis erzeugt, das sich dadurch auszeichnet, 
dass man ohne den nun gewöhnlichen Genuss unruhig, unbe¬ 
haglich wird und nach demselben dürstet. Zwar ist diese Sucht 
oder unangenehme Abstinenzerscheinung beim Alkohol im 
ganzen viel geringer, als beim Morphium, Cocain und dergl., 
sodass die Mehrzahl der Menschen sich relativ mässig halten 
kann. Dafür macht der Alkohol den Menschen viel brutaler 
und gefährlicher und entartet die Körpergewebe viel mehr, als 
jene Substanzen. Drittens, und gerade auf Grund der beiden 
erstgenannten Tatsachen, gibt es kein bequemeres Mittel für 
den ausbeutungssüchtigen Menschen auf Kosten der anderen 
reich zu werden, als die Ausnutzung der narkotischen Sucht 
und speziell der % Alkoholsucht der Gesellschaft. Staat und 
Private ziehen den leichtesten und enormsten Profit aus dem 
Alkohol- oder dem Opiumgenuss des Volkes. 

Auf diese Weise sind der Gott Bacchus und seine Jünger 
so gross und mächtig geworden: Zuerst Entdeckung aus Neu¬ 
gierde, dann gedankenloses Sichgehenlassen, ferner Dogmati- 
sieren und Heiligsprechen der Unsitte, endlich Sklaverei auf 
einer Seite und Ausbeutung auf der anderen. Es gibt wenige 
lehrreichere Beispiele davon, dass der Mensch nicht durch eine 
wahre vorurteilslose Logik, sondern durch die Macht der Ge¬ 
fühle, der Mode und des Vorurteils gelenkt wird, als die heutige 
fadenscheinige Sophistik, mit welcher selbst ehrbare Geistliche, 
bedeutende Gelehrte, Staatsmänner und Künstler den Alkohol¬ 
genuss verteidigen und rühmen und die Abstinenzbewegung 
verhöhnen und schlecht machen, einzig und allein, um ihr ange- 
wöhntesWein- oder Biergläschen zu verteidigen oder um die durch 
eine Jahrtausend alte Sitte heilig gesprochene Alkoholatrie und 
die damit verbundene Afterdichtung ja nicht antasten zu lassen. 

Die Abstinenzbewegung ist aus dem Exzess des Uebels 
und aus der absoluten Unfähigkeit des mässigen Alkoholgenusses 
entstanden, den sozialen Alkoholschaden zu bekämpfen. Man 
erkannte vor allem zuerst in Amerika, dass ein Trunksüchtiger 
nur durch die totale Abstinenz geheilt werden könne. 

So fing die einzig rationelle Bekämpfung der sozialen 
Alkoholpest unter der Flagge „Weg mit dem Alkohol als Ge¬ 
nussmittel!“ an. Aus der Erkenntnis, dass der Alkohol ein 



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Ford, Abstinenz und Wissenschaft. 


147 


giftiges Genussmittel sei, ist die heutige, von jedem kirchlich¬ 
religiösen Glauben absehende, sozial-hygienische und wissen¬ 
schaftliche Abstinenzbewegung entstanden. 

Unerwartet schnell sind infolge ihrer Bemühungen, der 
Sache auf den Grund zu gehen, die Tatsachen der Wissen¬ 
schaft ihr zu Hülfe gekommen. Ihr sind vor allem folgende 
Feststellungen zu verdanken: 

1. Schon kleine Alkoholdosen (20—30 Cubikcentimeter) 
wirken giftig auf das Gehirn, alle geistigen Tätigkeiten lähmend 
und störend (Kraepelin und die zahlreichen Experimente seiner 
Schüler). 

2. Die früher behauptete bedeutend grössere Gefährlich¬ 
keit unreiner Schnäpse hat sich als irrtümlich erwiesen. Die 
Giftwirkung sogenannter Unreinlichkeiten (Fuselöl etc.) ist eine 
andere als die des Aethyl-Alkohols, summiert sich daher nicht 
und kommt wegen der sehr kleinen Quantität dieser Substanzen, 
die in den alkoholischen Getränken enthalten sind, kaum mehr 
in Betracht. Die Giftwirkung, die der Alkoholismus hervor¬ 
ruft, ist diejenige des Aethyl-Alkohols. Die gegorenen Getränke, 
wie Bier, Wein und Obstwein, sind kaum weniger gefährlich, 
vielfach sogar schlimmer, als der Branntwein, weil sie anständiger 
aussehen und dadurch verführerischer sind. Man trinkt grössere 
Quantitäten und der Schlusseffekt der sozialen Alkoholisierung 
ist der gleiche, weil sie den gleichen Aethyl-Alkohol enthalten. 
Er tritt nur langsamer und weniger brutal auf. (Strassmann, 
Joffroy und andere.) 

3. Die angebliche Nährwirkung des Alkohols beruht auf 
einem sophistischen Wortstreit über den Ausdruck Nahrungs¬ 
mittel. Der Alkohol verbrennt im Organismus wie manche 
anderen Gifte. So entwickelt er Wärme resp. Energie. Man 
kann ihn also theoretisch, wie alles, was im Organismus ver¬ 
brennt, mit dem trügerischen Namen eines energetischen Nah¬ 
rungsmittels schmücken, und ihn aus diesem Grunde mit anderen 
Kohlenhydraten vergleichen. Das ist aber ein Schwindel, denn 
so wären auch Phosphor, Glycerin, Arsenik etc. Nahrungsmittel. 
Damit eine Substanz Nahrungsmittel genannt werden darf, muss 
sie nicht nur im Körper verbrennen, sondern dabei erfahrungs- 
gemäss erstens den Körpergeweben nichts schaden und zweitens 
die Körperfunktionen nicht stören oder lähmen. Es ist aber 


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148 


Abhandlungen. 


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experimentell durch die Wissenschaft nachgewiesen worden, 
erstens, dass der Alkohol ein grosses Protoplasma-Gift ist und 
die Körpergewebe entarten macht und zweitens, dass er durch 
seine gehirnlähmende Wirkung die Kraftleistungen des Körpers 
auf die Dauer viel stärker herabsetzt, als er ihnen Energie zu¬ 
führt, Nur kurz nach seiner Einnahme bewirkt er eine vor¬ 
übergehende Vermehrung der Kraftleistung. Aus diesen ein¬ 
fachen, nun unbedingt feststehenden Tatsachen, kann man die 
Grösse des ganzen Schwindels ersehen, der seinen Gipfel in 
den absurden Behauptungen des allerdings bereits krank ge¬ 
wesenen französischen Gelehrten Duclaux hat. Neuerdings 
haben besonders Ziegler in Jena und Fühner gezeigt, dass 
Lösungen von weniger als 1 % Alkohol genügen, um die Ent¬ 
wickelung von Seeigel-Embryonen zu hemmen. Enthält die 
Lösung 1—2 °/ 0 Alkohol, so geht das Embryo unter Verkrüppe¬ 
lung bald zu Grunde. Im übrigen sind die genannten Tatsachen 
von Kraepelin, Destree, Frey, Schnyder, Miura, Kassowitz, 
Chauveau etc. mehr als genügend festgestellt. Die Gegner, wie 
Atwater, Rosemann etc. können immer nichts weiteres behaupten, 
als dass der Alkohol verbrennt und dabei Energie produziert, 
was niemand bestreitet. Der gesunde Menschenverstand genügt, 
um aus diesen Tatsachen den einzig vernünftigen Schluss zu 
ziehen: „Weg mit dem Alkohol als Genussmittel“. 

4. Die Wissenschaft hat ferner den Nachweis erbracht, 
dass der Alkohol die Keime unserer Nachkommen verdirbt und 
dieselben mit den schwersten erblichen Entartungen aller Art 
belastet. Es handelt sich nicht um eine einfache Wiederholung vor¬ 
handener Trinkanlagen, sondern also um das direkte Verderben 
früher gesunder Keime. Ich habe diesem Vorgang den Namen 
Blastophthorie (Keimverderbnis) gegeben. Unzählige Arbeiten 
von Legrain, Hodge, Combemelle, Derame, Fräulein Koller, mir 
selbst und in neuerer Zeit von Bunge beweisen immer mehr, 
wie ahnungslos die Menschheit dieser furchtbaren Tatsache 
gegenüber bisher stand. Der alkoholischen Blastophthorie ist 
zweifellos der Ursprung einer ungeheuren Zahl, wenn nicht der 
Mehrzahl der Verbrechernaturen, der geistigen Abnormitäten und 
überhaupt dermeisten geistigen und körperlichen Verkrüppelungen 
unserer Rasse zu verdanken. Zum Glück kann die Verminderung 
der Trinksitten und vor Allem die Abstinenz im Laufe einiger 



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Forel, Abstinenz und Wissenschaft. 


149 


Generationen die Rasse wieder allmählich regenerieren. Die 
Experimente sind zum Teil an Tieren gemacht worden. Für 
den Menschen konnten sorgfältige statistische Untersuchungen 
das furchtbare soziale Experiment, das die Menschheit seit Jahr¬ 
tausenden an sich gemacht hat, einfach als solches benutzen. 
Dazu lieferten die Gefängnisse, die Irrenanstalten, die Idioten- 
und epileptischen Häuser, und dergleichen mehr, das Material. 
Indirekt erwiesen sich auch andere soziale Schäden des Alkohols. 
So zeigte eine von mir angestellte Statistik, dass 3 / 4 der vene¬ 
rischen Krankheiten im leicht angeheiterten oder berauschten 
Zustande acquiriert werden. 

5. Auch als medizinische Panacee und Allheilmittel hat 
der Alkohol seinen Ruhm gestohlen. Unter anderem hat der finn- 
ländische Arzt Laitinen gezeigt, wie verderblich und schwächend 
er gerade da wirkt, wo man ihn als lebenerhaltendes Stimu- 
lations- und Stärkungsmittel so hoch pries. 

6. Auch in der Kunst fängt der Alkoholnimbus zu fallen 
an und es zeigt sich immer deutlicher, dass die ihm gewundenen 
Kränze Flittergold sind, dass er die Kunst nur minderwertig 
und roher gestaltet und die Leistungsfähigkeit, der Künstler 
quantitativ und qualitativ herabsetzt. Noch mehr aber lähmt 
er die Fähigkeit des Volkes, wahre Kunst und höhere geistige 
Leistungen zu geniessen und zu verstehen, indem er es in dem 
Bann blödester Wirtshausliteratur und roher kunstloser Ver¬ 
gnügungen hält. Was nützen aber die Leistungen der Künstler, 
wenn das Verständnis der Nation für dieselben abnimmt? 

7. Die freie wissenschaftlich-soziale Abstine’nzbewegung hat 
aber ferner den Nachweis erbracht, dass eine frohe, unge¬ 
zwungene Abstinenzgeselligkeit nicht nur mit der Alkohol¬ 
geselligkeit und mit den Alkoholfreuden recht wohl konkurrieren 
kann, sondern dass sie denselben weit überlegen ist. Der Alkohol 
verschafft dem Menschen Genüsse; ja, aber er nimmt ihm dafür 
so viele höhere und bessere Genüsse w 7 eg, dass wir durch ihn 
an Lebensgenuss, Freude und Gesundheit viel mehr verlieren, 
als gewinnen. Diese soziale Bilanz bedeutet den Bankerott des 
Alkohols und seiner Verteidiger. Unser Sieg kann nur eine 
Frage der Zeit sein, erfordert aber harte Kämpfe gegen die 
Macht des Vorurteils einer alten Sitte und der Ausbeutungs¬ 
sucht durch das Alkoholkapital. 


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Abhandlungen. 


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Ich habe die soziale Alkoholfrage in einen kurzen Satz 
zusammengefasst, den ich zum Schluss hier noch anführe: 

„Beseitigt durch Zauberschlag alle Alkoholiker eines Landes; 
in wenigen Jahren werden sie völlig ersetzt sein (in der Tat 
stirbt ein grosser Bruchteil der Trinker weg, ohne dass ihre 
Gesamtzahl abnimmt). Wandelt dagegen mit einem Schlag 
sämtliche mässigtrinkende Menschen eines Landes dauernd in 
Abstinenten um, und in kurzer Zeit wird es keinen Alkoholismus, 
keine Trinker, keine Alkoholfrage mehr im Lande geben! 

Ehre den Ländern, die wie Kanada, Norwegen und Finn¬ 
land den sozialen Kampf für die Abstinenz mit so grossem 
Erfolg und so grosser Energie unternommen und durchgeführt 
haben! 


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Stille, frie „local-option“ in den Vereinigten Staaten. 


151 


Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten. 

Von Dr. phil. W. A. Stille in Leipzig. 


Die schwache Seite der Prohibition war, dass der Einkauf 
der berauschenden Getränke, d. h. deren Einfuhr aus anderen 
Staaten, nicht verboten war. Freilich, wie hätte die Einfuhr 
verboten sein können, wenn es den Aerzten frei stand, 
Spirituosen als Medikamente zu verschreiben und den Apothekern 
diese „Medizinen“ zu verabfolgen! Den Aerzten durch Staats¬ 
gesetze verbieten, Spirituosen zu verschreiben, das war nicht 
durchführbar. Der Schmuggelhandel mit Spirituosen, die ge¬ 
heimen Trinklokale, das waren Uebelstände. Dagegen war es 
eine bewundernswerte Seite der Prohibitionsbewegung, dass 
mit so viel Eifer und Opferwilligkeit aus rein ethischen und 
religiösen Motiven für diese Sache gekämpft wurde. In allen 
Staatslegislaturen wiederholte sich das Bild, dass Frauen und 
Männer aus den angesehensten Ständen voll religiösen Eifers 
sich an die Repräsentanten des Volkes wendeten, um sie zu be¬ 
wegen, Prohibitiv-Gesetze einzubringen und durchzusetzen. 
Reiseprediger wurden ausgesandt überall ins Volk, um die 
„Temperenz“, d. h. die Enthaltsamkeit zu predigen. Das 
geschah sehr oft durch gerettete frühere Trinker, die nun mit 
zündenden Worten und aus tiefster Ueberzeugung die Heils¬ 
wahrheiten der Abstinenz verkündeten. 

Die Temperenzler haben lange Zeit versucht, die Frage 
der Abschaffung der berauschenden Getränke zu einer nationalen 
Frage zu machen und eine entsprechende Abänderung der 
Konstitution der Vereinigten Staaten durchzusetzen, obwohl ja 
die ganze Frage nicht die nationale Regierung, sondern die 


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Abhandlungen. 


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einzelnen Staaten angeht. Seit dem Jahre 1872 haben die 
Temperenzler regelmässig ihren eigenen Präsidentschafts¬ 
kandidaten aufgestellt, während die beiden grossen politischen 
Parteien es ablehnten, sich mit der Alkoholfrage zu befassen. 

Da in allen Temperenzstaaten sich die schon genannten 
Uebelstände einstellten, so drängte sich die Frage auf, ob nicht 
bessere Mittel zu finden wären, die Trinksitten zu beseitigen 
und zugleich die Sache der Enthaltsamkeit unter dem Publikum 
mehr zu Ehren zu bringen; denn man warf ja den Temperenzlern 
ganz offen vor, sie heuchelten bloss und tränken im Geheimen. 
Das Mittel, das sich vortrefflich bewährt hat, ist die „local 
Option“. Sie besteht darin, dass jede Kommune alljährlich 
durch Abstimmung darüber entscheidet, ob Schanklizenzen 
ausgegeben werden sollen, oder nicht. Die Staatsgesetze, unter 
welchen die „local Option“ stattfindet, sind natürlich nicht in 
allen Staaten gleich, ich wähle daher ein bestimmtes Beispiel 
der Art, nämlich die Gesetze des Staates Massachusetts, die 
für viele andere Staaten vorbildlich geworden sind und über 
deren Erfolge ausführliche Nachrichten vorliegen. 

Das Staatsgesetz von Massachusetts bestimmt, dass in 
Boston nicht mehr Schankstellen für Spirituose Getränke sein 
dürfen, als eine für je 500 Einwohner, für alle übrigen Städte 
des Staates aber, und für das platte Land, nicht mehr als eine 
für je 1000 Einwohner. Ferner bestimmt es, dass für jede 
Schanklizenz mindestens 1000 Dollars das Jahr zu entrichten 
sind. Diese Summe fliesst in die Stadtkasse oder in die Kasse 
der betreffenden Kommune. Aber es steht der Stadt oder der 
Kommune frei, eine beliebig höhere Summe für die Lizenz 
zu verlangen; nach oben hin bestimmt das Gesetz keine 
Grenze. Die Stadt Boston stimmt über die Lizenzfrage nach 
Distrikten ab, sodass es also Distrikte der Stadt geben kann 
und gibt, wo gar keine Trinklokale für berauschende Getränke 
anzutreffen sind. Die Abstimmung geschieht gleichsam von 
selbst, denn bei den jährlichen allgemeinen Wahlen enthält der 
Stimmzettel zugleich die Frage: „Sollen in dieser Stadt (oder 
in diesem Distrikte) Lizenzen zum Verkauf berauschender Ge¬ 
tränke ausgegeben werden?“ 

Nun kommt aber noch ein ganzes Heer von Ein¬ 
schränkungen und Bedingungen. Erstens, wer eine Schank- 



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Stille, Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten. 


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lizenz zu erwerben wünscht, muss durch öffentliche Bekannt¬ 
machung kund tun, wo er die Schankstelle zu halten beab¬ 
sichtigt. Dann kann aber jeder Grundstücksnachbar, dessen 
Eigentum nicht mehr als 25 Fuss von dem in Aussicht ge¬ 
nommenen Grundstück entfernt liegt, Einsprache erheben gegen 
die Errichtung des Schanklokals und diese Einsprache ist end- 
giltig. Das Lokal darf dort nicht eröffnet werden. Ferner, wenn 
der Wirt endlich ein Grundstück gefunden hat, wo er sein Lokal er¬ 
öffnen kann, so hat er u. a. folgende Punkte zu beachten: Er darf 
nicht nach 11 Uhr abends verabreichen und nicht vor 6 Uhr 
morgens, an Sonntagen überhaupt nicht. Er darf nicht an 
notorische Trinker verabfolgen, auch nicht an Betrunkene, 
nicht an Almosenempfänger, nicht an Minderjährige, auch 
darf er keine Minderjährigen in seinem Lokale dulden. 
Er darf keine „verfälschten“ Liköre verabreichen, er darf keine 
spanischen Wände, Schirme oder sonstige Einrichtungen an¬ 
bringen, die verhindern würden, dass man von der Strasse aus 
das Innere des Lokals frei überblicken kann. Er darf nicht an 
öffentlichen Feiertagen verabreichen, auch nicht an Tagen, wo 
eine politische Wahl stattfindet. Er darf keine Minderjährigen 
in seinem Geschäfte anstellen. 

Aber nun kommt zum Schluss noch ein Punkt von 
enormer Tragweite. Der Wirt darf keine berauschenden Ge¬ 
tränke verabreichen an irgend jemand, wenn er schriftliche 
Notiz bekommen hat von des Betreffenden Frau oder Vater, 
Mutter, Kind, Arbeitsgeber, des Inhalts, dass jener ein 
Gewohnheitstrinker ist und dass der Unterzeichnete den Wirt 
ersucht, ihm alle berauschenden Getränke vorzuenthalten. 

Wenn der Wirt einer Uebertretung irgend einer der ge¬ 
nannten Bedingungen überführt wird, so verfällt er in Geld¬ 
busse und Gefängnisstrafe und seine Lizenz erlischt. 

Noch strenger als in Massachusetts ist das neue Gesetz 
für Vermont. Der Staat Vermont hatte gerade 50 Jahre lang 
die Prohibition, nämlich von 1853 bis 1903, da ging er zur 
„local Option“ über. Alle Abgaben für Lizenzen gehen zur 
Hälfte in die Kasse der betreffenden Kommune und zur Hälfte 
in die Staatskasse, und zwar in das Konto für Strassen und 
Brücken. Ebenso werden alle Geldstrafen der Wirte geteilt. 
Diese Geldstrafen sind sehr hoch, nämlich von 100 bis 

Die Alkoholfrage. 11 


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Abhandlungen. 


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300 Dollars für jedes Vergehen. Auf diese Weise hat gewisser- 
massen jeder Steuerzahler ein Geldinteresse daran, dass der 
Wirt zu Geldstrafen herangezogen wird, sobald sich Gelegen¬ 
heit bietet. 

Aber es kommt noch stärker. Jeder Polizist, jeder 
Gerichtsvollzieher, jeder Konstabler ist unter dem Gesetz ver¬ 
pflichtet, bei 200 Dollars Geldstrafe, jede Verletzung der Ge¬ 
setze von seiten eines Wirtes, die zu seiner Kenntnis gebracht 
wird, sofort anzuzeigen. Ferner muss jeder dieser Beamten 
zu bestimmten Zeiten vor der zuständigen Behörde erscheinen 
und unter Eid aussagen, „ob er Anzeichen davon bemerkt hat, 
oder ob ihm Kunde zugegangen ist, die auf Verletzung des 
Gesetzes schliessen lassen.“ Die Lizenz-Behörde hat daraufhin, 
unter Geldstrafe von 500 Dollars bei Vernachlässigung, die so 
angezeigten Fälle zu untersuchen. Ist die Anklage begründet, 
so hat die Behörde die gesetzliche Geldstrafe zu verhängen; 
ist sie nicht begründet, so hat die Behörde bei der nächsten 
Jahresversammlung über jeden Fall die Gründe anzugeben, 
weshalb sie keine Strafe verhängte. 

Aber noch nicht genug! Jeder Wirt, der eine Lizenz zum 
Ausschank berauschender Getränke bekommt, wird unter eine 
Bürgschaft von 3000 Dollars gestellt gegen Uebertretung des 
Gesetzes. Diese Bürgschaft aber kann nicht geleistet werden 
von Brauern oder Fabrikanten von Spirituosen, ja nicht einmal 
von Versicherungsgesellschaften, sondern sie muss geleistet 
werden von zwei Einwohnern des Ortes, wo die Schankstelle 
sich befindet, und diese Bürgen sind haftbar in jedem Fall von 
Geldstrafe, die den Wirt betrifft. Ja, noch mehr. Um zu ver¬ 
hindern, dass Brauer oder Likörfabrikanten die Hände im Spiel 
haben könnten, schreibt das Gesetz vor, dass keiner, der direkt 
oder indirekt Geldinteresse hat an dem Verkauf oder der 
Fabrikation berauschender Getränke, Bürge sein darf. 

Diese ausserordentlich strengen Massregeln im Staate 
Vermont wurden wohl hauptsächlich deswegen getroffen, weil 
im langen Lauf der Prohibition der Schleich- oder Schmuggel¬ 
handel in Spirituosen von allerhand verdächtigen Persönlich¬ 
keiten getrieben wurde, und diese sollten nunmehr von allem 
Handel mit Spirituosen fern gehalten werden. Gewiss kann 


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Stille, Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten. 


155 


unter dem neuen Gesetz nur jemand, der in gutem Ruf steht, 
eine Lizenz überhaupt bekommen. 

Das Gesetz von Vermont bestimmt, dass nicht mehr 
Lizenzen ausgegeben werden dürfen, als je eine auf 1000 Ein¬ 
wohner. In Städten und Ortschaften, die keine Lizenzen aus¬ 
geben, dürfen nur solche Apotheken bestehen, die ausschliess¬ 
lich Medikamente führen, und die nur auf Verordnung eines 
Arztes Spirituosen in verschlossenen Flaschen verkaufen dürfen. 

Betrachtet man alle die Schwierigkeiten, Hindernisse und 
Strafen, denen die Wirte in Massachusetts und Vermont aus¬ 
gesetzt sind, so wird man nicht anders urteilen, als dass die 
öffentliche Meinung in dem lange fortgesetzten und immer 
wieder erneuten Kampfe um die Alkoholfrage, sich bis zu 
einem hohen Grade geklärt hat. Man hat sich endlich über¬ 
zeugt, dass das alte Uebel der Trinksitten sich nie wird 
völlig aus der Welt schaffen lassen, dass es sich aber doch 
bis auf einen kleinen Rest beseitigen lässt. Dass die Trink¬ 
sitten wirklich als ein grosses Uebel, ein Gemeinschaden, er¬ 
kannt sind, erkennt man daraus, dass es gelingen konnte, die 
oben genannten sehr strengen Gesetze und Massregeln durch¬ 
zusetzen. 

Es ist interessant zu erfahren, welche Wirkung in einer 
Stadt eintritt, wenn nach einer Reihe von Jahren, wo keine 
Lizenz ausgegeben wurde, nunmehr die Ausgabe von Lizenzen 
stattfindet oder um im amerikanisch-volkstümlichen Ton zu 
reden, wenn ein „nasses“ Jahr auf „trockene“ Jahre folgt. Die 
Stadt Brockton in Massachusetts bietet ein gutes Beispiel der 
Art. Dies ist eine Stadt von 40000 Einwohnern (1886). Elf 
Jahre hindurch hatte sie keine Lizenzen ausgegeben, da schlug 
die Sache um und für das Jahr vom 1. Mai 1898 bis 
1. Mai 1899 wurden Lizenzen ausgegeben, es gab also Trink¬ 
lokale mit alkoholischen Getränken. In dem „trockenen“ Jahr, 
beginnend mit dem 1. Mai 1897, kamen 435 Verhaftungen 
wegen Trunkenheit vor und 44 wegen tätlicher Angriffe. In 
dem „nassen“ Jahre, beginnend mit dem 1. Mai 1898, gab es 
1627 Verhaftungen wegen Trunkenheit und 99 wegen tätlicher 
Angriffe. Dies eine Jahr genügte für Brockton. Für die 
Lizenzen war eine Stimmenmehrheit von 13 gewesen, jetzt kam 
eine Mehrheit von 2132 gegen Lizenzen. Sogleich gingen 

11 * 


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Abhandlungen. 


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auch die Verhaftungen herab und zwar für Trunkenheit auf 
455 und für tätliche Angriffe auf 66 für das Jahr. 

Aehnliche Zahlen kommen aus den Städten Salem und 
Waltham in Massachusetts: 

Salem: 1900. Lizenzen. Verhaftung, weg. Trunkenheit 729 

1901. Keine Lizenzen. „ „ „ 166 

Waltham: 1900. Lizenzen. „ „ „ 345 

Keine Lizenzen. „ ,, „ 88 

Hiernach könnte man geneigt sein, zu glauben, dass doch 
die Prohibition das Richtige gewesen sei, denn in allen drei 
Städten ging in den „trockenen Jahren“ ja alles besser. Da¬ 
gegen ist aber zu bemerken: dass, wo alle Jahr aufs Neue ab¬ 
gestimmt wird, nicht jene Apathie eintritt, die gar zu leicht 
Platz greift, wo ein für alle Mal die Prohibition Staatsgesetz 
ist und wo man nicht sicher ist, dass eine starke Majorität der 
besseren Bürger für die strenge Durchführung des Gesetzes 
ist. Es kommt da leicht vor, dass Schleichhandel und 
Schmuggel üppig wuchern. Hat dagegen die Abstinenzpartei 
in einem Wahlkampf gesiegt, so wird auch mit dem Schleich¬ 
handel und den geheimen Trinklokalen aufgeräumt und jeder 
Wahlkampf erneuert das Interesse an der Alkoholfrage. Und 
siegt einmal die Gegenpartei, so hat man sofort die schlagenden 
Beweise, dass man um der öffentlichen Ruhe und Sicherheit 
willen besser tut, keine Lizenzen auszugeben. 

Die „local Option“ hat ferner vor Prohibition das voraus; 
dass der Vorwurf der Heuchelei so gut wie wegfällt, dass die 
öffentliche Meinung weit leichter für- die Enthaltsamkeit ge¬ 
wonnen wird und dass es daher gelingt, an vielen Orten den 
Schleichhandel bis auf einen verschwindenden Rest zu ver¬ 
nichten. 

Fragt man nach der Stellung der Deutschen in den Ver¬ 
einigten Staaten zu der Alkoholfrage, so kann leider die Ant¬ 
wort keine andere sein, als dass unsere Landsleute drüben, so 
verschieden auch sonst ihre Meinungen sein mögen, in einem 
Punkte fast alle einig sind, nämlich dass das Bier dem Menschen 
zuträglich ist, so lange man es nicht „im Uebermass“ geniesst, 
dass es erheitert, stärkt, nährt, erquickt und dass die Bestre¬ 
bungen für Einschränkung der Bierproduktion und des Bier¬ 
verkaufs nichts weiter sind, als Produkte der Herrschsucht und 



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Stille, Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten. 


157 


Heuchelei der „Pfaffen“ im Bunde mit den „Weibern“, diesen 
Bundesgenossen gegen die persönliche Freiheit. Ja, die Phrase 
„persönliche Freiheit“ hat für den Deutsch-Amerikaner eine 
ganz bestimmte Bedeutung, nämlich die Freiheit, Bier zu trinken, 
besonders auch am Sonntag; und wo man der beliebten Redens¬ 
art von der persönlichen Freiheit in den Zeitungen begegnet, 
kann man sicher sein, es handelt sich um das „schäumende 
Nass“. 

Es ist nicht zu leugnen, dass ein grosser Teil der Ver¬ 
blendung der Deutschen ih Amerika in Bezug auf den Genuss 
der alkoholischen Getränke, besonders des Bieres, den dortigen 
deutschen Aerzten zur Last fällt. Von jeher haben sie ziem¬ 
lich einmütiglich das Bier gepriesen, und wurden nicht müde, 
die Lehre zu verbreiten, das Bier, das deutsche Bier, sei 
berufen, den abscheulichen amerikanischen Whiskey zu ver¬ 
drängen, es sei zugleich ein Nahrungsmittel, es sei, wie schon 
Liebig gesagt habe, flüssiges Brod. Ich kannte einen deutschen 
Arzt in St. Louis, der im Volk den Kosenamen „Bierdoktor“ 
hatte, der gern und oft Bier zur Stärkung verordnete und auch 
selbst dem schäumenden Becher gern zusprach, bis ihn eines 
Tages plötzlich ein Herzschlag hinraffte. Dass das vom Bier¬ 
trinken käme, wusste man in den 80er Jahren noch nicht; und 
die Kunde davon ist ja noch heute nicht weit gedrungen, am 
wenigsten weit unter den Deutschen in Amerika. 

Besucht man eine kleine oder mittelgrosse Stadt, wo die 
Bevölkerung vorwiegend anglo-amerikanisch ist, so findet man 
meist gar keine Trinklokale, wo alkoholische Getränke zu haben 
wären. Dafür treten verschiedene andere Dinge auf, die ganz 
oder beinahe fehlen, wo es Trinklokale in grösserer Anzahl 
gibt, und hierzu gehören besonders die Lesehallen. Diese Lese¬ 
hallen sind nicht bloss vorhanden, sondern werden auch fleissig 
benutzt; und wer diese Institute noch nicht kennt, wird sich 
wundern müssen über die Art der Zeitschriften, die da dem 
Publikum unentgeltlich geboten werden. Hierzu gehören nicht 
nur die technischen Wochenschriften, sondern auch die vor¬ 
trefflichen englischen und amerikanischen Wochen- und Monats¬ 
schriften allgemeineren Inhalts, wissenschaftlich, politisch etc. 
Man kann wohl allgemein sagen: Je mehr Trinklokale, desto 


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Abhandlungen. 


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weniger Lesehallen, und umgekehrt: Trinken und geistige In¬ 
teressen sind Gegenpole. 

In solchen amerikanischen Städten fehlt es nicht an 
sonstigen Unterhaltungen von mancherlei Art. Dem Fremden 
muss bei diesen Dingen, wenn er sie beobachtet, besonders 
auffallen, die Achtung, die überall den Frauen gezollt wird, 
der freundschaftliche, kameradschaftliche Verkehr der Geschlech¬ 
ter mit einander. Das Niedere und Gemeine fehlt, es ist eine 
Bevölkerung ohne Proletariat. 


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Gudden, Ueber verschiedene Formen des Alkoholismus etc. 


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Ueber verschiedene Formen des Alkoholismns, 
seine Folgen und Behandlung. 

Von Dr. C. Gudden, Pützchen-Bonn. 


Immer mehr hat sich die Ueberzeugung Bahn gebrochen, 
dass die Alkoholisten im engeren Sinn (I. Gruppe) entweder 
direkt psychisch krank oder in ihrem Zentralnervensystem krank¬ 
haft veranlagt sind. Auch die einfache Intoleranz rechnet man 
praktisch hierhin, da erfahrungsgemäss das alkoholische Gift 
bei einer Minderzahl der Menschen die eigentümliche Wirkung 
hat, schon in kleinsten Mengen den psychischen Gleichgewichts¬ 
zustand in einer Weise zu stören, dass die Betreffenden die 
Kontrolle über sich und ihre freie Willensbestimmung verlieren 
z. B. im Gegensatz zu den besten Vorsätzen vor Aufnahme 
besagter geringster Mengen nunmehr haltlos bis zum Rausch¬ 
zustand trinken. 

Alkoholisten im weiteren Sinne (II. Gruppe) kann man 
alle diejenigen nennen, die gewohnheitsmässig eine Alkohol¬ 
menge zu sich nehmen, durch welche die ursprüngliche Charakter¬ 
anlage eine, wenn auch noch so leichte Aenderung erleidet und 
die natürliche Stimmung beeinflusst wird; der Rauschzustand 
oder erhebliche andere Erscheinungen können völlig fehlen. 
Das Quantum, durch welches diese Bedingungen erfüllt werden, 
kann ausserordentlich verschieden sein. 

In eine III. Gruppe kann man zweckmässig die Alkohol¬ 
trinker (im Gegensatz zu Alkoholisten) zusammenfassen, die nur 
gelegentlich, aber in intensiver Weise sich mit Alkohol — etwa 


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Abhandlungen. 


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an Sonntagen oder bei festlichen Gelegenheiten, auch um 
momentanen Aerger hinunterzuspülen — vergiften, im übrigen 
absolut nüchtern leben, im Rausch aber sogar strafbare Hand¬ 
lungen begehen können. 

Endlich wäre derer zu gedenken (IV. Gruppe), die den 
Alkohol nicht regelmässig (es sind hier also ausdrück¬ 
lich die Gewohnheitstrinker, welche irrtümlicherweise 
glauben, mit dem Quantum Alkohol, das sie sich täglich ge¬ 
statten, die Grenzen des Bekömmlichen nicht zu überschreiten, 
ausgeschlossen) und in solch’ absolut geringen Quantitäten sowie 
in einer Form geniessen, welche eine Schädigung sowohl in 
psychischer wie in körperlicher Beziehung auch bei objektiver 
Beobachtung ausgeschlossen erscheinen lassen. 

Es ist nun von vornherein klar, dass mit Ausnahme der 
Letztgenannten die Zugehörigen jeder anderen Gruppe eine 
solche Schädigung erleiden und dass je nach der Intensität 
und Art der schlimmen Folgen Abwehrmassregeln, Behand¬ 
lung oder Aufklärung nötig werden. So sehr die Ursachen 
der verschiedenen Formen sich untereinander unterscheiden, so 
sicher ist es, dass ihre Bekämpfung keine gleichmässige sein 
kann. Die Fragestellung soll nun so lauten: Welche Mittel 
sind bei den einzelnen Kategorien unserer etwas schematischen 
Einteilung anzuwenden und welchen Erfolg haben sie? 

Wenden wir uns zuerst den Alkoholisten im engeren Sinne 
zu. Diese umfassen eine ganze Reihe verschiedener Krankheits¬ 
bilder; ich erinnere nur an die trinkenden Epileptiker, bez. 
manche epileptoide Formen psychischer Störung, viele moralisch 
Minderwertige, Neuropathologische; auch verschiedene Arten 
des periodischen Irrsinns gehören hierher; über diese werde 
ich mich etwas genauer aussprechen, da sie meinem Beruf am 
nächsten liegen. So verschieden diese Formen auch sein 
mögen, allen gemeinsam muss die Behandlungsart sein: Erziehung 
zu totaler Abstinenz. Wie wir von der Digitalis wissen, dass 
sie bei gewissen Arten der Herzschwäche das einzige Heilmittel 
ist, so wissen wir Aerzte von der Abstinenz, dass sie beim Alko¬ 
holismus allein zu helfen imstande ist, wenn überhaupt Hilfe 
möglich ist. Leider ist es aber auch eine Tatsache, dass in 
vielen Fällen gerade des sekundären Alkoholismus die Grund¬ 
krankheit oder Ursache die Anwendung des Heilmittels auf die 



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Gudden, Ueber verschiedene Formen des Alkobolismus etc. 


161 


Dauer unmöglich macht. Manche solcher Trinker suchen eine 
Anstalt auf, um nach Art vieler Morphinisten eine Kur durch¬ 
zumachen, die ihnen gestattet, mit kleinen Mengen wieder von 
vorne das alte Leben zu beginnen; andere folgen auf dem 
gleichen Wege dem Druck von Verwandten oder von unhaltbar 
gewordenen Verhältnissen. Diese Leute haben oft nicht einmal 
den festen Vorsatz vom Trinken zu lassen oder sie haben ihn, 
aber der Wille ist zu schwach — an ihnen ist meist jede ärzt¬ 
liche und andere Mühe verloren. Diese Misserfolge, die bei 
jeder anderen Krankheit auch Vorkommen, ändern aber nichts 
an der Richtigkeit der eingeschlagenen Therapie und dürfen 
auch die Streiter im Kampfe gegen den Alkoholmissbrauch 
nicht entmutigen. Es gibt eine Reihe der schönsten Erfolge, 
insbesondere bei den sogenannten Intoleranten, die durch die 
völlige Abstinenz geheilt werden und die ohne solche einfach 
verloren wären. Es ist für diese sehr zweckmässig sich in 
Anstalten zu begeben, wo sie in monatelangem Aufenthalt, ohne 
dass ihnen die Möglichkeit gegeben ist, rückfällig zu werden, 
sich bis zu völligem körperlichen Wohlbehagen durchringen. 

Der ärztlichen Tätigkeit bietet weiterhin ein reiches und 
dankbares Feld jener Zustand, den ich schon weiter oben be¬ 
rührt habe. Es handelt sich nicht um primäre Alkoholisten, 
wenn ich so sagen darf, sondern um psychische Krankheits¬ 
vorgänge, die durch den Alkohol ins Masslose gesteigert werden, 
die aber bei Durchführung der Abstinenz eine äusserst günstige 
Prognose bieten, da es sich meistens nicht um willensschwache 
Menschen handelt, vielmehr um solche, die intellektuell und 
gemütlich hochstehen können und ihren Lebensberuf zu Zeiten 
ganz erfüllen. Eine nicht geringe Anzahl von Individuen leidet 
nämlich an ziemlich regelmässigen periodischen Stimmungs¬ 
schwankungen, die bald in melancholischer Depression, bald in 
heiterer Erregung sich äussern. Während ein Kranker der letzten 
Kategorie in seinem gehobenen Gesundheitsgefühl und im Taten¬ 
drang oft ganz von selbst zum Konsum grösserer Alkoholmengen 
gelangt, das Trinken bei ihm sonach als eine Krankheitsäusserung 
zu betrachten ist, wird bei der melancholischen Verstimmung der 
Alkohol häufig als Heilmittel selbst gesucht — oder leider muss 
es gesagt werden — auch von Aerzten angeraten. Die Fälle, 
welche ich im Auge habe und auf die ich die Aufmerksamkeit 


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Abhandlungen. 


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weiterer Kreise lenken möchte, sind meist ganz leichte, aber 
oft längere Zeit anhaltende Verstimmungen, charakterisiert durch 
Unlust zur Arbeit, Mangel an Entschlussfähigkeit, Selbst¬ 
vertrauen und Initiative. Alle diese Symptome, insbesondere 
auch die fast nie fehlende Appetit- und Schlaflosigkeit werden 
nun zu häufig mit dem Alkohol bekämpft und die gedrückte 
Stimmung in eine künstlich gehobene überzuführen gesucht. 
Das Ende vom Liede ist, dass bei langer Dauer oder häufiger 
Wiederkehr, der Verstimmung der Kranke Alkoholist und unter 
Umständen Delirant wird. 

Der Vorgang erinnert lebhaft an die Tatsache, dass durch 
Bekämpfung, z. B. einer Ischias, jemand zum Morphionisten er¬ 
zogen wird, welcher sein Morphium weiter spritzt, wenn er 
schon längst keine Ischias mehr hat. Als einzige Ent¬ 
schuldigung dieser verkehrten Anwendung des Alkohols als 
Heilmittel kann nur die Unkenntnis seiner Schädlichkeit bei 
psychisch Kranken überhaupt gelten. Er ist eben in erster 
Linie ein Nervengift, dass bei schon bestehenden krankhaften 
Vorgängen im Hirn geradezu deletär wirkt und. in viel kürzerer 
Zeit, als es vielleicht sonst geschehen wäre, seine typischen 
Wirkungen äussert. Jeder erfahrene Arzt wird den Alkohol 
als Heilmittel bei psychisch Nervösen verpönen. Ist es erst, 
um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen, gelungen, 
solchen Alkoholisten die Ursache der Verschlimmerung ihres 
an sich vielleicht erträglichen Leidens nachzuweisen und sie 
zur Abstinenz zu bringen, dann verlaufen die Verstimmungs¬ 
perioden viel weniger unangehm, die Arbeitskraft hält sich auf 
einer gewissen Höhe, kurz alle Erscheinungen sind gemildert. 
Bei den leichten maniakalischen Erregungszuständen — wie 
dieselben auch bei den sogenannten Quartalstrinkern bisweilen 
Vorkommen — wirkt der Alkohol natürlich erst recht schädlich. 
Er lähmt den Rest des psychischen Hemmungsvermögens 
und der Patient wird nunmehr zu Handlungen hingerissen, die 
er wegen der Erregung an sich und ohne den Alkohol sicher 
nicht begangen hätte. Auch hier wirkt die Aufklärung und 
die absolute Abstinenz Wunder. 

Nun kommen wir zu der zweiten Gruppe, bei welcher 
schon viel erreicht wird durch die Erziehung zu strenger 
Massigkeit. Es wäre übrigens ein grosser Irrtum zu glauben, 


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Gudden, Ueber verschiedene Formen des Alkoholismus etc. 


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dass diese Gruppe unwichtiger sei, weil die schädlichen Folgen 
der Allgemeinheit weniger sichtbar sind. Gerade das Gegen¬ 
teil ist der Fall. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem 
Alkoholgenuss und den unter Umständen sehr schwer ins Ge¬ 
wicht fallenden Erscheinungen an den Menschen ist freilich 
nicht so leicht erkennbar. Welche Unsumme von Reizbarkeit, 
Nervosität, Unfriedfertigkeit, verminderter Arbeitskraft, mo¬ 
ralischer Laxheit aufgespeichert ist auf Konto des regelmässigen 
sog. massigen Alkoholgenusses, aber irrtümlicher Weise gesetzt 
wird auf Rechnung der Verhältnisse, der übertriebenen Anfor¬ 
derungen, der Missgunst und Ungerechtigkeit der Vorgesetzten, 
des Kampfes ums Dasein — das ist einfach unglaublich. Welche 
Unsumme unglücklichen Familienlebens aus diesem anscheinend 
so massigen Alkoholgenuss resultiert, kann nur der ermessen, 
der diesen Dingen auf den Grund geht und der aus der ver¬ 
änderten Sachlage nach Entwöhnung, bezw. auch Reduzierung 
des Alkoholgenusses die wahren Verhältnisse aufgedeckt sieht. 
Da heutzutage die Mehrzahl der Menschen, wenigstens in 
Deutschland besagtem „ massigen “ Genuss huldigt, werden die 
Bestrebungen der Mässigkeitsvereine hauptsächlich der All¬ 
gemeinheit zu gute kommen, zu der praktisch auch die 
III. Gruppe, auf welche ich jetzt nicht näher eingehen kann, 
zu rechnen ist, während die Abstinenzbewegung mehr den 
pathologischen Alkoholisten ihre Kräfte zu widmen haben wird. 
Man sollte wenigstens glauben, dass jeder vernünftige oder 
normale Mensch im Hinblick auf die feststehenden Tatsachen 
sein Herz, seine Nieren — und seine Psyche vor allem in zwie¬ 
facher Hinsicht prüft und das Mass des Genusses so enge 
fasst, dass er zur IV. Gruppe gerechnet werden kann. Es 
handelt sich eben immer und immer wieder darum, die Kenntnis 
von der Giftigkeit des Alkohols zum Gemeingut aller zu machen. 

Um jedem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich wohl 
betonen, dass die Durchführung der Abstinenz sicher das Beste 
wäre, was der Mensch sich selbst antun und was man ihm 
anraten kann unter allen Umständen, aber wie die Politik im 
allgemeinen „die Wissenschaft des Möglichen“ ist, so auch bei 
der Bewegung gegen den Alkohol. Man muss, um überhaupt 
etwas zu erreichen, mit weiser Vorsicht und unter Berücksich¬ 
tigung der menschlichen Eigentümlichkeiten und der tausend- 


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Abhandlungen. 

jährigen Gewohnheit Schritt vor Schritt Vorgehen. Was z. B. 
oft bei älteren Leuten zu erreichen nicht mehr möglich ist, das 
gelingt gerade durch jene selbst bei der heranwachsenden 
Generation, bei ihren eigenen Kindern. Gut raten ist leichter, 
als selbst danach handeln. Ein Hauptfaktor, die Macht des 
Beispiels, fehlt allerdings dann, aber man gewinnt Anhänger 
der Bewegung. Es scheint überhaupt, als ob der Weg, der 
zur Abstinenz führt, bei den Meisten seinen Ausgangspunkt 
von der wahren Massigkeit nimmt. Direkt zur Abstinenz müssen 
dagegen die Angehörigen der I. Gruppe geführt werden und 
gelingt dies nicht, müssten sie, sofern sie antisocial sind, ander 
weitig unschädlich gemacht werden. Wer übrigens glaubt, dass 
der Hauptschaden des übertriebenen oder des sogen, mässigen 
Alkoholgenusses nur die Trinker selbst trifft, so weit das Zentral¬ 
nervensystem in Betracht kommt und dass es also Sache des Ein¬ 
zelnen sei, die Verantwortung für die persönlichen Folgen zu 
tragen, der kennt nicht die unsäglich traurigen Folgen, welche die 
Nachkommenschaft in psychischer Beziehung oft zu erdulden 
hat. Lieber diesen wichtigen Punkt — Geistes- und Nervenkrank¬ 
heiten infolge erblicher Belastung durch Potatoren und sogen, 
mässige Trinker — wird sich Gelegenheit finden, später zu reden. 


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Hartmann, Ueber die Aufgabe der höheren Schule etc. 


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Ueber die Aufgabe der höheren Schule im 
nationalen Kampfe gegen den Alkoholismus. 

Von Dr. Martin Hartmann, 

Professor am K. Albert-Gymnasium zu Leipzig. 

(Aus einem am 6. April 1904 auf der Hauptversammlung des Sächs. Gymnasial¬ 
lehrervereins in Scbneeberg gehaltenen Vortrage („Die höhere Schule und die Ge¬ 
sundheitspflege“), welcher in extenso erschienen ist in „Neue Jahrbücher für 

Pädagogik“ 1904). 


Es ist besonders nötig, dass die Jugend der höheren Schulen über 
die Gefahren des Alkoholismus aufgeklärt werde, der ja für uns 
ein grosses soziales Problem ist, und man kann es unseren Behörden nur 
Dank wissen, dass sie neuerdings nachdrücklich darauf hingewiesen haben. 
Ich denke hier namentlich an den Erlass des preussischen Unterrichts¬ 
ministeriums vom 31. Januar 1902 und an die sächsische Generalver¬ 
ordnung vom 10. Mai desselben Jahres. Ist aber, möchte man hier 
fragen, den behördlichen Anregungen in dieser Frage, die H. Schiller 
in seiner Schrift »Die Schularztfrage« geradezu für fundamental erklärt, 
überall mit dem vollen Ernste nachgegangen worden, den die Schwere 
der Gefahr verlangt?*) Es wäre sehr von Interesse zu erfahren, welche 
Massnahmen die höheren Schulen im Sinne der genannten Erlasse er¬ 
griffen haben. Hat man z. B. seitdem eine regelmässige Belehrung über 
den Alkoholismus eingeführt? Hat man an vielen höheren Schulen das 
vom kaiserlichen Gesundheitsamte herausgegebene Alkoholmerkblatt ver¬ 
wertet? Sind die höheren Lehrer zahlreich, die seitdem den hochver¬ 
dienstlichen deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
durch Beitritt unterstützen, einen Verein, dessen Wirken in direktem 
Zusammenhänge steht mit den genannten Erlassen? Gibt es höhere 

*) Bei den Nürnberger Kongressverhandlungen wurde von einer Seite bemerkt, 
dass die Volksschnllehrer durchschnittlich ernster gegen den Alkoholismus kämpfen, 
als die vielfach an studentischen Trinksitten hängenden akademisch gebildeten Lehrer. 
Es wäre dringend erwünscht, dass man auf dem nächsten Kongresse für Schul¬ 
gesundheitspflege derartiges nicht mehr sagen könnte. 


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Abhandlungen. 


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Schulen, die die sog. Abiturientenkommerse ausdrücklich missbilligen 
und jede Teilnahme daran ablehnen? Hat man schon alkoholfreie 
Schulspaziergänge eingeführt, sei es auch nur für die unteren Klassen, 
um zunächst auf die jüngsten Generationen einzuwirken?*) Dass eine 
Massnahme wie die zuletzt genannte ausführbar ist, hat man an einzelnen 
Orten schon gezeigt, so in der deutschen Schweiz, so am Gymnasium 
von Rendsburg, wo Direktor Wallichs bei den Klassenausflügen im Sommer 
selbst von seinen Primanern spartanische Enthaltsamkeit forderte. Nie¬ 
mand, der die wirklichen Verhältnisse kennt, wird leugnen wollen, dass 
es hohe Zeit ist, nach der hier in Rede stehenden Seite etwas Wirk¬ 
sames zu tun. Das unmässige Trinken ist unter der Jugend unserer 
höheren Schulen, Gott sei es geklagt, noch immer weit verbreitet, und 
namentlich sind die im Verborgenen blühenden Schülerverbindungen ein 
Sitz dieses Uebels. Wer nicht weiss, wie es da zugeht, der lese ein¬ 
mal die einschlägige Schrift Pilgers, oder aus neuerer Zeit die den 
gleichen Gegenstand behandelnde Schrift des Münchener Nervenarztes 
Franz Schmidt; er wird erschrecken über das Bild roher, stumpf¬ 
sinniger Völlerei, das die Schüler da bieten, und über die verhängnis¬ 
vollen Folgen, die daraus hervorgehen. M i t der Form der Verbindung 
oder ohne sie, hier liegen in der Tat die Quellen des Versagens so 
mancher jungen Leute gegenüber den Anforderungen der Schule. Die 
Gymnasiasten tuen es leider den Studenten nach, deren Trinksitten 
zum Teil noch wahrhaft mittelalterliches Gepräge haben und oft wie 
eine Negation der höheren Geistesbildung erscheinen, die sie erlangt 
haben. Zahlreiche junge Leute zerrütten sich allmählich auf diesem 
Wege, oder verkümmern so, dass sie wie halbgebrochen erscheinen und 
im späteren Leben nicht entfernt das leisten, was sie nach dem ihnen 
anvertrauten Pfunde hätten leisten sollen. Freilich handelt es sich hier 
um eine Erscheinung, die mit einem nationalen Uebel zusammenhängt 
— Fürst Bismarck nannte es einmal den Diabolus germanicus —, die 
mit festgewurzelten Gewohnheiten verknüpft ist, die uns sogar im goldnen 
Schimmer der Poesie entgegentritt, und gegen die der Kampf daher 
überaus schwer ist. Aber gerade die höhere Schule, aus der die künftigen 
Führer des Volkes hervorgehen, sollte es für eine ernste Aufgabe halten, 
diesen Kampf mitzukämpfen, damit die Führer nicht einmal durch ihr 
eigenes Beispiel zu Verführern werden. Blosse Verbote helfen hier nichts, 
und selbst strenge Strafen für Ausschreitungen schlimmer Art, wie sie 
von Zeit zu Zeit unter der Wirkung des Alkohols verübt werden, können 
das Uebel nicht an der Wurzel fassen. Strafen sind notwendig, aber 
noch höher steht das Vorbeugen, und gerade die vorbeugende Tätigkeit 
sollte von der Schule mit vollem Ernste aufgenommen werden. Mit 


*) H. Schiller bemerkt einmal (Die Schularztfrage S. 28), dass es manche 
Lehrer gibt, die erhöhten Alkoholgenuss der Schüler bei Schulausflügen für etwas 
Selbstverständliches halten. Wenn dies wahr ist, würde daria ein neuer Beweis 
dafür liegen, dass die Kenntnis der Hygiene im höheren Lehrerstande noch wenig 
verbreitet ist. 



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Hartmann, Ueber die Aufgabe der höheren Schule etc. 


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moralischen Gründen allein ist dem Uebel nicht beizukommen. Besser 
sind schon gewisse indirekte Bekämpfungsmethoden, wie Ablenkung des 
Geselligkeitstriebes der Schüler auf gesunde und edle Gebiete, aber 
wirksam besonders ist die Bekämpfung vom Standpunkt der Hygiene 
aus, und auf dieser Basis kann sie jetzt ganz anders geführt werden 
als noch vor 20 Jahren, wo es eine Alkoholforschung kaum gab. Man 
weiss jetzt, dass der Alkohol nur scheinbar ein Stärkungsmittel und ein 
Wärmemittel ist, dass er die geistige Tätigkeit nur scheinbar und vorüber¬ 
gehend erhöht, in Wirklichkeit aber herabsetzt, dass er besonders ver¬ 
antwortlich ist für die Ueberhandnahme der Nervosität, dass er die 
Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Krankheiten vermindert, dass er 
namentlich prädisponiert für Tuberkulose und so im grossen und ganzen 
zur Verkürzung der Lebensdauer beiträgt. Geben nicht die grossen 
englischen Lebensversicherungen allen Abstinenten einen Prämienrabatt von 
ungefähr 10 %} Und anderseits weiss man jetzt, welch unheimliche 
Zusammenhänge bestehen zwischen Alkohol und Verbrechen, zwischen 
Alkohol und Geisteskrankheit. Gefängnisse, Zuchthäuser .und Irrenhäuser 
füllen sich immer von Neuem unter der Wirkung der so weit verbreiteten 
Unmässigkeit im Trinken. An solchen Tatsachen darf die höhere 
Schule nicht Vorbeigehen, wenn anders sie nicht bloss unterrichten will, 
sondern auch erziehen. Und namentlich seitdem die Wissenschaft auf 
Grund der epochemachenden Untersuchungen Demmes (1890) die ver¬ 
hängnisvolle Wirkung des Alkohols auf den jugendlichen Organismus genau 
festgestellt hat, Untersuchungen, die durch Aerzte der verschiedensten 
Länder wiederholt und bestätigt worden sind, seitdem die Wissenschaft 
den Nachweis geliefert hat, dass Alkohol für den jugendlichen Körper 
bis zum Alter von etwa 16 Jahren unbedingt schädlich ist, kann und 
darf es auch die höhere Schule nicht ablehnen, die richtigen praktischen 
Folgerungen aus diesen Feststellungen zu ziehen, und muss in ihrem 
eigenen Interesse wie in dem ihrer Schüler durch Belehrung auf diese 
ein wirken, um körperlicher, geistiger und sittlicher Verkümmerung oder 
gar Entartung rechtzeitig vorzubeugen.*) 

Wenn auf diesem Gebiete wie anderwärts die Lehrer aller Fächer 
es in der Hand haben, die Schüler zu belehren und im Sinne ver- 

*) Diejenigen Amtsgenossen, die an den bittem Ernst der hier behandelten 
Frage noch nicht glauben, die jüngeren Herren besonders, die noch im Banne 
studentischer Auffassung stehen, und meinen, mit Scherzworten darüber hinwegzu¬ 
kommen, seien angelegentlichst auf eine Studie verwiesen, die der Kgl. Oberarzt 
Dr. Georg Ilberg unter dem Titel: „Soziale Psychiatrie“ veröffentlicht hat, in der 
Monatsschrift für soziale Medizin S. 321 —335 (1904). Auf Grund einer reichen 
psychiatrischen Beobachtung schreibt der Verfassei u. a. S. 326: „In allen Kreisen 
sollte sich die Anschauung immer mehr einbürgern, dass es etwas unanständiges ist, 
viel zu trinken oder sich gar zu betrinken. Wieviel Notstand würde vermieden, 
wieviel venerische Krankheiten kämen in Wegfall, wieviel Uebertretungen, Vergehen 
oder Verbrechen namentlich auch Sittlichkeitsdelikte blieben unausgeführt, wenn die 
Mahnungen zur Mässigkeit beherzigt würden. — Wahrhaftig, die menschenfreund¬ 
lichen Bestrebungen der Antialkoholisten verdienen, sollten sie auch manchmal über 
das Ziel hinausschiessen, namentlich auch vom Standpunkte der sozialen Psychiatrie 
allseitige Anerkennung und uneingeschränkte Förderung“. 


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Abhandlungen. 


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nünftiger Gewöhnung zu beeinflussen, so fliesst doch die Quelle hygienischer 
Belehrung überhaupt besonders reichlich in den naturwissenschaftlichen 
Fächern, Botanik, Zoologie, Anthropologie, Chemie und Physik und ihre 
Lehrer könnten unter diesem Gesichtspunkte ganz besonders segensreich 
wirken. Bei der hergebrachten Stoffwahl könnte man vielleicht auf 
manches verzichten, was oft nur der Vollständigkeit halber vorgebracht 
wird, um bald wieder der Vergessenheit anheimzufallen, und dafür be¬ 
sonders die zahlreichen Momente betonen, die eine hygienische Bedeutung 
haben und geradezu zum Wohlbefinden, zum Lebensglücke der Menschen 
beitragen. Wie das im einzelnen auszuführen wäre, ist nicht meines 
Amtes hier darzulegen; ich verweise hier besonders auf die bei B. G. Teubner 
erschienene Schrift von Trzoska: Der Unterricht in der Gesundheitslehre 
auf den höheren Lehranstalten. Den Eindruck hat man bei der Lektüre 
dieses Schtiftchens, dass eine hygienische Zuspitzung des naturwissen¬ 
schaftlichen Unterrichts ganz gewiss auf das Interesse unserer Jugend 
rechnen könnte. 

Endlich liesse sich eine weitere Hilfe bei der Erziehung unserer 
Jugend zu hygienischer Einsicht gewinnen durch die Aufnahme geeig¬ 
neter Texte in deutsche und fremdsprachliche Lesebücher, die in den 
Unterrichtsstunden zum Gegenstände der Besprechung und Erläuterung 
gemacht werden könnten.*) Soweit solche Texte noch nicht vorhanden 
sein sollten, so müssen sie geschrieben werden, am besten durch Hygi¬ 
eniker, die die Gabe klarer und geschmackvoller Darstellung besitzen. 
Die Sache ist wichtig genug, um sie einmal zum Gegenstände eines 
Preisausschreibens zu machen. Auch in die Schülerbibliotheken wären 
geeignete Schriften populärwissenschaftlichen Inhalts aufzunehmen, nament¬ 
lich auch solche über den Alkoholismus, und die Schüler zum Lesen 
derselben anzuregen. 

Dass bei dieser Erziehungsfrage nicht bloss die Schule in Betracht 
kommt, sondern dass hier auch das Haus ein schwerwiegender Faktor 
ist, bedarf kaum der näheren Ausführung. Man sollte nur endlich auf¬ 
hören, kurzerhand zu erklären: Die Sorge für die Gesundheit der Schüler 
ist Sache des Hauses, und das Haus muss daher vor allem seine Ge¬ 
wohnheiten reformieren. Ein solcher Verzicht entspricht keinesfalls der 
Wichtigkeit der Gesundheitsfrage, an der der Staat ein grosses Interesse 
hat, bei der die ganze Zukunft unseres Volkes in Frage steht, und über¬ 
sieht auch den Umstand, dass das Haus, wie man richtig gesagt hat, 
tatsächlich aus fast ebenso vielen einzelnen Häusern besteht, als Schüler 
vorhanden sind, während die Schule ein konzentrierter Organismus ist, 
der eben deshalb eine starke Wirkung ausüben kann, wenn er nur will. 
Dieses Verhältnis sollte nach Kräften benutzt werden, und das kann 
wohl geschehen, wenn der Leiter der Schule durch den Umfang der 
ihm zugewiesenen Geschäfte nicht überlastet ist. So sollten z. B. die 
Pensionen auswärtiger Schüler einer hygienischen Beaufsichtigung unter- 

*) Vgl. den Aufsatz „Alkohol“ in Meier u. Assmanns Englischem Lesebuch, 
Oberstufe, S. 190—195. 



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Hartmann, Ueber die Aufgabe der höheren Schule etc. 


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zogen werden, und nur solche Pensionen sollten genehmigt werden, deren 
Inhaber ein gewisses Mass von Verpflichtungen auf sich nehmen. Man 
könnte sich denken, dass der Leiter der Schule die Pensionsinhaber 
von Zeit zu Zeit zu freien Besprechungen einlüde und dabei in geeig¬ 
neter Weise auf sie ein wirkte. Vor allem aber müsste nichts unversucht 
gelassen werden, um die Eltern der Schüler zu gemeinsamer einheitlicher 
Arbeit in ernsten Fragen zu gewinnen, so z. B. in der Alkoholfrage, auf 
die man immer wieder zurückkommen muss, weil sie zu wichtig ist für 
die Zukunft unseres Volkes. Um hier etwas ganz Praktisches anzugeben, 
möchte ich auf die reiche populäre Flugschriftenlitteratur hinweisen, die 
die deutsche Mässigkeitsbewegung gezeitigt hat, kleine billige Blätter* 
die in gedrängter Form die gesicherten Ergebnisse der Alkoholforschung 
mitteilen, so z. B. das von Dr. Bode herausgegebene Flugblatt: Warum 
wir unsern Kindern keinen Wein und kein Bier geben (8 S. io Pf.). 
Dies Flugblatt sollte einmal von Schulwegen an die Eltern aller neu- 
aufgenommenen Sextaner verschickt werden, mit einem gedruckten Be¬ 
gleitschreiben des Rektors, worin die Eltern um ihrer Liebe zu den 
Kindern willen dringend ersucht werden, das Flugblatt zu lesen und 
ihren Kindern gegenüber darnach zu handeln. Mancher von dem so 
ausgestreuten Samen würde gewiss auf fruchtbaren Boden fallen und 
zur Bewahrung unserer heranwachsenden Jugend dienen. Man beachte 
wohl, dass die schwerste Arbeit im Kampfe gegen die Alkoholseuche 
getan wäre, wenn es gelänge, die Kinder bis etwa zum 16. Jahre von 
der Ansteckung ganz frei zu erhalten. Der Alkoholismus ist 
eine Giftpflanze, die man nicht dadurch beseitigt, dass 
man ihre Blütenkrone abschlägt, sondern derenWurzeln 
man ausroden muss, und das geschieht, wenn man i m 
Kindesalter a n f ä n g t. 


Uie Alkohol frage. 


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Abhandlungen. 


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Deber den Alkoholismas in Frankreich. 

Von J, Marcuse, Mannheim. 


Sehr interessante Mitteilungen über Alkoholismus und Alkoholver¬ 
breitung in Frankreich, die besonders die wirtschaftliche und sozial-ökono¬ 
mische Bedeutung des Alkohols würdigen, macht Dr. Schober im Aprilheft 
der »Heilkunde«. Danach verbraucht jeder Franzose jährlich im Durch¬ 
schnitt 18,2 1 . Alkohol, während in dem Frankreich in dieser Hinsicht 
am nächsten folgenden Lande in der Schweiz nur 13,5 1 . auf den Ein¬ 
wohner kommen, in Italien sind 10,2 1 ., in Deutschland 9,3, in England 
8,9, in den Vereinigten Staaten 5,2, in Schweden und Norwegen 2,6 die 
entsprechenden Quantitäten. Während in den letzten 50 Jahren die 
Einwohnerzahl in Frankreich sich nur im Verhältnis von 100:112 ver¬ 
mehrt hat, ist im gleichen Zeitraum der Alkoholkonsum im Verhältnis 
von 100:355 gestiegen. An weiteren unerbaulichen Enthüllungen er¬ 
gibt die Statistik, dass die Tuberkulose, die Geistes- und Nerven¬ 
krankheiten in den letzten Jahrzehnten sehr zugenommen haben, dass 
das Kontingent der zum Militärdienst brauchbaren jungen Männer stetig 
abnimmt, und dass die Preise von Brot und Fleisch in fortwährendem 
Ansteigen sind, während dagegen der Wein bedeutend billiger ge¬ 
worden ist. 

Diese Verbilligung des Weines ist zudem künstlich durch ein 
Gesetz erzeugt worden. Einerseits wohl, um dem Schnapsmissbrauch 
entgegenzuarbeiten, andererseits aber auch aus Parteiinteresse einer von 
den weinbauenden Departements beeinflussten Kammermajorität ist vor 
wenigen Jahren ein Gesetz geschaffen worden, welches den Wein als 
»Boisson hygienique« von der Staatssteuer entlastet und gleichzeitig alle 
auf dem Wein liegenden Gemeindesteuern aufhebt. In Paris z. B. hatte 
man für den Wein, gleichgiltig, welcher Preislage er angehörte, 20 Cent. 
Stadtabgabe für den Liter zu zahlen. Die Abschaffung dieser Steuer 
machte nun allerdings für die teuren Weine nur wenig aus, umsomehr 
aber für die billigen. Der Weinmissbrauch, der früher ein Vorzug der 
Begüterten war, ist nun durch jenes Gesetz mehr zum Gemeingut der 
Nation geworden. Die Mindereinnahmen der Gemeinden infolge des 



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Marcuse, lieber den Alkoholismus in Frankreich. 


171 


Wegfalls der Steuern auf den Wein mussten, wie in jenem Gesetz vor¬ 
gesehen war, nicht etwa durch eine Erhöhung der Abgaben für Brannt¬ 
wein und Liköre, sondern durch eine Steigerung der kommunalen 
Gewerbe- und Wohnsteuern gedeckt werden. Die Kosten für Miete und 
Nahrungsmittel gingen darauf als Rückschlag der Steuerentlastung des 
Weines in die Höhe. Neben dem Weine wurde auch gleichzeitig das 
Bier durch das schon erwähnte Gesetz als ein hygienisches Getränk be¬ 
zeichnet und der Kommunalsteuern entlastet. Für die Alkoholbilanz 
Frankreichs machte dies jedoch nicht viel aus, denn hier ist bis heute 
noch im grossen Gegensatz zu Deutschland der Bieralkoholismus eine 
unbekannte Grösse. 

Um so schlimmer aber steht es mit dem Schnapsalkoholismus. 
Eine grosse Schuld, daran trägt der Staat selbst durch das verhängnis¬ 
volle Privileg der bouilleurs de cru und durch die allgemeine Schank¬ 
steuer. Seit Jahrzehnten werden Gesetzesvorschläge dagegen fast all¬ 
jährlich eingereicht, da aber die bouilleurs de cru sehr einflussreiche und 
die Schankwirte sehr zahlreiche Wähler darstellen, so ist es sehr schwer, 
unter den Volksvertretern eine jenen Vorschlägen günstige Majorität 
zusammenzubringen. Das Privileg des bouilleurs de cru besteht darin, 
dass die meisten ziemlich unreinen Branntweine, die in ländlichen Be¬ 
trieben aus Obst, Kartoffeln, Trebern usw. zur eigenen Verwertung her¬ 
gestellt werden, frei von jeder Abgabe sind, während auf dem industriell 
erzeugten Alkohol eine Staatssteuer von 2,20 Frcs. für den Hektoliter 
erhoben wird. Die Landwirte geben nun ihren Arbeitern teilweise an 
Stelle von Zahlung ihren Selbstgebrannten Schnaps ab. Bisweilen wird 
auch dieser Schnaps für Ware, besonders der Fischer-Bevölkerung gegen¬ 
über, abgegeben und so immer weitere Kreise mit diesem billigen, un¬ 
reinen und schädlichen, dem Produzenten reichen Gewinn bringenden 
Schnaps durchtränkt. Seine Produktion hat sich in den letzten 
20 Jahren nach Daremberg, ums 20 fache gesteigert. Allerdings hat sich 
auch der Verbrauch der feineren Schnäpse, der sogenannten Liköre, ge¬ 
steigert, wenn auch entfernt nicht in gleichem Masse. Unter denselben 
erfreut sich in Frankreich der Absinth der grössten Beliebtheit und 
merkwürdigerweise enthält gerade er unter allen Likören am meisten 
toxische Essenzen und Alkaloide. Nach dem eben erwähnten Autor hat 
sich sein Konsum in Frankreich in den letzten 15 Jahren vervierfacht. 
Wie schon erwähnt, besteht daselbst volle Schankfreiheit. Jeder Mann 
darf, wo er will, eine Trinkstube auftun und sie führen, solange er eben 
seine Gewerbesteuer zahlt. Es ist auf diese Weise in Frankreich so 
weit gekommen, dass auf 83 Einwohner, Frauen und Kinder eingerechnet, 
eine Alkoholschankstelle kommt. Trotz diesen erschrecklichen Fest¬ 
stellungen hat sich der Staat noch immer nicht bemüssigt gefunden, 
energisch gegen den Alkoholismus vorzugehen, der so sehr zur Auf¬ 
besserung seiner Finanzen beiträgt, und überlässt es der privaten Ini¬ 
tiative, deren Mittel natürlich nur äusserst beschränkte sind, den Kampf 
gegen die Alkoholverseuchung zu führen. 


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Abhandlungen. 


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Der fünfte schweizer. Abstinententag in Bern 

am 12. Juni 1904. 


Am Abend des n. Juni hatte sich die schweizerische Bundesstadt 
Bern in ein festliches Gewand gekleidet und am Sonntag früh verkündete 
ein Choral die Weihe des Tages. Aus den verschiedensten Teilen der 
Schweiz waren an diesem Sonntag abstinente Männer und Frauen nach 
der Bundesstadt gekommen, um in friedlicher Vereinigung öffentliches 
Zeugnis von ihren Bestrebungen zur Bekämpfung des Alkoholismus 
abzulegen und sich mit neuem Mut für ihr gemeinschaftliches Wirken 
zu erfüllen. 

Die Versammlungen wurden in der Heiliggeistkirche in Bern ab¬ 
gehalten und behandelten am Vormittag die sogenannte Lokaloption, 
welche zum ersten Mal vom Nationalrat Prof. Dr. Hilty vor den eid¬ 
genössischen Räten in Vorschlag gebracht worden war. Der am 12. De¬ 
zember 1899 gestellte Antrag, das sog. Alkoholpostulat Hilty, lautete 
wörtlich folgendermassen: »Der Bundesrat wird ersucht, in Erwägung zu 
ziehen, ob nicht eine Revision des Art. 31 der Bundes-Verfügung in 
dem Sinne vorzugsweise anzubahnen sei, dass es jedem Kanton und 
jeder Gemeinde gestattet sei, für seine resp. ihre Bezirke Mass- 
regeln gegen den Alkoholismus eintreten zu lassen, ohne durch den 
Grundsatz der Gewerbefreiheit daran gehindert zu sein.« 

Dieses Postulat wurde von der schweizerischen Bundesversammlung 
nicht angenommen und das am 12. Juni d. J. auf dem fünften schweize¬ 
rischen Abstinententag in Bern von Prof. F o r e 1 erstattete Referat war 
wieder ein kräftiger Vorstoss. Unser Berner Korrespondent schreibt über 
den Eindruck von Forels Rede: »Herr Forel hat eine grosse Praxis 
und ist ein streitkräftiger Mann, aber auch seine Gegner können ihm 
die Gedankenschärfe der Beweisführung, wie den auch auf Unentschlossene 
lascinierend wirkenden Entrain und Elan des Umsetzens vom Wort in 
Tat nicht ableugnen. Von selbst kommt kein Fortschritt. Er braucht 
energische Vorkämpfer Oderint dum metuant Mögen sie hassen, 
wenn sie nur fürchten! : 


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Der fünfte schweizerische Abstinententag in Bern. 


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Ford begann seine Rede mit der Frage: Was wollen wir Ab¬ 
stinenten in der Schweiz? Seit 27 Jahren arbeitet das blaue Kreuz und 
seit bald iS Jahren die eigentliche Abstinenzbewegung. Ersteres hat 
sich die schöne und verdienstvolle Aufgabe gestellt, Trinker zu retten, 
darin hat es anerkannt Grosses geleistet. Doch heute entstehen ebenso 
viele neue Trinker wie vor 27 Jahren. Die Aufgabe der eigentlichen 
Abstinenzbewegung war von Anfang an eine andere. Wir wollen die 
Quelle des Uebels verstopfen. Wir wollen unser Vaterland von der 
Knechtschaft des Alkohols befreien. Wir wollen nicht nur die grossen 
Auswüchse, nicht nur die schlimmsten Formen des Alkoholismus be¬ 
kämpfen und die Leiden ihrer Opfer lindern, sondern die grösste Ur¬ 
sache der geistigen und körperlichen Entartung unseres Volkes in ihren 
Wurzeln selbst vernichten, indem wir unsere Mitbürger von der Alkohol¬ 
trinksitte abbringen.« .... 

Forel ging dann auf die Frage über, ob die Abstinenten der 
Schweiz in den letzten 18 Jahren ihre Pflicht getan und etwas erreicht 
hätten und er antwortete: »dass man auf die öffentliche Meinung ge¬ 
wirkt und viele Vorurteile beseitigt habe, dass die Abstinenz heute 
ganz anders dastehe, als vor zwei Dezennien, dass der Trinkzwang an 
vielen Orten wenigstens gebrochen sei, dass aber die Sache doch furcht¬ 
bar langsam vorwärts schreite und dass dies besonders an der Rück¬ 
sichtslosigkeit der schnöden Ausbeutung des Volkes durch das Alkohol¬ 
kapital liege und daran, dass man noch viel zu zahm den Trinksitten 
gegenüber und in der Propaganda noch viel zu opportunistisch und 
bequem sei und sich noch gar nicht ernstlich um die Alkoholpolitik 
gekümmert habe. Nach einer scharfen Kritik der staatlichen schweize¬ 
rischen Alkoholpolitik und ihrer sehr bureaukratisch-konservativen 
Richtung kam Forel auf die Institution der Lokal-Option, welche er als 
»eine Frucht der demokratischen Selbständigkeit der Gemeinden in den 
englischen Kolonieen und speziell in Nordamerika« in ein helles Licht 
stellte. »Was ist Lokal-Option? Sie besteht in dem Rechte der Mehr¬ 
heit der erwachsenen mündigen, männlichen und weiblichen Bürger einer 
Gemeinde, auf dem Gebiete derselben den Handel, den Verkauf und 
die Fabrikation alkoholischer Getränke zu verbieten. Man hat daher die 
Lokal-Option auch Lokal-Veto-Recht genannt.« Forel’s weitere kräftige 
Rede schloss mit der Parole, dass die schweizerischen Abstinenten ein 
Volksaufklärungsprogramm aufstellen sollen, an dessen Spitze die Lokal- 
Option, das Lokal-Veto stehen müsse. — Auch der zweite Referent, 
Dr. R. Hercord aus Lausanne ging nach einer allgemeinen Erörterung des 
so komplexen Problems des Alkoholismus auf die Lokal-Option spezieller 
ein und bewies an der Hand von statistischem Material, dass besonders 
in den skandinavischen Staaten und in Finnland, die das Vetorecht 
ihrer Gemeinden eingeführt haben, in volkswirtschaftlicher Hinsicht über¬ 
raschende Erfolge erzielt worden seien. Die Armenlast nehme enorm 
ab und daraus hervorgehend auch die Steueransätze. Die staatliche und 
private Wohlhabenheit ermögliche für alle Bürger gleichwertige Bildungs- 


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Abhandlungen. 


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Gelegenheiten, überhaupt einen einigermassen sozialen Ausgleich. Am 
Schlüsse dieses Referates wurde folgende Resolution gefasst: 

»Die am 12. Juni 1904 in Bern versammelten schweizerischen 
Abstinenten sprechen Herrn Nationalrat Prof. Hilty, der als erster, die 
Frage der Lokal-Option vor den eidgenössischen Räten gestellt hat, 
ihren herzlichsten Dank aus. In der Lokal-Option sehen dieselben eine 
wahrhaft demokratische Institution, deren praktische Wirksamkeit im 
Kampfe gegen den Alkoholgenuss sich überall bewährt hat. Sie er¬ 
suchen den hohen schweizerischen Bundesrat, bei den Vorarbeiten für 
eine Erhebung über die antialkoholische Gesetzgebung, mit welcher er 
von der Bundesversammlung im Jahre 1900 betraut worden ist, der 
Lokal-Option spezielle und eingehende Aufmerksamkeit zu schenken. 

Ohne ihr Interesse von anderen Massregeln und Bestrebungen 
irgendwie abzuwenden, und indem sie ihren Feldzug zugunsten der 
Alkoholenthaltsamkeit energisch fortsetzen, verpflichten sie sich, alle ihre 
Kräfte sowohl durch individuelle wie durch gemeinsame Propaganda 
aufzubieten, um nach und nach die Verwirklichung dieser wichtigen 
Reform vorzubereiten.« 

Die Verhandlungen am Nachmittage des fünften schweizerischen Ab¬ 
stinententages betrafen die Aufgaben der Schule in der Bekämp¬ 
fung des Alkoholismus, worüber die Lehrer Dr. H u g i aus Burgdorf, 
Heymann aus Malleray, Tröschmann aus Münsingen und Frauchinger 
aus Bern berichteten. Die Referenten fassten ihre Wünsche und 
Forderungen in folgender, einstimmig angenommenen Resolution zu¬ 
sammen: »Die Lehrer dürfen in keiner Weise den Alkoholgenuss bei 
den Kindern fördern. Auf den Ober- und Mittelschulen soll anti¬ 
alkoholischer Unterricht erteilt werden. Die Lehrer sollen auf den 
Seminarien für die Erteilung antialkoholischen Unterrichtes präpariert 
und examiniert werden. Von den Behörden wird auf diesem Gebiete 
der Jugenderziehung energische und tatkräftig materielle LTnterstützung 
erwartet.« 

Wir erwähnen noch, dass Prof. Hilty beim Mittagsessen, von der 
Versammlung enthusiastisch begrüsst, in einer geistvollen Ansprache als 
die drei Hauptgegner der Abstinenz »die öffentliche Gleichgültigkeit 
und Blindheit offenen Tatsachen gegenüber, ferner die Interessengruppen 
und endlich die Sorgen und Kümmernisse des Lebens« bezeichnete, 
welche letztere besonders die unbemittelten Klassen dem Alkohol in 
die Arme treiben. Man müsse gegenüber diesen Mächten eine sittlich - 
religiöse Regeneration des Volkes anstreben und ein offenes Herz und 
wo nötig, eine offene Hand für die sozialen Bedürfnisse des Volkes 
bereit halten. Die Gesetzgebung müsse dabei zu Hilfe kommen. Am 
Schlüsse brachte Prof. Hilty ein kräftiges Hoch auf den Sieg des 
wahrhaft Guten und Schönen in der Eidgenossenschaft aus! 



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Das Blaue Kreuz und die Bekämpfung des Alkoholismus. 


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Das Blaue Kreuz und die Bekämpfung des Alkoholismus. 

(Zur Berichtigung.) 


Im i. Heft dieser Zeitschrift (S. 47 ff.) ist Herrn Dr. A. Emming- 
haus-Gotha in seinem sonst so klar und warm geschriebenen Aufsatz 
»Die Bekämpfung des Alkoholismus auf verschiedenen Wegen« ein Ver¬ 
sehen mit untergelaufen. Er erkennt zwar ausdrücklich die segens¬ 
reiche Tätigkeit der Blaukreuzvereine an und will ihre religiöse Be¬ 
geisterung nicht als Fanatismus bezeichnet wissen, meint aber dann doch, 
es sei eine »Uebertreibung«, »wenn das Blaue Kreuz die Trunksucht 
fast als die Wurzel alles Uebels in der Welt betrachtet und eine ge¬ 
lungene Heilung von der Trunksucht immer als einen Glaubenssieg ansieht.« 

Der verehrte Herr Verfasser hätte recht, wenn — es so wäre. 
Aber diese seine Charakterisierung ist tatsächlich irrig. Ein einzelner 
Blaukreuzler mag hie und da einmal — wie das in allen Lagern und 
Parteien geschieht — in Wort und Schrift »über die Schnur gehauen« 
haben, das Blaue Kreuz als solches und als Ganzes hat weder das eine 
noch das andere je behauptet. Wenigstens wäre ich auf Beweise dafür 
gespannt. Im Gegenteil: gerade als evangelische Christen 
sind wir Blaukreuzler 1. scharfsichtig genug, um neben und ausser 
der Trunksucht noch eine Menge anderer »Wurzeln alles Uebels« in 
der Welt zu erkennen und ihr Vorhandensein zu beklagen und zu be¬ 
kämpfen ; 2. sind wir weitherzig genug, um gerne anzuerkennen, 
dass es auch ohne religiöse Beeinflussung und Erneuerung »gelungene 
Heilungen von der Trunksucht« gibt. Was wir aber behaupten — und 
das allerdings mit Entschiedenheit —, ist dies, dass solche Heilungen 
eine umso grössere Bürgschaft der Dauer und Tiefe 
in sich tragen, je mehr sie mit der bewussten Hin kehr zu dem 
lebendigen Gott verbunden oder ihr entsprungen sind. Und 
darum bleibt allerdings unsere Losung dem Trinker gegenüber: Abstinenz 
und Evangelium! — 

Möge Herr Dr. E. meine Entgegnung nicht als durch' Oppositionslust 
oder dergleichen hervorgerufen ansehen, sondern nur durch den Wunsch, ein 
Missverständnis aufzuklären, das nur zu oft begegnet: als wenn die 


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Abhandlungen. 


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religiöse Bekämpfung des Alkoholismus ihre Vertreter s. z. s. mit Scheu¬ 
klappen versehen, die sie gegen andere Notstände und gegen andere 
Kampfmittel wider den Alkoholismus blind mache. Wie des Herrn Verf. 
sonstige Ausführungen, so unterschreibe ich insonderheit deren Schluss¬ 
satz von ganzem Herzen. 

Pastor prim. H. Josephson, 

2. .Vors, des Blaukreuzvereins-Bremeu u. stellv. Yurs. des 
Bremer Bezirksvereins d. „D. V. g. d. M. g. G. M 


Die vorstehende Berichtigung einer Ansicht, die ich aus zwei Vor¬ 
trägen begeisterter Anhänger des Blaukreuzes, die wohl auch Beamte des 
Vereins waren, gewinnen musste, begrüsse ich mit Dank. 

Wenn, wie medizinisch wohl festgestellt ist, die Trunksucht als 
eine Krankheit angesehen werden muss, sollte man meinen, die Heilung, 
auch für die Dauer, sei am besten auf ärztlichem Wege, wenn auch 
selbstverständlich in erster Linie durch Zwang zur völligen Enthaltsam¬ 
keit und Gewöhnung an solche, zu erreichen. Dass Kranke der Seel¬ 
sorge vorzugsweise bedürfen, ist mir nicht fremd. Aber ich hege gelinde 
Zweifel, ob diese Kranken seelsorglicher Einwirkung aufrichtig und ohne 
jede Heuchelei ihre Herzen zu erschliessen vermögen so lange sie krank 
sind. Sind sie genesen, so wird ihnen die richtige seelsorgerische Ein¬ 
wirkung so nötig und so segensreich sein wie solchen, die nie krank 
waren und brauchen sie wohl eine besonders geartete seelische Einwirkung 
nicht. Indes hierüber lasse ich gern die Erfahrung entscheiden und der 
Herr Verfasser gebietet über eine reiche gewiss ermutigende Erfahrung. 
Dass ich mich solcher Erfahrungen und des friedlichen Zusammenwirkens 
aller Gegner des gemeinsamen Feindes, die es ehrlich meinen, herzlich 
freue, habe ich schon bekundet. 

Gotha, Juni 1904. Dr. A. Emminghaus. 


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Eine Untersuchung der Alkoholfrage 

auf Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame. 
Von Prof. Dr. Victor Böhmert. 


Die Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsfrage, welche im engsten 
Zusammenhänge mit der Sittlichkeitsfrage steht, muss von immer neuen 
Gesichtspunkten aus unter Anwendung der verschiedensten Methoden 
untersucht werden. Es ist bereits im Heft i unserer Vierteljahrsschrift 
2 Die Alkoholfrage betont worden, dass es zur Untersuchung der Wirkungen 
des Alkohols auf den menschlichen Organismus einer grossen Summe von 
Beobachtungen, Erfahrungen und Experimenten bedarf. Am wichtigsten 
sind Experimente am eigenen menschlichen Körper und persönliche Er¬ 
fahrungen zuverlässiger Personen aus verschiedenen Ländern, Berufszweigen 
und Altersstufen mit verschiedenen Lebensschicksalen. Solche persön¬ 
liche Erfahrungen müssen mit Hilfe der Methode der beschreibenden 
Statistik durch ein gleichmässiges Fragenformular erhoben und übersicht¬ 
lich geordnet dem Publikum zur eigenen Prüfung und Vergleichung vor¬ 
gelegt werden. Das von uns entworfene Fragenformular, welches ursprünglich 
nur 12 Fragen enthielt, ist infolge von Anregungen aus der Leserwelt noch 
durch einige Fragen vermehrt und bereits von zahlreichen Freunden der 
Antialkohol-Bewegung, die sich entweder zur Abstinenz oder auch nur 
zur Mässigkeit bekennen, ausgefüllt worden. Die Redaktion ist dadurch 
in regen geistigen Verkehr mit zahlreichen Fachmännern und Gesinnungs¬ 
genossen gekommen und in den Stand gesetzt, den Lesern dieser Zeit¬ 
schrift auf Grund von Massenerfahrungen wertvolle positive Beiträge zur 
exakten Lösung der Alkoholfrage vorzulegen. Die von uns angeregte 
Untersuchung wird nicht nur von namhaften Physiologen, Aerzten, Volks¬ 
wirten und Verwaltungsmännern, sondern auch von Lehrern, Gross¬ 
industriellen und Arbeitern, welche mitten in der Bewegung gegen den 
Alkohol stehen, freundlich gefördert. Es sind uns auch über die Erfahrungen 
verstorbener Mässigkeitsfreunde durch Familienangehörige wichtige au¬ 
thentische Mitteilungen zugegangen. Ganze Vereine haben bereits ihre 
Mitwirkung in Aussicht gestellt und eine grössere Anzahl von Frage¬ 
bogen für ihre Mitglieder erbeten. Möge diese Untersuchung nicht nur 
in Deutschland, sondern auch im Auslande eine günstige Aufnahme und 
viele Mitarbeiter finden. Unsere Zeitschrift will von einem inter¬ 
nationalen, rein wissenschaftlichen Standpunkt aus nur die Wahrheit und 
nichts als die Wahrheit inbetreff der Wirkungen des Alkohols ermitteln 
und wird jede neue Beleuchtung der Alkoholfrage, sowie Winke und 
Vorschläge zu besseren Forschungsmethoden aufrichtig willkommen 
heissen. 


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Nr. 1. Prof. Adolf Fick in Würzburg. 

(Nach Mitteilungen seines Sohnes, des Herrn Prof. Rudolf Fick in Leipzig und seiner Tochter, 

Frau E. Gudden in Piitzschen-Bonn.) 


1. Adolf Fick. 

2. geb. 3. Sept. 182c). f 21. August 1901. 

3. Kassel. 

4. weiland o. ö. Prof. d. Physiologie zu Würzburg. 

5. Medizinisches Studium in Marburg und Berlin. 

6. A. Fick war Mitglied des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke und 
eines Enthaltsamkeitsvereins. 

7. A. Fick trank früher abends 1 / 4 Liter Bier, mittags Wasser, auch in Gesellschaft 
kaum mehr als 1 Glas Wein, war totalabstinent von 1889 bis zu seinem Tode. 

8. »Nicht hygienische Gründe, sondern lediglich moralische'<, der Agitation und 
des Beispiels wegen (s. Alkoholfrage von A. Fick, S. 9). 

9. Keine. 

10. A. Fick bemerkte weder in körperlicher noch in geistiger Hinsicht besondere 
Folgen seiner Enthaltsamkeit, weil er eben schon vorher fast vollständig 
abstinent gelebt hatte. 

11. A. Fick wurde durch den Kampf gegen den Alkohol leider entschieden geschädigt. 
Seine Stimmung litt darunter, da sich der Boden in Würzburg zu damaliger 
Zeit als ganz besonders steril für seine Ideen erwies. A. Fick hat ja fast noch 
gar keine Erfolge der Agitation erleben dürfen, sondern nur täglich Aerger und 
das verbitternde Gefühl, Sisyphusarbeit zu leisten. 

Anmerkung zu Frage 8: Zur Abstinenz kam A. Fick durch Bunges Schrift. 
Die Schädlichkeit des Alkohols hatte er schon lange vor jener Schrift erkannt und 
gelehrt, z. B. auch erwähnt in seinem Kompendium der Physiologie. 3. Aufl. 
Braumüller. Wien 1882. S. 344, 352. Erbittert wurde er gegen den Alkohol 
hauptsächlich durch die traurigen Erfahrungen der studentischen Exzesse in Würz¬ 
burg, mit denen er namentlich auch als Rektor der Universität 1879 mehr bekannt 
wurde. Nachtwächterprügeleien mit schweren Verletzungen, Erschossenwerden des 
Studenten der Medizin Sicken usw. zeigten ihm die schrecklichen Gefahren des 
Kneipwesens bei den Studenten. Dazu kam die nähere Bekanntschaft mit den 
englischen Universitätsverhältnissen und das Schamgefühl über den englischen Hohn 
auf die deutsche Studenten-Sauferei. (1879 studierte sein Neffe Percy Frankland 
aus London in Würzburg.) 

Zu Frage 14 bemerkt die Tochter des Verstorbenen, Frau Elisabeth Gudden, 
noch folgendes: Mein Vater war wohl der erste Physiologe, der die Giftigkeit des 
Alkohols nachwies. Was ihn aber dazu bewog, in Wort .und Schrift für die Ent¬ 
haltsamkeit einzutreten, war nicht etwa die Ueberzeugung, dass es für jeden 
Einzelnen eine Notwendigkeit sei, jeden Tropfen dieses Giftes zu meiden, sondern 
es waren vorzugsweise moralische Gründe, die ihn zu einem Verfechter der 
Abstinenzbewegung machten. So wie allein die konsequente Enthaltsamkeit bei 
notorischen Trinkern die Heilung herbeiführen kann, so konnten auch, seiner 
Meinung nach, nur durch das Beispiel der Abstinenz Strauchelnde vor dem Fall be¬ 
wahrt werden. — So sympathisch er den Bestrebungen der Mässigkeitsvereine 
gegenüberstand, so versprach er sich von ihnen doch geringen Erfolg, da es un¬ 
möglich sei, Grenzen für die Mässigkeit festzulegen und individuell zu bestimmen, 
was der Einzelne vertragen kann, ohne sich physich oder psychisch zu schaden. 


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No. 2. Prof. Dr. v. Bunge in Basel. 

1. Gustav von Bunge. 

2. geh. i q. Jan. 1S44. 

3. Dorpat in Livland (Russland). 

4. Professor d. physiologischen Uliemie in Hasel. 

5. Besuch der Universität Dorpat. 

6. Mitglied des Alkoholgegnerbundes und des Guttemplerordens, Ehrenmitglied 
des ersten Zeltes der Rehabiter auf deutschem Boden. 


7. Hat niemals g e woh nheitsmiissig irgend welche alkoholische Getränke 
genossen, 1877 —1886 fast abstinent. Seit 1886 geschworener Abstinent. 


8. Die Erkenntnis, dass nur durch Enthaltsamkeitsvcreine das Alkoholelend bekämpft 
werden kann. 


q. Keine. 1 886 Dis heute. 


10. Grössere Leistungfähigkeit, körperlich und geistig, grössere Genussfähigkeit. 


11. a) Ledig. 

b) Eine ganze Schar medizinischer Studenten zur Abstinenz bekehrt. 

c) Weniger, aber bessere Freunde. 

d) Am öffentlichen Leben niemals teilgenommen. 


12. Nur während einiger Studentensemester ca. 1000 Mk. jährlich, sonst o. 


13. Nichts. 


14. Der Alkohol untergräbt die Gesundheit des Individuums und seiner Nach¬ 
kommen ; er macht das Leben hässlich, öde und langweilig, er führt zu all¬ 
gemeiner Gemütsverkrüppelung. 


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Nr. 3. Dr. Aug. Forel in Chigny bei Morges. 

1. Dr. Aug. Forel. 

2. geb. i. September 1S48. 

3. Morges, Kanton Waadt, Schweiz. 

4. Dr. med. und Arzt (spezieller Irrenarzt). 

5. Schule in Morges, Gymnasium in Lausanne, Universitäten in Zürich und Wien, 
dann Assistent bei Gudden. Später Professor der Psychiatrie und Direktor der 
Irrenanstalt zu Zürich. Ausserdem Zoologe (Myrmekologe). Seit 1898 in 
Chigny bei Morges mit Privatarbeiten beschäftigt. (Dr. phil. und jur. hon. causa.) 

6. Ja. Guttemplerorden, Alkoholgegnerbund, Verein abst. Aerzte, Verein abst. Lehrer, 
ausserdem Ehrenmitglied der Helvetia, Verein abst. Studierender der Mittelschulen. 

7. Totalenthaltsam seit Januar 1886, mit seiner Frau und seinen 6 Kindern. Nur 
1888 wurde nach zwei Jahren Abstinenz ein experimenteller Versuch mit 
Mässigkeit ein Monat lang (1 — 2 Glas Wein täglich) gemacht. Darauf wurde 
von mir die Enthaltsamkeitsverpflichtung lebenslänglich genommen. 

8. Anfangs, d. h. in der Vorbereitung, ihre Notwendigkeit für die Heilung der 
meiner Behandlung unterstellten Alkoholiker. Nach 3 Monaten jedoch war mir 
schon der eigene Vorteil und täglich wachsend die soziale Tragweite der Ab¬ 
stinenz klar, sodass ich bereits 1886 zum sozialen Abstinenten wurde. 

9. Wie gesagt nur 1888, nach 2 Jahren, dieser einmonatliche Versuch aus experi¬ 
mentellen Kontrollgründen. Ich wollte den Einfluss von 1 oder 2 Glas Wein 
täglich nach zweijähriger Abstinenz auf mich selbst feststellen. 

10. Vortreffliche. Ich verlor meine früheren Magenkrämpfe, die Harnsäure-Krystalle 
des Urins, meine Migränen und sah meine Arbeitskraft geistig und körperlich 
verdoppelt und meine Lebensfreude wesentlich vermehrt. Ich war viel gleich- 
mässiger und ausdauernder in allen Leistungen. 

11. a) Brillante. Sechs geistig wie körperlich sich gesund entwickelnde Kinder, 
die alle, von Geburt aus abstinent, lebensfroh, sowie sehr leistungsfällig sind, 
und einfach das Verhalten der alkoholtrinkenden Menschen nicht begreifen 
können. Mein ältester Sohn hat in Haubinda den Germania-Abstinenten-Bund 
deutscher Schüler ins Leben gerufen. 

b) Früher hatte ich nie einen Trinker heilen können. Seit 1886 habe ich 
Hunderte und sogar an die Tausende direkt und indirekt geheilt; ausserdem 
hat mir die Abstinenz als Hülfsmittel bei der Behandlung der Geistes- und 
Nervenkranken, sogar vieler anderen Kranken, enorme Dienste geleistet. 

c) Sie hat mich von schlechten und einfältigen Freunden getrennt, mir die guten 
erhalten und sehr viele vortreffliche neue Freunde gegeben. 

d) Sie hat mir viele Feinde und Schikanen, auch Spott, besonders am Anfang einge¬ 
tragen. Doch hat mich dieses nie geniert. Sie hat für mich eine reine, mir 
sehr angenehme Scheidung zwischen den sozial guten und aufbauenden und 
den sozial schlechten Menschen oder auch im Vorurteil steckenden Elementen 
bewirkt. Ich habe mich resolut den ersteren angeschlossen und von den 
letzteren getrennt. Auch vom Pessimismus hat mich die Abstinenz endgültig 
losgerissen. 

12. Das kann ich nicht angeben, da ich nie darüber Buch geführt habe. Ich hatte 
keine Zeit dazu. 

13. Selbstverständlich nichts. Als Guttempler habe ich seit 1892 keinen Tropfen 
Alkohol gekauft, verkauft oder dargereicht, und war an keinem Alkoholgeschäft 
weder direkt noch indirekt beteiligt. 

14. Zu viele um hier darauf einzugehen. Sie sind aber in meinen Schriften enthalten. 


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« 


ist 


Nr. 4. Prof. Justus Gaule in Zürich. 

1. Justus Gaule. 

2. geb. 4. November 184 g. 

3. Darmstadt, I )eutsrblaiid. 

4. o. Professor a. d. Universität in Zürich. 

5. Zuerst Kaufmann, dann Privatdozent und Professor. 

6. Zum Alkoholgegnerbund. 


7. Ich bin seit 20 Jahren enthaltsam. 


8. Mein Freund Bunge veranlasste mich, eine Probe mit der Knthaltsamkeit zu 
machen. 


c). Keine. 


10. Meine Arbeitskraft stieg, mein körperliches Befinden wurde besser und die 
Empfindung von Lust gleichmassiger. 


11. Meine Familie ist gesund und glücklich, in meinem Beruf und meinen gesell¬ 
schaftlichen Beziehungen verursachte die Enthaltsamkeit keine Störungen. Am 
öffentlichen Leben nehme ich nicht teil. 


12. Fine genaue Antwort vermag ich aus Mangel an Aufzeichnungen nicht zu geben. 

13. Jetzt gebe ich nichts aus. 

14. ln Beantwortung von 14 möchte ich nur mitteilen, dass das Leben in der 
Familie durch die Enthaltsamkeit entschieden gewinnt. Das Wirtshaus trennt 
nicht mehr den Mann von der Frau, den Vater von den Kindern. Hier in 
Zürich, wo sich die Enthaltsamkeit rasch ausgebreitet hat, ist die Geselligkeit 
innerhalb der Familien, die daran teil nehmen, grösser geworden, als sie früher 
war. Sie erstreckt sich nun auf die ganzen Familien, nicht bloss auf einzelne 
Glieder derselben, und das mit derselben verbundene Glücksgefühl ist ent¬ 
schieden grösser geworden. 


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182 


* 


Nr. 5. Professor Dr. med. Rudolf Fick in Leipzig. 

1. I)r. med. Rudolf Fick. 

2. 24. Februar iSOfi. 

4. Zürich. 

4. a. o. Prof, der Anatomie in Leipzig. 

5. Mediz. Studium in Würzburg, Marburg, Zürich, Erlangen. 

6. Zum 1). Ver. g. d. Missbr. geist. Getr. 


7. Kaum geändert, da stets nur sehr wenig konsumiert. Mittags Wasser, abends 
ca. l / 4 Liter Bier. 


10. Wenn ich bei Tisch (in Gesellschaft etc.) ausnahmsweise Alkohol trinke, habe ich 
stets nachher das Gefühl der Müdigkeit und geistiger Trägheit. — Durch die 
Mässigkeit auch bei Kommersen, Festen etc. habe ich es erreicht, dass mir 
solche Feste immer »gut bekommen« und dass ich niemals in meinem Leben 
sog. »Katzenjammer« gehabt habe. 


14. Die Alkoholgefahr muss meiner Meinung nach immer noch mehr erörtert werden; 
namentlich müssen die Zeitungen beeinflusst werden. »Limonadenseelen« etc. 
dürfen nicht mehr verächtlich gemacht werden. Die Agitation gegen den 
Komment muss vor allem verbreitet werden, denn der Komment infiziert 
ja alle Kreise, nicht nur die akademischen. Alles trinkt sich »vor«, 
»Blume« usw. Likör nach Diners müssen verpönt werden! Ebenso muss das 
Zureden zum Trinken bei Gästen abgeschafft und der Trink zwang gebrochen 
werden. Deshalb ist jeder Abstinent von jedem wirklichen Mässigkeitsfreund 
von Herzen zu begrüssen, denn er bricht den Zwang wirklich! 


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Nr. 6. Direktor Dr. jur. Friedrich Fick in Mannheim. 


1. Friedrich Fick. 

2. geb. <). Juli i «S63. 

3. Zürich. 

4. Kaufmann. 

5. Humanistisches Gymnasium und Universität. Ich war nach dem Abschluss 
meiner rechtswissenschaftlichen Studien 6 Jahre Kaufmann in England und 7 Jahre 
in Australien, seit 1897 Direktor einer Elektrizitätsgesellschaft in Mannheim. 

6. Nein. 

7. Seit dem 21. Jahre fast durchaus mässig oder enthaltsam gewesen. 


«8. Beispiel des Vaters (weil. Prof. Adolf Fick in Wiirzburg) und feste Ueberzeugung 
von der enormen Schädlichkeit des Alkoholgenusses. 


9. 11. 10. Die nur für einige Monate durchgeführte Enthaltsamkeit hatte keine bemerk- 
lichen Folgen, was daran liegen mag, dass die Enthaltsamkeit gegenüber der 
Mässigkeit sich mehr moralisch als in der physikalischen Wirkung unterscheidet. 


14. Der bei uns in Deutschland auch in den wohlhabenderen — ich sage absicht¬ 
lich nicht: besseren Kreisen — herrschende Trinkzwang und die albernen 
Trinksitten, unter die sich der freie Deutsche auch nach Erreichung des 
Schwabenalters beugt, flössen mir den grössten Widerwillen ein, wenn ich leider 
auch nicht selbst Abstinent bin. In der Theorie halte auch ich die Abstinenz 
für das richtige, nicht wegen des Wohls des Einzelnen, aber wegen des Gemein¬ 
wohles. Aber der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach, und für einen 
Kaufmann, der viel zu reisen und mit vielen Kunden zu verkehren hat, ist die 
Abstinenz schwer durchführbar, die Mässigkeit dagegen wohl. 

Ueber meines Vaters Stellung in der Abstinenzfrage könnte ich kaum etwas 
besonderes mitteilen, als dass ihn rein ideale Gründe zu ihr führten; er war 
immer so ausserordentlich mässig gewesen, dass er aus Rücksichtnahme auf die 
eigene Gesundheit den Schritt zur Enthaltsamkeit nie hätte zu tun brauchen; 
sein Ziel, war ein Beispiel zu geben. 


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Nr. 7. Dr. med. Adolf Fick in Zürich. 


1. Adolf Fick. 

2. geb. 22. Hornung t 852 . 

3. Marburg, Pr.-Hessen-Nassau. 

4. Augenarzt in Zürich. 

5. Gymnasium, Universität. 

6. Ja, zum internationalen Alkoholgegnerbund; zum Vereine der abstinenten Aerzte 
des deutschen Sprachgebietes; zum Vereine der schweizerischen abstinenten Lehrer. 


7. Enthaltsam seit 1. November 1890. 


8. Ein Herzcollaps bei angestrengtem Steigen auf einer Fusstour, den ich als 
Zeichen von beginnendem Fettherz auffasste. Oeffentlich bekannt habe ich 
mich als Abstinent infolge eines Festes, das anfangs der 90er Jahre von der 
Stadt Berlin einer internationalen Aerzteversammlung gegeben wurde und bei 
dem die Blüte der europäischen Aerzte den Trinksitten wahrhaft erschreckende 
Opfer dargebracht hat. 

(). Keine. 

10. a) Dass ich 2 Jahre später die gleiche Fusstour ohne die geringste Beschwerde 
ausführen konnte. 

b) Keine. 

c) Keine. 


11. a) Meine Familie folgt meinem Beispiele; die Dienstboten nicht. 

b) Keine. 

c) Hier und da erfuhr ich Anfeindungen, aber umgekehrt gewann ich auch 
Freunde durch die Abstinenz. 


12. Vielleicht 300—500 Mk. im Jahr. 

1 3. Keinen Heller für mich und Familie; für Wäscherin und Dienstboten vielleicht 40 Mk. 

14. Dass ich mich jetzt, mit 52 Jahren voller Frische und Rüstigkeit erfreue und 
körperlich leistungsfähiger bin als im Sommer 1890, das danke ich ohne Zweifel 
der Abstinenz. Die blosse Fortsetzung meines früheren mässigen Alkoholgenusses 
hätte mich vermutlich längst durch Vermittelung eines Fettherzes siech gemacht 
oder gar um das Leben gebracht. 


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185 


Nr. 8. Prof. Dr. Anton Weichselbaum in Wien. 

1. Anton Weichselbaum. 

2. geb. 8. Februar 1845. 

3. Schiltern, Niederösterreich. 

4. o r ö. Professor der pathologischen Anatomie a. d. Universität Wien. 

5. Gymnasium und medizinische Studien. 

6. Mitglied des »Oesterreichischen Vereins zur Bekämpfung der Trunksucht*. 


7. Ist seit 2 Jahren Abstinent. 


8. Die Ueberzeugung, dass auch geringe Mengen Alkohol nicht mit Sicherheit als 
unschädlich gelten können und dass der Arzt mit gutem Beispiele vorangehen soll. 


q. Keine. 


10. Durchwegs gute Folgen. 


11. Als pathologischer Anatom kann ich tagtäglich die schädlichen Wirkungen des 
Alkoholgenusses demonstrieren. 


12. «So— too Mark pro Jahr. 


13. Nichts. 


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Nr. 9. Dr. med. Clemens Gudden in Pützchen-Bonn. 


1. Clemens Gudden. 

2. geh. 8. Oktober i86t. 

3. Werneck, Bayern. 

4. Arzt. Besitzer einer Nervenheilanstalt. 

5. Der gewöhnliche Bildungsgang (humanist. Gymnasium, Universitätsstudium in 
Würzburg und München, Assistentenzeit in der Münchner Irrenanstalt). 

6. Ja. V. g. M. g. G. 


7. Ja, vor 7 Jahren für *'2 Jahr vollständig abstinent, dann wiederholt 3—4 Monate. 


8. Vor 7 Jahren eines wissenschaftlichen Versuchs wegen. —- Später wegen des 
mit der Abstinenz verbundenen Wohlbehagens. 


10. Sehr viel besseres allgemeines Wohlbefinden, grössere Arbeitskraft, friedlicher 
Charakter, geringe Reizbarkeit, grössere Ruhe. 


11. a) Für das Familienleben nur erfreuliche. 

b) do. 

c) Ganz ohne Störung. 

(F do. 


12. u. 13. Lässt sich nicht in Mark angeben, da ich nichts notiert habe; aber jedenfalls 
habe ich früher ein Vielfaches von dem jetzigen Verbrauch ausgegeben, da ich 
jetzt durchschnittlich kaum V2 Liter Bier abends trinke oder 1 Glas Wein. 
Am Tage trinke ich nie Alkohol. 


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Nr. 10. Maler Rudolf Gudden in Frankfurt a. M. 


1. Rudolf Gudden. 

2. geb. 21. August 1863. 

3. Werneck in Bayern. 

4. Maler. 

5. Gymnasialstudium — Akademie der bildenden Künste. 

6. Nein. 

7. Hat die Enthaltsamkeit versucht und ist seit n Jahren Abstinent. 


8. Arbeitsunlust. 


9. Keine. 

10. a) Gefühl der Freude und Lust zu körperlichen Uebungen. 

4 

b) Doppelte und dreifache Arbeitsfähigkeit. 

11. a) Erhielt das Zeugnis des weniger Gereiztseins. 

b) Grössere Erfolge im Berufe. 

c) Erntete teils Spott, teils Anerkennung und fand seitens der Berufskollegen 
mehrere Nachahmer. 


12. Gab selbst wenig dafür aus, trank aber viel und oft in Gesellschaften. 


13. Keine. 


Die Alkoholfrage. R) 


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188 


Nr. 11. Dr. med. Legrain in Paris. 

1. Legrain. 

2. geh. 2 0. März tS6o. 

3. Paris. 

4. Docteur en Medecine. 

5. Medecin des Asiles d’Alienes de la Seine. 

6. Alkoholgegnerbund — 1 . O. G. T. — Internationaler Verein der abstinenten 
Aerzte. 


7. Ich lebe enthaltsam seit 11 Jahren. 


S. 1. Einfluss Dr. Forel’s und Miss Gray's; 2. es war notwendig, um die Trinker 
zu retten und zu behandeln; 3. es ist eine soziale Pflicht; 4. eine tiefere Kenntnis 
der Alkoholfrage und überhaupt der Geschichte der Antialkoholbewegung. 

9. Niemals; das wäre eine Willensschwäche. 


10. a) Merkwürdig! Ich habe vor kurzem an schwerem Typhus gelitten und 
verdanke gewiss meine Heilung der Enthaltsamkeit. 

b) Bin widerstandsfähiger gegen die Gehirnermüdung als früher. 

c) Ueberhaupt habe ich eine grössere Freude am Volks- und Familienwohl. 

Ti. Ich habe erfahren, dass die Praxis der Enthaltsamkeit jedenfalls für die wirklich 
überzeugten Leute leicht ist und dass das Beispiel das nützlichste Kampfmittel ist. 


12. Sehr wenig; denn bevor ich Teetotaler war, war ich schon massig. 


13. Nichts; es gibt gar keinen Tropfen Wein in meinem Keller. 


14. Sehr Viele! Leider aber habe ich keine Zeit zu beschreiben. Jedenfalls bin 
ich überzeugt, dass die Total-Abstinenz das einzige Mittel ist, den individuellen 
und sozialen Alkoholismus zu beseitigen. 


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189 


Nr. 12. Madame Legrain in Paris. 

1. Madame Legrain. 

2. geh. 1X63. 

3. Paris. 

4 . — 

5 - — 

6. Mad. Legrain hat die »Union frangaise des femmes pour la Temperance« gegründet 
und ist seit 10 Jahren Teetotaler. Die »Union fangaise« hat ungefähr 3 Jahre lang 
bestanden und hat sich dann aus Mangel an abstinenten Frauen aufgelöst. Die 
französischen Frauen haben den Nutzen der Abstinenz noch nicht genügend 
erkannt. Mad. Legrain ist jetzt mit einigen abstinenten Frauen mit einer 
Patronage für ältere Trinker und ihre Familien beschäftigt. 


X. Dieselben wie bei dem Dr. Legrain (Vgl. den vorstehenden Fragebogen). 


(). Niemals. 


jo. Die Enthaltsamkeit bewirkte einen dauernden Zustand jugendlicher Frische, eine 
Befähigung zu längerer geistiger Arbeit und eine Befestigung des Willens. 


14. Mad. Legrain hat beobachtet, dass die französische Frau nicht abstinent ist, 
weil sie durch ihre Erziehung nicht angeleitet worden ist, zu Gunsten des 
öffentlichen Wohles die Initiative zu ergreifen. Sie hat ferner beobachtet, dass 
die Frau sehr oft an dem Alkoholismus des Mannes mit die Schuld trägt. 
Vielleicht wird es ein Mittel, um die Abstinenz zu erobern, an dem Tage 
geben, wo die französische Frau ihre Verantwortlichkeit begriffen hat, denn sie 
hat Herz und ist frei von Egoismus! 


13 * 


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190 


Nr. 13. Dr. med. A. Stegmann in Dresden. 

1. A. Stegmann. 

2. geh. 23. August 1X72. 

3. Gerstlingen, Sachsen-Wehnar-Kisenach. 

4. Arzt. 

5. Gymnasium Eisenach, Universität Bonn, Leipzig, Berlin, Assistent Psych. Klinik 
in Jena, Stadt-Irren- und Siechenhaus Dresden. 

6. Bez.-Ver. g. d. Missbr. g. G. z. Dresden. 


7. Alkoholverbrauch eingeschränkt auf 2 mal wöchentlich wenig Bier, gelegentlich 
Wein etwa seit 1900; enthaltsam seit Ostern 1903. 


8. Erfahrungen in der Trinkerbehandlung; Wunsch, die Trinksitten zu bekämpfen. 


9. Einmal 0,3 Liter Bier bei einer Festlichkeit. 


10. a) Abgesehen von auffälligem Rückgang des Verbrauchs an Flüssigkeiten (Mangel 
an Durstgefühl) keine körperliche Veränderung bemerkt. 

b) Nichts auffälliges bemerkt. 

c) Ich habe stets Freude am Leben gehabt und fühle darin keinerlei Veränderung. 

it. a) Im Elternhaus wurden alkoholische Getränke nur ausnahmsweise verbraucht 
und Kindern nie gegeben. 

b) Als Arzt finde ich fast nie Ursache, Alkohol zu verordnen, beobachtete sehr 
oft die verderbliche Wirkung auch geringer Mengen alkoholischer Getränke auf 
widerstandsunfähige Menschen und den Zwang der Trinksitten; daher bin ich 
enthaltsam geworden. 

12. Nicht genau zu ermitteln, niemals erhebliche Beträge, in den letzten Jahren 

vielleicht wöchentlich 0,60 bis 0,90 Mk. 


14. Von dem Versuch, mässig in dem Sinne zu leben, dass ich nicht täglich und 
nicht mehr als 30 cbcm Alkohol tränke, kam ich deshalb zur Pmthaltsamkeit. 
weil mir die Durchführung des Prinzips der Mässigkeit zu schwer war und ich 
zu oft über das gesetzte Mass hinaus gehen musste, wenn ich mich den Trink¬ 
sitten fügen wollte. 


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191 


Nr. 14. Dr. med. Eduard Hirt in München. 

1. Eduard Hirt. 

2. geh. 24. Mürz 1 S 7 5. 

% 

3. München, Bayern. 

4. Arzt. 

5. Volksschule, hum. Gymnasium, Universität. 

(>. J. V. g. d. Misshr. g. G. u. Verein al ist in. Aerzte. 


7. Abstinent etwa von 1891 — 1S94 und seit 1. Januar 1902. 


8. Die l Überzeugung, dass nur durch persönliches Beispiel Erfolge erzielt werden. 


9. Siehe unter 7 


10. aj Keine. 

1 )) Grössere Regelmassigkeit, 
c) Keine. 


11. Hin Onkel war Trinker, eine Schwester hat vorübergehend Alkohol gegen nervöse 
Erschöpfung gebraucht!! 


12. Durchsc hnittlich 1 Mk., ab und zu 3 — 5 Mk. täglich. 


13. Nichts. 


14. Yergl. meine Schrift Ueber den Einfluss des Alkohols auf das Nerven- u. Seelen¬ 
leben.« Wiesbaden. J. F. Bergmann. 1904. 


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192 


Nr. 15. Dr. med. Benno Kantorowicz in Hannover. 

1. Benno Kantorowicz. 

2. geb. i. August i«S6i. 

3. Posen, Preussen. 

4. Arzt, Dr. med. 

5. Gymnasium, Universität. 

6. (iuttemplerorden. 

7. Völlig abstinent seit 1899. 


S. Im Interesse der Bekämpfung der Trinksitten. 


9. Keine. 


10. Da ich schon vorher sehr wenig trank, als Student z. B. nur ein Glas Bier 
abends, so waren besondere Folgen der Enthaltsamkeit bei mir nicht zu kon¬ 
statieren, jedenfalls keine schlechten. 


ii. a) Meine Frau geniesst nur selten Alkohol, mein Sohn gar nicht. 

b) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Arzt häufig Schuld am Alkoholismus 
Anderer ist. 

c) Meine Freunde haben sich allmählich daran gewöhnt, bei mir nichts Alko¬ 
holisches zu erhalten. — Der Abstinent erregt, auch ohne ein Wort zu reden, 
eine eifrige Diskussion über die Alkoholfrage. 


13. Nichts. 


14. Durch das Beispiel der Abstinenz bewirkt man auch bei Freunden und Bekannten 
eine grössere Zurückhaltung alkoholischen Getränken gegenüber und eine gegen 
früher wesentlich andere Beurteilung der Trinksitten. 


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193 


Nr. 16. Dr. med. Julian Marcuse in Mannheim. 

1. Julian Marcuse. 

2. geh. i. August 1862. 

3. Posen (Preussen). 

4. Arzt. 

5. Studium. 

6. Nein. 


7. Einschränkung des Alkoholgenusses bis aufs Aeusserste. 


8. Ueberzeugung von der Schädlichkeit desselben. 


9. Ich trinke im llause nie, ausserhalb des Hauses nur in grossen Zwischenräumen, 
die oft Monate dauern. 

10. Ausserordentlich günstige hinsichtlich körperlicher und geistiger Frische. 


11. a) Wird kein Alkohol getrunken. 

b) Nur gute, wo Einschränkung stattfand. 


12. Vielleicht im Jahr 20—30 Mk. 

13. Vielleicht im Jahr 5—10 Mk. 


14. Nur diejenigen, über die auch alle sonstigen Beobachter verfügen: Segensreicher 
Einfluss der Mässigkeit, bezw. Enthaltsamkeit. 


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Nr. 17. Pastor Christian Stubbe in Kiel. 


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1. Christian Stubbe. 

2 . geh. 28. Oktober 1862. 

3. Bokel, Schleswig-Holstein. 

4. Pastor. 

5. Volksschule, Gymnasium, Universität. 

6. D. Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke. 

7. Seit 20. Mai 1901 enthaltsam. 

8. Die Beobachtung, wie mehrere Menschen zu Grunde gingen, denen bei recht¬ 
zeitiger Enthaltsamkeit derselben vielleicht zu helfen gewesen wäre — und der 
Wunsch, durch persönliches Beispiel etwaiger Mahnung und Belehrung grösseren 
Nachdruck verleihen zu können. 

9. Keine. 

10. Da ich schon Jahre lang vorher sehr massig war, habe ich eine besondere Ver¬ 
änderung nicht beobachten können. Höchstens kann ich sagen, dass ich früher 
wohl (schon nach dem Genüsse von 1 oder 2 Glas Bier oder Wein) gelegentlich 
eine leichte Benommenheit spürte, die im Laufe des nächsten Vormittags über¬ 
wunden werden musste — dergl. fällt jetzt fort — Vielleicht darf ich (selbst 
Nichtraucher) auch sagen, dass ich empfindlicher gegen Tabaksqualm und Wirts¬ 
hausluft geworden bin. 

11. Ich habe nur günstige Erfahrungen gemacht. Den Verzicht auf die Alkoholika 
habe ich nie als Entbehrung empfunden. — In pastoraler Wirksamkeit und in 
unserer Vereinsarbeit gegen den Missbrauch geistiger Getränke ist das Wort 
gegenüber den bekannten nichtigen Einreden freier und kräftiger geworden; in 
Gesellschaften wirkt das Beispiel der Enthaltsamkeit für viele erlösend — es 
wird bald auch von anderen, namentlich Frauen Selters und dergl. erbeten und 
an Spirituosen weniger getrunken — auch natürlich leicht über die Alkoholfrage 
disputiert. 

12 —13. Ich glaube nicht, dass das Ausgabenverhältnis (jetzt für alkoholfreie, früher 
für alkoholische Getränke) sich verschoben hat. 

14. Gegenüber dem Schlagwort, dass die sogenannten Mässigen die grössten Gegner 
der Enthaltsamen seien, kann ich nicht nur betonen, dass unser Kieler Verein 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke stets die Enthaltsamkeitsbewegung 
hoch geschätzt (und doch für sich noch reichlich besondere Arbeit gefunden) 
hat, sondern auch, dass für mich und manchen meiner Bekannten Mässigkeit 
(d. h. in diesem Falle auch die wesentlich durch den V. g. M. g. G. vermittelte 
genauere Bekanntschaft mit der Alkoholfrage) zur Enthaltsamkeit geführt hat. 


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195 


Nr. 18. Frau Elsbeth Krukenberg geb. Conze in Kreuznach. 

1. Klsbeth Krukenberg geb. Conze. 

2. geb. 5. Februar 1X67. 

3. Halle a. S., Prcusscn 

4. Vorsitzende des rhcin.-wcstf. Frauenbundes. Vorstandsmitglied des Allg. Deutschen 
Frauen Vereins. 

6. Nein. 


7. Erst eingeschränkt, dadurch allmählich Freude am Alkohol-Genuss verloren, jetzt 
meistens enthaltsam. 


8. Die Schriften über die Alkoholfrage brachten mich zum Nachdenken, ich fühlte 
mich verpflichtet, zu versuchen, wie weit ich selbst Alkohol entbehren könne, 
wie ich mich dabei befände. 

0. Am Rhein trinke ich gern einen guten Tropfen, bei sehr lang andauernden 
Versammlungen oder dergl. ungewöhnlichen Anspannungen auch Sekt als be¬ 
lebende Arznei. 

10. Gute, aber auch vorher war ich gesund und durchaus leistungsfähig. 


11. a) Nach Ueberwindung der Trink g e w o h n h e i t, die zuerst Unbehagen hervor¬ 
ruft, fühlen sich die Angestellten ohne alkoholische Getränke sehr wohl, 
(’s. auch Nr. 14 .) 

o Lassen sich, wenn man nicht schroff auftritt, häutig für die Alkohol-Sache 
gewinnen. Unwissenheit über die Folgen lässt viele gedankenlos trinken. 


14. Gute, alkoholfreie Getränke zu schaffen, scheint mir wesentlich. Der 
Deutsche leert eben gern sein Glas, trinkt anderen zu u. dergl. Wasser, Zitronen¬ 
limonade erfreuen nicht, wie Wein das Auge, was wesentlich die Stimmung 
erhöht. Pomril, Cider schmecken m. E. nach faulen Aepfeln, Traubennektar ist zu 
aufdringlich im Geschmack. Wir alle, auch meine Söhne, 16, 15, 9 Jahre alt, 
trinken mit Freude Apfelnektar (Firma Bechtel, Bad Kreuznach, Nahe). Schöne 
Farbe, erfrischender Geschmack, keine Kohlensäure. Ersatzgetränkc 
sind Kindern zu geben, da sonst die Gier nach etwas anderem als Wasser sic 
zu alkoh. Getränken verführt. G ar n i c h t trinken missfällt ihnen, giftfrei 
trinken leuchtet ihnen ein, besonders da alkoholfreie Getränke ihrem noch 
nicht an Bier und Wein gewöhnten Geschmack entsprechen. 


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196 


Nr. 19. Dr. med. Georg Bonne in Klein-Flottbeck (Holstein). 

1. Georg Bonne. 

2 . geh. 12. August 1850. 

3. Hamburg. 

4. Arzt. 

5. Gymnasium, Universität Leipzig, Marburg, Göttingen, Würzburg. 

6. Seit 1887 zum deutschen Mässigkeitsverein. Seit 1897 Neujahr zum intern. 
Guttemplerorden. 

7. Den im allgemeinen stets mässigen Genuss immer mehr eingeschränkt. 1896 
zum 1. Mal 14 Tage abstinent, in dieser Zeit besonders fidel Und frisch gefühlt. 
Darauf schmeckte leichter Landwein wie Sprit. 

8. Viel Arbeit und Anstrengung, welche alle Kraft erforderte, riet zur Abstinenz, mein 
Freund, Professor A. Fick in Würzburg, der inzwischen bereits abstinent geworden 
war, riet zum gründlichen Studium der Alkoholfrage. So kam mir die Erkenntnis 
vor allen Dingen von den grenzenlos grossen Summen menschlichen Elends, 
welches durch die Trinksitte hervorgerufen wird. Und diese Erkenntnis war 
ausschlaggebend. 

9. 1897 April bis Juli auf dringendes Verlangen meiner Aerzte während schwerster 
Blutvergiftung täglich Wein, den ich selbst aber sehr bald als rein symptomatisches 
Mittel erkannte, welches in Wirklichkeit eher den Rekonvaleszenten erschlaffte, 
als dass es ihn wirklich stärkte. 

10. In steigender Linie widerstandsfähig gegen Witterung und Anstrengung. 

a) Ich bin durch meine 7 jährige Abstinenz als Mann von 45 Jahren so rüstig 
geworden, dass ich meine Pferde und Wagen verkauft habe und meine Praxis, 
die grösser ist als je, spielend per Fahrrad (nicht Motor) erledige. 

b) In steigender Weise rezeptiv und produktiv tätig. 

c) Fidel wie noch nie. 

11. a) Mein Haus wurde sofort mit mir abstinent. (Familie und Dienstboten, inkl. 

Kutscher). 

b) Meine gesamte Klientel (selbst die 300 Brauer!) entweder seitdem in steigendem 
Masse mässig, vielfach durch mein Beispiel, ohne viel Reden, auch abstinent. 

c) Unverändert. Auf Kommersen unter Umständen sehr fidel mit Sauerbrunnen. 

d) Die Abstinenz hat mich in meinen gesellschaftlichen Beziehungen noch nie 
auch nur im geringsten gestört. Ich mache alles mit, bin Gemeindebeamter, 
Reserveoffizier, nehme an vielen Kongressen teil, reise viel. Die Abstinenz 
hat mich noch nie geniert. 

12. ca. 200 Mk. pro Jahr und mehr (inkl. Hausgebrauch, bei Gesellschaften etc.) 

13. Seit Beginn 1897 nichts mehr (ausgenommen die Zeit der Krankheit 1897). 


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i4- Selbst in grossen Festdiners von ioo—250 Personen, auf denen ich oft nur 
als einziger Abstinent war, wirkte mein abstinentes Beispiel derart, dass sich auf 
den betreffenden, alljährlich wiederkehrenden Festen, an denen früher scharf 
getrunken wurde, keiner mehr betrank. Diejenigen aber, die ich mit Gottes 
Hilfe durch mein Beispiel und mein Wort von der Trunksucht gerettet habe, wurden 
meist lebhafte Förderer der Bekämpfung der Trinksitten, retteten viele Andere, 
gründeten neue Guttemplerlogen und wurden so ein Segen in ihren Gemeinden. 
So fing ich 1897 mit 3 frisch geretteten Mitgliedern in meiner Gemeinde an, 
rettete dann je 1 Alkoholisten aus drei Nachbargemeinden: in der einen besteht 
jetzt 1 Loge mit 70 Mitgliedern, in der 2. Gemeinde 1 Loge mit 30 Mitgliedern 
(in dieser Gemeinde, in welcher sich vor 10 Jahren noch die Hälfte der Hof¬ 
besitzer durch den Trunk ruinierten, haben jetzt die Wirte schwere Existenz, 
in der 3. Gemeinde 2 Logen mit je 40—50 Mitgliedern. Das Gedeihen dieser 
Logen ist wesentlich das Werk der Betreffenden selbst. In kaum 7 Jahren hat 
aller Spott und Hohn auf die Guttempler und Abstinenten völlig aufgehört, 
höchstens wagt noch einmal ein »akademisch Gebildeter« einen Witz zu reissen 
über die Abstinenz, über den aber kaum jemand noch recht lacht, weil die 
meisten Menschen zu den »Vernünftigen« gerechnet zu werden wünschen und 
die »Vernünftigen« den ungeheuren Nutzen und Segen für den Einzelnen, wie 
für die Gesamtheit jeden Tag vor Augen haben und erkennen. Am schwersten 
für die Enthaltsamkeit zu gewinnen sind die »akademisch Gebildeten«, weil diese 
am meisten im Suggestionsbann der Trinksitten von der Universität her stehen, 
und unter diesen der Reihenfolge nach am schwersten: die Lehrer, dann die 
Geistlichen, die Aerzte, am ehesten zu gewinnen sind noch die Juristen. Letztere 
wohl deswegen am ehesten, weil sie am meisten gewohnt sind, objektiv und 
logisch zu denken. 


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Nr. 20. Dr. Stille in Leipzig. 

1. Werner Adolph Stille in Leipzig. 

2 . geh. am 28. Mai 1836. 

3. Dorf Steinau, im Lande Madeln, Hannover. 

4. Der Befragte ist jetzt Privatmann und war in Amerika meist als Lehrer, auch 
als Kaufmann und als Notar tätig. 

5. Der Befragte wurde als Knabe von seinem Vater (der Pastor war) unterrichtet, 
und mit 15 Jahren auf ein Landgut geschickt als »Oekonomie - Eleve«. Mit 
18 Jahren nach Amerika ausgewandert, mit 25 Jahren nach Deutschland zurück, 
um hier zu studieren. Dies geschah in Göttingen, wo er Mathematik, Physik, 
Chemie etc. trieb. Nach vier Jahren zurück nach Amerika. 

6. Der Befragte ist Mitglied des Guttempler-Ordens seit Juni 1901. 

7. Der Befragte hat von je her (auch als Student) nur selten und nur bei ausser¬ 
ordentlichen Veranlassungen alkoholische Getränke genossen. Die letzten 10 Jahre 
in Amerika (bis 1900) etwa alle drei Wochen ein Glas Wein, wenn er bei 
einem Freunde zu Mittag ass. % 

8. Der Entschluss der Enthaltsamkeit wurde veranlasst durch den lebhaften Wunsch, 
durch Beispiel sowohl wie durch Wort und Schrift mitzuarbeiten im Kampf gegen 
das Alkoholelend, dessen erschreckende Grösse mir entgegentrat bei meiner 
Zurückkunft nach Deutschland (1900). (Siehe allgemeine Anmerk, unter Frage 14.) 

9. Unterbrechungen der Enthaltsamkeit haben nicht stattgefunden. 

10. Der Uebergang zur Enthaltsamkeit hatte für mich keine weiteren Folgen, weil 
ich zeitlebens nur selten und nur bei aussergewöhnlichen Veranlassungen be¬ 
rauschende Getränke genossen hatte. 

11. Vor meiner Enthaltsamkeit hatte ich die Erfahrung gemacht, dass schon ein 
Glas Bier mich unfähig machte zu mathematischen Arbeiten. 

Zu 12—14 siehe folgenden allgemeinen Bericht. 

Allgemeine Bemerkungen zu 12 — 14. 

Die schädlichen Folgen des gewohnheitsmässigen Biertrinkens dürften nirgends 
schroffer hervortreten als in den Vereinigten Staaten von Amerika, weil sich dort 
ein Massenmaterial zur Vergleichung findet, wie es sonstwo kaum Vorkommen dürfte, 
nämlich einmal die fast durchgängig abstinenten Anglo-Amerikaner, und andererseits 
die Deutschen, die fast ausnahmslos dem täglichen Biergenuss sich hingeben. Trotz 
dieser günstigen Gelegenheit zu Vergleichen kennen die Deutschen in Amerika bis 
auf den heutigen Tag nicht die richtige Erklärung gewisser bedenklicher Erschei¬ 
nungen. Unter diesen nenne ich zuerst die auffallende Tatsache (die mir in den 
70er und 80er Jahren immer ein Problem blieb), dass unter unsern Deutschen eine 
viel grössere Sterblichkeit in den Jahren der rüstigen Arbeit stattfand, als unter den 
Anglo-Amerikanern. Die deutschen Kaufleute und Fabrikanten und Handwerker 


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starben in auffallend grosser Zahl kurz vor oder bald nach dem 50. Lebensjahre 
und es fehlte unter ihnen an jenen rüstigen, geistig rührigen Greisen über 70, die 
unter Anglo-Amerikanern so häufig Vorkommen. Zweitens die Erscheinung, dass 
die Deutschen in Amerika für geistige Dine:e, tür Kultur, Wissenschaft, öffentliche 
Angelegenheiten weit weniger Interesse bekunden, als die Anglo-Amerikaner. Die 
Stadt St. Louis z. B. die in den 80er Jahren weit über 100000 Deutsche zählte, 
hatte keine einzige deutsche Buchhandlung, die diesen Namen verdiente. Wohl waren 
Schiller und Goethe und Heine zu haben, aber gekauft wurden auch diese Schriften 
kaum anders als zu Weihnachts- und Geburtstags - Geschenken; aber ob sie auch 
gelesen wurden ? Und von wissenschaftlichen deutschen Büchern kam kaum etwas 
nach St. Louis ausser einigen medizinischen Büchern für dortige deutsche Aerzte. 

Ganz offen zu Tage liegt der Einfluss des Biertrinkens als störendes Element 
bei allen möglichen Vereinigungen der Deutschen in Amerika. Jeder Klub, jeder 
Verein, sei es für Kegeln oder Gesang, für Turnen, Scheibenschiessen, Theaterspiel, 
einerlei, binnen kurzem ist er ein Bierklub. Wie mancher Turnverein beschloss beim 
»schäumenden Nass« fernerhin auch das »geistige Turnen« zu pflegen; und es wurden 
Anläufe zur Beschaffung von Bibliotheken und Lesezimmern gemacht, aber die Lese¬ 
säle standen bald leer und die Biersäle waren voll. 

Dass alle Bestrebungen unter den Deutschen in Amerika im Bier ersäuft 
werden, ist ganz offenbar, denn die gleiche Erscheinung wiederholt sich in allen 
Städten. An öffentlichen Angelegenheiten nimmt der Deutsche wenig Anteil; nur 
wenn etwas gegen das Bier geschieht, dann erhebt er sich in seinem Zorn und kämpft 
für die »persönliche Freiheit«, nämlich die Freiheit, Bier zu trinken, namentlich auch 
Sonntags und bei Blechmusik. 

Aber eine sehr bedenkliche Erscheinung deutete ich in den 80er Jahren 
immer noch nicht auf das Bier, nämlich den Umstand, dass die deutschen Kinder 
in den amerikanischen Schulen (wenigstens in den grossen Städten) als etwas dumm 
gelten ; slow and plodding (langsam und schleppend) ist der x\usdruck hierfür. Ganz 
besonders traf dies zu für die Kinder im Süden der Stadt St. Louis, wo die vielen 
sehr grossen Brauereien sind. Dort fielen alle halbjährlichen Prüfungen für Zulassung 
in die High School (eine Mittelschule, entsprechend einem Real-Gymnasium) weit 
schlechter aus, als in den übrigen Stadtteilen. Und da die dortigen Schüler fast 
ausnahmslos Kinder von deutschen Brauerei - Angestellten waren, so schien kein 
Zweifel zu bestehen, dass die deutschen Kinder langsam und schwerfällig von Begriffen 
wären, umsomehr, da die Minderwertigkeit ihrer Leistungen sich hauptsächlich im 
Rechnen zeigte. 

Dass die Dummheit eine spezifisch deutsche Eigenschaft sei, habe ich nie 
zugegeben, und es drängte sich endlich mit Gewalt die Vorstellung auf, dass das 
Biertrinken hier in ähnlicher Weise eine verhängnisvolle Rolle spielte, wie beim 
»geistigen Turnen« und bei allen literarischen und wissenschaftlichen Bestrebungen 
der Deutschen in Amerika, die beinahe gleich Null sind. 

Im Jahre 1900 kam ich nach Deutschland zurück, um hier zu bleiben. Ganz 
auffallend war mir auch hier die Erscheinung des vorzeitigen Alterns und der ge¬ 
ringeren Arbeitslust und Regsamkeit des Deutschen im Vergleich zum Anglo- 
Amerikaner. Die Notwendigkeit drängte sich auf, dass hier endlich Aufklärung 
geschaffen werde über die endlosen Schäden, die entstehen aus den deutschen 
Trinksitten. 


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Nr. 21. Redakteur Georg Davidsohn in Berlin. 


1. Georg Davidsohn. 

2 . geh. 2o. August 1872. 

3. Gnesen, Provinz Posen (Deutschland). 

4. Schriftsteller, Redakteur (lebt seit dem 6. Lebensjahre in Berlin). 

5. Gymnasium und die Universität Berlin. 

6. Gehört dem Deutschen Arbeiter - A b s t i n e n t e n - Bunde an. 

7. In Betreff meines Alkoholgenusses bemerke ich, dass ich stets einen instinktiven 
Widerwillen gegen übermässigen Alkoholgenuss gehabt habe. Ich trank allen¬ 
falls süsse Weine und s ü s s 1 i c h e Liköre ohne besagten Widerwillen, auch 
süssliches Bier (Braunbier etc.), trank ich allenfalls, ohne mir — wie bei bitter¬ 
lichem Bier, saurem Wein und scharfem Schnaps — Gewalt antun zu¬ 
müssen. Dieses rein physische Unbehagen brachte mich zur »Mässigkeit«, ohne dass 
ich noch von irgend einer Bewegung, Literatur in dieser Richtung oder dergl. die 
mindeste Ahnung hatte. Daher darf und kann ich mir denn auch den schliess- 
lichen Uebergang von der Mässigkeit zur Abstinenz nicht allzuhoch anrechnen. 
Bemerken will ich nur, dass ich leicht von jeher hätte Abstinent sein können, 
wenn meine Eltern (wie leider fast alle Eltern) nicht in totaler Unkenntnis über 
die Schädlichkeit des Alkohols gewesen wären! Ich bin Total-Abstinent seit 
dem 17. April 1903, also seit dem Bremer Kongress gegen den Alkoholismus! ! 

8. Zur Enthaltsamkeit führte mich der Üeissige Besuch der Verhandlungen des 
Bremer Kongresses (siehe auch Nr. 14;. 

9. Es haben bisher keine Unterbrechungen der Enthaltsamkeit bei mir stattgefunden. 

10. Seit dem Beginn der Abstinenz konnte ich bisher keine allzu grossen Unter¬ 
schiede meines körperlichen Befindens gegen früher konstatieren, da ich — wie 
geschildert -— stets sehr mässig war. 

a) Verdauung und Stuhlgang, die vorher zu wünschen übrig Hessen, haben sich 
bedeutend gebessert; der üble Geschmack, den ich zuvor häufig im Munde 
hatte, ist völlig gewichen. Seitdem ich Abstinent bin, habe ich weder Kopf- 
noch Zahnschmerzen (vorher häufig!). Auch glaube ich, besser sehen zu können! 
Allerdings kann und will ich nicht behaupten, dass diese erfreulichen Erschei¬ 
nungen »post hoc, ergo propter hoc« eingetreten seien. Das Urteil darüber 
muss ich Berufenen überlassen. 

b) u. c) Auf Geist und Gemüt hat die Enthaltsamkeit keine Aenderung gegen 
früher bewirkt, wohl aus den schon oben angeführten Gründen. 

it. Ueber meine Erfahrungen vergl. Nr. 14. 

12. Meine eigenen Ausgaben für alkoholische Getränke betrugen früher jährlich 
ca. 100 Mark. 

13. Gegenwärtig nichts. 


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i4- Aus den Debatten des Bremer Kongresses gegen den Alkoholismus gewann ich 
für meine Person den Eindruck, dass die »Massigen« den Abstinenten gegenüber 
recht schlecht abschnitten. Die Tiraden des Prof. Hueppe machten auf mich, den 
damals noch Mässigen (!!), einen unwissenschaftlichen Eindruck. Die direkt an ihn 
gestellte Frage »Was nützt der Alkohol?« wusste er nicht zu beantworten 
oder hat er wenigstens nicht beantwortet! — Am 17. April endlich wohnte ich 
der Volksversammlung des Bremer Arbeiter-Abstinenten-Vereins bei. In der Dis¬ 
kussion nahm unter anderen mein Parteigenosse Henke von der »Bremer Bürger¬ 
zeitung« das Wort. Bei seinen Ausführungen, die zum Teil gleichfalls »Massigkeit« 
empfahlen, packte mich eine unbeschreibliche Angst, wenn ich mir vergegenwärtigte, 
welch’ Unheil ein solcher, in immerhin autorativer Stellung befindlicher Partei¬ 
genosse vor einem rninderbewanderten Auditorium anrichten könne, und ich 
beschloss auf der Stelle, von Stund an Total-Abstinent zu werden; und ich bin 
es geblieben bis heute, und werde es voraussichtlich bleiben bis an mein Lebensende. 
In Betreff der Erfahrungen bemerke ich a) bezüglich der Familie, dass meine Frau 
durch meine Abstinenz allmählich nachdenklich wird und auf dem besten Wege 
ist, gleichfalls Total-Abstinentin zu werden. (NB. Sie trinkt natürlich minimalste 
Dosen!) 

b) u. c) In gesellschaftlicher Beziehung führt die Abstinenz zu schwierigen und unan¬ 
genehmen Situationen, wenn man den Besuch lieber Freunde und Bekannte empfängt, 
die nicht abstinent, vielleicht gar nicht einmal »mässig« sind. Es gehört sehr 
viel Energie und Taktgefühl — auf beiden Seiten — dazu, wenn die Situation 
manchmal nicht geradezu unangenehm werden soll! Alle künstlichen Ersatz¬ 
getränke versagen, und nur das pure Wasser, Selters, Himbeer, Zitrone, Kaffee, 
Tee, Kakao, Chokolade können allenfalls nützen und helfen, wenn der Hausherr 
nicht, was einem Abstinenten allerdings wirklich recht schwer fällt und fallen 
muss, Gnade vor Recht ergehen lassen und selber für Beschaffung gewisser 
Alkoholika für seine Gäste sorgen will. 

d) Im öffentlichen Leben macht es geradezu Vergnügen, durch praktische 
Vorführung des Beispiels der Abstinenz immer wieder die Kritik heraus¬ 
zufordern. Debatten entspinnen sich im Handumdrehen, und je bewanderter 
der Abstinent ist, desto leichter und schneller gelingt es ihm, den Gegner 
zur Skepsis und zum Nachdenken, in verschwindend, verschwindend geringen 
Fällen auch wohl zur Abstinenz, oder mindestens zu einem Versuche mit 
der Abstinenz zu bewegen. 

Aus meiner Jugendzeit kann ich schliesslich noch mitteilen, dass die Beobachtung 
von Betrunkenen und ihren Ausschreitungen auf der Strasse und im Hause (Schläge¬ 
reien, Arretierungen, Johlen etc.) mir nie, wie leider den meisten Kindern sonst, 
Vergnügen gemacht hat. Wenn (cf. ad 7) Eltern und Lehrer nur ein wenig nach¬ 
geholfen hätten, würde ich vielleicht in meinem ganzen Leben nie einen Tropfen 
Alkohol getrunken haben! Also hin mit der Propaganda zu Eltern 
und Lehrern!! 


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Nr. 22. Lehrer Gotthold Georg Schürer in Dresden. 

1. Gotthold Georg Schürer. 

2. geh. 6. August 1S7S. 

3. Dresden, Sachsen. 

4. Lehrer. 

5. Volksschule: Schule des Vereins zu Rat und Tat, Dresden. Seminar: Freiherrl. 
v. Fletchersches Seminar, Dresden-Neustadt. Hilfslehrer am Pestalozzistift zu 
Dresden, Lehrer an der 14. Bezirksschule, dann an der 3. Bürgerschule und 
schliesslich am Ehrlichschen Gestift zu Dresden. 

6. Nein. 

7. Ich lebe völlig enthaltsam seit Ostern 1902 bis heute (25. Mai 1904), jedoch 
habe ich von jeher eine an die Grenze der Enthaltsamkeit dicht heranreichende 
Mässigkeit gepflegt, als Schüler aus Gründen der Sparsamkeit, ohne aber Ver¬ 
langen zu tragen nach Alkoholgenuss, später aus Prinzip. 

S. a) Ausgesprochene Unempfänglichkeit für die angeblichen angenehmen Wirkungen 
und äusserste Empfindlichkeit den schädlichenWirkungen des Alkohols gegenüber. 

b) Das Interesse für die Mässigkeitsbestrebungen, namentlich Beeinflussung durch 
die Dresdner Bewegung. 

c) Aufnahme eines von Haus aus abstinenten Schülers in meine Familie und 
die dadurch mir auferlegte moralische Verpflichtung zu eigener Abstinenz. 

d) Die schädlichen Wirkungen des Alkohols auf Volksglück und Volkswohlstand, 
die ich als Lehrer in der Dresdner Oppellvorstadt zu beobachten Gelegen¬ 
heit hatte. 

9. Etwa dreimal, bei Festtafeln, ein halbes Glas. 

10. Von einer besonders durchgreifenden Wirkung meines Entschlusses, abstinent 
zu leben, kann deshalb nicht die Rede sein, weil ich, wie oben erwähnt, in 
praxi immer abstinent gewesen bin. Doch kann ich hier wohl erwähnen, dass 
schon das Bewusstsein, niemals im Urteilen, im Entschliessen und Handeln unter 
dem Einfluss des Alkohols zu stehen, grosse Sicherheit und Stetigkeit und Ruhe 
verleiht und die Gewissheit, die Menschenwürde nicht verleugnet zu haben. 

11. a) Obgleich ich von meinen Hausgenossen — Mutter, Schwester, Pensionär — 

niemals Abstinenz gefordert habe und nicht fordern konnte, haben sie doch 
freiwillig — abgesehen vom zeitweiligen, überaus mässigen Genuss ein¬ 
fachen Bieres — sich entschlossen, alkoholische Getränke zu meiden und 
durch alkoholfreie zu ersetzen. Erwähnenswert ist vielleicht, dass wir auf 
unserer Sommerreise, die ich immer in Begleitung meiner Schwester unter¬ 
nehme, stets gänzlich ohne Alkohol ausgekommen sind, 
b) Im Lehrerstande ist die Enthaltsamkeitsidee verhältnismässig stark verbreitet. 
Doch wird natürlich noch von vielen der Alkohol in Schutz genommen, 
namentlich mit dem Hinweis darauf, dass er, mässig genossen, durchaus 
unschädlich, zuweilen sogar nützlich sei. Mit einem gewissen Bedauern bin 


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20 ?) 


ich zuweilen angeblickt worden, wenn ich im Kreise der Kollegen auf das 
Bier u. dergl. verzichtete, niemals aber ist mir etwa mit Spott begegnet worden 
oder gar mit der Forderung, mich den Gepflogenheiten der andern anzu¬ 
passen. Immer hat man die persönliche Ueberzeugung in vornehmster Weise 
geachtet. 

c) siehe nb. Im übrigen ist nur zu erwähnen, dass ich Stammtischverkehr, 
der hier wohl besonders in Frage kommt, niemals gepflegt habe. 

12. Es ist vielleicht nicht unwichtig, zwei Momente aufzuweisen, welche der Ver¬ 
breitung der Enthaltsamkeitsbewegung im Wege stehen. 

1. Die übergrosse und ganz u n z w e c k m ä s s i g e Zurück¬ 
haltung solcher, die enthaltsam leben. Gar zu leicht werden den 
Alkoholfreunden Konzessionen gemacht. Namentlich glaubt man in Gesellschaft 
den angebotenen Trunk nicht ablehnen zu dürfen. Eine gewisse Rücksichts¬ 
losigkeit dürfte hier eher am Platze sein, die ja noch lange nicht in Taktlosig¬ 
keit auszuarten braucht. Namentlich sollten solche, die mit Knaben und Jüng¬ 
lingen verkehren — in der Familie, in Vereinen, oder in Schulen — sich 
befleissigen, zu zeigen, dass Enthaltsamkeit sich recht wohl mit männlicher Art 
verträgt; denn gerade unter den jüngsten »jungen Leuten« gilt der Satz am 
meisten: »Der ist ein Mann, der trinken kann.« Gelegentlich ist wohl der 
Hinweis darauf am Platze, dass es viel mehr sittliche Kraft und viel mehr 
Mut, also viel grössere Männlichkeit erfordert, mässig oder enthaltsam zu sein, 
als dem Alkohol zu frönen! Im allgemeinen gilt natürlich, dass das Beispiel 
unendlich mehr wirkt als das Wort. 

2. Der Mangel an Ersatzmitteln für die alkoholischen 
Getränke. Wohl weiss ich, dass eine ganze Anzahl solcher Ersatzmittel auf 
den Markt gebracht worden ist, aber sie sind zum Teil recht minderwertig, im 
ganzen aber und vor allem viel zu teuer. Es ist also doch Mangel vorhanden, 
Mangel an guten und doch auch billigen alkoholfreien Getränken. Wenn man 
für eine Flasche Selterswasser 25, 30 oder gar 40 Pf. bezahlen muss, oder wenn 
Frutii nur in Flaschen zu 40 oder 50 Pf. verkauft wird, so entsprechen diese 
Preise nicht entfernt den Vermögensverhältnissen des einfachen Mannes. Selbst 
wo man Frutii in Gläsern erhält, da bekommt man für 10 Pf. so wenig, dass 
damit kein deutscher Mann seinen deutschen Durst zu stillen vermag. Er 
kauft sich darum lieber für dasselbe Geld einen Schnitt Bier; da bekommt 
man doch für Geld etwas. Ob es nicht auch eine Aufgabe der Mässigkeits- 
vereine und vermögender Mässigkeitsfreunde ist, um die Erfindung und Erzeugung 
guter und billiger alkoholfreier Getränke sich zu bemühen ? — Augenblicklich 
liegen die Dinge so, dass beträchtliche Geldopfer dazu gehören, abstinent zu 
leben, wenn man nicht gerade immer Wasser trinken will. Und völlige Abstinenz 
ist doch schliesslich dem Alkohol gegenüber das einzig Richtige; denn 1. dürfte 
Gift wohl Gift bleiben, auch als kleines Quantum, und 2. Mässigkeit? — was 
heisst Mässigkeit ?! — — 


Bie Alkoholffage. 


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Nr. 23. Prokurist Rudolf Ingermann in Flensburg. 

1. Rudolf Wilhelm Peter Ingermann. 

2. geb. 2o. Dezember 1858. 

3. Eckernförde, Preussen. 

4. Kaufmann, Prokurist der Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft, Flensburg. 

5. Realschulbildung in Apenrade, 1 Va Jahr Vorbildung f.Verwaltungs-Subalternbeamten- 
Laufbahn, dann Kaufmann: Werftbetrieb (Holzschiffsbau) und Holzhandlung, 
später, nach Militärzeit, Angestellter im kaufm. Hauptkontor der Fl. Schiffsbau- 
Ges., wo ich reichlich 22 Jahre tätig und zum Prokuristen avanciert bin. 

6. Loge Nr. 2 Digynia« des 1 . 0 . G. T. und Deutscher Verein abstinenter Kaufleute. 

7. Seit 30. Dezember 1893 enthaltsam. 

8. Die Ursachen und Beweggründe zum Entschlüsse der Enthaltsamkeit waren 
gesundheitliche (Herzverfettung, sog. »Bierherz«) und das Bestreben, wirtschaftlich 
besser zu stehen, resp. von den Trinksitten abzulassen, um nicht selbst weitere 
schlechte Erfahrungen durch dieselben zu machen und gleichzeitig im Interesse 
der Enthaltsamkeitssache wirken zu können. 

9. Keine. 

10. Die allergünstigsten. 

a) Ein hartnäckiges Magenleiden ist gut beseitigt. 

b) Immer klarer Kopf, Lust zu jeder geistigen Aibeit. 

c) Erhöhte Lebensfreude, namentlich bessere Eindrücke in der Natur und auf Reisen. 

11. a) Ohne Alkohol: Hebung des guten Einvernehmens in der Familie, Abscheu 
der Kinder, darunter 2 Knaben, vor alkoholischen Getränken, erhöhte reine 
Geselligkeit bei Familienfesten im Hause. 

b) Als Enthaltsamer geniesse ich grösseres Vertrauen; seit 3 Jahren in bevorzugter 
Vertrauensstellung (Prokurist). 

c) Seitens früherer Freunde: allgemeine Achtung und Freundlichkeit, damit still¬ 
schweigende Anerkennung meines Standpunktes. 

d) Seit ich in der Enthaltsamkeits-Bewegung stehe, erfolgte mehrfache Heranziehung 
resp. Designierung seitens der Behörden zu Ehrenämtern, wie Armenpfleger, Vor¬ 
mund eines entmündigten Trinkers, Wahlvorsteher bei der Landtagswahl und Bei¬ 
sitzer bei Reichstagswahlen etc. 

i 2. ? 

13. Nichts. 


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205 


14- Die Enthaltsamkeitssache hat sich in Flensburg seit 1887 gut eingebürgert und 
Glück und Segen in viele Familien gebracht. Das Vorurteil ist bei Denkenden 
ganz beseitigt; jedoch ist die aktive Beteiligung an der Bewegung aus besser 
situierten Kreisen hier noch verhältnismässig gering. 

Es sind hier vertreten: 

Der Guttemplerorden I. O. G. T : 13 Logen u. 1 Jugendloge zus. ca. 1100 Mitgl. 

Der freie Guttemplerorden F. G. T. O.: 6 Logen.250 „ 

2 unabhängige Lokal-Logen ä 75 Mitglieder.150 „ 

ca. 1500 Mitgl. 

Je 1 Ortsverein vom 

Deutschen Verein abstinenter Kaufleute.30 Mitgl. 

Deutschen Verein abstinenter Eisenbahner.20 „ 

Verein abstinenter Handwerker.20 „ 

Die Stadtvertretung und die Gemeindebehörden stehen der Sache sehr 
sympathisch gegenüber und unterstützen sie in geeigneter Weise, namentlich in 
Anbetracht der grossen Entlastung der Armenkasse durch die Wirksamkeit der 
verschiedenen Vereine. Ebenfalls die Verwaltung der Flensbg. Schiffsbau-Ges. 
(Werft mit ca. 2700 Arbeitern) weiss es zu würdigen, dass ca. 300 ihrer An¬ 
gehörigen Abstinenten sind, die sich aus verschiedenen Beamten-Kategorien 
und namentlich aus den Arbeitern zusammensetzen. — Von den Meistern 
werden sich meldende Abstinenten bei Arbeitseinstellung mit Vorliebe berücksichtigt. 


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Nr. 24. Stud. phii. Otto Neurath in Berlin. 


20 (> 


1. Otto Karl Wilhelm Neurath. 

2. geh. io. Dezember 1882. 

3. Wien. 

4. stud. phil. 

5. Volksschule, Gymnasium, Universität Wien, jetzt Berlin. 

6. Gehört keinem Antialkoholverein an. 

7. Eine Einschränkung brauchte nicht zu erfolgen, weil ich seit meinem 14. Lebens¬ 
jahre prinzipiell Abstinent bin. 

8. Ich folgte bisher fremdem Rat und der Ueberlegung, dass der Alkohol gefährlich 
und Nichttrinken sicherer als Trinken sei (da besonders in Gesellschaft die 
Mässigkeit schwerer durchzuführen ist als die Abstinenz). Ferner habe ich 
bedacht, dass ich durch das Trinken von Alkohol die Selbstbeherrschung der 
sexuellen Neigungen verlieren könne, da mir aus vielen Mitteilungen bekannt 
ist, dass der Besuch eines Bordells oder einer Dirne häufig das erste Mal im 
Rausche erfolgt (Erregung eines gewissen falschen Ehrgeizes der Männlichkeit 
— Wegfall des sonst eintretenden Ekels vor der Dirne). 

(). In einigen Fällen, in denen nur die Wahl zwischen gesundheitsschädlichem 
Wasser oder Bier war, habe ich letzteres getrunken, in den letzten 7 Jahren im 
ganzen etwa 3 Liter Bier. 

10. Ich kann die Folgen der Enthaltsamkeit nicht beurteilen, da ich vor meinem 
14. Lebensjahre nur sehr selten hier und da ein kleines Gläschen Bier bei 
Landpartien oder bei einer Abendeiniadung getrunken habe. 

11. Man wird als Abstinent überall eigentümlich angesehen. Sogar sonst feingebildete 
Leute haben recht oft die — man kann es so nennen — Taktlosigkeit, gleich 
zu fragen: »Sie trinken nicht? Trinken Sie nie?«, was zugleich allerdings der 
Propaganda förderlich ist. Ich würde es für eine grosse Errungenschaft halten, 
wenn das Alkoholtrinken auch nicht ganz, aber doch wenigstens als Sitte 
verschwinden würde, wie dies beim Rauchen schon der Fall ist. — Das Nicht¬ 
rauchen fällt nicht mehr auf. Es ist nicht mehr allgemein Sitte. Wie man 
sich in Gesellschaft gegen das Rauchen verhält, so sollte man sich auch gegen 
das Trinken verhalten. Sehr viele würden dann nicht trinken, welche heute 
nur trinken, weil sie sich genieren. Diejenigen, welche so recht »im eigent¬ 
lichen Studentenleben stehen«, sind sehr selten Antialkoholiker. 

1 2. — 

T 3- — 

14. Das Beispiel des Nichttrinkens hat schon einigen Erfolg. Schwankende schliessen 
sich gern zusammen. 


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Vieiteljabrschronik über die Alkoholirage. 


207 


Vierteljahrsehronik über die Alkoholfrage. 


Chronik über die Monate April, Mai, Juni. 

Das zweite Quartal des Jahres 1904 hat die Lösung der Alkohol¬ 
frage durch den dritten internationalen Frauenkongress, der 
vom 12. bis 18. Juni d. J. in Berlin abgehalten wurde, wesentlich 
gefördert. Wenn erst das ganze weibliche Geschlecht für diese Be¬ 
strebungen gewonnen sein wird, wenn alle Frauen, Mütter und Mädchen 
in die Genossenschaften gegen den Alkohol eintreten, dann ist der 
Kampf zur Hälfte gewonnen; denn die Mütter sind die Haupterzieherinnen 
der Jugend, die Gattinnen und Hausfrauen sind vorzugsweise berufen und 
befähigt, dem männlichen Geschlecht Speise und Trank zu bereiten und 
ihm den heimischen Herd lieb und wert zu machen, indem sie nicht 
bloss für gute körperliche, sondern auch für geistige und seelische Kost 
und Befriedigung sorgen. Der dritte internationale Frauenkongress in 
Berlin hat nicht nur die Mässigkeitssache, sondern auch die damit zu¬ 
sammenhängenden Sittlichkeitsbestrebungen wesentlich gefördert und darf 
an dieser Stelle als ein internationales Kulturereignis gefeiert werden. 
Es hat sich gezeigt, dass die Frauenwelt erwacht ist zum Bewusstsein 
ihrer kulturellen Aufgaben. Die Hochschulbildung vieler Frauen hat 
offenbar schon gute Früchte getragen. Die massvollen und besonnenen 
Frauen wetteiferten mit den mutigen und begeisterten Kämpferinnen. Es 
war ein erfrischender geistiger Wettkampf von Vertreterinnen aller Kultur¬ 
völker, welche durch unblutige Siege einen internationalen Friedensbund 
für hohe humane Ziele. abgeschlossen haben. 

Die Verhandlungen über die Bekämpfung des Alkohol¬ 
missbrauchs fanden am 14. Juni in der Sektion III unter dem Vorsitz 
von Fräulein Ottilie Hoffmann-Bremen statt. Den einleitenden Vortrag 
hielt Frau Dr. phil. Hildegard Wegscheider-Ziegler (Berlin). Sie betonte 
in erster Linie die schlimmen Folgen des Alkohols für das werdende 
Geschlecht. Die Kinder leiden unter dem Alkoholismus der Eltern, 
indem sie willensschwach werden und später der Prostitution ein grosses 
Kontingent liefern. Nicht nur der Trunkenbold brutalisiert seine Frau, 
sondern auch die Männer, welche regelmässig ihren »harmlosen Dämmet - 
schoppen gemessen« bereiten ihren Frauen oft das härteste Los. Daher 


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208 


Vierteljahischronik über die Alkohol frage. 


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müssen Frauen und Mädchen den Kampf gegen den Alkohol entschlossen 
aufnehmen. Der Mann muss wissen, dass ein anständiges Mädchen keinen 
"Flinker heiraten und in Zukunft für die Befreiung der modernen Kultur 
vom Alkohol kämpfen wird! — Fine der wirksamsten Reden gegen den 
Alkohol hielt die Finnländerin Frau Alli Freygg-Helenius, die energische 
Gattin des bekannten Dr. Matti Helenius in Helsingfors, des Verfassers des 
Werkes über die Alkoholfrage. Sie verglich die bösen Folgen des Alkohols 
mit den Wirkungen eines Sumpfes, der, in der Nähe einer grossen Stadt 
befindlich, Gemüt und Leib aller vergiftet. Er wird aber nie weggeschafft, 
weil die Behörden ein Einkommen aus den Sumpfpflanzen beziehen. 
Schliesslich beseitigen die Einwohner selbst den Sumpf. Die Frauen 
Finnlands haben sich so im Kampfe gegen die Trinksitten erhoben. Eine 
einzige Frau hielt in kurzer Zeit i 56 Vorlesungen für 21 000 Zuhörer. 
Als ein neues Nationaltheater gebaut wurde, unternahmen die Frauen eine 
kräftige Agitation, um alle geistigen Getränke aus dem Theaterrestaurant 
zu verbannen. An die Spitze dieser Agitation stellte sich die junge Ge¬ 
mahlin eines Universitätsprofessors, die es mit den Damen aus den 
ersten Gesellschaftskreisen von Helsingfors persönlich übernahm, am 
Büffet das Publikum zu bedienen, indem sie alkoholfreies Bier, alkohol¬ 
freie Weine, Tee, Butterbrot, Konfekt und Früchte verkauften. In ähn¬ 
licher Weise stellten sich in Finnland auch die Lehrerinnen in den 
Dienst der Bewegung und beeinflussten die Schulen etc. Die Frauen 
Finnlands sind von dem Glauben erfüllt, die Welt gehe vorwärts. In 
den Vereinigten Staaten haben die Frauen ebenfalls den Kampf auf der 
ganzen Linie aufgenommen. Soll Europa den Amerikanern wieder die 
Ehre der zweiten Sklavenbefreiung lassen ? Mit dem Rufe nach Freiheit 
vom Alkohol schloss die Rednerin unter begeistertem Beifall aller Zuhörer 
ihre kernige Ansprache. Die folgenden Rednerinnen führten ähnliche 
Gedanken aus. Frl. Ina R o b e r g (Schweden) teilte mit, dass in ihrer 
Heimat, so wie Frau Helenius es von Finnland berichtete, die Lehrerinnen 
durch ihre Abstinenz grosse Wirkung erzielten. Die Antialkoholpropaganda 
soll in allen Schulen beim Unterricht jetzt obligatorisch eingeführt 
werden. In Schweden mit nur 5 Millionen Einwohnern gehören bereits 
50000 Frauen dem Guttemplerorden an. Und was das schönste und 
segensreichste ist, es hat sich ein Totalenthaltsamkeitsbund der studieren¬ 
den Jugend gebildet, dem viele tausende von Jünglingen und jungen 
Mädchen angehören. 

Frau Dr. phil. Bleuler-Waser (Schweiz) erstattete einen 
inhaltreichen Bericht über den Einfluss des Alkohols auf das Verhältnis 
der beiden Geschlechter. In Zürich können Mädchen ruhig alkoholfreie 
Restaurationen besuchen, weil es dort anständig zugeht. Je alkoholisierter 
die Männer sind, desto unangenehmer werden sie, nach den Ausführungen 
der Rednerin, allen anständigen Frauen. Der Alkohol bewirkt ein lockeres 
abstossendes Benehmen. Nicht Aphrodite ist im Gefolge des Bacchus 
und Gambrinus, sondern Venus vulgivaga. Wenn der Knabe sich vom 
Mädchen losreisst, um ins Leben zu eilen, so ist dies »Leben« häufig 
nur das Wirtshaus mit seiner Pseudomännlichkeit. Das Wirtshaus macht 



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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


209 


den jungen Mann zum Zotenreisser und Becher- und Bierhelden und 
endlich zum Weiberhelden. Anständige Mädchen und Frauen können 
ohne Männer und Brüder nicht gut Gasthäuser besuchen, wo Alkohol 
ausgeschenkt wird. Auch der m ä s s i g e Alkoholgenuss macht 
den Mann grobsinnlich und brutal der P'rau gegenüber. Im nüchternen 
Zustande werden ehrbare junge Männer schon durch den Sinn für Rein¬ 
lichkeit von jenen Orten abgeschreckt, wo die Weiblichkeit nicht nur in 
Worten, sondern auch in Taten misshandelt wird. Der erste Studenten¬ 
verein — das ist bezeichnend — welcher gleichberechtigte Kolleginnen 
aufnahm, war ein Abstinenzverein. Da konnten die Studenten 
anständige Mädchen in ihrer Gesellschaft haben, brauchten sich nicht 
mit Schenkdirnen zu begnügen. Im Zustande der Alkoholisierung sieht 
der Mann Helena in jedem Weibe. Und ist eine Ehe, in der der 
Mann alkoholisiert die Frau geschlechtlich fordert, viel besser als 
Prostitution? Die Frauen bedanken sich dafür, mit dem Wein auf eine 
Stufe gestellt zu werden. Aber wenn die Frau den Alkohol erfolgreich 
bekämpfen will, muss sie dem Mann eine Heimat für seine Gefühle und 
Gedanken schaffen, sie muss den Weingeist durch wahren Geist und 
reines Gemüt ersetzen. Die Frauen sind mitverantwortlich für die Ge¬ 
brechen des anderen Geschlechts, sie haben ja Einfluss auf die Sitten, 
auf die Jugend. Die Frau darf sich eben den Trinksitten nicht mehr 
beugen. Dieser Ruf, mit dem Frau Bleuler-Waser schloss, tönte aus allen 
Reden: Ihr Frauen und Mädchen, beugt euch nicht mehr den 
Trinksitten! 

Die Vorträge des internationalen Frauenkongresses haben dem Ge¬ 
danken vollen Ausdruck verliehen, dass die Mutter den Alkoholismus 
bekämpfen muss, um ihre Kinder nicht zu schädigen, und dass die 
Gattin den Alkohol verabscheuen muss, damit nicht ihr Gatte und 
dadurch sie selbst erniedrigt werde. Die meiste Hoffnung ist auf die 
Jugend zu setzen. Jünglinge und Jungfrauen müssen vereinigt den Kampf 
für Mässigkeit und Sittlichkeit aufnehmen, um mit dem eigenen Selbst 
auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu verbessern und 
menschenwürdiger zu machen! 

Der enge Zusammenhang der Alkoholfrage mit der Sittlichkeitsfrage 
kam auf dem internationalen Frauenkongresse in Berlin noch besonders 
zur Sprache in den Verhandlungen, welche von der Vorsitzenden der 
Sittlichkeitskommission des Bundes der deutschen PTauen vereine, P'rau 
K. Scheven-Dresden geleitet wurden. Frau Scheven wies in ihrem 
einführenden Vortrage auf die komplexe Natur der sexuellen Schäden, 
welche im Gefolge der modernen Kulturentwicklung und des Alkoholismus 
wegen des Mangels an guter Erziehung auftreten und durch wirtschaft¬ 
liche, soziale und pädagogische Reformen bekämpft werden müssen. Die 
Rednerin hob hervor, dass die Frauen an allen Reformen nicht nur als 
Objekt, sondern ebenso als Subjekt teilhaben müssten, ganz besonders 
auf dem Gebiet der Erziehung. Da gelte es, Mutterpflichten im höchsten 
Sinne an Söhnen und Töchtern zu erfüllen! Aus dem Schoss der 
Familie müsse ein neues junges Geschlecht, rein und widerstandsfähig 




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210 


Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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an Seele und Körper, der Gesellschaft zugeführt werden ! — Wir möchten 
aus den Verhandlungen des Krauenkongresses über die Hebung der Sitten¬ 
reinheit an dieser Stelle nur noch die Mitteilungen eines Studenten 
hervorheben, welcher die Bestrebungen und die Arbeit des akademischen 
Bundes »Ethos« schilderte, der für Geschlechtsreinheit in den Kreisen 
der studentischen Jugend ein tritt. — Wenn sich in unserm 20. Jahrhundert, 
ebenso wie in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts zur Zeit 
der deutschen Befreiungskriege, die Begründung von Tugendbündnissen 
in der akademischen Jugend auf allen deutschen Hochschulen wieder¬ 
holen und im Verein mit der Begründung von Mässigkeits- und Enthalt¬ 
samkeits-Vereinen über alle Länder und in allen Volkskreisen weiter 
verbreiten sollte, so wird man in der Tat auf eine allmähliche sittlich¬ 
religiöse Erneuerung des Menschengeschlechts, auf Völkerbündnisse für 
Sittenreinheit und für soziale Reformen und auf die Erreichung des 
Kantschen Ideals eines allgemeinen Weltfriedens hoffen dürfen!! 

Vorläufig gilt es, trotz kriegerischer Verwicklungen in verschiedenen 
Weltteilen, trotz leidenschaftlicher politischer und wirtschaftlicher Kämpfe 
zwischen grossen und kleinen Völkern und trotz scharfer sozialer Differenzen 
innerhalb der verschiedenen Volksklassen eines und desselben Volkes 
doch an dem Erfolge aufrichtiger internationaler Reformbestrebungen 
auf dem Gebiet der Alkoholfrage und anderer Kulturfragen nicht zu 
verzweifeln! 

Von Wichtigkeit für die Alkoholfrage waren auch die Verhand¬ 
lungen des internationalen Kongresses für Schulhygiene in 

Nürnberg im Monat April d. J. Es sprach dort u. a. Dr. Blitz- 
stein als Bevollmächtigter der Landesgruppe Deutschlands des inter¬ 
nationalen Alkoholgegnerbundes über »Alkohol und Schule«, ferner 
Wildemu th aus Stuttgart über »Schule und Nervenkrank¬ 
heiten«, Hofrat Dr. v. Förster aus Nürnberg über »Volksbildung 
und Schulhygiene und Realschullehrer Stanger aus Trautenau über 
»Sexuelles in und ausserhalb der Schule«. Wir dürfen 
wohl hoffen, die meisten der in Nürnberg erstatteten Referate in einem 
besonderen Versammlungsbericht oder in Separatabdrücken recht bald 
zu erhalten, um über ihren Inhalt genauer berichten zu können. Es 
möge hier in dieser Chronik nur als das Erfreulichste in der ganzen 
Antialkohol-Bewegung immer wieder hervorgehoben werden, dass die 
Pädagogen und Aerzte aller Länder bemüht sind, den gefährlichen Ein¬ 
fluss des Alkoholgenusses auf das körperliche und geistige Wohl der 
Jugend genau zu beobachten und die engen Beziehungen zwischen 
Alkohol und Kinderkrankheiten und Alkohol und geschlechtlichen Ver¬ 
irrungen schon in der Jugend an Beispielen und durch persönliche 
Erfahrungen statistisch nachzuweisen. — Wir machen in Betreff des 
Zusammenhanges des Alkohols mit den Sexuellen noch besonders auf 
den ganz neuen, erst im letzten Vierteljahr uns zugegangenen Vortrag 
des Braunschweiger Dermatologen Dr. med. Alfred Sternthal über 
»Männersittlichkeit und Frauengesundheit« aufmerksam. 



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Vierteljahrscbronik über die Alkoholfrage. 


211 


Dieser Vortrag ist veranlasst durch den am 17. Juli 1903 von dem 
preussischen Unterrichtsminister veröffentlichten > Erlass betreffend War¬ 
nung der Studierenden vor den Gefahren der Geschlechtskrankheiten« 
und enthält ergreifende Bilder über die Verheerungen, welche der Genuss 
von Wein und Bier nicht bloss bei Studierenden, sondern auch bei 
Ehemännern anrichtet. Eine der höchsten menschlichen Tugenden, die 
Keuschheit, gedeiht nur in der Nüchternheit. 


Ferner ist hier der im April in Wien eröffneten internationalen 
Ausstellung für Spiritusverwertung und Qärungsgewerbe 

zu gedenken. Diese Ausstellung ist besonders deshalb wichtig, weil die 
Bekämpfung des Branntweins als Genussmittel sehr wirksam dadurch 
erfolgen kann, dass man den Spiritus der technischen Verwertung 
zuführt. _ 

In Deutschland sind als beachtenswert für die Bewegung gegen 
den Alkoholismus hervorzuheben die wissenschaftlichen Kurse 
zum Studium des Alkoholismus, welche in der Osterwoche 
vom 5. April an fünf Tage lang in Berlin, im Baracken-Auditorium der 
Berliner Universität abgehalten worden sind. Die Vorträge, welche vom 
Vorstand des Zentralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus veran¬ 
lasst waren, wurden von dem Vorsitzenden des Zentralverbandes, Herrn 
Senatspräsident Dr. von Strauss und Torney mit einer Ansprache ein¬ 
geleitet, welche die Erschienenen begrüsste und mit dem Zweck der 
Einrichtung bekannt machte. Dem Schriftsteller Franziskus Hähnel aus 
Bremen, dem feurigen Apostel der Guttempler-Sache war als erstem 
Vortragenden die Behandlung der »Geschichte des Kampfes 
gegen den Alkoholismus« in 3 V orlesungen an vertraut. Der 
zweite Dozent Dr. med. Grotjahn-Berlin sprach ebenfalls in 3 Vorlesungen 
über »Alkoholismus und Volkswirtschaft. Als dritter Redner behandelte 
der dirigierende Arzt am städtischen Krankenhause in Charlottenburg, 
Brof. Dr. Grawitz in drei Vorträgen die »Einwirkung des Alkohols 
a u f Kö rp e r und Geist.« Ferner sprachen Dr. med. Laqueur aus Wies¬ 
baden über »Alkohol und Sexualhygiene«, Prof.Dr.Aschaffenburg, 
der Hallenser Psychiater, über »Alkoholismus und Arbeiter¬ 
frage«, Dr. med. Ploetz aus Schlachtensee über »Alkoholismus 
und die Nachkommenschaft« und Rektor Dammeyer aus Kiel 
über »Pädagogische Fragen«. Alle Vorträge waren vorzüglich, aber 
der Besuch gegenüber der übernommenen schweren und hochwichtigen 
Aufgabe nur wenig befriedigend und zwischen 30—60 Personen schwankend. 
Charakteristisch für alle Vortragenden war der zwar ausgiebige, aber doch 
sehr behutsame Gebrauch statistischer Angaben und das stete Hervor¬ 
heben, auf wie unsicherem Boden die Statistik in der Alkoholfrage 
stehe. Ein Diskussionsabend gab den Teilnehmern noch Gelegenheit 
zur Aussprache und reichlich ausgelegte Literatur gab den Ferner¬ 
stehenden Winke zu Anschaffungen, um sich noch weiter in die be- 


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212 


Vicrteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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handelten Kragen zu vertiefen. Aus der Tatsache, dass bis auf zwei 
der Vortragenden, nur Aerzte und Lehrer zu Worte kamen, ersieht man 
deutlich, auf welcher Seite heute das Hauptinteresse zu finden ist. 
Trotz des finanziellen Misserfolgs soll der »Zentralverband« beabsichtigen, 
auch nächstes Jahr wieder einen ähnlichen Vortragscyklus zu veran¬ 
stalten. Möchte er dann vor allem mehr Anerkennung durch zahl¬ 
reichere Beteiligung finden !_ 

Der deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke hat am 20. April die Frühjahrssitzung seines Verwaltungs¬ 
ausschusses abgehalten, zu welcher 31 Mitglieder aus den verschiedensten 
Teilen Deutschlands erschienen waren. Er hat § 14 seiner Satzungen 
dahin geändert, dass die Zahl der Vorstandsmitglieder fortan 9 betragen 
soll. Die Jahresversammlung des Vereins soll in Erfurt im September 
oder in der ersten Hälfte des Oktober gehalten werden. Als Verhandlungs¬ 
gegenstände sind gewählt: 1. Alkoholismus und höhere Schulen, 2. Der 
Flaschenbierhandel und 3. Das Branntweinmonopol. Die Jahresrechnung 
des Vereins für 1903 schliesst (abgesehen von den Nebenkassen) in 
Einnahme und Ausgabe mit 37 587 Mk. 95 Pf. ab. Das Gesamtver¬ 
mögen wird auf 17275 Mk. 67 Pf. angegeben. Der neue Geschäfts¬ 
führer Gonser entwickelt eine den Vorstand und Verwaltungsausschuss 
und die Mitglieder sehr befriedigende Wirksamkeit und ist eifrig be¬ 
müht, innerhalb des Vereins die Kluft zwischen Mässigen und Enthalt¬ 
samen zu schliessen. In den Vorstand des Vereins ist als Nachfolger 
des Freiherrn von Diergardt, der seinen Austritt aus dem Vorstand er¬ 
klärte, aber eine kräftige Weiterarbeit in Schlesien versprach, der vom 
Dresdner Bezirksverein vorgeschlagene Dr. Esche in Dresden gewählt 
worden. 


Nach Berichten aus Berlin von Ende Juni d. J. ist bei dem 
Preussischen Abgeordnetenhaus vom Abgeordneten Grafen Douglas ein 
Antrag eingegangen, zur Bekämpfung des Alkoholismus eine 
»Landeskommission für Volkswohlfahrt« einzusetzen. 


Gegen Ende Juni ist von Bremen aus durch den Lehrer Franciscus 
Hähnel, Herausgeber und Redakteur des Berichts über den IX. inter¬ 
nationalen Kongress gegen den Alkoholismus, eine Aufforderung zur 
Bildung eines „Allgemeinen Zentralverbandes zur Bekämpfung 
des Alkoholismus 44 an zahlreiche deutsche alkoholgegnerische Ver¬ 
einigungen und Redaktionen alkoholgegnerischer Zeitschriften ergangen, 
Vertreter zu dem auf Montag, den 18. Juli, vormittags 10 Uhr, in der 
»Flora« in Altona stattfindenden Versammlung zu senden. An den 
beiden vorhergehenden Tagen, am 16. und 17. Juli d. J., wird auch 
der deutsche Abstinententag in Altona zusammentreten. 



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Yieiteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


213 


Anlangend den Stand der Alkoholfrage in Deutschland so 
gedenken wir hier ferner der Jahresversammlung des sächs. 
Landesverbandes gegen den Missbrauch geistiger Getränke 

vom 2 6. J u n i d. J. Diese von dem Vorsitzenden des sächsischen 
Landesverbandes, Dr. Meinert-Dresden geleitete Jahresversammlung wurde 
in Chemnitz nach Begrüssungsworten von Dr. Meinert durch einen Vortrag 
von Frau K. Scheven-Dresden über das Thema »Eine soziale Auf¬ 
gabe der Frau« mit besonderer Beziehung auf die Alkoholfrage eröffnet. 
Frau Scheven wandte sich in ihrem Vortrag hilfesuchend an das weib¬ 
liche Geschlecht. Da die Abwendung vom Alkohol eine bewusste Selbst¬ 
zucht, mithin eine grosse sittliche Energie voraussetzt, müsse die Be¬ 
kämpfung dieses schweren sozialen Uebels bereits bei der Erziehung der 
Jugend einsetzen, die zum grössten Teile in den Händen der Frauen 
und Mütter liegt. Die Rednerin wies auf den innigen Zusammenhang 
zwischen Trinksitten und Unsittlichkeit hin, die sich in den erschreckend 
hohen venerischen Krankheitsziffern der studierenden Jugend offenbart 
und ermähnte die Mütter, ihre Kinder gänzlich ohne Alkohol zu erziehen, 
um ihnen später den Widerstand gegen die Verlockungen der Sinne zu 
erleichtern. Sie forderte die Frauen auf, ihren Einfluss als Gattinnen, 
als massgebender Faktor in der Geselligkeit, im Beruf, als Lehrerinnen 
und Aerztinnen, auf dem Gebiet sozialer Hilfsarbeit und volkserzieherischer 
Aufklärung zur Bekämpfung des Alkoholismus geltend zu machen und 
liess die bewundernswürdigen Leistungen der amerikanischen, englischen, 
tinnländischen und Schweizer Frauen Revue passieren. Sie wies zum 
Schlüsse darauf hin, dass die Bekämpfung der verrohenden Trinksitten 
im ureigensten Interesse der Frauen liege, da nicht nur ihr persönliches 
Glück in Ehe und Familie, sondern auch der Fortschritt aller Bestrebungen 
für die rechtliche, wirtschaftliche und geistige Befreiung der Frau zum 
grossen Teil davon abhänge, ob es gelinge, die brutale Macht des 
Stärkeren unter die Herrschaft sittlicher Potenzen zu zwingen. Die Vor¬ 
aussetzung einer solchen Entwickelung aber sei die Bekämpfung aller 
finsteren Mächte, die die Bestie im Menschen entfesseln: Roheit, Alko¬ 
holismus, Prostitution! 

Der kürzlich vom preussischen Unterrichtsminister veröffentlichte 
Erlass, betreffend Warnung der Studierenden vor den Gefahren der 
Geschlechtskrankheiten« legt den Wunsch nahe, dass recht bald auch 
eine ähnliche »Warnung der Studierenden vor den Gefahren des mit 
der Unsittlichkeit eng zusammenhängenden Älkoholismus« erscheinen möge. 
Wie notwendig eine Aenderung der akademischen Trinksitten ist, wird 
durch folgende Ausführungen eines Korpsstudenten in Bd. XIX Jahrg. 14, 
S. 123 der »Akademischen Monatshefte« bewiesen: »Auch 
das Unschöne einer sinnlosen Bezechtheit erkenne ich an. Aber eben 

darum muss der Korpsstudent trinken lernen. Eine Geselligkeit 

ohne Alkohol ist heute nicht denkbar. Dies gilt nicht nur für studen¬ 
tische Kreise. Der Korpsstudent ist namentlich im späteren Leben 
darauf angewiesen, in den verschiedensten Kreisen zu verkehren. Von 


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214 


Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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ihm wird verlangt, dass er immer und überall ein tadelloses Benehmen 
an den Tag legt. Er muss also auch mit Anstand trinken können. 
Dies erfordert eine gewisse Vorschule, die ihm die Aktivität bietet. 
Besonders,häufig wird der Korpsstudent in Offizierskreisen in die Lage 
kommen, zu beweisen, dass er auch beim Trünke seinen Mann stellt. 
Ich kann wohl sagen, dass in Gesellschaft von Offizieren meine Trunk¬ 
festigkeit härtere Proben zu bestehen hatte, als unter Korpsstudenden . . . 
ich hatte Gelegenheit festzustellen, welchen Wert es besitzt, das Trinken 
gründlich erlernt zu haben [! !|« Ein Kommentar zu der vorstehenden 
Begründung des akademischen Trinkzwangs ist wohl überflüssig. Es 
müssen im neuen Jahrhundert nicht nur die Trinksitten der oberen, 
mittleren und unteren Stände, sondern überhaupt die Begriffe von Anstand 
und Menschenwürdigkeit, von Mässigkeit und Sittlichkeit umgestaltet und 
eine gesundheitliche, sittliche und religiöse Erneuerung des Menschen¬ 
geschlechtes mit dem Ziele der Reinhaltung von Körper, Geist und 
Seele angebahnt werden.« 

Fünfundzwanzig Jahre Enthaltsamkeitsarbeit in Schwe¬ 
den. Im Jahre 1904 ist ein Vierteljahrhundert verflossen, seitdem der 
Independent Order of Good Templars durch Begründung der ersten 
Guttemplerloge in Gothenburg, der klassischen Stadt des Kampfes 
wider den Alkohol, in Schweden Eingang fand. Aus diesem Anlasse 
ist die Veranstaltung grösserer Feiern im ganzen Lande in Aussicht 
genommen — teils im Laufe des Sommers, und zwar im Juli, in Ver¬ 
bindung mit einer Versammlung der Grossloge zu Malmö — teils iin 
Herbste zu der Zeit, in welche der Jubeltag fällt. 

Bei Gelegenheit der letzten Grosslogen-Versammlung schon erhielt 
der Vorstand den Auftrag, Vorschläge über eine dem Guttemplerorden 
Schwedens würdige Stiftung auszuarbeiten, über welche die diesjährige 
Grosslogen-Vereinigung zu beschliessen haben würde. Infolge dieses 
Auftrages sind drei Vorschläge unterbreitet worden. Von denselben 
betraf der eine die Errichtung eines Guttempler - K i n d e rh e i m s zu 
dem Zwecke, den Kindern von Trinkern eine Zuflucht zu gewähren; 
ein anderer befürwortete die Bildung eines Fonds zur Unter¬ 
stützung älterer bedürftiger Guttempler; ein dritter An¬ 
trag richtete sich auf die Schaffung einer Hochschule des Gut¬ 
templerordens mit der Bestimmung, eine freie Bildungsstätte für 
wissensdurstige Männer und Frauen aus dem ganzen Lande zu sein. 
Die drei Vorschläge werden der Grossloge in deren bevorstehender 
Versammlung zu Malmö behufs endgültiger Entscheidung vorgelegt 
werden. 

Eine stattliche Jubiläumsschrift ist in Vorbereitung und wird im 
Sommer zur Ausgabe gelangen. In derselben will man eine ausführliche 
Darstellung der grossartigen Entwicklung des Ordens auf schwedischem 
Boden bieten. 

Eine kürzlich aufgestellte Statistik zeigt, dass die Mitgliederzahl 
in sämtlichen schwedischen Guttemplerlogen am 1. Februar d. J. 118698 



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Vierteljahrschronik über die Alkohol frage. 


215 


betrug und dass eine Vermehrung derselben im letzten Jahre um 9132 
Personen erfolgt ist. Bis zum 1. Mai d. J. hat man übrigens eine weitere 
Zunahme von rund 6000 Mitgliedern zu verzeichnen gehabt. Hierzu 
kommt noch, dass die besonderen Jugendabteilungen des Ordens sich 
um 8000 Mitglieder mehrten und nunmehr gegen 30 000 Mitglieder 
zählen, so dass die Gesamtzahl der Mitglieder von Guttemplervereinigungen 
volle 150000 erreicht. H. 

Zu der vorstehenden erfreulichen Mitteilung über die Fortschritte 
und hohen Ziele, welche sich die Freunde der Enthaltsamkeit in 
Schweden stellen, möchte die Redaktion der »Alkoholfrage« bemerken, 
dass ihr die Errichtung einer schwedischen Hochschule für das 
Studium der Alkohol frage als ganz besonders erwünscht und 
international bedeutungsvoll erscheint. Wie Schweden den internationalen 
Bestrebungen für Handarbeit und Hausfleiss durch sein Seminar in Näas 
die wichtigste Anregung und Förderung geleistet hat, so sollte Schweden 
auch eine Hochschule mit Seminar zur Untersuchung der Wirkungen 
des Alkohols und zur Verhütung der Alkoholschäden errichten. Alle 
Kulturvölker können in der Alkoholfrage und in verschiedenen anderen 
Kulturfragen von den skandinavischen Ländern und Finnland viel 
lernen und würden dort ihr Wissen und Können im Anschauen von 
Land und Leuten, durch Prüfung fremder Einrichtungen und Sitten 
wesentlich bereichern können ! 


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II. Besprechungen. 



O 


Alcoholic Beverages and Longevity. (Alkoholische Getränke 
und Langlebigkeit) von Thos. P. Whittaker aus der englischen Monats¬ 
schrift »The Contemporary Review« (Märznummer 1904). 

Schon seit einer Reihe von Jahren ist man im Besitz von Massen¬ 
erfahrungen über die relative Sterblichkeit der Enthaltsamen und des 
allgemeinen Publikums. Dies Material verdankt man gewissen englischen 
Lebensversicherungsgesellschaften. Bei uns in Deutschland wären solche 
Erhebungen unmöglich, weil wir nicht unter uns die sog. teetotalers 
haben, nämlich Leute, die von Jugend auf strenge Enthaltsamkeit von 
allen alkoholischen Getränken durchführen. Diese sind in England sehr 
zahlreich und es gibt Versicherungsgesellschaften, die getrennte Buch¬ 
führung haben über die Enthaltsamen und die Nichtenthaltsamen. Eine 
dieser Gesellschaften ist die United Kingdom Temperance and General 
Provident Institution. Diese Gesellschaft liefert ganz neuerdings Erfahrungs¬ 
material von ausserordentlicher Wichtigkeit. 

Die Gesellschaft wurde im Jahre 1840 auf eine besondere Veran¬ 
lassung gegründet. Man war damals allgemein der Meinung, dass die 
stärkeren alkoholischen Getränke, wie Rum und Brandy gute Stärkungs¬ 
mittel seien und dass sie als solche gebraucht werden sollten, namentlich 
bei Choleraepidemien, bei Malaria usw. Als nun Totalabstinenten ihr 
Leben versichern wollten, lehnten die Versicherungsgesellschaften ihre 
Aufnahme mit der Begründung ab, dass, wer es sich versage, die wohl- 
bekannten Stärkungs- und Präventivmittel zu gebrauchen, der setze sich 
damit einer grösseren Lebensgefahr aus. Darauf hin wurde die neue 
Lebensversicherungsgesellschaft gegründet und zwar nur für Abstinente. 
Anfangs wurden nur Totalenthaltsame aufgenommen, nach einigen Jahren 
aber wurde beschlossen, auch eine Abteilung für das allgemeine Publikum 
zu eröffnen, jedoch wurde getrennte Buchführung für die beiden Abtei¬ 
lungen strenge durchgeführt. Es zeigte sich schon bald, dass bei den 
Abstinenten die Sterblichkeit weit geringer war, als in der allgemeinen 
Abteilung. Das Verhältnis war so, dass wo 96 Personen in der allge¬ 
meinen Abteilung starben, da starben unter den Enthaltsamen aus der 
gleichen Anzahl von Versicherten nur 71. Als die Gesellschaft eine 
Reihe von Jahren diese geringere Sterblichkeit bei den Enthaltsamen 
festgestellt hatte, ging sie dazu über, den Abstinenten einen Rabatt von 
10 bis 15 Prozent auf ihre Versicherungsprämie zu gewähren, so dass 
also, wo der Versicherte in der allgemeinen Abteilung Mk. 100 das Jahr 
bezahlte, der Versicherte in der Abstinentenabteilung Mk. 85 bis 90 zu 
bezahlen hatte. Die Höhe des Rabatts richtete sich nach der Länge 
der Abstinenz und dein Alter des Versicherten. Die lebenslängliche 
Abstinenz von Jugend auf war damals noch weniger häufig als heute. 


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Besprechungen. 


217 


Dies war im wesentlichen das, was man bisher über diesen Gegen¬ 
stand erfahren hatte. Und nun kommt eine Erweiterung, nämlich neue 
Einzelheiten, die den Enthaltsamen noch viel günstiger sind. Diese Einzel¬ 
heiten finden sich in der englischen Monatsschrift The Contemporary Review, 
März-Nummer 1904, in einer Abhandlung betitelt Alcoholic Beverages 
and Longevity (Alkoholische Getränke und Langlebigkeit) von Thos. P. 
Whittaker, einem Mitgliede des englischen Parlaments. Diese Abhand¬ 
lung handelt von den neueren Erfahrungen der schon genannten Lebens- 
versicherungsgesellschaft The United Kingdom Temperance and General 
Provident Institution. Der Verfasser verdankt das Zahlenmaterial dem 
Aktuar der Gesellschaft, Mr. R. M. Moore. Dies Material ist ausgezeichnet 
durch Ausführlichkeit und Genauigkeit. Besonders lehrreich ist die 
Verteilung der Sterblichkeit auf die verschiedenen Altersstufen. Es zeigt 
sich nämlich, dass die viel grössere Sterblichkeit, die sich bei den Nicht¬ 
enthaltsamen findet, gerade die Jahre der rüstigen Arbeit trifft. 

Die Erfahrungen, die Mr. Whittaker mitteilt, erstrecken sich über 
einen Zeitraum von 60 Jahren, nämlich vom Jahre 1841 bis 1901. Zum 
Vergleich herangezogen sind nur Männer, da die Trinkgewohnheiten bei 
dem weiblichen Teil der Bevölkerung eine geringere Rolle spielen. Ferner 
ist nur die Lebensdauer solcher Männer in Vergleich gestellt, die für 
die Dauer ihres ganzen Lebens versichert waren, wo also erst nach ein¬ 
getretenem Tode die Versicherungssumme ausbezahlt wurde. Ausge¬ 
schlossen sind ferner alle solche, die aus der einen Abteilung in die andere 
übertragen wurden. Wir haben es deshalb mit gut gewähltem Material 
zu tun. 

Die folgende Tabelle zeigt die Sterblichkeit in den beiden Abteilungen: 


Gesunde Männer — Policen auf das ganze Leben— 1841 —1901 



Nichtenthaltsame 


Enthaltsame 


Alter 

Anzahl 


Sterblichkeit 

Anzahl 


Sterblichkeit 

der 

Gestorben 

Prozent 

der 

Gestorben 

Prozent 


Versicherten 


pro Jahr 

Versicherten 


pro Jahr 

0—19 

2768 

11 

0,397 

5619 

33 

0,587 

20—24 

9516 

63 

0,662 

15760 

73 

0,463 

25—29 

27099 

157 

0,579 

32740 

133 

0,406 

30-34 

46965 

339 

0,722 

46555 

190 

0,408 

35—39 

61106 

495 

0,810 

54097 

240 

0,444 

40—44 

67423 

645 

0,957 

55604 

304 

0,547 

45—49 

65931 

846 

1,283 

51377 

385 

0,749 

50—54 

58941 

992 

1,683 

44138 

463 

1,049 

55—59 

47879 

1136 

2,373 

34974 

585 

1,673 

60—64 

35161 

1148 

3,265 

25263 

648 

2,565 

65—69 

23219 

1176 

i 5,065 

16479 

702 

4,260 

70—74 

12857 

922 

l 7,171 

9325 

578 

6,199 

75—79 

5780 

614 

10,623 

4351 

505 

11,607 

80-84 

1890 

307 

16,252 

1346 

205 

15,230 

85-89 

358 

79 

22,607 

322 

66 

20,497 

90-94 

49 

16 

32,653 

55 

14 

25,455 

95—99 

1 

1 

| 100,000 

5 

— 

— 

Summe 

466943 

8947 

_ 

398010 

5124 

— 


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Original fro-m 

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Besprechungen. 


&18 


Stellt man die Sterblichkeiten der beiden Abteilungen zusammen, 
so kann man sie folgendermassen vergleichen : 



Sterblichkeit 

Steiblichkeit | 

Nimmt man die Sterblichkeit der 

Alter 

Prozent pro Jahr 

Prozent pro Jahr 

Nichtenthaltsamen =s= 100, so ist 


Enthaltsame 

Nichtenthaltsame ' 

__ 1 

die Sterblichkeit der Enthaltsamen 

0-19 

0,587 

0,397 1 

148,0 

.20—24 

0,463 

0,662 

69,9 

25—29 

0,406 

0,579 

70,1 

30—34 

! 0,408 

0,722 

56,5 

35—39 

0,444 

0,810 

54,8 

40-44 

0,547 

0,957 

57,2 

45—49 

0,749 

1,283 

58,5 

50—54 

1,049 

1,683 j 

62,4 

55—59 

1,673 

2,373 

70,6 

60—64 

2,565 

3,265 

78,5 

65-69 

4,260 

5,065 

! 84,0 

70-74 , 

6,199 

7,171 

86,5 

75—79 1 

11,607 

10,623 

110,0 

80—84 | 

15,230 

16,252 

93,7 

85-89 1 

20,497 

22,607 

90,7 

90—94 jj 

25,455 

: 32,653 

77,9 


Hierzu macht Mr. Whittaker folgende Bemerkung: 

Diese Tabellen beziehen sich auf die ganze Zeit während der die 
Versicherung in Kraft war. Ein besserer Vergleich für unsere Zwecke 
ergibt sich, wenn wir die ersten fünf Jahre der Versicherungszeit aus- 
lassen, denn in dieser Zeit wird so ziemlich der Einfluss der ärztlichen 
Auswahl verschwinden. Wenn wir also die ersten fünf Jahre weglassen, 
so eliminieren wir beinahe jeden Vorteil, welcher der einen oder der 
anderen Abteilung erwachsen möchte, wenn darin eine grössere Anzahl 
neuer Aufnahmen sich befinden, d. h. neif ausgewählter Leben. 

Stellen wir auf diese Weise wieder die Sterblichkeit der beiden 
Abteilungen zusammen, so ergibt sich folgender Vergleich: 

Enthaltsame und Nichtenthaltsame 


die ersten fünf Jahre der Versicherung weggelassen: 


Ü 

Sterblichkeit j 

Sterblichkeit 

Nimmt man die Sterblichkeit der 

Alter i 1 

Prozent pro Jahr 

Prozent pro Jahr 

Nichtenthaltsamen = 100, so ist 

tl 

Enthaltsame 

i 

Nichtenthaltsame 

die Sterblichkeit der Enthaltsamen 

0—24 

0,488 

0,845 

57,8 

25—29 

0,544 

0,935 

58,2 

30-34 

0,458 

0,886 

51,7 

35-39 

0,479 

0,909 

52,7 

40-44 

0,581 

1,042 

55,8 

45—49 

0,784 i 

1,402 

55,9 

50—54 , 

1,064 

1.754 i 

60,7 

55—59 

1,082 

2,425 1 

69,4 

60—64 

2,571 j 

3,378 

76,1 

65—69 1 

4,262 1 

5,108 

| 83,4 

70-74 

6,260 ! 

7,250 

86,4 

75-79 

11,652 1 

10,635 

109,5 

80—84 

15,327 

16,334 

93,7 

85-89 

20,497 

21,910 

93,6 

90—94 

25,455 

32,653 

78,0 

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Original ffom 

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Besprechungen. 


219 


ln den ersten beiden Tabellen zeigen sich zwei auffallende Er¬ 
scheinungen. Zuerst die, dass die Enthaltsamen im Alter von o bis 19 
Jahren eine grössere Sterblichkeit aufweisen, als die Nichtenthaltsamen. 
Die einfache Erklärung hierfür ist, dass in so jugendlichem Alter die 
Abstinenz noch keine Rolle spielt und dass auch die Anzahl der Ver¬ 
sicherten hier noch zu gering ist, als dass sich allgemeine Schlüsse 
ziehen Hessen. Eine zweite auffallende Erscheinung ist die, dass die 
Enthaltsamen wieder eine grössere Sterblichkeit als die Nichtenthalt¬ 
samen aufweisen in dem Alter von 75 bis 79. Die Erklärung hierfür 
ist, wie Mr. Whittaker hervorhebt, dass bei den Abstinenten Viele, deren 
Gesundheit nicht sehr stark war, eben durch die Abstinenz es bis zu 
diesem hohen Alter gebracht haben, während in der allgemeinen Ab¬ 
teilung die meisten Altersgenossen dieser schon früher gestorben sind. 

Mr. Whittaker macht zu den obigen Tabellen noch die wichtige 
Bemerkung, dass der Unterschied zwischen der Sterblichkeit in den 
beiden Abteilungen von vorn herein schon gross war, dass dieser Unter¬ 
schied aber neuerdings noch bedeutend gewachsen ist. Hierfür gibt er 
folgende einleuchtende Erklärung. Früher gab es unter den Enthalt¬ 
samen mehr solche, die erst später im Leben enthaltsam wurden, während 
heutzutage eine grössere Anzahl als früher von Jugend auf enthaltsam 
lebt. Dazu kommt noch, dass heutzutage unter den Enthaltsamen manche 
sind, deren Väter schon enthaltsam waren. 

Um die hohe Bedeutung obiger Zahlen zu erkennen, bemerke man 
zunächst, dass in der allgemeinen Abteilung die grössere Sterblichkeit 
nicht etwa wohlbekannten Alkoholkrankheiten zur Last fällt, sondern 
dass die Sterbefälle infolge von allen möglichen Krankheiten eintreten, 
als da sind Tuberkulose, Typhus usw., so dass also die Sterblichkeit 
im allgemeinen grösser ist. Dies treibt uns aber mit zwingen¬ 
der Gewalt zu dem Schluss, dass der gewohnheits- 
mässige Genuss alkoholischer Getränke den ganzen 
Körper schwächt und seine Widerstandskraft gegen 
alle möglichen Krankheiten herabsetzt. 

Dass diese Schwächung eine sehr bedeutende sein 
muss, ersieht man daraus, dass in den Jahren der rüs¬ 
tigen Arbeit von 25 bis 60, die Sterblichkeit der Ab¬ 
stinenten um mehr als 35% geringer ist, als die des 
allgemeinen Publikums. 

Wie man dies Endresultat erhält, zeigt folgende Tabelle: 

Beginnend mit 10000 Lebenden im Alter von 25 Jahren: 


Enthaltsame l| Nichtenthaltsame 


Alter 

Sterblichkeit 

Prozent 

Sterbende 

Lebende 

Sterblichkeit 
Prozent 1 

Sterbende 

Lebende 


pro Jahr 



pro Jahr j 

1 


25-29 

l 0.544 

272,0 

9728,0 

0,935 

367.5 

9632,5 

30-84 

0,458 

222,7 

9505,3 

0,886 

426,6 

9205,9 

35-39 

0,479 i 

227,6 

9277,5 

L 0,909 

418,4 

8787,5 

40-44 

0.581 

269,5 

9008,0 

j 1,042 

457,8 

8329,7 

45—49 

0,784 

353,0 

8655,0 

1, 1,402 

; 583,5 

7746,0 

50-54 

i, 1,064 

460,4 

8194,6 

! 1,754 

1 779,0 

6967,2 

55—59 

,| 1,682 

688,5 

7506,0 

|| 2,425 

1 844,5 

6122,7 


— 

2493 

! — 

1 — 

| 3877 

— 

Die 

Alkoholfrnge 




n 


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220 


Besprechungen. 


Difitized by 


Gestorben sind zwischen 25 und 60 Jahren: von den Enthalt¬ 
samen 2493, von den Nichtenthaltsamen 3877. Das Verhältnis der 
beiden Sterbeziffern für die Jahre der rüstigen Arbeit (von 25 bis 60) 
ist daher 2493:3877 oder 64,3 zu 100. 

Also die Sterblichkeit der Enthaltsamen für diesen ganzen Zeitraum 
ist um 35,7 % geringer als die des allgemeinen Publikums. 

Will man verstehen, wie es kommt, dass im Publikum die 
Schwächung des Körpers, die durch den gewohnheitsmässigen Alkohol¬ 
genuss herbeigeführt wird, gar nicht bemerkt zu werden pflegt, so be¬ 
achte man, dass die inneren Organe, wie Herz, Nieren, Leber schon stark 
geschädigt sein können, ohne dass sich dies durch Schmerzen kundgibt. 
Das Herz kann schon stark erweitert, die Leber verfettet sein, ohne 
dass dies im Allgemeinbefinden sich zu erkennen gibt. Dass aber diese 
Organe nicht mehr im Stande sind, ihre Funktionen gehörig zu verrichten, 
zeigt sich, wenn wegen irgendwelcher Krankheitsursache grössere An¬ 
sprüche an ihre Leistungen gestellt werden. 

Aber noch eine Betrachtung drängt sich hier auf. Der Alkohol 
ist vor allem ein Gehimgift und man muss daher von vornherein ver¬ 
muten, dass gerade das Gehirn in hohem Mass durch den täglichen 
Alkoholgenuss geschädigt werden muss. Dies stimmt auch mit der 
Erfahrung überein, dass eine gewisse Stumpfheit sich einzustellen pflegt, 
Unlust zu geistigen Arbeiten etc., auch pflegt ja die Gemütsstimmung 
zu leiden. Aber hier tritt ein grosser Uebelstand dem Verständnis hindernd 
in den Weg, nämlich dass wir für geistige Dinge kein rechtes Mass 
besitzen. Wir können wohl im allgemeinen sagen, jenes Menschen 
Urteilskraft hat nachgelassen, aber zahlenmässig angeben lässt sich das 
nicht. Diese Bemerkung gilt für alle die höheren Geistesfähigkeiten, 
die Schwächung wird meist erst bemerkt, wenn sie schon recht gross 
geworden ist. Am ersten wird sie einem alten Bekannten auffallen, der 
selbst ganz oder beinahe abstinent lebt, wenn beide nach langer Trennung 
sich wieder begegnen. 

Die Erkenntnis, dass der Mensch durch den täglichen Genuss 
alkoholischer Getränke geschwächt wird und zwar in jeder Hinsicht, 
körperlich und geistig, ist von ungeheuerer Tragweite. Sie erklärt gar 
manche Erscheinungen, die sonst unerklärlich wären. Ich führe eine 
bedeutungsvolle Tatsache von der Art an. Prof. Münsterberg, in seinem 
neuen Buche »Die Amerikaner« (Berlin 1904) sagt, es sei unter 
amerikanischen Fabrikanten wohlbekannt, dass auf manchen Gebieten 
10 (anglo)-amerikanische Arbeiter soviel leisten, wie 15 oder gar 
20 deutsche Arbeiter. Die Erklärung, die Münsterberg hiefür gibt, ist 
wahrlich etwas schwach, nämlich das höhere Selbstbewusstsein des 
Amerikaners soll ihm diese höhere Leistungsfähigkeit geben! Die 
Hauptsache ist hier ausser Acht gelassen, nämlich der deutsche Arbeiter 
in Amerika huldigt fast ausnahmslos dem täglichen Biergenuss und der 
Amerikaner ist abstinent! W. A. S. 



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Besprechungen. 


221 


Archiv für Rassen- und Geschlechtsbiologie, einschliesslich 
Rassen-Geschlechtshygiene. Zeitschrift für die Erforschung des Wesens 
von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Verhältnisses, für 
die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Entwicklung, so¬ 
wie für die grundlegenden Probleme der Entwicklungslehre. Heraus¬ 
gegeben von Dr. med. Alfred Plock, in Verbindung mit Dr. iur. et 
phil. Hermann Friedemann, Dr. iur. A. Nordenholz und Professor 
Dr. phil. Ludwig Perte. Verlag der Archiv-Gesellschaft, Berlin W. 62. 

Unter den Vorträgen, die auf dem 9. internationalen Kongress 
gegen den Alkoholismus gehalten wurden, befanden sich auch zwei, 
welche die Rolle des Alkoholismus im Lebensprozess der Rasse be¬ 
handelten. Sehr vielen mögen die Gedanken, die dabei ausgesprochen 
wurden, neu und überraschend gewesen sein. Ein wie lebhaftes Interesse 
sie aber auf allen Seiten erregt hatten, bewies die stürmische Debatte, 
die sich an die beiden Referate anknüpfte. In der Tat gibt es wohl 
kein Problem, das augenblicklich mehr im Vordergründe des wissen¬ 
schaftlichen Denkens unserer Zeit stände, als das Problem der Rasse. 
Eine Flut von Schriften hat sich über uns seit den geistreichen Unter¬ 
suchungen des Grafen Gobinneau über die Ungleichheit der Menschen¬ 
rassen ergossen und wenn man auch nicht sagen kann, dass das zu¬ 
grunde liegende Menschheitsproblem an irgend einer Stelle wesentlich 
erhellt worden wäre, so haben doch manche ernste Arbeiten, wie 
die von Laponge, Virchow, Ammon, Schurtz und Houston Steward 
Chamberlain — um nur die bekanntesten Namen zu nennen — gezeigt, 
dass wir auf diesem Gebiete den Schlüssel zu manchen Fragen der 
Gesellschaftswissenschaften und der Kulturgeschichte zu suchen haben, 
die uns bisher als unlösbar erschienen. Freilich gibt es zunächst ein 
immer dichter aufschiessendes Gestrüpp unreifer und vorlauter Ansichten 
zu beseitigen, das die ruhige Entwicklung der wissenschaftlichen Unter¬ 
suchung nur stören kann. Denn nirgends hat sich neuerdings ein un¬ 
erträglicher Dilettantismus breiter gemacht, als gerade hier. Es ist daher 
ein sehr wertvolles Unternehmen, eine besondere Zeitschrift zu begründen, 
die als Brennpunkt für die wissenschaftliche Erörterung dieser so ausser¬ 
ordentlich vielseitigen und komplizierten Fragen dienen kann. Und es 
muss als eine besonders erfreuliche Tatsache bezeichnet werden, dass 
der Herausgeber zugleich einer der Vorkämpfer in dem Kampfe gegen 
den Alkoholismus ist. Das gibt uns die Gewähr, dass auch dieses 
wichtige Gebiet bei der Untersuchung der Rassenhygiene nicht vernach¬ 
lässigt werden wird. Wir können deshalb unseren Freunden nur 
empfehlen, das verdienstvolle, junge Unternehmen nach besten Kräften 
zu fördern. 

Der Prospekt erläutert den Begriff der Rasse in ähnlicher Weise 
wie es der Herausgeber in seinem trefflichen Vortrage vor dem Bremer 
Kongress getan hat. Rasse ist danach der physiologische Begriff einer 
durchdauemden Lebenseinheit, deren Wesen nicht in der morphologischen 
Aehnlichkeit der Individuen, sondern darin besteht, dass eine nach oben 
und eine unten begrenzte Zahl von Individuen durch gegenseitiges 

15 * 


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222 


Besprechungen. 


Difitized by 


Ineinandergreifen bei der Fortpflanzung oder durch gegenseitigen Ersatz 
eine Erhaltungs- und Entwicklungseinheit des Lebens bildet. Diesem 
Begriff der Rasse entspricht es, dass die naturwissenschaftlichen, bio¬ 
logischen Gesichtspunkte zunächst in den Vordergrund treten. Das 
Archiv wird daher vor allem auch die Abstammungslehre und die mit 
ihr zusammenhängenden Fragen zu fördern suchen. Beim Menschen 
selbst kommen in Betacht: die Geburten und Sterbeziffern, die Aus-, 
Ein- und Binnenwanderungen und daraus resultierende Veränderungen 
der Rasse, die Fortpflanzung, Variabilität und Vererbung, der Kampf 
ums Dasein, die Auslese, die wahllose Vernichtung (kontraseile, klorische 
Vorgänge), die Umgebungseinflüsse, wie Klima, Bodenbeschafifenheit, 
Ernährung, soziale und wirtschaftliche Einflüsse etc., die Ungleichheit 
der Rassen etc. 

Ein anderes und doch eng mit dem Begriff der Rasse verflochten 
ist die Gesellschaft. Auch für die Entwickelung der Gesellschaft, die 
sich ebenfalls aus Individuen aufbaut, gibt es biologische Entwicklungs¬ 
bedingungen. Rassenbiologie und Gesellschaftsbiologie gehören eng zu¬ 
sammen. Nach der theoretischen Erforschung beider Probleme handelt 
es sich um die praktische Verwertung der gewonnenen Ergebnisse für 
Staat und Gesellschaft, für Rechts-, Staats- und Verwaltungs-Wissenschaft, 
für die allgemeine politische und Kulturgeschichte, endlich auch für die 
Moralphilosophie. 

Das erste Heft der Zeitschrift liegt bereits vor. Wir heben unter 
den zahlreichen Aufsätzen vor allem die grundlegende Abhandlung des 
Herausgebers über den Begriff Rasse und Gesellschaft und die davon 
abgeleiteten Disziplinen hervor, ferner L. Correns: Experimentelle 
Unternehmungen über die Entstehung der Arten auf botanischem Gebiete. 
W. Schallmeyer: Wirkungen gebesserter Lebenshaltung und Erfolge 
der Hygiene als vermeintliche Beweismittel gegen Selektionstheorie und 
Entartungsfrage, O. Ammon: Die Bewohner der Halligen, E. Rüdin: 
Zur Rolle der Homosexuellen im Lebensprozess der Rasse. w. B. 

Alkohol in den Tropen. Oberstabsarzt Fribig, der seit 1879 
in niederländisch-indischen Diensten steht, ist der Verfasser einer Schrift 
: lieber den Einfluss des Alkohols auf Europäer in den Tropen.« »Akkli¬ 
matisierung«, sagt er in derselben, »ist das Ergebnis einer Regelung 
des Blutkreislaufes durch das vasomotorische Nervensystem. Der Alkohol¬ 
genuss in einem heissen Klima schwächt dasselbe und wirkt infolgedesssen 
störend auf die Akklimatisierung ein. Bis zum Jahre 1898 erhielt jeder 
in niederländischen Diensten stehende Soldat täglich 100 cbcm Wein 
zu seiner Kostration. Im Mai jenes Jahres reduzierte General van Heutsz, 
Gouverneuer von Atjeh, diese Portion auf die Hälfte und, noch mehr, 
er gestattete den Leuten, die darin einwilligten, sich anstatt des Alkohols 
den Wert desselben in Geld auszahlen zu lassen. Den Offizieren, deren 
tägliche Portion sich auf V 2 Flasche Rotwein pro Kopf belief, wurde 
eine ähnliche Wahl gestellt. Von jenem Augenblick an, meint Verf., 
wurden die Soldaten, angespornt durch das Beispiel ihrer Vorgesetzten, 



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Besprechungen. 


223 


in grosser Anzahl zu Abstinenten und zeigten eine derartige Widerstands¬ 
kraft gegen Krankheit und Ermüdung sowohl wie eine Unterwerfung 
unter die Disziplin, wie sie noch niemals während einer der Kriege oder 
Expeditionen in Indien wahrgenommen worden ist. Der Prozentsatz der 
Krankheitsfälle fiel sofort; eine auffallende Verminderung machte sich 
sogar schon im ersten Vierteljahre bemerkbar. Fribig ist seit 1894 
Abstinent und fühlt sich seitdem viel wohler als vorher. Die Mittags¬ 
hitze übt keine schädliche Wirkung auf ihn aus und er ist im Stande, 
während des Nachmittags mit ebenso klarem Kopfe zu arbeiten wie des 
Morgens. Als er noch Alkohol zu sich nahm, ermüdete ihn das Exer¬ 
zieren in der Sonne sehr schnell; er war wie in Schweiss gebadet und 
vollständig erschöpft. Jetzt kann er die schwerste Arbeit im Freien 
ertragen, ohne zu ermatten. Obschon 46 Jahre alt, nahm Fribig kürz¬ 
lich an einer mühsamen Expedition teil und war im Stande, die längsten 
und anstrengendsten Märsche mit verhältnismässiger Leichtigkeit auszu¬ 
führen. Ebenso war es mit den anderen Abstinenten, während alle, die 
dem Wein zugetan waren, schwer zu leiden hatten und in vielen Fällen zu¬ 
sammenbrachen. Fribig kennt eine grosse Anzahl von Offizieren und 
Gemeinen, die dem Alkohol ergeben sind und ihre Dienstpflichten in 
der Friedenszeit erfüllen können. Sie werden als vollkommen dienst¬ 
fähig für den gewöhnlichen aktiven Dienst befunden; sowie sie aber 
mit schwerer Arbeit auf die Probe gestellt werden, klappen sie zusammen. 
Ihr Gefässsystem kann den Extraanstrengungen nicht Stand halten. Die 
meisten von ihnen werden durch Schwäche oder Herzlähmung für den 
betreffenden Dienst absolut ungeeignet. Viele Opfer der Alkoholgewohn¬ 
heit gehen moralisch zu Grunde, da sie alle Tatkraft und Initiative ver¬ 
lieren. Die Selbstmörder bei den Truppen in Niederländisch-Indien 
sind durchweg Alkoholisten. K. B. 

The Laucet, 28. Novemb«r 1093. 


Eine bedeutende Abnahme im Bierkonsum Münchens 

ergibt sich abermals aus den soeben veröffentlichten Berechnungen des 
städtischen Statistischen Amtes für 1903. Diese sind von nun ab auf 
neuer Grundlage durchgeführt. Bis jetzt wurde angenommen, dass von 
1 hl Malz 2,2 hl Bier gebraut werden. Es stellte sich aber heraus, 
dass mit den Fortschritten der Brautechnik vielmehr Bier aus der gleichen 
Menge Malz gebraut wird, als in früheren Zeiten und so wird von jetzt 
ab auf 1 hl Malz 2,45 hl Bier berechnet. Mit anderen Worten, die 
Brauereien haben viel mehr Bier aus dem Malz bereitet, als angenommen 
wurde, und die Biertrinker haben mehr vertrunken, als die Statistik nachwies. 

Nach alter Berechnung hatte München in der Periode 1886/90 
den höchsten Stand des Bierverbrauchs mit 487 1 auf den Kopf der 
Bevölkerung. Seitdem nimmt diese Zahl regelmässig ab. In der Periode 
91/95 war sie auf 412, 1896 auf 401, in den folgenden Jahren stufen¬ 
weise auf 393, 391, 364, 356, 341 und im vorletzten Jahre auf 298 


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224 


Besprechungen. 


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gesunken. Im letzten Jahre, 1903, würde die auf den Kopf der Be¬ 
völkerung nach alter Rechnung treffende Jahresmenge auf 273 1 ge¬ 
sunken sein. 

Nach der neuen Berechnung wären es 1902 aber 368 1 gewesen 
und 1903 noch 338 1. 

Sicher ist, dass der Malzverbrauch Münchens trotz der Be¬ 
völkerungszunahmen um etwa 15000 Seelen, die beträchtliche Abnahme 
von 64 000 hl Malz gegen das Vorjahr aufweist. 

Die Ausfuhr ist wieder etwas zurückgegangen, gegen 1902 mit 
1 572272 hl im Jahre 1903 auf 1 545450 hl. 

Nicht schön und fast ein Zeichen des Uebermuts ist es, dass 
fremdes Bier mehr aufkommt. Rund 20000 hl Bier wurde von aussen 
eingeführt, mehr als das Doppelte, wie vor wenigen Jahren, allerdings 
noch verschwindend wenig gegen die i 3 4 Millionen Hektoliter 
(t 740000) was München an eigenem Gebräu vertrinkt. C. B. 


Sterblichkeitsverhältnisse der Gastwirte und anderer 
männlicher Personen in Preussen, welche mit der Er¬ 
zeugung, dem Vertrieb und dem Verkauf alkoholhaltiger 
Getr än k e ge w erb s m ässig b e sc h äftigt si n d , im Vergleich 
zu anderen wichtigen Berufsklassen von Geh. Medizinalrat 
Prof. Dr. Guttstadt (Jena, Verlag von Gustav Fischer 1904). 

Aerzte und Volkswirte, welche die Wirkungen des Alkohols ge¬ 
nauer prüfen wollen, verlangen vor allem genaue statistische Nachweise. 
Die als Abdruck aus dem »Klinischen Jahrbuch«, 12. Band, 
eben erschienene, streng wissenschaftliche Arbeit von Prof. Dr. Guttstadt, 
hat sich die Aufgabe gestellt, die Sterblichkeitsverhältnisse der Gast¬ 
wirte und anderer männlicher Personen in Preussen, welche mit der Er¬ 
zeugung, dem Vertrieb und dem Verkauf alkoholhaltiger Getränke ge¬ 
werbsmässig beschäftigt sind, mit den Sterblichkeitsverhältnissen anderer 
wichtiger Berufsklassen zu vergleichen. Der Verfasser hat u. a. die 
Berufsarten der Aerzte, protestantischen Geistlichen, Elementarlehrer und 
Gymnasiallehrer bezüglich ihrer Sterblichkeit mit denen der Gastwirte 
usw., besonders deshalb verglichen, weil bei den ersteren die Berufs¬ 
beschäftigung den Genuss alkoholischer Getränke nicht begünstigt. Als 
Quelle dienten dem Verfasser teils die standesamtlichen Nachrichten, 
teils eine Statistik der Gothaer Lebensversicherungsbank zur 75. Wieder¬ 
kehr des Gründungstages der Bank und die amtlichen Nachrichten des 
Reichsversicherungsamtes über die Unfällle von Arbeitern, deren Beruf 
zur Trunksucht führen kann. Prof. Guttstadt macht unter Hinweis auf 
eine Reihe hochinteressanter Tabellen u. a. besonders darauf aufmerksam, 
dass die gestorbenen Männer, welche durch ihren Beruf der Verführung 
zum Alkoholgenuss ausgesetzt waren, in jüngeren Altersklassen standen, 
als die gestorbenen Angehörigen anderer Berufsklassen, ferner, »dass das 
Brauer- und Kellnergewerbe bereits für das jugendliche Mannesalter 
lebensgefährlich erscheint«. Er fügt hinzu: »dass die Gast- und Schank- 


Gck igle 


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Besprechungen. 


225 


wirte vor dem 60. Lebensjahre zahlreich sterben, wie die mitgeteilten 
Zahlen ergeben, muss umsomehr auffallen, als gerade diese Personen 
bezüglich ihrer äusseren Lebensverhältnisse, insbesondere in Beziehung 
auf die Ernährung, gewiss durchweg günstig gestellt sind.« Weiter er¬ 
gibt sich aus der Reichsversicherungsstatistik: »dass das Brauerei¬ 
gewerbe auffallend viele Verletzte jährlich zu entschädigen 
hat. Während auf 1000 versicherte Personen sämtlicher gewerblicher 
Berufsgenossenschaften im deutschen Reiche in den 5 Jahren von 
1897 bis 1901 nur 41—46 Verletzte, soweit Unfallanzeigen jähr¬ 
lich erstattet sind, entfielen, war bei den Brauerei-Berufsgenossenschaften 
dieses Verhältnis auf 99 — 118 festgestellt worden. Die Unfälle in den 
Brauerei- und Mälzerei-Genossenschaften übertreffen sogar die Unfälle 
beim Bergbau. Bei den Gastwirten, Kellnern und Bierbrauern zeigt 
sich unter den Todesursachen auch eine besonders grosse 
Häufigkeit der mit dem Alkoholismus in engerer Beziehung 
stehenden Tuberkulose. Prof. Guttstadt schliesst seine lehrreichen, 
medizinal-statistischen Untersuchungen mit dem Satze: »Gefährlich wirkt 
der Alkoholgenuss auf alle Organe des menschlichen Körpers ein, wie 
die medizinische Erfahrung lehrt, sei es unmittelbar oder mittelbar durch 
die Schwächung der Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen Erkrankungs¬ 
ursachen, die den Menschen, ob arm oder reich, zahlreich bedrohen«. 


Geistige Getränke. Von E. W. Milliet, Direktor des eid¬ 
genössischen Alkoholamtes in Bern. Sonderabdruck aus dem »Hand¬ 
wörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Ver¬ 
waltung«. Herausgegeben von Dr. jur. N. Reichesberg, Prof, an der 
Universität zu Bern. — Bern, Verlag Encyklopädie 1904. 

Diese Schrift ist nicht nur reich an amtlichen, statistischen An¬ 
gaben über Produktion, Ein- und Ausfuhr und Verbrauch von geistigen 
Getränken in der Schweiz, sondern berichtet auch über Massnahmen 
gegen den Missbrauch und ist weit über die Schweiz hinaus ganz be¬ 
sonders lehrreich durch eine ausführliche Darstellung der Entstehung 
und Entwicklung und der finanziellen Ergebnisse des schweizerischen 
Alkoholmonopols. Unter den geistigen Getränken unterscheidet 
der Verfasser 1. Traubenwein, Trockenbeerenwein, Trester- und Hefen¬ 
wein; 2. Aepfel- und Birnenwein; 3. Bier; 4. Branntwein, Likör und 
Likörwein und 5. Geistige Getränke überhaupt. 

Die von dem Verfasser über die Produktion und den Verbrauch 
der geistigen Getränke gelieferten Zahlen erstrecken sich mit besonderer 
Genauigkeit auf das Jahrzehnt von 1893—1902. In dieser Zeit hat 
der Branntweinkonsum für die ganze Schweiz eine entschiedene Ab¬ 
nahme erfahren, er ist namentlich in den Kantonen, welche früher die 
Hauptkonsumenten gebrannter Wasser waren, je länger je mehr durch 
harmlosere Getränke verdrängt worden. Mit der Abnahme des Ver¬ 
brauchs gebrannten Wassers ist ein noch gewaltigeres Zunehmen des 
Konsums der gegorenen Getränke Hand in Hand gegangen! Nach Milliet 


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226 


Besprechungen. 


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ist der Verbrauch von Alkohol in Form geistiger Getränke jeder Art 
von 1880/84 auf 1893/1902 um 10 % gestiegen. »Der Konsum von 
Bier hat um 60,8 %, derjenige von Traubenwein um 29,3, derjenige 
von Obstwein um 24,8 % zugenommen, während der Branntweinverbrauch 
um 39,2 % vermindert worden ist.« — Der Reinertrag des schweizerischen 
Branntweinmonopols belief sich bis Ende 1902 auf 85871 591 Fr. 
Der Verkauf zu Monopolpreisen begann anfangs September 1887. Der 
erwähnte Gewinn ist also in ca. 15 */ 3 Jahren erzielt worden, beträgt mit¬ 
hin im Jahresmittel 5600321 Fr. Die Kritiker des Alkoholmonopols 
stellen der letzteren Summe die vom Bundesrate ursprünglich veran¬ 
schlagte Reineinnahme von 8820000 Fr. gegenüber und behaupten, die 
enorme Differenz von 3220000 Fr. beweise, dass das Monopol einen 
gewaltigen Misserfolg bedeute. Milliet widmet dieser Kritik und den 
Ergebnissen des Alkoholmonopols überhaupt eine ausführliche Be¬ 
sprechung. Milliet bespricht weiter in objektiver Weise die Bestrebungen 
der Privathilfe gegen den Alkoholismus. Er hebt hervor, dass dieselben 
im Volk und bei Behörden wachsende Anerkennung finden und bemerkt 
ausdrücklich: »dass der Abstinenzrichtung die führende Rolle zukomme 
und dass zu der ursprünglich mehr auf religiösem Boden wirkenden Be¬ 
wegung sich eine vorwiegend naturwissenschaftliche zugesellt habe«. 
Milliet’s gediegene Darstellung verdient überall beachtet zu werden. 


Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. Viktor Böbmert, Dresden, Glacisstrasse 18. 
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18. 

Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul. 



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Was lehrt die Statistik in Betreff des 
Einflusses der geistigen Getränke auf die 

Gesundheit? 

Von Professor Harald Westergaard in Kopenhagen. 

Vortrag, gehalten auf dem Nordischen Enthaltsamkeitskongress 
in Kopenhagen, im Juli 1904. 


Die hier aufgeworfene Frage ist eine der wichtigsten, aber 
zugleich eine der schwierigsten Fragen der Sozialstatistik. Die 
Feinde, welche den Menschen von der Wiege bis zum Grabe 
umschwärmen und ihn fortwährend mit Krankheit und Tod 
bedrohen, sind so zahlreich und verbünden sich bei ihren An¬ 
griffen oft dermassen miteinander, dass es sehr schwierig ist, 
darüber klar zu werden, welche Rolle ein jeder dieser Feinde 
spielt. Man hat daher auch erst in der neueren Zeit anfangen 
können, die Grundzüge ihres Einflusses auf das menschliche 
Leben näher zu zeichnen. 

Ganz besondere Schwierigkeiten entstehen, wenn es sich 
um die alkoholischen Getränke handelt, weil dieselben nicht 
nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Wirkungen entfalten. 
Der Sklave des Alkohols wird häufig der Verarmung anheim¬ 
fallen, und wenn dann die Krankheit an seine Türe klopft, 
wird sie ihn und die Seinen um so leichter überwinden. Zu 
welchem Teil aber diesesfalls. die alkoholischen Getränke zu 
Verarmung, Erkrankung und frühem Tod beigetragen haben, 
lässt sich selbstverständlich schwer abschätzen. Nicht mindere 
Schwierigkeiten bietet die Frage der Degeneration und ver¬ 
minderten Widerstandsfähigkeit der Kinder von Trinkern. Man 

Die Alkoholfrage. 16 


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Abhandlungen. 


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228 

muss sich eben mit der Tatsache begnügen, dass der Alko¬ 
holismus die menschliche Gesundheit teils unmittelbar, teils mittel¬ 
bar schädigt und vorhandene Leiden verschlimmert. Wie 
gross aber diese Schädigung oder diese Verschlimmerung ist, 
lässt sich nicht angeben. Auch können wir uns hier nur mit 
den unmittelbaren Wirkungen befassen. 

Wenn man die Sterblichkeitsverhältnisse verschiedener 
Berufszweige an der Hand der englischen — hierüber 
Auskunft gebenden — Statistik miteinander vergleicht, dann 
wird man finden, dass unter den zahlreichen Ursachen, 
welche das menschliche Leben abkürzen, einzelne eine 
besonders hervortretende Rolle spielen. Aus diesem Grunde 
wird man gut tun, vorerst diejenigen Berufe auszuscheiden, 
deren Arbeiter der Staubeinatmung oder anderen, 
die Entwickelung von Tuberkulose und sonstigen Krank¬ 
heiten der Atmungsorgane begünstigenden Schädlichkeiten 
ausgesetzt sind, wie z. B. Feilenhauer, Stahlschleifer, Stein¬ 
hauer und Töpfer. Von wesentlicher Bedeutung sind auch die 
professionellen Bleivergiftungen bei Malern, Glasmachern 
und Schriftsetzern, sowie die hervorragende Unfalls¬ 
häufigkeit beim Transportgewerbe und dem Bergwerks¬ 
betrieb im Gegensatz zu der ungleich weniger gefährdeten 
Textilindustrie und zum Handel. Dass auch die Woh lstands- 
verhältnisse einen wesentlichen Einfluss ausüben, hat man 
schon lange gewusst. 

Werden nun diese Ursachen ausgeschieden, dann erreicht 
man schon eine sehr bedeutende Ausgleichung der Sterblich¬ 
keitsverhältnisse, sodass es oft schwierig genug erscheinen 
würde, die übrigen Ungleichheiten anders als rein zufällige zu 
erklären. Es bleiben aber doch nicht selten auffallende Un¬ 
gleichheiten, die eine Erklärung erheischen. So sind in England 
die Fleischer und Barbiere sehr ungünstig gestellt. Dasselbe 
gilt von den Brauereiarbeitern, den Kaminfegern, von den 
Schankwirten und Kellnern. In England haben z. B. die 
Kaminfeger eine Sterblichkeit, die */ 8 , die Brauereiarbeiter eine 
Sterblichkeit, die 2 /s über dem Durchschnitt liegt. Das sind 
Abweichungen, welche man sonst nur selten findet. Man kann 
übrigens auch zwischen den einzelnen Ländern mit Rücksicht 
auf die Berufssterblichkeit grosse Verschiedenheiten beobachten. 



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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc. 229 

So scheinen die Maurer in Dänemark ungünstiger als die 
englischen Maurer gestellt zu sein. 

Fragt man nun nach den Ursachen dieser grösseren 
Sterblichkeit in gewissen Berufen, so wird eine Ursache sich 
immer wieder aufdrängen, nämlich die verschiedene Aus¬ 
breitung der Trinksitten. 

Nach den englischen Todeslisten können unter 1000 Todes¬ 
fällen der erwachsenen männlichen Bevölkerung etwa 13 auf 
Alkoholismus zurückgeführt werden. Aber in allen soeben er¬ 
wähnten Berufen spielt der Alkoholismus eine weit grössere 
Rolle. Bei den Fleischern und Barbieren können 
unter 1000 Todesfällen je 35 und bei den Schankwirten 
und Kellnern sogar 92 und 106 auf Alkoholismus zurück¬ 
geführt werden, und will man alle Berufe, betreffend welcher 
statistische Erhebungen vorliegen, durchgehen, so gewinnt man 
den Eindruck, dass es sich hier um ursächliche Beziehungen 
von weittragender Bedeutung handelt. 

Es Hesse sich nun freilich einwenden, dass bei so ausser¬ 
ordentlich grossen Unterschieden von Beruf zu Beruf die Auf¬ 
stellung einer Kategorie von Todesursachen, die nur ein paar Pro¬ 
zente der gesamten Todesfälle ausmachen, überhaupt von unterge¬ 
ordnetem Werte sei. Dem ist aber nicht so. Es darf nicht über¬ 
sehen werden, dass man über den Alkoholismus eines Verstorbenen 
durchaus nicht immer Nachricht erhält. Es gibt eine Menge 
von Todesursachen, welche als Sündenböcke dienen müssen. 
Denn nicht nur figurieren hier als Todesursachen Lebercirrhose 
und Delirium tremens, also Krankheiten, von denen man ja 
weiss, dass sie sich auf dem Boden des Alkoholismus ent¬ 
wickeln. Um vieles häufiger findet man beim Ableben von 
Alkoholikern als Todesursachen angegeben: Lungenentzündung, 
Phthisis oder so manches andere Leiden, welches zuletzt im 
Vordergrund der Erscheinungen gestanden haben mag. Sobald 
also in gewissen Berufen auch nur wenige Prozente der ge¬ 
meldeten Todesfälle unmittelbar auf Alkoholismus zurückgeführt 
worden sind, so kann dies schon als Anzeichen gelten, dass 
neben diesen wenigen Fällen von notorischem Alkoholismus 
ein bedeutend höherer Prozentteil von verschleiertem 
Alkoholismus einhergeht. 

16 * 


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230 


Abhandlungen. 


Ich will hier nur anführen, dass nach der englischen Sterb¬ 
lichkeitsstatistik ein geradezu auffallender Parallelismus besteht 
zwischen Selbstmorden und Todesfällen an Alkoholismus. 
Ordnet man nun die Berufe gruppenweise nach der Häufigkeit 
der Alkoholtodesfälle, so wird man finden, dass in den Gruppen 
mit grosser Häufigkeit der Alkoholtodesfälle auch die Selbst¬ 
mordfrequenz eine bedeutende ist, selbst wenn einzelne Berufe 
vielleicht Ausnahmen von der Regel bilden. Die unten stehende 
kleine Uebersicht mag das zeigen.*) 

Entsprechende Erfahrungen kann man auf vielen anderen 
Gebieten machen. So ist schon seit lange bewiesen, welche 
ungeheure Rolle der Alkoholismus der Lungenentzündung 
gegenüber spielt.**) 

Man wird also dazu gezwungen, die Trinksitten als 
eine der Hauptursachen der grösseren oder geringeren Sterb¬ 
lichkeit in den einzelnen Berufen einzureihen und man wird 
durch viele Einzeluntersuchungen der neueren Zeit dieses Er¬ 
gebnis nur bestätigt finden. Ich will hier ein bemerkenswertes, 
wenngleich in vielen Beziehungen verfehltes Werk anführen, 
welches im letzten Jahre als Ergebnis einer Kollektivunter¬ 
suchung von 34 amerikanischen Lebensversicherungs- Gesell¬ 
schaften erschien.***) Es wird darin bewiesen, dass alle Berufe, 
die mit geistigen Getränken zu tun haben, eine grosse Sterb¬ 
lichkeit aufweisen. Dieses gilt selbst von den als Teetotallers 
in die Versicherungsanstalt aufgenommenen Verkäufern geistiger 
Getränke, weil vielen von ihnen die Versuchung, das Enthalt¬ 
samkeitsgelübde zu brechen, vermutlich mit der Zeit zu gross 
wird. Aber eine noch grössere Uebersterblichkeit findet man 
natürlich bei solchen Verkäufern geistiger Getränke, die bei der 

*) Westergaard: Die Lehre von der Mortalität und Mortalität. 2. Ausg. 1901, p.660. 


Alkoholtodesfälle 

Selbstmorde 

Alkoholtodesfälle 

Selbstmorde 

pro Mille 

pro Mille 

pro Mille 

pro Mille 

0-2 

8 

15—20 

17 

8-5 

9 

21—30 

17 

6-8 

18 

31—40 

20 

9—11 

15 

41 u. darüber 

28 

12—14 

16 

insgesamt 13 

14 


**) Breuning-Stom: Bidrag til den Crupöse Pneumonis Statistik. Kopen¬ 
hagen 1888. 

***) Experience of Thirty-Four Life Companies upon Ninety-Eight Special 
Classes of Risks. New*York 1908. 



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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc. 


231 


Aufnahme nicht enthaltsam waren. Die Sterblichkeit ist hier 
1 / 3 grösser als die normale. 

Von besonderer Bedeutung für die Beleuchtung der Frage 
nach dem Einfluss der geistigen Getränke auf die Lebensdauer 
sind nun die Erfahrungen solcher Lebensversicherungs¬ 
gesellschaften, die zwei Abteilungen haben, eine für Ent¬ 
haltsame und eine andere für Nichtenthaltsame. Seit vielen 
Jahren hat man beobachtet, dass diese Gesellschaften in der 
Regel eine geringere Sterblichkeit in der Enthaltsamkeitsab¬ 
teilung, als unter den übrigen Versicherten haben, man hat aber 
bis auf die letzten Jahre befriedigende Auskunft mit Rücksicht 
auf gewisse Fehlerquellen vermisst, welche vielleicht einen Ein¬ 
fluss üben könnten, und man hat daher früher in wissenschaft¬ 
lichen Kreisen Zweifel erhoben. Es ist das Verdienst von 
Dr. Helenius, hierüber Klarheit geschaffen zu haben. Später 
hat R. M. Moore in einer interessanten Schrift *) die Sache be¬ 
handelt, sodass man jetzt von einem endgültigen Ergebnis reden 
kann, selbst wenn einige unsichere Punkte noch bleiben. 

Die Gesellschaft, welche namentlich auf diesem Gebiete 
bahnbrechend vorging, ist die United Kingdom Tempe- 
rance and General Provident Institution, welche 
1840 gestiftet wurde und mithin auf eine Wirksamkeit von mehr 
als zwei Menschenaltern zurückblicken kann. Diese englische 
Gesellschaft pflegt in ihre beiden Abteilungen (für Enthaltsame 
und für Nichtenhaltsame) Antragsteller nur nach genauer Prüfung 
aufzunehmen, so dass man sicher sein darf, dass auch in der 
allgemeinen Abteilung Leute, welche des Hanges nach Spiri¬ 
tuosen verdächtig sind, keine Aufnahme finden. Sie mag in 
der Hauptsache aus Mitgliedern bestehen, welche für gewöhnlich 
keine alkoholischen Getränke gemessen, sich aber Vorbehalten 
wollen, bei festlichen Gelegenheiten ihr Glas Wein zu trinken. 
Da Mitglieder von der einen Abteilung in die andere übergehen 
dürfen, hat man gefragt, ob dieses wohl die Verhältnisse ver¬ 
schleiern könnte. Wenn z. B. ein Kranker, dem der Arzt alko¬ 
holische Getränke verordnet hat, in die allgemeine Abteilung 

*) R. M. Moore: On the Comparative Mortality Among Assured Lives of Ab¬ 
stainers and Non-Abstainers from Alcoholic Beverages. Journal of the Institute of 
Actuaries 1904. Vergl. auch Whittaker: Alcoholic Beverages and Longevity, referiert 
in No. 2 dieser Vierteljahrsschiift p. 216. 


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Abhandlungen. 


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übertragen wird, könnte dieser Umstand der allgemeinen Ab¬ 
teilung einen Todesfall zuführen, welcher eigentlich der Ab¬ 
teilung für Abstinente zugehört hätte. Die Gesellschaft hat 
aber über derartige Grenzfälle genau Buch geführt und hier¬ 
durch erweisen können, dass die Wirkung derartiger Fehler¬ 
quellen verschwindend ist. Dasselbe gilt von der sozialen Zu¬ 
sammensetzung der beiden Abteilungen. Sie ist eine durchaus 
gleichartige, so dass man annehmen darf, die Sterblichkeit 
würde in beiden Abteilungen die gleiche sein, falls der Alkohol 
seinen Einfluss nicht geltend machte, immer vorausgesetzt natür¬ 
lich, dass man alle die bekannten Verhältnisse berücksichtigt, 
welche ausserdem die Sterblichkeit beeinflussen können, wie 
Altersverteilung der Versicherten, Dauer der Versicherungen, 
besondere Sterblichkeit der Periode, in welcher die betreffenden 
Beobachtungen gemacht worden sind. Alle diese Fehlerquellen 
nun lassen sich ausschalten und man gelangt dann zu dem Er¬ 
gebnis, dass die Sterblichkeit in den beiden Abteilungen eine 
ausserordentlich verschiedene ist. In aller Kürze lässt sich die 
Sachlage so ausdrücken, dass, während die Sterblichkeit in der 
allgemeinen Abteilung der Provident Institution genau der 
Sterblichkeit der englischen Lebensversicherungsgesellschaften 
nach der letzten grossen gemeinschaftlichen Untersuchung 
(1863—93) entspricht, die Sterblichkeit in der Abtei¬ 
lung für Abstinente nur drei Viertel der Sterb¬ 
lichkeit nach dieser gemeinschaftlichen Unter¬ 
suchung beträgt. 

Wie man nun auch den Stoff behandelt, von welchem 
Gesichtspunkt man auch die Beobachtungen gruppiert — immer 
kommt man auf denselben Unterschied. Man ist somit berech¬ 
tigt, zu schliessen, dass die Abstinenten aller Wahrscheinlich¬ 
keit nach unter sonst gleichen Umständen viel grössere Lebens¬ 
aussichten haben, als die Nicht-Abstinenten. Dies wird bestätigt 
durch die Erfahrungen anderer Gesellschaften, denen es gelang, 
Berechnungen von hinlänglicher Genauigkeit anzustellen und 
etwaige störende Ursachen zu entfernen. 

Eine Schwierigkeit bei Uebertragung dieser Erfahrungen 
auf andere Länder liegt selbstverständlich darin, dass der Ver¬ 
brauch der geistigen Getränke ein sehr verschiedener ist. Es 
wäre ja nicht unwahrscheinlich, dass die Verhältnisse sich etwas 



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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc. 


233 


anders stellten, wo der Verbrauch der alkoholischen Getränke 
in der Bevölkerung geringer ist, als gewöhnlich in England. 
Man hat besonders einige abweichende, aber übrigens nicht 
besonders klare Erfahrungen von Neuseeland in dieser Weise 
auffassen wollen. Aber auf der anderen Seite darf man nicht 
übersehen, dass die Leitung der Gesellschaft Abstinenten an¬ 
vertraut ist, die, wie oben angeführt, alle Anträge sehr kritisch 
behandeln. Man kann also annehmen, dass die Massigkeit der 
Aufgenommenen mit allem Ernst geprüft wird und dass der 
Alkoholkonsum in der allgemeinen Abteilung bedeutend geringer 
ist, als bei der erwachsenen englischen Bevölkerung überhaupt. 

Der Unterschied in den Lebensaussichten kommt zum 
Ausdruck, wenn man berechnet, wie gross die mittlere Le¬ 
bensdauer in den beiden Abteilungen ist. Man wird finden, 
dass, während ein 20jähriger Mann in der Abteilung für Ab¬ 
stinente Aussicht hat, durchschnittlich etwa noch 47 Jahre zu 
leben, ein 20 jähriger Mann in der allgemeinen Abteilung durch*- 
schnittlich nur noch ein wenig über 43 Jahre zu leben hat. 
Der Unterschied beträgt mithin gegen 4 Jahre. Diese Zahl 
verdient Beachtung. 

Wenn es sicher wäre, dass alle Mitglieder der allgemeinen 
Abteilung ihr ganzes Leben lang mässig blieben, dann würde 
man aus diesen Zahlen herauslesen können, dass schon ein 
massiger Verbrauch geistiger Getränke sehr schädlich für die 
Gesundheit ist. Aber so einfach liegt die Sache nicht. Im 
Kreise der ursprünglich Massigen werden viele allmählich der 
Versuchung zur Unmässigkeit zum Opfer fallen. Dass dieses 
der Fall ist, darauf deuten die Erfahrungen, betreffend die 
Sterblichkeit nach der Versicherungsdauer. Es 
scheint die Sterblichkeit der Mitglieder der allgemeinen Abtei¬ 
lung anfangs weniger verschieden von derjenigen der Abteilung 
für Abstinente zu sein, als später (bei den schon länger Ver¬ 
sicherten). Im Laufe der Jahre entfernen sich allem Anschein 
nach die Mitglieder der allgemeinen Abteilung immer häufiger 
vom Abstinenzstandpunkt. Die allgemeine Abteilung wird so¬ 
mit aus Personen bestehen, die alle Grade des Alkoholverbrauchs 
repräsentieren, gerade wie die Bevölkerung eines ganzen Landes; 
und es ist nicht unmöglich, dass die Unmässigen allein, 
und nicht die Mässigen, die grosse Uebersterblichkeit bewirken. 


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234 


Abhandlungen. 


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Die Statistik hat zur Zeit kein Mittel zur Verfügung, um diese 
Frage zu beantworten. Sie kann nicht darüber Auskunft geben, 
ob ein geringer Alkoholverbrauch gesundheitsschädlich ist oder 
nicht. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit vor, dass die 
Grenze für den unschädlichen Alkoholgenuss sehr niedrig ge¬ 
dacht werden muss, viel niedriger, als die meisten älteren 
Autoren anzunehmen geneigt waren. 

Wie man nun kein Mittel hat, durch statistische Beobach¬ 
tungen die Frage zu entscheiden, ob ein Minimalkonsum 
geistiger Getränke gesundheitsschädlich ist, so 
kann man auch nicht mit Genauigkeit die Lebensaussich¬ 
ten für die eigentlichen Säufer fesstellen. Die bis¬ 
herigen Versuche nach dieser Richtung können als wertlos bei 
Seite gelegt werden, wenn auch nicht geleugnet werden soll, 
dass sie in anderer Beziehung wertvolle Auskünfte geben können. 
Das gilt beispielsweise von des älteren Neison „Untersuchungen 
über die Säufersterblichkeit“ und von der Enquöte der British 
Medical Association aus dem Jahre 1888. Schon ganz anders 
liegt die Sache, wenn man die Sterblichkeit innerhalb gewisser 
Berufe beobachten kann, welche sich zwar durch starke Ver¬ 
suchungen zu übermässigem Alkoholgenuss auszeichnen, aber 
doch immer zugleich eine Anzahl massiger Leute zählen dürften, 
wie die Berufe der Schankwirte und Brauereiarbeiter. Einen 
kleinen Anlauf zur Beleuchtung der Säufersterblichkeit wird 
man in dem obenerwähnten Berichte der 34 amerikanischen 
Lebensversicherungsgesellschaften finden. Nach demselben er¬ 
gab sich, dass unter den Mitgliedern, welche früher einmal eine 
Kur gegen Trunksucht durchgemacht oder aus eigener Kraft 
ihre Trunksucht überwunden hatten, eine verhältnismässig grosse 
Sterblichkeit herrschte. Dieses Ergebnis verdient um so grössere 
Beachtung, weil die Gesellschaften zweifelsohne solchen Per¬ 
sonen gegenüber erhöhte Vorsicht walten lassen. Wenn ihre 
Sterblichkeit trotz aller Strenge bei der Aufnahme eine solche 
Höhe erreichte, dürfte dies darauf hindeuten, dass eine Anzahl 
dieser Personen durch übermässigen Alkoholgenuss ihre Kon¬ 
stitution bereits in einer nicht wieder ganz gut zu machenden 
Weise geschwächt hatten. 

Es würde übrigens sehr leicht sein, durch eine gemein¬ 
schaftliche Untersuchung — z, B. durch Aerzte — im 



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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc. 


235 


Laufe einiger Jahre eine Statistik zur Berechnung der Säufer¬ 
sterblichkeit zu Stande zu bringen. Es gilt nur einige Zeit hin¬ 
durch solchen Personen im Bekanntschaftskreis des betreffenden 
Beobachters zu folgen, die als Säufer zu betrachten sind. Wenn 
alle diese Beobachtungen auf einem Orte gesammelt würden, 
würde man ein ausgezeichnetes Material zur Beantwortung der 
Frage zur Verfügung haben. Es könnte sehr leicht unter 
vollster Diskretion mit Rücksicht auf die betreffenden Namen 
geschehen. Ich habe diesen Gedanken mehrmals ausgesprochen, 
aber ohne Anschluss zu gewinnen. Sollte eine solche gemein¬ 
schaftliche Untersuchung das Ergebnis dieses Vortrags werden, 
würde ich mich als reichlich belohnt betrachten. Bis dahin 
muss man sich mit dem Ergebnis der bisher eingesammelten 
Statistik begnügen, nämlich dass die Sterblichkeit der Massigen 
und der Säufer zusammen bedeutend grösser ist, als die der 
Abstinenten. 

Im vorhergehenden habe ich mich wesentlich mit eng¬ 
lischen Erfahrungen beschäftigt. Man wird aus diesen deut¬ 
lich erkennen, dass das englische Volk im Alkoholismus einen 
ernsten Feind hat. Es steht in gutem Einklang hiermit, wenn 
The Harveian Society seiner Zeit fand, dass ein Fünftel 
aller Todesfälle in der erwachsenen männlichen Bevölkerung 
Londons in Verbindung mit der Trunksucht stehe. 

Man würde sich aber einem Irrtum hingeben, wenn man 
glauben wollte, dass das Unheil sich auf England allein be¬ 
schränkt. In einer Reihe von Städten der Schweiz hat 
man alle unter erwachsenen Männern vorkommenden Todes¬ 
fälle besonders registriert, welche ärztlicherseits mit dem Al¬ 
kohol in Verbindung gebracht werden, und ist hierdurch auf 
10 % der Gesamtzahl gekommen. Und was Dänemark be¬ 
trifft, so wird es genügen, einige von Dr. G. Poulsen für die 
Jahre 1897—99 in einer Provinzialstadt mit angrenzenden Land¬ 
bezirken gefundene Zahlen anzuführen. Allerdings ist in der 
betreffenden Gegend der Alkoholkonsum verhältnismässig gross. 
Bei erwachsenen Männern dürften nach diesen Beobachtungen 
mittelbar oder unmittelbar auf Alkoholismus zurückzuführen 
sein ein Viertel der Todesfälle.*) 

*) G. Poulsen: Alkohols Indflydelse paa Organismen 1903, p. 286 ff. 


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Abhandlungen. 


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Durch diese Untersuchungen findet die offizielle Statistik 
eine interessante Bestätigung. Auf Dr. med. Carlsens An¬ 
regung werden für die dänischen Provinzialstädte Verzeichnisse 
geführt über alle Todesfälle, welche nach dem Totenschein auf 
Trinker bezogen werden müssen, indem Alkoholismus chronicus 
oder Delirium tremens als Hauptursache oder als mitwirkende 
Ursache des Todes auf dem Totenschein ausdrücklich bezeichnet 
sind. So konnten unter allen Todesfällen bei Männern über 
20 Jahre 1890—97 gegen 7 Prozent auf Alkoholismus zurück¬ 
geführt werden, bei Männern zwischen 45 und 55 Jahren jeder 
achte Todesfall, bei Männern zwischen 35 und 45 sogar jeder 
siebente.*) Diese Zahlen können selbstverständlich nur Minimal¬ 
zahlen sein, denn ohne Zweifel wird es sehr viele Fälle geben, 
wo der Arzt nur ungern das Wort Alkoholismus auf einen 
Schein schreibt, welcher in die Hände der Hinterlassenen ge¬ 
langt. Das ergibt sich deutlich aus der Vergleichung von 
Dr. Carls ens mit Dr. Pou Isens Verzeichnissen für die 
erwähnte Stadt 1897—99. Nach den ersteren Hessen sich nur 
10, nach den letzteren aber nicht weniger als 28 auf Alkoholis¬ 
mus zurückführen. In 18 Fällen des Carlsen-Verzeichnisses war 
also der notorische Alkoholismus nicht einmal angedeutet; dafür 
fand sich als Todesursache angegeben: „Herzkrankheit“, „Lungen¬ 
entzündung“, „Lungentuberkulose“ u. a. m. Man hat also alle 
Ursache zu glauben, dass die offiziellen Zahlen viel höher, 
vielleicht um ein mehrfaches höher sein müssten, um ein zu¬ 
verlässiges Bild von den Verheerungen zu geben, welche der 
Trunk in Dänemark anrichtet. Aber schon wie sie sind, reden 
diese Zahlen eine beredte Sprache. 

Falls man sich nun lediglich auf diese Minimalzahlen be¬ 
schränkt, nach welchen also 7 Prozent der Todesfälle unter 
erwachsenen Männern in den Provinzialstädten dem Alkohol 
zuzuschreiben sind, und falls man ähnliche Verhältnisse in 
anderen Bezirken des Landes annimmt, dann wird man zu dem 
Ergebnis gelangen, dass diese Todesursache die durchschnitt¬ 
liche Lebensdauer für Männer im Alter von 20 Jahren über 
ein Jahr verkürzt. Bedenkt man nun, dass dieser Verlust 


*) Westergaard: Sädeligheds Forhold, statistisk belyste (Danmarks Kultnr 
ved Aar 1900 , Kopenhagen 1901 ). 



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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc. 


237 


eines Lebensjahres allein von denen getragen werden muss, 
welche trinken, und nicht von Abstinenten, und erwägt man 
ferner, dass die genannten 7 Prozent nur einen Teil der Alkohol¬ 
sterblichkeit darstellen, dann wird man ermessen können, dass 
die Gesamtwirkung der alkoholischen Getränke in Dänemark 
nicht minder gross ist wie in England, dass mit anderen Worten 
unter sonst gleichen Umständen ein ebenso grosser Unterschied 
zwischen der Lebensdauer der Abstinenten und der Nicht- 
Abstinenten in Dänemark besteht, wie in England. Der Einfluss 
der geistigen Getränke erweist sich jedenfalls in Dänemark wie 
in England als ein unermesslicher Kraftverlust. 

Und zwar handelt es sich bei diesem Kraftverlust nicht 
um Opfer an Kraft, die man zu bringen gezwungen ist, wie 
etwa bei Ableistung seiner Wehrpflicht. Nein! die durch das 
Trinken entstehende Einbusse an Gesundheit und Lebensdauer 
kann sich jeder nach Belieben ersparen. Wieviel man gewinnen 
wird, wenn man seinen Verbrauch an alkoholischen Getränken 
mehr oder weniger einschränkt, lässt sich, wie wir sehen, 
unmöglich angeben. Es ist denkbar, dass ein Minimalverbrauch 
keinen bemerkbaren Einfluss ausübt, z. B. wenn ein Mann für 
gewöhnlich gar keine geistigen Getränke zu sich nimmt und 
nur ganz gelegentlich ein Glas Bier oder Branntwein. Gerade 
aber wenn es sich so verhalten sollte, müsste der regel¬ 
mässige Genuss geistiger Getränke um so schädlicher sein. 
Denn wie könnte sonst die angeführte Durchschnittssterblich¬ 
keit am Alkohol zum Vorschein kommen? Denn die Tatsache 
steht doch fest, dass ein jedes erwachsene Mitglied der männ¬ 
lichen dänischen provinzialstädtischen Bevölkerung durch¬ 
schnittlich durch die alkoholischen Getränke ein Jahr 
seines Lebens einbüsst. 

Und indem man diese Durchschnittsberechnung zu Grunde 
legt, wird man die gewonnenen Erfahrungen zu einer kleinen 
Gedankenspielerei benutzen können: man fragt, wie viel dann 
jeder genossene Liter Branntwein zur Verkürzung der 
menschlichen Lebensdauer beiträgt. Ich gehe davon aus, 
dass jeder erwachsene Mann in Dänemark durchschnittlich 
etwa 60 Liter Branntwein im Jahre konsumiert, was 4 bis 5 
Flaschen bayrisch Bier täglich entsprechen würde. Wenn 
nun nach der letzten dänischen Sterbetafel ein 20jähriger 


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Abhandlungen. 


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Mann durchschnittlich etwa noch 44!/ 2 Lebensjahre zu erwarten 
hat, so bedeutet für ihn der erwähnte Verbrauch im Laufe der 
Jahre 2670 Liter Branntwein in der Form irgend welcher geistigen 
Getränke. Und wenn nun dieser Verbrauch von ihm mit einem 
Jahre Lebensverkürzung bezahlt wird als Minimalausdruck 
Seiner Alkoholzerrüttung, so wird das weiter bedeuten, dass jeder 
Liter genossenen Branntweins das Leben seines Opfers 
durchschnittlich um mehr als 3 Stunden verkürzt 
und dass jedes Glas bayrisches Bier, womit der Durstige sich 
labt, durchschnittlich mit einer halben Viertelstunde seines 
Lebens bezahlt wird. In Wirklichkeit sind, wie oben ausge¬ 
führt, diese Zahlen noch weit höher, wahrscheinlich zwei- oder 
dreimal so hoch. Das ist, wie gesagt, und soll nichts anderes 
sein, eine Gedankenspielerei, aber ich glaube doch behaupten 
zu dürfen, dass solche Kalkulationen ihre volle Berechtigung 
haben. Jedermann kann sie nachprüfen und nach ihrem Muster 
andere Berechnungen anstellen, welche in ähnlicher Weise das 
allgemeine Verständnis dieser hochwichtigen Dinge fördern. 

Gibt es doch viele Millionen Menschen in der zivilisierten 
Welt, die bisher einen regelmässigen Verbrauch von geistigen 
Getränken für etwas relativ Unschädliches gehalten haben. Ich 
will mit dem Wunsche schliessen, dass viele dieser Menschen 
die angeführten statistischen Tatsachen und Berechnungen nicht 
nur auf dem Papier, sondern auch im Leben ernstlich prüfen 
und darauf bedacht sein mögen, ihrem Leben einige Jahre 
hinzuzulegen. Es gibt in der ganzen Gesundheitslehre kaum 
ein einfacheres Mittel, um grosse Erfolge zu erzielen, als die 
Vermeidung des Alkohols. 



Original frorn 

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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


239 


Die Trunksucht als Krankheit nnd Laster. 

Von Pastor Haacke in Rickling (Holstein). 

Vorgetragen am 18. Juni 1904 in Altona im Verein 
abstinenter Pastoren. 


Das Thema lautet: Die Trunksucht als Krankheit und 
Laster, nicht: Ist die Trunksucht eine Krankheit oder ein 
Laster? Es liegt also nicht die Absicht vor, eine Entscheidung 
nach einer Seite hin abzugeben; eine solche würde auch, 
wie immer sie ausfiele, falsch bezw. ungerecht sein. 

Reden wir von der Trunksucht, so müssen wir die Trunk¬ 
sucht als eine einheitliche Grösse gedankenmässig hinsetzen, 
ebenso den Menschen, der trunksüchtig ist, als Einheit, als 
Ganzes ins Auge fassen. Alt und unserer Denkgewohnheit 
unveräusserlich ist die Unterscheidung von Leib und Seele; 
sie ist aber, das darf nicht vergessen werden, lediglich eine 
Gedankenabstraktion; jedenfalls kann nicht ein Teil absolut 
für sich in Loslösung von dem anderen Teil dargestellt werden 
als für sich seiender Bestandteil wie die einzelnen Teile bei 
einer chemischen Zerlegung. Wie Leib und Seele sich zum 
ganzen Menschen, so verhalten sich Krankheiten und Laster 
zur Trunksucht, als einer einheitlichen Grösse. In keinem der 
beiden Begriffe ist die Trunksucht vollständig wiedergegeben. 

Wir stehen heute vor einer stark anschwellenden Welle 
der Betonung der Trunksucht als Krankheit. Noch hat dieses 
Anschwellen m. E. gute Berechtigung; die Vorstellung: „Trunk¬ 
sucht ist Krankheit" hat sich noch nicht genügend ausgewirkt, 


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240 Abhandlungen. 

hat ihren Dienst noch nicht voll geleistet. Immerhin sind aber 
auch schon Anzeichen vorhanden, die zeigen, dass diese Welle 
die Höhe erreichen kann und wird, wo sie schäumig wird, über 
das ihr gesteckte Ziel hinausschiesst und an ihrer eigenen Kraft¬ 
überspannung sich selbst bricht. Unentbehrlich sind immer 
solche, die zwischen den beiden disparat extremen Gruppen, die 
peremptorisch dekretieren: Trunksucht ist lediglich Krankheit, 
Trunksucht ist lediglich Laster, die Verständigung anbahnen und 
vermitteln; zur Anbahnung der Vermittelung geschickt ist nur 
der, der besonnen, wohlwollend und gerecht denkend, mit 
psychologischem Verständnis sich in die Motive und Denkart 
des anderen hineinzuversenken vermag; und ich meine, dass 
gerade der allen dienende, keiner Person und keiner Sache 
unzugängliche Pastor diese Stellung zu erringen und sich zu 
bewahren die Pflicht hat. So soll im Folgenden versucht 
werden, unter der Ueberschrift: 

Die Trunksucht als Krankheit und Laster 

die Motive für jede der beiden Bezeichnungen aufzudecken und 
jede in ihrer relativen Berechtigung zu erweisen. 

I. 

Trunksucht ist Krankheit. Daher ist 

1. die unmittelbare Beseitigung der Sucht 
durch sittlich-religiöse Beeinflussung allein 
unmöglich, die Enthaltsamkeit als Alkoholent¬ 
ziehung unentbehrlich. 

Dass der Trinker ein kranker Mensch ist, liegt für jeden 
offen auf der Hand. Dass bei ihm Gehirn, Herz, Leber, Magen, 
Nieren, Gesicht, Gehör, Sprache, kurz der ganze Organismus 
krankhaft entartet ist, ist eine einfache Tatsache, über die 
niemand sich hinwegsetzen kann. Aber darum handelt es sich 
hier nicht eigentlich; es handelt sich hier um Beurteilung der 
Trunksucht des Individuums, um die Frage: Ist die Sucht, 
ist jenes für den Trinker charakteristische Unvermögen der 
durch Selbstbestimmung zu gewinnenden Beschränkung des 
Genusses auf das Mass, der immer wiederkehrende Exzess als 
Krankheit zu bewerten? Die Frage muss bejaht werden. Die 
Sucht ist Krankheit. Infolgedessen hat auch die sittlich-religiöse 



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241 


Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


Beeinflussung in Bezug auf diesen Punkt sich zu bescheiden, 
d. h. die Grenzen ihres Könnens anzuerkennen. Die all¬ 
gemeine sittlich-religiöse Beeinflussung, wie sie auf jeden 
normalen Menschen anwendbar ist und angewendet wird, die 
Pflege des religiösen Sinnes, wie die Landeskirche in ihren 
Organen sie darbietet, wird davon nicht berührt; aber die 
spezielle sittlich-religiöse Beeinflussung, welche die unmittel¬ 
bare Beseitigung der Sucht durch ihre Einwirkung im Sinne 
hat und sich zutraut, ist ein verfehltes Unternehmen. Die 
religiös-sittliche Beeinflussung allein, losgelöst von dem Ent¬ 
haltsamkeitsgedanken, hat sich als nicht ausreichend, die aus¬ 
schliesslich sittlich-religiöse Beurteilung der Sucht als verkehrt 
erwiesen. Trunksucht ist Krankheit! Das muss betont werden, 
das kann nicht genug betont werden. Sie ist Folge einer 
chronischen Vergiftung, die vor allem Entziehung des Giftes 
erforderlich macht. Wäre Trunksucht lediglich Laster, so könnte 
ja die Enthaltsamkeit nicht die ausschlaggebende Rolle, die ihr 
zukommt, beanspruchen. Diese muss sie aber unter allen Um¬ 
ständen behalten. Daher ist die Betonung des Satzes: „Trunk¬ 
sucht ist Krankheit“ in erster Linie deshalb wichtig, weil nur 
durch ihn der Enthaltsamkeit der zur Heilung der 
Trunksüchtigen gebührende Platz gesichert wird. 
Dabei ist festzuhalten, dass die Enthaltsamkeit nicht wegen 
irgendwie ihr anhaftender ethischer Qualität dem Trinker zu¬ 
gemutet wird, sondern lediglich aus Gesundheitsrücksichten, 
als die medizinische Verordnung der Entziehung jeglichen 
Alkoholgenusses, also nicht als Tugend, sondern als 
Heilmittel. 

2. Ferner muss rückhaltlos anerkannt werden, dass mit 
der einseitig sittlich-religiösen Beeinflussung an dem Trinker 
nunmehr genug gesündigt worden ist. Alle die, denen es um 
eine richtige Behandlung der Trinker zu tun ist, 
haben an der Verbreitung der Erkenntnis, dass Trunksucht 
Krankheit ist, ein starkes Interesse. Denn die verkehrte Be¬ 
handlung, die der Trinker von seiner Umgebung erfährt, die 
ihn nimmer zur Ruhe kommen lassenden Vorwürfe der Ange¬ 
hörigen, die auf Pharisäertum gestimmte Verachtung seitens 
der trinkenden Gesellschaft sind empörend, ungerecht und für 
ihn verderblich. Seine Erbitterung, seine Hoffnungslosigkeit, 


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242 


Abhandlungeti. 


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das Gefühl, dass ihn niemand versteht, verschlimmern seinen 
Zustand und steigern seine Neigung, im Trünke Vergessen zu 
suchen. Fast überall, wo mit besonderer Emphase der Satz, 
dass Trunksucht Krankheit sei, betont wird, liegt die Absicht, 
die sehr angebrachte und anerkennenswerte Absicht vor, 
den Trinker in Schutz zu nehmen. Der Schutz des 
Trinkers vor seiner verständnislosen und unge¬ 
rechten Umgebung ist das starke Motiv, aus dem 
heraus die starke Betonung der Tatsache, dass 
er krank ist, ihre Berechtigung zieht. 

3. Um auch den Angehörigen gerecht zu werden, ist nicht 
zu vergessen, dass ähnlich wie bei den Nervösen, in noch 
höherem Grade bei Trinkern die Erscheinungsform, in der die 
Sucht zum Ausdruck kommt, Leichtsinn, Rohheit, Verlogenheit, 
Pflichtvergessenheit, immer wieder den naiv Denkenden und 
Empfindenden in eine sittliche Beurteilung, in sittliche Ent¬ 
rüstung hineindrängt, dass daher ein starkes Mass von Selbst¬ 
zucht und sittlicher Kraft für die Angehörigen dazu gehört, 
sich angesichts der trostlosen Verirrungen des Trinkers immer 
wieder klar zu machen, dass derselbe ein kranker Mann ist, 
dass er nur relativ verantwortlich für sein Tun ist, dass er 
Mitleid, nicht Verachtung verdient, dass ihm gegenüber nicht 
Worte, sondern sachgemässe Behandlung allein am Platze ist. 
Oft ist auch schon die Aufklärung über die wahre Beschaffen¬ 
heit des Uebels für die Angehörigen eine grosse Wohltat. Auf 
eine feingebildete und hochherzige Frau, in der die Liebe zu 
dem trunksüchtigen Manne stark geblieben war, ja selbst die 
Achtung vor ihm, vor seinem im Grunde verschüttet schlummern¬ 
den besseren Ich sich erhalten hatte, die jedoch durch die von 
seiten des Mannes erfahrene Nichtachtung, durch seine völlige 
Haltlosigkeit sich vor ein unlösbares Rätsel gestellt und in un¬ 
geklärte und unausgeglichene, ja, in die widerspruchsvollsten 
Empfindungen versetzt sah, wirkte der blosse Hinweis darauf, 
dass der Mann als Kranker zu beurteilen sei, versöhnend, be¬ 
freiend, ja förmlich erlösend. In so hohem Masse ist die Ein¬ 
sicht darin, dass Trunksucht auch Krankheit und nicht nur 
Laster ist, eine Wohltat und geeignet die Angehö¬ 
rigen zu richtiger, geduldiger Behandlung der 
Trinker zu beeinflussen. 



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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


243 


4. Trinkerbehandlung gliedert sich in Vereinsbehandlung 
und Anstaltsbehandlung. Beide, Vereine und Anstalten, 
letztere in noch höherem Masse als erstere, leiden — und wo 
Vereine und Anstalten leiden, leiden, worauf es uns hier vor 
allem ankommt, die Trinker mit— leiden unter der noch 
nicht gebrochenen Alleinherrschaft der Beur¬ 
teilung der Trunksucht als eines Lasters. Nun 
wird ja die Beurteilung der Trunksucht als eines Lasters nie 
ganz auszurotten sein, weil auch ihr berechtigte Motive zu Grunde 
liegen und sie dem naiven Denken fest in Fleisch und Blut 
sitzt. Aber die Einseitigkeit in der Beurteilung der Trunksucht 
nach dieser Richtung hin ist doch verderbenbringend. Der 
Eintritt in den Verein, noch mehr in die Anstalt wird gewertet 
als das Bekenntnis des Vorhandenseins der Trunksucht. Haftet 
nun der Trunksucht vor allem der sittliche Makel an, so ist 
klar, dass jeder sich hütet zu bekennen, dass er Trinker sei. 
Mit einem bewundernswerten, aber durchaus irregeleiteten 
Heroismus verbirgt die Frau des Trinkers sich und andern 
den Zustand ihres Mannes. Was die Spatzen auf den Dächern 
pfeifen, darf um keinen Preis in ihrer Gegenwart erwähnt oder 
gar von ihr zugegeben werden. Das mit dem Eintritt in Verein 
oder Anstalt ohne weiteres verbundene Bekenntnis der Trunk¬ 
sucht gilt allen Leiden, die sie im Gefolge hat, gegenüber doch 
als das noch grössere Uebel. So wird der Eintritt hinausge¬ 
schoben, bis es sehr spät oder zu spät geworden ist. Hier 
muss die Erkenntnis, dass die Trunksucht Krankheit ist, Bahn 
brechen und Hindernisse aus dem Wege räumen. Und wenn 
dann die Schuldfrage in die Erörterung gezogen wird, so muss 
erkannt und berücksichtigt werden, ein wie geringer Teil der 
Schuld selbst in schlimmen Fällen, wo Schuld offenbar am 
Tage ist, dem Einzelnen, dem minderwertig ausgerüsteten In¬ 
dividuum zur Last gelegt werden kann, ein wie grosser Teil 
der Schuld auf die Gesamtheit fällt, die die schwierigen Ver¬ 
hältnisse, vor allem die Trinksitte hervorgebracht hat und noch 
erhält, ein Gedanke, den Forel paradox ausdrückt, wenn er 
sagt: Das Laster ist nicht die Trunksucht, sondern die Trink¬ 
sitte. So will der Satz: „Trunksucht ist Krankheit“ 
Anstalten und Vereine von den gegen sie herr¬ 
schenden Vorurteilen befreien. 

Die Alkoholfrage. 17 


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Abhandlungeil. 


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5. Für die Heilung des Trinkers ist wesentlich, dass er 
enthaltsam bleibt. Das ist für viele — nicht für alle, aber für 
viele gleichbedeutend damit, dass sie in dem Abstinenzverein, 
für die in Anstaltsbehandlung befindlichen damit, dass sie ge¬ 
nügend lange in der Anstalt bleiben. Auch hier hat die Be¬ 
urteilung der Trunksucht als Krankheit wichtige Dienste zu 
leisten und ist unentbehrlich. Wie soll man anders dem Trinker 
die Ueberzeugung beibringen, dass er enthaltsam bleiben muss! 
Gewiss ist der Satz, der mässige Genuss sei des Normale 
schlechthin, die Enthaltsamkeit grundsätzlich die Ausnahme von 
der Regel d. i. das Abnorme, falsch. Der mässige Genuss, der 
Genuss alkoholischer Getränke überhaupt ist um nichts nor¬ 
maler als die Ablehnung des Genusses alkoholischer Getränke; 
an und für sich ist beides, was Normalität oder Abnormität 
angeht, mindestens durchaus koordiniert. Diesen Tatbestand 
kann nur der leugnen; der entweder durch die eingeführte 
Ausdrucksweise: „Massigkeit“ und „Enthaltsamkeit“ — bei der 
freilich die Massigkeit ohne weiteres als das höhere sittliche 
Ideal erscheint — sich irre führen lässt und verkennt, dass es 
sich zunächst lediglich um Genuss oder Nichtgenuss von Alkohol 
handelt, gerade so wie es beim Tabak sich um Rauchen und 
Nichtrauchen handelt, wobei es keinem in den Sinn kommt, das 
mässige Rauchen dem Nichtrauchen gegenüber als das höhere 
Ideal hinzustellen, oder den Gebrauch von alkoholischen Ge¬ 
tränken, die doch nicht ein unentbehrliches absolutes Bedürfnis, 
sondern nur entbehrliche Genussmittel sind, als die absolut 
gegebene unter keiner Bedingung zu verlassende Basis hinstellt, 
wozu durchaus kein Grund vorliegt. Aber so wie die Verhält¬ 
nisse liegen, wird leider bis auf lange Zeit hinaus noch dem 
Durchschnittsmenschen der allgemein übliche Genuss alkoho¬ 
lischer Getränke als das Normale, Ideale, als das zu erstrebende 
Ziel, als der wünschenswerte Zustand vor Augen stehen. 
Trinkern gegenüber wird man daher die Auskunft: Ihr müsst 
enthaltsam sein, ihr könnt nicht anders, ihr seid so und so 
veranlagt, nicht völlig entbehren können. Natürlich wird man 
ihnen sofort dieses Muss als eine nicht unerfreuliche Sache, 
als etwas durchaus nicht tragisch zu nehmendes, als kein Opfer 
und Verzicht, als etwas, was für jeden, auch für den, welcher 
nicht gerade muss, nur gut ist, darstellen. Aber entbehren 



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liaacke. Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


245 

kann man den Hinweis auf die absolute Notwendigkeit der 
Enthaltsamkeit für den Trinker nicht, und für die Begreif- 
barmachung der Notwendigkeit der Enthaltsam¬ 
keit für den Trinker ist wiederum eben der Hinweis 
darauf, dass es sich beiTrinkern um eine Krank¬ 
heit handelt, für die es nur die eine Medizin, die Enthalt¬ 
samkeit gibt, durchaus unentbehrlich. 

Sonderlich im weiteren Verlauf der Anstaltsbehandlung, 
wenn bei der Wiederkehr der körperlichen Gesundheit die 
Hebung der Gesamtpersönlichkeit kräftig ansetzt, jene Freudig¬ 
keit, jenes Sichstarkfühlen, jener Wille, jener Trieb und Drang 
wieder gut zu machen einsetzt, ist zur Vermeidung des Miss¬ 
erfolges, zur Vermeidung des vorzeitigen Verlassens der Anstalt 
in Selbstüberschätzung, in Ueberschätzung der vorhandenen Kraft 
dem Trinker unablässig vorzuhalten, dass der blosse Wille, so 
wertvoll, wichtig, ja ausschlaggebend er ist, doch noch nicht ge¬ 
nügt, dass es bei derTrunksucht sich um ein eingewurzeltes Leiden, 
um eine durch lange Verfehlung erworbene Krankheit handelt, 
die nicht von heute auf morgen, die nicht mit dem blossen 
Wunsch und Willen, gesund zu sein, aus der Welt geschafft 
ist. Es ist eben nicht genug, dass der Wille gut ist, er muss 
auch stark sein. Willensstärke aber hat im allgemeinen kör¬ 
perliche Gesundheit (das heisst im vorliegenden Zusammen¬ 
hänge völlige Ausheilung der Trunksuchtskrankheit) zu ihrer 
Voraussetzung. 

6. Nebenbei bemerkt: bedürfen auch die, welche in 
mangelnder Bescheidenheit glauben, mit der Vereinsbehandlung 
in allen Fällen auskommen zu können, dringend der Be¬ 
lehrung, dass Trunksucht eine Krankheit ist, die zwar bis¬ 
weilen in Vereinen heilbar, manchmal aber nur in Anstalten 
heilbar und manchmal auch unheilbar ist. 

u. 

Die gesteigerte Einsicht, dass Trunksucht Krankheit ist, 
muss dankbar begrüsst werden, aber wie jede neu sich auf¬ 
drängende Wahrheit, so kann auch diese überspannt, und 
können ihr Schlussfolgerungen entnommen werden, die viel¬ 
leicht logisch in der Verfolgung der gewiesenen Linie liegen, 
aber doch sachlich und praktisch falsch, einseitig, ungerecht 
und verderblich sind. 

17 * 


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Abhandlurigeä. 


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1. Ja, die allzu einseitige Beurteilung der 
Trunksucht als Krankheit schädigt auch die 
Abstinenzbewegung und in ihr indirekt den 
Trinker. Es sei mir gestattet, durch Erzählung einer Anek¬ 
dote dem Ziele meiner Beweisführung zuzusteuern. Ein Arzt 
verordnete dem kleinen Fritz Medizin, die tropfenweise einge¬ 
nommen werden sollte; als er nach kurzer Zeit wiederkam, 
fand er das Medizinglas schon fast leer; auf seine erstaunte 
Frage, wie das möglich sei, erhielt er diese Antwort: Wenn 
der kleine Fritz einnehmen sollte, mussten erst Grossmutter 
und Vater und Mutter und auch das ältere Schwesterchen die 
vorgeschriebene Anzahl Tropfen einnehmen; sonst war das 
Einnehmen bei Fritz nicht zu erreichen gewesen. Das Komische 
liegt in diesem Falle darin, dass er dem allgemeinen Satz, dass 
die Medizin nur von dem Kranken genommen werden soll, 
widerspricht. Dass Angehörige die Medizin mit einnehmen, 
um den Kranken zum Einnehmen zu bewegen, wirkt einfach 
komisch! Wie aber liegt die Sache bei der Behandlung der 
Trunksüchtigen? Seine Medizin ist die Enthaltsamkeit und es 
ist doch nicht nur wünschenswert, sondern strikte zu fordern, 
dass die Angehörigen und der behandelnde Arzt, die Anstalt 
und der Verein und viele andere die Medizin, d. i. die Ent¬ 
haltsamkeit, mit nehmen. Ist aber Trunksucht ausschliesslich 
Krankheit, so ist nicht zu ersehen, wie die Forderung, dass Arzt 
und Angehörige mitmachen, was für den Kranken als Kranken 
unentbehrlich ist, begründet und aufrecht erhalten werden soll. 
Was aber würde die Krankenbehandlung der Trunksüchtigen 
durch den Arzt oder die Anstalt allein, ohne die Mithilfe der 
Gesunden auszurichten imstande sein! Sie wäre absolut aus¬ 
sichtslos. Hieraus ersieht man ohne weiteres, zu wie bedenk¬ 
lichen Folgerungen die zu starke Pressung des Satzes, dass 
Trunksucht Krankheit ist, führen kann. Viel wesentlicher aber 
sind andere Gefahren. 

2. Diese anderen aus zu einseitiger Betonung der Er¬ 
kenntnis, dass Trunksucht Krankheit ist, erwachsenden Ge¬ 
fahren stellen sich hauptsächlich dar als Ausschaltung der 
religiös-sittlichen Beeinflussung und Ertötung der 
Persönlichkeit. Einige Bemerkungen über die Frage der 
Trinkerbehandlung durch Aerzte oder Laien und 



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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


247 


über den konfessionellen oder nichtkonfessionellen 
Charakter der Anstalten mögen in die Erörterung hin¬ 
überleiten. Alle Vereinsbehandlung der Trinker ist Arbeit von 
Laien an Trinkern, die Erfolge sprechen laut für sie. Auch 
die Anstaltsbehandlung ist heute noch in grossem Umfange 
Laienbehandlung, ausgeübt durch Pastoren, Hausväter oder 
sonst dafür sich für geeignet Haltende, selbstverständlich nie 
ohne Mitwirkung des Arztes. Die Aerzte erstreben jedoch die 
Leitung und begründen ihre Forderung damit, dass Trinker 
Kranke seien, also der Arzt der Leiter der Anstalt sein müsse. 
Diese Forderung ist an sich in ihrer Allgemeinheit nicht richtig. 
Der Arzt muss den ihm zukommenden Einfluss fordern und 
erhalten, aber es ist nicht gesagt, dass er ihn nur hat, wenn 
er Leiter der Anstalt ist. Wäre die Betrauung mit der Leitung 
durchaus und schlechthin die einzig sichere Bürgschaft für die 
Gewinnung des ausreichenden Einflusses in der Behandlung, 
so müsste der Pastor in derselben Weise die Leitung fordern, 
denn, dass auch sein Einfluss unentbehrlich ist, steht fest. Er 
könnte argumentieren: Der Trinker bedarf vor allem der seel- 
sorgerlich-erziehlichen Beeinflussung; der dafür beruflich Vor¬ 
gebildete ist der Geistliche, der ihm gebührende Einfluss ist 
gewährleistet nur dann, wenn er die Leitung der Anstalt in 
Händen hat. Also muss er sie haben. Von dieser Beweis¬ 
führung müssen beide, Arzt und Pastor, sich frei machen. Das, 
worauf es wesentlich ankommt, ist, dass jedem der ihm zu¬ 
stehende Einfluss garantiert wird; wer dann die Leitung hat, 
kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Jedenfalls ist die 
Schlussfolgerung: Der Trinker ist krank, also muss der Arzt 
der Leiter der Anstalt sein, falsch und einseitig. Bei der 
Wahl des Anstaltsleiters ist die Frage ausschlaggebend, wer 
von beiden, Arzt oder Pastor, im gegebenen Falle in höherem 
Masse Spezialist ist, d. h. der Sache zugetan, der Sache kundig, 
abstinent und in Behandlung und Beeinflussung von Menschen 
am tüchtigsten. Denn der Einfluss von Person zu Person 
ist in der Trinkerbehandlung das Ausschlaggebende. 

Eine andere falsche Schlussfolgerung aus dem richtigen 
Satze, dass Trunksucht Krankheit sei, ist die, dass infolgedessen 
die Anstalten konfessionslos sein müssten. „Alkoholisten sind 
Kranke, mir ist noch nie ein evangelischer oder katholischer 


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248 


Abhandlungen. 


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oder jüdischer Alkoholismus begegnet, also müssen die An¬ 
stalten konfessionslos sein.“ Diese nicht etwa von mir kon¬ 
struierte, sondern von ärztlicher Seite allen Ernstes so formu¬ 
lierte Beweisführung ist höchst naiv. Wenn auch der Alkoho¬ 
lismus sich bei den Angehörigen der verschiedenen Konfessionen 
nicht verschieden zeigt, so sind doch eben diese Leute entweder 
Evangelische oder Katholische oder Juden und gerade bei 
Behandlung der Trunksucht ist es durchaus er¬ 
forderlich, den ganzen Menschen ins Auge zu 
fassen und den Kranken nicht nur als Kranken „zu be¬ 
handeln“ in ausschliesslichem Blick auf die Krankheit. Das 
mag angängig sein bei Schwerkranken, die, weil von ihrer 
Krankheit gewissermassen völlig in Anspruch genommen, zur 
Zeit der Behandlung nur als krank an dieser oder jener Krank¬ 
heit, Lungenentzündung oder Diphteritis, in Betracht kommen; 
bei Trunksüchtigen, die oft teilweise hervorragende Begabung 
und lebendige Interessen an den Tag legen, oder auch wohl 
unter Gemütsdepressionen u. dgl. zu leiden haben, bei 
Trunksüchtigen, bei denen es vor allem auf Willensstärkung, 
auf Flüssigmachung alles irgend vorhandenen Charakterkapitals, 
auf Stützung und Stärkung aller guten Motive von allen Seiten 
her ankommt, geht das nicht an; sie nur durch die Brille des 
Arztes, des Spezialisten für Herzkrankheiten oder ähnliches zu 
betrachten, ist für die vollwertige Behandlung nicht ausreichend. 
Selbstverständlich muss die religiös-sittliche Beeinflussung ge¬ 
schickt, taktvoll, tief, lauter und zartfühlend sein; aber fehlen 
soll sie nicht, sondern sie muss ordnungsmässig angeboten und 
dargeboten werden, und wo Religiosität in dem Rahmen häus¬ 
lichen Familienlebens, das anerkanntermassen den Anstalten 
zum Muster dienen soll, gepflegt werden soll, kann sie nicht 
in verblassten Abstraktionen, Reduzierungen oder Lehr¬ 
meinungen, mögen diese positiv oder negativ sein, erscheinen, 
sondern nur in der konkreten P'orm der Hausfrömmigkeit, die 
selbstverständlich konfessionell gefärbt ist, denn die Konfession 
ist die individuelle, lebenskräftige Ausprägung der Religiosität. 
Natürlich mag es für religiös Indifferente, für die, die es nicht 
nur sind, sondern auch bleiben wollen, auch ihren Intentionen 
entsprechende Anstalten geben, aber die Regel sollen kon¬ 
fessionslose Anstalten, das bedeutet meistens religionslose, nicht 



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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


249 


sein, viel weniger darf die Konfessionslosigkeit als Forderung 
auftreten, am wenigsten jedoch diese Forderung damit begründet 
werden, dass der Alkoholismus interkonfessionell und die 
Trunksucht lediglich als Krankheit in Betracht komme. 

3. Die schwerste Verirrung aber, die hier und da aus 
dem Satze: die Trunksucht ist Krankheit, erwächst, besteht 
darin, dass man den Trunksüchtigen, als eben nur 
Kranken, aller Schuld, aller Selbstverantwor¬ 
tung ledig spricht. Dass ihm alle Schuld zugeschrieben 
wurde, war ein schlimmer Fehler; sprechen wir ihn aber von 
aller Schuld und Verantwortung los und ledig, so sind wir 
vom Regen in die Traufe gekommen. Denn, als ihm seine 
Trunksucht noch als Schuld aufgerückt wurde, machte er doch 
noch Versuche,, sie los zu werden. Hat man ihm aber erst 
einmal klar gemacht, dass er absolut unschuldig sei, dass seine 
Verfehlungen nichts weiter als die naturnotwendige Folge seiner 
Gehirn- oder Herzkrankheit, seiner geistigen Minderwertigkeit 
seien, dass kein Vorwurf ihn treffen könne, dass er in Natur¬ 
vorgänge hülflos eingespannt sei, dann hat man ihm das Letzte 
und Beste geraubt: die Hoffnung auf Besserung, die Willens¬ 
freudigkeit, an sich zu arbeiten und anders zu werden. Er sagt 
sich: ich bin nun einmal so, ich kann nicht anders, ich werde 
immer so sein wie ich bin. So wird Humanität Grausamkeit, 
so wird Wohltat zur fürchterlichen Qual, so führt derSatz 
von der Trunksucht als blosser Krankheit zur 
Ertötung des persönlichen Lebens. Der schon so 
wie so stark geschwächte Wille ist völlig lahm gelegt, ein 
trübes, jämmerliches Sichselbstbedauern ist der klägliche Rest, 
das Personleben ist erstorben. 

Hier liegen die stärksten Motive für die Aufrechterhaltung 
des Satzes: die Trunksucht ist Laster. Es ist zur Genüge 
hervorgehoben, dass die sittlich - religiöse Beeinflussung zur 
Heilung des Trinkers nicht ausreicht, dass gegen ihn gerichtete 
Vorwürfe, wenn sie nicht eingeschränkt und auf das zulässige 
Mass beschnitten werden, ungerecht sind. Es ist zweifellos, 
dass der Trinker, wenn an ihm die Heil- und Rettetätigkeit 
beginnt, zuerst und vor allem fühlen muss: hier sind Menschen, 
die mich verstehen, die mich nicht in Grund und Boden ver¬ 
urteilen, sondern mich entschuldigen und alles zum Besten 


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250 


Abhandlungen. 


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kehren. Aber erspart bleiben kann dem Trinker das Schuld¬ 
gefühl nicht, ein Rest eigener Schuld bleibt für jeden immer 
zurück. Dies ignorieren hiesse ungerecht sein, hiesse auch 
unpädagogisch handeln; denn das Schuldgefühl ist meistens in 
der Tiefe vorhanden und harrt der Auslösung und des befreien¬ 
den Wortes, das mit der Schuldigerklärung auch die Sünden¬ 
vergebung bringt. Der innerste Kern des Personlebens will 
gesund werden, der Friede des Herzens soll wiederhergestellt 
werden. Das bringt man aber nicht fertig, wenn man an Sünde 
und Gnade, an Schuld und Versöhnung vorübergeht. So will¬ 
kommen dem Trinker die Botschaft ist: Trunksucht ist Krank¬ 
heit, weil sie ihm ein gut Teil Schuld von der Schulter nimmt, 
noch willkommener ist ihm die Botschaft: „Sieh, hier liegt deine 
Schuld, aber das Alte ist vergangen, vergessen, und vergeben, 
nun sei ein anderer, du kannst es mit Gott! Wenn man oft 
mit grösstem Nachdruck den Satz verfechten hört, die Trunk¬ 
sucht sei nicht nur Krankheit, sondern auch Laster, so ist das 
dabei vorschwebende letzte Interesse eben das jetzt zur Sprache 
Gebrachte: die Wahrung der relativen Selbstver¬ 
antwortlichkeit des Trinkers, die Schuld in sich 
schliesst, deren Korrelat aber, als unentbehr¬ 
liche Grundlage aller seelsorgerlich-erziehe- 
rischen Einwirkung, die relative Selbstbestim¬ 
mung, die relative persönliche Freiheit ist. 

An dem Worte „Laster“ an und für sich liegt nicht 
viel, es wird in praxi wenig gebraucht, insbesondere wird den 
Trinkern bei Sachverständigen ihre Trunksucht nicht als „Laster“ 
in irgendwie brutaler Weise aufgerückt, Laster aber ist ja zur 
Gewohnheit gewordene Sünde. Der Ausdruck Laster trägt also 
dem Chronischen des Zustandes, der ganzen Schwierigkeit des¬ 
selben überhaupt, besonders der Schwierigkeit des Wiederheraus¬ 
kommens aus ihm gebührend Rechnung, der Begriff Laster schliesst 
den Krankheitszug nicht aus, sondern ein, betont aber nicht 
das Krankhafte, sondern das Schuldhafte des Zustandes und er¬ 
innert daran, dass der Anfang dieses Zustandes in einer Sünde, 
d. i. einer Uebertretung des göttlichen Willens zu suchen, und 
dass das Verharren in ihm gleichfalls als Sünde zu beurteilen ist. 

Man kann in einzelnen Fällen sagen: hier liegt offenbar 
völlig Krankheit vor; man sagt das da, wo die sittliche Seite, 



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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


251 


die Willensbestimmung dem rein körperlichen Zustande völlig 
unterworfen ist. Umgekehrt hat man mehr den Eindruck, dass 
Schuld, unverantwortliches strafwürdiges Verhalten vorliege, 
wo der Gesamtzustand noch weniger zerrüttet ist und, wenn 
auch Trunksucht vorhanden, so doch unausrottbarer Leichtsinn 
als das Prävalierende auftritt. Im einzelnen Falle aber ist es 
im allgemeinen nicht möglich, die Grenze scharf zu ziehen oder 
den Punkt genau zu bezeichnen, wo das „Laster“, die Selbst¬ 
verantwortlichkeit, aufhört und das Krankhafte anfängt. Das 
darüber abgegebene Urteil wird, abgesehen von zweifellos 
unheilbaren Fällen, bei denen die Trunksucht überhaupt nicht 
die Krankheit sondern nur ein Krankheitssymptom unter 
anderen ist, stets subjektiv gefärbt sein. Und der Schade ist 
nicht so gross, denn für die heilende und rettende Behandlung 
des Trinkers ist diese Grenzbestimmung nicht von allzu grosser 
Wichtigkeit; im allgemeinen werden Arzt und Seelsorger, jeder 
von seiner Seite, nicht ohne Erfolg auf den Trinker einwirken, 
und an Ueberraschungen, an Erfahrungen, die der voraus¬ 
gängigen Erwartung völlig widersprechen, wird es beiderseits 
nicht fehlen. 

4. Von höchster praktischer Bedeutung da¬ 
gegen ist das Aufsuchen und Bestimmen der 
Grenze zwischen Krankheit und Laster, die Be¬ 
stimmung des Masses derVerantwortlichkeit für 
den Gesetzgeber und den Richter, für die grundsätz¬ 
lichen Bestimmungen über Bestrafung der Trunkenheit oder in 
ihr verübter Straftaten, über Zubilligung mildernder Umstände, 
über Aberkennung der vollen Zurechnungsfähigkeit u. dgl. mehr. 
Hier ist vor allem zu fordern, dass die Strafe da eintritt, wo 
sie berechtigt und wirkungsvoll ist, dagegen da, wo 
sie beides nicht ist, die nötigenfalls zwangsweise herbeizu¬ 
führende Heilbehandlung einsetzt; d. h. aber vor allem, dass 
der einzelne Fall von Trunkenheit, d. i. die trotz vorheriger 
voller Klarheit des Urteils und der Einsicht in die Folgen herbei¬ 
geführte Hineinversetzung in den Zustand der Unzurechnungs¬ 
fähigkeit, schon an und für sich strafbar ist, ganz abgesehen 
davon, ob an sie ein Verstoss gegen die Gesetze sich ange¬ 
schlossen hat, oder nicht. Denn jede Trunkenheit stellt eine 
unverantwortliche Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Sicher- 


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252 


A bhandlungen. 


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heit dar. Bei Trunksüchtigen dagegen ist Bestrafung deplaziert 
und schädlich; sie sind der Anstaltsbehandlung zu überweisen. 

Ich bin am Schluss. Die Trunksucht als Krankheit und 
Laster! Der religiös gestimmte Mensch kann nun einmal bei 
der blossen Auskunft: Trunksucht ist Krankheit sich nicht be¬ 
ruhigen und mit ihr nicht auskommen. Ihm legt sich, wenn 
er den Trunksüchtigen sieht, wie schwerer Alp auf die Seele, 
der Gedanke an Gott, an das im Trinken erloschene Ebenbild 
Gottes, an die Vernichtung der Seele, an die Ausmerzung des 
ewigen Lebens; er sieht, wie der Unglückliche nicht mehr 
sündigendes Subjekt, das mit der Sünde spielende Subjekt, 
sondern der Sünde verfallenes Objekt ist. Es kann ihm der 
Ausdruck „Krankheit“ nie genügen; das was ihm am meisten 
an die Seele greift, gibt dies Wort nicht wieder, ja scheint es 
zu eliminieren. Er sagt daher auch nicht: der Alkohol, sondern 
die Sünde ist der Leute Verderben. Auf der andern Seite, so 
merkwürdig, so verwirrend für das religiöse Empfinden es ist, 
bestritten kann es doch nicht werden, dass eben derselbe Mensch 
mit und ohne Alkohol so verschieden ist, dass oft der eine dem 
andern nicht ähnlich ist Es ist nicht richtig, dass die Alkohol¬ 
intoleranten sonderlich Sünder sind vor allen, von Haus aus. 
Eben so gewiss sind sie nach Entziehung des Alkohols nicht 
aller Sünde ledig, noch leben sie sündlos. Selbstverständlich 
nicht! Aber ein unverkennbarer Unterschied ist doch vor¬ 
handen. Natürlich, sie können anderen Sünden zum Opfer 
fallen, die religiös gewertet ebenso schlimm, ja schlimmer als 
die in der Trunksucht sich zeigenden sind: Ehrgeiz, Lieblosig¬ 
keit, Geiz, Hochmut u. dgl. mehr. Aber diesem Zustand der 
Hilflosigkeit, des wehrlosen Preisgegebenseins an alle Finster¬ 
nisse und Roheiten, diesem Zustand der Selbstwegwerfung, 
deren sie im Grunde sich schämen, tief sich schämen, oder 
jener Umnachtung des Urteils, die jeden Ansatz zur Erhebung 
auf ein höheres Niveau ausschliesst, diesem Zustand werden 
sie doch wirklich entrissen durch die blosse Abstinenz. Die 
Sünde in dieser Tiefe und Schwere, in dieser mannigfaltigen 
Ausprägung lag wohl schon vor ihrem Trunksüchtigwerden 
in ihnen, aber als schlummernde, durch Religiosität, Pflicht¬ 
gefühl und Selbstbewachung zurückgedrängte Potenz; der Alko¬ 
holgenuss weckte sie zum Leben, der Alkohol warf alle Hemm- 



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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster. 


25B 


nisse über den Haufen, der Alkohol entfesselte das durch 
nichts regulierte, bisher nur potenziell vorhandene brutale Trieb¬ 
leben der sündigen Natur. 

Merkwürdig ist, dass so durchaus dem Gebiete der Sitt¬ 
lichkeit angehörende Lebensäusserungen durch den blossen 
Stoff Alkohol ausgelöst werden können; der Gedanke, diese 
Möglichkeit ist m. E. für jeden Menschen niederdrückend, aber 
der Tatsache können wir uns nicht entziehen, wir sind eben 
aus Körper und Geist zusammengeschweisste Wesen; keiner 
kann gegen seinen Körper ohne Nachteil für seine Seele, für 
die rein sittlich spirituelle Kraft seiner Persönlichkeit sündigen. 
Und der Alkohol ist ein Gehirngift, dem sehr viele Gehirne 
nicht gewachsen sind. Mit der Tatsache müssen wir rechnen 
und durch sie unser Handeln bestimmen lassen. Es hiesse in 
der Luft schweben, mit Menschen, wie es sie in Wirklichkeit 
nicht gibt, rechnen, es hiesse, einem verkehrten und verderb¬ 
lichen Spiritualismus huldigen, wollte man die Rolle, die der 
Alkohol als eine sittliche Schädigung des Personlebens her¬ 
vorrufende Substanz zu spielen imstande ist, verkennen. Auf 
der anderen Seite wäre es krasser Materialismus, wenn man 
verkennen wollte, dass der Alkohol doch nimmer imstande 
ist, Nichtvorhandenes hervorzuzaubern, wenn man verkennen 
wollte, dass er doch nur der Stab ist, der den auf dem Grunde 
der Seele als vorhanden liegenden Schmutz aufrührt, dass er 
nicht die böse Substanz selbst, sondern nur der sie in Be¬ 
wegung setzende Hebel ist, dass er nicht dafür verantwortlich 
ist, dass die durch ihn zu Stande gebrachte Gehirnschädigung 
gerade in diesen und jenen bestimmten Lastern sich ausprägt 
und Gestalt gewinnt, wie denn auch die Formen und Grade 
der Lasterhaftigkeit bei Trunksüchtigen doch auf Grund der 
verschiedenen vorhandenen sittlichen Grundlage relativ ver¬ 
schieden sind. Daher ist neben derEnthaltsamkeit, 
die selbstverständlich erforderlich ist, die sittlich-reli¬ 
giöse Hebung des Gesamtlebens dringendstes Er¬ 
fordernis, und die wird sich nicht erreichen lassen ohne 
Eingehen auf das Zurückliegende, ohne Aufweisung der Stellen, 
wo die Sucht durch Sünde erworben wurde; denn ohne klare 
Schulderkenntnis und ohne Erledigung derselben, d. i. Sünden¬ 
vergebung, sind Lust und Freudigkeit und Kraft zur Erneuerung 


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254 


Abhandlungen. 


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nicht zu erzielen. Der Stachel muss aus dem Herzen heraus¬ 
gezogen, das ganze Herz zur Gesundung gebracht werden. 
Nur, wo diese grundsätzliche Betrachtung zur Herrschaft ge¬ 
langt ist und berücksichtigt wird, kann der richtige Satz, dass 
die eigentliche Sucht Krankheit ist, ohne Schaden des Gesamt¬ 
interesses der. Persönlichkeit zur Anwendung gelangen. 

Materialismus und Spiritualismus sind die beiden Extreme, 
von denen keins der Wirklichkeit, dem Wesen der Kreatur, 
die wir Mensch nennen, gerecht wird. Eine Aussöhnung ist 
nur möglich auf dem Boden des Realismus, der die Realität, 
die Zwiespältigkeit des Menschen, die Tatsache, dass er Körper 
und Geist ist, anerkennt und berücksichtigt. Notwendig ist 
die Aussöhnung vor allem da, wo die Grenzen verschwimmen, 
wo Körperliches und Geistiges nicht mehr rein auseinander¬ 
gehalten werden können, wo beide, Arzt und Seelsorger ein 
Arbeitsgebiet haben und kompetent sind. Dass sie zu gemein¬ 
samer Arbeit die Hand sich reichen, ist der Weg, der allein 
eine Heilung der Trunksucht in vollem Umfange und im tiefsten 
Sinne gewährleistet. 


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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


255 


Der Kampf gegen den Alkoholismus, 
eine soziale Aufgabe der Frau. 

Von Katharina Scheven. 

Vortrag, gehalten auf dem Jahrestag des sächsischen Landes¬ 
verbandes gegen den Missbrauch geistiger Getränke in Chemnitz 

am 26. Juni 1904. 


Obgleich mein Spezialarbeitsgebiet nicht die Bekämpfung 
des Alkoholismus, sondern die Sittlichkeitsbewegung ist, so habe 
ich doch die ehrenvolle Aufforderung, die mir vom Vorstand 
des sächsischen Landesverbandes gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke zuteil geworden ist, bei Gelegenheit seiner Jahres¬ 
versammlung in Chemnitz zu sprechen, nicht ablehnen zu dürfen 
geglaubt, weil ich mir bewusst bin, dass sehr viele nahe Be¬ 
ziehungen zwischen unseren Arbeitsgebieten bestehen, die einen 
ganz innigen Zusammenhang derselben erkennen lassen, und 
weil ich der Ueberzeugung bin, dass heute, wo die Frauen mit 
heissem Bemühen danach ringen, Schulter an Schulter mit den 
Männern in den Wettkampf des Lebens und in den Genuss 
der Errungenschaften unserer Kultur einzutreten, es erst recht 
die Pflicht der Frauen ist, ihnen ihren Beistand gegen die so¬ 
zialen Uebel unseres Zeitalters zu leihen und überall da auf 
dem Platze zu sein, wo ihre Hilfe gebraucht und gewünscht wird. 

Erwarten Sie, von mir verehrte Anwesende, nicht, dass 
ich Ihnen einen, auf physiologische Tatsachen gegründeten 
Bericht über die Schädlichkeit des unmässigen oder auch nur 
gewohnheitsmässigen Alkoholgenusses gebe. Ich muss die Dar- 


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256 Abhandlungen. 

Stellung dieser Tatsachen kompetenteren Leuten überlassen, 
und setze ausserdem die Kenntnis derselben, die von hervor¬ 
ragenden Wissenschaftlern auf Grund eingehender Studien, 
praktischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Experimente 
längst festgestellt und durch eine gewaltig anschwellende po¬ 
puläre Literatur dem Verständnis weitester Kreise zugänglich 
gemacht worden ist, als bekannt voraus. 

Was ich Ihnen bieten kann, ist nur ein Versuch zur Be¬ 
antwortung der Frage: Ist die Mithilfe der Frauen bei der Be¬ 
kämpfung der ungeheuren Schädigungen, die durch den Alko¬ 
holismus der Menschheit zugefügt werden, eine soziale Not¬ 
wendigkeit, und wenn sie eine Notwendigkeit ist, in welcher 
Weise kann sie erfolgreich ins Werk gesetzt werden? Man 
hat in letzter Zeit das Wort von den drei Geissein der Kultur¬ 
menschheit geprägt und versteht darunter die Tuberkulose, die 
Syphilis und den Alkoholismus. Wenn die erste dieser furcht¬ 
baren Dreizahl soziale Ursachen hat, so spielen bei den beiden 
andern neben den sozialen und wirtschaftlichen Uebeln auch 
sittliche Missstände eine gewaltige Rolle. Wie die Syphilis nicht 
existieren würde ohne die Unsittlichkeit, so der Alkoholismus 
nicht ohne die Unmässigkeit. Beide resultieren zum grossen 
Teil aus Mangel an Selbstzucht und an sittlichem Verantwort¬ 
lichkeitsgefühl. Und weil diese beiden Laster aus einer Quelle 
fliessen, erweisen sie sich auch als unzertrennliche Gefährten, 
wo immer sie auftreten. Die Wirkung des einen wird zur 
Ursache des andern, auf diese Weise ist ein circulus vitiosus 
entstanden, in dessen Wirbel Generation um Generation der 
armen verblendeten Menschheit immer von neuem hinabgezogen 
wird. Gewiss haben diese beiden schweren Schäden auch 
soziale Ursachen. Die moderne Prostitution wäre in ihrer heu¬ 
tigen Ausdehnung undenkbar ohne den Industrialismus mit 
seiner schlecht gelohnten Frauenarbeit, seinen Krisen und 
Stockungen, die Tausende aufs Pflaster werfen, und mit seiner 
Tendenz, das Land zu entvölkern und die Städte ins Unge- 
messne zu vergrössem. 

Ebenso der Alkoholismus. 

Gerade das macht ihn zu einem so hartnäckigen und 
schwer zu fassenden Uebel, dass seine Wurzeln tief hinab in 
den Gesellschaftsorganismus reichen und eng verwachsen und 



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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


25? 


verschlungen sind mit andern organischen Uebeln der Kultur¬ 
menschheit. Wer wollte es leugnen, dass das Wohnungselend 
in den rasch emporwachsenden Grossstädten, die Lockerung 
der Familienbande durch die Fabrikarbeit der verheirateten 
Frauen, die Fortschritte der Technik und die kapitalistische 
Ausbeutung der den Alkohol produzierenden und vom Alkohol 
lebenden Gewerbe, ferner die auf Alkohol und Prostitution 
basierte, zur Sinnenlust reizende Vergnügungsindustrie unserer 
Grossstädte einen sehr grossen Teil der Schuld an dem so ge¬ 
waltig angeschwollenen Alkoholkonsum unseres Zeitalters tragen? 

Es scheint fast,, wenn wir diese Zusammenhänge über¬ 
denken, als stünden wir elementaren Gewalten gegenüber, gegen 
deren ungeheuren Strom zu schwimmen ein vergebliches Be¬ 
mühen sein müsse; denn wenn es auch einer Anzahl in be¬ 
sonders bevorzugten Verhältnissen Lebender, oder einzelnen 
Elitenaturen gelingt und immer gelungen ist, sich zu Meistern 
des eignen Schicksals zu machen, wie soll die grosse gedanken¬ 
los dahinlebende Masse aus dem Druck und Zwang dieser Ver¬ 
hältnisse befreit werden? Ist nicht hierzu ein vollständiger 
Umschwung unseres Wirtschaftssystems, eine Hebung des ma¬ 
teriellen und sittlichen Niveaus der breiten Schichten, mit einem 
Wort eine Gesundung der sozial-wirtschaftlichen Grundlagen 
unserer Gesellschaft nötig, die sich naturgemäss nur ganz lang¬ 
sam vollziehen kann, und die immer wieder durch die ver¬ 
hängnisvollen Wirkungen der Schäden, um die es sich hier 
handelt, des Alkohols und der Unsittlichkeit, hintangehalten 
wird? 

Man könnte wohl im Gefühl der eignen Ohnmacht ver¬ 
zagen, wenn man nicht sähe, dass von der Hand einer allweisen 
Vorsehung schon dafür gesorgt ist, dass die Bäume nicht in 
den Himmel wachsen. Jedes Uebel, jede Verirrung der Mensch¬ 
heit weckt, wenn ein gewisser Grad von Gefahr erreicht ist, 
den Selbsterhaltungstrieb der Menschheit, und eine Reaktion 
tritt ein, die die daherflutende Welle einer verhängnisvollen 
Entwicklung zurückzustauen versucht. Die einsichtsvollen und 
idealen Elemente der Nation schliessen sich zusammen, und 
was dem einzelnen nicht möglich war, das gelingt einer Anzahl 
Gleichgesinnter durch gemeinsames Vorgehen. So haben in 
Amerika, in Schweden und Norwegen, in England und Finn- 


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258 Abhandlungen. 

land aus ursprünglich kleinen Anfängen heraus grosse Massen¬ 
bewegungen gegen den Alkoholismus sich entwickelt, und auch 
bei uns in Deutschland, wo im Westen der Wein, im Süden 
das Bier und im Osten der Branntwein eine fast unumschränkte 
Herrschaft üben, hat nichtsdestoweniger eine verhältnismässig 
junge Abstinenzbewegung kräftig Wurzel geschlagen und schon 
schöne Resultate gezeitigt. Und was ist es, was diese Men¬ 
schen befähigt, für ihr eignes Leben die verhängnisvollen Wir¬ 
kungen jener schädlichen Kultureinflüsse auszuschalten, sich in 
Widerspruch mit den herrschenden Anschauungen zu setzen 
und Hunderte und Tausende mit sich fortzureissen? Sie sind 
beseelt von einer Idee, die sie über sich selbst erhebt und sitt¬ 
liche Kräfte in ihnen auslöst, sie haben jenen Glauben, von 
dem es heisst, dass er Berge versetzen kann und jene Liebe, 
die sich im Dienste der Allgemeinheit verzehrt. Die Idee ist 
trotz allem, was der Materialismus sagen mag, das herrschende 
und weltbewegende Prinzip. 

Denn wir sehen, dass nicht eine plötzliche Aenderung der 
sozialen Verhältnisse, sondern das Aufkeimen einer Idee, die 
einen gewaltigen Fortschritt in den sittlichen Anschauungen 
und in der wissenschaftlichen Forschung gezeitigt, diesen be¬ 
merkenswerten Umschwung in die Wege geleitet hat. Wer 
die Aenderung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen 
für das Primäre hält, an die eine Gesinnungsänderung der 
Menschen ursächlich gebunden sei, der verwechselt Wirkung 
und Ursache. Erst muss sich der Umschwung in den Geistern 
der Menschen vollziehen, dann folgen die Verhältnisse nach, 
denn sie sind ja nur der sichtbar gewordene Ausdruck des je¬ 
weiligen intellektuellen und sittlichen Niveaus der Menschheit. 

Wenn aber die Ueberwindung des Alkoholismus eine 
Aenderung der Gesinnung, eine Entwicklung sittlicher Lebens¬ 
ideale voraussetzt, dann ist sie, das dürfen wir getrost sagen, 
in des Wortes höchster und umfassendster Bedeutung eine Er¬ 
ziehungsfrage, deren Lösung in hohem Masse von der Fähig¬ 
keit und dem Verständnis der Frauen und Mütter eines Volkes, 
als den Erzieherinnen der heranwachsenden Generationen, ab¬ 
hängt. 

Die eingangs gestellte Frage, ob die Mitarbeit der Frauen 
auf diesem Gebiete sozialer Arbeit notwendig sei, muss deshalb 


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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


259 


m. E. in unbedingt bejahendem Sinne beantwortet werden. 
Sie ist nicht nur notwendig, sie ist eine der Voraussetzungen 
ihrer Lösung überhaupt. 

Die wissenschaftlichen Führer der Bewegung wissen dies 
sehr wohl und wenden sich deshalb in allen Ländern hilfe¬ 
suchend an das weibliche Geschlecht. Im Ausland, besonders 
in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern und in 
der Schweiz, haben die Frauen auch bereits in imponierender 
Zahl diesem Rufe Folge geleistet und eine grosse und segens¬ 
reiche Tätigkeit entfaltet; in Deutschland ist wenigstens der 
Anfang dazu gemacht. Der Grund, dass uns diese Länder so 
weit voraus sind, liegt wohl hauptsächlich in der freieren und 
selbständigeren sozialen Stellung, die die Frau in jenen Ländern 
einnimmt, eine Stellung, durch welche sie früher als die 
deutsche Frau zu einem klaren, vorurteilslosen Einblick in die 
sozialen Verhältnisse und zu lebhafterem Interesse an den 
Fragen des öffentlichen Lebens gelangt ist. 

Ich glaube nicht, dass es auf einen Mangel an Teilnahme 
und Hilfsbereitschaft gegenüber den Leiden der Menschheit 
oder auf einen Mangel an praktischem Blick und Organisations¬ 
talent bei der deutschen Frau zurückzuführen ist. Die inner¬ 
lich frei gewordene, zum Bewusstsein ihrer individuellen 
Daseinsberechtigung erwachte Frau stellt ein fortschrittliches 
Element in der Gesellschaft dar. Sie ist nicht wie der Mann 
durch amtliche und Standesverpflichtungen gebunden, mit 
Traditionen belastet, und mithin trotz aller verfassungsmässig 
garantierten persönlichen Freiheit, ein in vielen Fällen unfreies 
Individuum. Sie ist im Gegenteil, wenn sie innerlich die Jahr¬ 
hunderte alten Vorurteile, die das Leben früherer Frauen¬ 
generationen mit engen Schranken umgaben, überwunden hat, 
ein beneidenswert freier Mensch. Leider haben noch immer 
viel zu wenig Frauen den Mut und die Kraft, frei sein zu 
wollen und diese wenigen werden aufgehalten durch die vielen, 
die nicht mitkommen können und sich der Entwicklung hemmend 
in den Weg stellen. Deshalb muss zuerst in den Frauen der 
Wille zur freien Entfaltung ihrer persönlichen Eigenart ent¬ 
wickelt und der Mut, dieser gewonnenen Eigenart treu zu 
bleiben und für sie zu kämpfen, erweckt werden. Es muss 
ihnen ferner die Einsicht in die sozialen Verhältnisse, die nötig 

Die Alkoholfrage. 18 


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260 Abhandlungen. 

ist, um die Forderungen und Pflichten der neuen Zeit zu ver¬ 
stehen, mitgeteilt werden. 

Mit dieser notwendigen Vorarbeit sehen wir in allen 
Kulturländern die Frauenbewegung beschäftigt. Sie leistet die 
Pionierarbeit, die die Frauengemüter dem Verständnis der 
grossen Kulturaufgaben unserer Zeit erschliessen soll. Es ist 
kein Zufall, dass es gerade diejenigen Länder sind, welche die 
grössten Erfolge in der Frauenbewegung aufzuweisen haben, 
die auch in der Abstinenzbewegung das meiste geleistet haben. 
Wer die Frau zu einem Kulturfaktor zu erheben wünscht, darf 
sich deshalb der Frauenbewegung nicht ablehnend oder gleich- 
giltig gegenüber stellen. 

Für alle diejenigen, welche durchdrungen von der Er¬ 
kenntnis der schweren physischen und moralischen Wunden, 
die durch den Alkoholismus der Menschheit geschlagen werden, 
in seiner Bekämpfung eine soziale Aufgabe der Frau erkannt 
haben, tut sich nun die grosse Frage auf: In welcher Weise 
können die Frauen zu ihrer Lösung beitragen und welche von 
ihnen sind dazu berufen? Diese letztere Frage ist nicht schwer 
zu beantworten. Die Antwort lautet: Alle! Es kann sich bei 
der Bekämpfung des Alkoholismus nicht lediglich darum handeln, 
die gröbsten Formen des Missbrauchs zu beseitigen und dem 
Laster der Trunksucht zu steuern, sondern es muss sich viel¬ 
mehr darum handeln, unsere Trinksitten, die die Lebensweise 
des gesamten deutschen Volkes durchsetzt und unsere ganze 
Geselligkeit demoralisiert haben, zu bekämpfen, vor allen 
Dingen den Trinkzwang aus der Welt zu schaffen. Eine der¬ 
artige Regeneration unserer Lebensgewohnheiten kann nur all¬ 
mählich durch eine zielbewusste, vernunftgemässe Erziehung der 
Jugend angebahnt werden, und diese grosse verantwortungs¬ 
reiche Aufgabe fällt fast ganz der deutschen Frau und Mutter zu. 

Noch immer wird hier durch Unwissenheit ausserordent¬ 
lich viel gesündigt, indem man den Kindern gestattet, am täg¬ 
lichen Bier- oder Weingenuss von klein auf teilzunehmen, wo¬ 
bei die Deputate natürlich von Jahr zu Jahr grösser werden, 
sodass die meisten Söhne an dem Zeitpunkt, wo sie das Eltern¬ 
haus verlassen, schon feste Biertrinker sind. Einem so er¬ 
zogenen Jüngling gegenüber nützt selbstverständlich eine von 


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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


261 


aussen an ihn herantretende Belehrung und Ermahnung zur 
Massigkeit wenig oder garnichts. 

Er wird unfehlbar, wenn er auf die Universität, in den kauf¬ 
männischen Beruf, ins Regimentsleben oder wohin auch immer 
hinaustritt, von den in allen Kreisen allmächtig regierenden 
Trinksitten ins Schlepptau genommen und muss von neuem 
alle damit zusammenhängenden bitteren Erfahrungen am eigenen 
Leibe durchmachen, wobei er von vornherein verurteilt ist, 
diese Erfahrungen teuer zu bezahlen. Wenn die deutschen 
Mütter wüssten — schreibt Dr. Wolfgang Schulz, — in wie per¬ 
fider Weise die Trinksitten bei ihren Söhnen die Widerstands¬ 
kraft gegen die Verlockungen der Unsittlichkeit untergraben, 
so würde diese eine Tatsache genügen, um uns Millionen be¬ 
geisterter Helferinnen erstehen zu lassen.“ 

Bei meinen Studien über die Prostitutionsfrage habe ich 
einen erschütternden Einblick in den Zusammenhang zwischen 
den Trinksitten und der Unsittlichkeit gewonnen. — Eine über¬ 
aus beschämende Tatsache trat mir bei diesen Studien vor 
Augen, nämlich die, dass diejenige Gesellschaftsschicht, welche 
man so gern als Blüte der Nation feiert, die akademische 
Jugend, in sittlicher Hinsicht auf dem denkbar tiefsten Niveau 
steht. Kein anderer Stand ist prozentual so hoch an den 
Geschlechtskrankheiten beteiligt, wie die Studenten. Sie 
kommen direkt nach den Prostituierten und Kellnerinnen. Und 
womit hängt diese furchtbare Erscheinung zusammen? Haupt¬ 
sächlich mit dem sinnlosen Trinken unserer jungen Leute. Es 
ist eine erfahrungsmässig unendlich oft bestätigte Tatsache, dass 
der erste Fehltritt eines jungen Mannes fast immer im angetrun¬ 
kenen Zustand erfolgt. Gewöhnlich wird er von ebenso wenig 
nüchternen Kameraden nach einem Trinkgelage ins Schlepptau 
genommen und verführt. Bei klaren Sinnen würde der grösste 
Teil aus ethischem und ästhetischem Widerstreben zu diesem 
Schritte unfähig sein. Unter dem Einfluss des Alkohols aber 
gehen diese Fehltritte allmählich in eine böse Gewohnheit über. 
Dr. Georg Bonn charakterisiert in seiner Schrift über „Trink¬ 
sitten und Unsittlichkeit“ diese Verhältnisse folgendermassen: 
Wie ein unsere deutsche Jugendkraft lähmender und unser 
Mark zerfressender Bann lastet auf unserm deutschen Studenten¬ 
leben die Unsitte, nach der gewohnten Abendkneipe, nach dem 

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Abhandlungeti. 


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Kommers, sei es zu Ehren des scheidenden Rektors, sei es an 
Kaisers Geburtstag, sei es nach dem Trauersalamander auf 
den Fürsten Bismarck, sei es zur Feier der Wiederauferstehung 
des deutschen Reiches, sei es nach bestandenem Doktor- oder 
Staatsexamen, sei es zu Anfang oder zum Schluss des Se¬ 
mesters, allein oder in corpore, das genossene Bier, den ge¬ 
nossenen Wein ins Bordell zu tragen! — So also ist es um 
unsere deutsche Jugend bestellt. — Physiologisch liegt der 
Zusammenhang klar zu Tage. Der Alkohol umneb,elt den Ver¬ 
stand, lähmt die Willensenergie und die sittlichen Hemmungs¬ 
vorstellungen, erregt hingegen die Phantasie und durch sie die 
Geschlechtssphäre und täuscht dem Menschen ein Gefühl von 
überströmender Kraft vor, das nach brutalem Ausbruch hin¬ 
drängt. Eine Geselligkeit, welche derartige Folgen zeitigt, muss 
auf der denkbar niedrigsten Stufe stehen. Sie wäre ohne die 
Hilfe des Alkohols, der über die Leere und Langeweile dieser 
Zusammenkünfte hinwegtäuscht, garnicht durchzuführen. Und 
doch ist die Macht dieser Sitten so stark, dass sich nur wenige 
ihrer Tyrannei ganz zu entziehen vermögen. 

Aber einige entziehen sich ihr doch. Und wenn wir ge¬ 
nau hinsehen, wer diese sind, so sehen wir, dass es meist junge 
Leute sind, die von Jugend auf zur Abstinenz oder doch zur 
strengsten Massigkeit erzogen worden sind. 

Deshalb sollte es sich jede Mutter zum Gesetz machen, 
ihre Kinder völlig ohne Alkohol zu erziehen. Die Gelehrten 
sind sich darüber einig, dass der Alkohol dem kindlichen 
Körper in jeder Beziehung unzuträglich, ja gefährlich ist. 
Warum also ihnen ein Bedürfnis anerziehen, das ihnen später zu 
einer so furchtbaren Versuchung werden kann? Erziehen wir 
unsere Kinder zur Massigkeit in materiellen Genüssen über¬ 
haupt, und richten wir statt dessen ihren Sinn auf ideelle 
Freuden; gönnen wir ihnen Gelegenheit zu nervenstärkendem 
Sport, lehren wir sie mit offenen Augen wandern, in Gottes 
freier Natur, füllen wir ihr Leben mit mannigfaltigen Interessen, 
je nach ihrer Anlage und Begabung, so werden sie von selbst, 
wenn sie erwachsen sind, das öde Kneipensitzen fliehen, und 
an Geist und Leib sich gesund und rein erhalten! 

Ein Mittel hierzu könnte auch die gemeinsame Erziehung 
der Geschlechter sein. Ich bin der Ansicht, dass die systema- 



OriginE from 

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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


263 


tische Absperrung der Geschlechter von einander während der 
ganzen Jugend und Ausbildungsepoche von verhängnisvollem 
Einfluss auf unsere kulturelle Entwicklung gewesen ist. Durch 
diese künstliche Trennung und die ausserordentliche Verschieden¬ 
heit der Erziehung haben wir die Differenzierung zwischen 
Knaben und Mädchen so weit getrieben, dass es ausser dem 
erotischen Gebiet, fast keine gemeinsamen Interessen für sie gibt. 
In dem gefährlichsten Moment der Entwickelung, wo dunkle, 
kaum verstandene Triebe sich geheimnisvoll in ihnen zu regen 
beginnen, führen wir dann die so lange getrennt Gehaltenen 
einander zu, in einer von Alkohol, Tanz und Musik erhitzten 
Atmosphäre auf Bällen und Gesellschaften und wundern uns 
noch, dass so schwer ein harmloser, kameradschaftlicher Ver¬ 
kehr zwischen ihnen aufkommen kann! In Skandinavien, 
Amerika und auch in England und der Schweiz besteht ein 
viel freierer, gesünderer Verkehr zwischen den Geschlechtern; 
dort herrschen aber auch nicht so eingefleischte Trinksitten bei 
der Jugend wie bei uns. In der Sektion Zürich der akademischen 
Abstinenten-Verbindung „Libertas“ verkehren männliche und 
weibliche Studierende kameradschaftlich mit einander, wohl der 
erste Studentenverein, der mit der verrohenden Herrschaft des 
Alkohols auch die schädliche und unnötige Schranke zwischen 
den Geschlechtern niedergezwungen hat. 

Diese Länder sind m. E. auf dem richtigen Wege. Wie 
die Allgemeinheit zur höheren Entwicklung der Sexual-Ethik 
des weiblichen Einflusses im öffentlichen Leben dringend bedarf, 
so hängt jeder einzelne Mann hinsichtlich seiner sittlichen Er¬ 
ziehung im Privatleben hauptsächlich von den ihn umgebenden 
Frauen ab. 

Deshalb ist es dringend nötig, dass unsere jungen Mädchen 
dazu erzogen werden, ihren verfeinernden und veredelnden 
Einfluss auf die männliche Jugend geltend zu machen. Hierzu 
werden sie allerdings erst fähig sein, wenn an Stelle der ober¬ 
flächlichen, spielerischen Mädchenerziehung von heute eine ernste 
Ausbildung zu pflichtmässiger Arbeit, zu einem ernsten Beruf 
die Regel geworden sein wird. Ein solches Mädchen wird viel 
besser imstande sein, einem jungen Mann die Achtung vor dem 
weiblichen Geschlecht einzuflössen, die ihn vor niedrigem Um¬ 
gang zurückschrecken lässt; sie wird aber auch bei einer Ehe- 


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264 


Abhandlungen. 


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Schliessung ihre Würde zu wahren verstehen und nicht aus 
Furcht, unverheiratet zu bleiben, unbesehen dem ersten besten 
Manne in die Ehe folgen. Eine notwendige Ergänzung dieser 
Erziehung ist eine taktvolle sexuelle Aufklärung. Unsere jungen 
Mädchen müssen vor ihrer Verheiratung erfahren, welche furcht¬ 
baren Folgen die Unsittlichkeit und die Trinkgewohnheiten der 
Männer für ihre eigene Gesundheit und die ihrer einstigen Nach¬ 
kommenschaft mit sich bringen, wie diese beiden bösen Gewohn¬ 
heiten, die fast immer zusammen auftreten, direkt oder indirekt 
das Glück der Ehe aufs schwerste gefährden. Unendlich oft 
sind sie die Ursache der plötzlichen Kränklichkeit, des lang¬ 
jährigen Siechtums, der Unfruchtbarkeit junger Frauen, die als 
blühende Mädchen in die Ehe traten, oder sie liefern durch 
Degenerationserscheinungen bei der Nachkommenschaft den 
traurigen Beweis für die Wahrheit des furchtbar ernsten Schrift¬ 
wortes, dass die Sünden der Väter heimgesucht werden an den 
Kindern bis ins 3. und 4. Glied. 

So unendlich schwer es für eine Mutter sein muss, ihren 
harmlosen, nichtsahnenden Töchtern diese Verhältnisse aufzu¬ 
decken, so ist es doch unter unsern heutigen Verhältnissen für 
jede denkende Mutter unabweisbare Pflicht. Nur Wahrheit 
kann uns retten. 

Ich bin der festen Ueberzeugung, dass erst dann, wenn 
die Frauen auf der Höhe stehen werden, dass sie eine geistig¬ 
sittliche Zuchtwahl an dem männlichen Geschlecht ausüben 
werden, der Mann anfangen wird, einen strengeren sittlichen 
Massstab an sich selbst zu legen. Die Frau hat auf diesem 
Gebiet eine sehr hohe Kulturmission zu erfüllen. In' unserer 
Hand liegt es, diese Entwicklung anzubahnen, indem wir bei 
der Erziehung unserer Kinder alle selbst einen praktischen 
Anfang machen. 

Es wäre jedoch falsch, alles nur von der heranwachsenden 
Generation zu erwarten und eine Verantwortung der gegenwär¬ 
tigen Generation gegenüber abzulehnen mit der Ausflucht, dass 
an der doch nichts mehr zu ändern sei, dass sie nun so, wie sie 
ist, verbraucht werden müsse. Wir haben zu dem die Erziehung 
unserer Kinder nicht allein in der Hand. Es wirken noch viele 
andere Faktoren mit, Verwandte, Freunde, unser Umgang, die 
Schule, vor allem aber der Vater unserer Kinder. Unsere Be- 



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Srheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


265 


mühungen können nur mit Erfolg gekrönt sein, wenn er seine 
Autorität in gleichem Sinne mit uns geltend macht und vor 
allen Dingen durch di£ Macht seines Beispiels auf unsere Kinder 
einwirkt. Die Ehe ist in meinen Augen ein Lebensverhältnis, 
dessen Bestimmung es ist, beide Gatten auf die Höhe ihrer 
physischen und sittlichen Entwicklung zu führen, deshalb sind 
beide für einander verantwortlich und verpflichtet, sich gegen¬ 
seitig zu erziehen. 

Wenn die Frau meistens von dem geistig reiferen, ihr an 
Erfahrung und Lebensklugheit überlegenen Manne in geistiger 
und praktischer Hinsicht erzogen werden muss, so sollte sie 
dafür mit ihrer feineren Sexual-Ethik, ihrem natürlichen Streben 
nach Masshalten, ihrer auf Beherrschung der rohen Instinkte 
gerichteten weiblichen Zurückhaltung seine sittliche Erziehung 
vollenden. 

Diese Aufgabe aber kann sie nur erfüllen, wenn es ihr 
gelingt, ihren Gatten aus dem Bannkreis der seinen Geschlechts¬ 
egoismus und damit die brutalen Eigenschaften der Mannesnatur 
reizenden Trinksitten zu ziehen. 

Unendlich viele Frauen werden um ihr schönstes Lebens¬ 
glück betrogen, weil sie den während seiner Junggesellenjahre 
an den Stammtisch und die Zechgenossen gewöhnten Gatten 
nicht ans Haus zu fesseln vermögen. Und für die Tragik einer 
> solchen Ehe hat niemand ein rechtes Verständnis. Während 
sich die Gesellschaft vom Trunkenbold mit Abscheu ab wendet, 
hat sie für den festen Trinker nur ein humorvolles Verzeihen, 
und die armen Frauen solcher Männer sind eine beliebte Ziel¬ 
scheibe billiger Witze in allen humoristischen Unterhaltungs¬ 
blättern. 

Wenn es schon in den höheren Gesellschaftskreisen als 
eine durchaus nicht so leicht zu erfüllende Forderung erscheint, 
den Mann dazu zu erziehen, dass er im Haus die Quelle der 
schönsten und beglückendsten Lebensfreuden suche, so begegnen 
wir in Arbeiterkreisen, wo Vater und Mutter in den Kampf ums 
Dasein hinaus müssen, leider sehr häufig Verhältnissen, denen 
gegenüber es fast wie Hohn erscheint, wenn wir von der armen 
geplagten Familienmutter verlangen, dass sie durch die Reize 
des häuslichen Lebens den Mann vom Kneipenbesuch zurück¬ 
halte. 


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Abhandlungen. 


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Wer da weiss, was für ein elendes Dasein die Frau eines 
Gewohnheitstrinkers im Arbeiterstande führt, wie ihre geistige 
und physische Kraft sich verzehrt in täglich sich erneuernder 
Qual, der weiss auch, dass eine solche Frau dem Verfall ihrer 
häuslichen Verhältnisse ohnmächtig gegenübersteht. 

In richtiger Erkenntnis der verzweifelten Lage einer solchen 
Frau oder eines solchen Gatten, denn unter Umständen können 
ja auch Frauen diesem Laster verfallen, hat man in England die 
Trunksucht als Scheidungsgrund erklärt. 30 °/o aller Eheschei¬ 
dungen werden auf diese Ursache zurückgeführt. 

Die Verhältniszahlen sind in anderen Ländern ebenso 
ungünstige, in Dänemark 25 °; 0 , in der Schweiz 33 °/ 0 , in Russ¬ 
land 40 °/ 0 . Was für Kummer und Herzeleid wohl hinter diesen 
trockenen Zahlen sich verbirgt! Und doch sind die Frauen 
jener Länder, in denen unverbesserliche Trunksucht als Schei¬ 
dungsgrund gewertet wird, verhältnismässig günstig gestellt. Die 
meisten Trinker-Frauen sind allein besser imstande, sich und 
ihre Kinder durch die Welt zu bringen, als wenn ihnen der 
brutalisierte Mann das sauer Erworbene immer von neuem aus 
der Hand windet, ganz abgesehen von dem verhängnisvollen 
Beispiel für die Kinder, das ein solcher Vater gibt. Wie oft 
hört man nicht auch von Mordversuchen und schweren Miss¬ 
handlungen, die solche Männer beim Ausbruch des Deliriums 
an ihren unglücklichen Angehörigen verüben! Muss es denn 
erst soweit kommen? M. E. sollten auch bei uns die Frauen¬ 
vereine, die für die Besserung der rechtlichen Stellung der 
Frau eintreten, bei einer Revision des B. G. B. beantragen, 
dass unheilbare Trunksucht unter die Scheidungsgründe auf¬ 
genommen werde. 

Sehr oft hängt das viele Trinken mit einer falschen Er¬ 
nährung zusammen, und hier müssen wir an die Frau in ihrer 
Eigenschaft als Hausfrau appellieren, um Wandel zu schaffen. 

Wenn in Arbeiterkreisen häufig die mangelnden Koch¬ 
kenntnisse der Frau, das mangelnde Verständnis für den Nähr¬ 
wert der Speisen und für die erziehliche Wirkung eines pünkt¬ 
lichen , schmackhaften, appetitlich zugerichteten Mahles die 
Ursache des schlechten materiellen Lebens und damit der Wirts¬ 
hausfrequenz des Ehemannes sind, so wird in den besitzenden 
Kreisen nicht weniger gesündigt durch übertrieben üppige, 



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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc, 


267 


scharf gewürzte, pikante Kost, durch welche der Durst und 
das Bedürfnis nach Alkohol geweckt wird. 

Von der schädlichen Wirkung einer derartigen Lebens¬ 
weise haben noch immer breite Schichten gar keine Ahnung. 
Es liegt so sehr im Interesse der Frauen, dieser Wirkung vor¬ 
zubeugen, dass ich mir nach dieser Richtung hin viel von einer 
zielbewussten Aufklärungsarbeit verspreche. 

Eine gründliche radikale Aenderung aber kann erst erreicht 
werden, wenn die Schule in den Dienst dieser hochwichtigen 
Aufklärungs- und Volkserziehungsarbeit einbezogen sein wird, 
durch praktischen Haushaltungsunterricht in der obligatorischen 
Fortbildungsschule für Mädchen, worin den zukünftigen Müttern 
und Hausfrauen des Volkes ohne Ausnahme theoretische und 
praktische Belehrung über Ernährungslehre und Kochkunst 
erteilt wird. Hierzu können wieder die Frauen, vor allem die 
als Lehrerinnen beruflich tätigen Frauen helfen, indem sie durch 
ihre grossen über ganz Deutschland verzweigten Organisationen 
ihren Einfluss nach dieser Richtung hin geltend machen. Aber 
noch in andererWeise könnte die Schule uns im Kampfe gegen 
den Alkoholismus zu einem mächtigen Bundesgenossen erwachsen, 
indem sie, wie es in Amerika mit so vortrefflichem Erfolge ge¬ 
schehen ist, eine auf wissenschaftlicher Grundlage basierte Be¬ 
lehrung über Physiologie und Hygiene unter spezieller Berück¬ 
sichtigung der Gefährlichkeit des Alkohols in biologischer, volks¬ 
wirtschaftlicher und ethischer Hinsicht in den Lehrplan aufnähme, 
und so die Kenntnis dieser durch die Wissenschaft erforschten 
Tatsachen zu einem Allgemeingut des deutschen Volkes machte. 

Auf dem internationalen Kongress gegen den Alkoholismus 
in Bremen 1903 erzählte Mts. Mary Hunt aus Boston über die 
staunenswerten Erfolge, welche man in Amerika in verhältnis¬ 
mässig kurzer Zeit, nämlich in 15 Jahren, mit diesem System 
errungen hat. Es ist charakteristisch für den praktischen Sinn 
der Amerikaner, dass sie die von der europäischen Wissen¬ 
schaft erforschten und festgestellten Tatsachen sofort in ihrem 
Lande in dieser Weise praktisch nutzbar machen. Bei uns ist 
der Büreaukratismus in der Verwaltung leider so gross, dass 
die modernen Forderungen einer gewandelten Zeit nicht so 
rasch auf den traditionellen Gang der öffentlichen Einrichtungen 
einwirken können. 


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Abhandlungen. 


Nachdem im Staat New-York, der 8 Millionen Einwohner 
zählt, dies Gesetz 7 Jahre in Kraft war, hat ein Komitee von 
Bürgern unter Mitwirkung der Frauentemperenzgesellschaft, eine 
sorgfältige Enquete über die Wirkungen desselben angestellt 
und die Resultate dieser Nachforschungen in einer Flugschrift 
veröffentlicht. Es heisst darin: Niemand, welcher die zahlreichen 
Zeugnisse aus allen Teilen des Staates durchsieht, kann ver¬ 
fehlen zu bemerken, dass eine Zunahme von weit verbreiteter 
einsichtsvoller Ausübung der allgemeinen Hygiene einschliesslich 
totaler Enthaltsamkeit in der Lebensweise unserer jungen Leute, 
welche dieses Studium durchmachen, stattfindet, und dass das 
Gesetz auch das vollbringt, wozu es bestimmt war. — Im Staate 
Illinois ist eine gleiche Untersuchung mit gleich günstigen Resul¬ 
taten angestellt worden. 

Nach der letzten Volkszählung haben jetzt 45 amerikanische 
Staaten diesen Unterricht für insgesamt 22 Millionen Kinder 
eingeführt. Ausserdem hat der Nationalkongress für alle Militär-, 
Marine- und andere Schulen unter bundesmässiger Aufsicht eine 
obligatorische Belehrung über Physiologie und Hygiene, welche 
besondere Anweisungen über die Natur und Wirkungen der 
alkoholischen Getränke und anderer Reizmittel einschliessen 
muss, durch Gesetzeskraft eingeführt. Die letzte Volkszählung 
zeigt ferner, dass seit dieser Zeit die durchschnittliche Lebens¬ 
dauer um 4,1 Jahr gestiegen ist. Es steht wohl ausser Zweifel, 
dass diese Tatsache mit der Popularisierung der Gesundheits¬ 
lehre und der Temperenzerziehung in den Schulen im Zusammen¬ 
hang steht. 

Diesen grossen sozialen und kulturellen Fortschritt verdankt 
Amerika hauptsächlich den Frauen, die unter der Führung einer 
genialen Persönlichkeit, Frances Willard, einen planmässig orga- 
n’sierten Feldzug gegen den in Amerika furchtbare Verheerungen 
anrichtenden Alkoholismus eröffneten und als erste Forderung 
die Aufklärung und Belehrung der Jugend durch die Schule 
aufstellten. 

Was den amerikanischen Frauen möglich gewesen ist, 
sollten auch die deutschen durchführen können. M. E. sind 
hierzu besonders die Lehrerinnen berufen, die ja auch jetzt 
schon ohne staatliche Autorisation ihren Einfluss nach dieser 
Richtung vielfach aus privater Initiative geltend machen. 


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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


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Auch unsere Aerztinnen können auf diesem Gebiet eine 
segensreiche Mission erfüllen, besonders wenn, wie es die 
moderne Zeit dringend erfordert, Frauen als Schulärztinnen 
amtlich angestellt sein werden. 

In England haben die Frauen den obligatorischen Schul¬ 
unterricht in Hygiene und Temperenzbelehrung nicht durch¬ 
setzen können, doch bei der lebhaften Initiative, die dort die 
Abstinentenvereine an den Tag legen, hat man es verstanden, 
sich einen weitgehenden Einfluss auf die Kinder zu sichern, 
indem man sie in speziellen Vereinen, den sog. Hoffnungs¬ 
scharen, Bands of Hope, zusammenschloss, wo ihnen die nötige 
Belehrung neben Anregung zu fröhlicher Geselligkeit zu teil 
wird. — Der grösste abstinente Frauenverein, die Womens’ 
Total Abstinence Union veranstaltet sogenannte Sommerschulen, 
eine höchst originelle, echt englische Einrichtung. . ln einem 
schön gelegenen, bequem erreichbaren Orte vereinigt man auf 
2—3 Wochen junge Mädchen der gebildeten Stände, um sie 
durch einen populär-wissenschaftlichen Ferienkursus in die 
Temperenzsache einzuführen. — 

Noch durchgreifender und radikaler, weil viel breitere 
Schichten umfassend, könnte der weibliche Einfluss wirksam 
werden, wenn die Frauen in solidarischer Verbundenheit sich 
gegen die Tyrannei der Trinksitten in der Gesellschaft auf¬ 
lehnten. Es kommt bei der Kulturmenschheit im allgemeinen 
viel weniger auf Gesetze und Regierungsformen als auf Sitten 
und Lebensbedingungen an, denn wir wissen, dass Gesetze, 
die mit den Sitten eines Volkes im Widerspruch stehen, nur 
schwer zur Anwendung kommen können. Deshalb heisst es: 
erst die Sitten reformieren. 

Die im öffentlichen Leben arbeitenden Frauen empfinden 
es oft als ein schweres Hemmnis, dass sie auf die Gesetzgebung 
ihres Landes keinen Einfluss ausüben können — ich gehöre 
auch zu diesen Frauen — und deshalb streben sie nach 
diesem Rechte, das sie zu vollwertigen Staatsbürgerinnen 
erheben soll. 

So berechtigt dieser Wunsch an und für sich ist, so er¬ 
scheint er mir oft als eine Utopie, wenn ich die schmerzliche 
Beobachtung mache, wie unendlich wenig Frauen die grosse 


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270 


Abhandlungen 


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Macht, die sie bereits besitzen, nämlich die Beeinflussung der 
gesellschaftlichen Sitten, in selbständiger kulturfördernder Weise 
geltend zu machen verstehen; wie auch sie sich ins Schlepp¬ 
tau nehmen lassen von der herrschenden öffentlichen Meinung 
und gedankenlos und kritiklos im Strome dahintreiben, ohne 
rechts und links zu schauen, ohne zu ahnen, dass sie mitver¬ 
antwortliche Glieder der Gesellschaft sind. 

Was ich von der deutschen Frau auf diesem Gebiet er¬ 
warte, ist, dass sie dazu beitragen wird, den verhängnisvollen 
Trinkzwang aus der Geselligkeit zu verbannen, dass sie die 
Hand bieten wird zu einer Regeneration unserer Geselligkeit 
überhaupt, die diesen Namen kaum noch verdient. Unendlich 
viele Kreise, Beamtenkreise, Offizierskreise, Honoratiorenkreise 
der kleineren Städte seufzen unter dem Joch einer konven¬ 
tionellen Geselligkeit, die ihnen Lasten und Kosten auferlegt 
und keine Befriedigung, wenn nicht die Befriedigung ihrer 
Eitelkeit, zu gewähren im Stande ist. Aber mit der Herrschaft 
dieser Konvention zu brechen, wagen sie nicht. Hier müssen 
die Frauen vorangehen und versuchen, eine zwanglosere, ein¬ 
fachere, mehr auf gegenseitige geistige Anregung als auf ma¬ 
terielle Genüsse zugeschnittene Art der Geselligkeit auszubilden. 

Wir sind in Deutschland sehr materiell geworden, seit¬ 
dem wir ein reiches mächtiges Volk geworden sind. Darin 
liegt eine grosse Gefahr. Wir erkennen dies, wenn wir beo¬ 
bachten, welch abschreckend rohe Formen dieser Materialismus 
überall da annimmt, wo grosse Zusammenflüsse von Männern 
bei festlichen Gelegenheiten stattfinden. 

Dass die grossen Sängerfeste, Schützenfeste, Turnfeste etc. 
meistens zu widerlichen Trinkgelagen ausarten, ist bekannt, ja 
sogar bei wissenschaftlichen Kongressen soll es Vorkommen; 
ebenso dürfte es den meisten Frauen kein Geheimnis sein, dass 
auch bei diesen Gelegenheiten der Alkohol seine Rolle als 
Kuppler der Sinne zu spielen pflegt, und dass unendlich viele 
Ehegelübde unter dem Einfluss dieser verrohenden Geselligkeit 
gebrochen werden. 

Noch immer strömen wie im Mittelalter an den Konzilien 
und Reichstagen ganze Scharen von Prostituierten zu solchen 
grossen Festen zusammen, und diese Erscheinung wird als 
etwas so natürliches betrachtet, dass sogar mitunter die Stadt- 


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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


271 


Verwaltungen deutscher Städte bei solchen Gelegenheiten die 
Vermehrung des Personals in den öffentlichen Häusern offiziell 
gestatten. Eine ähnliche Erscheinung ist es, wenn in Holland, 
wo im Herbst in allen Orten grosse Kirmesfeste gefeiert werden, 
statistisch nachgewiesen worden ist, dass die Zahl der unehe¬ 
lichen Kinder mit der Frequenz auf diesen Kirmessen steigt 
und fällt. Ein paar Regentage können somit manches Menschen¬ 
kind vor viel Herzeleid und Jammer behüten. Aber dies Herze¬ 
leid und dieser Jammer würde nicht existieren ohne den Alko¬ 
hol, der alle diese tausende von Menschen zu ihren geschlecht¬ 
lichen Abenteuern verleitet und sie dann mit Schande und 
Herzweh, oder Krankheit und ehelicher Trübsal dafür bezahlen 
lässt. Ich begreife nicht, dass die Mehrzahl der gebildeten 
Frauen, die doch zweifellos um diese traurigen Zusammen¬ 
hänge wissen, nicht begreifen, dass es nicht eher besser werden 
wird, als bis sie energisch gegen diese Zustände ankämpfen. 
Statt dessen nehmen sie diese Vorkommnisse hin wie ein Fatum, 
wie etwas, an dem sie doch nichts ändern können und woran 
sie selbst keine Schuld zu haben glauben. Dass dem nicht so 
ist, dass es sich hier um eine Kollektivschuld der Gesellschaft 
handelt, an der auch die Frauen in hohem Masse beteiligt sind, 
indem sie das Gute nicht getan haben, das sie hätten tun können, 
glaube ich durch meine bisherigen Ausführungen nachgewiesen 
zu haben. 

So unendlich wichtig der Einfluss der Frau in Haus und 
Familie ist, so stellt doch die moderne Zeit, in der die Frau 
immer mehr zu einem unentbehrlichen Faktor im öffentlichen 
Leben sich entwickelt, noch weitergehende Forderungen an 
unser Geschlecht. Sie bedarf der Mithilfe der Frauen im 
Kampfe gegen den Alkoholismus auch auf dem Gebiet sozialer 
Hilfsarbeit und volkserzieherischer Aufklärung. 

Gegenüber den Riesenanstrengungen, die die Frauen 
anderer Länder in dieser Arbeit gemacht haben, sind die 
Leistungen der deutschen Frauen noch verhältnismässig gering, 
aber die Entwicklung der letzten Jahre hat auch bei uns er¬ 
freuliche Fortschritte gezeitigt. 

Waren es früher einzelne Frauen, die Initiative und Ver¬ 
ständnis durch die Gründung sozialer Schöpfungen bewiesen, 
wie Lina Morgenstern, die schon 1866 mit der Gründung 


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272 Abhandlungen 

alkoholfreier Volksküchen begann, Berta Lungstras, die in 
Bonn 1889 die erste Heimstätte für alkoholkranke Frauen er¬ 
richtete, Gräfin Schimmelmann, die auf Rügen alkoholfreie 
Seemannsheime gründete, so haben jetzt die grossen Frauen¬ 
organisationen: der Bund deutscher Frauenvereine, der All¬ 
gemeine Deutsche Frauenverein, der Verband fortschrittlicher 
Frauenvereine, der Deutsch-evangelische Frauenbund und 
andere, die Bekämpfung des Alkoholismus in ihr Programm 
aufgenommen und bemühen sich durch Verbreitung populär¬ 
wissenschaftlicher Literatur, durch eingehendes Studium der 
Frage, durch Ausbildung von Rednerinnen, durch Petitionen 
an die gesetzgebenden Körperschaften und Regierungen der 
deutschen Bundesstaaten sowohl für wachsendes Verständnis 
bei der Frauenwelt zu sorgen, als auch Einfluss auf die Gesetz¬ 
gebung zu gewinnen. Ausserdem ist durch die langjährige 
Vertreterin der Mässigkeitsbestrebungen im Bund Deutscher 
Frauenvereine, Fräulein Ottilie Hoffmann in Bremen ein 
„Deutscher Bund abstinenter Frauen“ gegründet worden, der 
bereits acht Ortsgruppen gebildet hat und alle Mässigkeits¬ 
bestrebungen einschliesslich Trinkerrettung und Gründung alko¬ 
holfreier Wirtschaften in sein Programm aufgenommen hat. 

Es ist mir sehr wohl bewusst, verehrte Mitschwestern, 
dass Sie nicht alle in diesen Organisationen selbst tätig sein 
und ihre Kraft und Zeit diesen Bestrebungen widmen können. 

Aber Sie müssen bedenken, dass die verhältnismässig 
wenigen Frauen, die die geistige und praktische Arbeit in 
diesen Vereinen leisten, dringend der finanziellen Unterstützung 
bedürfen. Sie müssen Ihr sympathisches Verständnis für eine 
derartige Kulturbewegung dadurch beweisen, dass Sie als Mit¬ 
glieder in diese Vereine eintreten und jedes Jahr Ihren Obolus 
für die gute Sache opfern. Ohne Geld ist nun einmal in dieser 
unvollkommenen Welt nichts zu machen, deshalb ist es für 
jede unter uns, welche einmal die Notwendigkeit eines Kampfes 
gegen diese Volksseuche erkannt hat, eine heilige Pflicht, auch 
ihr Teil dazu beizutragen, dass es den mutigen Pionierinnen 
wenigstens nicht an äusseren Mitteln gebricht. Leider ist dies 
in Deutschland noch immer in hohem Masse der Fall. In 
England und Amerika ist die Opferwilligkeit der besitzenden 
Klassen eine viel grössere als bei uns. Wenn man in England 



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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


273 

die grossartigen Anstalten Dr. Barnado’s besichtigt, in denen 
7000 Kinder untergebracht sind, die man grösstenteils in den 
slums von Ost-London und anderer englischer Fabrikstädte 
zusammengelesen hat, und in ihnen arme Opfer eines durch 
den Alkoholismus hervorgebrachten, oder wenigstens ohne 
den Alkoholismus undenkbaren Pauperismus erkennt, so er¬ 
schrickt man wohl über die Grösse des sozialen Elends, aber 
man staunt auch über die imponierenden Leistungen, die aus 
privater Initiative und privater Hilfsbereitschaft hervorgegangen 
sind. Diese 7000 Kinder und ein Stab von mehr als 100 An¬ 
gestellten werden Jahr aus, Jahr ein nur durch freiwillige 
Gaben erhalten. — Ebenso verhält es sich mit den Schöpfungen 
der Heilsarmee, die auch in der Trinkerrettung bedeutendes 
leistet und dabei ganz auf freiwillige Unterstützungen ange¬ 
wiesen ist. 

Und nicht nur das reiche England geht uns mit gutem 
Beispiel voran, auch in der Schweiz, in Skandinavien und 
Finnland sind aus der Privatinitiative sehr bedeutende 
Schöpfungen hervorgegangen. Der Züricher Frauenverein 
für Massigkeit und Volkswohl hat im Laufe von neun Jahren 
neun alkoholfreie Wirtschaften gegründet und damit Vorbilder 
geschaffen, die zum Anschauungsunterricht für Tausende ge¬ 
worden sind, sowohl für solche, die an die Errichtung und 
Führung solcher Anstalten herantreten wollen, als auch für 
die grosse Masse derer, die Lebensgenuss und heitere Gesellig¬ 
keit sich nicht ohne die Anreizungen des Alkohols vorstellen 
können. Das fröhliche Leben und Treiben, dass sich an 
schönen Tagen in dem grossen Volks- und Kurhaus auf dem 
Zürichberg entwickelt, wo unter Verwischung aller Standes¬ 
unterschiede die Züricher Familien mit ihren Kindern einträchtig 
beisammen sitzen, beweist das Gegenteil. 

Aehnlich, wenn auch in kleinerem Massstabe, hat sich der 
Verein belgischer Frauen gegen den Alkoholismus betätigt. 

In Schweden hat eine einzige Frau, Valborg Ulrich, 
es zu Stande gebracht, dass während der kalten Wintermonate 
in Stockholm auf den Hauptplätzen Automaten mit warmer Milch 
aufgestellt worden sind, zu welcher hauptsächlich Droschken¬ 
kutscher, Dienstmänner, Arbeiter und Arbeiterinnen ihre Zu¬ 
flucht nehmen, wodurch, wie man annehmen kann, der Schnaps- 


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274 Abhandlungeri. 

konsum eingeschränkt wird. Zahlreiche Aeusserungen von 
Befriedigung über diese Einrichtung sind der Erfinderin aus 
jenen Kreisen zu Ohren gekommen. 

Auch in Holland haben die Frauen eine rege Tätigkeit 
in der Temperenzbewegung entfaltet, und zwar arbeiten sie 
hier zumeist gemeinsam mit den Männern in verschiedenen 
Abstinenz- und Mässigkeitsvereinen. Sie haben, dem englischen 
und amerikanischen Beispiel folgend, auch bereits angefangen, 
unter den Kindern zu wirken und sie auf die Enthaltsamkeit 
zu verpflichten. 3000 Kinder von 10—16 Jahren sind in 74 
verschiedenen Vereinen organisiert, deren Leitung Männer und 
Frauen in Händen haben. 

Bei uns in Deutschland arbeiten die Frauen in den Or¬ 
ganisationen der Guttempler und des Alkoholgegnerbundes 
st)wie im deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke ebenfalls gemeinsam mit den Männern. Auch an die 
direkte Beeinflussung der Jugend ist der Guttemplerbund durch 
die Gründung von Jugendtempeln herangeschritten. Leider ver¬ 
halten sich aber die Frauen der höheren Gesellschaftskreise 
noch sehr kühl, ja geradezu ablehnend gegen diese hochwich¬ 
tige Kulturbewegung. Auch darin geht uns England wieder 
mit gutem Beispiel voran. Frauen der höchsten Aristokratie 
stehen an der Spitze der Vereinigungen. Lady Somerset, Lady 
Carlisle und ihre Tochter, Lady Cecilie Roberts, Damen der 
feinsten Gesellschaftskreise beteiligen sich an der Trinkerrettung 
und an der volkserzieherischen Propaganda. 

Es kommt der Frauenarbeit in England sehr zu statten, 
dass dort schon vielfach Frauen in den Councils sitzen als 
Mitglieder der Armenbehörden, des Waisenrats, der Schul¬ 
deputationen. Ihrem Einfluss ist es zweifellos mit zuzuschreiben, 
dass die Behörden in England den Antialkoholbestrebungen im 
allgemeinen sympathisch gegenüberstehen, und aus dieser ganzen 
Sachlage erklärt es sich, dass man dort der weiblichen Initia¬ 
tive auch in Domänen, wo die Frauen bei uns gänzlich aus¬ 
geschlossen sind, Spielraum gestattet. Dies zeigt sich in einer 
ganz eigenartigen und wohl einzig dastehenden Erscheinung, 
in der Missionstätigkeit der Miss Agnes Weston unter den Ma¬ 
trosen der königlichen Marine. Seit 33 Jahren steht Miss Weston 
in dieser Arbeit, und es ist ihr gelungen, allmählich eine grosse 



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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


275 


abstinente Union mit 217 Zweigvereinen „die Royal Naval 
Temperance Society“ an Bord der Kriegsmarine zu gründen. 
Die Befehlshaber der Schiffe dulden die propagandistische Tätig¬ 
keit dieser Dame nicht nur, sondern sie unterstützen sie sogar, 
denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass die nüchternen 
Leute ihre besten zuverlässigsten, gesündesten und leistungs¬ 
fähigsten Mannschaften sind. Miss Weston geht häufig an Bord 
der Kriegsschiffe und hält Ansprachen an die Matrosen, zu 
denen sich manchmal 6—700 Leute einfinden. 

Mit der Zeit ist die Royal Naval Temperance Society 
ausserordentlich gross geworden. Sie hat in Portsmouth und 
Devonport Seemannsheime gegründet und in Portsmouth ihr 
Hauptquartier mit einem ganzen Stabe von Angestellten aufge¬ 
schlagen. 

Einen Begriff von dem Umfang, den diese Tätigkeit ge¬ 
wonnen, geben folgende Zahlen: Im Jahre 1902 traten 6118 
neue Mitglieder ein, 14334 Mitglieds-Karten wurden versandt, 
666 Schiffsmitgliederbücher ausgegeben, das Organ des Vereins 
in 636 450 Exemplaren gedruckt und verteilt. 

In den beiden Seemannsheimen, die sich aus kleinen An¬ 
fängen zu den grössten Temperenzhospizen der Welt entwickelt 
haben, stehen jeden Abend je 1000 Betten zur Verfügung, die 
im Jahre 1902 278 355 Mal benutzt worden sind. Die Einnahmen 
betrugen 1902 26 000 £. Ein Zweig dieser Temperenzarbeit 
wird an den Frauen und Kindern der Seeleute betrieben, die 
während der langen Abwesenheit des Gatten und Vaters oft 
der Verlassenheit und der Versuchung zum Trunk anheimfallen. 
Den Leuten ist ausserdem Gelegenheit zur Versicherung für 
Krankheit und Todesfall geboten, wobei die m. E. fast zu 
strenge Maxime herrscht, dass jeder, der sein Temperenzgelübde 
bricht, des eingezahlten Geldes verlustig geht. Die englischen 
Matrosen lassen sich aber, wie es scheint, trotzdem von der 
Teilnahme nicht abhalten, denn das eingezahlte Kapital beträgt 
l 1 /« Mill. £. 

Wenn man bedenkt, dass an der Spitze dieses gross¬ 
artigen Unternehmens eine Frau steht, und dass diese impo¬ 
nierenden Schöpfungen aus den bescheidenen Versuchen dieser 
Frau, auf einem englischen Kriegsschiff den Matrosen Abstinenz 
zu predigen, herausgewachsen sind, so wird einem klar, dass 

Die Alkoholfrage. 19 


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Abhandlungen. 


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es in der Tat Frauen gibt, die der menschlichen Kultur neue 
Bahnen weisen können, und dass die Länder glücklich zu preisen 
sind, in denen die Genialität des Herzens nicht durch starren 
Büreaukratismus an ihrer Entfaltung gehindert wird. 

Nun werden gewiss viele von Ihnen glauben, verehrte 
Anwesende, dass diese schönen Erfolge, die dank der uner¬ 
müdlichen Tätigkeit von Männern und Frauen im Kampfe 
gegen den Alkoholismus errungen worden sind, zu einer be¬ 
deutenden Abnahme dieser sozialen Gefahr geführt haben. 
Doch dies würde eine irrige Annahme sein. Die Gefahr ist 
vielmehr immer noch im Wachsen begriffen. Aus England 
wird berichtet, dass sogar unter den Frauen, hauptsächlich 
unter den Fabrikarbeiterinnen der grossen Industriestädte die 
Trunkfälligkeit zunimmt. In Manchester starben im Jahre 1878 
100 Frauen an den Folgen des Alkoholismus, im Jahre 1902 250. 
Unter den Männern richtet dieses Laster selbstverständlich 
noch ganz andere Verwüstungen an. Wenn dies in England 
geschieht, wo jeder 7. Mensch enthaltsam lebt, wie sieht 
es erst in anderen europäischen Ländern aus? 

In Deutschland und der Schweiz stirbt jeder 10. Mann 
an den Folgen des Alkoholismus, wie Dr. Käferstein bei dem 
kürzlich stattgehabten wissenschaftlichen Kursus gegen den 
Alkoholismus in Berlin ausgeführt hat. 3 Milliarden Mk. werden 
in Deutschland jährlich für Spirituosen verausgabt, 1 / 10 des 
gesamten Volkseinkommens, % der Gerstenernte, 1 / ie der 
Roggenernte, 1 I 1S der Kartoffelernte wird zur Alkoholerzeugung 
verbraucht. Jede 14. erwerbstätige Person steht im Dienst 
einer am Alkohol interessierten Industrie. 

An diesem ungeheuren Konsum beteiligen sich die Frauen 
in steigendem Masse. Wenn auch selten bis zur Trunkfällig¬ 
keit ausartend, haben die Trinkgewohnheiten doch schon breite 
Schichten der Frauenwelt ergriffen. Selbst, wenn man von 
Süddeutschland absieht, wo das Bier und der Most so all¬ 
gemeine Volksgetränke sind, dass selbst kleine Kinder daran 
gewöhnt sind, bleibt diese unerfreuliche, ja beängstigende Tat¬ 
sache bestehen. Dieselben Verhältnisse, die den Mann ins 
Wirtshaus und zum Alkohol treiben, führen auch die immer 
mehr ins Erwerbsleben hinausströmenden, berufstätigen Frauen 
aller Stände ganz naturgemäss diesen Gewohnheiten in die 



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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc. 


277 


Arme. Tausende von Frauen sind heute genötigt, im Restau¬ 
rant zu Mittag zu essen, wo fast überall der Trinkzwang 
herrscht, andere Tausende lernen in dem aufreibenden Kampf 
ums Dasein das Bedürfnis nach dem Trostspender und Sorgen¬ 
brecher Alkohol kennen. So nimmt der Alkoholismus trotz 
aller Bestrebungen zu seiner Bekämpfung, trotz aller gemein¬ 
nützigen Schöpfungen, die vorläufig nur die Wirkung des 
Tropfens auf einen heissen Stein haben, immer noch zu. Es 
bleibt also noch unendlich viel zu tun übrig, denn ein Um¬ 
schwung in dieser verhängnisvollen Entwicklung kann erst 
eintreten, wenn die Mehrzahl der Bevölkerung sich zum Kampf 
gegen diesen furchtbaren Feind ermannen wird, der die Ge¬ 
sundheit, die Sittlichkeit und den Wohlstand der Nationen 
untergräbt. Da wir Frauen die Hälfte der Nation ausmachen, 
so liegt es an uns, die Wagschale zu Gunsten einer rückläufigen 
Bewegung zum Sinken zu bringen. Ich lebe der Hoffnung, 
dass die Frauen in dem Masse, wie sie über die Schranken, 
die ihren Horizont so lange eingeengt haben, hinaustreten, 
diese soziale Pflicht immer mehr erkennen werden. 

Es wird den Frauen klar werden, dass sie selbst das grösste 
Interesse an dem Erfolg dieses Kampfes haben, denn nicht nur 
ihr persönliches Glück, auch ihre ganze soziale Stellung steht 
damit in engstem Zusammenhang. Es liegt auf der Hand, dass 
das Ziel der Frauenbewegung, nämlich die geistige und soziale 
Gleichstellung und Gleichbewertung der Geschlechter, erst er¬ 
reicht werden kann, wenn unsere Kultur sich soweit verfeinert 
haben wird, dass die brutale Macht des Stärkeren sich vor 
der Herrschaft sittlicher Potenzen zu beugen gelernt haben wird. 

Darum liegt es im eigensten Interesse der Frau, alle 
finsteren Mächte, die die Bestie im Menschen entfesseln, zu 
bekämpfen: Krieg, Alkoholismus, Prostitution. 

Die Frau ist nun einmal dem Manne gegenüber physisch 
benachteiligt, daran lässt sich nichts ändern und wird sich in 
alle Ewigkeit nichts ändern lassen. 

Dieser Nachteil kann nur dadurch wett gemacht werden, 
dass das männliche Geschlecht dazu erzogen wird, seinen 
Geschlechtsegoismus, der aus seiner physischen Besserstellung 
entsprungen und durch Jahrtausende kultiviert worden ist, zu 
unterdrücken, und freiwillig auf die gewohnten, im Grunde auf 

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Abhandlungen. 


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roher physischer Gewalt beruhenden Geschlechtsprivilegien zu 
verzichten. 

Wir sehen bereits heute in einem ganz bestimmten, von 
sozialen Idealen erfüllten Kreise viele Vertreter eines solchen 
neuen Männergeschlechts, allgemein wird diese Weltanschauung 
aber nur in dem Masse werden, als das rohe Triebleben der 
grossen Menge von geistig sittlichen Mächten gebändigt wird. 

Wie rasch oder wie langsam sich diese Entwicklung voll¬ 
zieht, wird zumeist von den Frauen abhängen, von ihrer Fähig¬ 
keit, die Forderungen der neuen Zeit zu verstehen, und dem 
Manne als Führerin voranzuschreiten in dem Streben nach 
einer höheren, auf Beherrschung der sinnlichen Leidenschaften 
gerichteten, vergeistigten Kultur. 


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Scharrelmaim, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 279 


Die Bedeutung und Zukunft der Jugendlogen 
des Guttemplerordens. 

Von N. Scharrelmann in Bremen. 

Vortrag, gehalten anlässlich des Deutschen Abstinententages 

in Altona. 


Die Aufgabe aller Freunde der Enthaltsamkeit und insbeson¬ 
dere unseres Guttemplerordens läuft vor allem darauf hinaus, eine 
neue gesundere Weltanschauung anzubahnen. Dass diese Auf¬ 
gabe nicht mehr mit der gegenwärtigen, sondern erst mit Hülfe der 
heranwachsenden Generation gelöst werden kann, liegt klar auf 
der Hand. Unter den vielen Wegen nun, die dieser Aufgabe 
dienen könnten, scheinen mir die folgenden vier die wichtigsten 
und lohnendsten zu sein. 

1. Lasst uns dafür sorgen, dass tüchtige Per¬ 
sönlichkeiten heranwachsen. Der Massenunterricht 
in unseren grossen Staatsschulen liefert gar zu gern Fabrik¬ 
ware. Wir müssen durch Rat und Tat vor allem protestieren 
gegen die öde Gleichmacherei und das Kasernenwesen in der 
Erziehung. Wir müssen in jeder Jugendlogensitzung beitragen 
zur Weckung der eigenen Persönlichkeit im Kinde. Wir wollen 
versuchen, die Eltern für die Erziehung ihrer eigenen Kinder 
zu interessieren. In grösserer Freiheit sollen diese Kinder auf¬ 
wachsen, damit ihre Eigenart um so kräftiger hervorbricht. 
Persönlichkeiten, scharf ausgeprägte Charaktere haben wir nötig 
und keine Dutzendmenschen. Arbeiten wir nach dieser Rich¬ 
tung in unseren Jugendlogen (und jeder, der ihre Arbeitsweise 
kennt, wird sofort erkennen, in welch ausgedehntem Masse 


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Abhandlungen. 


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das möglich ist) dann helfen wir dadurch, dass ein Geschlecht 
von Vätern und Müttern heran wächst, welches sich auch ohne 
viele Wissenschaft von der Sklaverei unserer Sitten aus eigener 
Machtvollkommenheit befreit, welches mit fester Hand das eigne 
Leben führt und selbstverständlich eigne Wege geht, ohne sich 
durch die feige Rücksicht auf den grossen Haufen vergewaltigen 
zu lassen. 

2. Lasst uns die heran wach senden Menschen 
rücksichtsvoller machen. In der Schule lernen die Kinder 
die zehn Gebote. Unsere Zeit ist nach meiner Meinung im 
Begriff, die Reihe dieser Gebote um ein ausserordentlich wich¬ 
tiges zu vermehren, und dies neue Gebot ist es, welches der 
Jugend ganz besonders ins Herz geschrieben werden sollte. Es 
ist das Gebot: Du sollst kein böses Beispiel geben 
deinem Nächsten! 

Freilich werden tausende und abertausende heute lebender 
Menschen die Verpflichtung auf dies Gebot einfach ablehnen. 
Gerade uns Guttemplern macht man ja so gern den Vorwurf, 
dass wir die sittliche Freiheit des Menschen beschränken. 

Doch — mit der Freiheit des Willens ist es eine ganz 
eigene Sache. Durch zweierlei wird sie im Menschen beschränkt: 
1. durch den Widerstreit in seiner eigenen Brust und 2. durch 
sein Zusammenleben mit Seinesgleichen resp. durch den Wider¬ 
streit der Menschen unter einander. 

Nun meine ich, dass von der Freiheit des Willens immer 
nur bedingungsweise gesprochen werden kann. Der eine Mensch 
ist freier, der andere gebundener. Jeder stellt eine spezielle 
Entwicklungsstufe dar. Wir werden um so freier, je mehr 
die geistigen, „höchsten“ Kräfte (Verstand, Intuition, Phan¬ 
tasie, Vernunft, Gemüt usw.) die Herrschaft in uns ange¬ 
treten haben, je weniger wir uns von augenblicklichen Launen, 
von allerlei Gelüsten und Trieben leiten lassen. Zu völliger 
Willensfreiheit gelangt nur derjenige, der nichts will, was mit 
seiner besten Ueberzeugung im Widerspruch steht, was nicht 
Wille des inneren Königs ist. 

Der Trinker wird immer an inneren Konflikten leiden 
durch den Kampf zwischen seiner Leidenschaft und seiner Ver¬ 
nunft. Aber auch der Mässige kommt nicht zur vollen inneren 
Harmonie. Er kann nicht dazu kommen, denn die Wissenschaft 



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Scharrelmann, D. Eedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 281 


(die Einsicht!) lehrt, dass es keinen Grund gibt, ein alkoholisches 
Getränk einem alkoholfreien vorzuziehen, dass alle „Vorzüge“ 
des Alkohols sich als Täuschungen entpuppen, dass besonders 
Alkohol als Quelle der Lebensfreude zu verwerfen ist, dass 
infolge der giftigen Natur, seiner destruktiven Tendenz wegen 
eine Schwächung gerade der feinsten und edelsten Kräfte her¬ 
vorgerufen wird usw. 

Auch unser Zusammenleben beschränkt die Freiheit des 
Willens. Eine unendlich lange Reihe der schauderhaftesten 
Erfahrungen mag notwendig gewesen sein, ehe die Menschheit 
begriff, dass Heiraten zwischen Blutsverwandten unnatürlich 
und verderblich sind. Durch ebenso grausige und zahlreiche 
Erfahrungen musste sich die Menschheit hindurch ringen, ehe 
sie sich zur Anerkennung des Gebotes: Du sollst nicht töten! 
verstand. Nichts deutet darauf hin, dass unsere sittliche Er¬ 
kenntnis schon ihr Endziel erreicht hat, dass unsere Zeit schon 
die Fülle aller Sittlichkeit besässe, dass wir schon alle Ge¬ 
setze, die für das harmonische Zusammenleben der Menschen 
nötig sind, erkannt haben. Es scheint mir nun, als wenn sich 
langsam eine neue Erkenntnis Bahn brechen will, nämlich die, 
dass es nicht nur unsittlich ist, den Nächsten zu bestehlen, zu 
morden, ein falsches Zeugnis zu reden usw., sondern dass es 
ebenso unsittlich ist, ein böses Beispiel zu geben. Natürlich 
wehrt sich der sogenannte gesunde Menschenverstand gegen 
die Anerkennung dieser neuen sittlichen Erkenntnis. „Soll ich 
meines Bruders Hüter sein?" fragt gar mancher auch heutzu¬ 
tage. Wie sich die Menschheit damals gewehrt hat gegen die 
Anerkennung gewisser Ehegesetze, wie sich heute noch Tau¬ 
sende wehren gegen die Unterscheidung von Mein und Dein, 
wie der Mörder nicht das Gebot: Du sollst nicht töten! an¬ 
erkennen will, so wendet sich stets die Majorität der sittlich 
weniger empfindsamen Menschen gegen jede weitere Beschrän¬ 
kung ihrer persönlichen Freiheit durch neue Gebote. Und im 
Gegensatz zu der grossen Majorität, die als 11. Gesetz prokla¬ 
miert: „Es wird weiter getrunken!" betont eine Minorität desto 
energischer die neue sittliche Erkenntnis: Du sollst kein 
böses Beispiel geben deinem Nächsten! Diesem 
neuen Gesetze will unser Kampf gegen die Trinksitten dienen. 
Die Macht des bösen Beispiels, gegeben durch unsere Trink- 


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Abhandlungen, 


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sitten, ist es, die wir brechen wollen, zu Gunsten der uner¬ 
fahrenen Jugend und aller unserer willensschwachen Brüder. 

Was hindert aber den Einzelnen daran, durch totale Ab¬ 
stinenz das denkbar beste überzeugendste Beispiel zu geben, 
die denkbar schärfste Waffe gegen die unseligen Trinksitten 
zu schwingen? — Nichts als nackter Egoismus. Es ist der 
Egoismus allein, der die Notwendigkeit der Abstinenz nicht an¬ 
erkennen will, um die Herrschaft der Laune, des Augenblicks¬ 
impulses aufrecht zu erhalten. Man bedenke: Kein Mensch hat 
einen einzigen stichhaltigen sachlichen Grund, der gegen die 
Enthaltsamkeit spräche, zu entdecken vermocht, trotzdem sich 
zahllose Interessenten unendliche Mühe damit gegeben haben. 
Es ist immer wieder nichts anderes als Egoismus, der gegen 
die Enthaltsamkeit Front macht. Der Trinker (auch der Massige!) 
will für sich sein Gläschen retten, während der Enthaltsame 
sich ein (sogenanntes!) „Opfer“ auferlegt zu Gunsten seiner 
Mitmenschen. 

Aber mit diesem „Opfer“ ist es ein eben so eigenes Ding 
wie mit der Freiheit des Willens. Man glaubt ein Opfer zu 
bringen und in Wirklichkeit erhält man, was man opferte, mit 
reichlichen Zinsen zurück. Wer zum Beispiel beim Eintritt in 
unsern Orden das Gelübde der Enthaltsamkeit auf Lebenszeit 
ablegt, der opfert (so erscheint es zunächst!) seine Freiheit. 
Sie scheint durch das Gelübde wenigstens stark beschränkt zu 
werden. Die sittliche Freiheit aber ist das kostbarste Gut nach 
Ansicht der meisten Menschen. Und weil das Ansicht so vieler 
ist, scheut sich auch so mancher, einem Orden beizutreten, der 
dies „kostbarste Gut“ beschneidet. 

Nun steckt aber ein gewaltiger und verhängnisvoller Fehler 
in dieser Anschauung. Es ist nicht wahr, dass die gesetz- und 
schrankenlose Freiheit das höchste und kostbarste sittliche Gut 
ist. Höher als die Freiheit steht der freiwillige Verzicht darauf 
zu Gunsten anderer. Alles Gute und Grosse und Edle in der 
Welt ist entstanden durch irgend welches freiwillige Aufgeben 
eines Gutes. Der Reiche, der da Tausende hingibt zur Grün¬ 
dung einer Wohltätigkeitsanstalt, der verzichtet auf allen Nutzen, 
den sein Geld ihm selbst bringt, er opfert es zu Gunsten anderer. 
Die Gottheit musste sich selber Grenzen auferlegen, musste 
ihre eigene Unendlichkeit beschränken, damit die Welt in ihr 



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Scharrelmann, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 283 


entstehen konnte. Christus opferte sich selbst am Kreuze. 
Jeder Mensch, der für irgend eine Idee oder ein Gut seine 
Bequemlichkeit, Geld, Zeit oder Kraft opfert, der hat das kost¬ 
barere Teil erwählt, indem er die Rücksicht auf das eigene 
Wohl opferte zu Gunsten des Wohles seiner Mitmenschen. 

So ist auch die gesetzlose und schrankenlose sittliche 
Freiheit nicht das höchste Gut. Sittlicher ist das freiwillige 
Aufgeben meiner Freiheit, das Opfer meiner augenblicklichen 
Willensimpulse aus Rücksicht auf das Wohl anderer Menschen. 

Die höchste Kraft im Menschen, die Krone unseres 
geistigen Lebens, ist die Liebe, die nicht das Ihre sucht. Wer 
sich selbst mit all seinem Denken und Handeln bewusst in den 
Dienst dieser Königin stellt, der stellt sich damit unter das 
denkbar engste und schwerste Gesetz, dessen Egoismus wird 
von Tag zu Tag mehr eingeschränkt, die Freiheit des Handelns 
wird immer mehr eingeschränkt, aber trotzdem wird erst ein 
solcher Mensch in des Wortes höchster Bedeutung „frei“. Wer 
sich unter das höchste Gesetz der selbstlosen Liebe stellt, der 
hat keine Freiheit mehr im Handeln, der kann nur dem einen 
Befehle folgen, den dies Gesetz ihm gibt; aber dadurch, dass 
er nur einem Herrn dient, wird der Mensch befreit von allem 
Kampf und Streit in seinem Innern — er wird frei. So kommt 
die Freiheit, die er opferte, nein, die er zu opfern glaubte, 
in reinerer, verschönter Form zu ihm zurück. Wahre, sittliche 
Freiheit ist nur möglich, in strengster Gebundenheit: in der 
bedingungslosen Unterordnung aller Willensrichtungen unter 
die Herrschaft der Liebe zum Nächsten. - 

„Du sollst kein böses Beispiel geben deinem Nächsten!“ — 
Wer dies Gebot nicht nur mit dem Kopfe, sondern auch mit 
dem Herzen begriffen hat, der wird ein höheres Verantwort¬ 
lichkeitsgefühl in sich erwecken, das ihn lehren wird, alles, 
was er tut, nicht nur in Bezug auf den eigenen Nutzen oder 
Schaden zu beurteilen, sondern ebenso ernst zu überlegen, in¬ 
wiefern nütze oder schade ich meinem Nächsten. Wer dies 
Gebot in sich zur sittlichen Macht werden lässt, der wird auch 
ganz selbstverständlich die Trinksitten, die Unzähligen verderb¬ 
lich werden, mit bekämpfen helfen. 

„Du sollst kein böses Beispiel geben deinem Nächsten!“ — 
Das Wort möchte ich als Trinkspruch an jedem Glase sehen! 


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3. Wir müssen die Jugend erziehen zum Verständnisse 
für den hohen Wert des menschlichen Lebens. Die Menschen 
der Zukunft müssen ernster und fröhlicher zugleich werden. 
Ernster, weil sie dann ein tieferes Verständnis für das Leben 
haben, weil sie besser als wir erkennen werden, welch eine 
starke Quelle des Glücks das Leben werden kann, wenn man 
es seinem höchsten Ideale getreu lebt; und fröhlicher, weil sie 
mehr als wir sich darin üben werden, die Fröhlichkeit, die un¬ 
mittelbar aus dem Herzen kommt, zu pflegen und sie jeder 
anderen vorzuziehen. 

Fröhlichkeit mit Alkohol ist bekanntlich am leichtesten 
zu erhalten: man braucht nur Geld dazu, um den „Stoff“ zu 
kaufen. Aber echte, direkt aus dem Herzen kommende Fröh¬ 
lichkeit — das ist ein ander Ding! Die will mit viel Seelen¬ 
kraft und feinem Takte gepflegt werden. In diese ungezwungene, 
sich von selbst verstehende Fröhlichkeit, die das Spiegelbild 
einer reinen, lauteren Seele ist, müssen wir die Kinder ein¬ 
führen. Wenn wir helfen, dass eine Generation heranwächst, 
die es gelernt hat, auch ohne Reizmittel, die nur künstliche Stim¬ 
mung erzeugen, fröhlich zu sein, dann haben wir dadurch ein Stück 
beigetragen, dass die Abstinenz zur Selbstverständlichkeit wird. 

4. Die Jugend muss produktiver werden. 
Unsere Schulen sind leider vorzugsweise Lernschulen. Alles 
ist in ihnen auf das Aneignen von Wissen zugeschnitten. Das 
Lernen ist nicht mehr Mittel, sondern Zweck. Wir aber müssen 
helfen, die Kinder erfinderisch zu machen in allen Stücken. 
Sie sollen sich in allen Lebenslagen zu helfen wissen. Menschen 
aber, denen immer noch etwas einfällt, werden viel leichter 
den Schicksalsschlägen trotzen, die werden nicht so schnell 
den Kopf hängen lassen und zur Flasche greifen. Für die 
wird Enthaltsamkeit auch dann noch Selbstverständlichkeit sein, 
wenn andere schlaffe Seelen längst zu einem sogenannten 
„Sorgenbrecher“ gegriffen haben. 

Lasst uns die Kinder in den Jugendlogen vor allem selbst¬ 
ständiger, rücksichtsvoller, fröhlicher und erfinderischer machen, 
dann haben wir ihnen die besten Waffen gegen die Trunksucht 
und gegen alle anderen Laster überhaupt geschmiedet.*) 

*) Wer sich für diese pädagogischen Ziele interessiert und über deren Durch¬ 
führung näher informieren will, dem seien des Verfassers Schriften: „Herzhafter 


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Scharrel mann, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 285 


Nun werden Sie sagen: Ja, das ist ja alles nichts be¬ 
sonderes. Derartige Forderungen hat man schon oft gehört! — 
Gewiss! Wer ein paar Blicke in unsere moderne pädagogische 
Literatur wirft, der wird die oben genannten Forderungen da¬ 
selbst wiederfinden. 

Aber deshalb sind sie nicht minder berechtigt. Ich wollte, 
sie würden überall in jeder Schulanstalt und in jedem Eltern¬ 
hause noch viel energischer angestrebt, als es bis jetzt geschehen 
ist. Aber, nun denken Sie sich diese vier Ziele in den Vorder¬ 
grund gerückt, versuchen Sie in der Arbeit an der Jugend alles 
und jedes zuzuschneiden auf die Erreichung der vier genannten 
Forderungen, gehen Sie ihnen ganz planmässig und unaufhör¬ 
lich zu Leibe und Sie werden selbst überrascht sein, wie schnell 
und wie gründlich sich der Unterricht ändert. 

Das ist ja das Schöne und Erfreuliche in unserm Jugend¬ 
werk, dass es uns die Möglichkeit gewährt, völlig eigene Wege 
zu gehen. Da haben wir nicht wie in der Schule noch andere 
Unterrichtsziele zu erreichen, wir fühlen uns in den Jugendlogen 
frei von allen Vorschriften und Zwangsjacken, die die Tätigkeit 
des Lehrers in der Schule so leicht' einengen, da können wir 
ganz speziell unseren Zielen dienen, da bedeuten die vier For¬ 
derungen viel mehr als auf den ersten Blick zu erkennen ist. 

Aber mit all diesem soll nicht gesagt sein, dass die Kinder 
in den Jugendlogen keine direkten Belehrungen über den Alko¬ 
hol und alles, was damit zusammenhängt, erhalten sollen! Be¬ 
wahre, im Gegenteil! Soviel wie Kinder davon verstehen 
können, sollen sie sicher auch erfahren, — aber — wie wenig 
ist das! Selbst bei bestem Willen und viel Geschick lässt sich 
von der so verwickelten Alkoholfrage der Jugend nicht viel 
begreiflich machen. 

Das Verständnis für das ungeheure Alkoholelend unseres 
Volkes und die grosse Bedeutung der Abstinenzbewegung pflegt 
den Menschen erst aufzugehen, wenn er soziale Verhältnisse 
durch seinen Beruf gründlicher kennen lernt. 

Unterricht“, Verlag von A. Janssen, Hamburg 1902, und „Weg zur Kraft“ (erscheint 
im Oktober dieses Jahres im gleichen Verlage) empfohlen. Für die Unterhaltung in 
den Jugendlogen aber sei hingewiesen auf des Verfassers Sammlung von Kinder¬ 
geschichten: „Aus Heimat und Kindheit und glücklicher Zeit“ (A. Janssen, 
Hamburg 1908.) 


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Abhandlungen. 


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Doch will ich hiermit durchaus nicht alle jene trefflichen 
und hochzuschätzenden Versuche, Kindern direkte Belehrung 
über Alkohol zu vermitteln, diskreditieren. Ich meine nur, wie 
weit wir nach dieser Seite gehen wollen, das mag dem persön¬ 
lichen Geschick und dem Urteil des Einzelnen überlassen 
bleiben. 

Aber einen Weg, für die Abstinenz zu wirken, gibt es für 
uns alle, einen durchaus gangbaren und sicherlich erfolgreichen, 
einen Weg, den auch der Massige mit uns zu gehen sich nicht 
scheuen wird: es ist der Weg der indirekten Unterstützung der 
Antialkoholbewegung durch die moralische und intellektuelle 
Kräftigung des Kindes. 

Wenn wir sagen: Wir wollen die Kinder zu selbständigen, 
rücksichtsvollen, herzensreinen und produktiven Menschen 
machen, dann kann gegen diese Ziele sogar der Alkoholfreund 
nichts einwenden und selbst derjenige wird die Tätigkeit unserer 
Jugendlogen begrüssen, der sie verlachen und befeinden würde, 
wenn wir nur vom Alkohol und von nichts anderem sprächen. 

Indem wir uns aber bemühen, für die Abstinenz zu wirken, 
ohne dieselbe fortwährend ausdrücklich zu betonen, haben wir 
ein so allgemeines Ziel aufgestellt, dass die Freiheit des Einzelnen 
nicht beschnitten wird. Doch wird dadurch ebensowenig der 
eigenartige Charakter unserer Jugendlogen verwischt. Gilt es 
doch nur in jeder Sitzung alle Anordnungen, alle Berichte, alle 
Zwischenbemerkungen, alle Vorträge und Vorführungen darauf 
zu prüfen, ob sie die Kinder selbständiger, rücksichtsvoller, 
fröhlicher und erfinderischer machen. 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch ein Wort über 
die allgemeine Bedeutung unseres Jugendwerkes sagen, über 
eine Bedeutung, die es freilich noch erst erringen muss, die 
es aber in Zukunft erringen wird, auch jenseits der Grenzen 
unseres Ordens. 

Die deutsche Schule kämpft schon seit Jahren einen 
schweren Befreiungskampf. Sie möchte sich mit Hülfe des 
Staates von der Herrschaft der Kirche befreien, wird aber, 
indem sie sich von der Kirche zu emanzipieren sucht, die Beute 
des Staates. Die Lehrer werden „Beamte“ und das Kasernen¬ 
wesen macht sich im Unterrichte geltend. — Leider! denn die 



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Schairelmann, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 287 


zarte und schwierige Arbeit der Erziehung und des Unterrichts 
verträgt am wenigsten Drill, Kommando und Uniform. Die 
moderne Staatsschule ist in Gefahr, zu Grunde zu gehen. 

Es hilft nach meiner Ansicht nur eins: Es muss eine 
Unterrichtsform geschaffen werden, die schulmeisterlicher Eng¬ 
herzigkeit und allem Bureaukratismus so wenig Vorschub wie 
nur möglich leistet. Und eine solche Unterrichtsform geben 
uns unsere Jugendlogen an die Hand. 

Erwachsene und Kinder arbeiten in ihnen gemeinsam. 
Das ist ein Vorzug, wie ihn kein anderes Unterrichts- oder 
Schulsystem je aufzuweisen hatte. Eltern und Kinder sind in 
demselben Raum vereinigt, leisten dieselbe Arbeit, das Kind 
wird nicht mehr als Kind behandelt, es wird nicht mehr einem 
hochweisen Erwachsenen, der seine geistige und sittliche Ueber- 
legenheit offen und mit Ueberzeugung zur Schau trägt, von 
oben herab behandelt, sondern in den Jugendlogen wird auch 
das Kind ernst genommen, es wird als voll betrachtet, es fühlt 
sich ein Mensch unter Menschen. Jung und Alt bilden bunte 
Reihe. 

Hier haben auch die Eltern Gelegenheit, wieder einmal 
Unterricht kennen zu lernen, zu sehen und zu hören, wie man 
mit Kindern sprechen muss, wie man sie zu belehren hat, auf 
welche Weise man am zweckmässigsten auf sie ein wirkt. Ich 
verspreche mir gerade davon grosse Vorteile für die häusliche 
Erziehung. 

Die Eltern lernen ferner Lehrarbeit recht würdigen. Die 
meisten Menschen denken viel zu gering von der im Unterricht 
geleisteten Arbeit. Worin die Ursachen dieser auffälligen Tat¬ 
sache zu suchen sind, mag jetzt unerörtert bleiben. Die nie¬ 
drige Bewertung der Arbeit des Lehrers aber ist der einzige 
Grund für die mangelhafte soziale Stellung des Lehrerstandes. 
Ich erwarte dadurch, dass die Eltern Einblick in die Schul¬ 
arbeit erhalten, auch einen besonderen Gewinn für die Beur¬ 
teilung und Bewertung derjenigen, denen die schwierige und 
verantwortungsvolle Arbeit der Erziehung des heranwachsenden 
Geschlechts obliegt. 

In den Jugendlogen des Guttemplerordens ist Gelegenheit 
gegeben, dass Erwachsene Lehrarbeit würdigen lernen. Wenn 
die Oeffentlichkeit des Unterrichts allgemein üblich wäre, dann 


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brauchte die Erinnerung an die eigene, weit zurückliegende, 
gar zu subjektiv aufgefasste Schulzeit nicht mehr die einzige 
Urteilsquelle zu sein. 

Durch die gemeinsame Arbeit von Gross und Klein wird 
ferner eine ganz neue vielversprechende Unterrichtsmethode 
bedingt. Die frühere katechetische Lehrweise, die Jahrzehnte 
lang für jeden waschechten Schulmeister die allein mögliche 
Methode war und noch ist, verbietet sich vor unserem gemisch¬ 
ten Publikum von selbst. Eine zusammenhängend-darstellende 
Lehrweise ist in den Jugendlogen einzig und allein an ihrem 
Platze. Auch in methodischer Hinsicht könnten von den Jugend¬ 
logen aus Anregungen ausgehen, die auf dem Boden unseres 
staatlichen Unterrichtswesens nicht keimen können. 

Wir werden aber einen Sieg auf der ganzen Linie zu ver¬ 
zeichnen haben, wir werden die Gesamtheit der Lehrerschaft, 
auch die nicht abstinente Majorität, für uns gewinnen, wenn es 
gelingt, das Jugendwerk des Guttemplerordens zum Träger der 
pädagogischen Entwicklung für die Zukunft zu machen. 

Im Rahmen dieses Vortrages ist es mir leider nicht mög¬ 
lich, genauer den Weg zur Verwirklichung meiner Ziele Ihnen, 
liebe Ordensgeschwister, darzulegen. Ich erlaube mir nur ganz 
kurz auf eines hinzuweisen. Es scheint mir dringend nötig, 
an jedem Orte (resp. in jedem Distrikte) eine Vereinigung.aller 
derjenigen zu schaffen, die in der oben skizzierten Weise im 
Jugendwerk tätig sein wollen. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, 
dass wir in Bremen zu diesem Zwecke eine Lehrloge gegründet 
haben. Dieselbe hat folgende Aufgaben: 

1. Geeignete Lehrkräfte für unsere Jugendlogen heranzu¬ 
bilden (Seminar!) 

2. Direktiven für den Unterricht in den Jugendlogen zu 
geben. 

3. Die Themen und deren Behandlung zu erörtern. 

4. Gemachte Erfahrungen zu diskutieren und gegenseitige 
Anregungen zu empfangen. 

5. Innerhalb und ausserhalb des Ordens das Interesse am 
Jugendwerk zu fördern und für dessen Förderung und Kräf¬ 
tigung zu wirken. 

Ueber die Tagesordnung unserer Lehrerlogensitzung und 
manches andere habe ich seinerzeit im „Deutschen Guttempler“ 


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Scharrelmann, IJ. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 289 


(No. 8 und 9 in diesem Jahre) berichtet. Um mich nicht zu 
wiederholen, darf ich Interessenten wohl auf jenen Artikel auf¬ 
merksam machen. Es sind daselbst auch die Nebengesetze zu 
der Verfassung der Jugendabteilung des I. O. G. T. unter 
Deutschlands Grossloge II für den 12. Distrikt abgedruckt. 

Meine lieben Ordensgeschwister! Im einzelnen mögen 
Sie abweichender Ansicht, vielleicht in diesem oder jenem 
Punkte gerade entgegengesetzter Meinung sein, das schadet 
nichts, wir wollen hier nicht um Einzelheiten rechten. Auch 
in der Reformarbeit, die ich hier vertrete, werden sich manche 
Gedanken noch mehr klären müssen, werden andere über Bord 
fallen und neue auftauchen. Diese Aussicht hat für mich viel 
beglückendes, denn auch in der Gedankenwelt gilt unser Spruch: 
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ 

Aber auf eins kommt es immer hier an, nämlich zu be¬ 
tonen, dass die Erziehung zur Abstinenz vor allem indirekt an¬ 
gegriffen werden muss, indem wir zur Selbständigkeit, Herzens¬ 
fröhlichkeit, Toleranz und zur Produktion erziehen. Und 
zweitens kommt es mir darauf an, in einem jeden von Ihnen 
eine Vorstellung von dem gewaltigen Ernst der Erziehung zur 
Abstinenz zu erwecken und Sie alle für diese Aufgabe zu be¬ 
geistern. Das Jugend werk hat Mitarbeiter nötig, die mit viel 
Liebe, mit viel reiner Nächstenliebe und grossem Opfermut 
unserer Aufgabe dienen wollen. 

Unser Jugendwerk gleicht dem schlafenden Dornröschen. 
Es harrt desjenigen, der es aufweckt und zu dem macht, wozu 
es bestimmt ist: zur Königin in dem weiten, schönen und un¬ 
abhängigen Reiche des Guttemplerordens. 

Aber nur derjenige wird es erwecken, der da stark ist 
in Glaube, Liebe und Hoffnung, der da glaubt, d. h. un¬ 
erschütterlich überzeugt ist von der inneren Wahrheit unserer 
Sache, der da die Liebe in sich lebendig werden lässt, die auch 
im verkommensten Menschen noch den Bruder sieht und der 
da die Hoffnung in sich trägt, dass die Menschheit trotz aller 
Irrtümer und aller Bosheit doch allmählich der Vollendung ent¬ 
gegengeht. 

„Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist 
die grösste unter ihnen!“ 


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Der n. deutsche Abstinententag zn Altona 

vom 15. bis 19. Juli 1904. 

Von Dr. med. Meinert, Dresden. 


Zu den Symptomen des seit der Jahrhundertwende besonders 
raschen Fortschritts der jungen deutschen Enthaltsamkeitsbeweg¬ 
ung gehören auch die Deutschen Abstinententage. Dem ersten, 
1903 in Berlin, folgte bereits 1904 der zweite in Altona. Und nächstes 
Jahr soll in Danzig der dritte stattfinden. Die von den skandinavischen 
Ländern veranstalteten »nordischen Abstinentenkongresse« treten nur alle 
2—3 Jahre zusammen; dagegen sollen drei Abstinententage hinterein¬ 
ander in Norddeutschland stattfinden. Das ist nur recht und billig. 
Denn vom Norden her kam uns nicht nur die Abstinenz, sondern in 
den nördlichen Ländern des Reichs zieht sie auch heute noch ihre 
dichtesten Kreise. Und das Zentrum dieser Kreise ist Hamburg-Altona 
mit seinen 130 Guttemplerlogen. Natürlich spielten auf dem Abstinenten¬ 
tage die Guttempler, die zugleich ihr Grosslogenfest feierten, die Haupt¬ 
rolle. Ihnen war auch die ausgezeichnete Vorbereitung sämtlicher Ver¬ 
anstaltungen zu danken. 

Gleich auf dem Altonaer Hauptbahnhof wurde das dem Ankömm¬ 
ling klar. Eine Schaar dort postierter, als Führer kenntlich gemachter 
und wohlinstruierter Knaben — Mitglieder der Guttempler-Jugendlogen — 
brannte vor Verlangen, die auswärtigen Gäste an ihr nächstes Ziel zu 
bringen. Wir werden das »Jugendwerk« der Guttempler, zu welchem 
diese Knaben gehörten, noch näher kennen lernen. 

Für die offizielle Eröffnungsfeier am Abend des 16. Juli, 
welcher Vorstands- und Abteilungssitzungen schon vorausgegangen waren, 
hatte der unermüdliche Franziskus Hähnel — wie beim Bremer Inter¬ 
nationalen Kongress so auch hier — Plätze auf der Tribüne für die 
Presse belegt. So konnte ich die ganze imposante Veranstaltung im 
alten Zirkus Busch bequem verfolgen. Polizeimannschaften verhüteten 
die Ueberfüllung des festlich ausgeschmückten Riesenbaues und wiesen 
viele hundert Einlassbegehrende zurück. Immerhin fanden mindestens 
4000 Platz. Das behaupte ich gegenüber niedrigeren Schätzungen. 



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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona. 


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, Die für Ehrengäste vorbehaltenen wohl über ioo Plätze füllten 
sich rasch. Der durch seine verdienstvolle Untersuchung »Hamburg und 
der Alkohol« nichts bloss bei den Abstinenten zu hohem Ansehen ge¬ 
langte Landrichter Dr. Hermann Popert, war uns als Fest¬ 
redner bescheert und sprach über »Das nächste praktische Ziel 
der Abstinenzbewegung.« Unter dem Jubel der Versammlung 
gab er die Losung aus: »Ehrlos der Mann, der einen anderen durch 
Spott zum Alkoholtrinken nötigt!« Als anderer Festredner nahm ein 
Skandinavier das Wort, der sich gleichfalls vor kurzem durch eine 
literarische Tat unschätzbare Verdienste um die Sache erworben hat, 
der Gymnasialprofessor Dr. Johann Bergman - Stockholm, der Verfasser 
einer grundlegenden »Geschichte der Antialkoholbestrebungen« (über¬ 
setzt von Dr. E. Kraut, im Verlage von Gebr. Lüdeking, Hamburg 1904.) 
Die kampferprobten Führer der norddeutschen Guttemplerbe\vegung 
Blume, Asmussen und Koopmann, schauten nicht nur im Bilde 
auf ihre Getreuen herab, sondern wandelten auch in Person unter ihnen. 
Die beiden erstgenannten erfreuten sogar durch kurze Ansprachen. 
Ausserdem ergriffen das Wort: der Festleiter H. Leo-Altona, sowie 
Altonas Oberbürgermeister Dr. Giese, dessen Verständnis, Wohlwollen 
und Interesse für die Abstinenzbestrebungen angenehm überraschten, 
und Vertreter einzelner Distrikte des Guttemplerordöns und anderer 
Abstinenzvereine. Musikalische Darbietungen verschiedener Art ver¬ 
schönten die sich bis gegen Mitternacht ausdehnende würdige Feier. 

Nun will ich, alphabetisch geordnet, über die Abteilungs¬ 
und Gruppensitzungen (soweit ich denselben beigewohnt oder 
Sicheres über ihre Verhandlungen erfahren habe) berichten. 

Der »Alkoholgegnerbund (Landesgruppe Deutsch¬ 
land)« tagte am 16. Juli. Er ist vor etwa 10 Jahren von Dr. Bode 
(nachmals Geschäftsführer des deutschen Vereins gegen den Missbrauch 
geistiger Getränke, jetzt in Weimar), dem Verlagsbuchhändler Tienken 
u. A. gegründet worden. Bereits 1895 wurde er gelegentlich des Baseler 
Kongresses gegen den Alkoholmissbrauch durch Fusion mit dem schweizer¬ 
ischen »Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses« als internationale 
Organisation ausgestaltet. Von Anfang an haben namentlich Männer 
von höherer Bildung im »A.-G.-B.« gearbeitet. Laut § 5 der Satzungen 
verpflichtet sich jedes Mitglied durch die blosse Tatsache des Eintritts 
auf Ehrenwort, das Äufgeben der Enthaltsamkeit sofort dem Vorstande 
seines Ortsvereins mitzuteilen und dabei die Mitgliedskarte zurückzu¬ 
senden. Die Enthaltsamkeit der Mitglieder und ihre Propaganda hat 
sich nicht nur gegen den Genuss alkoholischer Getränke, sondern (mit 
Ausnahme ärztlicher Verordnung) auch gegen den Genuss von Aether, 
Opium, Morphium, Chloral, Chloroform, indischen Hanf und Coca zu 
richten. Hieran erkennt man den Einfluss von Prof. Forel. Organisato¬ 
risch ist der Bund noch nicht völlig ausgestaltet. Viele seiner Mitglieder 
(Näheres soll durch eine Enquete festgestellt werden) gehören zugleich 
einem anderen Abstinenzverein an (namentlich oft den Guttemplern), 
wodurch manche Unklarheiten und Missverständnisse entstanden, deren 

Die Alkoholfrage. 20 


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Abhandlungen. 


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Ausgleichung sich die Altonaer Ab geordneten Versammlung angelegen sein 
liess. Die »Landesgruppe Deutschland« zählte am i. Juli 1903 : 1873 
Mitglieder (hiervon 713 in Ortsvereinen), welche sich im Jahre 1904 
durch zahlreiche Zu- und Abgänge wohl eher etwas vermindert haben. 
Da sich der Aikoholgegnerbund nicht mit Trinkerrettung beschäftigt, so 
fehlt ihm natürlich die propagandistische Kraft, wie dieselbe namentlich 
den Guttemplern in so hohem Masse eigen ist. Doch wurden in Altona 
Beschlüsse gefasst, wie z. B. bezüglich Verbreitung eigener Flugblätter, 
welche wohl dazu angetan sind, den Alkoholgegnerbund in Deutschland 
etwas mehr zur Geltung zu bringen. Ein ausführlicher Bericht über die 
Tagung findet sich in Nr. 15 u. 16 des vom Vorsitzenden Dr. med. 
Karl Strecker - Berlin vorzüglich geleiteten Organs der Landesgruppe 
Deutschlands »Die Abstinenz«. 

Das Hauptverdienst des Alkoholgegnerbundes besteht in der aus¬ 
gezeichneten Auswahl zum Teil geradezu klassischer Antialkoholschriften, 
die wir dem Verlag seiner Schriftstelle (Basel) verdanken. 

Die Konstituierung eines »Allgemeinen Deutschen Zen¬ 
tralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus« ge¬ 
hört zu den hervorragendsten Ergebnissen des Altonaer Abstinententages. 
Die Satzung des Verbands wurde durch die bevollmächtigten Vertreter 
von 20 deutschen Abstinenzorganisationen (mit zusammen rund 55 000 
Mitgliedern) und von 11 Redaktionen (mit zusammen 110 000 Abonnenten) 
anerkannt. Zum Vorsitzenden wurde Franziskus Hähnel (Bremen) und 
zum Geschäftsführer Dr. phil. Kraut (Hamburg) gewählt. Die Haupt¬ 
aufgaben des Verbandes bestehen in gemeinsamem Vorgehen auf dem 
gemeinsamen Arbeitsgebiet, insonderheit in der Abwehr öffentlicher An¬ 
griffe auf das Abstinenzprinzip, in Errichtung einer den Behörden und 
dem Publikum sich unentgeltlich zur Verfügung stellenden Auskunfts¬ 
stelle (Abstinenz - Sekretariat), in der Einrichtung von Vortragskursen im 
gesamten Reichsgebiet und in der alljährlichen Einberufung eines deutschen 
Abstinentehtages. 

Der »Deutsche Verein enthaltsamer Eisenbahner« 
(Vorsitzender Eisenbahndirektor a. D. de Terra) beschäftigte sich im 
wesentlichen mit einem Anträge von grosser prinzipieller Tragweite, mit 
dem, wohl nur aus finanziellen Erwägungen hervorgegangenen Anträge, 
auch auf dem Mässigkeitsstandpunkte stehende Berufsgenossen als ausser¬ 
ordentliche Mitglieder aufzunehmen. Der Antrag wurde namentlich aus 
folgenden Gründen abgelehnt: 1) weil der Begriff der »Mässigkeit« 
anerkanntermaßen überaus dehnbar und nicht zu umgrenzen ist; 2. weil 
durch »mässige« Mitglieder, die es mit der Mässigkeit nicht allzu genau 
nehmen, das Ansehen des Vereins geschädigt werden könnte; 3. weil 
der Verein seiner bisherigen Stellung in der Enthaltsamkeitsbewegung 
verlustig gehen würde. 

Der »Deutsche Bund abstinenter Frauen« (Vorsitzende 
Fräulein Ottilie Hoffmann - Bremen), der erst vor 2 Jahren gegründet 
wurde, konnte seine Lebensfähigkeit bereits mit 8 Ortsgruppen belegen, 



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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona. 21)3 

von denen 6 (Bremen, Berlin, Hamburg, Dresden, Bremerhaven, Kiel) 
ihre Vertreterinnen — zugleich Berichterstatterinnen — geschickt hatten. 
Der gut besuchten und lebhaft gestimmten Versammlung, deren Seele 
die Vorsitzende der Ortsgruppe Hamburg, Frau Prof. Wen dt, war, 
wohnten auch viele Männer bei. Fräulein Ottilie Hoffmann, die 
Schöpferin des Bundes, gab über die Arbeit des letzteren einen Ueber- 
blick und behandelte ausserdem das Thema: »Wie betätigt sich der 
Deutsche Bund abstinenter Frauen jetzt am wirksamsten?« (Antwort 
natürlich: durch Gewinnung der Mütter und Schulen für die Erziehung 
der Jugend in den Grundsätzen der Abstinenz!) — Einen Schritt weiter 
ging die Vorsitzende der Berliner Ortsgruppe, Frau Dr. Wegscheider- 
Ziegler, die ihren tiefempfundenen Vortrag über »Alkohol und soziale 
Reformarbeit« in die Mahnung ausklingen Hess, dass es höchste Zeit 
für die Frauen sei, selbst abstinent zu werden. An der lebhaften Be= 
sprechung beteiligten sich auch Aerzte und Geistliche. 

Die geschlossene Geschäftssitzung von Deutschlands Guttempler- 
Grossloge II, Sonntag, den 17. Juli, im Zirkus Busch, soll 14 Stunden 
gedauert haben. Mehr als 1000 Mitgliedern wurde der Grad der Gross¬ 
loge verliehen. Der »Deutsche Guttempler« No. 16 und 17 bringt 
viel Interessantes aus dieser langen Tagung von Deutschlands grösster 
Abstinenzorganisation, deren Mitgliederzahl von 1890 bis 1904 von 386 
(in 13 Logen) auf 22 753 (in 642 Logen) gestiegen ist. Von England 
waren der Vorsitzende der Welt-Grossloge Mr. Malins und die um die 
Verpflanzung des Guttemplerwerks nach Deutschland und der Schweiz 
hochverdiente Miss Gray herübergekommen. — Aus dem Jahresberichte 
des Grosstemplers (Blume) von Deutschlands Grossloge II war zu ent¬ 
nehmen, dass die seit vielen Jahren erörterte »Braunbierfrage« 
für die Guttempler Deutschlands wenigstens aus der Welt geschafft ist. 
(Ueber die »Bierfrage« der dänischen Alkoholgegner vgl. S. 298 unten.) Die 
Grossloge hat fast einmütig beschlossen, dass den Ordensmitgliedem der 
Genuss von Braunbier und schwachalkoholischen Getränken, ja von bierähn¬ 
lichen Getränken überhaupt, verboten sein soll. Dieser Beschluss hat aller¬ 
dings den Verlust von 4 Logen mit 192 Mitgliedern im 4. Distrikte West- 
Holstein zur Folge gehabt. Unter den Braunbiertrinkem hatten sich einige be¬ 
reits zu einem Tagesquantum von 7 Literflaschen entwickelt. — Ein anderer 
Krebsschaden des Ordens bestand und besteht in den »Geschäfts¬ 
guttemplern«, das sind Ordensbrüder, welche versuchen, ihre Logen 
beziehungsweise den Orden für ihre geschäftlichen Zwecke auszunutzen. 
Es wird den Logen geraten, siclv dieser gefährlichsten Elemente bald¬ 
möglichst zu entledigen. — Recht einleuchtend war auch die Mahnung 
zur Vorsicht mit der Schaffung alkoholfreier Wirtschaften, 
durch welche, soweit sich dieselben in den Händen von Guttemplem 
befinden, die Mitglieder der Logen gewöhnlich zu unnötigen Ausgaben 
veranlasst werden. Die Regel ist in solchen Fällen der Niedergang der 
Loge. Bewährt hat sich dagegen, wenn die Loge selbst oder ein aus 
ihr hervorgegangener Verein sich ein Lokal mietet und einen Ordens¬ 
genossen als Verwalter einsetzt. Dann ist der Orden stets der Herr 

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Abhandlungen. 


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des Lokals und bestimmend für die Art der auszuschenkenden Getränke, 
bezüglich deren leicht ein bedenklicher Grad von Luxus einreisst. Eine 
alkoholfreie Wirtschaft soll aber überhaupt erst dann errichtet werden, 
wenn an dem betreffenden Orte auch unter den Nichtordensangehörigen 
das tatsächliche Bedürfnis nach einem solchen Lokal vorhanden ist. 
Logenhäuser sollten nur gebaut werden, wenn ihre Rentabilität ausser 
Zweifel steht, und nie ohne Genehmigung des Distriktstemplers. — Das 
Distriktslogen-System ist eine erst seit wenigen Jahren bestehende 
Guttemplereinrichtung, welche sich aber bereits durch eine gesteigerte 
Rührigkeit der an Distriktslogen angeschlossenen Logen bezahlt gemacht 
hat. Nur 2 Logen glauben von diesem Anschluss noch absehen zu 
müssen. Auf Antrag der Distriktslogen kann die Schliessung von in 
Unfrieden und Unordnung geratenen Logen verfügt werden. Geschlossene 
Logen werden aber gewöhnlich nach kurzer Zeit, von den Störenfrieden 
gesäubert, wieder eröffnet. So entwickeln sich die Guttempler auf dem 
Wege der Organisation und Disziplin, auf welchem sie gross geworden 
sind, immer weiter. Ihr von Asmussen ausgezeichnet geleitetes Organ 
»Deutscher Guttempler« hat eine Auflage von 15000. — Die Gross¬ 
loge hat sich mit einem von Rektor Dannmeier verfassten Aufruf an 
sämtliche Direktoren höherer Lehranstalten in Deutschland ge¬ 
wandt und dadurch vortreffliche Verbindungen mit jenen Kreisen erhalten. 
»Im Herbst d. J. gedenkt die Grossloge in möglichst vielen dieser Lehr¬ 
anstalten Vorträge halten zu lassen, um so die Jugend unseres Volkes 
für die Sache der Abstinenz und die Ziele unseres Ordens zu inter¬ 
essieren.« — In Anbetracht der Erfahrung, dass von den Mitgliedern, 
welche nach Verletzung des Enthaltsamkeitsgelübdes 
zur Wiederaufnahme zugelassen werden, verhältnismässig nur wenige treu 
bleiben, werden die Bedingungen der Wiederaufnahme verschärft. Sie 
darf in Zukunft nur durch diejenige Loge erfolgen, welche den Aus¬ 
schluss verfügt oder von dieser das Aufnahmerecht übertragen erhalten 
hat. — Zu den von einigen Mitgliedern unter dem Titel des Ordens 
gegründeten Vereinigungen für Stellenvermittelung und Arb ei ts- 
losen-Unterstützung wurde seitens der Distrikte und der Gross¬ 
loge die Genehmigung nicht erteilt. »Wer unsern Orden schädigen, 
sein Ansehen herabwürdigen und uns zweifelhafte Elemente aufdringen 
will, der errichtet Unterstützungskassen.« »Die Unterstützung, die wir 
jedem Guttempler geben, das sind unsere Ideen; wer ihnen nachlebt, 
der wird auch im wirtschaftlichen Leben vorwärts kommen.« In unver¬ 
schuldete Not geratenen Brüdern hat die Hülfe aus dem Kreise der 
Mitglieder noch nie gefehlt. So flössen auch für die abgebrannten 
Ordensmitglieder in Aalesund reichliche Mittel in die vom Grosstempler 
eröffnete Sammelstelle. — In dem Vorgehen gegen die durch Ordens¬ 
mitglieder errichteten Arbeitsvermittelungsstellen und gegen »alkoholfreie 
Wirtschaften«, welche Braunbier oder ähnliche leicht alkoholische Getränke 
führten, sind die Distrikte von den Behörden bereitwilligst unterstützt 
worden. — Auch die Beziehungen zur Presse gestalten sich immer 
günstiger. Notizen und selbst grössere Artikel werden vielerorts anstandslos 



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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona. 


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aufgenommen. — Im westlichen Teile Westfalens und in der Rheinprovinz 
legt die katholische Geistlichkeit dem Orden immer noch 
manche Hindernisse in den Weg. »Wir selbst aber haben unsern 
katholischen Ordensgeschwistern gegenüber ein sehr ruhiges Gewissen. 
Wissen wir doch, dass in unserer Ordensarbeit nichts liegt, was je einem 
Katholiken das Gewissen beschwert hätte. Noch nie hat einen Katho¬ 
liken das eigene Gewissen zum Austritt gezwungen; wo das geschehen 
ist, hat die Einwirkung der Geistlichkeit erst die Gewissensbedenken 
erweckt.« Soviel ich weiss, datiert die Unduldsamkeit des katholischen 
Klerus gegen den Guttemplerorden von einer Kundgebung des ad hoc 
mangelhaft unterrichtet gewesenen verstorbenen Papstes. Einige absti¬ 
nente Priester gerade des Rheinlands bemühen sich, die Stimmung in . 
Rom den Guttemplern günstiger zu gestalten. Die evangelische 
Kirche hat den Guttemplern noch keine ernstlicheren Schwierigkeiten 
bereitet; ja es haben sich ihnen evangelische Geistliche sogar als Mit¬ 
glieder angeschlossen. Die letzte Kreissynode zu Delmenhorst (Olden¬ 
burg) kennzeichnete ihre Stellung zum Orden durch folgende einstimmig 
angenommene Thesen: i. Die Synode erkennt in dem Guttemplerorden 
mit Freude eine wirksame Hülfe bei der Heilung der Trinker. 2. Sie 
wird den Kirchenräten empfehlen, mit Wort und Tat den Orden zu 
fördern. 

Ein Nichtguttempler vermag natürlich niemals ganz in den Geist 
des Gutemplertums, dieser Welt für sich, einzudringen. Mancher Aussen- 
stehende wird sogar durch die Art und Weise, wie der Orden zuweilen 
an die Öffentlichkeit tritt, zu einem ungünstigen Urteil über denselben 
verleitet werden. Wer aber diese »Brüder« und »Schwestern« in ihrer Arbeit 
und Geselligkeit (an der es auch in Altona nicht fehlte) sieht, wer ihre 
ungekünstelte Lust am Erreichten und am Werdenden beobachtet, wer 
ihre selbstlose Hingabe im Dienst der Menschen- und Bruderliebe und 
ihren felsenfesten Glauben an den endlichen Sieg ihrer Sache ohne 
Voreingenommenheit auf sich wirken lässt, der muss die Ueberzeugung 
gewinnen, dass es sich hier um eine urgesunde Reaktion der Volksseele 
gegen Einflüsse, durch die sie sich vergiftet fühlt, handelt. Er wird 
aber auch bald erkennen, dass der Guttemplerorden mehr will, als die 
Trinksitten abschaffen. Seine Arbeit gilt der Erneuerung des ganzen 
innem Menschen. Und aus diesem Drange erklärt sich auch das bei 
den Guttemplern immer deutlicher hervortretende Streben, ihre werbende 
Kraft womöglich schon an die noch Unverdorbenen, an die Kinder, 
anzusetzen. 

Ich wohnte am 18. Juli in Altona der Sitzung einer »Jugend- 
loge« bei. Diese Veranstaltungen sind jedem zugänglich, der seinen 
Wunsch, als Gast teilnehmen zu dürfen, zu erkennen gibt. Mir waren 
sie von Dresden her nicht ganz fremd. Ich muss sagen, dass der feier¬ 
liche Ernst und die treue Hingabe, womit die jugendlichen Mitglieder 
beflissen waren, vor den mit ihnen arbeitenden Erwachsenen sich der 
ihnen an vertrauten kleinen Aemter würdig zu erweisen, mich schon immer 
gerührt hatte. Ein tieferes Verständnis für die Psychologie und für die 


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Abhandlungen. 


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Ziele des guttemplerischen Jugendwerkes gewann ich jedoch erst durch 
einen Vortrag, welchen ich in der Sitzung der Altonaer Jugendloge zu 
hören bekam. Es war der auf S. 279 in seinen wesentlichen Sätzen 
abgedruckte Vortrag des Lehrers Scharrel mann aus Bremen, Leiter 
der dortigen »Lehrloge«. 

Die Gründung eines deutschen Vereins abstinenter 
Juristen nahm an demselben Tage Landrichter Dr. Popert, der ge¬ 
feierte Redner der Eröffnungsversammlung, in die Hand. Zum Vorsitzenden 
wurde Geh. Justizrat Buddee-Greifswald gewählt. 

Gleichfalls am 17. Juli hielt der »D e u t s c h e Verein absti¬ 
nenter Kaufleute« unter Leitung seines rührigen Vorsitzenden 
• Max Warm in g seine 3. Jahresversammlung ab, auf welcher nur ge¬ 
schäftliche und organisatorische Angelegenheiten zur Verhandlung kamen. 
Den aus allen Gauen des Reiches zusammenfliessenden Berichten konnte 
entnommen werden, dass die erst im 20. Jahrhundert entstandene kauf¬ 
männische Abstinenzbewegung überall grosse Fortschritte gemacht hat. 
Das vom Vorsitzenden herausgegebene Vereinsorgan »Abstinenz-Rund¬ 
schau« (Verlag der Hanseatischen Druck- und Veriagsanstalt Hamburg) 
gehört zu den bestredigierten alkoholgegnerischen Journalen. Von Wichtig¬ 
keit war die aufgeworfene Frage, ob es richtig sei, durch Alkohol ge¬ 
fährdete Personen aufzunehmen. Sie wurde einstimmig verneint mit der 
Begründung, dass der Verein als freie Berufsvereinigung überzeugter 
Abstinenten sich nicht mit Trinkerrettung befassen könne. (Mit letzterer 
befassen sich bis jetzt vorzugsweise die Guttempler, das blaue Kreuz 
und die abstinenten Arbeitervereine.) Ein ausführlicher Bericht über 
die Tagung ist in No. 9 der »Abstinenz-Rundschau« 1904 enthalten. 

Der »Deutsche Verein abstinenter Lehrer« (8. Haupt¬ 
versammlung) tagte am 16. Juli unter Leitung seines Vorsitzenden 
J. Petersen in Kiel, zugleich Redakteur der auf ihrem speziellen Ge¬ 
biet in den Kreisen der Alkoholgegner ausserordentlich geschätzten 
Vereinszeitschrift »Die Enthaltsamkeit« (Auflage 2000). Die Zahl der 
Vereinsmitglieder hat 400 überschritten, von denen 255 auf Preussen, 
102 auf Schleswig - Holstein, 33 auf Hannover, 27 auf Sachsen, je 24 
auf Schlesien und Bremen, 23 auf Brandenburg, 21 auf Bayern usw. 
kommen. Der Verein ist auf seinem scharf abgegrenzten Gebiet ausser¬ 
ordentlich rührig und wehrt sich wacker gegen seine Widersacher, (unter 
denen auch ein Vorstandsmitglied des deutschen Vereins g. d. M. g. G. 
im Jahresbericht als besonders streitbar erwähnt wird). Er habe die 
Lehrer vor dem Anschluss an die Enthaltsamkeitsbewegung gewarnt. 
Auf ein Preisausschreiben zur Erlangung eines guten Lesestückes 
über den Alkohol wurden 241 Arbeiten eingesandt. Die Veröffent¬ 
lichung des Ergebnisses der sehr zeitraubenden Prüfung steht noch bevor.*) 
Die Bemühungen des Vereins um Berichtigung und Ergänzung der Schul¬ 
bücher auf dem Gebiete der Alkoholfrage werden mit Erfolg fortge- 

*) Sie ist inzwischen erfolgt. Keiner der eingereichten 2*26 Arbeiten konnte der 
Preis zuerkannt werden („Die Enthaltsamkeit“ 1904 No. 9, S. 48). 



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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona. 


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setzt, ebenso die Vorträge in Lehrervereinen und sonstigen geeigneten 
Versammlungen. Allein die 4 Vorstandsmitglieder (Petersen - Kiel, Koop- 
mann-Wenningstädt, Fr. Hähnel-Bremen und H. Bielenberg-Kiel) haben 
in den letzten 9 Monaten zusammen etwa 100 Vorträge gehalten. Be¬ 
absichtigt ist ferner eine Zusammenstellung des in der Antialkohollitera¬ 
tur an brauchbaren Lesestücken Verstreuten. Die Aussprache über alle 
diese Punkte war eine sehr lebhafte. 

Die »Leiter von Abstinenzsanatorien« traten auf dem 
Altonaer Abstinententage ebenfalls zusammen. Ihnen wurde ein ge¬ 
diegener Vortrag geboten. Dr. Georg Liebe, der bekannte Leiter des 
Sanatoriums für Lungenkranke »Waldhof« in Elgershausen (Kr. Wetzlar) 
und hochverdiente Bekämpfer der Darreichung von Alkohol an Lungen¬ 
kranke zumal in Heilstätten, sprach über: »Herz und Alkohol«. Er 
stellte den Satz auf, dass ausser den Trinkerheilanstalten auch noch alle 
Sanatorien für irgendwelche chronische Kranke durch und durch absti¬ 
nent geleitet und gehalten werden müssten. Sehr wertvoll war auch der 
Hinweis auf einen neuerlichen Ausspruch des gegenwärtigen Chefarztes 
der früher Brehmeischen Anstalt in Görbersdorf (von welcher die thera¬ 
peutische Alkoholisierung der Lungenkranken einst ihren Ausgang nahm) 
Dr. v. Hahn: »Jetzt hat man die schädlichen Wirkungen des Alkohols 
selbst für den gesunden Menschen erkannt. Umsomehr muss man den 
geschwächten tuberkulösen Organismus davor schützen (Zeitschrift für 
Krankenpflege 6. 1904).« Dr. Liebes Vortrag ist abgedruckt in der Inter¬ 
nationalen Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus Heft 8. 1904. 
S. 230. 

Der Schlussversammlung am Abend des 19. Juli war als 
einziger Verhandlungsgegenstand das zugkräftige Thema »Wie be¬ 
wahren wir die Jugend vor dem Alkohol?« Vorbehalten. 
Die Referate lagen in den Händen bewährtester Kräfte: Lehrer J. Petersen- 
Kiel (vom Standpunkt des Pädagogen), Dr. med. Strecker - Berlin (vom 
Standpunkt des Schularztes), Frau Dr. phil. Wegscheider-Ziegler - Berlin 
(vom Standpunkt der Mutter). Dieser letztere treffliche Vortrag wird 
seiner neuen Gesichtspunkte wegen im nächsten Heft unserer Viertel¬ 
jahrsschrift Aufnahme finden. Die Aussprache über die drei Vorträge 
war eine äusserst angeregte und spiegelte nochmals den zielbewussten 
und einheitlichen Willen wieder, welcher durch die deutsche Enthalt¬ 
samkeitsbewegung geht. 


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Abhandlungen. 


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Der VL Nordische Enthaltsamkeitskongress 

in Kopenhagen 

vom Juli 1904. 

Von Karl Reinhard. 


Wer hätte wohl bei uns in Deutschland vor etwa fünf oder sechs 
Jahren nach einem skandinavischen Abstinenzkongresse gefragt? Erst 
seit drei Jahren, seit dem grossen internationalen Antialkoholkongresse 
zu Wien und vollends seit dem vorjährigen Bremer Kongresse pflegt 
man in deutschen Alkoholgegnerkreisen für die Arbeit und die Erfolge 
unserer ausländischen Mitkämpfer ein regeres Interesse an den Tag zu 
legen. Ein erfreulicher Beweis unserer Entwickelung! So begaben sich 
denn auch verschiedene unserer Landsleute im Juli d. J. nach Kopen¬ 
hagen, um an dem dort stattfindenden 6. nordischen »Afholdskongres« 
teilzunehmen.*) 

Wir deutschen Alkoholgegner nennen die Skandinavier unsere 
Lehrmeister. Mit gutem Recht. Sind diese uns doch an organisatorischer 
Entwickelung weit voraus. Wie viel können wir von ihnen lernen, die 
seit einem Vierteljahrhundert den Kampf gegen den Alkoholismus mit 
modernen Waffen führen, ja zum Teil schon früher diesen Kampf be¬ 
gonnen haben! Das gilt freilich nicht in gleichem Masse von den Dänen, 
wie von den Norwegern, Schweden und Finnländern. Aber gerade in 
jüngster Zeit hat es sich auch in Dänemark mächtig geregt. Die Zahl 
der Abstinenten, die dort vor ca. 4 Jahren erst etwa 50 000 betrug, ist 
jetzt auf nahezu 130000 angewachsen. Abstinenten? Ja, das ist so 
eine Sache. Solange es eine alkoholgegnerische Bewegung in Dänemark 
gibt, kann man dort auch von einer sogenannten »Bierfrage« reden. Bei 
dem enormen Branntweinverbrauch hielt man das Bier anfänglich für 


*) Diese nordischen Abstinenzkongresse werden von Norwegern, Schweden, 
Dänen und Finnländern alle 2—3 Jahre veranstaltet. Der letzte (5.) Kongress dieser 
Art fand im Juli 1902 zu Stockholm statt. 


Gck igle 


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Reinhaid, Der VI. Nordische Enthaltsamkeitskongress in Kopenhagen. 299 


verhältnismässig ungefährlich. Man hatte ja auch unglaublich viel leichte 
Biersorten, deren Genuss den Mitgliedern der meisten dänischen Alkohol¬ 
gegnervereine noch heute gestattet wird. Obergärig oder untergärig, das 
ist einerlei. Wenn das Bier nur nicht mehr als 2 % Alkohol enthält, so 
ist es »steuerfrei« und gilt als »harmlos«. Die Produktion stärkeren 
(2 — 6 prozentigen) Bieres wird von der Regierung ziemlich hoch besteuert. 
So sind Alkoholgegner und Bierbrauer gute Freunde geworden, ein Ver¬ 
hältnis, das bei Gelegenheit des Kongresses in Kopenhagen recht drastisch 
zutage trat. Die Reklame der Brauer war eine ganz ungeheure, und die 
grosse Masse fand darin nichts Unnatürliches. Aber unter den Führern 
der Bewegung ist man sich im allgemeinen doch klar darüber geworden, 
dass der steigende Verbrauch des »leichten« Bieres der Bewegung all¬ 
mählich gefährlich wird und dass etwas Energisches getan werden muss. 
Wenn auch noch nicht alle leitenden Persönlichkeiten dieser Ansicht 
sind, so scheint diese doch schon von vielen vertreten zu werden. Das 
zeigten deutlich die Kongressverhandlungen, namentlich die des dritten 
Tages; doch ich will von vorne beginnen. 

Der Kongress wurde am Mittwoch, den 6. Juli eröffnet. 
Bei dem Begrüssungsfest am Abend waren an 1000 Personen erschienen, 
darunter die dänischen Minister, der Bischof von Seeland, der Stadt¬ 
kommandant, die Bürgermeister, viele Reichstagsmitglieder und manche 
andere offizielle Vertreter der Regierung und der einzelnen Behörden. 
Bei den am 7. Juli begonnenen V erhandlungen standen 6 Vorträge 
auf dem Programm, unter denen der Vortrag des Kopenhagener Prof. 
Westergaard ganz besonders hervorragte. Er behandelte das wichtige 
Thema: »Was lehrt uns die Statistik in Betreff des Ein¬ 
flusses der geistigen Getränke auf die Gesundheit?« 
Da dieser interessante Vortrag in Heft III dieser Zeitschrift (siehe 
S. 227—238) vollständig abgedruckt ist, braucheich hier nichts darüber 
zu berichten. 

Ueber das Thema: »Der Einfluss der Natur- und Lebens¬ 
verhältnisse auf Alkoholgenuss und Enthaltsamkeits¬ 
bewegung in Norwegen« sprach der norwegische Rechtsanwalt 
C. M. Jacobsen. An der Hand eines reichen Materials wies der Redner 
nach, inwieweit die Trunksucht und die Bekämpfung des Alkoholismus 
in Norwegen von den örtlichen und sozialen Verhältnissen der einzelnen 
Landesteile abhängig seien. Er zeigte u. a., dass innerhalb der Arbeiter¬ 
klasse gleichmässige Lohnverhältnisse die Bewegung ausserordentlich 
förderten, während ein starkes Schwanken zwischen hohen und niedrigen 
Löhnen jede soziale Bestrebung, so auch den Kampf gegen den Alkohol 
unendlich erschwere. 

Den dritten und zugleich letzten Vortrag der Vormittagssitzung hielt 
Direktor Ernst Beckman aus Schweden. »Der Alkoholgenuss 
vom sozialen und ökonomischen Standpunkte« lautete sein 
Thema. Von dem Satze ausgehend, dass die Armut im allgemeinen ein 
guter Nährboden für den Alkoholismus sei und andererseits der Alkohol¬ 
genuss in hohem Grade Armut hervorrufe, beschäftigte der Redner sich 


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300 


Abhandlungen. 


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zunächst mit den Arbeiterverhältnissen. In Stockholm — so führte er 
u. a. aus — stiegen die Alkoholausgaben der m ä s s i g trinkenden ver¬ 
heirateten Arbeiter bis zu 88 % der Einnahme. Die ioo Millionen Kronen, 
welche jährlich in Schweden für geistige Getränke verausgabt würden, 
flössen zum grössten Teile aus den Taschen der Arbeiter. Die durch 
den Alkoholgenuss bedingte kürzere Lebensdauer des arbeitenden Menschen 
bedeute eine Verminderung seines ökonomischen Wertes. Dazu komme 
der beträchtliche Verlust, den das Nationalvermögen durch ver¬ 
säumte und verschlechterte Arbeit des Einzelnen erleide. Ein weiterer 
nationalökonomischer Verlust bestehe darin, dass die Arbeiter die für 
Trinkzwecke so hohe Aufwendungen machten, nicht ausreichende Mittel 
für Nahrung, Kleidung, Wohnung und andere notwendige Bedürfnisse 
besässen, dass also nützliche Gewerbe und Industrien durch den Alkohol¬ 
verbrauch, der kein Nationalvermögen schaffe, benachteiligt würden. 

Die Nachmittagssitzung, welche um 4 Uhr anfing, gestaltete sich 
bedeutend lebhafter. Propst Th. Sörensen aus Skanderborg — auch 
den deutschen Alkoholgegnern seit langem wohlbekannt — sprach 
»über die Stellung der besser situierten Stände zur 
Enthaltsamkeitsbewegung«. Er hob hervor, dass der Kampf 
gegen den Alkoholismus in Dänemark in den unteren Schichten der 
Bevölkerung begonnen habe und auch heute noch hauptsächlich von 
ihnen geführt werde. Sodann führte er den Beweis, dass auch die 
Gebildeten alle Ursache hätten, sich der Bewegung anzuschliessen, zumal 
der Alkoholgenuss der Bemittelten seit Alters her nicht gering sei. Von 
den vielen Beispielen, die Sörensen aus dem täglichen Leben und aus 
der Geschichte anführte, interessierte besonders eins. Er erinnerte 
nämlich an das berühmte Reisetagebuch Kristians IV., in dem gewissen¬ 
haft alle Trinkgelage, die der König mitgemacht, verzeichnet sind. Eine 
eigenartige Bedeutung haben die Kreuze, welche das Verzeichnis auf¬ 
weist. Ein Kreuz bedeutet: angeheitert. Zwei Kreuze: betrunken; drei 
Kreuze total betrunken. Manche Stellen des Buches, meinte Sörensen, 
machten den Eindruck eines Kirchhofs: Lauter Grabkreuze. Drei Kreuze 
sind garnichts seltenes: einmal findet man sogar vier, dazu die Bemerkung: 
»Der Herr bewahre uns in Gnaden.« Das war nach einem Gelage, das 
der König bei einem norwegischen Bischöfe mitgemacht hatte. 

Der nächste Redner war der Krankenhausarzt M. H i n d h e d e 
aus Skanderborg. Hindhede ist ein ausserordentlich gewandter und 
humorvoller Redner, der das Thema »Die Stellung der Aerzte 
zur A 1 k o h o 1 frage« in sehr interessanter Weise behandelte. Seine 
Ausführungen über die Natur des Alkohols und die Gefährlichkeit des¬ 
selben als Genussmittel fanden ungeteilten Beifall. Als der Redner aber 
dann zu seinem eigentlichen Thema gelangte, die Anwendung des 
Alkohols als Medizin durchaus verdammte und schwere Vorwürfe gegen 
die Aerzte erhob, die meist aus selbstsüchtiger Bequemlichkeit wider 
besseres Wissen Alkohol verordneten und damit ihre Patienten nicht 
selten zu Alkoholisten machten, erregte er einen Sturm der Entrüstung. 
Seine Kollegen, die ihn in der Diskussion zu widerlegen suchten, 



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Reinhard, Der VI. Nordische Enthaltsamkeitskongress in Kopenhagen. 301 


(namentlich ein Dr. Carstensen) konnten jedoch die angeführten Tat¬ 
sachen, dass die Verwertung des Alkohols als Medizin — wie sie heute 
üblich ist — unwissenschaftlich und von Aerzten verschuldet sei, nicht 
aus der Welt schaffen. 

In geistvoller und formvollendeter Weise sprach Lic. theol.' 
Henry Ussing, Pastor an der Jesuskirche in Valby, über das 
Thema: »Das Christentum und die Enthaltsamkeitssache«. 
Er trat besonders für die Idee ein, dass die kirchlich-religiös gesinnten 
Abstinenten von den übrigen getrennt marschieren sollten, damit keinerlei 
Meinungsverschiedenheit die grosse Sache der Enthaltsamkeit störe. 
»Lasset uns nicht mit Worten streiten, sondern in Taten wetteifern!« 
Am Abend dieses ereignisreichen Tages bot ein von nordischen Gesang¬ 
vereinen veranstaltetes Konzert den Kongressteilnehmern Erholung und 
Unterhaltung. 

Am dritten Kongresstage sprach zuerst der bekannte Finnländer, 
Dr. Helenius über »Alkohol und Gesetzgebung«. Die 
leitenden Gedanken waren etwa folgende: Da der Alkohol erwiesener- 
massen ein narkotisches Gift ist, muss die Gesetzgebung eingreifen und 
den Gebrauch des Alkohols zu Genusszwecken wie den jedes anderen 
Giftes bekämpfen. Das Gotenburger System und das Staatsmonopol 
können für die Uebergangszeit empfohlen werden. Das Endziel aber 
müsse — ärztliche Verordnung ausgenommen — die unbedingte Pro¬ 
hibition sein. Ehe jedoch die Gesetzgebung derart radikal in Tätigkeit 
treten könne, sei eine lange und umfassende Aufklärungsarbeit zu leisten. 

Nielsen-Grön vertrat in seinem Vortrage über das Thema: 
»Was fördert unsere Sache am besten? Freie Volksbewegung, die Gesetz¬ 
gebung oder beides?« denselben Standpunkt. Auch er forderte als 
erstes eine freie Volksbewegung gegen den Alkohol. Alsdann müsse die 
Gesetzgebung das Ihre tun. Redner wandte sich zum Schlüsse in 
scharfen Worten gegen den Genuss des »steuerfreien« Bieres. Die 
Reklame, welche die Brauereien bei Gelegenheit des Kongresses ent¬ 
faltet hätten, gereiche der Bewegung zur Schande. 

Jörgen-Lund interpretierte sein kurzgefasstes Thema »Macht« 
dahin, dass es nicht genüge, dass die Abstinenten das Recht auf ihrer 
Seite hätten; sie müssten auch danach streben, Macht und Einfluss 
zu gewinnen und die Gesellschaft nach ihren Wünschen umzuformen. 
Er gab u. a. den Rat, es sollten aus der Bewegung heraus Volks¬ 
universitäten geschaffen werden. 

Die Ausführungen des Rechtsanwalts N. Nouboes über »Kom¬ 
munaler Selbstbestimmungsdienst« bezogen sich namentlich 
auf die jüngsten sozialpolitischen Ereignisse in Dänemark. Er polemisierte 
gegen einzelne politische Kreise, die das Recht der Kommunen, die Zahl 
der Wirtshäuser innerhalb ihres Gebietes selbst zu bestimmen, einge¬ 
schränkt wissen wollen. 

Lebhafte Diskussionen über die gehaltenen Vorträge beendeten 
die Arbeit des Vormittags. Am Nachmittag folgten viele Mitglieder der 
Einladung des Skodsborger Anstaltsarztes Dr. O 11 o s e n , um das 


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Abhandlungen. 


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geradezu mustergiltig eingerichtete und geleitete Sanatorium in Skodsborg 
zu besichtigen. 

In der Vormittagssitzung des letzten Verhandlungstages (Sonnabend) 
beschloss man, den nächsten Nordischen Enthaltsamkeitskongress im 
Jahre 1907 in Kristiania abzuhalten. Sodann erhielt Pastor E 1 1 z h o 1 tz, 
der Vater der dänischen Enthaltsamkeitsbewegung, das Wort. Eltzholtz, # 
der seit 38 Jahren in Nordamerika ansässig ist, und vor nunmehr 
25 Jahren bei Gelegenheit eines mehrmonatlichen Aufenthaltes in seiner 
dänischen Heimat hier die ersten Enthaltsamkeitsvereine gründete, war 
vom Festkomitee eingeladen worden, dem diesjährigen Kongresse, dem 
Jubiläum der dänischen Bewegung, durch seine Anwesenheit die rechte 
Weihe zu geben. Abstinenten können bekanntlich vieles möglich 
machen. So war denn Pastor Eltzholtz rechtzeitig auf dem Plane er¬ 
schienen und — insbesondere von seinen Landsleuten — in herzlichster 
Weise begrüsst und gefeiert worden. Nun drängte es ihn, seinem 
Dankesgefühl Ausdruck zu verleihen. In bewegten Worten erinnerte er 
an vergangene Zeiten und frühere Mitkämpfer und schilderte die 
Schwierigkeiten, mit denen man einst zu kämpfen hatte. Auch von der 
amerikanischen Bewegung wusste Eltzholtz interessante Mitteilungen zu 
machen und wünschte zum Schlüsse seinen Landsleuten einen ähnlichen 
Erfolg, wie man ihn jenseits des Ozeans zu verzeichnen habe. 

Für die Programmredner war die Zeit mittlerweile etwas knapp 
geworden. Rasch folgten in der Vormittagssitzung sowie in der Schluss¬ 
sitzung am Nachmittage die einzelnen Vorträge aufeinander. So kam 
manches wertvolle Wort nicht recht zur Geltung und wird erst die ge¬ 
bührende Würdigung erfahren können, wenn der gedruckte Kongress¬ 
bericht vorliegt. Am meisten fesselten der geistvolle und von Humor 
gewürzte Vortrag des Pastors K. Bjerre über »Aufklärung und Ent¬ 
haltsamkeit« und die ungemein frischen und lebendigen Ausführungen 
der berühmten finnischen Vorkämpferiri, Frau Alli Trygg-Helenius, 
die das Thema: »Die Agitation unter der studierenden 
Jugend« behandelte. Eine eingehendere Diskussion schloss sich auch 
an den Vortrag des Dr. Ed. C ar s t en s e n - Söndersö an, welcher für 
einen engeren Anschluss der Antialkoholbewegung an die Tuberkulose¬ 
bekämpfung plädierte. 

Einen würdigen Abschluss des Kongresses bildete am Sonntag 
der riesige Demonstrationszug aller in Kopenhagen anwesenden 
Abstinenten nach dem Frederiksborger Park Sondermarken, wo am 
Nachmittag und Abend ein allgemeines Volksfest stattfand. 

Während sich in die Kongresslisten nur 1184 Mitglieder (darunter 
8 Deutsche) eingezeichnet hatten, zählte der Demonstrationszug mindestens 
40000 Teilnehmer. Vom Beginn des Abmarsches bis zu dem Augen¬ 
blick, in dem die letzten Reihen den Sammelort am Rathause ver- 
liessen, verstrichen nicht weniger als zwei Stunden! Nur dieses Zuges 
wegen nach Kopenhagen gereist zu sein, wäre schon der Mühe wert 
gewesen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, diese Unmenge von 
Fahnen und Bannern (über 1000 sollen es gewesen sein!), die vielen 



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Reinhard, Der VI. Nordische EntbaltsamkeitskongTess in Kopenhagen. 303 


Blumendekorationen und Musikkorps während des Vorbeimarsches zu 
zählen. Die engagierten Musikkapellen reichten nicht aus. Diejenigen, 
zu denen der Schall der Instrumente nicht drang, stimmten frohe Weisen 
an, nach denen es sich nicht schlechter marschierte. Der Jubel und 
die Begeisterung der Kopenhagener Bevölkerung erreichten eine solche 
Höhe, dass man fast hätte meinen sollen, es gäbe in der dänischen 
Reichshauptstadt nichts populäreres als die Abstinenzbewegung. 

Draussen in Sondermarken gab es zahlreiche Reden — in allen 
nordischen Mundarten — anzuhören, und an Unterhaltungen und Ver¬ 
gnügungen war alles aufgeboten, was zu einem echten, schönen Volks¬ 
feste gehört. Dass hierzu nicht die geistigen Getränke zählen, dass 
diese vielmehr auch bei solcher Gelegenheit völlig überflüssig sind, das 
haben, wie ich wiederholt vernommen, selbst enragierte Alkoholfreunde 
zugeben müssen. 

Noch manches liesse sich von den Kongressveranstaltungen be¬ 
richten, von den geselligen Zusammenkünften abends im Tivolipark, von 
etlichen Gründungen und Stiftungen — so z. B. von der am Freitag 
abend vollzogenen Gründung des abstinenten nordischen 
Journalistenvereins, der schon jetzt über 50 Mitglieder zählen 
soll — u. dgl. m. Sehr interessant war auch die Kongress¬ 
ausstellung, in der man u. a. einen vorzüglichen Ueberblick über 
die internationale Alkoholgegnerliteratur erhielt. 

Es würde jedoch zu weit führen, auf alles das näher einzugehen. 
Ich will mit der Versicherung schliessen, dass sämtliche Veranstal¬ 
tungen des grossen und — soweit man schon jetzt darüber urteilen 
kann — ergebnisreichen Kongresses würdig waren. Wir haben viel 
gesehen, viel gelernt. Jetzt heisst es, die Erfahrungen verwerten und 
rüstig schaffen, dass wir vorwärts kommen ! 


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Abhandlungen. 


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Oie 21. Hauptversammlung 

des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger 

Getränke in Erfurt. 


Am 9. September fand in Erfurt die 21. Hauptversammlung des 
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke statt. Sie 
war aus allen Teilen Deutschlands sehr zahlreich besucht. Besonders 
erfreulich war, dass verschiedene Regierungen Vertreter gesandt hatten, 
um ihre lebhafte Teilnahme an den Bestrebungen des Vereins auszu¬ 
sprechen. Im Aufträge des Reichsamts des Innern war Geheimer Ober- 
Regierungsrat Dr. Würmeling erschienen, der auf die wiederholt be¬ 
kundete Geneigtheit des Staatssekretärs des Innern Dr. Grafen von Posa- 
dowsky, die Arbeit des Vereins tatkräftig zu fördern, hinweisen konnte. 
Geheimrat Freiherr von Zedlitz betonte im Namen des preussischen 
Kultusministeriums und des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, dass 
die deutschen Frauen und Mütter die besten Mitkämpferinnen gegen 
das Alkoholelend seien und neuerdings auch in stiller und zäher Arbeit 
ihre hohe Aufgabe zu erfüllen suchten. Mit Kraft und Wärme versicherte 
er, dass die von ihm vertretenen Regierungen die vom Deutschen Ver¬ 
ein dargebotene Hand zur Befreiung unseres Volkes vom Alkoholjoch 
freudig ergreifen. Sehr wirksam waren die Worte Kirchenrats Dr. Spinner, 
der die Grossherzoglich Sächsische Staatsregierung vertrat. Den Kämpfern 
gegen den Alkoholismus würde endlich der Erfolg nicht fehlen, denn 
zwei mächtige Verbündete ständen ihnen zur Seite: Die Wahrheit und 
die Liebe. — Der Oberpräsident der Provinz Sachsen versicherte durch 
den Mund des Regierungspräsidenten in Erfurt, und die Stadt Erfurt 
durch ihren Oberbürgermeister lebhafte Teilnahme an den Aufgaben 
des Vereins. Auch verschiedene Vereine hatten Abgesandte geschickt, 
um Grüsse zu bringen. 

Nachdem der Vorsitzende des Vereins Senatspräsident Dr. von 
Strauss u. Torney für die dargebrachten Grüsse und Wünsche gedankt, 
und über das Wachstum des Vereins erfreuliche Mitteilungen gemacht 
hatte, begannen die auf die Tagesordnung gesetzten Vorträge: »Der 



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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 305 


Flaschenbierhandel« (Berichterstatter Dr. Arthur Esche - Dresden, und 
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Fränkel-Halle a. S.) und »Alkoholismus und 
höhere Schule« (Berichterstatter Prof. Dr. Hartmann-Leipzig und Priv.- 
Dozent Dr. med. et. phil. Weygandt-Würzburg). 

Dr. Esche führte in seinem einstündigen Vortrage in der Haupt¬ 
sache folgendes aus: 

Die bis vor kurzem weit verbreitete Ansicht, dass die Ursachen 
des Alkoholismus nur im Branntweingenuss zu suchen, das Bier dagegen 
als harmloses, nahrhaftes Getränk, ja als Bundesgenosse gegen den 
Branntwein zu empfehlen sei, ist von allen, die sich ernst und vor¬ 
urteilsfrei mit der Alkoholfrage beschäftigt haben, aufgegeben. Es lässt 
sich allerdings nicht leugnen, dass hier und da der zunehmende Bier¬ 
konsum den Branntwein zurückgedrängt hat. In der grösseren Menge 
Bier wird aber oft eben so viel Alkohol, wenn nicht mehr genossen, 
als vordem in dem Branntwein. Richtig ist auch, dass der Bierkonsum 
in der letzten Zeit in Deutschland gesunken ist von 125 auf 124 auf 
116 Liter auf der. Kopf der Bevölkerung in den Jahren 1900, 1901, 
1902. Dieser erstmalig beobachtete merkliche Rückgang bietet aber 
keine Gewähr für die Zukunft. Vielmehr ist ein fortgesetzt energischer 
Kampf gegen den Biergenuss notwendig, umsomehr, da das Bier immer 
mehr in alle Kreise eindringt und zum täglichen Genuss und Bedürfnis 
der meisten Männer wird, aber auch o/t nicht nur ausnahmsweise, son¬ 
dern regelmässig von denen getrunken wird, die vor Jahren davon sich 
noch freihielten: von den Frauen und der heranwachsenden Jugend. 
Zu dieser erhöhten Gefahr ist das Bier hauptsächlich in der Form des 
Flaschenbieres durch den Flaschenbierhandel geworden. 

Der Umsatz an Flaschenbier hat fast in allen Gegenden Deutsch¬ 
lands, auch in München, in den letzten zehn Jahren ganz ausserordent¬ 
lich zugenommen. Von den Berliner Bierbrauereien setzten als Flaschen¬ 
bier ab z. B. 

Die Aktien-Brauerei-Gesellschaft Friedrichhöhe 
1889—1890: 3350000 Flaschen, 1898—1899: 18150000 Flaschen. 

Die Schultheissbrauerei 

1880—1881: 6700 Hektoliter, 1898—1899: 183990 Hektoliter. 

In Berlin betrug 1898 der Gesamtverbrauch an Flaschenbier: 
2184799 Hektoliter. In Dresden sollen zur Zeit ungefähr 300000 
Hektoliter Bier als Flaschenbier verbraucht werden. Bei diesem un¬ 
geheueren Umsatz ist natürlich der Anteil des Flaschenbierumsatzes am 
Gesamtbierumsatz sehr gross. Nach verschiedenen übereinstimmenden 
Schätzungen betrug der Umsatz an Flaschenbier z. B. in Berlin 1 ‘s, in 
Dresden 1 U f in den Bezirken der Handelskammern Oppeln und Münster 
mindestens l / 3f im Deutschen Reich V 5 —V 4 des gesamten Bierumsatzes. 

Die Gründe für die gewaltige Zunahme des Umsatzes an Flaschen¬ 
bier sind sehr verschieden. 

Das Flaschenbier hat es verstanden, mannigfache Wege zu denen 
zu finden, die danach verlangen, oder deren Verlangen erst geweckt 
werden soll. Die Zahl derer, die nur nebenbei zur wirksamen Unter- 


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Abhandlungen. 


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Stützung ihres übrigen Handels Flaschenbier verkaufen (Flaschenbier¬ 
kleinhandel), hat sich in der letzten Zeit ausserordentlich vermehrt. Zu 
dem Handel bedürfen diese Händler keiner besonderen Erlaubnis, keiner 
Konzession, er ist für das stehende Gewerbe vollständig frei gegeben. 
Mehr und mehr aber haben die Brauereien den Vertrieb ihres Flaschen¬ 
bieres unmittelbar an die Konsumenten selbst in die Hand genommen. 
Sie haben sich dazu veranlasst gesehen, weil die Schankwirte versäumten, 
da und dort auch ausdrücklich ablehnten, für entsprechenden Absatz, 
auch des Flaschenbiers Sorge zu tragen, und ferner weil die Privat¬ 
konsumenten pünktlichere und zuverlässigere Bezahler waren als die in 
vielen Orten immer mehr verschuldeten Wirte. Zur Verbreitung des 
Flaschenbiers hat erheblich auch der Patentverschluss beigetragen, 
denn er ermöglicht, die Flasche luftdicht zu verschliessen und auch 
wieder leicht zu öffnen, sie immer zur Hand zu haben. Die Verbreitung 
des Flaschenbiers in Arbeiterkreisen wurde durch den wirtschaftlichen 
Aufschwung (Bauten, Fabriken) wesentlich gefördert, umsomehr, da die 
stärkeren Flaschenbiere auch der gehobeneren Lebensweise der Arbeiter 
entgegen kamen. 

Der gewaltige Umsatz des Flaschenbiers hat den Gast- und Schank¬ 
wirten entschieden wirtschaftliche Nachteile bereitet Der Verkehr in 
den Schank wirtschaften hat abgenommen, und auch der Ausschank von 
Fassbier über die Strasse ist eii^ geringerer geworden. Den Hauptvorteil 
vom Flaschenbier haben die grossen Brauereien. 

Bei Beantwortung der Frage, welchen Einfluss das Flaschenbier auf 
unser Volk ausübt, ist zweierlei zu betonen. 

Unbestreitbar ist, dass das Flaschenbier zum Konsum des Biers, 
vor allen auch der stärkeren Biere in Familie und Arbeitsstätte ganz 
erheblich beigetragen hat. Dies ist deshalb eine sehr grosse Gefahr, 
weil dadurch auch Frauen und Kinder an den täglichen Biergenuss ge¬ 
wöhnt werden. Die in verschiedenen Orten vorgenommenen Erhebungen 
über den täglichen Biergenuss von Schulkindern beweisen deutlich, dass 
das Flaschenbier an dem regelmässigen Biergenuss der Jugend schuld 
ist. Andererseits dürfen auch die Vorzüge des Flaschenbiers nicht un¬ 
berücksichtigt bleiben, wenn wir die richtige Stelle finden wollen, wo 
mit Erfolg die bessernde Hand angelegt werden kann. 

Nach dem übereinstimmenden Urteil fast aller preussischer Handels¬ 
vertretungen, die sich auf den Erlass der drei preussischen Minister vom 
4. Januar 1904 geäussert haben, hat das Flaschenbier den Branntwein, 
vor allem auf den Bauten, den Arbeitsplätzen und in den Fabriken mehr 
und mehr verdrängt Die Arbeiter werden alsbald wieder zur Schnaps¬ 
flasche greifen, wenn ihnen der Genuss des Flaschenbiers unmöglich 
gemacht wird, sie werden dann nicht an der Arbeitsstätte, sondern in 
der nächsten Schankwirtschaft ihr Verlangen nach Bier befriedigen und 
dann sicher mehr Bier und nicht nur Bier, sondern auch Schnaps 
trinken. Nach den Berichten einiger Handelsvertretungen ist aber auch 
der Verbrauch von Fassbier mit der Verbreitung des Flaschenbiers zurück¬ 
gegangen, da und dort in demselben Masse wie der Verbrauch von 



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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 307 


Flaschenbier zugenommen hat, hie und da sogar noch mehr. Tatsäch¬ 
lich hat auch in ganz Deutschland der Verbrauch von Fassbier mehr 
abgenommen als der Konsum an Flaschenbier gewachsen ist. Dieser 
Rückgang des Fassbiers erklärt sich unschwer zum teil auch dadurch, 
dass das Flaschenbier viele vom Besuche der Schankstätten abhält, weil 
es dem Biertrinker ermöglicht, seinen Bierdurst daheim zu stillen. Dies 
ist von der grössten Bedeutung auch für die Mässigkeitsbestrebungen. 
Denn die Kneipen mit ihrem Trinkzwang, ihren Reizmitteln zum Trinken 
sind zum grössten Teil daran schuld, dass unser Volk so tief in den 
Biersumpf hineingeraten ist. Der Geist, der in der Kneipe herrscht, 
zerstört die guten Sitten, das Familienleben, den Idealismus unserer 
heranwachsenden Jugend. Befriedigt der Mann daheim seinen Bierdurst, 
dann wird er weit weniger trinken als in der Kneipe. Frauen und 
Kinder vor dem Trunk im Hause zu bewahren, ist nicht so schwere 
Arbeit, wie den Trinkzwang, die Trinkmacht in der Kneipe und in der 
Gesellschaft zu brechen. Da kann durch Aufklärung, vor allem durch 
die für Enthaltsamkeit oder strengste Mässigkeit gewonnenen Frauen 
sehr viel erreicht werden. Der Gefahr, dass an den Arbeitsplätzen zu 
viel Flaschenbier getrunken wird, müssen die Arbeitgeber in ihrem 
eigensten Interesse (Unfallgefahr) durch entsprechende Einrichtungen in 
den Arbeiterkantinen begegnen (alkoholfreie Getränke). 

Unter Berücksichtigung der geschilderten tatsächlichen Verhältnisse, 
der Gefahren und der Vorzüge des Flaschenbiers unterbreitete Dr. Esche 
am Ende seines Vortrags der Versammlung folgende Vorschläge zur 
Begutachtung: 

1. Unbedingt abzulehnen sind alle Massregeln, durch die die Befug¬ 
nis zum Flaschenbierkleinhandel ausschliesslich in die Hand der 
Wirte gelegt werden soll. Durch solches Vorgehen würde der 
Einfluss der Schankstätten zum Nachteile unseres Volkes erhöht, 
der Biergenuss nicht eingeschränkt, vielmehr durch den verstärkten 
Trinkzwang gefördert werden. An eine Monopolisierung des Flaschen¬ 
bierkleinhandels in den Schankwirtschaften kann erst gedacht werden, 
wenn eine Reform des Schankkonzessionswesens auf der Linie des 
Gothenburger Systems oder der in den Vereinigten Staaten Nord¬ 
amerikas bestehenden »local Option« in Deutschland durchgeführt ist. 

2. Nicht gerechtfertigt ist, die Erlaubnis zum Flaschenbierhandel da¬ 
von abhängig zu machen, dass der Händler dieselben persönlichen 
Eigenschaften besitzt, wie sie der Gast- und Schankwirt haben 
soll. Im Kleinhandel mit Flaschenbier tritt die Persönlichkeit des 
Verkäufers dem Käufer gegenüber ganz zurück. 

3. Dagegen ist in Erwägung zu ziehen, ob nicht die Erlaubnis zum 
Flaschenbierkleinhandel von dem Nachweis des vorhandenen öffent¬ 
lichen Bedürfnisses oder besser des vorhandenen öffentlichen 
Nutzens abhängig zu machen ist. 

4. Vom Gesetz zu verbieten ist: 

ausserhalb des Gemeindebezirkes der Niederlassung des Flaschen- 
Die Alkohollrage. 21 


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Abhandlungen. 


bierhändlers (der Brauerei, die Flaschenbierhandel betreibt) im 
Umherziehen Bestellungen auf Flaschenbier aufzusuchen; 
ferner aber auch 

im Gemeindebezirk der Niederlassung des Flaschenbierhändlers 
(der Brauerei, die mit Flaschenbier handelt) von Haus zu Haus 
auf öffentlichen Wegen oder Plätzen, auf Arbeitsplätzen, vor 
Bauten, gewerblichen Unternehmungen ohne Bestellung Flaschen¬ 
bier feilzubieten und von Haus zu Haus Bestellungen darauf 
aufzusuchen. 

Nur in besonderen Fällen darf in bestimmten Bezirken die höhere 
Verwaltungsbehörde Ausnahmen von solchem Verbot vorübergehend 
zulassen. 

5. Die zuständigen Behörden haben streng darüber zu wachen, dass 
die Flaschen unmittelbar vor der Füllung sorgfältig mit gesundem 
Wasser gereinigt und nur in geeigneten, hellen und gut gelüfteten 
Räumen das Bier auf die Flaschen gezogen wird und die gefüllten 
Flaschen aufbewahrt werden. 

6. Nicht minder haben die zuständigen Behörden streng darauf zu 
achten, dass die nicht zum Ausschank von Bier ermächtigten 
Flaschenbierhändler Flaschenbier nicht zum Genuss auf der Stelle 
verkaufen. 

Flaschenbierhändlern, die der gesetzlichen Vorschrift zuwider 
Bier ausschänken oder Flaschenbier zum Genuss auf der Stelle 
verkaufen und die deshalb vom Gericht verurteilt werden, kann 
die Berechtigung zum Flaschenbierhandel für die Dauer oder für 
bestimmte Zeit sogleich durch das Erkenntnis, das ihre Ver¬ 
urteilung ausspricht, aberkannt werden. 

7. In Erwägung zu ziehen ist endlich, ob nicht dem Flaschenbier¬ 
händler gesetzlich die Verpflichtung aufzuerlegen ist, die von ihm 
beim Handel verwendeten Bierflaschen mit genauer Massbezeich- 
nung zu versehen. 

Zum Schluss betonte Dr. Esche mit besonderem Nachdruck, dass 
auch die besten gesetzlichen Bestimmungen gegen den Alkoholismus 
nichts nützen, wenn nicht einsichtige Volksfreunde die wirksamste Hilfe 
brächten, oder vielmehr gebracht hätten durch Aufklärung, unermüdliche 
Aufklärung über die schädlichen Wirkungen alkoholischer Getränke, 
mögen sie nun Branntwein oder Bier heissen. 

Darum soll auch gegen das Flaschenbier der Verein diese Waffe 
führen durch Wort und Schrift, ein jeder aber durch sein eigenes Beispiel. 

An den Vortrag schloss sich eine lebhafte Aussprache. Von ver¬ 
schiedenen Rednern (Eisenbahndirektor de Terra, Kommerzienrat Dr. 
Moeller,) Pfarrer Neumann (Mündt-Titz) wurde aus ihrer Erfahrung da¬ 
rauf hingewiesen, dass es am besten sei, dem Volke, den Arbeitern 
durch entsprechende Veranstaltungen alkoholfreie Getränke zuzuweisen 
(den Eisenbahnern Milchflaschen in ihren Unterkunftsräumen, den Fabrik¬ 
arbeitern Milchkaffee in ihren Kantinen, der Bevölkerung auf dem Lande 



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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 309 


verschiedene alkoholfreie Getränke in Volksgärten ohne jeden Verschank 
alkoholischer Getränke). 

Schliesslich wurde folgender vom Vorstand vorgeschlagener Be¬ 
schluss einstimmig angenommen : 

»Der gewaltig wachsende Flaschenbierhandel ist eine Gefahr für 
weitere Alkoholisierung des deutschen Volkes. Seine vollständige Unter¬ 
drückung oder seine Monopolisierung in den Schankstätten würde aber 
den Bierkonsum nicht beschränken, vielmehr nur den Einfluss der Schank¬ 
stätten von neuem stärken. An solche Massregeln kann erst gedacht 
werden, wenn eine Reform des Schankkonzessionswesens nach gemein¬ 
nützigen Gesichtspunkten in Deutschland durchgeführt ist. Auch Be¬ 
stimmungen über die Beschränkung des Umfanges des Flaschenbier¬ 
handels nach dem nachzuweisenden öffentlichen Bedürfnis oder nach 
dem Verhältnis der Zahl der Flaschenbierhändler zur Einwohnerzahl 
werden zweckmässig erst mit gleichartigen Bestimmungen über den Aus¬ 
schank alkoholischer Getränke erlassen. 

Schon jetzt aber ist gesetzlich zu verbieten: 

1. Im Gemeindebezirk des Wohnorts oder der Niederlassung des 
Flaschenbierhändlers von Haus zu Haus auf öffentlichen Wegen 
oder Plätzen, auf Arbeitsplätzen vor Bauten, gewerblichen Anlagen 
ohne Bestellung Flaschenbier feilzubieten und von Haus zu Haus 
Bestellungen darauf aufzusuchen. 

2. Ausserhalb des Gemeindebezirks des Wohnorts oder der Nieder¬ 
lassung des Flaschenbierhändlers im Umherziehen Bestellungen 
auf Flaschenbier aufzusuchen. 

Nur in besonderen Fällen darf in bestimmten Bezirken die 
höhere Verwaltungsbehörde Ausnahmen von solchem Verbot vor¬ 
übergehend zulassen. 

Der Vorstand des Vereins wird ersucht, Bundesrat und Reichstag 
um baldigen Erlass solcher Bestimmungen dringend zu bitten.« 

Die zweite wichtige Hauptfrage, mit welcher sich die Erfurter 
Jahresversammlung des Deutschen Vereins beschäftigte, betraf »Die 
Alkoholfrage auf den höheren Schulen«. Es referierten 
darüber Gymnasialprofessor Dr. Hartmann aus Leipzig und Privatdozent 
Dr. med. et phil. Weygandt aus Würzburg. 

Professor Hartmann bekannte im Eingang, dass er sich nur mit 
Zögern zur Uebernahme des Vortrags entschlossen habe, da er wohl 
wisse, dass die antialkoholischen Bestrebungen bis jetzt noch keinen 
günstigen Boden in der höheren Lehrerschaft gefunden hätten. Zwar 
habe die höhere Schule schon seit einigen Menschenaltern gegen die 
Trinkneigung der Schüler anzukämpfen gehabt und bis in die neueste Zeit 
wurden in den verschiedensten Teilen Deutschlands schwere Klagen 
darüber erhoben. Aber freilich sei die bis jetzt eingeschlagene Methode 
der Bekämpfung doch erfolglos gewesen. Die Lehrerschaft sei daher 
zu einer gewissen resignierten Stimmung gegenüber dem Uebel gekommen. 
Ein wirklicher Fortschritt sei nur dann erreichbar, wenn die höheren 
Lehrer sich zu einem gründlichen Studium der Alkoholfrage entschlössen, 

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Abhandlungen. 


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der sie bis jetzt in der Regel ganz fremd gegenüberständen. Daher sei 
es unbedingt notwendig, dass jede Lehrerbibliothek einer höheren Schule 
die wichtigsten Schriften aus dem Gebiete der Alkoholliteratur besitze 
und dass vor allem die Direktoren den Lehrerkollegien im Studium der¬ 
selben vorangingen. Aus der Kenntnis des Gegenstandes heraus würden 
sich bald ganz naturgemäss Erörterungen darüber ergeben, in der Fach¬ 
presse, in den Konferenzen, in den Versammlungen der Direktoren oder 
der Vereine. Ebenso zu wünschen sei möglichst zahlreicher Anschluss 
der höheren Lehrer an eine der jetzt vorhandenen alkoholgegnerischen 
Organisationen, wie z. B. an den Deutschen Verein gegen den Miss¬ 
brauch geistiger Getränke. In Anbetracht der vorgerückten Zeit konnte 
Professor Hartmann die den Schulen zu erteilende Belehrung über die 
Gefahren des Alkohols nur in ganz allgemeinen Zügen andeuten, ging 
aber um so ausführlicher auf das wichtige Kapitel der Gewöhnung 
ein, und führte hier aus, dass die höhere Schule nur dann hoffen könne, 
aus dem die Schule schädigenden Trinkelend herauszukommen, wenn sie 
sich entschlösse, die Jugend allmählich zu strenger Enthaltsam¬ 
keit zu erziehen. Da alle Vertreter der Wissenschaft, die dem Problem 
nachgegangen, darüber einig sind, dass der Alkohol auf die Jugend 
besonders als Nerven- und Gehirngift wirkt, so habe die höhere Schule 
sowohl das Recht als die Pflicht, die Forderung strenger Enthaltsamkeit 
von jeder Art geistiger Getränke für ihre Zöglinge aufzustellen, und von 
den unteren Klassen an allmählich durchzuführen, nachdem sie die öffent¬ 
liche Meinung dank fortgesetzter Einwirkung auf das Elternhaus für diese 
wichtige Reform vorbereitet habe. Für die von mancher Seite scheel 
angesehenen Schülerabstinenzvereine legte Redner ein kräftiges Wort der 
Fürsprache ein, da sie dem Hauptzwecke der Schule dienstbar seien, 
wenn er auch zugab, dass ihre Organisation noch der Vervollkommnung 
fähig sei. Eingehend behandelte Redner die Frage, wie die Schule bei 
der ganzen Frage Hand in Hand mit dem Hause gehen müsse und 
welche Mittel dabei im einzelnen anzuwenden seien. Doch betonte er 
dabei nicht minder, dass die Schule auch manche Möglichkeiten unmittel¬ 
barer Einwirkung auf die Schüler habe, vor allem durch das Beispiel 
der Lehrer. Professor Hartmann, der hier erklärte, dass er für seine 
Person dank dem Studium der Alkoholfrage der Abstinenz zugeführt 
worden sei, erhob diese nicht als allgemeine Forderung für die Lehrer¬ 
schaft, bezeichnete aber Mässigkeit im strengen Sinne der wissenschaft¬ 
lichen Erkenntnis als eine selbstverständliche von jedem Lehrer, jedem 
Erzieher zu erfüllende Voraussetzung. Lebhaft trat er für die Einführung 
alkoholfreier Schulspaziergänge ein, und gab praktische 
Winke darüber, wie dies zu geschehen habe, wobei er voraussetzte, dass 
bei solcher Gelegenheit auch die begleitenden Lehrer Enthaltsamkeit 
übten. Gänzlich ablehnend verhielt sich Redner, wie schon Professor 
Th. Ziegler 1898 in Heidelberg und viele andere namhafte Päda¬ 
gogen, gegenüber der Beteiligung der Lehrer an den Abiturienten¬ 
kommersen. Wenn er auch natürlich eine in ehrbarer Form gehaltene 
gesellige Abschiedsfeier der Abiturienten als durchaus berechtigt zugab, 



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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 311 


so bezeichnete er doch den von der mittelalterlichen studentischen Trink¬ 
sitte beherrschten Kommers als eine Form, die unvereinbar sei mit dem 
Erziehungsberufe der höheren Schule. Schliesslich betonte Professor Hart¬ 
mann noch, dass der Schule auch eine, wenn nur indirekte, aber deshalb doch 
nicht zu unterschätzende Macht zum Umschwung der Trinkgewohnheiten 
der Schule zu Gebote stände, dadurch dass sie die körperliche Bewegung 
der Jugend noch energischer begünstige und höher bewerte als es bisher 
geschehen sei. Dazu gehöre nicht bloss das Turnen, sondern auch jeder 
gesunde, in vernünftigen Grenzen sich haltende Sport. In Verbindung 
damit empfahl Redner die Beschränkung der Zeiteinheit der Unterrichts¬ 
stunden auf je 45 Minuten, wodurch die Möglichkeit gewonnen würde, 
die mit mancherlei physiologischen Unzuträglichkeiten verbundene Sitz¬ 
zeit angemessen zu verkürzen. Eine nochmalige dringende Mahnung an 
die höhere Lehrerschaft vor allem durch gründliches Studium der ein¬ 
schlägigen Literatur zu der für die Schule so überaus wichtigen Frage 
Stellung zu nehmen, beschloss den Vortrag. 

Der zweite Referent, Privatdozent Dr. Weygandt aus Würzburg 
behandelte vorzugsweise die ärztliche Seite der Frage. Er betonte, dass 
der wichtigste Lebensabschnitt, der in die Gymnasialzeit fällt, die Zeit 
der Entwicklung zur völligen Reife, der Pubertät im weitesten Sinne 
des Wortes sei. Die Pubertät gehört ebenso wie etwa Krankheitszustände 
oder gewisse Vorgänge beim weiblichen Organismus, vor allem Schwanger¬ 
schaft, Wochenbett sowie Wechsel, zu den kritischen Zeiten im mensch¬ 
lichen Leben, in denen die Befolgung hygienischer Regeln noch dring¬ 
licher wird als sonst. 

So wenig auch die Pubertätsperiode zum Gegenstand exakter, vor 
allem experimenteller Forschung bis jetzt gemacht wurde, lässt sich nach 
Ausführungen des Referenten über sie hinsichtlich der menschlichen 
Entwicklung doch folgendes wenigstens feststellen: 

1. Es handelt sich um die geschlechtliche Reife, die Erlangung 
des Zeugungsvermögens mit der völligen Ausbildung der Geschlechts¬ 
teile, dann um die Erlangung der sogenannten sekundären Geschlechts¬ 
charaktere, männliche Stimme und späterhin Bartwuchs. 

2. Es handelt sich um die fertige Ausbildung des Skelett- und 
Muskelsystems. 

3. Es handelt sich um die geistige Reife, vor allem um den 
Uebergang von der blossen Receptivität zur Produktivität, in Verbindung 
mit psychomotorischer Regsamkeit, leicht gehobener Stimmung und viel¬ 
fach dem Erwachen künstlerischer Neigungen. 

Alle diese drei Richtungen könnten durch Alkohol besonders be¬ 
einflusst werden im Sinne einer Steigerung oder vielmehr Anreizung. 
Die ruhige, natürliche Entwicklung würde zweifellos dadurch gestört, 
vor allem weil auf die zunächst der physiologischen Richtung des Orga¬ 
nismus in der Pubertät parallel laufende erregende Wirkung des 
Alkohols alsbald die jener normalen Richtung entgegenlaufende 
lähmende Wirkung folgt. Aber schon die erregende Wirkung wäre 
bedenklich. 


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Abhandlungen. 


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Gerade hinsichtlich des ersten Punktes, der geschlechtlichen Ent¬ 
wicklung ist zu sagen, dass eine frühzeitige Betätigung durchaus unrat¬ 
sam ist, weil sie, von rein ethischen und sozialen Gesichtspunkten ganz 
abgesehen, den noch nicht ganz ausgebildeten Körper erschöpfen und 
schädigen und die seelischen Leistungen, die gerade von Seite eines 
nur halb bewussten, ungestillten Sexual-Triebs wertvolle Anregungen er¬ 
fahren, jedoch durch vorschnelle Befriedigung dieses Triebes sehr bald 
eine Uebersättigung und Abstumpfung erleiden würden. 

Dass die der Vollendung entgegenschreitende Entwicklung des 
Bewegungssystems unseres Körpers, der Knochen und Muskeln, durch 
Alkohol in bedenklicher Weise beeinflusst werden kann, ergibt sich be¬ 
reits aus der Zunahme der Roheitsverbrechen von Seiten jugendlicher 
Personen. 

Vor allem aber die ungemein wichtige psychische Entwicklung 
der Pubertätsperiode erleidet eine Störung durch den Alkohol. Das 
Erwachen einer gewissen Produktivität kann vielleicht hier und da an¬ 
gereizt werden durch Alkohol, der manche Hemmungen, die noch von 
dem Kindesalter mit seiner Schüchternheit und Hilflosigkeit her haften, 
allmählich überwinden lässt. Die Erziehung zu einem angestrengten, 
folgerichtigen Denken jedoch wird von dem Alkohol, der, wie das Ex¬ 
periment beweist, gerade ideenflüchtige Erscheinungen zeitigt, ohne 
Zweifel gestört. 

Aber auch die reproduktive Leistung, die gerade für Gymnasiasten 
noch von grosser Bedeutung ist, muss durch den Alkohol, dessen den 
Merkakt schädigende Wirkung leicht experimentell nachgewiesen werden 
kann, ganz besonders beeinträchtigt werden. 

Hat somit der Alkohol durch seine irritierende Wirkung auf die 
geschlechtliche Entwicklung und die Ausbildung der Körperkräfte für 
jeden Menschen in der Pubertät seine bedenkliche Wirkung, so muss 
er auf jene, die ihr Leben als Hirnmenschen, auf Grund geistiger Arbeit 
führen wollen, ganz besonders verhängnisvoll wirken, da er ja in erster 
Linie doch ein Nervengift darstellt. 

Endresultat: Alkoholabstinenz für Schüler. 

Die hochinteressanten Ausführungen der beiden Referenten und 
die dem Referat folgende belebte Debatte führte zur Annahme eines von 
beiden Referenten empfohlenen Antrages, der folgendermassen lautet: 

»Es ist dringend zu wünschen, dass die höhere Schule auf der 
durch die wissenschaftliche Kenntnis gewonnenen Grundlage am Kampfe 
gegen den Alkoholismus teilnimmt, vor allem dadurch, dass sie die 
Jugend frühzeitig über die Gefahren des Alkohols aufklärt und 
ihr zugleich fest einprägt, dass jede Ausübung eines Trinkzwangs ver¬ 
werflich ist. Da der Alkohol, wie man jetzt weiss, namentlich auf die 
Jugend als Nerven- und Gehirngift wirkt und daher unvereinbar ist mit 
einer gesunden, körperlichen und geistigen Entwickelung, so ist als letztes 
Endziel für die Jugend nichts anderes als strenge Enthaltsamkeit von 
jeder Art alkoholischer Getränke ins Auge zu fassen, Es ist eine wich- 



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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 313 


tige Aufgabe der Schule, die unmittelbaren Erziehungspflichtigen für 
dieses Ziel allmählich zu gewinnen und ihrerseits selbst alle Mittel an¬ 
zuwenden, die zur Erreichung desselben dienen können.« 

Der Vorstand des Vereins wünschte eine Abschwächung dahin, 
dass Abstinenz nur von den Schülern der Unter- und Mittelklassen zu 
fordern sei. Der selbst abstinente Generalsekretär des Vereins Gonser 
(Berlin) vertrat ebenfalls diese Ansicht, weil er ein weitergehendes Ziel 
für utopistisch hielt. Der Vorstand wurde jedoch mit 15 gegen 13 
Stimmen von der Versammlung überstimmt. 


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Weitere Untersuchungen der Alkoholfrage 

auf Grund von Fragebogen für Massige oder Enthaltsame. 
Von Prof. I)r. Victor Böhmert. 



Die in Heft i dieser Vierteljahrsschrift angeregten und begonnenen 
und im Heft 2 fortgesetzten »Untersuchungen der Alkoholfrage auf Grund 
von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame haben von vielen Seiten 
zwar lebhafte Zustimmung, von mancher Seite aber auch Widerspruch 
gefunden. Ein bewährter Freund der Massigkeit und Abstinenz schreibt: dass 
ihm dieses beständige Lehren und Schreiben über diese Sache fast zu¬ 
wider sei, weil bei den meisten Zuhörern kein rechter Ernst für die 
Sache sei. »Sie wollen den Pelz waschen, ohne ihn nass zu machen , 
»der Moral ein wenig dienen, aber keinen Genuss aufgeben usw. . . . Er 
für seine Person halte die ganze Statistik für etwas Nebensächliches usw. 
Was die Welt vorwärts bringe seien nicht statistische Daten, die über¬ 
haupt bloss für Materielles passten und den Materialismus als ihre Grund¬ 
lage hätten, sondern entschiedene persönliche Grundsätze und individuelles 
Eintreten dafür.« Es ist dagegen zu bemerken: dass S o z i a 1 Statistik, 
Moralstatistik, Armenstatistik, Kriminalstatistik, Statistik der Wohlfahrts¬ 
einrichtungen usw. neben materiellen Zwecken doch auch hohe ideale 
Ziele verfolgen und dass die in den beiden letzten Jahrzehnten unter¬ 
nommenen Untersuchungen über die Verbreitung des Alkoholgenusses in 
Fabriken, Schulen, Krankenhäusern, Vereinen usw. doch schon zu wich¬ 
tigen Ergebnissen und Massregeln geführt haben. Die neueste Statistik 
will noch einen Schritt weiter gehen und nicht bloss Zahlen ermitteln, 
sondern Tatsachen, Handlungen und Einrichtungen vorführen und frühere 
Beobachtungen, Erfahrungen und Ansichten von Mässigen oder Enthalt¬ 
samen zusammenstellen. Die Zukunft des Menschengeschlechts gehört 
nicht dem Materialismus, sondern jenem wahren Empirismus, der es 
versteht, auch in Betreff des inneren Lebens und der Willensstärke der 
Menschen Erfahrungen zu sammeln und zu verarbeiten. Es soll unter¬ 
sucht werden, welche Ursachen zur Mässigkeit oder Enthaltsamkeit führen 
und welche Wirkungen der Alkohol nicht nur auf die Organe des Körpers, 
sondern auch auf Geist und Gemüt des Menschen im häuslichen, beruf¬ 
lichen und gesellschaftlichen Leben austibt. Als Mitarbeiter sind nament¬ 
lich solche Personen willkommen, welche sowohl die Mässigkeit als auch 
die Enthaltsamkeit am eigenen Leibe erprobt haben. 



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Nr. 25. Prof. Dr. Emil Kraepelin in München. 

1. Prof. Dr. Emil Kraepelin in München. 

2. geh. 15. Januar 1856. 

3. Neustrelitz, Mecklenburg. 

4. Irrenarzt. 

5. Studium der Medizin. 

6. Verein abstinenter Aerzte, Studenten, Germania. 


7. Seit 1895 enthaltsam. 


8. In erster Linie die aus eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen gewonnene 
Erkenntnis, dass sich für die Anwendung des Alkohols im täglichen Leben 
keinerlei stichhaltige Gründe auffinden lassen; späterhin der Wunsch, durch das 
eigene Beispiel auf die Beseitigung der Trinksitten hinzuwirken. 

9. Keine. 

10. a) Gänzliches Verschwinden einer früher sehr quälenden Migräne. 

b) Grössere Gleichmässigkeit der Arbeitsbereitschaft. 

c) Gefühl der Befreiung von einem als schädlich erkannten Reizmittel (einer 
freilich früher nicht als solche empfundenen Sklaverei). 

11. a) Meine ganze Familie ist enthaltsam und befindet sich sehr wohl dabei. 

b) Die gewöhnlichen Erfahrungen des Irrenarztes: Unermessliches Alkoholelend, 
entmutigende Verständnislosigkeit der gebildeten und ungebildeten Massen, 
völlige Unzulänglichkeit unserer Hülfsmittel im Kampfe gegen die Alkohol¬ 
durchseuchung unserer gesamten Lebensgewohnheiten. 

c) Anfangs Spott, später Duldung und Achtung, aber sehr langsame und zögernde 
Nachfolge, zumal seitens der Aelteren. 

d) Theoretische Zustimmung und praktische Verleugnung. 

12. In früheren Jahren vielleicht 100—200 Mk. jährlich; allmählich immer weniger. 


13. Nichts. 


14. lieber eine Reihe von anderen Punkten habe ich verschiedentlich an anderen 
Orten Gelegenheit gehabt, mich eingehender zu äussern. 


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317 


Nr. 26. Dr. med. von Hahn, Oberstabsarzt a. D. in Görbersdorf. 

1. Dr. von Hahn, Oberstabsarzt a. D., Gürbersdorf. 

2. geb. 14. August 1857. 

3. Bartenstein, Ostpreussen. 

4. Prakt. Arzt. 

5. Akademische Bildung. 

6. Nein. 


7. Nein, war niemals Gewohnheitstrinker, nur Gelegenheitstrinker. 


8 . — 


9 - — 


10. — 


11. Dass er sich am wohlsten fühlte, wenn er massig lebte, wie immer; dass ein 
Arzt seinen Beruf überhaupt nicht ausüben kann, wenn er nicht massig ist, dass 
der Verkehr im geselligen Leben mit solchen Menschen, die unmässig tranken, 
stets gemieden wurde. 


12. Eine Summe lässt sich nicht genau nennen, früher wie jetzt täglich etwa 
Mk. 0,50—1,00 (Bier und Wein). 


* 3 - — 


14. Ich bin der Ansicht, wie wohl die meisten Aerzte, dass ein mässiger Alkohol¬ 
genuss nicht nachteilig ist, aber gewisse Vorteile besitzt. Ich verlange daher 
von jedem einsichtigen Manne, dass er nur soviel trinkt, als ihm nicht nach¬ 
teilig sein kann, und diese Selbstbeherrschung wird leider nicht vorausgesetzt, 
sonst würde man nicht zur Abstinenz kommen. 


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318 


Nr. 27. Dr. med. Delbrück, Direktor des St. Jürgen-Asyls in Bremen. 

1. Anton Delbrück. 

2. geb. 23. Januar 1862. 

3. Halle a/S., Preussen. 

4. Irrenarzt, Direktor des St. Jürgen-Asyls in Bremen. 

5. Universitätsstudium in Halle und München, seitdem Arzt an den Irrenanstalten 
Alt-Scherbitz, Hamburg, Zürich, Bremen. 

6. Ja. Alkoholgegnerbund, Verein abst. Aerzte des deutschen Sprachgebiets, Bremer 
Mässigkeitsverein etc. 

7. Seit 1890 wirklich massig. Seit 1892 enthaltsam. 


8. Durch Prof. Forel-Zürich mit der Alkoholfrage vertraut gemacht, kam ich rasch 
zu der Ueberzeugung, dass der in schroffem Gegensatz zu allen theoretischen 
Mässigkeitsforderungen stehende unmässige Alkoholgenuss einer sehr grossen 
Zahl von Menschen in allen Klassen und Schichten unseres Volkes nicht be¬ 
kämpft werden kann durch Forderung und Beispiel der Mässigkeit, sondern nur 
durch ostentative Auflehnung möglichst vieler Abstinenten gegen die alles be¬ 
herrschende Trinksitte. 

9. Keine. 

10. — 

11. Ich habe die Erfahrung gemacht: 

a) dass meine Frau bald nach unserer Verehelichung 1894 aus dem gleichen 
Grunde abstinent wurde; 

b) dass Alkoholiker nur von einem abstinenten Arzt und in abstinenter Anstalt 
rationell behandelt werden können. 

Zu c und d conf. Bemerkungen zu Punkt 14. 

/ 

12. — 

* 3 - — 

14. Nach meiner Uebersiedlung in die Schweiz wurde ich erst abstinent, verkehrte 
dort aber 8 Jahre lang vorwiegend in mehr oder weniger abstinenten Kreisen. 
Nur derartige Erfahrungen ermöglichen m. E. ein Urteil über die Enthaltsamkeit 
als allgemeine Sitte. In der Anknüpfung zahlreicher geselliger und freundschaft¬ 
licher Beziehungen mit Nicht-Enthaltsamen hat mich meine Abstinenz nie behindert. 
Man respektiert meine Bestrebung, wenn auch vielleicht teilweise nur jnit Rück¬ 
sicht auf meinen Beruf. 


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819 


Nr. 28. Franziskus Hähnel in Bremen. 

1. Franziskus Hähncl-Bremen. 

2. geb. 15. Mai 1S64. 

3. Hamburg. 

4. Schriftsteller und ordentlicher Lehrer am Technikum der freien Hansestadt Bremen. 

5. Lehrerseminar und autodid. Studiengang. 

6. Bremer Mässigkeitsverein, Deutscher Verein abstinenter Lehrer, Guttemplerorden. 

7. Totalenthaltsam seit 7Jahren, Mitglied des Guttemplerordens seit 5 Jahren. 
Seit 1892 verlangt, dass als massig nur Alkoholgaben bezeichnet werden, die 
einen wahrnehmbaren Einfluss auf den Menschen nicht zu haben scheinen. 

8. Die Ueberzeugung, dass die Trinksitte bekämpft werden muss, wenn anders man 
dem Alkoholismus Abbruch tun will und dass eine Bekämpfung der Trinksitte 
nicht stattfinde, wenn man sie durch das »mässige« Glas stützt. (Siehe 
Anmerkung zu 14.) — 9. Keine. 

10. a) Nicht wahrnehmbare, da der Alkoholgenuss vor der Abstinenzzeit meist gering 

und selten war. 

b) Anscheinend ist die geistige Leistungsfähigkeit gesteigert. 

c) Die Lebensfreude ist entschieden noch gewachsen in dem Bewusstsein, der 
Menschheit durch das propagandistische Eintreten für die Abstinenz zu dienen. 

11. a) Meine Kinder haben alkoholische Getränke nie erhalten und einen natürlichen 

Widerwillen dagegen. 

b) Dass im allgemeinen der Akademiker an § 11 hängt, wie etwa der Morphium¬ 
kranke an seiner Spritze. 

c) Mit dem Eintreten für die Totalenthaitsamkeit erfolgte zunächst ein voll¬ 
ständiger Bruch mit vielen Freunden, da auch Alkohol nicht angeboten 
wurde, nach und nach söhnte man sich damit aus und — machte es be¬ 
sonders nach in der weiteren Familie. 

d) Die Abstinenz war mir nie hinderlich, recht vielen allerdings war sie unbequem 
und unbehaglich. 

12. Soweit es aus Haushaltungsbüchern von 1889 — 95 festzustellen war, jährlich 
ca. 90 bis 100 Mk. (einschl. häusliche Gesellschaften). 

13. Seit 1897 nichts. 

14. Als ich von 1902—1904 Herausgeber der »Neuen literarischen Blätter« war, 
machte ich mehrfach eingehende Untersuchungen, um festzustellen, woher in so 
vielen als gebildet geltenden Kreisen ein solcher Mangel an Interesse und Ver¬ 
ständnis für alle Kunstfragen herrühre, und immermehr kam ich zu der Ueber- 
zeugung, dass der Alkoholismus den weitaus grössten Anteil daran hatte. Mir 
erschienen immer mehr manche künstlerische Bestrebungen so lange als aussichts¬ 
los, wenn man nicht das grössere Publikum aufnahme fähig zu machen ver¬ 
standen habe. Den Kampf gegen das Wirtshausleben und Bierphilistertum vertrat 
ich bereits 1893 in einem Leitartikel der erwähnten Zeitschrift, und jene Gedanken¬ 
gänge führten mich eigentlich erst zum eingehenden Studium der Alkoholliteratur. 
Nach meinen Erfahrungen können wir in den Kreisen der Gebildeten nur dann 
etwas erreichen, wenn man die Kenntnis der Alkoholfrage als einen notwendigen 
Bestandteil der allgemeinen Bildung fordert. Viele sogenannte Gebildete sind 
nicht zu bewegen, die alkoholgegnerischen Anschauungen nachzuprüfen oder 
zu durchdenken. 


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320 


Nr. 29. Dr. med. Dominik Bezzola, Irrenarzt in Chur. 

1. Dr. Dominik Bezzola. 

2. geb. 13. Januar 1868. 

3. Zemey, Engadin, Schweiz. 

4. Irrenarzt in Chur. 

5. Volksschule Zemey, Gymnasium Winterthur, Universitäten Genf, Heidelberg, 
Zürich, Berlin. 

6. A. G. B. und Verein abstinenter Aerzte des deutschen Sprachgebiets. 

7. Enthaltsam seit 6. April 1899. 


8. Studien über Alkohol und Vererbung, anfängl. experimentell. 


9. Keine. 


10. a) Pmtschieden grossere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. 

b) Geringe Gemütserregbarkeit. 

c) Kein Eintrag in der Lebensfreude, im Gegenteil. 


11. a) Onkel Dipsomane. 

b) Als Irrenarzt viel Elend gesehen. 

c) Keine Aenderung, ausser mit Alkoholkranken, die mich meiden. 

d) Mehr Anerkennung meines Strebens. 

12. Verschieden, als Student täglich ca. 1 Mk., später 50—60 Pf. 


13. Nichts. 


14. Dass ich, obwohl in meinen Studentenjahren sehr mässig, durch Enthaltsamkeit 
nur gewonnen habe und bereue, nicht früher Totalabstinent geworden zu sein, 


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321 


Nr. 30. Oberhofprediger Dr. theol. Spinner in Weimar. 

1. Dr. theol. Wilfrid Spinner, Weimar. 

2. geb. i2. Oktober 1854. 

3. Zürich, Schweiz. 

4. Oberhofprediger und Grossherzogi. Kirchenrat. 

5. Elementarschule, Gymnasium, Universität. 

6. Mitglied d. deutschen Vereins gegen Missbrauch alkohol. Getränke. 


7. Seit 1891 Abstinent. 


8. Mangel an Neigung zu Alkoholgenuss von jeher, Gewöhnung an Abstinenz bei 
Reisen in der heissesten Jahreszeit in Indien anno 1891. 


9. Keine. 


10. a) Sehr wesentliche nicht, da Mässigkeit immer beobachtet wurde. Immerhin 

ist Hebung im Allgemeinbefinden nicht zu leugnen. 

b) Die geistige Arbeit erleidet weniger Störung durch die Folgen einer Gesellig¬ 
keit, die sich in die Nachtstunden ausdehnt. 

c) An Lebensfreude und gemütlicher Anregung ist durch Abstinenz nichts ver¬ 
loren gegangen; das seelische Gleichgewicht hat an Festigkeit gewonnen. 

11. a) Keine, da die Frau fast völlige Abstinentin immer gewesen ist und die 

Kinder noch klein sind. 

b) Der Beruf des Geistlichen wird durch das Beispiel der Abstinenz nur gefördert. 

c) Man anerkennt meinen Standpunkt als berechtigt, und da ich von Abstinenz¬ 
propaganda absehe, dagegen Freiheit der Bewegung für mich selber fordere, 
habe ich weder äussere noch innere Konflikte erfahren. Dass aber das Bei¬ 
spiel der Abstinenz in privaten und öffentlichen Kreisen zur Nachahmung 
ermuntert hat, durfte ich wiederholt konstatieren. 

12. Da Notizen fehlen, mir unbekannt. 

13. Für Gesinde jährlich ca. 40 Mk., für Gäste 100 Mk. 

14. — 


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Nr. 31. Pastor Kruse, Vorsteher der Heilanstalten in Lintorf. 

1. Friedrich Kruse in Lintorf. 

2. geh. 27. April 1860. 

3. Iserlohn, Provinz Westfalen. 

4. Pfarrer und Vorsteher der Heilanstalten für Alkoholkranke in Lintorf. 

5. 1. Volksschule, 2. Realschule, 3. Gymnasium, 4. Universität, zwischen 2 und 3 
eine sechsjährige Unterbrechung als Pharmazeut und Kaufmann. 

6. Deutscher Verein g. d. Missbr. geist. Getr., Blaues Kreuz und Verein abstinenter 
Pastoren. 

7. Enthaltsam seit Ende April 1896. 

8. Rücksicht auf meine Berufsarbeit unter den Opfern des Alkohols, allmählich 
immer entschiedenere Alkoholgegnerschaft. 

q. April—August 1898 während längerer Erkrankung. 

10. Vortreffliche in jeder Hinsicht. Die Beschwerden weiterer Berufsreisen werden 
schneller überwunden; das Interesse für Kunst und Natur ist lebendiger geworden. 
Genussfähiger. 

11. Keine, weil der Alkohol niemals im Hause eine Rolle spielte. Günstige. Die 
alkoholfreie Geselligkeit breitet sich aus, die Gesellschaft zeigt gegenüber den 
Enthaltsamen grössere Toleranz. Weil Pfarrer und Hausväter in Lintorf ent¬ 
haltsam sind, werden die Familienfeste auch anderer Häuser ohne Alkohol 
gefeiert. 

12. ca. 90 Mark. 

13. Jährlich höchstens 15 Mark für seine Gäste, auf welche die Lebensweise des 
Hausvorstandes nicht ohne Wirkung bleibt. 

14. Seit Juli 1895 Vorsteher der Lintorfer Anstalten, erkenne ich in dem Alkohol¬ 
elend unsrer Zeit immer mehr eine Gesamtschuld, daran jeder einzelne be¬ 
teiligt ist, der, und geschähe es auch in der ehrbarsten Weise, den heutigen 
Trinksitten huldigt. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Befreiung 
unseres Volks von der Trinksitte und ihrer den einzelnen, ohne 
dass er es will und weiss, gefangen nehmenden Macht. Ich halte die Trinker¬ 
rettungsvereine ebenso wie die Heilanstalten für unentbehrlich. Unser Haupt¬ 
ziel ist nicht nur Genesung des kranken Organismus, sondern Beeinflussung des 
Menschen nach seinem innersten Kern; Erkenntnis der Fehler und Irrwege, 
christlich geredet: Verbesserung auch der Stellung des Menschen zu Gott! Hier 
aber kann methodistischer Zwang nur Schaden stiften. Von besonderer Be¬ 
deutung ist die PHziehung zur Abstinenz, worüber demnächst in diesen 
Blättern die Rede sein soll. Diese Aufgabe erfordert Zeit: 6 —12 Monate, 
letztere Zeit bei Dipsomanen. Die wenigen nach Wochen oder Monaten Ge¬ 
heilten sind die Ausnahmen, die beweisen, dass es in der Regel in so kurzer 
Zeit nicht geht. In Lintorf zählt man jährlich etwa 100 Entlassungen, davon 
z. B. 1903 52 Heilungen. Mit den Entlassenen wird möglichst korrespon¬ 
diert. Seit Anfang 1904 erscheint eine freudig begrüsste vertrauliche Viertel¬ 
jahrsschrift »Lintorfer Korrespondenzblatt« mit wissenschaftlicher Beilage, die 
an 500 Adressen geht. Wir gehören zum »Verband von Trinkerheilanstalten 
des deutschen Sprachgebietes«. Auf Grund unsrer Erfahrung fordern wir eine 
gesetzliche Regelung der Trinkerfürsorge: Zwangsmassregeln, 
öffentliche Anstalten geschlossenen Charakters, neben welchen die weitester 
Ausdehnung und innerer Ausgestaltung bedürfenden bisherigen Anstalten unent¬ 
behrlich bleiben werden, ferner eine Regelung der finanziellen Frage, etwa in 
der Weise, dass die Trunksüchtigen den übrigen Anstaltsbedürftigen zur Seite 
gestellt werden, cf. preuss. Landarmengesetz vom n.Juli 1891. 


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C'' Ln 


323 


Nr. 32. Dr. med. Peipers, Anstaltsarzt in Lintorf. 

1. Dr. Felix Peipers, wohnt in Rath bei Düsseldorf. 

2. geb. ii. Dezember 1873. 

3. Solingen, Rheinprovinz. 

4. Arzt. 

. Gymnasium, Universität. 

. Deutscher Verein geg. d. Missbr. g. Getr., Verein abstinenter Aerzte, Alkohol¬ 
gegnerbund. 

7. 1. Versuch 1895 während der Militärzeit aus hygienischen Rücksichten ca. 
5 Monate lang, zum Schluss der Manöverzeit Rückkehr zum Biergenuss mit 
sehr schlechtem gesundheitlichen und dienstlichen Erfolg. 2. Versuch Sommer 
1896. Seitdem Totalabstinent bis heute. 

8. Bei dem 2. Versuch zunächst persönliche hygienische Rücksichten. Dann wurde 
ich mit Guttemplern bekannt, die mich zum Beitritt veranlassten. In der Loge 
ging mir allmählich die soziale Bedeutung der Abstinenz auf. Nach iVtjähriger 
Zugehörigkeit zur Loge trat ich aus Gründen persönlicher Natur aus dem Orden. 

9. Seit 1896 keine. 

10. a) Günstige. 

b) Konzentration ist m. E. allein bei Abstinenz möglich. 

c) Das Leben hat mir seither Werte gezeigt, deren Existenz ich früher nicht ahnte. 

11. b) Ich bin Arzt an den Lintorfer Heilanstalten für Alkoholkranke. 

c) Dieselben haben sich nicht geändert, soweit Freunde in Betracht kommen. 

d) Ich habe beim letzten Kaisers Geburtstagsfest das Hoch auf Se. Majestät in 
Selterswasser ausgebracht; das war im Kriegerverein! 

12. u. 13. ca. 150 Mk. im Jahr. 13. Nichts. 

14. Einige Mitteilungen aus den Lintorfer Anstalten für Alkoholkranke dürften von 
allgemeinem Interesse sein. Selten finden unsere Patienten den Weg zu uns 
aus eigener Initiative. Verwandte, Vorgesetzte und Behörden, neuerdings auch 
die Invalidenkassen stehen meist dahinter. 

Der Alkoholismus stellt sich vorzugsweise dar als das Produkt der 
Einwirkung unserer Trinksitte auf ein weniger widerstandsfähiges Hirn, dessen 
Hemmungszentren entweder von Natur geringer entwickelt waren (»angeborene 
Degeneration«) oder durch den Alkohol in einen Zustand dauernder Lähmung 
geraten sind (»erworbene Degeneration«). Ich gebrauche den Ausdruck »De¬ 
generation« hier in rein wissenschaftlichem Sinne und verbinde mit dem Worte 
keinen Tadel hinsichtlich der allgemein-menschlichen Eigenschaften, die bei 
unseren Patienten zuweilen die besten sind: liebe Menschen mit guter Begabung, 
tüchtige Charaktere — daneben allerdings auch die Depravation und beginnende 
Verblödung. Die Kur besteht in einer Entalkoholisierung, in einer Kräftigung des 
Nervensystems und darauf aufbauend in einer systematischen Erziehung zur 
Abstinenz. Unter letzterer verstehe ich nicht nur die Enthaltung vom Alkohol, 
sondern die Lebensanschauung des sittlichen Menschen. 

Die Entalkoholisierung wird fast ausnahmslos sofort vollständig durch¬ 
geführt; die Patienten versichern, sich dabei sehr wohl zu fühlen und folgern 
daraus meist, dass sie keine Alkoholiker sind. 

Vielen Patienten fehlt die Ausdauer, die Kur durchzuführen. 6 Monate 
ist das Minimum. In schweren Fällen, besonders bei Dipsomanen, ist die drei¬ 
fache Zeit notwendig. Als »Geheilte« betrachten wir jene Kranken, deren Wille 
zur Abstinenz ein ehrlicher ist und deren Willenskraft eine gewisse Gewähr 
für die Durchführung der guten Vorsätze bietet. Am liebsten sehen wir natür¬ 
lich den Uebertritt in einen Verein. 


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324 


Nr. 33. Fräulein Ottilie Hoffmann in Bremen. 

1. Ottilie Hoffmann, Bremen. 

2. geb. 14. Juli 1835. 

3. Bremen, Deutschland. 

4. Privat-Lehrerin, mit Unterbrechung bis 1884. 

5. Höhere Töchterschule und Studien nach eigner Wahl. 

6. Mitglied des V. g. M. g. G., des Blauen Kreuzes, Vorsitzende des deutschen 
Bundes abstinenter Frauen u. a. m. 

7. Seit 24. November 1882 Anhängerin der gänzlichen Enthaltsamkeit. Ich unter¬ 
schrieb als Mitglied eines englischen Abstinenzvereins. 


8. Ich war Augenzeuge der segensvollen Wirkungen der Enthaltsamkeitsbestrebungen 
englischer Frauen und hielt dieselben nötig auch für unser Vaterland. 


9. Ich bin seitdem konsequent abstinent geblieben. 


10. Da ich mich stets guter Gesundheit zu erfreuen hatte, spürte ich nur länger 
andauernde körperliche und geistige Frische und Leistungsfähigkeit, und erhöhte 
Lebensfreudigkeit. 

11. Zuerst Widerspruch, dann Zustimmung. 

a) Durch Aufklärung wurden Vorurteile besiegt. 

b) Viel Verspottung und fortwährendes Scherzen und Lächeln über die Abstinenz. 

c) Manchen Freunden wird man unbequem, doch jetzt schon weniger als vor 
10 Jahren. 


12. ca. 50 oder 60 Mk. für mich und andere. 

13. ca. 10 Mk. nur für sehr bejahrte Gäste, die der Mässigkeit angehören. 


14. Seitdem ich 1882 abstinent wurde, bemerkeicheinen grossen Unterschied. Die 
Abstinenz ist seitdem salonfähig geworden, durch konsequentes Festhalten an 
derselben seitens der Abstinenten. Die Trinksitten scheinen mir nicht mehr so 
rigoros in manchen Kreisen. Die Abstinenz hat vielen hohe Lebensfreudig¬ 
keit gebracht. 


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B25 


Nr. 34. Freiherr von Pawel-Rammingen in Gotha. 

1. Alexander Freiherr von Pawel-Rammingen. 

2. geb. 30. Juli 1855. 

3. Gotha (S.-G.). 

4. Landwirtschaft (1875 — 87), Brauerei (1887 —1900), Land Wirtschaft (1900—1904). 

5. Gymnasium Gotha, Schnepfenthal, Lyceum Bamberg. Polytechnikum Hannover 
und Dresden, Universitäten Jena und Leipzig. 

6. Nein. 

7. Seit Juni 1903 enthaltsam. 

8. Abscheu gegen allen Alkohol infolge Beobachtung bei Ausübung des Bauerei¬ 
berufs. 


9. Keine. 


10. a) Geistige Klarheit, Nervenstählung, seelisches Wohlbefinden, Lebensmut, Liebe 

zur Arbeit. 

b) Nerven-Abhärtung, Gewichtszunahme. 

c) Arbeite jetzt ununterbrochen von früh bis abends ohne Ermüdung bei rein 
geistiger Tätigkeit. Der Pessimismus weicht, die Ideale wachsen. 

11. a) Mein ganzes Haus trinkt nur Wasser und fühlt sich glücklicher dabei als 

je zuvor. 

b) Siehe oben. 

c) Der gesellige Verkehr wird durch die Enthaltsamkeit nach meinen Erfahrungen 
eher gebessert als das Gegenteil. 

d) Ebenso. 

12. Circa 1000 Mk. 


13. Null. 


14. Würde zu weit führen, das Alles hier auseinandersetzen zu wollen. 

Die Alkoholfrage. 22 


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326 


Nr. 35. Landgerichtsdirektor Buddee in Greifswald. 

1. Karl Buddee, Greifswald. 

2. geb. 4. Februar 1835. 

3. Gross-Glogau (Schlesien). 

4. Landgerichts-Direktor. 

5. Gymnasialbildung usw., wie bei Juristen älteren Geschlechts selbstverständlich. 

6. Mitglied des Vereins gegen Missbrauch usw. (Bezirksverein Stettin) und Einzel¬ 
mitglied des Alkoholgegnerbundes. 

7. Enthaltsam seit Ende 1898. Früher pflegte ich alltäglich Bier oder Wein in 
geringer Menge zu gemessen, doch bei Festen und in Gesellschaften zuweilen 
ganz munter mitzutrinken. 

8. Ein naher Angehöriger, den die studentischen Trinksitten sehr geschädigt und 
der gänzlichen Entgleisung nahe gebracht hatten, musste sich zu einer Anstalts¬ 
kur entschliessen; die hierbei beratenden ärztlichen Autoritäten (u. a. Kraepelin) 
empfahlen dringend zur besseren Aussicht auf Erfolg, das gute Beispiel in der 
Häuslichkeit anzuwenden. Ich entschloss mich hierzu — nicht ohne inneres 
Widerstreben. 

9. Zweimal in den Sommerszeiten 1899 und 1900 habe ich auf ärztliche Verordnung 

gegen akuten Darmkatarrh etliche Tage lang Rotwein getrunken, 1900 auch 
weil beim ersten Anfall sich Herzscnwäche zeigte, minimale Gaben von 
Kognak angewendet. Einen Reiz zur Fortsetzung übten diese Alkoholgaben 

nicht mehr aus. 

10. Die Folgen der Enthaltsamkeit waren in jeder Hinsicht vorzüglich. 

Körperlich hat die Neigung zu Katarrhen abgenommen, der Verdauungs¬ 
apparat ist besser im Gange, als es seit der frühesten Jugend je der Fall 
gewesen. Die geistige Leistungsfähigkeit hält viel besser aus, und auch die 
Stimmung leidet nicht leicht unter dem Druck schwerer Arbeit. Früher erschien 
mir Kraepelin’s Versicherung, er fühle sich als Abstinent viel genussfähiger, noch 
schwer glaublich, jetzt bin ich längst derselben Meinung oder vielmehr habe 
dieselbe Erfahrung gemacht. Die materiellen Genussmittel treten dabei mehr 

zurück, obwohl feste, wie flüssige Nahrung, insbesondere auch frisches Obst, 

Trauben, Südfrüchte, mit Behagen genossen werden, aber das Vergnügen an 

geselliger Unterhaltung, Bewegung im Freien, Natur und Kunstgenuss, Lektüre, 
freundliche Beziehungen haben sich wesentlich gesteigert. 

11. Zwei erwachsene Söhne leben abstinent, die jüngeren Kinder trinken mit Vorliebe 
Milch. Für Gäste wird Bier und Wein im Hause gehalten; mit der bestimmt 
erklärten Entschliessung, dergleichen nicht mitzugeniessen, gibt sich jeder zu¬ 
frieden. Die Verwunderung über die Abstinenz Einzelner hat in den letzten 
Jahren sich fast ganz verloren, und auch an öffentlichen Orten hat die Gelegen¬ 
heit, alkoholfreies Getränk zu erlangen, erstaunlich zugenommen. 

Zu 12 und 13 habe ich nicht derartig Buch geführt, um Zahlen angeben zu können. 
Der Wegfall des eigenen Alkoholbedarfs bildet eine erhebliche Ersparung. 


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Nr. 36. Eisenbahnbeamter Curt Frege in Dresden. 


1. Curt Frege, Dresden-Friedrichstadt. 

2. geb. 13. Oktober 1867. 

3. Freiberg in Sachsen. 

4. Technischer Bureau-Assistent der Sächs. Staatsbahn. 

5. Bürgerschule mit Selekta in Freiberg, 3jährige Praxis als Schlosser und Besuch 
der Technischen Staatslehranstalten zu Chemnitz. 

6. Nein. 

7. Enthaltsam seit 31. Oktober 1901. 

8. Lesen diesbezüglicher Schriften und Besuch von Vorträgen. 

9. Etwa 2—3 mal in den 3 Jahren wurden bei ganz besonderen Festlichkeiten einige 
Tropfen Wein mit Mineralwasser getrunken. 

10. a) Nachteile wurden keinesfalls bemerkt. 

b) Gegen früher erhöhter Drang nach geistiger Fortbildung. 

c) Ruhigere Lebensanschauung und geringere Reizbarkeit. 

11. a) Viel schöneres Familienleben als früher. 

b) u. c) Mehrere Kollegen wollten mir, da ich nicht mehr Bier mittrinken wollte, 
die Freundschaft kündigen, haben es aber bis jetzt noch nicht getan, d) vergl.zu 14. 

12. Monatlich manchmal 30—40 Mk. (kann genau nicht mehr angegeben werden). 

13. Für alkoholische Getränke keinen Pfennig. 

Zu nd. Auf den im öffentlichen Leben oft gehörten Vorwurf, dass die Ent¬ 
haltsamen zu weit gehen, weil ein mässiges Glas Bier oder Wein niemals schade, 
habe ich immer geantwortet: »Beweisen Sie mir erst einmal genau, wo die Mässig- 
keit auf hört und wo die Unmässigkeit anfängt, dann wollen wir weiter darüber reden.« 
Der Beweis ist aber niemals erbracht worden. Meine Ansicht geht dahin, 
dass Alkohol die Energie lähmt. Wenn man zu dem Entschlüsse gelangt ist, 
ernstlich an seiner Besserung arbeiten zu wollen, muss man mit der Selbstbeherrschung 
und Bekämpfung irgend einer Schwäche oder Unsitte anfangen. Wer mit der Ent¬ 
haltsamkeit von alkoholischen Getränken beginnt, wird sehr bald merken, dass er 
auch andere Schwächen und Fehler viel leichter überwindet. 

Zu 14. Ich bin persönlich der Meinung, dass nach und nach diejenigen Dienst¬ 
zweige im Eisenbahnwesen, die mit besonderer Verantwortung verknüpft sind, z. B. 
die Stellen der Lokomotivführer, Heizer, Zugführer, Bremser, Stationsbeamten des 
äusseren Dienstes, der Weichenwärter etc. etc nur durch Abstinenten besetzt werden 
sollten und ich glaube, dass sich diese Massnahme ohne besondere Härten ganz gut 
durchführen liesse. Man braucht vorläufig nur bei Besetzung aller oben erwähnten 
Beamtenstellen Umschau nach Abstinenten zu halten. Wenn dann bekannt würde, 
dass der und jener teils wegen seiner sonstigen Fähigkeiten, teils aber auch 
seiner Enthaltsamkeit wegen befördert worden ist, so würde dies wohl manchem 
ein Ansporn sein, sich mehr als bisher mit der Alkoholfrage zu beschäftigen. Viele Be¬ 
amte würden, wenn die Enthaltsamkeit bei ihnen einkehrte, monatlich 30, 40 ja 50 Mk. 
sparen bez. für bessere Sachen ausgeben können, sie würden zufriedener werden, 
das Familienleben würde sich ganz anders gestalten, kurz und gut, mit der Erforschung 
der Alkoholfrage würde ein grosser Teil der sozialen Frage von selbst gelöst werden. 

22 * 


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328 Vierteljahrscbronik über die Alkoholfrage. 


Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


Chronik über die Monate Juli, August, September. 

Das dritte Quartal des Jahres 1904 war, ebenso wie das zweite, 
reich an wichtigen nationalen und internationalen Versammlungen, welche 
entweder die Alkoholfrage selbst oder eng damit zusammenhängende 
Fragen der Volksgesundheit erörterten. Als drei für unsre Zeitschrift 
besonders wichtige Kongresse heben wir hervor i. den sechsten 
nordischen Abstinenzkongress (für sämtliche skandinavische Staaten) 
in Kopenhagen, der vom 6. bis 9. Juli tagte. 2., den zweiten deutschen 
Abstinententag in Altona, der vom 16. bis 19. Juli 1904 stattfand 
und 3., die 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke, welche am 8. und 
9. September 1904 in Erfurt abgehalten wurde. Ueber jeden dieser 
drei wichtigen Kongresse sind in diesem Heft unserer Zeitschrift besondere 
Berichte abgestattet und auch drei dabei gehaltene Vorträge von Prof. 
Westergaardt, Pastor Haake und Lehrer Scharrelmann abgedruckt worden. 

Als bedeutungsvoll für die deutschen Enthaltsamkeitsbestrebungen 
erwähnen wir hier noch ausdrücklich die im Juli 1904 bei Gelegenheit 
des zweiten Deutschen Abstinententages in Altona erfolgte Begründung 
des »Allgemeinen deutschen Zentralverbandes zur Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus«, welcher noch in diesem Jahr 
eine chemische Zentralstelle für Untersuchung von Genussmitteln und 
namentlich von angeblich alkoholfreien Getränken auf ihren etwaigen 
Gehalt an Alkohol eröffnen will. Die Benutzung dieser Stelle soll jeder¬ 
mann gegen eine möglichst niedrig zu bemessende Gebühr freistehen. 

Von weiterer Bedeutung für die gesamten internationalen Mässig- 
und Enthaltsamkeitsbestrebungen, die mit den Sittlichkeitsbestrebungen 
aufs engste Zusammenhängen, erscheinen uns ferner die Verhandlungen 
der »Internationalen abolitionistischen Föderation«, 
welche in den Tagen vom 22. bis 24. September 1904 in Dresden 
ihren 6. Kongress abgehalten hat. Die sogenannte Internationale aboli- 
tionistische Föderation, die wir als einen Weltbund zur Bekämpfung der 
Unsittlichkeit bezeichnen möchten, hat das Verdienst, wiederholt auf die 



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Vierteljahrschronik über die Alkohölfrage. 


329 


komplexe Natur der geschlechtlichen Krankheiten mit dem Älkoholismus 
hingewiesen und beide Uebel gemeinsam bekämpft zu haben. Sie tagte 
in diesem Jahr zum ersten Mal auf deutschem Boden und hat in drei 
Verhandiungstagen ein reichhaltiges Programm erledigt und hochinteressahte 
Berichte von Delegierten aus England, Frankreich, Italien, Holland, der 
Schweiz und Deutschland entgegengenommen. Die Verhandlungen wurden 
von dem Präsidenten des Direktionsrats der Föderation, Prof. James Stiiart 
aus Norwich, mit einer längeren Rede in englischer Sprache eröffnet 
und betrafen folgende Hauptgegenstände: i. Die Verbreitung der aböli- 
tionistischen Grundsätze in Deutschland, 2. Die Prostitution als straf¬ 
rechtliches Vergehen, 3. Den Neureglementarismus und 4. Die Rolle der 
Krankenversicherung bei der Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. 

Es hat sich während der Tagung der Föderation gezeigt, dass 
auch die heikelsten Fragen des öffentlichen Lebens mit Würde und 
Anstand in Gegenwart beider Geschlechter besprochen werden können, 
sobald nur die edeln und humanen Absichten der Veranstalter und Teil¬ 
nehmer eines Kongresses über alle Zweifel erhaben sind und die Ver¬ 
sammlungen mit Takt und Sachkunde vorbereitet und geleitet werden. 
Am ersten Kongresstage hatte der Vorstand des* Kongresses Abends 
sogar eine allgemeine Volksversammlung im grössten überfüllten Saale 
des Tivoli veranstaltet, wobei die Grundsätze und Ziele der Föderation 
von Holländern, Franzosen, Deutschen und Schweizern dargelegt wurden 
und den Angehörigen der verschiedensten Nationen und ganz entgegen¬ 
gesetzter politischer, sozialer, naturalistischer und religiöser Richtungen 
die Gelegenheit zur Begründung ihrer Anschauungen gegeben war und 
vielseitig benutzt wurde. * Die Vorsitzende des deutschen Zweiges der 
»Internationalen abolitionistischen Föderation«, Frau Katharina Scheven 
aus Dresden, hielt gleich am ersten Kongresstage einen orientierenden 
Vortrag über die Verbreitung der abolitionistischen Grundsätze in Deutsch¬ 
land und über die Aufgabe der Föderation, wobei sie nicht verfehlte, 
auch auf den engen Zusammenhang der Prostitution und der geschlecht¬ 
lichen Verirrungen mit dem Alkoholismus nachdrücklich hinzuweisen.— 
Dieser Zusammenhang war von der Rednerin schon auf der in Chem¬ 
nitz am 26. Juni 1904 abgehaltenen Jahresversammlung des sächsischen 
Landesverbandes gegen den Missbrauch geistiger Getränke in ihrem 
Vortrage über »den Kampf gegen den Alkoholismus, eine soziale Auf¬ 
gabe der Frau«, näher dargelegt worden. Es möge auf diesen Vortrag, 
der in diesem Heft abgedruckt ist, hier noch besonders aufmerksam 
gemacht werden. 

Aus den inhaltreichen Verhandlungen, welche in Dresden am 22., 
23. und 24. September von der Internationalen abolitionistischen Föderation 
gepflogen wurden, möchten wir noch einen Bericht über den akademi¬ 
schen Bund »Ethos« hervoiheben, welcher Satzungen, Leitsätze ünd 
einen ersten Semesterbericht gedruckt vorgelegt hatte und durch seinen 
Vertreter mitteilen liess, dass der Bund bereits 120 Mitglieder zähle 
und seinen Sitz in Berlin sowie einen Zweigverein in Stuttgart habe. 
Der Bund »Ethos« bezweckt nach § 1 seiner Satzungen »Die Förderung 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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einer vertieften und veredelten Auffassung des Geschlechtslebens, die 
Läuterung der sittlichen Ehrbegriffe und den Kampf gegen die ge¬ 
schlechtlichen Ausschweifungen«. Nach § 2 betrachten es die Mitglieder 
des Bundes als ihre Aufgabe, a) für die Keuschheit durch ihr Leben 
und Wirken einzustehen, b) den Grundsatz der gleichen Moral beider 
Geschlechter zu vertreten, c) ihre Kameraden vor schlechtem Einfluss 
zu bewahren und Frauen oder Mädchen nach Möglichkeit vor Belästi¬ 
gungen zu schützen, d) rohe zweideutige Spässe und gemeine Reden 
zu unterlassen und ihnen tunlichst entgegenzutreten, e) nach besten 
Kräften aufklärend zu wirken. 

Die Bestrebungen des akademischen Bundes »Ethos« können ebenso 
wie die der akademischen Abstinenz-Vereine eine grosse Bedeutung für 
die deutschen Sittlichkeits- und Mässigkeitsbestrebungen erlangen, wenn 
sie, klug und energisch organisiert, auf allen Hochschulen festen Fuss 
fassen und wenn der jugendliche Enthusiasmus, der vor hundert Jahren 
einen Tugendbund der deutschen Studierenden zur Kräftigung im Kampf 
gegen Napoleon ins Leben rief, recht lange aushält, um Körper und 
Geist der deutschen Studierenden gegen die Gefahren des Alkohols und 
der Prostitution zu schützen. Wenn die deutschen Hochschulen von 
ihren Trinkunsitten und von geschlechtlichen Krankheiten geheilt werden, 
so werden sehr bald auch weitere Volkskreise gesunden und unser 
ganzes deutsches Volk für den internationalen Wettkampf ums Dasein 
widerstandsfähiger und leistungsfähiger werden. 

Das Interesse der deutschen Regierungen und Behörden für die 
Mässigkeitsbestrebungen scheint im Wachsen begriffen zu sein und wird 
durch mancherlei Massnahmen betätigt. Auf - der im September d. J. 
abgehaltenen Erfurter Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke erörterte der Vertreter des preussischen 
Kultusministeriums Geh. Regierungsrat Freiherr von Zedlitz die Gründe, 
weshalb dem Anträge des Grafen Douglas auf Einsetzung einer Landes- 
Alkoholkommission seitens des Kultusministeriums bisher nicht stattge¬ 
geben werden konnte, betonte aber die volle Geneigtheit der Staats¬ 
regierung, mit dien zweckmässigen Mitteln die Befreiung des Volkes 
vom Alkoholismus zu fördern. 

Ueber die weiteren »Erfolge des Kampfes gegen die 
Trunksucht in Dänemark« hat der verdiente dänische Statistiker 
Prof. Harold Westergaardt in einem Briefe an den Herausgeber dieser 
Zeitschrift vom 19. Juli 1904 u. a. folgendes mitgeteilt: 

Was die Trunksucht anbetrifft, ist in meinem Vaterlande eine merk¬ 
liche Veränderung eingetroffen. Vor 25 Jahren, als die Abstinenzbe¬ 
wegung in Fluss kam, war es fast ein Verbrechen, von den üblen 
Wirkungen der geistigen Getränke zu reden, und der »Schnaps des armen 
Mannes« war ein Heiligtum. Die Antialkoholbewegung zählt jetzt ausser¬ 
ordentlich viele Freunde und die Verteidiger der geistigen Getränke 
haben nur dürftige Argumente zur Verfügung. Es war ganz kurios, die 
achtungsvolle Sprache der Zeitungen bei dem Kongress wahrzunehmen, 
welche früher behaupteten, dass die Trunksucht in Dänemark gar nicht 



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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


331 


existiere, und den Kampf gegen den Alkoholismus nur als einen Kampf 
gegen Windmühlen betrachteten. Die Antialkoholvereine zählen jetzt 
wohl gegen iooooo Mitglieder, die vor wenigen Jahren emporge¬ 
kommenen christlichen Enthaltsamkeitsvereine allein 
7000; -die letzteren sind namentlich in der Hauptstadt von grosser Be¬ 
deutung. Viele Arbeiter, die nicht in die Kirche gehen wollen, lassen 
sich mit Freude in einen solchen Verein aufnehmen und allmählich wird 
ihnen dann das Wort Gottes so gewaltig, dass sie sich bekehren. 


Alkoholfrage und Sozialdemokratie im letzten Viertel= 
jahre. Es werden alle möglichen Lösungen der sozialen Frage vor¬ 
geschlagen und angestrebt. Vor allem müssen natürlich Staat und Ge¬ 
meinde und die an ihrer Spitze stehenden Beamten durch gute Gesetze 
und Vervvaltungsmassregeln beruflich für Sozialreform eintreten und 
persönlich durch ihre ganze Lebensführung dem Volk ein gutes 
Beispiel geben. Aber Staat und Gemeinde sind nicht die einzigen 
öffentlich wirkenden Organe, mit ihnen müssen Schule, Kirche und 
Vereine, Hand in Hand mit allen einzelnen Familienoberhäuptern und 
mündigen Familiengliedern, auf erwachsene und jugendliche Staats¬ 
angehörige belebend und fördernd einwirken, um die Massen auf eine 
höhere Kulturstufe emporzuheben. Mehr noch als Gesetze sind Sitten 
und gute Gewohnheiten, vor allem einträchtiges gegenseitiges Helfen 
entscheidend für die Zukunft eines Volkes. Gesetz und Recht sind erst 
die kulturellen Blüten, welche aus langdauernden, allgemeinen Gewohn¬ 
heiten entstehen und nach und nach zu internationalen Gesetzen und 
Menschenrechten sich umbilden und eine entsprechende Erfüllung von 
Pflichten erheischen. Der moderne Arbeiterschutz beginnt, den Massen 
der Völker ein internationales Arbeiterrecht zu gewähren. Nach und 
nach streifen die Völker durch den innigen Weltverkehr auch manche 
nationalen Unsitten ab und lernen feinere Sitten schätzen Es haben im 
letzten Jahrzehnt auch auf deutschem Boden verschiedene internationale 
Kongresse getagt, um innigere völkerrechtliche Beziehungen und inter¬ 
nationale Fortschritte anzubahnen, wir nennen den Bremer internationalen 
Kongress gegen den Alkoholismus, den Düsseldorfer Kongress für 
internationalen Arbeiterschutz, den Berliner internationalen Frauenkongress, 
den Dresdner Kongress der internationalen abolitionistischen Föderation 
zur Bekämpfung der Prostitution. Man hofft, durch alle diese Ver¬ 
anstaltungen bessere Rechtsanschauungen und Schutzmassregeln und 
überhaupt grössere Mässigkeit, Enthaltsamkeit und Sittlichkeit unter den 
Völkern zu verbreiten. Jedes einzelne Volk, jede einzelne Gemeinde 
und Familie muss mit der Selbstzucht im eigenen Hause beginnen und 
von den einzelnen Haushaltungen, aus auf andere Haushaltungen und Fami¬ 
lien helfend und fördernd einwirken. — Je weiter sich die modernen 
Mässigkeits- und Sittlichkeitsbestrebungen verbreiten, um so leichter werden 
sich auch die sozialen Fragen mit allen damit zusammenhängenden sozial¬ 
politischen und sozialdemokratischen Problemen lösen lassen. 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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Das eben abgelaufene dritte Quartal des Jahres 1904 hat der 
Oeffentlichkeit belebte Verhandlungen auf dem internationalen Arbeiter¬ 
kongress in Amsterdam und auf dem Kongress der deutschen Sozialdemo¬ 
kratie in Bremen geboten. Für die deutsche Mässigkeits- und Sittlichkeits¬ 
bewegung erscheint uns besonders bedeutsam eine im September d. J. auf dem 
Parteitage der deutschen Sozialdemokratie in Bremen fast einstimmig ange¬ 
nommene Resolution, welche folgendermassen lautet: 

»In Anbetracht der ungeheuren Schädigungen, die der Alkohol 
der Arbeiterschaft verursacht, indem er insbesondere zu einem grossen 
Hindernis für die Verwirklichung unserer Ziele wird, hält es der 
Parteitag im Interesse des Fortschreitens unserer Bewegung für un¬ 
bedingt erforderlich, den Alkoholmissbrauch in der Arbeiterschaft zu 
bekämpfen. Er fordert daher alle Parteigenossen auf, die Arbeiter 
noch mehr als bisher auf die Gefahren des Alkoholgenusses auf¬ 
merksam zu machen.« 

Ein weiterer Antrag, die Alkoholfrage auf die Tagesordnung des 
nächsten Parteitages zu setzen, wurde dem Parteivorstand zur Erwägung 
überwiesen. Mit diesen beiden Beschlüssen ist ein Fortschritt erreicht, 
den die Freunde der Mässigkeit und Enthaltsamkeit schon seit Jahren 
angestrebt haben, und es bleibt nur zu wünschen, dass auch andere 
Parteien auf diesem Wege nachfolgen werden. Vielleicht erleben wir 
noch die Zeit, wo sich Abstinenten aus allen Parteien über die 
trennenden Schranken der Parteiprogramme hinaus zur Bekämpfung des 
gemeinsamen Feindes brüderlich die Hand reichen werden. Allen 
Teilnehmern des Internationalen Kongresses gegen den Alkoholismus, 
der im April 1903 in Bremen tagte, wird es noch in frischer Erinnerung 
sein, wie der dänische Delegierte, Pastor Dalhoff von den Erfolgen der 
Alkoholgegner in Dänemark berichtete, Erfolge, die er nicht zum 
wenigsten dem Umstande zuschrieb, dass der sechste Teil der Abge¬ 
ordneten des dänischen Parlaments abstinent sei. Uns will scheinen, 
als ob ein gut Teil Gehässigkeit aus unserem politischen Parteileben 
verschwinden würde, wenn die politischen Parteiführer zugleich energische 
Bekämpfer des Alkoholismus in jeder Gestalt und auch an ihrem 
eigenen Leibe würden. Das Volk, dessen Bestes doch alle w r ollen, 
würde dadurch gewiss keinen Schaden leiden. Der Alkoholismus im 
Parteileben, mag er in der Form von sozialdemokratischen Parteifesten 
oder von Kriegervereinsfesten auftreten, erzeugt eben einen Zustand 
alkoholischer Massenerregung, der die Gemüter der Beteiligten wie mit 
einem Nebelschleier verhüllt, sodass sie auch das Berechtigte an den 
Bestrebungen und Forderungen der Gegner nicht erkennen. 

Die Bedeutung der Beschlüsse des neuesten sozialdemokratischen 
Parteitages liegt hauptsächlich darin, dass nunmehr die Freunde der 
Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbestrebungen innerhalb der Partei offen 
das Wort ergreifen können, und es fehlt glücklicher Weise auch in der 
sozialdemokratischen Presse nicht daran. Bisher war bekanntlich der 
Standpunkt der Partei der eines unfruchtbaren »Alles oder Nichts«. Der 
Alkoholismus wurde als notwendige Folgeerscheinung des Kapitalismus 



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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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betrachtet und man stellte sich so, als ob man glaube, er werde mit 
dem nahe bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus von selbst 
verschwinden. Bis dahin wollte man seinen behaglichen Schoppen selber 
nicht missen, und allzu grosse Heisssporne für die Sache der Mässigkeit 
wurden wohl von einzelnen Parteiführern mit dem auch in bürgerlichen 
Kreisen nicht unbekannten »überlegenen« Humor abgefertigt. Es fehlte 
auch nicht an Spötteleien über die Alkoholgegner im bürgerlichen Lager, 
die selbst gern ihr gutes Schöppchen tränken und dem Arbeiter seinen 
Schnaps nicht gönnen wollten. Ja, man suchte wohl gar den Missbrauch 
des Alkoholgenusses mit der traurigen Lage der arbeitenden Bevölkerung 
zu entschuldigen, was tatsächlich nur auf eine indirekte Empfehlung, 
mindestens auf einen haltlosen Quietismus hinauslief. 

Damit ist es nun vorbei. Weder der Humor, noch die Ver¬ 
tröstung auf den nahen Zukunftsstaat wollen mehr verfangen. Es ist 
eben jetzt weiten Kreisen der Bevölkerung, und nicht nur solchen im 
bürgerlichen Lager, bitterer Ernst mit ihrem Kampf gegen den Alkohol 
geworden. Gerade in Bremen konnte man sehen, welche leidenschaft¬ 
liche Erregung die Massen bei dieser Frage ergreifen kann. In den 
Volksversammlungen, sowohl im vorigen wie in diesem Jahre, kam es 
zu scharfen Angriffen auch gegen die Parteiführer, die dieser Sache lau 
gegenüberständen. 

Die Sozialdemokratie hat rasch begriffen, dass sie einlenken 
müsse, wenn sie nicht die Macht über die Massen einbüssen wolle. 
Es ist ihr hier genau so gegangen, wie in der Frage der Gewerk¬ 
schaften, die sich in ihrem Kampfe für wirtschaftliche Besserstellung 
auch nicht mit dem nahen Kladderadatsch trösten lassen wollten. 
Allerdings darf man die Bedeutung der neuesten in Bremen gefassten 
Beschlüsse nicht überschätzen. Der Alkoholismus ist überhaupt nicht 
mit Kongressbeschlüssen aus der Welt zu schaffen, dazu bedarf es einer 
unausgesetzten Kleinarbeit, einer sittlichen Gesundung des Volkskörpers. 
Auch von einer Verhandlung auf dem nächsten Parteitage, wenn eine 
solche überhaupt stattfinden sollte, wird man sich wenig versprechen 
dürfen. Die grosse Mehrheit der Delegierten stand der Frage offenbar 
ohne grosses Interesse gegenüber und unter diesen Umständen werden 
die wenigen aufrichtigen Alkoholgegner vor tauben Ohren predigen. 
Man würde zu einer allgemein gehaltenen Resolution gelangen, die sich 
wenig von der diesmaligen unterscheiden dürfte. In dieser Hinsicht 
wäre es vielleicht besser, wenn die Diskussion auf einige Jahre ver¬ 
schoben worden wäre. Bis dahin wird die nunmehr durch den Partei¬ 
beschluss den Genossen geradezu zur Pflicht gemachte Agitation gegen 
den Alkoholmissbrauch ihre Früchte getragen haben. 

Welche Wirkung die Beschlüsse jetzt schon gehabt haben, mag an 
einem Beispiel aus dem Organ der bremischen Sozialdemokratie, der 
Bremer Bürger-Zeitung, gezeigt werden. In einer öffentlichen Abstinenten¬ 
versammlung hatte der Genosse Katzenstein, der auch auf dem Parteitag 
mit tiefem, sittlichen Ernst für die Abstinenz eintrat, die Bemerkung 
gemacht: »Wer den Alkohol bekämpft, bekämpft das soziale Elend«. 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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Hierzu schrieb die Zeitung am 27. September in ihrem Bericht über 
die Versammlung in Parenthese folgendes: »Doch wohl nur einen ver¬ 
schwindend kleinen Teil des sozialen Elends. Er erreicht aber meist 
recht wenig. Wer aber das soziale Elend bekämpft, bekämpft zugleich 
den Alkoholismus mit weit besserem Erfolge.« In der Nummer vom 
4. Oktober berichtete dieselbe Zeitung folgendes: 

„Ein Drama des Alkoholismus. 

Ein guter Parteigenosse, ein vortrefflicher Kamerad, ein zärt¬ 
licher Familienvater ist am Sonnabend als ein gebrochener Mann 
in Berlin vor den Strafrichtern erschienen; aber die Sympathie 
seiner Genossen hat ihn nicht auf die Anklagebank begleiten können, 
die so oft schon die Stätte stürmischer Triumphe für die Arbeiter¬ 
bewegung gewesen ist. Denn für Paul Winzler, der sich mit seinem 
Bruder Gustav und seinem Kollegen Pape, wegen Körperverletzung, 
Angriffe auf Beamte und Misshandlung zu verantworten hatte, kann es 
nur Worte des Mitleids, aber keine der Rechtfertigung geben. Am 
Pfingstmontag d. J. hatten sich die unglückseligen Drei unter den Folgen 
eines alkoholischen Exzesses zu sinnlosen und widerwärtigen Aus¬ 
schreitungen hinreissen lassen, die den völlig unverschuldeten Tod eines 
pflichttreuen Beamten zur Folge hatten. Paul Winzler, der in seiner 
Jugend eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte, der kein Trinker ist 
und nach der Tagesarbeit im Studium seine Nerven anspannte, gehört offen¬ 
bar zu jenen Individuen, die an vollkommener, sog. »alkoholischerIntole¬ 
ranz« leiden; der überreiche Genuss vonBier hatte sein sonstiges Wesen in sein 
gerades Gegenteil verkehrt, der ernste pflichttreue Mensch erschien plötzlich 
als ein leichtfertiger Gassenjunge und gewalttätiger Raufbold. Das Unglück 
wollte es, dass einer der Beamten, ein Familienvater, an Herzschwäche 
litt und an den Folgen der erlittenen Angriffe starb. Der Gerichtshof 
hielt es nicht für erwiesen, dass der kranke Beamte durch die ihn zu¬ 
gefügten Verletzungen getötet worden sei, gleichwohl verurteilte er die 
beiden Hauptschuldigen, Paul und Gustav Winzler zu 4 Jahren Gefängnis, 
Pape zu 6 Monaten Gefängnis. 

Vier Familien sind dauernd oder auf lange Zeit hinaus ihrer 
Ernährer beraubt! Ein unschuldiger Mensch tot, drei sonst treffliche 
achtbare Leute in ihrer Ehre und in ihrem Ansehen unheilbar geschä¬ 
digt! Und das alles um ein Nichts, sinnlos, zwecklos, nutzlos — ein 
Triumph der Unvernunft über Menschenlehre und Menschenehre! 

Das Zeugnis, das dem unseligen Winzler von allen Seiten über¬ 
einstimmend erteilt wurde, macht die Absichten der Scharfmacherblätter 
zu schänden, die schon vor der Verhandlung unanständig genug waren, den 
traurigen Fall gegen die Sozialdemokratie ausspielen zu wollen. Es ist 
offenbar geworden, dass Paul Winzler, so wie man ihn kannte, seiner 
Vertrauensstellen vollkommen würdig war, würdiger ganz gewiss als die 
Arenberg, Brüsewitz, Hüssener, Stietencron, Stollberg, Hollmann usw. 
ihrer einstigen militärischen Ehrenstellen. Nicht für die Partei ist der 
Fall Winzler ein Menetekel, wohl aber für alle einzelnen ist er eine 



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Vierteljahischronik über die Alkoholfrage. 


335 


eindringliche Aufforderung zum Kampfe gegen den furchtbaren Massen¬ 
mörder : A 1 k o h o 1 !« 

Die Vereine der abstinenten Arbeiter, die allerdings an Zahl noch 
weit hinter den Guttemplern und Blaukreuzlern zurückstehen, rüsten sich 
an allen Orten. Zur Zeit veröffentlichen sie in sozialdemokratischen Blättern 
unter Berufung auf die Beschlüsse des Parteitages folgenden Aufruf: 

Arbeiter! Parteigenossen! Der »Deutsche Arbeiter-Abstinenten- 
Bund« hat bereits weit über iooo klassenbewusste Proletarier und 
Proletarierinnen in zirka 70 Orten Deutschlands unter dem Banner der 
Bekämpfung des Alkoholismus — als eines der gefährlichsten Auswüchse 
des Kapitalismus — vereinigt. Wenn ihr dazu beitragen wollt, unzählige 
eurer Klassengenossen den Fesseln des Alkohols zu entreissen und da¬ 
durch zu klareren Mitstreitern im Klassenkampfe zu machen, dann unter¬ 
stützt die idealen Ziele des deutschen Arbeiter-Abstinenten-Bundes. 

Unser Agitations-Fonds ist noch klein! Daher haben wir bisher 
nicht so erhebliche Lebenszeichen zu geben vermocht, wie wir gern 
gewollt hätten. Das soll und muss jetzt anders werden. Jede Gabe, auch 
die kleinste, wird gern entgegengenommen. Der Bundeskassierer Wilhelm 
Giehm, Berlin SO. 36, Ratiborstr. 16, quittiert darüber öffentlich in »Der 
abstinente Arbeiter«, Organ des Deutschen Arbeiter-Abstinenten-Bundes.« 

So dürfen wir den diesjährigen Parteitag der Sozialdemokratie als 
einen Merkstein in der Geschichte des Kampfes gegen den Alkoholismus 
bezeichnen, wenn auch der Inhalt der Verhandlungen selbst ohne grosse 
Erheblichkeit war. Hieran waren übrigens nicht diejenigen Delegierten 
schuld, die gegen den Alkoholismus auftraten, sondern der Umstand, 
dass der Alkoholismus selbst nicht den Gegenstand der Verhandlungen 
bildete. Erfreulich war für den Alkoholgegner die Beobachtung, dass 
sich keiner der Delegierten während der langwierigen Verhandlungen des 
Parteitags Bier bringen liess. Dagegen war die Balustrade der Galerien, 
auf denen sich das vorzugsweise aus Parteigenossen bestehende Publikum 
befand, schon am Morgen mit Biergläsem geradezu garniert. Eine be¬ 
zeichnende Illustration für die Notwendigkeit einer energischen Agitation! 
Wann wird endlich das Bierglas aus unseren öffentlichen Versammlungen 
verschwinden? - N. N. 

Die Sonderausstellung über den Alkoholismus in Char¬ 
lottenburg, Frauenhoferstr. 12 (im Gebäude der ständigen Ausstellung für 
Arbeiterwohlfahrt, 5 Min. vom »Knie«) hat für die Wintermonate ein neues 
Kleid angelegt. Es sind u. a. neu ausgestellt Tafeln über den Zusammenhang 
zwischen Alkohol und Ernährung, Alkohol und Verbrechen, Tabellen über 
die Unfallhäufigkeit an den einzelnen Wochentagen und Tagesstunden. Auch 
sind die Tabellen über das Verhältnis des Konsums von Spiritus einerseits 
als Trinkbranntwein, andererseits zu technischen Zwecken sehr lehrreich. 
Die Ausstellungs-Bibliothek, welche vom 1. Oktober er. dem Publikum zur 
Verfügung steht, enthält die wichtigsten einschlägigen Werke und gibt ein 
gutes Bild über den gegenwärtigen Stand des Kampfes gegen den Alkohol. 
Besuch der Ausstellung und Benutzung der Bibliothek ist unentgeltlich. Weitere 
Auskunft wird erteilt von Herrn W. Miethke, Berlin NW. 87, Rostockerstr. 38, 


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II. Besprechungen. 



Tr ^DQr r ö 


Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, einschliess¬ 
lich Rassen- und Gesellschaftshygiene. Zeitschrift für die Erforschung 
des Wesens von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Ver¬ 
hältnisses, für die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Ent¬ 
wickelung, sowie für die grundlegenden Probleme der Entwickelungslehre. 
Herausgegeben von Dr. med. Alfred Ploetz (Schlachtensee) in 
Verbindung mit Dr. Hermann Friedmann, Dr. jur. A. Nordenholz und 
Professor Dr. Ludwig Plate. 

Infolge eines bedauerlichen Versehens in der Druckerei ist bei 
unserer Besprechung dieser vortrefflichen Zeitschrift im letzten Heft der 
Alkoholfrage der unkorrigierte Satz zum Druck gelangt. Der Druckfehler¬ 
teufel hat die Zeitschrift zu einem Archiv für Rassen- und Geschlechts¬ 
biologie statt Gesellschaftsbiologie und den Herausgeber, den 
durch sein Referat auf dem Bremer internationalen Kongress auch 
unseren Freunden wohlbekannten Dr. Ploetz-Schlachtensee zu einem 
Dr. Plock gemacht. Wir ergreifen die Gelegenheit, mit der Berichtigung 
des Irrtums einen erneuten Hinweis auf das Archiv für Rassen- und 
Gesellschaftsbiologie zu verbinden. Die weiteren Hefte der Zeitschrift 
haben die Erwartung, die wir ausgesprochen haben, durchaus erfüllt und 
auf die fundamentale Bedeutung, die dem Alkoholismus auch in Bezug 
auf Rassenfrage zukommt, in mehreren lesenswerten Abhandlungen hin¬ 
gewiesen. Leider können wir wegen Raummangel auf die Einzelheiten 
nicht näher eingehen, behalten uns aber vor, darauf bei gelegener Zeit 
zurückzukommen. Dr. B. 

Gesundheits- und Mässigkeitslehre in den Schulen. 

Von 14718 einregistrierten praktischen Aerzten in England ist der 
Zentral-Erziehungsbehörde (Board of Education) eine Petition überreicht 
worden, welche verlangt, dass im Laufe der Schulzeit, sowohl in den 
elementaren als höheren Schulen, die Kinder unterrichtet würden über 
die Bedeutung der allgemeinen Reinlichkeit, der reinen Atmungsluft, 
der Ernährung und der Getränke. Die Petition wurde dem Lord London- 
derry, dem Präsidenten des Erziehungsrates, von einer Deputation der 
hervorragendsten Mitglieder der Aerzteschaft des vereinigten König¬ 
reiches am ix. Juli d. J. überreicht. Die Petenten bemerkten, dass sie 
wohl wüssten, dass in den Schulen die Gesundheitslehre jetzt mehr als 



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Besprechungen. 


337 


früher gelehrt würde; sie verlangen aber, dass es regelmässiger und in 
früherem Alter der Kinder als bisher geschehen solle. Die Schulkinder 
sollten eingehender über die Wirkungen des Alkohols auf Körper 
und Geist unterrichtet werden und deshalb sei es dringend notwendig, 
dass die Lehrer selbst einen tieferen Unterricht in der Mässigkeits- und 
in der Gesundheitslehre genössen. Die Deputation wurde dem Lord 
Londonderry vpn Dr. Forguardson, dem Vorsitzenden der »Kommission für 
öffentliches Gesundheitswesen« im Hause der Gemeinen zugeführt. Der 
erste Redner, Sir William Broadbent, betonte ganz besonders den Wunsch 
der Aerzte nach einer Vermehrung und nach einer frühzeitigeren Er¬ 
teilung des Unterrichts in der Hygiene und Mässigkeit. Dr. Griffiths, 
Präsident der Britischen medizinischen Gesellschaft (British Medical 
Association) bezog sich auf eine von dem Vorstande dieser Gesellschaft 
im letzten Januar gefasste Resolution, welche als praktische Massnahme 
gegen den physischen Rückgang der Nation, das Hauptgewicht auf die 
Erziehung des Volkes zur Mässigkeit legte. Sir Thomas Barlow meinte, 
dass die richtige Belehrung des Volkes über die erwähnten Fragen sich 
bald in den Wirkungen auf die gesundheitliche und soziale Wohlfahrt 
der Nation zeigen würde. Dr. Hutchinson, Parlamentsmitglied und 
Mitglied der Public Health Committee, bemerkte, dass diese Bewegung 
im Hause der Gemeinen Anklang finden werde, weil die Aerzte ihre 
Mitwirkung zusicherten. Professor G. Sims Woodhead betonte die 
Wichtigkeit der vorgetragenen Angelegenheit und verlangte eine eingehende 
Berücksichtigung derselben seitens der zentralen Erziehungsbehörde. In 
ähnlichem Sinne sprachen sich auch andere Mitglieder der Deputation, 
hervorragende Führer der britischen Aerzte, wie Sir Lauder Brun ton, 
Sir Victor Horsley, Dr. Scharlieb, aus. Es wurde auch auf die Be¬ 
schlüsse des internationalen Kongresses für Schulhygiene in Nürnberg 
hingewiesen, und mit besonderem Nachdruck der Wunsch der Aerzte- 
schaft hervorgehoben, dass der Unterricht in den Grundsätzen der 
Gesundheitslehre und der Temperenz ein allgemeiner, obligatorischer 
Elementar-Unterrichtszweig sein, und dass die Lehrerschaft in diesen 
Lehren ganz besonders herangebildet werden müsse. 

Lord Londonderry erklärte in seiner Erwiederung, dass der Gesund¬ 
heitsrat die volle Absicht habe, den Wünschen der Deputation entgegen 
zukommen. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass eine genügend vor¬ 
gebildete Lehrerschaft bis jetzt noch nicht vorhanden sei, und dass es 
mithin die erste Sorge des Erziehungsrates sein müsse, eine solche 
Lehrerschaft heranzubilden. Man dürfe jedoch vertrauen, dass die 
Anstrengungen nach dieser Richtung hin das gewünschte Resultat bringen 
würde. Er wies darauf hin, dass eine andere kompetente Kommission 
beschäftigt gewesen sei, die Ursache der angeblichen Verschlechterung 
der körperlichen Tüchtigkeit der Nation zu ermitteln. Er hoffe, dass die 
Tätigkeit, welche der Erziehunesrat in Beziehung auf den Unterricht in der 
Gesundheitslehre entwickelt habe, sich ausreichend erweisen werde, um 
die richtige Lösung der Frage zu finden. # Er gab der Deputation die 
Versicherung, dass die Erziehungsbehörde die hohe Bedeutsamkeit der 


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Besprechungen. 


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Petition wohl zu würdigen wisse und sich der ihr obliegenden Verant¬ 
wortlichkeit für die Erziehung eines körperlich und geistig tüchtigen 
Geschlechts voll bewusst sei. 

(Lancet, 1904, Juli.) Dr. Baer, Berlin, 


Ueber den Alkoholgenuss bei den amerikanischen 
Arbeitern. In dem soeben erschienenen Werke von Paul Dehn: 

»Weltwirtschaftliche Neubildungen« (Berlin 1904) ist in dem Kapitel: 
»Was wir von Amerika lernen können«, auch der ausserordentlichen 
Mässigkeit resp. Enthaltsamkeit der amerikanischen Arbeiter gedacht, 
welche dieselben so leistungsfähig macht. Es heisst da (S. 227): 

»Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Bekämpfung 
des Alkoholgenusses, wie sie in Nordamerika vielfach mit grosser Strenge 
erfolgt. So ist z. B. in den Kadettenanstalten den jungen Leuten bis 
zu 22 Jahren jeder Alkoholgenuss, auch jeder Biergenuss unbedingt 
verboten, und wird mit Entlassung bestraft. In den Schiffskantinen der 
Marine dürfen alkoholische Getränke nicht verabreicht werden. Einige 
Eisenbahngesellschaften haben die Abstinenz zur unerlässlichen Bedingung 
für die Anstellung von Beamten gemacht, andere bevorzugen wenigstens 
Beamte, die sich des Alkoholgenusses enthalten. Aehnlich wird in der 
Industrie verfahren. 

Ein hervorragender Vertreter der Elektrotechnik in Nordamerika 
sprach mit einem Mitarbeiter an der »Marine - Rundschau« über die 
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie gegenüber der nordameri¬ 
kanischen und äusserte dabei, die erste Bedingung für die Konkurrenz¬ 
fähigkeit Deutschlands sei das Verbannen des Alkohols aus den Werk¬ 
stätten. Der betreffende nordamerikanische Industrielle war auch an 
einer Fabrik in Deutschland beteiligt. In dieser Fabrik verbot man das 
Mitbringen alkoholischer Getränke in den Werkstätten. Viele Arbeiter 
gingen deshalb, konnten aber leicht ersetzt werden und nun erfreut sich 
die Fabrikleitung wenigstens der Dankbarkeit der Arbeiterfrauen, die 
mit einem Schlage ganz anders dastanden. Tatsächlich ist der Alkohol¬ 
verbrauch in Nordamerika weit geringer als in Europa. Auf den Kopf 
der Bevölkerung entfielen in Frankreich 16,1 Liter 100 prozentiger 
Alkohol jährlich, in Deutschland 11,2, in England 9,2, in den Verei¬ 
nigten Staaten aber nur 6 Liter. Der Nordamerikaner nimmt annähernd 
nur 1 / 4 soviel Alkohol zu sich als der Deutsche, ist also nüchterner, 
und auf diesem Umstand beruht ein nicht unwichtiger Faktor der nord¬ 
amerikanischen Ueberlegenheit. Erstaunlich gross ist in der Union die 
Zahl derjenigen Arbeiter, die alkoholische Getränke nicht mehr geniessen. 
In den nordamerikanischen Fabrikordnungen wird der Genuss geistiger 
Getränke nicht erst verboten, weil die Arbeiter es als selbstverständlich 
erachten, während des Arbeitstages keine Spirituosen mehr zu geniessen. 

Dr. Hoppe. 



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Besprechungen. 


339 


Der Bieralkoholismus unter den Deutsch-Amerikanern. 

Die wichtigen Bemerkungen Dr. W. A. Stilles in Leipzig über den Bier¬ 
alkoholismus unter den Deutsch-Amerikanern (in dieser Viertel¬ 
jahrsschrift Heft 2, 1904 S. 198) haben in der Presse der letzteren 
viel Missvergnügen hervorgerufen. Die in Milwaukee erscheinende 
„Germania-Abendpost“ vom 29. Juli 1904 nennt sie „dummen Quatsch“, 
und schreibt: „Der ganze Aufsatz bekundet das Bestreben, den Deut¬ 
schen Amerikas eins auszuwischen und strotzt von Übertreibungen und 
Entstellungen“. Aber das ist noch gar nichts gegen die Abkanzelung 
unserer Vierteljahrsschrift und Dr. Stille’s durch das in Texas (San 
Antonio) erscheinende Donnerstagsblatt „Texas - Banner“ vom 25. August 
1904. Es heisst darin u. A.: 

„In dem jetzt vorliegenden zweiten Vierteljahrsheft der Zeitschrift 
„Die Alkoholfrage“ findet sich eine freche und empörende Beleidigung des 
amerikanischen Deutschtums und zwar geht dieselbe von einem Deutschen aus, 
der angeblich, „früher lange Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hat und 
daher die dortigen Verhältnisse im allgemeinen und die der Deutsch-Amerikaner 
im speziellen ganz genau kennt.“ Wenn das überhaupt wahr ist, dann ist 
die Beleidigung nur eine um so ärgere und frechere, da der Manu dann wissen 
musste, dass er der Wahrheit keck ins Gesicht schlägt und dass er selbst da, 
wo seine Ausführungen einen Schimmer von Berechtigung enthalten, in der 
wahnwitzigsten und masslosesten Art und Weise übertreibt. 

Der bewusste Mann heisst Dr. Werner Stille. Er wohnt jetzt in Leipzig, 
wo er als Naturwissenschaftler wirkt. Dieser Dr. Stille schreibt in der „Alkohol¬ 
frage“ über: „Das Bier in den Vereinigten Staaten von Nord - Amerika“, und 
zwar speziell über „die volksschädigendeu Einflüsse des gewohnheitsmässigen 
Biergenusses“, und zwar „auf Grund eigener Beobachtungen“. Wohlgemerkt: 
Dr. Stille schreibt nicht etwa über die Folgen des übertriebenen oder un- 
mässigen Biergenusses, sondern des „gewohnheitsmässigen“. Ganz nach ameri¬ 
kanischer Prohibitionisten - Art fängt man also drüben an, auch dem mass- 
vollen Genüsse des Bieres — des gesunden und kräftigenden und dabei leichten 
deutschen Bieres mit seinem geringen Alkohol-Gehalte — den Krieg zu er¬ 
klären! Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten? 

Dr. Werner Stilles Ausführungen sind aber für uns Deutsch-Amerikaner 
nicht nur von allgemeiner symptomatischer Bedeutung, sondern sie gehen uns 
ganz direkt etwas an, sind sie doch die unverschämteste Verleumdung 
der Deutsch-Amerikaner, welche dieselben sich jemals bieten lassen 
mussten.“ „Wenn nun Stilles prohibitionistische Ausschleimung auf Dr. Böhmerts 
Wassersimpel - Fachblatt beschränkt geblieben wäre , das wohl so ziemlich 
„unter Ausschluss der Oeflfentlicbkeit“ erscheint, hätte man die Sache auch 
noch hingehen lassen können; allein fast die gesamte Presse Deutschlands 
druckte dieselbe ab — entweder ganz ohne Kommentar, oder noch mit solchen 
wohlmeinenden Hinweisungen, wie das beispielsweise die doch sonst so tüchtig 
redigierte liberale „Danziger Zeitung“ lut, indem sie meinte, dass Dr. Stille 
die betieffenden Verhältnisse in den Vereinigten Staaten „in recht origineller 
und anschaulicher Weise geschildert habe“. Dass in Bezug auf literarische 
und wissenschaftliche Bestrebungen unter den Deutschen der Vereinigten Staaten 
etwas mehr geschehen könnte, als in Wirklichkeit geschieht, mag ruhig zu¬ 
gegeben werden, aber von da an bis zu der Behauptung, dass .alle geistigen 
Bestrebungen unter den Deutschen Amerikas in Bier ersäuft würden“, ist denn 
doch noch ein himmelweiter Weg, den keck zu überspringen, nur jemand 
fertig bringen konnte, der es mit der Wahrheit nicht genau nimmt.“ 


„Eine bodenlose Gemeinheit und eine erstunkene Lüge des Herrn Dr. 
Weiner Stille ist es, wenn er frischweg behauptet „dass die deutschen Kinder 


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Besprechungen. 


in den Schulen der grossen amerikanischen Städte als etwas dumm gelten“. 


„Uebrigens sollte sich die gesamte deutsche Presse — soweit sie 
die Auslassungen Stilles kritiklos und widerspruchslos oder gar noch mit 
hämischer Schadenfreude nachgedruckt hat — ein wenig schämen, aber ja 
nicht zu wenig! Wenn man sich mit dem r Deutschtum im Auslande“ nicht 
anders befassen kann als es zu verleumden und zu blamieren, dann lasse man 
es lieber ganz in Ruhe !“ 

Die Redaktion bemerkt zu den im vorstehenden abgedruckten An¬ 
griffen deutschamerikanischer Zeitungen, dass es dem Herrn Dr. Stille 
durchaus fern lag, dem Deutschtum im Auslande Untugenden vor¬ 
werfen zu wollen, die dem Deutschtum im Inlande fremd sind. Ihm kam 
es lediglich darauf an, auf Grund 40 jähriger Anschauung einen Ver¬ 
gleich anzustellen zwischen den in den Vereinigten Staaten bei einander 
lebenden Amerikanern und Deutschen. Dass ein solcher Vergleich ge¬ 
rade in bezug auf den gewohnheitsmässigen Biergenuss und seine Folgen 
sehr zu Ungunsten der Deutschen ausfällt, ist doch wahrhaftig nichts 
neues. Wir erinnern nur an die berühmte, nunmehr bereits seit 30 
Jahren fortlaufend erhobene Krebsstatistik der Stadt Buffalo, welche er¬ 
gibt, dass die dortigen Deutschen verhältnismässig gerade 10 mal so 
häufig an Magenkrebs sterben als die in Buffalo lebenden ungefähr ebenso 
zahlreichen Amerikaner*), ein Unterschied, der von Statistikern und 
Aerzten lediglich auf den übermässigen Biergenuss der Deutschen Buffalos 
zurückgeführt wird. Dass der reichsdeutsche Bierdurst dem deutsch¬ 
amerikanischen wahrscheinlich nichts nachgibt, lehrt neben der Bier¬ 
konsum-Statistik das Urteil des Auslandes. In welchem französischen 
oder englischen Witzblatt würde denn der Deutsche anders dargestellt 
als mit aufgeschwemmtem Gesicht und dickem Bauch? Die zutreffen¬ 
den Bemerkungen Mrs. Anthony’s über das Aussehen der biertrinkenden 
Deutschen, deren Bekanntschaft ihr der Berliner Frauenkongress ver¬ 
schaffte, sind noch in frischer Erinnerung. Wegen dieser Bemer¬ 
kungen fiel man in Deutschland wie in der deutschen Presse Amerikas 
mit der ganzen Wut gereizter Alkoholiker über die ehrwürdige Vor¬ 
kämpferin idealer Bestrebungen her. Unser nicht minder ideal gesinnter 
bewährter Mitarbeiter Herr Dr. Stille kann sich also mit ihr trösten. 
Auch mit der Meinung, dass die Deutschen in den Vereinigten Staaten 
bei ihrem Materialismus aller höheren Interessen bar sind, steht er nicht 
vereinzelt da. Dr. Julius G o e b e 1 , Professor der deutschen Philologie 
und Literatur an der Hassford - Universität in Kalifornien, nennt sie 
»geistig tot« und »elende Knauser« im Vergleich zu den durch gross¬ 
artiges Bildungsstreben und fürstliche Freigebigkeit ausgezeichneten 
Amerikanern. (Goebel, das Deutschtum in den Vereinigten Staaten 
München 1904, J. F. Lehmann.) 


*) Third Annual Report of the New-York State Pathological Laboratory of 
the University of Buffalo. For tbe Year lyOO. Albany, James B. Lyon, State printer, 

1901. p. 116. 

Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. Viktor Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18. 
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18. 

Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul. 



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I. Abhandlungen. 




Alkoholsitte and Opinmsitte. 

Eine vergleichende Studie von Dr. med. A. Holitscher in Pirken- 

hammer bei Karlsbad. 


Die gegenwärtig noch sehr verbreiteten Vorurteile über 
den Alkohol sind etwa die folgenden: 1. Unschädlichkeit bei 
mässigem Genüsse; 2. Nützlichkeit als nährendes, wärmendes, 
kräftigendes Mittel; 3. Heilkraft bei allen möglichen Krankheiten, 
die ihn zu einem der weitverbreitetsten Hausmittel gemacht hat; 
4. Die Ansicht, dass seine Erzeugung aus volkswirtschaftlichen 
Gründen unentbehrlich sei und dass der allgemeine Wohlstand, 
Ackerbau und Industrie durch Abschaffung seines Genusses 
ungeheuer geschädigt würden. 

Würde man bei uns zu Lande irgend Jemandem, Arzt oder 
Laie, gebildet oder nicht, die Frage vorlegen, ob er Opium, 
mässig genossen, für einen unschädlichen Stoff halte, der kräftigt, 
nährt und verschiedene Krankheiten heilt, ob man es also der 
Bevölkerung frei zum Kaufe anbieten und als Hausmittel em¬ 
pfehlen solle, so würde er diese Frage für lächerlich und ganz 
undiskutierbar erklären und Opium als heftiges Gift in den 
Sperrschrank der Apotheke verweisen. Und doch denken ein 
paar Hundert Millionen Menschen, darunter sehr Hochstehende 
und Gebildete, vom Opium gerade so gut und so falsch wie die 
europäischen Kulturvölker vom Alkohol. 

In Indien wird, wie allgemein bekannt, seit Jahrhunderten 
dem Opiumgenusse gehuldigt. Ungeheure Bodenflächen stehen 
dort unter Mohnanbau und die englische Regierung bezieht aus 
dem von ihr monopolisierten Opiumhandel grosse Revenuen ; 

Die Alkoholfrage. 23 


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342 


Abhandlungen. 


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allerdings wird von dem gewonnenen Opium nur ein geringer 
Teil im Lande verbraucht, die bei weitem grössere Menge wird 
nach China exportiert. Es machte sich nun in England und 
Indien eine immer mächtiger werdende Partei geltend, die mit 
Rücksicht auf die ungeheuren Schäden des Opiumgenusses 
den Vertrieb für unmoralisch erklärte und von der englischen 
Regierung das Verbot des Mohnanbaues und der Opium- 
Fabrikation forderte. Das Ministerium, nichts weniger als geneigt 
dieser Forderung zu entsprechen, musste dennoch irgend etwas 
tun; und sie wählte das so beliebte Mittel des Komitees und der 
Enquete, um die Bewegung unschädlich zu machen. Im Jahre 
1893 wurde die sogenannte „königliche Opiumkommission“ nach 
Indien geschickt, welche 1895 den beiden Häusern des Parla¬ 
ments ihren Bericht erstattete ;>) er ist von acht Mitgliedern, 
darunter einem Arzte, Sir William Roberts 2 ) gezeichnet; ein Mit¬ 
glied, Mr. Henry Wilson, 8 ) gab ein dissentierendes Minoritäts¬ 
votum ab. 

Das Resultat der ganzen mit grossem Lärm in Szene ge¬ 
setzten Aktion war genau dasselbe, wie wenn die deutsche oder 
österreichische Regierung eine Enquete zur Prüfung der Frage 
ob Gründe für Verbot des Alkoholbetriebes vorhanden seien, 
einsetzte und die Mitglieder des Komitees nach Ermessen der 
Minister gewählt würden: es blieb alles beim Alten. Ja der Bericht 
kann als eine Ehrenrettung des Opiums bezeichnet werden, die 
nur durch das erwähnte Minoritätsvotum Mr. Wilsons etwas 


*) Report of the Royal Kommission on Opium, Vol. VI. Part. 1. London 1895. 
Ausser dem offiziellen Report of the royal Commission verdient noch*be¬ 
sondere Beachtung das motivierte Votum des Parlamentsmitgliedes H e n r y J. 
Wilson. Der vollständige Titel dieses kürzlich erschienenen Votums lautet 
folgendermassen: Royal Commission on Opium Minute of Dissent, presented 
by Mr. Henry J. Wilson M. P. with hir Notes. Momorandum on the 
Attitüde ot the Authorities in India and Protest against tseatmen of Native 
commissioners etc. Published for. The Society for the suppression of the 
Opium trade. Kinsburg House. Blomfield Sivers, London E. C. by P. S. 
King & Co. Pailiementary booksellers King Street Westminster. S. W. 
London 1895 Price one penny. 

2 ) Inzwischen gestorben. Er war Alkoholiker. 

3 ) Derselbe Henry Wilson, welcher so freundlich war, uns die in diesem 
Hefte an anderer Stelle abgedruckte interessante Beantwortung unseres 
Fragebogens einzusenden. (Die Redaktion.) 


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Holitscber, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


343 


verdunkelt wird. Von den einvernommenen 723 Zeugen und Sach¬ 
verständigen, welche sich über die gesamten, das Opium betreffen¬ 
den Verhältnisse äusserten, war die grosse Mehrzahl der festen 
Ueberzeugung, es sei für die indische Bevölkerung ganz un¬ 
entbehrlich und — mässig genossen — völlig unschädlich. 

Da uns natürlich die medizinische Seite der Frage vor 
allem interessiert, will ich mich auf die Besprechung des von 
Sir Roberts erstatteten Memorandums beschränken, der sein 
Urteil auf die Aussagen von 161 befragten, darunter 65 von der 
Regierung angestellten Aerzten stützt. Es wird ausdrücklich 
betont, dass die meisten von ihnen an englischen Universitäten 
studiert haben, sich grossen Ansehens erfreuten und wissen¬ 
schaftlich durchaus auf der Höhe der Zeit standen. Roberts 
unterscheidet eine doppelte Opiumwirkung: die narkotische und 
die euphorische; unter der letzteren versteht er eine er¬ 
frischende, restaurierende und belebende Einwirkung auf den 
Organismus, um welcher willen die Indier Opium geniessen. 
Er meint, dass die Empfänglichkeit für die narkotische Wirkung 
zwar weit verbreitet sei, nicht aber die für die euphorische und 
dass besonders die Europäer für letztere un- oder doch minder¬ 
empfindlich seien, sonst wäre nicht abzusehen, warum sie das 
Opium nicht ebenso gut nach Europa gebracht hätten wie den 
Tabak. 

Wir sehen, dass da beim Opium derselbe Missbrauch mit 
dem Begriffe „Euphorie" getrieben wird wie bei unserem 
Alkohol; die Wirkung wird in zwei Componenten zerlegt, von 
denen die narkotische als schädlich und unerwünscht betrachtet 
wird, während die andere belebend und erfrischend sein soll. 
Wir wissen aber heute, dass die sogenannte Alkoholeuphorie 
nichts anderes ist als der erste Grad von Narkose, und die 
leider bereits zahlreichen Erfahrungen bei Morphinisten haben 
gelehrt, dass auch bei ihnen die Wirkung eine ausschliesslich 
narkotische ist. Richtig ist allerdings, dass bei Organismen, 
welche an das Gift gewöhnt sind, das sogenannte Excitations- 
stadium länger und deutlicher ist. Kinder schlafen auf geringe 
Mengen Alkohol ein, ohne erregt gewesen zu sein, so auch der 
nicht an Opium gewöhnte Europäer auf kleine Dosen Opium 
oder Morphium; der Indier, der von Opiumgewöhnten Ascen- 
denten abstammt, der Morphinist, bekommt zuerst die „Euphorie", 


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344 


Abhandlungen. 


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d. h. dasjenige Stadium, in welchem nur gewisse regulative, hem¬ 
mende physische Funktionen, die Unlustgefühle, gelähmt, nar¬ 
kotisiert sind. — 

Ein sehr wesentlicher Unterschied besteht darin, dass der 
Indier fast nie vor dem 35. bis 40. Lebensjahre mit dem Opium- 
genusse beginnt, wenn die ersten Alterserscheinungen sich 
zeigen, was bei den Eingeborenen viel früher der Fall ist als 
bei den Europäern. Die Frage, warum der Opiumgenuss so 
spät beginnt, beantwortet sich durch dieselbe Erwägung, die 
auch die Antwort darauf erteilt, warum die indischen Frauen 
ebenso wenig und — im Verhältnis — selten Opium essen als 
die europäischen Bier und Schnaps trinken; es ist keineswegs 
konstitutionelle Differenz, wie Roberts meint, sondern lediglich 
Sitte, Gebrauch, Beispiel; sie sind die auf diesem Gebiete all¬ 
mächtigen und einzig wirklich massgebenden Faktoren. Man 
könnte freilich einwenden, dass die Sitte vielleicht auf tiefer 
liegenden Ursachen beruhe, die in der Natur der Rasse, des 
Geschlechtes, des Genussmittels liegen; aber eine kleine Ueber- 
legung lehrt, dass dies nicht der Fall ist. Die Frauen haben 
z. B. ganz allgemein geschnupft; lange Zeit war dann der Tabak¬ 
genuss bei den Frauen verpönt, heute raucht die Dame, die 
Frau aus dem Volke hält es für unschicklich — bei uns. Aber 
die spanische Fabrikarbeiterin raucht ihre Zigarette, die 
Zigeunerin, die wallachische Bäuerin ihre Pfeife. Der ganz 
willkürlich fortgesetzte Beginn des Opiumgenusses mit erreichter 
Höhe des Lebens lehrt uns aufs neue die Macht der Sitte, des 
Milieus erkennen und ist ein neuer Beweis für die Lehre, dass 
der Genuss der Narkotika durchaus kein Bedürfnis des Orga¬ 
nismus sondern nur ererbter und anerzogener Missbrauch ist, 
also durch Bekämpfung der Sitte behoben werden kann. — 
Man hält es in Indien für skandalös, wenn ein junger Mann 
Opium isst, und es gelten solche Jünglinge für Lumpen; un¬ 
gefähr so wie wenn bei uns eine Frau aus der Bourgeoisie 
Schnaps trinkt. 

Eine weitere Analogie mit unseren Trinkgebräuchen ist 
die Missachtung des Opiumrauchers durch den Opiumesser. 
In ganz Indien wird das Opium nur gegessen, bloss in den Hafen¬ 
städten gibt es Butiken, in denen es geraucht wird. In China 
hingegen ist das Rauchen zu Hause, und es ist nun interessant 



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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


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und pikant zu lesen, wie sich die Opiumesser über das schädliche, 
gefährliche, unmoralische und entwürdigende Rauchen entrüsten 
— es ist Einem, als hörte man Bierbrauer oder ihnen nahestehende 
Herren über das Schnapssaufen losziehen. Trotzdem aber in 
China von dem dort eingeführten Opium so sträflicher Gebrauch 
gemacht wird, konnte sich die Kommission nicht entschliessen, 
der englischen Regierung zum Verbote des Exportes zu raten 
bezw. mit Rücksicht auf die Kartoffel- — nein Mohnbauern, 
welche dadurch ruiniert würden, und dann auch deshalb, weil 
es ja doch nichts nützen und die Chinesen ihr Opium ganz ein¬ 
fach wo anders her beziehen würden. Wir gehen aber wohl 
nicht fehl, wenn wir den Antrag der Kommission, es möge 
alles so ziemlich beim Alten gelassen werden, hauptsächlich 
auf die 7 Millionen Rupien zurückführen — es sind das 14 °/ 0 
der gesamten Nettoeinnahmen Indiens — welche das Opium¬ 
monopol trägt. Wir erinnern uns dabei sofort an das Misstrauen 
unserer Finanzminister gegen alle Bestrebungen, welche geeignet 
sind, die Einnahmen aus der Trunksucht der Völker zu ver¬ 
ringern. — Die Gesamterzeugung betrug übrigens in Indien im 
Jahre 1892 12 Millionen englische Pfund, das sind ca 50,000 
Meterzentner, wobei das sehr bedeutende, sich jeder Schätzung 
entziehende hinterzogene Quantum unberücksichtigt bleibt. Hie¬ 
von werden nur etwa 8 °/ 0 im Lande konsumiert, alles andere 
geht nach China und in die Settlements. 

Mehr noch als bei uns zeigt sich der Einfluss der sozialen 
Stellung, jedoch in entgegengesetztem Sinne, da in den reicheren 
Provinzen der Konsum ein weit grösserer ist als in den armen. 
Der Gebrauch ist überhaupt in den verschiedenen Gebieten 
äusserst ungleich und schwankt zwischen 141 gran (ca 912 cgr.) 
in Assam bis zu 14 gran (ca 87 cgr.) in Madras (per Kopf und 
Jahr). Freilich sind diese und alle folgenden Ziffern mit noch 
viel grösserer Vorsicht aufzunehmen als die Alkoholkonsumziffern 
bei uns; denn erstens sind die Erhebungen in diesen Ländern 
an sich unzuverlässig und zweitens lässt sich Opium viel leichter 
schmuggeln und verbergen als die geistigen Getränke. Immerhin 
geht daraus hervor, dass die Schwankungen viel grösser sind 
als beim Alkoholgenusse. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass 
es sich um eine Bevölkerung von 212 Millionen Seelen handelt, 
also etwa soviel als Europa ohne Russland und die Balkanhalb- 


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Abhandlungen. 


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insei zählt. In manchen Provinzen bleibt ein sehr grosser Teil 
der männlichen Bevölkerung das ganze Leben hindurch Opium¬ 
abstinent ; dies erklärt sich durch religiöse Gründe. Die Moha- 
medaner sind stärkere Konsumenten, da ihnen der Koran zwar 
den Wein, nicht aber das Opium verbietet, während den Bud¬ 
dhisten auch dieses untersagt ist, was freilich nicht von allen, 
wohl aber von einigen Sekten sehr strenge befolgt wird. Auch 
besitzt die ganze Art des Opiumgenusses, der viel ruhiger und 
heimlicher auftritt, keineswegs die werbende Kraft wie unser Al¬ 
koholbetrieb und endlich ist ja der Handel staatlich monopolisiert, 
die Läden bedürfen der Konzession, es fällt also die so gefähr¬ 
liche Aneiferung durch das Kapital, die bei uns die Hauptschuld 
trägt, in Indien weg. Wenn also bei manchen Stämmen, wie 
bei den Mittirs 80—85 °/ 0 der Bevölkerung Opiumesser sind, bei 
anderen jedoch nur 7—8 %, so liegt die Sache ganz so wie 
bei uns, es ist lediglich Sitte und Beispiel massgebend, irgend 
welche sachliche Gründe sind nicht vorhanden, wenn der 
Kommissionsbericht sich auch — wie noch später zu berichten 
— bemüht, solche ausfindig zu machen. 

E r: (der Berichter) führt übrigens als Gründe für den Opium- 
genussinIndienan:dieallgemeineNeigung,Stimulantienzu nehmen, 
den Glauben an die medizinische Wirkung, die religiösen Zere¬ 
monien, die Stärke des Beispiels und der Mode — ich glaube 
nicht, dass es irgend welche andere Gründe für den Alkohol¬ 
genuss geben kann. Ausdrücklich wird konstatiert, dass der 
gewohnheitsmässige Gebrauch seit der Zeit datiert, in welcher 
die medizinische Anwendung begann. Es ist ja notorisch, dass 
auch die destillierten Getränke lange Zeit hindurch ausschliess¬ 
lich medizinisch verwendet wurden, und als Aqua vitae usw. 
hervorragenden Ruf als Heilmittel genossen, der heute noch von 
einem grossen Teile der Bevölkerung festgehalten wird. 

In Indien ist das Opium Hausmittel wie bei uns der Alkohol. 
Ich nehme wenigstens an, dass auch in anderen Ländern und bei 
anderen Völkern ähnliche Gebräuche herrschen wie in meiner 
Heimat, wo in den allermeisten Häusern grosse Flaschen mit 
sogenanntem „Ansatz“, nämlich in Spiritus gesetzten Früchten 
zu finden sind, welche bei allen möglichen grösseren und 
kleineren Beschwerden, Leiden, Krankheiten als erste Hilfe ver¬ 
wendet werden. Weiter wird Tee mit Rum, Kognak, Wermut- 



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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


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oder Bitterschnaps, endlich Bitterwein, Warmbier usw. häufig 
angewendet. Dieselbe Rolle spielt in Indien das Opium. Die 
Krankheiten, bei welchen die Eingeborenen es nehmen, sind: 
Rheumatismus, Diarrhöen, Dysenterie, Diabetes, Rückfallfieber, 
Neuralgien, Asthma, schmerzhafte Leiden aller Art. Der General¬ 
chirurg Rice sagt nach 34 jähriger Erfahrung,dass Rheumatismen, 
Neuralgien usw. unter den Einheimischen weit verbreitet sind 
und dass die Aerzte ihnen fast ausschliesslich Opium verschreiben, 
so dass sie es dann regelmässig nehmen müssen. Der Erfolg 
sei ein zauberhafter; ein Mann, der infolge der Schmerzen, 
die ihn unaufhörlich plagen, tatsächlich arbeitsunfähig ist, nimmt 
früh morgens ein viertel oder halbes gran Opium; in wenigen 
Minuten ist er ein anderer Mensch und kann sein Tagewerk 
vor sich bringen. Wer denkt da nicht an die Gliederschmerzen 
und die Bauchkrämpfe, welche unsere Schnapsbrüder jeden 
Morgen plagen, bis sie ihr Heilmittel im Leibe haben, worauf 
auch sie sofort andere Menschen werden. 

Der für uns interessanteste Punkt ist denn überhaupt die 
Ansicht der Aerzte über den therapeutischen Wert des Opiums. 
Bei uns herrscht diesbezüglich wohl ziemlich vollständige Ueber- 
einstimmung. Wir wissen, dass den Opiaten ausser schlaf¬ 
machender, schmerzstillender, beruhigender und lähmender 
Wirkung kein Einfluss auf die Funktionen zukommt, geschweige 
denn dass sie specifische Heilkraft besässen oder prophylaktischen 
Schutz entfalteten. Die Rosenbach’sche Theorie von der ener¬ 
getischen Wirksamkeit der Opiate widerspricht dieser Ansicht 
keineswegs; der von ihr supponierte „Reiz" auf die „wesentliche“ 
Arbeit ist nichts anderes als frei gewordene Energie, welche 
durch Herabsetzung i. e. Lähmung der „ausserwesentlichen“ 
Tätigkeit erspart worden ist. 

Anders in Indien, wo ein grosser Teil der Aerzte vom 
Opium viel ausgedehnteren und weitgehenderen Gebrauch macht. 
Am überraschendsten ist wohl die Anwendung des Opiums 
als Prophylaktikum und Heilmittel gegen Malaria. Es wäre gar 
nicht merkwürdig, wenn die Kranken, die Einheimischen dem 
Opium solche Kräfte zusprächen, denn warum soll eine ordent¬ 
liche Dosis Opium nicht ebenso gut über eine Wechselfieber¬ 
attaque hinweghelfen wie ein Glas Kognak über einen Influenza¬ 
anfall ? Wohl aber sind wir erstaunt zu vernehmen, dass auch 


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Abhandlungen. 


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die Aerzte das Opium dort als Malariamittel verwenden, einige 
es dem Chinin gleich, ja sogar darüberstellen. Als Erklärung 
für den merkwürdigen Widerspruch zwischen den Erfahrungen 
in Asien und Europa — da doch in occidentalischen Malaria¬ 
gebieten kein Mensch etwas von dieser Wirkung des Opiums 
weiss — wird der Unterschied in der chemischen Zusammen¬ 
setzung zwischen indischem und Smyrnaopium herangezogen; 
ersteres soll nämlich bedeutend ärmer an Morphium, hingegen 
weit reicher an Anarkotin sein, einem der ziemlich wertlosen 
Nebenalkaloide des Opiums, das von seinem Entdecken „Narkotin“ 
genannt, wegen Mangels an narkotischer Wirkung von den 
indischen Aerzten aber umgetauft wurde. Allein auch die mit 
diesem Stoffe angestellten Versuche haben — in Europa — 
seine völlige Wirkungslosigkeit gegen das Wechselfieber ergeben. 

Ich will auf die sonstige medizinische Verwendung nicht 
eingehen; das Gesagte genügt um zu erklären, dass sie es war, 
wie eine grosse Anzahl von Zeugen bestätigt hat, die dem 
Genüsse die Wege geebnet hat; unzweifelhaft ist einjgrosser 
Teil der herrschenden Vorurteile auf die ärztliche’Empfehlung 
zurückzuführen. So z. B. seine Anwendung bei ungewohnten 
und ausserordentlichen Anstrengungen. So wie bei uns der 
Alkohol heute noch bei solchen Anlässen von vielen Menschen 
in der Meinung genommen wird, dass er die Kräfte stimu¬ 
liere, geschieht es in Indien mit dem Opium. Freilich sind 
auch dort schon die meisten Leute, besonders solche, an deren 
Körperkräfte hohe Anforderungen gestellt werden, ebenso wie 
bei uns zur Ueberzeugung von der völligen Unrichtigkeit dieser 
Ansicht durchdrungen. 

Ueberraschend ist, dass das Opium in Indien auch als 
Ergänzung der Nahrung betrachtet wird und die Meinung herrscht, 
die Armen könnten bei schmaler Kost länger und .besser leben, 
wenn sie Opium dazu geniessen. Andererseits wird freilich 
auch behauptet, dass der Wohlhabende mit reichlicher Kost 
Opium straflos ertrage, der schlecht Genährte aber darunter 
leide. Wir finden also genau dieselbe Konfusion wie bei uns 
bezüglich des Alkohols; in dem Bemühen, den Genuss für Alle, 
ob arm oder reich, als zweckmässig und unschädlich hinzustellen, 
kommt man zu den widersprechendsten Behauptungen. Interessant 
genug ist, dass auch viele Aerzte die immerhin seltsame Ansicht 



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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


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von der nährenden und kräftigenden Wirkung des Opiums teilen 
und sogar durch physiologische Gründe zu erklären suchen. 
Natürlich ist das beim Opium nicht so leicht als beim Alkohol, 
der mit seinen sieben Kalorien zu Hilfe kommt. Es wird be¬ 
hauptet, dass durch die Verlangsamung der Verdauung, welche 
Opium erzeugt, die Nahrungsmittel besser ausgenützt werden 
und dass den Reisessern, welche zu Diarrhöen neigen, die 
gegenteilige Tendenz des Opiums von Nutzen sei. Ob Stoff¬ 
wechselversuche angestellt wurden, welche die erste Meinung 
stützen, weiss ich nicht, ich glaube aber nicht, dass es der Fall 
war; es wird wohl dieselbe Bewandtnis damit haben wie mit 
der digestiven Wirksamkeit des Alkohols; es gibt ja heute noch 
Menschen genug und selbst Aerzte, welche an die Verbesserung 
der Fettverdauung durch ihn glauben. Die antidiarrhöische 
Wirkung chronischen Opiumgenusses ist ganz sicher eine Fabel; 
im Gegenteile, durch die mit der Zeit eintretende Atoxie des 
Darmes kommt es zu habituellen Durchfällen mit dysenterischem 
Charakter. 

Was sagen aber die Wortführer des Alkohols, die seinen 
Brennwert nicht entbehren zu können glauben, dazu, dass man 
in Indien die Menschen mit ein paar Gran Opium nähren kann ? 

Bei uns. gilt Alkohol als das unschädlichste unter den 
giftigen Genussmitteln und es ist eine weitverbreitete Argu¬ 
mentation unserer Gegner — sie findet sich auch im Hueppe- 
schen Vortrage — die Alkoholabstinenz berge die Gefahr in 
sich, dass andere, noch gefährlichere Reizmittel an die Stelle 
treten. Es ist beinahe selbstverständlich, dass genau dieselben 
Gründe in Indien gegen das Opiumverbot ins Feld geführt 
werden und sich viele Zeugen deshalb dagegen aussprachen, 
weil dann die Ausbreitung des ungleich gefährlicheren Alkohol¬ 
genusses zu befürchten sei. Nun will ich nicht in Abrede stellen, 
dass beide Parteien recht haben dürften. Für das tropische 
Indien ist der Alkohol zweifellos noch weit gefährlicher als für 
uns; Klima sowohl als Nahrungsweise und vermutlich auch 
Rasse vermindern die Widerstandsfähigkeit ausserordentlich; 
ausserdem flösst der zu Unruhe und Exzessen führende Alkohol¬ 
rausch dem beschaulichen Indier Entsetzen ein, während das 
stumpfe Dahinbrüten des Opiumnarkotisierten ihm sympathisch 
ist. Andererseits ist das Opium bei uns wieder gefährlicher, 


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Abhandlungen. 


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weil es beim Europäer offenbar in weit höherem Prozentsätze 
Opiumsucht und das Bedürfnis nach fortwährendem Steigen mit 
der Dosis erzeugt und dadurch deletär wirkt. 

Aber nichtsdestoweniger leuchtet aus dieser Besorgnis vor 
dem anderen viel gefährlicheren und verabscheuungswürdigeren 
Gifte das Bestreben hervor, das einheimische Genussmittel zu 
rechtfertigen und seine Gefährlichkeit herabzusetzen. Es gilt dies 
in erster Linie von dem Einflüsse auf Gesundheit und Lebens¬ 
dauer. In Indien wird zwar zugegeben, dass der Genuss nicht 
selten zum Exzesse führe, dass dieser schade und dadurch viele 
Menschenleben verloren würden; andererseits wird behauptet, 
dass mässige Dosen die Gesundheit nicht nur nicht schädigen, 
sondern durch den Schutz, den sie gegen verschiedene Krank¬ 
heiten verleihen sollen, sogar stärken. Als „Beweis“ wurde 
der Kommission eine ganze Reihe von alten Opiumessern vor¬ 
geführt, die sich-der blühendsten Gesundheit erfreuten und das 
Resultat der Untersuchung einer weiteren Anzahl vorgelegt. 
Wer könnte noch an der Unschädlichkeit des Mittels zweifeln, 
wenn ein Arzt in Calcutta über 215 solche Mustergreise berichtet, 
von denen 52 zwischen 60 und 70, 18 zwischen 70 und 80, 
5 zwischen 80 und 90 Jahre zählten und einer sogar 106 Jahre 
alt starb, der 56 Jahre lang täglich 180 gran, d. i. ll 1 ^ Gramm 
gegessen hatte! Diese Demonstrationen ad oculos müssen doch 
wohl jedermann davon überzeugen, dass Opium so gut wie 
Alkohol ein Elixir zur Verlängerung des Lebens sei. Es gibt 
immer noch Menschen und selbst Aerzte genug, die sich durch 
solche Einzelfälle imponieren lassen. 

Der Beweis des Gegenteiles, d. h. der gesundheits¬ 
schädigenden und lebensverkürzenden Wirkung ist beim Opium 
natürlich noch viel schwerer zu erbringen als beim Alkohol. 
Erstens deshalb weil es in Indien an den notwendigen statisti¬ 
schen Behelfen begreiflicher W eise fehlt, wie sie uns die Lebens¬ 
versicherungsgesellschaften und Krankenkassen in England zur 
Verfügung stellen, dann aber auch aus dem Grunde, weil es 
anatomisch nachweisbare Organveränderungen nach 
Opiummissbrauch nicht gibt; es fehlen die Opiumkrankheiten, 
welche man den zahlreichen und wohlcharakterisierten Alkohol¬ 
krankheiten an die Seite setzen könnte. Damit soll natürlich 
nicht gesagt sein, dass das Opium nicht sehr schädlich für den 



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Holitscber, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


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Organismus ist; aber die Schädigung gibt sich durch allgemeine 
und vieldeutige Symptome, durch Diarrhöen, Appetit- und 
Schlaflosigkeit, Abmagerung, körperlichen und geistigen Ver¬ 
fall zu erkennen, die durch vorzeitigen Marasmus dem Leben 
ein Ende setzen. Da die Malaria in vielen Gegenden Indiens 
ausserordentlich häufig ist, Milztumoren daher zu den regel¬ 
mässigen Befunden bei den Autopsieen gehören, so wird die 
Entscheidung, ob der Tod durch Malaria, Dysenterie oder Opium 
herbeigeführt worden ist, in vielen Fällen gar nicht zu treffen 
sein. Sicherlich liegt die Hauptgefahr des Opiums ebenso wie 
die des Alkohols weit weniger in den direkt verschuldeten 
Krankheits- und Todesfällen als vielmehr in der Herabsetzung 
der Widerstandsfähigkeit gegen andere Krankheiten. Die 
indischen Lebensversicherungsgesellschaften haben es übrigens 
nicht für notwendig gefunden, die Prämie für mässige Opium¬ 
esser zu erhöhen, sie nehmen sie zu gleichen Bedingungen auf 
wie Opiumabstinenten. Natürlich beweist das gar nichts; alle 
kontinentalen Gesellschaften mit sehr wenig Ausnahmen ver¬ 
sichern mässige Alkoholkonsumenten zu denselben Sätzen wie 
Abstinenten, obwohl die bedeutend bessere Lebenserwartung 
der Letzteren ja durch die Erfahrung in England klar bewiesen 
ist. Die Abstinenten müssen eben das höhere Risiko der Trinker 
mit bezahlen. Einen noch so mässigen Opiumesser oder Mor¬ 
phinisten würden unsere Anstalten unzweifelhaft entweder ganz 
zurückweisen oder doch in höhere Prämienklassen einreihen. 
Diese Analogie zwischen den Verhältnissen in Indien und bei 
uns lehrt uns abermals überzeugend, wie gross die suggestive 
Kraft der allgemeinen Volksmeinung ist; selbst die gewiss vor¬ 
sichtigen, gerechten und genauen Berechnungen der Assekuranz¬ 
gesellschaften werden durch sie beeinflusst. 

Da also alle statistischen und pathologisch-anatomischen 
Beweismittel im Stiche lassen, sind wir ausschliesslich auf die 
Erfahrungen der Aerzte angewiesen, um die Frage nach dem 
Einflüsse des Opiums auf Gesundheit und Lebensdauer zu be¬ 
antworten und die sind genau so widerspruchsvoll wie die 
unserer einheimischen Kollegen bezüglich des Alkohols. Während 
die Einen jede Schädigung rundweg in Abrede stellen, selbst 
den unmässigen Genuss für ungefährlich und jedenfalls weit 
harmloser halten als die Trunksucht, erklären Andere, dass es 


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Abhandlungen. 


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selbst in mässigen Dosen die Verdauung störe, den Appetit so 
sehr vermindere, dass die Leute fast gar nichts essen, die Körper¬ 
kräfte herabsetze, schläfrig und hinfällig mache, den Schlaf 
schädige, zur Nervosität disponiere, die Neigung zu anderen 
Krankheiten erhöhe. Unzweifelhaft ist die individuelle Kraft, dem 
aufgenommenen Gifte zu widerstehen, beim Opium ebenso 
wechselnd wie beim Alkohol und es lassen sich dadurch 
die verschiedenen Ansichten der Beobachter leicht erklären. 
Wir sind gewiss alle weit entfernt davon, die Tatsache der 
Toleranz in Abrede stellen zu wollen; wohl aber müssen wir 
uns dagegen verwahren, dass man — und das geschieht 
beim Alkohol täglich — mit der Toleranz eines nicht unbe¬ 
deutenden Teiles der Menschen die Ungiftigkeit beweisen zu 
können glaubt. Leuten, die das unternehmen, kann man als 
besten Gegenbeweis das Opium entgegenhalten, dessen Giftig¬ 
keit bei uns Niemand in Zweifel zieht; und doch sind nicht 
einmal die Aerzte darüber im Reinen, ob sein Genuss schadet 
oder nicht. 

Das allerdrastischste Faktum ist in dieser Hinsicht wohl 
die Verabreichung des Opiums bei Kindern. Fast alle Kinder 
der Eingeborenen erhalten in Indien von der Geburt oder den 
ersten Lebenswochen an bis in das dritte oder vierte Lebens¬ 
jahr Opium; die Dose steigt von Viei V12 bis auf ein halbes 
gran, nicht selten aber sogar auf 1—2 gran täglich. Die Mütter 
geben den Kindern ein stecknadelkopfgrosses Stück rohen 
Opiums, gewöhnlich früh und abends oder sie mischen es unter 
die Milch oder sie reiben sich, wenn sie stillen, die Brustwarzen 
damit ein; in Bombay werden meistens die „childrens pill“ oder 
„bala-golis“ verwendet, die von der Monopolverwaltung eigens 
zu diesem Zwecke hergestellt werden, der beste Beweis, dass 
es sich um keine versteckte Unsitte, sondern um einen an¬ 
erkannten Gebrauch handelt. 

Der ursprüngliche Zweck, das wird zugegeben, war die 
Absicht, schreiende Kinder zu beruhigen, um den anderweitig 
beschäftigten Müttern zu ermöglichen, ihre Arbeit zu verrichten, 
also derselbe Vorgang, den wir auch bei uns hier und da treffen, 
wenn Frauen aus dem Volke den Kindern Mohnabsud oder 
Branntwein reichen. In Indien aber ist der Brauch allgemein 
geworden und auch in die Häuser der Wohlhabenden gedrungen; 



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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


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man hält ihn für unentbehrlich; er ist schon Jahrhunderte alt 
und wir können uns vorstellen, mit welcher Hartnäckigkeit in¬ 
dische Hebammen, Grossmütter, Basen und Gevatterinnen an 
ihm festhalten werden; sehen wir ja tagtäglich in unserer 
Praxis, mit welchem Fanatismus gerade bei der Pflege und 
Ernährung des Säuglings diese inappelablen Instanzen die un¬ 
glaublichsten Torheiten verteidigen. 

Was uns aber in Erstaunen versetzen muss, ist die Wärme, 
mit der sich selbst viele Aerzte für diese nach unserer Auf¬ 
fassung beinahe verbrecherische Anwendung des Opiums ein- 
setzen. Nicht als ob Einstimmigkeit darüber herrschte; von 
84 Mitgliedern der Grant College Medical Society in Bombay 
sprachen sich 27 dafür, 30 dagegen aus, 25 gaben keine, 2 eine 
unbestimmte Antwort ab. Trotzdem lautet das vor der Kom¬ 
mission auf Grund der Sachverständigeneinvernahme abgegebene 
Gutachten durchaus günstig. Der Bericht des ärztlichen Mit¬ 
gliedes Sir William Roberts ist so charakteristisch, dass ich mir 
nicht versagen kann, einige Zeilen daraus hierherzusetzen. Er sagt 
unter anderem: „Es ist schwer zu glauben, dass ein sich über 
alle Schichten der Gesellschaft erstreckender und unter der 
unmittelbaren Ueberwachung des aufmerksamen mütterlichen 
Instinktes angewendeter Gebrauch sich so lange erhalten haben 
könnte, wenn er im Ganzen und in irgend merkbarer Ausdehnung 
schädlich wäre .... Die allgemeine Ansicht der Mitglieder des 
indischen Aerztestandes, welche Gelegenheit hatten, die Folgen 
des Gebrauches zu beobachten, war die, dass er im allgemeinen 
harmlos und sogar manchesmal wohltätig sei.“ Finden wir nicht 
dieselbe wirklich bestechende Argumentation von unzähligen 
Alkoholverteidigern angewendet?“ Heisst es da nicht auch: „es 
ist unmöglich, dass der Alkohol so schädlich wirkt, sonst hätten 
es die Menschen schon länger bemerkt und sich von ihm ab¬ 
gewendet! Man kann, glaube ich, gar kein schlagenderes 
Beweismittel dafür finden, auf welche Abwege die Sitte geraten, 
wie hartnäckig ein evident schädlicher, durch garnichts zu recht¬ 
fertigender Missbrauch werden kann, als diese von Arm und 
Reich gepflegte, von den Aerzten sanktionierte Opiumdarreichung 
an kleine Kinder in Indien. Sie ist das klassische Beispiel dafür, 
dass alles, sei es auch noch so zwecklos, töricht, schädlich und 
gefährlich, durch das Alter eine derartige suggestive Macht 


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Abhandlungen. 


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erlangt, dass es nur mit den grössten Schwierigkeiten besiegt 
werden kann. Es gibt genug solcher Gebräuche unter dem 
Volke; diejenigen, an denen auch die gebildeten Stände teil¬ 
nehmen, sind natürlich am festesten bewurzelt und geradezu 
sakrosankt. 

Der Genuss narkotischer Mittel gehört dazu. Man macht 
von abstinenter Seite, und gewiss nicht mit Unrecht, auf die 
Trübung der Unbefangenheit des Urteiles durch den Genuss 
selbst aufmerksam und meint, dass die Voreingenommenheit zu 
Gunsten des Alkohols bei sehr vielen von ihrem eigenen 
Genüsse herrühre; sie verteidigen ihr eigenes, ihnen unentbehr¬ 
lich scheinendes Bedürfnis. Wir dürfen, wie mir scheint, aus 
der Begeisterung, mit welcher sich viele ärztliche und nicht¬ 
ärztliche Zeugen für das Opium bei Kindern aussprechen, wohl 
den Schluss ziehen, dass die Betonung dieses Momentes gar 
nicht notwendig ist; denn die englischen Aerzte und Beamten, 
welche in Indien vernommen wurden, waren wohl keine Opium¬ 
esser, standen persönlich also nicht unter der Einwirkung des 
Narkotikums. Durch ihren Mund sprach bloss die ausser¬ 
ordentliche suggestive Kraft, welche jeder Jahrhunderte alten, 
ein ganzes Volk beherrschenden, durch Generationen ver¬ 
erbten, von Kindheit an dem Individuum eingeprägten Idee 
innewohnt, auch dann innewohnt, wenn sie ganz bestimmt und 
zweifellos nur schlecht ist und keinerlei gute Eigenschaften 
hat, gut freilich nicht vom persönlichen, individuellen, sondern 
vom gesellschaftlichen, vom Rassenstandpunkte aus zu nehmen. 
Je älter die Sitte, desto schwieriger ihre Bekämpfung. ■ 

Für uns liegt darin natürlich keine Entmutigung, sondern 
im Gegenteile Aneiferung; ein Beweis mehr für unsere Ansicht, 
dass die Folgerung der Alkoholfreunde: Der Alkoholbetrieb 
muss gut sein, weil er schon so alt ist, auf durchaus falscher 
Praemisse beruht. Die Tatsache, dass der Opiumgenuss nicht 
nur von ein paar hundert Millionen Menschen anderen Stammes 
und anderer Kultur, sondern auch von den Europäern, welche 
unter diesen Menschen leben, mit ganz denselben Gründen 
verteidigt wird, wie der Alkoholgenuss bei uns, trotzdem dem 
Opium alle die scheinbaren Vorteile vollständig abgehen, die 
dem Alkohol zu gute kommen, lehrt uns aufs neue, dass 
einzig und allein die narkotische Wirkung gesucht wird; denn 



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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte. 


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sie allein ist den beiden sonst so verschiedenen Stoffen gemein¬ 
sam. Bei uns zu Lande zweifelt kein Mensch daran, dass Opium 
ein heftiges Gift ist, dessen gewohnheitsmässiger Genuss un. 
bedingt schadet; es wird auf denkende Menschen, die sich von 
der Richtigkeit unserer Grundsätze bisher noch nicht überzeugen 
lassen wollten, nicht ohne Eindruck bleiben, wenn sie ver¬ 
nehmen, dass in einem fernen Lande aufgeklärte und vorurteils¬ 
freie Männer diesem Gifte die glänzendsten Eigenschaften nach¬ 
rühmen, aus keinem anderen Grunde, als weil das Volk, unter 
welchem sie leben, ihnen diesen Glauben suggeriert; vielleicht 
lernen sie dadurch einsehen, dass ein ganz analoger Prozess 
sich im Occidente bezüglich des Alkohols abspielt; und darum 
glaubte ich durch diese Nebeneinanderstellung unserer Sache 
einen kleinen Dienst erwiesen zu haben. 


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Abhandlungen. 


Landesversicherungsanstalt nnd Alkohol- 

bekämpfung. 

Vom Landes versicherungsrat Hansen in Kiel.*) 


Nicht lange mehr wird es dauern bis die ersten anderthalb 
Jahrzehnte seit dem Inkrafttreten des Invaliditäts- und Alters¬ 
versicherungsgesetzes vom 22. Juni 1889 verflossen sind. Dieses 
durch das Invalidenversicherungsgesetz vom 1?. Juli 1899 — man 
möchte sagen in neuer, verbesserter und erweiterter Auflage — 
ersetzte Reichsgesetz berührt die allerweitesten Kreise des 
deutschen Volkes. Nicht weniger als zwölf Millionen Arbeiter 
und auch Millionen von Arbeitgebern stehen mit seinen Vor¬ 
schriften in unmittelbarem Zusammenhang. Trotzdem lässt sich 
nicht behaupten, dass das Gesetz in allen seinen wichtigen 
Einzelheiten in den beteiligten Kreisen hinlänglich bekannt ge¬ 
worden ist und gewürdigt wird. Aber eine Tatsache ist doch 
mehr und mehr in das Bewusstsein der Bevölkerung über¬ 
gegangen, diejenige, dass auf Grund des Invalidenversicherungs¬ 
gesetzes nicht nur Invaliden- und Altersrenten gewährt werden, 
sondern auch eine ausgedehnte Heilfürsorge geübt wird. 
Die letztere Tätigkeit der mit der Durchführung des Gesetzes 
beauftragten Selbstverwaltungskörper, der Landesversicherungs¬ 
anstalten, beruht auf dem § 18 des Invalidenversicherungsgesetzes. 
In diesem Paragraphen wird den Versicherungsanstalten die 
Befugnis erteilt, bei Versicherten, die dergestalt erkrankt sind, 


*) Vortrag, gehalten in der Jahresversammlung des schleswig-holsteinischen 
Bezirks Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke zu Preetz am 18. November 1904. 


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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 


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dass als Folge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen 
ist, welche den Anspruch auf reichsgesetzliche Invalidenrente 
begründet, zur Abwehr dieses Nachteils ein Heilverfahren in 
dem ihnen geeignet erscheinenden Umfange eintreten zu lassen. 

Ebensowenig wie der Verfasser des Gesetzentwurfes wird 
wohl der Reichstag bei Beratung der wenigen Sätze, aus denen 
der frühere § 12 und der jetzige § 18 des Gesetzes besteht, 
vorausgesehen haben, zu welcher Bedeutung der Inhalt dieser 
Bestimmung im Laufe der Zeit herauswachsen sollte. In ihm 
haben wir die Grundlage vor uns für die mehr oder minder 
mannigfaltigen und weitreichenden Massnahmen der Landes¬ 
versicherungsanstalten, die als vorbeugende Tätigkeit 
gegen den Eintritt von Invalidität zu nennen sind, und die auch 
zur Beseitigung bereits vorhandener, aber vor¬ 
aussichtlich noch wieder zu bannender Erwerbs¬ 
unfähigkeit angewendet werden. 

Eine Ziffer schon kann zeigen, welche gewaltigen finan¬ 
ziellen Opfer auf diesem Gebiete gebracht werden. Im Jahre 1902 
haben die 31 Landesversicherungsanstalten im Deutschen Reiche 
als Kosten des Heilverfahrens die Summe von 8 570000 Mk. 
verausgabt. Gegen sehr viele Krankheitszustände hat man den 
Kampf aufgenommen. Immer mehr ist dem Worte gemäss ver¬ 
fahren worden, dass die beste Rente für einen durch Krankheit 
oder Siechtum arbeitsunfähig Gewordenen die wiederher¬ 
gestellte Erwerbsfähigkeit bildet. Vor allem gilt dies, 
wenn man es mit dem Ernährer einer Familie zu tun hat. 

Einen breiten Raum in der Arbeit der Landesversicherungs¬ 
anstalten auf dem Gebiete der Heilfürsorge nimmt die Be¬ 
kämpfung der Lungenerkrankungen, der Schwindsucht, 
der Tuberkulose in ihren verschiedenen Formen ein. Die ganze 
Heilstättenbewegung, nahezu in allen Teilen des Deutschen 
Reiches, hat hier ihren Ausgangs- und Stützpunkt. Es ist eine 
allgemein feststehende Tatsache, dass Deutschland in der Arbeit 
zur Unterdrückung jener verheerenden Volksseuche, die alljähr¬ 
lich Hunderttausende — vielfach im besten Lebensalter — hin¬ 
wegrafft, unter sämtlichen Kulturnationen voransteht. Ohne 
unsere Invalidenversicherung, ohne das Eingreifen der Landes¬ 
versicherungsanstalten, ohne die Opfer, welche von dieser Seite 
geleistet werden, wäre jene grosse Bewegung völlig undenkbar. 

Die Alkoholfrage. 24 


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Abhandlungen. 


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Von der Summe, die wir vorhin nannten, wird sicherlich der 
überwiegende Anteil gegen die Lungenerkrankungen in den 
nach dem Invalidenversicherungsgesetz versicherten Bevölke¬ 
rungskreisen verwendet worden sein. 

Auch die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein 
ist in solchem Bemühen nicht zurückgeblieben. Freilich hat sie 
keine erheblichen Gelder in grossen Sanatorien, Pflegestationen 
oder dergl. festgelegt — sie ist in der glücklichen Lage ge¬ 
wesen, bereits vorhandene, für die Zwecke geeignete oder doch 
mit geringen Unkosten brauchbar zu gestaltende Einrichtungen 
benutzen zu können. Wie sehr sie aber den sonst an sie heran¬ 
getretenen Bedürfnissen entgegen gekommen ist, mag die folgende 
Zahlenreihe ersichtlich machen, welche die Gesamtausgabe 


dieser Versicherungsanstalt an 

Heilkosten wiedergibt 

1892: Mk. 

2398 

1898: Mk. 102 076 

1893: „ 

2942 

1899: „ 105 216 

1894: „ 

6736 

1900: „ 129 998 

1895: „ 

11789 

1901: „ 146167 

1896: „ 

31 748 

1902: „ 163 240 

1897: „ * 

78 450 

1903: „ 161180 


Wenn man nun berücksichtigt, dass von den Ausgaben 
in den beiden letzten Jahren 48 394 Mk. bezw. 68 916 Mk. auf 
die Behandlung von Lungenkranken entfallen sind, so erhellt 
schon daraus, welche Rolle im Bezirk der Landesversicherungs¬ 
anstalt Schleswig-Holstein die Lungenerkrankung oder die 
Schwindsucht spielt. Auch in unserer engeren Heimat gehört 
sie zu den Würgengeln der Menschheit. Die Krankheitsursachen 
sind offenbar mancherlei Art; sie liegen keineswegs nur in den 
Einwirkungen der Berufsarbeit, obgleich diese von wesentlichem 
Einfluss sein mögen. Die Schwindsucht verschont keinen Stand, 
sie herrscht unter der städtischen wie unter der ländlichen Be¬ 
völkerung : sie liebt auch bei uns gerade das sog. bessere Lebens¬ 
alter auszusuchen, um ihre Macht zu zeigen. 

Aber die Schwindsucht ist nur eine der verhängnisvollen 
Volkskrankheiten, gegen welche sich die moderne ärztliche 
Erkenntnis und Kunst, die praktische Tätigkeit in Heilstätten 
und die Aufklärungsarbeit in den weitesten Volksschichten 
richten. Neben der Schwindsucht gibt es andere, gleich gefahr- 


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Hansen, Landesversicberungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 


359 


drohende Feinde der Menschheit, die nicht minder energisch 
Zurückdrängung erheischen. Und da ist in erster Linie der 
Alkoholismus zu erwähnen. Durch dieses Wort bezeichnen 
wir die Folgen, die aus dem weit verbreiteten Gebrauch, 
namentlich aus dem Missbrauch und übermässigen Genuss 
geistiger, alkoholischer Getränke entstehen. Es ist keine neue 
Zahl, die ich vorführe, wenn ich sage, dass in Deutschland 
nach sorgfältiger Berechnung und Schätzung alljährlich drei 
Milliarden Mark für alkoholische Getränke, für 
Wein, Bier, Branntwein usw. verausgabt werden. 
Für dieses ungeheure Kapital erwirbt sich das deutsche Volk 
eine Summe von physischem Elend, von sittlicher Schädigung 
und wirtschaftlichem Jammer, deren Umfang sich weder über¬ 
schauen noch schildern lässt. Die Folgen des Alkoholverbrauchs, 
den wir in jener gigantischen Zahl vor uns haben, wirken wie 
ein entsetzlicher Hemmschuh an der Aufwärtsbewegung, an der 
Zukunft des deutschen Volkes; sie lassen ihre verheerenden 
Spuren auf allen Gebieten offenbar werden. In diesem Augen¬ 
blick wollen wir sie aber nur als die grossen Erzeuger von 
Krankheiten, körperlichen, seelischen und geistigen Krank¬ 
heiten betrachten. Ihre Wirkungen kann man in doppelter 
Weise wahrnehmen: einesteils besorgt der Alkoholismus ganz 
direkt, anscheinend ohne jede weitere Beihilfe, sein verhängnis¬ 
volles Werk, indem er die stärksten, physischen wie intellek¬ 
tuellen Kräfte mit seinen Einflüssen zerreibt urd zerbricht; 
anderenteils — und zwar zumeist — wirkt er bei andern 
Schwächezuständen eines menschlichen Organismus mit und 
in diesen Fällen ist seine Arbeit eine noch leichtere, schneller 
zum Ziele führende. Die Landesversicherungsanstalten können 
bei sorgsamer Prüfung aller der Umstände, welche als die 
Krankheitsursachen bei den alljährlich an sie herantretenden 
Tausenden und Abertausenden von Invaliditätsfällen anzu¬ 
sehen sind, nicht verkennen, dass der Alkoholismus unendlich 
oft hier unmittelbar oder mittelbar als bedeutsamer Faktor 
in Betracht kommt. Die Aerzte bestätigen, dass in überaus 
vielen Fällen das körperliche Siechtum der Invalidenrenten- 
ansprecher und der Heilungsbedürftigen auf eigenen Alkohol¬ 
genuss oder schon auf die Sünden der Väter in diesem 
Punkte zurückzuführen ist. Und wie oft stehen mangelhafte 

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360 


Abhandlungen. 


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Ernährung, schlechte Wohnungsverhältnisse, unzulängliche Pflege 
usw. ebenfalls mit dem Alkoholismus in nahem Zusammenhänge! 

Vielfach wird das Alles offen in den ärztlichen Erklärungen 
ausgesprochen, weit häufiger aber liest man’s zwischen den Zeilen. 

Die Landesversicherungsanstalten können trotz des un¬ 
zweifelhaft vorhandenen, weitverbreiteten Notstandes aber freilich 
nur selten eingreifen. Lungenkranke, Rheumatiker, Augenkranke 
usw. sind bemüht, die Fürsorge der Versicherungsanstalt in 
Anspruch zu nehmen; sie melden «ich, sobald ihr Zustand einen 
gewissen sie beunruhigenden Charakter angenommen hat. Aber 
die Alkoholiker kommen ganz ausnahmsweise von selbst an die 
Anstalt heran. Ist ihr Zustand durch andere Krankheitsursachen 
mit bedingt, so werden sie den von ihnen gepflegten Alkohol¬ 
genuss kaum jemals als mit im Spiele befindlich angeben. Und 
nimmt die Wirkung der Trunksucht in dem Masse überhand, 
dass sie eine besondere Behandlung — in einer Trinkerheil¬ 
anstalt — erforderlich macht, so wird der Kranke der Regel 
nach nur auf Eingreifen der Angehörigen einem Heilverfahren 
sich unterziehen. Tatsächlich können nur die zuletzt erwähnten 
Fälle für eine Behandlung in Frage kommen. Hat man es mit 
Lungen-, Herz- oder Nierenkranken, mit an Rheumatismus, 
Venenentzündung oder dergl. Erkrankten zu tun, die gleichzeitig 
unter dem Einflüsse des Alkohols stehen, so sind 
dies fast immer Kranke, die keinerlei Heilstätten-, Krankenhaus-, 
Bäder- oder häuslicher Behandlung zugängig sind. Einerseits 
werden die Aussichten des Heilverfahrens bei solchen Personen 
sehr zweifelhaft erscheinen, andererseits passen sie aus Gründen 
der Disziplin in eine gewöhnliche Heilanstalt nicht hinein. Ja, 
es ist ein feststehender Grundsatz bei den Landesversicherungs¬ 
anstalten, — insbesondere auch der Anstalt Schleswig-Holstein 
— dass diejenigen Kranken, die ihrer Neigung zum Alkohol¬ 
genuss keine Zügel anzulegen vermögen, gleich von vornherein 
von der Aufnahme in Heilbehandlung ausgeschlossen oder, sobald 
Zuwiderhandlungen gegen die erlassenen Verbote stattfinden, 
rücksichtslos zur Entlassung gebracht werden. 

Es bleiben demnach die eigentlichen Trunkfälligen übrig, 
für welche eine gesonderte Kur in einer Trinkerheil¬ 
stätte das gegebene und einzig mögliche Mittel ist. Manche 
Versicherungsanstalten lehnen die Fürsorge auch in solchen 



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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 


361 


Fällen ab. Die Versicherungsanstalt Schleswig-Holstein hat es 
sich jedoch zur Aufgabe gestellt, unter der Voraussetzung, 

1. dass auch die sonst bei Heilfürsorgeanträgen einzu¬ 
haltenden Bedingungen (Beitragsleistung durch die 
Quittungskarten etc.) erfüllt werden können ; 

2. dass der behandelnde Arzt und der Vertrauensarzt der 
Versicherungsanstalt auf Grund des allgemeinen Kräfte¬ 
zustandes, des Alters, der Dauer der Erkrankung u. a. m. 
eine Wiederherstellung als wahrscheinlich bezeichnen; 

3. dass der Betreffende sich mit einer längeren (mindestens 

6 Monate währenden) Behandlung einverstanden erklärt, 
auch bei Trunkfälligen das Heilverfahren zu übernehmen. Zu 
diesem Zwecke wird die innerhalb der Provinz Schleswig-Hol¬ 
stein bestehende, von dem Landesverein für innere Mission ins 
Leben gerufene Trinkerheilanstalt Salem bei Rick- 
1 i n g benutzt. 

Seit dem Jahre 1899 sind in dieser Hinsicht Versuche ge¬ 
macht worden. Die Zahl dieser Versuche ist aus dem Grunde, 
der vorhin angedeutet wurde, gering geblieben. Aber doch 
genügt sie, um einige feststehende Tatsachen erkennen zu lassen. 

Darüber sei Nachstehendes gesagt: 

1. Die Anstaltsbehandlung ist, bei verständnisvollem Zu¬ 
sammenwirken von Arzt und Seelsorger, im allgemeinen 
eine durchaus angemessene; sie allein verspricht manchmal 
noch Nutzen, wenn alle andern Mittel und Wege zur 
Abkehr vom Alkoholgebrauch vergeblich gewesen sind. 

2. Die Behandlung muss wenigstens sechs Monate dauern, 
lieber noch auf eine längere Zeit, bis zu einem Jahre 
erstreckt werden, falls die Verhältnisse des Behandelten 
und seiner Familie solches gestatten. 

3. Der Erfolg der Behandlung ist allein darin begründet, 
dass neben der regelmässigen Arbeit eine absolute Ent¬ 
ziehung des Alkohols eintritt und dass auch nach der 
Entlassung die vollständige Enthaltsamkeit von dem 
Betreffenden beobachtet wird. 

4. Die Enthaltsamkeit wird der Regel nach nur dann sicher 
zu stellen sein, wenn es zu einem Anschluss an das Blaue 
Kreuz oder an eine Guttempler-Verbindung (Loge) kommt, 


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Abhandlungen. 


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Hierzu ist folgendes zu bemerken: 

Der längere Aufenthalt in der Anstalt wird einem Familien¬ 
vater dadurch wesentlich erleichtert, dass während seiner Ab¬ 
wesenheit den Angehörigen in dem gleichen Umfange eine fort¬ 
laufende Unterstützung gewährt wird, wie den Familienmitgliedern 
aller sonst in Heilbehandlung genommenen Personen. Die Ver¬ 
sicherungsanstalt Schleswig-Holstein leistet eine wöchentliche 
Beihilfe zum Unterhalt in Höhe von 50 °/ 0 des dem Manne zu¬ 
stehenden Krankengeldes für die Ehefrau und 10% für jedes 
Kind bis zu 150 % des Gesamtbetrages der Krankenunterstützung 
oder einen entsprechenden Satz des ortsüblichen Tagelohnes. 

Fast immer verlassen die Kranken nach beendeter Kur die 
Heilstätte mit dem festen Entschluss, sich hinfort vom Alkohol 
völlig fern zu halten. Sie kennen oder ahnen die Gefahren, 
die auch nur der bescheidenste Genuss mit sich führt. Dennoch 
straucheln gar viele. Und wodurch geschieht dies? Es gibt 
keine ärgere Versuchung für den geheilten oder geheilt er¬ 
scheinenden Alkoholkranken als dessen alte Umgebung, seine 
Arbeitsstätte, seine guten Freunde und Kameraden. Nichts be- 
trübenderes kann es geben, als die so häufig zu machende 
Wahrnehmung, wie einem armen Arbeiter, der sich den Fesseln 
des Trinklasters vorübergehend entwunden hat, die Aufrecht¬ 
erhaltung des Entschlusses, dem Alkohol zu entsagen, von 
seiner Umgebung schwer gemacht wird. Da weiss oder achtet 
man nicht, was auf dem Spiele steht, wie der andere für seine 
Person, für Familie, für seine Ehre und Existenz ringt und wie 
ein Rückfall in die alte unselige Leidenschaft alles gefährdet, 
was sorgsam und so schwierig aufgebaut worden ist. Gelingt 
es, ihn zu Falle zu bringen, so gilt das als eine Art von Helden¬ 
tat, auf die man sich noch etwas einbildet. Ja, wenn wir doch 
ein Mittel hätten, diese unheilvollen Einflüsse abzuwehren! 
Wie viel leichter würde dann der Erfolg, wie viel grösser der 
Segen sein, der aus der Arbeit der Trinkerheilung hervor¬ 
wachsen könnte. 

Die Landesversicherungsanstalt vermag nach der Ent¬ 
lassung der Betreffenden nur weniges für sie zu tun. Sie ist 
bemüht, die Bestrebungen der Verwaltung der Trinkerheilstätte, 
den ins Leben Zurücktretenden zum Anschluss an eine Ver¬ 
einigung, welche die Grundsätze der Enthaltsamkeit streng durch- 



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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 


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führt, zu bewegen, nach Kräften zu fördern. Gelingt es nicht, 
dieses Ziel zu erreichen, so muss von vornherein fast immer 
alle Mühe als vergeblich aufgewendet angesehen werden. Eine 
nachdrückliche Mitwirkung von seiten der Geistlichen, Lehrer 
und gemeinnützigen Frauenvereine wird hierbei in vielen Fällen 
am Platze sein. Vielleicht lässt sich mit solcher Hilfe eine 
geeignetere Arbeitsstätte ausfindig machen und möglicher 
Weise dann auch den sonstigen ungünstigen Einflüssen das 
rechte Gegengewicht bieten. 

Von unendlicher Bedeutung für die Standhaftigkeit des 
„geheilten“ Trinkers ist, wenn dieser verheiratet ist, die Frau. 
Sie kann vielleicht alles zum besten wenden; sie kann aber 
auch das Gegenteil hervorrufen. Wo immer Geistliche, Lehrer 
oder Frauenvereine bei der Rettung von Trinkern mit arbeiten 
wollen, da müssen sie vor allem einen Blick auf dessen Häus¬ 
lichkeit werfen und dort, soweit es nötig ist und geschehen 
kann, in taktvoller Weise die bessernde Hand anlegen. Immer 
wieder ist zu betonen, dass ein rechtes Familienleben den 
besten Schutz für den Trinker liefert. 

Verhältnismässig gross sind die finanziellen Opfer, welche 
die Versicherungsanstalt für jeden Fall der Trinkerbehandlung 
darbringen muss. Die Kosten der Unterbringung sind an sich 
nicht niedrig. Hierzu kommt die lange Dauer der Heilbehand¬ 
lung, welche die bei andern Erkrankten zu rechnende Durch¬ 
schnittszeit weit übertrifft. Endlich sind auch bei derartigen 
Pfleglingen die grösseren Aufwendungen für Bekleidung zu 
machen, da sie infolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, 
in welchen sie durch ihren körperlichen und moralischen Zu¬ 
stand nach und nach hineingeraten sind, meist des allernötigsten 
entbehren.*) 

Und trotzdem und ungeachtet der „Nieten“, die in manchen 
Fällen nicht ausbleiben, sollten die Versicherungsanstalten sich 

*) Von allgemeinem Interesse ist eine Aeusserung des Vertrauensarztes der 
Landes?ersiehernngsanstalt Schleswig-Holstein, Medizinalrat Dr. Bockendahl in 
Kiel, in welcher er sich für eine ausgiebige Unterstützung der in Heilbehandlung 
genommenen Trinker mit Kleidungsstücken ausspricht. Es heisst dort: 

„Hand in Hand mit der moralischen Verkommenheit geht beim Trinker 
meistens die Vernachlässigung des äusseren Menschen. Wie er durch zwangsmässige 
Enthaltsamkeit allmählich zu anständiger Gesinnung erzogen werden muss, so muss 


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364 


Abhandlangen. 


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nicht abhalten lassen, immer wieder Versuche zur Heilung der 
Alkoholiker anzustellen. Da und dort gelingt es doch, den Un¬ 
glücklichen zu helfen und sie auch später durch alle Gefahren 
hindurch zu bringen, und diese befriedigenden Erfolge werden 
hoffentlich je länger desto mehr die Misserfolge aufwiegen. 
Ja, von der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein 
wird man sagen dürfen, dass diese Erfahrungen im grossen und 
ganzen als günstige anzusehen sind. Bezüglich der grösseren 
Zahl der bisher Behandelten ist auf grund neuerdings angestellter 
sorgsamer Ermittelungen ein „voller Erfolg“ zu verzeichnen. 

Die Versicherungsanstalten können noch in andererWeise 
auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung tätig sein. Kraftvoll 
hat in vielen Gegenden des Deutschen Reiches die Enthalt¬ 
samkeitsbewegung, die in erster Linie von den Guttemplern, 
daneben vom „Blauen Kreuz“ getragen wird, eingesetzt. Diese 
Bewegung sucht dort,, wo sie zu einer gewissen Bedeutung ge¬ 
langt ist, feste Stützpunkte in der Gestalt eigener Vereins¬ 
oder Logenhäuser, welche Versammlungs-, Unterhaltungs-, 
Erholungsstätten, Herbergen u. s. w. bilden, zu schaffen. Wo 
die Bedingungen für die Entstehung solcher Einrichtungen ge¬ 
geben sind, können die Landesversicherungsanstalten durch 
Hergabe der erforderlichen Baukapitalien zu massigem Zinssatz 
und unter sonstigen liberalen Bedingungen ein segensreiches 
Werk tun. Die Versicherungsanstalt Schleswig-Holstein hat 
derartige Veranstaltungen in den Städten Apenrade, Itze¬ 
hoe, Rendsburg, Tönning, Meldorf, Oldesloe mit 
Darlehen unterstützt und wird voraussichtlich auch noch an 


er erst allmählich wieder lernen, sich anständig zu kleiden und Wert zu legen auf 
anständige Kleidung. Ist dieser Wunsch erst wieder vorhanden und durch das Ver¬ 
halten des Trinkers in dieser Hinsicht bekräftigt, so bewegt sich der Trinker schon 
in aufsteigender Linie und muss in der Erfüllung dieses Wunsches unterstützt werden. 
Ich würde daher für richtig halten, diejenigen Pfleglinge durch anständige, haltbare 
Kleidung zu belohnen, welche sich bestreben, den Anforderungen der Anstalts¬ 
disziplin zu genügen, fleissig sind und nicht auf Entlassung drängen. Diese wird der 
Leiter der Anstalt nach etwa 2—3 monatlichem Aufenthalt erkennen. Den sich 
anders verhaltenden Pfleglingen würde trotz vielleicht gleicher Bedürftigkeit — die 
aus naheliegenden Gründen wohl bei allen Trinkern vorzuliegen pflegt — nicht in 
gleicher Weise entgegen zu kommen sein. Dei gute Wille, geheilt zu werden 
und enthaltsam zu bleiben, muss doch gefordert werden als Aequivalent für solche 
Wohltaten , u 


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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 


365 


anderen Orten Gelegenheit finden, in gleicher Weise tätig zu 
sein. Sie wird um so bereitwilliger die von ihr verlangte 
finanzielle Mitwirkung leisten, je mehr die gedachten Bestre¬ 
bungen von den nächstbeteiligten Gemeindebehörden ge¬ 
fördert werden. Erfreulicherweise geht unsern schleswig¬ 
holsteinischen Gemeindeverwaltungen, je länger desto mehr, die 
Erkenntnis auf, welche dringende Veranlassung grade sie haben, 
die Arbeit der Antialkoholbewegung nach Möglichkeit zu er¬ 
leichtern und zu begünstigen. 

Eine freundliche Haltung nimmt die Landesversicherungs¬ 
anstalt Schleswig-Holstein auch gegenüber dem Wirken des 
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geis¬ 
tiger Getränke und seiner Bezirks- und Ortsvereine ein. 
Sie begleitet dessen gemeinnützige Arbeit mit aufrichtiger Anteil¬ 
nahme und lässt es auch an tatsächlicher Unterstützung der¬ 
selben nicht fehlen. 

In enger Fühlung mit diesen Vereinsbestrebungen steht 
das Bemühen der Landesversicherungsanstalt, durch Auf¬ 
klärung in weiten Kreisen des Arbeiterstandes die Gefahren 
des Alkoholgenusses und Alkoholmissbrauchs bekannt zu 
machen. In ihren Pflegestätten für männliche und weibliche 
Personen wird hierfür durch die Beschaffung geeigneter Lektüre 
gesorgt; bei der Entlassung aus der Heilbehandlung werden 
Schriften ins Haus mitgegeben, die in wissenschaftlich unan¬ 
fechtbarer Weise die Wahrheit über den Alkohol verbreiten. 
Die Versicherungsanstalt Schleswig-Holstein gehört zu denjenigen 
Versicherungsanstalten, welche überdies durch Vermittelung von 
Krankenkassen Tausende von Exemplaren der vom kaiserlichen 
Gesundheitsamt bearbeiteten Druckschrift: „Gegen den Miss¬ 
brauch geistiger Getränke! Alkohol-Merkblatt“ in die Hände 
der arbeitenden Bevölkerung gebracht haben. 

Das sind freilich nur kleine Mittel, aber sie tun zweifellos 
ihr Gutes. Sie tragen mit dazu bei, die Einsicht über das wahre 
Wesen des Alkoholismus, des Alkoholelends, immer allgemeiner 
zu machen; sie werden den Boden vorbereiten für andere, noch 
erfolgreichere Bestrebungen, die von dem Einzelnen wie von 
der Gesamtheit, von Arbeitern und Arbeitgebern, von Gemeinde, 
Staat und Reich ausgehen müssen. 


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366 


Abhandlungen. 


Im innigen Zusammenhang mit den Bestrebungen, die 
Uebel des Alkoholismus, wie der Tuberkulose, tief an der Wurzel 
zu fassen, stehen die Bemühungen unserer Landes Versicherungs¬ 
anstalt, mit ihren finanziellen Kräften die Wohnungsver¬ 
hältnisse der arbeitenden Klassen zu verbessern. 
Gegen niedrige Zinsvergütung (3°/ 0 ), bei massigem Tilgungs¬ 
satz und unter anderen günstigen Modalitäten gewährt sie Dar¬ 
lehen an Gemeinden, gemeinnützige Baugenossen¬ 
schaften und öffentliche Sparkassen für den an¬ 
gegebenen Zweck. Auf diese Weise ist es gelungen, eine 
blühende baugenossenschaftliche Bewegung in 
Schleswig-Holstein zu entwickeln. Zweiunddreissig 
Baugenossenschaften gibt es, die zum grösseren Teile 
mit der Landesversicherungsanstalt in Verbindung stehen, von 
ihr, wenn man den Ausdruck gestatten will, „gespeist“ werden. 
Einzelne dieser Baugenossenschaften haben seit einigen Jahren 
auch aus Reichs- und Staatsmitteln erhebliche Anleihen er¬ 
halten. Die Landesversicherungsanstalt hat bis jetzt insgesamt 
5 904 516 Mk. (wovon unterdes wieder 411539 Mk. getilgt 
worden sind) an die Baugenossenschaften hergegeben. Von diesen 
Geldern sind, teils zum allmählichen Uebergang in das Eigentum 
der Bewohner bestimmt, teils als zur Vermietung vorgesehen, 
gegen 3000 Wohnungen — gesunde, zweckentsprechende preis¬ 
werte Wohnungen — für Arbeiter und andere sog. „kleine 
Leute“, — versicherte Personen — hergestellt worden. Diese 
Bestrebungen und Leistungen gehören, wie wir wiederholen, 
auch zum Kapitel der Alkoholbekämpfung. 

Man darf sich überzeugt halten, dass die Versicherungs¬ 
anstalt Schleswig-Holstein es niemals an bereitwilliger Mitarbeit 
auf dem wichtigen Felde der Volkswohlfahrt fehlen lassen wird. 
Und die meisten andern gleichen Körperschaften im Deutschen 
Reiche werden ebenso wenig Zurückbleiben! 


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Wegscheider-Zieglev, Wie bewahren wir Mütter unsere Kinder etc. 367 


Wie bewahren wir Mütter unsere Kinder vor 
dem Alkoholismus? 

Vortrag gehalten am 2. Abstinententag zu Altona von 
Frau Wegscheider-Ziegler. 


Nicht an die Mütter allein möchte ich mich heute wenden; 
wenn auch an sie besonders. Aber was ich zu sagen habe, 
das geht eigentlich alle an: alle die jungen Mädchen, welche 
Mütter werden wollen, alle die Lehrer und Lehrerinnen, die 
solche Mütter heranbilden, die Väter auch, ohne deren Hülfe 
das beste Mutterwerk den Fluch der Halbheit trägt, und nicht 
zuletzt die jungen Männer, die die neue Familie gründen werden, 
damit in ihrem Schutz ein neues Geschlecht heranwachse, das 
unsere Hoffnungen zu Wirklichkeiten machen kann. Sie alle 
müssen helfen, dem neuen Geschlecht einen Hauptfeind seiner 
Stärke und seiner Entwickelung, den Alkoholismus fernzuhalten. 
Aber freilich: die Führenden, die Entscheidenden, die schliess¬ 
lich Siegenden müssen die Mütter sein. Sie müssen es sein, 
und sie werden es sein. 

Wenn sie nur erst alle wissen, um was es sich handelt! 
Wenn sie ihre Verantwortung fühlen für das neue Leben, das 
aus ihrem Schosse wächst, und wenn sie zugleich erfahren, 
auf wie mannigfaltige Weise dies junge Leben durch die Trink¬ 
sitten unseres Volkes gefährdet wird ! 

Klärt darum zuerst die Frauen unseres Volkes auf! Sagt 
ihnen wieder und wieder, dass Kinder, deren Eltern einzeln 
oder gar beide regelmässig starkem Alkoholgenuss fröhnen, 
in einer erschreckend grossen Anzahl Schwachsinnige, Epilep¬ 
tiker oder gar Verbrecher werden, und sie werden sich aufs 
äusserste dagegen wehren, dem trinkenden Manne Kinder zu 
schenken ! Sagt es den jungen Mädchen, ehe sie in die Ehe 


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368 


Abhandlungen. 


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treten, dass selbst gelegentlicher Rausch den Schwachsinn des 
in Rausch erzeugten Kindes verschulden kann, und sie werden 
einmütig brechen mit unseren verbrecherischen Hochzeits¬ 
gebräuchen. Dann wird der Name „Hochzeitskind“ im Volks* 
munde seine Bedeutung verändern ; er wird nicht mehr mitleidig 
und gleichsam entschuldigend für schwachsinnige oder sonst 
minderwertige Kinder gebraucht werden, sondern ein Ehren¬ 
name wird er werden für die starken und gesunden Kinder 
junger bewusster Liebe. 

Die jungen Mütter aber, die ihre Kindlein tragen und mit 
unruhiger Sehnsucht auf die Stunde warten, da sie ihnen in 
die Augen sehen können, die lehret: dass Alkohol nichts nützt, 
dass er nicht nährt, nicht stärkt, nicht wärmt; sondern dass er 
immer und unter allen Umständen Gift ist, und dass es ein 
gefährlich Ding ist, solches Gift dem werdenden, noch wider¬ 
standslosen Kindesorganismus zuzuführen. Sie werden sich 
freihalten von diesem Gift in ihren heiligen Monaten. Und wenn 
sie erfahren, dass der genossene Alkohol teilweise nachweisbar 
ist in der Milch der säugenden Mütter, so werden sie dafür 
sorgen, dass das Kind diese erste und für seine spätere Ent¬ 
wickelung bedeutsamste Nahrung rein und giftfrei erhalte. 

Glauben Sie mir: Wissende Mütter werden so 
handeln. Und viel ist damit für die kommende Generation 
gewonnen. Darum Ihr alle, die Ihr diese Tatsachen vom 
Alkohol wisst, schweigt niemals still davon, werdet niemals 
müde, lehrt sie auf immer neue, immer eindringlichere und 
immer fester überzeugende Weise den Mädchen, den Bräuten, 
den jungen Frauen! Ueberwindet ihre und Eure eigene Scham¬ 
haftigkeit und sprecht ihnen von dem, was ihres Lebens ein¬ 
fachster Sinn in den Jahren junger Frauenkfaft ist, von ihrem 
Kinde. Sie werden’s verstehen und werden danach tun. 

Aber von den Müttern der neuen Generation verlangen 
wir mehr! Sie sollen das gesunde Kind nun auch gesund 
erhalten. 

Wenn ihnen in ihrer schweren Zeit die Enthaltsamkeit 
leicht wurde, ja, wenn sie sie mit Freuden ausübten, weil sie 
ihnen ihren Zustand erträglicher gestaltete, so müssen sie sie 
als dauernde Lebensgewohnheit beibehalten, wenn sie das 
heranwachsende Kind auch weiter vor den Schädigungen des 



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Wegscheider-Ziegler, Wie bewahren wir Mütter unsere Kinder etc. 369 


Alkoholgebrauches bewahren wollen. Das wird nicht immer 
leicht sein. Den Sitten unserer Geselligkeit kann sich wohl 
die schwangere und die säugende Frau entziehen, ohne Anstoss 
zu erregen. Die erziehende Mutter muss, um den Widerstand 
von allen Seiten zu besiegen, in den prinzipiellen Kampf gegen 
diese Trinksitten eintreten. Sie weiss, wie schädlich der Alkohol 
gerade auf den empfindlichen Körper des Kindes wirkt: ganz 
geringe Verdauungsstörungen werden zu bedenklichen Magen- 
und Darmkrankheiten, wenn man versucht, sie durch Alkohol 
zu heilen. Kinder, die frühzeitig geistige Getränke erhalten, 
bleiben auffallend klein. Epileptische und andere Krämpfe 
sowie Veitstanz treten bei Kindern als Folge des Alkohol¬ 
genusses auf; trinkende Kinder erliegen Ansteckungen leichter, 
als enthaltsame, ja selbst der Verlauf von Krankheiten pflegt 
bei dem an Alkohol gewöhnten Kinde schwerer zu sein, als 
beim abstinenten. 

Es kommt in den ersten Lebensjahren des Kindes also darauf 
an, ihm überhaupt jede Möglichkeit des Alkoholgenusses zu ver- 
schliessen. Das kann mit Sicherheit nur dann geschehen, wenn 
der ganze Hausstand abstinent ist. Sieht das Kind den Vater 
bei Tisch sein Glas Bier trinken, so wird die Neugierde, die 
Nachahmungslust, es immer wieder antreiben, auch nach diesem 
Genüsse zu streben. Es wird bitten. Und welcher Vater 
widersteht nach dem zweiten oder dritten Glase solcher Bitte? 
Oder es wird sich in unbewachten Momenten an die Reste in 
Flasche oder Glas heranmachen; und der Reiz der Heimlich¬ 
keit wird ihm einen Genuss vortäuschen, den es nicht einmal 
wirklich empfindet. Denn der normale, kindliche Organismus 
lehnt berauschende Getränke ab. Es gehört Mut und klare 
Sicherheit dazu, um des Kindes willen dem Gatten seinen 
Schoppen abzugewöhnen. Und eine nicht minder grosse 
Forderung, die man an die abstinente Mutter stellen muss, ist 
liebevolle Einsicht und erzieherische Beeinflussung ihrer Dienst¬ 
boten. Denn wie oft fühlen sich Kinder und Dienstboten herz¬ 
lich zu einander hingezogen, und wie bedenklich kann es 
wirken, wenn diese den Kindern in bester Meinung von ihrem 
eigenen Bier oder Landwein zu kosten geben und den Genuss 
wohl gar durch Zucker noch zu erhöhen suchen! 

Ganz besonders aber wird es die abstinente Mutter ver¬ 
meiden, den Alkohol als Mittel zur Erhöhung der Festfreude 


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Abhandlungen. 


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dem Kinde vor Augen zu führen. Würde er doch dadurch 
mit einem geheimnisvollen Reiz umgeben und in der Phantasie 
des Kindes leicht eine gefährliche Rolle spielen. 

Das muss unter allen Umständen vermieden werden, um¬ 
somehr, da ja nach sechs Jahren schon die Mutter einen grossen 
Teil ihres Einflusses an die Schule abgeben muss. Und für 
das abstinente Kind bedeutet die Schule den Eintritt in das 
bisher verschlossene Land der Trinksitten. Trinken doch die 
grössere Hälfte aller deutschen Schulkinder täglich Bier, Wein 
oder gar Schnaps, weiss doch dem kleinen Abstinenten fast 
ausnahmslos jeder seiner Kameraden von Familienfesten zu er¬ 
zählen, in denen er „wie ein Erwachsener“ habe trinken dürfen. 
Es kommt auf des Kindes Wesen an, was tieferen Eindruck 
macht: dieses lockende Prahlen der Schulfreunde oder die Er¬ 
fahrung, dass auch der Lehrer „trinkt“, dass Bier oder Wein 
unvermeidlich zu seiner Festfreude gehören. 

Wie fest muss sich das Beispiel des Elternhauses beweisen, 
um solchen Einwirkungen gegenüber Stand zu halten! Das 
junge Schulkind hat ja nichts als den Glauben an die Persön¬ 
lichkeit seiner Eltern ihnen entgegenzustellen. Die abstinente 
Mutter muss in jeder Handlung, in jedem Wort, in jeder Bewe¬ 
gung ihrem Kinde heilig und unantastbar geblieben sein: sonst 
war ihre Arbeit vergebens, wie auf jedem anderen Gebiete der 
Erziehung, so auch in unserer Sache. 

Ist es nicht, Ihr Mütter, ein köstliches Ding um solch ein 
Ideal, dem man dient ? Um ihm näher zu kommen, muss sofort 
der ganze Mensch vollkommener und reicher werden; dieses 
Ideal ist ein Herr, der eifrige Dienste, ja der die ganze Persön¬ 
lichkeit fordert; freilich nicht um sie zu verzehren, sondern um 
sie reicher wieder sich selbst zurück zu geben. 

Denn immer mehr wächst die Aufgabe der abstinenten 
Mutter: sie muss ihr Kind für den Moment seines Lebens vor¬ 
bereiten, indem sein Glaube an Autoritäten überhaupt und auch 
an die mütterliche die ersten Schwankungen erleidet. Sie muss, 
was sie früher vermieden, ihm den Trunkenbold zeigen, und 
es selbst den Schluss finden lassen, dass ein Getränk, dass so 
wirken kann, niemals ungefährlich ist. Sie muss es ver¬ 
stehen lehren, warum gerade dem Rauschmittel gegenüber von 
seiner ganzen Umgebung die Wahrheit so schwer erkannt und 



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Wegscheider-Ziegler, Wie bewahren wir Mütter unsere Kindei etc. 371 


gesagt wird; es muss mit logischer Schärfe erkennen, dass in 
der Natur der alkoholischen Getränke selbst mit Notwendigkeit 
die Täuschung über ihren Wert für alle die begründet liegt, 
die sich ihrer Wirkung aussetzen. 

Sie muss seine Beobachtung verfeinern, damit es an seinen 
Kameraden die erschlaffende oder irritierende Wirkung auch 
kleiner Mengen Bieres oder Weines erkennt. Sie muss ihm 
schliesslich seine geistige Rüstkammer anfüllen mit Waffen 
gegen alle die ernsten und spöttischen Angriffe, denen der 
Abstinent zu begegnen pflegt. 

Schwer und an Sorgen reich, nicht allein wegen des Kampfes 
gegen den Alkohol, sind diese ersten 4, 5, 6 Schuljahre. Ganz 
allmählich scheint den Müttern der Kinder Seele zu entgleiten. 
Als sei sie der gleichmässigen Wärme und Sicherheit der schütz¬ 
enden Mutterhände überdrüssig, sucht sie Fremdes, Neues. 
Gefahren fangen an, zu locken. Verbotenes reizt. Alles, was sich 
zeigt, wird zur Gelegenheit, die junge Kraft zu probieren. 

Aber sorgt nicht zu sehr, Ihr abstinenten Mütter! Gerade 
Euch ist ein Mittel gegeben, die flüchtigen Seelchen wieder 
einzufangen, gebt ihrem Fluge ein Ziel! Vertieft Eure und Eurer 
Kinder Auffassung des Kampfes gegen den Alkohol. 

Nicht um der eigenen Gesundheit willen lasst den Knaben 
abstinent sein. Diese Gesundheit ist Eurem Kinde, dem sie noch 
nie fehlte, wenig wert, und täglich kann es in eine Lage kommen, 
in der es sie für das geringste Vergnügen leichthin in die 
Schanze schlägt. Lehrt den Knaben jetzt sehen, dass er nicht 
allein lebt, dass seiner Nächsten Leben zu seinem gehört, und 
sein Leben zu dem der Nächsten. Und dann lasst ihn hinein 
sehen in das Elend, das die Trinksitten über unser ganzes Volk 
bringen, lasst es ihn als sein eigenes Elend empfinden. Zeigt 
ihm das Volk in seiner dumpfen Knechtschaft, wie es dem 
Alkohol fröhnt, wie es ihm sein Geld und seine Zeit opfert, 
und wie der Drache, damit nicht zufrieden, ihm auch noch seiner 
Hände Kraft nimmt, ihm seiner Gedanken Klarheit umnebelt, 
ihm seine Freudigkeit stiehlt, ihm sein Glück, sein Liebe und 
schliesslich sein Letztes, seine Kinder, mordet. Glaubt Ihr nicht, 
dass der junge Held gern zum Schwert greifen würde und gegen 
diesen Drachen ausziehen? Auf diesem Wege werden ihm 
Abenteuer und Gefahren genug begegnen, die seinem Wage- 


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372 


Abhandlungen. 


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mut Genüge leisten, und auf diesem Wege trifft er auch seine 
Muster wieder. Sie ist nun nicht mehr nur die Schirmende 
und Warnende, sie ist seine Kameradin geworden, und das zu 
einer Zeit, in der der Sohn ihrer am dringendsten bedarf, in 
der bedeutungsvollen Zeit der Pubertät. Die Alkohol-Abstinenz 
ist ja eins der sichersten Mittel, das den Knaben vor einem zu 
frühen Entfalten des Geschlechtstriebes hütet. Kann er seiner 
Mutter, weil er sich in seinen höchsten Interessen von ihr ver¬ 
standen sieht, von seinen ersten Anfechtungen erzählen, so wird 
er mit lebendigem Dank für sein ganzes Leben vor andern 
Jünglingen bevorzugt sein: denn sie wird ihm helfen können, 
diesen Kampf zu einem guten Ende zu führen. Welches Sohnes 
Mutter hat je Grösseres erstrebt! 

Und das heranwachsende Mädchen, das nach Hingebung 
irgend welch Art hungert und dürstet! Wisst Ihr seiner wirren 
Schwärmerei einen würdigeren Gegenstand als das Ideal eines 
Volkslebens, das frei von jeder Betäubung, erlöst aus der Dumpf¬ 
heit der Narkose, ein Leben in der Liebe, in freier Bildung, in 
bewusster persönlicher und sozialer Gestaltung werden kann? 
Könnt Ihr seinem natürlichen Sinn für die Schönheit und Reinheit 
der Umgebung bessere Nahrung geben als die, dass Ihr es zum 
Wächter der Schönheit und Reinheit in der Familie und in der Ge¬ 
selligkeit macht, die ja von nichts stärker bedroht werden, als vom 
Alkohol? Und was kann Eure Töchter besser davor bewahren, 
dass sie in ihrer natürlichen Abneigung gegen alles Niedere 
und Gemeine sich in Absonderung und Weltfremdheit ver¬ 
irre, als dass Ihr ihr eine reale Aufgabe im Kampfe gegen eine der 
Hauptstützen der Gemeinheit, gegen den Alkohol, gebt? Da 
könnt Ihr all ihre kleine Hausmütterlichkeit mit an die Arbeit 
heranziehen, all ihre Lust, zu beschützen, zu pflegen, zu 
schmücken und zu feiern. 

Wahrlich, Ihr habt es besser als andere Mütter, Ihr ab¬ 
stinenten Frauen. Euch erhaltet Ihr die Kinder. Mit ihnen 
aber gebt Ihr unserm Volke ein herrliches Geschenk, die Gewähr 
für unsere Zukunft, für eine klare, feine, freie Kultur, für ein 
Leben ohne Narkose! 



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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „W^in ist Gesundheit“? 373 


Was lehrt uns die Broschüre: 
„Wein ist Gesundheit“?*) 

Von Dr. med. A. Steg man PI in Dresden. 


Eines der erfreulichsten Zeichen für die Wirksamkeit des Kampfes 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke bilden die Abwehrversuche der 
am Alkoholverbrauch materiell interessierten Kreise. Dieselben richten 
sich freilich nur gegen die Abstinenz, man hat nie gehört, dass 
Destillateure, Brauer und Weinhändler Schritte unternommen hätten, 
um den Bestrebungen entgegenzutreten, welche ausschliesslich den un- 
mässigen Genuss für verwerflich, den mässigen Gebrauch geistiger Ge¬ 
tränke aber für nützlich oder doch unschädlich erklären. Alle Freunde 
der Mässigkeit, welche Richtung sie auch vertreten mögen, sind jedoch darin 
einig, dass der ungeheuer angewachsene Alkoholkonsum eingeschränkt 
werden muss, wobei natürlich die Interessen derer leiden werden, die von 
der Bereitung und vom Verkauf geistiger Getränke leben. Dass die 
Interessenten ihren Zorn so ausschliesslich gegen die Abstinenten richten, 
ist daher höchst auffallend und legt den Gedanken nahe, dass die 
Taktik dieser Richtung die bessere ist, dass sie dem allgemein gewünschten 
Ziel am nächsten kommt. Weiterhin ist erfreulich, dass es den Interessenten 
trotz aller Mühe nicht gelungen ist, irgendwelche Tatsachen beizubringen, 
um die Behauptungen der Alkoholgegner zu widerlegen, es ist vielmehr über¬ 
raschend, zu sehen, in wie weitem Umfange die Feststellungen über die 
Schädlichkeit des Alkoholgenusses selbst von dieser Seite als richtig 


*) „Zur Antialkoholbewegung“. Wein ist Gesundheit, eine Widerlegung der 
irrigen Ansichten der Alkoholgegner, auf Grund einer Reihe Gutachten ärztlicher 
Autoritäten bearbeitet und zusammengestellt von Franz Goldschmidt, Redakteur 
der „Deutschen Weinzeitung“, Weinsachverständiger des Kaiserlichen Statistischen 
Amtes. Verlag der „Deutschen Weinzeitung“. Mainz 1904. 

Die Alkoholfrage. 25 


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Abhandlungen. 


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anerkannt werden. Wer die neuerdings vom Redakteur der »Deutschen 
Weinzeitung«, Herrn Goldschmidt, auf Grund einer Reihe von ärzt¬ 
lichen Gutachten verfasste Broschüre aufmerksam liest, wird darin Dinge 
finden, die auch einen begeisterten Anhänger des Weines und anderer 
geistiger Getränke stutzig machen könnten; er wird aber vergeblich nach 
Mitteilungen über Tatsachen suchen, auf welche sich die Behauptung 
von der Nützlichkeit und Unschädlichkeit des Alkoholgenusses gründen 
liesse. Herr Gold Schmidt betont in der genannten Schrift, dass bei 
Erörterungen über die Alkoholfrage subjektive Erfahrungen und Ueber- 
zeugungen nicht massgeblich sein dürften und dem ist sicher voll bei¬ 
zustimmen. Eben aus diesem Grunde aber muss man die Mehrzahl der 
von ihm herbeigezogenen »Gutachten« als ungeeignet zu ernsthafter 
Besprechung bezeichnen. Unter den 17 Antworten, die der »Deutschen 
Weinzeitung« auf ihre Umfrage zugingen, finden sich nicht weniger als 
13, welche nur den persönlichen Standpunkt des Einsenders zum Aus¬ 
druck bringen, ohne für denselben eine eingehendere Begründung zu 
geben; mit diesen ist eine Auseinandersetzung nicht möglich, weil eben 
nicht durch Abwägen der Autorität, sondern nur durch Darlegung der 
Gründe in derartigen Fragen entschieden werden kann, wer recht hat. 
Die Mitteilung des Herrn Professor v. G r ü t z n e r ist dabei noch so 
unvollständig wiedergegeben, dass der Einsender sich zu einem Protest 
veranlasst gesehen hat, weil durch Weglassung eines wesentlichen Teiles 
der Sinn seiner Aeusserung geradezu umgekehrt worden sei. Nur 4 der 
Einsender haben ihren Standpunkt näher begründet und obgleich auch 
bei ihnen die persönliche Ueberzeugung mehr als alles andere betont 
ist, finden wir hier doch Dinge angeführt, über die man reden kann. 
Auch in einigen der nicht besonders für diesen Zweck geschriebenen, 
aber von Herrn Goldschmidt zitierten ärztlichen Aussprüche finden 
sich tatsächliche Angaben, deren Richtigkeit wir zu prüfen haben. 

Zunächst freilich müssen wir auf einige Behauptungen der Broschüre 
eingehen, die sich nicht auf die Frage nach dem gesundheitlichen Wert 
alkoholischer Getränke beziehen und die einer Richtigstellung bedürfen. 
Es wird dort gesprochen von dem »vielleicht etwas starken Alkohol¬ 
konsum einzelner Volksklassen« und von »relativ hohen Summen«, in 
welchen nicht nur die Ausgaben für geistige Getränke, sondern auch 
alle Aufwendungen für die dabei entstehenden Nebenausgaben bis auf 
die Trinkgelder enthalten seien. Demgegenüber muss daran erinnert 
werden, dass der Verbrauch alkoholischer Getränke bisher stetig gestiegen 
ist und eine so enorme Höhe erreicht hat, dass jedem, nicht nur, wie 
die Broschüre sagt, dem »befangenen und etwas kritiklosen Hörer« 
»angst und bange« werden muss. 

Man berechnet den Aufwand für Branntwein, Bier und Wein, indem 
man annimmt, dass dafür folgende Preise gezahlt würden: 

1.— M. für 1 Liter 5O°/ 0 iger destillierter Getränke (Schnaps, 
Likör, Kognak und dergl.) 

—.30 M. für 1 Liter Bier, 

1.25 M. für 1 Liter Wein (Sekt inbegriffen). 



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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit“? 


275 


Jeder sieht, dass diese Preise viel zu niedrig angesetzt sind, und dass 
von all den unvermeidlichen Nebenausgaben dabei gar keine Rede ist; 
aber schon nach dieser niedrigen Berechnung stellt sich, wie das Statist. 
Jahrbuch für das Deutsche Reich erweist, der für geistige Getränke auf¬ 
gewendete Geldbetrag im Jahre 1903 auf 3,3 Milliarden Mark. Selbst 
wenn die Behauptung richtig wäre, dass Deutschland ein »reiches Land« 
sei, könnte eine derartige Ausgabe nicht gleichgültig bleiben, es fehlt 
aber doch, wie nicht näher ausgeführt zu werden braucht, auf allen 
Gebieten unseres öffentlichen Lebens an Geld und man kann wohl nicht 
wie es Herr Goldschmidt tut von nationalem Reichtum sprechen, 
solange die Mittel für die notwendigsten Bedürfnisse nur mühsam oder 
gar nicht aufgebracht werden können und die Schuldenlast des Reiches 
stetig wächst. 

Würde nur ein Teil der jährlich vertrunkenen 3 1 / s Milliarden für 
andere Ausgaben verwendet, so könnte dies schon reichen Segen stiften 
und es ist gar nicht auszudenken, welche Umwälzung zum Besseren ent¬ 
stehen würde, wenn einmal einträfe, was die Weinhändler zu befürchten 
vorgeben: die völlige Beseitigung des Alkohols als Genussmittel. Dass 
dies plötzlich geschehen könnte glaubt wohl selbst Herr Goldschmidt 
nicht, es ist aber auch nicht einmal wahrscheinlich, dass es überhaupt 
jemals der Fall sein wird; selbst wenn es indessen gelänge, durch 
irgendwelche Mittel den ängstlichen Traum der Weinbändler zur Wahrheit 
werden zu lassen, so würde aus dem allmählichen Verschwinden der Alkohol¬ 
industrie keineswegs eine wirtschaftliche Krise entstehen. Es stellt sich näm¬ 
lich heraus, dass keine Art von Unternehmungen grosseren Stils so wenig volks¬ 
wirtschaftlichen Wert hat wie die Alkoholindustrie. Die Zahl der in ihr be¬ 
schäftigten Arbeiter und der Anteil der Arbeitslöhne am Gesamtgewinne ist 
geringer, hingegen der Unternehmergewinn grösser als in allen anderen Be¬ 
trieben. Nach Feststellungen und Berechnungen, die in England angestellt 
wurden, beschäftigt eine Grossbrennerei bei 30 Millionen Mk. Kapital nur 130 
Arbeiter, während in der Landwirtschaft oder in anderen Industrien das¬ 
selbe Kapital 12—15000 Arbeitern Beschäftigung gibt. — Im Brauerei- 
Grossbetriebe kommen auf 20 Millionen Mark Kapital 143 Arbeiter mit 
143000 Mark Lohn, im Eisenbahnbetriebe hingegen 760 Arbeiter mit 
1 300000 Mark Lohn. — Auf 100 Mark Einkommen der Unternehmer 
werden in der Brauerei 7,50 Mark, in allen anderen Gewerben durch¬ 
schnittlich 30,50 Mark Lohn gezahlt. Die grossen in der Alkohol¬ 
industrie angelegten Kapitalien bringen also hauptsächlich einem kleinen 
Kreise wohlhabender Leute Nutzen und könnten, wenn sie für andere 
Betriebe frei würden, weit mehr für die Volkswohlfahrt leisten. Das 
Eingehen der ganzen Alkoholindustrie wäre aber auch allen in ihr 
Arbeitenden nützlich, denn diese Arbeit ist eine der ungesundesten, die 
wir kennen. Die Berechnungen der Krankenkassen zeigen, dass die 
Angehörigen aller Berufsklassen, die. mit Alkohol in irgend einer Form 
zu tun haben, öfter und länger krank sind als die übrige Bevölkerung, 
auch sind Unfälle bei ihnen häufiger, und die Lebensversicherungen 
haben lestgestellt, dass sie früher sterben, als nach den üblichen Berech- 

25*. 


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Abhandlungen. 


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nungen zu erwarten wäre; die englischen Lebensversicherungen verlangen 
daher von solchen Leuten, wenn sie sie überhaupt aufnehmen, erhöhte 
Prämien. 

Hiermit sind wir nun schon übergegangen auf die Frage nach der 
Wirkung geistiger Getränke auf die Gesundheit und wir wollen kurz 
überblicken was wir hierüber wissen. 

Erfreulicherweise braucht man heute nicht mehr zu betonen, dass 
länger dauernder Missbrauch grosser Mengen Alkohol schwere Organ¬ 
schädigungen hervorruft, selbst Herr Goldschmidt lässt diese Tatsache gelten 
und hält vor allem den Schnaps für gefährlich. Er wünscht, dass der Schnaps¬ 
verbrauch eingeschränkt, ja sogar ganz verhindert werde und nähert 
sich also darin den extremsten Abstinenten, weniger Uebereinstimmung 
herrscht freilich schon bei Beurteilung des Bieres und vom Wein weiss 
seine Broschüre natürlich nur gutes zu berichten. Die allgemein ver¬ 
breitete Meinung, dass Bier und Wein wesentlich andere Wirkungen 
hätten als destillierte Getränke lässt sich aber durch keinerlei exakte 
Beobachtung stützen: in allen darauf gerichteten Versuchen hat man ge¬ 
funden, dass der Alkohol, der ja immer derselbe chemische Körper 
bleibt, die Wirkung erzeugt, und dass andere Beimengungen wie die 
Fuselöle im Schnaps, der Hopfenextrakt im Bier und die Bukettstoffe 
im Wein, zwar nicht ganz wirkungslos sind, aber doch nur eine unter¬ 
geordnete Rolle spielen. Die Alkoholmenge, die beim Trinken in den 
Körper gelangt, gibt deshalb den direkten Massstab für die Grösse der 
Wirkung. 

Es ist, wie gesagt, allgemein anerkannt, dass grosse Mengen Alkohol 
— und wir fügen hinzu: gleichgültig in welcher Form sie genossen 
werden — dem Organismus schaden. Die Angaben der verschiedenen 
Forscher über die zahlenmässige Bezeichnung dieser grossen Mengen 
gehen freilich auseinander, doch ist anzunehmen, dass Herr Goldschmidt 
die Ansicht des Herrn Professor Hüppe teilt, der sie mit ioo gr. an¬ 
setzt. ioo gr Alkohol sind enthalten, in 2 / l0 1 Kognak oder 2 */ 2 1 Bier 
oder 1 1 Wein. Ueber den Genuss solcher Quantitäten brauchen wir 
demnach hier nicht weiter zu reden, wir wenden uns vielmehr zu den 
kleinen Mengen, die nach Ansicht des Herrn Goldschmidt und seiner 
ärztlichen Berater unschädlich sind und zu einem normalen Leben un¬ 
entbehrlich sein sollen. Auch hier sind die Grenzen unsicher, immer 
wird betont, dass sie individuell verschieden seien, die meisten Autoren 
lassen aber etwa 30 — 40 gr Alkohol als »kleine Menge« gelten. 

Eine nützliche Wirkung solcher Alkoholgaben glaubte man in 
Versuchen beobachten zu können, in denen die Tätigkeit des Magens 
geprüft wurde, hierauf beziehen sich die von Herrn Goldschmidt zitierten 
Aeusserungen des Professor v. Leyden; später fanden jedoch ebenso zu¬ 
verlässige Forscher das gerade Gegenteil, eine Verschlechterung der 
Magentätigkeit in jeder Richtung, schon durch ganz geringe Alkohol¬ 
zufuhr; ausserdem aber ist daran zu erinnern, dass Schwankungen in der 
Intensität der Magenarbeit auch unabhängig von äusseren Einflüssen 
beobachtet werden und dass diese noch grösser sein können, als sie in 



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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit“: 


377 


jenen Versuchen waren. Auch vom Darm gilt dasselbe, nur ist allgemein 
anerkannt, was Professor Hüppe sagt, dass nämlich schon kleine Mengen 
Alkohol die Ausnutzung der Nahrung im Darm deutlich herabsetzen; 
von der Wirkung derselben auf die Leber wissen wir nichts. Am Herzen 
konnte Rosenfeld nach Alkoholmengen von 30—60 gr in Form von 
Sherry keine Wirkung beobachten, weder der Puls noch der Blutdruck 
wurden irgendwie beeinflusst; Wein kann also unmöglich so stark an¬ 
regend auf den Herzmuskel wirken, wie meist angenommen wird. An 
den Lungen ist unter Alkohol Wirkung eine Vertiefung der Atemzüge 
beobachtet worden, Professor Z u n t z und G e p p e r t haben aber nach¬ 
gewiesen, dass damit keinerlei günstiger Erfolg erzielt wird, die Aus¬ 
scheidung von Kohlensäure und die Aufnahme von Sauerstoff bleibt 
unverändert, die vermehrte Arbeit der Atemmuskeln beschleunigt aber 
naturgemäss den Eintritt der Ermüdung; — die Nieren werden wie aus 
sorgfältigen Untersuchungen von M o r i hervorgeht, durch Bier und Wein 
wie auch geringe Mengen reinen Akohols deutlich gereizt. 

Dass Alkohol trotz seines hohen Verbrennungswertes die Körper¬ 
temperatur nicht erhöht, lässt sich leicht nachweisen und erklärt sich 
durch seine Wirkung auf die kleinen Hautgefässe; diese werden gelähmt 
und können dann das Blut nicht so rasch wie sonst weiter befördern 
— daher kommt vermehrte Blutfülle der Haut und diese bewirkt das 
täuschende Gefühl der Erwärmung, während sie zugleich einen ver¬ 
mehrten Wärmeverlust herbeiführt. 

Der Streit, ob die Leistungen der Muskeln durch geistige Getränke 
erhöht oder vermindert werden, ist durch die neuesten Versuche dahin 
entschieden, dass zwar im Anfang eine Erhöhung eintritt, die indessen 
wegen ihrer geringen Grösse kaum jemals praktische Bedeutung gewinnt, 
dass aber dann eine erhebliche und lange dauernde Verminderung folgt. 
Die Unbrauchbarkeit der alkoholischen Getränke als Nahrungsmittel ist 
jetzt klar erkannt und selbst Herr Goldschmidt gibt dies zu; mag Alkohol 
auch gelegentlich Körper-Fett und selbst -Eiweiss ersetzen können, so 
überwiegt doch stets der durch seine Giftwirkung bedingte Schaden; 
ganz besonders muss aber noch hervorgehoben werden, dass Bier und 
Wein, insbesondere Rotwein, keinen günstigen Einfluss auf die Blut¬ 
bildung haben. 

Fast alle diese Angaben, deren Zahl sich leicht noch vermehren 
liesse, sind dem Buche von Rosenfeld entnommen, welches auch 
von Herrn Goldschmidt zitiert und als »bedeutsam« bezeichnet wird. 
Das ist es in der Tat auch für uns, denn wir lernen aus ihm, dass 
irgendwie praktisch verwendbare günstige Wirkungen auf keinem Gebiete 
unseres Körper-Haushaltes nachzuweisen sind, wenn kleine Mengen 
Alkohol verzehrt werden; freilich ist auch aus den eben besprochenen 
Untersuchungen eine grobe Schädigung der Organe nicht zu erkennen, 
es ist aber zu bedenken, dass solche Schädigungen lange Zeit unserer 
Wahrnehmung verborgen bleiben können und erst bemerkt werden, wenn 
sie einen hohen Grad erreicht haben. Wir sehen ja ähnliches z. B. bei 
der Bleivergiftung. Es ist übrigens auch sicher, dass neben dem Alkohol 


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Abhandlungen. 


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noch andere Schädlichkeiten auf denjenigen einzuwirken pflegen, der 
geistige Getränke geniesst, es wird aber doch dadurch die Gefahr des 
Alkoholgenusses nur noch grösser. Deshalb ist es unverständlich, warum 
Professor Hüppe solchen Wert darauf legt, dass das sogenannte Bier¬ 
herz auch bei russischen Teetrinkern gefunden werde; zunächst ist ja 
nie bewiesen worden, dass dieses »Teeherz« existiert, ferner wäre noch 
zu beweisen, dass solche Teetrinker alkoholenthaltsam lebten, dann aber 
hat doch noch niemand gemeint, dass es empfehlenswert sei, 20 Glas Tee 
täglich zu trinken —als mässigen Genuss wird man das kaum bezeichnen dürfen. 

Wenn aber auch ein schädlicher Einfluss sehr kleiner Alkohol¬ 
mengen am einzelnen Menschen meist nicht zu erkennen ist, so geht 
doch aus statistischen Feststellungen unzweifelhaft hervor, dass ein solcher 
Einfluss existiert. In Deutschland haben wir noch nicht soviel abstinent 
Lebende, dass eine Untersuchung darüber möglich wäre, ob der landes¬ 
übliche Genuss geistiger Getränke, oder die Abstinenz vorteilhafter für 
die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens ist. Mehrere der von 
Herrn Goldschmidt zitierten Aerzte berufen sich hierauf und meinen, 
dass nur durch solche, an grossen Zahlen in einwandfreier Weise an- 
gestellte statistische Erhebungen diese Frage entschieden werden könne.* 
Nun solche Zahlen liegen vor, und zwar werden sie geliefert von den 
Krankenkassen und den Lebensversicherungsgesellschaften in England. 
In den grossen englischen Krankenkassen, welche Säufer nicht aufnehmen, 
deren Mitglieder aber mässig Alkohol geniessen dürfen, war die Zahl 
der auf jedes Mitglied entfallenden Krankheitstage 3 mal so gross, als 
bei der Krankenkasse »Sons of Temperance«, die nur Abstinente auf¬ 
nimmt. Diese von Hoppe nach K e r r ’s Bericht mitgeteilten Zahlen 
sind freilich älteren Datums, es ist indessen bisher nichts angeführt worden, 
was gegen ihre Richtigkeit spräche. Besonders sorgfältig bis in die 
neueste Zeit fortgeführtes und ausgewähltes Material bieten aber die 
englischen Lebensversicherungen dar, welche die grossen ihnen zur Ver¬ 
fügung stehenden Zahlen bereits seit Jahren darauf hin geprüft haben, 
wie mässiger Alkoholgenuss die Sterblichkeit beeinflusst. Dass er sie 
erhöht, wusste man schon längst und hat deshalb eigene Abteilungen 
für Abstinente errichtet, in denen die Prämien geringer sind; man hat 
aber auch schon seit langer Zeit in die allgemeinen Abteilungen nie¬ 
manden aufgenommen, bei dem der Verdacht bestand, dass er Gewohn¬ 
heitstrinker sei, sodass diese Abteilungen nur solche Leute enthalten, die 
allgemein als streng mässig gelten. Die Zahl der eingetretenen Todesfälle 
betrug nun in allen derartigen Versicherungen in England für die Abstinenten¬ 
abteilungen nur 67,5 % der zu erwartenden, während in den Abteilungen der 
mässigTrinkenden 94,7 % der erwarteten Todesfälle eintraten. Es bleibt also 
die Sterblichkeit der Abstinenten um 32,5 %, die der Mässigen aber nur 
um 5,3 % hinter derjenigen der allgemeinen Bevölkerung zurück. Neuer¬ 
dings hat die älteste Gesellschaft mit Abstinenten-Abteilung die in den 
Jahren 1840—1901 gesammelten Zahlen noch einmal unter Berück¬ 
sichtigung aller inzwischen gemachter Einwände prüfen lassen und ist zu 
demselben Resultat gekommen, ja es hat sich herausgestellt, dass gerade 



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Stegmann, Was lehrt uns die Breschüre: „Wein ist Gesundheit**? 


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in der Zeit der besten Arbeitsleistung, vom 25.—60. Lebensjahr, die 
Abstinenten eine um 35,7/0 geringere Sterblichkeit haben, als die übrige 
Bevölkerung. Demnach ist kein Zweifel möglich, dass auch streng 
mässiger Alkoholgenuss eine schädliche Wirkung auf den Körper hat, 
und dass Abstinenz das Leben ganz wesentlich verlängert. 

Nun sagen aber die Freunde des Herrn Goldschmidt: Es mag 
sein, dass diese Nachteile mit dem Trinken verbunden sind, wir wollen 
sie aber gern in Kauf nehmen, wir wollen lieber ein kürzeres Leben 
voll geniessen, statt uns durch die Sorge um unsere Gesundheit zu 
asketischer Entsagung bringen zu lassen; die Wirkung auf das Nerven* 
System, auf Geist und Gemüt ist es, die wir brauchen, deshalb müssen 
wir Alkohol trinken. Prüfen wir an der Hand der wissenschaftlich fest¬ 
gestellten Tatsachen wie es damit steht! Dass geistige Arbeit durch Alkohol 
gefördert oder erleichtert werde, wird ernstlich kaum noch behauptet. 
Die Versuche der Kraepelinschen Schule und andere exakte Be¬ 
obachtungen, die bisher nicht widerlegt sind, beweisen unzweideutig, 
dass regelmässiger Genuss von Bier und Wein auch in Grenzen, die 
allgemein für mässig gelten, eine erhebliche Schädigung der geistigen 
Arbeitsleistung erzeugt. Die ^Arbeit wird nicht nur an Menge, sondern 
auch an Wert geringer. Die unter dem Einfluss des Alkohols produzierten 
Gedankenverbindungen sind weniger originell und die Zahl der Fehler 
wächst. Dies tritt umso deutlicher hervor, je höhere Anforderungen an 
die Versuchspersonen gestellt werden. Es ist aber von allen Forschem 
bemerkt worden, dass diese Personen trotz unzweifelhaft verminderter 
Leistung stets das Gefühl hatten, mehr geleistet zu haben. Die tatsächlich 
nachweisbare Erschwerung der Tätigkeit durch Alkohol wurde von ihnen 
also nicht empfunden, sondern sie glaubten im Gegenteil eine Erleichterung 
zu spüren. Die Zahl solcher Untersuchungen ist jetzt so gross geworden 
und ihre Ergebnisse sind unter so verschiedenen Bedingungen nachge¬ 
prüft, dass es nicht mehr möglich ist, sie zu ignorieren. Man hat aber ein¬ 
gewendet, dass doch viele Menschen trotz verhältnismässig hohen Alkohol¬ 
verbrauches in ihrem Berufe tüchtiges leisten und meinte, dies sei mit 
den Erfahrungen beim Experiment unvereinbar. Die Tatsache, dass 
Abstinenten oft weniger leisten, als mässig Trinkende kann freilich nicht 
in Abrede gestellt werden und dies ist auch nie geschehen, nur das 
können wir auf Grund der angeführten Tatsachen behaupten, dass unter 
sonst gleichen Bedingungen d. h. bei gleich guter Veranlagung und gleich 
schwerer Arbeit, der Abstinente im Vorteil ist. Im Leben werden diese 
Vorbedingungen kaum jemals erfüllt sein und deshalb treten leicht 
Täuschungen ein; man merkt nicht, dass ein Mensch, der Alkohol 
trinkt, weniger leistet, weil das Mass von geistiger Kraft, das ihm trotz 
des Trinkens noch bleibt, allen Anforderungen genügt, die an ihn her¬ 
antreten. Wir können uns denken, dass jemand für einen einfachen 
Beruf nur die Hälfte der Spannkraft braucht, die ihm von Natur gegeben 
ist, die andere Hälfte bleibt gewissermassen in Reserve und dient für ausser- 
gewöhnliche Leistungen ; je mehr solcher Reserven vorhanden' sind, umso 
leichter wird die tägliche Arbeit geleistet, umso sicherer bleibt auch auf 


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Abhandlungen. 


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die Dauer die Elastizität und Frische des Geistes erhalten. Wird nun 
ein Teil dieses überschüssigen, aber doch keineswegs zwecklosen Kräfte¬ 
vorrates gelähmt durch regelmässigen Alkoholgenuss, so braucht das 
nicht in die Erscheinung zu treten, es wird sich aber vielleicht erkennen 
lassen, wenn einmal durch Krankheit oder Ueberlastung mit Arbeit die 
äusserste Kraftanstrengung vom Organismus verlangt wird. 

Dieser Mangel an Elastizität ist nun eine der wichtigsten Ursachen 
für die immer mehr sich verbreitende Nervosität. Wie der vom Hause 
aus schwach Veranlagte nervös wird, wenn er mehr leisten soll, als er kann, 
ebenso wird es derjenige, der seine ursprünglich ausreichenden Fähigkeiten, 
durch Alkohol vermindert hat. Es ist daher sehr merkwürdig, dass 
einzelne der Aerzte in der Weinhändler-Broschüre alkoholische Getränke 
zur Behandlung Nervöser empfehlen — sie stellen sich damit in einen 
Gegensatz nicht nur zu sonst allgemein verbreiteten ärztlichen Ueber- 
zeugungen, sondern auch zu andern von Herrn Goldschmidt zitierten 
Autoritäten. So verlangt dort z. B. Professor Eulenburg auf Seite 42 
der Broschüre, dass »das Abstinenzprinzip« »in Nervenheilanstalten, falls 
sie auf diesen Namen mit wirklichem Recht Anspruch erheben wollen, 
viel nachdrücklicher und konsequenter.,. . rücksichtslos durchgeführt 
werden sollte.« Es soll nicht weiter eingegangen werden auf die in den 
»Gutachten« niedergelegten Anschauungen über den Wert der geistigen 
Getränke in der Krankenbehandlung. Dass sie kein stark wirkendes und 
unentbehrliches Arzneimittel sein können, sahen wir ja schon und die 
Erfahrungen des »Temperance Hospital» in London bestätigen, dass sie 
in der Tat entbehrlich sind; aber nicht um die arzneiliche Anwendung 
handelt es sich ja hier, sondern um den Einfluss der geistigen Getränke 
auf Gesunde. 

Herr Professor Schmidt-Rim pler schreibt nun an Herrn 
Goldschmidt: »Wir sind doch nicht nur und nicht immer Verstandes- 
Menschen« und wir müssen ihm darin beistimmen. Vom Standpunkt 
des Arztes würde ein Opfer an Arbeitskraft und Gesundheit als das 
kleinere Uebel erscheinen, gegenüber dem Verzicht auf frohen Lebens¬ 
genuss ; es müsste und könnte auch ertragen werden, wenn es notwendig 
wäre zur Erhaltung der Lebensfreude. Die Frage ist nur, ob Alkohol 
notwendig ist, um zu vollem Lebensgenuss zu gelangen, und ob das 
Leben des Abstinenten tatsächlich eine dauernde Askese bedeutet. 

Man behauptet dies und findet darin die Begründung und Be¬ 
rechtigung der bestehenden Trinksitten. Im Ernst wird man aber nicht 
sagen können, dass das Streben, die Sorgen und Mühen des Lebens zu 
vergessen, die alleinige oder auch nur die wichtigste Ursache des Trinkens 
sei; die meisten Leute trinken, ohne sich klar zu werden warum, einfach 
weil es die Gesellschaft erfordert, ja sie trinken nicht selten mit Unlust, 
weil sie sich durch die allgemeine Sitte gezwungen fühlen. Dieser Zwang 
existiert in der Tat und wird gerade in den führenden Kreisen unseres 
Volkes am meisten geübt. Niemand denkt daran, auf die grosse Zahl 
von Leuten Rücksicht zu nehmen, denen doch auch nach Professor 
Eulen bürg und den andern Autoritäten, die Herr Goldschmidt zitiert, 



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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit“? 


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jede, auch die kleinste Menge Akohol schadet, obgleich man ihnen sonst 
keinerlei krankhafte Erscheinungen anmerkt; sie alle werden mit mehr 
oder weniger sanfter Nötigung gezwungen, die Trinksitte mitzumachen. 
Wäre es anders und würde auch von den Gesunden das von jenen 
Aerzten vorgeschriebene Mass eingehalten, so müsste man in jeder 
grösseren Gesellschaft eine beträchtliche Anzahl von Wassertrinkern 
treffen. Wer es versucht hat, wird aber bestätigen können, wie schwer 
es ist, sich an das Prinzip zu halten, dass man nicht täglich und 
nicht mehr als 30—40 gr. Alkohol d. h. also 2 Glas Bier oder 1 / 2 Flasche 
Wein auf einmal zu sich nehmen dürfe; man ist ja damit bereits 
gezwungen, sich der Trinksitte zu widersetzen, man fällt unangenehm 
auf, kommt wohl auch in den Verdacht übertriebener Sparsamkeit und 
was noch wichtiger ist, man kommt selbst nicht in eine gehobene Stimmung, 
da hierzu das vorgeschriebene Mass erfahrungsgemäss nicht genügt. Herr 
Goldschmidt freilich behauptet, dass dazu schon 1 Glas guten Weines hin¬ 
reiche, in der Praxis wird er selbst aber wohl, schon mit Rücksicht auf 
seine Auftraggeber, mehr verbrauchen müssen, womit er übrigens nicht 
allein steht, denn viele Leute müssen aus Geschäftsrücksichten mehr 
trinken, als sie selbst wünschen und können das Mass nicht einhalten, 
das ihnen frommt, weil es ihnen unmöglich ist, sich dem Trinkzwang 
zu entziehen. 

Wer sich aber wirklich Sorgen und Aerger durch Alkohol ver¬ 
scheuchen will, braucht in der Tat hierzu ein grösseres Quantum und, 
setzt sich also den Gefahren aus, die auch in der Broschüre der Wein¬ 
händler deutlich genug geschildert sind. Die Wirkung des Alkohols ist 
eben gerade dadurch so bedenklich, dass sie das Urteil trübt, die Neigung 
zu weiterem Trinken schafft und den Trinker unfähig macht zu erkennen, 
ob er bereits genug oder gar zu viel genossen hat. 

Obgleich nun in unserer Geselligkeit gewiss nicht an Alkohol ge¬ 
spart wird, dürfte doch nicht bestritten werden, dass es oft gerade an 
der gewünschten frohen Stimmung mangelt; wie könnte man sonst soviel 
Klagen über lästige gesellschaftliche Verpflichtungen hören ; wozu sonst 
die zahlreichen Ausführungen über die Reformbedürftigkeit unseres ge¬ 
selligen Lebens r Es kann also nicht wahr sein, dass Alkohol unter 
allen Umständen erhöhten Lebensgenuss schaffe. Ebensowenig ist es 
aber wahr, dass Fröhlichkeit nicht möglich sei ohne Alkohol — die 
Hunderttausende von Abstinenten in allen Kulturländern, von denen 
mehr als 2 5 000 in Deutschland leben, beweisen es und wer noch daran 
zweifelt, kann auf ihren Festen oft genug sich davon überzeugen. Da 
wird auch ohne die »moussierende Weinlaune« »manche gebundene 
Stimmung, manche spielende Betätigung schöpferischer Phantasie unge¬ 
hemmt entfesselt« um mit Professor Eulenburg zu reden. 

Es gibt aber noch viel ernstere Beweise dafür, dass Alkohol kein 
unfehlbares Mittel zur Erhöhung der Lebensfreude und zur Pflege des 
Gemütslebens ist. Die Zahl der Selbstmorde steigt überall im selben 
Masse wie der Alkoholkonsum, und bei fast der Hälfte aller Selbstmörder, 
deren Leichen er untersuchte, fand Professor Heller die körperlichen 


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382 


Abhandlungen. 


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Spuren des Trunkes ; im Dresdner Stadt-Irrenhause sind bei mehr als 50 % 
aller aufgenommenen Männer die Wirkungen des Alkoholmissbrauchs zu 
konstatieren; 180000 Personen werden jedes Jahr in Deutschland be¬ 
straft wegen Gesetzes-Uebertretungen, die sie unter dem Einfluss des 
Alkohols begingen; man denke ferner an die Beziehungen von Armut, 
Bettelei und Prostitution zum Alkoholismus und man wird sagen müssen, 
dass unzählige Menschen dem Alkohol nicht eine Erhöhung, sondern 
geradezu die Vernichtung ihres Glücks zuschreiben müssen. Das sind 
Opfer, die der Nation auferlegt werden, deren Zahl sich auch nicht 
annähernd schätzen lässt, Opfer der Trinksitte und des Trinkzwanges, 
und nur wer gewaltsam Augen und Ohren verschliesst, kann teilnahmlos 
an ihnen vorübergehen. 

Alle diese unsere Volksgenossen aber sind dem Alkoholismus ver¬ 
fallen, weil sie nicht die Kraft besassen, beim mässigen Trinken zu 
bleiben, mit dem sie ja doch begonnen haben müssen. Es wird jeder 
eine Anzahl solcher Leute kennen und man weiss, dass es oft nicht die 
schwächsten und schlechtesten waren. Wenn ich aber sehe, wie Leute, 
die klüger und energischer waren als ich, nicht zu erkennen vermochten, 
welches Mass für sie das richtige war — wer sagt mir, ob ich dies 
kann ? Professor Schottelius sagt: »dass gerade die Leute, am 

meisten gefährdet sind, bei denen eine heftige Nachwirkung der Alkohol¬ 
vergiftung nicht eintritt«. Professor Eulenburg betont, dass »die mit Alko¬ 
holintoleranz behafteten Personen keineswegs ohne weiteres erkennbar sind« 
und dass sie »sich selbst natürlich noch weniger kennen«, »die ihnen 
verhängnisvolle Eigenschaft vielmehr erst spät kennen lernen .... dann 
freilich mitunter zu tiefer eigener und fremder Schädigung«. Ähnlich 
sprechen sich andere Autoritäten aus, nur sagt Professor G e p p e r t 
wieder umgekehrt, dass man durch Beobachtung der Nachwirkung an 
sich selbst das Mass dessen finden könne, was man trinken darf. Auf die 
Frage, was i c h zu tun habe, um den mässigen Gebrauch von Alkohol 
mir zu sichern, lassen mich also alle diese Autoritäten im Stich — ich 
für meine Person möchte wenigstens nicht erst dann belehrt werden, 
wenn ich die »tiefe Schädigung« schon erlitten habe — so oder so ähnlich 
dürfte der unbefangene Leser jener Gutachten wohl ohne weiteres urteilen. 
Wenn er nun noch auf der andern Seite von den Abstinenten behaupten 
hört, dass sie sich freier, fröhlicher und gesünder fühlen, als vorher, so 
mag er wohl Lust bekommen, sich auch von der Trinksitte frei zu 
machen und den Alkohol ganz zu meiden. Der »gesunde Junge beiderlei 
Geschlechts,« den Herr Professor Eulenburg so sehr schätzt, würde 
danach wohl kaum auf den Gedanken kommen, weiter zu trinken, nur 
um die Fröhlichkeit der andern nicht zu stören und er würde sich auf 
denselben Standpunkt stellen, den Herr Professor Pelmann gegenüber 
der Abstinenz einnimmt, indem er sagt, »ich erkenne zwar vielleicht die 
Opferfreudigkeit einzelner Enthusiasten an«, aber nach ihrem Beispiel zu 
handeln »fällt mir nicht ein«. 

Das also ist der Erfolg, den die Broschüre bei einem aufmerk¬ 
samen Leser erzeugen wird — aber sie war doch im Aufträge der 



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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit^? 383 


Weinhändler geschrieben? Haben die Herren da nicht einen schlechten 
Anwalt gewählt? Wir können hoffen, dass es so sei, aber ich fürchte, 
die Mehrzahl der Leser wird nicht aufmerksam genug die klein ge¬ 
druckten Stellen beachten, und Herr Goldschmidt wird recht behalten, 
wenn er hofft, dass nur die ihm brauchbar erscheinenden Sätze, die er 
deshalb auch im Druck hervorhob, gelesen, alles andere aber ignoriert 
wird. So aber geht es erfahrungsgemäss mit allen «Gutachten», in denen 
theoretisch erörtert wird, ob ein minimales Quantum Alkohol schade 
oder nütze, während doch im Leben niemand daran denkt* sich auf ein 
so geringes Mass zu beschränken. 

Fassen wir noch einmal kurz zusammen, was uns die Broschüre 
«Wein ist Gesundheit» lehrt, so kommen wir zu folgenden Sätzen: 

1. Mässigkeit im Sinne der Broschüre «Wein ist Gesundheit» kann 
nur unter Verzicht auf alkoholische Fröhlichkeit und nur von 
wenigen Menschen auf die Dauer durchgeführt werden, sie ist 
nirgendwo Volksgewohnheit. Den meisten Menschen schaden 
auch kleinste Alkoholmengen. 

2. Mässigkeit im landläufigen Sinne schadet nachweislich dem 
Organismus erheblich und führt zur Erhöhung der Sterblichkeits- 
Ziffer gerade im kräftigsten Alter. Abstinente von 25—60 Jahren 
haben eine um 37,5 % geringere Sterblichkeit als die übrige 
Bevölkerung. 

3. Wer abstinent lebt, verliert dadurch nichts an Lebensfreude, 
sondern gewinnt neue Genussfähigkeit. Eine schädliche Wirkung 
der Abstinenz ist noch nie beobachtet worden. 

4. In Deutschland wird infolge der herrschenden Trinksitten und 
des Trinkzwanges jährlich die ungeheure Summe von mindestens 
3 Va Milliarden Mark für alkoholische Getränke ausgegeben, 
der Alkoholmissbrauch hat ausserdem noch zu den schwersten 
Uebelständen geführt, der Kampf gegen den Alkoholismus 
ist daher unabweislich. 

5. Jeder einzelne kann zur Aenderung der Trinksitten beitragen, 
indem er sie nicht mitmacht; wer Mässigkeit des ganzen Volkes 
und gesetzliches Vorgehen gegen den Alkoholismus wünscht, 
muss dafür eintreten, dass Alkoholabstinenz zur Lebensgewohnheit 
möglichst weiter Kreise werde. 

6. Die Broschüre der Weinhändler zeigt, dass die dort mitgeteilten 
Gutachten, obgleich sie eindringlich zur Mässigkeit ermahnen, 
doch verwendet werden, um für eine weitere Vermehrung des 
Alkoholkonsums zu werben. Daraus folgt, dass derartige 
Aeusserungen den so sehr notwendigen Kampf gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke nicht fördern, sondern erschweren. 


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Abhandlungen. 


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Das „mässige“ Trinken der Deutschen 
in Amerika. 

Von Dr. W. A. Stille, Hannover. 


Meine Bemerkungen in Heft 2 dieser Zeitschrift über das Bier¬ 
trinken der Deutschen in Amerika, haben dort viel Zorn erregt, wie 
aus dem betr. Referat in Heft 3 zu ersehen ist. Ob wohl diese Zomes- 
ausbrüche die öffentliche Aufmerksamkeit der Deutschen in Amerika 
insoweit wachgerufen haben, dass man endlich einmal anfangen möchte, die 
Augen zu öffnen und nachzusehen, was Wahres an der Sache ist? 
Wahrlich, bei ehrlicher Prüfung wird man sich überzeugen, dass ich 
keineswegs übertrieben habe, sondern dass noch Vieles hinzuzufügen wäre! 

Jedoch stehen grosse Schwierigkeiten dieser vorurteilsfreien Prüfung 
entgegen. Zunächst der Unwille, der seit langer Zeit unter den Deutschen 
in Amerika besteht, gegen alles was nach »Temperenz« aussieht. Dies 
ist ein wunder Punkt. Seit mehr als 50 Jahren haben unsere Lands¬ 
leute gestritten für die »persönliche Freiheit«, nämlich die Freiheit, Bier 
zu trinken, namentlich Sonntags und bei Musik; und immer sind die 
Temperenzler noch nicht aus dem Felde geschlagen. Die Bierfrage hat 
eine unverhältnismässig grosse Rolle gespielt, besonders bei den Wahlen 
der städtischen Beamten in den Grossstädten. Alle deutschen Zeitungen 
in den Vereinigten Staaten, so verschieden sie sonst in ihren Meinungen 
sein mögen, in der Bierfrage sind sie einig, und Alle bekämpfen ein- 
rfiütiglich Alles, was sich regt gegen den freien Biertrunk (wenigstens 
ist mir keine einzige Ausnahme bekannt). Die Brauer könnten, wenn 
sie wollten, manches Histörchen erzählen von den Umtrieben und ge¬ 
heimen Abmachungen und Kompromissen in den Legislaturen fast aller 
Staaten der Union, wo allerdings die Geldmacht der Brauer eine Rolle 
spielte. Gewiss, dies ist ein dunkles und unehrenvolles Gebiet; aber 
unzweifelhaft ist es auch, dass hinter eben diesen Gesetzgebern eine 
grosse Menge Menschen stand, die aus ehrlicher Ueberzeugung und mit 
dem besten Willen und den edelsten Absichten Gesetze gegen den 
Alkohol durchzubringen bemüht waren. 

So wurde die Spannung immer grösser, und je mehr die Parteien 
sich gegen einander erhitzten, um so weniger waren sie geneigt auf eine 


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Stille, Das massige Trinken der Deutschen in Amerika. 


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ernste, sachliche Prüfung einzugehen. Die Temperenzler kommen immer 
wieder mit Argumenten, die ein für allemal bei unsern Landsleuten 
nichts verschlagen, nämlich mit der Bibel und was sich daraus ableiten 
lässt. Und reden sie vom Trinkerelend, so antwortet man ihnen, der 
Mensch solle sich beherrschen lernen; und wenn es Trinker gibt, die 
Unheil über sich und ihre Familien bringen, so sei das kein Grund für 
die Abschaffung aller geistigen Getränke. So ist es gekommen, dass 
jede der Parteien bei ihrer Meinung blieb, und es zu keiner Verständi¬ 
gung kommen konnte. 

Anders sollte es aber doch billiger Weise sein, wenn überwältigendes 
wissenschaftliches Material vorliegt, das die Schädlichheit jedes gewohn- 
heitsmässigen Trinkens von alkoholischen Getränken beweist; wenn nach¬ 
gewiesen wird, dass man sich schwächt und schädigt durch den täg¬ 
lichen Biergenuss, ohne es zu merken. Aber leider, hierauf geht unser 
deutscher Landsmann nicht ein. Er will nichts davon hören, weist es 
von der Hand, denn er ist felsenfest überzeugt, dass der mässige Genuss 
von Bier und Wein nicht nur unschädlich, sondern sogar der Gesund¬ 
heit zuträglich ist. Und in dieser Meinung ist er von jeher und bis 
auf den heutigen Tag durch viele deutsch-amerikanischen Aerzte bestärkt 
worden. 

Es lohnt sich wohl der Mühe, zu zeigen, mit welcher Hartnäckig¬ 
keit die Deutschen in den Vereinigten Staaten alle Belehrung über die 
schlimmen Folgen des gewohnheitsmässigen Biertrinkens von der Hand 
weisen. Freilich fällt dabei die Hauptschuld auf die dortigen deutschen 
Aerzte. Jeder deutsche Arzt weiss in Amerika (oder sollte wissen), dass man 
in der Stadt Buffalo, im Staate New-York, seit 30 Jahren eine Krebs- 
Statistik führt und dass sich aus derselben z. B. das höchst überraschende 
Resultat ergeben hat, dass der Magenkrebs bei den Deutschen in Buffalo 
gerade zehnmal so oft vorkommt als unter einer gleichen Anzahl 
Anglo-Amerikaner in derselben Stadt. Die anglo-amerikanischen Aerzte 
sind über die Ursache dieser furchtbaren Erscheinung gar nicht im 
Zweifel, sie sagen: es ist das viele Biertrinken der Deutschen. 
Lässt sich nun unser deutscher Landsmann warnen ? Nein, s o leicht 
lässt er nicht ab von seinem guten Tropfen. Auch kommen ihm die 
deutschen Aerzte zu Hülfe, denn sie sagen, die Sache sei ganz über¬ 
trieben durch die Wassersimpelei der anglo-amerikanischen Aerzte. Der 
Magenkrebs könne aus mancherlei Ursachen entstehen, und sei sicherlich 
keine direkte Folge des Biertrinkens. Aber sollten diese Aerzte auch 
wohl, der Wahrheit gemäss, folgenden Zusatz machen : Das Biertrinken 
bringt sehr oft Magenkatarrh hervor, hierdurch wird der Magen ge¬ 
schwächt und er wird daher jeder Erkrankung leichter zugänglich! 

Sehr lehrreich in dieser Beziehung sind auch die Bemerkungen, 
welche Professor Dr. Baelz (Tokio) in der 7. Sitzung des Deutschen 
Komitees für Krebsforschung (25. Juni 1901)*) gemacht hat: 

*) Deutsche medizinische Wochenschrift 1901, Yereinsbeilage S. 283. 


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Abhandlungen. 


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»Krebs ist im ganzen bei den Japanern unzweifelhaft seltener als 
bei den Europäern. Dies ist sofort klar, wenn man die relativ zahl¬ 
reichen Fälle von Krebs bei den doch wenig zahlreichen Europäern 
in Ostasien vergleicht mit dem was man bei den Eingeborenen zu sehen 
bekommt. Damit ist auch schon gesagt, dass das Klima nichts mit der 
grösseren oder kleineren Frequenz zu tun hat, dass dieselbe vielmehr 
Rassensache oder Sache der Lebensweise ist. Der Einfluss der 
Rasse oder Nationalität hat auch schon F. Billings in seiner grossen 
Statistik über die Krankheiten in den Vereinigten Staaten 
hervorgehoben. Nach ihm ist der Krebs (wenn ich mich recht erinnere 
besonders der Magenkrebs) in den Vereinigten Staaten bei den Deutschen 
unverhältnismässig häufiger als bei den Abkömmlingen anderer Völker. 
Dass der Magenkrebs bei Potatoren besonders häufig vorkommt, 
erscheint mir wenigstens für Japan zweifellos.« 

Hierher gehört endlich die Bemerkung, dass die Schwächung des 
Magens durch häufigen Magenkatarrh nur ein einzelner, besonderer Fall 
einer allgemeinen physiologischen Wahrheit ist, nämlich dass jeder ge- 
wohnheitsmässige Genuss alkoholischer Getränke den ganzen Menschen 
schwächt. Ueber diesen äusserst wichtigen Punkt bitte ich das Referat im 
2. Hefte dieser Zeitschrift, betitelt» Alcoholic Beveragesand Longe vity« nach¬ 
zulesen. Das dort entwickelte Hauptresultat lässt sich folgendermassen zu¬ 
sammenfassen: Vergleicht man die Sterblichkeit der enthaltsamen und der 
nichtenthaltsaraen Männer während der Jahre der rüstigen Arbeit, von 
25. biä 60., so zeigt sich, dass die Sterblichkeit der enthaltsamen um 
35 % geringer ist als die der nichtenthaltsamen. Anders ausgedrückt: 
nimmt man die Sterblichkeit der Enthaltsamen als Basis, so ist die 
Sterblichkeit der Nichtenthaltsamen mehr als anderthalbmal so 
gross als die der Enthaltsamen. 

Wenn man die allgemeine Schwächung des Menschen durch den 
Alkohol, speziell das gewohnheitsmässige Biertrinken, sich einmal klar 
gemacht hat, so werden manche schlimme Erscheinungen unter den 
Deutschen in Amerika sofort erklärlich, ja sie sind ein gewaltiges, 
warnendes Massenbeispiel. 

Der Alkohol ist vor Allem ein Gehirngift und seine abstumpfende 
Wirkung zeigt sich nirgends schroffer als in den Vereinigten Staaten. 
Reist man in Illinois, Wisconsin, Michigan, ja in einem beliebigen Staate 
der Union und besucht die Städte, die vorwiegend oder ganz von 
Deutschen und deren Abkömmlingen in der ersten Generation bewohnt 
sind, und vergleicht diese mit gleichgrossen Städten, wo fast nur Anglo- 
Amerikaner wohnen, so ist der Unterschied ausserordentlich gross und 
für uns Deutsche beschämend. In der deutsch-amerikanischen Stadt ist 
immer der Mittelpunkt des aussergeschäftlichen Lebens der Bierpalast. 
Dort trifft man zu allen Tageszeiten Leute aus den verschiedensten 
Gesellschaftskreisen, so jedoch, dass die arbeitenden, weniger bemittelten 
Leute meistens andere Lokale aufsuchen, wo das Bier in grösseren 
Gläsern ausgeschenkt wird und wo der freie Lunch weniger fein und 
luxuriös ist, während das feine Bierlokal mit ausgesuchten Delikatessen 



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Stille, Das massige Trinken der Deutschen in Amerika. 


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zum freien Imbiss mehr den Geschäftsleuten und dem wohlhabenden 
Publikum dient. Abends gibt es dort, wie in allen Bierlokalen, ein 
reges Leben. Stammstuben und Stammecken nach bekanntem deutschen 
Muster, häufig auch gibt es Musik, namentlich Sonntags. In einer 
solchen Stadt fehlt nicht der Turnverein, der Kegelklub, der Skatklub, 
der Schützenbund, der Männerchor. Auch ein Liebhabertheater ist manch¬ 
mal da. Und in allen diesen Vereinen und Klubs und Zusammenkünften 
ist das Bier Trumpf und Hauptsache. Im Winter gibt es Bälle und 
Konzerte und Theatervorstellungen, nachher natürlich Kneipe, nach altem 
deutschen Brauch. 

Und nun betrachten wir unsern deutschen Landsmann selbst, der 
unter dieser Umgebung lebt. Meist zeigen sich an ihm schon früh die 
Zeichen des sogenannten Wohllebens. Er ist recht wohlbeleibt, ein 
gemütlicher Mensch, wie man zu sagen pflegt. Man kann mit ihm 
über alle täglichen Dinge reden und über alles was in den Zeitungen steht, 
aber über nichts anderes, denn er liest nichts als die Zeitung. Um die 
grossen politischen Fragen kümmert er sich nicht und an Politik nimmt 
er wenig Anteil. Von der geschichtlichen Entwickelung seines Adoptiv¬ 
vaterlandes hat er kaum eine dunkle Vorstellung und der englischen 
Sprache ist er nur insoweit mächtig, wie es zu geschäftlichen Dingen 
erforderlich ist. Sein geistiger Horizont ist beschränkt und seine An¬ 
sichten vom Leben und dessen Wert gehen nur auf äussere Dinge: 
Gut essen und trinken, namentlich ein gutes Glas Bier oder Wein, wenn 
es die Mittel erlauben, gelegentlich Musik und Theater, dazu der Stamm¬ 
tisch mit Kartenspiel, das ist so ziemlich die Summe seines Daseins. 
Unser Landsmann steckt tief in dem baren Materialismus des Lebens, 
seine Seele ist öde und leer. 

Und nun zu der anglo-amerikanischen Stadt. Natürlich ist auch 
hier nur die Rede von dem was der grossen, durchschlagenden Regel 
gemäss ist. Dass es einzelne Anglo-Amerikaner gibt, für die das Bild 
nicht zutrifft, versteht sich von selbst, ebenso wie es vereinzelt Deutsch- 
Amerikaner gibt, die von der grossen Masse abweichen. Wie anders 
sieht es in der yankee-town aus! Zunächst das äussere Ansehen. 
Ueberall sieht man die Anzeichen von Wohlstand und Komfort. Es 
sieht aus, als gäbe es hier gar kein Proletariat. Sieht man einen 
schmutzigen Arbeiter, so ist er sicherlich ein geborener Ausländer, ein 
Italiener, Irländer, Deutscher. Findet man überhaupt ein Trinklokal, so 
wird es doch von keinem Menschen betreten, der etwas auf sich hält. 
Freilich, es gibt auch einzelne Anglo-Amerikaner, die Spirituosen trinken, 
aber die öffentliche Meinung ist streng dagegen, und in der guten Ge¬ 
sellschaft ist die Trinksitte verpönt. Wer dennoch trinkt, sucht es zu 
verheimlichen. Wir gehen weiter in die Stadt. Nahe dem Mittelpunkt, 
an einem öffentlichen Platz ist ein stattliches Gebäude. In den unteren 
Räumen sind Lesesäle mit allem Komfort eingerichtet. Sie sind öffentlich 
und frei für jedermann und werden viel benutzt, auch von Damen. Aber 
sehen wir einmal zu was da zum Lesen aufliegt. Es gibt auch Zeitungen, 
aber die Hauptsache sind die vielen gediegenen Zeitschriften, namentlich 


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Abhandlungen. 


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Monatsschriften. Und die scheinen uns viel zu hoch, als dass sie dem 
grossen Publikum dienen könnten. Da ist das Atlantic Monthly, Scribner’s 
Monthly, Century Monthly, Harper’s Monthly, The Forum, The Arena, 
lauter Monatsschriften von hervorragendem literarischen Wert. Man denke 
da nicht in erster Linie an Novellen, vielmehr sind es vorwiegend Auf¬ 
sätze höchst gediegenen Inhalts. Das Forum z. B. bringt meistens Dinge, 
die zum Unterricht und zum Schulwesen und zum Universitätsstudium 
gehören, die Arena bringt mehr politische, soziale etc. Dinge, das 
Atlantic ist von jeher hervorragend gewesen als Organ der hochgebil¬ 
deten Bostoner Literatenkreise. Und alle diese Zeitschriften liegen nicht 
bloss auf, sondern werden eifrig gelesen von jedermann im Volk. Ausser 
diesen Monatsschriften gibt es viele Wochenschriften religiösen und wissen¬ 
schaftlichen Inhalts. An die Lesehallen schliesst sich die Bibliothek. 
Diese ist auch weit reichhaltiger, als man wegen ihres populären Cha¬ 
rakters vermuten sollte. Die oberen Räume des Bibliotheksgebäudes 
enthalten Säle, die hauptsächlich für öffentliche Vorträge gebraucht werden. 
Auch dienen sie häufig den Debattierklubs. Wohl wäre es der Mühe 
wert, auf den Inhalt der Vorträge etwas näher einzugehen. Sie sind 
meist nicht nur gediegenen Inhalts, sondern zugleich schön an Form 
und häufig gewürzt mit echtem," feinem amerikanischem Humor. Man 
denke dabei ja nicht an die drastischen Dinge, denen wir manchmal in 
den Zeitungen unter dem Namen »amerikanischer Humor« begegnen. 

Und die Menschen, wie sind die? Zuerst und vor allen Dingen 
sind sie von einem Optimismus durchdrungen, der uns übertrieben scheint. 
Der Amerikaner sieht alle Dinge von der heiteren und hoffnungsvollen 
Seite an. Er glaubt an den Fortschritt auf allen Gebieten und trägt 
redlich seinen Teil zum Fortschritt bei. Der gebildete Amerikaner ist 
intelligent und liebenswürdig im Umgänge, ein heiterer, heller Kopf. 
Und wollte ich von der Intelligenz und dem Geist der amerikanischen 
Frauenwelt reden, so würde das zu weit führen. Nur eins sei hierzu 
gesagt: Nirgends in der ganzen Welt findet man wie in Amerika einen 
so unschuldigen, feinen und doch kameradschaftlichen Umgang der Ge¬ 
schlechter mit einander. 

Kann ein Zweifel bestehen, warum der Vergleich so sehr zum 
Nachteil unserer Landsleute ausfallen musste? Gewiss nicht. Und dass 
der Deutsche nicht notwendiger Weise in Bier versimpeln muss, sieht 
man an solchen unter ihnen, die unter Anglo-Amerikanern aufgewachsen 
sind, oder als ganz junge Leute in solche Umgebung kamen. Sie nehmen 
alle die Eigenschaften des typischen Anglo-Amerikaners an. 

Es wäre leicht, die unerfreulichen Vergleiche weiter zu führen. 
Ich unterlasse es, um auf den gewaltigsten der Schäden hinzuweisen, 
der meines Wissens noch niemals aufgedeckt worden ist, nämlich die 
Vererbung der alkoholischen Gehirnschwächung. 

In seinem inhaltreichen Buche »Die Amerikaner« führt Prof. 
Münsterberg die sehr bedauerlichen Tatsachen an, von denen so¬ 
gleich die Rede sein soll, ohne sie aber auf irgend einen Grund zurück- 



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Stille, Das mässige Trinken der Deutschen in Amerika. 


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zuführen. Dieser scheint ihm ganz entgangen zu sein, was ja auch er¬ 
klärlich genug ist bei der sehr mangelhaften Kenntnis der Alkoholfrage 
unter unseren deutschen Gelehrten. 

Münsterberg schildert die erstaunliche Armut der Deutsch- 
Amerikaner an geistigen Produktionen und sagt von unseren dortigen 
Landsleuten: »Anstatt auf geistige Güter hinzudrängen, haben sie sich 
bei den reichlichen materiellen Gütern wohl sein lassen.« Und etwas 
weiter hin : »Wird die Betrachtung auf die beschränkt, die in der neuen 
Welt geboren sind, so liegt ein Mangel an geistiger Pro¬ 
duktion vor, der geradezu bedrückt.« Im Grunde handelt 
es sich um einen Mangel an Leistungen jeder Art, wie auch Münster¬ 
berg nach weist. Fragen wir z. B. wie viele Abkömmlinge von Deutschen 
im Kongress der Vereinigten Staaten Sitz und Stimme haben, oder gehabt 
haben, wie viele von ihnen also zu der inneren Entwickelung der Ge¬ 
schichte des Landes beigetragen haben, so ist die Antwort ebenso be¬ 
schämend. Indessen erfordert die Gerechtigkeit, hier ein Wort zur teil¬ 
weisen Entschuldigung der ersten Generation unter den Abkömmlingen 
der Deutschen einzufügen. Der geborene Deutsche nämlich, wenn er 
in Amerika zu Wohlstand gekommen ist, lässt seine Kinder meist nur 
auf Elementarschulen ausbilden. Die Jungen sollen früh ins Geschäft; 
und wenn noch nach der Elementarschule etwas zur Ausbildung geschieht, 
so wird der Junge auf das Commercial College geschickt. Dies ist aber 
eine Schule für rein praktische Zwecke, wo Buchführen etc. gelehrt wird. 
Schon die Namenverzeichnisse der Schüler in der High-School (einer 
Mittelschule, die auf die Volksschule folgt) weisen überall eine erstaunlich 
geringe Zahl deutscher Namen auf. Die einzige Ausnahme machen hier 
die deutschen Juden, deren Kinder in grosser Zahl die höheren Schulen 
besuchen, wo sie als sehr tüchtige Schüler bekannt sind. 

Wenn ich nun dagegen die betrübende Tatsache wiederhole, dass 
die nicht-jüdischen deutschen Kinder in den amerikanischen Schulen im 
allgemeinen als etwas dumm gelten, so wird man nicht anders können, 
als das ganz natürlich finden, sofern man nur nicht blindlings wegleugnen 
will, was heutzutage über die Schädigungen der Kinder infolge der Trink¬ 
gewohnheiten der Eltern festgestellt ist. . Der Jude mag sich vielleicht 
sonstigen Ausschweifungen hingeben, im Punkt des Alkoholgenusses ist er 
meistens äusserst mässig und in Amerika macht er die Trinkgebräuche seiner 
deutschen Landsleute nicht mit. Die alkoholische Vergiftung 
der Keimzellen wird also in jüdischen Familien verhältnismässig selten 
Vorkommen, während sie bei unseren nicht-jüdischen 
deutschen Landsleuten ausserordentlich oft Vor¬ 
kommen muss. 

Hier liegt ohne Zweifel der Schlüssel zum Verständnis jener 
traurigen Verhältnisse. Möchten doch unsere deutschen Landsleute in 
Amerika endlich einmal die Augen öffnen, und nicht mehr blindlings 
alles von der Hand weisen, was nach »Temperenz« aussieht! Wahrlich 
keine andere Frage hat für sie eine so gewaltige Wichtigkeit wie die 
Alkoholfrage! 

Die Alkoholfrage. 26 


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Abhandlungen. 


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Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol 
am Ende des Jahres 1904. 

Von Dr. med. Meiner! 


Die besonderen Wege, auf welchen die allmähliche Emanzipation 
der Deutschen von ihrem alten Erblaster erfolgen zu sollen scheint, 
erklären sich zu einem nicht geringen Teil aus der für die germanische 
Kultur charakteristischen Verquickung von höherer Bildung mit der 
niedrigen Sitte, sich dem Genuss berauschender Getränke nach festen 
Regeln hinzugeben. Der an den Hochschulen sich forterbende und wie 
ein Palladium gehütete Trink-Comment ergiesst sich, einem nimmer ver¬ 
siegenden Strome gleich, weit über die Kreise der akademisch Gebildeten 
hinaus, fort und fort in die oberen Schichten der Gesellschaft. Der in 
diesem Strom schwimmende Deutsche gibt zwar zu, dass zuviel getrunken 
wird, aber er selbst fühlt sich fast niemals mitschuldig. Bier, Wein, 
Sekt, Cognak sind ihm einwandfreie Getränke. Dass er in ihnen mehr 
Alkohol konsumiert, als der Arbeiter in seinem bei den Gebildeten 
verpönten Schnaps, will er nicht hören. Er ist höchst einverstanden 
mit dem Kampf gegen den Schnaps alkoholismus. Aber alle An¬ 
deutungen von der Existenz und Bedenklichkeit eines Alkoholismus der 
höheren Stände verstummen ihn. 

Es ist daher kein Wunder, dass die Bestrebungen des 1883 ge¬ 
gründeten deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
bei den Gebildeten der Nation ungeteilten Beifall nur so lange fanden, 
als der Verein unter »Missbrauch« im Wesentlichen die Trunksucht der 
Schnapstrinker verstand und als seine Wortführer die Losung ausgaben, 
dass der Schnaps durch das Bier zu bekämpfen sei. Die seit etwa zehn 
Jahren sich sehr allmählich vollziehende und durchaus noch nicht zum 
Abschluss gelangte Schwenkung des deutschen Vereins gegen den Miss¬ 
brauch geistiger Getränke zum Angriff auf das Uebermass in alkoho¬ 
lischen Getränken überhaupt, hat ihm die erstrebten Sympathien 
der Arbeiterkreise nicht gewonnen, aber das Wohlwollen der höheren 
Stände vielfach verscherzt. Man führt es wohl noch im Munde, weil 
jeder verständige Mensch zu den Mässigkeitsfreunden gerechnet sein will, 
aber pflegt es im Uebrigen zu betätigen. 



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Meinert, Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol etc. 


391 


Warme Vertreter des modernen Mässigkeitsgedankens sind selbst 
im Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke verhältnis¬ 
mässig nicht in grosser Zahl vorhanden. Das Zugeständnis der Unmög¬ 
lichkeit, das für jeden Menschen erlaubte Mass geistiger Getränke zu 
bezeichnen, war und ist leider noch heute vielen sogenannten Mässig- 
keitsfreunden aus dem Herzen gesprochen. Denn am liebsten erteilt 
ein gebildeter deutscher Mann auf die Frage »Wieviel darf man trinken?« 
die Antwort: »Jeder nur soviel, als er vertragen kann.« 

Die Aufstellung der gleich zu besprechenden neuen Definition von 
»Mässig« und ihrer Uebernahme in das Programm des Deutschen Vereins 
g. d. M. g. G. datiert erst seit dem VIII. internationalen Kongress gegen 
den Alkoholismus (Wien 1901), dessen befruchtender Einfluss auf die 
deutsche Antialkoholbewegung überhaupt immer deutlicher hervortritt. 

Das Wort, welches damals in der Eröffnungssitzung der öster¬ 
reichische Ministerpräsident Dr. von K o e r b e r sprach, hat zweifellos 
in so manches Gehirn und in so manches Gewissen hineingeleuchtet: 
»Der Alkohol ist nur, wenn er als seltener Gast geduldet wird, 
ein ungefährlicher Schmeichler; als Hausgenosse ist er ein Feind 
des Menschen.« 

Hervorragende Lehrer der Hygiene an deutschen Hochschulen ge¬ 
langten inzwischen zu der nämlichen Erkenntnis: 

»Den gewohnheitsmässigen täglichen Konsum von Alkohol 
auch in kleinen, bisher als relativ unschädlich betrachteten Mengen, 
halte ich unter allen Umständen für schädlich.« 

(Prof. Dr. R. Pf ei ff er , 

Direktor des hygienischen Instituts in Königsberg.) 

»Ich verwerfe daher vom Standpunkt der Hygiene aus den ha¬ 
bituellen Genuss von alkoholischen Getränken selbst in kleinen 
Mengen.« 

(Hofrat Prof. Dr. Max Gruber, 
Direktor des hygienischen Instituts in München.) 

»Nur derjenige ist in Wahrheit mässig und befugt, 
sich so zu nennen, der nichtjedenTaggeistigeGetränke 
zu sich nimmt, »seinen« Wein und »sein« Bier trinkt, sondern 
wer das nur gelegentlich tut und auch dann innerhalb der 
oben angegebenen Grenzen bleibt.» 

(Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Carl Fraenkel, Direktor des 
hygienischen Instituts in Halle a. d. S.) 

Der Deutsche Verein g. d. M. g. G., welchem diese wertvollen 
Gutachten zur Verfügung gestellt waren, hätte, gestützt auf dieselben, 
eine neue wirkungsvolle Agitation in Angriff nehmen können, wenn er 
nicht genötigt gewesen wäre, in der von ihm veranlassten und redigierten 
»Antwort der deutschen medizinischen Wissenschaft» 

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Abhandlungen. 


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auf die Frage: »Massigkeit oder Enthaltsamkeit?«, wenige Seiten vor 
oder nach obigem autoritativen Erklärungen ganz entgegengesetzte Er¬ 
klärungen nicht minder hervorragender Hygieniker abzudrucken : 

»Auf Ihre Anfrage vom 13. Dezember 1902 teile ich Ihnen mit, 
dass meiner Auffassung nach ein m ä s s i g e r Alkoholgenuss nicht 
schadet, denn Alkohol in kleinen Dosen ist kein Gift, sondern 
ein angenehmes und unschädliches Anregungsmittel.« 

(Geheimrat Professor Dr. A. Gärtner, Direktor des 
hygienischen Instituts in Jena.) 

»Selbstbeobachtung, sowie vergleichende Beobachtung an mir genau 
bekannten Personen scheinen mir zu beweisen, dass die Grenzen 
des gut bekömmlichen Alkoholquantums, in Gestalt von gutem 
Wein und Bier, recht weit gezogen sein können.« 

(Geheimrat Professor Dr. E. von Behring, Direktor des 
hygienischen Instituts in Marburg.) 

»Im ganzen kann wohl als feststehend gelten: Wenn der Alkohol 
die Nahrung ersetzen soll — aus Not, aus Bequemlichkeit, 
aus Gewohnheit oder aus Dummheit — dann wirkt er gesund¬ 
heitsschädlich, sonst aber nicht« 

(Hofrat Professor Dr. J. Schottelius, Direktor des 
hygienischen Instituts in Freiburg i. B.) 

Durch diese und eine grosse Anzahl anderer sich schroff wider¬ 
sprechender Gutachten medizinischer Autoritäten ersten Ranges hatte die 
»deutsche medizinische Wissenschaft« dokumentiert, dass zur Zeit in der 
Alkoholfrage von ihr noch kein entscheidendes Wort gesprochen werden 
dürfe, weil die Ansichten noch nicht genügend gereift seien. Der 
Deutsche Verein g. d. M. £. G. aber, der sich in dem guten Glauben, 
auf diese Weise den sichersten Weg zu gehen, an alle ordentlichen 
Professoren der Physiologie, der Pathologie, der inneren Medizin, der 
Psychiatrie, der Pharmakologie und der Hygiene an den Hochschulen 
des Deutschen Reiches gewandt hatte, sah sich weniger durch die — an 
sich höchst wertvolle — Enquete, als durch die von ihm gewählte Be¬ 
zeichnung : »Eine Antwort der deutschen medizinischen 
Wissenschaft« 1 ) in eine recht kritische Lage versetzt. 

Diese begann mit der überraschenden Auslage der ganz im Stillen 
und selbst ohne Befragung des literarischen Ausschusses des Vereins 
vorbereiteten Publikation in der Ausstellung des Bremer Internationalen 
Kongresses (14.—19. April 1903). 


T ) Mässigkeit oder Enthaltsamkeit? Eine Antwort der deutschen medizi¬ 
nischen Wissenschaft auf diese Frage. Im Aufträge des Deutschen Vereins gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke veröffentlicht von Professor Carl Fraenkel in 
Halle a. d. S., Mässigkeitsverlag des Deutschen Vereins g. d. M. g. G., Berlin W. 15, 
Fasanenstrasse 74 (ohne Jahreszahl). Das Vorwort Professor Fraenkels ist vom 
18. Februar 1903 datiert. 



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Meinert, Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol etc. 


393 


Zu allem Unglück erschien in Bremen Professor H u e p p e aus 
Prag und provozierte schon in seiner Ansprache als Delegierter der 
österreichischen Regierung die bekannten Lärmszenen. Da er erst wenige 
Monate vorher eine im Mässigkeitsverlag erschienene Ehrenrettung des 
Alkohols unternommen hatte, 1 ) die mit heftigen Ausfällen gegen die 
Abstinenten gewürzt war, so glaubten viele der letzteren in ihm einen 
vom Deutschen Verein geworbenen Angreifer vor sich zu haben. Mit 
Unrecht. Hueppe war ohne Zutun des Deutschen Vereins nach Bremen 
gekommen. Aber leider wurde das Misstrauen der Abstinenten genährt 
durch den Beifall, den sein Abstinentenhass auf den Bänken der 
Mässigen fand. 

Noch einmal geriet der »Mässigkeitsverlag« bei der deutschen 
Alkoholgegnerschaft in den Verdacht, es mit Hueppe zu halten, als 
der Verlag eine weitere Kampfschrift Hueppes gegen die Abstinenten in 
den Mässigkeitsblättern (1903, No. 8, S. 136) unentgeltlich ausbot. 2 ) 

In aller Form losgesagt hat sich der Deutsche Verein g. d. M. g. G. 
von diesem gefährlichen Freund erst nach seinem Vortrag auf dem 
Wiener Brauertage (Mai 1904) 8 ) und nach Professor Max Gruber’s 
offenem Brief an seinen Spezialkollegen (vgl. »Die Gefahren des Alkohol¬ 
missbrauchs«, Korrespondenz, herausgegeben vom Oesterreichischen Ver¬ 
ein gegen Trunksucht und vom Sächsischen Landesverband g. d. M. g. G. 
1904, No. 6, Beilage) mit dem wuchtigen Schlusswort: 

»Ich beklage daher den Feldzug, den Herr Pro¬ 
fessor Hueppe gegen die Abstinenten führt. Ich fürchte, 
alles das, was er gegen den Alkohol sagt, wird verhallen, das aber, 
was er zu seinen Gunsten sagt, oder jene Worte, die wenigstens 
zu seinen Gunsten gedeutet werden können, werden von gierigen 
Ohren eingesogen werden und millionenfaches Echo finden. Möchte 
Professor Hueppe, diese hervorragende Intelligenz, doch bald zur 
Einsicht kommen, welchen ungeheuren Schaden er an¬ 
richtet, indem er einem vielleicht nicht ganz unberechtigten Aerger 
nachgibt.« 

Professor Grubers Befürchtungen sind eingetroffen. Die Schnaps-, 
Bier und Weinproduzenten überschwemmten 1904 mit ihren Anpreisungen 
ganz Deutschland, immer sich berufend auf Hueppe und andere hervoi- 
ragende Mediziner, welche ihrem guten Zutrauen zum Alkohol (»mässig 
genossen«) schwarz auf weiss Ausdruck verliehen hatten. 

J ) Ist Alkohol nur ein Gift? Von Ferdinand Hueppe, Mässigkeitsverlag etc. 
(ohne Jahreszahl). Der literarische Ausschuss des Deutschen Vereins g. d. M. g. G. 
hatte diese Schrift gegen die einzige .Stimme des demselben angehörenden Arztes 
gutgeheissen. Ihr erster Teü ist nur für Fachleute verständlich. 

*) Der Kampf gegen den Alkoholismus auf dem Kongresse in Bremen. Von 
Ferdinand Hueppe. Unentgeltlich zu beziehen vom Mässigkeitsverlag, Berlin W. 15. 

®) „Alkoholmissbrauch und Abstinenz.“ Berlin 1904. August Hirschwald, 
2. Auflage. 


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Abhandlungen. 


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Aufsehen erregten namentlich das Destillateur-Flugblatt: »Ist 
Alkohol Gift?« oder »Ist Alkohol das Leben?« 1 ) und die Weinhändler- 
Broschüre: »Wein ist Gesundheit.« 2 ) 

Aber nicht nur das unwissenschaftliche Eingreifen für den Alkohol 
voreingenommener Gelehrter, sondern auch die mit fehlerhaften Voraus¬ 
setzungen auf dem Gebiete der Alkoholwirkungen arbeitende echte 
Wissenschaft hat Verwirrung angerichtet. Das gilt namentlich von den 
umfangreichen Versuchen über den Nährwert des Alkohols. 

Die erste Phase dieser Versuche schloss zu Ungunsten, die zweite 
zu Gunsten des Alkohols ab. Der Wert des Alkohols als Sparmittel 
für Fett und Eiweiss war jedoch nur für — einige Wochen lang fort¬ 
gesetzte — tägliche Alkoholrationen erwiesen, welche über das als un¬ 
schädlich geltende Mass hinausgingen. Aber diesem Einwand gegen¬ 
über halfen sich die Experimentatoren mit der Erklärung, dass sie ihre 
Versuchspersonen vorerst an die nötigen Mengen Alkohol gewöhnt, 
also giftfest gemacht hätten. Diese Erklärung war nicht annehmbar. 
Denn die in Frage stehenden Giftwirkungen des Alkohols in nicht be¬ 
rauschenden Gaben lassen sich durch Gewöhnung nicht verhüten, sondern 
nur hervorrufen und steigern. Sie treten aber nicht bereits nach vier 
Wochen (längste Versuchsdauer) ein, sondern nach Jahren und Jahr¬ 
zehnten, sind also experimentell überhaupt nicht erweisbar. Aber schon 
die Annahme, dass es sich bei den an den Versuchspersonen nachweis¬ 
baren Ernährungseffekten um physiologische handle, war eine willkürliche. 
Das ständige Massenexperiment, welchem sich die Gewohnheitstrinker 
unbeabsichtigt unterwerfen, lehrt im Gegenteil, dass die Alkoholmast 
eine pathologische Erscheinung ist, eine Anbildung von Fett und 
Eiweiss am Unrechten Ort (z. B. »Bierherz«). 

Diese naheliegenden Bedenken kamen aber merkwürdigerweise 
keinem der im übrigen exakten Experimentatoren. Und so konnte der 
Chemiker Prof. Duclaux, der inzwischen verstorbene Direktor des Instituts 
Pasteur, auf Grund missverstandener Versuche seines amerikanischen 
Kollegen Prof. Atwater 3 ) sogar behaupten, dass der Alkohol ein unent¬ 
behrliches Nährmittel sei. Diese Uebertreibung zog ihm allerdings 
scharfe Zurückweisungen zu, namentlich durch Atwater selbst. 


x ) Ein satirisches Gegenflugblatt desselben Titels ist vom Dresdener Bezirks¬ 
verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke in 90 000 Exemplaren verbreitet 
worden und von dessen Geschäftssielle (Dresden-A., Holbeinstr. 105) zu beziehen. 

2 ) Trefflich widerlegt vom Dresdener Nervenarzt Dr. Stegmann (vgl. 
S. 373 ds. Heftes). Der vollständige Titel der sehr beachtenswerten Schrift lautet: 

Wein ist Gesundheit. Eine Widerlegung der irrigen Ansichten der 
Alkoholgegner auf Grund einer Reihe Gutachten ärztlicher Autoritäten, 
bearbeitet und zusammengestellt von Fritz Goldschmidt, Redakteur der 
Deutschen Wein-Zeitung, Weinsachverständiger des Kaiserlichen Statistischen Amtes. 
Verlag der Deutschen Wein-Zeitung, Mainz (ohne Jahreszahl, aber 1904 erschienen;. 

3 ) The nutritive value of alcohol. By Prof. W. O. Atwater. Physiological 
aspects of the liquor probleu*. Boston and New-York, Houghton, Mifflin and 
Company 1903, 



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Meinert, Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol etc. 


395 


Nach langen Kontroversen, an denen uns namentlich die geschickte 
Ausbeutung der jeweiligen Konjunkturen durch die vom Alkoholkapital 
abhängige Presse interessiert, einigten sich die Gelehrten dahin, dass der 
Alkohol wohl wissenschaftlich (vom Standpunkt des Chemikers) zu cTen 
Nährstoffen gerechnet werden müsse, weil er im Körper fast vollständig 
verbrenne, dass er aber praktisch (vom Standpunkte des Physiologen) 
seiner giftigen Eigenschaften wegen als Nährstoff nicht gelten zu lassen sei. 

Aehnliche Verwirrung richteten die Forschungen über den Ein¬ 
fluss des Alkohols auf die Muskeltätigkeit an, ohne auch 
hier zu neuer Erkenntnis zu führen. 

Wie überhaupt die Antialkoholbewegung bei Alkoholfreunden, ge¬ 
bildeten, wie ungebildeten, kein Verständnis und keine Unterstützung, 
wohl aber eine mehr oder weniger offene Gegnerschaft zu finden pflegt, 
so geht es ihr auch mit den Verehrern eines guten Tropfens im ärzt¬ 
lichen Stand. Nur hieraus lassen sich z. B. die auffallenden Tatsachen 
erklären, dass die Deutsche Volksheilstättenbewegung die wichtigen und 
viel diskutierten Zusammenhänge zwischen Tuberkulose und Alkoholismus 
und dass das deutsche Komitee für Krebsforschung die nicht minder 
wichtigen Beziehungen zwischen Krebs und Alkoholismus in keiner Weise 
würdigen und verfolgen, 1 ) während andererseits die »Blätter für Volks¬ 
gesundheitspflege« (Organ des Deutschen Vereins für Volks-Hygiene) 
1904, No. 23, S. 361 die Phrasen Prof. Hueppes von der Minder¬ 
wertigkeit der Abstinenten, der Erleichterung der Muskel- und Gehirn¬ 
arbeit unter Umständen durch den Alkohol, vom Nährwert des Bieres, 
von der Uebertriebenheit der Behauptung, dass Alkohol ein Gift sei, 
dass er zu der Entartung der Rasse beitrage u. s. w., in weite Kreise 
zu verbreiten sich für berufen fühlen. 

Am meisten unter den für den Alkohol eintretenden Autoritäten 
setzen sich wohl diejenigen dem Verdacht aus, selbst Alkoholiker zu 
sein, welche offenbare Unwahrheiten behaupten, wie: dass die als Bier¬ 
herz bekannte Krankheit ebenso bei russischen Teetrinkern, auch wenn 
sie niemals Alkohol getrunken hätten, beobachtet worden sei, oder: dass 


*) Prof. v. Leydens bekannter Vortrag „V e 1 h ü t u n g der Tuber¬ 
kulose (1. Heft der Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für Volkshygiene) 
gedenkt des Alkohols mit keinem Worte. — Die Abschaffung dei täglichen 
Alkoholrationen in den Volksheilstätten für Lungenkranke ist bis 
jetzt vergeblich gefordert worden und der „Sächsische Zentralverband zur Bekämpfung 
des Alkoholismus“ hat diese dem „Sächsischen Landesverband gegen den Missbrauch 
geistiger Getränke“ 1904 vom Sächsischen Heilstättenvoistand abgelehnte Forderung 
bei diesem soeben erneut. 

Im Bericht über das vorläufige Ergebnis der Sammelforschung vom 
15. Oktober 1900 (Veröffentlichungen des Komitees für Krebsforschung I, 
S. XVII) wurden die zahlreichen, später (S. 25) leider nur ganz summarisch er¬ 
wähnten Beobachtungen der einzelnen Berichterstatter über Krebs bei Alkoholikern 
mit den befremdlichen Sätzen erledigt: 

„Ebenso dürfte die Annahme des Alkohols als Krankheitsursache bei 14,7% 
der Männer und 0,9% der Frauen mehr auf Vermutung als auf sicheren Beweisen 
beruhen. Dass der Alkohol als solcher zu Krebs führen sollte, ist bei seinen anti¬ 
septischen Wirkungen von vornherein nicht wahrscheinlich.“ 


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jeder Mensch, auch der hartgesottenste Abstinenzler täglich »erhebliche 
Mengen Alkohol« zu sich nehme, oder, um einen anderen Gewährsmann 
für diese freie Erfindung reden zu lassen: — dass im frischen Brot 
etwa V 2 % Alkohol enthalten sei. 

So sehen wir, dass die Wissenschaft anstatt, wie man wohl zu er¬ 
warten berechtigt wäre, der Bewegung gegen den Alkohol geschlossen 
Beistand zu leisten, neuerdings mannigfach mit oder ohne Absicht ihr 
entgegenarbeitete. Während noch auf dem Wiener Kongress gegen den 
Alkoholismus (1901) die Behauptung eines Arztes, dass die zweifelhafte 
Stellungnahme und das nicht immer nachahmenswerte Beispiel so vieler 
seiner Kollegen zur Zeit noch das Haupthindernis für den Sieg der 
Antialkoholbestrebungen darstelle, — einen Entrüstungssturm in den 
Reihen der anwesenden Aerzte hervorrief, würde nach den Erfahrungen 
der letzten Jahre einer solchen Behauptung heute wohl kaum ernstlich 
widersprochen werden können. 

Die Erkenntnis, dass Urteilsfähigkeit in der Alkoholfrage einzig durch 
Vertiefung in diese selbst und durch nüchternes Leben, nicht aber durch 
medizinisches Studium sich erwerben lässt, bleibt aber nicht der einzige 
Gewinn, welcher der deutschen Bewegung gegen den Alkohol aus der 
Einmischung alkoholfreundlicher Aerzte in die Diskussion erwachsen ist. 

Nach Austrag der absonderlichen Fehde scheint der Entwickelung 
der deutschen Antialkoholbestrebungen eine friedlichere Zukunft zu winken. 

Alle die gelehrten Aerzte, durch deren autoritative Zeugnisse das 
im Schwinden begriffene Vertrauen zu Freund Alkohol wieder neu¬ 
gestärkt wurde, bekennen sich ausdrücklich zum Standpunkt der »Mässig- 
keit«. Und doch wurden sie mit ihrer »Mässigkeit« zu Verführern. 
Prof. v. Bunges ihm so übel vermerktes geflügeltes Wort »Die Mässi- 
gen sind die Verführer«, hat sich also während der letzten beiden 
Jahre leider nur allzusehr bewahrheitet. Dieses Zugeständnis müssen 
wir Mässigkeitsvereinler den Abstinenten ehrlicherweise machen. Durch 
dasselbe fällt aber eine der hauptsächlichsten Empfindlichkeiten weg, 
durch welche die Eintracht zwischen zwei demselben Feind zu Leibe 
gehenden natürlichen Alliierten, chronisch gestört wurde. 

Wenn wir Mässigkeitsvereinler niemals wieder vergessen, dass wir 
gegen den Alkohol kämpfen und nicht die Aufgabe haben, irgend 
etwas zu seinen Gunsten vorzubringen, dann werden wir auch gegen den 
verhängnisvollen Fehler gefeit sein, in der Hitze des Gefechtes die 
Abstinenten für unsere Gegner zu halten. 



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Peipers, Die Kuranstalt Siloah in Lintorf. 


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Die Kuranstalt Siloah in Lintdri 

in 25 jähriger Arbeit. 

Von Dr. med. Peipers. 

Die Kuranstalt Siloah in Lintorf feierte am 27. November 1904 
ihr 2 5 jähriges Bestehen. Auf Einladung des Herrn Pastor Kruse, des 
derzeitigen Vorstehers der Lintorfer Anstalten, hatte sich an dem ge¬ 
nannten Tage eine Reihe von Freunden und früheren Patienten zu einer 
kleinen Feier in Siloah eingefunden, darunter auch der hochbetagte 
Direktor Engelbert der Duisburger Diakonengesellschaft, dem die Lin¬ 
torfer Anstalten ihre Entstehung verdanken. 

Siloah ist Deutschlands älteste Heilanstalt für Alkoholkranke, und 
würde speziell zu diesem Zwecke erbaut. Schon der ältere Kliniker 
Nasse hatte 1851 auf die Notwendigkeit eigener Asyle für Trinker hin¬ 
gewiesen. Er war in Deutschland wohl der erste Kliniker, der diese 
Forderung aufstellte, während man in Amerika schon im Anfang des 
vorigen Jahrhunderts zu dieser Erkenntnis gekommen war. In Nord- 
Amerika war es bereits im Jahre 1809 von dem Arzte Dr. Russ aus¬ 
gesprochen worden, dass die :>intemperance« eine Krankheit sei und 
dass eigene Hospitäler für diese Kranken errichtet werden müssten. 
Auf dem Boden dieser Anschauungen wurde es dem Arzte Dr. Turner 
möglich, einen Verein von Geistlichen, Aerzten und Beamten, dem die 
Staatshilfe nicht fehlte, im Jahre 1854 zur Gründung eines Trinker- 
Asyls zu gewinnen. 

Aber schon 3 Jahre vorher hatte man in Lintorf eine Arbeit be¬ 
gonnen, die der in Newyork unternommenen ähnlich war. Dort in dem 
weltabgeschiedenen Dorfe hatten die Duisburger Diakonen und an ihrer 
Spitze Direktor Engelbert eine Zufluchtstätte für gescheiterte Existenzen 
aller Art eröffnet. Aber bald war man zu der Erkenntnis gekommen, 
dass die Schiffbrüchigen, die in diesem Hafen landeten, allesamt Alkohol 
an Bord hatten und dass dieser die Hauptschuld an dem Schiffbruch 
trage. Und so wurde aus dem Asyl in praxi eine Zufluchtsstätte für 
Trinker, wenngleich man anfänglich der Arbeit nicht mit so klarer Er¬ 
kenntnis gegenüberstand, wie in Newyork. Denn während man in 
Amerika im Jahre 1877 bereits 15 offizielle Trinkerheilanstalten, meistens 
unter staatlicher Oberleitung, hatte, blieb in Deutschland das Lintorfer 
Asyl die einzige Anstalt, die mit immer grösserer Klarheit sich dieser 
Spezialarbeit widmete und in der neben dem einfachen Arbeiter Grafen 
und Barone untergebracht wurden. 


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Abhandlungen. 


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Diese Vermischung der Stände wurde als grosser Missstand em¬ 
pfunden und Pastor Hirsch, der damalige Vorsteher des Asyls, sprach 
es aus, dass man den Trinker vielmehr auf ein höheres geistiges und 
gesellschaftliches Niveau heben müsse, als dass man ihn auf ein nied¬ 
rigeres herabdrücke. 

Der jüngere Nasse, der Sohn des oben erwähnten Bonner Klinikers, 
legte im Jahre 1877 der Konferenz für innere Mission die Resultate 
vor, welche die amerikanischen Anstalten aufzuweisen hatten und die 
durchweg recht günstige waren. Er formulierte, in völliger Ueberein- 
stimmung mit seinem Korreferenten Pastor Hirsch, die Bedingungen für 
eine Heilung der Trinker in folgenden 3 Forderungen : 

1. Völlige Enthaltung von dem gewohnten Genüsse; 

2. geeignete Körperpflege; 

3. sittlich-religiöse Einwirkung, wesentlich erziehlicher Natur, drei 
Faktoren, die geraume Zeit fort wirken müssten. 

Die Ausführungen des berühmten Klinikers und seines Korreferenten 
veranlassten die Duisburger Diakonengesellschaft, die im Lintorfer Asyl 
begonnene Arbeit weiter auszubauen. Und als Siloah am 27. November 
1879 seiner Bestimmung übergeben wurde, da begrüsste man diese Er¬ 
öffnung der ersten deutschen Heilanstalt für Alkoholiker als ein Ereignis, 
das ein dringendes Bedürfnis befriedigen werde. 

Siloah ist für viele der heute bestehenden Anstalten seinen Ein¬ 
richtungen und Prinzipien nach vorbildlich geworden. Es hat seinen 
Charakter, der in den von Nasse aufgestellten Bedingungen zum Aus¬ 
druck kommt, nicht wesentlich geändert. Dagegen war es bemüht, in 
seinen Einrichtungen den Anforderungen der Neuzeit nach Massgabe 
seiner Mittel gerecht zu werden. 

Arzt und Seelsorger haben einstens dem Unternehmen Gevatter 
gestanden und unter diesen Auspizien hat »Siloah« und die im Jahre 
1902 hinzugekommene dritte Anstalt »Bethesda« die wichtige Arbeit 
fortgeführt. Materiellen Gewinn hat es seinen Gründern nicht gebracht; 
aber es ist, das darf man wohl behaupten, zu einer Hülfe für viele ge¬ 
worden. 683 Kranke haben in den 25 Arbeitsjahren Aufnahme gefunden 
und von manchen derselben traf am 27. November ein Gruss ein zum 
Zeichen, dass er treu geblieben sei. Unter den 683 Patienten * waren 
113 Ausländer. Dem Berufe nach waren es 280 Kaufleute, 81 Land¬ 
wirte, 53 Juristen, 25 Apotheker, 20 Offiziere, je 19 Theologen und 
Mediziner, 31 Gastwirte, 7 Brauer, 14 Lehrer, 9 Architekten, 18 Rentner, 
32 ^waren ohne Beruf und der Rest verteilt sich auf verschiedene Berufs¬ 
arten. Dem Alter nach waren unter 20 Jahren 8, von 21—30: 194, 
von 31—40: 268, von 41—50: 162, von 51—60: 42, über 60: 9. 
45 Patienten wuiden zweimal aufgenommen, 10 dreimal, 4 viermal, je 
1 fünf- und sechsmal. 

Die einfache Feier am 27. November 1904 gestaltete sich, wie 
alle unsere Anstaltsfeiern, zu einer Art Familienfest, das wohl bei allen 
Beteiligten freundliche Erinnerungen hinterlassen wird. 



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Kruse, Die Mitwirkung Her Familie bei Her Behandlung des Alkoholkranken. 399 


Die Hitwirkiing der Familie bei der 
Behandlung des Alkoholkranken. 

Von Pastor KrilS6, Vorsteher der Heilanstalten zu Lintorf. 


Auf Grund der Anstaltserfahrungen soll in Nachfolgendem gezeigt 
werden, wie sehr es an der Mitwirkung der Familie bei der Heilbe¬ 
handlung der Alkoholkranken fehlt. Schon auf der ersten Konferenz 
der deutschen Heilanstalten (Dresden 1900) wurde ausgesprochen, dass 
wir den Familien, die doch unsere vornehmsten Mithelfer sein sollten, 
unsere ernstesten Bemühungen zuwenden müssten. Die letzte Konferenz 
(Erfurt 1904) zeigte bei der Behandlung der Frage: »Wie erreichen wir 
die Familien unserer Pflegebefohlenen?« volle Uebereinstimmung in der 
Beurteilung des hier vorhandenen Notstandes und in dem Wunsche, 
dass es gelingen möchte, die Familien zu verständnisvollerer Mitarbeit 
zu gewinnen. Fan von der Lintorfer Anstaltsleitung dargebotenes, auf 
die wichtigsten Punkte hinweisendes Anschreiben »An die Familien unserer 
Pflegebefohlenen« wurde mit Beifall aufgenommen und soll von einer 
grösseren Reihe der Anstalten benutzt werden. Dem gleichen Zwecke 
wollen auch die nachfolgenden Zeilen dienen. Verfasser erkennt dankbar 
an, dass er bei vielen Familien die verständnisvollste Unterstützung ge¬ 
funden hat, darf aber nicht verschweigen, dass die trüben Erfahrungen 
weitaus überwiegen, und fühlt sich verpflichtet, zu zeigen, welche Fehler 
vor allem zu vermeiden sind, wenn dasjenige Zusammenarbeiten von 
Anstalt und Familie stattfinden soll, welches am sichersten dauernden 
Erfolg verbürgt. 

I. 

Pastor Haake hat in dieser Vierteljahrsschrift (Heft 3, S. 239 ff.) 
mit Recht nachgewiesen, dass die Fragestellung, ob die Trunksucht Sünde 
oder Krankheit sei, durchaus falsch sei. Die Trunksucht ist beides, wie 
ungleich im einzelnen Falle beides auch verteilt sein mag. Das ungemein 
Wohltuende einer gesunden Anstaltsarbeit beruht gerade darauf, dass sie 
den Pflegebefohlenen zunächst ausschliesslich als Kranken behandelt, 
dem gegenüber Vorwürfe nicht am Platze sind. Nicht nur vor den Ver- 


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Abhandlungen. 


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suchungen, auch vor den Anklagen seiner Umgebung sicher, kommt der 
Patient, je mehr er zu einem normalen Zustand zurückkehrt, in der 
Anstaltspflege zur Selbstbesinnung. Jetzt wird der Blick rückwärts 
und einwärts gelenkt, jetzt wird das Gewissen wach, während man früher, 
für alles Bitten und Mahnen taub, durch die Vorwürfe der Umgebung 
verbittert wurde. Ist doch auch der Trinker, zumal auf den vor¬ 
geschrittenen Stadien seines Zustandes gar nicht in der Lage, die zum 
Ueberdruss oft empfangenen Weisungen zu befolgen. Dem in der rechten 
Umgebung erwachenden Gewissen dürfen nun freilich keine Opiate ge¬ 
reicht werden. An diesem Punkte hat eine taktvolle Seelsorge einzutreten, 
die zu tieferer Erkenntnis der gemachten Fehler führt, aber dann auch 
für die Gewissenswunden die rechte Hilfe bietet. Zu siegreichen Kämpfern 
gegen den Feind werden sich nur diejenigen entwickeln, welche ihrer 
Schuld ledig und der Vergebung gewiss geworden sind. Während die 
einseitige Betonung, dass die Trunksucht Krankheit sei, für den tiefsten 
Schaden kein Auge hat, geschieht gründliche Arbeit nur dort, wo man, 
das Moment der persönlichen Verschuldung nicht ausser Acht lassend, 
die Persönlichkeit des Trinkers in ihrem innersten Kern zu fassen und 
zu beeinflussen sucht. 

Wir Berufsarbeiter der Trinkerheilung stehen in der Mitte zwischen 
unseren Pflegebefohlenen und ihren Familien und müssen bestrebt sein, 
dem altpreussischen suum cuique auch hier zu seinem Rechte zu ver¬ 
helfen. Bei Allem das Beste unserer Patienten im Auge, haben wir 
auch die Anwälte der Familie zu sein, sonderlich dann, wenn unsere 
Patienten, anstatt ernsterer Auffassung Raum zu geben und der eigenen 
Mitschuld zu gedenken, gerade diejenigen für ihren Fall verantwortlich 
machen, die vielleicht am allermeisten daiunter gelitten haben. Wollten 
wir uns vorschnell gegen die Angehörigen einnehmen lassen, so bewiesen 
wir damit nur einen bedauerlichen Mangel psychologischen Ver¬ 
ständnisses und pädagogischen Geschickes. — Auf der anderen Seite 
aber sind wir auch oft genötigt, für unsere Pflegebefohlenen 
einzutreten. Wir finden in den seltensten Fällen Verständnis dafür, dass 
der Trinker, mag er auch durch eigene Schuld in sein Elend hinein¬ 
gekommen sein, sich in einem Zustand der Gebundenheit befindet. Die 
Familien, die allerdings oft Entsetzliches zu leiden hatten, sind am aller¬ 
wenigsten geneigt, mildernde Umstände anzuerkennen : s i e sind es, die 
in ihrem trunksüchtigen Gliede vor allem den lasterhaften Menschen 
sehen, während wir oft das dankbare Wort eines Pfleglings hören, dass 
er noch niemals mit solcher verständnisvollen Milde behandelt worden 
sei, als in der Anstalt selbst, und dass die oft gehörte Ansicht, Trinker¬ 
heilanstalten seien voll finsteren Geistes, durchaus keine Berechtigung 
habe. Die Familien sollten endlich begreifen, dass, wie schon der 
harmlos scheinende, im Liede besungene Rauschzustand, so noch mehr 
der chronische Alkoholismus eine Erkrankung des Gehirns bedeutet, 
die um so tiefer geht, je länger der Kranke unter der schädigenden 
Wirkung des Alkohols gestanden hat! Der Trinker selbst ist in erster 
Linie der Leidende, dem gegenüber in hohem Grade das Wort am 



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Kruse, die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 401 

Platze ist, das für die in Unwissenheit Handelnden um Vergebung bittet. 
Und je mehr erkannt wird, dass der Trinker nicht nur gegen seine 
Umgebung frevelt, sondern sich selbst den Untergang bereitet, desto 
mehr sollte geeilt werden, diejenige Behandlung eintreten zu lassen, 
welche allein zur Freiwerdung und Umwandlung der gebundenen 
und im innersten Kern angegriffenen Persönlichkeit führen kann. Solchen 
Dienst wollen die Anstalten leisten. Aber wann und wie benutzt man 
uns? Vielfach erst dann, wenns fast zu spät ist. Erst wenn Leib und 
Geist den schwersten Schaden erlitten haben, wenn das Vermögen durch¬ 
gebracht ist, wenn auch Amerika, wohin man leider noch immer die 
Charaktermollusken deportiert, nichts genützt hat, erst dann, wenn ein 
unheilbarer Riss in der Familie entstanden ist oder das Amt auf dem 
Spiele steht. Und weil man für das Wesen des Alkoholismus und die 
Prinzipien der Heilanstalten kein Verständnis hat, so benutzt man 
dieselben, um das lästige Familienglied nur für eine Weile loszuwerden. 
Wie oft schreckt und droht man mit der Anstalt, anstatt dem der Be¬ 
handlung Bedürftigen Lust zu machen, zu seiner Genesung in dieselbe 
einzutreten! Der Hinweis auf den bekannten Entmündigungsparagraphen 
des bürgerlichen Gesetzbuches kann unter Umständen gute Wirkung 
haben, aber er sollte erst dann ins Feld geführt werden, wenn Aerzte 
oder Seelsorger sich vergeblich bemüht haben, dem Alkoholkranken 
die Möglichkeit seiner vollständigen Heilung in gewinnender Weise vor 
Augen zu führen. Am aussichtsvollsten ist es, wenn die Beeinflussung 
von Jemandem ausgeht, der die Hilfe der Anstaltsbehandlung an sich 
selbst erfahren hat. Gerade während diese Zeilen geschrieben werden, bringt 
ein geheilter Patient zum zweiten Male schon einen Landsmann in unsere 
Pflege. Solch Kommen ist viel aussichtsvoller, als wenn der Kranke 
mit Gewalt oder List seitens der Seinen uns zugeführt wird, wogegen 
wir uns ernstlich wenden müssen. Entgegen unsrer ausdrücklichen 
Weisung hat man ihn über die Natur der Anstalt und über ihre Ordnungen 
nicht aufgeklärt, der Patient glaubt für kurze Wochen in ein Erholungs¬ 
haus allgemeinen Charakters eingetreten zu sein und ist dann empört, 
wenn er sich in einer Spezialanstalt für Alkoholkranke befindet, die 
bei weitgehendster Schonung der Individualität ihrer Patienten doch auf 
gewisse Beschränkungen ihrer Freiheit namentlich für den Anfang nicht 
verzichten kann. Dieser Mangel an Aufrichtigkeit bereitet unsrer Arbeit 
grosse Hindernisse, und es kann die Klage nicht unterdrückt werden, 
dass vielfach nicht nur die Familie, sondern auch ihre ärztlichen Rat¬ 
geber den Patienten in Unklarheit lassen, indem sie die Heilung von irgend 
einem sekundären Leiden in den Vordergrund schieben, von dem Kern 
der Sache dagegen schweigen. Sehen sich aber die Patienten von ihren 
heimischen Beratern also getäuscht, so wendet sich ihr Misstrauen in 
der Regel gegen uns, und wir haben, wie sehr wir das Verhältnis zur 
Heimat schonen möchten, dann kein anderes Mittel, als in der kräftigsten 
Weise zu betonen, dass man ganz gegen unseren Willen gehandelt hat. 
Dass man doch einsehen wollte, dass auf diesem Gebiete überhaupt 
keine Zwangsheilungen möglich sind! Die Aufgabe, den Alkoholkranken zu 


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Abhandlungen. 


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einer Heilbehandlung willig zu machen, kann nicht früh und ernst genug 
auf die angedeutete Weise zu lösen versucht werden; von früherer Ver¬ 
bringung, zumal wenn sie unter Anwendung von Gewalt oder List unter 
Vorenthaltung der vollen Wahrheit geschieht, ist zum Mindesten nichts 
Gutes zu erwarten. Erfolgreiche Arbeit ist nur auf der Grundlage des 
Vertrauens möglich, darum sollte seitens der Familie alles mit Sorgfalt 
vermieden werden, was das Vertrauen des Patienten zur Anstalts¬ 
behandlung vermindern und wohl gar untergraben könnte! Mit dem 
Gesagten soll durchaus nicht gegen die angestrebten gesetzgeberischen 
Massnahmen protestiert werden, durch welche auch die durchaus Wider¬ 
willigen und Einsichtslosen gefasst, in Anstalten geleitet und unter Um¬ 
ständen auch gegen ihren eigenen Willen in denselben zwangsweise 
zurückbehalten werden sollen. Es gibt eine Kategorie von Trinkern, in 
deren Interesse derartige Massnahmen unbedingt erforderlich sind. Das 
wird in erster Linie von den Leitern der jetzigen, das Prinzip der 
Freiwilligkeit vertretenden Anstalten gefordert, für welche dieser 
schwierigste Teil der Trunksüchtigen eine kaum lösbare Aufgabe bedeutet. 
Mag die eine oder andere bestehende Anstalt sich um eine geschlossene 
Abteilung erweitern, die bisherigen Anstalten werden im grossen und 
ganzen davon nichts wissen wollen, sie werden Wert darauf legen, eine 
Genesungsstätte für solche zu sein, die den, wenn auch schwachen doch 
aufrichtigen Willen haben, von ihrer Leidenschaft frei zu werden. Neben 
ihnen sind jedoch mit Zwangsmitteln ausgestattete Bewahranstalten öffent¬ 
lichen Charakters ein dringendes Bedürfnis. — 

II. 

Aber auch während des Heilversuches erfährt unsere Arbeit seitens 
der Familien mancherlei Hemmung, zumal wenn bei ihnen, ausser dem 
rechten Verständnis für das Wesen des Alkoholismus, Liebe und Weis¬ 
heit fehlt. Mögen die Formen andere sein, tatsächlich ist zwischen ge¬ 
bildeten und ungebildeten Familien, wo Höheres fehlt, nur wenig Unter¬ 
schied. Ich schweige von einzelnen köstlichen Erfahrungen, wo ich die 
Liebe sah, die alles trägt, glaubt, hofft und duldet und schliesslich auch 
den Sieg erringt. Andere Erinnerungen steigen vor mir auf. Wie 
vorher im persönlichen Umgang, so tritt jetzt beim brieflichen Verkehr 
nichts als Groll und Bitterkeit hervor. Die Patienten hungern vielleicht 
nach einem versöhnlichen Worte, aber es bleibt ungeschrieben. Die 
Briefe, oft ohne Anrede, ohne Gruss, enthalten nur das Dürftigste. Oft 
muss man wünschen, dass der Brief ungeschrieben geblieben wäre, denn 
er enthält, wie jüngst der Geburtstagsbrief an den hier weilenden Mann, 
neben einigen frommen Worten nur drohenden Hinweis auf Gefängnis 
und Irrenhaus, im anderen Falle die Drohung: »Ich gehe mit meinen 
Kindern auf und davon.« Eine Mutter schreibt, dass sie ihren Sohn 
nicht Wiedersehen wolle und ein Vater kann’s bei dreimaligem Besuche 
von der Anstaltsleitung nicht über sich gewinnen, sein Kind zu sehen, 
obwohl man ihm sagen darf, dass die Versöhnung mit dem Vater, nach 


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Kruse, Die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 403 


der der Sohn lechzt, den allergünstigsten Einfluss auf des Sohnes Ent¬ 
wicklung ausüben werde. Da beantragt eine Familie Entmündigung 
und Ehescheidung, gerade zu einer Zeit, als der anfangs der Heil¬ 
behandlung sehr abgeneigte Patient Vertrauen zu seinen Pflegern und 
Beratern gewinnt und die ersten Spuren von Besserung zeigt. Wäre es 
der Anstaltsleitung nicht gelungen, das Angedrohte noch in der letzten 
Stunde zu verhüten, dann wäre Abbruch und Scheitern des .Heilver¬ 
suches die unvermeidliche Folge gewesen. Oft ist’s nur mit Mühe 
gelungen, den durch solche nicht gerade unverständliche, aber doch im 
höchsten Grade unzweckmässige Massnahmen der Familie, die doch die 
Genesung des Trinkers herbeizuführen vorgibt, aufs höchste aufge¬ 
brachten Patienten zu beschwichtigen. Und wenn’s auch gelingt, Schaden 
haben die Stürme doch gebracht, nicht bloss für den zunächst davon Be¬ 
troffenen, auch für die Mitpfleglinge, unter denen fast immer einige sind, 
die die Neigung haben, sich gegenseitig in ihrer Erbitterung gegen die 
Familie zu bestärken. 

Aber nicht bloss Härte, auch falsche Nachgiebigkeit kann unsere 
Arbeit aufs schwerste stören. Ohne Verständnis glaubt man dem 
Patienten, wenn er nach kurzer Frist im Gefühl der wiederkehrenden 
Kraft auf seine baldige Entlassung dringt. Solch eine kritische Zeit 
kommt für die meisten Patienten. Alles zu ihren Gunsten deutend, 
suchen sie mit Vorliebe aus dem Wort des Arztes, der das Schwinden 
dieser oder jener Störung konstatiert, für sich Kapital zu schlagen, in¬ 
dem freudig in die Heimat geschrieben wird, obwohl es völlig unwahr 
ist, der Arzt habe sie für gesund erklärt. Bedenklich steht es, wenn 
die Familie solches glaubt, und, — entgegen den einsten Ratschlägen der 
Anstaltsleitung, die klar zu machen sucht, dass ein durch langjährigen 
Alkoholmissbrauch entstandener Schaden nicht in kurzen Wochen ge¬ 
heilt werden könne, dass vielmehr eine ganz andere Zeit nötig sei, da¬ 
mit der Patient sich zu einem widerstandsfähigen Alkoholgegner ent¬ 
wickle, — in die frühe Entlassung des Patienten willigt, der begreiflicher¬ 
weise nicht mehr zu halten ist, wenn schon die Familie, die oft über 
den Kopf der Anstaltsleitung hinweg handelt, ohne dieselbe überhaupt 
zu hören, in ihrem Widerstand erlahmte. Dieselbe Schwäche zeigt sich 
auch dann, wenn der Patient an den Massnahmen der Anstalt, an ihren 
Ordnungen, sonderlich an der unumgänglich notwendigen anfänglichen 
Freiheitsbeschränkung etwas auszusetzen hat. Anstatt der Anstaltsleitung 
Vertrauen zu schenken und nach Rücksprache mit ihr sein Möglichstes 
zu tun, den Patienten zu überzeugen, dass die Anstalt in allem sein 
bestes im Auge habe, gibt man vorschnell nach, lässt den Willen des 
unverständigen und vielleicht auch unlauteren Patienten massgebend sein, 
hat sich’s dann aber auch allein zuzuschreiben, wenn den etwa gehegten 
Erwartungen ein baldiges Ende bereitet wird. Oft hat die ohne Wissen 
und gegen den Willen der Anstaltsleitung geschehene, vom Patienten 
durch unwahre Angaben erbetene Zusendung von Geld und Briefmarken 
dem Heilversuche ein plötzliches, frühes Ende bereitet! 


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Abhandlungen. 


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Zu den wichtigsten Aufgaben der Anstaltsleitung gehört es, sich brief¬ 
lich über den Zustand des Patienten zu den Angehörigen auszusprechen. 
Da gilt es, sorgsam die Worte abzuwägen, von jeder Schönfärberei sich 
freizuhalten, Wahrheit in Liebe zu sagen, den mutlosen Angehörigen die 
Hoffnung zu beleben, oft aber vor trügerischen Erwartungen zu warnen. 
Die Patienten ahnen wohl selten, wie sehr gerade diese in ihrem Interesse 
geschehende anwaltliche Tätigkeit die Anstaltsleitung in Anspruch nimmt. 
Es tut not, zumal wenn das Korrespondieren auf direktes Bitten des 
Pfleglings geschieht, sich die volle Selbständigkeit zu wahren, aber auch 
das ist dringend zu empfehlen, dass die Korrespondenz, um keine, auch 
nicht die leiseste Zwiespältigkeit aufkommen zu lassen, wodurch die 
Familien unsicher gemacht würden, je nach der Organisation der An¬ 
stalt nur von einer einzigen Stelle aus geschieht, die schreibt, wenn 
und soweit sie es für nötig hält, auch dann, wenn es sich um einen 
Patienten handelt, der (auch das ist gar nicht selten) darüber empört ist, 
dass man seinetwegen mit der Familie verkehre, demgegenüber man 
dann energisch Recht und Pflicht, wie der Familie, so auch der 
Anstaltsleitung, zu solchem brieflichen Umgang zu betonen hat. Aber 
wie sehr wird das ohnehin nicht leichte Berichten in die Heimat er¬ 
schwert, wenn die Familien die Unvorsichtigkeit begehen, auch das nur 
für sie Bestimmte dem Patienten mitzuteilen, ja, ihm wohl gar den 
Anstaltsbrief zu übersenden! Durch solch unweises und taktloses Ver¬ 
fahren wird der Patient, der sich seinen Pflegern vielleicht gerade an¬ 
vertrauen wollte, für längere Zeit ihnen entfremdet, ohne dass es sobald 
gelingen will, die Ursache solcher Entfremdung zu ergründen. Ein 
weiterer Schade ist wohl der, dass mit einem solchen Briefe, wenn er 
den Wünschen des Patienten nicht vollauf entspricht, eine böse Agitation 
gegen die Anstaltsleitung getrieben wird. Dann will der Argwohn, dass 
den Pfleglingen durch die Briefe der Anstaltsleitung in die Heimat alles 
verdorben werde, nur mühsam schwinden. 

Weisheit bezüglich des Briefwechsels mangelt auch in anderer 
Hinsicht! Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit berichtet man kleine häusliche 
und geschäftliche Sorgen, Unpässlichkeiten oder Unart eines Kindes, 
Unbotmässigkeit eines Knechtes, das Ausbleiben eines Kunden, den er¬ 
littenen Verlust u. a. m. Oder man schreibt, welche Verlegenheiten es bereite, 
den Aufenthaltsort des Mannes zu verschweigen, — dass ein Konkurrent 
ihm üble Nachreden bereite, dass man den Kindern auf der Strasse 
nachgerufen habe, der Vater sei im Gefängnis. Es braucht wohl nicht 
näher ausgeführt zu werden, wie solche Botschaft wirkt. Gerade solche 
Kranke, welche sich früherer Versäumnisse und Verfehlungen bewusst 
sind, kommen oft infolge solcher Nachrichten zu dem gut gemeinten, 
aber sehr verfrühten Entschlüsse, in die Heimat zurückzukehren. Man 
will den Lästermäulern entgegentreten, der Gutgesinnten Achtung zu¬ 
rückgewinnen, die Zügel des häuslichen und geschäftlichen Regiments 
wieder fest in die Hände nehmen. Gerade der Trinker, der vielleicht 
für Familie’ und Beruf wenig oder nichts, vielleicht weniger als nichts, 
nur eine Last bedeutet, hält sich, wenn er kaum in der allerersten 



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Kruse, die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 405 


Ernüchterung sich befindet, für unentbehrlich. Wird aber dieser Gedanke 
durch die Mitteilung irgendwelcher häuslicher Nöte, wie geringfügig sie 
auch sein mögen, genährt, dann gibts kein Halten mehr. Neben einer 
Reihe von Frauen, die durch ihr stilles Tragen und durch ihre für 
schwache Frauenkraft ganz ausserordentliche Leistung ein Heldentum 
beweisen, stehen andere, welche durch unweises Offenbaren ihrer Nöte 
dem guten Anfang einer Genesung ihrer Männer ein frühes Ende bereiteten. 

Neben der Korrespondenz verdienen die Besuche der Erwähnung. 
Wir verdanken ihnen viel. Der Pflegebefohlene wird uns in ganz andrer 
Weise nahe gebracht, wenn wir den Angehörigen ins Äuge geschaut und 
darin wohl auch eine bewegliche Leidensgeschichte gelesen haben. Wir 
empfinden es als einen Mangel, wenn sich brieflich wie persönlich, 
niemand um den Pflegling kümmert. Und völlig unwillkommen ist es 
uns, wenn etwa der Polizeidiener in Zivil den Patienten begleitet. Wir 
sehen den Besuch der Familie auch um deswillen gern, «weil derselbe 
uns die Möglichkeit bietet, die Familie bezüglich der späteren Lebens¬ 
gestaltung des Patienten eingehender zu beraten, als es brieflich möglich 
ist. Oft denken wir auch milder über den Patienten, seit wir die An¬ 
gehörigen gesehen haben. Fragt man sich hier, wie aus solch kernigem 
Geschlecht, in so idealen häuslichen Verhältnissen sich, unser Patient in 
so ungünstiger Weise entwickeln konnte, so verstehen wir in anderen 
Fällen, sobald wir die Familie sahen, recht gut, wie alles kam, zeigt 
doch unser Patient nur in stärkerem Masse, was jenen gleicherweise 
eignet. Auch die Uebertreibung, dass die Lebensverhältnisse den Menschen 
machen, lebt nur von der in ihr enthaltenen Wahrheit. Wir gleichen 
alle in gewisser Beziehung dem Milieu, in dem wir leben. — Dass sie 
uns diese nähere Kenntnis bringen und uns die Möglichkeit einer 
intensiveren Einwirkung bieten, das ist der Gewinn diesjer Besuche. 
Welches aber ist ihre Gefahr? Ich schweige von jenen Besuchen, die dem 
Patienten die gefüllte Flasche mitgebracht oder Geld zugesteckt haben, 
es bleibe unerörtert, ob aus Bosheit oder törichtem Unverstand, aus 
einer gewissen Schwäche, die der Bitte um einige Groschen nicht ent¬ 
gegen zu treten wagte; ich schweige von jenen Brüdern und Frauen, 
die trotz unsrer ernsten Warnung auf dem Spaziergang im Wirtshaus 
einkehrten, um selbst zu trinken, oft aber auch, um dem Pflegling bei 
solcher Gelegenheit das Verbotene darzureichen. Ich denke an eine 
andere Gefahr. Diese Besuche hindern den Patienten, sich bei 
uns einzuleben, sie rütteln an dem Bäumchen, das gerade in 
einem besseren Boden, als der heimische war, festwachsen wollte. In 
dem einen Falle gibt’s Zank und Streit, indem man sich gegeneinander 
verbittert. Im anderen Falle bringt die starke Zuneigung der Gatten 
nach dem kurzen, frohen Wiedersehen um so schmerzlicheren Abschied. 
Da berichtet man Ungünstiges über die heimischen Verhältnisse und 
dort leiht man den Klagen des Patienten ein williges Ohr. Eine feste 
Regelung in Sachen der Besuche tut not. Manche Genesung ist schon 
durch das häufige Kommen unweiser Besucher vereitelt. Familien, die 
in der Nähe wohnen, benutzen die Anstalt gern als das Ziel ihrer 

Die Alkoholfrage. 27 


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Sonntagsausflüge, und es kommen auch manche, die kein tieferes 
Interesse für unsere Patienten haben. Eine Familie sandte innerhalb 
dreier Wochen neunmal eines ihrer Glieder zum Besuche. Auch um 
der Mitpfleglinge willen, zumal der fernher gekommenen, die deshalb 
niemals Besuch erwarten können, ist möglichste Beschränkung der 
Besuche notwendig. Aber auch um der in der Anstalt arbeitenden 
Hauseltern willen, die gerade an den Sonntagen, die im Anstaltsleben 
kritische Tage erster Ordnung sind, durch die oft masslos übertriebenen 
Besuche der Pfleglinge doppelt belastet und des Segens, den sie selbst 
im schweren Berufsleben am Sonntag haben sollen, zum guten Teile 
beraubt werden. 

III. 

Treten unsere Patienten in die früheren Lebensverhältnisse zurück, 
so will bedacht sein, dass es sich um Rekonvalescenten handelt, denen 
man alles aus dem Wege zu räumen pflegt, was sie von neuem ge¬ 
fährden könnte. Es bedarf nur geringer Anlässe, um die zurückgedrängte 
Leidenschaft wieder auf leben zu lassen. Wenn man weder vergeben 
noch vergessen hat, wenn man den Zurückgekehrten geringschätzend oder 
gar mit kränkendem Misstrauen behandelt, so ist das der sicherste Weg, 
das Erreichte wieder zu schänden zu machen. Hat der Geheilte einen 
neuen Grund und eine feste Stellung, so wird er sich auch eine solche 
Behandlung zum Besten gereichen lassen, aber in den meisten Fällen 
wird jene unmutige Stimmung die Folge sein, der sich der Alkohol nur 
allzubald wieder als Tröster empfehlen wird. »Wenn mir mein redlicher 
Wille doch nichts hilft, was soll dann weiteres Bemühen?« Auch darin 
wird gefehlt, dass man die Geheilten trotz ernstlicher Warnung wieder 
in die gefährlichen Berufsverhältnisse zurückkehren lässt. Weit entfernt, 
zu wähnen, dass die Veränderung der Lebensverhältnisse ein Allheil¬ 
mittel sei, können wir doch den Patienten, die mit der Erzeugung und 
mit dem Verschleiss alkoholischer Getränke, mit ihrem Vertrieb als 
Reisende oder Agenten zu tun haben, nur raten, dass sie, wenn möglich, 
einen anderen Erwerbszweig wählen. Oft stehen kaum überwindbare 
Hindernisse im Wege; oft aber wird deshalb kein gangbarer Weg ge¬ 
funden, weil überhaupt — und zwar besonders bei den Familien — der 
gute Wille zu einem ehrlichen und gewissenhaften Eingehen auf unsere 
Ratschläge nicht vorhanden ist. Die Gastwirtsfrau, die bei ihrem Be¬ 
suche den Gatten damit unterhält, wie prächtig man an bestimmten 
Abenden verdiene, wie wieder einmal die Champagnerpfropfen im Lokale 
geknallt haben und der Wein in Strömen geflossen sei, ist entsetzt über 
unseren Rat, dass man baldigst einen Wechsel vornehme. — Im anderen 
Falle will eine Gattin auf die Freuden des gesellschaftlichen Lebens, auf 
den abendlichen Gang in den Bierpalast oder in den Restaurationsgarten 
nicht verzichten, und an anderer Stelle muss der Vater um der lebens¬ 
lustigen Töchter willen Festlichkeiten mitmachen, obwohl er noch nicht 
die Kraft fühlt, der an solchen Stätten und in solchen Stunden an ihn 
herantretenden Versuchung siegreich zu begegnen. — 



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Was ist bei der Anstaltsbehandlung unser Ziel? Es handelt sich 
um weit mehr als um die Heilung der mannigfachen Schäden, welche 
der Organismus des Patienten erlitten hat Nicht möglich ist es, den 
früheren Trinker dahin zu bringen, dass er wieder, ohne Schaden zu 
erleiden, trinken darf. Diese in den Lehrjahren der Trinkerbehandlung 
gehegte Ansicht ist längst überall dort fallen gelassen worden, wo man 
ehrliche Spezialarbeit treibt Bei einer zu Anfang 1903 veranstalteten 
Rundfrage antwortete nur e i n Arzt, der vorgibt, in seinem Sanatorium 
auch Alkoholkranken zu dienen, dass er seine Patienten zu mässigem 
Alkoholgenuss erziehe; im Gegensatz zu diesem ehrenwerten Manne aber 
lautete die einmütige Antwort aller Praktiker, dass der Alkoholintolerante 
dauernd enthaltsam bleiben müsse. Vielfach folgt dem ersten Glas, das 
sich der frühere Trinker wieder leistet, ein schneller Rückfall, und nicht 
immer ist ein Wiederaufstehen möglich, oder es geschieht ein ganz all¬ 
mähliches Hinabgleiten. Wie er auch geschehen mag, der Rückfall 
selbst ist unabwendbar, wenn der Trinksitte auch nur im Geringsten ent¬ 
gegen gekommen wird. — Vielleicht gelang es, den Patienten von der 
unbedingten Notwendigkeit dauernder Abstinenz zu überzeugen — wie 
wird es aber, wenn sofort aus seiner nächsten Umgebung ihm andere 
Meinung entgegen tritt ? Hier legte man ein Fässchen echten Bieres 
auf, als der Sohn in die Heimat zurückkehrte, und dort erklärte eine 
Tochter, der wir wiederholt das Nötige gesagt zu haben meinten: »Ich 
will mein Möglichstes zur Bewahrung des Vaters tun, er soll auch an 
jedem Abend seine Flasche Bier vorfinden.« Beim Eintritt zweier Pa¬ 
tienten, die früher schon an einem anderen Orte eine Entziehungskur 
durchgemacht hatten, gestanden die sie begleitenden Väter, dass sie 
selbst an dem Rückfall ihrer Söhne nicht ohne Schuld seien : der Eine 
hatte nach dem Theaterbesuche selbst den Sohn ermuntert, das erste 
Glas Bier zu trinken, und der Andere gab zu, dass auch er den Sohn 
in der Anschauung, dass nun wohl seine Alkoholintoleranz zu Ende sei, 
bestärkt habe. Die Frau, aus dem Volke, die unter den Misshandlungen 
des trunksüchtigen Mannes schwer zu leiden hatte, will an dem Mucker, 
der keinen Tropfen mehr trinke, keine Freude haben. Man findet’s 
recht, dass der Geheilte das Uebermass, dass er dasjenige Getränk ganz 
meide, das ihm vorzugsweise geschadet hat, hält es aber für Fanatismus, 
nun gleich alles, mit dem Missbrauch auch den vernünftigen Gebrauch, 
mit dem gewohnheitsmässigen auch den ganz gelegentlichen, seltenen 
Genuss geistiger Getränke auszuschliessen. Manchmal wird eine Unpäss¬ 
lichkeit des Geheilten dazu benutzt, neue Angriffe auf ihn zu unter¬ 
nehmen ; man beruft sich auf ärztlichen Rat, wenn man das Glas Glüh¬ 
wein oder einen Kognak bringt. Nicht alle sind unter solchen Anfech¬ 
tungen so standhaft, wie jener Freund, der noch auf dem letzen Lager 
Familie und Arzt dringend bat, ihm unter keinen Umständen Alkohol 
darzubieten. Was aber ist die letzte Ursache vieler Angriffe seitens der 
Familie auf die Abstinenz des Geheilten ? Je taktvoller der Abstinent 
auftritt, desto mehr sagt sein Beispiel der Umgebung, wie auch sie 


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leben sollte; weil sie das aber nicht will, darum sucht sie den für sie 
unbequemen Mahner dadurch los zu werden, dass man ihn, den Appetit¬ 
verderber baldigst wieder in ihre Trinkgemeinschaft hereinzieht. Leider 
glaubt man auch dort, wo man auf christlichem Grunde zu stehen meint, 
der Trinker müsse wieder zu einer Freiheit gelangen, die den Menschen 
zum rechten, jeden Missbrauch der Gottesgabc ausschliessenden Gebrauch 
befähige. Die Berufung auf Christus ist oft ein Mittel gewesen, den 
Geheilten wankend zu machen. Demgegenüber ist zu sagen, dass die 
Forderung der Enthaltsamkeit in bezug auf den früheren Trinker eine 
schlechthin notwendige diätetische Massregel ist, die weiterer Stützen 
gar nicht einmal bedarf. Aber gerade dem Christen sollte es einleuchten, 
dass dies gauz im Sinn des Erlösers ist, der in seinem bekannten 
Worte vom Ausreissen des Auges und vom Abhauen der Hand gegen¬ 
über allem, was einem Menschen Aergernis bereitet, bedingungslose Ent¬ 
schiedenheit fordert. Das unzweifelhaft vorhandene Recht eines jeden 
Menschen zur Ablehnung einer ihn umgebenden Sitte wird, wenn diese 
Sitte den Menschen seiner Freiheit berauben will, zu einer unabweis¬ 
baren Pflicht. Die höhere Freiheit, von der die Gegner sprechen, will 
keinen Versuch, der die gottgeschenkte Genesung unzweifelhaft von 
neuem gefährdet, sie wird sich vielmehr darin zeigen, dass der Mensch 
in freiester Willensentschliessung verneint, was ihn in der gottgewollten 
Entfaltung seiner Persönlichkeit zu hindern sucht. Eine Frucht freudigen 
Beharrens auf dem einzig gangbaren Wege wird die sein, dass das alte 
Verlangen mehr und mehr schwindet und auch die äussere Verlockung 
durch Trinkgelegenheit und Trinksitte mehr und mehr ihre Kraft verliert. 
Kaum irgendwo ist man in der Benutzung der Worte Sünde und Laster 
bezüglich der Trunksucht so sparsam, als in der Trinkerheilanstalt, wo 
man die allereingehendste Kenntnis davon hat, wie sehr der menschliche 
Oiganismus unter der Einwirkung des Alkohols erkrankt. Hat nun aber 
der frühere Trinker nicht nur eine oberflächliche Ernüchterung, sondern 
eine tiefgehende Genesung erfahren, besitzt er volle Klarheit betreffs 
des zu gehenden Weges, wirft er sich aber trotzdem durch Teilnahme 
an der Trinksitte dem Verderben in die Arme, dann ist das ein sünd- 
lich-frevelhaftes Handeln. Das ist es, was die Familien beachten, wo¬ 
durch sie sich bei ihrem Umgang mit dem Geheilten bestimmen lassen 
müssen. Die Erfahrung aber lehrt leider auch hier, dass die Haus¬ 
genossen oft des Menschen gefährlichste Feinde sind. Gegenüber den 
Klagen der Familie über die oft so kurze Dauer der Anstaltserfolge 
haben wir mehr Veranlassung zu der Gegenklage, dass gerade die 
Familie durch ihr Verständnis- und liebloses Handeln das Erreichte 
wieder zu Grunde richtet. Wie schwer wird es dem Geheilten, sich zu 
behaupten, wenn die Trinksitte der nächsten Umgebung an seinen 
Grundsätzen rüttelt! Die rechte Hülfe wird dann geleistet, 
wenn die ganze Familie sich mit dem Geheilten der 
Enthaltsamkeit zu wendet! Von prächtigen Fällen kann hier 
berichtet werden: Ein ganzer Geschwisterkreis wendete sich dem Blauen 
Kreuze zu, um dem schwachen Bruder für die Zeit des Austritts aus 



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Knise, die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 409 


der Anstalt im eigenen Hause die ihm nottuende Gemeinschaft zu 
bieten. Die Frauen der Patienten für ähnliches zu gewinnen, ist oft 
gelungen. l)a zweifelt ein den obersten Gesellschaftsschichten an¬ 
gehörender Patient, dass es möglich sein werde, abstinent zu bleiben: 
um ihm den Beweis zu bringen, wendet sich in der fernen Heimat der 
Bruder der Enthaltsamkeit zu. Das ist die brüderliche Handreichung, 
wie sie, auf den Geist der heiligen Schrift sich gründend, zu den Prin¬ 
zipien des Blauen Kreuzes gehört. Davon wusste aber jener hohe Be¬ 
amte nichts, der nur ein ironisches Fächeln hatte, als man ihm nahe zu 
bringen suchte, was für den schwachen Sohn die beste Hülfe sei. Im 
andern Falle war es gelungen, einen Patienten in die denkbar beste 
Umgebung, zu begeisterten Abstinenten zu bringen. Gefährdet wurde 
der junge Mann durch den Besuch seiner nächsten Angehörigen; von 
der mit ihnen unternommenen Reise ins Gebirge musste der junge Mann 
sehr bald schwer erkrankt in die sichere Hut seines Prinzipals zurück¬ 
gesandt werden : Die Rücksichtslosigkeit der Seinen, die sich bei keiner 
Gelegenheit des (Bases Wein enthielten, hatte ihn wieder zu Falle ge¬ 
bracht. Angesichts solcher Verschuldung der Familie muss die Klage 
wider den Rückfälligen verstummen. Wer seinem schwachen Familien- 
gliede ein Mittel der Bewahrung werden will, der verbünde sich mit 
ihm zu gleicher Lebensweise. Man wird erfahren, dass dieser Liebes¬ 
dienst sich reichlich lohnt für jeden, der ihn mit voller Freudigkeit leistet! 

Mit dem Bisherigen ist aber das durch die Anstaltsbehandlung 
zu erstrebende Ziel noch nicht gekennzeichnet. Nicht nur um ihrer 
Intoleranz willen sollen unsere Patienten auf die Seite der Enthaltsamkeit 
treten, wir suchen sie vielmehr dahin zu bringen, dass sie die Bedeutung 
der Abstinenz nicht nur für eine gewisse Minderheit, zu der sie sich 
zu rechnen haben, sondern liir die menschliche Gesellschaft überhaupt 
erkennen. Darum teilen wir ihnen die gesicherten Resultate der Wissen¬ 
schaft mit, durch welche die heutige Bewegung gegen den Alkohol so¬ 
viel besser fundamentiert ist, als alle früheren Versuche zur Abschüttelung 
seines Joches. Darum führen wir sie in die vielgestaltige Bewegung 
unserer Tage ein, welche dem Kenner das frohe Wort auf die Lippen 
legt, dass es eine Lust sei, zu leben. Darum lehren wir sie die Kern¬ 
truppen kennen, damit sie mit uns in die vorderste Reihe der Kämpfen¬ 
den und zwar gerade an die Stelle treten, die für sie passt. Treten sie 
aus schüchterner Defensive zur entschlossenen Offensive über, dann ist 
uns um die weitere Entwicklung solcher Geheilter nicht bange. Wer in 
der rechten Waffenrüstung auf dem Posten steht, hat die Ueberrumpelung 
des F'eindes nicht zu fürchten. Diese Stellung ist auch die einzige, 
die demjenigen ansteht, der eben der Umschlingung des F'eindes ent¬ 
ronnen ist. Der Freigewordene kann die Knechtschaft seiner Mitmenschen 
nicht ansehen, ohne dass es ihn drängt, die F'esseln derselben sprengen 
zu helfen. 

Dies ist nun auch die letzte Bitte, die wir den Familien 
gegenüber auszusprechen haben, dass sie nicht sagen möchten : was gehet 
uns das an ? Wir wünschen, dass sie für die F'rage, die für ein Glied 


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Abhandlungen. 


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ihres Hauses bereits solche Bedeutung gewann, das Auge auftun möchten. 
Wenn sie das tun, dann tun sie zunächst genug, und wir haben bezüglich 
der weiteren Entwicklung keine Sorge. Wer diese Frage einmal angefasst 
hat, der wird von ihr gefasst, sie lässt ihn nicht los, bis auch der anfangs ihr 
kühl gegenüberstehende zu einem immer überzeugteren Alkoholgegner wird. 
Keinen unserer früheren Patienten möchten wir in vereinzelter Stellung sehen, 
wir möchten sie alle einer festen Organisation eingefügt wissen. Ueber 
den Wert der Vereinigungen, die den Kampf wider die Alkoholnot 
unserer Zeit aufgenommen haben, kann man nicht hoch genug denken; 
aber das Wertvollste für den geheilten Alkoholiker ist es doch, dass er 
im eigenen Familienkreise verständnisvolle Gemeinschaft findet. Hat 
die Trunksucht in vielen Fällen sich nicht ohne Verschulden der Fa¬ 
milien entwickelt, so ist für die dauernde Genesung die beste Aussicht 
dann vorhanden, wenn ein Familienkreis zu dem ernsten Entschlüsse 
kommt: Der Alkohol hat in unserer Mitte seine Rolle 
ausgespielt! 


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Nüchternheit und Landleben in Schleswig-Holstein. 


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Nüchternheit 

nnd Landleben in Schleswig-Holstein. 


Der kleine Aufsatz »Wie ich Enthaltsamer wurde«, im 
ersten Hefte dieser Zeitschrift, ist in einem Sonderabdruck einem im 
Herzogtum Schleswig wohnhaften Landmann, der zugleich das Amt 
eines Gemeindevorstehers bekleidet, zugestellt worden. Mit Bezug 
darauf, schreibt letzterer das folgende: 

»Ich habe die Schrift mit Interesse gelesen und wusste ihr keine 
bessere Verwendung zu geben, als sie sofort in meiner Gemeinde zir¬ 
kulieren zu lassen. Vielleicht kann die Arbeit, die ja in der schlichten, 
leicht fasslichen Form gerade geeignet ist, auf den sog. kleinen Mann 
Eindruck zu machen, auch hier Segen stiften. Leider ist auch meine 
kleine Gemeinde nicht ganz frei von Leuten, welche sich dem Trünke 
ergeben, obwohl die Bewohner durchweg sehr solide sind. Als ich 
neulich mich mit einem befreundeten Hufner aus einem Nachbarorte 
unterhielt, sagte dieser: »Wenn doch ein Mittel zu finden wäre, um den 
sittlichen Stand unserer Arbeiter zu heben, o, wie glücklich könnte das 
deutsche Volk sein, denn für das materielle Wohl ist jetzt ziemlich aus¬ 
reichend gesorgt!« Nun, ein nicht zu unterschätzendes Mittel, um das 
Volk glücklich zu machen, ist entschieden die Enthaltsamkeit vom Alko¬ 
hol. Bedauerlicher Weise gibt es ja noch andere sittliche Schäden, die 
ebenso schlimm sind. Vor einigen Tagen kam ein Gemeindevorsteher 
aus der Umgegend zu mir, um mich dafür zu gewinnen, gegen unsere 
Gastwirte vorzugehen, die allzusehr bestrebt sind, durch Veranstaltung 
von sog. Lustbarkeiten aller Art, ganz besonders nach den Lohnzahlungs¬ 
terminen (Mai und November) den jungen Leuten das Geld aus der 
Tasche zu locken. Er bat mich, da ich Mitglied des Kirchen Vorstand es 
und des Amtsausschusses sei, darauf hinzuwirken, dass diese beiden 
Körperschaften dieserhalb irgendwelche Schritte tun möchten. 

Die Lohnverhältnisse, namentlich der Dienstboten sind jetzt so 
günstig, dass die jungen Leute wirklich gut weiter kommen können, 


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Abhandlungen. 


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wenn sie nur sparen wollen und nicht zu frühzeitig heiraten. Die 
Knechte verdienen von der Konfirmation an sofort hohe Löhne, mit 
20 Jahren oft schon 3 bis 400 Mk. bei freier Station, die Mädchen 
250 bis 300 Mk. Wenn diese jungen Leute nun mit der Eheschliessung 
etwas warten — ebensolange, wie Leute anderer Berufsstände dies doch 
fast immer müssen — so können Mann und Frau bis dahin nahezu 
3000 Mk. erübrigt haben. Damit sind sie im Stande, entweder eine 
Pachtung zu übernehmen oder sich ein kleines Anwesen zu kaufen. 

Weil Dienstmädchen fast überhaupt nicht mehr zu bekommen 
sind, werden jetzt vielfach sog. Melkerfamilien angestellt, die die ganze 
Wartung des Viehzeuges übernehmen. Eine solche Familie (Mann, 
Frau, eine alte Mutter oder herangewachsene Kinder) verdient 1600 Mk. 
und mehr. Ein Melker bei einem meiner Nachbarn hat sich in einer 
Reihe von Jahren jährlich ca. 500 Mk. erspart und neuerdings eine 
Kathenstelle in nächster Nähe meines Wohnortes gepachtet. Die Vor¬ 
gänger haben sich auf dieser kleinen Pachtung von etwa 15 ha Land, 
wo fast der ganze auf die Grundfläche entfallende Arbeitslohn der 
Familie verbleibt, jährlich 5 bis 600 Mk. erübrigt. (Ich zahle Arbeits¬ 
lohn rund 70 Mk. pro ha.) Also: 3000 Mk. Ersparnis vor der Heirat 
und 500 Mk. jährlich während einer 30jährigen Wirtschaftsperiode — 
das ergibt 18 bis 20000 Mk. Kapitalvermögen für die alten Tage. 
Dazu kann noch die Alters- oder Invalidenrente kommen! Kann ein 
Amtsrichter, dessen Studium Tausende gekostet hat, es etwa weiter¬ 
bringen? Ich wollte mir gestatten, diese kleine Schilderung der tatsäch¬ 
lichen Verhältnisse in meiner Gegend zu geben, um zu zeigen, wie 
vorteilhaft hier die Bedingungen für sparsame, vorwärtsstrebende und vor 
allem nüchterne Leute aus einfachstem Stande liegen. H. 


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Weitere Untersuchungen der Alkoholirage 

auf Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame. 
Von Prof. Dr. Victor Böhmert. 


Mit den im Nachstehenden veröffentlichten weiteren Antworten von 
14 teils massig, teils enthaltsam lebenden Männern schliessen wir 
die erste Serie der uns zugegangenen Antworten, die von 50 Mit¬ 
arbeitern herrühren, welche die Mässigkeit oder Enthaltsamkeit am 
eigenen Leibe erprobt haben und zum grossen Teil über reiche Lebens¬ 
erfahrungen in ihrer Familie und in ihrem Beruf oder in ihrer Wissen¬ 
schaft verfügen. Im zweiten Jahrgange dieser Vierteljahrsschrift sollen 
die Untersuchungen fortgesetzt und auch weiter nicht blosse Ansichten, 
sondern wirkliche Lebenserfahrungen von Männern und Frauen in verschie¬ 
denen Ländern, aus den verschiedensten Berufszweigen und Altersstufen zu¬ 
sammengestellt werden. Die Leser unserer Zeitschrift werden aus jedem neuen 
Heft einen tieferen Einblick in viele wichtige Tatsachen der Alkohol¬ 
frage gewonnen und sich davon überzeugt haben, dass man aus ver¬ 
schiedenen Beweggründen zur Erkenntnis und Bekämpfung der Alkohol¬ 
gefahr gelangt ist. Die ganze Serie von Antworten so verschiedener 
Personen möge dazu beitragen, dass man im Mässigkeitslager immer 
mehr Verständnis für die Abstinenz und mehr Sympathie für die ab¬ 
stinenten Personen gewinnt und mit ihnen als Bundesgenossen überall 
einträchtig zusammengeht. In den nachstehenden Antworten berichten 
uns zwei hochbejahrte Männer über 70 Jahre, dass sie von ihrer Kind¬ 
heit an durch ihre Eltern zur Abstinenz von alkoholischen Getränken 
angehalten worden sind. 

Ferner wird in einem Fragebogen über eine interessante Be¬ 
kehrung zur Abstinenz berichtet. Der Direktor des hygienischen Instituts 
in Erlangen, Herr Professor Oberarzt Dr. Heim, hatte in der von Professor 
Fränkel im Frühjahr 1903 herausgegebenen Schrift »Mässigkeit oder 
Enthaltsamkeit« in einem dem Alkohol günstigen Sinne u. a. bemerkt, dass 
eine Tagesration von 100 ccm Alkohol für den vollkommen gesunden, 
erwachsenen Mann nicht nur nicht vom Uebel sei, sondern unter Um¬ 
ständen die Bekömmlichkeit z. B. einer fetten Mahlzeit wesentlich er¬ 
höhe.« Herr Professor Heim hat inzwischen seit Oktober 1904 die 
Abstinenz versucht und sich freundlich bereit erklärt, unserer Zeitschrift 
im nächsten Jahre genaue Mitteilungen über die Ergebnisse seiner neuen 
Alkohol-Forschungen zu machen. Aehnliche Zeugnisse in grösserer An¬ 
zahl werden uns hoffentlich der Wahrheit in Betreff der Wirkungen des 
Alkohols immer näher bringen. 


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No. 37. Sir Hermann Weber, Arzt in London. 


Sir Hermann Weber, Arzt in London, 
geb. 30. Dezember 1823. 

Holzkirchen in Franken. 

Arzt in London. 

Gymnasium in Würzburg und Fulda; Universitäten : Marburg und Bonn. 
Nein. 


Nie gänzliche Enthaltung von geistigen Getränken. Stets äusserst mässig; früher 
etwa Vs bis Vi Liter leichten Wein in 24 Stunden; jetzt nur selten Wein, 
sondern statt dessen bei dem späten Mittagessen einen Esslöffel voll Cognac 
oder Whisky in einem halben Wasserglas voll Wasser, sonst gar keine geistigen 
Getränke. 


9, 10 fallen bei mir weg. 


a) Mein Vater und dessen Voreltern haben viel Wein getrunken, litten an Gicht 
und Entartung der feinen Blutgefässe. 

b) dass grössere Mengen von Alkohol in der Mehrzahl der Fälle auf die Ver¬ 
dauung, die Kreislaufsorgane und das Nervensystem nachteilig einvvirken; dass 
die gänzliche Enthaltsamkeit auf die grosse Mehrzahl der Menschen sehr 
günstig ein wirkt und zu grösserer Freudigkeit und Tüchtigkeit führt und zur 
Verlängerung des Lebens. 

d) dass unmässiger Alkoholgenuss die Ursache der Mehrzahl der Verbrechen ist. 


Anmerkung der Redaktion. 

Der Beantworter obiger Fragen, Sir Hermann Weber, hat in London erst kürzlich 
sinem von der deutschen medizinischen Wochenschrift abgedruckten Vortrage 
endes Bekenntnis abgelegt: »Mein Vater starb im 60. Lebensjahre am Gehirn- 
ag; er war selbst kein Abstinenzler gewesen und seine Vorfahren hatten durch 
i Generationen grosse Mengen der schwersten Rheinweine und Portweine getrunken 
waren infolgedessen an gichtischen Erscheinungen gestorben. Mässigkeit und 
hliche Uebung des Körpers und Geistes haben mich vor dieser Todesart 
ahrt und haben mein Leben verlängert, wenn ich auch gestehen muss, dass 
die durch fünf Generationen vererbte gichtische Blutmischung nicht ganz über¬ 
den habe.« 


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No. 38. Parlamentsmitglied Henry J. Wilson in Sheffield, England. 

1. Henry J. Wilson, Osgathorpe Hills, Sheffield. 

2. 14. April 1833. 

3. Nottingham, England. 

4. Smelter. But now member of Parliament. 

(Besitzer einer Erzschmelzerei, aber jetzt Parlamentsmitglied.) 

5. At school tili 1851. 

(Zur Schule bis 1851.) 

6. Total abstainer. Temperance Federation. 

(Vollständig enthaltsam. Mitglied des Temperenzbundes.) 

7. Always an abstainer, — from birth. 

(Der Befragte war von seiner Geburt an immer Abstinent.) 


8. My father and mother taught me. 

(Mein Vater und meine Mutter belehrten mich.) 

9. Not any. (Keine Unterbrechung.) 

10. a) I have always had excellent health. 

(Ich habe immer eine vorzügliche Gesundheit gehabt.) 
b) I can make no comparison; but I am satisfied with my condition. 

(Ich kann keinen Vergleich anstellen, aber ich bin mit meinem Befinden zufrieden.) 


11. I can make no comparison. But I never had alcohol in my house. My wife, 
5 children, & 5 grandchildren are all abstainers. 

(Ich kann keinen Vergleich anstellen, weil ich nie Alkohol in meinem Hause gehabt habe. 
Meine Frau, 5 Kinder und 5 Enkelkinder sind sämtlich Abstinenten.) 


12. Nothing. (Nichts.) 


13. Nothing. (Nichts.) 


14. Alcohol is a great evil in every way; and abstinence is best for every reason. 
(Alkohol ist in jeder Hinsicht ein grosses Uebel, und Abstinenz ist unter allen Um¬ 
ständen am besten.) 

Die Alkoholfrage. 28 


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No. 39. Buchdrucker Bönicke in Dresden-N. 

1. Georg Heinrich Albert Bönicke, Dresden. 

2. geb. 15. Januar 1818. 

3. Braunschweig Stadt. 

4. Buchdrucker. 

5. Bürgerschule zu Braunschweig. 

6. Ja. Verein »Volkswohl« in Dresden. 

7. Ich lebe von frühester Jugend an enthaltsam. 

8. Ich bin von Vater und Mutter enthaltsam erzogen worden und habe das 
Trinken von Alkohol immer verabscheut. Mein Bruder, welcher in Dorpat 
studierte, hat von Jugend auf sowie als Student enthaltsam gelebt und ist Staats- 
rat in Russland geworden. 

9. (Siehe Antwort zu Punkt 14.) 

10. Da ich nie Trinker war, kann ich auch diese Fragen nicht beantworten. 

11. Ich beziehe mich auf vorherige Antwort und auf Nr. 14. 

12. Dies ist so minimal, dass ich einen Betrag nicht anzugeben vermag. 

13. Nichts. 

14. Die erste Unterbrechung meiner Abstinenz erfolgte, als ich nach Abschluss 
meiner Lehrzeit im Jahre 1838 nach London kam, es war gerade zur Krönungs¬ 
feier der Königin Viktoria. Vor dem Eintritt in eine Londoner Buchdruckerei 
musste ich vor der betreffenden Abteilung »Einstand« geben und ein Glas Bier 
in einem Zuge austrinken. Dadurch bekam ich starkes Erbrechen und schweres 
Uebelbefinden. Aehnlich ging es mir im Jahre 1845 in Petersburg, wo ich beim 
Eintritt in eine Druckerei ein kleines Bierglas mit Schnaps auf einen Zug 
leeren und dies mit Erbrechen und schwerem Unwohlsein büssen musste. — 
Im Jahre 1848 erkrankte icn in Petersburg an der Cholera. Zur Stillung meines 
grossen Durstes empfahl der Arzt ein Glas Wein. Da kein Wein im Hause 
war, wurde in einer der ersten Weinhandlungen eine Flasche Rüdesheimer Berg für 
4 Thaler geholt. Ich trank das erste Glas mit grossem Appetit und leerte 
dann unbeobachtet aus Durst die ganze Flasche auf einmal, bekam infolgedessen 
heftige Zuckungen, schlug bewusstlos um mich herum, und habe dieser Krisis 
vielleicht meine Genesung zu verdanken. Später habe ich, nicht zur Stärkung 
sondern zur Bewältigung einer schweren Krankheit, noch einmal gleich eine 
halbe Flasche Wein getrunken. Die Aerzte selbst haben mir jedoch wiederholt ge¬ 
sagt, dass ich meine Genesung und mein hohes Alter nicht ihrer Kunst, sondern 
nur meiner gesunden und enthaltsamen Lebensweise zu danken hätte. Meine 
Frau, mit der ich über 50 Jahre glücklich verheiratet war, trank ebenfalls keinen 
Alkohol, wir haben uns meist durch Tee erquickt und auch in Gesellschaften 
meist Wasser oder nichts getrunken. Ich habe viele Fälle gesehen, in denen 
treffliche, geschickte Menschen und ganze Familien durch Alkohol untergingen. 
Es ist mir gelungen, einen meiner jungen Freunde zu retten, der mir nach ernstem 
Zuspruch versprach: »Onkel ich verspreche, dass ich von heute an kein Bier 
mehr trinken werde« und dies Versprechen auch gehalten hat und ein tüchtiger 
Mensch geworden ist. — Ich glaube nicht, dass die Trinkerheilanstalten viel 
Erfolg hahen werden; nur ein kleiner Teil wird gesunden, während viele in 
das alte Laster zurückfallen. Es sollte hauptsächlich auf die Eltern eingewirkt 
werden, dass sie den Kindern den Genuss von alkoholischen Getränken ver¬ 
bieten. Ich selbst war Augenzeuge, dass die eigene Mutter den Säugling 
am Bierglase nippen liess. 


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No. 40. Professor Dr. Ludwig Heim, Direktor des hygienisch¬ 
bakteriologischen Instituts in Erlangen. 

1. Dr. Ludwig Heim in Erlangen. 

2. geb. 13. Februar 1857. 

3. Eichstätt, Kreis Mittelfranken in Bayern. 

4. k. Univers.-Professor, Direktor des hygienisch-bakteriologischen Instituts. 

5. Gymnasium, Universität. Ich war von 1881 —1897 aktiver Sanitätsoffizier und 
wurde seit meiner Berufung nach Erlangen als Oberstabsarzt ä la suite des k. 
bayr. Sanitätskorps gestellt. 

6. Zum D. Verein gegen den Missbrauch geist. Getränke. 

7. Seit einigen Monaten eingeschränkt und seit dem 23. Oktober d. J. völlig ent¬ 
haltsam ; werde es wohl auch für immer bleiben. 

8. Versuch, ob die völlige Enthaltsamkeit einen fühlbaren Vorteil vor dem mässigen 
Genuss habe. — 

10. Schon die kurze Zeit lässt fühlbare Vorteile erkennen: 

a) Besserung früher vorhandener leichter Magen- und Verdauungsbeschwerden. 

b) Gewinn von schätzungsweise 1 — 2 Stunden Arbeitszeit durch weniger Ruhe- 
und Schlafbedürfnis, insbesondere nach Tisch. 

11. a) Der Befragte ist nicht verheiratet. 

b) Er hat die bekannten Erfahrungen eines Universitäts-Studenten und -Lehrers 
gemacht (siehe die allgemeinen Bemerkungen zu Punkt 14). 
d) Es ist in Hochschullehrerkreisen nicht schwer, enthaltsam zu sein und zu bleiben. 

12. Mindestens etwa 210 Mk. jährlich, in früheren Jahren noch mehr. 

14. Die bekannten Erfahrungen eines Universitäts - Studenten und -Lehrers gehen 
dahin, dass in Studentenkreisen zu viel nähere und fernere Anlässe benutzt 
werden, um zu trinken. Vielleicht hat sich der Alkoholgebrauch und -Missbrauch 
seit meiner Studentenzeit (1876—1881) etwas verringert (ich kann das nicht 
sicher beurteilen), zuviel wird aber sicher getrunken, bei festlichen Anlässen 
selbst von manchen älteren Herren, die direkt oder indirekt die Jugend auch 
noch ermuntern. — In Offizierkreisen sind Trinksitten bei festlichen Gelegen¬ 
heiten ebenfalls noch vorhanden. In meinem Hörsaale habe ich die Dresdner 
Bilder gegen den Alkohol für ständig angebracht. Ich hoffe damit die Studieren¬ 
den zu veranlassen, dass sie diese Bilder während der Pausen wiederholt be¬ 
trachten und dabei einen Eindruck aufnehmen, der sich dem Gedächtnis 
unwillkürlich einprägt und beim gelegentlichen Drandenken weitere Ueber- 
legungen über die Wirkungen des Alkohols zur Folge haben muss. Gesprochen 
habe ich in dieser Hinsicht im laufenden Semester noch kein Wort; das soll 
nur einmal bei der Besprechung der Alkoholfrage geschehen ; denn ich fürchte, 
dass i c h (ich sage nur ich ; ein anderer kanns vielleicht besser) bei vielen Worten 
eher einen Trotz als eine Geneigtheit bei den Hörern erzielen könnte. Die 
Aenderung der herrschenden Anschauungen vollzieht sich bekanntlich sehr schwer 
bei der allgemeinen Fröhnung, bei der vermeintlichen Selbstverständlichkeit, dass 
der Alkohol zur Erholung, zur Geselligkeit und Lust gehöre und ferner bei der 
Hänselung, der ein junger Mann, der nur halbwegs mässig trinken will, seitens 
seiner Gleichaltrigen ausgesetzt ist. Die Aenderung lässt sich nicht durch viele 
Worte herbeiführen, die Jugend muss vorsichtig gefasst und diplomatisch geleitet 
werden. Beispiele fruchten mehr als Reden! 


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No. 41. Eisenbahndirektor a. D. Otto de Terra in Marburg. 


1. Otto de Terra in Marburg. 

2. geb. io. Mai 1851. 

3. Gut Kuflies in Ostpreussen. 

4. Eisenbahndirektor a. D. 

5. Nach bestandener Reifeprüfung in den preuss. Staatseisenbahndienst getreten, 
später in Berlin Staatswissenschaften studiert. 

6. Deutscher Verein enthaltsamer Eisenbahner, Guttemplerorden, Alkoholgegnerbund 
und Deutscher Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke. 

7. Von jeher im allgemeinen sehr mässig, seit August 1901 völlig enthaltsam. 

8. Die Einsicht, dass es unter dem Zwange der herrschenden Trinksitten ausser¬ 
ordentlich schwer fällt, stets wirklich mässig zu bleiben, und dass im Kampf 
gegen die Alkoholschäden völlige Alkoholenthaltung die weitaus erfolgreichste 
Waffe ist. 

9. Keine. 

10. Durch den Verzicht auf den früheren regelmässigen Genuss geringer Mengen 
leichten Weins wurde das körperliche Befinden nicht merklich beeinflusst; da¬ 
gegen führte das Bewusstsein, wirksamer als vorher an einer hohen Kultur¬ 
aufgabe mitzuwirken, zu erhöhter Arbeits- und Lebensfreude. 

11. Für den gefahrvollen und verantwortlichen Eisenbahndienst ist der landläufige 
gewohnheitsmässige Genuss alkoholischer Getränke eine stete Quelle schwerer 
Gefahren, die, wie das Beispiel Nordamerikas und Englands zeigt, durch völlige 
Alkoholenthaltung am wirksamsten verschlossen wird. 

Im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben ist der anfängliche Spott über die 
Abstinenz, als einer «Uebertreibung»,erstaunlich schnell einer anderen zutreffenderen 
Beurteilung gewichen. 

12. Für gesellschaftliche Zwecke und täglichen Bedarf früher jährlich etwa 3—400 Mark. 

13. Nichts, da auch für die Geselligkeit im Hause der Alkohol mit bestem Erfolg 
völlig ausgeschaltet ist. 

14. In dem Bestreben, die segensreiche Enthaltsamkeitsbewegung in die Reihen des 
deutschen Eisenbahnpersonals zu tragen, wurde vielfach, selbst in massgebenden 
Kreisen, eine Schädigung des wohlbegründeten Ansehens und damit der In¬ 
teressen der Verwaltung erblickt, weil man annahm, es würde dadurch der 
Anschein erweckt, als sei das deutsche Eisenbahnpersonal den in allen Berufs¬ 
kreisen herrschenden Trinksitten in ganz besonderem Masse unterworfen. 


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No. 42. Landesversicherungsrat Hansen in Kiel. 

1. Hansen, Peter Christian, Kiel. 

2. geb. 12. März 1853. 

3. Flensburg, Provinz Schleswig-Holstein. 

4. Landesversicherungsrat in Kiel. 

5. Volksschule. Selbstunterricht. Hospitant an der Technischen Hochschule in 
Dresden. Universitäten: Leipzig, Paris und Strassburg. Ausgedehnte Reisen im 
In- und Auslande. 

6. Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, sowie Alkoholgegnerbund in Kiel. 

7. Seit Juli 1896 enthaltsam. (Vergl. den Aufsatz »Wie ich Enthaltsamer wurde«, 
Jahrgang 1904, Heft 1, S. 54—62 dieser Vierteljahresschrift.) 

8. Mein Entschluss, enthaltsam zu sein, ist vor allem durch die Ueberzeugung von 
den verhängnisvollen Folgen des Alkoholgenusses für unser Volksleben im ganzen 
wie für den Einzelnen in körperlicher, sittlicher, geistiger und wirtschaftlicher 
Beziehung bestimmt worden. Ich glaube erkannt zu haben, dass kaum eine 
wirksamere Lehre für den Kulturfortschritt gepredigt werden kann als diejenige: 
»Meidet den Alkohol? 

9. Keine. 

10. a) Mein körperliches Befinden ist in vieler Hinsicht gebessert worden. Ich litt 

früher manchmal an Kopfschmerzen, die ich seitdem kaum noch kenne. Auch 
Erkältungskrankheiten war ich ehedem weit mehr ausgesetzt. 

b) Auch für meine sehr angespannte geistige Tätigkeit habe ich nur die günstigsten 
Einwirkungen verspürt. 

c) Ich habe immer Freude am Leben empfunden und bin in dieser Hinsicht 
ganz der Alte geblieben. Nur empfinde ich heute mehr denn je Abscheu 
gegenüber der Sorte von »Fröhlichkeit«, die künstlich durch den Alkohol 
hervorgebracht wird. 

11. Meinen erwachsenen Kindern lasse ich in Bezug auf diese Sache ein grosses 
Mass von Freiheit. Auch meinen Gästen gegenüber übe ich keinen Zwang. 
Meine gesellschaftlichen Beziehungen haben gegen früher keine erheblichen 
Veränderungen erfahren. Meine Freunde haben mir die Durchführung der Ent¬ 
haltsamkeit nie erschwert. Manch einer derselben hat mir gesagt: »Du machst 
es viel vernünftiger wie wir — vielleicht komme ich auch noch zu Deinem Stand¬ 
punkt«. Vorjahresfrist erklärte einmal ein mir bekannter Leiter einer Brauerei: 
»Wenn ich nicht Bierbrauer wäre, würde ich es genau so wie Sie halten«. Im 
öffentlichen Leben habe ich meine Grundsätze ebenfalls leicht durchsetzen können. 

12. u. 13. Früher jährlich etwa 100 Mk., jetzt minimal. 

14. Ich bedaure, dass ich zu der Erkenntnis von dem Werte der Enthaltsamkeit 
erst so spät gekommen bin. Ich würde mich dann wahrscheinlich noch viel 
besser befinden. 


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No. 43. Nervenarzt Dr. Hugo Hoppe in Königsberg. 


1. Hugo Hoppe. 

2. geh. 14. Dezember 1860. 

3. Kreuzburg O/Schl. 

4. Nervenarzt in Königsberg. 

5. Studierte 8 Semester Mathematik und Naturwissenschaft, sodann Medizin. Darauf 
13 Jahre Arzt an öffentlichen Provinzial-Irrenanstalten. Seit 3 Jahren Nervenarzt. 


6. Früh Mitglied des deutschen Ver. geg. Missbr. geist. Getränke; Mitglied des 
Vereins abstinenter Aerzte seit seinem Bestehen; Vorstandsmitglied d. Königs¬ 
berger Bezirksvereins geg. d. Missbrauch geist. Getr. 


7. Von jeher sehr massig, auf der Universität innerlich Feind aller Saufereien, 
wenn ich auch gelegentlich, der Mode gehorchend, Kommerse u. dergl. 
mitmachte und mir einen Rausch antrank, ohne aber regelmässig alkoholische 
Getränke (es kam nur Bier in Betracht) zu geniessen. Regelmässiger Alkohol¬ 
genuss erst seit 1888 als Irrenarzt, da zu meiner Verpflegung auch Verabreichung 
von Bier, in der einen Anstalt 2 Flaschen, in der zweiten 3 Flaschen täglich 
gehörten, die ich mit der Zeit pflichtschuldigst zu leeren mich gewöhnte. 
Späterhin liess ich jedoch 1 oder 2 Flaschen täglich stehen, bis ich mich 
schliesslich 1894 zur Enthaltsamkeit bekehrte. 


8 . Nachdem ich die Alkoholfrage an der Hand des Baer sehen Werkes studiert 
und mir schon lange Selbstvorwürfe gemacht hatte, weil ich mich im ge¬ 
selligen Verkehr immer wieder hatte bewegen lassen, mehr zu trinken als mir 
bekam, (besonders gegen Bier war ich sehr empfindlich, und schon 2—3 Glas 
machten mir Magenbeschwerden), setzte ich mein Trinkquantum allen Spöttereien 
gegenüber immer mehr herab und wurde endlich durch einen Aufsatz von 
A. Smith in der Berliner klinischen Wochenschrift, der einen Appell an den 
Arzt richtete, des Beispiels wegen auf den Rest von Alkohol zu verzichten, zur 
Abstinenz gebracht. 


9. Im allgemeinen keine; nur bei meiner Hochzeit, die etwa Jahr nach Beginn 
der Abstinenz stattfand, nippte ich einigemal am Weinglase, und kurze Zeit 
darauf trank ich einmal bei grossem Durst an einem heissen Sommertage, da 
kein anderes Getränk zu haben war, einen Schnitt ( 2 / J0 Liter) Bier. 


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10. Ich glaube nur gute. Doch habe ich keine richtige Schätzung, da ich zufällig 
in der gleichen Zeit, als meine Abstinenz begann, durch andere Umstände nervös 
geworden war. Meine geistige Arbeitskraft wurde trotz dieser Nervosität nicht 
herabgesetzt, sondern eher etwas gesteigert. Gemütlich und an Daseinsfreude 
habe ich durch das Aufgeben des geringen Alkoholgenusses nicht verloren, im 
Gegenteil. 

11. In meiner Familie machte es mir keine Schwierigkeit, die völlige Alkohol¬ 
abstinenz, die sich bald von selbst ergab, durchzuführen. In meinem Berufe 
als Irrenarzt wurde ich energischer gegen die Alkoholverabreichung an Kranke, 
und wenn ich da auch manche Schwierigkeiten zu bekämpfen hatte, so habe 
ich doch da gutes gewirkt. In meinem jetzigen Berufe als Nervenarzt mag 
mir vielleicht mein öffentliches Auftreten gegen den Alkohol in manchen 
Kreisen schaden, die Abstinenz an und für sich wird es sicher nicht tun. 
Meine geselligen Beziehungen haben gar nicht gelitten. Ich habe stets an 
allen Vergnügungen Teil genommen, wobei die anfänglichen Spöttereien über 
mein Wassertrinken bald verstummten. In der ersten Zeit verabreichte ich 
noch Bekannten, die mich besuchten, alkoholische Getränke; nach 2 Jahren 
aber machte ich mein Haus völlig alkoholfrei, ohne dass dies einen wesent¬ 
lichen Einfluss auf meinen allerdings sehr geringen Familien verkehr hatte. 


12. Sehr wenig. Als Student so gut wie gamichts, gelegentlich einmal einige Groschen, 
als Arzt, da ich regelmässig zur Beköstigung Bier erhielt, auch nur ausnahms¬ 
weise, vielleicht 30—50 Mk. im Jahre. 

13. Nichts. 

14. Durch die Abstinenz und den daraus für mich folgenden Kampf gegen den 
Alkohol ist eine hohe Befriedigung über mich gekommen, welche die Mässigkeit 
nie zu erzeugen imstande war. 


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No. 44. Rechtsanwalt Dr. Eggers in Bremen. 

1. Wilhelm Hermann Eggers in Bremen. 

2. geb. 29. August 1867. 

3. Bremen. 

4. Rechtsanwalt und Notar. 


5. Vorbereitungsschule, Gymnasium, Universität, Reisen in Deutschland, der Schweiz, 
Italien, Frankreich. 


6. Deutscher Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, Bremer Bezirksverein 
des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke, Bremer Mässig- 
keitsverein, Deutscher Verein für Gasthaus-Reform, Alkoholgegnerbund, Altmit¬ 
glied des Deutschen Vereins abstinenter Studenten. 


7. Zuerst durchschnittlicher Alkoholgenuss. Dann Einschränkung. Dann enthaltsam 
mit minimalen Ausnahmen. Dann ganz enthaltsam. Dann organisierter Abstinent. 


8. Das Lesen der Mässigkeits- und Enthaltsamkeits-Literatur im Zusammenhang 
mit dem Erkennen des Umfangs des Alkoholismus und dem Triebe, das Leben 
theoretisch und praktisch einheitlich zu gestalten. 


9. Keine. 


10. a u. b) Nicht mit Sicherheit festzustellen.; c) Erhöhung der Lebensfreudigkeit 
und Genussfähigkeit. Beglückendes Gefühl an einer weltgeschichtlichen Auf¬ 
gabe mitzuarbeiten. 


11. a) Die Enthaltsamkeit wurde mir beinahe überall übel genommen. 

b) Die Enthaltsamkeit erschwerte mir manchesmal meine berufliche Stellung. 

c) Die Enthaltsamkeit war mir in den meisten Fällen ausserordentlich hinderlich 
im harmlosen geselligen Verkehr, besonders früher. 

d) Im allgemeinen verschlechterte die Enthaltsamkeit meine Stellung im öffent¬ 
lichen Leben nach oben, verbesserte sie nach unten. 


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423 


12 —14- Als Kind und Schüler war ich sehr empfindlich gegen Alkohol. Ich er¬ 
innere mich, dass mehrfach nach kleinen Quantitäten Alkohols Uebelkeit und Er¬ 
brechen eintrat. Auf der Universität wurde es mir zuerst nicht leicht, das nach 
dem Comment jeweilig erforderliche Quantum zu vertilgen. Ich hielt das aber 
für eine unmännliche Schwäche und übte mich so lange, bis ich so gut wie 
der Durchschnitt meinen Mann stand. Eine gewisse Ueberwindung kostete es 
mich aber doch noch meistens. Ich habe mich deshalb auch niemals an den 
regelmässigen Genuss alkoholischer Getränke ausserhalb der Kneipe gewöhnt. 
Bald nach Abschluss meiner Studien bekam ich die Mässigkeitsblätter regel¬ 
mässig zu lesen. Zugleich lernte ich aus der Praxis die sozialen Verhältnisse 
genauer kennen und bildete mir so allmählich ein Urteil über die Alkoholfrage. 

Es dauerte nicht lange, dass ich von der Wichtigkeit dieser Frage erfüllt wurde 
und die Konsequenzen zog. Ich wurde Mitglied des Deutschen Vereins gegen 
den Missbrauch geistiger Getränke und schränkte meinen Alkoholgenuss so ein, 
dass ich gar nicht mehr regelmässig und bei besonderen Gelegenheiten selten 
übermässig trank. Ich hatte aber mit diesem Mässigkeitsstandpunkt ausser¬ 
ordentliche Schwierigkeiten in meiner Umgebung. Ueber die Abstinenz erfuhr 
ich aus den Mässigkeitsblättern nicht viel. Ich nahm der Abstinenz gegenüber 
den landläufigen deutschen Standpunkt ein. Ich hielt sie gut für Kinder, Trinker, 
Trinkerrettung, im Grunde hatte sie für mich etwas sehr Unsympathisches, ziem¬ 
lich Unbegreifliches, Fremdartiges. 

Je mehr ich mich aber mit der Theorie und Praxis der Alkoholfrage be¬ 
schäftigte, um so näher kam ich — ohne es immer unmittelbar zu bemerken — 
der Abstinenz. Das tägliche Leben und die Wissenschaft überzeugten mich, 
dass die Verheerungen des Alkoholismus viel grösser waren, als ich es früher 
geahnt hatte, und dass man ohne Alkohol gerade so gut in eine angeregte, 
heitere, vergnügte Stimmung kommen kann, wie mit Alkohol, und dass der 
Alkohol immer die Stimmung verflacht. 

Nachdem ich lange Zeit abstinent gelebt hatte, ohne einer Organisation bei¬ 
zutreten, kam ich endlich auch zu der Ueberzeugung, dass ohne starke Abstinenz¬ 
organisationen die Bekämpfung des Alkoholismus aussichtslos erscheint, und trat 
dem Alkoholgegnerbund bei. Ich fühlte mich zuerst durch diese Bindung 
eingeengt, das Gefühl verlor sich aber. Ich wünschte, dass die Schilderung 
dieser meiner Entwickelungen, die sich auf etwa zehn Jahre verteilt, recht viele 
von den noch nicht abstinenten Lesern veranlassen möge, einen kürzeren und 
schnelleren Weg zu gehen, da Theorie und Praxis des letzten Jahrzehnts genügendes 
Material für die Abstinenz gebracht haben. 


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424 


No. 45. Pastor Hermann Josephson in Bremen. 

1. Hermann Josephson in Bremen. 

2. geb. 30. August 1864. 

3. Barmen, Rheinprovinz. 

4. Pastor prim, an U. L. Frauen in Bremen. 

5. Volksschule und Gymnasium in Barmen; Universität in Halle, Greifswald, Berlin, 
Bonn. 

6. Ja. Verein gegen den Missbr. geist. Getr., Verein zum Blauen Kreuz und 
Verein abstinenter Pastoren. 

7. Enthaltsam seit Herbst 1891. 

8. Ein gelegentlicher Besuch der Trinkerheilanstalt Lintorf mit einem Herz und 
Gewissen packenden Vortrag von Pastor Hirsch. Ein sehr trauriger Fall von 
Trunksucht und ihren Folgen in der weiteren Familie. Bekanntschaft und inten¬ 
sive Beschäftigung mit der Arbeit und den Schriften des »Deutschen Vereins 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke«, von dem ich 1893 in Hamm (Westf.), 
meinem damaligen Wohnort, einen Zweigverein ins Leben rief. 

9. Eine einzige Unterbrechung im Jahre 1900, wo ich nach einer schweren Nasen- 
und Kehlkopfoperation etwa 4 Wochen auf Wunsch des Arztes täglich 1 — 2 Glas 
guten Rotweines trank. 

10. a—c) Die denkbar günstigsten. Nie bin ich körperlich so frisch, geistig so 

regsam und produktiv, gemütlich so harmonisch und lebensfroh gewesen wie 
in den Jahren der Enthaltsamkeit. 

11. a) Frau und Kinder von 10—16 Jahren bleiben dem Alkohol völlig fern, ohne 

dass je der geringste Zwang auf sie ausgeübt wird; sie begehren ihn auch nicht, 
b—d) Nach einigen verwunderten Fragen und Seufzern in der ersten Zeit fast 
völliges Verstummen von Spott oder Befremden. Die Enthaltsamkeit fällt 
von Tag zu Tag weniger auf und stösst auch in Gesellschaften, Hotels und 
Wirtschaften auf immer weniger nennenswerte Schwierigkeiten, zumal seit 
dem Bremer Kongress (1903). 

12. Früher im Jahre etwa für 100—150 Mk. 

13. Etwa 10—20 Mk. für liebe Gäste, die des Weines oder Bieres nicht entbehren 
zu können meinen. 

14. Vor allem die Tatsache, dass der Antialkoholismus mit Riesenschritten Boden 
gewinnt. Beispielsweise berichte ich nur: 1. Bei der Hochzeit der Tochter 
eines Kommerzienrats unweit Bremen, die ich im Frühjahr 1904 mitfeierte, 
erklärte der Hausherr gleich zu Anfang der Festtafel, seine dienstbaren Geister 
würden sich ein »ganz besonderes Vergnügen daraus machen, auf Wunsch Selters¬ 
wasser herbeizuschaffen«. Nach wenigen Minuten standen Scharen von Mineral¬ 
wasserflaschen auf den Tischen, und während des ganzen Diners gab es — ausser 
dem üblichen Glas Sekt gegen Schluss — nur je eine Sorte Weiss- und Rotwein!! 
2. Im September 1904 fand im feinsten Lokale Bremens, dem »Museum«, die 
Feier einer silbernen Hochzeit von über 100 Personen aus den ersten Fami¬ 
lien Bremens statt. Allerdings gab es mehrere Sorten Wein; aber gleich zu 
Beginn des Festessens prangte auf der ganzen grossen Tafel immer abwechselnd 
je eine Flasche Rotwein und — eine Flasche Fuchinger. Es geht voran! 


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No. 46. Kaufmann Bruno Schulz in Dresden, früher Landwirt. 


1. Bruno Schulz in Dresden. 

2. geb. io. Juni 1871. 

3. Crangen Kreis Schlawe in Pommern. 

4. Früher Landwirt, jetzt zum Kaufmannsstande übergetreten. 

5. Ich besuchte das Gymnasium und eine Vorschule für Einjahrig-Freiwillige. 

6. Ich bin Mitglied des Guttemplerordens seit Januar 1901. 

7. Abstinent vom 5. Oktober 1900. 

8. Infolge allzugrossen Alkoholgenusses, dem ich mich stets zu Hause, niemals in Gesellschaft hin¬ 
gab, bekam ich am 4. Oktober 1900 eine Art Herzlähmung, welche eine mehrstündige Bewusst¬ 
losigkeit zur Folge hatte. Mein Hausarzt Dr. Börner in Fürstenberg i. Meckl., der herbeige¬ 
rufen wurde, sagte mir; er käme als Freund, nicht als Arzt, um mir zu erklären, dass, falls 
ich dem Alkohol nicht ganz entsagte, er nach 8 Tagen wieder in meinem Hause sein würde, 
doch diesmal im schwarzen Gehrock, um mir hinter meinem Sarge das letzte Geleite zu geben. 
Da sagte ich mir: „Nun Alkohol fahr hin! u verschenkte sofort, was ich noch an alkoholischen 
Getränken im Hause hatte, und wurde abstinent. Die Vorzüge der Abstinenz lernte'ich erst 
recht durch die Lehren des Herrn Dr. Oolla in Buchheide kennen, wofür ich ihm stets 
dankbar sein werde. Es gebührt ihm der Ruhm, viele von den Fesseln des Alkohols befreit 
zu haben. 

9. Keine. 

10. a) Die Glieder wurden wieder elastisch, die Beängstigungen, besonders des Nachts hörten auf; 

Leber und Herz, welche nach Aussage des Arztes stark vergrössert waren, schwollen ab; 
mein Herzfehler (Heizklappenfehler), den ich infolge von Gelenkrheumatismus zurückbehalten, 
und der mich verhinderte; Militär zu werden, heilte gänzlich aus. Während mir als Alkoholiker 
das Gehen sehr schwer wurde und allmählich ganz eingestellt werden musste, bin ich jetzt 
wieder ein ausserordentlich ausdauernder Fussgänger geworden. Das Nasenbluten, welches 
häufig und andauernd eintrat, verlor sich gänzlich. Mein tägliches Erbrechen nach dem Genuss 
von festen Speisen, was mich glauben machte, dass ich magenkrank wäre, hörte auf und ich 
habe jetzt einen selten guten Magen, der alles verträgt. Das Zittern der Hände und Kniee, 
was auf Nervosität zurückgefdhrt wurde, ist verschwunden. Die schmerzhaften Waden- und 
Fersenkrämple haben sich auch gänzlich verloren, ebenso die beständigen Gliederschmerzen. 

b) Mein Gedächtnis, das mich zur Zeit des Alkoholgenusses häufig im Stiche liess, habe ich 
vollständig wiedererhalten, sogar schärfer als in meinen Kinderjahren, in denen ich Mittags 
häufig ein Glas Bier oder Wein trank. 

c) Durch die Abstinenz habe ich vor allen Dingen mein Selbstvertrauen wieder erlangt und 
das Bedürfnis, zu schaffen, sowie Freude an Erfolgen und habe den Wert des Geldes 
wieder schätzen gelernt. 

11. a) Meine Frau und Schwiegermutter wurden mit mir abstinent und fühlen sich sehr glücklich 

durch diese veränderten Lebensgewohnheiten. Meine kleine 6 l j 2 jährige Tochter ist eben¬ 
falls schon eine begeisterte Abstinentin, die es als persönliche Beleidigung auffasst, wenn 
jemand ihr zumutet, alkoholische Getränke zu gemessen. So erklärte sie gelegentlich ihrer 
plötzlichen Erkrankung an Influenza in der Schule dem \ om Direktor hinzugezoeenen Arzt, 
als er ihr ein Glas Wein verordnet*:, mit Entrüstung, dass sie keinen Wein .riuke und 
dass ihre Eltern überhaupt keinen Wein zu llause hätten. 

b) In der ersten Zeit meiner Abstinenz ging ich mit meiner Frau auf Reisen, privatisierte dann 
auf Rat des Arztes noch ein Jahr und habe mich, dem Drange zum Arbeiten und Schaffen 
folgend, dann mit meinem ganzen Können meinem neuen Berufe gewidmet, der mir 
Freude macht. 

c) Meine Freunde haben mich oft bewundert, dass ich meinen Entschluss, total abstinent 
zu sein, durchsetze und mir oft gesagt: Wir wünschten, wir könnten es auch! 

12 u. 13. Früher zwischen 1000 —1500 Mark. Jetzt nichts. 

14. Es ist für einen Kaufmann oder bei einem anderen Berufe nicht notwendig, wie oft gesagt 
wird, aus Rücksicht auf das Geschäft zu trinken; es geht ohne Alkohol besser. Das Leben 
ist der Güter höchstes nicht, aber mit Alkoholgetränken kann es zur Hölfe weiden. 


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42G 


No. 47. Jugenderzieher Wildner im Ehrlich’schen Gestift in Dresden. 

1. Ernst Albin Wildner. 

2. geb. 14. November 1876. 

3. Aiierhammer im Erzgebirge, Sachsen. 

4. Erzieher. 

5. Volksschule in Auerhammer, Schlosser, Diakonenbildungsanstalt Obergorbitz, 
Aufseher im Johanneum (Rettungshaus) in Chemnitz, kurze Zeit in den Herbergen 
zur Heimat in Leipzig tätig, Brüderanstalt in Moritzburg und gegenwärtig Erzieher 
im Ehrlich’schen Gestift, Dresden. 

6. Nein. 

7. Obwohl ich von jeher äusserst wenig Alkohol genossen habe und von dessen 
schädlichen Wirkungen am eigenen Leibe weniger reden kann, so fasste ich im 
August d. J. 1902 doch den Entschluss, dem Genüsse des Alkohols gänzlich 
zu entsagen, und gedenke meinem Grundsätze auch ferner treu zu bleiben. 

8. Zuerst folgte ich dem Beispiel meines Kollegen. Dann aber wurde es mir 
immer klarer, dass ein Erzieher der Jugend berufen sei, durch sein Beispiel zu 
beweisen, dass es möglich sei, auch ohne den schädlichen Genuss des Alkohols 
ein echter deutscher Mann zu sein, da ja gerade bei der Jugend die falsche 
Ansicht vorherrscht, dass vieles Trinken von Bier und Wein das Zeichen echter 
Männlichkeit sei. 

9. Zweimal in Gesellschaft ein kleines Glas Wein. 

10. Da ich schon von Jugend auf äusserst wefiig Alkohol getrunken habe, kann ich 
auch von besonderen Folgen der Enthaltsamkeit weniger berichten. Nur kann 
ich sagen, dass es mir stets zur Beruhigung gereicht, nicht unter dem Einflüsse 
des Alkohols zu stehen, und den schädlichen Wirkungen desselben nie aus¬ 
gesetzt zu sein. 

11. a) In meiner Familie wird der Mässigkeit das Wort gesprochen; die Enthalt¬ 

samkeit aber hält man für Uebertreibung. 

b) Unter den Berufsarbeitern der Inneren Mission, zu denen auch ich gehöre, 
macht sich mehr und mehr eine Richtung bemerkbar, die wegen des steigenden 
Alkoholelends von jedem Berufsarbeiter der Inneren Mission vollständige 
Enthaltsamkeit fordert. 

c) Stammtischverkehr habe ich nie gepflegt. Die Beziehungen zu meinen Freunden 
haben keine Veränderung erlitten. 

12. u. 13. — — 

14. Die teueren Preise der alkoholfreien Getränke, die noch dazu grösstenteils 
minderwertig sind, machen es Unbemittelten, namentlich zahlreichen Familien 
sehr schwer, enthaltsam zu leben, besonders bei Ausflügen am dritten Ort. — 


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No. 48. Arbeiter Moßig in Hannover. 


i. Rieh. Moßig, Hannover. 


2. geb. 29. November 1864. 


3. Eilenburg, Preussen. 


4. Arbeiter. 

5. Bürgerschule. 

6. Ja. Enthaltsamkeitsverein »Gut-Templer<. 

7. Seit 4 Jahren total enthaltsam. 

8. Belehrung über die Alkoholfrage und aus wirtschaftlichen Gründen. 


9. Keine. 


10. Ich fühle mich wohler, bin seit 4 Jahren noch nicht krank gewesen. Das 
Gedächtnis hat sich bedeutend gehoben. Das Bewusstsein erfüllter Pflicht hilft 
die Sorgen des täglichen Lebens leichter tragen. 

11. a) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass beim Alkoholtrinker der Haushalt 

nicht vorwärts, sondern eher rückwärts geht. 

b) Wegen Nichttrinkens ist noch keiner arbeitslos geworden, aber wegen Trinkens 

schon mancher meiner Kollegen. 

c) Die früheren Freunde (Kneipgenossen) habe ich verloren, jedoch andere, 

bessere dafür eingetauscht. 

12. Pro Woche 4—5 Mark. 

13. Nichts. 

14. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass mein Beispiel der Enthaltsamkeit nicht 
ohne Wirkung auf meine Arbeitsgenossen geblieben ist. Wenn auch nur wenige 
enthaltsam geworden sind, so hat doch eine grosse Anzahl den Konsum von 
Alkohol eingeschränkt. Trinkexzesse während der Arbeitszeit gehören jetzt zu 
den Seltenheiten, während dieselben vor 4—5 Jahren an der Tagesordnung waren. 


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428 


49. Dr. Hermann Beck, sozialpolitischer Schriftsteller, Berlin. 

1. Dr. Hermann Beck, Tegel bei Berlin. 

2. geb. 25. August 1879. 

3. Mühlheim a. d. Ruhr, Preussen. 

4. Sozialpolitischer Schriftsteller. 

5. Realgymnasiast, 2 Jahre Arbeiter als Maschinenschlosser, Eisendreher, Schmied 
und Monteur, 6 Semester Technische Hochschule, einige Monate Bureau- und 
Betriebsingenieur, 6 Semester Universität (Philosophie, Rechts- und Staatswissen¬ 
schaften), 1 Jahr Assistent eines Nationalökonomen, 2 Monate bei einer Handels¬ 
kammer, 2 Jahre Geschäftsführer einer gemeinnützigen Gesellschaft für Bildungs¬ 
zwecke, seitdem Herausgeber der Kritischen Blätter für die gesamten Sozialwissen¬ 
schaften. 

6. Nein. 

7. Von jeher (vermutlich erblich) keine Freude am Alkoholgenuss und dessen 
Wirkungen; sehr seltener und dann mässiger Alkoholgenuss. 


8—9. Enthaltsam bin ich nicht, weil ich einen Entschluss zu fassen noch nicht in 
die Lage kam. Durch mein Beispiel zu wirken, bietet sich in meinem 
Freundes- und Bekanntenkreise, der fast ganz (wie ich) den Alkoholgenuss nicht 
braucht, und deshalb nur selten alkoholhaltige Getränke geniesst, fast gar 
keine Gelegenheit. 


10—11. Bei dem ganz seltenen Genuss bin ich gegen Alkohol sehr empfindlich 
und kann, ohne im übrigen über Nerven und Magen klagen zu können (im Gegen¬ 
teil), nur wenig vertragen. Am wenigsten. bekommen mir Obstweine ; Bier macht 
mich müde am Mittag, nicht selten schlaflos am Abend. Die anregende Wirkung 
kenne ich nur als wenig wertvolle Begleiterscheinung der Verwischung des klaren 
Blicks, weshalb ich bei Vorträgen und Diskussionen Alkohol streng meide. 
Zitronenlimonade naturell, Mineralwasser und Milch. 


12—13. Etwa 80—100 Mark pro Jahr, wovon etwa 85 — 90% auf ungetrunkene 
kaum angebrochene teure Weine bei Festessen, repräsentativen Anlässen usw. 
entfallen. 


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429 


i4- Ich habe erlebt und von Freunden bestätigt gefunden, dass im akademischen 
Leben eine Tendenz der sinkenden Wertung des Alkohols platzgreift 
und dass damit eine Abnahme des Alkoholgenusses als unmittelbare Folge¬ 
erscheinung unverkennbar ist. Wie die innerlich starke neustudentische Bewegung 
der «freien Studenten», die gegenüber der konventionellen exklusiven Bier¬ 
geselligkeit sich neue Ideale und Ziele gesteckt haben, wohl als ein Haupt¬ 
träger dieser Strömung anzusehen ist, so sind es auch in anderen Berufen, be¬ 
sonders der literarischen und Künstlerwelt gerade die tüchtigsten unter den 
Jungen, die intensiv leben wollen und doch mit Würde, — einem Stolz, der es ablehnt, 
sich zur Steigerung des Empfindungslebens künstlicher Reizmittel zu bedienen. 
Aber dieser Stolz kann nur dort wachsen, wo er Gesundheit, Kraftfülle und 
Elastizität als Nährboden findet. 

Erleben ist die Sehnsucht der Besten auch unserer Zeit. Ichbewusst- 
sein sucht man, und die Skala der Empfindungen soll mit Bewusstsein 
und Freude am Erlebnis durchlaufen werden. Wer dann nervlich und 
künstlerisch unfähig ist, real zu erleben, der sucht es in der Reflexion. Unter 
den Peitschenhieben der Stimulantien werden die Hemmungen der im Gleich¬ 
gewicht vielleicht willensschwachen und empfindungsarmen Seele ausgelöst, — 
man erlebt! 

L T nd demgegenüber der Künstler im tiefsten Sinne des Wortes: der 
Mensch! Urwüchsig braust’s in ihm, verschmäht er im Bewusstsein der Kraft 
künstliche Steigerung. — Auch solche fand ich, und mit dem Gefühle, dass ich 
ihnen je länger, desto häufiger begegnen werde. Dass ein hochtalentierter junger 
Maler auf meine Frage, wie er zum Alkoholismus stehe, nicht ohne ein etwas 
spöttisches Lächeln antwortete: «Für Schwächere! Ich trinke lieber Milch»,— 
das mag manchem bizarr klingen, enthält aber, als Symptom gedeutet, eine der 
Wahrheiten, zu denen sich die mit Kulturgeräten überschwemmte und be¬ 
ängstigend verfeinerte Menschheit zurückfinden muss. In diesen Worten liegt 
etwas vom Klang des Rousseau’schen «Zurück zur Natur!», das die Grössten 
ihrer Zeit berauschte und heute noch lebt in den Besten, den Einsamen 
und Tiefen. 


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430 

No. 50. Fabrikbesitzer Friedrich Otto Jedicke in Dresden, 

Leipzigerstrasse 151. 

1. Friedrich Otto Jedicke in Dresden. 

2. geb. 2. Juni 1860. 

3. Oschatz in Sachsen. 

4. Kaufmann und Besitzer einer Zigarrenfabrik. 

5. Kaufmännischer Bildungsgang seit 1874. 

6. Nein. 

7. Ja, ich habe meinen Alkoholgenuss nach und nach immer mehr eingeschränkt 
und trinke, soweit ich es vermeiden kann, überhaupt keine alkoholhaltigen Getränke. 

8. Ich musste Mittel sammeln, um mir eine Selbstständigkeit zu erringen. 

9. Unterbrechungen der Enthaltsamkeit kommen nur noch aus geschäftlichen und 
gesellschaftlichen Rücksichten vor. 


10. Ich habe infolge der Vermeidung alkoholischer Getränke grössere Arbeitsfreudigkeit 
speziell für geistige Arbeit und mehr Friedfertigkeit. 


11. Da ich etwas lebhaftes Temperament habe, kann ich mich mancher erregten 
Szenen früherer Jahre erinnern, wenn ich mich durch Genuss von Wein oder 
Bier erregt hatte. 


12. Jährlich wohl kaum 50—100 Mark. 


13. Jetzt bedeutend weniger, weil ich meist nur alkoholfreie Getränke geniesse. 


14. Nachdem ich seit Jahr und Tag infolge von Rheumatismus und viel Arbeit 
Bier und Wein fast ganz gemieden habe, fühle ich mich wohler als je und 
gewinne mehr Lust zur Arbeit und mehr Freude am Leben. 


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431 


Nachschrift der Redaktion zu der üntersnchnng der 
Alkoholfrage anf Grand von Fragebogen. 

Es sind der Redaktion noch eine Reihe weiterer Antworten zu¬ 
gegangen, die im zweiten Jahrgange erscheinen werden. Ein pensionierter 
Postassistent schreibt, ohne die einzelnen Hauptfragen zu beantworten, 
nur im allgemeinen folgendes: »Den Wirtshausbesuch habe ich 
und meine Brüder nicht kennen gelernt. Erst im 28. Lebensjahr, am 
Rhein, begann ich regelmässig etwas Bier und Wein zu trinken, soweit 
die Befriedigung der Lebensnotdurft (Durst) einen solchen Genuss 
verlangte. Während der Arbeit habe ich nur ausnahmsweise Spiri¬ 
tuosen genossen, und trifft dies auch jetzt noch zu, weil ich an mir, 
besser aber noch an meinen Mitarbeitern bemerkte, wie arg ihr ganzer 
Mensch an Ruhe und Festigkeit nach dem Trinken von Bier verlor. . . . 
»Auch beim Radeln (150 km täglich), sowie beim Marschieren (60 km 
täglich) trinke ich nie Spirituosen; ein Bedürfnis sind sie mir nicht und 
ihr Genuss bereitet immer eine kleine Störung in meinem Organismus, 
sobald es mehr wie 1—2 Glas sind und ich aus Höflichkeit dem Trink¬ 
zwange nachkomme. Jedenfalls wird man nach reichlichem Biergenuss 
träge und stupide. Es lassen sich in diesem Zustande schwierige, das 
Urteilsvermögen beschäftigende Arbeiten nur mühsam leisten. Die Gut¬ 
templer- und Mässigkeitsvereine wirken nicht bloss segensreich für die 
Gewohnheitstrinker, sondern helfen auch im Kampfe gegen die lästigen 
Trinksitten, welche bei leichtlebigen Naturen zur Leidenschaft und oft 
zum Ruin führen.« Am Schlüsse seines Berichtes bemerkt der Briefschreiber 
noch, dass er im Sommer an jedem zweiten Tage nach einem 8 / 4 Stunde 
weitentfemten See sich begebe, um darin zu schwimmen, dass er jedoch 
für den Weg dahin nie das Rad benutze, weil seiner Beobachtung nach 
ein kaltes Bad erst dann gut wirke, wenn man von der Badestelle aus 
einen scharfen Gang unternimmt. »Meine Bekannten — so schreibt er — 
die mit mir im See badeten, haben sich regelmässig erkältet, sobald sie 
am See längere Zeit lagerten in der Meinung, die Luft sei warm genug 
dazu. Vor drei Jahren geriet ich beim Schlittschuhlaufen, mitten auf 
der weiten Eisfläche in eine Eispressung (Spalte) des grossen Schwieloch- 
Sees und kam bis an den Kopf in’s Wasser. Dieses kalte Bad und 
der längere Marsch in den nassen, und bei 12 Grad erstarrten Kleidern 
nach meinem 10 km weitentfemten Heim hat mir durchaus nicht ge¬ 
schadet. Als ich mich aber umkleidete, wurde ich gewahr, dass die von 
Wasserdampf strahlenden Kleider, auch die Leibwäsche, ganz getrocknet 
waren. Ausser Seewasser, das ich schlucken musste, hatte ich nichts 
genossen. Dieses Erlebnis beweist doch, dass Alkohol ohne weiteres 
nicht nötig ist, selbst in solchen, gewiss nicht angenehmen Lagen. (Siehe 
auch Nansen »In Nacht und Eise.) 


Die Alkohol frage. 


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432 


Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 

Chronik über die Monate Oktober, November und Dezember. 

Von internationaler Bedeutung für die gesamte Alkohol¬ 
frage ist das im Dezember 1904 veröffentlichte Programm für den 
zehnten Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus, 
welcher nunmehr endgültig auf die Tage vom 12. bis 16. Septem¬ 
ber 1905 in Pest angesetzt worden ist. In das Arbeitsprogramm 
sind folgende Referate aufgenommen worden: 1. Der Einfluss des 
Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen und tierischen 
Organismus, mit besonderer Berücksichtigung der Vererbung. 2. Die 
hygienische Bedeutung des Kunstweines gegenüber dem Alkoholgenuss 
überhaupt. 3. Ist Alkohol ein Nahrungsmittel? 4. Alkohol und Ge¬ 
schlechtsleben. 5. Alkohol und Strafgesetz. 6. Die kulturellen Be¬ 
strebungen der Arbeiter und der Alkohol. 7. Alkohol und physische 
Leistungsfähigkeit, mit besonderer Berücksichtigung des militärischen 
Trainings. 8. Die Organisation der Antialkoholbewegung. 9. Schule 
und Erziehung im Kampfe gegen den Alkohol. 10. Die Reform des 
Schankwesens. 11. Die industrielle Verwertung des Alkohols als Kampfes¬ 
mittel gegen den Alkohol. 12. Der verderbliche Einfluss des Spirituosen¬ 
handels auf die Eingeborenen in Afrika. Als Referenten haben zu¬ 
gesagt : Gruber (München), Kassowitz, Wlassak (Wien), van der Velde 
(La Hulpe), Forel (Chigny,) Lombroso (Turin), Bleuler (Zürich), Müller 
(Groppendorf), Hähnel, Eggers (Bremen), Malins (Birmingham), Legrain 
(Paris), Helenius (Helsingfors), Maday, Vambery, Kiss, Stein, Malcomes, 
Klemp (Budapest), Fischer (Poszony). Abendversammlungen haben bis¬ 
her folgende Vereinigungen angemeldet: Die, abstinenten Arbeiter, die 
abstinenten Universitätshörer, die ungarische Grossloge des Guttempler¬ 
ordens, und ausserdem sind Versammlungen der ungarischen Psychiater 
und der Landesfrauenvereinigung Ungarns in Aussicht gestellt. — Alle 
Zuschriften sind an den Generalsekretär des Internationalen Kongresses 
gegen den Alkoholismus Dr. Philipp Stein in Budapest IV, Kösponti- 
väroshaza zu richten. — Um vielen deutschen Vertretern zum Besuche 
des Kongresses Gelegenheit zu geben, ist der vom »Allgemeinen deutschen 
Zentralverbande zur Bekämpfung des Alkoholismus« vorzubereitende 



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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


433 


III. Deutsche A b s ti n e n t e n t a g in Dresden auf den 
9. und 10. September 1905 festgesetzt; alle sich auf ihn be¬ 
ziehenden Anfragen sind an den Vorsitzenden des »Allgemeinen 
Deutschen Zentralverbandes«, Franziskus Hähnel-Bremen oder an den 
Geschäftsführer desselben, Dr. R. Kraut-Hamburg 19 zu richten. — Die 
früheren 9 internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus haben 
seit dem Jahre 1885 alle zwei Jahre stattgefunden: in Genf, Zürich, 
Christiania, Haag, Basel, Brüssel, Paris, Wien und Bremen. Auf allen 
diesen Kongressen ist bisher die Alkoholwissenschaft wesentlich be¬ 
reichert und zugleich die praktische Agitation gegen die Trinksitten 
mächtig gefördert worden. Man hat sich in den beiden letzten Jahr¬ 
zehnten immer mehr davon überzeugt, dass der Alkoholismus ein Welt* 
übel und eine ansteckende Krankheit geworden ist, deren weitere Ver¬ 
breitung teils durch allgemeine staatliche Gesetze und Verordnungen, teils 
durch volkstümliche Vereinsbestrebungen in allen Kulturstaaten ver¬ 
hütet werden muss. 


Bei einem Rückblick auf wichtige Vorkommnisse in verschiede¬ 
nen Kulturstaaten können wir zunächst berichten, dass im deutschen 
Reiche am 1. Oktober 1904 ein deutsches Abstinenz¬ 
sekretariat als unentgeltliche Auskunftsstelle für das gesamte Gebiet* 
der Alkoholfrage in Hamburg eröffnet worden ist. Der Geschäftsführer 
ist der als deutscher Bearbeiter des grossen Bergmannschen Werkes 
wohlbekannte Dr. R. Kraut in Hamburg (Sophienallee 8). Wir wünschen 
dieser wichtigen und nützlichen Gründung des Allgemeinen Deutschen 
Zentralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus eine recht gedeihliche 
Wirksamkeit und bemerken, dass in der Schweiz bereits eine ähnliche 
Geschäftsstelle in Lausanne besteht und dass in Wien ein öster¬ 
reichisches Abstinenzsekretariat in der Entstehung begriffen ist. — 
Weiter erwähnen wir auch an dieser Stelle, dass Deutschlands älteste 
Heilanstalt für Alkoholkranke Siloah in Lintorf im November 1904 
ihr 2 5 jähriges Bestehen gefeiert hat. Wir verweisen unsere Leser so¬ 
wohl auf den in diesem Hefte veröffentlichten Bericht des Anstalts¬ 
arztes Dr. med. Peipers als auch auf die Abhandlung des Pastor Kruse, 
Vorsteher der Heilanstalt in Lintorf über das wichtige Thema: »Die 
Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alko¬ 
holkranken«. 


Eine Untersuchungsstelle alkoholfreier Getränke hat 

sich wegen des Entstehens alkoholfreier Industrieen als notwendig er¬ 
wiesen. Nach den Satzungen des am 19. Juli 1904 in Hamburg gegründeten 
Zentralverbands zur Bekämpfung des Alkoholismus soll zur Tätigkeit des Ge¬ 
schäftsführers auch die ständige Kontrolle aller alkoholfreien Getränke 
gehören, um die vielfach stattfindende Ankündigung alkoholhaltiger Ge¬ 
tränke als »alkoholfreie« zu bekämpfen. Auf der am 2. Oktober 1904 
in Dresden stattgefundenen Vorstandssitzung des Zentralverbandes wurde 


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484 


Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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beschlossen, diese Kontrolle in folgender Weise zur Ausführung zu 
bringen. Diejenigen Firmen, welche wirklich alkoholfreie Getränke her¬ 
zustellen versprechen, können sich unter folgenden Bedingungen unter 
die Kontrolle des Zentralverbandes stellen : Der Geschäftsführer entnimmt 
nach seiner Wahl Proben der in den Handel gebrachten alkoholfreien 
Getränke und lässt sie im Laboratorium des Zentralverbandes auf Alkohol¬ 
gehalt und Zusätze, welche gesundheitsschädlich sind, oder den Verkaufs¬ 
wert vermindern, chemisch untersuchen. Kleine Fehler werden zuerst 
nur brieflich den betreffendeA Fabrikanten mitgeteilt. Andauernde Un¬ 
regelmässigkeiten und Ungehörigkeiten in der Beschaffenheit der Fabrikate 
werden veröffentlicht, und muss die Firma, falls Besserung nicht eintritt, 
aus der Kontrolle entlassen werden. Auch die in den Handel gebrachten 
Fabrikate der nicht unter Kontrolle stehenden Firmen werden in gleicher 
Weise untersucht und die Analysen derjenigen Produkte, deren Zu¬ 
sammensetzung nicht den Erklärungen auf den Etiketten, oder der Reklame 
entspricht, veröffentlicht. Die Firmen, welche sich der Kontrolle unter¬ 
worfen haben, erhalten hierdurch das Recht, auf ihren Etiketten, Pro¬ 
spekten und in ihren Inseraten anzugeben, dass ihre Waren vom Zentral- 
verbande kontrolliert werden. Sie sind auch berechtigt, gegen ermässigte 
Taxe ihre Erzeugnisse jährlich einmal im Verbandslaboratorium unter¬ 
suchen zu lassen. Die Analysen werden gratis in der »Alkoholfreien 
Industrie'< veröffentlicht. Ratschläge für die Fabrikation werden diesen 
Firmen auf Wunsch gratis erteilt. Zur Bestreitung der Kosten für Ana¬ 
lysen u. s. w. zahlen die Vertragsfirmen einen dem Umfange des Betriebes 
angemessenen, in jedem Falle zu vereinbarenden Beitrag an die Kasse 
des Zentralverbandes. Das Untersuchungslaboratorium wurde vom Zentral- 
verbande der »Alkoholfreien Industrie«, Verlag von O. V. Böhmert in 
Dresden, übertragen. 


Die Zunahme der Guttemplerlogen in Deutschland 

beweist am deutlichsten den Erfolg der Bewegung gegen den Alkohol. 
Nach einem im Dezember erschienenen Bericht hat Deutschlands Gross¬ 
loge II des internationalen Guttemplerordens (I. O. G. T.) ihren Einzug 
in 373 deutsche Städte und Dörfer gehalten, und zwar mit 780 Logen 
und rupd 26000 erwachsenen Mitgliedern und mit 175 Jugendlogen und 
5000 jugendlichen Mitgliedern. Vor 10 Jahren zählte Deutschlands 
Grossloge II (I. O. G. T.) nur 730 Mitglieder in 28 Logen. Am kräf¬ 
tigsten ist die Guttemplerbewegung in Altona, Berlin, Bremen (Distrikt 12 
mit 56 Logen), Danzig, Dresden, Flensburg und Hamburg (Distrikt mit 
93 Logen) entwickelt. Das Organ der Grossloge, die von Oberingenieur 
Georg Asmussen in Hamburg geleitete Zeitschrift »Deutscher Guttempler« 
ist gegenwärtig auf 14 100 Abonnenten gestiegen (gegen 700 im 
Jahre 1897). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Orden immer 
sicherer sich auch in Mittel- und Süddeutschland festsetzt und sein 
Wirken immer mehr die Sympathien der Behörden und Kommunen 
findet, da, wie Landrichter Dr. jur. Herrn. M. Popert in Hamburg be- 



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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


435 


merkt, jeder Fortschritt desselben meinen Sieg der Nüchternheit, der 
Ordnung, des Fleisses und der Sitte bedeutet.« 


Die Zunahme der Milchschankstellen ist nicht nur in allen 
Grossstädten, sondern auch in Mittel- und Kleinstädten und sogar auf dem 
Lande bemerkbar, wo sie bei Ausflügen zwar meist von der Jugend und dem 
weiblichen Geschlecht, aber auch von männlichen Erwachsenen gern benutzt 
werden. — Neben dem Privathandel und der Privatindustrie sorgen auch 
gemeinnützige Vereine immer nachhaltiger für gesunde alkoholfreie Ge¬ 
tränke. Der Verkauf von kalter und warmer Milch in grossen und kleinen 
Gläsern zu io und 5 Pfennigen hat in Dresden in allen sieben Volks¬ 
heimen des Vereins Volkswohl bedeutend zugenommen. Auch aus 
Berlin, München wird ähnliches über die Steigerung öffentlicher Verkaufs¬ 
stellen von Milch berichtet: In Rheinland und Westfalen hat sich so¬ 
gar schon eine gemeinnützige Gesellschaft mit einem Kapital von 
50 000 M. gebildet, welche die Errichtung von Milchschankstellen, in 
der Art von Mineralwasserhäuschen, jedoch auch möglichst mit Sitz¬ 
gelegenheiten, anstrebt. In Essen und Mühlheim a. Ruhr hat man be¬ 
gonnen. Gelsenkirchen, Düsseldorf, Dortmund, Elberfeld-Barmen, Kalk, 
Mühlheim a. Rhein und Oberhausen werden in Kürze folgen oder sind 
schon gefolgt. Die Einrichtung, welche neben den milchliefernden Land¬ 
wirten auch Arbeitgeber und Gemeindeverwaltungen lebhaft interessiert, 
ist so getroffen, dass Milch schon zum Frühtrunk vor Beginn der Arbeit 
abgegeben wird, und dass Gelegenheit geboten ist, die nährende Milch, 
auch Magermilch an Stelle von alkoholischen Getränken, aber auch statt 
Kaffee, Mineralwasser oder Limonade zu trinken. Eine Förderung und 
weitere Verbreitung derartiger Einrichtungen ist jedenfalls im öffentlichen 
Interesse geboten. 

In Schleswig-Holstein, woher die deutsche Bewegung für Mässig- 
keit und Enthaltsamkeit bisher die kräftigsten Impulse erhalten hat, ist am 
18. Nov. d. J. die Jahresversammlung des sehlesw.-holsteinischen Bezirks¬ 
vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke in . Preetz abgehalten 
worden. Der auf dieser Jahresversammlung gehaltene Vortrag des Herrn 
Landesversicheningsrat Hansen in Kiel über: Landesversicherungs- 
anstaltund Alkoholbekämpfung ist in diesem Heft IV unserer 
Vierteljahrsschrift vollständig abgedruckt und wird hoffentlich weithin 
anregend wirken. Besonders erwähnenswert ist das kräftige Zusammen¬ 
wirken der Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine in Schleswig-Holstein. 
Der Ortsverein zu Tondern besteht zur Hälfte aus Guttemplern. Dem 
Gesellschaftshaus in Toenning, welches unter abstinenter Verwaltung steht, 
hat der schleswig-holsteinische Bezirksverein 100 M. bewilligt. 

Wie der schleswig-holsteinische Bezirksverein, hat auch der säch¬ 
sische Landesverband und der Dresdener Bezirksverein gegen den Miss¬ 
brauch geistiger Getränke im letzten Quartal eine rege öffentliche Tätig¬ 
keit entwickelt und eine stark besuchte öffentliche Versammlung zur 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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Widerlegung der vom Verein Dresdener Weinhändler herausgegebenen 
Schrift »Wein ist Gesundheit« abgehalten. Der in dieser Ver¬ 
sammlung abgehaltene Vortrag des Dresdener Nervenarztes Dr. Stege¬ 
mann, welcher in diesem Hefte ebenfalls abgedruckt ist, hat eine leb¬ 
hafte Diskussion veranlasst, welche voraussichtlich noch lange nach¬ 
wirken wird. 


In Dresden hat Ende November d. J. auch Dr. med. L a q u e t 
aus Wiesbaden die Reihe seiner Vorträge »über die Alkohol¬ 
frage in den Vereinigten Staaten« begonnen, nachdem er 
kurz vorher von einer im Aufträge der von der Berliner medizinischen 
Fakultät verwalteten Gräfin Bose - Stiftung unternommenen Reise nach 
Kanada und Nordamerika zurückgekehrt war. Der von Dr. Laquet in 
der Aula der Dresdner Technischen Hochschule am Sonntag, den 
27. November, unter Leitung des Herrn Dr. med. Meinert abgehaltene 
Vortrag war von Herren und Damen aus den ersten Kreisen der Stadt, 
u. a. auch von dem sächsischen Kriegsminister v. Hausen, Oberarzt 
Dr. Müller und von dem Vortragenden Rat im Ministerium des Innern 
Dr. Fraustadt besucht und bot eine fesselnde Schilderung der frischen 
Eindrücke, welche der Vortragende auf seiner Reise in Nordamerika 
über die Bekämpfung des Alkohols gewonnen hatte. In der Diskussion 
wurden die Mitteilungen des Dr. Laquet durch den Professor an der 
Dresdner Technischen Hochschule Dr. Möhlau, der ebenfalls erst kürz¬ 
lich aus den Vereinigten Staaten und von einem Besuche der Weltaus¬ 
stellung in St. Louis wieder zurückgekehrt war, vollkommen bestätigt und 
zugleich über die Ansichten des neugewählten Präsidenten Roosefeldt 
berichtet, welcher der Antialkoholbewegung durchaus günstig gesinnt ist. 
— Herr Dr. Laquet, der nach seinem Dresdener Vortrage noch über 
verschiedene an ihn gerichtete Anfragen über amerikanische Verhältnisse 
und Wohlfahrtseinrichtungen nähere Auskunft erteilte, hat im Monat No¬ 
vember und Dezember noch in verschiedenen sächsischen und thüringischen 
Städten, in Glauchau, Chemnitz, Leipzig, Halle, Jena, in ähnlicher Weise 
wie in Dresden über die Bekämpfung des Alkoholismus in Amerika be¬ 
richtet und überall aufmerksame Zuhörer gefunden. In Leipzig hielt 
Dr. Laquet seinen Vortrag im Saale der städtischen Handelshochschule 
nicht nur vor Professoren der Universität und Handelshochschule und 
hervorragenden Juristen, sondern auch vor Vertretern der Mässigkeits- und 
Enthaltsamkeitsvereine, des Blauen Kreuzes und der Guttempler, unter 
denen ein einfacher Arbeiter, der viele Jahre in Amerika gearbeitet 
hatte, die Ausführungen Dr. Laquets bestätigte und ergänzte, während 
Justizrat Dr. Ginsei, welcher die Diskussion leitete, die Gemeinsamkeit 
aller gegen den Alkohol gerichteten Vereinsbestrebungen betonte. 

Eine ähnliche Vortragsreise, wie Dr. Laquet hat der Geschäfts¬ 
führer des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
Pfarrer Gonser, im Interesse der deutschen Bewegung gegen den 
Alkohol in der Zeit vom 16. Oktober bis 10. November ausgefiihrt 
und dabei in Baden, Elsass-Lothringen, Württemberg und Bayern zahl- 


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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 


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reiche Freunde gewonnen und neue Mässigkeitsverein begründet. Das 
Dezemberheft der Mässigkeitsblätter des Deutschen Vereins gegen den Miss¬ 
brauch geistiger Getränke berichtet Näheres über diese Urlaubsreise des 
Geschäftsführers und ihre erfreulichen Ergebnisse. 

Wir möchten an dieser Stelle als besonders wichtig für die 
deutsche Bewegung gegen den Alkohol auch noch der 6 Vorträge in 
München gedenken, welche im verflossenen Vierteljahr abgehalten und 
am i. Dezember von Prof. Kraepelin mit einer trefflichen Beleuchtung 
der pathologischen Wirkungen des Alkohols auf das Seelenleben ge¬ 
schlossen wurden, nachdem vorher Prof. Gruber die hygienische Seite, 
Prof. Haushofer die staatswirtschaftliche und Merkel die pädagogische 
Seite der Alkoholfrage beleuchtet hatte. Es ist von nicht geringer Be¬ 
deutung, wenn erste wissenschaftliche Autoritäten in der Bierstadt 
München die Schädlichkeit des Biergenusses öffentlich beleuchten und 
der Bevölkerung nicht nur strenge Mässigkeit, sondern noch besser die 
Abstinenz empfehlen und sogar zur Erhöhung der Biersteuer ermuntern. 


In Holland hat der Kampf gegen den Alkoholismus 
einen bedeutenden Umfang angenommen. Dreizehn grosse Enhaltsam- 
keitsvereine zählen rund 50000 Mitglieder, wozu noch eine erhebliche 
Anzahl Abstinenten unter den Sozialdemokraten kommt. Auch in den 
Kasernen wird der Alkoholkonsum von Offizieren und Unteroffizieren 
energisch bekämpft. In der Pionierkaseme zu Dortrecht ist beispiels¬ 
weise der Verbrauch an Genever von 1222 Liter im Jahre 1896 auf 
446 Liter im Jahre 1902 zurückgegangen, während der Konsum an 
alkoholfreien Getränken sich von 235 auf 1736 Flaschen erhöht hat. 
Von anderen Kasernen werden ähnliche Erfahrungen mitgeteilt. H. 

Aus Schweden wird der Vierteljahrsschrift »Die Alkoholfrage< 
über eine wichtige Anordnung der schwedischen Staatseisenbahnverwaltung 
berichtet, dahingehend, dass beim Eintritt starker Kälte die Verab¬ 
reichung warmer Milch an das Zugpersonal auf den 
grösseren Bahnstationen auf Kosten der Verwaltung erfolgen soll. Ein 
für alle Länder jedenfalls sehr nachahmungswertes Vorgehen! 

Weiter wurde aus Schweden bereits im zweiten Heft der »Alkohol¬ 
frage« über die verschiedenen Vorschläge berichtet, welche gemacht 
worden waren, um der Feier des 25jährigen Bestehens der 
Guttemplersache in Schweden ein dauerndes Erinnerungs¬ 
zeichen zu geben. Drei Anregungen waren zunächst ergangen : Begrün¬ 
dung einer Hochschule des Guttemplerordens; Errichtung eines Kinder¬ 
heims und Schaffung eines Unterstützungsfonds für ältere bedürftige 
Guttempler. Es wurde dann noch weiter beantragt, ambulante Schul¬ 
küchenkurse zu veranstalten und Stipendien für den Besuch von Volks¬ 
hochschulen auszusetzen. Im ganzen lagen also fünf Projekte vor. Bei 
Gelegenheit der Jubiläumsfeier in Gothenburg kam man jedoch nicht 
zu einer endgiltigen Entscheidung. Es wurde nur beschlossen, eine 


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438 Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage. 

Summe von mindestens iooooo Kronen (d. i. reichlich 110000M.) zu-, 
sammen zu bringen und alsdann bei der Grosslogenversammlung im 
Jahre 1905 einen weiteren Beschluss über die Verwendung zu fassen. 
Gegenwärtig (im Dezember 1904) ist eine Sammlung unter den Gut¬ 
templern im ganzen Königreich Schweden im Gange, die voraussichtlich 
einen grossen Ertrag liefern wird. Von unserer Zeitschrift wird den 
Freunden in Schweden warm empfohlen, doch die Begründung 
eines besonderen Lehrstuhls für die Alkoholfrage auf 
einer schwedischen Hochschule in Erwägung zu ziehen. 


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II. Besprechungen. 



Alkoholgenuss und wirtschaftliche Arbeit, Schon vor 
20 Jahren hat der Herausgeber dieser Zeitschrift Erhebungen darüber ver¬ 
anlasst, welche Rolle der Alkohol auf den Arbeitsplätzen spiele und wie sein 
Missbrauch dort zu verhüten sei. Wenn diese Ermittelungen keine 
sonderlich nachhaltigen Spuren hinterlassen haben, so mag dies daran 
liegen, dass sie, der Auffassung jener Zeit entsprechend, den Feind 
der Arbeit allzu einseitig im Branntwein erblickten, und dass man da¬ 
mals noch ziemlich allgemein der Anschauung huldigte, dass die alko¬ 
holischen Getränke in irgendwelcher Form ein namentlich bei schwerer 
körperlicher Arbeit unentbehrliches »Stärkungs-« und Genussmittel seien. 
Dass sich in beiden Punkten neuerdings ein völliger Umschwung der 
Meinungen vollzieht, braucht hier nur angedeutet zu werden. 

Die neue Erkenntnis ist freilich noch weit davon entfernt, Gemein¬ 
gut auch nur der »gebildeten« Volksklassen zu sein. Ihre grosse Be¬ 
deutung für unser Wirtschaftsleben ist überaus einleuchtend. 

Umsomehr ist eine kürzlich erschienene Schrift zu begrüssen, in 
der Dr. med. Alfred H. Stehr, Arzt in Magdeburg, auch Dr. der Staats¬ 
wissenschaften, das Ergebnis neuerer meist persönlich angestellter Unter¬ 
suchungen der Oeffentlichkeit übergibt.*) Ist ihre Zahl auch verhält¬ 
nismässig gering, so ist dafür grösserer Wert auf eingehendes Erfassen 
der Einzelerscheinungen gelegt worden. 

Bevor wir uns dem Inhalte der Schrift zuwenden, sei bemerkt, 
dass sie in einem grundlegenden Teil unter sorgfältiger Benutzung ein¬ 
wandsfreier Quellen den Einfluss des Genusses geistiger Getränke auf 
Muskel- und geistige Arbeit darlegt. In dem folgenden i. (eigentlich 2.) Teil 
werden die in den gewerblichen Betrieben gesammelten Tatsachen be¬ 
handelt. Wir werden mit Art und Umfang des Alkoholgenusses der 
Arbeiter während der Arbeit und in den Ruhepausen, wie namentlich 
auch mit den mannigfaltigen Gründen und Ursachen dieses Genusses 
bekannt gemacht. Sehr beachtenswerten Untersuchungen darüber, wie 
dieser Genuss die Produktivität der Arbeit beeinflusst, folgen nach einem 
kurzen Hinweis auf den daraus entspringenden Gegensatz zwischen 
Arbeiter- und Unternehmerinteressen mancherlei Fingerzeige für eine 
Steigerung der Intensität des Betriebes, die der Aufmerksamkeit aller 
volkswirtschaftlich und sozial interessierten Kreise ganz besonders 
empfohlen seien. Der 2. (richtiger 3.) Teil beschäftigt sich mit dem 

*) AJkoholgenuss und wirtschaftliche Arbeit. Jena, G. Fischer. 235 S. , ■ • 


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Besprechungen. 


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Alkoholgenuss nach der Arbeit, seinen Ursachen und wirtschaftlichen 
Wirkungen auf die Produktivität der Arbeit, um sich im letzten Ab¬ 
schnitt der Therapie des Alkoholismus zuzuwenden. 

Ueberall zeigt sich der Verfasser nicht allein auf der Höhe seiner 
medizinischen und nationalökonomischen Wissenschaft, sondern auch als 
weitblickender und warmherziger Volksfreund. Offenbar kommen ihm 
auch seine in jahrelanger Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter im 
In- und Auslande gesammelten Erfahrungen zu statten. 

Wie sehr er vielen seiner ärztlichen Berufsgenossen an Einsicht 
überlegen ist, zeigt sich schon im grundlegenden Teil seiner Arbeit, 
wo er zu dem Ergebnis kommt, dass der Alkohol dem ermüdeten 
Muskel keine Kräfte, sondern nur Reize zuführt, die zwar für kurze Zeit 
die Muskelleistung zu bessern vermögen, um sie nachher aber um so 
weiter unter das gewöhnliche Mass sinken zu lassen. Die Alkohol¬ 
wirkung auf geistige Arbeit, losgelöst von den sich im einzelnen er¬ 
gebenden Verschiedenheiten, fasst er in folgende Sätze zusammen: 
i) Das Gefühl erhöhter Leistung entspricht nicht immer einer tatsächlich 
grösseren und namentlich besseren Leistung; 2) das Endergebnis für 
eine nicht rasch vorübergehende geistige Leistung ist immer ein Ver¬ 
lust ; 3) die Schädigung der Arbeitsleistung ist um so grösser, je höher¬ 
wertig die geistigen Kräfte sind, deren sie bedarf. Dabei verkennt er 
nicht, dass die Uebung in einer Arbeit die durch den Alkohol ver¬ 
ursachte Schädigung zu mindern vermag. 

Alles das ist zwar keineswegs neu, bietet aber eine wertvolle Be¬ 
stätigung von Tatsachen, deren Richtigkeit unter dem Banne veralteter 
Irrtümer und Vorurteile selbst in ärztlichen Kreisen noch immer nicht 
durchweg anerkannt wird. 

Das Hauptverdienst der Stehr’schen Schrift, die auch ausländische 
und namentlich amerikanische Verhältnisse zum Vergleiche heranzieht, 
dürfte in dem Nachweis zu erblicken sein, dass es in Deutschland heute 
noch fast ausnahmslos die Gefahr der Trunkenheit allein ist, 
die den Unternehmer bestimmt, die unbegrenzte Freiheit des Genusses 
eines alkoholischen Getränkes auf seiner Arbeitsstätte einzuschränken, 
während im Auslande (Amerika) die Erfahrung bestimmend ist, dass schon 
geringe »mässige« Mengen, die noch keine sichtliche Anheiterung her- 
vorrufen, die Leistungsfähigkeit mindern. Der grundlegende 
Unterschied zwischen deutschen und ausländischen (amerikanischen) Ver¬ 
hältnissen ist hiermit treffend gekennzeichnet. 

Nach den Stehr’schen Ermittelungen ist namentlich im Osten 
Deutschlands der Alkohol selbst in seiner schärfsten und soweit 
schädlichsten Form, dem Branntwein, noch nicht überall aus den Arbeits¬ 
stätten verbannt. Und es ist eine auffällige Erscheinung, dass er meist 
nur noch in solchen Betrieben wenn nicht ausdrücklich zugelassen so 
doch stillschweigend geduldet wird, die sich in den Händen von Aktien¬ 
gesellschaften, Gemeinden oder staatlichen Verwaltungen befinden. Neben 
einem bedauerlichen Mangel an ausreichender Einsicht und Initiative 
mag dafür eine gewisse Rücksicht auf die in den Arbeiterkreisen noch 


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Besprechungen. 


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vielfach verbreitete und von Dr. Stehr nicht selten angetroffene irrige 
Meinung bestimmend sein, dass sie den Branntwein bei schwerer Arbeit, 
Ueberstunden u. dergl. m. als »Stärkungsmittel« nicht entbehren könnten. 

In den Betrieben des westlichen Deutschlands wird fast noch 
durchwegs der Genuss von Bier zugelassen, fcum Teil in recht weiten 
Grenzen. Nur vereinzelt ist der Genuss aller geistigen Getränke während 
der Arbeitszeit verboten, u. a., was im Hinblick auf die sozusagen 
branntweinfreundlichen staatlichen und sonstigen körperschaftlichen 
Unternehmungen besonders hervorgehoben werden mag, in der könig¬ 
lichen Eisenbahnwerkstätte in Köln. Sehr beachtenswert ist, dass dort 
weder Frühstücks-noch Vesperpausen bestehen und damit 
auch die hauptsächliche Gelegenheit zum Alkohol¬ 
genuss entfällt. 

Die verderbliche Wirkung des durch den Patentverschluss der 
Flaschen zu gewaltiger Ausdehnung angewachsenen Flaschenbierhandels 
wird auch von Dr. Stehr gebührend gewürdigt. 

In den Kontoren und Bureaus ist der Genuss von Bier, namentlich 
in den Frühstückspausen, in Deutschland meist nicht verwehrt, doch 
wirkt hier das Beispiel der oberen Beamten oder Chefs meist wie ein 
Verbot. Auch in Werkstätten u. dergl. hat Dr. Stehr übrigens vielfach 
die hinlänglich bekannte Macht des Beispiels beobachten können. 

Die sich erfreulich mehrenden Bemühungen, den Alkohol auf den 
Arbeitsstätten durch zum Teil unentgeltliche Abgabe wohlfeiler Ersatz¬ 
getränke, wie Kaffee, Tee, Selterswasser, Limonaden, hier und da auch 
wohl Milch, zu verdrängen, werden auch von Dr. Stehr rühmend hervor¬ 
gehoben. 

Immerhin geht aus seinen Darlegungen deutlich hervor, dass wir 
in Deutschland noch einen recht weiten Weg zurückzulegen haben, um 
dahin zu gelangen, was im Auslande, namentlich in Amerika, in der 
Ausschaltung des Alkohols als Genussmittel, nicht bloss auf den Arbeits¬ 
stätten, zum grossen Vorteil der heimischen Produktion bereits erreicht 
wotden ist. 

Wenn unserer nationalen Arbeit auf dem Weltmarkt dauernd eine 
hervorragende Stelle gesichert werden soll, wird man nicht umhin können, 
sich die Erfahrungen des Auslandes zu Nutze zu machen und den die 
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit mindernden Genuss geistiger 
Getränke in sehr viel weiterem Umfange als bisher wenigstens von den 
Arbeitsstätten zu verbannen. Zur Mehrung dieser Erkenntnis wird die 
Stehr’sche Arbeit wesentlich beitragen. Doch ist ihr nicht allein aus 
diesem Grunde weiteste Verbreitung zu wünschen. Auch über die Mittel 
und Wege zur Erreichung des Zieles bietet sie beachtenswerte Aufschlüsse. 

Dem Wunsche des Verfassers im Vorworte seiner wertvollen Schrift, 
»dass die einer fortschrittlichen Sozialpolitik geneigten Kreise unseres 
Volkes daraus neue Antriebe für ihre menschenfreundlichen Bestrebungen 
gewinnen«, wird man gerne zustimmen können. de Terra. 


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Besprechungen. 


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Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. Die 

Verhältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karls¬ 
ruhe. Bericht erstattet an das Grossherzogliche Ministerium des 
Innern und herausgegeben von der Grossherzoglichen Badischen 
Fabrikinspektion. Karlsruhe 1904. Verlag der C. Bruhnschen Hof¬ 
buchdruckerei. (272 S.) 

Die Arbeiterwelt erblickt vielfach im Alkohol eine gewisse Kraft¬ 
quelle oder Stärkung und Mehrleistung und nimmt ihn als Nahrungsstoff 
mit oder ohne andere Nahrungsstoffe zu sich. Dieses Vorurteil kann 
nur ausgerottet werden, wenn man die Tatsachen des Alkohol Verbrauchs 
im Volkshaushalt und das Verhältnis dieses Verbrauchs an den Ausgaben 
für die wirkliche Ernährung, sowie Kleidung, Wohnung, Erholung, Ver¬ 
sicherung und Haushalt im allgemeinen genau vergleicht und sich be¬ 
müht, das Volk auch mit dem A.-B.-C. des Haushaltes bekannt zu 
machen. Nach dem Vorgehen des verdienten badischen Fabrikinspektors 
Wörrishoffer hat sein Nachfolger Dr. Fuchs eine Enquete über die Ver¬ 
hältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karlsruhe ver¬ 
anstaltet und bei der Verarbeitung auch den Alkoholkonsum der von 
ihm näher beobachteten Bevölkerungsschichten näher beleuchtet. 

Nach den von ihm geprüften Arbeiterhaushalten geniessen die männ¬ 
lichen Arbeiter fast ausnahmslos an Vor- oder Nachmittagen Bier oder 
Wein; die Menge schwankt zwischen J / 4 und 1 Liter Bier und */ 4 und 
1 / 2 Liter leichten Wein. Das Flaschenbier ist am beliebtesten, es wird 
aus zahlreichen Kleinhandlungen nach Belieben auf Kredit abgegeben. 
Ganz allgemein ist festzustellen, dass die Ausgaben für geistige Getränke 
weitaus zu hoch sind. Im Durchschnitt wurden unter Einrechnung des 
Wertes des eigenen Obstweinerzeugnisses 219 M. pro Familie ausgegeben, 
während die Gesamtkosten des Haushalts (Nahrungs- und Genussmittel) 
1021 M. im Durchschnitt betrugen. Demnach beträgt die Ausgabe für 
geistige Getränke mehr als */ 6 der Haushaltungskosten. Bier erfordert 
147 M., Wein 65 M., Branntwein 7 M. Die Darstellung von Dr. Fuchs 
ist ein neuer wertvoller Beitrag zur Naturgeschichte des Alkoholismus und 
zur Erkenntnis seiner Verbreitung unter den industriellen Arbeitern auf 
dem Lande. — Schon vor Dr. Fuchs hatte Wörrishoffer in betreff der 
Zigarrenarbeiter Badens nachgewiesen, dass sie bei einem Aufvvande von 
440 M. für den Haushalt im Jahre 104 M. für Bier und nur 40 M. für 
Fleisch verbrauchen. Aehnliche Enqueten hat für Böhmen Prof. Singer 
gemacht und überall wird zugleich ersichtlich, dass die relativ hohen 
Ausgaben für Alkohol auch die Ursachen eines ungenügenden Verbrauchs 
wirklicher Nahrungsmittel sind. 


Handbuch der eidgenössischen Fabrikinspektion. Von A. 

Weidemann, stud. jur. Separatabdruck aus der Zeitschrift für schweize¬ 
rische Statistik, Bern 1904. 

Dieses Handbuch der eidgenössischen Fabrikinspektion gibt eine 
Uebersicht über alle Zweige der Inspektion auf Grund der Berichte von 
1896—1901 und enthält auch einen lehrreichen Abschnitt über Alkohol, 



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Besprechungen. 


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worin die verhängnisvolle Rolle dieses Reizmittels zum Durst zuerst an 
den durch Alkohol verschuldeten Unfällen nachgewiesen wird. Der Montag 
und der Samstag haben den grössten Anteil an den Unfällen. Am 
Samstag wird die allgemeine Ermüdung und das Pressieren zum 
Feierabendmachen, das Putzen der Maschinen während des Ganges, 
ohne weiteres als Ursache anerkannt, der alle Arbeiter unterliegen. Für 
die grössere Unfallzahl des Montags ist der Umstand zu berücksichtigen, 
dass alle Arbeiter sich am Montag wieder in die Arbeit einleben müssen, 
und sehr oft durch Alkoholgenuss und Exzesse am Sonntag mehr ent¬ 
kräftet als gekräftigt sind. Der Verfasser bemerkt u. a., dass einige 
Fabriken nicht mehr an Samstagen auszahlen, um den leichten Elementen 
die Gelegenheit zu nehmen, den Lohn sofort durchzubringen. — Die 
Auszahlung des Lohnes am Samstag abend fördere das Trinken . . . 
Bei vielen Frauen herrscht die Furcht, dass mit der Zahl der Zahltage 
auch die Wirtschaftsbesuche des Gatten zunehmen. An einer anderen 
Stelle wird berichtet: In grossen Geschäften arbeitet man statt 11 Stunden 
nur io, aber ohne Pausen. Das Ergebnis war — mehr Ordnung, weniger 
Betrunkene. — Verderblich wirken die Fabrikkantinen, wo geistige Ge¬ 
tränke in unbeschränkten Quantitäten zum Selbstkostenpreise abgegeben 
werden. . . . Sehr bewährt hat es sich an Stelle der Spirituosen Kaffee 
oder Tee, gratis oder zu minimalen Preisen verabfolgt, zu setzen . . . 
In grossen mechanischen Werkstätten werden bei grosser Hitze bis 
500 Liter Kaffee täglich verabreicht. Eine grosse Gasfabrik gibt Kaffee 
nach Wunsch bei Tag oder Nacht, man braucht dort jährlich für 600 
bis 700 Fr. Kaffee, hat aber damit den Alkoholverbrauch vermindert. 
Eine grosse Fabrik hat begonnen, gekochte Milch zum Engros-Einkaufs- 
Preis abzugeben Die Milch wird immer mehr begehrt und hat bei 
manchem das Biertrinken in den Zwischenpausen verdrängt. In den 
Brauereien ist das übermässige Quantum Freibier durch ein kleineres er¬ 
setzt worden und dafür eine kleine Lohnerhöhung eingetreten. Der 
Abschnitt über den »Alkohol« schliesst mit der Bemerkung: »Die Ab¬ 
stinenz ist ein guter Massstab für die Ständigkeit des Arbeiterstandes. 
Die Arbeiterfrage würde wohl eine ganz andere Perspektive annehmen, 
wenn die gesamte Arbeiterschaft abstinent wäre, zum Wohle der Klasse 
und des Volksganzen.« 

Ueber die hauptsächlichsten Hindernisse der Alkohol¬ 
bewegung. Vortrag von Prof. Dr. Karl Hilty in der Versammlung 
des Alkoholgegnerbundes in Bern am 22. Oktober 1904. 

In der Schweiz ergibt eine jüngst veröffentlichte Aufstellung 
des eidgenössischen Alkoholamtes im Jahrzehnt 1893—1902 eine Zu¬ 
nahme des Bierkonsums um 60,8%, des Traubenweins um 29,3%, des 
Obstweins um 24,8 %. Bloss der Branntweinverkauf hat um 39,2 % 
abgenommen. Der Bierverbrauch nimmt namentlich in ungeheuerlichem 
Massstabezu. Er beträgt im Jahrzehnt von 1893—1902 jährlich 1975000 hl 
gegenüber 1 040 000 hl im vorangehenden Jahrzehnt, also zur Zeit fast 
200 Millionen Liter jährlich in der Schweiz. — Prof. Hilty wirft nach 


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Besprechungen. 


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Mitteilung dieser Zahlen die Frage auf: Woher kommt denn eigentlich 
dieses Alkoholbedürfnis und weshalb ist es so schwer, ihm zu steuern? 
Hilty nennt als Hauptursachen: i. langjährige Gewohnheit, in die unsere 
Völker versunken sind; 2. schlechte Ernährung, gegen die der Magen 
eines Anreizes bedarf; 3. die unmittelbare Verbindung des Alkohol¬ 
genusses mit allen geselligen Veranstaltungen und den zahllosen Ver¬ 
einen und Festen; 4. das vielfach bestehende Vorurteil, dass Alkohol 
Kraft gebe; 5. endlich die Interessen aller der sehr zahlreichen Per¬ 
sonen und Klassen der Bevölkerung, die aus dem Alkoholgenusse ihren 
Lebensunterhalt beziehen. Als weitere Hauptursachen bezeichnet Hilty 
noch die Langeweile und die vielen Sorgen des mensch¬ 
lichen Daseins. 

Ferner führt er als Hindernisse der augenblicklichen Aktion an: 
1. eine gewisse theoretische Hochachtung für unsere Bestrebungen, welcher 
aber das Beste, nämlich das lebendige Beispiel fehlt; 2. die bis¬ 
herige Unwirksamkeit der Kirche; 3. die grosse Trennung 
der Klassen, die auch in der schweizerischen Republik das Zu¬ 
sammenwirken erschwert und das daher rührende bedeutende Miss¬ 
trauen einer unteren Klasse gegen alles, was nicht aus ihr selbst her¬ 
vorgeht ; 4. endlich auch mitunter die Art der Abstinenten selber, 
die nicht überall zeigen, dass sie in Arbeitskraft und Arbeitslust den 
Nichtabstinenten voranstehen. Hilty betont, dass Abstinenten sich nicht bloss 
alkoholischer Getränke enthalten, sondern auch andere Leidenschaften und 
schlechte Gewohnheiten bekämpfen und überhaupt edel handelnde 
Menschen werden müssen. Prof. Hilty folgert aus seinen Darlegungen, 
dass wir auch die Abstinenzbestrebungen verbessern und von ihren 
Fehlem reinigen müssen, »Es kommt jetzt, in einer Zeit, wo sich der 
Kampf zwischen Gut und Böse immer mehr accentuiert, weit weniger 
darauf an, die Bösen zu bekehren, als vorläufig die Guten oder 
Halbguten zu verbessern und entschiedener zu machen.« — Bt. 


Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. Viktor Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18« 
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18. 

Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul. 



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Im Verlage von 0. V. Böhmert, Dresden, sind ferner er¬ 
schienen : 

Alkohol, der Mörder im Jahre 1897. 39 Seiten 30 Pf. 
Diese Schrift enthält eine Zusammenstellung der 1897 
durch den Trunk verursachten Verbrechen. 

Bode, Br. W., Bie deutsche Alkoholfrage, so Pf. 
Böhmert, Prof. Br. V., Ber Branntwein in Fabriken. 

1 Mark. 

Böhmert, Prof. Br. V., Bie Reform der Gesellig" 
keit und der Wirtshäuser. 40 Pf. 

Filskow, J. P., Ber Guttempler. E in Kämpfer für 
Ordnung und Sitte, gr. 8°. 28 Seiten. 30 Pf. 

Flade, Br. med. E., Arbeiter und Alkohol. Ratschläge 
an Arbeiter und Arbeitgeber zur Bekämpfung des Alkohol¬ 
missbrauchs. 29 Seiten. 40 Pfg. 

Vereine und Arbeitgeber erhalten diese Schrift in grösserer 
Anzahl zum halben Preise. 


Flade, Br. med. E., Bie Heilung Trunksüchtiger 

nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche. 65 Seiten 1 Mark. 

Flade, Br. med. E., Wider den Trunk. Darstellung 
der deutschen Bewegung gegen den Missbrauch geistiger 
Getränke. 82 Seiten. 1 Mark. 


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Graisowsky, E. v., Der Trunk auf dem Lande im 
Königreiche Sachsen, nach einer Enquete von Prof. 
Dr. Böhniert. 80 Pf. 

Ganser, Hofrat Dr., Die Trunksucht eine heilbare 
Krankheit. 20 Pf. 

Martius, Pastor Dr., Die ältere deutsche Mässig~ 
keits- und Enthalfsamkeitsbewegung. Mk. 1 .60. 

Matfhaei, Die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit eines 
Heeres durch Enthaltung vom Alkohol. 20 Pf. 

Priester, Assessor Dr., Wie ich abstinent ward. 

30 Pf. 

Schmidt, Bibliothekar P., Bibliographie des Alko~ 
holismus 1880—1900. I. Teil. 

Schneider, Joh., Alkoholfreie Getränke und Er- 
frischungen. 2 Mk. 

Smith, Alfred, Für die Abstinenz. 


Alkoholfreie Industrie. 

Zentralblatt für die Herstellung und den Vertrieb von alkoholfreien 

Getränken. 

Redigiert von Dr. E. Luhmann, Halle a. S. 
Erscheint monatlich 2 mal zum Preise von Mk. 1.20 pro Quartal. 




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Jahrgang in 4 Heften Mfe. 6.—. 


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Jahrg. I. 


Heft 1. 


Die Alkoholfrage. 

Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen 
- des Alkohols. - 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. Böhmert, 

Geh. Regierungsrat in Dresden 


Dr. med. Meinert 

in Dresden 


unter Mitwirkung von: 

G. Asmussen, (F. G. X.), Hamburg. Geh. Med.-Rat Dr. A. Baer, Berlin. 
Hofrat Dr. Binswanger, Prof. d. Psychiatrie, Jena. 

Prof. Bäumlei, Freiburg. Direktor Dr. Böhmert, Bremen. 

Dr. C. Brendel, Arzt, München. Dr. Delbrück, Direkt, d. Staatsirrenanst., Bremen. 
Prof. Dr. Emminghaus, Direktor der Lebens-Versicherungsbank, Gotha. 

Dr. Eggers, Bremen. Dr. Fock, Hamburg. Professor Dr. A. Frankel, Halle. 

Hofrat Dr. med. Ganser, Direktor der städt. Irrenanstalt, Dresden. 

Prof. Gaule, Zürich. Hofrat Prof. M. Gruber, München. Dr. Gudden, Bonn. 
Geh. Med.-Rat Dr. Guttstadt, Berlin. Dr. med. H. Hänel, Dresden. 
Landesrat Hansen, Kiel. Prof. Hilty, Bern. Prof. Dr. K. B. Lehmann, Würzburg. 
Dr. Milliet, Bern. Prof. Dr. med. Ad. Schmidt, Dresden. Dr. Scheven, Dresden. 

Dr. med. Stegmann, Dresden. Dr. med. Stille, Leipzig. 
Eisenbahndirektor a. D. de Terra, Stolp. Prof. Harald Westergaard, Kopenhagen. 



Dresden, 

Verlag von O. V. Böhmert. 
1904. 


Jfe. 




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Alle für die Redaktion bestimmten Sendungen bittet man zu richten 
an: Herrn Prof. Dr. Böhmert, Dresden, Glacisstr. 18, I. 

Die Herren Verleger werden gebeten, Recensionsexemplare über 
einschlägige Literatur direkt an die Redaktion oder durch Vermittelung 
der Verlagsbuchhandlung über Leipzig (Komm. F. Vo 1 c k m a r) zu senden. 


Bezugs-Bedingungen. 


Der Jahrgang der Alkoholfrage, welcher ca. 24 Bogen umfasst, 
gelangt in 4 Heften zur Ausgabe. Er kostet 6 Mark und ist durch jede 
Buchhandlung zu beziehen. 

Einzelhefte werden zum Preise von 2,00 Mark abgegeben. Die Hefte 
erscheinen am Ende eines jeden Vierteljahrs. 



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Die Älkoholfrage. 





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Die Älkoholfrage. 

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