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Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen
des Alkohols.
Herausgegeben von
Prof. Dr. Böhmert, Dr. med. Meinert
Geh. Regierungsrat in Dresden in Dresden
r*
unter Mitwirkung von: '
G. Asmussen, Oberingenieur, Hamburg. Geh. Med.-Rat Dr. A. Baer, Berlin.
Hofrat Dr. Binswanger, Prof. d. Psychiatrie, Jena.
Prof. Bäumlei, Freiburg. Direktor Dr. Böhmert, Bremen.
Dr. C. Brendel, Arzt, München. Dr. Delbrück, Direkt, d. Staatsirrenanst., Bremen.
Prof. Dr. Emminghaus, Direktor der Lebens-Versicherungsbank, Gotha.
Dr. Eggers, Bremen. Dr. Fock, Hamburg. Prof. Dr. Forel, Chigne.
Professor Dr. A. Fränkel, Halle. Hofrat Dr. med. Ganser, Oberarzt am Stadt-Irren-
und Siechenhaus, Dresden. Prof. Gaule, Zürich. Hofrat Prof. M. Gruber, München.
Dr. Gudden, Bonn. Geh. Med.-Rat Dr. Guttstadt, Berlin. Pastor Haacke, Rickling.
Dr. med. H. Hänel, Dresden. Landesrat Hansen, Kiel. Prof. Hilty, Bern.
Prof. Dr. K. B. Lehmann, Würzburg. Dr. Milliet, Bern. Prof. Dr. med. Ad. Schmidt,
Dresden. Dr. Scheven, Dresden. Dr. med. Stegmann, Dresden.
Dr. phil. W. A. Stille, Hannover. Eisenbahndirektor a. D. de Terra, Marburg.
Prof. Harald Westergaard, Kopenhagen.
I. JAHRGANG.
Dresden,
Verlag von O. V. Böhmert.
1904 .
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Yo rwort
zu dem
Jahrbach der Alkoholfrage für 1904.
J^ie seit Ende März 1904 bisher allvierteljährlich er¬
schienenen vier Hefte der Zeitschrift „Die Alkohol¬
frage“ werden hiermit in der Form eines Jahrbuches mit einer
Uebersicht des Inhalts nach Abhandlungen, Untersuchungen und
Besprechungen der Oeffentlichkeit übergeben, um die den
Herausgebern und Mitarbeitern vorgezeichneten Aufgaben und
Ziele im Zusammenhänge näher zu kennzeichnen. Unsere
Zeitschrift soll durch die objektive Darstellung neuer Tatsachen,
fruchtbringender Gedanken und gereifter Erfahrungen ein wissen¬
schaftliches und wirtschaftspolitisches Repertorium für die
Alkoholfrage werden und zugleich allen wahren Freunden und
Förderern der Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbestrebungen
als Einigungspunkt dienen. Es hat der Redaktion während des
verflossenen Jahres weder an Stoff, noch an ermutigendem Zu¬
spruch, noch an treuer Mitarbeit gefehlt. Insbesondere hat die
von der Redaktion begonnene exakte Untersuchung der
Alkoholfrage auf Grund von Fragebogen für Massige oder Ent¬
haltsame allgemeines Interesse erweckt. Nicht weniger als
50 Personen aus den verschiedensten Ständen, Berufszweigen
und Altersstufen haben sich an der Enquete beteiligt. Es be¬
finden sich darunter wissenschaftliche Autoritäten ersten Ranges.
Die in vier Vierteljahrsheften erschienenen Antworten können
ebenso wie die wissenschaftlichen Abhandlungen, Berichte und
Besprechungen nunmehr in diesem Jahrbuche im Zusammen¬
hänge näher geprült werden. Sie enthalten den Beweis, dass
die Wirkungen des Alkohols auf den menschlichen Organismus
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immer deutlicher erkannt werden und dass auch die Erkenntnis
der sozialen Schäden des Alkohols für das Völkerwohl sich
immer weiter verbreitet. Vielleicht gelingt es einem grossen
internationalen Bunde edler Männer und Frauen, nach und
nach eine sittlich-religiöse Erneuerung des Menschengeschlechts
anzubahnen und an Stelle von Völkerkriegen mit ihrem Elend
das Kant’sche Ideal eines allgemeinen Weltfriedens doch
noch zu verwirklichen. Jedenfalls verbreiten sich in der Gegen¬
wart, mitten unter äusseren kriegerischen Verwickelungen und
inneren politischen und sozialen Kämpfen, auch neue inter¬
nationale Pflichtbegriffe, Regungen eines neuen Völkergewissens
und Ahnungen eines edleren Menschentums. Die Geister sind
wirklich überall erwacht, um neue Kulturideale in sich aufzu¬
nehmen und auch an der Lösung der Alkoholfrage, mit der
die Sittlichkeitsfrage eng zusammenhängt, ernsthaft mitzu¬
arbeiten.
Zu dieser Mitarbeit an den neuen Kulturidealen der
Gegenwart sind auch die Herausgeber dieser neuen Zeitschrift
und dieses Jahrbuchs bereit und entschlossen.
Die Herausgeber der Zeitschrift
„Die Alkoholfrage“.
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Inhaltsverzeichnis
des I. Jahrganges der Alkoholfrage.
I. Abhandlungen: Seite
Abstinententag in Bern. Der fünfte schweizerische.172
Asmussen, G.: Der Guttempierorden in Deutschland. 90
Blaue Kreuz, Das, und die Bekämpfung des Alkoholismus .... 175
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Programme und Ziele der älteren und neueren
deutschen Bewegung für Mässigkeit und Enthaltsamkeit. 5
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Warum ich enthaltsam geworden und ge¬
blieben bin. 68
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage 51
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Eine Untersuchung der Alkoholfrage auf Grund
von Fragebogen für Mässige und Enthaltsame.177
Böhmert, Prof. Dr. Victor, Weitere Untersuchungen der Alkoholfrage auf
Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame .... 315 u. 413
Böhmert, Prof. Dr. Victor: Ein Programm und Plan zum örtlichen Wirken
für Mässige und Enthaltsame.107
B r e n d e 1, C.: Ueber den Fortschritt der Bestrebungen gegen den Alkoholis¬
mus in Bayern. 79
Eggers, Dr. jur.: Die Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholis¬
mus in Charlbttenburg. 75
Emminghaus, Dr. A.: Die Bekämpfung des Alkoholismus auf ver¬
schiedenen Wegen . 47
Forel, Dr. August: Abstinenz und Wissenschaft.145
Gaule, Justus: Muskeln oder Nerven ?. 22
Gudden, Dr. C.: Ueber verschiedene Formen des Alkoholismus, seine
Folgen und Behandlung.159
Haacke, Pastor, Die Trunksucht als Krankheit und Laster .239
Hansen, P. Chr., Landesversicherungsrat: Wie ich Enthaltsamer wurde . 54
Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung. 356
Hartmann, Prof. Dr. Martin: Ueber die Aufgabe der höheren Schule im
nationalen Kampfe gegen den Alkoholismus , 165
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Hirt, Dr. med.: Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.109
H o 1 i t s c h e r, Dr. med. A., Alkoholsitte und Opiumsitte.841
Hauptversammlung, Die 21., des Deutschen Vereins gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke in Erfurt.• .... 304
Kruse, Pastor, Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkohol¬
kranken .398
Marcuse, J.: Ueber den Alkoholismus in Frankreich.170
M e i n e r t, Dr. med.: Das Rotenkirchner Eisenbahn-Unglück und der Alkohol 37
Meinert, Dr. med.: Der II. deutsche Abstinententag zu Altona .... 290
Meine rt, Die Bewegung gegen den Aikoholismus am Ende des Jahres 1904 390
Nüchternheit und Landleben in Schleswig-Holstein.394
Peipers, Dr. med.: Die Kuranstalt Siloah in Lintorf in 25jähriger Arbeit 396
Reinhard, Karl: Der VI. Nordische Enthaltsamkeitskongress in Kopenhagen 298
Scharrelmann, N.: Die Bedeutung und Zukunft der Jugendtogen des
Guttemplerordens.279
Scheven, Katharina: Der Kampf gegen den Alkoholismus, eine soziale
Aufgabe der Frau.255
Stegmann, Dr. med. A.: Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Ge¬
sundheit?" .373
Stille, Dr. phil. W. A.: Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika 83
Stille, Dr. phil. W. A.: Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten . . 151
Stille, Dr. phil. W. A.: Das „mässige“ Trinken der Deutschen in Amerika 384
de Terra, Eisenbahndirektor: Abstinenz im Eisenbahndienst. 67
Walther, Karl: Der Most.127
Was wir wollen. 1
Wegscheider-Ziegler, Frau: Wie bewahren wir Mütter unsere
Kinder vor dem Alkoholgenuss?.367
Westergaard, Prof. H.: Was lehrt die Statistik in Betreff des Einflusses
der geistigen Getränke anf die Gestrndhcit?.227
Eine Untersuchung der Alkohotfrage
auf Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame.
Von Professor Dr. Victor Böhmert.
S. 51. 177. 315. 413.
Folgende 50 Antworten sind eingegangen:
No. 49. Beck, Dr. Hermann, Schriftsteller, Tegel bei Berlin.428
„ 29. Bez^ola, Dr. med. Dominik, Irrenarzt in Chur.320
„ 39. Bönicke, Georg Heinrich Albert, Buchdrucker in Dresden . . . 416
„ 19. Bonne, Dr. med. Georg, in Klein-Flottbeck (Holstein).196
„ 35. Buddee, Landgerichtsdirektor Karl, in Greifswald.326
„ 2. Bunge, Professor Dr. von, in Basel.179
„ 21. Davidsohn, Redakteur Georg, in Berlin.200
„ 27. Delbrück, Dr. med., Direktor in Bremen.318
„ 44. Eggers, Rechtsanwalt Dr., in Bremen.422
„ 1. Fick, Professor Adolf, in Wtirzbtrrg.178
„ 5. Fick, Professor, Dr. med. Rudolf, in Leipzig.182
„ 6. Fick, Pjrektor Dr. jur. Friedrich, jn . . . y , r f 183
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No. 7. Fick, Dr. med. Adolf, in Zürich.184
„ 3. Forel, Dr. August, in Chigny b. Morges.180
„ 36. Frege, Eisenbahnbeamter Kurt, in Dresden.327
„ 4. Gaule, Professor Justus, in Zürich.181
„ 10. Gudden, Maler Rudolf, in Frankfurt a. M.187
„ 9. Gudden, Dr. med. Clemens, in Pützchen-Bonn.186
„ 26. Hahn, Dr. med. von, Oberstabsarzt a. D., in Görbersdorf . . . 317
„ 28. Hähnel, Franziskus, Schriftsteller und Lehrer, in Bremen . . . 319
„ 42. Hansen, Landesversicherungsrat in Kiel.419
„ 40. Heim, Professor Dr. Ludwig, in Erlangen.417
w 14. Hirt, Dr. med. Eduard, in München.191
„ 33. Hoff mann, Fräulein Ottilie, in Bremen.324
„ 43. Hoppe, Nervenarzt, Dr. Hugo, in Königsberg.420
w 50. Je dicke, Fabrikbesitzer Friedrich Otto, in Dresden.430
w 23. Ingermann, Prokurist Rudolf, in Flensburg.204
„ 45. Josephson, Pastor Hermann, in Bremen.424
„ 15. Kotowowicz, Dr. med. Benno, in Hannover.192
w 25. Kraepelin, Professor Dr. Emil, in Münschen.316
„ 18. Krukenberg, Frau Elisabeth geb. Conze, in Kreuznach .... 195
„ 31. Kruse, Pastor, Vorsteher der Heilanstalten in Lintorf.322
„ 11. Legrain, Dr. med., in Paris.188
„ 12. Legrain, Madame, in Paris .189
„ 16. Marcuse, Dr. med. Julian, in Mannheim.193
„ 48. Mosig, Arbeiter, in Hannover.427
„ 24. Neurath, stud. phil. Otto, in Berlin.206
„ 34. Pavel-Rammingen, Freiherr von, in Gotha ..325
„ 32. P e i p e r s, Dr. med., Anstaltsarzt in Lintorf.323
„ 46. Schulz, Kaufmann Bruno, in Dresden.425
„ 22. Schüre r, Lehrer Gotthold Georg, in Dresden.202
„ 30. Spinner, Oberhofprediger Dr. theol. in Weimar.321
„ 13. Stegmann, Dr. med. A., in Dresden.190
„ 20. Stille, Dr. Werner Adolf, in Leipzig.198
„ 17. Stubbe, Pastor Christian, in Kiel.194
„ 41. de Terra, Otto, Eisenbahndirektor a. D., in Marburg.418
„ 37. Weber, Sir Hermann, Arzt in London.414
„ 8. Weichselbaum, Professor Dr. Anton, Wien.185
„ 47. Wiedner, Jugenderzieher im Ehrlich'schen Gestüt, Dresden . . 426
„ 38. Wilson, Parlamentsmitglied Henry J., in Sheffield in England . 415
Viertel jahrschronik für Januar, Februar, März 1904 .... 96—100
Vierteljahrschronik für April, Mai, Juni 1904 . 207—215
Vierteljahrschronik für Juli, August, September 1904 .... 328—335
Vierteljahrschronik für Oktober, November, Dezember 1904 432—438
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Besprechungen:
Abnahme des Bierkonsums in München.223
Alkohol in den Tropen.222
Lieber den Alkoholgenuss bei den amerikanischen Arbeitern.338
Alkoholgenuss und wirtschaftliche Arbeit .436
Alkoholic Beverages and Longevity.216
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie.221 u. 336
Die Belastung des Arbeiterbudgets durch den Alkoholgenuss.102
Bericht über den IX. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus in
Bremen.101
Der Bieralkoholismus unter den Deutsch-Amerikanern.339
Geistige Getränke.225
Gesundheits- und Mässigkeitslehre in den Schulen.336
Sterblichkeitsverhältnisse der Gastwirte.224
Beiträge zum Alkoholismus der arbeitenden Klassen.442
Handbuch der eidgenössischen Fabrikinspektion.442
Ueber die hauptsächlichsten Hindernisse der Alkoholbewegung.443
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Was wir wollen!
Ansprache an alte und neue Leser.
Die seit Beginn des Jahres 1900 im Verlag von O. V.
Böhmert in Dresden erschienene Vierteljahrsschrift „Der Alko¬
holismus“ hat als ein gemeinschaftliches Unternehmen des
Verlegers mit den bisherigen Herausgebern Dr. A. Baer, Prof.
Dr. Böhmert, Dr. jur. von Strauss und Torney und
Dr. med. Waldschmidt mit Ende des Jahres 1903 aufgehört
zu erscheinen, weil zwischen den beiden durch einen Separat¬
vertrag mit dem Verleger gebundenen Herausgebern Prof. Dr.
Böhmert und Dr. med. Waldschmidt eine Einigung über die
Form der Weiterführung des Unternehmens nicht erzielt werden
konnte.
Die von den Unterzeichneten beiden Herausgebern begrün¬
dete und von Dresden aus geleitete Zeitschrift
„Die Alkoholfrage“
Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen des Alkohols
erscheint zu dem Abonnementspreis von jährlich 6 Mark in
Dresden im Verlage von O. V. Böhmert, welcher auch die
ersten vier Jahrgänge der Zeitschrift „Der Alkoholismus“ als
Eigentum behalten hat und allen neuen Abonnenten auf Wunsch
jeden Jahrgang von 1900—1903 zu 4 Mark nachliefern wird.
Die neue Zeitschrift will im alten Gewände des „Alko¬
holismus“ als Vierteljahrsschrift einesteils wissenschaftliche
Untersuchungen über die Wirkungen des Alkohols auf den
menschlichen Organismus und auf den Wohlstand der Völker
veröffentlichen und anderenteils über alle auf die Förderung
der Massigkeit und Enthaltsamkeit gerichteten Bestrebungen
Die Alkoholfrage. 1
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und Massregeln von Vereinen, Gemeinden und Staaten unpar-.^J
teiisch berichten. ■"%
Das Hauptbestreben der Zeitschrift soll dahin gerichtet
sein, eine Verständigung zwischen den zahlreichen Vereinen
und Privatpersonen, welche sich sowohl für Massigkeit als auch
für Enthaltsamkeit interessieren, durch praktische Toleranz und
ruhige Prüfung der verschiedenen Standpunkte herbeizuführen.
Das gleiche Bestreben war schon vor mehr als 4 Jahren
bei Begründung der Zeitschrift „Der Alkoholismus" massgebend.
Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke
zeigte sich damals auch geneigt, einer für solche wissenschaft¬
liche Zwecke begründeten Zeitschrift eine Subvention von
500 Mark zu bewilligen, er hat dieselbe jedoch niemals geleistet,
obwohl die Zeitschrift vom Verleger nur mit Opfern ins Leben
gerufen und fortgeführt werden konnte.
Die Verlagshandlung glaubt, wegen dieser ungünstigen
Erfahrungen der ersten Jahre das Vertrauen auf die Zukunft
eines ähnlichen Unternehmens nicht verlieren zu dürfen; sie
hält es jedoch im Interesse einer objektiven Haltung für ratsam,
dass die Zeitschrift mehr wissenschaftlich als agitatorisch zu
wirken sucht, dass sie sich mehr der Wahrheitsforschung als
der Polemik widmet und nicht von einem einzelnen Vereine
abhängig wird, sondern mit allen für die Volksgesundheit
arbeitenden Vereinen zusammen wirkt, mögen sie nun die
Massigkeit oder die Enthaltsamkeit auf ihre Fahne schreiben.
Die Zeitschrift soll allen wirklich wissenschaftlichen Unter¬
suchungen und praktischen Erfahrungen hinsichtlich der Wir¬
kungen des Alkohols ihre Spalten öffnen, sobald die betreffen¬
den Artikel nur leidenschaftslos gehalten sind und unnötige
Streitereien, gehässige Angriffe oder allgemeine unbewiesene
Behauptungen vermeiden.
Die Herausgeber dieser Zeitschrift möchten schon durch
den veränderten Titel „Die Alkoholfrage“ statt des bisherigen
Titels „Der Alkoholismus“ andeuten, dass sich die neue Zeit¬
schrift mit der wissenschaftlichen Untersuchung vieler noch
ungelöster Fragen beschäftigen will. Zu diesem Zwecke sollen
sich die Wissenschaften der Heilkunde und Volkswirtschafts¬
lehre noch enger als bisher verbinden und als Haupthilfsmittel
„die Statistik“ benutzen, welche sich nicht auf Einzel-
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Beobachtungen verlassen, sondern erst aus Massen Beobach¬
tungen Schlüsse ziehen darf.
Bei der sogenannten „sozialen Alkoholfrage“ wird man vor
allem nicht vergessen dürfen, dass der Wille des einzelnen
Menschen und die öffentliche Meinung weit mehr durch das
gute Beispiel als durch Wort und Schrift zur Aenderung der
Trinksitten bewogen werden können, und dass die Enthaltsam¬
keitsbestrebungen mit den Mässigkeitsbestrebungen mindestens
gleichberechtigt und der Förderung besonders deshalb bedürftig
und würdig sind, weil sie vorzugsweise von den unbemittelten
Klassen unsres Volkes getragen werden und dieselben rascher,
leichter und nachhaltiger von dem Laster der Trunksucht be¬
freien helfen, als es der blossen Massigkeit möglich ist.
Es hat sich in den beiden Jahrzehnten seit der Begründung
■des deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke
im Jahre 1883 und seit dem gleichzeitigen Vordringen der Gut-
templer-Logen viel bittrer Streit zwischen den Massigen und
Enthaltsamen im deutschen Reiche entwickelt. Wir sind weit
entfernt, diese Kämpfe etwa tragisch zu nehmen, da sie auf
weite Kreise anregend und belebend einwirken; wir halten
uns jedoch verpflichtet, den seit zwei Jahrzehnten im Dresdner
Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger Getränke kon¬
sequent festgehaltenen versöhnlichen Standpunkt zu
den Enthaltsamkeitsbestrebungen auch innerhalb des deutschen
Vereins zu befürworten und haben Grund zu der Annahme,
dass auch die Leitung des Deutschen Vereins, kräftig unter¬
stützt durch ihren neuen rührigen Generalsekretär, lebhaft be¬
müht ist, die auf jedem internationalen Antialkohol-Kongress
zu Tage tretenden Differenzen zwischen Mässigen und Enthalt¬
samen wenigstens innerhalb der deutschen Mässigkeitsvereine
auszugleichen und überhaupt in der Alkoholfrage lieber die
einigenden als die trennenden Punkte zu betonen.
Es erscheint aussichtslos, die Kluft zwischen Mässigen und
Enthaltsamen durch theoretische Erörterungen ausfüllen zu
wollen; dagegen ist es sehr wohl möglich, praktische Toleranz
.zu üben und für die Förderung der Volksgesundheit und Ver¬
edelung der Volkssitten gemeinsam zu arbeiten. Es gibt ver¬
schiedene Wege, je nach der Verschiedenartigkeit der Menschen¬
naturen und ihrer Gewohnheiten, diese gemeinsamen Ziele zu
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erreichen. Auch hier wird sich die Arbeitsteilung zwischen
verschiedenen Vereinen mehr empfehlen, als der Streit um
den richtigen theoretischen Standpunkt. Die Enthaltsamkeits-
bestrebungen sind ebenso notwendig wie die Mässigkeits-
bestrebungen. Es muss allseitig anerkannt werden, dass die
Enthaltsamen durch die Trinkerrettung eine der wichtigsten
und schwierigsten Aufgaben in der Alkoholfrage zu lösen
suchen und dass ihre Geretteten nach Tausenden zählen, gegen¬
über denjenigen, die in den Anstalten aufgenommen werden
und nach ihrer Entlassung erst recht des Beistandes der Ent¬
haltsamen bedürfen. Die Arbeit der Massigen liegt auf einem
andern Gebiete. Sie haben die hohe Aufgabe, alle Volksklassen
über die Wirkungen des Alkohols zu belehren und aufzuklären
und sie zur Massigkeit erziehen zu helfen, zugleich aber auf
Gesetzgebung und Verwaltung einzuwirken, um gesundheitliche
und sittliche Gefahren von der Bevölkerung abzuwenden, undi
dazu bedürfen wir der Einigkeit auf allen Seiten.
In der Erziehung zur Einigkeit auf allen Seiten wollen
wir auch eine Hauptaufgabe der neuen Vierteljahrsschrift „D i e
Alkoholfrage“ erblicken, welche wir hierdurch allen Lesern
zur Anschaffung, Weiterverbreitung und Förderung empfehlen!
Prof. Dr. Böhmert und Dr. med. Meinert..
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I. Abhandlungen.
Programme und Ziele
der älteren und neueren deutschen Bewegnng
für Mässigkeit nnd Enthaltsamkeit.
Von Prof. Dr. Victor Böhmert.
i. Allgemeine Bemerkungen.
Unsere Zeit ringt auf vielen Gebieten nach Erneuerung,
Reinigung und Erlösung von tiefen gesundheitlichen und sitt¬
lichen Schäden, welche die weitesten Kreise der Bevölkerung
in allen Kulturstaaten bedrohen. Aeussere Feinde und Kriegs¬
not pflegen uns nur vorübergehend zu beunruhigen; innere
Feinde, innere ansteckende Krankheiten und schlechte Sitten
können lang dauerndes Unheil anrichten und nur durch lange
innere Kämpfe, durch Erziehung eines besseren Geschlechts
und durch edlere Sitten allmählich überwunden werden. Die
schlimmsten inneren Feinde der modernen Kulturvölker sind
die alkoholischen und geschlechtlichen Ausschweifungen. Sie
sind mit der Ueppigkeit und mit dem Materialismus unserer
Tage unheimlich vorwärts geschritten und üben eine Art sozialer
Weltherrschaft, gegen welche sich die Völker durch einmütigen
internationalen Wetteifer in guter Jugenderziehung, edler Gesellig¬
keit und zweckmässiger Wohlfahrtspflege schützen müssen. Grosse
und kleine Völker haben auf diesem Gebiete hervorragende
Leistungen aufzuweisen. In neuerer Zeit sind Amerika und
England, Norwegen, Schweden, Finnland und die Schweiz
in vielen Richtungen Vorbilder geworden.
Die nordamerikanische Union hat schon in ihren ersten
grossen Staatsmännern Franklin und Jefferson eifrige Vorkämpfer
des Alkohols besessen. Von Amerika sind die ersten alkohol-
Zeile 2 von unten lies Bekämpfer statt Vorkämpfer.
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Abhandlungen.
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gegnerischen Vereinigungen des 19. Jahrhunderts ausgegangen.
In Amerika begann dann in den 40er und 50er Jahren des.
vorigen Jahrhunderts auch die Bewegung für Totalabstinenz
und für gesetzliche Prohibition, welche letztere im Staate Maine
1851 zuerst durchgeführt wurde. Von Nordamerika ist auch
der Guttemplerorden und der Kreuzzug der Frauen gegen den
Alkohol ausgegangen. Diese Vorgänge in Nordamerika haben
namentlich England wirkungsvoll beeinflusst. Im Jahre 1853
erfolgte in England, unter dem Eindruck des Vorgehens
amerikanischer Staatsmänner und Volksfreunde in verschiedenen
Staaten der Union, die Begründung der grossen Vereinigung,
•welche unter dem Namen „The United Kingdom Alliance“ sich
die Aufgabe stellte, auch in ganz Grossbritannien die Gesetz¬
gebung in Betreff des Alkohols ähnlich wie in Amerika umzuge¬
stalten. Diese britische Gesellschaft, welche im Jahre 1903 ihr
öOjähriges Jubiläum würdig feierte, hat unter der langjährigen
Leitung von Sir Wilfred Lawson, des bedeutendsten Vertreters
der Enthaltsamkeitsbewegung im englischen Parlament, eine
sehr ausgedehnte Tätigkeit entfaltet und in dem letzten Jahr¬
zehnt ihr Streben namentlich dahin gerichtet, die Schankrechts¬
bewilligung einer lokalen Volksabstimmung und Volksüber¬
wachung zu unterwerfen. Ueber alle mustergültigen Vorgänge
in der amerikanischen und englischen Antialkohol - Bewegung
berichtet ausführlich der schwedische Professor Dr. Johan
Bergman in Stockholm in seiner soeben im Monat März 1904
auch in deutscher Uebersetzungerschienenen „Geschichteder Anti¬
alkohol-Bestrebungen“*). In diesem bedeutungsvollen Werkeist die
Geschichte des Alkoholgenusses und der Alkoholbekämpfung in
Indien und im alten Egypten und Vorderasien sowie im klassischen
Altertum, im Mittelalter, im Zeitalter der Reformation, im 17. Jahr¬
hundert und im Aufklärungszeitalter bis auf die allerneueste
Zeit in sehr übersichtlicher Weise geschildert. Eine besonders
ausführliche Darstellung ist der modernen Alkoholbewegung
in Nordamerika und Europa und namentlich in den skandina¬
vischen Ländern gewidmet.
*) Geschichte der Antialkohol-Bestrebungen. Aus dem Schwedischen über¬
setzt, neu bearbeitet und herausgegeben von Dr. R. Kraut. Vollständig in drei
Lieferungen ä 2.40 Mk. = 7 Mk. 20 Pf. Hamburg 1903 und 1904. Druck und
Verlag von Gebrüder Lüdeking.
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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 7
Prof. Bergman berichtet auch über die deutsche Bewegung
für Massigkeit und Enthaltsamkeit und ergänzt die schon sehr
reichliche deutsche Literatur, welche sich namentlich an den
Namen des Pfarrer Martius knüpft, noch durch manche
interessante neue Mitteilungen. Er unterlässt es nicht, „die
umfangreiche schriftstellerische Wirksamkeit von Pfarrer
Martius“ und „vieler anderer eifriger Mitarbeiter“ anzuerkennen.
Er bemerkt auch zu der Schrift von Martius „über die
ältere deutsche Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung“*),
dass diese Schrift „wertvolles Material enthalte“, er wirft ihr
jedoch vor, dass „der Verfasser einseitig tendenziöse Zwecke
verfolge“ und versuche: „aus der Geschichte jener älteren
Bewegung den Beweis zu erbringen, dass die moderne
Bewegung gegen den Alkoholismus Mässigkeits vereine
erfordere“. Es ist nicht die Aufgabe dieser Abhandlung, auf
die Polemik des Prof. Bergman und des Uebersetzers Dr. Kraut
gegen Martius und andere deutsche Mässigkeitsfreunde näher
einzugehen, wir wollen vielmehr versuchen, über die ältere und
neuere deutsche Bewegung objektiv zu berichten und dabei
auch den Nachweis zu führen, dass selbst innerhalb des deutschen
Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke von Anfang
an ganz verschiedene Ansichten und Standpunkte, Programme
und Ziele aufgetaucht sind und noch immer vertreten werden.
Unsere neue Vierteljahrsschrift „Die Alkoholfrage“ steht auf
dem streng wissenschaftlichen internationalen Standpunkte der
Wahrheitsforschung, sie will die Wirkungen des Alkohols und
die zur Bekämpfung der Alkoholgefahr in alten und neuen
Zeiten und Staaten angewendeten Mittel unparteiisch darstellen
und prüfen und dabei die Erfahrungen fremder Länder ebenso
berücksichtigen, wie diejenigen im eigenen Vaterlande und an
Ort und Stelle. Das eben erschienene Werk von Prof. Berg¬
man und Dr. Kraut: „Die Geschichte der Antialkohol-Bestre¬
bungen“ erleichtert uns unsere Aufgabe ebenso wie das jüngst
erschienene bahnbrechende Werk des Finnländers Dr. Helenius
„Die Alkoholfrage“, welches der Schreiber dieser Zeilen
*) Die altere deutsche Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung (1838—1848)
und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Ein Wort zur Verständigung zwischen
Mässigen und Enthaltsamen von Dr. Wilhelm Martius. Dresden. Verlag von
O. V. BÖhmert 1901.
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Abhandlungen.
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iu der Abhandlung „Die Alkoholfrage in der Vergangenheit
und Gegenwart“ in Heft IV der Vierteljahrsschrift „Der Alko¬
holismus“*) eingehend besprochen hat.
2. Die ältere deutsche Bewegung von 1796—1848.
Das deutsche Volk hat schon am Schlüsse des 18. und
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beachtenswerten
Anlauf zur Bekämpfung des Alkoholismus genommen. Der
bekannte deutsche Arzt C. W. Hufeland, der als Staatsrat und
Königl. Leibarzt im Jahre 1836 in Berlin starb, hatte schon im
Jahre 1796 sein berühmtes Buch „Die Kunst, das menschliche
Leben zu verlängern“, veröffentlicht. Dieses später in zahlreichen
Auflagen unter dem Titel „Makrobiotik“ erschienene und in
viele fremde Sprachen übersetzte Werk hatte bereits alle spiri-
tuösen Getränke, sie mögen Namen haben wie sie wollen, als
lebensverkürzend bezeichnet und u. A. bemerkt: „dass sie wie
flüssiges Feuer das Leben im eigentlichsten Sinne zu einem
Verbrennungsprozess machen“ . . . und Hautkrankheit, künst¬
liches Alter, Husten, Engbrüstigkeit, Lungenkrankheit, Wasser¬
sucht und was das schlimmste ist, eine schreckliche Abstumpfung
des Gefühls, nicht allein im Physischen, sondern auch im Mora¬
lischen, erzeugen“. Ausserdem hat Hufeland auch noch in
einer besonderen Abhandlung „Ueber die Vergiftung durch
Branntwein“ (Berlin, 1802) eine doppelte Art von Vergiftung
und ihren Wirkungen näher beschrieben: „eine schnelle,
durch den Genuss einer grossen Quantität auf einmal, und eine
langsame oder schleichende, durch den täglich [fortgesetzten
Genuss in kleinen Portionen“. Hufeland macht besonders auf¬
merksam auf die schleichende Vergiftung, „die man gewöhnlich
dann erst erkennt, wenn es zu spät ist, ihr abzuhelfen“ und
richtet gegen den Schluss an die Bevölkerung u. A. folgende
ergreifende Mahnworte: „Wodurch kann man dieser für die
Menschheit so gefährlichen Seuche sowohl im einzelnen als im
ganzen Grenzen setzen ? Das erste ist wohl, dass man die noch
*) Sämtliche 4 Jahrgänge der Zeitschrift „Der Alkoholismus“. Eine Viertel¬
jahrsschrift zur -wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage. Herausgegeben von
Dr. A. Baer, Prof. Dr. Böhmert, Dr. jur. von Strauss und Torney und Dr. Wald¬
schmidt, können in der Verlagshandlung von O. V. Böhmert in Dresden zum Preise
von 4 Mk. pro Jahrgang durch jede deutsche Buchhandlung bezogen werden.
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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 9
Unverdorbenen, besonders Kinder und junge Leute, vor dieser
traurigen Gewohnheit sichert, und ich mache es hierdurch Eltern,
Erziehern und Predigern zur heiligen Pflicht, durch Beispiel und
ernstliche Warnung dagegen zu arbeiten!“ . . .
In demselben Jahre, in welchem Hufelands erstes Werk
erschienen war, veröffentlichte auch das „Dresdner Sanitäts-
Kollegium“ am 14. Oktober 1796 eine „Belehrung für das
Publikum von dem grossen Nachteile, welcher aus dem Miss¬
brauche des Branntweins für die Gesundheit und die Seelen¬
kräfte entsteht.“
Die in Deutschland erschienenen Schriften gegen den
Alkohol und die Jahresberichte der amerikanischen Temperenz-
gesellschaft bewirkten, dass in Preussen der König Friedrich
Wilhelm III. im Jahre 1833 offiziell sich von der Regierung der
Vereinigten Staaten Auskunft über die Bewegung gegen den
Alkoholismus erbat. Diese Auskunft wurde von dem beredten
Amerikaner Robert Baird erteilt, dessen Buch über die Erfolge
der amerikanischen Bewegung auf Befehl des Königs Friedrich
Wilhelm ins Deutsche übersetzt wurde und die Bekämpfung
des Alkohols in Deutschland mächtig anregte. Schon vor Robert
Bairds Ankunft in Deutschland hatte in Sachsen Prinz Johann
(der spätere König) im Jahre 1832, angeregt durch eine Reise
nach England, denVersuch gemacht, eine Bewegung gegen den
Alkoholismus ins Leben zu rufen und zu diesem Zweck eine
Gesellschaft in Dresden begründet. Infolge der in Preussen
und Sachsen von oben herab durch Fürsten, hohe Beamten,
Aerzte, Geistliche und Lehrer gegebenen Anregungen gelang
es in derZeit von 1832—1848 eine grosse Zahl von Mässigkeits-
und Enthaltsamkeits-Vereinen in Deutschland zu gründen. Als
die hervorragendsten Vertreter der Mässigkeits- und Enthalt¬
samkeitsagitation vor 1848 wirkten namentlich folgende Männer:
Professor der Medizin Dr. Kranichfeld in Berlin, Pastor J. H.
Böttcher, Prediger zu Jensen in Hannover, ferner der katholische
Pfarrkaplan Johann Mathias Seling in Osnabrück, Freiherr Albert
von Seid, der Osnabrücker Bürgermeister Dr. Stüve und Pro¬
fessor V. A. Huber.
Die erste deutsche Bewegung gegen den Alkohol erreichte
in den Jahren 1841 —1847 ihren Höhepunkt. Sie war besonders
stark in Norddeutschland und fand in Hamburg einen Mittel-
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punkt. Prof. Bergman berichtet in seiner neuesten Geschichte
der Anti-Alkohol-Bestrebungen über einen „Pöbelauflauf am
18. Januar 1841 in Hamburg, der in der ganzen europäischen
Anti-Alkohol-Bewegung seinesgleichen sucht“. In Hamburg
war am 29. Oktober 1840 ein „Verein gegen das Branntwein¬
trinken“ gegründet worden, der sich sehr rasch entwickelte und
am Ende des Jahres bereits 605 Mitglieder zählte. Um die
Agitation noch energischer zu betreiben, hatte der aus zehn
angesehenen Bürgern bestehende Vorstand eine öffentliche Ver¬
sammlung anberaumt, die am 18. Januar 1841 abends 8 Uhr in
der Aula des Johanneums, einer Gelehrtenschule, stattfinden
sollte. Schon vor der festgesetzten Zeit war der etwa 600—700
Personen fassende Saal gedrängt voll von Ruhestörern, welche
von einigen Wirten mit reichlichem Branntwein versehen waren.
Es kam im Saale zu einem Tumult, so dass der Vorstand die
Versammlung aufheben musste. Als die Versammelten den
Saal verlassen wollten, wurde die Verwirrung noch schlimmer.
Eine zahlreiche Menschenmenge strömte aus den in der Nähe
des Johanneums befindlichen Schenken und Bordellen, um die
in der Versammlung begonnene Demonstration auf der Strasse
fortzusetzen. Betrunkene Gäste warfen Branntweinflaschen,
Eisstücke, Schneebälle in die Menge. Ein sich wie irrsinnig
gebärdender Volkshaufen drang in den Versammlungssaal, liess
seine Wut am Mobiliar des Saales aus, schaffte Branntwein zur
Stelle und machte die Aula zum Schauplatz eines sehr wilden
Bacchanals. Da man derartige Störungen nicht voraus geahnt
hatte, kam erst 11 Uhr abends die Bürgergarde zur Stelle, um
dem tollen Treiben ein Ende zu. machen.
Der Bericht über diesen Pöbelauflauf machte den Weg
durch die Presse der ganzen Welt und bewirkte eine sympa¬
thischere Stellungnahme des anständigen Publikums zur Enthalt¬
samkeitssache, nachdem man einmal deutlich gesehen hatte,
welche Elemente sich der Bewegung vorzugsweise entgegenstellten.
Besonders in Hamburg stieg die Mitgliederzahl des Vereines
gegen das Branntweintrinken im Jahre 1842 von 606 auf 1430
Mitglieder. Auch die Behörden wandten ihr Interesse der
Bewegung zu. Die Branntweinverabreichung beim Militär wurde
eingestellt und die Malzakzise aufgehoben, da man glaubte,
durch Förderung der Bierbrauerei den Schnapskonsum dauernd
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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. U
herabdrücken zu können. Allerdings verminderte sich der
letztere auch anfänglich ein wenig; aber durch das seit dieser
Zeit rasch aufblühende Braugewerbe ward der Alkoholismus
tatsächlich nicht eingedämmt, sondern nur in breitere und ge¬
fährlichere Bahnen gelenkt.
Auf der ersten Generalversammlung der deutschen Mässig-
keitsvereine in Hamburg im Jahre 1843 konnte festgestellt
werden, dass die Zahl der norddeutschen Vereine bereits auf
452 angewachsen und der Boden für die Bewegung fast aller¬
orten geebnet war. Auf der zweiten Generalversammlung,
welche 1845 in Berlin unter Pastor Böttchers Vorsitz tagte,
zählte man schon 1072 norddeutsche Vereine mit zusammen
425 532 Mitgliedern. In Oberschlesien allein wurden 1844 bereits
500000 Enthaltsame gezählt. Im Fürstentum Osnabrück gab
es 41 Vereine, denen 18 706 Erwachsene angehörten und 18
Schülervereine (sog. Hoffnungsscharen) mit 3751 Mitgliedern.
Die schwach bevölkerte Insel Sylt zählte allein 310 Mitglieder.
Die Gesamtziffer aller Enthaltsamen des ganzen Deutschlands
betrug nach Prof. Bergman zirka 1,650000.
Nach Martius war die alte deutsche Bewegung gegen den
Alkohol schon im Jahre 1847 an einem toten Punkte angelangt.
Er schreibt: „Was mit den bisher angewandten Mitteln erreicht
werden konnte, war erreicht. Jetzt mussten neue Wege be¬
treten werden. In der Braunschweiger Generalversammlung
der norddeutschen Vereine gegen das Branntweintrinken (1847)
schlugen die einen vor, Petitionen an die Regierungen zu richten.
Man entgegnete aber, der preussische Minister des Innern habe
zwar Geldbeiträge für die Vereine in Aussicht gestellt, ersuche
aber, ihn selbst mit allen Petitionen zu verschonen und Peti¬
tionen an den Bund, die von Versammlungen ausgingen, seien
durch Bundesbefehl streng verboten. Dann schlug man die
Bildung eines Gesamtausschusses der damals bestehenden 32
Landes- und Provinzialvereine vor. Aber dieser Antrag wurde
als für jetzt nicht zweckmässig abgelehnt. So traf der Stoss
des nächsten Jahres die deutschen Mässigkeits- und Enthalt¬
samkeitsvereine gerade in dem Zeitpunkt ins Herz, wo eine
feste Vereinigung besonders nötig gewesen wäre.“ Auch Prof.
Bergman erblickt in der Dürftigkeit der Vereinsorganisation
einen wesentlichen Grund des Stillstands und Rückgangs der
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ersten deutschen Anti-Alkohol-Bewegung. „Der Zusammenhang
einzelner Vereinsmitglieder und der Vereine unter einander war
ein sehr loser. Es wurden keine regelmässigen Mitgliederbei¬
träge erhoben und die Unkosten nur durch freiwillige Beiträge
gedeckt.“ Sowohl Bergman wie auch Martius stimmen darin
überein, dass ein Hauptgrund des Verfalles der älteren deutschen
Bewegung gegen den Alkohol auch darin lag, dass nur der
Branntweingenuss, aber nicht auch der übermässige Wein- und
Biergenuss bekämpft wurde.
Nach der Ansicht des Schreibers dieser Zeilen ist der
Hauptgrund des Verfalls der älteren deutschen Bewegung doch
wohl darin zu suchen, dass die Pariser Februar-Revolution
des Jahres 1848 den Anstoss zu der grossen politischen natio¬
nalen Bewegung gab, welche zur Berufung der deutschen
Nationalversammlung nach Frankfurt a. M., zum Krieg der
Schleswig-Holsteiner gegen Dänemark, zum Konflikte zwischen
Preussen und Oesterreich und zu einer Reihe anderer wichtiger
öffentlicher Ereignisse und schliesslich zur Begründung des
Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches führte. Erst
nach Erringung seiner nationalen Einigung gewann das deutsche
Volk wieder die nötige innere Ruhe und auch grösseres Interesse
für alle Wohlfahrts- und Kulturbestrebungen der Gegenwart.
In der älteren Bewegung gegen den Alkohol hatte man sich
durch den äusserlich glänzenden Erfolg einer rasch zündenden
religiösen Bewegung wohl auch verleiten lassen, die noch zu
leistende Arbeit zu unterschätzen. Man hatte wohl die Gemüter
vorübergehend entflammt, aber die Geister noch nicht genügend
belehrt und überzeugt. In der Gegenwart erkennt man aller¬
orts an, dass die Bewegung für Massigkeit und Enthaltsamkeit
nicht allein eine sittlich religiöse, sondern auch eine gesund¬
heitliche und volkswirtschaftliche Angelegenheit ist, welche von
Männern und Frauen aller Berufskreise, natürlich in erster
Linie auch von Geistlichen, Lehrern, Aerzten, Volkswirten und
Beamten gefördert werden muss. Ganz besonders bedürfen
wir in der Gegenwart einer Mitwirkung der Naturforscher,
Biologen und Aerzte, um die wirklichen Wirkungen des Alkohols
auf den menschlichen Organismus gründlich zu erforschen und
dem Volke begreiflich zu machen, damit die unentbehrlichen
Massregeln der Staatsgewalt durch die öffentliche Meinung und
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Böhraert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 13.',
die Einsicht und den ernsten Willen aller Volksfreunde getragen
und auch gewissenhaft ausgeführt werden.
3. Die neue deutsche Bewegung von 1883 bis zur
Gegenwart.
Das deutsche Volk hat seinen neuesten ernsten Anlauf zu
einer planmässigen Bekämpfung des Alkoholismus im Jahre
1883 genommen, nachdem es seinen politischen Nationalstaat
im Jahre 1871 begründet und sowohl nach Aussen wie auch
im Innern etwas befestigt hatte. Die neueren Bestrebungen
für Massigkeit und Enthaltsamkeit sind wie die älteren durch
die medizinische Wissenschaft und ärztliche Erfahrung vorbereitet
worden. Wie Hufelands „Makrobiotik“ die ältere Bewegung
am Ende des 18. Jahrhunderts vorbereitete, so hat das im Jahre
1878 erschienene Werk von Dr. Baer „DerAlkoholismus“
für die neueste deutsche Bewegung bahnbrechend gewirkt. Ein
zweiter wackerer deutscher Pionier für die Mässigkeits-Bestre-
bungen war der frühere Verlagsbuchhändler Adolf Gump-
recht, welcher bereits im Jahrgang 1879 der Vierteljahrsschrift
„Der Arbeiterfreund“, Organ des Zentral Vereins für das Wohl
der arbeitenden Klassen, eine längere Abhandlung „Der
Kampf gegen den Alkohol ismus“ veröffentlichte, worin
das Werk von Dr. A. Baer eingehend besprochen und auch in
weiteren Volkskreisen verbreitet wurde. Auch die besonders
von Gumprecht angeregte und als publizistisches Organ des
Zentralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen seit dem
April 1877 in Dresden zweimal wöchentlich nur für Zeitungen
herausgegebene „Sozialkorrespondenz“, deren Artikel von den
abonnierenden Zeitungen ohne Quellenangabe abgedruckt werden
dürfen, hat beinahe allwöchentlich Aufsätze gegen den Alko¬
holismus veröffentlicht, welche allen Mitgliedern des Dresdner
Bezirksvereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke als
monatliches Vereinsorgan „Volksgesundheit“ noch jetzt unent¬
geltlich zugehen. Gumprecht hat auch durch seine Schrift
„Wider den Trunk“, die von Dresden aus in 10000 Exemplaren
in ganz Deutschland verbreitet wurde, die deutsche Bewegung
gegen den Alkohol sehr wirksam gefördert. Als ein dritter
besonders verdienstvoller Pionier der neueren deutschen Mässig-
keitsbestrebungen ist der Bremer Schriftsteller August
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Lammers zu nennen, welcher sich als politischer und volks¬
wirtschaftlicher Publizist in der Zeit von 1857—1892 mit Feuer¬
eifer an allen nationalen und humanen Bestrebungen agitatorisch
und organisatorisch beteiligte. Lammers besass eine ausser¬
ordentliche Initiative und Befähigung zu Vereinsgründungen und
wurde dabei sehr wirksam unterstützt durch seine ausgedehnte
persönliche Bekanntschaft mit hervorragenden Politikern und
öffentlich wirkenden Männern, die er als ein von Elberfeld
gewähltes Mitglied des preussischen Abgeordnetenhauses näher
kennen gelernt hatte. Er hatte als Redakteur der Elberfelder
Zeitung die vortreffliche Elberfelder Armenpflege näher kennen
gelernt und wurde im Jahre 1880 einer der Hauptbegründer
des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit,
welcher die Elberfelder individuelle Armenpflege rasch über
ganz Deutschland verbreiten half und überhaupt ein Mittelpunkt
für humane Bestrebungen wurde. Viele Tausende von deutschen
Armenpflegem lernten sehr bald erkennen, dass im Alkohol-
genuss eine Hauptursache der Verarmung zu erblicken sei.
Den Bemühungen von Lammers und seinen Freunden
gelang es, eine grosse Anzahl hervorragender Männer der ver¬
schiedensten Parteirichtungen zu bestimmen, im März 1883 zu
Kassel einen „Deutschen Verein gegen den Missbrauch
geistiger Getränke“ zu begründen. Lammers wurde von
diesem Verein als Geschäftsführer angestellt und hat sich im
Dienste dieses Vereins und zahlreicher verwandter Bestrebungen
für Armenpflege, Handfertigkeits-Unterricht, Sparkassenwesen,
frühzeitig aufgerieben. Lammers erhielt vom Vorstand des neu
gebildeten Deutschen Vereins zunächst den Auftrag, in Gemein¬
schaft mit Dr. A. Baer die skandinavischen Länder zu bereisen
und dort die erfolgreiche Bewegung gegen den Alkohol näher
zu studieren. Wir verdanken dieser Reise die wertvolle Schrift
über Alkoholgesetzgebung der skandinavischen Länder und
über das Gothenburger System. Lammers beteiligte sich auch
an den internationalen Kongressen gegen den Alkohol in Zürich
und Christiania. Er verbreitete in Deutschland auch die erste
Kenntnis von den Guttemplern, welche im Jahre 1883 in
Flensburg ihre erste Loge gründeten. Lammers widmete sich
auch mit grossem Eifer der Gründung von Bezirksvereinen
gegen den Missbrauch geistiger Getränke in verschiedenen
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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 15
deutschen Städten. Er versammelte schon im Mai 1883 um
sich in Dresden einen kleinen Kreis von Mässigkeitsfreunden
und veranlasste dieselben im November 1883 einen der ersten
und stärksten deutschen Bezirksvereine ins Leben zu
rufen.
Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke musste sein Augenmerk zunächst darauf richten,
überall in deutschen Landen Mitglieder zu gewinnen, Bezirks¬
und Orts vereine und Vertreterschaften zu errichten und die
Bevölkerung über die Gefahren des Alkohols und über den
Stand der Alkoholfrage durch Wort und Schrift in Familien
und öffentlichen Versammlungen, in Kirchen und Schulen, in
grossen und kleinen Werkstätten, in Gerichten und Gefäng¬
nissen aufzuklären. Insbesondere hat man sich in Zeitungen
und Flugschriften an das grosse Publikum und in Petitionen,
Anträgen und Beschwerden an die Behörden und Regierungen
gewendet. Während der Deutsche Verein auf die Reichs¬
regierung und den Reichstag einzuwirken suchte, waren die
• einzelstaatlichen Bezirks- und Ortsvereine bemüht, ihre Ministerien
und Landesbehörden zu legislatorischen und administrativen
Massregeln im Sinne der Vereinszwecke zu bestimmen.
Es ist in dieser Richtung auch manches erreicht worden,
was sogar ziffermässig nachgewiesen werden kann. Es haben
z. B. die statistischen Ermittelungen über das Konzessionswesen
im Schankbetrieb in den Jahren 1879 bis 1903*) ergeben, dass
■die sächsischen Schankwirtschaften mit und ohne Branntwein¬
schank und die Branntwein - Kleinhandlungen eine erhebliche
Abnahme erfahren haben. Auf j e 10000 Einwohner kamen
in Sachsen Gastwirtschaften 1879: 15,8, 1893: 13,5 und 1903:
12,1; Schankwirtschaften mit Branntweinschank 1879: 31,6,
1893: 26,5, 1903: 24,2; Schankwirtschaften ohne Branntwein¬
schank 1879: 5,0, 1893: 3,1 1903: 2,0; Branntwein-Kleinhändler
1879: 16,8, 1893: 12,8, 1903: 10,1. Die Kleinhandlungen für
Branntwein haben in allen sächsischen Regierungsbezirken
abgenommen, am meisten im Regierungsbezirk Bautzen, wo sie
in der Zeit von 1879—1903 auf 10000 Einwohner von 17,7 auf
•8,8 herabgegangen sind. Ein Hauptgrund der Abnahme der
Branntweinverkaufsstätten im Regierungsbezirk Bautzen wird
*) Siehe Zeitschrift des Königl. sächs. Statist. Bureaus, Jahrg. 1904, Heft I.
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wohl darin liegen, dass seit dem Inkrafttreten der deutschen
Gewerbenovelle vom 31. Juli 1879 bei Erteilung von Konzessions¬
gesuchen die Bedürfnisfrage einer strengeren Prüfung unterzogen
wurde. Leider geschieht dies nicht überall in Deutschland,
so dass sich die Bestrebungen der deutschen Mässigkeitsfreunde
jetzt vorzugsweise dahin richten: dass der Ausschank alkoholi¬
scher Getränke dem Privaterwerb möglichst entzogen und die
ausschliessliche Berechtigung dazu den Gemeinden oder den
von den Behörden anerkannten gemeinnützigen Gesellschaften
übertragen werde.
Während die Anträge auf Einschränkung der Konzessionen
für Schankwirtschaften bisher in Deutschland noch lange nicht
genug Beachtung gefunden haben, sind die Gutachten der
Mässigkeitsvereine für Entmündigung von Trinkern erfolgreicher
gewesen. Die Bestimmungen des neuen deutschen bürgerlichen
Gesetzbuches über die Entmündigung von Trinkern sind von
grosser Wichtigkeit. Es ist dadurch die Errichtung neuer Trinker¬
heilanstalten in erfreulicher Weise gefördert und schon viel Elend
gelindert oder ganz abgewendet worden.
Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke hat in den beiden letzten Jahrzehnten ferner durch
zahlreiche von ihm selbst herausgegebene oder veranlasste
Schriften sehr verdienstlich gewirkt. Es sind z. B. infolge eines
im Juni 1897 vom Deutschen Verein erlassenen Preisausschreibens
vier gediegene Preisschriften erschienen über das Thema:
„Welche Anforderungen sind an die künftige Einrichtung und
Verwaltung von Trinkerheilanstalten und Trinkerasylen zu stellen
und welcher weiteren Massnahmen auf dem Gebiete der Gesetz¬
gebung, Verwaltung und Vereinstätigkeit bedarf es zur wirk¬
samen Durchführung der Bestimmungen des Bürgerlichen
Gesetzbuches über die Entmündigung wegen Trunksucht?“
Noch wichtiger erscheint uns die Tätigkeit der Mässigkeits¬
vereine für Reform der Trinksitten. Es haben sich in den
letzten 20 Jahren, wie überhaupt auf sozialem Gebiete, so nament¬
lich inbetreff der Volksgeselligkeit ganz neue Anschauungen
und nicht unerhebliche Wandlungen vollzogen, um den Massen
der Bevölkerung Ersatz für den Alkohol und für rein materielle
Genüsse durch edlere Erholungen zu verschaffen. Die Arbeit
der Mässigkeitsfreunde ist auf diesem Gebiete keine vergebliche
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Böhmert, Programme u. Ziele der älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. YJ
gewesen. Die Bewegung gegen die Trunksucht, für welche
man anfänglich nur Spott hatte, ist in weite Kreise eingedrungen
und fängt an, populär zu werden. Das Volksgewissen ist
geschärft worden, so dass man heute einen Trunkenbold viel
strenger beurteilt und die Trunkneigung viel weniger belächelt
oder entschuldigt, als vor dem Jahre 1883.
Wenn auch die durch den Alkohol verschuldete Schwächung
der deutschen Bevölkerung noch sehr gross ist und namentlich
das stundenlange Gewohnheitstrinken den Haushalt und das
Familienleben der weitesten Volkskreise arg schädigt, so hat
die Vereinstätigkeit im Bunde mit den Bemühungen von Staat,
Gemeinde, Kirche und Schule doch manche erfreulichen Er¬
fahrungen zu verzeichnen und nicht nur einen Umschwung in
den Anschauungen über die Gefahren des Alkohols bewirkt,
sondern auch die Sitten und Volkserholungen hier und da
schon wesentlich veredeln helfen.
Dieser unleugbare Umschwung ist nicht nur den deutschen
Mässigkeitsvereinen, sondern in gleichem Masse den Enthalt¬
samkeitsvereinen zu verdanken, welche .in der Zeit von 1883
bis 1903 in allen Kreisen der deutschen Bevölkerung Boden
gewonnen haben.
In erster Linie sind die deutschen Guttempler zu
nennen, welche besonders im letzten Jahrzehnt unter der Führung
von Ingenieur Asmussen in Hamburg alljährlich an Zahl zuge¬
nommen haben und im Jahre 1903 schon über 23 000 Mitglieder
in Deutschland zählten.*)
Von der Schweiz aus haben ferner die „Vereine zum
blauen Kreuz“ auch in Deutschland Eingang gefunden. Das
„Blaue Kreuz“ ist ein auf religiöser Grundlage stehender
abstinenter Trinkerrettungsverein, welcher sich zugleich die
Bekämpfung der tyrannischen Trinksitten mit ihren fürchter¬
lichen Folgen zur Aufgabe gemacht hat. Er zählte im Jahre 1902
etwa 10000 Mitglieder und über 3700 Angehörige. In demselben
*) Indem wir die Leser dieser Abhandlung auf den in diesem Heft enthaltenen
Artikel von Ingenieur Asmussen über die Entwickelung des Guttemplerordens in
Deutschland und auf den Artikel des Herrn Eisenbahndirektor de Terra über den
r Deutschen Verein abstinentet Eisenbahner“ verweisen, versprechen wir, die Ent¬
wickelung der übrigen deutschen Abstinenzvereine in späteren Heften dieser Zeitschrift
ebenfalls näher darzulegen. — Die Redaktion.
Die Alkoholfrage. 2
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Abhandlungen.
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Jahre 1902 haben sich etwa 1500 Angehörige abgezweigt und
den „Deutschen Bund evangelisch - kirchlicher Blaue Kreuz-
Verbände“ gegründet.
Der hochverdiente erste Vorsitzende des deutschen Zweig¬
vereins des Blauen Kreuzes, Oberstleutnant a. D. K. v. Knobels¬
dorf, der in Berlin und auf Reisen durch religiöse Vorträge
weithin wirkte, ist am 24. Januar 1904 gestorben. Neben ihm
hat bisher Pastor F i s c h e r in Barmen, der sich durch Gründung
alkoholfreier Erholungsstätten für Arbeiter besondere Verdienste
erworben hat, dem Verein die meisten Anhänger gewonnen.
Weiter wirkt in Deutschland noch seit 1889 der Alkohol¬
gegnerbund, der sich 1895 mit dem „Internationalen Verein
zur Bekämpfung des Alkoholgenusses“ verbunden hat und auf
dem Boden völliger Enthaltsamkeit steht.
Ferner erwähnen wir unter den für alle Stände und Berufe
bestimmten deutschen Vereinen den von Fräulein Ottilie Hoff-
mann am 17. Juli 1900 in Bremen gegründeten „Deutschen
Bund abstinenter Frauen, welcher die deutsche Frauen¬
welt gegen den Alkohol organisieren will und nach dem Vor¬
gang von allen 45 vereinigten Staaten von Nordamerika den
besonders wichtigen Zweck hat, beim naturwissenschaftlichen
Unterricht in den Staatsschulen auf die Einführung von systema¬
tischer Belehrung über die Wirkungen des Alkohols auf den
menschlichen Organismus hinzuwirken.
Unter den deutschen Enthaltsamkeitsvereinen für be¬
stimmte Stände sind zu erwähnen: a) der „Verein
abstinenter Aerzte“ des deutschen Sprachgebietes“, der
jetzt etwa 150 Mitglieder zählt; b) der „Verein abstinenter
Lehrer, welcher seinen Hauptstützpunkt in Schleswig-Holstein
und den Lehrer J. Petersen in Kiel zum Vorsitzenden hat;
c) der von Eisenbahndirektor de Terra begründete „Deutsche
Verein abstinenter Eisenbahner“; d) der vor etwa
D/a Jahren begründete „Deutsche Verein abstinenter
Kaufleute“, welcher seinen Sitz in Hamburg hat und über
120 deutsche Städte verbreitet ist und seine Grundsätze in den
„Kaufmännischen Abstinenz-Blättern“ vertritt; e) der „Verein
abstinenterPastoren“, der sich unter dem Pastor F. Lamp
in Plön im Jahre 1903 gebildet hat und im Januar 1904 53 Mit¬
glieder zählte. Als offizielles Organ dient dieser Vereinigung
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„Der Abstinent“; f) der „Deutsche Verein abstinenter
Studenten“, der im Juli 1902 zu Kiel gegründet wurde und
bestimmt ist, eine Zentralorganisation der seit 1898 an einzelnen
deutschen Hochschulen bestehenden akademischen Enthaltsam¬
keitsvereine zu werden (auf dem Bremer internationalen Kongress
gegen den Alkoholismus war u. a. der Verein abstinenter
Studenten in Berlin vertreten); g) Germania, Abstinenten-
bund an deutschen Schulen, der die abstinenten Schüler¬
vereine, welche in verschiedenen deutschen Städten entstanden
sind, zu einem Bunde zusammenfügen will und zur Zeit etwa
15 Ortsgruppen gebildet hat; h) der „Deutsche Ar beite r-
Abstinenten-Bund“ hat sich im April 1908 im Anschluss
an den Bremer Antialkoholkongress gebildet und in § 2 seiner
Satzungen als Zweck: „die Bekämpfung des Alkoholgenusses
und der Trinksitten innerhalb der Arbeiterschaft“ bezeichnet.
Der Zweck soll erreicht werden: a) durch Aufklärung über
die hygienischen, sittlichen und sozialen Schäden des Alkohol¬
genusses ; b) durch das persönliche Beispiel der Enthaltsamkeit
von allen alkoholischen Getränken ; c) durch Belehrung der
Jugend in eigens zu diesem Zwecke gebildeten Jugendabteilungen.
Als offizielles Organ dient dem Bunde seit dem 1. Sept. 1903
das neue Blatt „Der abstinente Arbeiter“. — Auf dem Bremer
internationalen Kongress gegen den Alkoholismus waren bereits
11 deutsche Arbeiter-Abstinenten-Vereine vertreten aus Altona,
Arnstadt, Berlin, Bremen, Dresden und Umgegend, Hamburg,
Kiel, Leipzig, Schleswig, Stettin, Stuttgart und 3 Wiener Arbeiter-
Abstinenten-Vereine.
Alle im vorstehenden aufgezählten Enthaltsamkeitsvereine
gehören zu den eifrigsten Förderern der deutschen Anti-Alkohol-
Bewegung und sind in der Lage, die Agitation gegen die
modernen Trink- und Tafelsitten in den verschiedensten Berufs¬
und Alterskreisen und namentlich auch in den weniger bemit¬
telten Volkskreisen zu verbreiten, an welche die Mässigkeits-
freunde bisher nur teilweise herankommen konnten. Deutsch¬
land besitzt in den Mitgliedern der Enthaltsamkeitsvereine eine
Phalanx entschlossener Männer und Frauen, welche die not¬
wendige Aenderung der Trinksitten vor allem bei sich selbst
im Bunde mit ihren Standes- und Berufsgenossen durchführen
und durch den eigenen Wandel ihrer Umgebung ein gutes
2 *
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Abhandlungen.
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Beispiel geben wollen. — Viele Hunderte von Mitgliedern des
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke
denken und handeln ebenso, und sind durch die Statuten des
Deutschen Vereins in keiner Weise genötigt, die Enthaltsamkeit
weniger hoch zu schätzen als die Massigkeit. Die Statuten des.
Deutschen Vereins und der Bezirksvereine bezeichnen als
Vereinszweck: „dem Missbrauch geistiger Getränke mit allen
zu Gebote stehenden Mitteln zu steuern". Unter den „Mitteln
gegen den Missbrauch“ ist Enthaltsamkeit im allgemeinen gewiss
ebenso wirksam, wie Massigkeit, und eigene Enthaltsamkeit
jedenfalls am wirksamsten.
Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke hat von Anfang an die Enthaltsamkeit nicht weniger
hoch geschätzt wie die Massigkeit. Der Hauptbegründer August
Lammers hat auf die im Jahre 1883 in Deutschland gleichzeitig
auftretenden Guttempler nicht nur zuerst aufmerksam gemacht,
sondern auch ihr Fortschreiten immer freudig begrüsst.
Ganz abgesehen von dem Wortlaut der Satzungen hat
man im Deutschen Verein von Anfang an die Enthaltsamkeit
ebenso wie die Massigkeit praktisch geübt und befürwortet.
Erst im letzten Jahrfünft sind nach und nach innerhalb des.
Ausschusses des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geist.
Getränke Streitigkeiten über den Mehrwert oder Minderwert
von Massigkeit oder Enthaltsamkeit aufgetaucht, die man durch
ein „Entweder — oder!“ und durch Umfragen bei einigen
deutschen Professoren entscheiden zu können glaubte. Der
Dresdner Bezirksverein stellte infolgedessen an den Vorstand
des Hauptvereins das Ersuchen: dass die im Deutschen Verein
gegen den Missbrauch geistiger Getränke stark angewachsene
abstinente Richtung sowohl in den „Mässigkeitsblättern“ des
Hauptvereins mehr zu Worte kommen als auch durch abstinente
Mitglieder im Hauptvorstand Sitz und Stimme erlangen möge.
Der Vorstand des Deutschen Vereins hat in loyalster Weise
beschlossen, dem Wunsche des Dresdner Bezirksvereins zu
entsprechen. Der neue Geschäftsführer des Deutschen Vereins,
Herr J. Gonser, hat sich durch seine persönliche Vermittelung in
Dresden und Berlin alle selbständig und versöhnlich arbeitenden
deutschen Bezirksvereine und Vertreterschaften zu besonderem
Danke verpflichtet. Wir werden nun im Dresdner Bezirksverein
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Böhmert, Programme u. Ziele dei älter, u. neuer, deutschen Bewegung etc. 21
fortan mit dem deutschen Hauptverein wieder ebenso freudig
Zusammenarbeiten wie früher und stellen an alle Freunde der
Massigkeit und Enthaltsamkeit das Ersuchen, bei ihrer Mitarbeit
an unserer Zeitschrift unnötige Streitigkeiten mit nahe ver¬
wandten Richtungen zu vermeiden und immer mehr an die
Sache als an die Personen zu denken. Die Enthaltsamen haben
ebensoviel Veranlassung wie die Massigen sich untereinander
zu vertragen, denn unter den Blaukreuzlern sind schon
Absonderungen von einander vorgekommen und unter den
sozialistischen abstinenten Arbeitervereinen ebenfalls. Man sollte
bei allen rein humanen Bestrebungen von der kirchlichen oder
politischen Parteistellung lieber absehen und Ansichten über
die idealste Kirchen- oder Staats- oder Gesellschaftsform lieber
in kirchlichen, politischen und philosophischen Fachzeitschriften,
als in antialkoholischen Zeitschriften und Vereinigungen aus-
tauschen. Wir Freunde der Massigkeit und Enthaltsamkeit
sind verpflichtet, in unserem schwierigen Kampfe mit Millionen
Feinden und Interessenten stets mehr die einigenden als die
trennenden Punkte zu betonen und wohl zuweilen getrennt zu
marschieren, aber vereint zu schlagen!
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Abhandlungen.
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Hnskeln oder Nerven?
Von Justus Gaule in Zürich.
Das klingt so ganz physiologisch dieser Titel und er ist
es doch gar nicht. Die Frage Muskel oder Nerven beschäftigt
die ganze Menschheit, sie erfüllt die Politik, sie bildet einen
grossen Teil dessen, was wir die soziale Frage nennen, sie ist
bestimmend in der Ethik und vielem andern. Doch ich will
mich näher erklären. Mit Muskeln und mit Nerven hat uns
die Natur ausgestattet. Beide können wir durch die Uebung
weiter entwickeln und diese Entwicklung füllt den grössten
Teil dessen aus, was wir Erziehung nennen. Nach welcher
Richtung soll nun die Erziehung sich wenden?
Das ganze Mittelalter ist erfüllt von der Entwicklung der
Muskelkraft. Unter dem Einfluss jener Tradition stehen wir
auch heute noch. Sollen wir dabei bleiben? Wir lesen, wie
die Ritter ein Schwert schwangen, das andere Sterbliche kaum
zu heben vermochten, wie der gewaltige Lanzenstoss den
Gegner vom Pferde warf oder wie das Schild von dem Speer
durchdrungen ward. Die Dichter preisen uns das als die
höchste Entfaltung der Manneskraft, der Tapferkeit, der Tugend.
Und wir glauben das. Allmählich aber, wenn wir die Ge¬
schichte verfolgen, bemerken wir, wie ein anderes Ideal an die
Stelle tritt. Die Neuzeit kommt und mit ihr die Schusswaffe,
die Erfindung des Pulvers, die als entscheidend für die Grenze
zwischen Mittelalter und Neuzeit angesehen wird. Nicht mehr
die Körperkraft des Mannes ist es, welche den Gegner tötet,
sondern die Kraft des Pulvers, welches das Geschoss treibt.
Die Aufgabe des Schützen besteht darin, die Kugel zu lenken,
zu zielen. Mit andern Worten sein Auge, sein Gehirn, seine
Nerven sind an die Stelle seiner Muskeln getreten. Auch der
Go^ 'gle
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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Schwächste kann den Stärksten töten, wenn er die ruhigeren,
sichereren Nerven besitzt. Und immer mehr macht sich diese
Nervenkraft im Kriege geltend, immer mehr werden die Nerven
von Hunderten, Tausenden, Millionen Menschen durch ein
einziges Gehirn zusammengefasst im Kampfe. Das ist modernes
Heldentum. Nun aber beginnt die Ablösung der Muskeln durch
die Nerven sich auch im Frieden geltend zu machen. Im Grunde
ist die Angst vor der Maschine, die in unsern Zeiten die Arbeiter¬
kreise bewegt, ja nichts anderes. In alter Zeit da trat die
Muskelkraft des Ochsen direkt das Weizenkorn aus seiner
Hülse. Er drosch. Dann trat ein Werkzeug, der Dresch¬
flegel an seine Stelle. Aber noch wurde der geschwungen von
der Muskelkraft des Menschen. Aber dann kam die Dresch¬
maschine und machte auch dem ein Ende. So geht es auf
einem Gebiete nach dem andern. Schon beginnt man unser
Zeitalter das Maschinenzeitalter zu nennen und viele fürchten,
den Menschen ganz in den Hintergrund gedrängt zu sehen neben
der Maschine. Eine Zeit lang dachte man, vor etwas kompli¬
zierten, abwechslungsreichen Bewegungen würde die Maschine
halt machen. Aber es werden immer neue, immer ingeniösere
Maschinen erfunden. Schon webt der Jacquardstuhl die feinsten
Muster, schon stickt die Stickmaschine, schon ersetzt das
Automobil die Pferde. Und es ist kein Wunder. Wo die
Maschine und der Mensch konkurrieren, muss die Maschine
siegen. Worin aber konkurrieren sie, was ist ihnen gemeinsam
in der Leistung ? Das ist die Bewegung, erschwert durch eine
gewisse Last, das was wir messen durch die Hebung eines
Gewichts auf eine Höhe. Alle sogenannten mechanischen
Leistungen lassen sich auf diese Einheit zurückführen, das
heisst, sie setzen sich zusammen aus Komplikationen dieser
Einheit. In Bezug auf alles, was aus dieser Einheit sich zu¬
sammensetzen lässt, muss die Maschine siegen. Denn sie
gewinnt die Kraft, welche diese Einheit leistet, durch die Oxy¬
dation der Kohle und der Mensch gewinnt sie durch die Oxy¬
dation seiner Muskeln. Die Muskeln aber kann der Mensch
nur aufbauen durch Genuss von Kohlenhydraten, Fetten. und
Eiweisskörpern. Diese Stoffe aber sind immer teurer als Kohle
und sie können nicht mehr Kraft leisten als diese. Wie tief
der Mensch auch seine Lebenshaltung herabdrücken mag, mit
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wie wenig er leben kann, immer bleibt sein Leben teurer als
die Kohle. Es muss teurer bleiben, gemäss der auf unserer
Erdoberfläche herrschenden Bedingungen. Selbst wenn ein
Tier nur Hafer und Heu frisst wie das Pferd, so muss es
doch dem Automobil weichen, welches Benzin frisst, eine
Kohlen- und Wasserstoffverbindung. Bei den Lastwagen-Auto¬
mobilen kann man nicht sagen, dass das mit Rücksicht auf
die Schnelligkeit oder die Mode geschieht, es geschieht eben
mit Rücksicht auf die Billigkeit.
Ist das nun ein Unglück für die Menschheit? Und gibt
es keinen Ausweg aus diesem Unglück? Wenn die Muskel¬
leistung der Menschen mit Sicherheit ersetzt werden kann
durch die Kraftleistung der Maschine und wenn diese Kraft¬
leistung billiger, das heisst zweckmässiger durch die Oxydation
der Kohle oder eine andere physikalisch-chemische Kraftquelle
besorgt werden kann, als durch die Muskeln des Menschen,
wird da nicht die Majorität der Menschen auf den Aussterbe¬
etat gesetzt? Mir scheint es nicht. Es tritt bloss eine Ver¬
schiebung in den Leistungen des Menschen ein. Die Muskel¬
kraft ist eben nicht die einzige Leistung, deren er fähig ist, er
besitzt daneben auch die Nerven. Und in der Beziehung kon¬
kurriert die Maschine nicht mit ihm, im Gegenteil, sie dient
ihm. Auf dem Automobil sitzt an der Bremse, an dem Lenk¬
apparat der Mensch, welcher die Maschine steuert. Auf dem
Dampfer, auf dem Eisenbahnzug, die ihre Bewegung den
Maschinenkräften verdanken, herrscht der Kapitän oder der
Führer. Mit andern Worten die eigentliche Kraftentwicklung
überlässt der Mensch den anorganischen Kraftquellen; aber
seinen Nerven allein ist es Vorbehalten, diese Kräfte zu lenken
und zur Wirksamkeit zu bringen. Und dann wollen doch alle
diese Maschinen, welche auf der Oberfläche der Erde arbeiten,
welche sie, uns dienend, umgestalten, nicht bloss gelenkt, sie
wollen auch gebaut, geplant, erfunden sein. Aber das kann
doch bloss das Gut weniger Menschen sein, ein solches Planen
und Erfinden erfordert doch eine gewisse Bildung. Eine ge¬
wisse Bildung erfordert es schon, aber warum sollte diese
Bildung nur das Gut weniger Menschen sein? Wenn man in
Amerika durch Fabriken geht und die Menge der arbeitsparen¬
den Werkzeugmaschinen da betrachtet, so erhält man in der
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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Regel die Auskunft: „die meisten der Verbesserungen an unseren
Maschinen verdanken wir den Arbeitern, die daran arbeiten“.
Indem die Arbeiter die Maschinen bedienten, kamen sie also
auf den Gedanken, wie das, was die Maschine leistet, auf eine
vorteilhaftere Art aus den Kräften, die die Maschine bewegen,
gewonnen werden könne. Dazu gehört aber eine gewisse Ein¬
sicht in die Natur dieser Kräfte, in das, was dieselben leisten
können. Was ist das anders, als was wir Bildung nennen?
Was aber hat nun diese Betrachtung mit der Aufgabe
dieser Zeitschrift zu tun?
Vor kurzem wurde ich in einer melancholischen Weise an
diesen Zusammenhang erinnert. Ein junger Freund von mir,
Dr. R. Wlassak, besuchte das Gebiet von Mährisch-Ostrau und
entwarf eine Schilderung von dem dort herrschenden Alko¬
holismus. Wlassak sagt in seiner Beschreibung folgendes: An
der mährisch-schlesischen Grenze, in der Nähe der Orte Mäh¬
risch- und Polnisch-Ostrau, Witkowitz und Karwin befinden
sich ausgedehnte Kohlenlager, die seit langem intensiv ausge¬
beutet werden. Neben den Kohlenbergwerken hat sich eine
grossartige Eisenindustrie entwickelt, die besonders in Witko¬
witz ausgedehnte Anlagen aufzuweisen hat. Das ganze Gebiet
bildet heute eines der grössten Industriezentren Oesterreichs.
Nach einigen Bemerkungen über die sozialpolitischen Zustände
dieses Gebietes fährt Wlassak fort: Dass die Lebenshaltung
der Arbeiter dieses Gebietes eine äusserst tiefe und traurige
ist, kann nicht Wunder nehmen. Wie tief sie ist, erhellt am
besten aus der Tatsache, dass einzelne Unternehmer sich gegen
eine amtliche Erhebung, die sich auf die gesamten Lebensver¬
hältnisse der Arbeiter beziehen sollte, auf das äusserste wehrten.
In allen Schilderungen der Ostrauer Verhältnisse nehmen die
Klagen über den Alkoholismus der Arbeiter einen breiten
Raum ein. Von allen Seiten wird zugestanden, dass der Alko¬
holismus hier wie eine Seuche wütet. Nun geht Wlassak nach
Mährisch-Ostrau, um diesen Alkoholismus zu studieren. Hören
wir, was er von dort berichtet. „An einem Wochentage des
Monat Februar kam ich in Mährisch-Ostrau an. Das äussere
Bild, das die Stadt besonders in ihren äusseren Teilen dar¬
bietet, ist das typische eines wachsenden Industrieortes. Zur
Arbeitszeit sind die Strassen wenig belebt. Die Leute, denen
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man begegnet, sind städtisch gekleidet. Neben Gebäuden, die
mit einem gewissen provinzialen Prunk ausgestattet sind, stehen
alte, schmutzige Häuser. Die Schaufenster der Kaufläden zeigen
in bunter Mannigfaltigkeit, meist ohne alle Spezialisierung, die
Dinge des einfachen Lebensbedarfs. Doch fällt eines sofort
auf: in den Fenstern fast keines Kaufladens fehlt der Genius
loci, eine Kollektion von Schnapsflaschen zum Teil in den
absonderlichsten Formen. Eigentliche Schenken bemerkt man
in den neueren Strassen nur wenige. In der inneren Stadt,
besonders unter den Lauben, ist dies anders. Hier reiht sich
dichtgedrängt Schenke an Schenke. Tagsüber stehen sie fast
leer und selbst an dem Abend eines Wochentags sind sie für
gewöhnlich nur spärlich besucht. Schon könnte man glauben,
dass es eine Uebertreibung ist, wenn man diese Gegend als
einen Herd des schwersten Alkoholismus bezeichnet. Der Abend
eines Auszahlungstages der Bergarbeiter belehrt bald eines
anderen. Stellt man sich in der Nähe eines Schachtes auf, so
sieht man folgendes: Scharenweise begeben sich die entlohnten
Bergarbeiter, häufig von ihren Frauen und Kindern, die sie
erwartet haben, begleitet in die umliegenden Schenken, die
plötzlich ganz gefüllt sind. Hier entwickelt sich nun ein leb¬
haftes, aber eigentlich nicht lärmendes Treiben. Die Leute
sitzen plaudernd bei einander, die 1 / 8 oder 1 j i Liter-Flasche mit
Schnaps vor sich. Ehepaare sitzen vor einer gemeinsamen
Flasche, die dann freilich auch öfters neu gefüllt wird. Die
Frauen trinken aber immerhin merklich weniger als die Männer.
Eine kleine Minderzahl, höchstens 1 / 10 der Anwesenden, trinkt
Bier. Doch ist dies oft mit Schnaps gemischt. Man kann es
häufig sehen, dass in ein grosses Glas Bier ein bis zwei Gläs¬
chen Rum hineingegossen werden. Wie gewöhnlich dies ist,
erhellt daraus, dass die Sprache der Schenke einen eigenen
Namen für dieses Gemisch hat, es heisst dies „Bier mit Speck“.
Besonders jüngere Bergleute, die überaus zahlreich unter den
Gästen vertreten sind, scheinen dieses Getränk zu lieben.
Gegessen wird bei dieser Gelegenheit in den Schenken so gut
wie niemals etwas. Es handelt sich also lediglich um die Be¬
friedigung des Bedürfnisses nach Alkohol, um die selbstver¬
ständliche Gewohnheit, wenn die vorhandenen Mittel es erlauben,
nach dem Verlassen der Arbeit oder auch zu Beginn derselben
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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Schnaps zu trinken. Man kann auch nicht sagen, dass es der
Wunsch nach Geselligkeit ist, der in diesem Fall die Leute in
die Schenke treibt, denn sie verweilen hier nur ganz kurze
Zeit, die Schenken sind bald wieder nur spärlich besucht.
Nicht nur die Schenken aber haben sich nach der Lohn¬
zahlung gefüllt, nicht weniger Zuspruch finden die Buden der
„Gemischtwarenhändler“, die in der Nähe der Schachte liegen.
Hier darf nach dem Buchstaben des Gesetzes freilich kein
Schnaps getrunken werden. Dagegen ist der Verkauf in „ver¬
schlossenen“ Flaschen jedem Kaufmann freigestellt, es bedarf
hierzu keiner Konzession. Ist der Kaufmann nun besonders
gewissenhaft oder ist er eben mit der so und so vielten Ordnungs¬
strafe wegen unbefugten Ausschanks belegt worden, so muss
der Käufer mit der Schnapsflasche vor die Tür. Rasch ist der
Verschluss der Flasche — eine Papiermarke — entfernt, mit
der einen Hand hält er noch die Türklinke des Ladens, mit
der andern führt er die Flasche an den Mund. Ohne abzu¬
setzen wird der Inhalt hinuntergegossen, die Tür geöffnet und
eine neue Flasche geholt. Das Bild ist bedeutsam, durch nichts
verhüllt macht sich hier der Trieb nach Betäubung geltend.
Sehr interessant ist das Bild des Sonntag vormittags.
Die Stadt ist da gefüllt mit Leuten aus der Umgebung, die
ihre Einkäufe besorgen, die Schenken und zum Teil auch die
Kirche besuchen. Besonders traurig mutet es an, in den Kauf¬
läden zu sehen, wie die Arbeiterfrauen, die ihren Wochen¬
bedarf an Lebensmitteln holen, auch beträchtliche Mengen von
Schnaps mitnehmen. Auch junge Burschen trifft man in den
Läden, die sich irgend eine besondere Schnapssorte — sehr
beliebt scheint die Marke „Kaiserbirnschnaps“ zu sein — in
einer grösseren Menge kaufen. Auch die völlig besetzten
Kneipen sind zum grössten Teil mit jüngeren Leuten gefüllt.
Nicht selten sieht man junge Burschen, die einen Einkauf be¬
sorgt, z. B. ein Paar armselige baumwollene Kleidungsstücke
gekauft haben, in die Kneipe wandern und dort mit dem Paket
unter dem Arm schliesslich auf einer Bank volltrunken einschlafen.
Mit dieser Skizzierung der Trinksitten der Schenke und
der Strasse ist aber das Bild der Alkoholisierung der Arbeiter
von Ostrau nicht erschöpft. Kaum weniger wichtig ist die
Gewohnheit, während der Arbeit und im Hause Alkohol zu
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konsumieren. Ein Gang durch die Schenken an einem Samstag
nachmittag oder an einem Sonntag belehrt darüber, wie viel
Schnaps nach Hause geholt wird. Ueberall trifft man Frauen,
Kinder oder junge „Schlepper", die den Familienbedarf ein¬
kaufen. Wie tief gewurzelt die häusliche Gewohnheit, Schnaps
zu trinken, ist, ersieht man am besten daraus, dass viele
Arbeiterfamilien bei dem Kaufmann, bei dem sie ihre Lebens¬
mittel einkaufen, zwei „Bücher“ haben, in welchem die auf Kredit
genommenen Waren eingetragen werden, eines für die eigent¬
lichen Lebensmittel, ein zweites hauptsächlich von dem Mann
benutztes für den Schnaps. Mit Schnaps wird denn auch der
Tag begonnen. Das gewöhnliche Frühstück der Ostrauer
Arbeiter ist nämlich mit „Kvit“ (ein Teil 96proz. Alkohol und
zwei Teile Wasser) versetzter schwarzer Kaffee. Auch die
Frauen und Kinder geniessen das. Ein Ostrauer Arzt teilte
mir mit, dass ein Lehrer in Lassy — ein kleiner Ort in der
Nähe von Ostrau in Schlesien — die Kinder seiner Klasse
befragte, was sie zum Frühstück bekämen. Von den 80 Kindern
bekamen nur zwei Milchkaffee, alle andern mit Rum oder
„Kvit“ versetzten Kaffee oder „Tee“.
Welche Folgen, fragt Wlassak weiterhin, hat diese furcht¬
bare Alkoholisierung der Ostrauer Bevölkerung? Die erste und
wichtigste ist wohl die, dass im Laufe der Jahre eine ungeheuere
Zahl von Menschen im engeren Sinne des Wortes trunksüchtig
werden. Zahlenmässige Angaben können (aus später von Wlassak,
nicht von mir, zu erwähnenden Gründen) nicht gemacht werden.
Aber eine Reihe von Tatsachen spricht schon ohne dies eine
beredte Sprache. Ein sehr erfahrener alter Arzt mit grosser
Praxis in der Arbeiterschaft erzählte Wlassak, dass es der ge¬
wöhnliche Gang der Dinge ist, dass die Leute, je länger sie den
Ostrauer Trinksitten ausgesetzt sind, desto mehr und mehr
einen Genuss kennen: die Alkoholisierung. Derselbe Arzt
erzählte eine kleine Episode, die das gut kennzeichnet.
Eine Arbeiterfrau in der Nähe von Ostrau, war in die Stadt
gegangen, um ihren Wochenvorrat an Lebensmitteln einzu¬
kaufen, wie dies dort üblich ist. Absichtlich oder unabsichtlich
hatte sie es aber unterlassen, die Schnapsration für den Mann
mitzubringen. Als sie ohne diese nach Hause kam, geriet der
Mann in so sinnlose Wut, dass er der Frau die Lebensmittel,
Original frnrri
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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für die viele Kronen (angeblich 32) ausgelegt waren, entriss
und sie sämtlich auf die Strasse schüttete. Man würde aber
fehlgehen, wenn man meinte, dass nur ältere Leute in diesem
Grade „süchtig“ werden. In verschiedenen Schenken wurden
noch jugendliche Stammgäste gezeigt, die Tag für Tag ihre
4—6 Seidel d. h. 1,4 bis 2,1 Liter Schnaps in der Kneipe
trinken. Es kann da nicht Wunder nehmen, wenn man hört,
dass im Falle von Geldmangel das Trinkfen von denaturiertem
Spiritus, der mit etwas Zucker vermengt wird, durchaus keine
Seltenheit ist. Das allerschlimmste ist aber, dass nicht selten
ganze Familien völlig der Trunksucht anheimfallen. In Gemein¬
schaft mit dem Gemeindearzt besuchte Wlassak in Elgosch —
dem kleinen Ort in der Nähe von Ostrau — ein Haus, das aus¬
schliesslich von Bergarbeitern bewohnt wird. Der Arzt wollte
dort einen Patienten, den er an einem Anfall von Delirium
tremens behandelt hatte, besuchen. Die Szene, die die Wohnung
dieses Mannes darbot, war das schlimmste, was Wlassak von der
vernichtenden Wirkung des Alkohols gesehen hatte. In einer
Umgebung von nicht nur grenzenlos ärmlichem, sondern auch
grenzenlos vernachlässigtem Hausrat tanzten um den Arzt und
Wlassak, schwer betrunken, schreiend und gestikulierend fünf oder
sechs Personen: Mann, Frau und Kinder. Wlassak bemühte sich
mit Hilfe seines Führers herauszubekommen, wie viel Insassen
diese Wohnung habe. Es war unmöglich, eine vernünftige Ant¬
wort zu bekommen. Beim Verlassen des Hauses stellte er an
den Arzt die Frage, wie viele von den 20 Familien des Hauses
er wohl für trunksüchtig halte. Ohne Zögern antwortete er:
„Etwa 18“.
Genug von diesem Nachtbild. Wlassak erzählt noch vieles,
was es vervollständigt, aber ich will ihn ja nicht abschreiben.
Und die Vorstellung von dem unglücklichen Zustand, in dem
diese Gruppe von Menschen lebt, kann nicht mehr gesteigert
werden. In meinen Nerven wenigstens hat diese letzte Szene,
die er erzählt, lange nachgezittert.
Wenn wir uns nun als Menschenfreunde der Frage zu¬
wenden, „was tun, um diesem Unglück zu helfen, um diesen
Zustand zu verbessern“ so ist die erste Bedingung der Lösung
die Erkenntnis, was hier eigentlich vorliegt. Mir wenigstens
als Vertreter der Wissenschaft ist eine causale Heilung des
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Uebelstandes immer als die einzige wirkliche erschienen. Was
also liegt vor, frage ich. Nun die Schäden, die der Dämon
Alkohol anrichtet, scheint die nur zu klar liegende Antwort.
Gewiss der Dämon Alkohol ist das Mittel, durch das die Schäden
angerichtet werden, darüber kann kein Zweifel sein. Die Zer¬
rüttung der Gesundheit und der Vermögensverhältnisse der
Arbeiter, das Elend der Familien, der Stumpfsinn, die Vertierung
der heranwachsenden Jugend, das fühlt sich nur zu zweifellos auf
den Alkohol zurück. Aber ist der Alkohol nicht blos das Mittel,
sondern in letzter Instanz auch die Ursache dieses Unglücks?
Das ist nicht so sicher, wenn man es wissenschaftlich betrachtet.
Die Form, in der der Alkohol der Ostrauer Arbeiterschaft dar¬
geboten wird, ist nicht eine besonders verführerische. Alkohol
und Menschen sind doch überall dieselben. Wenn nicht die
Form in Ostrau eine besondere ist, warum ist denn das Schicksal
der Ostrauer Arbeiterschaft nicht ein ganz verbreitetes ? Es ist
auch ein verbreitetes, wird man sagen, überall in der Welt findet
man Trinker und Elend, das die Trunksucht veranlasst. Ja
überall in der Welt findet man Menschen, die eine gewisse
Schwäche gegenüber dem Alkohol haben, es steckt eben von
diesem Teufel, der im Alkohol sitzt, auch etwas in dem Menschen
drin, und die beiden wollen Zusammenkommen. Aber überall
in der Welt ist es doch nur ein kleiner Bruchteil der Mensch¬
heit, der diese Schwäche hat, die anderen Menschen wider¬
stehen ihr und erhalten sich und ihren Kindern das Lebensglück.
Warum nicht in Ostrau? Sind da die Menschen anders organisiert?
Das müsste man denn doch untersuchen. Ja das sind die be¬
sonderen Lebensverhältnisse, die dort herrschen, höre ich sagen.
Ja da müssen wir eben herausbringen, was an diesen Lebens¬
verhältnissen besonderes ist. Wenn wir das nicht können, wenn
wir bei einer grossen Gruppe von Menschen, bei der die indi¬
viduellen Organisationen sich ihrer Verschiedenheit nach aus-
gleichen, die sozial, klimatisch, zeitlich in denselben Bedingungen
leben, die eine ganz gleichartige Beschäftigung haben, wenn
wir da die Besonderheit, das Wesentliche der Lebensverhältnisse
nicht ergründen können, dann müssen wir es überhaupt auf¬
geben, Sozialreformer spielen zu wollen.
Was ist nun die Beschäftigung dieser Bergwerksarbeiter?
Ja sie hacken und picken von den Wänden der Gänge im
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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Bergwerke die Steinkohle los, sie schaufeln dieselbe auf Karren
zusammen und sie rollen die Karren bis zum Förderschacht
hin. Eine rein muskulöse, mechanische Arbeit ist das, man
kann sie einfach in Gestalt von so viel Kilogrammmetern oder
Kalorien, die pro Tag geleistet werden, ausdrücken. Und was
ist ihre Lebensführung? In den Zwischenräumen der Arbeit
suchen sie diejenige Menge von Kohlenhydraten, Eiweisskörpern
und Fetten zu geniessen, die an Geldwert am billigsten ist und
die sie in Muskelsubstanz umwandeln können. Die Erholung
und der Schlaf gibt ihnen dann die Zeit, in der diese Um¬
wandlung der aufgenommenen Nahrung in Material, das zur
Arbeit bereit ist, geschieht. In Wirklichkeit haben wir hier
nichts vor uns als Maschinen einer besonderen Art, die die in
den Nahrungsmitteln vorhandenen Kräfte in Arbeit umzusetzen
gestatten. Und was suchen diese Menschen in dem Alkohol?
Betäubung suchen sie. Wlassak spricht es aus und es kann
auch kein Zweifel darüber sein, nach dem Gesehenen, das
er schildert. Sie suchen in dem Alkohol keinen Genuss, denn
sie trinken sogar denaturierten Spiritus, sie suchen keine Ge¬
selligkeit, denn sie verlassen die Kneipe alsbald wieder. Sie
wählen das Getränk, den Weg, der am schnellsten zur Be¬
trunkenheit, zur Betäubung führt. Denn sie wollen vergessen,
dass sie Menschen sind. Dass sie Menschen sind, und auch
ein Gehirn haben, ist ihnen nur eine Qual. Zu ihrer Arbeit,
zur Umsetzung der Nahrung in Muskelarbeit brauchen sie das
Gehirn nicht. Und das Gehirn hat einige unangenehme Eigen¬
schaften. Zu denen gehört die, • wenn auch noch so unvoll¬
kommene Voraussicht der Zukunft, die es enthüllt. Dass das
Morgen, das Uebermorgen schlechter sein könne wie das Heute,
dass die Kraft d. h. die Fähigkeit der Umsetzung der Nahrungs¬
mittel in Muskelarbeit mit dem Alter abnehme, muss vergessen
werden; dass die Eigenschaft der Menschen, andere Menschen
zu erzeugen ihn in Beziehung bringe zu einer Frau, zu Kindern,
zu einer Familie muss vergessen werden. Und damit stimmt auch
was Wlassak erzählt, vom Verhältnis der Arbeiterschaft zu den
Unternehmern in diesem Revier. Explosionsartig, sagt er,
entlade sich von Zeit zu Zeit, der angesammelte Groll in un¬
genügend vorbereiteten und organisierten Arbeitseinstellungen.
Das Gehirn mit seiner Voraussicht hat eben mit diesen Arbeits-
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einstellungen wenig zu tun. Desto mehr die blosse Entfaltung
der Muskelkraft in den begleitenden Ruhestörungen. Ob man
die Spannkräfte der Nahrungsmittel im Abhacken von Stein¬
kohle oder im Totschlägen von Nebenmenschen verbraucht,
bleibt sich, wenn das Gehirn ausser Spiel bleibt, schliesslich
gleich. Und auf der anderen Seite wird auch der Unternehmer¬
standpunkt, wenn auch nicht sympathisch, so doch begreiflich.
Ihm sind die Leistungen der Arbeiterschaft nur mechanische
Leistungen. Wer wird es ihm verdenken, wenn er sich die
am billigsten arbeitenden Maschinen verschafft ? Die Konkurrenz
nötigt ihn ja dazu. Wenn sie es heute noch nicht tut, wird
sie es morgen tun. Und wie die Maschine die Spannkräfte der
Kohle durch Oxydation gewinnt, so der Arbeiter die der Kohlen¬
hydrate, Eiweisskörper und Fette — nichts weiter.
Aber muss es dabei bleiben? Muss der Arbeiter auf dem
Standpunkt eines blossen Muskeltiers stehen bleiben? Das ist
die Frage, die allein eine Besserung in Aussicht stellt. Der
Alkohol ist es, welcher den verderblichen Circulus vitiosus
bedingt, denn er tötet gerade die Kraft ab, welche den Arbeiter
über diesen Standpunkt erheben könnte, die des Gehirns.
Wlassak zitiert ein Wort des früheren sozialdemokratischen
Abgeordneten für Ostrau E. Berner. Derselbe erzählt in einer
Artikelserie über die Witkowitzer Verhältnisse im „Metall¬
arbeiter“ von den Arbeitern der Kupferwerke: „Um die Arbeiter¬
bewegung kümmern sie sich nicht, das einzige Schlagwort, das
sie kennen, ist: nach der Schicht einen „Bittern“. Die Arbeiter¬
bewegung, das ist der Kampf, den der Arbeiter führt, um mehr
Lohn, um mehr von dem Schönen, das das Leben darbietet,
der Kampf, den das Hirn führt, um die Erhebung über den
Standpunkt des blossen Muskeltiers. Wie diese Sehnsucht
nach dieser Erhebung auch in dem Ostrauer Arbeiter ursprünglich
steckt, und wie sie allmählich verloren geht, lehrt auch die Er¬
zählung, die ein sehr erfahrener, alter Arzt Wlassak machte:
„Wenn die jungen Burschen von ihrem Dorle nach Ostrau
kommen, aus Verhältnissen, denen gegenüber diese „Stadt“
etwas höchst anziehendes ist, erwächst zunächst der Wunsch
nach allerhand herrlichen Genüssen und Dingen, vor allem
natürlich nach besserer Kleidung. Je älter die Leute werden,
desto mehr geht dies verloren, sie vernachlässigen ihr Aeusseres,
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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sie kennen nur noch eines, die sinnlose Gier und Sucht nach
Alkohol.
Mit wem führt nun der Arbeiter diesen Kampf um mehr
Lohn ? Mit dem Unternehmer. Schritt für Schritt zeigt uns die
Geschichte der Arbeiterbewegung, wie dabei der Arbeiter Vorteil
um Vorteil errang, wie er mehr und mehr von den Gütern
des Lebens erstritt. Oder handelt es sich dabei bloss um eine
andere Bewertung der Muskelarbeit, den Ertrag der Kalorien,
die der Arbeiter leistete und die vorher in die Tasche des
Unternehmers floss und jetzt diesem entrissen wird? Handelt
es sich nicht auch um einen Kampf der Arbeiter mit sich selbst,
um einen Kampf des Gehirns mit den Muskeln? Um das zu
verstehen, müssen wir uns einmal auf die andere Seite der
Welt begeben, nach Amerika. Schon längere Zeit ist die
amerikanische Konkurrenz dem europäischen Fabrikanten lästig.
Zuerst handelte es sich nur um den Export nach Amerika, bei
dem der Wettbewerb mit dem Amerikaner eintrat. In diesem
Wettbewerb waren Wind und Sonne nicht auf beiden Seiten
gleich verteilt. Hohe Schutzzölle schützten den Amerikaner
und machten es unmöglich, europäische und amerikanische
Arbeit mit dem gleichen Massstab zu messen. In neuester Zeit
aber droht sich die Richtung des Verkehrs umzukehren. Der
Amerikaner beginnt nach Europa zu exportieren und der euro¬
päische Fabrikant fürchtet den Wettbewerb in seinem eigenen
Lande, er versucht Zollschranken aufzurichten, die ihn schützen,
statt solche, die ihm schaden, einzureissen. Das mag gehen für
ein paar Artikel, die Amerika unter besonders günstigen Be¬
dingungen hervorbringt, so tröstete man sich. Da dröhnte wie
ein Paukenschlag ein Ereignis in die Ohren, das die Ein¬
leitung einer neuen Epoche in dem industriellem Wettbewerb
der alten und neuen Welt bildet. Die englische Regierung
schloss bezüglich des Baues einer Brücke mit amerikanischen
Fabrikanten statt mit englischen den Kontrakt ab. Das Roh¬
material einer solchen Brücke ist Eisen und England galt seither
für das Land, in dem Eisen am billigsten hervorgebracht werden
könnte. Aber das Rohmaterial spielt in dem Preise einer
Brücke die geringste Rolle. Es ist die Verarbeitung, der Lohn
der Werkleute, welche das Eisen bearbeiten, die den Preis be¬
dingen. Und hier an der gleichen Aufgabe, nicht geschützt
Alkoholfrage. 3
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durch einen Zoll, schlägt der amerikanische Arbeiter den eng¬
lischen Arbeiter, der in Bezug auf die Bearbeitung des Eisens
als der erfahrenste und geschulteste in der alten Welt gelten
kann. Nicht dass der Lohn des amerikanischen Arbeiters
geringer ist als der des englischen. Jede Einsichtnahme der
tatsächlichen Verhältnisse besagt uns das Gegenteil. Aber
für denselben Lohn muss bei dem Bau einer Brücke ein
Amerikaner mehr Arbeit verrichten als ein Engländer. Woher
kommt das? Es muss eine andere Arbeit sein, eine andere Ver¬
wendung seiner Zeit und Leistungen. Als man zuerst in Europa
hörte, dass in Amerika ein Mann zwölf Webstühle bediene, wollte
man das nicht glauben. Welcher Abstand gegen den alten Hand¬
webstuhl! Schritt für Schritt hat die Maschine dem Menschen die
beim Weben notwendigen Bewegungen abgenommen und zuletzt
ist der Mensch ganz entbunden von der mechanischen Leistung
beim Weben, nur noch sein Nervensystem wird gebraucht,
um das Weben zu überwachen. Das ist die Charakteristik
des amerikanischen Arbeiters, er ist ein Nervenmensch ge¬
worden. Nicht mehr seine Muskeln rivalisieren mit der Maschine
um die Kraftleistungen, nein er beherrscht die Maschine und
er verbessert sie, damit sie ihm rascher diene. Jetzt ist der
Moment gekommen, wo die beiden Typen „der Muskel- und
der Nervenmensch“ sich miteinander .messen. Schon zeigt
sich, wie die Wagschale sich zu Gunsten der Nervenmenschen
neigt, und sie muss es immer mehr, je mehr sich unsere Ein¬
sicht in die Kraftquellen vertieft. In dem Masse als -dies ge¬
schieht, wird es dem Nervenmenschen gelingen für immer neue
Kraftleistungen Maschinen zu erfinden und diese Maschinen
müssen immer billiger arbeiten als Menschen.
Wie aber ist der amerikanische Arbeiter ein solcher
Nervenmensch geworden? Die Engländer haben eine Kommission
nach Amerika geschickt, um das zu erforschen und dieselbe
kam zu dem Schlüsse, der amerikanische Arbeiter wohnt besser,
kleidet sich besser, nährt sich besser wie der englische. Das
meint, er schätzt Genüsse, die das Nervensystem gewährt,
höher als der englische. Denn schöne Wohnung, gute Kleidung
und eine Ernährung, die über die Zufuhr eines gewissen Kost-
masses hinausgeht, sind Genüsse des Nervensystems und sie
bedeuten, dass dieses Nervensystem anspruchsvoller als das
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Gaule, Muskeln oder Nerven.
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des englischen Arbeiters ist. Sie bedeuten aber auch, dass
dasselbe vor Schädlichkeiten bewahrt wird. Die Temperenz-
vereine in Amerika weisen nicht mit Unrecht auf die alkohol¬
freie Luft des Lebens in Amerika hin, um den Erfolg des
amerikanischen Arbeiters zu erklären. Von jenen Unglücklichen
in Mährisch-Ostrau, die nur ein einziges Schlagwort kennen,
nämlich nach der Arbeit einen „Bittern“ zu geniessen, zu den
Arbeitern Amerikas, denen gegenüber die Trinksitten und die
alkoholischen Getränke fast verschwunden sind, ist ein weiter
Schritt. Dort bringt der Arbeiter nur Muskelleistungen hervor,
hier nur Nervenleistungen. Dort ist die Lebenshaltung des
Arbeiters auf das kümmerlichste herabgedrückt, denn seine
Leistung rivalisiert mit der der Maschine. Hier ist die Lebens¬
haltung relativ üppig. Und doch sind die Lohnkämpfe in
Amerika nicht heftiger als in der alten Welt, trotzdem werden
die Unternehmer in der neuen Welt nicht ärmer wie in der
alten. Sie können eben dem Arbeiter mehr geben, weil er
ihnen mehr zurückgibt. Die Nervenarbeit der Arbeiter ist eben
viel lukrativer, als die Muskelarbeit, ein Gehirn kann die Kräfte
von vielen Maschinen lenken, kann sich mechanische Leistung
in fast unbegrenztem Masse untertan machen.
Soll es daher auf der Basis der seitherigen Leistung zu
einer Rivalität zwischen alter und neuer Welt kommen, so wird
die alte Welt unterliegen müssen. Und sie ist doch schon mit
solchen Industriebezirken wie Mährisch - Ostrau unglücklich
genug. Von da bis zu den fortgeschrittensten Bezirken ist
ein weiter Schritt, aber überall spielt die Grundlage der Muskel¬
arbeit auch eine grosse Rolle, überall ist es noch ein Abstand,
der uns von dem Uebergange zur Nervenarbeit trennt. Wie
sollen wir den überwinden? Vor allem durch Bekämpfung
dessen, was das Nervensystem zu jeder weiteren Entwicklung
unfähig macht, des Alkoholismus. Mich dünkt, dass in der
Beziehung etwas mehr geschehen sollte, als geschieht. Woher
sollen denn die Unglücklichen in Mährisch-Ostrau wissen, was
sie eigentlich tun? Wo erfahren sie etwas über ihr indivi¬
duelles Schicksal nicht nur, nein auch über die Rolle, die
diese Betäubung durch Alkohol in der Welt spielt? Die
amerikanischen Mässigkeitsvereine rühmen sich nicht mit Un¬
recht, dass die alkoholfreie Atmosphäre ihres Landes, ein Produkt
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des Unterrichtes sei, der über die Wirkungen des Alkohols,
schon in den Schulen erteilt wird. Was eigentlich mit dem
eigenen Körper geschieht, wenn in denselben Alkohol einge¬
führt wird, sollte das Kind erfahren, so gut wie es etwas über
die Wirkung eines Blitzschlages oder eines Eisenbahnunglückes
erfährt. Die Amerikaner aber haben durch Einführung des
Schulunterrichtes über den Alkohol, vielleicht ohne es zu wollen,
ihrem Lande noch einen grösseren Dienst geleistet, als sie
dachten. Man kann einen solchen Unterricht nicht erteilen
ohne den Schüler mit den Grundzügen der Physiologie be¬
kannt zu machen. Und diese Grundzüge kann man wieder
nicht erklären, ohne eine Vorstellung davon zu geben, dass
das menschliche Leben auch bestimmten Gesetzen gehorcht
und dass es eingepasst ist durch diese Gesetze in den Rahmen
der gesamten Natur. Jene Einsicht, die dem Amerikaner
eigentümlich ist, in die Causalität der ihn umgebenden Welt,
jene Fähigkeit, die er hat, in diese Welt einzugreifen, von der
Ursache auf die Wirkung übergehend, sie ist zum Teil eine
Folge des Unterrichtes, den er in frühester Jugend genoss.
Und wenn er ihn selber nicht hatte, so ergänzt die Umgebung,,
der Ton, auf den jede Unterhaltung mit seinen Mitmenschen
gestimmt ist, seinen Vorstellungskreis. Mit anderen Worten
der Uebergang vom Muskelmenschen zum Nervenmenschen
beginnt in frühester Jugend mit dem Unterricht. Und wenn
Wlassak verzweifelt fragt, was gibt es für eine Hülfe gegen¬
über Missständen wie in Ostrau, so möchte ich antworten, die
Hülfe muss und kann beginnen beim Unterricht. Der Fall
von Mährisch-Ostrau ist krass, aber im Grunde genommen ist
unsere ganze alte Kultur bedroht, wenn wir nicht schon im
Unterricht einen ganz anderen Einblick in die Causalität ge¬
winnen, die die Welt wie unser eigenes Leben beherrscht.
Die Arbeiter, wir alle müssen den Uebergang gewinnen,
vom Muskel- zum Nervenmenschen. Und um dies zu erreichen,
müssen wir uns ein Ziel stecken. Nämlich wir müssen erstreben,
dass der Unterricht in den Volksschulen erweitert wird, durch
ein Kapitel, in dem von den Kräften des menschlichen Organis¬
mus, von den Gefahren, die ihn bedrohen, von den Möglich¬
keiten, die das Leben darbietet, der Lehrer in sachverständiger
Weise spricht.
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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 37
Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und
der Alkohol.
Von Dr. med. Meinert in Dresden.
Auf der Königl. Sächsischen schmalspurigen Eisenbahnlinie
Wilkau-Carlsfeld-Wilschhaus entgleiste am 16. August 1903,
abends gegen 3 / 4 10, der nur während des Sommers an Sonn-
und Festtagen von Schönheide nach Kirchberg verkehrende
Personenzug No. 3153, bestehend aus Lokomotive und 14 Wagen,
auf Bärenwalder Flur kurz nach der Abfahrt von Rothenkirchen.
Nur die beiden letzten Wagen (ein Personen- und der Zug¬
führerwagen) blieben unbeschädigt auf dem Gleise stehen. Die
übrigen stürzten einen mehrere Meter hohen Damm hinab. Die
Lokomotive riss sich los und stürzte, nachdem sie noch ein
Stück von etwa 15 Metern neben den Schienen hingerutscht
war, ebenfalls die Böschung hinunter, wobei sie sich überschlug.
Das in Kürze der Hergang des Unglückes, bei welchem drei
Personen ihr Leben einbüssten und über 100 mehr oder weniger
schwer verletzt wurden.
Unter den leicht Verletzten befand sich auch Lokomotiv¬
führer Lohse, welcher beschuldigt wurde, durch übermässig
schnelles Fahren das Unglück herbei geführt zu haben. Die
Haupt Verhandlung gegen ihn fand statt am 24. und 25. Februar
1904 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Zwickau.
Ihr bis zur Beendigung der Zeugenaussagen beigewohnt zu haben,
bereue ich um so weniger als der durch die letzteren so gut
wie erwiesene Zusammenhang der Katastrophe mit dem in den
Stunden vorher von Lohse konsumierten Alkohol durch die
Tagespresse nur eine oberflächliche Würdigung erfuhr.
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Abhandlungen.
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Die Voruntersuchung hatte ergeben, dass Lohse am Un¬
glückstage zunächst von Kirchberg nach Rothenkirchen ge¬
fahren war, wo er in der Heberlein'sehen Restauration mit dem
Schaffner Pampel und dem Arbeiter Unger sich unter die „Ge¬
mütlichen“ (ein Gesangverein aus Planitz) mischte und wahr¬
scheinlich 15—20 Glas Bier trank. 1 / a 8 Uhr verspätete (trotz
mehrfachen Drängens des Stationsbeamten) Abfahrt nach Schön¬
heide. Von dort, wo Lohse abermals Bier trank, zurück.
Abfahrt 9.15 (d. i. mit viertelstündiger Verspätung). Lohse in
angeheiterter Stimmung. Fahrgeschwindigkeit bei einem Gefälle
von 1 : 40 beängstigend schnell, worüber sich Personen, die in
Neuheide aussteigen, beim Zugführer vergeblich beschweren.
Zwischen Neuheide und Stützengrün dieselben Klagen. In
Rothenkirchen Aufenthalt. Die „Gemütlichen“ steigen hier in
die ersten beiden Wagen ein, in denen Lohse, der die Loko¬
motive verlassen hat, sie besucht. Er nimmt ein Glas Bier von
ihnen an und äussert: „In Bärenwalde können wir noch einmal
einkehren“. — Ehe aber diese nächste Station erreicht war,
geschah das Unglück. Unmittelbar vor demselben muss der
Zug entsprechend der Strecke, die er nach seiner Bremsung
noch durchlaufen hat, mit mehr als 60 km Geschwindigkeit
gelaufen sein (Aussage des als Zeuge und Sachverständiger
vernommenen Baurat Mehr in Zwickau).
Ohne Zweifel ist Emil Lohse ein Gewohnheitstrinker, der
sich aber weder selbst für einen solchen hält, noch von anderen
dafür gehalten wird. Er ist 34 Jahre alt, mittelgross und von
nicht unsympathischem Aeusseren, seit 1900 Reserve-Lokomotiv¬
führer, als welcher er seit ebensolange die Strecke befährt, auf
welcher sich das Unglück zutrug. Vorbestraft wurde er bereits
wegen Ueberfahren eines Geschirres und verwarnt wegen Auf¬
fahrens auf einen Zug mit Verletzung eines Hilfsweichenstellers.
Nach Trinkerart renommierte er mit seinen Trinkleistungen, so
lange nichts passierte, und leugnete sie, bezw. suchte sie abzu¬
schwächen, nachdem das Unglück geschehen war. Auf vor¬
handenes Schuldbewusstsein deuten die Aeusserungen, die
er auf der Unglücksstätte tat, nachdem er sich von seiner
Ohnmacht erholt hatte: „Macht kein Gerede, ich kann nichts
dafür“, und „Ich kann nichts dafür, und wenn ich auch mehrere
Jahre sitzen muss.“
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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol.
39
Sehr charakteristisch war bei Lohse, sowie beim Zug¬
führer Pampel, der sich mit ihm unter die „Gemütlichen“
gemischt hatte, die Promptheit und Schneidigkeit, mit welcher
sie festen Blickes beim Verhör den Präsidenten mit ihren Un¬
wahrheiten und Ausreden bedienten. Sie verfehlten dadurch
gewiss nicht, bei Unerfahrenen zunächst den Eindruck von
Charakterfestigkeit und Zuverlässigkeit hervorzurufen, während
es sich doch tatsächlich um das handelte, was Otto v. Leixner
kürzlich bei den Alkoholikern als die „mannesunwürdige
Schneidigkeit, die innerlich hohl und leer ist“ bezeichnet hat.
Aus der Vernehmung des Lokomotivführers Lohse.
Vors.: Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf dieser Strecke ist 25 Kilo¬
meter die Stunde. Sie sollen aber erheblich schneller gefahren sein? Wie verhält
sich das?
L.: Ich bin nicht schneller gefahren, auf keinen Fall schneller als 5 Kilo¬
meter über die Vorschrift.
Vors.: Worauf führen Sie denn die Entgleisung zurück?
L.: Es kann am schlechten Wagenmaterial gelegen haben, es kann sich
aber auch eins an der Bremse vergriffen haben, (er erzählt darauf den Fall eines
12jährigen Kindes, welches so etwas getan habe).
Später, nach der Vernehmung von Zeugen:
Vors.: Haben Sie nicht die Verspätung durch schnelleres Fahren einholea
wollen ?
L.: Nein! ich habe nur die Fahrzeit innegehalten!
Vors.: Haben Sie stets 25 Kilometer Geschwindigkeit gehabt?
L.: Ja!
Vors.: Woher wissen Sie das?
L.: Das haben wir im Gefühl!
Vors.: Wieviel haben Sie an diesem Tag Bier getrunken?
L.: Höchtens 3 1 / 2 Glas an dem Nachmittag!
Vors.: Wieviel in Rothenkirchen?
L.: Ungefahr 2 Glas!
Vors.: Die Zeugen behaupten mehr.
L.: Ich muss doch wissen wieviel!
Vors.: In Schönheide sollen Sie sich mit 15 und 20 Glas gebrüstet haben.
L.: Ich bin stets sehr launig.
Vors.: Sie sollen in Rothenkirchen viel Bier bestellt haben.
L.: Ich habe die anderen freigehalten.
Vors.: Haben Sie ihnen dabei Bescheid gegeben?
L.: Einige Male.
Vors.: Sie sollen, als Sie die in Rothenkirchen Eingestiegenen begrüssten,
die Absicht geäussert haben, in Bärenwalde noch einmal einzukehren?
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L.: Nein, das ist nicht wahr!
Vors.: Die Leute waren entsetzt über die grosse Geschwindigkeit, mit welche^
Sie von Rothenkirchen aus fuhren.
L.: Wenn ’s zu schnell gegangen wäre, hätte ich das Bremssignal gegeben.
Von besonderem Interesse war die Vernehmung des
Zugführers Pampel.
Nach den Ausführungen von Baurat Mehr, Zwickau, trägt
der 48jährige Pampel die Schuld daran, dass die Fahrge¬
schwindigkeit des Zuges sich nachträglich nicht genau fest¬
stellen liess. Pampels Berichte über die Fahrzeit sind nicht in
vorschriftsmässiger Form abgefasst, nach Meinung des genannten
Sachverständigen, „zur Verschleierung der Fahrzeiten, wie sie
eigentlich eingehalten worden sind“. Ich halte es für wahr¬
scheinlicher, dass der jedenfalls stark angetrunken gewesene
Pampel bei dem Zustand seines Gehirns überhaupt ausser
Stande war, richtige Eintragungen zu machen.
Vors.: Sie trafen im Rothenkirchener Bahnhofsrestaurant mit Lohse zusammen,
welche Beobachtungen machten Sie an ihm?
P.: Wie Lohse kam, wurde er von mehreren Planitzern in Empfang genommen.
Wie viel er getrunken hat, weiss ich nicht. In Schönheide haben wir uns gesagt
„Nun essen wir Abendbrot.“ Dazu haben wir ein Glas Bier getrunken.
Vors.: Hat Lohse in Rothenkirchen viel getrunken?
P.: Nein! Er hat nicht viel getrunken. Er hat nicht mehr getrunken, als
wie ich. Ich habe 2 Glas getrunken. Es wurde überhaupt nicht viel getrunken.
Vors.: Lohse soll angeheiteit weggegangen sein.
P.: Nein! Lohse’s Temperament ist überhaupt so!
Vors.: Er soll sich in Schönheide damit gebrüstet haben, schon 20 Glas Bier
getrunken zu haben.
P.: Davon weiss ich nichts!
Vors.: Der Bahnhofswirt in Schönheide soll ihm nachgerufen haben, „Emil
schmeiss’ nicht um!“ Und Lohse soll geantwortet haben: „Na, du brauchst mich
nicht aufzuheben!“
P.: Davon habe ich nichts gehört!
Vors.: Wie ist die Fahrt bis Rothenkirchen gegangen? Sehr schnell?
P.: Mir ist nichts aufgefallen!
Vors.: Es soll sich in Rothenkirchen jemand bei Ihnen beschwert haben
über die grosse Geschwindigkeit.
P.: Bei mir hat sich Niemand beschwert!
Vors.: Schon von Schönheide aus soll mit übergrosser Geschwindigkeit ge¬
fahren worden sein.
P.: Ich habe natürlich nichts bemerkt.
(Der Vorsitzende macht ihn darauf aufmerksam, dass es gar nicht natürlich
sei, hiervon nichts bemerkt zu haben).
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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol.
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Auch als ihm die gegenteiligen Aussagen zahlreicher
Zeugen mitgeteilt werden, bleibt P: dabei, dass der Zug nicht
schneller gefahren und Lohse nicht aufgeregter gewesen sei als
gewöhnlich.
Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er Uebung im Be¬
messen der Geschwindigkeit besitze, gibt er eine zwar ver¬
worrene, aber immer noch selbstgefällige Antwort. Auch leugnet
er, dass die Mitfahrenden gegeneinander geworfen worden seien
und behauptet in demselben Atem, dass das Einfahren in eine
Kurve überhaupt die Leute in die Ecken schleudere. Er gibt
zu, bei der Fahrt sich vergeblich bemüht zu haben, eine Lampe
anzuzünden.
Ueberhaupt tat man gut, sich bei den Aussagen der meisten
Zeugen zu erinnern, dass an jenem Tage viel getrunken worden
war. Namentlich an den 40—50 „Gemütlichen“ in den beiden
vordersten Wagen schienen die Schrecknisse der Fahrt ziemlich
spurlos vorübergegangen zu sein, weil sie bis auf die wenigen
Frauen in ihrer Mitte, wohl ziemlich alle betrunken waren. Sie
sangen, als das Unglück passierte, gerade nach der Begleitung
eines Harmonikaspielers das Lied „An der Saale kühlem Strande.“
Der Staatsanwalt verfuhr deshalb richtig, wenn er be¬
sonderen Wert auf die Bekundungen einiger weniger nach
dieser Richtung hin unverdächtiger und dabei gebildeter
Zeugen legte.
ZeugevonBose,F örsterkandidat aus Schönheide, 30 Jahre,
welcher mit seiner Frau und einem Kollegen jenen Zug nur
von Wilschhaus bis Neuheide benutzte, also nicht mit verun¬
glückte, schildert die Fahrt als eine sehr schnelle, so dass die
Damen schrien und sie alle hin und her geworfen wurden. Er
habe sich deshalb in Neuheide beim Zugführer beschwert, von
diesem aber die Antwort erhalten: „Der ist nur etwas laut
gefahren!“
Vors.: Was sagen Sie dazu, Pampel?
Pampel: Ich weiss natürlich nischt davon.
Vors.: Waren Sie nüchtern?
Pampel: Ich war damals nüchtern.
Vors.: (zu von Bose) Wo stand Pampel:
v. B.: Auf dern Bahnsteig.
Pampel: Ich stand auf dem Wagen!
Vors.: Erinnern Sie sich nicht, dass der Zeuge Sie angeredet hat:
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Pampel: leb habe nischt gehört!
Vors.: Aber Sie haben doch geantwortet?
Pampel: Ich habe nischt gesagt!
Verteidiger: Es könnte sich doch auch um einen Irrtum auf Seite des Herrn
von Bose handeln,
von Bose erkennt Pampel mit voller Sicherheit wieder und bleibt dabei,
dass derselbe auf dem Bahnsteig gestanden und obige Antwort gegeben habe.
Pampel: Da müsst ich doch ooch was wissen!
Vors.: Pampel, ist es vielleicht Ihrer Erinnerung entschwunden?
Pampel: Das müsste sein! — im Uebereifer des Dienstes, weil alles
so schnell ging. Wie ich sage, durch meinen Diensteifer könnte ich das überhört
haben. Ich habe keine Erinnerung.
Zeuge ErnstWeigel, Maschinist an der elektrischen
Zentrale in Niederplanitz, 25 Jahre alt, Mitglied des Gesang¬
vereins „die Gemütlichen“, mit verunglückt: Ihm wäre im
Bahnschlösschen zu Rothenkirchen aufgefallen, dass der als
Gast eingeführte Lohse sehr viel Bier trank, und er habe zu
seiner Frau geäussert: „Na, wenn der nur nicht seinen Ver¬
stand hier lässt“. Als Maschinist wisse er, dass durch das
Biertrinken die Aufmerksamkeit leide. Betrunken sei L. nicht
gewesen. „Bei dem einen äussert sich das so, bei dem
andern so“.
Zeuge Hermann Schubert, Reichsbankvorstand aus
Reichenbach i. V., 56 Jahre alt, verunglückte gleichfalls mit (Schien¬
beinverletzung). Er schilderte in anschaulicher Weise die tolle
Fahrt, bei welcher sein ihn begleitender Schwiegersohn vom
Lokomotivführer bemerkte, „der scheint betrunken zu sein“.
Schubert sagte voraus, dass bei der nächsten Kurve das Unglück
eintreten werde, und es trat ein.
Vors.: Lohse, Sie hören, dass Sie doch offenbar die erlaubte Fahrgeschwin¬
digkeit überschritten hatten.
Lohse: Ich habe meine vorschriftsmässige Geschwindigkeit gefahren!
Die Mehrzahl der über dreissig Zeugen sagte anders und
oft geradezu gegenteilig als in der Voruntersuchung aus. Das
war höchst charakteristisch für die feuchtfröhliche Stimmung,
in welcher sie sich am 16. August befunden haben mochten.
Unter Hintansetzung der Wahrheit ergriffen selbst Zeugen
— wahrscheinlich chronische Alkoholiker — welche unter dem
frischen Eindruck des Geschehnisses sich über Lohse entrüstet
hatten, heute für ihn Partei. Leute z. B., die sich zwar gleich¬
zeitig mit ihm im Schönheider Bahnrestaurant befunden, aber
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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol. 43
dort gar nicht Gelegenheit gehabt hatten, ihn zu beobachten,
behaupteten gleichwohl, dass er bei dieser Gelegenheit nur ein
Glas Bier getrunken habe. In ebenso geschickter wie wohl¬
wollender Weise entlockte ihnen der Vorsitzende das Geständnis,
dass sie über die Trinkleistungen Lohse’s an jenem Abende
gar nichts wussten.
In etwa 6 Fällen nun wiederholte sich etwa folgendes
ergötzliche Verhör:
Vors.: Wie erschien Ihnen die Fahrgeschwindigkeit?
Zeuge: Nicht schneller als gewöhnlich.
Vors.: Schwankten die Wagen bedeutend?
Zeuge: Nein die Wagen schwankten nicht.
Vors.: Waren die Drinsitzenden nicht ängstlich?
Zeuge: Nein niemand war ängstlich.
Vors.: Aber Sie sagen ja heute ganz das Gegenteil von dem aus, was Sie
einige Tage nach dem Unglück zu Protokoll gegeben haben? Welche von Ihren
Aussagen sind denn richtig?
Zeuge: Ich sage die Wahrheit!
Vors.: Ja wenn Sie heute die Wahrheit sagen, haben Sie früher die
Unwahrheit gesagt.
Zeuge: Ich habe nur die Wahrheit gesagt! .
Vors.: Also ist es wahr gewesen, was Sie früher angegeben haben: dass
der Zug mit rasender Geschwindigkeit ging, dass die Wagen sehr schwankten, dass
die Leute schrieen und von ihren Plätzen geworfen wurden? Ich mache Sie noch¬
mals auf die Heiligkeit des Eides aufmerksam, den Sie geleistet haben. Also,
welches ist die reine Wahrheit. Das was Sie zuerst oder das was Sie heute
gesagt haben?
Zeuge: Dann wird wohl wahr sein, was ich zuerst gesagt habe.
Als Kuriosum sei eingeschaltet, dass der Verteidiger
dem ersten Zeugen dieser Art mit der Frage beisprang: Halten
Sie es nicht für möglich, dass Sie durch die Entgleisung eine
Gehirnerschütterung erlitten hatten und infolge derselben zunächst
ungenau aussagten ?
Der Zeuge erwiderte, dass das wohl möglich sei.
Der Staatsanwalt aber verbat sich solche „Suggestiv¬
fragen“.
Dieselben Zeugen, welche sich in derartige und ähnliche
Widersprüche verwickelten, und überhaupt die meisten Zeugen
bekundeten übereinstimmend, dass Lohse nicht angeheitert,
sondern in seiner gewöhnlichen Stimmung gewesen sei. Dass
sei „so sein Temperament“ hiess es gewöhnlich.
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Wieviel von allen diesen merkwürdigen Aussagen, auf
die verworrenen Erinnerungsbilder alkoholisiert gewesener oder
chronisch alkoholisierter Gehirne, wieviel auf die bekannte
Neigung der Trinker zur Lüge und wieviel endlich auf eine
wohl nicht ganz von der Hand zu weisende Verabredung unter
den „Gemütlichen“ und Lohse’s sonstigen Freunden (in einem
ihm günstigen und möglichst übereinstimmenden Sinne auszu¬
sagen) kam, lässt sich natürlich nicht feststellen.
Die ganze Verhandlung bewies wieder einmal wie schwierig
unter Umständen für Behörden und Richter Vorkommnisse festzu¬
stellen sind, bei welchen der Alkohol sein Wesen getrieben hat.
Wie so oft schon, so zeigte sich auch diesmal wieder, dass
die Volksauffassung einen schädlichen Einfluss der geistigen Ge¬
tränke auf das menschliche Handeln nur bei dem im landläufigen
Sinne „Betrunkenen“ anerkennt und die Existenz eines ohne
grobe Gleichgewichtsstörungen verlaufenden Rausches einfach
nicht zugibt. Wer'noch „Direktion“ hat, den kann, glaubt
man, auch der Alkohol noch nicht haben.
Auch der als einziger medizinischer Sachverständiger (und
zugleich als Zeuge) vernommene 37jährige praktische Arzt
Dr. Bernhardt aus Bärenwalde konnte sich in dieser Be¬
ziehung als Sohn seines Volkes nicht verleugnen. Er war mit
dem vorher von ihm verbundenen Angeklagten nachts gegen
2 Uhr von der Unglücksstelle im Hilfszug zurückgefahren und
berichtete hierüber:
„Lohse machte einen deprimierten Eindruck. Dass er
betrunken gewesen sein soll, ist nicht wahr. Er hat ganz
wenig getrunken gehabt. Ich sass neben ihm. Er roch nicht
nach Bier. Nach 3—4 Glas riecht man schon aus dem Mund
nach Bier.“
Der Vorsitzende bedeutete Herrn Dr. Bernhardt, dass
dies wohl individuell sei und keinesfalls nach 5—6 Stunden,
die seit dem Biergenuss verstrichen waren, noch zutreffe.
Nach noch verschiedenen anderen Zwischenfragen an die
Sachverständigen wird die Beweisaufnahme für geschlossen
erklärt.
Der Staatsanwalt hält die Schuld des Angeklagten für
erwiesen. Er sei mit mindestens 50—60 Kilometern Geschwin-
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Meinert, Das Rothenkirchner Eisenbahnunglück und der Alkohol.
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digkeit gefahren, namentlich von Rothenkirchen aus unerlaubt
schnell. Und die Veranlassung zu diesem schnellen Fahren mit
seinen Folgen sei auf Dienstwidrigkeiten des Angeklagten zurück¬
zuführen, der sich bei seinen Bekannten Vergnügens halber zu
lange aufgehalten hat und deshalb nicht rechtzeitig zur Stelle
war. Und wie er seine Lokomotive wieder bestieg, sei er in
mindestens aufgeregter Stimmung gewesen, verursacht durch
das Trinken, wenn er das auch nicht in übermässiger Weise
getan haben sollte. Charakteristisch sei auch für die Staats¬
anwaltschaft, dass der Angeklagte nochmals in einen Wagen
gekommen sei, wo er sich nicht aufhalten durfte und wo er
sagte: „In Bärenwalde können wir noch mal einkehren“. Er
habe seine Gedanken mehr auf das Vergnügen als auf den Dienst
gerichtet gehabt und daraus seien alle nachfolgenden Vorgänge
•entsprungen. Der Staatsanwalt beantragte die Verurteilung des
Angeklagten wegen der fahrlässigen Gefährdung eines Eisen¬
bahntransportes in idealem Zusammenhänge mit fahrlässiger
Tötung und Körperverletzung. Auch beantragte er die Unfähig¬
keit des Angeklagten zur Bekleidung eines Amtes im Eisen¬
bahndienste auszusprechen.
Der Verteidiger erörterte die Unzulänglichkeit der
menschlichen Erkenntnis und das Unvermögen, alle Verhält¬
nisse und Vorkommnisse in ihren letzten Ursachen zu ergründen.
Er verwies auf die Widersprüche, die sich in den Aussagen
der Zeugen finden und behauptete, dass der Eindruck, welchen
die Schwankungen der Wagen auf einzelne Zeugen gemacht
haben und die Befürchtungen, welche hieran geknüpft wurden,
auf die Sensibilität der betreffenden Zeugen zurückzuführen
seien. Andere Zeugen bekundeten das Gegenteil, wie z. B. der
nicht unglaubwürdige Pampel. Die anscheinend verfänglichen
Aeusserungen des Angeklagten nach dem Unfälle seien auf
die kleine Gehirnerschütterung zurückzuführen, die den Ange¬
klagten betroffen habe. Dass der Angeklagte zu viel getrunken
habe, sei nicht dargetan. Der Verteidiger gab sich übrigens
durch mindestens 10 Schmisse, die man in seinem Gesichte
zählte, als alter Couleurstudent zu erkennen. Er beantragte die
Freisprechung des Angeklagten.
Nach kaum halbstündiger Beratung des Gerichtshofes ver¬
kündet der Vorsitzende folgendes Urteil:
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Abhandlungen.
Wegen Vergehens gegen § 316 Str. G. B. im Zusammen¬
treffen mit fahrlässiger Tötung und Körperverletzung wird der
Angeklagte zu 2 Jahren 6 Monaten Gefängnis verurteilt.
Aus der Begründung des Urteils sei folgendes mitgeteilt:
Durch den Eisenbahnunfall sind 3 Menschen getötet und
mindestens 50 verletzt worden. Es ist ein erheblicher Material¬
schaden entstanden. Die an die Hinterbliebenen und Verletzten
gezahlte Entschädigungssumme beträgt 100 000 Mk. Es ist also
durch den Unglücksfall in verschiedener Hinsicht grosses Unheil
angerichtet worden. Der Gerichtshof ist zu der Ueberzeugung ge¬
kommen, dass allein der Angeklagte die Verantwortung hierfür
zu tragen hat, indem er durch die mehr als doppelte Ueber-
schreitung der ihm vorgeschriebenen Fahrgeschwindigkeit die
Entgleisung mit ihren Folgen verschuldete. Die Begründung
schliesst sich in der Darstellung der Ursachen des Unfalles an
die Ausführungen der Staatsanwaltschaft an. Entlastend für
den Angeklagten komme in Betracht, dass er bisher noch nicht
gerichtlich bestraft ist; erschwerend fallen die schlimmen Folgen
ins Gewicht, die seine Unvorsichtigkeit gehabt hat. Der
Angeklagte bleibt in Haft.
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Original frnrri
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Emminghaus, Die Bekämpfung des Alkoholismus auf verschiedenen Wegen. 47
Die Bekämpfung des Alkoholismus
auf verschiedenen Wegen.
Von Dr. A. Emminghaus, Gotha.
Ganz unverkennbar hat in den letzten zwanzig bis fünf¬
undzwanzig Jahren in Deutschland das Interesse an allen den
Fragen, die mit dem Alkoholmissbrauch Zusammenhängen, lang¬
sam aber stetig zugenommen. Vor dieser Zeit hatte man weder
eine Ahnung von dem Umfange, noch von den Folgen dieses
Missbrauchs. Wer darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre
ungläubigem Lächeln oder dem Spott begegnet. Sah man
unsere Trinksitten für nicht eben gesundheits- und bildungs¬
fördernd an, so hielt man sie doch im ganzen für keineswegs
so gefährlich, dass viel Aufhebens davon zu machen wäre.
Und, da seit Alters namentlich die deutsche Poesie kaum einen
Lebensgenuss so viel und so schön verherrlicht hatte, wie den
„beim Becherklang“, so ward der frischweg für einen spiess-
bürgerlichen Nörgler erklärt, der darauf hinwies, dass doch
wohl auch in diesem Lebensgenuss das schon von Kleobulos
aus Lesbos empfohlene Masshalten vonnöten sei.
Wenn das heute anders ist: wenn in weiten Kreisen die
Gefahren des Alkoholmissbrauchs für Staat und Gesellschaft,
insbesondere aber die bösen Folgen der Alkoholvergiftung für
den Vergifteten klar erkannt werden, wenn man den nicht
mehr bespöttelt, der hierauf aufmerksam macht und der Massig¬
keit ernsthaft das Woit redet; wenn auf Hochschulen, in Militär-
und Marinekreisen, in Parlamenten und Gemeinde-Versammlungen
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Abhandlungen.
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das Verlangen nach Beseitigung oder Zuriickdrängung des
Alkoholmissbrauchs zu eingehenden Erwägungen der Mittel und
Wege führt; wenn sich die medizinische Wissenschaft und die
Publizistik heute auf das Lebhafteste mit diesem Gegenstände
beschäftigt — so ist das gewiss ein Verdienst des vor zwanzig
Jahren von einer kleinen Anzahl gemeinsinniger Männer aus
verschiedenen Gegenden des Reichs begründeten Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke.
Die ungemein rührige und umsichtige Tätigkeit dieses
Vereins ist unzweifelhaft auch die Ursache, dass anderwärts
schon längst geweckte Bewegungen für gänzliche Enthaltsamkeit
vom Genuss geistiger Getränke — die Blaukreuzvereine, die
Guttemplerlogen u. a. — auch auf deutschem Gebiet ziemlich
breiten Boden gewonnen haben.
Diese anderen Bewegungen werden mit ebensoviel flam¬
mender Begeisterung ins Werk gesetzt, wie der Verein gegen
den Missbrauch geistiger Getränke sich ruhiger Besonnenheit
bei seinen Arbeiten befleissigt. Jene bald mehr, bald weniger
religiös gefärbte Begeisterung, die wir, um jede ungerechtfertigte
Nebendeutung auszuschliessen, nicht als Fanatismus bezeichnen
wollen, ist um so nötiger und wird von den Führern um so
wirksamer geweckt, da sie es auf die Gewinnung der breitesten
Massen der Bevölkerung absehen und dieselben nicht allein
behüten, sondern auch bekehren wollen.
Es darf nicht wundernehmen, dass hierbei einige Ueber-
treibungen platzgreifen. So wenn das Blaue Kreuz die Trunk¬
sucht fast als die Wurzel alles Uebels in der Welt betrachtet
und eine gelungene Heilung von der Trunksucht immer als
einen Glaubenssieg ansieht. So wenn alle Enthaltsamkeitsvereine
nicht nur aller Welt völlige Enthaltsamkeit ansinnen, sondern
auch von dem Zeitpunkte, wo dieses Ziel erreicht sein werde,
den Himmel auf Erden prophezeien.
Gewiss, dem Trinker, den man heilen will, muss man für
alle Zeit jeden Alkoholgenuss versagen. Aber es ist doch nicht
jeder trunksüchtig, der ab und zu an dem Genüsse eines alkoho¬
lischen Getränkes sich erfreut.
Die bestehenden Enthaltsamkeits-Vereine, die in erfreu¬
lichem Wetteifer auf verschiedenen Wegen dem gleichen Ziele
Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
Emminghaus, Die Bekämpfung des Alkoholismus auf verschiedenen Wegen. 49
zustreben, haben mit Aufopferung edler Kraft schon Grossartiges
geleistet, wenn sie Hunderte, ja Tausende von der Trunksucht
geheilt und ihnen das Verharren in der Enthaltsamkeit möglich
gemacht haben. Und es wäre ein grosser Segen, wenn ihre
Mitgliederzahl und ihre Wirksamkeit sich verhundertfachte.
Aber auch dann dürfte der Verein gegen den Missbrauch
geistiger Getränke die Hände nicht in den Schoss legen und
wäre dessen Aufgabe, die ja nur teilweise mit der jener anderen
Vereine übereinstimmt, noch lange nicht erledigt. Recht ver¬
kehrt und bedauerlich ist es, wenn jene Vereine, denen es
vielleicht gelingen wird, soviele tausend Anhänger zu gewinnen,
wie dieser hundert zählt, hochmütig und geringschätzig auf
diesen herabsehn; denn einen besseren und mächtigeren Bundes¬
genossen haben sie nicht und werden sie nie gewinnen.
Zunächst verlangt der Verein und sucht er mit allen Mitteln
zur unverbrüchlichen Norm zu machen vollkommenste Alkohol¬
enthaltung bei Kindern und jugendlichen Personen, bei solchen
Personen, die zum Missbrauche neigen, bei solchen, die schon
alkoholvergiftet sind, und bei solchen, deren Enthaltsamkeits¬
beispiel Bedingung ihrer beruflichen Wirksamkeit ist.
Sodann wirkt er energisch auf die Errichtung zweckent¬
sprechender Trinkerheilanstalten hin.
Ferner sorgt er für die Erzeugung und Verbreitung alkohol¬
freier Getränke und für Einrichtungen, durch die der Ersatz
alkoholischer Getränke durch alkoholfreie zur Sitte wird.
Weiter lässt er durch seine naturwissenschaftlich und
medizinisch geschulten Mitglieder Wesen und Wirkung des
Alkohols auf den menschlichen Organismus untersuchen und
feststellen, ob und inwieweit und unter welchen Bedingungen
der Alkohol als Heilmittel wertvolle Dienste leistet.
Endlich aber sucht er mit allen Mitteln auf die Aenderung
der Trinksitten und auf die Gesetzgebung, betr. das Schank¬
wesen und die steuerliche Behandlung alkoholischer Getränke,
im Sinne der Massigkeit einzuwirken.
Man sieht: in manchen und wichtigen Punkten geht die
Mässigkeits- mit der Enthaltsamkeits-Bewegung Hand in Hand.
Die Führer der einen müssen es begrüssen, dass die der anderen
für gewisse Personenkreise Enthaltsamkeit fordern, die der
anderen müssen es begrüssen, dass das Blaue Kreuz und die
Die Alkoholfrage. 4
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Abhandlungen.
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Guttemplerloge um den geheilten Trinker eine Schutz wehr
bilden, die ihn vor dem Rückversinken in das Uebel bewahren
kann. Auch in der Beförderung der wissenschaftlichen Erkenntnis
unterstützen sich beide Richtungen; vielleicht dass die eine der
wissenschaftlichen Forschung, die andere der volkstümlichen
Darstellung ihrer Ergebnisse mehr Fleiss zuwendet.
Aber in einem Stücke, in der Einwirkung auf die Trink¬
sitten und auf die Gesetzgebung, ist die Mässigkeitsbewegung
auf ihre eigene Kraft angewiesen. Denn die Führer der Ent¬
haltsamkeitsbewegung wollen Beseitigung aller alkoholischen
Getränke und auf diesem Wege werden ihnen in absehbarer
Zeit viele Tausende, wird ihnen aber niemals die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung folgen. Sie wollen nicht Reform der
Gesetzgebung in dem Sinne, dass der Massigkeit Vorschub
geleistet wird, sondern sie wollen gesetzliches Verbot jedes
Alkoholgenusses. Und mit dieser Forderung werden sie bei
dem Gesetzgeber immer tauben Ohren predigen.
Die vorstehenden Ausführungen machen weder auf Neu¬
heit, noch auf Originalität Anspruch. Aber sie werden aufs
Neue dartuen, wie töricht und zweckwidrig es ist, wenn die
verschiedenen Richtungen, die den Alkoholismus bekämpfen,
es untereinander nicht nur an Achtung, sondern auch an Ein¬
tracht fehlen lassen.
Goi igle
Original fro-m
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Böhmert, Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage.
51
Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage.
Von Prof. Dr. Victor Böhmert.
Bei jeder Beantwortung einer theoretischen oder prak¬
tischen Frage ist die Methode der Untersuchung oder die Art
und Weise der Beobachtung, Erforschung und Lösung von
grosser Wichtigkeit. Man kann schwierige Rechenexempel
entweder durch einfaches Multiplizieren und Addieren, durch
Dividieren und Subtrahieren oder durch Logarithmen oder durch
die Rechenmaschine lösen und sich durch die Methode oder
das Verfahren die Lösung sehr erleichtern. Man kann bei juri¬
stischen, volkswirtschaftlichen, naturwissenschaftlichen, philoso¬
phischen und anderen Untersuchungen entweder d e d u c t i v ver¬
fahren, indem man aus allgemeinen Grundsätzen besondere Sätze
abzuleiten und einzelne streitige Fälle, Ansprüche oder Behaup¬
tungen zu entscheiden und zu beweisen sucht, oder man kann
die i n d u c t i v e Methode anwenden und aus einer grösseren
Anzahl von Tatsachen, Beispielen, Fällen und Erfahrungen zu
allgemeinen Schlüssen oder Wahrheiten zu gelangen suchen.
Das Auffinden wirklicher Wahrheiten oder grosser allge¬
meiner Gesetze und das Entdecken neuer Kräfte ist nur wenigen
Sterblichen vergönnt; aber Bausteine zum Aufbau neuer Wissens¬
gebiete oder Beiträge zur Vermehrung der vorhandenen Schätze
des menschlichen Wissens können von vielen ernst arbeitenden
Männern oder Frauen geliefert und herbeigeschafft werden.
Zur Untersuchung der Wirkungen des Alkohols auf den
menschlichen Organismus bedarf es einer grossen Summe von
Beobachtungen, Erfahrungen und Experimenten. Am wirk¬
samsten erscheinen uns Experimente am eigenen menschlichen
Körper, welche von vielen zuverlässigen Personen aus ver¬
schiedenen Berufen und Altersstufen mit verschiedenen Lebens¬
schicksalen herrühren und mit Hilfe der statistischen Methode
durch gleichmässige Fragen-Formulare erhoben, verglichen und
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52
Abhandlungen.
objektiv zusammengestellt der Prüfung des Publikums vorgelegt
werden.
Herr Prof. Carl Fränkel in Halle ist im Juli 1902 von dem
Vorstande des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger
Getränke ersucht worden, die hervorragendsten Vertreter der
ärztlichen Wissenschaften zu befragen, ob in Bezug auf den
Alkohol Massigkeit oder völlige Enthaltsamkeit geboten sei?
Er hat infolgedessen an 93 Professoren folgende 2 Fragen
gerichtet:
1. Halten Sie den Genuss alkoholischer Getränke unter allen
Umständen, also auch schon in kleinen Mengen für ge-
sundheitschädlich und bedenklich und
2. wenn das nicht der Fall, wo würden Sie etwa die erlaubte
Grenze ziehen wollen?
Die von 89 Professoren auf diese beiden Fragen erteilten
Antworten haben viel Interesse erweckt, aber auch viel Wider¬
spruch gefunden. Wir wollen diese Antworten nicht kritisieren,
sondern anstatt der von Professor Fränkel aufgestellten, uns
ungenügend erscheinenden zwei Fragen, ein bestimmter ge¬
fasstes Fragen-Formular vorlegen, welches wirkliche Tatsachen
und praktische Erfahrungen zu ermitteln sucht und sich an
solche Personen wendet, die an sich selbst Versuche angestellt
und entweder ihren früheren Alkoholgenuss einmal wesentlich
eingeschränkt oder eine Zeit lang völlige Abstinenz geübt haben.
Das nachstehend abgedruckte Fragen-Formular ist dazu be¬
stimmt, von Männern oder Frauen ausgefüllt zu werden, welche
sich mit der Alkoholfrage eingehend beschäftigt und, sei es nun
als blosse Mässigkeitsfreunde oder als Abstinenten, an sich selbst
oder an Personen ihrer Umgebung exakte Beobachtungen an¬
gestellt haben. Wir hoffen, dass sich recht viele Leser dieser
Vierteljahrsschrift, und namentlich Aerzte, bereit erklären werden,
mit den beiden Herausgebern und Redakteuren in eine nähere
geistige Verbindung zu treten und das Fragen-Formular zunächst
ernstlich zu prüfen und entweder Verbesserungsvorschläge zu
machen oder eventuell das Fragen-Formular wirklich auszu¬
füllen, damit auf Grund von Massenbeobachtungen und Massen¬
erfahrungen positive Beiträge zur exakten Lösung der Alkohol¬
frage aus den verschiedensten Gegenden, Berufszweigen und
Altersgruppen herbeigeschafft werden. Man wird, wie das bei
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UN1VERSITY OF CHICAGO
Böhmert, Methoden zur Untersuchung der Alkoholfrage.
53
allen statistischen Untersuchungen nötig ist, viele ungenügend
ausgefüllte Fragen-Formulare zur Ergänzung oder Berichtigung
zurückschicken und alle Fehler des Materials offen darlegen
müssen und nur mit grosser Vorsicht allgemeine Schlüsse ziehen
dürfen, aber doch wertvolle Beiträge zur Lösung der Alkohol¬
frage liefern können. Die aufgestellten 12 Fragen sollen nur
gewisse Hauptpunkte zur Berücksichtigung empfehlen. Besonders
wünschenswert ist es, dass der Befragte in der Antwort auf
Frage 12 allgemeine Bemerkungen und Tatsachen von Wichtig¬
keit mitteilt, oder die sämtlichen 12 Fragen im Zusammenhänge
beantwortet.
Fragen-Formular für Mässige oder Enthaltsame.
1. Name des Befragten:.
2. Tag und Jahr der Geburt:.
3. Geburtsort und Land:.
4. Beruf des Befragten:. .
5. Bildungsgang des Befragten:.
6. Gehört der Befragte einem Mässigkeits- oder Enthaltsamkeitsverein an? (Name
des Vereins):.
7. Hat der Befragte seinen früher üblichen Alkoholgenuss eingeschränkt oder einmal
die Enthaltsamkeit versucht? Und wie lange?.
8 . Welche Ursachen und Beweggründe führten zum Entschlüsse der Enthaltsamkeit?
9. Welche Unterbrechungen der Enthaltsamkeit haben stattgefunden?.
10. Welche Folgen hatte die Enthaltsamkeit?
a) Für das körperliche Befinden?.
b) Für die geistige Arbeit?.
c) Für das Gemüt und die Freude am Leben?..
11. Welche Erfahrungen in Betreff des Alkohols machte der Befragte:
a) In seiner Familie?.
b) In seinem Berufe?.
C) In seinen gesellschaftlichen Beziehungen?.
d) Im öffentlichen Leben?.
12. Welche allgemeine Bemerkungen und Tatsachen von Wichtigkeit kann der
Befragte noch mitteilen?.
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Abhandlungen.
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Wie ich Enthaltsamer wurde.
Von Landes versicherungsrat P. Chr. Hansen.
Es war in der ersten Hälfte des Monats Juli 1896. In
Kiel hatte die Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke stattgefunden. Die Teil¬
nehmer an dieser Zusammenkunft, die aus den verschiedensten
Gegenden des deutschen Vaterlandes in die Ostseestadt ge¬
kommen waren, traten die Rückreise an. Da verabredeten
mein verehrter Freund und dereinstiger Lehrer, Geheimrat
Dr. Böhmert aus Dresden — der während der eben abgelaufenen
Tage so nachdrücklich für die Zwecke jenes Vereins eingetreten
war — und ich uns, nach dem etwa 80 km nördlicher gelegenen
Flensburg zu fahren, um von dem dort gegen den Alkohol
geführten Kampfe an Ort und Stelle nähere Kenntnis zu nehmen.
Eine ganz bestimmte Absicht leitete uns. Eben damals begann
sich die Aufmerksamkeit auf die vom Norden her über die
deutsche Landesgrenze gelangte Bewegung der Guttempler, der
Abstinenten, der Anhänger einer absoluten Enthaltsamkeit
gegenüber dem Genüsse geistiger Getränke, zu richten. Freilich
in weiten Kreisen, selbst in nächster Nähe herrschten noch die
sonderbarsten Anschauungen über die Bestrebungen dieser
Leute. Meist erblickte man in ihnen weltfremde Schwärmer,
die allerdings eine ganz lobenswerte Sache vertreten mochten,
aber es sicherlich niemals zu einem durchgreifenden praktischen
Handeln bringen würden. Vielfach wurden die Guttempler
wohl auch als Sektierer angesehen, gegen deren Tendenzen
vom kirchlichen Standpunkt aus wesentliche Bedenken geltend
zu machen seien. Die Stadt Flensburg bildete derzeit recht
eigentlich einen Ausgangs- und Mittelpunkt der Enthaltsamkeits-
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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde.
55
bewegung auf deutschem Boden. Die Haupttruppe der in jener
Zeit noch so kleinen Schar der Zugehörigen des „Independent
Order of good-templars“ stand ausser in Flensburg im nördlichen
und westlichen Schleswig. Daneben war denn freilich in Ham¬
burg das Signal zum Sammeln gegeben worden, aber das ist
auch so ziemlich alles, was vor etwa acht Jahren als „Abstinenz¬
partei“ in Deutschland bezeichnet werden konnte. Die Männer,
welche diese Sache in die Hand genommen hatten oder sie
zielbewusst und kraftvoll weiterführten, wollten wir beide an
der Arbeit beobachten.
Mir als Kind der schönen Talstadt Flensburg, der rührigen
Handels- und Industriestadt im Herzogtum Schleswig, bereitete
es keinerlei Schwierigkeit, diejenigen Persönlichkeiten ausfindig
zu machen, bei denen wir uns gleich nach der Ankunft die
zutreffende Belehrung verschaffen konnten. Unser erster Gang
führte uns zu einem hoch angesehenen Geistlichen, der freilich
nicht Mitglied eines Guttempler - Ordens war, aber doch, aus
lebhaftem Interesse für dessen Ziele, sich mit dem Wirken des
Ordens sehr genau bekannt zu machen gesucht hatte. Der
Geistliche sprach mit grosser Anerkennung über die Guttempler,
die in gewissen Dingen wohl eine Art Einseitigkeit und in ihren
Ansichten einen Fanatismus, der ihm nicht gerade Zusage, be¬
tätigten, jedoch zweifellos eine von keiner andern Richtung zu
übertreffende segensreiche Tätigkeit entfalteten. Er könne nur
seine Freude darüber aussprechen, dass diese Bewegung gerade
innerhalb seiner Gemeinde in Fluss gekommen sei; er an seinem
Teile suche sie zu fördern, wo und wie er dies vermöge, und
gern habe er auch Anlass genommen, bei einer nicht lange
vorher abgehaltenen sonntäglichen Zusammenkunft der Gut¬
templer, die mit einem Gottesdienste in der Kirche begonnen,
eine religiöse Ansprache zu halten, obwohl einzelne seiner
Kollegen hiergegen Bedenken gehegt zu haben schienen. Be¬
gleitet von diesem Geistlichen suchten wir einen ehrsamen
Handwerksmeister, einen Hufschmied, in seinem Hause auf.
Dieser gehört zu den „Veteranen“ der Partei; er war einer
der Ersten gewesen, der die Ideen des Guttemplerwesens aus
einer kleinen Versammlung in einer ländlichen Gemeinde in
die Stadt Flensburg gebracht und ihnen den Weg zur Weiter¬
verbreitung geebnet hatte. Wir trafen ihn in seiner Werkstatt,
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Abhandlungen.
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am Ambos stehend. Von der Esse her leuchtete das glühende
Feuer über den sonst ziemlich dunklen Raum, in dem sich bei
fleissiger Arbeit noch mehrere Gehülfen und Lehrlinge befanden.
Freundlich hiess uns der Meister willkommen und lud uns ein,
nachdem er sich das Schurzfell gelöst hatte, in seine im ersten
Stock gelegene Wohnung zu treten. Wir folgten und fanden
hier eine einfache, aber behagliche Häuslichkeit, in der offenbar
eine brave, ordnungsliebende Hausfrau waltete. Mit grosser
Bereitwilligkeit sprach sich der Meister über seine Person und
die von ihm hoch gehaltene Sache aus. Offen bekannte er,
dass er von Anfang an ein gutes Geschäft gehabt habe, das
aber im Laufe der Jahre in Verfall gekommen sei — weshalb?
weil er sich dem Laster des Trunkes ergeben habe. Es habe
ihm auch früher nicht am guten Willen gefehlt, sich der unheil¬
vollen Neigung zu entziehen, die, wie ihm in guten Stunden
ja nicht zweifelhaft sein konnte, ihn zu einem unrettbar ver¬
lorenen Menschen machen müsse, aber aller festen Vorsätze
ungeachtet, sei er immer wieder gestrauchelt. Da habe er
denn eines Tages, vor etwa sechs Jahren, von der aus Skan¬
dinavien nach Nordschleswig gekommenen Guttempler-Bewegung
gehört und erfahren, dass in der Nähe von Gravenstein in einer
dortigen Loge eine Versammlung stattfinden solle. Dorthin sei
er mit einigen Freunden gefahren und was er hier kennen
gelernt, habe ihn zu einem andern, zu einem, wie er glaube,
besseren Menschen gemacht. Die Eindrücke, die er aus
dieser Versammlung mit heimgenommen, hätten sein Leben
neu gestaltet. Für ihn stände unverrückbar fest, dass nur die
totale Enthaltsamkeit den gefährdeten Menschen retten und den
gesunden Menschen gesund erhalten könne. Und es bedürfe
einer Vereinigung, wie sie gerade in einer Guttemplerloge
geboten sei, um die Schwachen zu stärken und die Ideen der
Abstinenz in immer weitere Kreise zu tragen und zu immer
allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Er habe seine ganze
Kraft daran gesetzt — so weit ihm sein jetzt zu neuer Blüte
gelangtes Geschäft dies nur irgend gestatte — für die Gut¬
templersache zu wirken. Erfreulich sei das, was man bis jetzt
erreicht habe. In Flensburg habe sich schon eine grosse Zahl
überzeugungstreuer, begeisterter Anhänger gefunden und unaus¬
gesetzt komme man weiter. So mancher dem wirtschaftlichen,
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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde.
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sittlichen und gesundheitlichen Untergang geweihte Mensch sei
— wie er selbst — durch den Orden auf den rechten Weg
gekommen. Gewiss, es gebe heute noch manche Leute, welche
die Bestrebungen bespöttelten, aber mögen sie das tun! „ W i r
wissen, für welche Ideale wir kämpfen; wir wissen, dass wir
für die edelsten Güter der Menschen eintreten und wir sind
überzeugt, dass unsere Ziele schliesslich vollauf zur Verwirk¬
lichung gelangen müssen.“ In grosser Lebhaftigkeit sprach der
Mann. Hell leuchtete sein Auge während der Rede, in der
jedes Wort dafür Zeugnis ablegte, dass sie ihm vom Herzen
kam und in der absolut nichts Gemachtes enthalten war. Und
wie freute sich der Meister, als seine Frau hereintrat und er
uns mit ihr bekannt machte und ihr den Zweck unseres
Besuches erzählte!
Dankerfüllt schieden wir aus dem Hause, in welchem wir
hoch interessante Einblicke in ein einfaches und für weitere
Kreise doch so bedeutsam gewordenes Menschenleben getan
hatten.
Wir benutzten die ferneren Stunden des Tages, um uns
weiter über Umfang und Art und Weise der agitatorischen
Arbeit der Guttempler zu informieren, wobei uns immer wieder
bestätigt wurde, dass die ganze Bewegung wesentlich oder fast
ausschliesslich von „kleinen Leuten“ ausgegangen sei und nach
wie vor gestützt werde, während die sog. bessere Bevölkerung
— einzelne Ausnahmen abgerechnet — höchstens bis zu einer
wohlwollenden Anerkennung derselben gehe, ihr vielfach frei¬
lich auch entweder ganz kühl oder gar ablehnend gegenüber
stehe. Den stärksten Anhang unter den Arbeitern, so sagte
man uns, hätten die Guttempler auf der grossen Flensburger
Schiffswerft erreicht. Von dort mussten wir also noch selbst¬
verständlicheinen Vertreter, der uns über die in Betracht kommen¬
den Verhältnisse Auskunft geben konnte, gewinnen. Ein solcher
stellte sich uns für eine spätere Stunde, „nach Abendbrotzeit“,
zur Verfügung. Es war dies ein sog. Nieter, ein junger Arbeiter,
der uns alsdann in unserm Hotel aufsuchte. Ein ganz einfacher
Mann, den ich persönlich von Hause aus genau kannte. Böhmert
übernahm das Ausfragen, denn unser Gast gehörte zu den Leuten,
die ohne einen äusseren Anstoss zunächst nicht allzuviel sagen,
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Abhandlungen.
namentlich nicht in Gegenwart von Fremden, die sie für sozial
höher stehend erachten. Allmählich kam unser Freund mit
seinen Erklärungen „in Zug“. Wir erfuhren zuerst, dass er
früher bei der kaiserlichen Marine in Kiel gedient und eigentlich
hier das Trinken gelernt habe. Nach seiner Entlassung vom
Militär sei er in seine Geburtsstadt Flensburg zurückgekehrt
und habe, nachdem er auf der Werft Beschäftigung gefunden,
sich bald nachher verheiratet. Er besitze jetzt drei Kinder.
Leider müsse er sagen, dass auch unter den Werftarbeitern
das Trinken von Schnaps, noch mehr wie Bier, eine sehr grosse
Rolle gespielt habe und da sei er denn wieder in Versuchung
geraten, der er oftmals nicht habe widerstehen können. Manch¬
mal sei die Neigung zum Alkoholgenuss mit gewaltiger Macht
über ihn gekommen; gleichgesinnte Kollegen hätten ihn an sich
gezogen und nur zu bereitwillig sei er mit gegangen. Nun
spiele bei der Werftarbeit der sog. Gruppenakkord eine grosse
Rolle, d. h. es werden Arbeiten zur gemeinsamen Ausführung
an eine grössere Anzahl von Personen gegen einen festen Lohn¬
betrag, der dann auch nachher auf die Beteiligten repartiert
werde, abgegeben. Die Aufgabe könnte nur dann ordnungs-
mässig gelöst werden und es sei lediglich dann von einem
guten Verdienste die Rede, wenn alles Hand in Hand arbeite.
Da habe sich jedoch die Trinkneigung des Einen und des Andern
nicht selten als ein arges Hindernis gezeigt, bis eines schönen
Tages innerhalb einer Akkordabteilung von irgend einer Seite
der Vorschlag gemacht geworden sei: das Trinken bei der Arbeit
wie ausserhalb der Arbeit völlig aufzugeben und sich den Gut¬
templern, von denen man nicht selten höre, anzuschliessen.
Der Vorschlag war ernsthaft gemeint und er fand Zustimmung,
fast bei Allen. So sei man enthaltsam und so sei man Gut¬
templer geworden. Er sei Guttempler seit zwei Jahren und er
wisse gar nicht Worte genug zu finden, um auszusprechen, wie
glücklich er sich als solcher fühle. „Ich habe“ — so ungefähr
fuhr er fort — „ein gegenüber dem früheren ganz verändertes
Leben geführt. Ich meinte oftmals, das Trinken nicht entbehren
zu können, auch nicht während der Arbeit. Ich ging nicht
selten abends aus und blieb bis spät in die Nacht fort. Am
nächsten Morgen war ich krank und elend und musste manch¬
mal die Arbeit aussetzen. Vor allem muss ich sagen, dass ich
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Original from
UNIVERSITY OF CHICAGO j
Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde.
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öfter an den Montagen bis zum Mittag „blau“ machte. Es tut mir
noch heute leid, wie ich damals bisweilen gegen Frau und
Kinder gehandelt habe. Das ist alles ganz anders geworden.
Ich fühle mich allezeit kräftig und zur Arbeit gut aufgelegt.
Die schwerste und anstrengendste Tätigkeit greift mich nicht
so sehr an, wie das früher zeitweilig ein gewöhnlicher Werktag
tat. Meine Frau ist überglücklich, dass ich der Loge beigetreten
bin. Sie huldigt ebenfalls absoluter Enthaltsamkeit in Bezug
auf geistige Getränke und wird das auch unsern Kindern gegen¬
über durchführen. Und wie kommen wir heutzutage wirt¬
schaftlich vorwärts! Früher herrschte regelmässig Schmalhans
im Hause. Jetzt reicht der Lohn aus und können wir noch ein
wenig zurücklegen. Ich habe mir ein Stück Gartenland ge¬
mietet. Da bin ich tätig in jeder freien Stunde, die ich mir
mache. So wie mir geht es meinen Kollegen, mit denen ich
zusammen arbeite. Bei uns gibt es nun keinen „blauen Montag“
mehr. Aber flott geht die Arbeit, wenn wir Kessel zu nieten
oder Platten zu befestigen haben u. s. w. Ist einmal ein grosses
Stück vollendet, so kommt es vor, dass wir an einem Mittwoch
Mittag abbrechen und alsdann Nachmittags mit Frau und Kind
ins Gehölz gehen und dort gemeinsam Kaffee und Kuchen ge¬
messen. Das ist dann ein Freuden- und Erholungstag für Alle
und am nächsten Tage fluscht die Arbeit wieder doppelt gut!
Eine ganze Anzahl von Werftarbeitern gehört den Guttempler¬
logen an, von denen neuerdings eine dritte hier begründet ist.
Der Anhang auf der Werft mehrt sich unausgesetzt. Der
Schnaps- und Bierverbrauch ist wesentlich eingeschränkt worden
und wir haben nur den Wunsch, aber auch die Hoffnung, dass
dies künftighin in noch weiterem Masse der Fall sein möge.
Die Guttemplerlogen sind die grösste Wohltat für uns Arbeiter
wie für Alle, die sich anschliessen. Wie viel Glück tragen sie
in die Familien! Freilich wirft man uns bisweilen vor, dass in
unsern Logen das Formen wesen eine grosse Rolle spiele. Mit
einigem Rechte kann man das sagen, aber es hat eine tiefe
Bedeutung. Wer dessen Sinn versteht, will es gewiss nicht
missen. Wir wissen, dass wir erst am Beginne stehen, haben
aber die feste Zuversicht, dass wir dereinst zu einer Macht, zu
einer, das grösste Uebel der Welt, den Alkohol, besiegenden
Macht uns entwickeln werden. Es gibt kein anderes Mittel
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Abhandlungen.
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gegen den Alkohol als die totale Abstinenz; alles Andere
ist Halbheit und etwas ganz Unvollkommenes!“
Seltsam, wie die Züge des einfachen Nieters während
seiner Auseinandersetzungen einen, man möchte sagen, durch¬
geistigten Ausdruck annahmen. Er hatte schliesslich eine Be¬
redsamkeit entwickelt, deren ich ihn niemals fähig gehalten
hätte. Unwillkürlich wurde ich an das Bibelwort von der Aus-
giessung des heiligen Geistes über die Jünger Jesu erinnnert:
„Und sie redeten mit feurigen Zungen“. Zu später Stunde
schieden wir. Warm und herzhaft drückten wir dem Manne
die schwielige Rechte. Böhmert und ich zogen uns in unsere
Zimmer zurück, nachdem wir uns darüber verständigt hatten,
früh aufstehen zu wollen, um einen gemeinsamen Morgenspazier¬
gang zu unternehmen.
Schon um 6 Uhr trafen wir fast gleichzeitig im Frühstücks¬
zimmer ein. Unser erstes Wort, das aus beider Mund fast
gleichzeitig hervorkam, war: wie der andere geschlafen habe
und übereinstimmend lautete die Antwort: „Gar nicht“. Die
Erklärung dafür war die, dass uns beide die schlichte Rede
des Flensburger Arbeiters in Verbindung mit den sonstigen
Eindrücken des Tages die ganze Nacht hindurch auf das Ein¬
gehendste beschäftigt hatten. „Und was haben Sie sich danach
gesagt?“ so lautete eine Frage, die auch nahezu im gleichen
Moment der eine wie der andere äusserte. Die Antwort
beider: „Wir machen es nach dem Vorbilde des Arbeiters
und des Handwerksmeisters, die wir gestern kennen
gelernt haben“. Dieser Ausspruch kam aus innerlich be¬
wegtem Herzen, beide aber haben wir das uns selbst gegebene
Wort treu gehalten.
Wir sind allerdings nicht Guttempler geworden, aber je
länger desto mehr haben wir die grossen Verdienste der Gut¬
templer-Bestrebungen erkannt und anerkannt. Mit aufrichtiger
Sympathie haben wir die gewaltigen Fortschritte der Abstinenz¬
sache in Deutschland verfolgt und sie als eine Macht ersten
Ranges im Kampfe gegen den Alkohol schätzen gelernt.
Freilich sind wir beide der Ansicht, dass auch die Gut¬
templerbewegung allein den Feind nicht besiegen kann. Es
müssen noch weitere Kräfte wider ihn aufgeboten werden und
deshalb betrachten wir auch die gegen den Missbrauch geistiger
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Hansen, Wie ich Enthaltsamer wurde.
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Getränke gerichteten Bestrebungen als eine durchaus unerläss¬
liche Mithilfe. Und daneben wollen wir ein verständiges Ein¬
greifen der Gesetzgebung und der Verwaltung, womit Gott sei
Dank denn unterdess auch begonnen worden ist.
Ich darf von mir behaupten, früher stets ein mässiger
Mann gewesen zu sein. Allezeit habe ich das Trinklaster als
ein nationales Unglück, als die bedauerlichste Schattenseite in
unserm Volksleben angesehen. Aber ich gestehe offen, dass
ich die volle Wichtigkeit der Alkoholfrage doch erst von dem
Zeitpunkte an zu würdigen weiss, wo ich jeden Alkohol¬
genuss aufgegeben habe. Da ist es mir in so vielen Dingen,
die unmittelbar oder mittelbar mit dem Alkoholismus Zusammen¬
hängen, wie Schuppen von den Augen gefallen. Erst danach
habe ich begriffen, wie eminent wichtige Pflichten Staat und
Gesellschaft und die Einzelnen haben, dieser Grundursache so
vielfachen Jammers sozialer, wirtschaftlicher und moralischer
Natur entgegen zu wirken. —
Noch eine persönliche Bemerkung! Es ist mir
unendlich leicht geworden die Abstinenz im täglichen Leben
durchzuführen. Ich bin ein Mensch, der gern einmal an
einer frohen Gesellschaft teilnimmt, der die Geselligkeit mit
Vorliebe pflegt; ich habe das aber mit eben so viel Freude
und Genugtuung nachher wie vorher getan und tun können.
Freilich haben kluge Leute mich vielleicht hier und da als
Sonderling angesehen. Stets Hess ich mir das gefallen, der
Regel nach hat man mir jedoch gesagt: „Sie handeln durch¬
aus recht“. Und wer das nicht hat anerkennen und glauben
wollen, dem habe ich ruhig seine Meinung gelassen.
In gesundheitlicher Beziehung konnte ich nur erfreuliche Ver¬
änderungen an mir verspüren, seitdem ich Abstinent geworden
bin. Meine geistige wie körperliche Leistungsfähigkeit ist erhöht,
meine Widerstandsfähigkeit gegenüber Erkältung und ähnlichen
Anfechtungen des Lebens zweifellos verstärkt worden.
Meinen Kindern lasse ich die Freiheit, wie sie sich zur
Frage der Abstinenz stellen wollen. Es muss hier die eigene
freie Entscheidung das letzte Wort sprechen. Ich bin aber der
Meinung, dass das Beispiel ihres Vaters für meine Kinder nicht
verloren sein wird.
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Abhandlungen.
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Und so darf ich denn sagen, dass ich von Herzen den
Tag zu segnen habe, der mir die Bekanntschaft mit dem Hand¬
werksmann und dem Werftarbeiter in Flensburg, diesen beiden
auch noch heute treuen Guttemplern, verschaffte. Und ich
möchte annehmen, dass Freund Böhmert nicht anders urteilt,
wenn er an die Julitage des Jahres 1896 zurückdenkt.
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Böhmert, Warum ich enthaltsam geworden und geblieben bin !
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Warum ich enthaltsam geworden und
geblieben bin!
Von Prof. Dr. Victor Böhmert.
Mein Entschluss, enthaltsam zu werden, ist im Monat Juli 1896
in der Stadt Flensburg in Gemeinschaft mit meinem Freunde
und früheren Zuhörer, dem Kieler Landesversicherungsrat
P. Chr. Hansen, gefasst worden. Hansen hatte mich in der im
Julil896 abgehaltenen Jahresversammlung des Deutschen Vereins
gegen den Missbrauch geistiger Getränke in Kiel gebeten, ihn
nach seiner Vaterstadt Flensburg zu begleiten, um die Verhält¬
nisse und Einrichtungen der Guttempler an Ort und Stelle näher
kennen zu lernen. Unsere beiderseitigen Erlebnisse und Reise¬
eindrücke sind von Freund Hansen anschaulich und wahrheits¬
getreu geschildert worden. Ich möchte meinem eigenen Berichte
über die mit meinem Entschlüsse für Enthaltsamkeit zusammen¬
hängenden Tatsachen und Gründe eine Probeausfüllung des
von mir vorgeschlagenen „Fragen-Formulars für Mässige oder
Enthaltsame“ vorausschicken:
Probeausfüllung des Fragen-Formulars für Mässige oder
Enthaltsame.
1. Name des Befragten:
2. Tag und Jahr der Geburt:
3. Geburtsort und Land:
4. Beruf des Befragten:
5. Bildungsgang des Befragten:
1. Karl Victor Böhmert.
2. 23. August 1829.
3. Dorf Quesitz bei Markranstädt in
Sachsen.
4. Jurist, Volkswirt und Statistiker.
5. Volksschule: Rosswein. Gymnasium:
Fürstenschule Meissen. Universität:
Leipzig. Justizdienst in Leipzig und
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Abhandlungen.
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6. Gehört d. Befragte zu einem
Mässigkeits- oder Enthalt-
samkeits-V erein ? (Name des
Vereins):
7. Hat der Befragte seinen
früher üblichen Alkoholge¬
nuss eingeschränkt, oder
einmal die Enthaltsamkeit
versucht? Und wie lange?
S. Welche Ursachen und Be¬
weggründe führten zum Ent¬
schlüsse der Enthaltsamkeit?
9. Welche Unterbrechungen
der Enthaltsamkeit haben
stattgefunden ?
10. Welche Folgen hatte die
Enthaltsamkeit?
a) für das körperliche Befinden
b) für die geistige Arbeit
c) für das Gemüt und die
Freude am Leben.
11. Welche Erfahrungen in Be¬
treff des Alkohols machte
der Befragte:
a) in seiner Familie und in
seinem Hause?
b) in seinem Berufe?
c) in seinen gesellschaftlichen
Beziehungen zu früheren
Freunden?
d) im öffentlichen Leben?
12. Welche allgemeine Bemer¬
kungen und Tatsachen von
Wichtigkeit kann der Be¬
fragte noch mitteilen ?
Meissen. Volkswirtschaftliche Stel¬
lungen in Heidelberg, Bremen, Zürich
und in Dresden, schliesslich als
Direktor des Köngl. Sachs. Statist.
Büreaus und Professor der Tech¬
nischen Hochschule.
6. Mitglied des Deutschen Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke u.
des Dresdner Bezirksvereins gegen den
Missbrauch geistig. Getränke seit 1883.
7. Ich lebe enthaltsam seit dem 12.
Juli 1896 bis heute (9. April 1904).
8. Der Besuch der Flensburger Gut¬
templerlogen und frühere Erfahrungen
in der Dresdener Armen- und Trinker¬
pflege. (Siehe Allgem. Bemerkungen
zu Frage 12).
9. Etwa 3 — 4 Mal bei festlichen Ge¬
legenheiten ein halbes Glas.
10. Das körperliche und geistige Allge¬
meinbefinden war günstiger als früher.
Erschlaffung, Ermüdung und Einge¬
nommenheit d. Kopfes traten seltener
ein. Das Gemüt war gleichmässiger
und harmonischer gestimmt.
11. Die Enthaltsamkeit bereitete mir an¬
fänglich in den gesellschaftlichen Be¬
ziehungen einige Schwierigkeiten, ge¬
währte aber von Jahr zu Jahr mehr
äussere und innere Befriedigung, weil
ein Umschwung in den Trinksitten
unverkennbar ist und durch das eigene
Beispiel wirksamer gefördert wird
als durch Wort und Schrift.
12. Siehe den nachstehenden allgemeinen
Bericht.
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Böhmert, Warum ich enthaltsam geworden und geblieben bin !
65
Allgemeine Bemerkungen zu Frage 12.
Zunächst muss ich bemerken, dass ich kein förmliches Gelöbnis
der Enthaltsamkeit abgelegt habe und dass ich nicht Guttempler ge¬
worden bin, wie Dr. Wilhelm Martius in seiner Schrift »Die ältere deutsche
Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung« (Dresden 1901) auf S. 104
irrtümlich berichtet hat. Mein in Flensburg 1896 gefasster Entschluss,
enthaltsam zu werden, war dadurch vorbereitet, dass ich mich schon seit
dem Jahre 1884, als Vorsitzender des Dresdner Bezirksvereins gegen
Missbrauch geistiger Getränke, an der individuellen Trinkerpflege zwar
lebhaft beteiligt, aber als Nichtabstinent gar keinen Erfolg gehabt und
vielmehr vielfach den Vorwurf gehört hatte, dass die Mässigkeitsmänner
den »kleinen Leuten« ihren Schnaps entziehen, selbst aber Wein, Bier,
Cognak usw. forttrinken wollten. Ich hielt mich trotz dieses Vorwurfes
nicht verpflichtet, meinen üblichen Alkoholgenuss aufzugeben, zumal da
ich, als Sohn eines unvermögenden Geistlichen mit starker Familie, von
Jugend auf immer genötigt war, einfach und mässig zu leben, und erst
im 27. Lebenjahre zu einer Berufsstellung gelangte, welche mir gestattete,
zum Mittagstisch regelmässig 1 bis höchstens 2 Glas Wein zu trinken.
Auch mein Biergenuss war als Junggeselle, selbst in den Studienjahren,,
meist auf 1—2 Gläser des Abends beschränkt, da mich ein Genuss von
mehreren Gläsern Bier in der Regel beschwerte und zur Arbeit unfähig
machte. Nach meiner Verheiratung im 32. Lebensjahre habe ich mich
gewöhnt, zum Abendbrot in der Regel Tee zu trinken, während ich mir
in Gesellschaften den Weingenuss nie ängstlich versagte. Als ich nun
im Juli 1896 von Flensburg nach Haus zurückkehrte mit dem Entschlüsse,
künftig enthaltsam zu leben, war meine Familie besorgt, dass der
plötzliche Verzicht auf Wein bei Tisch, nach 40 jähriger Gewöhnung, im
67. Lebensjahre meiner Gesundheit schaden könne. Glücklicher Weise
beruhigte der befragte Arzt meine Familie durch die Versicherung, dass
ich als Enthaltsamer wahrscheinlich zehn Jahre länger leben würde. Und
in der Tat habe ich mich in den letzten acht Jahren als Abstinent
körperlich gesunder, geistig klarer und im Herzen ebenso fröhlich wie
früher gefühlt. Das Magenweh, welches mich in früheren Jahren
nicht selten heimsuchte und das ich gewöhnlich durch ein halbes Glas
Cognak zu bekämpfen suchte, ist nach und nach immer seltener wieder¬
gekehrt und jetzt fast ganz verschwunden. Während ich früher nach
Weingenuss und noch mehr nach Biergenuss immer eines längeren
Mittagsschlafes bedurfte, kann ich als Abstinent mit einem auf 2 o Minuten
beschränkten Mittagsschlafe bequem auskommen und fühle mich dann
nach einem Spaziergange von 30 — 50 Minuten zu geistiger Arbeit mehr
gekräftigt und leistungsfähiger als früher. Ich war in den letzten acht
Jahren einmal an Influenza und ein zweites Mal an einer Lungenent¬
zündung erkrankt, bin jedoch ohne Wein und ähnliche Mittel, durch
gute Kost mit Zitronen-Limonade und durch frische Luft ziemlich
rasch genesen und kann mir noch im 75. Lebensjahre bei drängender
Geschäftslast noch 8 —10 Stunden geistige Arbeit am Tage zumuten, die
Die Alkoholffage. 5
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66
Abhandlungen.
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ich dann allerdings manchmal durch einige Stunden Schlaflosigkeit in
der Nacht büssen muss. Der regelmässige Genuss von Obst, meist im
gekochten Zustande, Mittags und Abends, und von Limonade mit leichtem
einfachen Gebäck erscheint mir als der beste Ersatz von Alkohol, da¬
gegen halte ich nicht viel von sogenannten alkoholfreien Weinen und
Bieren. Auch ziehe ich Brunnenwasser dem Seiterswasser bei weitem
vor. Mein Appetit des Mittags ist vortrefflich, während ich des Abends
zum Tee nicht viel geniesse und insbesondere abends wenig Fleisch esse. Am
Morgen beginne ich mein Tagewerk regelmässig mit tüchtigen Waschungen
und Turnübungen, trinke dann eine Tasse Milch, wandere eine halbe
Stunde und pflege dann erst zu frühstücken und die angekomraenen
Zeitungen und Briefe zu lesen. Die Morgenarbeit wird gegen 8 l / 2 Uhr
begonnen und durch ein zweites Frühstück, bestehend aus einer Tasse
Kakao mit Semmel unterbrochen.
Vor dem auf 2 Uhr angesetzten Mittagsessen wird gewöhnlich eine
halbe Stunde im Freien herumgewandert. Dem Mittagsessen folgt ein
Mittagsschlaf von etwa 20—30 Minuten mit Zeitungslektüre, dann
wiederum ein Spaziergang. Daran reihen sich 3—4 Arbeitsstunden.
Die Arbeit des Tages wird meist um 8 Uhr abgeschlossen; die Zeit
nach dem Abendessen wird meist der Lektüre und der Unterhaltung mit
der Familie gewidmet, sobald nicht Versammlungen oder dringliche
literarische Verpflichtungen abhalten.
Der Schreiber dieser Zeilen hat über seinen Tageslauf besonders
deshalb etwas ausführlicher berichtet, weil er andere Berichterstatter zu
ähnlichen Mitteilungen über ihre Lebensführung, Arbeitszeiten, Ess-
und Trinksitten und Erholungen veranlassen und manche Leute beruhigen
möchte, welche im späten Alter Bedenken tragen, ihre Lebensgewöhnung
noch wesentlich zu ändern. Mir hat die plötzliche Aenderung meiner
Lebensweise und Trinksitte nichts geschadet, sondern eher genützt und
mich vor Erschlaffung bewahrt. Ich habe allerdings mein Amt als
Direktor des Kgl. sächs. statistischen Bureaus im 66. Lebensjahre und
meine Professur an der Technischen Hochschule im Alter von 74 Jahren
niedergelegt, aber verschiedene literarische und Vereins-Verpflichtungen
noch beibehalten und die Redaktion der neuen Vierteljahrsschrift »Die
Alkoholfrage« im 75. Jahre noch freudig übernommen mit dem Wunsche,
dass es mir vergönnt sein möge, noch einige Jahre körperlich gesund
und geistig frisch mit am Webstuhl der Zeit zu arbeiten.
Schliesslich will ich noch bemerken, dass ich weder meiner
Familie noch meinen Gästen und anderen Mitmenschen meine Trinksittten
aufnötige, sondern ihnen die freie, eigene Entscheidung selbst überlasse
und nur gegenüber der unmündigen Jugend und gefährdeten oder er¬
krankten Trinkern einen erzieherischen Zwang für geboten erachte. Im
Uebrigen huldige ich in der Alkoholfrage und sonst dem Grundsätze,
dass man gegen sich selbst streng und fest, gegen Andersdenkende aber
duldsam sein und Gegensätze lieber vermitteln und ausgleichen, als seine
Mitmenschen trennen und erbittern sollte!
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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst.
67
Abstinenz im EisenbahndiensL
Von de Terra, Eisenbahndirektor a. D.*)
In Nordamerika, das für die Entwickelung der Eisenbahn¬
technik in mehrfacher Hinsicht geradezu bahnbrechend gewesen
ist, hat man frühzeitig erkannt, dass nichts in dem Masse ge¬
eignet ist, die für die Sicherheit des Betriebes besonders wert¬
vollen Eigenschaften des Personals zu beeinträchtigen, wie der
Genuss alkoholischer Getränke. Um zu dieser Einsicht zu ge¬
langen, hatte es für die praktischen Amerikaner keiner um¬
fassenden wissenschaftlichen Untersuchungen bedurft. In der
Hauptsache waren sie dabei auf die Beobachtungen und Er¬
fahrungen des täglichen Lebens angewiesen. Und diese hatten
über die Eigenschaft des Alkohols als eines Nerven- und namentlich
Hirngiftes schlimmster Art längst keinen Zweifel mehr gelassen,
noch bevor sich die deutsche Wissenschaft das grosse Verdienst
erwarb, diese Eigenschaft durch sorgfältige Untersuchungen
zweifellos festzustellen. In Amerika säumte man nicht, die ge¬
wonnene Einsicht nutzbringend zu verwerten. Schon vor geraumer
Zeit haben die amerikanischen Eisenbahnverwaltungen begonnen,
von ihrem Personal völlige Alkoholenthaltsamkeit zu verlangen
oder doch wenigstens bei ihm zu bevorzugen. Zunächst in
den besonders verantwortlichen Dienstzweigen, wie dem Zug¬
dienst. Bei einer vor längerer Zeit an die Direktionen von 25
amerikanischen Eisenbahn-Gesellschaften gerichteten Umfrage
erklärte der Direktor einer grossen Eisenbahn - Gesellschaft:
*) Nach einem Vortrage des Verfassers über „Alkohol und Verkehrswesen“,
der soeben in 2. Auflage mit einem Anhang: „Die Wirkung geringer Alkoholmengen
auf die Gehirntätigkeit“ im Verlag von G. Hildebrandt’s Buchhandlung in Stolp i. P.
erschienen ist. (Preis 20 Pf.)
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68
Abhandlungen.
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„Auf keiner unserer Linien lassen wir jemanden, der Alkohol
trinkt, eine verantworliche Stellung bekleiden. Die Erfahrung
hat uns gelehrt, dass man sich auf solche Leute nicht verlassen
kann, und wir wollen das Leben des Publikums, das unsere
Züge benutzt, nicht auf’s Spiel setzen.“ Der Bericht über die
Umfrage schloss mit den Worten: „Die Phrase von der per¬
sönlichen Freiheit, gilt nicht für einen Dienst, zu dem nüchterne
Leute und klare Köpfe nötig sind.“
Gegenwärtig hat sich die völlige Alkoholenthaltsamkeit
unter dem amerikanischen Eisenbahnpersonal dermassen ver¬
breitet, dass fast das ganze Personal aus „Temperenzlern“, was
in Amerika gleichbedeutend mit Enthaltsamen ist, besteht. Die
grossen Linien scheiden nach und nach alle Angestellten aus,,
die in oder ausser Dienst alkoholische Getränke geniessen. Sie
machen bekannt, dass nach einem bestimmten Zeitpunkt über¬
haupt keine Personen mehr bei ihnen beschäftigt würden, die
nicht völlig alkoholenthaltsam sind.
Und zwar gilt das nicht bloss für das untere Personal;
auch die höheren Beamten müssen sich dem unterwerfen.
Dieses Vorgehen wird dadurch ausserordentlich erleichtert,
dass in Amerika die Ueberzeugung von der Schädlichkeit nament¬
lich des gewohnheitsmässigen Alkoholgenusses und des grossen
Nutzens der völligen Enthaltsamkeit schon in sehr viel weitere
Kreise des Volkes gedrungen ist, sehr viel mehr Gemeingut der
gesamten Bevölkerung geworden ist, als es in anderen Ländern
trotz umfassender wissenschaftlichen Untersuchungen darüber
bisher geschehen ist.
Nächst Amerika ist man in der Bekämpfung des Alkohol¬
genusses bei dem Eisenbahnpersonal bis jetzt am weitesten in
England gegangen. Auf der grossen englischen Westbahn
dürfen den Beamten und Arbeitern keine alkoholischen Getränke
verabreicht werden. Begründet wird diese Massregel mit der
Erfahrung, dass „die meisten auf ein Verschulden von Beamten
zurückzuführenden Betriebsunfälle in angetrunkenem Zustande-
herbeigeführt werden“. Insgesamt gibt es unter dem englischen
Eisenbahnpersonal etwa 50000 Enthaltsame. Etwa 20000 davon
sind zu einem Verein zusammengeschlossen, der 1882 aus der
eigenen Initiative der englischen Eisenbahnbediensteten hervor¬
gegangen ist.
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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst.
69
Auch in Frankreich ist man der wachsenden Gefahr gegen¬
über nicht untätig gewesen. Seit mehreren Jahren haben die
grossen französischen Eisenbahngesellschaften den Kampf gegen
den Alkohol bei ihrem Personal damit aufgenommen, dass sie
es durch wissenschaftliche Vorträge über Wesen und Wirkungen
des Alkohols aufklären lassen. Auf dem Bremer Kongress teilte
Dr. Legrain-Paris, der verdienstvolle langjährige Führer der
französischen Antialkoholbewegung mit, dass er im Laufe des
vorigen Winters im Aufträge der französischen Westbahn deren
Personal nicht weniger als 40 derartiger Vorträge gehalten habe.
Einer Nachricht zufolge, die sich in der Monatsschrift „L'Alcool“
des französischen Alkoholgegnerbundes (Union Frangaise Anti-
alcoolique) findet, ist die französische Ostbahn seit drei Jahren
in dieser Richtung tätig. Der Erfolg ist nicht ausgeblieben.
Die alkoholgegnerische Vereinigung der französischen Eisen¬
bahnbeamten und -Arbeiter (Societe antialcoolique des Employes
et Ouvriers des chemins de fer) zählt gegenwärtig rund 12000
Mitglieder, von denen der vierte Teil, also etwa 3000, völlig
alkoholenthaltsam ist.*)
In Russland sind neuerdings die Bahnärzte beauftragt
worden, Untersuchungen über die Verbreitung des Alkoholismus
bei dem Eisenbahnpersonal anzustellen und sich über die ge¬
eigneten Mittel zur Bekämpfung dieses Uebels zu äussern. Von
dem Ausfall dieser Untersuchungen soll dann das weitere Vor¬
gehen in dieser für die Eisenbahnen wie für die Gesamtheit
gleich wichtigen Angelegenheit abhängen. Da die russische
Regierung den hohen Wert der Enthaltsamkeitsbewegung für
die Bekämpfung des Alkoholübels voll zu würdigen scheint, —
ihr amtlicher Vertreter auf dem Bremer Kongress trat dort
nachdrücklich für völlige Enthaltsamkeit ein — so darf ange¬
nommen werden, dass man sich nicht mit mehr oder minder
unwirksamen halben Massregeln begnügen wird.
Welchen Standpunkt die deutschen Eisenbahnverwaltungen
zu der Alkoholfrage einnehmen, ist aus den Mitteilungen der
Tageszeitungen so bekannt, dass es kaum eingehender Aus-
*) Diese der genannten Monatsschrift entnommenen Zahlen scheinen nach
neueren Mitteilungen an anderer Stelle nicht ganz zutreffend zu sein; völlig sichere
Angaben waren bisher leider nicht zu erlangen.
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Abhandlungen.
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einandersetzungen darüber bedarf. Die preussische Eisenbahn¬
verwaltung, die das grösste einheitliche Betriebsunternehmen
in Europa umfasst, hat schon früher, aber auch in neuerer und
neuester Zeit, durch eine ganze Reihe von Anordnungen be¬
wiesen, dass sie durchaus gewillt ist, den Alkoholgenuss bei
ihrem Personal soweit einzuschränken, als es bei der unbestreit¬
baren Macht unserer Trinksitten und gegenüber dem tief ein¬
gewurzelten weitverbreiteten Aberglauben von der Zuträglich¬
keit „massigen“ Alkoholgenusses angängig erscheint. Haupt¬
sächlich bewegen sich diese Anordnungen auf dem Gebiete der
Vorbeugung. In den wohnlicher und behaglicher als früher
ausgestatteten Aufenthalts- und Erfrischungsräumen (Kantinen)
werden neben leichtem Bier auch alkoholfreie Getränke zu
billigen Preisen feilgehalten. Branntwein ist vollständig aus¬
geschlossen. Auch ist in diesen Räumen überall Gelegenheit
zur Erwärmung mitgebrachter Speisen und Getränke, wie Kaffee,
geboten. Für Unterhaltung ist durch Einrichtung von Büchereien
gesorgt. Bei strenger Kälte werden dem Zugpersonal in be¬
stimmten Zwischenräumen erwärmende Getränke, Kaffee oder
Warmbier (das beim Kochen den grössten Teil des Alkohol¬
gehalts einbüsst) unentgeltlich verabreicht. Auf allen Stationen
der preussisch-hessischen Staatsbahnen bis herunter zu den
kleinsten Haltestellen ist ferner dafür gesorgt, dass frisches
Trinkwasser auf den Bahnsteigen oder doch in deren unmittel¬
barer Nähe unentgeltlich zu haben ist, eine äusserst wohltätige
Einrichtung, die leider noch nicht auf allen deutschen Bahnen
durchgeführt ist. Der Genuss alkoholischer Getränke während
der Dienstzeit ist gänzlich untersagt oder doch nur unter be¬
stimmten einschränkenden Voraussetzungen gestattet, die sich
in der Praxis allerdings schwer kontrollieren lassen werden.
Noch wäre hier zu erwähnen, dass die Entnahme alkoholfreier
Erfrischungen in den Bahnhofswirtschaften namentlich durch
Herabsetzung der früheren teilweise ganz unverhältnismässig
hohen Preise dafür ausserordentlich begünstigt worden ist.
Diese Massnahmen fallen in dem schwierigen Kampfe
gegen den Alkoholismus zum grössten Teil allerdings unter die
sogenannten „kleinen Mittel“. Das darf aber ihre Wertschätzung
nicht beeinträchtigen. Die Hauptsache ist, dass sie mehr oder
minder den ausgesprochenen Zweck haben, auf die bisherigen
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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst.
71
Trinkgewohnheiten, den bisherigen Trinkzwang, einschränkend
zu wirken; dass sie ferner dem beständig wachsenden Teile
des Eisenbahnpersonals (wie des reisenden Publikums), der
nicht mehr bei jedem Anlass zu alkoholischen Getränken greifen
mag, die Gelegenheit zu wirklicher Erfrischung geben.
Sehr bemerkenswert ist das neuerliche Vorgehen der
Generaldirektion der sächsischen Staatsbahnen. Diese hat den
sächsischen Landesverband des Deutschen Vereins gegen den
Missbrauch geistiger Getränke ersucht, ihren Beamten und
Arbeitern durch geeignete Aerzte Vorträge über die Alkohol¬
frage und ihre Bedeutung für die Eisenbahner halten zu lassen.
Der genannte Landesverband hat sich selbstverständlich gern
dazu bereit erklärt. In Dresden, Bautzen, Leipzig, Chemnitz
und Zwickau soll niit den Vorträgen begonnen werden.*) Wenn
auf diesem Wege, wie nicht anders zu erwarten, ähnliche Er¬
folge wie bei den französischen Bahnen erzielt werden, darf
mit Sicherheit angenommen werden, dass er in Sachsen weiter
verfolgt werden wird und dass auch andere deutsche Eisen¬
bahnverwaltungen ihn beschreiten werden.
Der besondere Wert der Alkoholenthaltsamkeit für den
Betriebs- und Verkehrsdienst, und zwar nicht bloss der Eisen¬
bahnen, ist überaus einleuchtend. Er wird eigentlich von keiner
Seite bestritten. Auch nicht von denen, die — meist um der
eigenen Trinkgewohnheiten willen — den sogenannten „massigen“
Alkoholgenuss aufs hartnäckigste verteidigen. Selbst der in
letzter Zeit vielgenannte Professor Dr. Hueppe in Prag hat in
seinem in Bremen gehaltenen Vortrage über „Körperübungen
und Alkoholismus“ anerkennen müssen, dass schon geringe
Alkoholmengen die feinere Gehirntätigkeit beeinträchtigen. Bei
denjenigen Fertigkeiten, sagt er, von denen das Schicksal von
Menschen abhängt, wie bei der Führung eines Dampfschiffes
oder einer Lokomotive, muss demnach der Alkoholgebrauch
unter Umständen die schwersten Bedenken erwecken, und
viele Zusammenstösse von Schiffen und viele Eisenbahnunfälle
sind sicher nur der Trunkenheit des Personals zuzuschreiben.
Der Staat ist deshalb entschieden berechtigt, die Frage zuzu-
*) Ist inzwischen geschehen.
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72
Abhandlungen.
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lassen, ob für derartige Berufe Abstinenz von Alkohol gefordert
werden soll.
Von der Möglichkeit, eine derartige „radikale“ Forderung
aufzustellen oder durchzuführen, sind wir jedoch in Deutschland
noch sehr weit entfernt. Erst dann, wenn das Verständnis für
die Schädlichkeit gewohnheitsmässigen Alkoholgenusses und für
den Nutzen völliger Enthaltsamkeit, besonders für den gefahr¬
vollen und verantwortlichen Verkehrsdienst, in alle Kreise
unseres Volkes gedrungen sein wird, wenn diese Einsicht ge-
wissermassen Gemeingut der Gesamtheit geworden sein wird,
wie es in Nordamerika und in anderen nordischen Ländern
schon heute der Fall ist, erst dann wird es möglich sein, im
Interesse des Gesamtwohls eine derartige Forderung zu stellen,
ohne dass sie als ein ungerechtfertigter Eingriff in die persönliche
Freiheit des einzelnen empfunden und bekämpft wird. Bis
dahin aber werden die deutschen Eisenbahnverwaltungen nicht
umhin können, die auf Einschränkung des Alkoholgenusses und
namentlich die auf Verbreitung der Enthaltsamkeit gerichteten
Bestrebungen privater Natur nach Möglichkeit zu fördern und
zu unterstützen. In erster Linie auf dem Wege der Aufklärung
und Belehrung unter Mitwirkung geeigneter Aerzte. Ferner
durch weitere Ausdehnung der vorerwähnten Wohlfahrtsein¬
richtungen. Die darauf zu verwendenden Mittel werden sicher¬
lich reichen Gewinn tragen. Auch die Bestrebungen des am
26. Januar 1902 mit etwa 120 Mitgliedern ins Leben gerufenen,
jetzt über 600 Mitglieder in 16 Ortsgruppen umfassenden
„Deutschen Vereins enthaltsamer Eisenbahner“*) werden hier¬
nach vielleicht eine wohlwollende Förderung verdienen. Tat¬
sächlich kann der Verein die Betätigung solchen Wohlwollens
auch schon dankbar verzeichnen. Die Generaldirektion der
bayerischen Staatsbahnen hat den Aufruf des Verfassers „An
alle deutschen Eisenbahner (Beamte und Arbeiter)“ als „geeignet,
sachdienliche Aufklärung über die Bedeutung der Antialkohol¬
bewegung für das allgemeine und individuelle Interesse zu
geben“, in mehreren tausend Abdrücken bei ihren Dienststellen
verbreiten lassen. Ausserdem ist sie dem Verein als unter-
*) Die Vereinszeitschrift ,.Der enthaltsame Eisenbahner“ erscheint monatlich.
Bezugspreis 50 Pfg. vierteljährlich.
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de Terra, Abstinenz im Eisenbahndienst.
73
stützendes Mitglied beigetreten, wie dies kurz zuvor schon die
Berufsgenossenschaft der deutschen Privatbahnen getan hatte.
Auch die Generaldirektion der badischen Staatsbahnen hat ihren
Beitritt erklärt. Je mehr sich die dem Verein bezeugten Sym¬
pathien auch praktisch betätigen, desto eher wird es gelingen,
alle Schwierigkeiten zu überwinden, die sich einer grösseren
Verbreitung seiner gemeinnützigen Bestrebungen bisher in den
Weg gestellt haben.
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Abhandlungen.
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Die Sonderausstellung zur Bekämpfung des
Alkoholismus in Charlottenburg.
Von Dr. jur. EQQ6rS, Bremen.
Vor einem Jahre hatten wir den ersten internationalen Kongress
gegen den Alkoholismus auf deutschem Boden. Seit dem 13. März
dieses Jahres haben wir eine Sonderausstellung zur Bekämpfung des
Alkoholismus in einem Gebäude des deutschen Reichs.*)
Solche Tatsachen sind wohl geeignet, das Vertrauen und den
Mut der Alkoholgegner — der Mässigen und Enthaltsamen — zu heben.
Nach mehr als 20 jähriger, mühevoller und manchmal aussichtslos
erscheinender Arbeit auf dem schwer zu beackernden deutschen Boden
sehen wir endlich die Saat aufgehen, wir sehen Blüte um Blüte knospen
und können teilweise auch schon von einer Ernte, von einem Bergen
und Geniessen der Früchte sprechen. Zu solchen Gedanken und Ge¬
fühlen regt die Betrachtung der Sonderausstellung an!
Und noch eine Erwägung drängt sich auf. „Ach, ich bin des
Kampfes müde!" Dieser Stossseufzer entringt sich in letzter Zeit manchesmal
der Brust des Alkoholgegners. Nicht müde des Kampfes gegen den
Alkoholismus, wohl aber des Kampfes unter den Kämpfern. Die grösste
Zahl der Mitglieder der verschiedenen Vereine wünscht mit den Nachbar¬
vereinen Frieden zu halten. Auf dem Bremer Kongress hat man mit
aller Energie gegenseitig den Standpunkt präzisiert. Das hatte historisch
seine volle Berechtigung, es war nötig, um einmal Klarheit in die Lage
zu bringen, um auch einmal vor der breitesten Öffentlichkeit zu zeigen,
dass nicht alle Alkoholgegner dasselbe wollen, dass die Endziele der
*) In der Frauenhoferstrasse zu Charlotten bürg befindet sich die unter der
Verwaltung des Reichsamts des Innern stehende Ständige Ausstellung für Arbeiter¬
wohlfahrt, ein Museum für alle den Arbeiterschutz und die Arbeiterwohlfahrtspflege
umfassenden Bestrebungen. In diesem Museum ist ein besondeier Saal den Bekämpfungen
der Tuberkulose eingeräumt worden. Ein weiterer Saal ist uns überlassen worden,
zunächst auf ein Jahr; es ist jedoch begründete Aussicht vorhanden, dass unsere,
ebenso wie die Tuberkulose-Ausstellung, so gut wie dauernd dort bleiben wird. Es
mag ausdrücklich hervorgehoben werden, dass diese beiden Sonder-Ausstellungen sich
nicht nur an die Arbeiterklasse, sondern an alle Klassen der Bevölkerung wenden.
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Eggers, Die Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus etc. 75
Mässigkeit und Enthaltsamkeit verschieden sind. Das ist auf dem
Kongress geschehen, und es ist in Anschluss an den Kongress noch in
Vorträgen, Aufsätzen und sonstigen öffentlichen wie privaten Auseinander¬
setzungen geschehen. Ob es immer mit der wünschenswerten Duldung
von beiden Seiten, ob es immer mit der vom idealen Standpunkt zu
fordernden Versöhnlichkeit des Tones erfolgte, das soll hier nicht unter¬
sucht werden. Jedenfalls ist man in weiten Kreisen dieser Kämpfe
überdrüssig* Man sehnt sich nun „andere Töne zu hören und freuden-
vollere“. Wie weit können Mässige und Abstinenten Zusammengehen ?
Was ist das Einigende? Empfiehlt es sich nicht auch, die Alkoholfrage
nach allen Richtungen hin noch zu studieren, anstatt von einem Dogma
aus alles zu konstruieren ?
Gerade die Frage des Studiums der Alkoholfrage gewinnt in
Deutschland immer mehr Bedeutung. Wir haben viele feine, wissen¬
schaftliche Köpfe unter uns, die sich durch den Lärm der Agitation
zurückgeschreckt fühlen, die weder geneigt sind, irgend eine Theorie
ohne weiteres zu acceptieren, noch in die Propaganda einzutreten. Es
wäre ausserordentlich viel gewonnen, wenn wir alle Gebildeten dahin
bringen könnten, sich einmal ernstlich mit unserer Frage zu beschäftigen.
Zu Agitatoren lässt sich immer nur eine kleine Anzahl von Menschen
heranbilden. Wenn man mit einer Idee durch dringen will, so kommt es
darauf an, die öffentlichen Männer zu gewinnen. Wir können nicht alle feinen
Geister, wir können erst recht nicht 58 Millionen Deutsche zu Mitgliedern
von Abstinenz- und Mässigkeitsvereinen machen, wir können aber wohl
dahin kommen, dass die Majorität der Deutschen mit unserer
Bewegung sympathisiert. Dahin müssen wir kommen,
das wird andererseits auch genügen. Wenn dann die Zeit erfüllt ist —
sei es für die Mässigkeit, sei es für die Abstinenz — dann werden die
kraftvollen Rufer im Streite, die Vorkämpfer mit ihren organisierten An¬
hängern vorangehen und werden den Ausschlag gebenden Teil der
Nation mit sich reissen. Wenn wir aber dahin nicht kommen, wenn
wir nicht das Sektenhafte, das uns Alkoholgegnern — ernsthaften
Mässigen wie Enthaltsamen — immer noch anhaftet, überwinden, dann
wird unsere Reform zerschellen, wie so viele Reformen in den Strudeln
der Weltgeschichte untergegangen sind, obgleich sie manchesmal von
tüchtigen Menschen unter glänzender Führung unternommen wurden.
Die Ausstellung soll das Studium der Alkoholfrage erleichtern,
der Besucher soll das Studium ohne Umstände und Beeinflussung
pflegen können. Die Ausstellung soll aber auch in dem Alkoholbekämpfer
den Eindruck hervorrufen, dass sich hier ein Arsenal voll schneidiger
Waffen befindet, die nicht nur zur Erweiterung der Waffenkunde auf¬
gebaut sind. Die Waffen sollen in dem Alkoholgegner die Lust, den
Wunsch, den unwiderstehlichen Trieb erwecken, sich ihrer im Kampfe
zu bedienen. Wir Alkoholgegner brauchen mit dem Losschlagen nicht
so lange zu warten, bis Theorie und Praxis uns noch mehr, noch bessere
Waffen gegeben haben. Wir sind auch bei allem Respekt vor der
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76
Abhandlungen.
Wissenschaft, insbesondere der deutschen Wissenschaft, nicht verpflichtet,
mit gefalteten Händen einen Majoritätsbeschluss oder gar einem ein¬
stimmigen Beschluss der Vertreter der Wissenschaft in den tausend und
abertausend Streit- und Zweifels-Fragen über Alkohol und Alkoholismus
entgegenzuharren. Wir haben lange genug die Verheerungen des
Alkoholismus schweigend erduldet. Jetzt ist die Zeit des Schweigens
vorbei. Und die des Klagens auch. Jetzt wollen wir ausziehen zum
fröhlichen Kampfe! Wir wollen zu einem greifbaren Ziele kommen.
Zu einem greifbaren Erfolge, wie ihn unsere Vorfahren in den Befreiungs¬
kriegen, wie ihn unsere Väter in den Kämpfen um die Einheit Deutsch¬
lands gehabt haben. Diese weltgeschichtlichen Taten sind auch nicht
auf den Majoritätsbeschlüssen deutscher Professoren aufgebaut worden.
Ein hervorragender deutscher Gelehrter hat sehr richtig gesagt, dass,
wenn wir mit der Bekämpfung des Alkoholismus so lange warten wollten,
bis die deutsche Wissenschaft ihr endgiltiges Urteil über alle und jede,
grosse und kleine Wirkungen des Alkoholgenusses abgegeben hätte, das
deutsche Volk sich unterdessen um seine Existenz gesoffen haben würde.
Die Sonderausstellung soll also neben ihrem theoretisch-wissen¬
schaftlichen auch einen praktisch-propagandistischen Charakter haben.
Es ist sehr zu hoffen, dass das in der Ausstellung deponierte Kapital
niemals von toter Hand nach büreaukratischen Grundsätzen verwaltet
wird. Eine lebendige, befruchtende Kraft soll es immer ausströmen.
In engem Zusammenhang mit den Antialkoholvereinen, mit verwandten
Bestrebungen, mit dem grossen Publikum, mit den Behörden soll es
stets gehalten werden. Möge die Ausstellung viele Freunde finden.
Und einige Feinde ! Einige entrüstete, ihrer Entrüstung lauten Ausdruck
gebende Feinde. Wenn die Ausstellung keine Angriffe erfahren würde,
so wäre das vielleicht ein sehr bedenkliches Zeichen, ein Zeichen, dass
sie für das grosse Publikum langweilig ist, da sie nicht den geringsten
Widerspruch hervorruft. Möge man auf die Ausstellung schelten, wenn
man nur davon spricht. Die gerechte Würdigung wird dann schon mit
der Zeit kommen.
Bei der Eröffnungsfeier wurde gesagt, dass es sich noch nicht
eigentlich um eine Einweihung als vielmehr eine Grundsteinlegung
handeln könne. In der Tat bietet die Ausstellung schon viel An¬
regung und Belehrung, es muss das alles aber noch ausserordentlich
gesteigert und ausgebaut werden. Es kann nach und nach die Aus¬
stellung sich zu einer Zentralstelle für die gesamte Antialkoholbewegung
Deutschlands ausbilden. Und wenn man ganz kühn denken will, so könnte
man sich diese deutsche zu einer Zentralstelle der Bekämpfung des Alkoho¬
lismus auf der ganzen Welt entwickeln sehen. Was wäre dabei so Wunder¬
bares? Der Kampf wird jetzt schon in der Hauptsache international
geführt, Deutschland wäre geographisch und kulturell wohl geeignet, eine
Zentralstelle zu erhalten. Eine günstigere Stelle als die jetzt geschaffene
lässt sich kaum denken. Eine freie Organisation im gastlichen Schutze
des Staates!
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Eggers, Die Somlerausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus etc. 7 (
Das sind Zukunftshoffnungen, zunächst handelt es sich um Gegen¬
wartsarbeiten. Es wird in der nächsten Zeit vor allem darauf ankommen,
die wichtigsten Tatsachen und Gesichtspunkte des Kampfes gegen den
Alkoholismus in kurze schlagende Anschauungs-Formeln zu bringen.
Zuverlässige, leicht fassliche Statistiken, Tabellen, bildliche Darstellungen,
das ist’s, was wir vor allem, und viel mehr als bisher, für unseren Aus¬
stellungsraum brauchen. — Und ferner muss unsere Bibliothek zusammen¬
gestellt werden. Wir haben von vielen wichtigen Publikationen ein,
teilweise zwei bis drei Exemplare erhalten, so dass wir eines davon im
Ausstellungsraum auslegen konnten und die anderen nun in der Biblio¬
thek Verwendung finden sollen. Wir beabsichtigen die Bibliothek einmal
alphabetisch nach den Autoren, zweitens soweit möglich nach Materien
zusammenzustellen. Die Benutzung der Bibliothek wird zuerst nur in
dem Ausstellungsgebäude stattfinden können, wir werden dann aber sobald
wie möglich auch eine Leih-Bibliothek einrichten und in derselben die
Hauptwerke in grösserer Anzahl führen. — Wenn das die wichtigsten
Arbeiten sind, so wollen wir alles Andere nicht ausser Acht lassen.
Unser Bestand muss dauernd auf dem Laufenden erhalten bleiben. Wir
bitten, dauernd uns alles auf die Alkoholfrage Bezügliche zuzuaenden:
Bücher, Broschüren, Flugblätter, Artikel aus Zeitschriften und Zeitungen,
Abbildungen, Statistiken, Tabellen, Modelle, Apparate. Wir werden mög¬
lichst alles bringen und, soweit der Platz nicht reicht, für gute Aufbe¬
wahrung und späteren Aufbau beim Wechsel der Ausstellungsgegenstände
sorgen. Wir beabsichtigen, in unserer Ausstellung später von Zeit zu
Zeit Unterausstellungen zu machen, indem wir z. B. ein Mal alles, was auf
Heer und Marine oder auf Gewerbe und Landwirtschaft oder auf geistige
und künstlerische Arbeit, auf den Occident und Orient, auf die Tropen
und unsere Kolonien etc. Bezug hat, nach speziellen Gruppen zusammen¬
stellen. Wir glauben, immer wieder Neues und Interessantes bieten zu
können. Wir hoffen auch, dass eine Reihe von bemerkenswerten Vor¬
trägen in dem herrlichen Vortragssaale des Ausstellungsgebäudes gehalten
werden wird.
Sehr wichtig wird es dabei sein, in richtiger Weise das Publikum
immer wieder auf die Ausstellung anfmerksam zu machen. Durch Be¬
sprechungen ! Durch Inserate! Durch Plakate! Durch Plakate be¬
sonders auf allen Bahnhöfen Berlins und seiner Vororte, dann aber auch
aller grösseren deutschen Städte. Der Reisende, der nach Berlin kommt,
soll immer wieder daran erinnert werden, dass es dort eine Ausstellung
zur Bekämpfung des Alkoholismus gibt, und dass die Ausstellung unent¬
geltlich zu besichtigen ist. »Dort« sagte ich eben nicht ganz korrekt,
die Ausstellung liegt ja »ausserhalb« Berlins. Sie liegt in Charlottenburg,
aber doch nicht ausser aller Welt, Fraunhoferstrasse, 4—5 Minuten zu
gehen vom »Knie«, also bei den vorzüglichen Verbindungen nach dem
Knie« mit der Untergrundbahn oder der den Tiergarten durchqueren¬
den elektrischen Bahn bequem zu erreichen.
Die Tages-Presse hat eingehend und beinahe durchweg sachlich
und anerkennend über die Ausstellung berichtet. Den ausführlichsten
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Abhandlungen.
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und wohlwollendsten Bericht brachte der »Vorwärts«. Die Ausstellung
wird über Erwarten stark besucht, der Ausstellungsraum kann manchmal
die Besucher nicht fassen. Es zeigt sich bei dieser Gelegenheit wie
bei den Beratungen über die lex Douglas und bei dem Bremer Kongress,
welch lebhaftes Interesse die Alkoholfrage in letzter Zeit im Publikum
findet. Die Alkoholfrage ist ein Modethema und mehr als das geworden,
man beginnt allmählich überall eine Vorstellung von der Bedeutung
dieser Frage zu bekommen. Diese Vorstellungen zu vertiefen, das ist
der wesentliche Zweck der Ausstellung. Eine kurze Beschreibung der
Ausstellung ist von der Leitung herausgegeben und von derselben unent¬
geltlich zu beziehen. Es sei gestattet, mit dem Schluss dieser Beschreibung
auch diese Ausführungen zu schliessen:
Der Zweck der Ausstellung wird erreicht sein, wenn die weitesten
Kreise der Bevölkerung davon überzeugt sein werden, dass die — einige
Individuen angehende — Trunksuchtsfrage früherer Zeiten
etwas ganz anderes ist als die — Alle angehende — Frage der allmäh¬
lichen Alkoholisierung unserer ganzen Nation, dass die Lösung dieseF
modernen Alkoholfrage nicht ohne schwere Gefahren aufge¬
schoben werden kann, dass Gesetze und Verordnungen allein keine
Hülfe bringen, sondern dass das ganze deutsche Volk, Männer und
Frauen, Arm und Reich, Jung und Alt, Nüchterne und die durch den
Alkoholgenuss Gefährdeten, an der gemeinsamen Aufgabe arbeiten müssen :
unser Vaterland zu befreien von der unwürdigen Tyrannei der Trink¬
sitten, von den schmachvollen Ketten des Alkoholismus! Es wäre
feige undundeutsch, d i es e m s c h w e r e n a b e r n o t w e n d i g
g ew ordenen Kampf aus dem Wege zu gehen!
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Brendel, Ueb. d. Fortschritt d. Bestreb, geg. d. Alkoholismus in Bayern. 79
Ueber den Fortschritt der Bestrebungen gegen
den Alkoholismus in Bayern.
Von C. Brendel, München.
Dass es in dem Bierlande Bayern einen nenneswerten Grad von
Alkoholismus gebe, kam der öffentlichen Meinung hier erst im letzten
Jahrzehnt zum Bewusstsein; sogar medizinische Fachleute verkannten
das Bestehen einer weitverbreiteten Alkoholisierung der Massen durch
Bier. In einer Statistik der Abhängigkeit des Irreseins vom Alkoholis¬
mus wurde im Gegensatz zu andern deutschen Ländern von Bayern
allen Ernstes behauptet, dass diese Ursache in den bayrischen Irren¬
anstalten überhaupt kaum beobachtet würde.
Getreu Liebigs Ausspruch »das Bier ist flüssiges Brot«, tat man
sich auf den hohen Bierverbrauch noch etwas zu Gute, sah ihn als einen
wesentlichen Vorzug vor dem schnapstrinkenden Norden an und hörte
gern sogar von den dortigen Mässigkeitsfreunden das Bier als vermeint¬
lichen Verdränger des Schnapses gepriesen. München galt als der Bier¬
vorort in Deutschland und zum guten blauweissen Patriotismus gehört
das Biertrinken.
Vor etwa io Jahren begann in Bayern ein Umschwung. Am
pathologischen Universitätsinstitut konnte die Tatsache nicht unbeobachtet
bleiben, dass gesunde Männerberzen an Leichen, mögen ihre Träger an
irgend welcher Krankheit gestorben sein, ein ebenso seltener Befund
waren, als krankhaft vergrösserte und erweiterte, erschlaffte auffallend oft
und dann immer bei notorischen Biertrinkern vorkamen.
Für den Beginn der Mässigkeitsbewegung in Bayern war das Ein¬
treten Pettenkofers massgebend. Als treuer Wächter der öffentlichen
Gesundheit allgemein anerkannt und verehrt, musste sein offenes Be¬
kenntnis zum Nachdenken und Nachahmen auffordem. Der Glaube an
den hohen Wert, zum mindesten an die Ungefährlichkeit des gebräuch¬
lichen Biergenusses war erschüttert. Der Zusammenhang einer Masse
von Leiden und Schäden, sowohl am Körper des Individuums wie der
staatlichen Gemeinschaft mit den herrschenden Trinksitten wurde erkannt
und eine lebhafte Agitation sorgte seitdem für eine stetige Ausdehnung
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Abhandlungen.
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und Vertiefung dieser Erkenntnis. Freunde und Gesinnungsgenossen
von aussen führten uns neue wirksame Kräfte zu und von hier ging
wieder mancher Anstoss nach aussen in geschriebenem und gesprochenem
Wort, zur Aufklärung, Mitarbeit und zum Beispiel.
Und doch könnte jede Art von Erfolg bezweifelt werden, wenn
man das Münchener Leben betrachtet, wo das Bier alles zu beherrschen
scheint. Der Besuch und 3 ierverbrauch beim Oktoberfest, zur Zeit
des Bocks und Salvators, Märzen- und Bennobieres etc., das Faschings¬
treiben, wo Bachus und Venus wüste Phäakenopfer gebracht werden,
das Aufkommen mächtiger neuer Bierpaläste, das Kneipen- und Keller-
Leben, das Trinken zwischen und bei der Arbeit, das Schleppen der
Bierfässer und Bierkrüge und — Bierbäuche in den Strassen Münchens,
das Leben und Treiben des Hofbräuhauses usw., all das spricht wenig
für den Sieg der Mässigkeit oder gar der Enthaltsamkeit in München.
Im Bierkultus schienen alle Gegensätze sich auszugleichen und auch
im sonst kampflustigen Landtag schwieg aller Widerspruch, wenn es
sich z. B. um die Errichtung einer neuen Bierprofessur an der staat¬
lichen Brauakademie in Weihenstephan handelte; da kam in Jahren die
einzige einstimmige Annahme einer Vorlage zu Stande. Entblödete
sich doch vor ein paar Jahren der Deutsche Verein für Volks¬
hygiene nicht, seine Tagung mit einem Festgelage im Hof bräuhaus
zu eröffnen, wobei es zuging, wie etwa bei einem Brauerkongress, und
jeder der Festgenossen aus der Hand des Stadtoberhauptes eine bleibende
Erinnerung an das Fest mit nach Haus bekam, einen echten Münchner
Masskrug. Auch jetzt sieht man noch als Regel bei Sitzungen sogar
ernster wissenschaftlicher Vereine das Bierglas fast vor jedem Anwesenden,
aber — es wird seltener als früher nachgefüllt oder gar nicht und die
Zahl der Nichtbiertrinkenden nimmt allenthalben auffällig zu. Kurz,
München trinkt weit weniger als früher. Die krampfhaften verführerischen
Veranstaltungen, die Reklame der Bierinteressenten, deren treue Gefolg¬
schaft und ihre Trinkgelage können die Tatsache nicht aus der Weit
schaffen, dass München seit io Jahren stetig weniger trinkt. Im letzten
Rechnungsbericht, von 1902, ergab sich nicht nur eine relative Abnahme
des Bierverbrauchs auf den Kopf der Bevölkerung, sondern sogar eine
mächtige absolute Abnahme trotz starkem Zuwachs der Bevölkerung;
denn 1902 trank München 1517998 Hektoliter, während es im Vor¬
jahr 1901 noch 1 712 995 Hektoliter vertrunken hatte. Der Bierkonsum
betrug noch 1886—1890 jährlich auf den Kopf der Bevölkerung
487 Liter, sank 1891—1895 bereits auf 412 L., 1896 auf 401 und so
stufenweise auf 395, 391, 364, 356 und im Jahre 1901 auf 341 und
1902 auf 298 Liter, allerdings immer noch eine respektable Leistung,
welche etwa der Gesamtausfuhr der riesigen Münchener Bierproduktion
entspricht und die Bierausfuhr des ganzen deutschen Reiches über seine
Grenzen übertrifft.
Wie hat sich nun hier die Agitation gegen den Alkoholismus
geäussert? Vor 10 Jahren bildete sich in München ein Zweig des
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Brendel, Ueb. d. Fortschritt d. Bestreb, geg. d. Alkoholismus in Bayern. 81
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke, der bald
auch in ganz Bayern zahlreiche Mitglieder fand. Nur in Augsburg
entstand ein zweiter Zweigverein, der ein ziemlich stilles Dasein führt,
während unsere Bemühungen, auch in anderen bayrischen Städten z. B.
Nürnberg, Ansbach, Würzburg, Erlangen Zweigvereine zu gründen, bis
jetzt immer scheiterten.
Bald entstand hier auch eine Abteilung des Alkoholgegnerbundes
sowie eine Guttemplerloge und auch in Nürnberg kam es dazu, in
Augsburg besteht ein Zweig des Blauen Kreuzes. Was diesen allen an
Zahl abgeht, ersetzen sie durch Rührigkeit und Energie. Ihre befruch¬
tende Tätigkeit hat auch auf den »Mässigkeitsverein« günstig eingewirkt;
viele Mitglieder gehören gleichzeitig den verschiedenen Vereinen an und
stets herrschte das beste gegenseitige Einvernehmen zum Nutzen der
gemeinsamen Bestrebungen. Der hohe Wert des persönlichen Beispiels
und Vorbildes wurde allseitig anerkannt.
Als Agitationsmittel wirkten ausser Vorträgen aus der Reihe der
eigenen Vereinsmitglieder oder wertvoller Gäste die Beeinflussung der
Presse, eine schwierige Sache gegenüber dem Alkoholkapital, ferner Ver¬
teilung vieler Schriften aus unserer reichen Antialkoholliteratur, Heraus¬
gabe und Verbreitung eigener Druckschriften, besonders aber die Förderung
einer Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen, die aus unseren Kreisen
wenigstens den Anstoss erhielten und Segen seit Jahren stiften.
Da sind zu neuen Wärmehallen (mit billiger Milch — Kaffee und
Suppen), Kaffeebuden, die schon vor 5 Uhr geöffnet und besonders gegen
den Frühschnaps gerichtet sind, öffentliche Speisehallen (mit etwa 3000
Besuchern täglich, ohne Alkoholkonsum) und neuerdings auch ein alkohol¬
freies feineres Restaurant, der Jungbrunnen, gekommen.
Die bayrische Bahnverwaltung hat mehrere Verbesserungen zur
Abstellung von Missbräuchen angeordnet.
Das Kultusministerium hat das Anerbieten des Mässigkeitsvereins,
durch eines seiner berufensten Mitglieder in allen bayrischen Lehrer-
seminarien Vorträge über die Alkoholfrage halten zu lassen, angenommen
und wirksam gefördert.
Aehnliche grössere Vortragsabende mit Diskussion sind in den
Priesterseminarien begonnen worden und sollen auf alle auszudehnen
versucht werden, am liebsten auch auf alle Mittelschulen.
Einige Vorträge wurden auch an der Universität gehalten, aber
leider verhalten sich auch hier wie anderwärts noch viele, denen es an
der Erkenntnis einer Berechtigung der Bekämpfung der Trinksitten nicht
fehlt, noch schwächlich und schüchtern. Doch ist auch hierin das
Wachstum des Pflichtgefühls des Individuums gegenüber den sozialen
Aufgaben nicht zu verkennen, und die gut aufgenommenen Vorträge in
Gewerkschaftsversammlungen fanden fruchtbaren Boden.
Die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung und der Behörden
musste auch auf die viel zu wenig beachtete Ausdehnung des Schnaps¬
konsums in München gelenkt werden. Eine Eingabe an den Magistrat
Die Alkoholfrage. 6
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bezweckt, den Schnapsbuden das Oeffnen vor 8 Uhr morgens zu ver¬
bieten. Hat sich doch ergeben, dass im Durchschnitt bis dahin jede
Schnapsbude schon 80 Gäste täglich aufnimmt. Die Angelegenheit ist
in Untersuchung.
Das Vordringen der Trinkgewohnheiten auf dem Flachland bis
in die entlegensten Ortschaften, vorzugsweise eine Folge des aufdring¬
lichen Flaschenbierhandels, muss bekämpft werden als eine der schäd¬
lichsten Neuerungen im Bauemleben.
Der beträchtliche Verbrauch von Natur- und Kunstweinen wird
hier noch nicht kontrolliert, ebensowenig der Verschleiss der namenreichen
Schnaps-, Likör- und Kognak-Fabrikation.
Wir kennen es ja zur Genüge, mit wie zarten Händen die ganze
Getränkebereitung und der Verkauf und die Besteuerung allenthalben
angefasst wird. Um so fester muss unserseits eingegriffen werden und
daran soll es auch künftig in stets steigendem Grad nicht fehlen.
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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika.
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Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“
in Amerika.
Von Dr. W. A. Stille in Leipzig.
Kein Kulturland hat schwerer an den Folgen der Trinkgewohn¬
heiten gelitten, als die Vereinigten Staaten von Amerika, in keinem
anderen Lande ist aber auch mit solchem Feuereifer und solcher Aus¬
dauer gegen die berauschenden Getränke gekämpft worden, und in
keinem anderen Lande hat endlich eine solche Klärung der öffentlichen
Meinung über den Volksfeind Alkohol stattgefunden, wie in den Ver¬
einigten Staaten.
Lange Zeit hindurch schien den Kämpfern für die Enthaltsamkeit
das gänzliche Verbot von Herstellung und Verkauf der berauschenden
Getränke (die »Prohibition«) das wirksamste Mittel zur Bekämpfung des
alten Uebels; und wirklich hat dies Mittel gute Dienste geleistet, bis
man endlich zu einem anderen Hülfsmittel übergehen konnte, nachdem
genügende Aufklärung im Volke verbreitet und die öffentliche Meinung
umgestimmt war. Dies neue Mittel ist die »local Option«, d. h. das
Bestimmungsrecht der einzelnen Kommunen, ob und unter welchen
Bedingungen jedesmal in dem gegenwärtigen Jahre Schanklizenzen aus¬
gegeben werden sollen, — oder nicht. Ein Staatsgesetz aber bestimmt
ausserdem noch eine hohe jährliche Abgabe an den Staat, für jede
Schanklizenz.
Die Statistik weist immer noch für Amerika einen nicht geringen
Verbrauch alkoholischer Getränke auf, aber es ist auch bekannt, dass
heutzutage fast nur noch unter dem eingewanderten Teil der Bevölkerung
die Trinkgewohnheiten fortbestehen, und dass die eingeborenen Amerikaner
fast durchgängig die alkoholischen Getränke meiden. Sogar die Kinder
der Deutschen in Amerika wachsen so unter dem Einfluss amerikanischer
Sitten auf, dass sie zum Teil schon abstinent leben, zum grösseren Teil
aber sich einer strengeren Mässigkeit befleissigen, als ihre Väter.
Wie sehr der gute Ton unter Anglo-Amerikanern die Enthaltsam¬
keit von geistigen Getränken erheischt, wird man daraus entnehmen,
dass man in Amerika in den Hotels an table d’höte keinen Wein
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bekommt. Der Kellner würde erstaunt sagen: »Aber meine Herren, Sie
können doch unmöglich verlangen, dass ich Ihnen hier, in Gegenwart
der Damen, Wein bringe!« Auch wird man sich aus den Zeitungen
entsinnen, dass, als vor zwei Jahren dem Prinzen Heinrich zu Ehren in
der Marine-Akademie zu Annapolis ein Festmahl gegeben wurde, dass
da kein Wein auf der Tafel erschien.
Die Kämpfe um die alkoholischen Getränke haben seit etwa
70 Jahren in Amerika eine erstaunlich grosse Rolle gespielt Das ganze
Volk war mit dieser Frage beschäftigt. In den Legislaturen der ein¬
zelnen Staaten gab es regelmässig wiederkehrende Kämpfe um Ein¬
führung oder Ablehnung der Prohibition, Kämpfe um höhere Besteuerung
des Schankgewerbes, um Bestrafung der Wirte für die Vergehen der
Betrunkenen, usw. Die protestantischen Kirchen englischer Sprache
kämpften eifrig für die Enthaltsamkeit, und wo es die öffentliche Meinung
zuliess, taten auch die Lehrer in den öffentlichen Schulen ein gleiches.
Bei den Wahlen des Bürgermeisters in den grossen Städten ging es
heiss her, denn dieser Beamte hat die Pflicht, durch die Polizei die
Schankstätten überwachen zu lassen und darauf zu sehen, dass die
Sonntagsgesetze nicht übertreten werden.
Im Laufe der langen Zeit und infolge der beständigen Agitation
haben überall in den Vereinigten Staaten die Trinksitten eine Einschränkung
erfahren, von der wir hier in Deutschland weit entfernt sind. Und das.
ist geschehen sogar ohne die wissenschaftliche Erkenntnis, die man, dank
der deutschen Forschungen, heute über die Wirkung der alkoholischen
Getränke besitzt. Wie schlimm es dagegen im Anfang des 19. Jahr¬
hunderts noch aussah, mag man aus folgender Angabe entnehmen. Im
Jahre 1817 hatte sich in New-York eine Gesellschaft zur Bekämpfung
der Trinksitten gebildet, das »Bürgerkomitee«. Dies berichtete, dass
damals in New-York ein Achtel der ganzen Bevölkerung Armenunter¬
stützung empfing, dass aber sieben Achtel dieses Pauperismus allein vom
Trunk herrühre. In demselben Jahre berichtete der Bürgermeister von
New-York, dass in der Stadt, welche damals 115 000 Einwohner zählte,
2500 Trinklokale existierten, d. h. eins auf 46 Einwohner! Aehnlich
sah es in Baltimore, Philadelphia und anderen Städten aus. Es mussten
notwendig kräftige Massregeln ergriffen werden gegen das Alkoholelend.
In den 20 er und 30 er Jahren regte es sich auch mächtig. Ueberall
entstanden »Mässigkeitsvereine«, die freilich in Wirklichkeit Enthaltsam¬
keit verlangten, da man längst aus Erfahrung wusste, dass der Entschluss
des Trinkers, hinfort mässig zu sein, immer fruchtlos bleibt. Trotz des
Eifers der Temperenzler ist es gewiss, dass um das Jahr 1840 noch
viel getrunken wurde. In diesem Iahre fand nämlich jene Präsidenten¬
wahl statt, die noch heute im Volke unter dem Namen »the hard cider
campaign« bekannt ist, und damit hat es folgende Bewandtnis: Der
General Harrison, der die Indianer bei Tippecanoe geschlagen hatte
und der im Volke den Kosenamen »Old Tippecanoe« hatte, war Präsi¬
dentschaftskandidat. Er war ein volkstümlicher Held, und es wurde ihm
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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika.
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nachgerühmt, dass er selbst seinen Apfelwein baue und ihn selbst tränke.
Tyler war Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der Schlachtenruf hiess:
:> Old Tippecanoe and Tyler too« und dabei gab es gegorenen Apfel¬
wein (hard cider) in ungemessenen Mengen. Die Begeisterung erreichte
eine unglaubliche Höhe und Harrison und Tyler wurden gewählt mit
grosser Majorität.
Gleich nach dem »hard cider campaign« kam die Ernüchterung. In
allen Staaten setzte eine starke Bewegung ein für die gänzliche Abschaffung
der berauschenden Getränke, und im Jahre 1851 war die Sache so weit
gediehen, dass die Temperenzler im Staate Maine das bekannte Maine
Liquor Law durchsetzten, ein Gesetz, von dessen Bestimmungen sogleich
die Rede sein soll. Andere Staaten folgten bald nach, so Vermont im
Jahre 1853. In New-York gelang es nicht, das Gesetz durchzubringen;
dass aber doch stark in der Richtung für die Abschaffung der berauschenden
Getränke gearbeitet wurde, wird man daraus ersehen, dass im Jahre 1852
in New-York der Guttempler-Orden gegründet wurde, der rasch sich
verbreitete. Im ganzen Lande wurde die 50 er Jahre hindurch eifrig für
und wider die Abschaffung gekämpft. Gegen die Abschaffung taten
sich bald die Brauer und Brenner zusammen, und in allen Staats¬
legislaturen gab es Umtriebe, zum Teil recht dunkler Art, denn man
weiss, dass die Brauer und Brenner es sich viel, sehr viel Geld kosten
liessen, die Prohibitionsgesetze zu hintertreiben.
Die Bestimmungen des Maine Liquor Law, also jenes Prohibitiv-
Gesetzes, das im Jahre 1851 im Staate Maine Gesetz wurde und das
sich über 50 Jahre behauptet hat, sind im wesentlichen folgende. Es
verbietet unter Androhung hoher Strafen für den Staat Maine jede Her¬
stellung und jeden Verkauf, jedes Verschenken oder Verabreichen irgend¬
welcher alkoholischer Getränke, Wein, Bier, Branntwein, Obstwein usw.
Nur bei ärztlichen Verordnungen tritt eine Ausnahme ein. Der Arzt
darf also zur Stärkung usw., als Heilmittel alkoholische Getränke ver¬
ordnen und der Apotheker darf die ärztliche Verordnung ausführen. Er
darf nicht beim Glase verkaufen und darf nicht dulden, dass man in
der Apotheke trinkt, aber flaschenweise darf er verabreichen. Hierbei
ist noch zu bemerken, dass das Gesetz nur den Verkauf verbietet,
nicht aber den Kauf, sodass also der Einführung alkoholischer Getränke
aus anderen Staaten nichts im Wege steht.
Als das Maine Liquor Law in Kraft getreten war, entstand die
wichtige Frage nach seiner Durchführbarkeit. In der ganzen Union
wartete man mit Spannung auf die Erfolge. Der augenscheinlichste
Erfolg war zunächst der, dass die Aerzte viel in Anspruch genommen
wurden. Da gab es so viele Schwächezustände zu heilen, namentlich
des Magens, dass man sich an den weisen Rat erinnerte, den Paulus
dem Timotheus gegeben hat, um seines Magens willen, ein wenig Wein
zu trinken, und die Aerzte waren auch so gefällig, den Wünschen der
Patienten nachzukommen. Das gab gute Zeiten für die Apotheker und
neue Apotheken taten sich auf in allen Gassen. Aber nicht jedermann
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kann die teuren Getränke aus der Apotheke bezahlen und so entstand
bald ein lebhafter Schmuggelhandel und man kaufte Spirituosen unter
allerhand falschen Namen. Erfindungsreiche Aerzte stellten allerlei mit
Medikamenten versetzte Liköre her, Hessen sich diese als Medizinen
patentieren und diese Patentmedizinen wurden überall öffentlich verkauft.
In Trinkhallen, wo man scheinbar nur Mineralwässer bekam, setzte man
den Wässern allerlei Sirupe zu, auch eine braune Flüssigkeit, die unter
dem Namen Kaffee ging, die aber in Wirklichkeit Rum war, oder Brandy.
Die Gegner der Prohibition protestierten laut gegen solches Treiben.
Das ganze Gesetz sei nichts als ein heuchlerischer Trug der Frömmler
und Augenverdreher, der Pfaffen und der Weiber. Aber nun die andere
Seite: Trotz aller dieser Missbräuche und Uebelstände war doch der
Erfolg höchst bedeutungsvoll und wirksam. In erster Linie ist da zu
nennen die Zerstörung der öffentlichen Trinksitten und
Gebräuche. Um zu verstehen, was das zu bedeuten hat, muss man
sich die amerikanischen Trinksitten, ja den Trinkzwang, richtig vorstellen.
In allen Staaten gilt folgender Brauch: Wer ein Trinklokal besucht und
dort Bekannte trifft, die nicht bereits trinken, der ladet die Bekannten
ein zum Mittrinken. Natürlich hat dann jeder der Eingeladenen eine
Art moralischer Verpflichtung, auch seinerseits eine Runde zu bestellen.
Ist der Bekanntenkreis so gross, dass man nicht alles trinken kann,
was vorgesetzt wird, so darf man ein kleines Glas fordern, was der
Wirt ganz gern sieht. Zum Schluss, wenn jeder eine Runde hat kommen
lassen, kommt der Wirt an die Reihe mit der Schlussrunde. Diese
Regel ist in ländlichen Distrikten noch heute fast unverbrüchlich,
namentlich im fernen Westen, ausnahmslos in Minendistrikten. Dass
die Sache obligatorisch und mitunter geradezu kein Spass ist, zeigt
folgende Anekdote, die den Trinkzwang drastisch schildert: Ein Herr
aus Boston reist in Colorado und da er in einem Hotel mit Andern,,
die er zum Mittrinken eingeladen hat, am Schenktisch steht und eben
sein Glas zum Munde führt, fällt ein Schuss. Die Kugel zerschmettert
das Glas unseres Bostoners. Da ruft Jemand, der in der Ecke des
Zimmers sitzt und beim Aufrufen übersehen ist: »Verzeihen Sie, mein
Herr, in Ihrem Glase war eine Fliege«. Der Bostoner Herr versteht
den Wink und ladet höflich den Gast aus der Ecke ein, mitzutrinken.
Wird man aufgefordert mitzutrinken, so darf man nicht ablehnen,
wenigstens nicht in ländlichen Distrikten, jedenfalls nicht im fernen
Westen, z. B. in den Silberminen Colorados, dies gilt nämlich als eine
schwere Beleidigung und führt, wenn die Gesellschaft schon etwas ange¬
trunken ist, gar leicht zu Tätlichkeiten.
In den 50 er und noch am Anfang der 60 er Jahre stiess man
auf Schritt und Tritt auf die Trinkgebräuche. Auf dem Lande und in
kleineren Orten war es (ausser in den Temperenzstaaten) überall Gebrauch,
dass wenn man in einem Laden etwas gekauft hatte, der Verkäufer
dem Kunden mit einem Gläschen Whisky aufwartete. Vielerwärts war
es auch den Kunden überlassen, sich selbst zu bedienen, dazu stand
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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika.
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die Karaffe nebst Gläsern auf dem Warentische, meist neben dem
Schreibpult. Die Frauen verschmähten auch ihr Gläschen nicht, nur
pflegten sie den Whisky mit Wasser und Zucker versetzt vorzuziehen.
Man wird diesen Brauch um so mehr erklärlich finden, wenn man
erfährt, wie wohlfeil damals der Whisky war; er kostete dem Land¬
kaufmann etwa 18 Cents die Gallone, d. h. ungefähr 22 Pf. pro Liter.
Um jene Zeit waren die Arbeiter fast im ganzen Lande dem
Whiskytrunk stark ergeben, was noch einen besonderen Grund hat, der
erwähnt zu werden verdient, nämlich die Gewohnheit viel, ja zu viel
Fleisch zu essen, namentlich Schweinefleisch. Man ass es dreimal
täglich, und es ist ja bekannt, dass der Genuss von fettem Fleisch das
Verlangen nach Spirituosen anregt.
Was wurde nun aus den öffentlichen Trinkgebräuchen, als das
Temperenzgesetz eingeführt war? Die Temperenz-Partei hatte das Gesetz
auf ihrer Seite und sie wachte scharf über seine Durchführung. Trink¬
lokale, wo offenkundig alkoholische Getränke verkauft wurden, gab es
nicht mehr, in den Hotels und Restaurants durften solche Getränke
nicht mehr gereicht werden, denn das war immer gefährlich, weil es
viele Temperenzler gab, die spionierten und kundschafteten. Im eigenen
Hause durfte man auch seinen Gästen keine verbotenen Getränke vor¬
setzen. Das Trinken aus den Apotheken war ein teures Vergnügen
und entbehrte auch der feuchtfröhlichen Umgebung. Immerhin musste
das Trinken mit Vorsicht betrieben werden. Wer berauscht angetroffen
wurde, wurde scharf ausgefragt, wo er den guten Stoff bekommen habe
und der Schleichhandel wurde riskant und die Getränke teuer und schlecht.
Aber noch ein Moment kam in Betracht, von dessen Macht man
sich bei uns in Deutschland nicht leicht eine richtige Vorstellung machen
wird; es war das was die Gegner der Temperenz den Fanatismus der
Temperenzler nannten. Es war eine Art religiöser Fanatismus. Sämtliche
protestantische Kirchen englischer Sprache traten mit Macht für die
Sache der Enthaltsamkeit ein. Die Zeit um Anfang der 50 er Jahre
war überhaupt eine Periode religiösen Eifers. Die inneren Missionen
entfalteten eine rege Tätigkeit, überall hielt man Abendgottesdienst, verteilte
Traktätchen und in den Kirchen hörte man brünstige Gebete, der Herr
möge die umnachteten Gemüter der Menschen erhellen und sie befreien
aus der Nacht und dem Nebel der giftigen Getränke (intoxicating drinks).
Unsere deutschen Landsleute nannten dies Treiben Heuchelei und
Fanatismus. Was Heuchelei anlangt, so waren sie sicherlich im Irrtum
befangen, denn ohne Frage steckte sehr viel ernstes Wollen, ja sehr
viel Begeisterung darin; es war ein Ringen nach Wiedergeburt. Am
Schluss der begeisterten Reden für Enthaltsamkeit wurden die jungen
Leute aufgefordert, to sign the pledge, d. h. das schriftliche Versprechen
völliger Enthaltsamkeit zu geben. Sie kamen in Scharen, und es war
nicht leerer Schaum; die grosse Mehrzahl hielt das Versprechen und sie
wurden Mitkämpfer für die Sache der Temperenz.
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Bald zeigte sich, dass es fast nur die alten Trinker und die Aus¬
länder waren, die noch im Trinken beharrten, und da diese nun ihr
reiches Kontingent stellten zu den von der Polizei für allerlei Vergehen
Bestraften, so kam das Trinken wirklich in Misskredit. Der gute Ton
verlangte schon die völlige Enthaltsamkeit. Die guten Folgen blieben
nicht aus. Wie überall, wo die Enthaltsamkeit wirklich Boden fasst,
zeigte sich bald eine starke Abnahme von Verbrechen und Vergehen
aller Art, namentlich solcher, wo Roheit und Gewalttat ins Spiel kam.
Im Jahre 1853 folgte Vermont dem Beispiele seines Nachbarstaates
Maine. Ein Temperenz-Gesetz wurde durchgesetzt, mit ganz ähnlichen
Bestimmungen wie die des Maine Liquor Law, und es stellten sich auch
in Vermont ganz ähnliche Resultate heraus. Nach und nach folgten
noch 15 andere Staaten. Dies geschah unter immerwährenden Kämpfen.
Manches tragi-komische Stückchen Hesse sich davon erzählen, wie z. B.
das von dem grossen Siege der Brauer und Wirte in der Stadt New-York
im Jahre 1854, wo vor Gericht durch Experiment »bewiesen« wurde,
das deutsche Lagerbier gehöre gar nicht zu den berauschenden Getränken
— und von dem darauf folgenden beispiellosen Rausch am nächsten
Sonntag, wo wankende und johlende Gestalten aus allen Biergärten
taumelten und die Polizei gar nicht alle einstecken konnte.
Der Kampf um die Durchführung der Sonntagsgesetze schürte
mächtig das Feuer des Kampfes um die alkoholischen Getränke. Der
Anglo-Amerikaner hielt es für eine ruchlose Entheiligung des Sonntags
(des Sabbaths, wie der gebräuchliche Ausdruck war), wenn an diesem
Tage des Herrn Volksfeste im Freien gehalten wurden, nach deutscher
Weise mit Bier und Blechmusik. In den grösseren Städten, wo viele Deutsche
lebten, war es immer eine wichtige Frage, wer zum Bürgermeister gewählt
wurde. Natürlich kamen da allerhand dunkle Machenschaften zu stände.
Was war nun aber das wirklich wertvolle Endresultatat der Prohibi¬
tion? Hat sie der Enthaltsamkeitsbewegung wesentlichen Nutzen gebracht?
Gewiss, der erste und hervorragendste Nutzen war der, dass die
öffentlichen Trinksitten und -Gebräuche gebrochen
wurden. Damit fiel die Hauptgelegenheit zum Trinken
fort. Der leidige Trinkzwang war vernichtet und die
Verführung der jungen Leute bis auf ein Geringes
verschwunden.
Aber auch nach der Einführung der Prohibitiv-Gesetze war die
eifrige Tätigkeit der Temperenzler nötig, und dieser Arbeit ist haupt¬
sächlich die endliche Umwandlung der öffentlichen Meinung
zu danken. Die Temperenzler wurden nicht müde, immer und immer
wieder darauf hinzu weisen, dass das Elend, die Verbrechen, die Armut
zum allergrössten Teil von dem heimlichen Trunk herrühren. Dies
ergab sich zweifellos aus den Berichten der Polizei und des Armen¬
amtes. Das heimhche Trinken kam in Misskredit und es gehört heut¬
zutage unter Anglo-Amerikanern durchaus zum guten Ton, die Enthalt¬
samkeit nicht blos zu preisen, sondern auch zu üben.
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Stille, Erfolge und Misserfolge der „Prohibition“ in Amerika.
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Die Uebelstände, die mit der Prohibition notwendig verbunden
sind und sich nie werden völlig beseitigen lassen, wie Schmuggelhandel,
Verkauf von Spirituosen in Apotheken und in geheimen Räumen in
den Hotels, haben endlich dahin geführt, dass man statt der Prohibition
ein anderes und wirksameres Mittel zur Bekämpfung der Trinksitten
fast in allen Staaten eingeführt hat. Im Mai 1903 gab es nur noch
drei »Temperenzstaaten« und auch diese waren bereits auf dem Wege
zu dem neuen Mittel zu greifen, nämlich den hohen Staatsabgaben x für
Schanklizenzen, zusammen mit der local Option, d. h. dem Bestimmungs¬
recht jeder Kommune darüber, ob und unter welchen Bedingungen
überhaupt Schankstätten zugelassen werden sollen. Das Staatsgesetz
beschränkt schon die Anzahl der erlaubten Schankstätten nach der Be¬
völkerungszahl ; und die Bedingungen, welche die Staatsgesetze ferner
vorschreiben, sind meistens so, dass der Wirt nur mit sehr grosser
Vorsicht im Stande ist, sein Haus überhaupt für das Publikum offen
zu halten, denn gar leicht kann etwas Vorkommen, wodurch seine
Lizenz hinfällig wird.
Diese amerikanische Einrichtung, die unter dem Namen local
Option bekannt ist, verdient eine ausführliche Darlegung.
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Abhandlungen.
Der Guttemplerorden in Deutschland.
Von G. Asmussen, Hamburg.
Im Frühling 1883 kamen die ersten Pioniere des Guttemplerordens
von Dänemark über die Königsau nach Nord-Schleswig, am 12. Juli
1883 wurde in Hadersleben die erste Loge gestiftet, sie erhielt den
Namen »Pionier« Nr. 1. Im Sommer 1887 drang die Propaganda bis
Flensburg vor, am 9. Oktober wurde dann hier die erste Loge —
»Digynia« — mit deutscher Geschäftssprache gegründet.
Anfangs standen die nordschleswigschen Logen direkt unter der
Weltloge, erst am 13. Februar 1888 wurde in Apenrade Deutschlands
Grossloge I gestiftet. Ihr Arbeitsfeld ist ein kleines geblieben, es
erstreckt sich von der dänischen Landes- bis zur deutschen Sprach¬
grenze ; die Geschäftssprache der unter dieser Grossloge stehenden
Logen ist bis heute die dänische. Einfache Männer und Frauen aus
dem Volke sind zuerst es gewesen, die die Kraft fanden, drückende
Fesseln zu sprengen, die den Mut hatten, dem Hohn der Trinkenden
und der Macht der Trinksitten zu trotzen. Es steht dort im Norden
mancher Mann im groben Arbeitskittel an der Werkbank, und es geht
mancher in Holzschuhen hinter dem Pfluge, dessen Name genannt zu
werden verdient, wenn von den Kämpfern wider den Volksfeind Alkohol
die Rede ist. Ausser diesen waren es tüchtige Männer aus dem Lehrer¬
stande, die ihre Kraft in den Dienst der guten Sache stellten.
Viele Hindernisse standen der Arbeit des Ordens in Nord-Schleswig
entgegen: kleinliches Pharisäertum und Vorurteile mancher Art, die
Interessen der Produzenten und die zähe Anhänglichkeit der Trinkenden
an Tee- und Kaffeepünsche, an Grog und Bier. Ein böses Paten¬
geschenk war namentlich das »leichte Bier«, das Grossloge I von
Dänemark mitbekommen hatte. Es war dort zu Anfang den Guttemplern
Bier bis zu 2^ Alkoholgehalt erlaubt; das hat wieder und wieder
grossen Schaden getan und einmal beinahe die ganze Grossloge fort¬
geschwemmt. Die gefälligen Brauer und Händler lieferten gerne das
»Guttempler-Bier« und die Wirte verzapften es fleissig. Natürlich nahm
man es mit den 2 % nicht so genau, — wer konnte auch jede Flasche
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As müssen. Der Guttemplerorden in Deutschland.
91
analysieren! Und wenn 2% nicht schaden, dann können 2 1 j t % und
3 % auch nicht gefährlich sein — so dachten wenigstens die Verkäufer.
Die Käufer allerdings merkten wohl den Schaden und was sie selbst
nicht merkten, das sahen andere. Dies Bier züchtete auch »Völlerei«,
man trank eben einige Flaschen mehr, um den genügenden Nutzeffekt
zu erzielen, es brachte in bösen Verdacht und in Verruf, es lockerte
die Disziplin und zog das »Geschäfts-Guttemplertum« gross, es verleitete
zur Heuchelei und zu Rückfällen — kurz es führte zu haltlosen Zu¬
ständen. Gerne nahmen die Führer und Leiter der Bewegung den
Kampf gegen das »harmlose« Bier nicht auf, er erschütterte denn auch
den Bau in den Grundfesten und zersplitterte manchen Stamm, der im
Innern nicht kernfest war. Es musste aber gegen diesen Feind, der
in den eigenen Reihen wütete, der Kampf immer energischer aufgenommen
werden, und er wurde von den Guttemplern in »Deutschlands Gross¬
loge II« weiter geführt, bis vor einem Jahre jedes »Bier« — sei es
wie es wolle — völlig herausgedrängt war.
Die Entwickelung von Deutschlands Grossloge I war folgende:
1888: 18
Logen
mit 506
Mitgl. 1896: 46
Logen mit 1202 Mitgl.
1889: 26
»
» 742
» 1897: 47
» 1303 »
lS 9 o: 35
»
» 985
» 1898: 5 2
> » 1523 »
1891 : 46
-
:> I215
» x8 99 ; 57
» 1743 »
1892: 52
» II36
> 1900: 62
> 1829 »
' s 93 : 45
»
889
» 1901: 69
:> » 190 5 *
1894: 43
»
970
» 1902: 74
» » 2000 »
1895: 44
*
1086
» Febr. 1904: 84
» » 23OO »
Die
bereits
erwähnten Sprachverhältnisse
führten zunächst, am
20. Januar 1889, zur Gründung einer Distriktloge für die Logen deutscher
Zunge; sie bildete den Uebergang zu »Deutschlands Grossloge II«,
deren Stiftung am 6. Oktober 1889 in Flensburg erfolgte. Diese ent¬
wickelte sich in folgender Weise:
1889: 9
Logen mit
184
Mitgl.
1896: 40 Logen mit 1286
Mitgl.
1890: 13
» »
386
»
1897: 64 » » 2215
»
1891 : 18
» »
5*9
»
1898:103 » 4154
»
1892: 21
» »
630
»
1899: 175 » :> 6375
»
1893: 23
» »
636
»
1900: 259 :> 3 9273
»
1894 : 28
» »
73 °
» •
1901 : 348 » 3 12234
»
i8 95 : 3 2
» »
I 9°3 :
875 »
553 Logen
1902: 446 s > 15952
mit 19984 Mitgliedern.
»
Die Schwierigkeiten, die sich der Propaganda für die Prinzipien
des Ordens entgegenstellten, als er sich anschickte, altdeutschen Boden
zu betreten, waren wohl grösser noch, als im Norden. Hinter der uralten
schleswigschen Landesfeste, der Dannewirke, die von »Sliasvic« bis zur
»Aegidora« reichte, hatte sich schon eine stattliche Schar von Streitern
zusammengeschart, die dem König Alkohol die bitterste Fehde angesagt
hatte. Früher war dieser Dänenwall das Bollwerk gewesen, hinter dem
die Danomanen den vom Süden eindringenden Christenheeren Widerstand
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92 Abhandlungen.
geleistet hatten; jetzt bildete er lange Zeit die Grenze, welche die vom
Norden vorrückende Schar der Guttempler nicht zu überschreiten
vermochte.
Vor ii Jahren gab es zwischen Eider und Elbe noch keinen Gut¬
templer ; zwei schwache, sehr weit nach Deutschland hinein vorgeschobene
Vorposten kämpften mit geringen Aussichten und wenig Erfolg um Leben
und Existenz. — Die uralte, heilige deutsche Trinksitte, die vielgerühmte
deutsche »Tugend der Trunkfestigkeit« galt damals noch als ein unüber¬
windliches Hindernis, jeder der es anzutasten wagte, wurde von den
feuchtfröhlichen Verteidigern mit Hohn und Spott überschüttet und
niedergeschrieen. Der I. O. G. T. aber verstand es, seine Kämpfer in feste
Reihen einzugliedern, er gab ihnen mit seiner musterhaften Organisation
eine feste Rüstung; Wissenschaft und Praxis aber lieferten den Kämpfern
Wehr und Waffen. Wohl lichteten Quertreibereien, Anfeindungen mancher
Art, Schwäche und Feigheit hier und da die Reihen, das hinderte aber
den allgemeinen Fortschritt nicht. Aus mühevollem Ringen und manchen
Kämpfen heraus entwickelte sich die deutsche Enthaltsamkeitsbewegung,
als deren Pionier und Träger der I. O. G. T. zu betrachten ist.
Die ersten Logen in grösseren deutschen Städten wurden gestiftet:
In Berlin am i. November 1891 : »Berolina« Loge No. 23, der am
4. Juli 1892 die »Harmonie« Loge No. 26 in Leipzig folgte. Die
Mutterloge der Hamburg-Altonar Logen, die »Holsatia« No. 31, wurde
am 28. Mai 1899 in Altona gestiftet. In Dresden wurde am 15. April 1894
die Loge »Saxonia« gegründet. Die erste bayrische Loge entstand am
29. April 1894 in Nürnberg.
Von Flensburg aus ging die Bewegung zunächst westwärts bis an
die Nordsee uud hinüber nach Sylt. Von hier aus ist dann wieder
manches Samenkorn nach dem Festlande hinüber getragen. — Wie ein
Eiland in der Alkoholflut stand lange die »Heimat« Loge No. 20 in
Simonsberg bei Husum; von hier aus drang der Orden nach Eiderstedt
und nach Ditmarschen. Wie er dort wirkte, das sagt uns Gustav Frenssen
in seinem Roman »Die drei Getreuen« :
»Der Mann, Christoff Dwenger, war ein tüchtiger, fleissiger
Arbeiter; aber ein Quartalstrinker. Wenn die wilde Gier über ihn
kam, was alle fünf bis sechs Wochen geschah, vertrank er das Geld,
das er gerade in der Tasche hatte, oft den Verdienst einer Woche,
machte Streit, schrie, prahlte, schlug Weib und Kind, kurz, handelte
wie ein unvernünftiges Tier. Später, nach Jahren, ist er in den
Orden der Guttempler eingetreten, der so segensreich in unserer
Provinz gearbeitet, der manchen kalten Herd warm gemacht und viele
traurige Frauen- und Kinderaugen leuchtend gemacht hat. Unter
dem Schutze dieser Brüderschaft hat er den zweiten Teil seines
Lebens still, nüchtern und glücklich verbracht, hat seine Frau wieder
auf blühen und seine Kinder gross und brav gesehen.«
Damit verlassen wir die meerumschlungene älteste Heimatsstätte
des Guttemplerordens. In Hamburg-Altona fand der I. O. G. T. nun
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Asmussen, Der Guttemplerorden in Deutschland.
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zunächst einen festen Stützpunkt. Erst langsam, dann rasch anwachsend
und erstarkend, breitete er sich über alle Teile der Nachbargebiete aus,
drang nach Norden in das holsteinische Gebiet vor, bis sich in Rendsburg
und Kiel der Norden und der Süden wieder die Hände reichten, und
besetzte Lübeck und Bremen. So wurde Hamburg-Altona zu einem
Zentralpunkt der Propaganda und hat diese Stellung bis heute behauptet;
beide Distrikte zusammen zählen ca. 130 Logen.
Am 3. Oktober 1896 wurde in Bremen die erste Loge des
Ordens gestiftet, es war die »Bruderliebe« Loge No. 56; sie wurde
der Ausgangspunkt einer kräftigen Bewegung, die westwärts bis nach
Oldenburg, Emden und Leer vordrang, nach Süden und Osten aber bis
an die Wesermündung und bis nach Stade ihre Wellen schlug, wo sich
dann die von Hamburg und die von Bremen abstammenden Guttempler
in der Arbeit begegneten.
In Westfalen wurde durch einen aus der Schweiz nach Deutsch¬
land zurückkehrenden Guttempler der erste Funke angefacht; am
5. November 1896 entstand in Bochum die »Samariter« Loge No. 64.
Die »Wacht am Rhein« in Köln wurde am 24. Mai 1900 gestiftet.
Die erste Loge im fernen Osten entstand am 9. Dezember 1897
in Elbing. Im äussersten Süden wurde am 24. April 1898 die »Alemania«
Loge No. 112 gegründet. Es waren wackere Zollbeamte, die von der
schweizerischen Grenze aus in Baden einrückten und in Brombach diese
erste Burg des Ordens bauten. In Thüringen wurde am 26. Februar 1899
durch die Stiftung der »Thuringia« Loge No. 172 das Banner des I. O. G. T.
entfaltet, und zwar in Erfurt.
Von Berlin aus rückte der Orden in Pommern ein, die »Franzburg«
Loge No. 309 wurde am 26. August 1900 gestiftet; die erste Loge in
Mecklenburg war die »Obotrita«, sie erhielt die No. 322 und entstand
am 7. Oktober 1900 in Ludwigslust. Die Hauptstadt Hannover erreichte
der Orden am 10. September 1899, der nördliche Teil war schon früher
mit Logen besetzt. Die erste schlesische Loge war die »Silesia«
No. 362, die am 18. November 1900 in Grünberg gestiftet wurde. Im
Hessenlande entstand die erste Loge zu Anfang des Jahres 1901. Nach
den Reichslanden kam der Orden im Frühling 1902; hier hat er viel
Anfeindung seitens der katholischen Geistlichkeit erfahren. An manchen
Orten, ringsumher im deutschen Vaterlande, sind in den letzten Jahren
Anfänge einer Guttempler-Bewegung geschaffen. Der Boden ist hart
und es hält nicht selten recht schwer, Wurzel zu fassen; die Erfahrung
hat aber gezeigt, dass überall Erfolge erzielt werden können, wenn mit
Mut und Ausdauer gearbeitet wird. Es kommt aber darauf an, dass
tüchtige und überzeugte Männer und Frauen sich entschliessen, die Hand
an den Pflug zu legen.
Der Leiter von Deutschlands Grossloge II ist H. Blume in Hamburg,
derselbe erteilt gern Auskunft. Schriften sind zu beziehen durch die
Geschäftsstelle der Grossloge, Flensburg, Neustadt 45.
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Abhandlungen.
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Vor mehr als io Jahren wurde auch das /Jugendwerk« in das
Programm der Grossloge aufgenommen; vor einigen Jahren ist es vom
Lehrer Koopmann-Sylt reorgarnisiert und umfasst jetzt eine raschan-
wachsende Zahl von Jugendlogen mit z. Z. ca. 3500 Mitgliedern.
Die in Deutschland arbeitenden Guttempler bringen im Jahre
ca. 150000 Mark an baren Ausgaben für ihre Logenarbeit auf — die
sonstigen für Agitationsturen und ähnliche Propagandaarbeit nötigen Geld¬
ausgaben der einzelnen Mitglieder garnicht gerechnet. Für mehr als
20000 Mark Drucksachen wurden im Jahre 1903 verbreitet; über
30000 Logensitzungen, ungefähr 1500 Agitations-Versammlungen und
demselben Zwecke dienende »offene Abende wurden abgehalten. Im
letzten Jahre wurden 107 neue Logen gestiftet. In zahlreichen Städten
und Dörfern wurden von Logen oder von einzelnen Ordensmitgliedem
alkoholfreie Gasthäuser geschaffen; in Hamburg-Altona allein sind 11
solcher »Logenhäuser« entstanden, von denen 5 im Besitze der Logen
bezw. »Baugenossenschaften«, die anderen gemietete Räumlichkeiten sind.
Nur für Mitglieder des Ordens bestimmt sind 8 Unterstützungs¬
kassen, die bei Sterbefällen den Hinterbliebenen 500 Mark auszahlen.
Eine Krankenzuschusskasse ist von Hamburg-Altona aus in Wirksamkeit
getreten.
Zahlreiche Gesangs- und dramatische Vereine pflegen die Kunst,
sie bringen Leben und Abwechselung in die festlichen Veranstaltungen.
Guttempler-Tumvereine, Athleten-, Fecht-, Radfahr-, Spiel- und Wander¬
klubs bieten Männern und Jünglingen, Frauen und Jungfrauen vortreff¬
lichen Ersatz für »die Freuden« der Kneipe oder der häuslichen Trink¬
sitte. — Wie komisch berührt den, der das alles weiss und kennt
die noch oft auftauchende Redensart von den »asketischen Wasser-
trinkem und den aller Weltfröhlichkeit abholden Abstinenzaposteln«.
Die Geschichte des Guttempler - Ordens und sein Wirken in
Deutschland lehrt deutlich, dass die Enthaltsamkeitsbestrebungen recht
bedeutende Erfolge zu erzielen vermögen. Diese zeigen sich nicht nur
in den Fortschritten und dem Anwachsen des Ordens, sondern auch in
dem Entstehen und Erstarken anderer Enthaltsamkeitsvereine.
Namentlich sind es die abstinenten Berufsvereine, die sämtlich auf
dem Felde entstanden sind, das der I. O. G. T. beackert hatte. Er
förderte diese nach Kräften, und was lebenbringend in manchem der
Berufsvereine pulsiert, ist Blut von seinem Blut.
Musterhaft in Form und Ausbau hat der Guttempler-Orden es
verstanden, religöse und politische Reibereien aus seinen Reihen fern
zu halten. Die Angehörigen der verschiedensten Stände finden hier
ein Feld wo sie, unbeschadet ihrer Ansichten und Anschauungen aut
jenen Gebieten, gemeinsam arbeiten können gegen den gefährlichen
Feind jedes wahren gesundheitlichen, sozialen und sittlichen Fortschrittes.
— Trotz der einheitlichen Grundprinzipien und Arbeitsweise hütet sich
der I. O. G. T., in Formen zu erstarren, sondern wusste noch immer, sich
dem Volkscharakter und der Zeit anzupassen.
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Asmuss-en, Der Guttempleiorden in Deutschland.
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Dem Guttemplerorden ist die Abstinenz nicht Selbstzweck, er
glaubt nicht, dass die Enthaltsamkeit allein den Menschen vollkommen
mache und die soziale Frage ohne Weiteres löse. Er ist aber davon
überzeugt, dass die Alkoholfrage bei der Lösung- der verschiedenen
gesundheitlichen, sozialen und sittlichen Fragen von grösster Wichtigkeit
und tief einschneidender Bedeutung ist. Er lehrt, dass die Selbstreform
die Grundlage aller anderen Reformen ist, dass also auch der einzelne
Mensch die Alkoholfrage zuerst für sich und an sich selbst lösen muss,
dass er aber durch den Verzicht auf alkoholische Reizmittel nichts auf¬
gibt, sondern nur gewinnt an Genussfähigkeit und Lebensfreude. Die¬
selbe Forderung stellt er an die Allgemeinheit: das Beispiel ist der •
beste Lehrmeister. — Der Tempelritter, den so manche Fahnen des Ordens
zeigen, trägt das Schwert, um die Gegner abzuwehren, sein Schild aber
zeigt das Malteserkreuz. Der Guttempler soll furchtlos in die Schranken
treten gegen die Söldlinge des Königs Alkohol und die Macht der
Trinksitten, er will aber gleichzeitig die schützen und stützen, welche der
Mörder Alkohol schlug und hilflos liegen liess. Er soll gehorsam sein
den Ordensgesetzen, er soll Selbstzucht und Nächstenliebe üben.
Wo in diesem Geiste gekämpft und gearbeitet wird, da bleibt der
Erfolg nicht aus. Es ist nun zu wünschen, dass dem Orden in allen
deutschen Gauen immer mehr Mitkämpfer erstehen — denn die Not ist
gross! — Wir, das jetzt kämpfende Geschlecht, werden »das gelobte
LancN- nicht sehen, wo der Alkohol seine Geissei nicht schwingt, wo
Vorurteil und Alkoholaberglaube nicht mehr herrschen. Aber auf dem
Wege, wo w i r nur mit Mühe im Strom festen Fuss fassen konnten,
werden unsere Kinder schon sicherer gehen. Und wenn unser Arm das
Schwert nicht mehr zu schwingen vermag, wenn unseren Händen die
Kelle entfällt, dann werden sie in die Lücken eintreten: besser ge¬
wappnet und gerüstet werden sie die Schutzmauern verstärken und den
Ordensbau höher führen. Die Wahrheit wird siegen, sie wird uns frei
machen!
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96
Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
Unter dieser Ueberschrift gedenken wir in jedem Hefte, die
während des letzten Vierteljahres vorgekommenen wichtigsten Ereignisse
sowie neue Gesetze und Regierungsmassregeln, hervorragende gemeinnützige
Schöpfungen und die Vereinsbewegung auf dem Gebiete der Alkohol¬
frage zu registrieren.
Chronik Ober die Monate Januar, Februar und März 1904.
Von internationaler Bedeutung für die ganze Alkoholfrage ist das
im März 1904 erfolgte Erscheinen des Berichts über den IX. inter¬
nationalen Kongress gegen den Alkoholismus, abgehalten in
Bremen vom 14.—19. April 1903. Im Aufträge des Organisations¬
komitees herausgegeben und redigiert von Franziskus Hähnel. Jena,
Verlag von Gustav Fischer. Der inhaltreiche Bericht, welchem in diesem
Hefte erst eine vorläufige, allgemeine Besprechung gewidmet ist, wird
allen Freunden der Mässigkeit und Enthaltsamkeit für lange Zeit
eine Fülle von Belehrung bieten und auch zu kritischen Bemerkungen,
Ergänzungen und Vervollständigungen wiederholt Veranlassung bieten.
Als eine internationale Tat dürfen wir auch die Sonder-Aus-
stellung zur Bekämpfung des Alkoholismus in Charlottenburg,
Fraunhoferstrasse 11—12, bezeichnen, welche im März 1904 eröffnet
worden und dazu bestimmt ist, eine internationale Bildungsstätte zur
dauernden Aufbewahrung der gesamten Alkohol-Literatur und Statistik
und zur Darstellung der Wirkungen des Alkohols und der Bewegung
gegen den Alkoholismus zu werden. Der Zweck des Unternehmens ist
in diesem Heft unserer Zeitschrift von Herrn Rechtsanwalt Dr. Eggers
näher dargelegt.
Als ein internationales Werk ist ferner erwähnenswert die im
Februar 1904 in Hamburg vollständig erschienene deutsche Uebersetzung
der Geschichte der Anti-Alkoholbestrebungen von Professor
Dr. Johan Bergmanin Stockholm. Aus dem Schwedischen übersetzt,
neu bearbeitet, und herausgegeben von Dr. R. Kraut in Hamburg.
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Vierteljahischronik über die Alkoholfrage.
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Druck und Verlag von Gebrüder Lüdeking in Hamburg 1904. Preis
7 Mk. 20 Pf. Der Uebersetzer hat das bereits im Jahre 1900 er¬
schienene schwedische Original durch grössere und kleinere Zusätze
wesentlich ergänzt und die bedeutenden Fortschritte, welche die Bewegung
gegen den Alkoholismus seit 1900 in den meisten Ländern gemacht
hat, bis auf die allerneueste Zeit übersichtlich dargestellt. Verschiedene
wichtige Mitteilungen dieser internationalen Geschichte der Anti-Alkohol-
Bestrebungen sind bereits in der Abhandlung des Herausgebers, »Programme
und Ziele der älteren und neueren deutschen Bewegung gegen den
Alkohol« in Heft I dieses Jahrganges berücksichtigt.
In Deutschland macht die Bewegung gegen den Alkoholismus
bedeutende Fortschritte. Von der Königl. preuss. Staatsregierung
sind dem Abgeordnetenhause in Erledigung der Beschlüsse des Abge-
ordneten-Hauses vom 11. Juni 1902 eine Reihe wichtiger Entschliessungen
mitgeteilt worden. Danach ist u. a. der Ausschank geistiger Getränke
in den frühen Morgenstunden, wo es nach den örtlichen Verhältnissen
angezeigt erscheint, verboten worden. —- Ferner sind gemein¬
verständliche Schriften über die schädlichen Wirkungen des über¬
triebenen Alkoholgenusses mehrfach verteilt worden, so z. B. ein Vortrag
des Prof. C. Fränkel, in Halle a. S., über »Gesundheit und Alkohol« und
die vom Regierungsrat Quensel verfasste Schrift »Der Alkohol und seine
Gefahren«. Ferner ist im Kultusministerium für Schulzwecke eine
kurzgefasste, gemeinverständliche Denkschrift: »Die Nachteile des über¬
mässigen Alkoholgenusses. Kurze x\nleitung für die Belehrung in den
Volksschulen und höheren Schulen,» ausgearbeitet und in dem Zentral¬
blatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung veröffentlicht worden. — Dem
im Kaiserl. Gesundheitsamte bearbeiteten »Alkoholmerkblatt gegen den
Missbrauch geistiger Getränke ist durch Empfehlung« und Abdruck in
dem »Ministerialblatt für Medizinal-Angelegenheiten eine entsprechende
Verbreitung gegeben. Die Regierungspräsidenten sind veranlasst worden,
behufs Bekämpfung des übertriebenen Alkoholgenusses die Errichtung
von Räumen zur Unterkunft für alleinstehende Arbeiter und Arbeite¬
rinnen nach dem Vorgänge auf dem Gebiet der Eisenbahn- und
Bergwerks-Verwaltungen allen Beteiligten zu empfehlen und dahin zu wirken,
dass solche Anlagen auch Vorrichtungen zur Erwärmung von Speisen
oder Kantinen erhalten, sowie, dass für Gelegenheit zur Erfrischung durch
alkoholfreie Getränke usw. gesorgt wird. — Hinsichtlich einer etwaigen
Aenderung der Reichsgesetzgebung sind Verhandlungen eingeleitet
worden, die noch nicht zum Abschlüsse gelangt sind.
Ferner haben der Kultusminister, der Minister des Innern und der
Handelsminister ein gemeinsames Rundschreiben an die Oberpräsidenten
in Betreff des Flaschenbierhandels gerichtet, worin sie als dringend
wünschenswert bezeichnen, den Flaschenbierhandel allgemein konzessions¬
pflichtig und von dem Nachweis eines vorhandenen Bedürfnisses ab¬
hängig zu machen und worin sie an das Verbot des Hausierhandels mit
Flaschenbier nach § 56, Nr. 1 der Reichsgewerbeordnung, erinnern.
Die Alkoholfrage. 7
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Vierteljahrschronik über die Alkohol frage.
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Die Württemberg. Oberschulbehörde hat das im Kaiserl.
Gesundheitsamt ausgearbeitete »Alkohol-Merkblatt« den Schulbehörden
zur Beachtung zugesandt und u. a. empfohlen, durch Vorträge und
Lehrproben auf den Schulkonferenzen eine sachgemässe und fruchtbare
Behandlung des Merkblattes im Schulunterricht zu erzielen.
Im Königreich Sachsen ist am 17. Januar 1904 die von dem
Dresdner Bezirksverein und sächsischen Landesverband gegen den
Missbrauch geistiger Getränke begründete sächsische Heilstätte für
Alkoholkranke in Cunnertswalde bei Moritzburg feierlich eingeweiht
worden. Da die Räume dieser Anstalt bereits voll besetzt sind, soll
sofort zur Errichtung einer zweiten Heilanstalt in der Nähe von Cunnerts¬
walde geschritten werden.
Der Sächsische Landesverband gegen den Missbrauch geistiger
Getränke hatte in einer Petition an die Kammer gebeten :
1. dass im Königreich Sachsen eine mit behördlichem Ansehen und
behördlichen Befugnissen ausgestattete, durch staatliche Mittel
unterstützte Landeskommission zur Bekämpfung der Trunksucht
eingesetzt werde,
2. dass die vom Dresdner Bezirksverein gegen den Missbrauch geisti¬
ger Getränke begründete sächsische Heilstätte für Aikoholisten in
Cunnertswalde und die weiter von ihm geplanten Trinkerheilanstalten
aus staatlichen Mitteln unterstützt werden.
Der Königliche Kommissar bemerkte zu dieser Petition Folgendes:
»Die Königliche Staatsregierung erklärt wiederholt ihre Bereitwilligkeit,
die auf Bekämpfung der Trunksucht gerichteten Bestrebungen auch an
ihrem Teile nach Kräften zu fördern und wird seinerzeit gern daraut
zukommen, aus ihr zur Verfügung gestellten Mitteln die sächsiche Heil¬
anstalt für Alkoholkranke zu Cunnertswalde zu unterstützen, zumal da
sie trotz ihres kurzen Bestehens nach den angestellten Erhebungen zu
schönsten Hoffnungen berechtigt. Die Regierung muss hingegen Be¬
denken tragen, für Einsetzung einer mit behördlichem Ansehen
und behördlichen Befugnissen auszustattenden, mit staatlichen Mitteln
zu unterstützenden Landeskommission für Bekämpfung der Trunksucht
sich auszusprechen.«
Die deutsche Bewegung für Mässigkeit und Enthaltsamkeit hat
einen schweren Verlust erlitten durch den Tod des Oberstleutnant
a. I). Kurt von Knobelsdorf, des Vorsitzenden des deutschen Vereins
zum Blauen Kreuz. Derselbe ist nach längerem Leiden im Alter von
65 Jahren am 24. Januar 1904 in Berlin verstorben. Er hatte eine
glänzende militärische Laufbahn aufgegeben, um sich der Arbeit des
Blauen Kreuzes zu widmen und hat in vielen Familien und früheren
Stätten des Elends wieder Glück und Frieden gebracht.
Der Berliner Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke hat in seiner Mitgliederversammlung vom 13. Februar 1904
beschlossen, seine Heilstätte »Waldfrieden« durch Angliederung
einer geschlossenen Abteilung durch Neubauten zu e r weitern.
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Vierteljahrschronik über die Alkobolfrage.
99
Ueber die zur Zeit herrschenden Trinksitten der Tübinger
Studenten hat der Tübinger Universitäts-Professor Dr. med. P. Grützner
im Märzheft der Mässigkeits-Blätter des Deutschen Vereins gegen den
Missbrauch geistiger Getränke einen hochinteressanten Aufsatz veröffentlicht.
Um klar zu sehen, wie es mit dem Trinkzwang in Tübinger Universitäts¬
kreisen steht, hatte Grützner an sämtliche akademische Verbindungen die
Umfrage gerichtet, ob sie »Abstinenten« aufnehmen? Im ganzen handelt
es sich dabei um 32 Verbindungen mit 1037 Mitgliedern (von insge¬
samt 1506 Studierenden). Die Umfrage wurde von 6 Verbindungen
mit 212 Mitgliedern mit »Ja« beantwortet; eine zweite Gruppe, 4 Ver¬
bindungen (darunter auch ein Korps) mit 142 Mitgliedern, knüpft an
ihr »Ja« gewisse Bedingungen; die dritte Gruppe (4 Verbindungen
mit 191 Mitgliedern) lehnt die Aufnahme nicht rundweg ab, sondern
macht sie ebenfalls, wie die zweite Gruppe, von gewissen Bedingungen
abhängig. Eine vierte Gruppe schliesslich hat die Anfrage mehr oder
weniger bestimmt verneint, meistens mit dem Hinweis darauf, dass
studentisches Leben und volle Enthaltsamkeit nicht recht vereinbar seien.
Dies sind neun Verbindungen mit 201 Mitgliedern. Keine grundsätzliche
Stellung nahmen drei Verbindungen mit 83, gar keine Antwort gaben
sechs mit 141 Mitgliedern. Danach haben sich im ganzen für Aufnahme
von Enthaltsamen ausgesprochen 545, vertreten durch 14 Verbindungen,
also die starke Hälfte der Verbindungsstudenten. Aus diesem Ergebnis
schliesst Grützner, dass es auch in den studentischen Kreisen dank der
Aufklärung über die Schädlichkeit geistiger Getränke und dank der Auf-
rüttlung der Gewissen durch die Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine
vorwärts geht.
Der Gesamt-Parteitag der Sozialdemokratie in Oester¬
reich hat am 14. November 1903 folgenden Antrag einstimmig
angenommen:
»Der Parteitag erblickt im Älkoholismus einen schweren Schädiger
der physischen und geistigen Kampfesfähigkeit der Arbeiterklasse, einen
mächtigen Hemmschuh aller organisatorischen Bestrebungen der Sozial¬
demokratie ; — die daraus erwachsenden Schäden zu beseitigen, darf
kein Mittel unbenutzt bleiben.
Das erste Mittel in diesem Kampfe wird stets die ökonomische
Hebung des Proletariats sein; eine notwendige Ergänzung hierzu
bildet aber die Aufklärung über die Alkoholwirkung und die
Erschütterung der Trinkvorurteile.
Der Parteitag empfiehlt daher allen Parteiorganisationen und Partei¬
genossen die Förderung der alkoholgegnerischen Bestrebungen und
erklärt als einen ersten wichtigen Schritt in diesem Kampfe
die Abschaffung des Trinkzwanges bei allen Zusammenkünften
von Parteiorganisationen.
Den für die Abstinenz gewonnenen Parteigenossen ist als wirk¬
samstes Mittel der Agitation gegen den Alkohol der Zusammenschluss
7 *
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100
Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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in Abstinenzvereinen zu empfehlen, die ihrerseits dafür zu sorgen haben,
dass ihre Mitglieder ihrer Pflicht gegen die politische und gewerkschaft¬
liche Organisation nachkommen.«
Zum Schutze der Jugend vor dem Alkoholismus ist
man besonders in Holland bestrebt, die weitgehendsten Gesetze zu
erbitten. Die holländische Regierung hat der zweiten Kammer
eine Vorlage zur Abänderung des Ausschankgesetzes unterbreitet. Um
wesentliche Verbesserungen dieses Gesetzes zu erzielen, wird folgende
Petition gegenwärtig vom Nederlandche Onderwijzers Propagandaklub
der Bevölkerung vorgelegt: Die Regierung wolle verbieten: i. dass
Personen unter 18 Jahren, die nicht von Aelteren begleitet sind, Lokali¬
täten besuchen, wo irgend ein alkoholisches Getränke verkauft wird;
2. dass solchen Personen, wenn unter Begleitung Aelterer in einer
solchen Lokalität anwesend, irgend ein alkoholisches Getränk verabfolgt
wird; 3. dass Personen unter 18 Jahren in solchen Lokalitäten als
Arbeitskräfte gebraucht werden. In Amsterdam allein haben schon jetzt
über 16 000 Einwohner, darunter mehr als 1600 Lehrerinnen und Lehrer,
diese Petition unterzeichnet.
Gck igle
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UNIVERSITY OF CHICAGO J
II. Besprechungen.
Bericht über den IX. internationalen Kongress gegen
den Alkoholismus, abgehalten in Bremen vom 14.—19. April 1903.
Im Aufträge des Organisationskomitees herausgegeben und redigiert von
Franziskus Hähnel. Jena, Verlag von Gustav Fischer. Kurz vor
Schluss der Redaktion geht uns dieser ausgezeichnete Bericht zu, den
wir mit einigen kurzen Geleitworten versehen wollen, indem wir uns
eine ausführliche Besprechung Vorbehalten. Der Bericht stellt ein
respektables Zeugnis für die auf dem Kongress geleistete Arbeit und
zugleich für die eifrige, hingebende Tätigkeit des Organisationskomitees,
vor allem aber des trefflichen Herausgebers dar. Er gibt nicht nur die
sämtlichen in den Geschäftssitzungen des Kongresses erstatteten Referate
und die sich daran anschliessenden Diskussionen nach stenographischen
Aufzeichnungen wieder, sondern er enthält auch ausführliche Berichte
über die Verhandlungen aller Sonderveranstaltungen des Kongresses, so-
dass auch z. B. die bei der Zusammenkunft im Künstlerverein gehaltene
und viel beachtete Rede des Prof. Peter Behrens-Düsseldorf über
3Alkohol und Kunst« zum ungekürzten Abdrucke gelangte. Danach ist
es kein Wunder, wenn der Bericht einen sehr erheblichen Umfang
(536 enggedruckte Seiten) erhalten hat und es muss besonders anerkannt
werden, dass es gelang, diese Riesenarbeit, bei der zahlreiche Korre¬
spondenzen nach aller Herren Länder zu erledigen waren, in der
verhältnismässig kurzen Frist von einem Jahre zu bewältigen.
Erst nach dem Erscheinen des Berichts ist eine unbefangene
Würdigung der Gesamtleistung des Kongresses möglich. Schon ein
flüchtiger Ueberblick über den Inhalt zeigt uns, dass wir eine wahre
Fundgrube für alle Freunde der Massigkeit und Enthaltsamkeit vor uns
haben. Mit einem Bienenfleisse sondergleichen sind die Argumente und
Beweise, ist namentlich das Tatsachenmaterial von allen Seiten
zusammengetiagen worden. Der Bericht würde eine der wichtigsten
und erfolgreichsten Agitationsschriften gegen den Alkoholismus sein,
wenn er eben nicht gerade wegen seiner Gründlichkeit für die allgemeine
Verbreitung zu lang wäre. Aber dieser Mangel, wenn man ihn so
nennen soll, ist eben die selbstverständliche Kehrseite der vielen und
grossen Vorzüge, die er besitzt und wir wollen ihn gern dafür mit in
den Kauf nehmen. Auf den Inhalt im Einzelnen einzugehen, ist an
dieser Stelle nicht möglich, nur eine Bemerkung drängt sich uns bei
der Durchsicht auf. Während des Kongresses konnte man in vielen
deutschen Zeitungen lesen, es sei zu unerfreulichen Zusammenstössen
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102
Besprech ungen.
zwischen den Freunden der Massigkeit und der Enthaltsamkeit, ja
geradezu zu wüsten Provokationen gekommen. Man hatte danach
in vielen Kreisen den Eindruck, als hatten sich die Abstinenten förm¬
lich verschworen, das Einvernehmen mit den Massigen zu stören, und
ein Zusammenarbeiten mit ihnen unmöglich zu machen und dieser Ein¬
druck ist von den Alkohol-Interessenten geflissentlich verbreitet worden.
Liest man jedoch die Verhandlungen aufmerksam durch, so erhält man
den entgegengesetzten Eindruck. Ja, ich möchte geradezu sagen: der
Bremer Kongress hat den erneuten Beweis dafür geliefert, dass ein
Zusammenwirken der beiden Richtungen recht wohl möglich ist. Nur
darf allerdings keine von der anderen verlangen, dass sie gerade in den
für sie entscheidenden Punkten ihre Meinung ändern solle. Wenn
gelegentlich ein unnötig scharfer Ton angeschlagen wurde, so sind daran
eigentlich die Mässigen selbst schuld. Wir finden wenigstens die erste
agressive Bemerkung in der offiziellen Begrüssungsrede des Vertreters
der österreichischen Regierung, des Professors Hueppe, der gleich im
Anfang mit unwilligem Stirnrunzeln von asketischen Bestrebungen und
abstossenden Tugendbolden sprach. Dass man auf diesen Trompeten-
stoss auf der Gegenseite nicht nur mit Friedensschalmeien antwortete,
kann nicht Wunder nehmen. Aber von unversöhnlichen Gegensätzen,
von Unmöglichkeit des Zusammenwirkens zu sprechen, ist angesichts des
erfreulichen Gesamtresultats, das sich aus dem Berichte ergibt, eines
Resultats, zu dem sowohl Mässige wie Enthaltsame redlich beigetragen
haben, schlechterdings unmöglich.
Wie kommt es nun, dass die Besprechungen in der Presse doch
diesen ungünstigen Allgemeineindruck überall verbreitet haben ? Wir
greifen wohl nicht fehl, wenn wir die Ursache darin suchen, dass sich
die Berichterstatter allzusehr daran gewöhnt haben, dem Publikum das¬
jenige vorzusetzen, von dem sie glauben, dass es ihm am besten behagt.
Und der deutsche Bierphilister will nun einmal in seinem Biergenuss
nicht gestört sein. Daraus ergibt sich aber für alle künftigen Kongresse
die unbedingte Forderung, dass die Berichterstattung für die Presse
von dem Komitee selbst in die Hand genommen werden muss. Man
darf sich nicht auf die Berichte sensationshungriger Reporter verlassen,
von denen man eine objektive Darstellung um der Sache willen nicht er¬
warten kann. Es ist ein Verdienst des Berichts, auf diese offene Wunde
in unserem Zeitungswesen hingewiesen zu haben. Leider ist der Sache
durch diese Art der Berichterstattung mancher Schaden erwachsen, der
durch den nachfolgenden ausführlichen Bericht nicht immer wieder
gutgemacht werden kann._ W. B.
Die Belastung des Arbeiterbudgets durch den Alkohol¬
genuss. Eine sozialstatistische Studie auf dem Gebiete der Alkohol¬
frage von Dr. H. Blocher und Dr. J. L an dm an n. Basel 1903. Die
Verfasser haben sich unter finanzieller Beihilfe des Schweizerischen Ab¬
stinenzsekretariats der mühsamen Arbeit unterzogen, das in dem 6. und
7. Jahresbericht (1891 und 1892) des amerikanischen Arbeitskommissars
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Besprechungen.
103
(Commissioner of labor) aufgespeicherte Material von rund 8500 Arbeiter¬
budgets, die sich sowohl auf die Vereinigten Staaten selbst (6809) als auf
einige europäische Staaten (1735) verteilen, einer Durchsicht in Bezug
auf die Rolle zu unterziehen, die der Alkohol in finanzieller Hinsicht
im Arbeiterhaushalt spielt. Ausser diesen Budgets wurden noch 160
andere bearbeitet, die in einem von dem Senator Aldrich erstatteten
Bericht »Retail Prices and Wagest (Washington 1892) veröffentlicht worden
sind. In der Methode haben sich die Verfasser der von Ernst Engel
(Die Lebenskosten belgischer Arbeiterfamilien früher und jetzt«.
Dresden 1895) entwickelten angeschlossen, die darin besteht, dass statt
des schwankenden Begriffs der Familie oder der Haushaltung derjenige
einer Konsumenteneinheit zu Grunde gelegt wird. Engel fand diese
in dem neugeborenen Kinde, das eine Einheit repräsentiert. Der Ein¬
heitssatz steigert sich mit jedem Lebensjahre um ein Zehntel und zwar
beim Manne bis zum 25., beim Weibe bis zum 20. Jahre, so dass also
ein erwachsener Mann einem Werte von 3,5, eine erwachsene Frau
einem solchen von 3,0 entspricht. Dem Einheitssätze legte Engel zu
Ehren seines Lehrers Quetelet den Namen „Quet« bei. Eine Arbeiter¬
familie, die aus einem Ehepaare und 4 Kindern im Alter von 3, 5, 7
und 9 Jahren besteht, , würde demnach 3,5 -]- 3,0 -j- 1,3 -|- 1,5 -|- 1,7
—j— 1,9 = 12,9 Konsumenteneinheiten (Quets) enthalten. Wir möchten
gleich hier dem Bedenken Ausdruck geben, dass eine solche Einheit,
so wichtig und unentbehrlich sie auch sonst bei derartigen Vergleichen
sein mag, doch gerade bei Vergleichen über die Ausgaben für geistige
Getränke und Tabak nicht recht geeignet ist. Kinder und Frauen spielen
gewiss beim allgemeinen Konsum von Wohnung, Nahrung und Kleidung
eine ausserordentlich wichtige Rolle, bei dem von geistigen Getränken
und Tabak kommen sie kaum in Frage. Hier müsste man als Einheit
etwa einen erwachsenen Mann zu Grunde legen und Kinder und Frauen
entweder gar nicht oder nur zu einem ganz geringen Satze mit in Rechnug
stellen. Ein zweites Bedenken richtet sich gegen die Vollständigkeit
der von den Arbeitern gemachten Angaben selbst. Es liegt auf der
Hand, dass die Ausgaben für alkoholische Getränke sehr schwer genau
festzustellen sind, weil sie vielfach bei Gelegenheit der Arbeit oder im
Vorübergehen gemacht werden und weil die Arbeiter sich oft scheuen
werden, gerade über diesen Teil ihrer Verwendungen Rechenschaft abzu¬
legen. Ganz besonders wird das in Ländern der Fall sein, wo die
Abstinenzbewegung bereits grössere Fortschritte gemacht hat, wie in den
Vereinigten Staaten. Wenn von den 6809 Familien der Vereinigten
Staaten nur 3064 und von 1611 Familien in europäischen Staaten nur
1054 Angaben über Alkoholkonsum gemacht haben, so kann das nicht
damit erklärt werden, dass die übrigen ganz oder zum grössten Teil aus
Abstinenten bestanden haben, sondern eben nur damit, dass diese
anderen Angaben entweder nicht machen konnten oder nicht machen
wollten. Ist das der Fall, so wird man aber auch bei den Familien,
die wirklich Angaben gemacht haben, berechtigte Zweifel darüber hegen
dürfen, ob denn diese Angaben auch wirklich vollständig und richtig
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Besprechungen.
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sind. Man wird somit nur mit grosser, von den Verfassern selbst dringend
empfohlener Vorsicht an die Beurteilung der von ihnen berechneten
Tabellen herantreten dürfen.
Aus den Ergebnissen heben wir hervor, dass die bearbeiteten
Arbeiterbudgets den schon von Engel ausgesprochenen Satz durchaus
bestätigen, dass die prozentuale Ausgabe für alkoholische Getränke mit
zunehmenden Einkommen nicht fällt, sondern steigt. Engel fand für
seine 5 Klassen aus dem Jahre 1853 folgende sehr bezeichnende
Proportion ?
Familien-Einkommen von:
unter Mk. 600 600 — 900 900 — 1200 1200—2000 über 2000
Ausgaben f. alkoholische
Getränke in Prozent: 1,03 2 ,OS 3,02 4,37 6,44
Ausgaben f. Kulturzwecke: 1,88 2,75 3,49 6,17 5,94
Die Ausgabe für alkoholische Getränke steigt also in viel rascherer
Progression als das Einkommen und als die Ausgaben für edlere Kultur¬
bedürfnisse und ein ganz ähnliches Ergebnis konstatierten die Verfasser
bei den 160 Haushaltungsbudgets des Senator Aldrich, von denen
allerdings nur 60 Angaben über den Alkoholkonsum machen. Bei den
übrigen 8500 Budgets liegen keine Angaben über die verhältnismässige
Belastung der einzelnen Einkommensklassen vor. Eine sehr mühsam
berechnete Tabelle ist leider mit den Unterlagen verloren gegangen.
Dagegen liegt eine Tabelle über den Alkoholkonsum nach Berufsgruppen
vor, wobei in jeder Gruppe die Familien mit eingeborenen und einge¬
wanderten Haushaltungsvorständen besonders nachgewiesen sind. Es
ergibt sich daraus, dass die der Glasverarbeitung angehörigen Familien
bei Weitem den grössten Alkoholgenuss (233,13 Mk. pro Jahr) hatten,
während auf 66 Familien des Eisenerzbaus nur 36,40 Mk., auf 323
Familien der Wollwarenfabrikation nur 78,46 Mk., auf 689 Familien der
Baumwollenfabrikation nur 63,03 Mk. für alkoholische Getränke kommen.
Die Durchschnittslöhne der untersuchten Familien waren in der Glas¬
fabrikation bei Weitem am höchsten, im Eisenerzbau am niedrigsten, was
die oben ausgeführte Regel weiter bestätigt. Auch die Höhe des Alkohol¬
konsums nach der Nationalität des Haushaltungsvorstands wird unter¬
sucht, wobei sich ergibt, dass die eingeborenen Familien im Allge¬
meinen weniger Alkohol konsumieren, die deutschen und französischen
etwa eine mittlere Stellung einnehmen und die ungarischen und belgischen
sich durch eine ganz ausserordentliche Höhe des Spirituosenverbrauchs
auszeichnen. Bedenken muss hier allerdings der verhältnismässig geringe
Alkoholverbrauch der 441 irischen Familien erregen, die in der Tabelle
weit günstigere Zahlen aufweisen, als die deutschen und selbst als die
englischen. _ W. B.
Verantwortlicher Redakteur: Piof. Dr. Viktor Böhmert, Dresden, Glacistsasse 18.
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacistrasse 18.
Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul.
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\
I. Abhandlungen.
Ein Progranun und Plan zun örtlichen
Wirken iör Massige und Enthaltsame.
„Die Geister sind erwacht, es ist eine Lust zu leben und
zu wirken!“ Mit diesen Worten begrüssen die Herausgeber
dieser Zeitschrift alle diejenigen Männer und Frauen, Jünglinge
und Jungfrauen, welche ihre Einzelkräfte gern einem nützlichen
Schaffen und Wirken für das Wohl ihrer Umgebung und ihrer
Gemeindegenossen widmen möchten.
Man meldet uns aus verschiedenen Orten, dass es nicht
nur in den Köpfen, sondern auch in den Gemütern der Menschen
mächtig gärt, dass man den wirtschaftlichen, kulturellen und
sittlichen Fortschritt aller Volksklassen gern fördern und in
Mässigkeits- und Enthaltsamkeits-Vereinen tätig sein möchte.
Es sind in solchen Vereinen hier und da bereits Herren- und
Damen-Ausschüsse gebildet worden, welche darüber beraten
wollen, wie man am besten entweder allein oder im Bunde mit
der Armenverwaltung oder Polizeiverwaltung oder mit Aerzten,
Geistlichen und Lehrern Zusammenarbeiten könne. Man möchte
sich in industriellen Städten namentlich auch an Erhebungen
und Untersuchungen über die Wohnungs-, Gesundheits-, Nah¬
rungs- oder Verbrauchs-Verhältnisse der Bevölkerung, über den
Stand der Krankheits-, Unfall- und Trunksuchts-Fälle beteiligen,
man bemerkt jedoch mit Recht, dass es dabei mit allgemeinen
Redensarten oder mit Anführung einzelner grausiger Fälle
nicht getan sei, sondern dass man bei den Erhebungen
in mittleren und kleineren Gemeinden sich gleichmässiger
Formulare bedienen müsse, die an Private, an Behörden und
Verwaltungsorgane zwecks Ausfüllung zu senden wären, um
mit deren Beantwortung zu ganz bestimmten unanfechtbaren
Ergebnissen zu gelangen. Man würde durch Aufstellung gleich-
Die Alkoholfrage. 8
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Abhandlungen.
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massiger Erhebungsformulare der örtlichen Kleinarbeit bei der
wissenschaftlichen Untersuchung der Alkoholfrage ausserordent¬
lich dienlich sein können. Wir möchten, dieser Anregung ent¬
sprechend, für Untersuchungen der Alkoholfrage in einzelnen
Gemeinden folgende Hauptpunkte hervorheben:
A. Ermittlung der Grösse und Verteilung des
Verbrauchs an Branntwein, Wein und Bier (mit Unter¬
scheidung der einfachen und schweren Biere), soweit dies durch
die Steuer- und Verkehrsstatistik möglich ist. Schätzung der
vom Publikum gemachten Ausgaben für geistige Getränke.
B. Ermittlung der Zahl der Schankstätten, Gastwirt¬
schaften und Verkaufsläden von geistigen Getränken unter Ver¬
gleichung mit der Einwohnerzahl der betreffenden Gemeinden.
C. Ermittlung der Zahl der durch den Alkoholgenuss
bedingten (direkten und indirekten) Fälle von 1. Verunglückungen
und Unfällen, 2. Selbstmorden, 3. Irrsinn (in öffentlichen und
privaten Irrenheil- und Pflegstätten), 4. Verbrechen (in Gefäng¬
nissen und Strafanstalten), 5. Erkrankungen (in Krankenhäusern,
Trinkerheilanstalten etc.), 6. Verwahrlosungen der Kinder infolge
von Trunksucht der Eltern, 7. Verarmung, bei welcher der
Alkohol die Haupt- oder Nebenursache bildet.
Neben den Untersuchungen und Beratungen über einige,
im vorstehenden erwähnten Hauptpunkte der Alkoholfrage wird
sich die Tätigkeit von örtlichen Mässigkeits- und Enthaltsam¬
keits-Vereinen vor allem auch gewissen Veranstaltungen und
persönlichen Bemühungen, insbesondere auch der individu¬
ellen Trinkerpflege zuwenden müssen, um sowohl die
bereits Gefallenen und Gefährdeten, als auch die Kinder und
Familien derselben vor weiterem Unglück zu bewahren.
Fast alle Veranstaltungen und Fürsorge - Bestrebungen,
welche zur Bekämpfung der Gefahren des Alkohols erforderlich
erscheinen, sind bereits im Jahre 1884 in dem ersten Programm
des Dresdner Bezirksvereins gegen den Missbrauch geistiger
Getränke empfohlen worden. Dasselbe lautet folgendermassen:
Programm und Arbeitsplan des Dresdner Bezirksvereins gegen den
Missbrauch geistiger Getränke
(abgedrackt in dem Rechenschaftsbericht über die Vereinstätigkeit vom
28 . November 1883 bis März 1885 ).
Der Vorstand des Dresdner Bezirksvereins betrachtet den Kampf
gegen die Trunksucht als eine Vorstufe für die soziale Emporhebung
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Ein Programm u. Plan z. örtlichen Wirken f. Massige u. Enthaltsame. 107
aller Volksklassen und hat von diesem Standpunkte aus ein Programm
beraten, wonach für die nächsten Wintermonate namentlich folgende
Aufgaben ins Auge gefasst werden sollen:
1. Förderung der Errichtung von Kaffeestuben womöglich in allen
42 Armenpflegebezirken Dresdens.
2. Verkauf von Marken auf Kaffee, Tee, Warmbier, Suppen etc.
in den Kaffeestuben an die Mitglieder des Vereins zur eigenen Benutzung
oder zur Verteilung an Bedürftige.
3. Verbreitung populärer Vereinsschriften und weitere Herausgabe
von »Mitteilungen des Dresdner Bezirksvereins gegen den Missbrauch
geistiger Getränke«.
4. Veranstaltung von populären Vorträgen über Gesundheitspflege
und Volksernährung.
5. Veranstaltung von Unterhaltungsabenden und edleren Volks¬
erholungen.
6. Weitere Ausbildung der bereits organisierten individuellen Trinker¬
pflege nach Art der individuellen Armenpflege und Gewinnung von Helfern
und Helferinnen für diese Tätigkeit.
7. Veranstaltungen zur Unterweisung von Fabrikmädchen und
Arbeiterfrauen im Kochen und Haushalten.
8. Anregung von Orts- und Bezirksvereinen in verschiedenen Teilen
Sachsens und Versorgung derselben mit den in Dresden erscheinenden
Druckschriften und Mitteilungen. Veranstaltung von Landesversamm¬
lungen der zu einem Landesverband vereinigten Orts- und Bezirksvereine.
9. Versorgung der sächsichen Lokalpresse mit Artikeln gegen den
Missbrauch geistiger Getränke und Besprechung der Vereinsangelegen¬
heiten in allen sächsischen Kalendern.
10. Aufforderung an ärztliche, juristische, theologische, pädagogische,
kaufmännische, gewerbliche, landwirtschaftliche, Turn-, Gesang- und Arbeiter-
Vereine, sowie an Wohltätigkeits- und andere Gesellschaften, die Bestre¬
bungen des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke durch Vor¬
träge, Schriftenverteilung, durch eigenes gutes Beispiel der Mitglieder und
sonst auf jede Weise mit Rat und Tat zu fördern und sich auch an den
Beobachtungen, Untersuchungen und Mitteilungen des Vereins zu beteiligen.
11. Veranstaltung von privatstatistischen und öffentlichen Erhebungen
über den Einfluss des Alkohols auf die sanitarische und soziale Lage der
Bevölkerung, auf Zunahme von Krankheiten, Verbrechen, Selbstmorden.
Statistik der Schankstätten, der Einfuhr und Produktion und des Ver¬
brauchs geistiger Getränke.
12. Agitation für die Entmündigung der Trunkenbolde.
13. Agitation für gesetzliche und administrative Bestimmungen,
wonach Spirituosen unter das Nahrungsmittelgesetz fallen und Fälschungen
derselben bestraft werden und die Vergiftung der Bevölkerung durch
den Fusel verhütet wird.
14. Agitation für folgende Massregeln:
a) Beschränkung und Konzessionierung von Schankwirtschaften;
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Abhandlungen.
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b) Beschränkung der Verkaufszeit von Spirituosen;
c) Beschränkung der Personenzahl der Trinker durch Verbot des
Ausschankes an Minderjährige;
d) Einführung von Schanksteuern für kommunale Zwecke;
e) schärfere Handhabung polizeilicher und strafrechtlicher Be¬
stimmungen ;
f) Einführung der Lohnauszahlungen in der Mitte der Woche;
g) Anregung von Vereinbarungen, wonach für gewisse Arbeits¬
leistungen und Verhältnisse kein Schnaps, sondern gesundere
Getränke, wie Kaffee, Bier, Limonaden etc. verabreicht werden.
15. Aufforderung an staatliche und kommunale Behörden und an
grosse Unternehmer, welche viele Arbeiter beschäftigen, Kaffeebuden und
Volksküchen zu errichten, die Volksernährung verbessern zu helfen und
die Bestrebungen der Vereine gegen den Missbrauch geistiger Getränke
nach den verschiedensten Richtungen hin kräftig zu unterstützen (unter
Berufung auf die Massregel der Generaldirektion der sächsischen Staats¬
bahnen).
16. Endlich kräftige Förderung und wirksame Unterstützung der
Bestrebungen des allgemeinen deutschen Vereins gegen den
Missbrauch geistiger Getränke, welchem in erster Linie die Aufgabe zu¬
fällt, bei den gesetzgebenden Gewalten des Deutschen Reichs alle ent¬
sprechenden Schritte zu tun, damit die bestehende Gesetzgebung über
das Schankwesen in Deutschland geändert und den Einzelstaaten und
Kommunen die Möglichkeit zu selbständigem Einschreiten und zu wirk¬
samen Vorbeugungs- und Verhütungsmassregeln gegeben wird.
Wir haben geglaubt, im Jahre 1904 an das im Vorstehenden
abgedruckte Programm vom Jahre 1884 erinnern zu sollen, um
den tatsächlichen Beweis zu führen, dass sich die deutsche
Mässigkeitsbewegung von Anfang an die weitesten Ziele ge¬
steckt und auch die Enthaltsamkeitsbestrebungen und die
individuelle Trinkerpfege seit 20 Jahren mit in den
Kreis ihrer Wirksamkeit aufgenommen hat. Ueber die vom
Dresdner Bezirks verein in Pflege genommenen Trinker liegen
besondere Akten und Protokolle vor, welche unter dem Titel:
„Bilder aus der individuellen Tr inkerpf lege" als
„vertrauliches Manuskript" gedruckt sind.
Der Dresdner Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke hat mehr als zwei Jahrzehnte lang nach dem von
ihm aufgestellten ersten Programm gearbeitet und sich bemüht,
den verschiedensten Richtungen in der Antialkohol-Bewegung
gerecht zu werden, um dadurch zur Verständigung und zum
Zusammenwirken aller Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine
beizutragen.
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
109
Alkohol and Zurechnungsfähigkeit.*)
Von Dr. med. Eduard Hirt, München.
An und für sich bezeichnet das Wort Zurechnungsfähigkeit
keinen ärztlichen Begriff. Es bedeutet vielmehr einen Zustand
von allgemein menschlichem Interesse, der aber heute ins¬
besondere für das Urteil des Strafrichters von Wichtigkeit ist.
Denn die Zurechnungsfähigkeit ist die notwendige Voraussetzung
der richterlichen Zurechnung, d. h. der Verantwortlichmachung
für eine Tat, für eine Gesetzesübertretung. Die strafrechtliche
Auffassung der Zurechnungsfähigkeit stimmt heute im Wesent¬
lichen noch vollkommen mit der im Volke lebenden Ueber-
zeugung überein, dass der Einzelne sein Tun und Lassen ganz
allein für sich zu verantworten habe, und noch mehr mit der
theologischen Auffassung moralischer Verantwortlichkeit. . Diese
Anschauungen stützen sich hauptsächlich auf das trügerische
Gefühl der Freiheit, das die Menschen bei vielen ihrer
Handlungen haben, und auf die weitverbreitete Meinung,
dass der Mensch so handeln könne, wie es ihm
beliebe. Damit hängt das Gefühl der Verantwortlichkeit aufs
Engste zusammen.
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist somit
die Frage der Willensfreiheit. Nun geben aber heute
alle Gebildeten, unbeirrt durch die verschiedenen religiösen und
*) Da die Frage der Zurechnungsfähigkeit bei Gesetzesübertretungen gegen¬
wärtig Aerzte, Juristen und Sozialpolitiker lebhaft beschäftigt und da die bürgerliche
Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich vor den vermindert Zurechnungs¬
fähigen zu schützen, noch bevor diese ein Verbrechen begangen haben, so erscheint
es der Redaktion dieser Zeitschrift geboten, den Gegenstand auch mit Rücksicht auf
die Alkoholfrage einer näheren wissenschaftlichen Beleuchtung zu unterziehen.
Die Redaktion.
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Abhandlungen.
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philosophischen Richtungen, denen sie anhängen mögen, zu,
dass nur der Mensch zurechnungsfähig ist, dessen Willens¬
entschlüsse durch keinerlei krankhafte Seelenvorgänge in ihm
bestimmt oder mitbestimmt werden. Diese Auffassung liegt
auch dem § 51 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches zu
Grunde, dessen Wortlaut für unsere Frage massgebend ist.
Er heisst:
Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn
der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich
in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krank¬
hafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
war.
Erst mit der gesetzlichen Festlegung der Einsicht, dass
krankhafte Seelenzustände die Willensfreiheit beeinträchtigen
oder aufheben können, ist es Sache der Aerzte geworden, in
der Frage der Zurechnungsfähigkeit mitzusprechen. Wir wollen
nun unsere Aufgabe in drei Teile einteilen: 1. in die Er¬
örterungen darüber, was man unter Zurechnungsfähigkeit im
ärztlichen Sinne zu verstehen hat; 2. in die Darlegung der
Veränderungen, die der Alkohol auf dem Gebiete seelischen
Geschehens hervorbringt; 3.’ in die Betrachtung der Be¬
ziehungen, die zwischen den Alkoholwirkungen und den Vor¬
bedingungen der Zurechnungsfähigkeit bestehen.
Wo von Zurechnungsfähigkeit die Rede ist, handelt es sich
immer um ein Zurechnen von Handlungen, da An¬
sichten, Gesinnungen u. dgl. m. dem Gesetze nicht unterstehen.
Eine Feststellung jenes Begriffes muss daher von den Tat¬
sachen ausgehen, die wir über das Zustandekommen mensch¬
lichen Tuns kennen. Natürlich kommen erzwungen e Taten
hier nicht in Betracht; sie erscheinen uns selbstverständlich als
unverantwortlich. Alles andere Tun aber erscheint uns als
Ergebnis eines Wollens.
Das Wollen finden wir bekanntlich als eine besondere
Art seelischer Vorgänge in unserem Innern. Wir erkennen es
an dem Willensgefühl, welches einen Teil unseres Tuns, unsere
Handlungen im engeren Sinne, begleitet. Dieses Gefühl sagt
uns, dass wir selbst es sind, der jetzt dies oder jenes tut.
Deshalb erscheint uns unser Wollen aus uns selbst entsprungen,
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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„unser“ Eigentum, wir selbst als seine alleinigen Herren und
Lenker. Wenn wir so ein Wollen „frei“ nennen, so können
wir damit nur „frei von äussseren Einflüssen“ meinen und
somit ist diese Freiheit des Wollens im Grunde unsere
Freiheit, die Freiheit unseres Ich. Darum halte ich mich ver¬
antwortlich für meine Handlungen. Anders bei dem Tun,
das wir, wie im Traume, im' Halbschlaf u. dgl., automatisch
oder gar reflektorisch vollziehen. Bei ihm fühlen wir nicht
uns als die Täter; wir sagen daher: ich weiss nicht, wie ich
dazu kam, es war auf einmal geschehen; von Verantwortlich¬
keit fühlen wir uns hier immer frei.
Die erwähnten Gefühle der Willensfreiheit und Ver¬
antwortlichkeit sind zum Ausgangspunkt einer lange Zeit
herrschenden Willenslehre geworden, die viel Verwirrung an¬
gerichtet hat. Sie nahm an, dass unsere Willenshandlungen
vom Willen als einer ganz frei und unabhängig wirkenden
Kraft bestimmt würden. Unterstützt wurde diese Auffassung
noch durch die geläufige Selbsttäuschung, der die meisten
Menschen unterliegen, wenn sie rückschauend ihre Handlungen
betrachten; sie meinen dann in vielen Fällen, dass sie auch
anders hätten handeln können. Mit der genannten Willenslehre
ist dem Willen eine Stellung ausserhalb des Causalitätsgesetzes
angewiesen und das Gesetz von der Constanz der Kraft ist
durchbrochen. Da diese Gesetze sich sonst überall bei der
Betrachtung der Welt bewährt haben, muss uns jede schein¬
bare Ausnahme vorsichtig machen. Wir wollen daher die
Stützen genannter Willenslehre schärfer prüfen.
Wenn ich rückschauend meine, ich hätte in einem be¬
stimmten Falle auch anders handeln können, so kann erstens
die Beurteilung der damals herrschenden Beweggründe durch
die Betrachtung aus der Ferne, welche die Genauigkeit meiner
Erinnerung verwischt, erschwert sein, und zweitens erscheinen
die damals wirkenden Triebfedern notwendig in falscher Be¬
leuchtung und falschem Verhältnisse, weil Erinnerungen das
Gemüt stets weniger erregen, wie augenblickliche Eindrücke.
Wir werden sehen, wie bedeutungsvoll dieser Sachverhalt ist.
Sehen wir vorläufig von ihm ab und machen wir uns nur klar,
dass der Satz: „Ich hätte damals auch anders handeln können“,
die Ergänzung fordert: „wenn ich gewollt hätte.“ Warum aber
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Abhandlungen.
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habe ich nicht anders gewollt? Mein Tun hatte damals, wie
stets, einen bestimmten Zweck. Dieser konnte zwar von dem
Zweck meiner sämtlichen anderen Handlungen verschieden sein,
deckte sich mit den Zwecken dieser aber doch in dem einen
Punkte, dass er im Augenblicke meiner Tat von mir gebilligt
wurde. Widrigenfalls wäre meine Tat ja unterblieben. Die
Vorstellung dieses Zweckes bildete vor Ausführung meiner Tat
den Inhalt eines zu der schliesslich vollzogenen Handlung
hindrängenden Wollens. Ich kann darum auch sagen, mein
Wille billigte die Tat. Der vorgestellte Zweck war ein
Beweggrund oderMotiv meines Willens oder mein
Beweggrund. Die Billigung meiner Tat kann ich schon
vor ihrer Ausübung erfahren haben. Ich kann sie zu be¬
sonderer Kenntnis genommen haben, mit dem Vors atze oder
Entschlüsse, ihr entsprechend zu handeln. Erkannt kann
ich sie nur an einem Gefühle haben, das die Vorstellung
meines Beweggrundes begleitete, das sehr verschiedener Art
gewesen sein kann, sicherlich aber ein Lustgefühl war.
Dieses Gefühl bezeichnete also die Stellungnahme meines Ich,
oder meines Willens zu dem vorgestellten Zweck. Da es ein
Lustgefühl war, sagte es dazu ja und Amen, und bewirkte ein
Streben nach Verwirklichung dieses Zweckes. Wäre es
ein Unlustgefühl gewesen, dann wäre dieses Streben nach
Verwirklichung nicht aufgetreten. Lust und Unlust heissen
daher die Triebfedern unseres Handelns. Bei alledem ist
es einerlei, was den Zweck unseres Tuns bildete und woher
die Vorstellung desselben stammte; sie kann aus der Erinnerung
aufgestiegen sein, oder sich unmittelbar an eine Wahrnehmung
angeschlossen haben; ihre Herkunft kann uns bewusst ge¬
worden oder unbekannt geblieben sein.
Tatsächlich ist aber eine Willenshandlung selten ein so
einfacher Vorgang. In der Regel ist der Entschluss nach der
Vorstellung eines Zweckes und der Stellungnahme unseres Ich
zu ihm nicht fertig. Meist tauchen eine Anzahl von Beweg¬
gründen auf, welche als Gründe und Gegengründe unseres
Handelns erscheinen, und eine Reihe von Gefühlen bezeichnet,
ob wir die einzelnen billigen oder verwerfen. Auf diese Weise
wird die Willenshandlung zur Wahlhandlung. Sie ist die
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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Folge eines Willensentschlusses, der endlich aus dem Kampf
der Motive unter der Triebkraft wechselnder Gefühls¬
erregungen als feststehende Richtschnur unseres Handelns her¬
vorging. Auch die Bildung des Entschlusses und das daran
sich anschliessende Streben nach Verwirklichung desselben wird
von eigenartigen Gefühlen markiert, so dass man den ganzen
Willensvorgang in einen gesetzmässigen Ablauf von Gefühlen
auflösen kann. In dieser Tatsache, dass unser Ich einer Zweck¬
vorstellung gegenüber Stellung genommen hat, ehe es zu einem
Handeln kam, liegt das die Willenshandlungen vor den reflek¬
torischen Bewegungen und automatischen Verrichtungen Aus¬
zeichnende. Je umfassender und eingehender diese Stellung¬
nahme war, desto deutlicher ist unser Freiheits- und Verant¬
wortlichkeitsgefühl. Es macht deshalb für dasselbe viel aus,
ob wir in einer Sache nach reiflicher Ueberlegung oder durch
die Umstände gedrängt handeln. Es muss aber auch für die
Richtung der Entschliessung bedeutungsvoll sein, ob unser
Handeln das Ergebnis wohlabgewogener Gründe, sachlichen
Wissens und innerer Ruhe ist, oder ob wir es mit der Tat
eines leidenschaftlich erregten Menschen zu tun haben, der
über die Tragweite seiner Beweggründe sich nicht im Klaren
ist. Fragen wir indessen uns zunächst einmal, wer dieses
Ich ist, das da Stellung nehmen, ja oder nein sagen soll?
Was weiss ich überhaupt von diesem Ich? Eine genaue Selbst¬
besinnung lehrt, dass dieses Ich derselbe ist, den ich auf eine
Summe von Erfahrungen in einer bestimmten Weise habe ant¬
worten sehen; derselbe, von dem sich sagen lässst, dass er so
oder so zu handeln gewohnt ist, der diesen oder jenen Charakter
offenbart, diesen oder jenen Grundwillen hat. Kurz, mein Ich
ist die Zusammenfassung aller der Wahrnehmungen, die ich
über mich selbst gemacht, oder anders ausgedrückt, in denen
ich mich selbst erlebt habe. Es muss also in erster Linie der
Zusammenhang der gerade mir eigentümlichen Gefühle und
Triebe sein, durch die ich mich von anderen meinesgleichen
unterscheide, und durch welche ich anders als andere, indi¬
viduell, handle. Es ist das Subjektive gegenüber dem Objek¬
tiven. Und die Kenntnis des Subjektiven, dessen Zusammen¬
fassung eben das Subjekt, das Ich ist, hat ihre tiefste Quelle
in der Beobachtung der Willenshandlungen und ihrer Vor-
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bedingungen, der Willensvorgänge. Nur auf sie kann sich das
Urteil über eine Persönlichkeit mit Sicherheit stützen.
Stellen wir also die Frage, „was ist Wille, woher kommt
er?“ so kann die Antwort nur lauten :Wille istdieSelbst-
wahrnehmung eines im Wirbel der Begebenheiten sich
ringend und strebend fühlenden Ichs. Er ist das
Unterscheidungsmerkmal von Ich und Nichtich und das Ver-
hältnismass von diesen beiden. Dem Leuchtenden, Klingenden,
Riechenden, Harten, Weichen, Warmen und Kalten setzen wir
ebenfalls ein Leuchtendes, Klingendes, Riechendes usw., unserem
Körper entgegen. Er ist in das ewig hin- und herflutende
Meer wechselnder Erscheinungen miteingeschlossen. Von aussen
gesehen, ist daher er und die ganze Welt Bewegung, Stoss
und Gegenstoss, Anziehung und Flucht. Sie spiegeln sich im
Bewusstsein als tausend Vorstellungen und ihre Bedeutung für
unser Selbst spiegelt sich als Wille. Wenn uns unser Wille
nun als frei erscheint, so kann das nur einen Sinn haben,
nämlich: frei von äusseren, unserem Ich fremden Einflüssen.
Nach alledem ist unser Wollen so frei und unfrei, wie
wir selbst. Von frei im Sinne von „ursachelos“ oder „dem
Causalitätsgesetze entzogen“ kann keine Rede sein. Jedes
Einzelwesen ist ein Blatt am Baume der Menschheit; und wie
der Gärtner, der eine Baumart kennt, der weiss, wie gerade
dieser Baum aufgewachsen ist, und unter welchen besonderen
Einflüssen er bisher gelebt hat, sagen kann, welches Licht-,
Luft- und Nahrungsbedürfnis seine Zweige haben, so lassen sich
auch die Willensstrebungen der Menschen, die eben ihre Be¬
dürfnisse und Strebungen zum Ausdrucke bringen, nur aus
ihrer Abstammung, ihrer Anlage und ihren Erfahrungen
verstehen. Durch diese Kräfte sind sie mit Notwendigkeit
bedingt.
Es lässt sich von hier aus verstehen, warum gerade
religiöse und ethische Rücksichten der allgemeinen Anerkennung
dieser deterministischen Willenslehre im Wege stehen. Wenn
der Mensch unter bestimmten Verhältnissen sich zu einer
Handlungsweise, die vielleicht den herrschenden sittlichen und
rechtlichen Anschauungen widerstreitet, entschliessen muss,
so kann es fraglich erscheinen, ob man ihn dafür moralisch
verantwortlich machen darf. Freilich wäre es andererseits
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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überaus niederdrückend, wenn es wirklich im Belieben des
Menschen stünde, die Einflüsse der Erziehung, der Belehrung
und der lebendigen Erfahrung zu vernachlässigen. Aus der
Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Menschen die
persönliche Anlage so geraten ist, dass unter
halbwegs gesunden äusseren Verhältnissen ver¬
brecherische Taten vermieden werden, ergibt sich
aber jedenfalls eine soziale Ver an t w o r t li c h ke i t. Reichen
die natürlichen sozialen, menschenfreundlichen Triebe, unterstützt
durch die Aussicht auf Bestrafung im Falle einer Rechtsverletzung
nicht aus, um einen Menschen auf der Bahn des Rechtes zu er¬
halten, so hat die Gesellschaft die Pflicht, die verbreche¬
rischen Neigungen durch eine angemessene Bestrafung für
die Zukunft womöglich in Schranken zu halten. Personen, die
von verbrecherischem Tun nicht durch Mitleid und Gerechtigkeits¬
gefühl, sondern nur durch die Furcht vor dem Gesetze ab¬
gehalten werden, gibt es gewiss recht viele. Bei ihnen hängt
es oft von der Art der Verhältnisse ab, in die hinein sie ge¬
boren, und unter denen zu leben sie gezwungen sind, ob wir
sie später als gewöhnliche Verbrecher wiederfinden oder als
Spitzbuben von der Sorte, welche man nicht hängt.
Die bisherigen Erörterungen zeigen, dass die Zurechnungs¬
fähigkeit insbesondere von zwei Vorbedingungen ab¬
hängt: es muss zur Zeit der Tat erstens ein Zustand vor¬
handen sein, in welchem die Beweggründe unseres Handelns
uns klar und deutlich zum Bewusstsein kommen und von uns
gewürdigt werden können, und zweitens muss die Umsetzung
unseres Wollens in entsprechende Handlungen eine ungestörte
sein. Eine Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit kann
demnach einmal durch alle Zustände getrübten oder krankhaft
veränderten Bewusstseins und sodann durch jene Vorgänge
Zustandekommen, die unser Handeln mehr oder weniger unserem
Willen entziehen. Auf dem erstgenannten Wege führen
geistige Schwäche, Verwirrtheit, Sinnestäuschungen, Wahn¬
vorstellungen u. dgl. zur Unzurechnungsfähigkeit, auf dem
zweiten Wege insbesondere erleichterte Auslösung von Be¬
wegungen, sog. psychomotorische Erregung. Sie lässt auch bei
klarem Bewusstsein keine Zeit zu einem geordneten Verlaufe
des Willensvorganges.
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Es ist kein Zweifel, dass das Gesetz mit den Ausdrücken
„Zustand von Bewusstlosigkeit“ und „krankhafte Störung der
Geistestätigkeit“ diese Arten von geistigen Störungen meint. Die
Schwierigkeiten für den ärztlichen Sachverständigen entstehen
dadurch, dass er genötigt ist, zwischen Zurechnungsfähigkeit
und Unzurechnungsfähigkeit an einer Stelle eine scharfe Grenze
zu ziehen, während doch tatsächlich von den Fällen vollster
Zurechnungsfähigkeit bis zu denen zweifellosester Unzurechnungs¬
fähigkeit alle Grade von Uebergängen Vorkommen. Gerade
bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nach Alkohol¬
genuss macht sich der Mangel einer naturgemässen Abstufung
der Verantwortlichkeit schwer fühlbar.
Es ist zweckmässig, die Erscheinungen der akuten Ver¬
giftung, der chronischen Vergiftung und die mittelbaren, mehr
oder weniger zufälligen Alkoholwirkungen und ihre Bedeutung
für die Zurechnungsfähigkeit gesondert zu betrachten. Diese
verschiedene Wirkungsweise des Giftes lässt sich etwa
folgendermassen kennzeichnen:
Einmaliger Alkoholgenuss, wenn es sich auch nur um ge¬
ringe Mengen, etwa 40—60 ccm. handelt, erschwert die Auf¬
fassung äusserer Eindrücke, verlangsamt die Gedankenver¬
bindung und disponiert zu verfrühten und überstürzten Be¬
wegungen. Grössere Alkoholmengen beeinflussen die Wahr¬
nehmung so stark, dass es schwer oder unmöglich werden
kann, sich mit dem Betrunkenen zu verständigen. Die Ver¬
arbeitung der Sinnesreize entbehrt der sicheren Leitung durch
Zielvorstellungen, die Vorstellungen schliessen sich vielmehr
nach äusseren, zufälligen Merkmalen zusammen, als da sind
Gleichklang von Worten, eingelernte Wortfolgen, Reime. Hier¬
durch wird der Gedankengang verflacht, an Stelle des sinnlich
Zusammengehörigen lenken ihn eingeübte Sprachbewegungen.
Neben grosser Breite zeichnet die Reden Angetrunkener eine
auffallende Leere aus. Diese wird um so merklicher, je mehr
sich die lähmende Wirkung des Weingeistes auch auf die
psychomotorischen Leistungen erstreckt. Hierdurch kommt es
mehr und mehr zu Stockungen des Gedankenablaufes, zu
Wiederholungen derselben Worte und endlich zu mehr oder
weniger vollständiger Bewusstlosigkeit.
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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Die wohltuende Wirkung auf unsere Stimmung, welche
mässige Alkoholmengen ausüben, hängt wohl unmittelbar mit
einer psychomotorischen Erregung, der Erleichterung der
Bewegungsauslösung, zusammen. Bei höheren Graden der
Vergiftung finden wir dann jene laute Fröhlichkeit oder die
abstossende Selbstüberhebung und ein unsinniges Kraftgefühl
an den Angetrunkenen deutlich hervortreten, lauter Eigen¬
schaften, welche unüberlegte, rohe und gewalttätige Handlungen
sehr fördern. Erst mit Eintritt der Lähmung auch auf diesem
Gebiete legt sich die gefährliche Reizbarkeit des Betrunkenen.
Eine weitere überaus wichtige Störung unseres Seelenlebens
im Rausche ist die geschlechtliche Erregung.
Alle diese Eigentümlichkeiten bringen den Rausch in nahe
Verwandtschaft zu jenen Geistesstörungen, die wir als manische
bezeichnen. Bedenkt man nun die erschreckende Häufigkeit
der Betrunkenheit, so kann es nicht verwundern, dass der
grössere Teil jener Verbrechen, die mit der Alkoholvergiftung
mittelbar oder unmittelbar Zusammenhängen — es sind das
nach Kraepelins Schätzung etwa 70 °/ 0 aller Straftaten! —
nicht der Trunksucht, sondern dem Gelegenheitstrunke
ihre Entstehung verdanken. Die Art der Vergehen ist für den
Einblick in die dabei wirksamen Momente äusserst lehrreich:
Verletzung des öffentlichen Anstandes, Widerstand, Ruhe¬
störung, Beleidigungen, Sittlichkeitsvergehen, Gewalttaten bis
zum Totschlag sind die gewöhnlichen Gesetzesverletzungen
durch Betrunkene.
Die Folgen des chronischen Alkoholmissbrauches,
soweit sie hier von Interesse sind, bestehen in der zunehmenden
Verdummung und der gemütlichen Verrohung des Trinkers.
Es ist sehr schwer, mit Bestimmtheit im Einzelfalle zu erkennen,
ob man es schon mit den ersten Anfängen der chronischen
Alkoholvergiftung nach der eben genannten Richtung zu tun
hat, oder noch mit „normalen“ Erscheinungen. Sicher ist nur,
dass in schweren Fällen die geistige Verarmung der Trinker
den Grad einer unverkennbaren Verblödung erreichen kann.
Die Urteilslosigkeit ist namentlich in Bezug auf die eigene
Person sehr deutlich, erstreckt sich aber auf alle Gebiete,
sofern die Verwertung von Gedächtnisstoff gefordert wird, der
erst in den Zeiten schon beginnender Vergiftung erworben
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werden sollte. An alle diese Erfahrungen ist die Erinnerung
niemals eine treue. Da nun der fortgesetzte Alkoholmissbrauch
auf gemütlichem Gebiete ausser der Abstumpfung für Höheres
und der Ertötung des Ehrgefühles, des Bewusstseins der Ver¬
antwortlichkeit, der Scham und der Willenskraft, insbesondere
auch Misstrauen, erhöhte Reizbarkeit und schwere Verstimmung
hervorbringt, so bildet sich gar nicht selten eine voreinge¬
nommene Beurteilung des persönlichen Schicksales heraus, die
überall Anfeindung wittert und zu ausgeprägtem Verfolgungs¬
wahne werden kann. Diese Verrücktheit der Trinker äussert
sich namentlich durch die' Verkennung des Verhältnisses zu
nahen und nächsten Personen. Eine sehr gewöhnliche Form
ist der Wahn ehelicher Untreue der Frau, der Eifersuchts¬
wahn.
Auch beim chronischen Alkoholismus sind es bestimmte
Straftaten, die man immer wiederkehren sieht. Entsprechend
der Willensschwachheit der Trinker fehlen Verbrechen, welche
Ueberlegung, Tatkraft und Nachhaltigkeit des Entschlusses er¬
fordern, fast ganz. Dagegen finden sich überaus häufig Zech¬
prellereien und Betrügereien anderer Art, Diebstähle, Hehlereien,
schwere Pflichtversäumnisse und Gewohnheitsbettel. Alle diese
Vergehen finden ihre Erklärung einmal in der moralischen Ver¬
kommenheit und sodann auch in der Gedankenlosigkeit und
Urteilslosigkeit des Trinkers. Es kommen aber auch gar nicht
selten Gewalttaten bei Trinkern vor, die durch die Reizbarkeit,
die Wahnvorstellungen und den Verlust einer festen Selbstbe¬
herrschung entstehen.
Die bisher genannten Schädigungen des Seelenlebens durch
den Alkohol unterscheiden sich in den einzelnen Fällen nur
dem Grade nach. Ihnen gegenüber steht eine Reihe von
Störungen, deren Gestaltung ausser vom Alkohol noch von
anderen Momenten wesentlich beeinflusst wird: die kompli¬
zierten oder pathologischen Räusche, welche die
Reaktion eines von Haus aus krankhaft veranlagten Nerven¬
systems auf das Gift darstellen, und gewisse Geisteskrank¬
heiten, nämlich das Delirium tremens, der hallucinatorische
Wahnsinn und die Korsakow’sche Psychose, in denen wir die
vereinigte Wirksamkeit des chronischen Alkoholmissbrauches
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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und einer eigenartigen, aber in ihrem Wesen noch nicht ge¬
nauer gekannten Ernährungsstörung zu sehen haben.
Die Erscheinungen des pathologischen Rausches treten
nicht selten schon nach sehr geringem Alkoholgenusse auf.
Infolgedessen können die äusseren Merkmale des gewöhnlichen
Rausches, namentlich das auffallende Gebahren, lallende Sprache
und schwankender Gang, ganz fehlen. Dagegen zeichnen sie
sich durch eine meist plötzliche Bewusstseinstrübung aus, die
zu Verkennung von Personen und Umgebung Veranlassung
gibt, und auf gemütlichem Gebiete durch hochgradige Reizbar¬
keit, meist auch Angst, mit blindestem Bewegungsdrang.
Diese Zustände treten mit Vorliebe im Anschluss an unver¬
mutete Begegnungen auf, insbesondere bei Zuredestellungen
durch Schutzleute, Zusammentreffen mit einem missliebigen
Bekannten, häufig suchen sie auch den bereits eingeschlafenen,
aus zufälligen Gründen aber wiedererweckten Trinker heim.
Während ihrer Dauer, bezw. durch ihr Einsetzen reisst in¬
dessen der Faden der vorher gesponnenen Vorstellungen nicht
völlig ab, vielmehr vereinigen sich die rasch auftretende Angst
und der blinde Drang zu wütenden Angriffen oft in verhäng¬
nisvoller Weise, um den Kranken zu einer sinnlosen Gewalttat
zu drängen, die eine planvolle Vorbereitung im gesunden Zu¬
stande vortäuschen kann. An diese einfachen Zustände ab¬
normen Bewusstseins, die namentlich auch bei alten, entarteten
Säufern aufzutreten pflegen, schliessen sich verwandte Fälle
mit mehr oder weniger zahlreichen Sinnestäuschungen an.
Neben dem sehr raschen Auftreten und der Tatsache, dass es
immer schon vor der akuten Vergiftung krankhaft geartete
oder durch chronischen Alkoholismus entartete Personen sind,
welche in der beschriebenen Weise reagieren, ist für die Be¬
urteilung dieser Zustände noch besonders der kurzdauernde,
episodenhafte Verlauf von Wichtigkeit. Nach Stunden, oft
schon nach Minuten der Erregung beendet ein tiefer Schlaf
häufig die kurzdauernde Störung. Nach dem Erwachen sind
die Kranken klar, meist aber ohne Erinnerung an das Vor¬
gefallene. Es ist leicht erklärlich, dass es insbesondere Ver¬
letzungen der öffentlichen Schicklichkeit, Notzuchtsversuche,
Widerstand und Körperverletzungen, bzw. Totschlag sind,
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Abhandlungen.
welche in derartigen Geistesstörungen versucht oder ausgeübt
werden.
Delirium tremens und hallucinatorischer Wahnsinn der
Trinker entwickeln sich unter Vorläufererscheinungen, wie
Magenstörungen, Schwindel, Kopfschmerz, Unruhe, Nieder¬
geschlagenheit, nächtlichem Aufschrecken und Angstanfällen.
Nach tage-, ja wochenlangem Bestehen dieser Störungen und
nach nur gelegentlichem Auftreten von Trugwahrnehmungen
brechen dann meist während einer Nacht massenhafte Sinnes¬
täuschungen über den Erkrankten herein, beim Delirium
tremens vorwiegend solche des Gesichtssinnes, beim Trinker¬
wahnsinn hauptsächlich. solche des Gehörs. Ihr Inhalt ist
häufig ein bedrohlicher. Die Orientierung über Umgebung und
Zeit geht dem Kranken verloren, sein Bewusstsein wird getrübt.
Alle diese letztgenannten Momente begünstigen das Zustande¬
kommen gefährlicher Abwehrhandlungen. Das Gleiche gilt von
der Korsakow’schen Psychose, die gewöhnlich mit einem
Delirium beginnt. Auch manche Fälle von Epilepsie zeigen
eine durch chronischen Alkoholgenuss begünstigte Neigung zu
ängstlichen Delirien mit Gefahr für die Umgebung. In anderen
spielt dagegen der Alkohol nur eine scheinbare Hauptrolle bei
der Entstehung von Vergehen, namentlich Diebstählen und
Zechprellereien, ich meine die sog. Dipsomanie. Bei ihr hat
man es wahrscheinlich mit echten epileptischen Dämmer¬
zuständen zu tun, die sich periodisch wiederholen und sich in
einem unwiderstehlichen, triebartigen Drang, zu trinken, äussern,
ähnlich den sonstigen triebartigen Manien der Epileptiker, z. B.
dem Wandertriebe.
Nachdem wir nun die Vorbedingungen der Zurechnungs¬
fähigkeit und die Störungen, welche der Alkohol in unserem
Seelenleben hervorbringt, kennen gelernt haben, wollen wir
versuchen, die Bedeutung der letzteren für die Zurechnungs¬
fähigkeit klarzustellen.
Wir haben gesehen, dass sämtlichen Folgezuständen der
akuten sowohl, wie der chronischen Alkoholvergiftung eine mehr
oder weniger tiefe Bewusstseinstrübung bezw. geistige Schwäche
eigen ist, durch welche der klare Ueberblick über die Trag¬
weite von Handlungen, das gesunde Urteil über die Bedeutung
der einzelnen Beweggründe und die unumschränkte Herrschaft
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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über den früher erworbenen Erfahrungsschatz gestört ist. Bei
sehr vielen vom Alkohol erzeugten Zuständen ist aber ausser¬
dem noch die Umsetzung unseres Wollens in entsprechende
Handlungen eine durchaus veränderte, da sich vielfach eine aus¬
gesprochene Erleichterung der Bewegungsauslösung nachweisen
lässt. Eine solche hat sich sowohl in den ersten Stadien der
akuten Vergiftung mit voller Deutlichkeit herausgestellt, als auch
bei chronischen Alkoholisten, an denen sie namentlich als Reiz¬
barkeit und Neigung zu brutalen Gewalttaten zu Tage tritt,
und ebenso in den verschiedenen Formen komplizierter Rausch¬
zustände, die sich sämtlich durch unwiderstehlichen Bewegungs¬
drang oder, richtiger gesagt, Trieb zu gewaltsamer motorischer
Entladung auszeichnen. Man kann daher ruhig sagen, dass die
Zurechnungsfähigkeit in allen vom Alkohol-
genussabhängigen Geisteszuständen beeinträch¬
tigt ist. Das Gesetz verlangt indessen vom Sachverständigen,
dass er darüber urteile, ob diese Beeinträchtigung bis zur Auf¬
hebung der freien Willensbestimmung geführt hat, d. h. nach
unseren früheren Auseinandersetzungen bis zur Vernichtung
der ruhigen, ungestörten Bestimmbarkeit durch Beweggründe,
die der gesunden Erfahrung entstammen und einer gesunden
Wertung unterliegen. Es ist nicht zweifelhaft, dass die alko¬
holischen Geistesstörungen im engeren Sinne, also Delirium
tremens, hallucinatorischer Wahnsinn und Korsakowsche Krank¬
heit in das normale Seelenleben so tief umändernd eingreifen,
dass während ihrer Dauer die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben
ist. Bei ihnen haben wir es mit Krankheiten zu tun, die, von
äusseren Zufälligkeiten unbeeinflusst, einen ganz bestimmten
Verlauf nehmen. Im Gegensatz dazu stellen die abnormen
Alkoholreaktionen Seelenstörungen dar, die meistens nur durch
zufällige äussere Umstände, durch Begegnungen u. dergl. aus¬
gelöst oder doch kenntlich gemacht werden. Die erste Schwierig¬
keit der Beurteilung von Handlungen, die möglicherweise im
Zustande des pathologischen Rausches verübt sein können, ist
daher meistens der Nachweis, ob ein solcher tatsächlich be¬
standen hat. Gerade das plötzliche Auftreten schwerer gemüt¬
licher Umwälzungen, das äusserlich scheinbar geordnete Ge-
bahren, die sinnlose Wut des Täters im Augenblicke der Tat,
der baldige Eintritt tiefen Schlafes und unter Umständen die
Die Alkoholfrage. 9
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Erinnerungslosigkeit nach dem Erwachen können auf die rich¬
tige Eährte leiten. Dazu kommt, dass man es mit alten ent¬
arteten Säufern oder von Haus aus Entarteten, mit Epileptischen,
Schwachsinnigen, Hysterischen u. dergl. zu tun hat. Ist durch
Berücksichtigung dieser und ähnlicher Gesichtspunkte die Art
des fraglichen Zustandes einmal festgestellt, so ist die Annahme
der Unzurechnungsfähigkeit damit gegeben. Es darf nicht
irre machen, dass sich die Tat vielleicht gegen eine Person
richtete, mit welcher der Angeklagte schon lange in Feindschaft
gelebt hatte. Der Anblick dieser kann wie das rote Tuch in
der Arena gewirkt haben, und ein Widerstand gegen den ver¬
brecherischen Antrieb war eben durch die Trübung des Be¬
wusstseins und die enorme Affekterregbarkeit unmöglich.
Viel schwieriger als die Beurteilung dieser nach Auftreten,
Verlauf und Ausgang wohlgekennzeichneten Krankheitsbilder
gestaltet sich die Tätigkeit des ärztlichen Sachverständigen
gegenüber den von alten, einfach entarteten Säufern verübten
Vergehen. Wo die Schwere der Störung die Bedeutung einer
ausgesprochenen Psychose, sei es Verblödung, sei es Verfolgungs¬
wahn, erreicht hat, kann zwar die Stellungnahme des Beurteilers
nicht zweifelhaft sein. Gerade die schweren Gewalttaten der
Trinker, die im Eifersuchtswahn ihre Erklärung finden, kon¬
trastieren auffallend mit der stumpfsinnigen Abfindung mit wirk¬
lichen Benachteiligungen oder Hintergehungen und zeigen, ein
wieviel mächtigerer Beweggrund eine Wahnvorstellung für das
krankhafte Seelenleben, dem sie entspross, werden kann, als
die inhaltlich vielleicht übereinstimmende Vorstellung des leidlich
Gesunden. In Verlegenheiten können also nur die Zustände
zwischen Gesundheit und deutlicher Krankheit führen, die
im Gesetze nicht berücksichtigt sind. Wo die Urteilskraft des
Kranken zwar deutlich herabgesetzt, seine Willensstärke unter¬
graben und auf der anderen Seite seine Erregbarkeit, seine
Neigung zu Jähzorn oder seine Begehrlichkeit gesteigert sind,
wo aber doch die Einsicht in das Verbrecherische einer
Handlung erhalten, Ueberlegung und Selbstbeherrschung
nicht aufgehoben waren, da ist man heute in Ermangelung
der Anerkennung von verminderter Zurechnungsfähigkeit
gezwungen, entweder zu den mildernden Umständen seine
Zuflucht zu nehmen, oder, wenn das wegen der Art der Straf-
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
12;5
tat nicht geht, die Bedeutung der krankhaften Einflüsse für die
Begehung der Handlung zu übertreiben bezw. unrechtmässiger
Weise zu vernachlässigen. In solchen Fällen müssen die ver¬
schiedensten Rücksichten mitsprechen. Vielleicht lässt sich aus
dem Strafregister erkennen, dass man es mit einem immer tiefer
sinkenden Menschen zu tun hat, der mehr und mehr den ver¬
schiedenen Anreizungen unterliegt. Das würde darauf hindeuten,
dass die Schwere des Vergehens in strenger Abhängigkeit von
der zunehmenden Grösse des geistigen Verfalles und der sitt¬
lichen Kraft steht. Oder Not und Elend können sich mit der
Schwächung der Willenskraft vereinigen und zur Ueberwältigung
des Rechtsbewustseins und besserer Gefühle führen. Besondere
Beachtung verdienen aber jedenfalls die Leidenschaftsverbrechen,
deren Antrieben gegenüber der Trinker ganz anders, nämlich
viel wehrloser wie der gesunde Mann dasteht.
Sowohl der Häufigkeit nach, als auch nach den einer ge¬
rechten Beurteilung durch sie erwachsenden Schwierigkeiten,
stehen nun aber die einfachen Rauschzustände gewiss in vor¬
derster Reihe. Vom ärztlichen Standpunkte betrachtet, stellen
sie nichts dar als sehr rasch verlaufende und meist zu glück¬
lichem Ausgange gelangende Geistesstörungen, deren Schwere
aber zu ihrer kurzen Dauer und ihrem verhältnismässig gut¬
artigen Charakter in starkem Missverhältnis steht. Trotzdem
ist es schwer, den Richter zur Annahme der Unzurechnungs¬
fähigkeit infolge akuter Alkoholvergiftung zu bringen. Es kann
gar nicht bezweifelt werden, dass die Erschwerung der intellek¬
tuellen Leistungen, die bekannten Umwälzungen auf gemütlichem
Gebiete und die ungemein beschleunigte Umsetzung von Willens¬
antrieben in Handlungen, die ja die Grundstörungen des Rausches
bilden, den Verlust der Zurechnungsfähigkeit mindestens eben=
soleicht herbeiführen, wie die ähnlichen Abweichungen vom
gesunden seelischen Verhalten im Zustande massiger Tobsucht.
Auch würde man gewiss gegen keine andere, zu derartig ein¬
greifenden Umwälzungen auf seelischem Gebiete führende Ver¬
giftung so ungerechtfertigte Ausnahmen von der Anwendung
des § 51 machen, wie gegenüber der Trunkenheit. Es muss
besonders erwähnt werden, dass weder aus dem äusseren Ver¬
halten des Betrunkenen, noch aus dem Verhalten seiner Er¬
innerung zuverlässige Schlüsse auf die Tiefe der Berauschung
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124
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gezogen werden können. Die Beeinflussung der intellektuellen
Verrichtungen einerseits und der psychomotorischen Vorgänge
andererseits ist dazu eine nach Eintritt, Schwere und Dauer
individuell viel zu wechselvolle. Man muss daher wie bei der
chronischen, so auch bei der akuten Vergiftung neben der
Störung des Täters auch die äusseren Umstände möglichst genau
beachten und untersuchen, ob dieselben zu einer Steigerung
der Rauscherscheinungen bezw. zu einer strafbaren Aeusserung
derselben besonders geeignet waren. Es kommen hier alle die
Leidenschaften entfesselnden Verhältnisse in Betracht. Die tief¬
gehende Erregung in politisch unruhigen Zeiten, bei Gelegenheit
von Streiks, besonders wenn die Gemüter grosser Massen durch
unruhvolle Erwartung erhitzt zwischen Sorgen und Hoffnungen
schwanken, vermag unter dem Einfluss von recht massigen
Alkoholmengen sehr leicht eine Höhe zu erreichen, dass auch
der sonst Besonnene und Zurückhaltende durch kleine Anlässe
entflammt und zu schweren Verbrechen hingerissen wird. Noch
störender und klarer wird man daher gegenüber diesen akuten
Alkoholvergiftungen die mangelnde Rücksichtnahme unseres
Strafgesetzes auf die mannigfachen Zwischenstufen zwischen nor¬
malem Verhalten und schwerer geistiger Veränderung empfinden.
Zu einer Beurteilung, welche den Angeklagten straffrei macht, wird
man sich deshalb auch bei nur mässig schwerer Berauschung
um so eher entschliessen, je zahlreichere Momente, von welchen
eine Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit anzunehmen ist,
sich ausser der Alkoholintoxication noch nachweisen lassen.
Besonders angeborene Instabilität, vorhergehende Kopfverletz¬
ungen u. dergl. m. können schwer ins Gewicht fallen.
Würde man aber von Seiten der Gerichte den Zuständen
akuter Alkoholvergiftung gegenüber so verfahren, wie es die vor¬
urteilslose ärztliche Beurteilung im Hinblick auf den § 51 des
Deutschen R.-Str.-G. verlangt, so würde damit nicht nur dem
Rechtsbewusstsein des Volkes häufig entgegengehandelt, es würde
zweifellos die Trunkenheit zu einem noch viel beliebteren Ent¬
schuldigungsgrund zahlreicher Affekt- und Gelegenheitsver¬
brechen und nicht selten zu einer unkontrollierbaren Ausrede
werden. Das ist aber doch nur solange eine notwendige Folge
der psychiatrischen Betrachtungsweise, als sich der Staat nicht
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Hirt, Alkohol und Zurechnungsfähigkeit.
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entschliesst, von seinem Rechte und seiner Pflicht, Sicherheits-
massregeln gegen gemeingefährliche Personen zu treffen, auch
Trinkern gegenüber vollen und ganzen Gebrauch zu machen.
Wie der als unzurechnungsfähig erkannte und dann ausser Ver¬
folgung gesetzte Geisteskranke in die Irrenanstalt verbracht
wird, woselbst er entweder bis zu seiner Heilung zurückgehalten
oder dauernd verwahrt werden kann, so gehört der Gewohn¬
heitstrinker in die Trinkerheilanstalt. Eine Entmündigung des¬
selben ohne gesetzliche Bestimmungen, welche seine zwangs¬
weise Heilung ermöglichen, ist ein ganz zweckloses Vorgehen.
Diese Bestimmungen fehlen aber bis heute in unseren Ge¬
setzen. Der Richter und die Verwaltungsbehörde sind ge¬
zwungen, den mit mehr oder weniger Recht bestraften oder
freigesprochenen Trinker seinem Schicksale zu überlassen, das
ganz regelmässig über kurz oder lang den Kranken wieder vor
den Richtertisch führt. Hier könnte also eine entsprechende
Ergänzung unserer gesetzlichen Bestimmungen sehr viel Unheil
verhüten. Anders liegt die Frage bei den Gelegenheitstrinkern,
welche mit dem Gesetze in Widerspruch geraten. Ich sehe hier,
natürlich von denen ab, die sich absichtlich berauscht machen,
sei es, um sich Mut anzutrinken zu einem Verbrechen, dessen
Begehung ihnen in nüchternem Zustande unmöglich wäre, oder
sei es, um sich mildernde Umstände zu sichern. Ich will nur
kurz auf zwei Punkte hinweisen, dass es weder richtig zu sein
scheint, diese Verbrechen dann so hoch wie möglich zu bestrafen,
wie es nach russischem Gesetze geschieht, noch überhaupt, in
dem vor der Trunkenheit gefassten Entschluss den Anstoss
zum Abrollen der Causalkette zu sehen, deren Abschluss die
Straftat bildete (von List). Die Trunkenheit hob ja gerade die
gesunde Bestimmbarkeit durch die Erfahrungen und Rücksichten
des gesunden Lebens auf, also gerade die Voraussetzungen der
strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit. Folgerichtig wäre es nur,
die Straftat selbst entsprechend der erzielten Beeinträchtigung
der Zurechnungsfähigkeit zu ahnden, aber die absichtliche Be¬
rauschung mit Nachdruck zu bestrafen. Abgesehen aber von
den Vergehen, die in selbstverschuldeter Trunkenheit verübt
werden, fragt es sich, ob sich die Berauschung überhaupt ver¬
hüten lässt.
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Abhandlungen.
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Bekanntlich ist es bei der Herrschaft der heutigen Trink¬
sitten nur sehr wenigen möglich, sich vor einer gelegentlichen
schweren Vergiftung durch Alkoholgenuss zu schützen. Man
wird daher bei der Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit von
Alkoholtrinkern schliesslich unwillkürlich zu der Frage veran¬
lasst: ob nur Diejenigen schuldig sind, welche sich in einem
fast unausweichlichen Zustande geistiger Benebelung zu einer
Straftat hinreissen lassen, oder auch diejenigen Glieder der
bürgerlichen Gesellschaft, welche diese massenhaften gemein¬
gefährlichen Geistesstörungen bei allen möglichen Gelegenheiten,
bei Volksfesten, Kirchweihen, Geburtstagen der Landesfürsten etc
entstehen lassen und sich mit der Hoffnung trösten, dass mit
dem Aufgebot von einigen Gensdarmen ihre Folgen verhütet
werden könnten! —
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Walter, Der Must.
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Der Most.
Ein Beitrag zur Alkoholfrage, mit besonderer Berücksichtigung
der württembergischen Verhältnisse.
Von Karl Walter -Ulm.
Unter den alkoholischen Getränken spielt in Süddeutsch¬
land, insbesondere in Württemberg, der „Most" eine grosse
Rolle. Ueber sein wahres Wesen und seine Bedeutung ist man
aber nicht bloss ausserhalb unseres engeren Vaterlandes sondern
gerade auch in den Gebieten seiner stärksten Verbreitung noch
vielfach nicht genügend aufgeklärt, und über die davon ge¬
nossenen Mengen sind bis jetzt nur wenig zuverlässige sta¬
tistische Angaben veröffentlicht worden. Nachstehend habe ich
deshalb versucht, an der Hand eigener Beobachtungen und auf
Grund von Informationen das wichtigste über diesen Gegen¬
stand zusammenzustellen, insbesondere aber im Anschluss
an die Angaben des statistischenHandbuches für
das Königreich Württemberg einmal mit Zahlen
nachzuweisen, von welch’ grosser Bedeutung
dieses Getränk für uns Schwaben geworden ist.
Unter Most versteht der Süddeutsche den gegorenen Saft
des Kernobstes, der aber im Gegensatz zum eigentlichen Apfel¬
oder Birnenwein durch Beimischung von Wasser ziemlich ver¬
dünnt wird. Wenn ich im Anschluss an die Darlegung über
dieses Nationalgetränk der Schwaben auch den aus getrockneten
Weinbeeren bereiteten Rosinenmost heranziehe, so geschieht
dies deshalb, weil dieser gewissermassen das neuerdings immer
mehr sich einbtirgernde alkoholische Ersatzgetränk für den
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Abhandlungen.
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Most bildet und wie dieser als Hausgetränk statistisch bis jetzt
nur ganz spärlich verwertet worden ist.
Es ist eine irrige Ansicht, wenn man annimmt,
der Most habe von jeher bei uns eine grosse Be¬
deutung gehabt. Vor 50 Jahren noch gab es viele Gemeinden,
wo man ihn kaum dem Namen nach kannte, und auch da, wo man
die herrlichen Früchte unserer Obstbäume damals schon zu der
Herstellung dieses alkoholischen Getränkes verwendete, geschah
dies nur in ganz kleinen Mengen. Gewöhnlich wurde im Herbst
ein einziges Fass von bescheidenem Umfang damit gefüllt und
der Inhalt desselben für den nächsten Sommer aufbewahrt, wo
er den Bauern als ausserordentlicher Trank für die Zeiten der
strengsten Feldarbeit, da und dort auch dem Handwerker und
andern Arbeitern als Vespertrunk*) diente.
Damals wurden von den Landleuten die Aepfel und
Birnen massenhaft gedörrt und als „Schnitze“ und „Hutzeln“
trocken aus der Hand oder gekocht gegessen. Die „Schnitz¬
truhe“, ehemals ein notwendiges Möbel, das man zum Schutz
gegen die begehrliche und immer hungrige Jugend sorgsam zu
schliessen pflegte, führt nur noch in wenigen Bauernhäusern
ein beschauliches Dasein, träumt hier von früheren süssen
Tagen oder dient jetzt anderen Zwecken. Das Quantum des
gegenwärtig gedörrten Obstes kann nun meist in einer be¬
scheidenen Schublade des Küchenschranks aufbewahrt werden
und wird hauptsächlich an Weihnachten zur Bereitung des
Hutzel- oder Schnitzbrotes verwendet.
In jenen Zeiten wurde aber nicht bloss das Obst in
rationeller Weise verwertet; auch ein anderes wichtiges Pro¬
dukt der Landwirtschaft, die Milch, fand damals bei der
Landbevölkerung eine zweckmässigere Verwendung als in
unseren Tagen. Sowohl süsse als „gestandene“ d. h. saure
Milch, wie auch die Buttermilch wurde täglich von alt und
jung zu allen Tageszeiten genossen, und gerade in den Zeiten
der anstrengendsten Feldarbeiten wussten unsere Bauern den
Wert dieses durststillenden und kräftigenden Getränks und
*) Unter Vesper versteht der Württemberger die vormittags und nachmittags
üblichen oft recht reichlichen Zwischenmahlzeiten, die ausser dem Getränk meist
aus Brot mit oder ohne Zusatz von Käse oder Wurst bestehen.
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Walter, Der Most.
129
Nahrungsmittels sehr zu schätzen. Wenn man zugleich bedenkt,
dass damals als Frühstück noch rauhe Suppen oder Haferbrei
genossen wurden und dass man fast das ganze Jahr nichts
anderes als Roggenbrot im Haus hatte, so drängt sich jedem
Einsichtigen von selbst auf, wie ungleich zweckmässiger noch
vor kaum einem halben Jahrhundert die Ernährung unserer
Landbevölkerung gegen die unserer jetzigen Zeit war, wo
neben der mehr und mehr wachsenden Alkoholflut auch Kaffee¬
genuss und immer weitere Verbreitung des teureren und weniger
kräftigen Weissbrotes zu konstatieren ist. Insbesondere ist
sowohl vom Standpunkt des Volkshygienikers wie des National¬
ökonomen das mehr und mehr sich einbürgernde Molkereiwesen
zu verdammen. Diese Molkereien sind die Hauptursachen,
dass unserem Volke, selbst der zartesten Jugend, immer mehr
die Milch entzogen wird. Wohl kommt dafür bares Geld in
die Hände unserer Bauern. Wohin dasselbe aber zum grössten
Teil wieder wandert, wird von den Befürwortern dieser An¬
stalten wohlweislich verschwiegen; dass jedoch ein grosser Teil
der für Milch eingenommenen Summen in andere, für das Wohl
des Volkes nur schädliche Flüssigkeiten umgesetzt wird, ist dem,
der die Verhältnisse kennt, kein Geheimnis.
Welche Bedeutung aber diese alkoholischen Flüssigkeiten
und zwar insbesondere der Most allmählich bei uns erlangt
haben, soll zunächst beleuchtet werden und zwar an der Hand
von Zahlen.
Die nachstehenden Angaben bezeichnen den
Durchschnitt, wie er sich nach dem „Statistischen
Handbuch für das Königreich Württemberg" aus
den Jahren von 1890 b i s 1899 für unser Land ergibt.
Jährl. Obstertrag a) Aepfel = 443911 dz.
„ „ b) Birnen — 213577 dz.
Zus.: = 657488 dz. Wert 5218406 Mk.
jährl. Einfuhr an Mostobst = 572530 dz. „ 4680240 „
Ertrag und Einfuhr zus.: — 1230018 dz. „ 9898646 Mk.
Ausfuhr (haupts. Tafelobst) = 40700 dz. „ 325600 „
Verbrauch im Land = 1189318 dz. „ 9573046 „
Von dieser Summe ist das noch in Abzug zu bringen, was
als T a f e 1 o b s t im Lande selbst verkauft oder von den eigenen
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180
Abhandlungen.
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Produzcnt('n in den Keller gelegt wird. Hierüber findet sich
nirgends statistisches Material. Da aber gerade in den obst¬
reichsten Gegenden von vielen Obstgutbesitzern gar nichts, von
andern kaum 1 — 2 °/ 0 für diesen Zweck zurückbehalten wird
und von dem eingeführten Obst nur ein ganz verschwindender
Bruchteil auf Tafelobst entfällt, so wird die von mir hierfür
angenommene Zahl von 10 °; 0 zweifellos eine zu hohe sein. Um
mich jedoch in diesem Fall gegen jeden Vorwurf tendenziöser
Darstellung zu sichern, soll trotzdem dieser Prozentsatz für
Tafelobst in Abzug kommen. Alsdann ergibt sich als jährlicher
Verbrauch an Mostobst für Württemberg die Summe von
1070 387 dz. Da man aus 1 dz. etwa 100—120 1 unseres
Getränkes bereitet, so wird die Summe von rund 1100000 hl*)
ziemlich genau dem Quantum des jährlich in Württemberg ge¬
trunkenen Mostes entsprechen. Bei einer Einwohnerzahl von
2 100 000 Seelen kommen alsdann auf den Kopf der Bevölkerung
etwa 52 1 Most.
Nun ist ja leider Tatsache, dass die Kinder und zwar oft
schon in zartester Jugend bei uns alkoholische Getränke aller
Art bekommen, in einzelnen Fällen sogar verhältnismässig
grosse Quantitäten; aber doch repräsentiert die von ihnen
konsumierte Menge nur einen verschwindenden Bruchteil
jener 1 100000 hl, welche hauptsächlich von den erwerbenden
Erwachsenen getrunken werden. Wenn wir auf je einen
Erwachsenen den ihm zukommenden Anteil ausrechnen, wobei
allerdings auch der von den noch nicht erwachsenen Familien¬
gliedern genossene Most inbegriffen ist, so erhalten wir ganz
bedeutsame, charakteristische Ergebnisse.
In Württemberg werden mit Einschluss der helfenden
Familienangehörigen und der Bewohner ohne Berufsangabe
rund 980000 Erwerbstätige gezählt. Diese Summe entspricht
etwa der Zahl der Erwachsenen, und danach kämen auf je
einen derselben etwa 112 1 Most. Da aber doch anzunehmen
ist, dass die einzelnen weiblichen Erwachsenen nur ausnahms¬
weise dieses Quantum trinken, so ist ziemlich sicher, dass auf
den Kopf eines jeden männlichen Erwachsenen
*) Die jährliche Ausfuhr von Obstmost, welche durchschnittlich 4690 hl.
beträgt und welcher eine durchschnittliche Einfuhr von 821 hl gegeniibersteht, kann
als unwesentlich nicht in Rechnung gezogen werden.
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Walter, Dev Most.
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in Württemberg i in Jahr auf d i e s e We i s e e t w a 150 1
Most ko m m e n und diese Zahl soll deshalb auch besser
unten als Verbrauch der einzelnen erwachsenen männlichen
Person zu Grunde gelegt werden.*) Das Quantum, welches
auf den Kopf dieser Kategorie von Einwohnern kommt, lässt
sich aber auch in der Weise ermitteln, dass wir bei der Berech¬
nung des Durchschnitts die Zahl der über 16 Jahre oder über
20 Jahre alten männlichen Bewohner Württembergs in Betracht
ziehen. Am 1. Dezember 1900 betrug diese Zahl 669 177 resp.
588193. Im ersteren Fall käme auf den Kopf pro Jahr etwa
164 1, im anderen Fall 187 1. Letztere Zahl hat insofern eine
besondere Bedeutung, als die finanzielle Last der für die
alkoholischen Getränke ausgelegten Summe hauptsächlich auf
den Schultern der über 20 Jahre alten männlichen Bewohner
unseres Landes ruht; darnach gibt jeder derselben, den Preis
für 1 1 Most zu 15 Pf. angenommen, jährlich allein für Most
über 27 Mk. aus.
Daneben wird sehr viel Rosinenmost gemacht, ein
greuliches Getränke, das nur von ausgesprochenen Alkoholikern
regelmässig getrunken werden kann. Aber auch diese gemessen
es nur als Getränke in der Not, und fast alle gehen jederzeit
wieder zu anderen alkoholischen Getränken über. Als durch¬
schnittliche Jahreseinfuhr an Mostrosinen ergibt sich aus den
Jahren 1895—99 die Summe von 63 684 Doppelzentnern im
Wert von rund 1 Million Mk. Aus diesen werden etwa
320000 hl Rosinenmost bereitet. Dies macht pro Kopf und
Jahr über 15 1 und nach obiger Berechnungsart für ein Er¬
wachsenes etwa 36 1, für jeden männlichen Erwachsenen aber
etwa 43 1.
Fassen wir dieses Ergebnis zusammen, so kommen in
Württemberg an Obst- und Rosinenmost
auf jeden Kopf der Bevölkerung jährl. 67 1 (2,68**) 1 Alkohol)
auf je 1 Erwachsenes. 144 1 (5,77 1 Alkohol)
auf je 1 männlichen Erwachsenen . . 193 1 (7,72 1 Alkohol)
*) Wenn wir die 300000 weiblichen Erwerbstätigen von der obigen Zahl in
Abzug bringen und den Durchschnitt auf die noch übrigen 680000 männlichen
Erwerbstätigen berechnen, so erhalten wir sogar 216 1 pro Kopf und Jahr.
**) Da Obstmost durchschnittlich 3 — 4%, der Rosinenmost durchweg aber mehr
als 4% (6—8%) reinen Alkohol enthält, so ist 4 % als Durchschnittsgehalt für beide
Getränke nicht zu hoch.
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Legen wir dem ßierverb rauch dieselben Verhältnisse
zu Grunde, so ergibt sich aus der Tatsache, dass der Ver¬
brauch an diesem Getränke im Jahr 1898 pro Kopf und Jahr
192,5 1 betrug, folgendes Ergebnis:
für jeden Kopf der Bevölkerung jährl. 192,5 1 ( 7,7 1*) Alkoh.)
für je 1 Erwachsenes.414,0 1 (16,5 1 Alkoh.)
für je 1 männlichen Erwachsenen . . 555,0 I (22,2 1 Alkoh.)
In Württemberg beträgt also der jährliche Konsum an
Obstmost, Rosinenmost und Bier:
für jeden Kopf der Bevölkerung . . 259,5 1 (10,38 1 Alkohol)
für je 1 Erwachsenes. 558,0 1 (22,27 1 Alkohol)
für je 1 männlichen Erwachsenen . . 748,0 1 (29,92 1 Alkohol)
Der Jahresverbrauch an Wein betrug in Württemberg im
Jahr 1896—97 auf den Kopf der Bevölkerung 30*/ s 1 und an
40 %ige*n Branntwein 5 1. Nehmen wir den durchschnittlichen
Gehalt des getrunkenen Weines zu 10°/ 0 an, so entsprechen
diese 35 1 /« 1 in ihrem Gehalt an Weingeist einem Quantum von
etwa 140 1 einheimischem Bier. Nicht gerechnet sind dann
immer noch die nicht unbedeutenden Mengen von Champagner,
Medizinalweinen, Johannisbeerwein, ferner der aus unreifem
Obst, aus Zwetschgen und Pflaumen bereitete Most und sämt¬
liche den Fabriken und Apotheken entstammenden künstlichen
Getränke, wie Schräders Kunstmost, Eders Haustrunk u. a.
Umgerechnet auf Bier resp. Most, das diesem ja in Bezug auf
Alkoholgehalt ziemlich gleichwertig ist, kommt also in Württem¬
berg pro Jahr
auf jeden Kopf der Bevölkerung 399,5 1 oder rund 400 1 (15,41 Alk.)
auf je 1 Erwachsenes.8611 (33,11 Alk.)
aufje 1 männl. Erwachsenen . . . 1153 1 (44,31 Alk.)
Nehmen wir als durchschnittlichen Preis für 1 1 Bier und
Most 20 Pf. und für 1 1 Wein und Branntwein 70 Pf. an, so reprä¬
sentieren die auf den Kopf der Bevölkerung pro Jahr entfallen¬
den Getränke einen Wert von 76,65 Mk., für ein Erwachsenes
macht dies 164,32 Mk. und für jedes männliche Er¬
wachsene 221,10 Mk.
*) Wenn die württembergischen Biere durchschnittlich vielleicht auch etwas
weniger als 4 % absoluten Alkohol enthalten, so kann hier doch diese Zahl zu
Grunde gelegt werden, weil der mehr und mehr sich steigernde Konsum von stärkeren
eingeführten Bieren wieder ausgleichend wirkt.
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Walter, Der Most.
133
In Württemberg werden also jährlich über 160 Mill. Mk.
für geistige Getränke ausgegeben. Ueber 95 °/ 0 unsrer Volks¬
masse ist in Haushalte von zwei und mehr Personen einge¬
gliedert. Die Zahl der Haushalte betrug am 1. De¬
zember 1900 rund 433000. In jedem derselben
werden also jedes Jahr durchschnittlich über
3 70 Mk. für geistige Getränke verausgabt, also
täglich mehr als 1 Mk.
Welche Bedeutung die angeführten Zahlen für das Leben
unsres Volkes haben, wird jedem ohne weiteres einleuchten.
Welches sind die Ursachen dieser gegen früher so sehr
veränderten Verhältnisse?
Nicht bloss die ungeheuere Zunahme des Bierkonsums,
auch die mehr und mehr um sich greifende Ver¬
breitung des Mostes lässt sich nur erklären aus
den modernen Verkehrs Verhältnissen und aus
den verbesserten technischen Hilfsmitteln der
Gegenwart. Früher zerquetschte man das Obst auf primitive
Weise in einem Holztrog durch runde, flache Steine von etwa
1 m Durchmesser. Der Trog bildet den Ausschnitt eines
Kreises, in dessen Zentrum die etwa 4 m lange durch die
Mitte des Steines gehende Stange befestigt war. Ein Stück
derselben von etwa 70 cm Länge ragte noch auf der andern
Seite heraus. Hier war beim Hin- und Hertreiben des Steines
der Platz des Hausvaters. An dem grösseren inneren Stück
der Stange schoben seine Angehörigen, und ich entsinne mich
noch gut solcher echt schwäbischer Familienszenen, wo bis zu
dem kleinen „Jakoble“ oder „Michele“ im Kinderrock alles bei
der Bereitung des Haustrunkes mithalf. Die Mostpresse im
Hintergrund, meist ein roher blöckischer Aufbau aus gewaltigen
eichenen Balken mit hölzerner Spindel, vervollständigte das echt
ländliche Bild. Diese primitiven Einrichtungen, welche die
Mostbereitung zu einer ziemlich umständlichen und zeitraubenden
Arbeit gestalteten, sind jetzt meist verschwunden und fast durch¬
weg durch rasch arbeitende Maschinen ersetzt, welche entweder
mit der Hand getrieben werden oder an ein Kraftwerk ange¬
schlossen sind. InwenigenStunden wird jetzt durch
diese Obstmühlen und eisernen Pressen dasselbe
Quantum Most erzeugt, wozu man vorher an-
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nähernd so viele 4"age brauchte — und dennoch
umfasstdiejährliehe Periode desMostens gegen¬
wärtig denselben Zeitraum wie früher, und Wochen
hindurch hört man landauf landab überall .das Getriebe dieser
verbesserten Zubereitungsweise des Mostes.
MitdieservermehrtenMostproduktionkonnte
aber der Obstertrag des Landes trotz eifrigster
Anstrengungen der obstbauenden Grundbesitzer,
welche vielfach von staatlichen und lokalen Be-
hörden unterstützt werden, nicht gleichen Schritt
halten. Die natürliche Folge davon waren eine stets wachsende
Nachfrage nach ausländischem Obst, so dass die Händler immer
weiter entlegene Gebiete aufsuchten. Die modernen Verkehrs¬
verhältnisse aber ermöglichten dann, dass diese Nachfrage fast
jedes Jahr befriedigt werden konnte, dass ferne Länder ihre
Obsternten einem der reichsten Obstländer zuführen konnten.
In den Jahren 1890—1899 betrug die Einfuhr an Mostobst zu¬
sammen 5 725 300 Doppelzentner. Die in erster Linie dabei in
Betracht kommenden Länder sind: Hessen, Oesterreich-Ungarn,
die Schweiz, Italien und Frankreich. Wenn man bedenkt,
dass diese Gebiete durchschnittlich Hunderte
von Kilometern von uns entfernt sind und dass
es sich dabei um die rasche Lieferung von Hun¬
derttausenden von Zentnern innerhalb einiger
Wochen handelt, sospringtjedermannvon selbst
in die Augen, welch einschneidende Bedeutung
unser modernesVerkehrswesen für den Alkoho¬
lismus unserer Zeit bekommen hat.
Die gegenwärtige Zubereitungsart des Mostes
ist eine einfache. Das Mostobst wird in den Obstmühlen durch
die eisernen Zähne rotierender Walzen erfasst, zerrissen und
alsdann von zwei Steinwalzen zerquetscht. Der unten in grossen
Kübeln sich ansammelnden Masse wird Wasser in grösseren
oder kleineren Mengen zugesetzt. Hauptsächlich nach dem
Grad des Wasserzusatzes richtet sich dann der Alkoholgehalt
des gegorenen Getränks. Der mit Wasser verdünnte Obstbrei
kommt meist sogleich in die Presse. Da, wo man mit der Zeit
nicht zu eilen braucht, lässt man ihn gern auch 1—2 Tage
stehen, da in diesem Fall das Ergebnis der Auspressung nach
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Walter, Der Most.
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Qualität und Quantität ein erhöhtes sein soll. Von der Presse
gelangt der süsse Most sofort in die Fässer, wo er zunächst
eine stürmische und dann eine Nachgärung durchmacht. Im
Lauf des Winters setzen sich die nichtflüssigen Bestandteile,
und das Getränk hat nun eine klare Farbe. Reiner Birnen-
most ist ganz hell; Apfelmost ist satter in der Färbung, und diese
wechselt zwischen gold- und grünlichgelb. Der süsse Most
ist von der Presse weg ein herrliches Getränk und wird na-
mantlich von der Jugend sehr begehrt. Alkoholiker können
ihm aber so wenig als der Milch oder frischem Obst Geschmack
abgewinnen, und vielfach gönnen solche ihren Angehörigen
davon nur geringe Mengen, da es nach ihrer Ansicht schade
wäre, wenn man den süssen Most wegtrinken würde. Doch
schon nach kurzer Zeit, streng genommen schon nach einigen
Stunden, beginnt die Alkoholbildung, weshalb gewissenhafte
Abstinenten nur unter Beobachtung einer gewissen Vorsicht
süssen Most geniessen oder ihre Angehörigen geniessen lassen.
Sehr beliebt bei dem Volk ist der sogenannte „Räse“, wie der
in Gärung begriffene und bereits säuerlich schmeckende Most
genannt wird, der wegen seines hohen Kohlensäuregehaltes
äusserst prickelnd mundet, obwohl er andrerseits wegen seiner
Hefenbestandteile, die im Körper weiter gären, oft sehr unan¬
genehme Begleiterscheinungen zu stände bringt.
Der Most hält sich in guten Kellern 2—4 Jahre. Doch
erreicht er ein längeres Alter als 2 Jahre nur in sehr seltenen
Fällen. Meist legt man Most für 1 Jahr in den Keller und nur
in sehr obstreichen Herbsten will man sich für ein zweites oder
gar drittes Jahr versehen. Gewöhnlich wird dann aber durch
übermässigen Genuss dieses Quantum schon vor Ablauf eines
Jahres weggetrunken. So betrug der Obstertrag in Württem¬
berg im Jahr 1888 über 3 Millionen Doppelzentner. Diese
Menge entspricht etwa dem dreifachen jährlichen Obstverbrauch
Württembergs, wie er sich aus dem lOjährlichen Durchschnitt
der Obsternte und der Einfuhr ergibt. Darnach hätte in diesem
reichen Obstjahr Most für 3 Jahre gekeltert werden können.
Aber trotzdem wurden im Jahr 1889 zu dem Ertrag von 21 000
Doppelzentnern wieder über 400 000 Doppelzentner eingeführt,
und im Jahr 1890 trotz der eigenen Ernte von über 800000
Doppelzentnern wieder mehr als 400000 Doppelzentner, ein
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deutlicher Beweis dafür, dass vielfach das Quantum, das für
3 Jahre hätte reichen sollen, vorher weggetrunken war. Im
Jahr 1900 wurden sogar 3 750 000 Doppelzentner Obst geerntet
und dazu noch J / 2 Million Doppelzentner eingeführt. In der
Zeit nach diesem reichen Herbste kam es aber auch tatsächlich
vor, dass der Most in Eimern und Kübeln vom Keller herauf¬
geholt wurde und wochenlang ganze Familien, alt und jung,
aus dem mehr oder weniger ausgesprochenen Zustand der Be¬
trunkenheit nicht herauskam.
Aber nicht bloss in solchen Zeiten des Ueberflusses, auch
sonst spielt gegenwärtig der Most eine grosse Rolle im Leben
der Schwaben, hauptsächlich bei der Ländbevölkerung. In
den Städten bürgert er sich zwar auch mehr und mehr ein,
und wie bedeutend die hierfür aufgewendeten Summen allein
in Ulm sind, wo doch hauptsächlich Bier getrunken wird, be¬
weist die Tatsache, dass der Konsumverein dieser Stadt, der
ja nur einen Teil der Bürgerschaft mit diesem Getränke ver¬
sorgt, jeden Herbst 3—400 000 1 Most bereiten und seinen
Mitgliedern in den Keller besorgen lässt. In den Städten
schwankt der durchschnittliche jährliche Verbrauch einer most¬
trinkenden Familie zwischen 200—500 1; auf dem Lande jedoch
sind für einen Bauernhaushalt Mengen von 2 — 3000 1 ganz
gewöhnlich und Familien, die jährlich noch mehr brauchen,
keine Seltenheit.
Seine Bedeutung verdankt der Most seiner Eigenschaft
als Haustrunk, zu dem er sich, wenn man von seinem
Alkoholgehalt absieht, zweifellos sehr eignet. Im Gegensatz
zum Bier lässt er sich jahrelang frisch erhalten, er ist billig
und mundet erfrischend und anregend, obwohl auch bei ihm
infolge seines Alkoholgehaltes die lähmenden Nachwirkungen
nicht ausbleiben. Aber gerade durch seine Eigen¬
schaft als Haustrunk wird er für so viele zum
Verderben. Er ist eben jederzeit in jedem Quantum zur
Hand, und nach der landläufigen Logik kostet er nichts. Denn
das eigene Obst rechnet man nicht als bares Geld, und hat
man das Obst gekauft, so betrachtet man diese Auslagen als
einmaligen tiefen Griff in den Geldbeutel, um dann in Zukunft
um so mehr recht oft und ohne Rücksicht auf letztem eines
guten Trunkes sich erfreuen zu können. Diese Sorglosigkeit
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Walter, Der Most.
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bringt es mit sich, dass man diesem Getränke gegenüber viel¬
fach den Begriff „Sparsamkeit“ nicht kennt. Jedem Besucher,
vielfach auch Hausierern, Boten u. s. w. bietet man ein Glas
„Moscht“ an, die Dienstboten bekommen ihn täglich meist
zweimal, vielfach aber auch drei- bis viermal zu dem Essen.
In den Zeiten der Heu- und Getreideernte aber erhält ein
Arbeiter vielfach im Tag 5—10 1 und manchmal noch mehr.
Oft wird im Arbeitskontrakt von Erntearbeitern die regel¬
mässige Verabreichung derartiger Quantitäten als Bedingung
festgelegt. Es gibt sehr viele Häuser, in welchen der Most¬
krug den Tag über nur auf dem Weg zum Keller leer ist, und
gar nicht selten sind die Fälle, wo er Abends gefüllt neben
das Bett gestellt wird. Dann ist aber über kurz oder lang in
einer solchen Familie auch mindestens einer zum notori¬
schen Säufer herabgesunken, der dann meist neben dem
Most auch dem Bier, Wein oder Branntwein verfällt. In den
Trinkerrettungsanstalten der hier in Betracht kommen¬
den Gebiete rekrutiert sich ein grosser Teil der Insassen aus
solchen, welche in erster Linie der Most dahin gebracht hat.
In wie vielen Fällen verschuldet der Most nicht den frühen
Tod des Familienvaters, den Niedergang der Haushaltung, ja
der ganzen Familie!
Am verhängnisvollsten wirkt aber dieses
schwäbische Volksgetränk dadurch, dass es fast
überall regelmässig den Kindern verabreicht
wird, meist in dem guten Glauben, dasselbe wirke kräftigend
auf die Jugend. Schulkinder, die täglich x / 2 — 1 1 Most be¬
kommen, sind keine Seltenheit, und in vielen Häusern, wo der
Mostkrug nie leer ist, wird der Genuss dieses Getränkes seitens
der Kinder gar nicht kontrolliert. Aber nicht bloss Schul¬
kinder, auch die Kleinen, ja die Kleinsten, also auch Säuglinge
erhalten davon. Es gibt Mütter, die stolz darauf sind, dass ihre
Lieblinge schon Most trinken „wie ein Altes", und es hält sehr
schwer, solchen das Verkehrte ihres Handelns klar zu machen.
Aeusserst zahlreich sind die Fälle, wo Kinder der ersten Lebens¬
jahre in der Saugflasche regelmässig Most statt Milch bekommen.
Es wäre höchste Zeit, dass die Einsichtigen alle Mittel aufbieten
würden, um zunächst wenigstens diesem krassen Missbrauch
entgegenzuarbeiten.
Die Alkoholfrage. 10
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Abhandlungen.
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Vor allem wäre nötig, dass man unser Volk, welches
dieses Getränk fast durchweg nicht bloss für harmlos sondern
auch für sehr kräftigend hält, über den wahren Wert des¬
selben aufklären würde. Während reiner Apfelwein, d. h.
vergorener Apfelsaft ohne Wasserzusatz 7 °/ 0 und mehr Alkohol
enthält, schwankt der Gehalt dieses schwäbischen Hausgetränks
zwischen 2 und 4 °/ 0 , entspricht also ganz dem durchschnitt¬
lichen Alkoholgehalt des Bieres. Nach Mitteilungen aus dem
städtischen Untersuchungsamt Ulm enthalten die hier unter¬
suchten Mostarten durchschnittlich 3—4 °/ 0 . Birnenmost ist im
allgemeinen weniger gehaltreich als der aus Aepfeln bereitete.
Bei gewohnheitsmässigem Trinken wirkt aber der Most nicht
bloss durch seinen ziemlich hohen Alkoholgehalt schädigend
auf den menschlichen Organismus, sondern namentlich auch
durch die grossen Flüssigkeitsmengen, die dem Körper
zugeführt werden. Die Organe, welche diese abnormen Mengen
zu verarbeiten und auszuscheiden haben, müssen mit der Zeit
erkranken und den Dienst versagen. Dazu kommt, dass dieses
Getränk vielfach auch dann noch genossen wird, wenn es bereits
einen ausgesprochenen „Essigstich“ hat, was namentlich
im Sommer der Fall ist. Dies muss auf die Verdauung und
die Blutbildung äusserst schädlich wirken.
Der Rosinenmost hat einen Alkoholgehalt von 8—10 %•
Doch wird dieser vielfach durch reichlichen Zusatz von Zucker
bis auf das Doppelte erhöht. Die Leute kennen ganz gut diese
Eigenschaft, und der Volkswitz bringt dies zum Ausdruck,
indem er den Rosinenmost auch Turmelin (turmelig = berauscht)
benennt, ferner Karussellmost, Himmelfahrtstee und Hecken¬
most (weil sich die Betrunkenen hinter die Hecken legen). Ein
Hauptgrund der Verbreitung dieses heimtückischen Getränkes
liegt in dem Umstand, dass es sich zu jeder Jahreszeit auf ganz
einfache Art bereiten lässt. Man setzt einfach den Rosinen ein
entsprechendes Quantum laues Wasser zu, lässt das Ganze
einige Tage stehen und giesst die Brühe in ein Fass, wo sie
bald gärt und dann klar wird. Manche verkürzen noch den
Prozess, indem sie die Rosinen sogleich in das Fass werfen
und Wasser dazu schütten, sodass die Beeren als Bodensatz
im Fass bleiben. Da diese Prozedur sich jederzeit vornehmen
lässt und die Rosinen das ganze Jahr zu haben sind, so wird
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UNIVERSITY OF CHICAGO
Walter, Der Most.
130
der Rosinenmost hauptsächlich von solchen Leuten getrunken,
welche selten eine Summe, wie sie im Herbst bei grösseren
Obsteinkäufen nötig ist, zur Hand haben. Mit einem Aufwand
von etwa 20 Mk. können sie dann bei Bedarf 200—300 1 dieses
Getränkes anrichten. Auch brauchen sie auf diese Weise einen
geringeren Vorrat an Fässern und sind nicht auf grössere Keller¬
räume angewiesen. Kommt es doch vielfach vor, dass dieses
Getränk gar nicht in den Keller kommt, sondern in einer
Kammer angemacht und von dort weg getrunken wird. Es
sind deshalb hauptsächlich Fabrikarbeiter, Tagelöhner und
niedere Angestellte, welche sich mit Rosinenmost begnügen.
Wer nun glaubt, Obst- und Rosinenmost werde eben an
Stelle des vorher üblichen Bieres getrunken, täuscht sich. In
diesem Fall müsste der Bierkonsum gegen früher zurückgehen.
Aber sowohl die Statistik wie die Beobachtungen des täglichen
Lebens zeigen uns, dass letzteres nicht der Fall ist, dass
vielmehr daneben der Rierverbrauch in steter
Steigerung begriffen ist.
Er betrug im Jahr 1828 pro Kopf und Jahr etwa 45 1
1840
87 1
1858
108 1
1865
113 1
1871
152 1
1884
154 1
1898
192 1.
Vor 30—40 Jahren noch gab es vielfach in den Dörfern
nur am Sonntag Bier und zwar nicht in allen Wirtschaften.
Jetzt findet man in denselben Dörfern eine weit grössere Anzahl
von Wirtschaften, und jahraus jahrein wird Bier in Flaschen
oder vom Fass ausgeschenkt. Uebrigens befremden den, der
mit der Alkoholfrage einigermassen vertraut ist, diese Tat¬
sachen durchaus nicht. Es tritt hier genau dieselbe Erscheinung
zutage, wie die, welche man bei Empfehlung des Bieres gegen
den Branntweingenuss machte. Wie neben der Brannt¬
weinpest eine riesige Bierflut entstand, so hat
der gesteigerte Mostgenuss einen vermehrten
Bierkonsum zur Folge.
Es kann und darf so nicht weiter gehen. Wenn wir
bedenken, dass in Württemberg an Bier und dem ihm an
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t40
Ähhnndhingeti.
Alkohol gleichwertigen Most zusammen jährlich pro Kopf etwa
260 1 konsumiert werden und diesem die Tatsache gegenüber¬
stellen, dass in Bayern, das allgemein als das durch Alkohol
am schwersten belastete deutsche Land angesehen wird, jährlich
„nur“ etwa 240 1 Bier auf den Kopf kommen, so liegt der
Schluss nahe, Württemberg in dieser Hinsicht den Rang vor .
Bayern zu geben. Wie gross der Mostkonsum in Bayern ist,
entzieht sich unserer Betrachtung. Doch angenommen, er
würde pro Kopf und Jahr 20 1 betragen, was zweifellos zu
hoch gegriffen ist, so würden unter dieser Voraussetzung die
w ii r 11 e m b e r g i s c h e n und bayerischen Verhält¬
nisse in Bezug auf die ausschlaggebenden Ge¬
tränke die gleichen sein, wir also in Bezug auf Mass-
halten zum mindesten keinen Vorzug vor unsern Nachbarn
haben.
Frankreich wurde bisher als das Land des grössten
relativen Alkoholkonsums bezeichnet. Nach Hoppe beträgt
derselbe im Jahre 1803 in Alkohol ä 100 % pro Kopf und
Jahr 13,81 1. Diesen 13,81 1 in Frankreich stehen aber 15,4 1
reiner Alkohol gegenüber, welche jährlich im Durchschnitt auf
den Kopf des Württembergers entfallen. In Bezug auf den
Alkoholgenuss sind also die württembergischen
Zustände noch schlimmer als diejenigen Frank¬
reichs, und so lange uns nicht mit Zahlen etwas
anderes bewiesen wird, müssen wir leider zu¬
geben, dass Württemberg von keinem Land der
Erde in Bezug auf die Höhe des relativen Alkohol¬
genusses übertroffen wird.
Hier muss geholfen werden, und mit Erfolg
kann dies nur geschehen, indem man dem Most gegen¬
über dieselben taktischen Massnahmen ergreift, wie gegen die
anderen alkoholischen Getränke. Im Kampf gegen den
Alkohol darfderMostnicht alsharmloserGeselle
gerne geduldet oder gar empfohlen werden. Als
Hausgetränk vermager vielmehr in gewisser Hin-
sicht mehr Unheil anzurichten als das nichtimmer
so zur Verfügung stehende Bier; man denke z. B. nur
an den Mostgenuss der Jugend. Anhänger des Mässigkeits-
prinzips wie der Abstinenz, staatliche und lokale Behörden
Original frnm
UNIVERSITY OF CHICAGO.
Walter, Der Most.
141
sollten einig sein in dem Bestreben, die ungeheuren Schädi¬
gungen, welche in materieller wie ideeller Hinsicht durch den
Most angerichtet werden, möglichst einzuschränken. Für uns
Schwaben droht die Mostfrage eine Existenzfrage zu werden.
Die bestehenden Verhältnisse müssen sich entweder gewaltig
zum Bessern ändern — oder rapid verschlimmern. Alle Er¬
fahrungen auf diesem Gebiet lehren uns, dass Zu¬
stände, wie sie derzeit in Schwaben herrschen,
nicht an halten können. Hier heisst es „entweder —
oder“. Unsre Gegenwart bedeutet eine Krisis, die überwunden
werden muss, wenn sie nicht im andern Falle schwere dauernde
Schädigungen zur Folge haben soll.
Meine Ausführungen könnte man mit Recht als unvoll¬
ständig bezeichnen, wenn ich nicht zum voraus einige Einwände,
die zweifellos manchem hierbei kommen, widerlegen würde.
Die Frage, ob man jeden Mostgenuss verbieten oder bloss
mässigen Genuss desselben empfehlen soll, will ich hier nicht
beantworten. Sie gehört nicht in den Rahmen meiner Erörte¬
rungen, weil das Für und Wider dieser prinzipiellen Frage von
Berufeneren schon vielfach erörtert worden ist. Aus meiner
Forderung, dass dem Most gegenüber taktisch
dieselben Massnahmen zu ergreifen sind, wie
gegen jedes andere alkoholische Getränke, wird
jedereinzelne, das für ihn geltende herausfinden.
Was soll dann aber mit unseren Aepfeln und
Birnen, mit unseren Obstbäu in en geschehen?
Diese Frage vor allem werden in der Annahme, dass der
Mostkonsum bedeutend zurückginge oder gar verschwände,
alle Besitzer von Obstgütern mit Recht erheben. Zu ihrer
Beruhigung darf ihnen aber sofort versichert werden, dass
auch nicht ein Baum in diesem Falle verschwinden müsste,
dass sich vielmehr der Obstbau dann erst zu einem ncch
erträglicheren Zweig der Landwirtschaft gestalten Hesse als
er es gegenwärtig ist. Wie wäre das möglich ?
Mit dem verringerten Alkoholkonsum würde stetig eine
grössere Nachfrage nach Tafelobst Hand in Hand gehen.
Bei planmässiger Belehrung und Einwirkung durch Lehrer,
Aerzte, Behörden und Vereine Hesse sich diese Nachfrage so
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Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
142
Abhandlungen.
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steigern, dass der jeweilige Ertrag unseres Landes derselben
kaum genügen würde. Noch viel zu wenig wird auf die ausser¬
ordentlich hohe Bedeutung des Obstgenusses hinge¬
wiesen. Jeder, der mit der Nahrungsmittellehre einigermassen
vertraut ist, weiss, dass in unserem Obst ein Reichtum der
edelsten Stoffe enthalten ist, der geradezu unersetzlich ist, dass
in ihm eine Masse von Spannkräften angesammelt ist, die eine
Menge anderer Nahrungsmittel, die zum grössten Teil teurer
und weniger zuträglich sind, vollauf ersetzen könnten. Insbe¬
sondere ist das Obst im stände, unserem Körper die so über¬
aus wichtigen anorganischen Bestandteile (Nährsalze) zuzuführen,
die namentlich für unser heranwachsendes Geschlecht von grosser
Bedeutung sind. Die erfrischende und durststillende Eigenschaft
des Obstes wird noch viel zu wenig geschätzt, seine stärkende,
blutbildende und aufbauende Wirkung auf Schwache, Kranke
und Genesende wird vielfach noch nicht genügend gewürdigt.
Und in wie hervorragender Weise eignen sich nicht unsere
Aepfel und Birnen, roh und gedörrt, zur Zubereitung aller
möglichen Arten von schmackhaften Speisen. Als¬
dann wäre noch darauf hinzuweisen, dass die moderne Technik
und Wissenschaft in der Zubereitung äusserst haltbarer, zu¬
träglicher und wohlschmeckender alkoholfreier Obst- und
Traubensäfte schon jetzt Bedeutendes leistet. Bei stärkerer
Nachfrage würden dann auch die Preise für diese derzeit noch
etwas teueren Getränke zürückgehen.
Mögen diese Andeutungen genügen, auf die hohe Be¬
deutung des Obstes als Volksnahrungsmittel hingewiesen zu
haben!
Sämtliche Faktoren, die gegen die Alkoholnot ankämpfen,
müssen sich eben stets bewusst bleiben, dass es von grosser
Wichtigkeit ist, nicht bloss den Feind zurückzudrängen, sondern
die eroberten Gebiete auch sofort anzubauen d. h. positive Rat¬
schläge zu geben, an Stelle der bisher gewohnten Genüsse
andere, reinere zu empfehlen.
Wie viel herrliches Tafelobst bieten heute schon unsere
Fluren jeden Herbst, vor allem in unsern Unterländer Luiken,
deren Schicksal gegenwärtig fast durchweg das Vermosten ist!
Selbst eingefleischte Alkoholiker können beim Anblick der
herrlichen Aepfel manchmal ausrufen: „s’ist schad, dass man’s
Original fro-m
UNIVERSITY OF CHICAGO
Walter, Der Most.
143
mostet!“ Und sie haben recht. Den Kindern raubt man die
prächtige, bekömmliche Gottesgabe und reicht ihnen das ge¬
gorene Kindergift, den Most.
Andererseits ist nicht zu leugnen, dass bei einer Massen¬
nachfrage in Tafelobst viele Sorten, die seither als Mostobst
Verwendung finden, in Zukunft den Ansprüchen nicht mehr
genügen würden. Diesem Missstand aber wäre durch Veredeln
der bisherigen Bäume leicht abzuhelfen. Auch könnten manche
Sorten, die sich nicht zum Essen eignen, als Kochobst oder
Hutzeln Verwendung finden. Zweifellos aber würde unser Obst¬
bau bei ausschliesslicher Kultur von Tafel- oder Dürrobst sich
zu einem Zweig unsrer Landwirtschaft ausbilden, der nicht nur
eine hohe Kulturaufgabe erfüllen würde, sondern auch vom
Gesichtspunkt des Nationalökonomen von grösster Bedeutung
wäre. Die Produzenten und Konsumenten von Tafelobst würden
in Zukunft infolge dieser Massenproduktion Gewinn haben.
Bei grossem Angebot werden sich dann die Preise für Tafel¬
obst etwa in der Mitte zwischen den gegenwärtigen Preisen
des Most- und Tafelobstes bewegen. Erstere werden .also
durchschnittliche grössere Summen für ihre Obsternten einnehmen
und letztere billigeres Tafelobst einkaufen können. Vom Stand¬
punkt des Sozialhygienikers wäre zu bedauern, wenn bei aus¬
schliesslicher Kultur von Tafelobst auch nur 1 kg davon aus¬
geführt würde, obwohl wahrscheinlich wäre, dass wir in besseren
Jahren eine Ueberproduktion hätten. Zum mindesten aber
blieben dann die Millionen, welche jetzt alljährlich für Mostobst
ins Ausland kommen, unsrem Volk erhalten.
Die Arbeit der Obsternte würde zwar in Zukunft bedeutend
umständlicher und zeitraubender; allein die erhöhten Preise
würden den vermehrten Aufwand an Zeit und Arbeitskräften
rechtfertigen. Ausserdem könnte die seither für das Mosten
aufgewendete Zeit dieser Arbeit zugewiesen werden. Der
jährliche Obstertrag Württembergs beziffert sich auf etwa 600 000
Doppelzentner. Das macht auf den Kopf pro Jahr etwa 25 bis
30 kg; für die Familie etwa 150 kg. Dieses Quantum, das auf
etwa 12—15 Mk. kommen würde, könnte sich auch die ärmste
Familie leisten.
Aber auch die reichsten Herbsterträge könnten, falls das
Volk von der hohen Bedeutung des Obstgenusses durchdrungen
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Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
144
Abhandlungen.
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wäre, im eigenen Lande Absatz finden; denn auch das fünf¬
fache Quantum, das in diesem Fall Abnehmer finden müsste,
könnte so verwendet werden, dass kein Apfel verloren ginge.
Die Ausgaben pro Familie für das erhöhte Quantum würden
sogar verhältnismässig geringere sein, da in diesem Fall die
Preise niederer wären und um 40—50 Mk. sich eine Fülle
schönsten Obstes in den Keller bringen liesse.
Was sollen dann aber unsere Bauern, unsere
Arbeiter trinken? Diese Frage höre ich schon längst von
verschiedenen. Auch hierüber liesse sich ein Büchlein schreiben;
doch sind solche schon in grösserer Anzahl vorhanden, so
dass ich mich auf weniges beschränken kann. Vor allem sei
auf die Zeiten unserer Väter und Grossväter hingewiesen, die
doch auch ihr Feld bestellten und ihre Ernten besorgten und
dabei nur ausnahmsweise geistige Getränke genossen. Ist denn
der Strom an Milch, der damals quoll, versiegt? Kennt nie¬
mand mehr in Schwaben die Zubereitungsart des gedörrten
Obstes, das eine so ungemeine durststillende Kraft hat? Und
soll denn das Wasser wirklich bloss für das Vieh gut genug sein?
Wissen wir nicht, dass bei uns die meisten Menschen
überhaupt viel zu viel trinken, dass man also z. B. auch un¬
nötig viel Wasser gemessen kann? Ist nicht bekannt, dass bei
geeigneter naturgemässer Ernährung schon durch die Speisen
der grösste Feil unseres natürlichen Bedarfs an Wasser dem
Körper zugeführt wird?
Diese Andeutungen mögen genügen, dass bei gutem Willen
hier nicht bloss gut Ersatz geschaffen werden kann, sondern
dass durch den Uebergang zu einer andern Art von Nahrungs¬
und Genussmitteln, wie sie z. B. das Obst bietet, unserem Volk
reichlicher Gewinn in jeder Hinsicht erwachsen würde.
Ich bin mir wohl bewusst, dass meine Forderungen sich
nicht so rasch verwirklichen werden. Aber solche idealen Zu¬
stände sollen wenigstens angestrebt werden, und wenn jeder
nach seinen Kräften darnach strebt, bessere Zeiten herbeizu¬
führen, so kann vieles überwunden und geändert werden. Der
Dank unseres Schwabenvolks, unserer zukünftigen Generation
ist jedem sicher, der hier mithilft.
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CHICAGO,
Forel, Abstinenz und Wissenschaft.
145
Abstinenz und Wissenschaft.
Von Dr. August Forel.
Der Genuss des Alkohols und der narkotischen Mittel
entstand in der Menschheit zweifellos dadurch, dass die Neu¬
gierde eines höher sich entwickelnden Gehirnes ihn die Gärung
gezuckerter Flüssigkeiten und ihre angenehme berauschende
Wirkung entdecken liess. Diese Entdeckung einmal gemacht,
suchte der Mensch durch alle Mittel seines Geistes und seiner
Kultur, berauschende Getränke oder Substanzen zu produzieren,
ohne sich klar über die ganze Tragweite der Folgen ihres Ge¬
nusses zu werden. Immerhin fand man zu allen Zeiten gewisse
Propheten und Weise, die den Genuss der narkotischen Mittel
und speziell des Alkohols als verderblich, betörend, den Menschen
entwürdigend und lähmend bezeichneten und denselben ver¬
boten ; so z. B. Mohammed.
Der Mensch ist aber vor allem ein gedankenloses Gewohn¬
heitstier und pflegt, seinen Gefühlen und Träumereien folgend,
alle möglichen Unsitten, die denselben schmeicheln, zu dogma-
tisieren, zu kanonisieren, für heilig zu erklären und dann nach¬
träglich durch die ganze Wucht einer sophistischen Logik zu
verteidigen. Keine soziale Unsitte ist jedoch so geeignet, sich
in der Gesellschaft einzuwurzeln, als diejenige des Genusses
narkotischer Mittel, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens
ist ihre Wirkung direkt angenehm, da der narkotische Rausch
die starken und unangenehmen Empfindungen lähmt, Schmerz und
Unglück vergessen lässt und so den Menschen über die Unan¬
nehmlichkeiten des Augenblickes hinwegtäuscht. Zweitens, weil
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Go^ 'gle
Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
146
Abhandlungen.
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der Genuss der Nareotica sehr rasch eine künstliche Sucht, ein
künstliches Bedürfnis erzeugt, das sich dadurch auszeichnet,
dass man ohne den nun gewöhnlichen Genuss unruhig, unbe¬
haglich wird und nach demselben dürstet. Zwar ist diese Sucht
oder unangenehme Abstinenzerscheinung beim Alkohol im
ganzen viel geringer, als beim Morphium, Cocain und dergl.,
sodass die Mehrzahl der Menschen sich relativ mässig halten
kann. Dafür macht der Alkohol den Menschen viel brutaler
und gefährlicher und entartet die Körpergewebe viel mehr, als
jene Substanzen. Drittens, und gerade auf Grund der beiden
erstgenannten Tatsachen, gibt es kein bequemeres Mittel für
den ausbeutungssüchtigen Menschen auf Kosten der anderen
reich zu werden, als die Ausnutzung der narkotischen Sucht
und speziell der % Alkoholsucht der Gesellschaft. Staat und
Private ziehen den leichtesten und enormsten Profit aus dem
Alkohol- oder dem Opiumgenuss des Volkes.
Auf diese Weise sind der Gott Bacchus und seine Jünger
so gross und mächtig geworden: Zuerst Entdeckung aus Neu¬
gierde, dann gedankenloses Sichgehenlassen, ferner Dogmati-
sieren und Heiligsprechen der Unsitte, endlich Sklaverei auf
einer Seite und Ausbeutung auf der anderen. Es gibt wenige
lehrreichere Beispiele davon, dass der Mensch nicht durch eine
wahre vorurteilslose Logik, sondern durch die Macht der Ge¬
fühle, der Mode und des Vorurteils gelenkt wird, als die heutige
fadenscheinige Sophistik, mit welcher selbst ehrbare Geistliche,
bedeutende Gelehrte, Staatsmänner und Künstler den Alkohol¬
genuss verteidigen und rühmen und die Abstinenzbewegung
verhöhnen und schlecht machen, einzig und allein, um ihr ange-
wöhntesWein- oder Biergläschen zu verteidigen oder um die durch
eine Jahrtausend alte Sitte heilig gesprochene Alkoholatrie und
die damit verbundene Afterdichtung ja nicht antasten zu lassen.
Die Abstinenzbewegung ist aus dem Exzess des Uebels
und aus der absoluten Unfähigkeit des mässigen Alkoholgenusses
entstanden, den sozialen Alkoholschaden zu bekämpfen. Man
erkannte vor allem zuerst in Amerika, dass ein Trunksüchtiger
nur durch die totale Abstinenz geheilt werden könne.
So fing die einzig rationelle Bekämpfung der sozialen
Alkoholpest unter der Flagge „Weg mit dem Alkohol als Ge¬
nussmittel!“ an. Aus der Erkenntnis, dass der Alkohol ein
Original fram
UNIVERSITY OF CHICAGO J
Ford, Abstinenz und Wissenschaft.
147
giftiges Genussmittel sei, ist die heutige, von jedem kirchlich¬
religiösen Glauben absehende, sozial-hygienische und wissen¬
schaftliche Abstinenzbewegung entstanden.
Unerwartet schnell sind infolge ihrer Bemühungen, der
Sache auf den Grund zu gehen, die Tatsachen der Wissen¬
schaft ihr zu Hülfe gekommen. Ihr sind vor allem folgende
Feststellungen zu verdanken:
1. Schon kleine Alkoholdosen (20—30 Cubikcentimeter)
wirken giftig auf das Gehirn, alle geistigen Tätigkeiten lähmend
und störend (Kraepelin und die zahlreichen Experimente seiner
Schüler).
2. Die früher behauptete bedeutend grössere Gefährlich¬
keit unreiner Schnäpse hat sich als irrtümlich erwiesen. Die
Giftwirkung sogenannter Unreinlichkeiten (Fuselöl etc.) ist eine
andere als die des Aethyl-Alkohols, summiert sich daher nicht
und kommt wegen der sehr kleinen Quantität dieser Substanzen,
die in den alkoholischen Getränken enthalten sind, kaum mehr
in Betracht. Die Giftwirkung, die der Alkoholismus hervor¬
ruft, ist diejenige des Aethyl-Alkohols. Die gegorenen Getränke,
wie Bier, Wein und Obstwein, sind kaum weniger gefährlich,
vielfach sogar schlimmer, als der Branntwein, weil sie anständiger
aussehen und dadurch verführerischer sind. Man trinkt grössere
Quantitäten und der Schlusseffekt der sozialen Alkoholisierung
ist der gleiche, weil sie den gleichen Aethyl-Alkohol enthalten.
Er tritt nur langsamer und weniger brutal auf. (Strassmann,
Joffroy und andere.)
3. Die angebliche Nährwirkung des Alkohols beruht auf
einem sophistischen Wortstreit über den Ausdruck Nahrungs¬
mittel. Der Alkohol verbrennt im Organismus wie manche
anderen Gifte. So entwickelt er Wärme resp. Energie. Man
kann ihn also theoretisch, wie alles, was im Organismus ver¬
brennt, mit dem trügerischen Namen eines energetischen Nah¬
rungsmittels schmücken, und ihn aus diesem Grunde mit anderen
Kohlenhydraten vergleichen. Das ist aber ein Schwindel, denn
so wären auch Phosphor, Glycerin, Arsenik etc. Nahrungsmittel.
Damit eine Substanz Nahrungsmittel genannt werden darf, muss
sie nicht nur im Körper verbrennen, sondern dabei erfahrungs-
gemäss erstens den Körpergeweben nichts schaden und zweitens
die Körperfunktionen nicht stören oder lähmen. Es ist aber
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UN1VERSITY OF CHICAGO
148
Abhandlungen.
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experimentell durch die Wissenschaft nachgewiesen worden,
erstens, dass der Alkohol ein grosses Protoplasma-Gift ist und
die Körpergewebe entarten macht und zweitens, dass er durch
seine gehirnlähmende Wirkung die Kraftleistungen des Körpers
auf die Dauer viel stärker herabsetzt, als er ihnen Energie zu¬
führt, Nur kurz nach seiner Einnahme bewirkt er eine vor¬
übergehende Vermehrung der Kraftleistung. Aus diesen ein¬
fachen, nun unbedingt feststehenden Tatsachen, kann man die
Grösse des ganzen Schwindels ersehen, der seinen Gipfel in
den absurden Behauptungen des allerdings bereits krank ge¬
wesenen französischen Gelehrten Duclaux hat. Neuerdings
haben besonders Ziegler in Jena und Fühner gezeigt, dass
Lösungen von weniger als 1 % Alkohol genügen, um die Ent¬
wickelung von Seeigel-Embryonen zu hemmen. Enthält die
Lösung 1—2 °/ 0 Alkohol, so geht das Embryo unter Verkrüppe¬
lung bald zu Grunde. Im übrigen sind die genannten Tatsachen
von Kraepelin, Destree, Frey, Schnyder, Miura, Kassowitz,
Chauveau etc. mehr als genügend festgestellt. Die Gegner, wie
Atwater, Rosemann etc. können immer nichts weiteres behaupten,
als dass der Alkohol verbrennt und dabei Energie produziert,
was niemand bestreitet. Der gesunde Menschenverstand genügt,
um aus diesen Tatsachen den einzig vernünftigen Schluss zu
ziehen: „Weg mit dem Alkohol als Genussmittel“.
4. Die Wissenschaft hat ferner den Nachweis erbracht,
dass der Alkohol die Keime unserer Nachkommen verdirbt und
dieselben mit den schwersten erblichen Entartungen aller Art
belastet. Es handelt sich nicht um eine einfache Wiederholung vor¬
handener Trinkanlagen, sondern also um das direkte Verderben
früher gesunder Keime. Ich habe diesem Vorgang den Namen
Blastophthorie (Keimverderbnis) gegeben. Unzählige Arbeiten
von Legrain, Hodge, Combemelle, Derame, Fräulein Koller, mir
selbst und in neuerer Zeit von Bunge beweisen immer mehr,
wie ahnungslos die Menschheit dieser furchtbaren Tatsache
gegenüber bisher stand. Der alkoholischen Blastophthorie ist
zweifellos der Ursprung einer ungeheuren Zahl, wenn nicht der
Mehrzahl der Verbrechernaturen, der geistigen Abnormitäten und
überhaupt dermeisten geistigen und körperlichen Verkrüppelungen
unserer Rasse zu verdanken. Zum Glück kann die Verminderung
der Trinksitten und vor Allem die Abstinenz im Laufe einiger
Original from
UNIVERSITY OF CHICAGO-
Forel, Abstinenz und Wissenschaft.
149
Generationen die Rasse wieder allmählich regenerieren. Die
Experimente sind zum Teil an Tieren gemacht worden. Für
den Menschen konnten sorgfältige statistische Untersuchungen
das furchtbare soziale Experiment, das die Menschheit seit Jahr¬
tausenden an sich gemacht hat, einfach als solches benutzen.
Dazu lieferten die Gefängnisse, die Irrenanstalten, die Idioten-
und epileptischen Häuser, und dergleichen mehr, das Material.
Indirekt erwiesen sich auch andere soziale Schäden des Alkohols.
So zeigte eine von mir angestellte Statistik, dass 3 / 4 der vene¬
rischen Krankheiten im leicht angeheiterten oder berauschten
Zustande acquiriert werden.
5. Auch als medizinische Panacee und Allheilmittel hat
der Alkohol seinen Ruhm gestohlen. Unter anderem hat der finn-
ländische Arzt Laitinen gezeigt, wie verderblich und schwächend
er gerade da wirkt, wo man ihn als lebenerhaltendes Stimu-
lations- und Stärkungsmittel so hoch pries.
6. Auch in der Kunst fängt der Alkoholnimbus zu fallen
an und es zeigt sich immer deutlicher, dass die ihm gewundenen
Kränze Flittergold sind, dass er die Kunst nur minderwertig
und roher gestaltet und die Leistungsfähigkeit, der Künstler
quantitativ und qualitativ herabsetzt. Noch mehr aber lähmt
er die Fähigkeit des Volkes, wahre Kunst und höhere geistige
Leistungen zu geniessen und zu verstehen, indem er es in dem
Bann blödester Wirtshausliteratur und roher kunstloser Ver¬
gnügungen hält. Was nützen aber die Leistungen der Künstler,
wenn das Verständnis der Nation für dieselben abnimmt?
7. Die freie wissenschaftlich-soziale Abstine’nzbewegung hat
aber ferner den Nachweis erbracht, dass eine frohe, unge¬
zwungene Abstinenzgeselligkeit nicht nur mit der Alkohol¬
geselligkeit und mit den Alkoholfreuden recht wohl konkurrieren
kann, sondern dass sie denselben weit überlegen ist. Der Alkohol
verschafft dem Menschen Genüsse; ja, aber er nimmt ihm dafür
so viele höhere und bessere Genüsse w 7 eg, dass wir durch ihn
an Lebensgenuss, Freude und Gesundheit viel mehr verlieren,
als gewinnen. Diese soziale Bilanz bedeutet den Bankerott des
Alkohols und seiner Verteidiger. Unser Sieg kann nur eine
Frage der Zeit sein, erfordert aber harte Kämpfe gegen die
Macht des Vorurteils einer alten Sitte und der Ausbeutungs¬
sucht durch das Alkoholkapital.
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UN1VERSITY OF CHICAGO
150
Abhandlungen.
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Ich habe die soziale Alkoholfrage in einen kurzen Satz
zusammengefasst, den ich zum Schluss hier noch anführe:
„Beseitigt durch Zauberschlag alle Alkoholiker eines Landes;
in wenigen Jahren werden sie völlig ersetzt sein (in der Tat
stirbt ein grosser Bruchteil der Trinker weg, ohne dass ihre
Gesamtzahl abnimmt). Wandelt dagegen mit einem Schlag
sämtliche mässigtrinkende Menschen eines Landes dauernd in
Abstinenten um, und in kurzer Zeit wird es keinen Alkoholismus,
keine Trinker, keine Alkoholfrage mehr im Lande geben!
Ehre den Ländern, die wie Kanada, Norwegen und Finn¬
land den sozialen Kampf für die Abstinenz mit so grossem
Erfolg und so grosser Energie unternommen und durchgeführt
haben!
Goi igle
Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
Stille, frie „local-option“ in den Vereinigten Staaten.
151
Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten.
Von Dr. phil. W. A. Stille in Leipzig.
Die schwache Seite der Prohibition war, dass der Einkauf
der berauschenden Getränke, d. h. deren Einfuhr aus anderen
Staaten, nicht verboten war. Freilich, wie hätte die Einfuhr
verboten sein können, wenn es den Aerzten frei stand,
Spirituosen als Medikamente zu verschreiben und den Apothekern
diese „Medizinen“ zu verabfolgen! Den Aerzten durch Staats¬
gesetze verbieten, Spirituosen zu verschreiben, das war nicht
durchführbar. Der Schmuggelhandel mit Spirituosen, die ge¬
heimen Trinklokale, das waren Uebelstände. Dagegen war es
eine bewundernswerte Seite der Prohibitionsbewegung, dass
mit so viel Eifer und Opferwilligkeit aus rein ethischen und
religiösen Motiven für diese Sache gekämpft wurde. In allen
Staatslegislaturen wiederholte sich das Bild, dass Frauen und
Männer aus den angesehensten Ständen voll religiösen Eifers
sich an die Repräsentanten des Volkes wendeten, um sie zu be¬
wegen, Prohibitiv-Gesetze einzubringen und durchzusetzen.
Reiseprediger wurden ausgesandt überall ins Volk, um die
„Temperenz“, d. h. die Enthaltsamkeit zu predigen. Das
geschah sehr oft durch gerettete frühere Trinker, die nun mit
zündenden Worten und aus tiefster Ueberzeugung die Heils¬
wahrheiten der Abstinenz verkündeten.
Die Temperenzler haben lange Zeit versucht, die Frage
der Abschaffung der berauschenden Getränke zu einer nationalen
Frage zu machen und eine entsprechende Abänderung der
Konstitution der Vereinigten Staaten durchzusetzen, obwohl ja
die ganze Frage nicht die nationale Regierung, sondern die
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CHICAGO
152
Abhandlungen.
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einzelnen Staaten angeht. Seit dem Jahre 1872 haben die
Temperenzler regelmässig ihren eigenen Präsidentschafts¬
kandidaten aufgestellt, während die beiden grossen politischen
Parteien es ablehnten, sich mit der Alkoholfrage zu befassen.
Da in allen Temperenzstaaten sich die schon genannten
Uebelstände einstellten, so drängte sich die Frage auf, ob nicht
bessere Mittel zu finden wären, die Trinksitten zu beseitigen
und zugleich die Sache der Enthaltsamkeit unter dem Publikum
mehr zu Ehren zu bringen; denn man warf ja den Temperenzlern
ganz offen vor, sie heuchelten bloss und tränken im Geheimen.
Das Mittel, das sich vortrefflich bewährt hat, ist die „local
Option“. Sie besteht darin, dass jede Kommune alljährlich
durch Abstimmung darüber entscheidet, ob Schanklizenzen
ausgegeben werden sollen, oder nicht. Die Staatsgesetze, unter
welchen die „local Option“ stattfindet, sind natürlich nicht in
allen Staaten gleich, ich wähle daher ein bestimmtes Beispiel
der Art, nämlich die Gesetze des Staates Massachusetts, die
für viele andere Staaten vorbildlich geworden sind und über
deren Erfolge ausführliche Nachrichten vorliegen.
Das Staatsgesetz von Massachusetts bestimmt, dass in
Boston nicht mehr Schankstellen für Spirituose Getränke sein
dürfen, als eine für je 500 Einwohner, für alle übrigen Städte
des Staates aber, und für das platte Land, nicht mehr als eine
für je 1000 Einwohner. Ferner bestimmt es, dass für jede
Schanklizenz mindestens 1000 Dollars das Jahr zu entrichten
sind. Diese Summe fliesst in die Stadtkasse oder in die Kasse
der betreffenden Kommune. Aber es steht der Stadt oder der
Kommune frei, eine beliebig höhere Summe für die Lizenz
zu verlangen; nach oben hin bestimmt das Gesetz keine
Grenze. Die Stadt Boston stimmt über die Lizenzfrage nach
Distrikten ab, sodass es also Distrikte der Stadt geben kann
und gibt, wo gar keine Trinklokale für berauschende Getränke
anzutreffen sind. Die Abstimmung geschieht gleichsam von
selbst, denn bei den jährlichen allgemeinen Wahlen enthält der
Stimmzettel zugleich die Frage: „Sollen in dieser Stadt (oder
in diesem Distrikte) Lizenzen zum Verkauf berauschender Ge¬
tränke ausgegeben werden?“
Nun kommt aber noch ein ganzes Heer von Ein¬
schränkungen und Bedingungen. Erstens, wer eine Schank-
Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
Stille, Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten.
153
lizenz zu erwerben wünscht, muss durch öffentliche Bekannt¬
machung kund tun, wo er die Schankstelle zu halten beab¬
sichtigt. Dann kann aber jeder Grundstücksnachbar, dessen
Eigentum nicht mehr als 25 Fuss von dem in Aussicht ge¬
nommenen Grundstück entfernt liegt, Einsprache erheben gegen
die Errichtung des Schanklokals und diese Einsprache ist end-
giltig. Das Lokal darf dort nicht eröffnet werden. Ferner, wenn
der Wirt endlich ein Grundstück gefunden hat, wo er sein Lokal er¬
öffnen kann, so hat er u. a. folgende Punkte zu beachten: Er darf
nicht nach 11 Uhr abends verabreichen und nicht vor 6 Uhr
morgens, an Sonntagen überhaupt nicht. Er darf nicht an
notorische Trinker verabfolgen, auch nicht an Betrunkene,
nicht an Almosenempfänger, nicht an Minderjährige, auch
darf er keine Minderjährigen in seinem Lokale dulden.
Er darf keine „verfälschten“ Liköre verabreichen, er darf keine
spanischen Wände, Schirme oder sonstige Einrichtungen an¬
bringen, die verhindern würden, dass man von der Strasse aus
das Innere des Lokals frei überblicken kann. Er darf nicht an
öffentlichen Feiertagen verabreichen, auch nicht an Tagen, wo
eine politische Wahl stattfindet. Er darf keine Minderjährigen
in seinem Geschäfte anstellen.
Aber nun kommt zum Schluss noch ein Punkt von
enormer Tragweite. Der Wirt darf keine berauschenden Ge¬
tränke verabreichen an irgend jemand, wenn er schriftliche
Notiz bekommen hat von des Betreffenden Frau oder Vater,
Mutter, Kind, Arbeitsgeber, des Inhalts, dass jener ein
Gewohnheitstrinker ist und dass der Unterzeichnete den Wirt
ersucht, ihm alle berauschenden Getränke vorzuenthalten.
Wenn der Wirt einer Uebertretung irgend einer der ge¬
nannten Bedingungen überführt wird, so verfällt er in Geld¬
busse und Gefängnisstrafe und seine Lizenz erlischt.
Noch strenger als in Massachusetts ist das neue Gesetz
für Vermont. Der Staat Vermont hatte gerade 50 Jahre lang
die Prohibition, nämlich von 1853 bis 1903, da ging er zur
„local Option“ über. Alle Abgaben für Lizenzen gehen zur
Hälfte in die Kasse der betreffenden Kommune und zur Hälfte
in die Staatskasse, und zwar in das Konto für Strassen und
Brücken. Ebenso werden alle Geldstrafen der Wirte geteilt.
Diese Geldstrafen sind sehr hoch, nämlich von 100 bis
Die Alkoholfrage. 11
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UN1VERSITY OF CHICAGO
154
Abhandlungen.
Difitized by
300 Dollars für jedes Vergehen. Auf diese Weise hat gewisser-
massen jeder Steuerzahler ein Geldinteresse daran, dass der
Wirt zu Geldstrafen herangezogen wird, sobald sich Gelegen¬
heit bietet.
Aber es kommt noch stärker. Jeder Polizist, jeder
Gerichtsvollzieher, jeder Konstabler ist unter dem Gesetz ver¬
pflichtet, bei 200 Dollars Geldstrafe, jede Verletzung der Ge¬
setze von seiten eines Wirtes, die zu seiner Kenntnis gebracht
wird, sofort anzuzeigen. Ferner muss jeder dieser Beamten
zu bestimmten Zeiten vor der zuständigen Behörde erscheinen
und unter Eid aussagen, „ob er Anzeichen davon bemerkt hat,
oder ob ihm Kunde zugegangen ist, die auf Verletzung des
Gesetzes schliessen lassen.“ Die Lizenz-Behörde hat daraufhin,
unter Geldstrafe von 500 Dollars bei Vernachlässigung, die so
angezeigten Fälle zu untersuchen. Ist die Anklage begründet,
so hat die Behörde die gesetzliche Geldstrafe zu verhängen;
ist sie nicht begründet, so hat die Behörde bei der nächsten
Jahresversammlung über jeden Fall die Gründe anzugeben,
weshalb sie keine Strafe verhängte.
Aber noch nicht genug! Jeder Wirt, der eine Lizenz zum
Ausschank berauschender Getränke bekommt, wird unter eine
Bürgschaft von 3000 Dollars gestellt gegen Uebertretung des
Gesetzes. Diese Bürgschaft aber kann nicht geleistet werden
von Brauern oder Fabrikanten von Spirituosen, ja nicht einmal
von Versicherungsgesellschaften, sondern sie muss geleistet
werden von zwei Einwohnern des Ortes, wo die Schankstelle
sich befindet, und diese Bürgen sind haftbar in jedem Fall von
Geldstrafe, die den Wirt betrifft. Ja, noch mehr. Um zu ver¬
hindern, dass Brauer oder Likörfabrikanten die Hände im Spiel
haben könnten, schreibt das Gesetz vor, dass keiner, der direkt
oder indirekt Geldinteresse hat an dem Verkauf oder der
Fabrikation berauschender Getränke, Bürge sein darf.
Diese ausserordentlich strengen Massregeln im Staate
Vermont wurden wohl hauptsächlich deswegen getroffen, weil
im langen Lauf der Prohibition der Schleich- oder Schmuggel¬
handel in Spirituosen von allerhand verdächtigen Persönlich¬
keiten getrieben wurde, und diese sollten nunmehr von allem
Handel mit Spirituosen fern gehalten werden. Gewiss kann
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Drigiralfrom
UNIVERSITY OF CHICAGO
Stille, Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten.
155
unter dem neuen Gesetz nur jemand, der in gutem Ruf steht,
eine Lizenz überhaupt bekommen.
Das Gesetz von Vermont bestimmt, dass nicht mehr
Lizenzen ausgegeben werden dürfen, als je eine auf 1000 Ein¬
wohner. In Städten und Ortschaften, die keine Lizenzen aus¬
geben, dürfen nur solche Apotheken bestehen, die ausschliess¬
lich Medikamente führen, und die nur auf Verordnung eines
Arztes Spirituosen in verschlossenen Flaschen verkaufen dürfen.
Betrachtet man alle die Schwierigkeiten, Hindernisse und
Strafen, denen die Wirte in Massachusetts und Vermont aus¬
gesetzt sind, so wird man nicht anders urteilen, als dass die
öffentliche Meinung in dem lange fortgesetzten und immer
wieder erneuten Kampfe um die Alkoholfrage, sich bis zu
einem hohen Grade geklärt hat. Man hat sich endlich über¬
zeugt, dass das alte Uebel der Trinksitten sich nie wird
völlig aus der Welt schaffen lassen, dass es sich aber doch
bis auf einen kleinen Rest beseitigen lässt. Dass die Trink¬
sitten wirklich als ein grosses Uebel, ein Gemeinschaden, er¬
kannt sind, erkennt man daraus, dass es gelingen konnte, die
oben genannten sehr strengen Gesetze und Massregeln durch¬
zusetzen.
Es ist interessant zu erfahren, welche Wirkung in einer
Stadt eintritt, wenn nach einer Reihe von Jahren, wo keine
Lizenz ausgegeben wurde, nunmehr die Ausgabe von Lizenzen
stattfindet oder um im amerikanisch-volkstümlichen Ton zu
reden, wenn ein „nasses“ Jahr auf „trockene“ Jahre folgt. Die
Stadt Brockton in Massachusetts bietet ein gutes Beispiel der
Art. Dies ist eine Stadt von 40000 Einwohnern (1886). Elf
Jahre hindurch hatte sie keine Lizenzen ausgegeben, da schlug
die Sache um und für das Jahr vom 1. Mai 1898 bis
1. Mai 1899 wurden Lizenzen ausgegeben, es gab also Trink¬
lokale mit alkoholischen Getränken. In dem „trockenen“ Jahr,
beginnend mit dem 1. Mai 1897, kamen 435 Verhaftungen
wegen Trunkenheit vor und 44 wegen tätlicher Angriffe. In
dem „nassen“ Jahre, beginnend mit dem 1. Mai 1898, gab es
1627 Verhaftungen wegen Trunkenheit und 99 wegen tätlicher
Angriffe. Dies eine Jahr genügte für Brockton. Für die
Lizenzen war eine Stimmenmehrheit von 13 gewesen, jetzt kam
eine Mehrheit von 2132 gegen Lizenzen. Sogleich gingen
11 *
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156
Abhandlungen.
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auch die Verhaftungen herab und zwar für Trunkenheit auf
455 und für tätliche Angriffe auf 66 für das Jahr.
Aehnliche Zahlen kommen aus den Städten Salem und
Waltham in Massachusetts:
Salem: 1900. Lizenzen. Verhaftung, weg. Trunkenheit 729
1901. Keine Lizenzen. „ „ „ 166
Waltham: 1900. Lizenzen. „ „ „ 345
Keine Lizenzen. „ ,, „ 88
Hiernach könnte man geneigt sein, zu glauben, dass doch
die Prohibition das Richtige gewesen sei, denn in allen drei
Städten ging in den „trockenen Jahren“ ja alles besser. Da¬
gegen ist aber zu bemerken: dass, wo alle Jahr aufs Neue ab¬
gestimmt wird, nicht jene Apathie eintritt, die gar zu leicht
Platz greift, wo ein für alle Mal die Prohibition Staatsgesetz
ist und wo man nicht sicher ist, dass eine starke Majorität der
besseren Bürger für die strenge Durchführung des Gesetzes
ist. Es kommt da leicht vor, dass Schleichhandel und
Schmuggel üppig wuchern. Hat dagegen die Abstinenzpartei
in einem Wahlkampf gesiegt, so wird auch mit dem Schleich¬
handel und den geheimen Trinklokalen aufgeräumt und jeder
Wahlkampf erneuert das Interesse an der Alkoholfrage. Und
siegt einmal die Gegenpartei, so hat man sofort die schlagenden
Beweise, dass man um der öffentlichen Ruhe und Sicherheit
willen besser tut, keine Lizenzen auszugeben.
Die „local Option“ hat ferner vor Prohibition das voraus;
dass der Vorwurf der Heuchelei so gut wie wegfällt, dass die
öffentliche Meinung weit leichter für- die Enthaltsamkeit ge¬
wonnen wird und dass es daher gelingt, an vielen Orten den
Schleichhandel bis auf einen verschwindenden Rest zu ver¬
nichten.
Fragt man nach der Stellung der Deutschen in den Ver¬
einigten Staaten zu der Alkoholfrage, so kann leider die Ant¬
wort keine andere sein, als dass unsere Landsleute drüben, so
verschieden auch sonst ihre Meinungen sein mögen, in einem
Punkte fast alle einig sind, nämlich dass das Bier dem Menschen
zuträglich ist, so lange man es nicht „im Uebermass“ geniesst,
dass es erheitert, stärkt, nährt, erquickt und dass die Bestre¬
bungen für Einschränkung der Bierproduktion und des Bier¬
verkaufs nichts weiter sind, als Produkte der Herrschsucht und
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UNIVERSITY OFCHICAGq
Stille, Die „local Option“ in den Vereinigten Staaten.
157
Heuchelei der „Pfaffen“ im Bunde mit den „Weibern“, diesen
Bundesgenossen gegen die persönliche Freiheit. Ja, die Phrase
„persönliche Freiheit“ hat für den Deutsch-Amerikaner eine
ganz bestimmte Bedeutung, nämlich die Freiheit, Bier zu trinken,
besonders auch am Sonntag; und wo man der beliebten Redens¬
art von der persönlichen Freiheit in den Zeitungen begegnet,
kann man sicher sein, es handelt sich um das „schäumende
Nass“.
Es ist nicht zu leugnen, dass ein grosser Teil der Ver¬
blendung der Deutschen ih Amerika in Bezug auf den Genuss
der alkoholischen Getränke, besonders des Bieres, den dortigen
deutschen Aerzten zur Last fällt. Von jeher haben sie ziem¬
lich einmütiglich das Bier gepriesen, und wurden nicht müde,
die Lehre zu verbreiten, das Bier, das deutsche Bier, sei
berufen, den abscheulichen amerikanischen Whiskey zu ver¬
drängen, es sei zugleich ein Nahrungsmittel, es sei, wie schon
Liebig gesagt habe, flüssiges Brod. Ich kannte einen deutschen
Arzt in St. Louis, der im Volk den Kosenamen „Bierdoktor“
hatte, der gern und oft Bier zur Stärkung verordnete und auch
selbst dem schäumenden Becher gern zusprach, bis ihn eines
Tages plötzlich ein Herzschlag hinraffte. Dass das vom Bier¬
trinken käme, wusste man in den 80er Jahren noch nicht; und
die Kunde davon ist ja noch heute nicht weit gedrungen, am
wenigsten weit unter den Deutschen in Amerika.
Besucht man eine kleine oder mittelgrosse Stadt, wo die
Bevölkerung vorwiegend anglo-amerikanisch ist, so findet man
meist gar keine Trinklokale, wo alkoholische Getränke zu haben
wären. Dafür treten verschiedene andere Dinge auf, die ganz
oder beinahe fehlen, wo es Trinklokale in grösserer Anzahl
gibt, und hierzu gehören besonders die Lesehallen. Diese Lese¬
hallen sind nicht bloss vorhanden, sondern werden auch fleissig
benutzt; und wer diese Institute noch nicht kennt, wird sich
wundern müssen über die Art der Zeitschriften, die da dem
Publikum unentgeltlich geboten werden. Hierzu gehören nicht
nur die technischen Wochenschriften, sondern auch die vor¬
trefflichen englischen und amerikanischen Wochen- und Monats¬
schriften allgemeineren Inhalts, wissenschaftlich, politisch etc.
Man kann wohl allgemein sagen: Je mehr Trinklokale, desto
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Abhandlungen.
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weniger Lesehallen, und umgekehrt: Trinken und geistige In¬
teressen sind Gegenpole.
In solchen amerikanischen Städten fehlt es nicht an
sonstigen Unterhaltungen von mancherlei Art. Dem Fremden
muss bei diesen Dingen, wenn er sie beobachtet, besonders
auffallen, die Achtung, die überall den Frauen gezollt wird,
der freundschaftliche, kameradschaftliche Verkehr der Geschlech¬
ter mit einander. Das Niedere und Gemeine fehlt, es ist eine
Bevölkerung ohne Proletariat.
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Gudden, Ueber verschiedene Formen des Alkoholismus etc.
159
Ueber verschiedene Formen des Alkoholismns,
seine Folgen und Behandlung.
Von Dr. C. Gudden, Pützchen-Bonn.
Immer mehr hat sich die Ueberzeugung Bahn gebrochen,
dass die Alkoholisten im engeren Sinn (I. Gruppe) entweder
direkt psychisch krank oder in ihrem Zentralnervensystem krank¬
haft veranlagt sind. Auch die einfache Intoleranz rechnet man
praktisch hierhin, da erfahrungsgemäss das alkoholische Gift
bei einer Minderzahl der Menschen die eigentümliche Wirkung
hat, schon in kleinsten Mengen den psychischen Gleichgewichts¬
zustand in einer Weise zu stören, dass die Betreffenden die
Kontrolle über sich und ihre freie Willensbestimmung verlieren
z. B. im Gegensatz zu den besten Vorsätzen vor Aufnahme
besagter geringster Mengen nunmehr haltlos bis zum Rausch¬
zustand trinken.
Alkoholisten im weiteren Sinne (II. Gruppe) kann man
alle diejenigen nennen, die gewohnheitsmässig eine Alkohol¬
menge zu sich nehmen, durch welche die ursprüngliche Charakter¬
anlage eine, wenn auch noch so leichte Aenderung erleidet und
die natürliche Stimmung beeinflusst wird; der Rauschzustand
oder erhebliche andere Erscheinungen können völlig fehlen.
Das Quantum, durch welches diese Bedingungen erfüllt werden,
kann ausserordentlich verschieden sein.
In eine III. Gruppe kann man zweckmässig die Alkohol¬
trinker (im Gegensatz zu Alkoholisten) zusammenfassen, die nur
gelegentlich, aber in intensiver Weise sich mit Alkohol — etwa
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160
Abhandlungen.
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an Sonntagen oder bei festlichen Gelegenheiten, auch um
momentanen Aerger hinunterzuspülen — vergiften, im übrigen
absolut nüchtern leben, im Rausch aber sogar strafbare Hand¬
lungen begehen können.
Endlich wäre derer zu gedenken (IV. Gruppe), die den
Alkohol nicht regelmässig (es sind hier also ausdrück¬
lich die Gewohnheitstrinker, welche irrtümlicherweise
glauben, mit dem Quantum Alkohol, das sie sich täglich ge¬
statten, die Grenzen des Bekömmlichen nicht zu überschreiten,
ausgeschlossen) und in solch’ absolut geringen Quantitäten sowie
in einer Form geniessen, welche eine Schädigung sowohl in
psychischer wie in körperlicher Beziehung auch bei objektiver
Beobachtung ausgeschlossen erscheinen lassen.
Es ist nun von vornherein klar, dass mit Ausnahme der
Letztgenannten die Zugehörigen jeder anderen Gruppe eine
solche Schädigung erleiden und dass je nach der Intensität
und Art der schlimmen Folgen Abwehrmassregeln, Behand¬
lung oder Aufklärung nötig werden. So sehr die Ursachen
der verschiedenen Formen sich untereinander unterscheiden, so
sicher ist es, dass ihre Bekämpfung keine gleichmässige sein
kann. Die Fragestellung soll nun so lauten: Welche Mittel
sind bei den einzelnen Kategorien unserer etwas schematischen
Einteilung anzuwenden und welchen Erfolg haben sie?
Wenden wir uns zuerst den Alkoholisten im engeren Sinne
zu. Diese umfassen eine ganze Reihe verschiedener Krankheits¬
bilder; ich erinnere nur an die trinkenden Epileptiker, bez.
manche epileptoide Formen psychischer Störung, viele moralisch
Minderwertige, Neuropathologische; auch verschiedene Arten
des periodischen Irrsinns gehören hierher; über diese werde
ich mich etwas genauer aussprechen, da sie meinem Beruf am
nächsten liegen. So verschieden diese Formen auch sein
mögen, allen gemeinsam muss die Behandlungsart sein: Erziehung
zu totaler Abstinenz. Wie wir von der Digitalis wissen, dass
sie bei gewissen Arten der Herzschwäche das einzige Heilmittel
ist, so wissen wir Aerzte von der Abstinenz, dass sie beim Alko¬
holismus allein zu helfen imstande ist, wenn überhaupt Hilfe
möglich ist. Leider ist es aber auch eine Tatsache, dass in
vielen Fällen gerade des sekundären Alkoholismus die Grund¬
krankheit oder Ursache die Anwendung des Heilmittels auf die
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Gudden, Ueber verschiedene Formen des Alkobolismus etc.
161
Dauer unmöglich macht. Manche solcher Trinker suchen eine
Anstalt auf, um nach Art vieler Morphinisten eine Kur durch¬
zumachen, die ihnen gestattet, mit kleinen Mengen wieder von
vorne das alte Leben zu beginnen; andere folgen auf dem
gleichen Wege dem Druck von Verwandten oder von unhaltbar
gewordenen Verhältnissen. Diese Leute haben oft nicht einmal
den festen Vorsatz vom Trinken zu lassen oder sie haben ihn,
aber der Wille ist zu schwach — an ihnen ist meist jede ärzt¬
liche und andere Mühe verloren. Diese Misserfolge, die bei
jeder anderen Krankheit auch Vorkommen, ändern aber nichts
an der Richtigkeit der eingeschlagenen Therapie und dürfen
auch die Streiter im Kampfe gegen den Alkoholmissbrauch
nicht entmutigen. Es gibt eine Reihe der schönsten Erfolge,
insbesondere bei den sogenannten Intoleranten, die durch die
völlige Abstinenz geheilt werden und die ohne solche einfach
verloren wären. Es ist für diese sehr zweckmässig sich in
Anstalten zu begeben, wo sie in monatelangem Aufenthalt, ohne
dass ihnen die Möglichkeit gegeben ist, rückfällig zu werden,
sich bis zu völligem körperlichen Wohlbehagen durchringen.
Der ärztlichen Tätigkeit bietet weiterhin ein reiches und
dankbares Feld jener Zustand, den ich schon weiter oben be¬
rührt habe. Es handelt sich nicht um primäre Alkoholisten,
wenn ich so sagen darf, sondern um psychische Krankheits¬
vorgänge, die durch den Alkohol ins Masslose gesteigert werden,
die aber bei Durchführung der Abstinenz eine äusserst günstige
Prognose bieten, da es sich meistens nicht um willensschwache
Menschen handelt, vielmehr um solche, die intellektuell und
gemütlich hochstehen können und ihren Lebensberuf zu Zeiten
ganz erfüllen. Eine nicht geringe Anzahl von Individuen leidet
nämlich an ziemlich regelmässigen periodischen Stimmungs¬
schwankungen, die bald in melancholischer Depression, bald in
heiterer Erregung sich äussern. Während ein Kranker der letzten
Kategorie in seinem gehobenen Gesundheitsgefühl und im Taten¬
drang oft ganz von selbst zum Konsum grösserer Alkoholmengen
gelangt, das Trinken bei ihm sonach als eine Krankheitsäusserung
zu betrachten ist, wird bei der melancholischen Verstimmung der
Alkohol häufig als Heilmittel selbst gesucht — oder leider muss
es gesagt werden — auch von Aerzten angeraten. Die Fälle,
welche ich im Auge habe und auf die ich die Aufmerksamkeit
Di
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Abhandlungen.
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weiterer Kreise lenken möchte, sind meist ganz leichte, aber
oft längere Zeit anhaltende Verstimmungen, charakterisiert durch
Unlust zur Arbeit, Mangel an Entschlussfähigkeit, Selbst¬
vertrauen und Initiative. Alle diese Symptome, insbesondere
auch die fast nie fehlende Appetit- und Schlaflosigkeit werden
nun zu häufig mit dem Alkohol bekämpft und die gedrückte
Stimmung in eine künstlich gehobene überzuführen gesucht.
Das Ende vom Liede ist, dass bei langer Dauer oder häufiger
Wiederkehr, der Verstimmung der Kranke Alkoholist und unter
Umständen Delirant wird.
Der Vorgang erinnert lebhaft an die Tatsache, dass durch
Bekämpfung, z. B. einer Ischias, jemand zum Morphionisten er¬
zogen wird, welcher sein Morphium weiter spritzt, wenn er
schon längst keine Ischias mehr hat. Als einzige Ent¬
schuldigung dieser verkehrten Anwendung des Alkohols als
Heilmittel kann nur die Unkenntnis seiner Schädlichkeit bei
psychisch Kranken überhaupt gelten. Er ist eben in erster
Linie ein Nervengift, dass bei schon bestehenden krankhaften
Vorgängen im Hirn geradezu deletär wirkt und. in viel kürzerer
Zeit, als es vielleicht sonst geschehen wäre, seine typischen
Wirkungen äussert. Jeder erfahrene Arzt wird den Alkohol
als Heilmittel bei psychisch Nervösen verpönen. Ist es erst,
um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen, gelungen,
solchen Alkoholisten die Ursache der Verschlimmerung ihres
an sich vielleicht erträglichen Leidens nachzuweisen und sie
zur Abstinenz zu bringen, dann verlaufen die Verstimmungs¬
perioden viel weniger unangehm, die Arbeitskraft hält sich auf
einer gewissen Höhe, kurz alle Erscheinungen sind gemildert.
Bei den leichten maniakalischen Erregungszuständen — wie
dieselben auch bei den sogenannten Quartalstrinkern bisweilen
Vorkommen — wirkt der Alkohol natürlich erst recht schädlich.
Er lähmt den Rest des psychischen Hemmungsvermögens
und der Patient wird nunmehr zu Handlungen hingerissen, die
er wegen der Erregung an sich und ohne den Alkohol sicher
nicht begangen hätte. Auch hier wirkt die Aufklärung und
die absolute Abstinenz Wunder.
Nun kommen wir zu der zweiten Gruppe, bei welcher
schon viel erreicht wird durch die Erziehung zu strenger
Massigkeit. Es wäre übrigens ein grosser Irrtum zu glauben,
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Original fro-m
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Gudden, Ueber verschiedene Formen des Alkoholismus etc.
163
dass diese Gruppe unwichtiger sei, weil die schädlichen Folgen
der Allgemeinheit weniger sichtbar sind. Gerade das Gegen¬
teil ist der Fall. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem
Alkoholgenuss und den unter Umständen sehr schwer ins Ge¬
wicht fallenden Erscheinungen an den Menschen ist freilich
nicht so leicht erkennbar. Welche Unsumme von Reizbarkeit,
Nervosität, Unfriedfertigkeit, verminderter Arbeitskraft, mo¬
ralischer Laxheit aufgespeichert ist auf Konto des regelmässigen
sog. massigen Alkoholgenusses, aber irrtümlicher Weise gesetzt
wird auf Rechnung der Verhältnisse, der übertriebenen Anfor¬
derungen, der Missgunst und Ungerechtigkeit der Vorgesetzten,
des Kampfes ums Dasein — das ist einfach unglaublich. Welche
Unsumme unglücklichen Familienlebens aus diesem anscheinend
so massigen Alkoholgenuss resultiert, kann nur der ermessen,
der diesen Dingen auf den Grund geht und der aus der ver¬
änderten Sachlage nach Entwöhnung, bezw. auch Reduzierung
des Alkoholgenusses die wahren Verhältnisse aufgedeckt sieht.
Da heutzutage die Mehrzahl der Menschen, wenigstens in
Deutschland besagtem „ massigen “ Genuss huldigt, werden die
Bestrebungen der Mässigkeitsvereine hauptsächlich der All¬
gemeinheit zu gute kommen, zu der praktisch auch die
III. Gruppe, auf welche ich jetzt nicht näher eingehen kann,
zu rechnen ist, während die Abstinenzbewegung mehr den
pathologischen Alkoholisten ihre Kräfte zu widmen haben wird.
Man sollte wenigstens glauben, dass jeder vernünftige oder
normale Mensch im Hinblick auf die feststehenden Tatsachen
sein Herz, seine Nieren — und seine Psyche vor allem in zwie¬
facher Hinsicht prüft und das Mass des Genusses so enge
fasst, dass er zur IV. Gruppe gerechnet werden kann. Es
handelt sich eben immer und immer wieder darum, die Kenntnis
von der Giftigkeit des Alkohols zum Gemeingut aller zu machen.
Um jedem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich wohl
betonen, dass die Durchführung der Abstinenz sicher das Beste
wäre, was der Mensch sich selbst antun und was man ihm
anraten kann unter allen Umständen, aber wie die Politik im
allgemeinen „die Wissenschaft des Möglichen“ ist, so auch bei
der Bewegung gegen den Alkohol. Man muss, um überhaupt
etwas zu erreichen, mit weiser Vorsicht und unter Berücksich¬
tigung der menschlichen Eigentümlichkeiten und der tausend-
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Abhandlungen.
jährigen Gewohnheit Schritt vor Schritt Vorgehen. Was z. B.
oft bei älteren Leuten zu erreichen nicht mehr möglich ist, das
gelingt gerade durch jene selbst bei der heranwachsenden
Generation, bei ihren eigenen Kindern. Gut raten ist leichter,
als selbst danach handeln. Ein Hauptfaktor, die Macht des
Beispiels, fehlt allerdings dann, aber man gewinnt Anhänger
der Bewegung. Es scheint überhaupt, als ob der Weg, der
zur Abstinenz führt, bei den Meisten seinen Ausgangspunkt
von der wahren Massigkeit nimmt. Direkt zur Abstinenz müssen
dagegen die Angehörigen der I. Gruppe geführt werden und
gelingt dies nicht, müssten sie, sofern sie antisocial sind, ander
weitig unschädlich gemacht werden. Wer übrigens glaubt, dass
der Hauptschaden des übertriebenen oder des sogen, mässigen
Alkoholgenusses nur die Trinker selbst trifft, so weit das Zentral¬
nervensystem in Betracht kommt und dass es also Sache des Ein¬
zelnen sei, die Verantwortung für die persönlichen Folgen zu
tragen, der kennt nicht die unsäglich traurigen Folgen, welche die
Nachkommenschaft in psychischer Beziehung oft zu erdulden
hat. Lieber diesen wichtigen Punkt — Geistes- und Nervenkrank¬
heiten infolge erblicher Belastung durch Potatoren und sogen,
mässige Trinker — wird sich Gelegenheit finden, später zu reden.
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Hartmann, Ueber die Aufgabe der höheren Schule etc.
165
Ueber die Aufgabe der höheren Schule im
nationalen Kampfe gegen den Alkoholismus.
Von Dr. Martin Hartmann,
Professor am K. Albert-Gymnasium zu Leipzig.
(Aus einem am 6. April 1904 auf der Hauptversammlung des Sächs. Gymnasial¬
lehrervereins in Scbneeberg gehaltenen Vortrage („Die höhere Schule und die Ge¬
sundheitspflege“), welcher in extenso erschienen ist in „Neue Jahrbücher für
Pädagogik“ 1904).
Es ist besonders nötig, dass die Jugend der höheren Schulen über
die Gefahren des Alkoholismus aufgeklärt werde, der ja für uns
ein grosses soziales Problem ist, und man kann es unseren Behörden nur
Dank wissen, dass sie neuerdings nachdrücklich darauf hingewiesen haben.
Ich denke hier namentlich an den Erlass des preussischen Unterrichts¬
ministeriums vom 31. Januar 1902 und an die sächsische Generalver¬
ordnung vom 10. Mai desselben Jahres. Ist aber, möchte man hier
fragen, den behördlichen Anregungen in dieser Frage, die H. Schiller
in seiner Schrift »Die Schularztfrage« geradezu für fundamental erklärt,
überall mit dem vollen Ernste nachgegangen worden, den die Schwere
der Gefahr verlangt?*) Es wäre sehr von Interesse zu erfahren, welche
Massnahmen die höheren Schulen im Sinne der genannten Erlasse er¬
griffen haben. Hat man z. B. seitdem eine regelmässige Belehrung über
den Alkoholismus eingeführt? Hat man an vielen höheren Schulen das
vom kaiserlichen Gesundheitsamte herausgegebene Alkoholmerkblatt ver¬
wertet? Sind die höheren Lehrer zahlreich, die seitdem den hochver¬
dienstlichen deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke
durch Beitritt unterstützen, einen Verein, dessen Wirken in direktem
Zusammenhänge steht mit den genannten Erlassen? Gibt es höhere
*) Bei den Nürnberger Kongressverhandlungen wurde von einer Seite bemerkt,
dass die Volksschnllehrer durchschnittlich ernster gegen den Alkoholismus kämpfen,
als die vielfach an studentischen Trinksitten hängenden akademisch gebildeten Lehrer.
Es wäre dringend erwünscht, dass man auf dem nächsten Kongresse für Schul¬
gesundheitspflege derartiges nicht mehr sagen könnte.
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Abhandlungen.
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Schulen, die die sog. Abiturientenkommerse ausdrücklich missbilligen
und jede Teilnahme daran ablehnen? Hat man schon alkoholfreie
Schulspaziergänge eingeführt, sei es auch nur für die unteren Klassen,
um zunächst auf die jüngsten Generationen einzuwirken?*) Dass eine
Massnahme wie die zuletzt genannte ausführbar ist, hat man an einzelnen
Orten schon gezeigt, so in der deutschen Schweiz, so am Gymnasium
von Rendsburg, wo Direktor Wallichs bei den Klassenausflügen im Sommer
selbst von seinen Primanern spartanische Enthaltsamkeit forderte. Nie¬
mand, der die wirklichen Verhältnisse kennt, wird leugnen wollen, dass
es hohe Zeit ist, nach der hier in Rede stehenden Seite etwas Wirk¬
sames zu tun. Das unmässige Trinken ist unter der Jugend unserer
höheren Schulen, Gott sei es geklagt, noch immer weit verbreitet, und
namentlich sind die im Verborgenen blühenden Schülerverbindungen ein
Sitz dieses Uebels. Wer nicht weiss, wie es da zugeht, der lese ein¬
mal die einschlägige Schrift Pilgers, oder aus neuerer Zeit die den
gleichen Gegenstand behandelnde Schrift des Münchener Nervenarztes
Franz Schmidt; er wird erschrecken über das Bild roher, stumpf¬
sinniger Völlerei, das die Schüler da bieten, und über die verhängnis¬
vollen Folgen, die daraus hervorgehen. M i t der Form der Verbindung
oder ohne sie, hier liegen in der Tat die Quellen des Versagens so
mancher jungen Leute gegenüber den Anforderungen der Schule. Die
Gymnasiasten tuen es leider den Studenten nach, deren Trinksitten
zum Teil noch wahrhaft mittelalterliches Gepräge haben und oft wie
eine Negation der höheren Geistesbildung erscheinen, die sie erlangt
haben. Zahlreiche junge Leute zerrütten sich allmählich auf diesem
Wege, oder verkümmern so, dass sie wie halbgebrochen erscheinen und
im späteren Leben nicht entfernt das leisten, was sie nach dem ihnen
anvertrauten Pfunde hätten leisten sollen. Freilich handelt es sich hier
um eine Erscheinung, die mit einem nationalen Uebel zusammenhängt
— Fürst Bismarck nannte es einmal den Diabolus germanicus —, die
mit festgewurzelten Gewohnheiten verknüpft ist, die uns sogar im goldnen
Schimmer der Poesie entgegentritt, und gegen die der Kampf daher
überaus schwer ist. Aber gerade die höhere Schule, aus der die künftigen
Führer des Volkes hervorgehen, sollte es für eine ernste Aufgabe halten,
diesen Kampf mitzukämpfen, damit die Führer nicht einmal durch ihr
eigenes Beispiel zu Verführern werden. Blosse Verbote helfen hier nichts,
und selbst strenge Strafen für Ausschreitungen schlimmer Art, wie sie
von Zeit zu Zeit unter der Wirkung des Alkohols verübt werden, können
das Uebel nicht an der Wurzel fassen. Strafen sind notwendig, aber
noch höher steht das Vorbeugen, und gerade die vorbeugende Tätigkeit
sollte von der Schule mit vollem Ernste aufgenommen werden. Mit
*) H. Schiller bemerkt einmal (Die Schularztfrage S. 28), dass es manche
Lehrer gibt, die erhöhten Alkoholgenuss der Schüler bei Schulausflügen für etwas
Selbstverständliches halten. Wenn dies wahr ist, würde daria ein neuer Beweis
dafür liegen, dass die Kenntnis der Hygiene im höheren Lehrerstande noch wenig
verbreitet ist.
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Hartmann, Ueber die Aufgabe der höheren Schule etc.
167
moralischen Gründen allein ist dem Uebel nicht beizukommen. Besser
sind schon gewisse indirekte Bekämpfungsmethoden, wie Ablenkung des
Geselligkeitstriebes der Schüler auf gesunde und edle Gebiete, aber
wirksam besonders ist die Bekämpfung vom Standpunkt der Hygiene
aus, und auf dieser Basis kann sie jetzt ganz anders geführt werden
als noch vor 20 Jahren, wo es eine Alkoholforschung kaum gab. Man
weiss jetzt, dass der Alkohol nur scheinbar ein Stärkungsmittel und ein
Wärmemittel ist, dass er die geistige Tätigkeit nur scheinbar und vorüber¬
gehend erhöht, in Wirklichkeit aber herabsetzt, dass er besonders ver¬
antwortlich ist für die Ueberhandnahme der Nervosität, dass er die
Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Krankheiten vermindert, dass er
namentlich prädisponiert für Tuberkulose und so im grossen und ganzen
zur Verkürzung der Lebensdauer beiträgt. Geben nicht die grossen
englischen Lebensversicherungen allen Abstinenten einen Prämienrabatt von
ungefähr 10 %} Und anderseits weiss man jetzt, welch unheimliche
Zusammenhänge bestehen zwischen Alkohol und Verbrechen, zwischen
Alkohol und Geisteskrankheit. Gefängnisse, Zuchthäuser .und Irrenhäuser
füllen sich immer von Neuem unter der Wirkung der so weit verbreiteten
Unmässigkeit im Trinken. An solchen Tatsachen darf die höhere
Schule nicht Vorbeigehen, wenn anders sie nicht bloss unterrichten will,
sondern auch erziehen. Und namentlich seitdem die Wissenschaft auf
Grund der epochemachenden Untersuchungen Demmes (1890) die ver¬
hängnisvolle Wirkung des Alkohols auf den jugendlichen Organismus genau
festgestellt hat, Untersuchungen, die durch Aerzte der verschiedensten
Länder wiederholt und bestätigt worden sind, seitdem die Wissenschaft
den Nachweis geliefert hat, dass Alkohol für den jugendlichen Körper
bis zum Alter von etwa 16 Jahren unbedingt schädlich ist, kann und
darf es auch die höhere Schule nicht ablehnen, die richtigen praktischen
Folgerungen aus diesen Feststellungen zu ziehen, und muss in ihrem
eigenen Interesse wie in dem ihrer Schüler durch Belehrung auf diese
ein wirken, um körperlicher, geistiger und sittlicher Verkümmerung oder
gar Entartung rechtzeitig vorzubeugen.*)
Wenn auf diesem Gebiete wie anderwärts die Lehrer aller Fächer
es in der Hand haben, die Schüler zu belehren und im Sinne ver-
*) Diejenigen Amtsgenossen, die an den bittem Ernst der hier behandelten
Frage noch nicht glauben, die jüngeren Herren besonders, die noch im Banne
studentischer Auffassung stehen, und meinen, mit Scherzworten darüber hinwegzu¬
kommen, seien angelegentlichst auf eine Studie verwiesen, die der Kgl. Oberarzt
Dr. Georg Ilberg unter dem Titel: „Soziale Psychiatrie“ veröffentlicht hat, in der
Monatsschrift für soziale Medizin S. 321 —335 (1904). Auf Grund einer reichen
psychiatrischen Beobachtung schreibt der Verfassei u. a. S. 326: „In allen Kreisen
sollte sich die Anschauung immer mehr einbürgern, dass es etwas unanständiges ist,
viel zu trinken oder sich gar zu betrinken. Wieviel Notstand würde vermieden,
wieviel venerische Krankheiten kämen in Wegfall, wieviel Uebertretungen, Vergehen
oder Verbrechen namentlich auch Sittlichkeitsdelikte blieben unausgeführt, wenn die
Mahnungen zur Mässigkeit beherzigt würden. — Wahrhaftig, die menschenfreund¬
lichen Bestrebungen der Antialkoholisten verdienen, sollten sie auch manchmal über
das Ziel hinausschiessen, namentlich auch vom Standpunkte der sozialen Psychiatrie
allseitige Anerkennung und uneingeschränkte Förderung“.
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nünftiger Gewöhnung zu beeinflussen, so fliesst doch die Quelle hygienischer
Belehrung überhaupt besonders reichlich in den naturwissenschaftlichen
Fächern, Botanik, Zoologie, Anthropologie, Chemie und Physik und ihre
Lehrer könnten unter diesem Gesichtspunkte ganz besonders segensreich
wirken. Bei der hergebrachten Stoffwahl könnte man vielleicht auf
manches verzichten, was oft nur der Vollständigkeit halber vorgebracht
wird, um bald wieder der Vergessenheit anheimzufallen, und dafür be¬
sonders die zahlreichen Momente betonen, die eine hygienische Bedeutung
haben und geradezu zum Wohlbefinden, zum Lebensglücke der Menschen
beitragen. Wie das im einzelnen auszuführen wäre, ist nicht meines
Amtes hier darzulegen; ich verweise hier besonders auf die bei B. G. Teubner
erschienene Schrift von Trzoska: Der Unterricht in der Gesundheitslehre
auf den höheren Lehranstalten. Den Eindruck hat man bei der Lektüre
dieses Schtiftchens, dass eine hygienische Zuspitzung des naturwissen¬
schaftlichen Unterrichts ganz gewiss auf das Interesse unserer Jugend
rechnen könnte.
Endlich liesse sich eine weitere Hilfe bei der Erziehung unserer
Jugend zu hygienischer Einsicht gewinnen durch die Aufnahme geeig¬
neter Texte in deutsche und fremdsprachliche Lesebücher, die in den
Unterrichtsstunden zum Gegenstände der Besprechung und Erläuterung
gemacht werden könnten.*) Soweit solche Texte noch nicht vorhanden
sein sollten, so müssen sie geschrieben werden, am besten durch Hygi¬
eniker, die die Gabe klarer und geschmackvoller Darstellung besitzen.
Die Sache ist wichtig genug, um sie einmal zum Gegenstände eines
Preisausschreibens zu machen. Auch in die Schülerbibliotheken wären
geeignete Schriften populärwissenschaftlichen Inhalts aufzunehmen, nament¬
lich auch solche über den Alkoholismus, und die Schüler zum Lesen
derselben anzuregen.
Dass bei dieser Erziehungsfrage nicht bloss die Schule in Betracht
kommt, sondern dass hier auch das Haus ein schwerwiegender Faktor
ist, bedarf kaum der näheren Ausführung. Man sollte nur endlich auf¬
hören, kurzerhand zu erklären: Die Sorge für die Gesundheit der Schüler
ist Sache des Hauses, und das Haus muss daher vor allem seine Ge¬
wohnheiten reformieren. Ein solcher Verzicht entspricht keinesfalls der
Wichtigkeit der Gesundheitsfrage, an der der Staat ein grosses Interesse
hat, bei der die ganze Zukunft unseres Volkes in Frage steht, und über¬
sieht auch den Umstand, dass das Haus, wie man richtig gesagt hat,
tatsächlich aus fast ebenso vielen einzelnen Häusern besteht, als Schüler
vorhanden sind, während die Schule ein konzentrierter Organismus ist,
der eben deshalb eine starke Wirkung ausüben kann, wenn er nur will.
Dieses Verhältnis sollte nach Kräften benutzt werden, und das kann
wohl geschehen, wenn der Leiter der Schule durch den Umfang der
ihm zugewiesenen Geschäfte nicht überlastet ist. So sollten z. B. die
Pensionen auswärtiger Schüler einer hygienischen Beaufsichtigung unter-
*) Vgl. den Aufsatz „Alkohol“ in Meier u. Assmanns Englischem Lesebuch,
Oberstufe, S. 190—195.
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UNIVERSITY OF CHICAGO
Hartmann, Ueber die Aufgabe der höheren Schule etc.
- 169
zogen werden, und nur solche Pensionen sollten genehmigt werden, deren
Inhaber ein gewisses Mass von Verpflichtungen auf sich nehmen. Man
könnte sich denken, dass der Leiter der Schule die Pensionsinhaber
von Zeit zu Zeit zu freien Besprechungen einlüde und dabei in geeig¬
neter Weise auf sie ein wirkte. Vor allem aber müsste nichts unversucht
gelassen werden, um die Eltern der Schüler zu gemeinsamer einheitlicher
Arbeit in ernsten Fragen zu gewinnen, so z. B. in der Alkoholfrage, auf
die man immer wieder zurückkommen muss, weil sie zu wichtig ist für
die Zukunft unseres Volkes. Um hier etwas ganz Praktisches anzugeben,
möchte ich auf die reiche populäre Flugschriftenlitteratur hinweisen, die
die deutsche Mässigkeitsbewegung gezeitigt hat, kleine billige Blätter*
die in gedrängter Form die gesicherten Ergebnisse der Alkoholforschung
mitteilen, so z. B. das von Dr. Bode herausgegebene Flugblatt: Warum
wir unsern Kindern keinen Wein und kein Bier geben (8 S. io Pf.).
Dies Flugblatt sollte einmal von Schulwegen an die Eltern aller neu-
aufgenommenen Sextaner verschickt werden, mit einem gedruckten Be¬
gleitschreiben des Rektors, worin die Eltern um ihrer Liebe zu den
Kindern willen dringend ersucht werden, das Flugblatt zu lesen und
ihren Kindern gegenüber darnach zu handeln. Mancher von dem so
ausgestreuten Samen würde gewiss auf fruchtbaren Boden fallen und
zur Bewahrung unserer heranwachsenden Jugend dienen. Man beachte
wohl, dass die schwerste Arbeit im Kampfe gegen die Alkoholseuche
getan wäre, wenn es gelänge, die Kinder bis etwa zum 16. Jahre von
der Ansteckung ganz frei zu erhalten. Der Alkoholismus ist
eine Giftpflanze, die man nicht dadurch beseitigt, dass
man ihre Blütenkrone abschlägt, sondern derenWurzeln
man ausroden muss, und das geschieht, wenn man i m
Kindesalter a n f ä n g t.
Uie Alkohol frage.
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170
Abhandlungen.
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Deber den Alkoholismas in Frankreich.
Von J, Marcuse, Mannheim.
Sehr interessante Mitteilungen über Alkoholismus und Alkoholver¬
breitung in Frankreich, die besonders die wirtschaftliche und sozial-ökono¬
mische Bedeutung des Alkohols würdigen, macht Dr. Schober im Aprilheft
der »Heilkunde«. Danach verbraucht jeder Franzose jährlich im Durch¬
schnitt 18,2 1 . Alkohol, während in dem Frankreich in dieser Hinsicht
am nächsten folgenden Lande in der Schweiz nur 13,5 1 . auf den Ein¬
wohner kommen, in Italien sind 10,2 1 ., in Deutschland 9,3, in England
8,9, in den Vereinigten Staaten 5,2, in Schweden und Norwegen 2,6 die
entsprechenden Quantitäten. Während in den letzten 50 Jahren die
Einwohnerzahl in Frankreich sich nur im Verhältnis von 100:112 ver¬
mehrt hat, ist im gleichen Zeitraum der Alkoholkonsum im Verhältnis
von 100:355 gestiegen. An weiteren unerbaulichen Enthüllungen er¬
gibt die Statistik, dass die Tuberkulose, die Geistes- und Nerven¬
krankheiten in den letzten Jahrzehnten sehr zugenommen haben, dass
das Kontingent der zum Militärdienst brauchbaren jungen Männer stetig
abnimmt, und dass die Preise von Brot und Fleisch in fortwährendem
Ansteigen sind, während dagegen der Wein bedeutend billiger ge¬
worden ist.
Diese Verbilligung des Weines ist zudem künstlich durch ein
Gesetz erzeugt worden. Einerseits wohl, um dem Schnapsmissbrauch
entgegenzuarbeiten, andererseits aber auch aus Parteiinteresse einer von
den weinbauenden Departements beeinflussten Kammermajorität ist vor
wenigen Jahren ein Gesetz geschaffen worden, welches den Wein als
»Boisson hygienique« von der Staatssteuer entlastet und gleichzeitig alle
auf dem Wein liegenden Gemeindesteuern aufhebt. In Paris z. B. hatte
man für den Wein, gleichgiltig, welcher Preislage er angehörte, 20 Cent.
Stadtabgabe für den Liter zu zahlen. Die Abschaffung dieser Steuer
machte nun allerdings für die teuren Weine nur wenig aus, umsomehr
aber für die billigen. Der Weinmissbrauch, der früher ein Vorzug der
Begüterten war, ist nun durch jenes Gesetz mehr zum Gemeingut der
Nation geworden. Die Mindereinnahmen der Gemeinden infolge des
Original fro-m
UNIVERSITY OF CHICAGO
Marcuse, lieber den Alkoholismus in Frankreich.
171
Wegfalls der Steuern auf den Wein mussten, wie in jenem Gesetz vor¬
gesehen war, nicht etwa durch eine Erhöhung der Abgaben für Brannt¬
wein und Liköre, sondern durch eine Steigerung der kommunalen
Gewerbe- und Wohnsteuern gedeckt werden. Die Kosten für Miete und
Nahrungsmittel gingen darauf als Rückschlag der Steuerentlastung des
Weines in die Höhe. Neben dem Weine wurde auch gleichzeitig das
Bier durch das schon erwähnte Gesetz als ein hygienisches Getränk be¬
zeichnet und der Kommunalsteuern entlastet. Für die Alkoholbilanz
Frankreichs machte dies jedoch nicht viel aus, denn hier ist bis heute
noch im grossen Gegensatz zu Deutschland der Bieralkoholismus eine
unbekannte Grösse.
Um so schlimmer aber steht es mit dem Schnapsalkoholismus.
Eine grosse Schuld, daran trägt der Staat selbst durch das verhängnis¬
volle Privileg der bouilleurs de cru und durch die allgemeine Schank¬
steuer. Seit Jahrzehnten werden Gesetzesvorschläge dagegen fast all¬
jährlich eingereicht, da aber die bouilleurs de cru sehr einflussreiche und
die Schankwirte sehr zahlreiche Wähler darstellen, so ist es sehr schwer,
unter den Volksvertretern eine jenen Vorschlägen günstige Majorität
zusammenzubringen. Das Privileg des bouilleurs de cru besteht darin,
dass die meisten ziemlich unreinen Branntweine, die in ländlichen Be¬
trieben aus Obst, Kartoffeln, Trebern usw. zur eigenen Verwertung her¬
gestellt werden, frei von jeder Abgabe sind, während auf dem industriell
erzeugten Alkohol eine Staatssteuer von 2,20 Frcs. für den Hektoliter
erhoben wird. Die Landwirte geben nun ihren Arbeitern teilweise an
Stelle von Zahlung ihren Selbstgebrannten Schnaps ab. Bisweilen wird
auch dieser Schnaps für Ware, besonders der Fischer-Bevölkerung gegen¬
über, abgegeben und so immer weitere Kreise mit diesem billigen, un¬
reinen und schädlichen, dem Produzenten reichen Gewinn bringenden
Schnaps durchtränkt. Seine Produktion hat sich in den letzten
20 Jahren nach Daremberg, ums 20 fache gesteigert. Allerdings hat sich
auch der Verbrauch der feineren Schnäpse, der sogenannten Liköre, ge¬
steigert, wenn auch entfernt nicht in gleichem Masse. Unter denselben
erfreut sich in Frankreich der Absinth der grössten Beliebtheit und
merkwürdigerweise enthält gerade er unter allen Likören am meisten
toxische Essenzen und Alkaloide. Nach dem eben erwähnten Autor hat
sich sein Konsum in Frankreich in den letzten 15 Jahren vervierfacht.
Wie schon erwähnt, besteht daselbst volle Schankfreiheit. Jeder Mann
darf, wo er will, eine Trinkstube auftun und sie führen, solange er eben
seine Gewerbesteuer zahlt. Es ist auf diese Weise in Frankreich so
weit gekommen, dass auf 83 Einwohner, Frauen und Kinder eingerechnet,
eine Alkoholschankstelle kommt. Trotz diesen erschrecklichen Fest¬
stellungen hat sich der Staat noch immer nicht bemüssigt gefunden,
energisch gegen den Alkoholismus vorzugehen, der so sehr zur Auf¬
besserung seiner Finanzen beiträgt, und überlässt es der privaten Ini¬
tiative, deren Mittel natürlich nur äusserst beschränkte sind, den Kampf
gegen die Alkoholverseuchung zu führen.
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Abhandlungen.
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Der fünfte schweizer. Abstinententag in Bern
am 12. Juni 1904.
Am Abend des n. Juni hatte sich die schweizerische Bundesstadt
Bern in ein festliches Gewand gekleidet und am Sonntag früh verkündete
ein Choral die Weihe des Tages. Aus den verschiedensten Teilen der
Schweiz waren an diesem Sonntag abstinente Männer und Frauen nach
der Bundesstadt gekommen, um in friedlicher Vereinigung öffentliches
Zeugnis von ihren Bestrebungen zur Bekämpfung des Alkoholismus
abzulegen und sich mit neuem Mut für ihr gemeinschaftliches Wirken
zu erfüllen.
Die Versammlungen wurden in der Heiliggeistkirche in Bern ab¬
gehalten und behandelten am Vormittag die sogenannte Lokaloption,
welche zum ersten Mal vom Nationalrat Prof. Dr. Hilty vor den eid¬
genössischen Räten in Vorschlag gebracht worden war. Der am 12. De¬
zember 1899 gestellte Antrag, das sog. Alkoholpostulat Hilty, lautete
wörtlich folgendermassen: »Der Bundesrat wird ersucht, in Erwägung zu
ziehen, ob nicht eine Revision des Art. 31 der Bundes-Verfügung in
dem Sinne vorzugsweise anzubahnen sei, dass es jedem Kanton und
jeder Gemeinde gestattet sei, für seine resp. ihre Bezirke Mass-
regeln gegen den Alkoholismus eintreten zu lassen, ohne durch den
Grundsatz der Gewerbefreiheit daran gehindert zu sein.«
Dieses Postulat wurde von der schweizerischen Bundesversammlung
nicht angenommen und das am 12. Juni d. J. auf dem fünften schweize¬
rischen Abstinententag in Bern von Prof. F o r e 1 erstattete Referat war
wieder ein kräftiger Vorstoss. Unser Berner Korrespondent schreibt über
den Eindruck von Forels Rede: »Herr Forel hat eine grosse Praxis
und ist ein streitkräftiger Mann, aber auch seine Gegner können ihm
die Gedankenschärfe der Beweisführung, wie den auch auf Unentschlossene
lascinierend wirkenden Entrain und Elan des Umsetzens vom Wort in
Tat nicht ableugnen. Von selbst kommt kein Fortschritt. Er braucht
energische Vorkämpfer Oderint dum metuant Mögen sie hassen,
wenn sie nur fürchten! :
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Der fünfte schweizerische Abstinententag in Bern.
173
Ford begann seine Rede mit der Frage: Was wollen wir Ab¬
stinenten in der Schweiz? Seit 27 Jahren arbeitet das blaue Kreuz und
seit bald iS Jahren die eigentliche Abstinenzbewegung. Ersteres hat
sich die schöne und verdienstvolle Aufgabe gestellt, Trinker zu retten,
darin hat es anerkannt Grosses geleistet. Doch heute entstehen ebenso
viele neue Trinker wie vor 27 Jahren. Die Aufgabe der eigentlichen
Abstinenzbewegung war von Anfang an eine andere. Wir wollen die
Quelle des Uebels verstopfen. Wir wollen unser Vaterland von der
Knechtschaft des Alkohols befreien. Wir wollen nicht nur die grossen
Auswüchse, nicht nur die schlimmsten Formen des Alkoholismus be¬
kämpfen und die Leiden ihrer Opfer lindern, sondern die grösste Ur¬
sache der geistigen und körperlichen Entartung unseres Volkes in ihren
Wurzeln selbst vernichten, indem wir unsere Mitbürger von der Alkohol¬
trinksitte abbringen.« ....
Forel ging dann auf die Frage über, ob die Abstinenten der
Schweiz in den letzten 18 Jahren ihre Pflicht getan und etwas erreicht
hätten und er antwortete: »dass man auf die öffentliche Meinung ge¬
wirkt und viele Vorurteile beseitigt habe, dass die Abstinenz heute
ganz anders dastehe, als vor zwei Dezennien, dass der Trinkzwang an
vielen Orten wenigstens gebrochen sei, dass aber die Sache doch furcht¬
bar langsam vorwärts schreite und dass dies besonders an der Rück¬
sichtslosigkeit der schnöden Ausbeutung des Volkes durch das Alkohol¬
kapital liege und daran, dass man noch viel zu zahm den Trinksitten
gegenüber und in der Propaganda noch viel zu opportunistisch und
bequem sei und sich noch gar nicht ernstlich um die Alkoholpolitik
gekümmert habe. Nach einer scharfen Kritik der staatlichen schweize¬
rischen Alkoholpolitik und ihrer sehr bureaukratisch-konservativen
Richtung kam Forel auf die Institution der Lokal-Option, welche er als
»eine Frucht der demokratischen Selbständigkeit der Gemeinden in den
englischen Kolonieen und speziell in Nordamerika« in ein helles Licht
stellte. »Was ist Lokal-Option? Sie besteht in dem Rechte der Mehr¬
heit der erwachsenen mündigen, männlichen und weiblichen Bürger einer
Gemeinde, auf dem Gebiete derselben den Handel, den Verkauf und
die Fabrikation alkoholischer Getränke zu verbieten. Man hat daher die
Lokal-Option auch Lokal-Veto-Recht genannt.« Forel’s weitere kräftige
Rede schloss mit der Parole, dass die schweizerischen Abstinenten ein
Volksaufklärungsprogramm aufstellen sollen, an dessen Spitze die Lokal-
Option, das Lokal-Veto stehen müsse. — Auch der zweite Referent,
Dr. R. Hercord aus Lausanne ging nach einer allgemeinen Erörterung des
so komplexen Problems des Alkoholismus auf die Lokal-Option spezieller
ein und bewies an der Hand von statistischem Material, dass besonders
in den skandinavischen Staaten und in Finnland, die das Vetorecht
ihrer Gemeinden eingeführt haben, in volkswirtschaftlicher Hinsicht über¬
raschende Erfolge erzielt worden seien. Die Armenlast nehme enorm
ab und daraus hervorgehend auch die Steueransätze. Die staatliche und
private Wohlhabenheit ermögliche für alle Bürger gleichwertige Bildungs-
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174
Abhandlungen.
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Gelegenheiten, überhaupt einen einigermassen sozialen Ausgleich. Am
Schlüsse dieses Referates wurde folgende Resolution gefasst:
»Die am 12. Juni 1904 in Bern versammelten schweizerischen
Abstinenten sprechen Herrn Nationalrat Prof. Hilty, der als erster, die
Frage der Lokal-Option vor den eidgenössischen Räten gestellt hat,
ihren herzlichsten Dank aus. In der Lokal-Option sehen dieselben eine
wahrhaft demokratische Institution, deren praktische Wirksamkeit im
Kampfe gegen den Alkoholgenuss sich überall bewährt hat. Sie er¬
suchen den hohen schweizerischen Bundesrat, bei den Vorarbeiten für
eine Erhebung über die antialkoholische Gesetzgebung, mit welcher er
von der Bundesversammlung im Jahre 1900 betraut worden ist, der
Lokal-Option spezielle und eingehende Aufmerksamkeit zu schenken.
Ohne ihr Interesse von anderen Massregeln und Bestrebungen
irgendwie abzuwenden, und indem sie ihren Feldzug zugunsten der
Alkoholenthaltsamkeit energisch fortsetzen, verpflichten sie sich, alle ihre
Kräfte sowohl durch individuelle wie durch gemeinsame Propaganda
aufzubieten, um nach und nach die Verwirklichung dieser wichtigen
Reform vorzubereiten.«
Die Verhandlungen am Nachmittage des fünften schweizerischen Ab¬
stinententages betrafen die Aufgaben der Schule in der Bekämp¬
fung des Alkoholismus, worüber die Lehrer Dr. H u g i aus Burgdorf,
Heymann aus Malleray, Tröschmann aus Münsingen und Frauchinger
aus Bern berichteten. Die Referenten fassten ihre Wünsche und
Forderungen in folgender, einstimmig angenommenen Resolution zu¬
sammen: »Die Lehrer dürfen in keiner Weise den Alkoholgenuss bei
den Kindern fördern. Auf den Ober- und Mittelschulen soll anti¬
alkoholischer Unterricht erteilt werden. Die Lehrer sollen auf den
Seminarien für die Erteilung antialkoholischen Unterrichtes präpariert
und examiniert werden. Von den Behörden wird auf diesem Gebiete
der Jugenderziehung energische und tatkräftig materielle LTnterstützung
erwartet.«
Wir erwähnen noch, dass Prof. Hilty beim Mittagsessen, von der
Versammlung enthusiastisch begrüsst, in einer geistvollen Ansprache als
die drei Hauptgegner der Abstinenz »die öffentliche Gleichgültigkeit
und Blindheit offenen Tatsachen gegenüber, ferner die Interessengruppen
und endlich die Sorgen und Kümmernisse des Lebens« bezeichnete,
welche letztere besonders die unbemittelten Klassen dem Alkohol in
die Arme treiben. Man müsse gegenüber diesen Mächten eine sittlich -
religiöse Regeneration des Volkes anstreben und ein offenes Herz und
wo nötig, eine offene Hand für die sozialen Bedürfnisse des Volkes
bereit halten. Die Gesetzgebung müsse dabei zu Hilfe kommen. Am
Schlüsse brachte Prof. Hilty ein kräftiges Hoch auf den Sieg des
wahrhaft Guten und Schönen in der Eidgenossenschaft aus!
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Das Blaue Kreuz und die Bekämpfung des Alkoholismus.
175
Das Blaue Kreuz und die Bekämpfung des Alkoholismus.
(Zur Berichtigung.)
Im i. Heft dieser Zeitschrift (S. 47 ff.) ist Herrn Dr. A. Emming-
haus-Gotha in seinem sonst so klar und warm geschriebenen Aufsatz
»Die Bekämpfung des Alkoholismus auf verschiedenen Wegen« ein Ver¬
sehen mit untergelaufen. Er erkennt zwar ausdrücklich die segens¬
reiche Tätigkeit der Blaukreuzvereine an und will ihre religiöse Be¬
geisterung nicht als Fanatismus bezeichnet wissen, meint aber dann doch,
es sei eine »Uebertreibung«, »wenn das Blaue Kreuz die Trunksucht
fast als die Wurzel alles Uebels in der Welt betrachtet und eine ge¬
lungene Heilung von der Trunksucht immer als einen Glaubenssieg ansieht.«
Der verehrte Herr Verfasser hätte recht, wenn — es so wäre.
Aber diese seine Charakterisierung ist tatsächlich irrig. Ein einzelner
Blaukreuzler mag hie und da einmal — wie das in allen Lagern und
Parteien geschieht — in Wort und Schrift »über die Schnur gehauen«
haben, das Blaue Kreuz als solches und als Ganzes hat weder das eine
noch das andere je behauptet. Wenigstens wäre ich auf Beweise dafür
gespannt. Im Gegenteil: gerade als evangelische Christen
sind wir Blaukreuzler 1. scharfsichtig genug, um neben und ausser
der Trunksucht noch eine Menge anderer »Wurzeln alles Uebels« in
der Welt zu erkennen und ihr Vorhandensein zu beklagen und zu be¬
kämpfen ; 2. sind wir weitherzig genug, um gerne anzuerkennen,
dass es auch ohne religiöse Beeinflussung und Erneuerung »gelungene
Heilungen von der Trunksucht« gibt. Was wir aber behaupten — und
das allerdings mit Entschiedenheit —, ist dies, dass solche Heilungen
eine umso grössere Bürgschaft der Dauer und Tiefe
in sich tragen, je mehr sie mit der bewussten Hin kehr zu dem
lebendigen Gott verbunden oder ihr entsprungen sind. Und
darum bleibt allerdings unsere Losung dem Trinker gegenüber: Abstinenz
und Evangelium! —
Möge Herr Dr. E. meine Entgegnung nicht als durch' Oppositionslust
oder dergleichen hervorgerufen ansehen, sondern nur durch den Wunsch, ein
Missverständnis aufzuklären, das nur zu oft begegnet: als wenn die
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176
Abhandlungen.
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religiöse Bekämpfung des Alkoholismus ihre Vertreter s. z. s. mit Scheu¬
klappen versehen, die sie gegen andere Notstände und gegen andere
Kampfmittel wider den Alkoholismus blind mache. Wie des Herrn Verf.
sonstige Ausführungen, so unterschreibe ich insonderheit deren Schluss¬
satz von ganzem Herzen.
Pastor prim. H. Josephson,
2. .Vors, des Blaukreuzvereins-Bremeu u. stellv. Yurs. des
Bremer Bezirksvereins d. „D. V. g. d. M. g. G. M
Die vorstehende Berichtigung einer Ansicht, die ich aus zwei Vor¬
trägen begeisterter Anhänger des Blaukreuzes, die wohl auch Beamte des
Vereins waren, gewinnen musste, begrüsse ich mit Dank.
Wenn, wie medizinisch wohl festgestellt ist, die Trunksucht als
eine Krankheit angesehen werden muss, sollte man meinen, die Heilung,
auch für die Dauer, sei am besten auf ärztlichem Wege, wenn auch
selbstverständlich in erster Linie durch Zwang zur völligen Enthaltsam¬
keit und Gewöhnung an solche, zu erreichen. Dass Kranke der Seel¬
sorge vorzugsweise bedürfen, ist mir nicht fremd. Aber ich hege gelinde
Zweifel, ob diese Kranken seelsorglicher Einwirkung aufrichtig und ohne
jede Heuchelei ihre Herzen zu erschliessen vermögen so lange sie krank
sind. Sind sie genesen, so wird ihnen die richtige seelsorgerische Ein¬
wirkung so nötig und so segensreich sein wie solchen, die nie krank
waren und brauchen sie wohl eine besonders geartete seelische Einwirkung
nicht. Indes hierüber lasse ich gern die Erfahrung entscheiden und der
Herr Verfasser gebietet über eine reiche gewiss ermutigende Erfahrung.
Dass ich mich solcher Erfahrungen und des friedlichen Zusammenwirkens
aller Gegner des gemeinsamen Feindes, die es ehrlich meinen, herzlich
freue, habe ich schon bekundet.
Gotha, Juni 1904. Dr. A. Emminghaus.
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Original ffom
UNIVERSITY OF CHICAGO
Eine Untersuchung der Alkoholfrage
auf Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame.
Von Prof. Dr. Victor Böhmert.
Die Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsfrage, welche im engsten
Zusammenhänge mit der Sittlichkeitsfrage steht, muss von immer neuen
Gesichtspunkten aus unter Anwendung der verschiedensten Methoden
untersucht werden. Es ist bereits im Heft i unserer Vierteljahrsschrift
2 Die Alkoholfrage betont worden, dass es zur Untersuchung der Wirkungen
des Alkohols auf den menschlichen Organismus einer grossen Summe von
Beobachtungen, Erfahrungen und Experimenten bedarf. Am wichtigsten
sind Experimente am eigenen menschlichen Körper und persönliche Er¬
fahrungen zuverlässiger Personen aus verschiedenen Ländern, Berufszweigen
und Altersstufen mit verschiedenen Lebensschicksalen. Solche persön¬
liche Erfahrungen müssen mit Hilfe der Methode der beschreibenden
Statistik durch ein gleichmässiges Fragenformular erhoben und übersicht¬
lich geordnet dem Publikum zur eigenen Prüfung und Vergleichung vor¬
gelegt werden. Das von uns entworfene Fragenformular, welches ursprünglich
nur 12 Fragen enthielt, ist infolge von Anregungen aus der Leserwelt noch
durch einige Fragen vermehrt und bereits von zahlreichen Freunden der
Antialkohol-Bewegung, die sich entweder zur Abstinenz oder auch nur
zur Mässigkeit bekennen, ausgefüllt worden. Die Redaktion ist dadurch
in regen geistigen Verkehr mit zahlreichen Fachmännern und Gesinnungs¬
genossen gekommen und in den Stand gesetzt, den Lesern dieser Zeit¬
schrift auf Grund von Massenerfahrungen wertvolle positive Beiträge zur
exakten Lösung der Alkoholfrage vorzulegen. Die von uns angeregte
Untersuchung wird nicht nur von namhaften Physiologen, Aerzten, Volks¬
wirten und Verwaltungsmännern, sondern auch von Lehrern, Gross¬
industriellen und Arbeitern, welche mitten in der Bewegung gegen den
Alkohol stehen, freundlich gefördert. Es sind uns auch über die Erfahrungen
verstorbener Mässigkeitsfreunde durch Familienangehörige wichtige au¬
thentische Mitteilungen zugegangen. Ganze Vereine haben bereits ihre
Mitwirkung in Aussicht gestellt und eine grössere Anzahl von Frage¬
bogen für ihre Mitglieder erbeten. Möge diese Untersuchung nicht nur
in Deutschland, sondern auch im Auslande eine günstige Aufnahme und
viele Mitarbeiter finden. Unsere Zeitschrift will von einem inter¬
nationalen, rein wissenschaftlichen Standpunkt aus nur die Wahrheit und
nichts als die Wahrheit inbetreff der Wirkungen des Alkohols ermitteln
und wird jede neue Beleuchtung der Alkoholfrage, sowie Winke und
Vorschläge zu besseren Forschungsmethoden aufrichtig willkommen
heissen.
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v Gck »glc
Original fro-m
UNIVERSITY OF CHICAGO
Nr. 1. Prof. Adolf Fick in Würzburg.
(Nach Mitteilungen seines Sohnes, des Herrn Prof. Rudolf Fick in Leipzig und seiner Tochter,
Frau E. Gudden in Piitzschen-Bonn.)
1. Adolf Fick.
2. geb. 3. Sept. 182c). f 21. August 1901.
3. Kassel.
4. weiland o. ö. Prof. d. Physiologie zu Würzburg.
5. Medizinisches Studium in Marburg und Berlin.
6. A. Fick war Mitglied des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke und
eines Enthaltsamkeitsvereins.
7. A. Fick trank früher abends 1 / 4 Liter Bier, mittags Wasser, auch in Gesellschaft
kaum mehr als 1 Glas Wein, war totalabstinent von 1889 bis zu seinem Tode.
8. »Nicht hygienische Gründe, sondern lediglich moralische'<, der Agitation und
des Beispiels wegen (s. Alkoholfrage von A. Fick, S. 9).
9. Keine.
10. A. Fick bemerkte weder in körperlicher noch in geistiger Hinsicht besondere
Folgen seiner Enthaltsamkeit, weil er eben schon vorher fast vollständig
abstinent gelebt hatte.
11. A. Fick wurde durch den Kampf gegen den Alkohol leider entschieden geschädigt.
Seine Stimmung litt darunter, da sich der Boden in Würzburg zu damaliger
Zeit als ganz besonders steril für seine Ideen erwies. A. Fick hat ja fast noch
gar keine Erfolge der Agitation erleben dürfen, sondern nur täglich Aerger und
das verbitternde Gefühl, Sisyphusarbeit zu leisten.
Anmerkung zu Frage 8: Zur Abstinenz kam A. Fick durch Bunges Schrift.
Die Schädlichkeit des Alkohols hatte er schon lange vor jener Schrift erkannt und
gelehrt, z. B. auch erwähnt in seinem Kompendium der Physiologie. 3. Aufl.
Braumüller. Wien 1882. S. 344, 352. Erbittert wurde er gegen den Alkohol
hauptsächlich durch die traurigen Erfahrungen der studentischen Exzesse in Würz¬
burg, mit denen er namentlich auch als Rektor der Universität 1879 mehr bekannt
wurde. Nachtwächterprügeleien mit schweren Verletzungen, Erschossenwerden des
Studenten der Medizin Sicken usw. zeigten ihm die schrecklichen Gefahren des
Kneipwesens bei den Studenten. Dazu kam die nähere Bekanntschaft mit den
englischen Universitätsverhältnissen und das Schamgefühl über den englischen Hohn
auf die deutsche Studenten-Sauferei. (1879 studierte sein Neffe Percy Frankland
aus London in Würzburg.)
Zu Frage 14 bemerkt die Tochter des Verstorbenen, Frau Elisabeth Gudden,
noch folgendes: Mein Vater war wohl der erste Physiologe, der die Giftigkeit des
Alkohols nachwies. Was ihn aber dazu bewog, in Wort .und Schrift für die Ent¬
haltsamkeit einzutreten, war nicht etwa die Ueberzeugung, dass es für jeden
Einzelnen eine Notwendigkeit sei, jeden Tropfen dieses Giftes zu meiden, sondern
es waren vorzugsweise moralische Gründe, die ihn zu einem Verfechter der
Abstinenzbewegung machten. So wie allein die konsequente Enthaltsamkeit bei
notorischen Trinkern die Heilung herbeiführen kann, so konnten auch, seiner
Meinung nach, nur durch das Beispiel der Abstinenz Strauchelnde vor dem Fall be¬
wahrt werden. — So sympathisch er den Bestrebungen der Mässigkeitsvereine
gegenüberstand, so versprach er sich von ihnen doch geringen Erfolg, da es un¬
möglich sei, Grenzen für die Mässigkeit festzulegen und individuell zu bestimmen,
was der Einzelne vertragen kann, ohne sich physich oder psychisch zu schaden.
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Original fro-m
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No. 2. Prof. Dr. v. Bunge in Basel.
1. Gustav von Bunge.
2. geh. i q. Jan. 1S44.
3. Dorpat in Livland (Russland).
4. Professor d. physiologischen Uliemie in Hasel.
5. Besuch der Universität Dorpat.
6. Mitglied des Alkoholgegnerbundes und des Guttemplerordens, Ehrenmitglied
des ersten Zeltes der Rehabiter auf deutschem Boden.
7. Hat niemals g e woh nheitsmiissig irgend welche alkoholische Getränke
genossen, 1877 —1886 fast abstinent. Seit 1886 geschworener Abstinent.
8. Die Erkenntnis, dass nur durch Enthaltsamkeitsvcreine das Alkoholelend bekämpft
werden kann.
q. Keine. 1 886 Dis heute.
10. Grössere Leistungfähigkeit, körperlich und geistig, grössere Genussfähigkeit.
11. a) Ledig.
b) Eine ganze Schar medizinischer Studenten zur Abstinenz bekehrt.
c) Weniger, aber bessere Freunde.
d) Am öffentlichen Leben niemals teilgenommen.
12. Nur während einiger Studentensemester ca. 1000 Mk. jährlich, sonst o.
13. Nichts.
14. Der Alkohol untergräbt die Gesundheit des Individuums und seiner Nach¬
kommen ; er macht das Leben hässlich, öde und langweilig, er führt zu all¬
gemeiner Gemütsverkrüppelung.
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Nr. 3. Dr. Aug. Forel in Chigny bei Morges.
1. Dr. Aug. Forel.
2. geb. i. September 1S48.
3. Morges, Kanton Waadt, Schweiz.
4. Dr. med. und Arzt (spezieller Irrenarzt).
5. Schule in Morges, Gymnasium in Lausanne, Universitäten in Zürich und Wien,
dann Assistent bei Gudden. Später Professor der Psychiatrie und Direktor der
Irrenanstalt zu Zürich. Ausserdem Zoologe (Myrmekologe). Seit 1898 in
Chigny bei Morges mit Privatarbeiten beschäftigt. (Dr. phil. und jur. hon. causa.)
6. Ja. Guttemplerorden, Alkoholgegnerbund, Verein abst. Aerzte, Verein abst. Lehrer,
ausserdem Ehrenmitglied der Helvetia, Verein abst. Studierender der Mittelschulen.
7. Totalenthaltsam seit Januar 1886, mit seiner Frau und seinen 6 Kindern. Nur
1888 wurde nach zwei Jahren Abstinenz ein experimenteller Versuch mit
Mässigkeit ein Monat lang (1 — 2 Glas Wein täglich) gemacht. Darauf wurde
von mir die Enthaltsamkeitsverpflichtung lebenslänglich genommen.
8. Anfangs, d. h. in der Vorbereitung, ihre Notwendigkeit für die Heilung der
meiner Behandlung unterstellten Alkoholiker. Nach 3 Monaten jedoch war mir
schon der eigene Vorteil und täglich wachsend die soziale Tragweite der Ab¬
stinenz klar, sodass ich bereits 1886 zum sozialen Abstinenten wurde.
9. Wie gesagt nur 1888, nach 2 Jahren, dieser einmonatliche Versuch aus experi¬
mentellen Kontrollgründen. Ich wollte den Einfluss von 1 oder 2 Glas Wein
täglich nach zweijähriger Abstinenz auf mich selbst feststellen.
10. Vortreffliche. Ich verlor meine früheren Magenkrämpfe, die Harnsäure-Krystalle
des Urins, meine Migränen und sah meine Arbeitskraft geistig und körperlich
verdoppelt und meine Lebensfreude wesentlich vermehrt. Ich war viel gleich-
mässiger und ausdauernder in allen Leistungen.
11. a) Brillante. Sechs geistig wie körperlich sich gesund entwickelnde Kinder,
die alle, von Geburt aus abstinent, lebensfroh, sowie sehr leistungsfällig sind,
und einfach das Verhalten der alkoholtrinkenden Menschen nicht begreifen
können. Mein ältester Sohn hat in Haubinda den Germania-Abstinenten-Bund
deutscher Schüler ins Leben gerufen.
b) Früher hatte ich nie einen Trinker heilen können. Seit 1886 habe ich
Hunderte und sogar an die Tausende direkt und indirekt geheilt; ausserdem
hat mir die Abstinenz als Hülfsmittel bei der Behandlung der Geistes- und
Nervenkranken, sogar vieler anderen Kranken, enorme Dienste geleistet.
c) Sie hat mich von schlechten und einfältigen Freunden getrennt, mir die guten
erhalten und sehr viele vortreffliche neue Freunde gegeben.
d) Sie hat mir viele Feinde und Schikanen, auch Spott, besonders am Anfang einge¬
tragen. Doch hat mich dieses nie geniert. Sie hat für mich eine reine, mir
sehr angenehme Scheidung zwischen den sozial guten und aufbauenden und
den sozial schlechten Menschen oder auch im Vorurteil steckenden Elementen
bewirkt. Ich habe mich resolut den ersteren angeschlossen und von den
letzteren getrennt. Auch vom Pessimismus hat mich die Abstinenz endgültig
losgerissen.
12. Das kann ich nicht angeben, da ich nie darüber Buch geführt habe. Ich hatte
keine Zeit dazu.
13. Selbstverständlich nichts. Als Guttempler habe ich seit 1892 keinen Tropfen
Alkohol gekauft, verkauft oder dargereicht, und war an keinem Alkoholgeschäft
weder direkt noch indirekt beteiligt.
14. Zu viele um hier darauf einzugehen. Sie sind aber in meinen Schriften enthalten.
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Original fro-m
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«
ist
Nr. 4. Prof. Justus Gaule in Zürich.
1. Justus Gaule.
2. geb. 4. November 184 g.
3. Darmstadt, I )eutsrblaiid.
4. o. Professor a. d. Universität in Zürich.
5. Zuerst Kaufmann, dann Privatdozent und Professor.
6. Zum Alkoholgegnerbund.
7. Ich bin seit 20 Jahren enthaltsam.
8. Mein Freund Bunge veranlasste mich, eine Probe mit der Knthaltsamkeit zu
machen.
c). Keine.
10. Meine Arbeitskraft stieg, mein körperliches Befinden wurde besser und die
Empfindung von Lust gleichmassiger.
11. Meine Familie ist gesund und glücklich, in meinem Beruf und meinen gesell¬
schaftlichen Beziehungen verursachte die Enthaltsamkeit keine Störungen. Am
öffentlichen Leben nehme ich nicht teil.
12. Fine genaue Antwort vermag ich aus Mangel an Aufzeichnungen nicht zu geben.
13. Jetzt gebe ich nichts aus.
14. ln Beantwortung von 14 möchte ich nur mitteilen, dass das Leben in der
Familie durch die Enthaltsamkeit entschieden gewinnt. Das Wirtshaus trennt
nicht mehr den Mann von der Frau, den Vater von den Kindern. Hier in
Zürich, wo sich die Enthaltsamkeit rasch ausgebreitet hat, ist die Geselligkeit
innerhalb der Familien, die daran teil nehmen, grösser geworden, als sie früher
war. Sie erstreckt sich nun auf die ganzen Familien, nicht bloss auf einzelne
Glieder derselben, und das mit derselben verbundene Glücksgefühl ist ent¬
schieden grösser geworden.
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Original fro-m
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182
*
Nr. 5. Professor Dr. med. Rudolf Fick in Leipzig.
1. I)r. med. Rudolf Fick.
2. 24. Februar iSOfi.
4. Zürich.
4. a. o. Prof, der Anatomie in Leipzig.
5. Mediz. Studium in Würzburg, Marburg, Zürich, Erlangen.
6. Zum 1). Ver. g. d. Missbr. geist. Getr.
7. Kaum geändert, da stets nur sehr wenig konsumiert. Mittags Wasser, abends
ca. l / 4 Liter Bier.
10. Wenn ich bei Tisch (in Gesellschaft etc.) ausnahmsweise Alkohol trinke, habe ich
stets nachher das Gefühl der Müdigkeit und geistiger Trägheit. — Durch die
Mässigkeit auch bei Kommersen, Festen etc. habe ich es erreicht, dass mir
solche Feste immer »gut bekommen« und dass ich niemals in meinem Leben
sog. »Katzenjammer« gehabt habe.
14. Die Alkoholgefahr muss meiner Meinung nach immer noch mehr erörtert werden;
namentlich müssen die Zeitungen beeinflusst werden. »Limonadenseelen« etc.
dürfen nicht mehr verächtlich gemacht werden. Die Agitation gegen den
Komment muss vor allem verbreitet werden, denn der Komment infiziert
ja alle Kreise, nicht nur die akademischen. Alles trinkt sich »vor«,
»Blume« usw. Likör nach Diners müssen verpönt werden! Ebenso muss das
Zureden zum Trinken bei Gästen abgeschafft und der Trink zwang gebrochen
werden. Deshalb ist jeder Abstinent von jedem wirklichen Mässigkeitsfreund
von Herzen zu begrüssen, denn er bricht den Zwang wirklich!
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Nr. 6. Direktor Dr. jur. Friedrich Fick in Mannheim.
1. Friedrich Fick.
2. geb. <). Juli i «S63.
3. Zürich.
4. Kaufmann.
5. Humanistisches Gymnasium und Universität. Ich war nach dem Abschluss
meiner rechtswissenschaftlichen Studien 6 Jahre Kaufmann in England und 7 Jahre
in Australien, seit 1897 Direktor einer Elektrizitätsgesellschaft in Mannheim.
6. Nein.
7. Seit dem 21. Jahre fast durchaus mässig oder enthaltsam gewesen.
«8. Beispiel des Vaters (weil. Prof. Adolf Fick in Wiirzburg) und feste Ueberzeugung
von der enormen Schädlichkeit des Alkoholgenusses.
9. 11. 10. Die nur für einige Monate durchgeführte Enthaltsamkeit hatte keine bemerk-
lichen Folgen, was daran liegen mag, dass die Enthaltsamkeit gegenüber der
Mässigkeit sich mehr moralisch als in der physikalischen Wirkung unterscheidet.
14. Der bei uns in Deutschland auch in den wohlhabenderen — ich sage absicht¬
lich nicht: besseren Kreisen — herrschende Trinkzwang und die albernen
Trinksitten, unter die sich der freie Deutsche auch nach Erreichung des
Schwabenalters beugt, flössen mir den grössten Widerwillen ein, wenn ich leider
auch nicht selbst Abstinent bin. In der Theorie halte auch ich die Abstinenz
für das richtige, nicht wegen des Wohls des Einzelnen, aber wegen des Gemein¬
wohles. Aber der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach, und für einen
Kaufmann, der viel zu reisen und mit vielen Kunden zu verkehren hat, ist die
Abstinenz schwer durchführbar, die Mässigkeit dagegen wohl.
Ueber meines Vaters Stellung in der Abstinenzfrage könnte ich kaum etwas
besonderes mitteilen, als dass ihn rein ideale Gründe zu ihr führten; er war
immer so ausserordentlich mässig gewesen, dass er aus Rücksichtnahme auf die
eigene Gesundheit den Schritt zur Enthaltsamkeit nie hätte zu tun brauchen;
sein Ziel, war ein Beispiel zu geben.
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Nr. 7. Dr. med. Adolf Fick in Zürich.
1. Adolf Fick.
2. geb. 22. Hornung t 852 .
3. Marburg, Pr.-Hessen-Nassau.
4. Augenarzt in Zürich.
5. Gymnasium, Universität.
6. Ja, zum internationalen Alkoholgegnerbund; zum Vereine der abstinenten Aerzte
des deutschen Sprachgebietes; zum Vereine der schweizerischen abstinenten Lehrer.
7. Enthaltsam seit 1. November 1890.
8. Ein Herzcollaps bei angestrengtem Steigen auf einer Fusstour, den ich als
Zeichen von beginnendem Fettherz auffasste. Oeffentlich bekannt habe ich
mich als Abstinent infolge eines Festes, das anfangs der 90er Jahre von der
Stadt Berlin einer internationalen Aerzteversammlung gegeben wurde und bei
dem die Blüte der europäischen Aerzte den Trinksitten wahrhaft erschreckende
Opfer dargebracht hat.
(). Keine.
10. a) Dass ich 2 Jahre später die gleiche Fusstour ohne die geringste Beschwerde
ausführen konnte.
b) Keine.
c) Keine.
11. a) Meine Familie folgt meinem Beispiele; die Dienstboten nicht.
b) Keine.
c) Hier und da erfuhr ich Anfeindungen, aber umgekehrt gewann ich auch
Freunde durch die Abstinenz.
12. Vielleicht 300—500 Mk. im Jahr.
1 3. Keinen Heller für mich und Familie; für Wäscherin und Dienstboten vielleicht 40 Mk.
14. Dass ich mich jetzt, mit 52 Jahren voller Frische und Rüstigkeit erfreue und
körperlich leistungsfähiger bin als im Sommer 1890, das danke ich ohne Zweifel
der Abstinenz. Die blosse Fortsetzung meines früheren mässigen Alkoholgenusses
hätte mich vermutlich längst durch Vermittelung eines Fettherzes siech gemacht
oder gar um das Leben gebracht.
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185
Nr. 8. Prof. Dr. Anton Weichselbaum in Wien.
1. Anton Weichselbaum.
2. geb. 8. Februar 1845.
3. Schiltern, Niederösterreich.
4. o r ö. Professor der pathologischen Anatomie a. d. Universität Wien.
5. Gymnasium und medizinische Studien.
6. Mitglied des »Oesterreichischen Vereins zur Bekämpfung der Trunksucht*.
7. Ist seit 2 Jahren Abstinent.
8. Die Ueberzeugung, dass auch geringe Mengen Alkohol nicht mit Sicherheit als
unschädlich gelten können und dass der Arzt mit gutem Beispiele vorangehen soll.
q. Keine.
10. Durchwegs gute Folgen.
11. Als pathologischer Anatom kann ich tagtäglich die schädlichen Wirkungen des
Alkoholgenusses demonstrieren.
12. «So— too Mark pro Jahr.
13. Nichts.
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Nr. 9. Dr. med. Clemens Gudden in Pützchen-Bonn.
1. Clemens Gudden.
2. geh. 8. Oktober i86t.
3. Werneck, Bayern.
4. Arzt. Besitzer einer Nervenheilanstalt.
5. Der gewöhnliche Bildungsgang (humanist. Gymnasium, Universitätsstudium in
Würzburg und München, Assistentenzeit in der Münchner Irrenanstalt).
6. Ja. V. g. M. g. G.
7. Ja, vor 7 Jahren für *'2 Jahr vollständig abstinent, dann wiederholt 3—4 Monate.
8. Vor 7 Jahren eines wissenschaftlichen Versuchs wegen. —- Später wegen des
mit der Abstinenz verbundenen Wohlbehagens.
10. Sehr viel besseres allgemeines Wohlbefinden, grössere Arbeitskraft, friedlicher
Charakter, geringe Reizbarkeit, grössere Ruhe.
11. a) Für das Familienleben nur erfreuliche.
b) do.
c) Ganz ohne Störung.
(F do.
12. u. 13. Lässt sich nicht in Mark angeben, da ich nichts notiert habe; aber jedenfalls
habe ich früher ein Vielfaches von dem jetzigen Verbrauch ausgegeben, da ich
jetzt durchschnittlich kaum V2 Liter Bier abends trinke oder 1 Glas Wein.
Am Tage trinke ich nie Alkohol.
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1
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Nr. 10. Maler Rudolf Gudden in Frankfurt a. M.
1. Rudolf Gudden.
2. geb. 21. August 1863.
3. Werneck in Bayern.
4. Maler.
5. Gymnasialstudium — Akademie der bildenden Künste.
6. Nein.
7. Hat die Enthaltsamkeit versucht und ist seit n Jahren Abstinent.
8. Arbeitsunlust.
9. Keine.
10. a) Gefühl der Freude und Lust zu körperlichen Uebungen.
4
b) Doppelte und dreifache Arbeitsfähigkeit.
11. a) Erhielt das Zeugnis des weniger Gereiztseins.
b) Grössere Erfolge im Berufe.
c) Erntete teils Spott, teils Anerkennung und fand seitens der Berufskollegen
mehrere Nachahmer.
12. Gab selbst wenig dafür aus, trank aber viel und oft in Gesellschaften.
13. Keine.
Die Alkoholfrage. R)
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188
Nr. 11. Dr. med. Legrain in Paris.
1. Legrain.
2. geh. 2 0. März tS6o.
3. Paris.
4. Docteur en Medecine.
5. Medecin des Asiles d’Alienes de la Seine.
6. Alkoholgegnerbund — 1 . O. G. T. — Internationaler Verein der abstinenten
Aerzte.
7. Ich lebe enthaltsam seit 11 Jahren.
S. 1. Einfluss Dr. Forel’s und Miss Gray's; 2. es war notwendig, um die Trinker
zu retten und zu behandeln; 3. es ist eine soziale Pflicht; 4. eine tiefere Kenntnis
der Alkoholfrage und überhaupt der Geschichte der Antialkoholbewegung.
9. Niemals; das wäre eine Willensschwäche.
10. a) Merkwürdig! Ich habe vor kurzem an schwerem Typhus gelitten und
verdanke gewiss meine Heilung der Enthaltsamkeit.
b) Bin widerstandsfähiger gegen die Gehirnermüdung als früher.
c) Ueberhaupt habe ich eine grössere Freude am Volks- und Familienwohl.
Ti. Ich habe erfahren, dass die Praxis der Enthaltsamkeit jedenfalls für die wirklich
überzeugten Leute leicht ist und dass das Beispiel das nützlichste Kampfmittel ist.
12. Sehr wenig; denn bevor ich Teetotaler war, war ich schon massig.
13. Nichts; es gibt gar keinen Tropfen Wein in meinem Keller.
14. Sehr Viele! Leider aber habe ich keine Zeit zu beschreiben. Jedenfalls bin
ich überzeugt, dass die Total-Abstinenz das einzige Mittel ist, den individuellen
und sozialen Alkoholismus zu beseitigen.
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Original frnm
UNIVERSITY OF CHICAGO
189
Nr. 12. Madame Legrain in Paris.
1. Madame Legrain.
2. geh. 1X63.
3. Paris.
4 . —
5 - —
6. Mad. Legrain hat die »Union frangaise des femmes pour la Temperance« gegründet
und ist seit 10 Jahren Teetotaler. Die »Union fangaise« hat ungefähr 3 Jahre lang
bestanden und hat sich dann aus Mangel an abstinenten Frauen aufgelöst. Die
französischen Frauen haben den Nutzen der Abstinenz noch nicht genügend
erkannt. Mad. Legrain ist jetzt mit einigen abstinenten Frauen mit einer
Patronage für ältere Trinker und ihre Familien beschäftigt.
X. Dieselben wie bei dem Dr. Legrain (Vgl. den vorstehenden Fragebogen).
(). Niemals.
jo. Die Enthaltsamkeit bewirkte einen dauernden Zustand jugendlicher Frische, eine
Befähigung zu längerer geistiger Arbeit und eine Befestigung des Willens.
14. Mad. Legrain hat beobachtet, dass die französische Frau nicht abstinent ist,
weil sie durch ihre Erziehung nicht angeleitet worden ist, zu Gunsten des
öffentlichen Wohles die Initiative zu ergreifen. Sie hat ferner beobachtet, dass
die Frau sehr oft an dem Alkoholismus des Mannes mit die Schuld trägt.
Vielleicht wird es ein Mittel, um die Abstinenz zu erobern, an dem Tage
geben, wo die französische Frau ihre Verantwortlichkeit begriffen hat, denn sie
hat Herz und ist frei von Egoismus!
13 *
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Original from
UN1VERSITY OF CHICAGO
190
Nr. 13. Dr. med. A. Stegmann in Dresden.
1. A. Stegmann.
2. geh. 23. August 1X72.
3. Gerstlingen, Sachsen-Wehnar-Kisenach.
4. Arzt.
5. Gymnasium Eisenach, Universität Bonn, Leipzig, Berlin, Assistent Psych. Klinik
in Jena, Stadt-Irren- und Siechenhaus Dresden.
6. Bez.-Ver. g. d. Missbr. g. G. z. Dresden.
7. Alkoholverbrauch eingeschränkt auf 2 mal wöchentlich wenig Bier, gelegentlich
Wein etwa seit 1900; enthaltsam seit Ostern 1903.
8. Erfahrungen in der Trinkerbehandlung; Wunsch, die Trinksitten zu bekämpfen.
9. Einmal 0,3 Liter Bier bei einer Festlichkeit.
10. a) Abgesehen von auffälligem Rückgang des Verbrauchs an Flüssigkeiten (Mangel
an Durstgefühl) keine körperliche Veränderung bemerkt.
b) Nichts auffälliges bemerkt.
c) Ich habe stets Freude am Leben gehabt und fühle darin keinerlei Veränderung.
it. a) Im Elternhaus wurden alkoholische Getränke nur ausnahmsweise verbraucht
und Kindern nie gegeben.
b) Als Arzt finde ich fast nie Ursache, Alkohol zu verordnen, beobachtete sehr
oft die verderbliche Wirkung auch geringer Mengen alkoholischer Getränke auf
widerstandsunfähige Menschen und den Zwang der Trinksitten; daher bin ich
enthaltsam geworden.
12. Nicht genau zu ermitteln, niemals erhebliche Beträge, in den letzten Jahren
vielleicht wöchentlich 0,60 bis 0,90 Mk.
14. Von dem Versuch, mässig in dem Sinne zu leben, dass ich nicht täglich und
nicht mehr als 30 cbcm Alkohol tränke, kam ich deshalb zur Pmthaltsamkeit.
weil mir die Durchführung des Prinzips der Mässigkeit zu schwer war und ich
zu oft über das gesetzte Mass hinaus gehen musste, wenn ich mich den Trink¬
sitten fügen wollte.
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191
Nr. 14. Dr. med. Eduard Hirt in München.
1. Eduard Hirt.
2. geh. 24. Mürz 1 S 7 5.
%
3. München, Bayern.
4. Arzt.
5. Volksschule, hum. Gymnasium, Universität.
(>. J. V. g. d. Misshr. g. G. u. Verein al ist in. Aerzte.
7. Abstinent etwa von 1891 — 1S94 und seit 1. Januar 1902.
8. Die l Überzeugung, dass nur durch persönliches Beispiel Erfolge erzielt werden.
9. Siehe unter 7
10. aj Keine.
1 )) Grössere Regelmassigkeit,
c) Keine.
11. Hin Onkel war Trinker, eine Schwester hat vorübergehend Alkohol gegen nervöse
Erschöpfung gebraucht!!
12. Durchsc hnittlich 1 Mk., ab und zu 3 — 5 Mk. täglich.
13. Nichts.
14. Yergl. meine Schrift Ueber den Einfluss des Alkohols auf das Nerven- u. Seelen¬
leben.« Wiesbaden. J. F. Bergmann. 1904.
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UN 1 VERSITY OF CHICAGO
192
Nr. 15. Dr. med. Benno Kantorowicz in Hannover.
1. Benno Kantorowicz.
2. geb. i. August i«S6i.
3. Posen, Preussen.
4. Arzt, Dr. med.
5. Gymnasium, Universität.
6. (iuttemplerorden.
7. Völlig abstinent seit 1899.
S. Im Interesse der Bekämpfung der Trinksitten.
9. Keine.
10. Da ich schon vorher sehr wenig trank, als Student z. B. nur ein Glas Bier
abends, so waren besondere Folgen der Enthaltsamkeit bei mir nicht zu kon¬
statieren, jedenfalls keine schlechten.
ii. a) Meine Frau geniesst nur selten Alkohol, mein Sohn gar nicht.
b) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Arzt häufig Schuld am Alkoholismus
Anderer ist.
c) Meine Freunde haben sich allmählich daran gewöhnt, bei mir nichts Alko¬
holisches zu erhalten. — Der Abstinent erregt, auch ohne ein Wort zu reden,
eine eifrige Diskussion über die Alkoholfrage.
13. Nichts.
14. Durch das Beispiel der Abstinenz bewirkt man auch bei Freunden und Bekannten
eine grössere Zurückhaltung alkoholischen Getränken gegenüber und eine gegen
früher wesentlich andere Beurteilung der Trinksitten.
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UN 1 VERSITY OF CHICAGO
193
Nr. 16. Dr. med. Julian Marcuse in Mannheim.
1. Julian Marcuse.
2. geh. i. August 1862.
3. Posen (Preussen).
4. Arzt.
5. Studium.
6. Nein.
7. Einschränkung des Alkoholgenusses bis aufs Aeusserste.
8. Ueberzeugung von der Schädlichkeit desselben.
9. Ich trinke im llause nie, ausserhalb des Hauses nur in grossen Zwischenräumen,
die oft Monate dauern.
10. Ausserordentlich günstige hinsichtlich körperlicher und geistiger Frische.
11. a) Wird kein Alkohol getrunken.
b) Nur gute, wo Einschränkung stattfand.
12. Vielleicht im Jahr 20—30 Mk.
13. Vielleicht im Jahr 5—10 Mk.
14. Nur diejenigen, über die auch alle sonstigen Beobachter verfügen: Segensreicher
Einfluss der Mässigkeit, bezw. Enthaltsamkeit.
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Nr. 17. Pastor Christian Stubbe in Kiel.
m
1. Christian Stubbe.
2 . geh. 28. Oktober 1862.
3. Bokel, Schleswig-Holstein.
4. Pastor.
5. Volksschule, Gymnasium, Universität.
6. D. Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke.
7. Seit 20. Mai 1901 enthaltsam.
8. Die Beobachtung, wie mehrere Menschen zu Grunde gingen, denen bei recht¬
zeitiger Enthaltsamkeit derselben vielleicht zu helfen gewesen wäre — und der
Wunsch, durch persönliches Beispiel etwaiger Mahnung und Belehrung grösseren
Nachdruck verleihen zu können.
9. Keine.
10. Da ich schon Jahre lang vorher sehr massig war, habe ich eine besondere Ver¬
änderung nicht beobachten können. Höchstens kann ich sagen, dass ich früher
wohl (schon nach dem Genüsse von 1 oder 2 Glas Bier oder Wein) gelegentlich
eine leichte Benommenheit spürte, die im Laufe des nächsten Vormittags über¬
wunden werden musste — dergl. fällt jetzt fort — Vielleicht darf ich (selbst
Nichtraucher) auch sagen, dass ich empfindlicher gegen Tabaksqualm und Wirts¬
hausluft geworden bin.
11. Ich habe nur günstige Erfahrungen gemacht. Den Verzicht auf die Alkoholika
habe ich nie als Entbehrung empfunden. — In pastoraler Wirksamkeit und in
unserer Vereinsarbeit gegen den Missbrauch geistiger Getränke ist das Wort
gegenüber den bekannten nichtigen Einreden freier und kräftiger geworden; in
Gesellschaften wirkt das Beispiel der Enthaltsamkeit für viele erlösend — es
wird bald auch von anderen, namentlich Frauen Selters und dergl. erbeten und
an Spirituosen weniger getrunken — auch natürlich leicht über die Alkoholfrage
disputiert.
12 —13. Ich glaube nicht, dass das Ausgabenverhältnis (jetzt für alkoholfreie, früher
für alkoholische Getränke) sich verschoben hat.
14. Gegenüber dem Schlagwort, dass die sogenannten Mässigen die grössten Gegner
der Enthaltsamen seien, kann ich nicht nur betonen, dass unser Kieler Verein
gegen den Missbrauch geistiger Getränke stets die Enthaltsamkeitsbewegung
hoch geschätzt (und doch für sich noch reichlich besondere Arbeit gefunden)
hat, sondern auch, dass für mich und manchen meiner Bekannten Mässigkeit
(d. h. in diesem Falle auch die wesentlich durch den V. g. M. g. G. vermittelte
genauere Bekanntschaft mit der Alkoholfrage) zur Enthaltsamkeit geführt hat.
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195
Nr. 18. Frau Elsbeth Krukenberg geb. Conze in Kreuznach.
1. Klsbeth Krukenberg geb. Conze.
2. geb. 5. Februar 1X67.
3. Halle a. S., Prcusscn
4. Vorsitzende des rhcin.-wcstf. Frauenbundes. Vorstandsmitglied des Allg. Deutschen
Frauen Vereins.
6. Nein.
7. Erst eingeschränkt, dadurch allmählich Freude am Alkohol-Genuss verloren, jetzt
meistens enthaltsam.
8. Die Schriften über die Alkoholfrage brachten mich zum Nachdenken, ich fühlte
mich verpflichtet, zu versuchen, wie weit ich selbst Alkohol entbehren könne,
wie ich mich dabei befände.
0. Am Rhein trinke ich gern einen guten Tropfen, bei sehr lang andauernden
Versammlungen oder dergl. ungewöhnlichen Anspannungen auch Sekt als be¬
lebende Arznei.
10. Gute, aber auch vorher war ich gesund und durchaus leistungsfähig.
11. a) Nach Ueberwindung der Trink g e w o h n h e i t, die zuerst Unbehagen hervor¬
ruft, fühlen sich die Angestellten ohne alkoholische Getränke sehr wohl,
(’s. auch Nr. 14 .)
o Lassen sich, wenn man nicht schroff auftritt, häutig für die Alkohol-Sache
gewinnen. Unwissenheit über die Folgen lässt viele gedankenlos trinken.
14. Gute, alkoholfreie Getränke zu schaffen, scheint mir wesentlich. Der
Deutsche leert eben gern sein Glas, trinkt anderen zu u. dergl. Wasser, Zitronen¬
limonade erfreuen nicht, wie Wein das Auge, was wesentlich die Stimmung
erhöht. Pomril, Cider schmecken m. E. nach faulen Aepfeln, Traubennektar ist zu
aufdringlich im Geschmack. Wir alle, auch meine Söhne, 16, 15, 9 Jahre alt,
trinken mit Freude Apfelnektar (Firma Bechtel, Bad Kreuznach, Nahe). Schöne
Farbe, erfrischender Geschmack, keine Kohlensäure. Ersatzgetränkc
sind Kindern zu geben, da sonst die Gier nach etwas anderem als Wasser sic
zu alkoh. Getränken verführt. G ar n i c h t trinken missfällt ihnen, giftfrei
trinken leuchtet ihnen ein, besonders da alkoholfreie Getränke ihrem noch
nicht an Bier und Wein gewöhnten Geschmack entsprechen.
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196
Nr. 19. Dr. med. Georg Bonne in Klein-Flottbeck (Holstein).
1. Georg Bonne.
2 . geh. 12. August 1850.
3. Hamburg.
4. Arzt.
5. Gymnasium, Universität Leipzig, Marburg, Göttingen, Würzburg.
6. Seit 1887 zum deutschen Mässigkeitsverein. Seit 1897 Neujahr zum intern.
Guttemplerorden.
7. Den im allgemeinen stets mässigen Genuss immer mehr eingeschränkt. 1896
zum 1. Mal 14 Tage abstinent, in dieser Zeit besonders fidel Und frisch gefühlt.
Darauf schmeckte leichter Landwein wie Sprit.
8. Viel Arbeit und Anstrengung, welche alle Kraft erforderte, riet zur Abstinenz, mein
Freund, Professor A. Fick in Würzburg, der inzwischen bereits abstinent geworden
war, riet zum gründlichen Studium der Alkoholfrage. So kam mir die Erkenntnis
vor allen Dingen von den grenzenlos grossen Summen menschlichen Elends,
welches durch die Trinksitte hervorgerufen wird. Und diese Erkenntnis war
ausschlaggebend.
9. 1897 April bis Juli auf dringendes Verlangen meiner Aerzte während schwerster
Blutvergiftung täglich Wein, den ich selbst aber sehr bald als rein symptomatisches
Mittel erkannte, welches in Wirklichkeit eher den Rekonvaleszenten erschlaffte,
als dass es ihn wirklich stärkte.
10. In steigender Linie widerstandsfähig gegen Witterung und Anstrengung.
a) Ich bin durch meine 7 jährige Abstinenz als Mann von 45 Jahren so rüstig
geworden, dass ich meine Pferde und Wagen verkauft habe und meine Praxis,
die grösser ist als je, spielend per Fahrrad (nicht Motor) erledige.
b) In steigender Weise rezeptiv und produktiv tätig.
c) Fidel wie noch nie.
11. a) Mein Haus wurde sofort mit mir abstinent. (Familie und Dienstboten, inkl.
Kutscher).
b) Meine gesamte Klientel (selbst die 300 Brauer!) entweder seitdem in steigendem
Masse mässig, vielfach durch mein Beispiel, ohne viel Reden, auch abstinent.
c) Unverändert. Auf Kommersen unter Umständen sehr fidel mit Sauerbrunnen.
d) Die Abstinenz hat mich in meinen gesellschaftlichen Beziehungen noch nie
auch nur im geringsten gestört. Ich mache alles mit, bin Gemeindebeamter,
Reserveoffizier, nehme an vielen Kongressen teil, reise viel. Die Abstinenz
hat mich noch nie geniert.
12. ca. 200 Mk. pro Jahr und mehr (inkl. Hausgebrauch, bei Gesellschaften etc.)
13. Seit Beginn 1897 nichts mehr (ausgenommen die Zeit der Krankheit 1897).
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Original from
UNIVERSITY OF CHICAGO j
i4- Selbst in grossen Festdiners von ioo—250 Personen, auf denen ich oft nur
als einziger Abstinent war, wirkte mein abstinentes Beispiel derart, dass sich auf
den betreffenden, alljährlich wiederkehrenden Festen, an denen früher scharf
getrunken wurde, keiner mehr betrank. Diejenigen aber, die ich mit Gottes
Hilfe durch mein Beispiel und mein Wort von der Trunksucht gerettet habe, wurden
meist lebhafte Förderer der Bekämpfung der Trinksitten, retteten viele Andere,
gründeten neue Guttemplerlogen und wurden so ein Segen in ihren Gemeinden.
So fing ich 1897 mit 3 frisch geretteten Mitgliedern in meiner Gemeinde an,
rettete dann je 1 Alkoholisten aus drei Nachbargemeinden: in der einen besteht
jetzt 1 Loge mit 70 Mitgliedern, in der 2. Gemeinde 1 Loge mit 30 Mitgliedern
(in dieser Gemeinde, in welcher sich vor 10 Jahren noch die Hälfte der Hof¬
besitzer durch den Trunk ruinierten, haben jetzt die Wirte schwere Existenz,
in der 3. Gemeinde 2 Logen mit je 40—50 Mitgliedern. Das Gedeihen dieser
Logen ist wesentlich das Werk der Betreffenden selbst. In kaum 7 Jahren hat
aller Spott und Hohn auf die Guttempler und Abstinenten völlig aufgehört,
höchstens wagt noch einmal ein »akademisch Gebildeter« einen Witz zu reissen
über die Abstinenz, über den aber kaum jemand noch recht lacht, weil die
meisten Menschen zu den »Vernünftigen« gerechnet zu werden wünschen und
die »Vernünftigen« den ungeheuren Nutzen und Segen für den Einzelnen, wie
für die Gesamtheit jeden Tag vor Augen haben und erkennen. Am schwersten
für die Enthaltsamkeit zu gewinnen sind die »akademisch Gebildeten«, weil diese
am meisten im Suggestionsbann der Trinksitten von der Universität her stehen,
und unter diesen der Reihenfolge nach am schwersten: die Lehrer, dann die
Geistlichen, die Aerzte, am ehesten zu gewinnen sind noch die Juristen. Letztere
wohl deswegen am ehesten, weil sie am meisten gewohnt sind, objektiv und
logisch zu denken.
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Original ffom
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198
Nr. 20. Dr. Stille in Leipzig.
1. Werner Adolph Stille in Leipzig.
2 . geh. am 28. Mai 1836.
3. Dorf Steinau, im Lande Madeln, Hannover.
4. Der Befragte ist jetzt Privatmann und war in Amerika meist als Lehrer, auch
als Kaufmann und als Notar tätig.
5. Der Befragte wurde als Knabe von seinem Vater (der Pastor war) unterrichtet,
und mit 15 Jahren auf ein Landgut geschickt als »Oekonomie - Eleve«. Mit
18 Jahren nach Amerika ausgewandert, mit 25 Jahren nach Deutschland zurück,
um hier zu studieren. Dies geschah in Göttingen, wo er Mathematik, Physik,
Chemie etc. trieb. Nach vier Jahren zurück nach Amerika.
6. Der Befragte ist Mitglied des Guttempler-Ordens seit Juni 1901.
7. Der Befragte hat von je her (auch als Student) nur selten und nur bei ausser¬
ordentlichen Veranlassungen alkoholische Getränke genossen. Die letzten 10 Jahre
in Amerika (bis 1900) etwa alle drei Wochen ein Glas Wein, wenn er bei
einem Freunde zu Mittag ass. %
8. Der Entschluss der Enthaltsamkeit wurde veranlasst durch den lebhaften Wunsch,
durch Beispiel sowohl wie durch Wort und Schrift mitzuarbeiten im Kampf gegen
das Alkoholelend, dessen erschreckende Grösse mir entgegentrat bei meiner
Zurückkunft nach Deutschland (1900). (Siehe allgemeine Anmerk, unter Frage 14.)
9. Unterbrechungen der Enthaltsamkeit haben nicht stattgefunden.
10. Der Uebergang zur Enthaltsamkeit hatte für mich keine weiteren Folgen, weil
ich zeitlebens nur selten und nur bei aussergewöhnlichen Veranlassungen be¬
rauschende Getränke genossen hatte.
11. Vor meiner Enthaltsamkeit hatte ich die Erfahrung gemacht, dass schon ein
Glas Bier mich unfähig machte zu mathematischen Arbeiten.
Zu 12—14 siehe folgenden allgemeinen Bericht.
Allgemeine Bemerkungen zu 12 — 14.
Die schädlichen Folgen des gewohnheitsmässigen Biertrinkens dürften nirgends
schroffer hervortreten als in den Vereinigten Staaten von Amerika, weil sich dort
ein Massenmaterial zur Vergleichung findet, wie es sonstwo kaum Vorkommen dürfte,
nämlich einmal die fast durchgängig abstinenten Anglo-Amerikaner, und andererseits
die Deutschen, die fast ausnahmslos dem täglichen Biergenuss sich hingeben. Trotz
dieser günstigen Gelegenheit zu Vergleichen kennen die Deutschen in Amerika bis
auf den heutigen Tag nicht die richtige Erklärung gewisser bedenklicher Erschei¬
nungen. Unter diesen nenne ich zuerst die auffallende Tatsache (die mir in den
70er und 80er Jahren immer ein Problem blieb), dass unter unsern Deutschen eine
viel grössere Sterblichkeit in den Jahren der rüstigen Arbeit stattfand, als unter den
Anglo-Amerikanern. Die deutschen Kaufleute und Fabrikanten und Handwerker
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199
starben in auffallend grosser Zahl kurz vor oder bald nach dem 50. Lebensjahre
und es fehlte unter ihnen an jenen rüstigen, geistig rührigen Greisen über 70, die
unter Anglo-Amerikanern so häufig Vorkommen. Zweitens die Erscheinung, dass
die Deutschen in Amerika für geistige Dine:e, tür Kultur, Wissenschaft, öffentliche
Angelegenheiten weit weniger Interesse bekunden, als die Anglo-Amerikaner. Die
Stadt St. Louis z. B. die in den 80er Jahren weit über 100000 Deutsche zählte,
hatte keine einzige deutsche Buchhandlung, die diesen Namen verdiente. Wohl waren
Schiller und Goethe und Heine zu haben, aber gekauft wurden auch diese Schriften
kaum anders als zu Weihnachts- und Geburtstags - Geschenken; aber ob sie auch
gelesen wurden ? Und von wissenschaftlichen deutschen Büchern kam kaum etwas
nach St. Louis ausser einigen medizinischen Büchern für dortige deutsche Aerzte.
Ganz offen zu Tage liegt der Einfluss des Biertrinkens als störendes Element
bei allen möglichen Vereinigungen der Deutschen in Amerika. Jeder Klub, jeder
Verein, sei es für Kegeln oder Gesang, für Turnen, Scheibenschiessen, Theaterspiel,
einerlei, binnen kurzem ist er ein Bierklub. Wie mancher Turnverein beschloss beim
»schäumenden Nass« fernerhin auch das »geistige Turnen« zu pflegen; und es wurden
Anläufe zur Beschaffung von Bibliotheken und Lesezimmern gemacht, aber die Lese¬
säle standen bald leer und die Biersäle waren voll.
Dass alle Bestrebungen unter den Deutschen in Amerika im Bier ersäuft
werden, ist ganz offenbar, denn die gleiche Erscheinung wiederholt sich in allen
Städten. An öffentlichen Angelegenheiten nimmt der Deutsche wenig Anteil; nur
wenn etwas gegen das Bier geschieht, dann erhebt er sich in seinem Zorn und kämpft
für die »persönliche Freiheit«, nämlich die Freiheit, Bier zu trinken, namentlich auch
Sonntags und bei Blechmusik.
Aber eine sehr bedenkliche Erscheinung deutete ich in den 80er Jahren
immer noch nicht auf das Bier, nämlich den Umstand, dass die deutschen Kinder
in den amerikanischen Schulen (wenigstens in den grossen Städten) als etwas dumm
gelten ; slow and plodding (langsam und schleppend) ist der x\usdruck hierfür. Ganz
besonders traf dies zu für die Kinder im Süden der Stadt St. Louis, wo die vielen
sehr grossen Brauereien sind. Dort fielen alle halbjährlichen Prüfungen für Zulassung
in die High School (eine Mittelschule, entsprechend einem Real-Gymnasium) weit
schlechter aus, als in den übrigen Stadtteilen. Und da die dortigen Schüler fast
ausnahmslos Kinder von deutschen Brauerei - Angestellten waren, so schien kein
Zweifel zu bestehen, dass die deutschen Kinder langsam und schwerfällig von Begriffen
wären, umsomehr, da die Minderwertigkeit ihrer Leistungen sich hauptsächlich im
Rechnen zeigte.
Dass die Dummheit eine spezifisch deutsche Eigenschaft sei, habe ich nie
zugegeben, und es drängte sich endlich mit Gewalt die Vorstellung auf, dass das
Biertrinken hier in ähnlicher Weise eine verhängnisvolle Rolle spielte, wie beim
»geistigen Turnen« und bei allen literarischen und wissenschaftlichen Bestrebungen
der Deutschen in Amerika, die beinahe gleich Null sind.
Im Jahre 1900 kam ich nach Deutschland zurück, um hier zu bleiben. Ganz
auffallend war mir auch hier die Erscheinung des vorzeitigen Alterns und der ge¬
ringeren Arbeitslust und Regsamkeit des Deutschen im Vergleich zum Anglo-
Amerikaner. Die Notwendigkeit drängte sich auf, dass hier endlich Aufklärung
geschaffen werde über die endlosen Schäden, die entstehen aus den deutschen
Trinksitten.
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Nr. 21. Redakteur Georg Davidsohn in Berlin.
1. Georg Davidsohn.
2 . geh. 2o. August 1872.
3. Gnesen, Provinz Posen (Deutschland).
4. Schriftsteller, Redakteur (lebt seit dem 6. Lebensjahre in Berlin).
5. Gymnasium und die Universität Berlin.
6. Gehört dem Deutschen Arbeiter - A b s t i n e n t e n - Bunde an.
7. In Betreff meines Alkoholgenusses bemerke ich, dass ich stets einen instinktiven
Widerwillen gegen übermässigen Alkoholgenuss gehabt habe. Ich trank allen¬
falls süsse Weine und s ü s s 1 i c h e Liköre ohne besagten Widerwillen, auch
süssliches Bier (Braunbier etc.), trank ich allenfalls, ohne mir — wie bei bitter¬
lichem Bier, saurem Wein und scharfem Schnaps — Gewalt antun zu¬
müssen. Dieses rein physische Unbehagen brachte mich zur »Mässigkeit«, ohne dass
ich noch von irgend einer Bewegung, Literatur in dieser Richtung oder dergl. die
mindeste Ahnung hatte. Daher darf und kann ich mir denn auch den schliess-
lichen Uebergang von der Mässigkeit zur Abstinenz nicht allzuhoch anrechnen.
Bemerken will ich nur, dass ich leicht von jeher hätte Abstinent sein können,
wenn meine Eltern (wie leider fast alle Eltern) nicht in totaler Unkenntnis über
die Schädlichkeit des Alkohols gewesen wären! Ich bin Total-Abstinent seit
dem 17. April 1903, also seit dem Bremer Kongress gegen den Alkoholismus! !
8. Zur Enthaltsamkeit führte mich der Üeissige Besuch der Verhandlungen des
Bremer Kongresses (siehe auch Nr. 14;.
9. Es haben bisher keine Unterbrechungen der Enthaltsamkeit bei mir stattgefunden.
10. Seit dem Beginn der Abstinenz konnte ich bisher keine allzu grossen Unter¬
schiede meines körperlichen Befindens gegen früher konstatieren, da ich — wie
geschildert -— stets sehr mässig war.
a) Verdauung und Stuhlgang, die vorher zu wünschen übrig Hessen, haben sich
bedeutend gebessert; der üble Geschmack, den ich zuvor häufig im Munde
hatte, ist völlig gewichen. Seitdem ich Abstinent bin, habe ich weder Kopf-
noch Zahnschmerzen (vorher häufig!). Auch glaube ich, besser sehen zu können!
Allerdings kann und will ich nicht behaupten, dass diese erfreulichen Erschei¬
nungen »post hoc, ergo propter hoc« eingetreten seien. Das Urteil darüber
muss ich Berufenen überlassen.
b) u. c) Auf Geist und Gemüt hat die Enthaltsamkeit keine Aenderung gegen
früher bewirkt, wohl aus den schon oben angeführten Gründen.
it. Ueber meine Erfahrungen vergl. Nr. 14.
12. Meine eigenen Ausgaben für alkoholische Getränke betrugen früher jährlich
ca. 100 Mark.
13. Gegenwärtig nichts.
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i4- Aus den Debatten des Bremer Kongresses gegen den Alkoholismus gewann ich
für meine Person den Eindruck, dass die »Massigen« den Abstinenten gegenüber
recht schlecht abschnitten. Die Tiraden des Prof. Hueppe machten auf mich, den
damals noch Mässigen (!!), einen unwissenschaftlichen Eindruck. Die direkt an ihn
gestellte Frage »Was nützt der Alkohol?« wusste er nicht zu beantworten
oder hat er wenigstens nicht beantwortet! — Am 17. April endlich wohnte ich
der Volksversammlung des Bremer Arbeiter-Abstinenten-Vereins bei. In der Dis¬
kussion nahm unter anderen mein Parteigenosse Henke von der »Bremer Bürger¬
zeitung« das Wort. Bei seinen Ausführungen, die zum Teil gleichfalls »Massigkeit«
empfahlen, packte mich eine unbeschreibliche Angst, wenn ich mir vergegenwärtigte,
welch’ Unheil ein solcher, in immerhin autorativer Stellung befindlicher Partei¬
genosse vor einem rninderbewanderten Auditorium anrichten könne, und ich
beschloss auf der Stelle, von Stund an Total-Abstinent zu werden; und ich bin
es geblieben bis heute, und werde es voraussichtlich bleiben bis an mein Lebensende.
In Betreff der Erfahrungen bemerke ich a) bezüglich der Familie, dass meine Frau
durch meine Abstinenz allmählich nachdenklich wird und auf dem besten Wege
ist, gleichfalls Total-Abstinentin zu werden. (NB. Sie trinkt natürlich minimalste
Dosen!)
b) u. c) In gesellschaftlicher Beziehung führt die Abstinenz zu schwierigen und unan¬
genehmen Situationen, wenn man den Besuch lieber Freunde und Bekannte empfängt,
die nicht abstinent, vielleicht gar nicht einmal »mässig« sind. Es gehört sehr
viel Energie und Taktgefühl — auf beiden Seiten — dazu, wenn die Situation
manchmal nicht geradezu unangenehm werden soll! Alle künstlichen Ersatz¬
getränke versagen, und nur das pure Wasser, Selters, Himbeer, Zitrone, Kaffee,
Tee, Kakao, Chokolade können allenfalls nützen und helfen, wenn der Hausherr
nicht, was einem Abstinenten allerdings wirklich recht schwer fällt und fallen
muss, Gnade vor Recht ergehen lassen und selber für Beschaffung gewisser
Alkoholika für seine Gäste sorgen will.
d) Im öffentlichen Leben macht es geradezu Vergnügen, durch praktische
Vorführung des Beispiels der Abstinenz immer wieder die Kritik heraus¬
zufordern. Debatten entspinnen sich im Handumdrehen, und je bewanderter
der Abstinent ist, desto leichter und schneller gelingt es ihm, den Gegner
zur Skepsis und zum Nachdenken, in verschwindend, verschwindend geringen
Fällen auch wohl zur Abstinenz, oder mindestens zu einem Versuche mit
der Abstinenz zu bewegen.
Aus meiner Jugendzeit kann ich schliesslich noch mitteilen, dass die Beobachtung
von Betrunkenen und ihren Ausschreitungen auf der Strasse und im Hause (Schläge¬
reien, Arretierungen, Johlen etc.) mir nie, wie leider den meisten Kindern sonst,
Vergnügen gemacht hat. Wenn (cf. ad 7) Eltern und Lehrer nur ein wenig nach¬
geholfen hätten, würde ich vielleicht in meinem ganzen Leben nie einen Tropfen
Alkohol getrunken haben! Also hin mit der Propaganda zu Eltern
und Lehrern!!
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202
Nr. 22. Lehrer Gotthold Georg Schürer in Dresden.
1. Gotthold Georg Schürer.
2. geh. 6. August 1S7S.
3. Dresden, Sachsen.
4. Lehrer.
5. Volksschule: Schule des Vereins zu Rat und Tat, Dresden. Seminar: Freiherrl.
v. Fletchersches Seminar, Dresden-Neustadt. Hilfslehrer am Pestalozzistift zu
Dresden, Lehrer an der 14. Bezirksschule, dann an der 3. Bürgerschule und
schliesslich am Ehrlichschen Gestift zu Dresden.
6. Nein.
7. Ich lebe völlig enthaltsam seit Ostern 1902 bis heute (25. Mai 1904), jedoch
habe ich von jeher eine an die Grenze der Enthaltsamkeit dicht heranreichende
Mässigkeit gepflegt, als Schüler aus Gründen der Sparsamkeit, ohne aber Ver¬
langen zu tragen nach Alkoholgenuss, später aus Prinzip.
S. a) Ausgesprochene Unempfänglichkeit für die angeblichen angenehmen Wirkungen
und äusserste Empfindlichkeit den schädlichenWirkungen des Alkohols gegenüber.
b) Das Interesse für die Mässigkeitsbestrebungen, namentlich Beeinflussung durch
die Dresdner Bewegung.
c) Aufnahme eines von Haus aus abstinenten Schülers in meine Familie und
die dadurch mir auferlegte moralische Verpflichtung zu eigener Abstinenz.
d) Die schädlichen Wirkungen des Alkohols auf Volksglück und Volkswohlstand,
die ich als Lehrer in der Dresdner Oppellvorstadt zu beobachten Gelegen¬
heit hatte.
9. Etwa dreimal, bei Festtafeln, ein halbes Glas.
10. Von einer besonders durchgreifenden Wirkung meines Entschlusses, abstinent
zu leben, kann deshalb nicht die Rede sein, weil ich, wie oben erwähnt, in
praxi immer abstinent gewesen bin. Doch kann ich hier wohl erwähnen, dass
schon das Bewusstsein, niemals im Urteilen, im Entschliessen und Handeln unter
dem Einfluss des Alkohols zu stehen, grosse Sicherheit und Stetigkeit und Ruhe
verleiht und die Gewissheit, die Menschenwürde nicht verleugnet zu haben.
11. a) Obgleich ich von meinen Hausgenossen — Mutter, Schwester, Pensionär —
niemals Abstinenz gefordert habe und nicht fordern konnte, haben sie doch
freiwillig — abgesehen vom zeitweiligen, überaus mässigen Genuss ein¬
fachen Bieres — sich entschlossen, alkoholische Getränke zu meiden und
durch alkoholfreie zu ersetzen. Erwähnenswert ist vielleicht, dass wir auf
unserer Sommerreise, die ich immer in Begleitung meiner Schwester unter¬
nehme, stets gänzlich ohne Alkohol ausgekommen sind,
b) Im Lehrerstande ist die Enthaltsamkeitsidee verhältnismässig stark verbreitet.
Doch wird natürlich noch von vielen der Alkohol in Schutz genommen,
namentlich mit dem Hinweis darauf, dass er, mässig genossen, durchaus
unschädlich, zuweilen sogar nützlich sei. Mit einem gewissen Bedauern bin
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20 ?)
ich zuweilen angeblickt worden, wenn ich im Kreise der Kollegen auf das
Bier u. dergl. verzichtete, niemals aber ist mir etwa mit Spott begegnet worden
oder gar mit der Forderung, mich den Gepflogenheiten der andern anzu¬
passen. Immer hat man die persönliche Ueberzeugung in vornehmster Weise
geachtet.
c) siehe nb. Im übrigen ist nur zu erwähnen, dass ich Stammtischverkehr,
der hier wohl besonders in Frage kommt, niemals gepflegt habe.
12. Es ist vielleicht nicht unwichtig, zwei Momente aufzuweisen, welche der Ver¬
breitung der Enthaltsamkeitsbewegung im Wege stehen.
1. Die übergrosse und ganz u n z w e c k m ä s s i g e Zurück¬
haltung solcher, die enthaltsam leben. Gar zu leicht werden den
Alkoholfreunden Konzessionen gemacht. Namentlich glaubt man in Gesellschaft
den angebotenen Trunk nicht ablehnen zu dürfen. Eine gewisse Rücksichts¬
losigkeit dürfte hier eher am Platze sein, die ja noch lange nicht in Taktlosig¬
keit auszuarten braucht. Namentlich sollten solche, die mit Knaben und Jüng¬
lingen verkehren — in der Familie, in Vereinen, oder in Schulen — sich
befleissigen, zu zeigen, dass Enthaltsamkeit sich recht wohl mit männlicher Art
verträgt; denn gerade unter den jüngsten »jungen Leuten« gilt der Satz am
meisten: »Der ist ein Mann, der trinken kann.« Gelegentlich ist wohl der
Hinweis darauf am Platze, dass es viel mehr sittliche Kraft und viel mehr
Mut, also viel grössere Männlichkeit erfordert, mässig oder enthaltsam zu sein,
als dem Alkohol zu frönen! Im allgemeinen gilt natürlich, dass das Beispiel
unendlich mehr wirkt als das Wort.
2. Der Mangel an Ersatzmitteln für die alkoholischen
Getränke. Wohl weiss ich, dass eine ganze Anzahl solcher Ersatzmittel auf
den Markt gebracht worden ist, aber sie sind zum Teil recht minderwertig, im
ganzen aber und vor allem viel zu teuer. Es ist also doch Mangel vorhanden,
Mangel an guten und doch auch billigen alkoholfreien Getränken. Wenn man
für eine Flasche Selterswasser 25, 30 oder gar 40 Pf. bezahlen muss, oder wenn
Frutii nur in Flaschen zu 40 oder 50 Pf. verkauft wird, so entsprechen diese
Preise nicht entfernt den Vermögensverhältnissen des einfachen Mannes. Selbst
wo man Frutii in Gläsern erhält, da bekommt man für 10 Pf. so wenig, dass
damit kein deutscher Mann seinen deutschen Durst zu stillen vermag. Er
kauft sich darum lieber für dasselbe Geld einen Schnitt Bier; da bekommt
man doch für Geld etwas. Ob es nicht auch eine Aufgabe der Mässigkeits-
vereine und vermögender Mässigkeitsfreunde ist, um die Erfindung und Erzeugung
guter und billiger alkoholfreier Getränke sich zu bemühen ? — Augenblicklich
liegen die Dinge so, dass beträchtliche Geldopfer dazu gehören, abstinent zu
leben, wenn man nicht gerade immer Wasser trinken will. Und völlige Abstinenz
ist doch schliesslich dem Alkohol gegenüber das einzig Richtige; denn 1. dürfte
Gift wohl Gift bleiben, auch als kleines Quantum, und 2. Mässigkeit? — was
heisst Mässigkeit ?! — —
Bie Alkoholffage.
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204
Nr. 23. Prokurist Rudolf Ingermann in Flensburg.
1. Rudolf Wilhelm Peter Ingermann.
2. geb. 2o. Dezember 1858.
3. Eckernförde, Preussen.
4. Kaufmann, Prokurist der Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft, Flensburg.
5. Realschulbildung in Apenrade, 1 Va Jahr Vorbildung f.Verwaltungs-Subalternbeamten-
Laufbahn, dann Kaufmann: Werftbetrieb (Holzschiffsbau) und Holzhandlung,
später, nach Militärzeit, Angestellter im kaufm. Hauptkontor der Fl. Schiffsbau-
Ges., wo ich reichlich 22 Jahre tätig und zum Prokuristen avanciert bin.
6. Loge Nr. 2 Digynia« des 1 . 0 . G. T. und Deutscher Verein abstinenter Kaufleute.
7. Seit 30. Dezember 1893 enthaltsam.
8. Die Ursachen und Beweggründe zum Entschlüsse der Enthaltsamkeit waren
gesundheitliche (Herzverfettung, sog. »Bierherz«) und das Bestreben, wirtschaftlich
besser zu stehen, resp. von den Trinksitten abzulassen, um nicht selbst weitere
schlechte Erfahrungen durch dieselben zu machen und gleichzeitig im Interesse
der Enthaltsamkeitssache wirken zu können.
9. Keine.
10. Die allergünstigsten.
a) Ein hartnäckiges Magenleiden ist gut beseitigt.
b) Immer klarer Kopf, Lust zu jeder geistigen Aibeit.
c) Erhöhte Lebensfreude, namentlich bessere Eindrücke in der Natur und auf Reisen.
11. a) Ohne Alkohol: Hebung des guten Einvernehmens in der Familie, Abscheu
der Kinder, darunter 2 Knaben, vor alkoholischen Getränken, erhöhte reine
Geselligkeit bei Familienfesten im Hause.
b) Als Enthaltsamer geniesse ich grösseres Vertrauen; seit 3 Jahren in bevorzugter
Vertrauensstellung (Prokurist).
c) Seitens früherer Freunde: allgemeine Achtung und Freundlichkeit, damit still¬
schweigende Anerkennung meines Standpunktes.
d) Seit ich in der Enthaltsamkeits-Bewegung stehe, erfolgte mehrfache Heranziehung
resp. Designierung seitens der Behörden zu Ehrenämtern, wie Armenpfleger, Vor¬
mund eines entmündigten Trinkers, Wahlvorsteher bei der Landtagswahl und Bei¬
sitzer bei Reichstagswahlen etc.
i 2. ?
13. Nichts.
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205
14- Die Enthaltsamkeitssache hat sich in Flensburg seit 1887 gut eingebürgert und
Glück und Segen in viele Familien gebracht. Das Vorurteil ist bei Denkenden
ganz beseitigt; jedoch ist die aktive Beteiligung an der Bewegung aus besser
situierten Kreisen hier noch verhältnismässig gering.
Es sind hier vertreten:
Der Guttemplerorden I. O. G. T : 13 Logen u. 1 Jugendloge zus. ca. 1100 Mitgl.
Der freie Guttemplerorden F. G. T. O.: 6 Logen.250 „
2 unabhängige Lokal-Logen ä 75 Mitglieder.150 „
ca. 1500 Mitgl.
Je 1 Ortsverein vom
Deutschen Verein abstinenter Kaufleute.30 Mitgl.
Deutschen Verein abstinenter Eisenbahner.20 „
Verein abstinenter Handwerker.20 „
Die Stadtvertretung und die Gemeindebehörden stehen der Sache sehr
sympathisch gegenüber und unterstützen sie in geeigneter Weise, namentlich in
Anbetracht der grossen Entlastung der Armenkasse durch die Wirksamkeit der
verschiedenen Vereine. Ebenfalls die Verwaltung der Flensbg. Schiffsbau-Ges.
(Werft mit ca. 2700 Arbeitern) weiss es zu würdigen, dass ca. 300 ihrer An¬
gehörigen Abstinenten sind, die sich aus verschiedenen Beamten-Kategorien
und namentlich aus den Arbeitern zusammensetzen. — Von den Meistern
werden sich meldende Abstinenten bei Arbeitseinstellung mit Vorliebe berücksichtigt.
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Nr. 24. Stud. phii. Otto Neurath in Berlin.
20 (>
1. Otto Karl Wilhelm Neurath.
2. geh. io. Dezember 1882.
3. Wien.
4. stud. phil.
5. Volksschule, Gymnasium, Universität Wien, jetzt Berlin.
6. Gehört keinem Antialkoholverein an.
7. Eine Einschränkung brauchte nicht zu erfolgen, weil ich seit meinem 14. Lebens¬
jahre prinzipiell Abstinent bin.
8. Ich folgte bisher fremdem Rat und der Ueberlegung, dass der Alkohol gefährlich
und Nichttrinken sicherer als Trinken sei (da besonders in Gesellschaft die
Mässigkeit schwerer durchzuführen ist als die Abstinenz). Ferner habe ich
bedacht, dass ich durch das Trinken von Alkohol die Selbstbeherrschung der
sexuellen Neigungen verlieren könne, da mir aus vielen Mitteilungen bekannt
ist, dass der Besuch eines Bordells oder einer Dirne häufig das erste Mal im
Rausche erfolgt (Erregung eines gewissen falschen Ehrgeizes der Männlichkeit
— Wegfall des sonst eintretenden Ekels vor der Dirne).
(). In einigen Fällen, in denen nur die Wahl zwischen gesundheitsschädlichem
Wasser oder Bier war, habe ich letzteres getrunken, in den letzten 7 Jahren im
ganzen etwa 3 Liter Bier.
10. Ich kann die Folgen der Enthaltsamkeit nicht beurteilen, da ich vor meinem
14. Lebensjahre nur sehr selten hier und da ein kleines Gläschen Bier bei
Landpartien oder bei einer Abendeiniadung getrunken habe.
11. Man wird als Abstinent überall eigentümlich angesehen. Sogar sonst feingebildete
Leute haben recht oft die — man kann es so nennen — Taktlosigkeit, gleich
zu fragen: »Sie trinken nicht? Trinken Sie nie?«, was zugleich allerdings der
Propaganda förderlich ist. Ich würde es für eine grosse Errungenschaft halten,
wenn das Alkoholtrinken auch nicht ganz, aber doch wenigstens als Sitte
verschwinden würde, wie dies beim Rauchen schon der Fall ist. — Das Nicht¬
rauchen fällt nicht mehr auf. Es ist nicht mehr allgemein Sitte. Wie man
sich in Gesellschaft gegen das Rauchen verhält, so sollte man sich auch gegen
das Trinken verhalten. Sehr viele würden dann nicht trinken, welche heute
nur trinken, weil sie sich genieren. Diejenigen, welche so recht »im eigent¬
lichen Studentenleben stehen«, sind sehr selten Antialkoholiker.
1 2. —
T 3- —
14. Das Beispiel des Nichttrinkens hat schon einigen Erfolg. Schwankende schliessen
sich gern zusammen.
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Vieiteljabrschronik über die Alkoholirage.
207
Vierteljahrsehronik über die Alkoholfrage.
Chronik über die Monate April, Mai, Juni.
Das zweite Quartal des Jahres 1904 hat die Lösung der Alkohol¬
frage durch den dritten internationalen Frauenkongress, der
vom 12. bis 18. Juni d. J. in Berlin abgehalten wurde, wesentlich
gefördert. Wenn erst das ganze weibliche Geschlecht für diese Be¬
strebungen gewonnen sein wird, wenn alle Frauen, Mütter und Mädchen
in die Genossenschaften gegen den Alkohol eintreten, dann ist der
Kampf zur Hälfte gewonnen; denn die Mütter sind die Haupterzieherinnen
der Jugend, die Gattinnen und Hausfrauen sind vorzugsweise berufen und
befähigt, dem männlichen Geschlecht Speise und Trank zu bereiten und
ihm den heimischen Herd lieb und wert zu machen, indem sie nicht
bloss für gute körperliche, sondern auch für geistige und seelische Kost
und Befriedigung sorgen. Der dritte internationale Frauenkongress in
Berlin hat nicht nur die Mässigkeitssache, sondern auch die damit zu¬
sammenhängenden Sittlichkeitsbestrebungen wesentlich gefördert und darf
an dieser Stelle als ein internationales Kulturereignis gefeiert werden.
Es hat sich gezeigt, dass die Frauenwelt erwacht ist zum Bewusstsein
ihrer kulturellen Aufgaben. Die Hochschulbildung vieler Frauen hat
offenbar schon gute Früchte getragen. Die massvollen und besonnenen
Frauen wetteiferten mit den mutigen und begeisterten Kämpferinnen. Es
war ein erfrischender geistiger Wettkampf von Vertreterinnen aller Kultur¬
völker, welche durch unblutige Siege einen internationalen Friedensbund
für hohe humane Ziele. abgeschlossen haben.
Die Verhandlungen über die Bekämpfung des Alkohol¬
missbrauchs fanden am 14. Juni in der Sektion III unter dem Vorsitz
von Fräulein Ottilie Hoffmann-Bremen statt. Den einleitenden Vortrag
hielt Frau Dr. phil. Hildegard Wegscheider-Ziegler (Berlin). Sie betonte
in erster Linie die schlimmen Folgen des Alkohols für das werdende
Geschlecht. Die Kinder leiden unter dem Alkoholismus der Eltern,
indem sie willensschwach werden und später der Prostitution ein grosses
Kontingent liefern. Nicht nur der Trunkenbold brutalisiert seine Frau,
sondern auch die Männer, welche regelmässig ihren »harmlosen Dämmet -
schoppen gemessen« bereiten ihren Frauen oft das härteste Los. Daher
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208
Vierteljahischronik über die Alkohol frage.
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müssen Frauen und Mädchen den Kampf gegen den Alkohol entschlossen
aufnehmen. Der Mann muss wissen, dass ein anständiges Mädchen keinen
"Flinker heiraten und in Zukunft für die Befreiung der modernen Kultur
vom Alkohol kämpfen wird! — Fine der wirksamsten Reden gegen den
Alkohol hielt die Finnländerin Frau Alli Freygg-Helenius, die energische
Gattin des bekannten Dr. Matti Helenius in Helsingfors, des Verfassers des
Werkes über die Alkoholfrage. Sie verglich die bösen Folgen des Alkohols
mit den Wirkungen eines Sumpfes, der, in der Nähe einer grossen Stadt
befindlich, Gemüt und Leib aller vergiftet. Er wird aber nie weggeschafft,
weil die Behörden ein Einkommen aus den Sumpfpflanzen beziehen.
Schliesslich beseitigen die Einwohner selbst den Sumpf. Die Frauen
Finnlands haben sich so im Kampfe gegen die Trinksitten erhoben. Eine
einzige Frau hielt in kurzer Zeit i 56 Vorlesungen für 21 000 Zuhörer.
Als ein neues Nationaltheater gebaut wurde, unternahmen die Frauen eine
kräftige Agitation, um alle geistigen Getränke aus dem Theaterrestaurant
zu verbannen. An die Spitze dieser Agitation stellte sich die junge Ge¬
mahlin eines Universitätsprofessors, die es mit den Damen aus den
ersten Gesellschaftskreisen von Helsingfors persönlich übernahm, am
Büffet das Publikum zu bedienen, indem sie alkoholfreies Bier, alkohol¬
freie Weine, Tee, Butterbrot, Konfekt und Früchte verkauften. In ähn¬
licher Weise stellten sich in Finnland auch die Lehrerinnen in den
Dienst der Bewegung und beeinflussten die Schulen etc. Die Frauen
Finnlands sind von dem Glauben erfüllt, die Welt gehe vorwärts. In
den Vereinigten Staaten haben die Frauen ebenfalls den Kampf auf der
ganzen Linie aufgenommen. Soll Europa den Amerikanern wieder die
Ehre der zweiten Sklavenbefreiung lassen ? Mit dem Rufe nach Freiheit
vom Alkohol schloss die Rednerin unter begeistertem Beifall aller Zuhörer
ihre kernige Ansprache. Die folgenden Rednerinnen führten ähnliche
Gedanken aus. Frl. Ina R o b e r g (Schweden) teilte mit, dass in ihrer
Heimat, so wie Frau Helenius es von Finnland berichtete, die Lehrerinnen
durch ihre Abstinenz grosse Wirkung erzielten. Die Antialkoholpropaganda
soll in allen Schulen beim Unterricht jetzt obligatorisch eingeführt
werden. In Schweden mit nur 5 Millionen Einwohnern gehören bereits
50000 Frauen dem Guttemplerorden an. Und was das schönste und
segensreichste ist, es hat sich ein Totalenthaltsamkeitsbund der studieren¬
den Jugend gebildet, dem viele tausende von Jünglingen und jungen
Mädchen angehören.
Frau Dr. phil. Bleuler-Waser (Schweiz) erstattete einen
inhaltreichen Bericht über den Einfluss des Alkohols auf das Verhältnis
der beiden Geschlechter. In Zürich können Mädchen ruhig alkoholfreie
Restaurationen besuchen, weil es dort anständig zugeht. Je alkoholisierter
die Männer sind, desto unangenehmer werden sie, nach den Ausführungen
der Rednerin, allen anständigen Frauen. Der Alkohol bewirkt ein lockeres
abstossendes Benehmen. Nicht Aphrodite ist im Gefolge des Bacchus
und Gambrinus, sondern Venus vulgivaga. Wenn der Knabe sich vom
Mädchen losreisst, um ins Leben zu eilen, so ist dies »Leben« häufig
nur das Wirtshaus mit seiner Pseudomännlichkeit. Das Wirtshaus macht
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
209
den jungen Mann zum Zotenreisser und Becher- und Bierhelden und
endlich zum Weiberhelden. Anständige Mädchen und Frauen können
ohne Männer und Brüder nicht gut Gasthäuser besuchen, wo Alkohol
ausgeschenkt wird. Auch der m ä s s i g e Alkoholgenuss macht
den Mann grobsinnlich und brutal der P'rau gegenüber. Im nüchternen
Zustande werden ehrbare junge Männer schon durch den Sinn für Rein¬
lichkeit von jenen Orten abgeschreckt, wo die Weiblichkeit nicht nur in
Worten, sondern auch in Taten misshandelt wird. Der erste Studenten¬
verein — das ist bezeichnend — welcher gleichberechtigte Kolleginnen
aufnahm, war ein Abstinenzverein. Da konnten die Studenten
anständige Mädchen in ihrer Gesellschaft haben, brauchten sich nicht
mit Schenkdirnen zu begnügen. Im Zustande der Alkoholisierung sieht
der Mann Helena in jedem Weibe. Und ist eine Ehe, in der der
Mann alkoholisiert die Frau geschlechtlich fordert, viel besser als
Prostitution? Die Frauen bedanken sich dafür, mit dem Wein auf eine
Stufe gestellt zu werden. Aber wenn die Frau den Alkohol erfolgreich
bekämpfen will, muss sie dem Mann eine Heimat für seine Gefühle und
Gedanken schaffen, sie muss den Weingeist durch wahren Geist und
reines Gemüt ersetzen. Die Frauen sind mitverantwortlich für die Ge¬
brechen des anderen Geschlechts, sie haben ja Einfluss auf die Sitten,
auf die Jugend. Die Frau darf sich eben den Trinksitten nicht mehr
beugen. Dieser Ruf, mit dem Frau Bleuler-Waser schloss, tönte aus allen
Reden: Ihr Frauen und Mädchen, beugt euch nicht mehr den
Trinksitten!
Die Vorträge des internationalen Frauenkongresses haben dem Ge¬
danken vollen Ausdruck verliehen, dass die Mutter den Alkoholismus
bekämpfen muss, um ihre Kinder nicht zu schädigen, und dass die
Gattin den Alkohol verabscheuen muss, damit nicht ihr Gatte und
dadurch sie selbst erniedrigt werde. Die meiste Hoffnung ist auf die
Jugend zu setzen. Jünglinge und Jungfrauen müssen vereinigt den Kampf
für Mässigkeit und Sittlichkeit aufnehmen, um mit dem eigenen Selbst
auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu verbessern und
menschenwürdiger zu machen!
Der enge Zusammenhang der Alkoholfrage mit der Sittlichkeitsfrage
kam auf dem internationalen Frauenkongresse in Berlin noch besonders
zur Sprache in den Verhandlungen, welche von der Vorsitzenden der
Sittlichkeitskommission des Bundes der deutschen PTauen vereine, P'rau
K. Scheven-Dresden geleitet wurden. Frau Scheven wies in ihrem
einführenden Vortrage auf die komplexe Natur der sexuellen Schäden,
welche im Gefolge der modernen Kulturentwicklung und des Alkoholismus
wegen des Mangels an guter Erziehung auftreten und durch wirtschaft¬
liche, soziale und pädagogische Reformen bekämpft werden müssen. Die
Rednerin hob hervor, dass die Frauen an allen Reformen nicht nur als
Objekt, sondern ebenso als Subjekt teilhaben müssten, ganz besonders
auf dem Gebiet der Erziehung. Da gelte es, Mutterpflichten im höchsten
Sinne an Söhnen und Töchtern zu erfüllen! Aus dem Schoss der
Familie müsse ein neues junges Geschlecht, rein und widerstandsfähig
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Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
210
Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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an Seele und Körper, der Gesellschaft zugeführt werden ! — Wir möchten
aus den Verhandlungen des Krauenkongresses über die Hebung der Sitten¬
reinheit an dieser Stelle nur noch die Mitteilungen eines Studenten
hervorheben, welcher die Bestrebungen und die Arbeit des akademischen
Bundes »Ethos« schilderte, der für Geschlechtsreinheit in den Kreisen
der studentischen Jugend ein tritt. — Wenn sich in unserm 20. Jahrhundert,
ebenso wie in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts zur Zeit
der deutschen Befreiungskriege, die Begründung von Tugendbündnissen
in der akademischen Jugend auf allen deutschen Hochschulen wieder¬
holen und im Verein mit der Begründung von Mässigkeits- und Enthalt¬
samkeits-Vereinen über alle Länder und in allen Volkskreisen weiter
verbreiten sollte, so wird man in der Tat auf eine allmähliche sittlich¬
religiöse Erneuerung des Menschengeschlechts, auf Völkerbündnisse für
Sittenreinheit und für soziale Reformen und auf die Erreichung des
Kantschen Ideals eines allgemeinen Weltfriedens hoffen dürfen!!
Vorläufig gilt es, trotz kriegerischer Verwicklungen in verschiedenen
Weltteilen, trotz leidenschaftlicher politischer und wirtschaftlicher Kämpfe
zwischen grossen und kleinen Völkern und trotz scharfer sozialer Differenzen
innerhalb der verschiedenen Volksklassen eines und desselben Volkes
doch an dem Erfolge aufrichtiger internationaler Reformbestrebungen
auf dem Gebiet der Alkoholfrage und anderer Kulturfragen nicht zu
verzweifeln!
Von Wichtigkeit für die Alkoholfrage waren auch die Verhand¬
lungen des internationalen Kongresses für Schulhygiene in
Nürnberg im Monat April d. J. Es sprach dort u. a. Dr. Blitz-
stein als Bevollmächtigter der Landesgruppe Deutschlands des inter¬
nationalen Alkoholgegnerbundes über »Alkohol und Schule«, ferner
Wildemu th aus Stuttgart über »Schule und Nervenkrank¬
heiten«, Hofrat Dr. v. Förster aus Nürnberg über »Volksbildung
und Schulhygiene und Realschullehrer Stanger aus Trautenau über
»Sexuelles in und ausserhalb der Schule«. Wir dürfen
wohl hoffen, die meisten der in Nürnberg erstatteten Referate in einem
besonderen Versammlungsbericht oder in Separatabdrücken recht bald
zu erhalten, um über ihren Inhalt genauer berichten zu können. Es
möge hier in dieser Chronik nur als das Erfreulichste in der ganzen
Antialkohol-Bewegung immer wieder hervorgehoben werden, dass die
Pädagogen und Aerzte aller Länder bemüht sind, den gefährlichen Ein¬
fluss des Alkoholgenusses auf das körperliche und geistige Wohl der
Jugend genau zu beobachten und die engen Beziehungen zwischen
Alkohol und Kinderkrankheiten und Alkohol und geschlechtlichen Ver¬
irrungen schon in der Jugend an Beispielen und durch persönliche
Erfahrungen statistisch nachzuweisen. — Wir machen in Betreff des
Zusammenhanges des Alkohols mit den Sexuellen noch besonders auf
den ganz neuen, erst im letzten Vierteljahr uns zugegangenen Vortrag
des Braunschweiger Dermatologen Dr. med. Alfred Sternthal über
»Männersittlichkeit und Frauengesundheit« aufmerksam.
Original fro-m
UNIVERSITY OFCHICA&e
Vierteljahrscbronik über die Alkoholfrage.
211
Dieser Vortrag ist veranlasst durch den am 17. Juli 1903 von dem
preussischen Unterrichtsminister veröffentlichten > Erlass betreffend War¬
nung der Studierenden vor den Gefahren der Geschlechtskrankheiten«
und enthält ergreifende Bilder über die Verheerungen, welche der Genuss
von Wein und Bier nicht bloss bei Studierenden, sondern auch bei
Ehemännern anrichtet. Eine der höchsten menschlichen Tugenden, die
Keuschheit, gedeiht nur in der Nüchternheit.
Ferner ist hier der im April in Wien eröffneten internationalen
Ausstellung für Spiritusverwertung und Qärungsgewerbe
zu gedenken. Diese Ausstellung ist besonders deshalb wichtig, weil die
Bekämpfung des Branntweins als Genussmittel sehr wirksam dadurch
erfolgen kann, dass man den Spiritus der technischen Verwertung
zuführt. _
In Deutschland sind als beachtenswert für die Bewegung gegen
den Alkoholismus hervorzuheben die wissenschaftlichen Kurse
zum Studium des Alkoholismus, welche in der Osterwoche
vom 5. April an fünf Tage lang in Berlin, im Baracken-Auditorium der
Berliner Universität abgehalten worden sind. Die Vorträge, welche vom
Vorstand des Zentralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus veran¬
lasst waren, wurden von dem Vorsitzenden des Zentralverbandes, Herrn
Senatspräsident Dr. von Strauss und Torney mit einer Ansprache ein¬
geleitet, welche die Erschienenen begrüsste und mit dem Zweck der
Einrichtung bekannt machte. Dem Schriftsteller Franziskus Hähnel aus
Bremen, dem feurigen Apostel der Guttempler-Sache war als erstem
Vortragenden die Behandlung der »Geschichte des Kampfes
gegen den Alkoholismus« in 3 V orlesungen an vertraut. Der
zweite Dozent Dr. med. Grotjahn-Berlin sprach ebenfalls in 3 Vorlesungen
über »Alkoholismus und Volkswirtschaft. Als dritter Redner behandelte
der dirigierende Arzt am städtischen Krankenhause in Charlottenburg,
Brof. Dr. Grawitz in drei Vorträgen die »Einwirkung des Alkohols
a u f Kö rp e r und Geist.« Ferner sprachen Dr. med. Laqueur aus Wies¬
baden über »Alkohol und Sexualhygiene«, Prof.Dr.Aschaffenburg,
der Hallenser Psychiater, über »Alkoholismus und Arbeiter¬
frage«, Dr. med. Ploetz aus Schlachtensee über »Alkoholismus
und die Nachkommenschaft« und Rektor Dammeyer aus Kiel
über »Pädagogische Fragen«. Alle Vorträge waren vorzüglich, aber
der Besuch gegenüber der übernommenen schweren und hochwichtigen
Aufgabe nur wenig befriedigend und zwischen 30—60 Personen schwankend.
Charakteristisch für alle Vortragenden war der zwar ausgiebige, aber doch
sehr behutsame Gebrauch statistischer Angaben und das stete Hervor¬
heben, auf wie unsicherem Boden die Statistik in der Alkoholfrage
stehe. Ein Diskussionsabend gab den Teilnehmern noch Gelegenheit
zur Aussprache und reichlich ausgelegte Literatur gab den Ferner¬
stehenden Winke zu Anschaffungen, um sich noch weiter in die be-
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Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
212
Vicrteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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handelten Kragen zu vertiefen. Aus der Tatsache, dass bis auf zwei
der Vortragenden, nur Aerzte und Lehrer zu Worte kamen, ersieht man
deutlich, auf welcher Seite heute das Hauptinteresse zu finden ist.
Trotz des finanziellen Misserfolgs soll der »Zentralverband« beabsichtigen,
auch nächstes Jahr wieder einen ähnlichen Vortragscyklus zu veran¬
stalten. Möchte er dann vor allem mehr Anerkennung durch zahl¬
reichere Beteiligung finden !_
Der deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke hat am 20. April die Frühjahrssitzung seines Verwaltungs¬
ausschusses abgehalten, zu welcher 31 Mitglieder aus den verschiedensten
Teilen Deutschlands erschienen waren. Er hat § 14 seiner Satzungen
dahin geändert, dass die Zahl der Vorstandsmitglieder fortan 9 betragen
soll. Die Jahresversammlung des Vereins soll in Erfurt im September
oder in der ersten Hälfte des Oktober gehalten werden. Als Verhandlungs¬
gegenstände sind gewählt: 1. Alkoholismus und höhere Schulen, 2. Der
Flaschenbierhandel und 3. Das Branntweinmonopol. Die Jahresrechnung
des Vereins für 1903 schliesst (abgesehen von den Nebenkassen) in
Einnahme und Ausgabe mit 37 587 Mk. 95 Pf. ab. Das Gesamtver¬
mögen wird auf 17275 Mk. 67 Pf. angegeben. Der neue Geschäfts¬
führer Gonser entwickelt eine den Vorstand und Verwaltungsausschuss
und die Mitglieder sehr befriedigende Wirksamkeit und ist eifrig be¬
müht, innerhalb des Vereins die Kluft zwischen Mässigen und Enthalt¬
samen zu schliessen. In den Vorstand des Vereins ist als Nachfolger
des Freiherrn von Diergardt, der seinen Austritt aus dem Vorstand er¬
klärte, aber eine kräftige Weiterarbeit in Schlesien versprach, der vom
Dresdner Bezirksverein vorgeschlagene Dr. Esche in Dresden gewählt
worden.
Nach Berichten aus Berlin von Ende Juni d. J. ist bei dem
Preussischen Abgeordnetenhaus vom Abgeordneten Grafen Douglas ein
Antrag eingegangen, zur Bekämpfung des Alkoholismus eine
»Landeskommission für Volkswohlfahrt« einzusetzen.
Gegen Ende Juni ist von Bremen aus durch den Lehrer Franciscus
Hähnel, Herausgeber und Redakteur des Berichts über den IX. inter¬
nationalen Kongress gegen den Alkoholismus, eine Aufforderung zur
Bildung eines „Allgemeinen Zentralverbandes zur Bekämpfung
des Alkoholismus 44 an zahlreiche deutsche alkoholgegnerische Ver¬
einigungen und Redaktionen alkoholgegnerischer Zeitschriften ergangen,
Vertreter zu dem auf Montag, den 18. Juli, vormittags 10 Uhr, in der
»Flora« in Altona stattfindenden Versammlung zu senden. An den
beiden vorhergehenden Tagen, am 16. und 17. Juli d. J., wird auch
der deutsche Abstinententag in Altona zusammentreten.
Original frnm
UMVERSITYOF CHICAGO.
Yieiteljahrschronik über die Alkoholfrage.
213
Anlangend den Stand der Alkoholfrage in Deutschland so
gedenken wir hier ferner der Jahresversammlung des sächs.
Landesverbandes gegen den Missbrauch geistiger Getränke
vom 2 6. J u n i d. J. Diese von dem Vorsitzenden des sächsischen
Landesverbandes, Dr. Meinert-Dresden geleitete Jahresversammlung wurde
in Chemnitz nach Begrüssungsworten von Dr. Meinert durch einen Vortrag
von Frau K. Scheven-Dresden über das Thema »Eine soziale Auf¬
gabe der Frau« mit besonderer Beziehung auf die Alkoholfrage eröffnet.
Frau Scheven wandte sich in ihrem Vortrag hilfesuchend an das weib¬
liche Geschlecht. Da die Abwendung vom Alkohol eine bewusste Selbst¬
zucht, mithin eine grosse sittliche Energie voraussetzt, müsse die Be¬
kämpfung dieses schweren sozialen Uebels bereits bei der Erziehung der
Jugend einsetzen, die zum grössten Teile in den Händen der Frauen
und Mütter liegt. Die Rednerin wies auf den innigen Zusammenhang
zwischen Trinksitten und Unsittlichkeit hin, die sich in den erschreckend
hohen venerischen Krankheitsziffern der studierenden Jugend offenbart
und ermähnte die Mütter, ihre Kinder gänzlich ohne Alkohol zu erziehen,
um ihnen später den Widerstand gegen die Verlockungen der Sinne zu
erleichtern. Sie forderte die Frauen auf, ihren Einfluss als Gattinnen,
als massgebender Faktor in der Geselligkeit, im Beruf, als Lehrerinnen
und Aerztinnen, auf dem Gebiet sozialer Hilfsarbeit und volkserzieherischer
Aufklärung zur Bekämpfung des Alkoholismus geltend zu machen und
liess die bewundernswürdigen Leistungen der amerikanischen, englischen,
tinnländischen und Schweizer Frauen Revue passieren. Sie wies zum
Schlüsse darauf hin, dass die Bekämpfung der verrohenden Trinksitten
im ureigensten Interesse der Frauen liege, da nicht nur ihr persönliches
Glück in Ehe und Familie, sondern auch der Fortschritt aller Bestrebungen
für die rechtliche, wirtschaftliche und geistige Befreiung der Frau zum
grossen Teil davon abhänge, ob es gelinge, die brutale Macht des
Stärkeren unter die Herrschaft sittlicher Potenzen zu zwingen. Die Vor¬
aussetzung einer solchen Entwickelung aber sei die Bekämpfung aller
finsteren Mächte, die die Bestie im Menschen entfesseln: Roheit, Alko¬
holismus, Prostitution!
Der kürzlich vom preussischen Unterrichtsminister veröffentlichte
Erlass, betreffend Warnung der Studierenden vor den Gefahren der
Geschlechtskrankheiten« legt den Wunsch nahe, dass recht bald auch
eine ähnliche »Warnung der Studierenden vor den Gefahren des mit
der Unsittlichkeit eng zusammenhängenden Älkoholismus« erscheinen möge.
Wie notwendig eine Aenderung der akademischen Trinksitten ist, wird
durch folgende Ausführungen eines Korpsstudenten in Bd. XIX Jahrg. 14,
S. 123 der »Akademischen Monatshefte« bewiesen: »Auch
das Unschöne einer sinnlosen Bezechtheit erkenne ich an. Aber eben
darum muss der Korpsstudent trinken lernen. Eine Geselligkeit
ohne Alkohol ist heute nicht denkbar. Dies gilt nicht nur für studen¬
tische Kreise. Der Korpsstudent ist namentlich im späteren Leben
darauf angewiesen, in den verschiedensten Kreisen zu verkehren. Von
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Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
214
Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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ihm wird verlangt, dass er immer und überall ein tadelloses Benehmen
an den Tag legt. Er muss also auch mit Anstand trinken können.
Dies erfordert eine gewisse Vorschule, die ihm die Aktivität bietet.
Besonders,häufig wird der Korpsstudent in Offizierskreisen in die Lage
kommen, zu beweisen, dass er auch beim Trünke seinen Mann stellt.
Ich kann wohl sagen, dass in Gesellschaft von Offizieren meine Trunk¬
festigkeit härtere Proben zu bestehen hatte, als unter Korpsstudenden . . .
ich hatte Gelegenheit festzustellen, welchen Wert es besitzt, das Trinken
gründlich erlernt zu haben [! !|« Ein Kommentar zu der vorstehenden
Begründung des akademischen Trinkzwangs ist wohl überflüssig. Es
müssen im neuen Jahrhundert nicht nur die Trinksitten der oberen,
mittleren und unteren Stände, sondern überhaupt die Begriffe von Anstand
und Menschenwürdigkeit, von Mässigkeit und Sittlichkeit umgestaltet und
eine gesundheitliche, sittliche und religiöse Erneuerung des Menschen¬
geschlechtes mit dem Ziele der Reinhaltung von Körper, Geist und
Seele angebahnt werden.«
Fünfundzwanzig Jahre Enthaltsamkeitsarbeit in Schwe¬
den. Im Jahre 1904 ist ein Vierteljahrhundert verflossen, seitdem der
Independent Order of Good Templars durch Begründung der ersten
Guttemplerloge in Gothenburg, der klassischen Stadt des Kampfes
wider den Alkohol, in Schweden Eingang fand. Aus diesem Anlasse
ist die Veranstaltung grösserer Feiern im ganzen Lande in Aussicht
genommen — teils im Laufe des Sommers, und zwar im Juli, in Ver¬
bindung mit einer Versammlung der Grossloge zu Malmö — teils iin
Herbste zu der Zeit, in welche der Jubeltag fällt.
Bei Gelegenheit der letzten Grosslogen-Versammlung schon erhielt
der Vorstand den Auftrag, Vorschläge über eine dem Guttemplerorden
Schwedens würdige Stiftung auszuarbeiten, über welche die diesjährige
Grosslogen-Vereinigung zu beschliessen haben würde. Infolge dieses
Auftrages sind drei Vorschläge unterbreitet worden. Von denselben
betraf der eine die Errichtung eines Guttempler - K i n d e rh e i m s zu
dem Zwecke, den Kindern von Trinkern eine Zuflucht zu gewähren;
ein anderer befürwortete die Bildung eines Fonds zur Unter¬
stützung älterer bedürftiger Guttempler; ein dritter An¬
trag richtete sich auf die Schaffung einer Hochschule des Gut¬
templerordens mit der Bestimmung, eine freie Bildungsstätte für
wissensdurstige Männer und Frauen aus dem ganzen Lande zu sein.
Die drei Vorschläge werden der Grossloge in deren bevorstehender
Versammlung zu Malmö behufs endgültiger Entscheidung vorgelegt
werden.
Eine stattliche Jubiläumsschrift ist in Vorbereitung und wird im
Sommer zur Ausgabe gelangen. In derselben will man eine ausführliche
Darstellung der grossartigen Entwicklung des Ordens auf schwedischem
Boden bieten.
Eine kürzlich aufgestellte Statistik zeigt, dass die Mitgliederzahl
in sämtlichen schwedischen Guttemplerlogen am 1. Februar d. J. 118698
Original fro-m
UMVERSITYOF CHICAGO J
Vierteljahrschronik über die Alkohol frage.
215
betrug und dass eine Vermehrung derselben im letzten Jahre um 9132
Personen erfolgt ist. Bis zum 1. Mai d. J. hat man übrigens eine weitere
Zunahme von rund 6000 Mitgliedern zu verzeichnen gehabt. Hierzu
kommt noch, dass die besonderen Jugendabteilungen des Ordens sich
um 8000 Mitglieder mehrten und nunmehr gegen 30 000 Mitglieder
zählen, so dass die Gesamtzahl der Mitglieder von Guttemplervereinigungen
volle 150000 erreicht. H.
Zu der vorstehenden erfreulichen Mitteilung über die Fortschritte
und hohen Ziele, welche sich die Freunde der Enthaltsamkeit in
Schweden stellen, möchte die Redaktion der »Alkoholfrage« bemerken,
dass ihr die Errichtung einer schwedischen Hochschule für das
Studium der Alkohol frage als ganz besonders erwünscht und
international bedeutungsvoll erscheint. Wie Schweden den internationalen
Bestrebungen für Handarbeit und Hausfleiss durch sein Seminar in Näas
die wichtigste Anregung und Förderung geleistet hat, so sollte Schweden
auch eine Hochschule mit Seminar zur Untersuchung der Wirkungen
des Alkohols und zur Verhütung der Alkoholschäden errichten. Alle
Kulturvölker können in der Alkoholfrage und in verschiedenen anderen
Kulturfragen von den skandinavischen Ländern und Finnland viel
lernen und würden dort ihr Wissen und Können im Anschauen von
Land und Leuten, durch Prüfung fremder Einrichtungen und Sitten
wesentlich bereichern können !
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Gck igle
Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
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II. Besprechungen.
O
Alcoholic Beverages and Longevity. (Alkoholische Getränke
und Langlebigkeit) von Thos. P. Whittaker aus der englischen Monats¬
schrift »The Contemporary Review« (Märznummer 1904).
Schon seit einer Reihe von Jahren ist man im Besitz von Massen¬
erfahrungen über die relative Sterblichkeit der Enthaltsamen und des
allgemeinen Publikums. Dies Material verdankt man gewissen englischen
Lebensversicherungsgesellschaften. Bei uns in Deutschland wären solche
Erhebungen unmöglich, weil wir nicht unter uns die sog. teetotalers
haben, nämlich Leute, die von Jugend auf strenge Enthaltsamkeit von
allen alkoholischen Getränken durchführen. Diese sind in England sehr
zahlreich und es gibt Versicherungsgesellschaften, die getrennte Buch¬
führung haben über die Enthaltsamen und die Nichtenthaltsamen. Eine
dieser Gesellschaften ist die United Kingdom Temperance and General
Provident Institution. Diese Gesellschaft liefert ganz neuerdings Erfahrungs¬
material von ausserordentlicher Wichtigkeit.
Die Gesellschaft wurde im Jahre 1840 auf eine besondere Veran¬
lassung gegründet. Man war damals allgemein der Meinung, dass die
stärkeren alkoholischen Getränke, wie Rum und Brandy gute Stärkungs¬
mittel seien und dass sie als solche gebraucht werden sollten, namentlich
bei Choleraepidemien, bei Malaria usw. Als nun Totalabstinenten ihr
Leben versichern wollten, lehnten die Versicherungsgesellschaften ihre
Aufnahme mit der Begründung ab, dass, wer es sich versage, die wohl-
bekannten Stärkungs- und Präventivmittel zu gebrauchen, der setze sich
damit einer grösseren Lebensgefahr aus. Darauf hin wurde die neue
Lebensversicherungsgesellschaft gegründet und zwar nur für Abstinente.
Anfangs wurden nur Totalenthaltsame aufgenommen, nach einigen Jahren
aber wurde beschlossen, auch eine Abteilung für das allgemeine Publikum
zu eröffnen, jedoch wurde getrennte Buchführung für die beiden Abtei¬
lungen strenge durchgeführt. Es zeigte sich schon bald, dass bei den
Abstinenten die Sterblichkeit weit geringer war, als in der allgemeinen
Abteilung. Das Verhältnis war so, dass wo 96 Personen in der allge¬
meinen Abteilung starben, da starben unter den Enthaltsamen aus der
gleichen Anzahl von Versicherten nur 71. Als die Gesellschaft eine
Reihe von Jahren diese geringere Sterblichkeit bei den Enthaltsamen
festgestellt hatte, ging sie dazu über, den Abstinenten einen Rabatt von
10 bis 15 Prozent auf ihre Versicherungsprämie zu gewähren, so dass
also, wo der Versicherte in der allgemeinen Abteilung Mk. 100 das Jahr
bezahlte, der Versicherte in der Abstinentenabteilung Mk. 85 bis 90 zu
bezahlen hatte. Die Höhe des Rabatts richtete sich nach der Länge
der Abstinenz und dein Alter des Versicherten. Die lebenslängliche
Abstinenz von Jugend auf war damals noch weniger häufig als heute.
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CHICAGO
Besprechungen.
217
Dies war im wesentlichen das, was man bisher über diesen Gegen¬
stand erfahren hatte. Und nun kommt eine Erweiterung, nämlich neue
Einzelheiten, die den Enthaltsamen noch viel günstiger sind. Diese Einzel¬
heiten finden sich in der englischen Monatsschrift The Contemporary Review,
März-Nummer 1904, in einer Abhandlung betitelt Alcoholic Beverages
and Longevity (Alkoholische Getränke und Langlebigkeit) von Thos. P.
Whittaker, einem Mitgliede des englischen Parlaments. Diese Abhand¬
lung handelt von den neueren Erfahrungen der schon genannten Lebens-
versicherungsgesellschaft The United Kingdom Temperance and General
Provident Institution. Der Verfasser verdankt das Zahlenmaterial dem
Aktuar der Gesellschaft, Mr. R. M. Moore. Dies Material ist ausgezeichnet
durch Ausführlichkeit und Genauigkeit. Besonders lehrreich ist die
Verteilung der Sterblichkeit auf die verschiedenen Altersstufen. Es zeigt
sich nämlich, dass die viel grössere Sterblichkeit, die sich bei den Nicht¬
enthaltsamen findet, gerade die Jahre der rüstigen Arbeit trifft.
Die Erfahrungen, die Mr. Whittaker mitteilt, erstrecken sich über
einen Zeitraum von 60 Jahren, nämlich vom Jahre 1841 bis 1901. Zum
Vergleich herangezogen sind nur Männer, da die Trinkgewohnheiten bei
dem weiblichen Teil der Bevölkerung eine geringere Rolle spielen. Ferner
ist nur die Lebensdauer solcher Männer in Vergleich gestellt, die für
die Dauer ihres ganzen Lebens versichert waren, wo also erst nach ein¬
getretenem Tode die Versicherungssumme ausbezahlt wurde. Ausge¬
schlossen sind ferner alle solche, die aus der einen Abteilung in die andere
übertragen wurden. Wir haben es deshalb mit gut gewähltem Material
zu tun.
Die folgende Tabelle zeigt die Sterblichkeit in den beiden Abteilungen:
Gesunde Männer — Policen auf das ganze Leben— 1841 —1901
Nichtenthaltsame
Enthaltsame
Alter
Anzahl
Sterblichkeit
Anzahl
Sterblichkeit
der
Gestorben
Prozent
der
Gestorben
Prozent
Versicherten
pro Jahr
Versicherten
pro Jahr
0—19
2768
11
0,397
5619
33
0,587
20—24
9516
63
0,662
15760
73
0,463
25—29
27099
157
0,579
32740
133
0,406
30-34
46965
339
0,722
46555
190
0,408
35—39
61106
495
0,810
54097
240
0,444
40—44
67423
645
0,957
55604
304
0,547
45—49
65931
846
1,283
51377
385
0,749
50—54
58941
992
1,683
44138
463
1,049
55—59
47879
1136
2,373
34974
585
1,673
60—64
35161
1148
3,265
25263
648
2,565
65—69
23219
1176
i 5,065
16479
702
4,260
70—74
12857
922
l 7,171
9325
578
6,199
75—79
5780
614
10,623
4351
505
11,607
80-84
1890
307
16,252
1346
205
15,230
85-89
358
79
22,607
322
66
20,497
90-94
49
16
32,653
55
14
25,455
95—99
1
1
| 100,000
5
—
—
Summe
466943
8947
_
398010
5124
—
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UN1VERSITY OF CHICAGO
Besprechungen.
&18
Stellt man die Sterblichkeiten der beiden Abteilungen zusammen,
so kann man sie folgendermassen vergleichen :
Sterblichkeit
Steiblichkeit |
Nimmt man die Sterblichkeit der
Alter
Prozent pro Jahr
Prozent pro Jahr
Nichtenthaltsamen =s= 100, so ist
Enthaltsame
Nichtenthaltsame '
__ 1
die Sterblichkeit der Enthaltsamen
0-19
0,587
0,397 1
148,0
.20—24
0,463
0,662
69,9
25—29
0,406
0,579
70,1
30—34
! 0,408
0,722
56,5
35—39
0,444
0,810
54,8
40-44
0,547
0,957
57,2
45—49
0,749
1,283
58,5
50—54
1,049
1,683 j
62,4
55—59
1,673
2,373
70,6
60—64
2,565
3,265
78,5
65-69
4,260
5,065
! 84,0
70-74 ,
6,199
7,171
86,5
75—79 1
11,607
10,623
110,0
80—84 |
15,230
16,252
93,7
85-89 1
20,497
22,607
90,7
90—94 jj
25,455
: 32,653
77,9
Hierzu macht Mr. Whittaker folgende Bemerkung:
Diese Tabellen beziehen sich auf die ganze Zeit während der die
Versicherung in Kraft war. Ein besserer Vergleich für unsere Zwecke
ergibt sich, wenn wir die ersten fünf Jahre der Versicherungszeit aus-
lassen, denn in dieser Zeit wird so ziemlich der Einfluss der ärztlichen
Auswahl verschwinden. Wenn wir also die ersten fünf Jahre weglassen,
so eliminieren wir beinahe jeden Vorteil, welcher der einen oder der
anderen Abteilung erwachsen möchte, wenn darin eine grössere Anzahl
neuer Aufnahmen sich befinden, d. h. neif ausgewählter Leben.
Stellen wir auf diese Weise wieder die Sterblichkeit der beiden
Abteilungen zusammen, so ergibt sich folgender Vergleich:
Enthaltsame und Nichtenthaltsame
die ersten fünf Jahre der Versicherung weggelassen:
Ü
Sterblichkeit j
Sterblichkeit
Nimmt man die Sterblichkeit der
Alter i 1
Prozent pro Jahr
Prozent pro Jahr
Nichtenthaltsamen = 100, so ist
tl
Enthaltsame
i
Nichtenthaltsame
die Sterblichkeit der Enthaltsamen
0—24
0,488
0,845
57,8
25—29
0,544
0,935
58,2
30-34
0,458
0,886
51,7
35-39
0,479
0,909
52,7
40-44
0,581
1,042
55,8
45—49
0,784 i
1,402
55,9
50—54 ,
1,064
1.754 i
60,7
55—59
1,082
2,425 1
69,4
60—64
2,571 j
3,378
76,1
65—69 1
4,262 1
5,108
| 83,4
70-74
6,260 !
7,250
86,4
75-79
11,652 1
10,635
109,5
80—84
15,327
16,334
93,7
85-89
20,497
21,910
93,6
90—94
25,455
32,653
78,0
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Besprechungen.
219
ln den ersten beiden Tabellen zeigen sich zwei auffallende Er¬
scheinungen. Zuerst die, dass die Enthaltsamen im Alter von o bis 19
Jahren eine grössere Sterblichkeit aufweisen, als die Nichtenthaltsamen.
Die einfache Erklärung hierfür ist, dass in so jugendlichem Alter die
Abstinenz noch keine Rolle spielt und dass auch die Anzahl der Ver¬
sicherten hier noch zu gering ist, als dass sich allgemeine Schlüsse
ziehen Hessen. Eine zweite auffallende Erscheinung ist die, dass die
Enthaltsamen wieder eine grössere Sterblichkeit als die Nichtenthalt¬
samen aufweisen in dem Alter von 75 bis 79. Die Erklärung hierfür
ist, wie Mr. Whittaker hervorhebt, dass bei den Abstinenten Viele, deren
Gesundheit nicht sehr stark war, eben durch die Abstinenz es bis zu
diesem hohen Alter gebracht haben, während in der allgemeinen Ab¬
teilung die meisten Altersgenossen dieser schon früher gestorben sind.
Mr. Whittaker macht zu den obigen Tabellen noch die wichtige
Bemerkung, dass der Unterschied zwischen der Sterblichkeit in den
beiden Abteilungen von vorn herein schon gross war, dass dieser Unter¬
schied aber neuerdings noch bedeutend gewachsen ist. Hierfür gibt er
folgende einleuchtende Erklärung. Früher gab es unter den Enthalt¬
samen mehr solche, die erst später im Leben enthaltsam wurden, während
heutzutage eine grössere Anzahl als früher von Jugend auf enthaltsam
lebt. Dazu kommt noch, dass heutzutage unter den Enthaltsamen manche
sind, deren Väter schon enthaltsam waren.
Um die hohe Bedeutung obiger Zahlen zu erkennen, bemerke man
zunächst, dass in der allgemeinen Abteilung die grössere Sterblichkeit
nicht etwa wohlbekannten Alkoholkrankheiten zur Last fällt, sondern
dass die Sterbefälle infolge von allen möglichen Krankheiten eintreten,
als da sind Tuberkulose, Typhus usw., so dass also die Sterblichkeit
im allgemeinen grösser ist. Dies treibt uns aber mit zwingen¬
der Gewalt zu dem Schluss, dass der gewohnheits-
mässige Genuss alkoholischer Getränke den ganzen
Körper schwächt und seine Widerstandskraft gegen
alle möglichen Krankheiten herabsetzt.
Dass diese Schwächung eine sehr bedeutende sein
muss, ersieht man daraus, dass in den Jahren der rüs¬
tigen Arbeit von 25 bis 60, die Sterblichkeit der Ab¬
stinenten um mehr als 35% geringer ist, als die des
allgemeinen Publikums.
Wie man dies Endresultat erhält, zeigt folgende Tabelle:
Beginnend mit 10000 Lebenden im Alter von 25 Jahren:
Enthaltsame l| Nichtenthaltsame
Alter
Sterblichkeit
Prozent
Sterbende
Lebende
Sterblichkeit
Prozent 1
Sterbende
Lebende
pro Jahr
pro Jahr j
1
25-29
l 0.544
272,0
9728,0
0,935
367.5
9632,5
30-84
0,458
222,7
9505,3
0,886
426,6
9205,9
35-39
0,479 i
227,6
9277,5
L 0,909
418,4
8787,5
40-44
0.581
269,5
9008,0
j 1,042
457,8
8329,7
45—49
0,784
353,0
8655,0
1, 1,402
; 583,5
7746,0
50-54
i, 1,064
460,4
8194,6
! 1,754
1 779,0
6967,2
55—59
,| 1,682
688,5
7506,0
|| 2,425
1 844,5
6122,7
—
2493
! —
1 —
| 3877
—
Die
Alkoholfrnge
n
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UNIVERSITY OF CHICAGO
220
Besprechungen.
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Gestorben sind zwischen 25 und 60 Jahren: von den Enthalt¬
samen 2493, von den Nichtenthaltsamen 3877. Das Verhältnis der
beiden Sterbeziffern für die Jahre der rüstigen Arbeit (von 25 bis 60)
ist daher 2493:3877 oder 64,3 zu 100.
Also die Sterblichkeit der Enthaltsamen für diesen ganzen Zeitraum
ist um 35,7 % geringer als die des allgemeinen Publikums.
Will man verstehen, wie es kommt, dass im Publikum die
Schwächung des Körpers, die durch den gewohnheitsmässigen Alkohol¬
genuss herbeigeführt wird, gar nicht bemerkt zu werden pflegt, so be¬
achte man, dass die inneren Organe, wie Herz, Nieren, Leber schon stark
geschädigt sein können, ohne dass sich dies durch Schmerzen kundgibt.
Das Herz kann schon stark erweitert, die Leber verfettet sein, ohne
dass dies im Allgemeinbefinden sich zu erkennen gibt. Dass aber diese
Organe nicht mehr im Stande sind, ihre Funktionen gehörig zu verrichten,
zeigt sich, wenn wegen irgendwelcher Krankheitsursache grössere An¬
sprüche an ihre Leistungen gestellt werden.
Aber noch eine Betrachtung drängt sich hier auf. Der Alkohol
ist vor allem ein Gehimgift und man muss daher von vornherein ver¬
muten, dass gerade das Gehirn in hohem Mass durch den täglichen
Alkoholgenuss geschädigt werden muss. Dies stimmt auch mit der
Erfahrung überein, dass eine gewisse Stumpfheit sich einzustellen pflegt,
Unlust zu geistigen Arbeiten etc., auch pflegt ja die Gemütsstimmung
zu leiden. Aber hier tritt ein grosser Uebelstand dem Verständnis hindernd
in den Weg, nämlich dass wir für geistige Dinge kein rechtes Mass
besitzen. Wir können wohl im allgemeinen sagen, jenes Menschen
Urteilskraft hat nachgelassen, aber zahlenmässig angeben lässt sich das
nicht. Diese Bemerkung gilt für alle die höheren Geistesfähigkeiten,
die Schwächung wird meist erst bemerkt, wenn sie schon recht gross
geworden ist. Am ersten wird sie einem alten Bekannten auffallen, der
selbst ganz oder beinahe abstinent lebt, wenn beide nach langer Trennung
sich wieder begegnen.
Die Erkenntnis, dass der Mensch durch den täglichen Genuss
alkoholischer Getränke geschwächt wird und zwar in jeder Hinsicht,
körperlich und geistig, ist von ungeheuerer Tragweite. Sie erklärt gar
manche Erscheinungen, die sonst unerklärlich wären. Ich führe eine
bedeutungsvolle Tatsache von der Art an. Prof. Münsterberg, in seinem
neuen Buche »Die Amerikaner« (Berlin 1904) sagt, es sei unter
amerikanischen Fabrikanten wohlbekannt, dass auf manchen Gebieten
10 (anglo)-amerikanische Arbeiter soviel leisten, wie 15 oder gar
20 deutsche Arbeiter. Die Erklärung, die Münsterberg hiefür gibt, ist
wahrlich etwas schwach, nämlich das höhere Selbstbewusstsein des
Amerikaners soll ihm diese höhere Leistungsfähigkeit geben! Die
Hauptsache ist hier ausser Acht gelassen, nämlich der deutsche Arbeiter
in Amerika huldigt fast ausnahmslos dem täglichen Biergenuss und der
Amerikaner ist abstinent! W. A. S.
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UNIVERSITY OF CHICAGO
Besprechungen.
221
Archiv für Rassen- und Geschlechtsbiologie, einschliesslich
Rassen-Geschlechtshygiene. Zeitschrift für die Erforschung des Wesens
von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Verhältnisses, für
die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Entwicklung, so¬
wie für die grundlegenden Probleme der Entwicklungslehre. Heraus¬
gegeben von Dr. med. Alfred Plock, in Verbindung mit Dr. iur. et
phil. Hermann Friedemann, Dr. iur. A. Nordenholz und Professor
Dr. phil. Ludwig Perte. Verlag der Archiv-Gesellschaft, Berlin W. 62.
Unter den Vorträgen, die auf dem 9. internationalen Kongress
gegen den Alkoholismus gehalten wurden, befanden sich auch zwei,
welche die Rolle des Alkoholismus im Lebensprozess der Rasse be¬
handelten. Sehr vielen mögen die Gedanken, die dabei ausgesprochen
wurden, neu und überraschend gewesen sein. Ein wie lebhaftes Interesse
sie aber auf allen Seiten erregt hatten, bewies die stürmische Debatte,
die sich an die beiden Referate anknüpfte. In der Tat gibt es wohl
kein Problem, das augenblicklich mehr im Vordergründe des wissen¬
schaftlichen Denkens unserer Zeit stände, als das Problem der Rasse.
Eine Flut von Schriften hat sich über uns seit den geistreichen Unter¬
suchungen des Grafen Gobinneau über die Ungleichheit der Menschen¬
rassen ergossen und wenn man auch nicht sagen kann, dass das zu¬
grunde liegende Menschheitsproblem an irgend einer Stelle wesentlich
erhellt worden wäre, so haben doch manche ernste Arbeiten, wie
die von Laponge, Virchow, Ammon, Schurtz und Houston Steward
Chamberlain — um nur die bekanntesten Namen zu nennen — gezeigt,
dass wir auf diesem Gebiete den Schlüssel zu manchen Fragen der
Gesellschaftswissenschaften und der Kulturgeschichte zu suchen haben,
die uns bisher als unlösbar erschienen. Freilich gibt es zunächst ein
immer dichter aufschiessendes Gestrüpp unreifer und vorlauter Ansichten
zu beseitigen, das die ruhige Entwicklung der wissenschaftlichen Unter¬
suchung nur stören kann. Denn nirgends hat sich neuerdings ein un¬
erträglicher Dilettantismus breiter gemacht, als gerade hier. Es ist daher
ein sehr wertvolles Unternehmen, eine besondere Zeitschrift zu begründen,
die als Brennpunkt für die wissenschaftliche Erörterung dieser so ausser¬
ordentlich vielseitigen und komplizierten Fragen dienen kann. Und es
muss als eine besonders erfreuliche Tatsache bezeichnet werden, dass
der Herausgeber zugleich einer der Vorkämpfer in dem Kampfe gegen
den Alkoholismus ist. Das gibt uns die Gewähr, dass auch dieses
wichtige Gebiet bei der Untersuchung der Rassenhygiene nicht vernach¬
lässigt werden wird. Wir können deshalb unseren Freunden nur
empfehlen, das verdienstvolle, junge Unternehmen nach besten Kräften
zu fördern.
Der Prospekt erläutert den Begriff der Rasse in ähnlicher Weise
wie es der Herausgeber in seinem trefflichen Vortrage vor dem Bremer
Kongress getan hat. Rasse ist danach der physiologische Begriff einer
durchdauemden Lebenseinheit, deren Wesen nicht in der morphologischen
Aehnlichkeit der Individuen, sondern darin besteht, dass eine nach oben
und eine unten begrenzte Zahl von Individuen durch gegenseitiges
15 *
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UN1VERSITY OF CHICAGO
222
Besprechungen.
Difitized by
Ineinandergreifen bei der Fortpflanzung oder durch gegenseitigen Ersatz
eine Erhaltungs- und Entwicklungseinheit des Lebens bildet. Diesem
Begriff der Rasse entspricht es, dass die naturwissenschaftlichen, bio¬
logischen Gesichtspunkte zunächst in den Vordergrund treten. Das
Archiv wird daher vor allem auch die Abstammungslehre und die mit
ihr zusammenhängenden Fragen zu fördern suchen. Beim Menschen
selbst kommen in Betacht: die Geburten und Sterbeziffern, die Aus-,
Ein- und Binnenwanderungen und daraus resultierende Veränderungen
der Rasse, die Fortpflanzung, Variabilität und Vererbung, der Kampf
ums Dasein, die Auslese, die wahllose Vernichtung (kontraseile, klorische
Vorgänge), die Umgebungseinflüsse, wie Klima, Bodenbeschafifenheit,
Ernährung, soziale und wirtschaftliche Einflüsse etc., die Ungleichheit
der Rassen etc.
Ein anderes und doch eng mit dem Begriff der Rasse verflochten
ist die Gesellschaft. Auch für die Entwickelung der Gesellschaft, die
sich ebenfalls aus Individuen aufbaut, gibt es biologische Entwicklungs¬
bedingungen. Rassenbiologie und Gesellschaftsbiologie gehören eng zu¬
sammen. Nach der theoretischen Erforschung beider Probleme handelt
es sich um die praktische Verwertung der gewonnenen Ergebnisse für
Staat und Gesellschaft, für Rechts-, Staats- und Verwaltungs-Wissenschaft,
für die allgemeine politische und Kulturgeschichte, endlich auch für die
Moralphilosophie.
Das erste Heft der Zeitschrift liegt bereits vor. Wir heben unter
den zahlreichen Aufsätzen vor allem die grundlegende Abhandlung des
Herausgebers über den Begriff Rasse und Gesellschaft und die davon
abgeleiteten Disziplinen hervor, ferner L. Correns: Experimentelle
Unternehmungen über die Entstehung der Arten auf botanischem Gebiete.
W. Schallmeyer: Wirkungen gebesserter Lebenshaltung und Erfolge
der Hygiene als vermeintliche Beweismittel gegen Selektionstheorie und
Entartungsfrage, O. Ammon: Die Bewohner der Halligen, E. Rüdin:
Zur Rolle der Homosexuellen im Lebensprozess der Rasse. w. B.
Alkohol in den Tropen. Oberstabsarzt Fribig, der seit 1879
in niederländisch-indischen Diensten steht, ist der Verfasser einer Schrift
: lieber den Einfluss des Alkohols auf Europäer in den Tropen.« »Akkli¬
matisierung«, sagt er in derselben, »ist das Ergebnis einer Regelung
des Blutkreislaufes durch das vasomotorische Nervensystem. Der Alkohol¬
genuss in einem heissen Klima schwächt dasselbe und wirkt infolgedesssen
störend auf die Akklimatisierung ein. Bis zum Jahre 1898 erhielt jeder
in niederländischen Diensten stehende Soldat täglich 100 cbcm Wein
zu seiner Kostration. Im Mai jenes Jahres reduzierte General van Heutsz,
Gouverneuer von Atjeh, diese Portion auf die Hälfte und, noch mehr,
er gestattete den Leuten, die darin einwilligten, sich anstatt des Alkohols
den Wert desselben in Geld auszahlen zu lassen. Den Offizieren, deren
tägliche Portion sich auf V 2 Flasche Rotwein pro Kopf belief, wurde
eine ähnliche Wahl gestellt. Von jenem Augenblick an, meint Verf.,
wurden die Soldaten, angespornt durch das Beispiel ihrer Vorgesetzten,
Original fro-m
UNIVERSITY OF CHICAGO
Besprechungen.
223
in grosser Anzahl zu Abstinenten und zeigten eine derartige Widerstands¬
kraft gegen Krankheit und Ermüdung sowohl wie eine Unterwerfung
unter die Disziplin, wie sie noch niemals während einer der Kriege oder
Expeditionen in Indien wahrgenommen worden ist. Der Prozentsatz der
Krankheitsfälle fiel sofort; eine auffallende Verminderung machte sich
sogar schon im ersten Vierteljahre bemerkbar. Fribig ist seit 1894
Abstinent und fühlt sich seitdem viel wohler als vorher. Die Mittags¬
hitze übt keine schädliche Wirkung auf ihn aus und er ist im Stande,
während des Nachmittags mit ebenso klarem Kopfe zu arbeiten wie des
Morgens. Als er noch Alkohol zu sich nahm, ermüdete ihn das Exer¬
zieren in der Sonne sehr schnell; er war wie in Schweiss gebadet und
vollständig erschöpft. Jetzt kann er die schwerste Arbeit im Freien
ertragen, ohne zu ermatten. Obschon 46 Jahre alt, nahm Fribig kürz¬
lich an einer mühsamen Expedition teil und war im Stande, die längsten
und anstrengendsten Märsche mit verhältnismässiger Leichtigkeit auszu¬
führen. Ebenso war es mit den anderen Abstinenten, während alle, die
dem Wein zugetan waren, schwer zu leiden hatten und in vielen Fällen zu¬
sammenbrachen. Fribig kennt eine grosse Anzahl von Offizieren und
Gemeinen, die dem Alkohol ergeben sind und ihre Dienstpflichten in
der Friedenszeit erfüllen können. Sie werden als vollkommen dienst¬
fähig für den gewöhnlichen aktiven Dienst befunden; sowie sie aber
mit schwerer Arbeit auf die Probe gestellt werden, klappen sie zusammen.
Ihr Gefässsystem kann den Extraanstrengungen nicht Stand halten. Die
meisten von ihnen werden durch Schwäche oder Herzlähmung für den
betreffenden Dienst absolut ungeeignet. Viele Opfer der Alkoholgewohn¬
heit gehen moralisch zu Grunde, da sie alle Tatkraft und Initiative ver¬
lieren. Die Selbstmörder bei den Truppen in Niederländisch-Indien
sind durchweg Alkoholisten. K. B.
The Laucet, 28. Novemb«r 1093.
Eine bedeutende Abnahme im Bierkonsum Münchens
ergibt sich abermals aus den soeben veröffentlichten Berechnungen des
städtischen Statistischen Amtes für 1903. Diese sind von nun ab auf
neuer Grundlage durchgeführt. Bis jetzt wurde angenommen, dass von
1 hl Malz 2,2 hl Bier gebraut werden. Es stellte sich aber heraus,
dass mit den Fortschritten der Brautechnik vielmehr Bier aus der gleichen
Menge Malz gebraut wird, als in früheren Zeiten und so wird von jetzt
ab auf 1 hl Malz 2,45 hl Bier berechnet. Mit anderen Worten, die
Brauereien haben viel mehr Bier aus dem Malz bereitet, als angenommen
wurde, und die Biertrinker haben mehr vertrunken, als die Statistik nachwies.
Nach alter Berechnung hatte München in der Periode 1886/90
den höchsten Stand des Bierverbrauchs mit 487 1 auf den Kopf der
Bevölkerung. Seitdem nimmt diese Zahl regelmässig ab. In der Periode
91/95 war sie auf 412, 1896 auf 401, in den folgenden Jahren stufen¬
weise auf 393, 391, 364, 356, 341 und im vorletzten Jahre auf 298
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224
Besprechungen.
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gesunken. Im letzten Jahre, 1903, würde die auf den Kopf der Be¬
völkerung nach alter Rechnung treffende Jahresmenge auf 273 1 ge¬
sunken sein.
Nach der neuen Berechnung wären es 1902 aber 368 1 gewesen
und 1903 noch 338 1.
Sicher ist, dass der Malzverbrauch Münchens trotz der Be¬
völkerungszunahmen um etwa 15000 Seelen, die beträchtliche Abnahme
von 64 000 hl Malz gegen das Vorjahr aufweist.
Die Ausfuhr ist wieder etwas zurückgegangen, gegen 1902 mit
1 572272 hl im Jahre 1903 auf 1 545450 hl.
Nicht schön und fast ein Zeichen des Uebermuts ist es, dass
fremdes Bier mehr aufkommt. Rund 20000 hl Bier wurde von aussen
eingeführt, mehr als das Doppelte, wie vor wenigen Jahren, allerdings
noch verschwindend wenig gegen die i 3 4 Millionen Hektoliter
(t 740000) was München an eigenem Gebräu vertrinkt. C. B.
Sterblichkeitsverhältnisse der Gastwirte und anderer
männlicher Personen in Preussen, welche mit der Er¬
zeugung, dem Vertrieb und dem Verkauf alkoholhaltiger
Getr än k e ge w erb s m ässig b e sc h äftigt si n d , im Vergleich
zu anderen wichtigen Berufsklassen von Geh. Medizinalrat
Prof. Dr. Guttstadt (Jena, Verlag von Gustav Fischer 1904).
Aerzte und Volkswirte, welche die Wirkungen des Alkohols ge¬
nauer prüfen wollen, verlangen vor allem genaue statistische Nachweise.
Die als Abdruck aus dem »Klinischen Jahrbuch«, 12. Band,
eben erschienene, streng wissenschaftliche Arbeit von Prof. Dr. Guttstadt,
hat sich die Aufgabe gestellt, die Sterblichkeitsverhältnisse der Gast¬
wirte und anderer männlicher Personen in Preussen, welche mit der Er¬
zeugung, dem Vertrieb und dem Verkauf alkoholhaltiger Getränke ge¬
werbsmässig beschäftigt sind, mit den Sterblichkeitsverhältnissen anderer
wichtiger Berufsklassen zu vergleichen. Der Verfasser hat u. a. die
Berufsarten der Aerzte, protestantischen Geistlichen, Elementarlehrer und
Gymnasiallehrer bezüglich ihrer Sterblichkeit mit denen der Gastwirte
usw., besonders deshalb verglichen, weil bei den ersteren die Berufs¬
beschäftigung den Genuss alkoholischer Getränke nicht begünstigt. Als
Quelle dienten dem Verfasser teils die standesamtlichen Nachrichten,
teils eine Statistik der Gothaer Lebensversicherungsbank zur 75. Wieder¬
kehr des Gründungstages der Bank und die amtlichen Nachrichten des
Reichsversicherungsamtes über die Unfällle von Arbeitern, deren Beruf
zur Trunksucht führen kann. Prof. Guttstadt macht unter Hinweis auf
eine Reihe hochinteressanter Tabellen u. a. besonders darauf aufmerksam,
dass die gestorbenen Männer, welche durch ihren Beruf der Verführung
zum Alkoholgenuss ausgesetzt waren, in jüngeren Altersklassen standen,
als die gestorbenen Angehörigen anderer Berufsklassen, ferner, »dass das
Brauer- und Kellnergewerbe bereits für das jugendliche Mannesalter
lebensgefährlich erscheint«. Er fügt hinzu: »dass die Gast- und Schank-
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Besprechungen.
225
wirte vor dem 60. Lebensjahre zahlreich sterben, wie die mitgeteilten
Zahlen ergeben, muss umsomehr auffallen, als gerade diese Personen
bezüglich ihrer äusseren Lebensverhältnisse, insbesondere in Beziehung
auf die Ernährung, gewiss durchweg günstig gestellt sind.« Weiter er¬
gibt sich aus der Reichsversicherungsstatistik: »dass das Brauerei¬
gewerbe auffallend viele Verletzte jährlich zu entschädigen
hat. Während auf 1000 versicherte Personen sämtlicher gewerblicher
Berufsgenossenschaften im deutschen Reiche in den 5 Jahren von
1897 bis 1901 nur 41—46 Verletzte, soweit Unfallanzeigen jähr¬
lich erstattet sind, entfielen, war bei den Brauerei-Berufsgenossenschaften
dieses Verhältnis auf 99 — 118 festgestellt worden. Die Unfälle in den
Brauerei- und Mälzerei-Genossenschaften übertreffen sogar die Unfälle
beim Bergbau. Bei den Gastwirten, Kellnern und Bierbrauern zeigt
sich unter den Todesursachen auch eine besonders grosse
Häufigkeit der mit dem Alkoholismus in engerer Beziehung
stehenden Tuberkulose. Prof. Guttstadt schliesst seine lehrreichen,
medizinal-statistischen Untersuchungen mit dem Satze: »Gefährlich wirkt
der Alkoholgenuss auf alle Organe des menschlichen Körpers ein, wie
die medizinische Erfahrung lehrt, sei es unmittelbar oder mittelbar durch
die Schwächung der Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen Erkrankungs¬
ursachen, die den Menschen, ob arm oder reich, zahlreich bedrohen«.
Geistige Getränke. Von E. W. Milliet, Direktor des eid¬
genössischen Alkoholamtes in Bern. Sonderabdruck aus dem »Hand¬
wörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Ver¬
waltung«. Herausgegeben von Dr. jur. N. Reichesberg, Prof, an der
Universität zu Bern. — Bern, Verlag Encyklopädie 1904.
Diese Schrift ist nicht nur reich an amtlichen, statistischen An¬
gaben über Produktion, Ein- und Ausfuhr und Verbrauch von geistigen
Getränken in der Schweiz, sondern berichtet auch über Massnahmen
gegen den Missbrauch und ist weit über die Schweiz hinaus ganz be¬
sonders lehrreich durch eine ausführliche Darstellung der Entstehung
und Entwicklung und der finanziellen Ergebnisse des schweizerischen
Alkoholmonopols. Unter den geistigen Getränken unterscheidet
der Verfasser 1. Traubenwein, Trockenbeerenwein, Trester- und Hefen¬
wein; 2. Aepfel- und Birnenwein; 3. Bier; 4. Branntwein, Likör und
Likörwein und 5. Geistige Getränke überhaupt.
Die von dem Verfasser über die Produktion und den Verbrauch
der geistigen Getränke gelieferten Zahlen erstrecken sich mit besonderer
Genauigkeit auf das Jahrzehnt von 1893—1902. In dieser Zeit hat
der Branntweinkonsum für die ganze Schweiz eine entschiedene Ab¬
nahme erfahren, er ist namentlich in den Kantonen, welche früher die
Hauptkonsumenten gebrannter Wasser waren, je länger je mehr durch
harmlosere Getränke verdrängt worden. Mit der Abnahme des Ver¬
brauchs gebrannten Wassers ist ein noch gewaltigeres Zunehmen des
Konsums der gegorenen Getränke Hand in Hand gegangen! Nach Milliet
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226
Besprechungen.
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ist der Verbrauch von Alkohol in Form geistiger Getränke jeder Art
von 1880/84 auf 1893/1902 um 10 % gestiegen. »Der Konsum von
Bier hat um 60,8 %, derjenige von Traubenwein um 29,3, derjenige
von Obstwein um 24,8 % zugenommen, während der Branntweinverbrauch
um 39,2 % vermindert worden ist.« — Der Reinertrag des schweizerischen
Branntweinmonopols belief sich bis Ende 1902 auf 85871 591 Fr.
Der Verkauf zu Monopolpreisen begann anfangs September 1887. Der
erwähnte Gewinn ist also in ca. 15 */ 3 Jahren erzielt worden, beträgt mit¬
hin im Jahresmittel 5600321 Fr. Die Kritiker des Alkoholmonopols
stellen der letzteren Summe die vom Bundesrate ursprünglich veran¬
schlagte Reineinnahme von 8820000 Fr. gegenüber und behaupten, die
enorme Differenz von 3220000 Fr. beweise, dass das Monopol einen
gewaltigen Misserfolg bedeute. Milliet widmet dieser Kritik und den
Ergebnissen des Alkoholmonopols überhaupt eine ausführliche Be¬
sprechung. Milliet bespricht weiter in objektiver Weise die Bestrebungen
der Privathilfe gegen den Alkoholismus. Er hebt hervor, dass dieselben
im Volk und bei Behörden wachsende Anerkennung finden und bemerkt
ausdrücklich: »dass der Abstinenzrichtung die führende Rolle zukomme
und dass zu der ursprünglich mehr auf religiösem Boden wirkenden Be¬
wegung sich eine vorwiegend naturwissenschaftliche zugesellt habe«.
Milliet’s gediegene Darstellung verdient überall beachtet zu werden.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. Viktor Böbmert, Dresden, Glacisstrasse 18.
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18.
Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul.
Original fro-m
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h ^isor 1 ' <>
Was lehrt die Statistik in Betreff des
Einflusses der geistigen Getränke auf die
Gesundheit?
Von Professor Harald Westergaard in Kopenhagen.
Vortrag, gehalten auf dem Nordischen Enthaltsamkeitskongress
in Kopenhagen, im Juli 1904.
Die hier aufgeworfene Frage ist eine der wichtigsten, aber
zugleich eine der schwierigsten Fragen der Sozialstatistik. Die
Feinde, welche den Menschen von der Wiege bis zum Grabe
umschwärmen und ihn fortwährend mit Krankheit und Tod
bedrohen, sind so zahlreich und verbünden sich bei ihren An¬
griffen oft dermassen miteinander, dass es sehr schwierig ist,
darüber klar zu werden, welche Rolle ein jeder dieser Feinde
spielt. Man hat daher auch erst in der neueren Zeit anfangen
können, die Grundzüge ihres Einflusses auf das menschliche
Leben näher zu zeichnen.
Ganz besondere Schwierigkeiten entstehen, wenn es sich
um die alkoholischen Getränke handelt, weil dieselben nicht
nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Wirkungen entfalten.
Der Sklave des Alkohols wird häufig der Verarmung anheim¬
fallen, und wenn dann die Krankheit an seine Türe klopft,
wird sie ihn und die Seinen um so leichter überwinden. Zu
welchem Teil aber diesesfalls. die alkoholischen Getränke zu
Verarmung, Erkrankung und frühem Tod beigetragen haben,
lässt sich selbstverständlich schwer abschätzen. Nicht mindere
Schwierigkeiten bietet die Frage der Degeneration und ver¬
minderten Widerstandsfähigkeit der Kinder von Trinkern. Man
Die Alkoholfrage. 16
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Original fro-m
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Abhandlungen.
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228
muss sich eben mit der Tatsache begnügen, dass der Alko¬
holismus die menschliche Gesundheit teils unmittelbar, teils mittel¬
bar schädigt und vorhandene Leiden verschlimmert. Wie
gross aber diese Schädigung oder diese Verschlimmerung ist,
lässt sich nicht angeben. Auch können wir uns hier nur mit
den unmittelbaren Wirkungen befassen.
Wenn man die Sterblichkeitsverhältnisse verschiedener
Berufszweige an der Hand der englischen — hierüber
Auskunft gebenden — Statistik miteinander vergleicht, dann
wird man finden, dass unter den zahlreichen Ursachen,
welche das menschliche Leben abkürzen, einzelne eine
besonders hervortretende Rolle spielen. Aus diesem Grunde
wird man gut tun, vorerst diejenigen Berufe auszuscheiden,
deren Arbeiter der Staubeinatmung oder anderen,
die Entwickelung von Tuberkulose und sonstigen Krank¬
heiten der Atmungsorgane begünstigenden Schädlichkeiten
ausgesetzt sind, wie z. B. Feilenhauer, Stahlschleifer, Stein¬
hauer und Töpfer. Von wesentlicher Bedeutung sind auch die
professionellen Bleivergiftungen bei Malern, Glasmachern
und Schriftsetzern, sowie die hervorragende Unfalls¬
häufigkeit beim Transportgewerbe und dem Bergwerks¬
betrieb im Gegensatz zu der ungleich weniger gefährdeten
Textilindustrie und zum Handel. Dass auch die Woh lstands-
verhältnisse einen wesentlichen Einfluss ausüben, hat man
schon lange gewusst.
Werden nun diese Ursachen ausgeschieden, dann erreicht
man schon eine sehr bedeutende Ausgleichung der Sterblich¬
keitsverhältnisse, sodass es oft schwierig genug erscheinen
würde, die übrigen Ungleichheiten anders als rein zufällige zu
erklären. Es bleiben aber doch nicht selten auffallende Un¬
gleichheiten, die eine Erklärung erheischen. So sind in England
die Fleischer und Barbiere sehr ungünstig gestellt. Dasselbe
gilt von den Brauereiarbeitern, den Kaminfegern, von den
Schankwirten und Kellnern. In England haben z. B. die
Kaminfeger eine Sterblichkeit, die */ 8 , die Brauereiarbeiter eine
Sterblichkeit, die 2 /s über dem Durchschnitt liegt. Das sind
Abweichungen, welche man sonst nur selten findet. Man kann
übrigens auch zwischen den einzelnen Ländern mit Rücksicht
auf die Berufssterblichkeit grosse Verschiedenheiten beobachten.
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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc. 229
So scheinen die Maurer in Dänemark ungünstiger als die
englischen Maurer gestellt zu sein.
Fragt man nun nach den Ursachen dieser grösseren
Sterblichkeit in gewissen Berufen, so wird eine Ursache sich
immer wieder aufdrängen, nämlich die verschiedene Aus¬
breitung der Trinksitten.
Nach den englischen Todeslisten können unter 1000 Todes¬
fällen der erwachsenen männlichen Bevölkerung etwa 13 auf
Alkoholismus zurückgeführt werden. Aber in allen soeben er¬
wähnten Berufen spielt der Alkoholismus eine weit grössere
Rolle. Bei den Fleischern und Barbieren können
unter 1000 Todesfällen je 35 und bei den Schankwirten
und Kellnern sogar 92 und 106 auf Alkoholismus zurück¬
geführt werden, und will man alle Berufe, betreffend welcher
statistische Erhebungen vorliegen, durchgehen, so gewinnt man
den Eindruck, dass es sich hier um ursächliche Beziehungen
von weittragender Bedeutung handelt.
Es Hesse sich nun freilich einwenden, dass bei so ausser¬
ordentlich grossen Unterschieden von Beruf zu Beruf die Auf¬
stellung einer Kategorie von Todesursachen, die nur ein paar Pro¬
zente der gesamten Todesfälle ausmachen, überhaupt von unterge¬
ordnetem Werte sei. Dem ist aber nicht so. Es darf nicht über¬
sehen werden, dass man über den Alkoholismus eines Verstorbenen
durchaus nicht immer Nachricht erhält. Es gibt eine Menge
von Todesursachen, welche als Sündenböcke dienen müssen.
Denn nicht nur figurieren hier als Todesursachen Lebercirrhose
und Delirium tremens, also Krankheiten, von denen man ja
weiss, dass sie sich auf dem Boden des Alkoholismus ent¬
wickeln. Um vieles häufiger findet man beim Ableben von
Alkoholikern als Todesursachen angegeben: Lungenentzündung,
Phthisis oder so manches andere Leiden, welches zuletzt im
Vordergrund der Erscheinungen gestanden haben mag. Sobald
also in gewissen Berufen auch nur wenige Prozente der ge¬
meldeten Todesfälle unmittelbar auf Alkoholismus zurückgeführt
worden sind, so kann dies schon als Anzeichen gelten, dass
neben diesen wenigen Fällen von notorischem Alkoholismus
ein bedeutend höherer Prozentteil von verschleiertem
Alkoholismus einhergeht.
16 *
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Abhandlungen.
Ich will hier nur anführen, dass nach der englischen Sterb¬
lichkeitsstatistik ein geradezu auffallender Parallelismus besteht
zwischen Selbstmorden und Todesfällen an Alkoholismus.
Ordnet man nun die Berufe gruppenweise nach der Häufigkeit
der Alkoholtodesfälle, so wird man finden, dass in den Gruppen
mit grosser Häufigkeit der Alkoholtodesfälle auch die Selbst¬
mordfrequenz eine bedeutende ist, selbst wenn einzelne Berufe
vielleicht Ausnahmen von der Regel bilden. Die unten stehende
kleine Uebersicht mag das zeigen.*)
Entsprechende Erfahrungen kann man auf vielen anderen
Gebieten machen. So ist schon seit lange bewiesen, welche
ungeheure Rolle der Alkoholismus der Lungenentzündung
gegenüber spielt.**)
Man wird also dazu gezwungen, die Trinksitten als
eine der Hauptursachen der grösseren oder geringeren Sterb¬
lichkeit in den einzelnen Berufen einzureihen und man wird
durch viele Einzeluntersuchungen der neueren Zeit dieses Er¬
gebnis nur bestätigt finden. Ich will hier ein bemerkenswertes,
wenngleich in vielen Beziehungen verfehltes Werk anführen,
welches im letzten Jahre als Ergebnis einer Kollektivunter¬
suchung von 34 amerikanischen Lebensversicherungs- Gesell¬
schaften erschien.***) Es wird darin bewiesen, dass alle Berufe,
die mit geistigen Getränken zu tun haben, eine grosse Sterb¬
lichkeit aufweisen. Dieses gilt selbst von den als Teetotallers
in die Versicherungsanstalt aufgenommenen Verkäufern geistiger
Getränke, weil vielen von ihnen die Versuchung, das Enthalt¬
samkeitsgelübde zu brechen, vermutlich mit der Zeit zu gross
wird. Aber eine noch grössere Uebersterblichkeit findet man
natürlich bei solchen Verkäufern geistiger Getränke, die bei der
*) Westergaard: Die Lehre von der Mortalität und Mortalität. 2. Ausg. 1901, p.660.
Alkoholtodesfälle
Selbstmorde
Alkoholtodesfälle
Selbstmorde
pro Mille
pro Mille
pro Mille
pro Mille
0-2
8
15—20
17
8-5
9
21—30
17
6-8
18
31—40
20
9—11
15
41 u. darüber
28
12—14
16
insgesamt 13
14
**) Breuning-Stom: Bidrag til den Crupöse Pneumonis Statistik. Kopen¬
hagen 1888.
***) Experience of Thirty-Four Life Companies upon Ninety-Eight Special
Classes of Risks. New*York 1908.
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UMVERSITYOF CHICAGO j
Westergaard, Was lehrt die Statistik etc.
231
Aufnahme nicht enthaltsam waren. Die Sterblichkeit ist hier
1 / 3 grösser als die normale.
Von besonderer Bedeutung für die Beleuchtung der Frage
nach dem Einfluss der geistigen Getränke auf die Lebensdauer
sind nun die Erfahrungen solcher Lebensversicherungs¬
gesellschaften, die zwei Abteilungen haben, eine für Ent¬
haltsame und eine andere für Nichtenthaltsame. Seit vielen
Jahren hat man beobachtet, dass diese Gesellschaften in der
Regel eine geringere Sterblichkeit in der Enthaltsamkeitsab¬
teilung, als unter den übrigen Versicherten haben, man hat aber
bis auf die letzten Jahre befriedigende Auskunft mit Rücksicht
auf gewisse Fehlerquellen vermisst, welche vielleicht einen Ein¬
fluss üben könnten, und man hat daher früher in wissenschaft¬
lichen Kreisen Zweifel erhoben. Es ist das Verdienst von
Dr. Helenius, hierüber Klarheit geschaffen zu haben. Später
hat R. M. Moore in einer interessanten Schrift *) die Sache be¬
handelt, sodass man jetzt von einem endgültigen Ergebnis reden
kann, selbst wenn einige unsichere Punkte noch bleiben.
Die Gesellschaft, welche namentlich auf diesem Gebiete
bahnbrechend vorging, ist die United Kingdom Tempe-
rance and General Provident Institution, welche
1840 gestiftet wurde und mithin auf eine Wirksamkeit von mehr
als zwei Menschenaltern zurückblicken kann. Diese englische
Gesellschaft pflegt in ihre beiden Abteilungen (für Enthaltsame
und für Nichtenhaltsame) Antragsteller nur nach genauer Prüfung
aufzunehmen, so dass man sicher sein darf, dass auch in der
allgemeinen Abteilung Leute, welche des Hanges nach Spiri¬
tuosen verdächtig sind, keine Aufnahme finden. Sie mag in
der Hauptsache aus Mitgliedern bestehen, welche für gewöhnlich
keine alkoholischen Getränke gemessen, sich aber Vorbehalten
wollen, bei festlichen Gelegenheiten ihr Glas Wein zu trinken.
Da Mitglieder von der einen Abteilung in die andere übergehen
dürfen, hat man gefragt, ob dieses wohl die Verhältnisse ver¬
schleiern könnte. Wenn z. B. ein Kranker, dem der Arzt alko¬
holische Getränke verordnet hat, in die allgemeine Abteilung
*) R. M. Moore: On the Comparative Mortality Among Assured Lives of Ab¬
stainers and Non-Abstainers from Alcoholic Beverages. Journal of the Institute of
Actuaries 1904. Vergl. auch Whittaker: Alcoholic Beverages and Longevity, referiert
in No. 2 dieser Vierteljahrsschiift p. 216.
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v Goc »gle
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232
Abhandlungen.
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übertragen wird, könnte dieser Umstand der allgemeinen Ab¬
teilung einen Todesfall zuführen, welcher eigentlich der Ab¬
teilung für Abstinente zugehört hätte. Die Gesellschaft hat
aber über derartige Grenzfälle genau Buch geführt und hier¬
durch erweisen können, dass die Wirkung derartiger Fehler¬
quellen verschwindend ist. Dasselbe gilt von der sozialen Zu¬
sammensetzung der beiden Abteilungen. Sie ist eine durchaus
gleichartige, so dass man annehmen darf, die Sterblichkeit
würde in beiden Abteilungen die gleiche sein, falls der Alkohol
seinen Einfluss nicht geltend machte, immer vorausgesetzt natür¬
lich, dass man alle die bekannten Verhältnisse berücksichtigt,
welche ausserdem die Sterblichkeit beeinflussen können, wie
Altersverteilung der Versicherten, Dauer der Versicherungen,
besondere Sterblichkeit der Periode, in welcher die betreffenden
Beobachtungen gemacht worden sind. Alle diese Fehlerquellen
nun lassen sich ausschalten und man gelangt dann zu dem Er¬
gebnis, dass die Sterblichkeit in den beiden Abteilungen eine
ausserordentlich verschiedene ist. In aller Kürze lässt sich die
Sachlage so ausdrücken, dass, während die Sterblichkeit in der
allgemeinen Abteilung der Provident Institution genau der
Sterblichkeit der englischen Lebensversicherungsgesellschaften
nach der letzten grossen gemeinschaftlichen Untersuchung
(1863—93) entspricht, die Sterblichkeit in der Abtei¬
lung für Abstinente nur drei Viertel der Sterb¬
lichkeit nach dieser gemeinschaftlichen Unter¬
suchung beträgt.
Wie man nun auch den Stoff behandelt, von welchem
Gesichtspunkt man auch die Beobachtungen gruppiert — immer
kommt man auf denselben Unterschied. Man ist somit berech¬
tigt, zu schliessen, dass die Abstinenten aller Wahrscheinlich¬
keit nach unter sonst gleichen Umständen viel grössere Lebens¬
aussichten haben, als die Nicht-Abstinenten. Dies wird bestätigt
durch die Erfahrungen anderer Gesellschaften, denen es gelang,
Berechnungen von hinlänglicher Genauigkeit anzustellen und
etwaige störende Ursachen zu entfernen.
Eine Schwierigkeit bei Uebertragung dieser Erfahrungen
auf andere Länder liegt selbstverständlich darin, dass der Ver¬
brauch der geistigen Getränke ein sehr verschiedener ist. Es
wäre ja nicht unwahrscheinlich, dass die Verhältnisse sich etwas
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UNIVERSITY OF CHICAGO
Westergaard, Was lehrt die Statistik etc.
233
anders stellten, wo der Verbrauch der alkoholischen Getränke
in der Bevölkerung geringer ist, als gewöhnlich in England.
Man hat besonders einige abweichende, aber übrigens nicht
besonders klare Erfahrungen von Neuseeland in dieser Weise
auffassen wollen. Aber auf der anderen Seite darf man nicht
übersehen, dass die Leitung der Gesellschaft Abstinenten an¬
vertraut ist, die, wie oben angeführt, alle Anträge sehr kritisch
behandeln. Man kann also annehmen, dass die Massigkeit der
Aufgenommenen mit allem Ernst geprüft wird und dass der
Alkoholkonsum in der allgemeinen Abteilung bedeutend geringer
ist, als bei der erwachsenen englischen Bevölkerung überhaupt.
Der Unterschied in den Lebensaussichten kommt zum
Ausdruck, wenn man berechnet, wie gross die mittlere Le¬
bensdauer in den beiden Abteilungen ist. Man wird finden,
dass, während ein 20jähriger Mann in der Abteilung für Ab¬
stinente Aussicht hat, durchschnittlich etwa noch 47 Jahre zu
leben, ein 20 jähriger Mann in der allgemeinen Abteilung durch*-
schnittlich nur noch ein wenig über 43 Jahre zu leben hat.
Der Unterschied beträgt mithin gegen 4 Jahre. Diese Zahl
verdient Beachtung.
Wenn es sicher wäre, dass alle Mitglieder der allgemeinen
Abteilung ihr ganzes Leben lang mässig blieben, dann würde
man aus diesen Zahlen herauslesen können, dass schon ein
massiger Verbrauch geistiger Getränke sehr schädlich für die
Gesundheit ist. Aber so einfach liegt die Sache nicht. Im
Kreise der ursprünglich Massigen werden viele allmählich der
Versuchung zur Unmässigkeit zum Opfer fallen. Dass dieses
der Fall ist, darauf deuten die Erfahrungen, betreffend die
Sterblichkeit nach der Versicherungsdauer. Es
scheint die Sterblichkeit der Mitglieder der allgemeinen Abtei¬
lung anfangs weniger verschieden von derjenigen der Abteilung
für Abstinente zu sein, als später (bei den schon länger Ver¬
sicherten). Im Laufe der Jahre entfernen sich allem Anschein
nach die Mitglieder der allgemeinen Abteilung immer häufiger
vom Abstinenzstandpunkt. Die allgemeine Abteilung wird so¬
mit aus Personen bestehen, die alle Grade des Alkoholverbrauchs
repräsentieren, gerade wie die Bevölkerung eines ganzen Landes;
und es ist nicht unmöglich, dass die Unmässigen allein,
und nicht die Mässigen, die grosse Uebersterblichkeit bewirken.
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UN1VERSITY OF CHICAGO
234
Abhandlungen.
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Die Statistik hat zur Zeit kein Mittel zur Verfügung, um diese
Frage zu beantworten. Sie kann nicht darüber Auskunft geben,
ob ein geringer Alkoholverbrauch gesundheitsschädlich ist oder
nicht. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit vor, dass die
Grenze für den unschädlichen Alkoholgenuss sehr niedrig ge¬
dacht werden muss, viel niedriger, als die meisten älteren
Autoren anzunehmen geneigt waren.
Wie man nun kein Mittel hat, durch statistische Beobach¬
tungen die Frage zu entscheiden, ob ein Minimalkonsum
geistiger Getränke gesundheitsschädlich ist, so
kann man auch nicht mit Genauigkeit die Lebensaussich¬
ten für die eigentlichen Säufer fesstellen. Die bis¬
herigen Versuche nach dieser Richtung können als wertlos bei
Seite gelegt werden, wenn auch nicht geleugnet werden soll,
dass sie in anderer Beziehung wertvolle Auskünfte geben können.
Das gilt beispielsweise von des älteren Neison „Untersuchungen
über die Säufersterblichkeit“ und von der Enquöte der British
Medical Association aus dem Jahre 1888. Schon ganz anders
liegt die Sache, wenn man die Sterblichkeit innerhalb gewisser
Berufe beobachten kann, welche sich zwar durch starke Ver¬
suchungen zu übermässigem Alkoholgenuss auszeichnen, aber
doch immer zugleich eine Anzahl massiger Leute zählen dürften,
wie die Berufe der Schankwirte und Brauereiarbeiter. Einen
kleinen Anlauf zur Beleuchtung der Säufersterblichkeit wird
man in dem obenerwähnten Berichte der 34 amerikanischen
Lebensversicherungsgesellschaften finden. Nach demselben er¬
gab sich, dass unter den Mitgliedern, welche früher einmal eine
Kur gegen Trunksucht durchgemacht oder aus eigener Kraft
ihre Trunksucht überwunden hatten, eine verhältnismässig grosse
Sterblichkeit herrschte. Dieses Ergebnis verdient um so grössere
Beachtung, weil die Gesellschaften zweifelsohne solchen Per¬
sonen gegenüber erhöhte Vorsicht walten lassen. Wenn ihre
Sterblichkeit trotz aller Strenge bei der Aufnahme eine solche
Höhe erreichte, dürfte dies darauf hindeuten, dass eine Anzahl
dieser Personen durch übermässigen Alkoholgenuss ihre Kon¬
stitution bereits in einer nicht wieder ganz gut zu machenden
Weise geschwächt hatten.
Es würde übrigens sehr leicht sein, durch eine gemein¬
schaftliche Untersuchung — z, B. durch Aerzte — im
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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc.
235
Laufe einiger Jahre eine Statistik zur Berechnung der Säufer¬
sterblichkeit zu Stande zu bringen. Es gilt nur einige Zeit hin¬
durch solchen Personen im Bekanntschaftskreis des betreffenden
Beobachters zu folgen, die als Säufer zu betrachten sind. Wenn
alle diese Beobachtungen auf einem Orte gesammelt würden,
würde man ein ausgezeichnetes Material zur Beantwortung der
Frage zur Verfügung haben. Es könnte sehr leicht unter
vollster Diskretion mit Rücksicht auf die betreffenden Namen
geschehen. Ich habe diesen Gedanken mehrmals ausgesprochen,
aber ohne Anschluss zu gewinnen. Sollte eine solche gemein¬
schaftliche Untersuchung das Ergebnis dieses Vortrags werden,
würde ich mich als reichlich belohnt betrachten. Bis dahin
muss man sich mit dem Ergebnis der bisher eingesammelten
Statistik begnügen, nämlich dass die Sterblichkeit der Massigen
und der Säufer zusammen bedeutend grösser ist, als die der
Abstinenten.
Im vorhergehenden habe ich mich wesentlich mit eng¬
lischen Erfahrungen beschäftigt. Man wird aus diesen deut¬
lich erkennen, dass das englische Volk im Alkoholismus einen
ernsten Feind hat. Es steht in gutem Einklang hiermit, wenn
The Harveian Society seiner Zeit fand, dass ein Fünftel
aller Todesfälle in der erwachsenen männlichen Bevölkerung
Londons in Verbindung mit der Trunksucht stehe.
Man würde sich aber einem Irrtum hingeben, wenn man
glauben wollte, dass das Unheil sich auf England allein be¬
schränkt. In einer Reihe von Städten der Schweiz hat
man alle unter erwachsenen Männern vorkommenden Todes¬
fälle besonders registriert, welche ärztlicherseits mit dem Al¬
kohol in Verbindung gebracht werden, und ist hierdurch auf
10 % der Gesamtzahl gekommen. Und was Dänemark be¬
trifft, so wird es genügen, einige von Dr. G. Poulsen für die
Jahre 1897—99 in einer Provinzialstadt mit angrenzenden Land¬
bezirken gefundene Zahlen anzuführen. Allerdings ist in der
betreffenden Gegend der Alkoholkonsum verhältnismässig gross.
Bei erwachsenen Männern dürften nach diesen Beobachtungen
mittelbar oder unmittelbar auf Alkoholismus zurückzuführen
sein ein Viertel der Todesfälle.*)
*) G. Poulsen: Alkohols Indflydelse paa Organismen 1903, p. 286 ff.
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236
Abhandlungen.
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Durch diese Untersuchungen findet die offizielle Statistik
eine interessante Bestätigung. Auf Dr. med. Carlsens An¬
regung werden für die dänischen Provinzialstädte Verzeichnisse
geführt über alle Todesfälle, welche nach dem Totenschein auf
Trinker bezogen werden müssen, indem Alkoholismus chronicus
oder Delirium tremens als Hauptursache oder als mitwirkende
Ursache des Todes auf dem Totenschein ausdrücklich bezeichnet
sind. So konnten unter allen Todesfällen bei Männern über
20 Jahre 1890—97 gegen 7 Prozent auf Alkoholismus zurück¬
geführt werden, bei Männern zwischen 45 und 55 Jahren jeder
achte Todesfall, bei Männern zwischen 35 und 45 sogar jeder
siebente.*) Diese Zahlen können selbstverständlich nur Minimal¬
zahlen sein, denn ohne Zweifel wird es sehr viele Fälle geben,
wo der Arzt nur ungern das Wort Alkoholismus auf einen
Schein schreibt, welcher in die Hände der Hinterlassenen ge¬
langt. Das ergibt sich deutlich aus der Vergleichung von
Dr. Carls ens mit Dr. Pou Isens Verzeichnissen für die
erwähnte Stadt 1897—99. Nach den ersteren Hessen sich nur
10, nach den letzteren aber nicht weniger als 28 auf Alkoholis¬
mus zurückführen. In 18 Fällen des Carlsen-Verzeichnisses war
also der notorische Alkoholismus nicht einmal angedeutet; dafür
fand sich als Todesursache angegeben: „Herzkrankheit“, „Lungen¬
entzündung“, „Lungentuberkulose“ u. a. m. Man hat also alle
Ursache zu glauben, dass die offiziellen Zahlen viel höher,
vielleicht um ein mehrfaches höher sein müssten, um ein zu¬
verlässiges Bild von den Verheerungen zu geben, welche der
Trunk in Dänemark anrichtet. Aber schon wie sie sind, reden
diese Zahlen eine beredte Sprache.
Falls man sich nun lediglich auf diese Minimalzahlen be¬
schränkt, nach welchen also 7 Prozent der Todesfälle unter
erwachsenen Männern in den Provinzialstädten dem Alkohol
zuzuschreiben sind, und falls man ähnliche Verhältnisse in
anderen Bezirken des Landes annimmt, dann wird man zu dem
Ergebnis gelangen, dass diese Todesursache die durchschnitt¬
liche Lebensdauer für Männer im Alter von 20 Jahren über
ein Jahr verkürzt. Bedenkt man nun, dass dieser Verlust
*) Westergaard: Sädeligheds Forhold, statistisk belyste (Danmarks Kultnr
ved Aar 1900 , Kopenhagen 1901 ).
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Westergaard, Was lehrt die Statistik etc.
237
eines Lebensjahres allein von denen getragen werden muss,
welche trinken, und nicht von Abstinenten, und erwägt man
ferner, dass die genannten 7 Prozent nur einen Teil der Alkohol¬
sterblichkeit darstellen, dann wird man ermessen können, dass
die Gesamtwirkung der alkoholischen Getränke in Dänemark
nicht minder gross ist wie in England, dass mit anderen Worten
unter sonst gleichen Umständen ein ebenso grosser Unterschied
zwischen der Lebensdauer der Abstinenten und der Nicht-
Abstinenten in Dänemark besteht, wie in England. Der Einfluss
der geistigen Getränke erweist sich jedenfalls in Dänemark wie
in England als ein unermesslicher Kraftverlust.
Und zwar handelt es sich bei diesem Kraftverlust nicht
um Opfer an Kraft, die man zu bringen gezwungen ist, wie
etwa bei Ableistung seiner Wehrpflicht. Nein! die durch das
Trinken entstehende Einbusse an Gesundheit und Lebensdauer
kann sich jeder nach Belieben ersparen. Wieviel man gewinnen
wird, wenn man seinen Verbrauch an alkoholischen Getränken
mehr oder weniger einschränkt, lässt sich, wie wir sehen,
unmöglich angeben. Es ist denkbar, dass ein Minimalverbrauch
keinen bemerkbaren Einfluss ausübt, z. B. wenn ein Mann für
gewöhnlich gar keine geistigen Getränke zu sich nimmt und
nur ganz gelegentlich ein Glas Bier oder Branntwein. Gerade
aber wenn es sich so verhalten sollte, müsste der regel¬
mässige Genuss geistiger Getränke um so schädlicher sein.
Denn wie könnte sonst die angeführte Durchschnittssterblich¬
keit am Alkohol zum Vorschein kommen? Denn die Tatsache
steht doch fest, dass ein jedes erwachsene Mitglied der männ¬
lichen dänischen provinzialstädtischen Bevölkerung durch¬
schnittlich durch die alkoholischen Getränke ein Jahr
seines Lebens einbüsst.
Und indem man diese Durchschnittsberechnung zu Grunde
legt, wird man die gewonnenen Erfahrungen zu einer kleinen
Gedankenspielerei benutzen können: man fragt, wie viel dann
jeder genossene Liter Branntwein zur Verkürzung der
menschlichen Lebensdauer beiträgt. Ich gehe davon aus,
dass jeder erwachsene Mann in Dänemark durchschnittlich
etwa 60 Liter Branntwein im Jahre konsumiert, was 4 bis 5
Flaschen bayrisch Bier täglich entsprechen würde. Wenn
nun nach der letzten dänischen Sterbetafel ein 20jähriger
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238
Abhandlungen.
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Mann durchschnittlich etwa noch 44!/ 2 Lebensjahre zu erwarten
hat, so bedeutet für ihn der erwähnte Verbrauch im Laufe der
Jahre 2670 Liter Branntwein in der Form irgend welcher geistigen
Getränke. Und wenn nun dieser Verbrauch von ihm mit einem
Jahre Lebensverkürzung bezahlt wird als Minimalausdruck
Seiner Alkoholzerrüttung, so wird das weiter bedeuten, dass jeder
Liter genossenen Branntweins das Leben seines Opfers
durchschnittlich um mehr als 3 Stunden verkürzt
und dass jedes Glas bayrisches Bier, womit der Durstige sich
labt, durchschnittlich mit einer halben Viertelstunde seines
Lebens bezahlt wird. In Wirklichkeit sind, wie oben ausge¬
führt, diese Zahlen noch weit höher, wahrscheinlich zwei- oder
dreimal so hoch. Das ist, wie gesagt, und soll nichts anderes
sein, eine Gedankenspielerei, aber ich glaube doch behaupten
zu dürfen, dass solche Kalkulationen ihre volle Berechtigung
haben. Jedermann kann sie nachprüfen und nach ihrem Muster
andere Berechnungen anstellen, welche in ähnlicher Weise das
allgemeine Verständnis dieser hochwichtigen Dinge fördern.
Gibt es doch viele Millionen Menschen in der zivilisierten
Welt, die bisher einen regelmässigen Verbrauch von geistigen
Getränken für etwas relativ Unschädliches gehalten haben. Ich
will mit dem Wunsche schliessen, dass viele dieser Menschen
die angeführten statistischen Tatsachen und Berechnungen nicht
nur auf dem Papier, sondern auch im Leben ernstlich prüfen
und darauf bedacht sein mögen, ihrem Leben einige Jahre
hinzuzulegen. Es gibt in der ganzen Gesundheitslehre kaum
ein einfacheres Mittel, um grosse Erfolge zu erzielen, als die
Vermeidung des Alkohols.
Original frorn
UNIVERSITY OF CHICAGO ^
Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
239
Die Trunksucht als Krankheit nnd Laster.
Von Pastor Haacke in Rickling (Holstein).
Vorgetragen am 18. Juni 1904 in Altona im Verein
abstinenter Pastoren.
Das Thema lautet: Die Trunksucht als Krankheit und
Laster, nicht: Ist die Trunksucht eine Krankheit oder ein
Laster? Es liegt also nicht die Absicht vor, eine Entscheidung
nach einer Seite hin abzugeben; eine solche würde auch,
wie immer sie ausfiele, falsch bezw. ungerecht sein.
Reden wir von der Trunksucht, so müssen wir die Trunk¬
sucht als eine einheitliche Grösse gedankenmässig hinsetzen,
ebenso den Menschen, der trunksüchtig ist, als Einheit, als
Ganzes ins Auge fassen. Alt und unserer Denkgewohnheit
unveräusserlich ist die Unterscheidung von Leib und Seele;
sie ist aber, das darf nicht vergessen werden, lediglich eine
Gedankenabstraktion; jedenfalls kann nicht ein Teil absolut
für sich in Loslösung von dem anderen Teil dargestellt werden
als für sich seiender Bestandteil wie die einzelnen Teile bei
einer chemischen Zerlegung. Wie Leib und Seele sich zum
ganzen Menschen, so verhalten sich Krankheiten und Laster
zur Trunksucht, als einer einheitlichen Grösse. In keinem der
beiden Begriffe ist die Trunksucht vollständig wiedergegeben.
Wir stehen heute vor einer stark anschwellenden Welle
der Betonung der Trunksucht als Krankheit. Noch hat dieses
Anschwellen m. E. gute Berechtigung; die Vorstellung: „Trunk¬
sucht ist Krankheit" hat sich noch nicht genügend ausgewirkt,
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240 Abhandlungen.
hat ihren Dienst noch nicht voll geleistet. Immerhin sind aber
auch schon Anzeichen vorhanden, die zeigen, dass diese Welle
die Höhe erreichen kann und wird, wo sie schäumig wird, über
das ihr gesteckte Ziel hinausschiesst und an ihrer eigenen Kraft¬
überspannung sich selbst bricht. Unentbehrlich sind immer
solche, die zwischen den beiden disparat extremen Gruppen, die
peremptorisch dekretieren: Trunksucht ist lediglich Krankheit,
Trunksucht ist lediglich Laster, die Verständigung anbahnen und
vermitteln; zur Anbahnung der Vermittelung geschickt ist nur
der, der besonnen, wohlwollend und gerecht denkend, mit
psychologischem Verständnis sich in die Motive und Denkart
des anderen hineinzuversenken vermag; und ich meine, dass
gerade der allen dienende, keiner Person und keiner Sache
unzugängliche Pastor diese Stellung zu erringen und sich zu
bewahren die Pflicht hat. So soll im Folgenden versucht
werden, unter der Ueberschrift:
Die Trunksucht als Krankheit und Laster
die Motive für jede der beiden Bezeichnungen aufzudecken und
jede in ihrer relativen Berechtigung zu erweisen.
I.
Trunksucht ist Krankheit. Daher ist
1. die unmittelbare Beseitigung der Sucht
durch sittlich-religiöse Beeinflussung allein
unmöglich, die Enthaltsamkeit als Alkoholent¬
ziehung unentbehrlich.
Dass der Trinker ein kranker Mensch ist, liegt für jeden
offen auf der Hand. Dass bei ihm Gehirn, Herz, Leber, Magen,
Nieren, Gesicht, Gehör, Sprache, kurz der ganze Organismus
krankhaft entartet ist, ist eine einfache Tatsache, über die
niemand sich hinwegsetzen kann. Aber darum handelt es sich
hier nicht eigentlich; es handelt sich hier um Beurteilung der
Trunksucht des Individuums, um die Frage: Ist die Sucht,
ist jenes für den Trinker charakteristische Unvermögen der
durch Selbstbestimmung zu gewinnenden Beschränkung des
Genusses auf das Mass, der immer wiederkehrende Exzess als
Krankheit zu bewerten? Die Frage muss bejaht werden. Die
Sucht ist Krankheit. Infolgedessen hat auch die sittlich-religiöse
Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
241
Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
Beeinflussung in Bezug auf diesen Punkt sich zu bescheiden,
d. h. die Grenzen ihres Könnens anzuerkennen. Die all¬
gemeine sittlich-religiöse Beeinflussung, wie sie auf jeden
normalen Menschen anwendbar ist und angewendet wird, die
Pflege des religiösen Sinnes, wie die Landeskirche in ihren
Organen sie darbietet, wird davon nicht berührt; aber die
spezielle sittlich-religiöse Beeinflussung, welche die unmittel¬
bare Beseitigung der Sucht durch ihre Einwirkung im Sinne
hat und sich zutraut, ist ein verfehltes Unternehmen. Die
religiös-sittliche Beeinflussung allein, losgelöst von dem Ent¬
haltsamkeitsgedanken, hat sich als nicht ausreichend, die aus¬
schliesslich sittlich-religiöse Beurteilung der Sucht als verkehrt
erwiesen. Trunksucht ist Krankheit! Das muss betont werden,
das kann nicht genug betont werden. Sie ist Folge einer
chronischen Vergiftung, die vor allem Entziehung des Giftes
erforderlich macht. Wäre Trunksucht lediglich Laster, so könnte
ja die Enthaltsamkeit nicht die ausschlaggebende Rolle, die ihr
zukommt, beanspruchen. Diese muss sie aber unter allen Um¬
ständen behalten. Daher ist die Betonung des Satzes: „Trunk¬
sucht ist Krankheit“ in erster Linie deshalb wichtig, weil nur
durch ihn der Enthaltsamkeit der zur Heilung der
Trunksüchtigen gebührende Platz gesichert wird.
Dabei ist festzuhalten, dass die Enthaltsamkeit nicht wegen
irgendwie ihr anhaftender ethischer Qualität dem Trinker zu¬
gemutet wird, sondern lediglich aus Gesundheitsrücksichten,
als die medizinische Verordnung der Entziehung jeglichen
Alkoholgenusses, also nicht als Tugend, sondern als
Heilmittel.
2. Ferner muss rückhaltlos anerkannt werden, dass mit
der einseitig sittlich-religiösen Beeinflussung an dem Trinker
nunmehr genug gesündigt worden ist. Alle die, denen es um
eine richtige Behandlung der Trinker zu tun ist,
haben an der Verbreitung der Erkenntnis, dass Trunksucht
Krankheit ist, ein starkes Interesse. Denn die verkehrte Be¬
handlung, die der Trinker von seiner Umgebung erfährt, die
ihn nimmer zur Ruhe kommen lassenden Vorwürfe der Ange¬
hörigen, die auf Pharisäertum gestimmte Verachtung seitens
der trinkenden Gesellschaft sind empörend, ungerecht und für
ihn verderblich. Seine Erbitterung, seine Hoffnungslosigkeit,
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242
Abhandlungeti.
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das Gefühl, dass ihn niemand versteht, verschlimmern seinen
Zustand und steigern seine Neigung, im Trünke Vergessen zu
suchen. Fast überall, wo mit besonderer Emphase der Satz,
dass Trunksucht Krankheit sei, betont wird, liegt die Absicht,
die sehr angebrachte und anerkennenswerte Absicht vor,
den Trinker in Schutz zu nehmen. Der Schutz des
Trinkers vor seiner verständnislosen und unge¬
rechten Umgebung ist das starke Motiv, aus dem
heraus die starke Betonung der Tatsache, dass
er krank ist, ihre Berechtigung zieht.
3. Um auch den Angehörigen gerecht zu werden, ist nicht
zu vergessen, dass ähnlich wie bei den Nervösen, in noch
höherem Grade bei Trinkern die Erscheinungsform, in der die
Sucht zum Ausdruck kommt, Leichtsinn, Rohheit, Verlogenheit,
Pflichtvergessenheit, immer wieder den naiv Denkenden und
Empfindenden in eine sittliche Beurteilung, in sittliche Ent¬
rüstung hineindrängt, dass daher ein starkes Mass von Selbst¬
zucht und sittlicher Kraft für die Angehörigen dazu gehört,
sich angesichts der trostlosen Verirrungen des Trinkers immer
wieder klar zu machen, dass derselbe ein kranker Mann ist,
dass er nur relativ verantwortlich für sein Tun ist, dass er
Mitleid, nicht Verachtung verdient, dass ihm gegenüber nicht
Worte, sondern sachgemässe Behandlung allein am Platze ist.
Oft ist auch schon die Aufklärung über die wahre Beschaffen¬
heit des Uebels für die Angehörigen eine grosse Wohltat. Auf
eine feingebildete und hochherzige Frau, in der die Liebe zu
dem trunksüchtigen Manne stark geblieben war, ja selbst die
Achtung vor ihm, vor seinem im Grunde verschüttet schlummern¬
den besseren Ich sich erhalten hatte, die jedoch durch die von
seiten des Mannes erfahrene Nichtachtung, durch seine völlige
Haltlosigkeit sich vor ein unlösbares Rätsel gestellt und in un¬
geklärte und unausgeglichene, ja, in die widerspruchsvollsten
Empfindungen versetzt sah, wirkte der blosse Hinweis darauf,
dass der Mann als Kranker zu beurteilen sei, versöhnend, be¬
freiend, ja förmlich erlösend. In so hohem Masse ist die Ein¬
sicht darin, dass Trunksucht auch Krankheit und nicht nur
Laster ist, eine Wohltat und geeignet die Angehö¬
rigen zu richtiger, geduldiger Behandlung der
Trinker zu beeinflussen.
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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
243
4. Trinkerbehandlung gliedert sich in Vereinsbehandlung
und Anstaltsbehandlung. Beide, Vereine und Anstalten,
letztere in noch höherem Masse als erstere, leiden — und wo
Vereine und Anstalten leiden, leiden, worauf es uns hier vor
allem ankommt, die Trinker mit— leiden unter der noch
nicht gebrochenen Alleinherrschaft der Beur¬
teilung der Trunksucht als eines Lasters. Nun
wird ja die Beurteilung der Trunksucht als eines Lasters nie
ganz auszurotten sein, weil auch ihr berechtigte Motive zu Grunde
liegen und sie dem naiven Denken fest in Fleisch und Blut
sitzt. Aber die Einseitigkeit in der Beurteilung der Trunksucht
nach dieser Richtung hin ist doch verderbenbringend. Der
Eintritt in den Verein, noch mehr in die Anstalt wird gewertet
als das Bekenntnis des Vorhandenseins der Trunksucht. Haftet
nun der Trunksucht vor allem der sittliche Makel an, so ist
klar, dass jeder sich hütet zu bekennen, dass er Trinker sei.
Mit einem bewundernswerten, aber durchaus irregeleiteten
Heroismus verbirgt die Frau des Trinkers sich und andern
den Zustand ihres Mannes. Was die Spatzen auf den Dächern
pfeifen, darf um keinen Preis in ihrer Gegenwart erwähnt oder
gar von ihr zugegeben werden. Das mit dem Eintritt in Verein
oder Anstalt ohne weiteres verbundene Bekenntnis der Trunk¬
sucht gilt allen Leiden, die sie im Gefolge hat, gegenüber doch
als das noch grössere Uebel. So wird der Eintritt hinausge¬
schoben, bis es sehr spät oder zu spät geworden ist. Hier
muss die Erkenntnis, dass die Trunksucht Krankheit ist, Bahn
brechen und Hindernisse aus dem Wege räumen. Und wenn
dann die Schuldfrage in die Erörterung gezogen wird, so muss
erkannt und berücksichtigt werden, ein wie geringer Teil der
Schuld selbst in schlimmen Fällen, wo Schuld offenbar am
Tage ist, dem Einzelnen, dem minderwertig ausgerüsteten In¬
dividuum zur Last gelegt werden kann, ein wie grosser Teil
der Schuld auf die Gesamtheit fällt, die die schwierigen Ver¬
hältnisse, vor allem die Trinksitte hervorgebracht hat und noch
erhält, ein Gedanke, den Forel paradox ausdrückt, wenn er
sagt: Das Laster ist nicht die Trunksucht, sondern die Trink¬
sitte. So will der Satz: „Trunksucht ist Krankheit“
Anstalten und Vereine von den gegen sie herr¬
schenden Vorurteilen befreien.
Die Alkoholfrage. 17
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Abhandlungeil.
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5. Für die Heilung des Trinkers ist wesentlich, dass er
enthaltsam bleibt. Das ist für viele — nicht für alle, aber für
viele gleichbedeutend damit, dass sie in dem Abstinenzverein,
für die in Anstaltsbehandlung befindlichen damit, dass sie ge¬
nügend lange in der Anstalt bleiben. Auch hier hat die Be¬
urteilung der Trunksucht als Krankheit wichtige Dienste zu
leisten und ist unentbehrlich. Wie soll man anders dem Trinker
die Ueberzeugung beibringen, dass er enthaltsam bleiben muss!
Gewiss ist der Satz, der mässige Genuss sei des Normale
schlechthin, die Enthaltsamkeit grundsätzlich die Ausnahme von
der Regel d. i. das Abnorme, falsch. Der mässige Genuss, der
Genuss alkoholischer Getränke überhaupt ist um nichts nor¬
maler als die Ablehnung des Genusses alkoholischer Getränke;
an und für sich ist beides, was Normalität oder Abnormität
angeht, mindestens durchaus koordiniert. Diesen Tatbestand
kann nur der leugnen; der entweder durch die eingeführte
Ausdrucksweise: „Massigkeit“ und „Enthaltsamkeit“ — bei der
freilich die Massigkeit ohne weiteres als das höhere sittliche
Ideal erscheint — sich irre führen lässt und verkennt, dass es
sich zunächst lediglich um Genuss oder Nichtgenuss von Alkohol
handelt, gerade so wie es beim Tabak sich um Rauchen und
Nichtrauchen handelt, wobei es keinem in den Sinn kommt, das
mässige Rauchen dem Nichtrauchen gegenüber als das höhere
Ideal hinzustellen, oder den Gebrauch von alkoholischen Ge¬
tränken, die doch nicht ein unentbehrliches absolutes Bedürfnis,
sondern nur entbehrliche Genussmittel sind, als die absolut
gegebene unter keiner Bedingung zu verlassende Basis hinstellt,
wozu durchaus kein Grund vorliegt. Aber so wie die Verhält¬
nisse liegen, wird leider bis auf lange Zeit hinaus noch dem
Durchschnittsmenschen der allgemein übliche Genuss alkoho¬
lischer Getränke als das Normale, Ideale, als das zu erstrebende
Ziel, als der wünschenswerte Zustand vor Augen stehen.
Trinkern gegenüber wird man daher die Auskunft: Ihr müsst
enthaltsam sein, ihr könnt nicht anders, ihr seid so und so
veranlagt, nicht völlig entbehren können. Natürlich wird man
ihnen sofort dieses Muss als eine nicht unerfreuliche Sache,
als etwas durchaus nicht tragisch zu nehmendes, als kein Opfer
und Verzicht, als etwas, was für jeden, auch für den, welcher
nicht gerade muss, nur gut ist, darstellen. Aber entbehren
Original fro-m
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liaacke. Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
245
kann man den Hinweis auf die absolute Notwendigkeit der
Enthaltsamkeit für den Trinker nicht, und für die Begreif-
barmachung der Notwendigkeit der Enthaltsam¬
keit für den Trinker ist wiederum eben der Hinweis
darauf, dass es sich beiTrinkern um eine Krank¬
heit handelt, für die es nur die eine Medizin, die Enthalt¬
samkeit gibt, durchaus unentbehrlich.
Sonderlich im weiteren Verlauf der Anstaltsbehandlung,
wenn bei der Wiederkehr der körperlichen Gesundheit die
Hebung der Gesamtpersönlichkeit kräftig ansetzt, jene Freudig¬
keit, jenes Sichstarkfühlen, jener Wille, jener Trieb und Drang
wieder gut zu machen einsetzt, ist zur Vermeidung des Miss¬
erfolges, zur Vermeidung des vorzeitigen Verlassens der Anstalt
in Selbstüberschätzung, in Ueberschätzung der vorhandenen Kraft
dem Trinker unablässig vorzuhalten, dass der blosse Wille, so
wertvoll, wichtig, ja ausschlaggebend er ist, doch noch nicht ge¬
nügt, dass es bei derTrunksucht sich um ein eingewurzeltes Leiden,
um eine durch lange Verfehlung erworbene Krankheit handelt,
die nicht von heute auf morgen, die nicht mit dem blossen
Wunsch und Willen, gesund zu sein, aus der Welt geschafft
ist. Es ist eben nicht genug, dass der Wille gut ist, er muss
auch stark sein. Willensstärke aber hat im allgemeinen kör¬
perliche Gesundheit (das heisst im vorliegenden Zusammen¬
hänge völlige Ausheilung der Trunksuchtskrankheit) zu ihrer
Voraussetzung.
6. Nebenbei bemerkt: bedürfen auch die, welche in
mangelnder Bescheidenheit glauben, mit der Vereinsbehandlung
in allen Fällen auskommen zu können, dringend der Be¬
lehrung, dass Trunksucht eine Krankheit ist, die zwar bis¬
weilen in Vereinen heilbar, manchmal aber nur in Anstalten
heilbar und manchmal auch unheilbar ist.
u.
Die gesteigerte Einsicht, dass Trunksucht Krankheit ist,
muss dankbar begrüsst werden, aber wie jede neu sich auf¬
drängende Wahrheit, so kann auch diese überspannt, und
können ihr Schlussfolgerungen entnommen werden, die viel¬
leicht logisch in der Verfolgung der gewiesenen Linie liegen,
aber doch sachlich und praktisch falsch, einseitig, ungerecht
und verderblich sind.
17 *
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246
Abhandlurigeä.
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1. Ja, die allzu einseitige Beurteilung der
Trunksucht als Krankheit schädigt auch die
Abstinenzbewegung und in ihr indirekt den
Trinker. Es sei mir gestattet, durch Erzählung einer Anek¬
dote dem Ziele meiner Beweisführung zuzusteuern. Ein Arzt
verordnete dem kleinen Fritz Medizin, die tropfenweise einge¬
nommen werden sollte; als er nach kurzer Zeit wiederkam,
fand er das Medizinglas schon fast leer; auf seine erstaunte
Frage, wie das möglich sei, erhielt er diese Antwort: Wenn
der kleine Fritz einnehmen sollte, mussten erst Grossmutter
und Vater und Mutter und auch das ältere Schwesterchen die
vorgeschriebene Anzahl Tropfen einnehmen; sonst war das
Einnehmen bei Fritz nicht zu erreichen gewesen. Das Komische
liegt in diesem Falle darin, dass er dem allgemeinen Satz, dass
die Medizin nur von dem Kranken genommen werden soll,
widerspricht. Dass Angehörige die Medizin mit einnehmen,
um den Kranken zum Einnehmen zu bewegen, wirkt einfach
komisch! Wie aber liegt die Sache bei der Behandlung der
Trunksüchtigen? Seine Medizin ist die Enthaltsamkeit und es
ist doch nicht nur wünschenswert, sondern strikte zu fordern,
dass die Angehörigen und der behandelnde Arzt, die Anstalt
und der Verein und viele andere die Medizin, d. i. die Ent¬
haltsamkeit, mit nehmen. Ist aber Trunksucht ausschliesslich
Krankheit, so ist nicht zu ersehen, wie die Forderung, dass Arzt
und Angehörige mitmachen, was für den Kranken als Kranken
unentbehrlich ist, begründet und aufrecht erhalten werden soll.
Was aber würde die Krankenbehandlung der Trunksüchtigen
durch den Arzt oder die Anstalt allein, ohne die Mithilfe der
Gesunden auszurichten imstande sein! Sie wäre absolut aus¬
sichtslos. Hieraus ersieht man ohne weiteres, zu wie bedenk¬
lichen Folgerungen die zu starke Pressung des Satzes, dass
Trunksucht Krankheit ist, führen kann. Viel wesentlicher aber
sind andere Gefahren.
2. Diese anderen aus zu einseitiger Betonung der Er¬
kenntnis, dass Trunksucht Krankheit ist, erwachsenden Ge¬
fahren stellen sich hauptsächlich dar als Ausschaltung der
religiös-sittlichen Beeinflussung und Ertötung der
Persönlichkeit. Einige Bemerkungen über die Frage der
Trinkerbehandlung durch Aerzte oder Laien und
Original fro-m
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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
247
über den konfessionellen oder nichtkonfessionellen
Charakter der Anstalten mögen in die Erörterung hin¬
überleiten. Alle Vereinsbehandlung der Trinker ist Arbeit von
Laien an Trinkern, die Erfolge sprechen laut für sie. Auch
die Anstaltsbehandlung ist heute noch in grossem Umfange
Laienbehandlung, ausgeübt durch Pastoren, Hausväter oder
sonst dafür sich für geeignet Haltende, selbstverständlich nie
ohne Mitwirkung des Arztes. Die Aerzte erstreben jedoch die
Leitung und begründen ihre Forderung damit, dass Trinker
Kranke seien, also der Arzt der Leiter der Anstalt sein müsse.
Diese Forderung ist an sich in ihrer Allgemeinheit nicht richtig.
Der Arzt muss den ihm zukommenden Einfluss fordern und
erhalten, aber es ist nicht gesagt, dass er ihn nur hat, wenn
er Leiter der Anstalt ist. Wäre die Betrauung mit der Leitung
durchaus und schlechthin die einzig sichere Bürgschaft für die
Gewinnung des ausreichenden Einflusses in der Behandlung,
so müsste der Pastor in derselben Weise die Leitung fordern,
denn, dass auch sein Einfluss unentbehrlich ist, steht fest. Er
könnte argumentieren: Der Trinker bedarf vor allem der seel-
sorgerlich-erziehlichen Beeinflussung; der dafür beruflich Vor¬
gebildete ist der Geistliche, der ihm gebührende Einfluss ist
gewährleistet nur dann, wenn er die Leitung der Anstalt in
Händen hat. Also muss er sie haben. Von dieser Beweis¬
führung müssen beide, Arzt und Pastor, sich frei machen. Das,
worauf es wesentlich ankommt, ist, dass jedem der ihm zu¬
stehende Einfluss garantiert wird; wer dann die Leitung hat,
kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Jedenfalls ist die
Schlussfolgerung: Der Trinker ist krank, also muss der Arzt
der Leiter der Anstalt sein, falsch und einseitig. Bei der
Wahl des Anstaltsleiters ist die Frage ausschlaggebend, wer
von beiden, Arzt oder Pastor, im gegebenen Falle in höherem
Masse Spezialist ist, d. h. der Sache zugetan, der Sache kundig,
abstinent und in Behandlung und Beeinflussung von Menschen
am tüchtigsten. Denn der Einfluss von Person zu Person
ist in der Trinkerbehandlung das Ausschlaggebende.
Eine andere falsche Schlussfolgerung aus dem richtigen
Satze, dass Trunksucht Krankheit sei, ist die, dass infolgedessen
die Anstalten konfessionslos sein müssten. „Alkoholisten sind
Kranke, mir ist noch nie ein evangelischer oder katholischer
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248
Abhandlungen.
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oder jüdischer Alkoholismus begegnet, also müssen die An¬
stalten konfessionslos sein.“ Diese nicht etwa von mir kon¬
struierte, sondern von ärztlicher Seite allen Ernstes so formu¬
lierte Beweisführung ist höchst naiv. Wenn auch der Alkoho¬
lismus sich bei den Angehörigen der verschiedenen Konfessionen
nicht verschieden zeigt, so sind doch eben diese Leute entweder
Evangelische oder Katholische oder Juden und gerade bei
Behandlung der Trunksucht ist es durchaus er¬
forderlich, den ganzen Menschen ins Auge zu
fassen und den Kranken nicht nur als Kranken „zu be¬
handeln“ in ausschliesslichem Blick auf die Krankheit. Das
mag angängig sein bei Schwerkranken, die, weil von ihrer
Krankheit gewissermassen völlig in Anspruch genommen, zur
Zeit der Behandlung nur als krank an dieser oder jener Krank¬
heit, Lungenentzündung oder Diphteritis, in Betracht kommen;
bei Trunksüchtigen, die oft teilweise hervorragende Begabung
und lebendige Interessen an den Tag legen, oder auch wohl
unter Gemütsdepressionen u. dgl. zu leiden haben, bei
Trunksüchtigen, bei denen es vor allem auf Willensstärkung,
auf Flüssigmachung alles irgend vorhandenen Charakterkapitals,
auf Stützung und Stärkung aller guten Motive von allen Seiten
her ankommt, geht das nicht an; sie nur durch die Brille des
Arztes, des Spezialisten für Herzkrankheiten oder ähnliches zu
betrachten, ist für die vollwertige Behandlung nicht ausreichend.
Selbstverständlich muss die religiös-sittliche Beeinflussung ge¬
schickt, taktvoll, tief, lauter und zartfühlend sein; aber fehlen
soll sie nicht, sondern sie muss ordnungsmässig angeboten und
dargeboten werden, und wo Religiosität in dem Rahmen häus¬
lichen Familienlebens, das anerkanntermassen den Anstalten
zum Muster dienen soll, gepflegt werden soll, kann sie nicht
in verblassten Abstraktionen, Reduzierungen oder Lehr¬
meinungen, mögen diese positiv oder negativ sein, erscheinen,
sondern nur in der konkreten P'orm der Hausfrömmigkeit, die
selbstverständlich konfessionell gefärbt ist, denn die Konfession
ist die individuelle, lebenskräftige Ausprägung der Religiosität.
Natürlich mag es für religiös Indifferente, für die, die es nicht
nur sind, sondern auch bleiben wollen, auch ihren Intentionen
entsprechende Anstalten geben, aber die Regel sollen kon¬
fessionslose Anstalten, das bedeutet meistens religionslose, nicht
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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
249
sein, viel weniger darf die Konfessionslosigkeit als Forderung
auftreten, am wenigsten jedoch diese Forderung damit begründet
werden, dass der Alkoholismus interkonfessionell und die
Trunksucht lediglich als Krankheit in Betracht komme.
3. Die schwerste Verirrung aber, die hier und da aus
dem Satze: die Trunksucht ist Krankheit, erwächst, besteht
darin, dass man den Trunksüchtigen, als eben nur
Kranken, aller Schuld, aller Selbstverantwor¬
tung ledig spricht. Dass ihm alle Schuld zugeschrieben
wurde, war ein schlimmer Fehler; sprechen wir ihn aber von
aller Schuld und Verantwortung los und ledig, so sind wir
vom Regen in die Traufe gekommen. Denn, als ihm seine
Trunksucht noch als Schuld aufgerückt wurde, machte er doch
noch Versuche,, sie los zu werden. Hat man ihm aber erst
einmal klar gemacht, dass er absolut unschuldig sei, dass seine
Verfehlungen nichts weiter als die naturnotwendige Folge seiner
Gehirn- oder Herzkrankheit, seiner geistigen Minderwertigkeit
seien, dass kein Vorwurf ihn treffen könne, dass er in Natur¬
vorgänge hülflos eingespannt sei, dann hat man ihm das Letzte
und Beste geraubt: die Hoffnung auf Besserung, die Willens¬
freudigkeit, an sich zu arbeiten und anders zu werden. Er sagt
sich: ich bin nun einmal so, ich kann nicht anders, ich werde
immer so sein wie ich bin. So wird Humanität Grausamkeit,
so wird Wohltat zur fürchterlichen Qual, so führt derSatz
von der Trunksucht als blosser Krankheit zur
Ertötung des persönlichen Lebens. Der schon so
wie so stark geschwächte Wille ist völlig lahm gelegt, ein
trübes, jämmerliches Sichselbstbedauern ist der klägliche Rest,
das Personleben ist erstorben.
Hier liegen die stärksten Motive für die Aufrechterhaltung
des Satzes: die Trunksucht ist Laster. Es ist zur Genüge
hervorgehoben, dass die sittlich - religiöse Beeinflussung zur
Heilung des Trinkers nicht ausreicht, dass gegen ihn gerichtete
Vorwürfe, wenn sie nicht eingeschränkt und auf das zulässige
Mass beschnitten werden, ungerecht sind. Es ist zweifellos,
dass der Trinker, wenn an ihm die Heil- und Rettetätigkeit
beginnt, zuerst und vor allem fühlen muss: hier sind Menschen,
die mich verstehen, die mich nicht in Grund und Boden ver¬
urteilen, sondern mich entschuldigen und alles zum Besten
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Abhandlungen.
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kehren. Aber erspart bleiben kann dem Trinker das Schuld¬
gefühl nicht, ein Rest eigener Schuld bleibt für jeden immer
zurück. Dies ignorieren hiesse ungerecht sein, hiesse auch
unpädagogisch handeln; denn das Schuldgefühl ist meistens in
der Tiefe vorhanden und harrt der Auslösung und des befreien¬
den Wortes, das mit der Schuldigerklärung auch die Sünden¬
vergebung bringt. Der innerste Kern des Personlebens will
gesund werden, der Friede des Herzens soll wiederhergestellt
werden. Das bringt man aber nicht fertig, wenn man an Sünde
und Gnade, an Schuld und Versöhnung vorübergeht. So will¬
kommen dem Trinker die Botschaft ist: Trunksucht ist Krank¬
heit, weil sie ihm ein gut Teil Schuld von der Schulter nimmt,
noch willkommener ist ihm die Botschaft: „Sieh, hier liegt deine
Schuld, aber das Alte ist vergangen, vergessen, und vergeben,
nun sei ein anderer, du kannst es mit Gott! Wenn man oft
mit grösstem Nachdruck den Satz verfechten hört, die Trunk¬
sucht sei nicht nur Krankheit, sondern auch Laster, so ist das
dabei vorschwebende letzte Interesse eben das jetzt zur Sprache
Gebrachte: die Wahrung der relativen Selbstver¬
antwortlichkeit des Trinkers, die Schuld in sich
schliesst, deren Korrelat aber, als unentbehr¬
liche Grundlage aller seelsorgerlich-erziehe-
rischen Einwirkung, die relative Selbstbestim¬
mung, die relative persönliche Freiheit ist.
An dem Worte „Laster“ an und für sich liegt nicht
viel, es wird in praxi wenig gebraucht, insbesondere wird den
Trinkern bei Sachverständigen ihre Trunksucht nicht als „Laster“
in irgendwie brutaler Weise aufgerückt, Laster aber ist ja zur
Gewohnheit gewordene Sünde. Der Ausdruck Laster trägt also
dem Chronischen des Zustandes, der ganzen Schwierigkeit des¬
selben überhaupt, besonders der Schwierigkeit des Wiederheraus¬
kommens aus ihm gebührend Rechnung, der Begriff Laster schliesst
den Krankheitszug nicht aus, sondern ein, betont aber nicht
das Krankhafte, sondern das Schuldhafte des Zustandes und er¬
innert daran, dass der Anfang dieses Zustandes in einer Sünde,
d. i. einer Uebertretung des göttlichen Willens zu suchen, und
dass das Verharren in ihm gleichfalls als Sünde zu beurteilen ist.
Man kann in einzelnen Fällen sagen: hier liegt offenbar
völlig Krankheit vor; man sagt das da, wo die sittliche Seite,
Original fro-m
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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
251
die Willensbestimmung dem rein körperlichen Zustande völlig
unterworfen ist. Umgekehrt hat man mehr den Eindruck, dass
Schuld, unverantwortliches strafwürdiges Verhalten vorliege,
wo der Gesamtzustand noch weniger zerrüttet ist und, wenn
auch Trunksucht vorhanden, so doch unausrottbarer Leichtsinn
als das Prävalierende auftritt. Im einzelnen Falle aber ist es
im allgemeinen nicht möglich, die Grenze scharf zu ziehen oder
den Punkt genau zu bezeichnen, wo das „Laster“, die Selbst¬
verantwortlichkeit, aufhört und das Krankhafte anfängt. Das
darüber abgegebene Urteil wird, abgesehen von zweifellos
unheilbaren Fällen, bei denen die Trunksucht überhaupt nicht
die Krankheit sondern nur ein Krankheitssymptom unter
anderen ist, stets subjektiv gefärbt sein. Und der Schade ist
nicht so gross, denn für die heilende und rettende Behandlung
des Trinkers ist diese Grenzbestimmung nicht von allzu grosser
Wichtigkeit; im allgemeinen werden Arzt und Seelsorger, jeder
von seiner Seite, nicht ohne Erfolg auf den Trinker einwirken,
und an Ueberraschungen, an Erfahrungen, die der voraus¬
gängigen Erwartung völlig widersprechen, wird es beiderseits
nicht fehlen.
4. Von höchster praktischer Bedeutung da¬
gegen ist das Aufsuchen und Bestimmen der
Grenze zwischen Krankheit und Laster, die Be¬
stimmung des Masses derVerantwortlichkeit für
den Gesetzgeber und den Richter, für die grundsätz¬
lichen Bestimmungen über Bestrafung der Trunkenheit oder in
ihr verübter Straftaten, über Zubilligung mildernder Umstände,
über Aberkennung der vollen Zurechnungsfähigkeit u. dgl. mehr.
Hier ist vor allem zu fordern, dass die Strafe da eintritt, wo
sie berechtigt und wirkungsvoll ist, dagegen da, wo
sie beides nicht ist, die nötigenfalls zwangsweise herbeizu¬
führende Heilbehandlung einsetzt; d. h. aber vor allem, dass
der einzelne Fall von Trunkenheit, d. i. die trotz vorheriger
voller Klarheit des Urteils und der Einsicht in die Folgen herbei¬
geführte Hineinversetzung in den Zustand der Unzurechnungs¬
fähigkeit, schon an und für sich strafbar ist, ganz abgesehen
davon, ob an sie ein Verstoss gegen die Gesetze sich ange¬
schlossen hat, oder nicht. Denn jede Trunkenheit stellt eine
unverantwortliche Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Sicher-
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252
A bhandlungen.
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heit dar. Bei Trunksüchtigen dagegen ist Bestrafung deplaziert
und schädlich; sie sind der Anstaltsbehandlung zu überweisen.
Ich bin am Schluss. Die Trunksucht als Krankheit und
Laster! Der religiös gestimmte Mensch kann nun einmal bei
der blossen Auskunft: Trunksucht ist Krankheit sich nicht be¬
ruhigen und mit ihr nicht auskommen. Ihm legt sich, wenn
er den Trunksüchtigen sieht, wie schwerer Alp auf die Seele,
der Gedanke an Gott, an das im Trinken erloschene Ebenbild
Gottes, an die Vernichtung der Seele, an die Ausmerzung des
ewigen Lebens; er sieht, wie der Unglückliche nicht mehr
sündigendes Subjekt, das mit der Sünde spielende Subjekt,
sondern der Sünde verfallenes Objekt ist. Es kann ihm der
Ausdruck „Krankheit“ nie genügen; das was ihm am meisten
an die Seele greift, gibt dies Wort nicht wieder, ja scheint es
zu eliminieren. Er sagt daher auch nicht: der Alkohol, sondern
die Sünde ist der Leute Verderben. Auf der andern Seite, so
merkwürdig, so verwirrend für das religiöse Empfinden es ist,
bestritten kann es doch nicht werden, dass eben derselbe Mensch
mit und ohne Alkohol so verschieden ist, dass oft der eine dem
andern nicht ähnlich ist Es ist nicht richtig, dass die Alkohol¬
intoleranten sonderlich Sünder sind vor allen, von Haus aus.
Eben so gewiss sind sie nach Entziehung des Alkohols nicht
aller Sünde ledig, noch leben sie sündlos. Selbstverständlich
nicht! Aber ein unverkennbarer Unterschied ist doch vor¬
handen. Natürlich, sie können anderen Sünden zum Opfer
fallen, die religiös gewertet ebenso schlimm, ja schlimmer als
die in der Trunksucht sich zeigenden sind: Ehrgeiz, Lieblosig¬
keit, Geiz, Hochmut u. dgl. mehr. Aber diesem Zustand der
Hilflosigkeit, des wehrlosen Preisgegebenseins an alle Finster¬
nisse und Roheiten, diesem Zustand der Selbstwegwerfung,
deren sie im Grunde sich schämen, tief sich schämen, oder
jener Umnachtung des Urteils, die jeden Ansatz zur Erhebung
auf ein höheres Niveau ausschliesst, diesem Zustand werden
sie doch wirklich entrissen durch die blosse Abstinenz. Die
Sünde in dieser Tiefe und Schwere, in dieser mannigfaltigen
Ausprägung lag wohl schon vor ihrem Trunksüchtigwerden
in ihnen, aber als schlummernde, durch Religiosität, Pflicht¬
gefühl und Selbstbewachung zurückgedrängte Potenz; der Alko¬
holgenuss weckte sie zum Leben, der Alkohol warf alle Hemm-
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Haacke, Die Trunksucht als Krankheit und Laster.
25B
nisse über den Haufen, der Alkohol entfesselte das durch
nichts regulierte, bisher nur potenziell vorhandene brutale Trieb¬
leben der sündigen Natur.
Merkwürdig ist, dass so durchaus dem Gebiete der Sitt¬
lichkeit angehörende Lebensäusserungen durch den blossen
Stoff Alkohol ausgelöst werden können; der Gedanke, diese
Möglichkeit ist m. E. für jeden Menschen niederdrückend, aber
der Tatsache können wir uns nicht entziehen, wir sind eben
aus Körper und Geist zusammengeschweisste Wesen; keiner
kann gegen seinen Körper ohne Nachteil für seine Seele, für
die rein sittlich spirituelle Kraft seiner Persönlichkeit sündigen.
Und der Alkohol ist ein Gehirngift, dem sehr viele Gehirne
nicht gewachsen sind. Mit der Tatsache müssen wir rechnen
und durch sie unser Handeln bestimmen lassen. Es hiesse in
der Luft schweben, mit Menschen, wie es sie in Wirklichkeit
nicht gibt, rechnen, es hiesse, einem verkehrten und verderb¬
lichen Spiritualismus huldigen, wollte man die Rolle, die der
Alkohol als eine sittliche Schädigung des Personlebens her¬
vorrufende Substanz zu spielen imstande ist, verkennen. Auf
der anderen Seite wäre es krasser Materialismus, wenn man
verkennen wollte, dass der Alkohol doch nimmer imstande
ist, Nichtvorhandenes hervorzuzaubern, wenn man verkennen
wollte, dass er doch nur der Stab ist, der den auf dem Grunde
der Seele als vorhanden liegenden Schmutz aufrührt, dass er
nicht die böse Substanz selbst, sondern nur der sie in Be¬
wegung setzende Hebel ist, dass er nicht dafür verantwortlich
ist, dass die durch ihn zu Stande gebrachte Gehirnschädigung
gerade in diesen und jenen bestimmten Lastern sich ausprägt
und Gestalt gewinnt, wie denn auch die Formen und Grade
der Lasterhaftigkeit bei Trunksüchtigen doch auf Grund der
verschiedenen vorhandenen sittlichen Grundlage relativ ver¬
schieden sind. Daher ist neben derEnthaltsamkeit,
die selbstverständlich erforderlich ist, die sittlich-reli¬
giöse Hebung des Gesamtlebens dringendstes Er¬
fordernis, und die wird sich nicht erreichen lassen ohne
Eingehen auf das Zurückliegende, ohne Aufweisung der Stellen,
wo die Sucht durch Sünde erworben wurde; denn ohne klare
Schulderkenntnis und ohne Erledigung derselben, d. i. Sünden¬
vergebung, sind Lust und Freudigkeit und Kraft zur Erneuerung
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Original fro-m
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254
Abhandlungen.
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nicht zu erzielen. Der Stachel muss aus dem Herzen heraus¬
gezogen, das ganze Herz zur Gesundung gebracht werden.
Nur, wo diese grundsätzliche Betrachtung zur Herrschaft ge¬
langt ist und berücksichtigt wird, kann der richtige Satz, dass
die eigentliche Sucht Krankheit ist, ohne Schaden des Gesamt¬
interesses der. Persönlichkeit zur Anwendung gelangen.
Materialismus und Spiritualismus sind die beiden Extreme,
von denen keins der Wirklichkeit, dem Wesen der Kreatur,
die wir Mensch nennen, gerecht wird. Eine Aussöhnung ist
nur möglich auf dem Boden des Realismus, der die Realität,
die Zwiespältigkeit des Menschen, die Tatsache, dass er Körper
und Geist ist, anerkennt und berücksichtigt. Notwendig ist
die Aussöhnung vor allem da, wo die Grenzen verschwimmen,
wo Körperliches und Geistiges nicht mehr rein auseinander¬
gehalten werden können, wo beide, Arzt und Seelsorger ein
Arbeitsgebiet haben und kompetent sind. Dass sie zu gemein¬
samer Arbeit die Hand sich reichen, ist der Weg, der allein
eine Heilung der Trunksucht in vollem Umfange und im tiefsten
Sinne gewährleistet.
Go^ 'gle
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
255
Der Kampf gegen den Alkoholismus,
eine soziale Aufgabe der Frau.
Von Katharina Scheven.
Vortrag, gehalten auf dem Jahrestag des sächsischen Landes¬
verbandes gegen den Missbrauch geistiger Getränke in Chemnitz
am 26. Juni 1904.
Obgleich mein Spezialarbeitsgebiet nicht die Bekämpfung
des Alkoholismus, sondern die Sittlichkeitsbewegung ist, so habe
ich doch die ehrenvolle Aufforderung, die mir vom Vorstand
des sächsischen Landesverbandes gegen den Missbrauch geistiger
Getränke zuteil geworden ist, bei Gelegenheit seiner Jahres¬
versammlung in Chemnitz zu sprechen, nicht ablehnen zu dürfen
geglaubt, weil ich mir bewusst bin, dass sehr viele nahe Be¬
ziehungen zwischen unseren Arbeitsgebieten bestehen, die einen
ganz innigen Zusammenhang derselben erkennen lassen, und
weil ich der Ueberzeugung bin, dass heute, wo die Frauen mit
heissem Bemühen danach ringen, Schulter an Schulter mit den
Männern in den Wettkampf des Lebens und in den Genuss
der Errungenschaften unserer Kultur einzutreten, es erst recht
die Pflicht der Frauen ist, ihnen ihren Beistand gegen die so¬
zialen Uebel unseres Zeitalters zu leihen und überall da auf
dem Platze zu sein, wo ihre Hilfe gebraucht und gewünscht wird.
Erwarten Sie, von mir verehrte Anwesende, nicht, dass
ich Ihnen einen, auf physiologische Tatsachen gegründeten
Bericht über die Schädlichkeit des unmässigen oder auch nur
gewohnheitsmässigen Alkoholgenusses gebe. Ich muss die Dar-
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Go^ 'gle
Original fro-m
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256 Abhandlungen.
Stellung dieser Tatsachen kompetenteren Leuten überlassen,
und setze ausserdem die Kenntnis derselben, die von hervor¬
ragenden Wissenschaftlern auf Grund eingehender Studien,
praktischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Experimente
längst festgestellt und durch eine gewaltig anschwellende po¬
puläre Literatur dem Verständnis weitester Kreise zugänglich
gemacht worden ist, als bekannt voraus.
Was ich Ihnen bieten kann, ist nur ein Versuch zur Be¬
antwortung der Frage: Ist die Mithilfe der Frauen bei der Be¬
kämpfung der ungeheuren Schädigungen, die durch den Alko¬
holismus der Menschheit zugefügt werden, eine soziale Not¬
wendigkeit, und wenn sie eine Notwendigkeit ist, in welcher
Weise kann sie erfolgreich ins Werk gesetzt werden? Man
hat in letzter Zeit das Wort von den drei Geissein der Kultur¬
menschheit geprägt und versteht darunter die Tuberkulose, die
Syphilis und den Alkoholismus. Wenn die erste dieser furcht¬
baren Dreizahl soziale Ursachen hat, so spielen bei den beiden
andern neben den sozialen und wirtschaftlichen Uebeln auch
sittliche Missstände eine gewaltige Rolle. Wie die Syphilis nicht
existieren würde ohne die Unsittlichkeit, so der Alkoholismus
nicht ohne die Unmässigkeit. Beide resultieren zum grossen
Teil aus Mangel an Selbstzucht und an sittlichem Verantwort¬
lichkeitsgefühl. Und weil diese beiden Laster aus einer Quelle
fliessen, erweisen sie sich auch als unzertrennliche Gefährten,
wo immer sie auftreten. Die Wirkung des einen wird zur
Ursache des andern, auf diese Weise ist ein circulus vitiosus
entstanden, in dessen Wirbel Generation um Generation der
armen verblendeten Menschheit immer von neuem hinabgezogen
wird. Gewiss haben diese beiden schweren Schäden auch
soziale Ursachen. Die moderne Prostitution wäre in ihrer heu¬
tigen Ausdehnung undenkbar ohne den Industrialismus mit
seiner schlecht gelohnten Frauenarbeit, seinen Krisen und
Stockungen, die Tausende aufs Pflaster werfen, und mit seiner
Tendenz, das Land zu entvölkern und die Städte ins Unge-
messne zu vergrössem.
Ebenso der Alkoholismus.
Gerade das macht ihn zu einem so hartnäckigen und
schwer zu fassenden Uebel, dass seine Wurzeln tief hinab in
den Gesellschaftsorganismus reichen und eng verwachsen und
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
25?
verschlungen sind mit andern organischen Uebeln der Kultur¬
menschheit. Wer wollte es leugnen, dass das Wohnungselend
in den rasch emporwachsenden Grossstädten, die Lockerung
der Familienbande durch die Fabrikarbeit der verheirateten
Frauen, die Fortschritte der Technik und die kapitalistische
Ausbeutung der den Alkohol produzierenden und vom Alkohol
lebenden Gewerbe, ferner die auf Alkohol und Prostitution
basierte, zur Sinnenlust reizende Vergnügungsindustrie unserer
Grossstädte einen sehr grossen Teil der Schuld an dem so ge¬
waltig angeschwollenen Alkoholkonsum unseres Zeitalters tragen?
Es scheint fast,, wenn wir diese Zusammenhänge über¬
denken, als stünden wir elementaren Gewalten gegenüber, gegen
deren ungeheuren Strom zu schwimmen ein vergebliches Be¬
mühen sein müsse; denn wenn es auch einer Anzahl in be¬
sonders bevorzugten Verhältnissen Lebender, oder einzelnen
Elitenaturen gelingt und immer gelungen ist, sich zu Meistern
des eignen Schicksals zu machen, wie soll die grosse gedanken¬
los dahinlebende Masse aus dem Druck und Zwang dieser Ver¬
hältnisse befreit werden? Ist nicht hierzu ein vollständiger
Umschwung unseres Wirtschaftssystems, eine Hebung des ma¬
teriellen und sittlichen Niveaus der breiten Schichten, mit einem
Wort eine Gesundung der sozial-wirtschaftlichen Grundlagen
unserer Gesellschaft nötig, die sich naturgemäss nur ganz lang¬
sam vollziehen kann, und die immer wieder durch die ver¬
hängnisvollen Wirkungen der Schäden, um die es sich hier
handelt, des Alkohols und der Unsittlichkeit, hintangehalten
wird?
Man könnte wohl im Gefühl der eignen Ohnmacht ver¬
zagen, wenn man nicht sähe, dass von der Hand einer allweisen
Vorsehung schon dafür gesorgt ist, dass die Bäume nicht in
den Himmel wachsen. Jedes Uebel, jede Verirrung der Mensch¬
heit weckt, wenn ein gewisser Grad von Gefahr erreicht ist,
den Selbsterhaltungstrieb der Menschheit, und eine Reaktion
tritt ein, die die daherflutende Welle einer verhängnisvollen
Entwicklung zurückzustauen versucht. Die einsichtsvollen und
idealen Elemente der Nation schliessen sich zusammen, und
was dem einzelnen nicht möglich war, das gelingt einer Anzahl
Gleichgesinnter durch gemeinsames Vorgehen. So haben in
Amerika, in Schweden und Norwegen, in England und Finn-
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258 Abhandlungen.
land aus ursprünglich kleinen Anfängen heraus grosse Massen¬
bewegungen gegen den Alkoholismus sich entwickelt, und auch
bei uns in Deutschland, wo im Westen der Wein, im Süden
das Bier und im Osten der Branntwein eine fast unumschränkte
Herrschaft üben, hat nichtsdestoweniger eine verhältnismässig
junge Abstinenzbewegung kräftig Wurzel geschlagen und schon
schöne Resultate gezeitigt. Und was ist es, was diese Men¬
schen befähigt, für ihr eignes Leben die verhängnisvollen Wir¬
kungen jener schädlichen Kultureinflüsse auszuschalten, sich in
Widerspruch mit den herrschenden Anschauungen zu setzen
und Hunderte und Tausende mit sich fortzureissen? Sie sind
beseelt von einer Idee, die sie über sich selbst erhebt und sitt¬
liche Kräfte in ihnen auslöst, sie haben jenen Glauben, von
dem es heisst, dass er Berge versetzen kann und jene Liebe,
die sich im Dienste der Allgemeinheit verzehrt. Die Idee ist
trotz allem, was der Materialismus sagen mag, das herrschende
und weltbewegende Prinzip.
Denn wir sehen, dass nicht eine plötzliche Aenderung der
sozialen Verhältnisse, sondern das Aufkeimen einer Idee, die
einen gewaltigen Fortschritt in den sittlichen Anschauungen
und in der wissenschaftlichen Forschung gezeitigt, diesen be¬
merkenswerten Umschwung in die Wege geleitet hat. Wer
die Aenderung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen
für das Primäre hält, an die eine Gesinnungsänderung der
Menschen ursächlich gebunden sei, der verwechselt Wirkung
und Ursache. Erst muss sich der Umschwung in den Geistern
der Menschen vollziehen, dann folgen die Verhältnisse nach,
denn sie sind ja nur der sichtbar gewordene Ausdruck des je¬
weiligen intellektuellen und sittlichen Niveaus der Menschheit.
Wenn aber die Ueberwindung des Alkoholismus eine
Aenderung der Gesinnung, eine Entwicklung sittlicher Lebens¬
ideale voraussetzt, dann ist sie, das dürfen wir getrost sagen,
in des Wortes höchster und umfassendster Bedeutung eine Er¬
ziehungsfrage, deren Lösung in hohem Masse von der Fähig¬
keit und dem Verständnis der Frauen und Mütter eines Volkes,
als den Erzieherinnen der heranwachsenden Generationen, ab¬
hängt.
Die eingangs gestellte Frage, ob die Mitarbeit der Frauen
auf diesem Gebiete sozialer Arbeit notwendig sei, muss deshalb
Goi igle
Original fro-rri
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
259
m. E. in unbedingt bejahendem Sinne beantwortet werden.
Sie ist nicht nur notwendig, sie ist eine der Voraussetzungen
ihrer Lösung überhaupt.
Die wissenschaftlichen Führer der Bewegung wissen dies
sehr wohl und wenden sich deshalb in allen Ländern hilfe¬
suchend an das weibliche Geschlecht. Im Ausland, besonders
in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern und in
der Schweiz, haben die Frauen auch bereits in imponierender
Zahl diesem Rufe Folge geleistet und eine grosse und segens¬
reiche Tätigkeit entfaltet; in Deutschland ist wenigstens der
Anfang dazu gemacht. Der Grund, dass uns diese Länder so
weit voraus sind, liegt wohl hauptsächlich in der freieren und
selbständigeren sozialen Stellung, die die Frau in jenen Ländern
einnimmt, eine Stellung, durch welche sie früher als die
deutsche Frau zu einem klaren, vorurteilslosen Einblick in die
sozialen Verhältnisse und zu lebhafterem Interesse an den
Fragen des öffentlichen Lebens gelangt ist.
Ich glaube nicht, dass es auf einen Mangel an Teilnahme
und Hilfsbereitschaft gegenüber den Leiden der Menschheit
oder auf einen Mangel an praktischem Blick und Organisations¬
talent bei der deutschen Frau zurückzuführen ist. Die inner¬
lich frei gewordene, zum Bewusstsein ihrer individuellen
Daseinsberechtigung erwachte Frau stellt ein fortschrittliches
Element in der Gesellschaft dar. Sie ist nicht wie der Mann
durch amtliche und Standesverpflichtungen gebunden, mit
Traditionen belastet, und mithin trotz aller verfassungsmässig
garantierten persönlichen Freiheit, ein in vielen Fällen unfreies
Individuum. Sie ist im Gegenteil, wenn sie innerlich die Jahr¬
hunderte alten Vorurteile, die das Leben früherer Frauen¬
generationen mit engen Schranken umgaben, überwunden hat,
ein beneidenswert freier Mensch. Leider haben noch immer
viel zu wenig Frauen den Mut und die Kraft, frei sein zu
wollen und diese wenigen werden aufgehalten durch die vielen,
die nicht mitkommen können und sich der Entwicklung hemmend
in den Weg stellen. Deshalb muss zuerst in den Frauen der
Wille zur freien Entfaltung ihrer persönlichen Eigenart ent¬
wickelt und der Mut, dieser gewonnenen Eigenart treu zu
bleiben und für sie zu kämpfen, erweckt werden. Es muss
ihnen ferner die Einsicht in die sozialen Verhältnisse, die nötig
Die Alkoholfrage. 18
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260 Abhandlungen.
ist, um die Forderungen und Pflichten der neuen Zeit zu ver¬
stehen, mitgeteilt werden.
Mit dieser notwendigen Vorarbeit sehen wir in allen
Kulturländern die Frauenbewegung beschäftigt. Sie leistet die
Pionierarbeit, die die Frauengemüter dem Verständnis der
grossen Kulturaufgaben unserer Zeit erschliessen soll. Es ist
kein Zufall, dass es gerade diejenigen Länder sind, welche die
grössten Erfolge in der Frauenbewegung aufzuweisen haben,
die auch in der Abstinenzbewegung das meiste geleistet haben.
Wer die Frau zu einem Kulturfaktor zu erheben wünscht, darf
sich deshalb der Frauenbewegung nicht ablehnend oder gleich-
giltig gegenüber stellen.
Für alle diejenigen, welche durchdrungen von der Er¬
kenntnis der schweren physischen und moralischen Wunden,
die durch den Alkoholismus der Menschheit geschlagen werden,
in seiner Bekämpfung eine soziale Aufgabe der Frau erkannt
haben, tut sich nun die grosse Frage auf: In welcher Weise
können die Frauen zu ihrer Lösung beitragen und welche von
ihnen sind dazu berufen? Diese letztere Frage ist nicht schwer
zu beantworten. Die Antwort lautet: Alle! Es kann sich bei
der Bekämpfung des Alkoholismus nicht lediglich darum handeln,
die gröbsten Formen des Missbrauchs zu beseitigen und dem
Laster der Trunksucht zu steuern, sondern es muss sich viel¬
mehr darum handeln, unsere Trinksitten, die die Lebensweise
des gesamten deutschen Volkes durchsetzt und unsere ganze
Geselligkeit demoralisiert haben, zu bekämpfen, vor allen
Dingen den Trinkzwang aus der Welt zu schaffen. Eine der¬
artige Regeneration unserer Lebensgewohnheiten kann nur all¬
mählich durch eine zielbewusste, vernunftgemässe Erziehung der
Jugend angebahnt werden, und diese grosse verantwortungs¬
reiche Aufgabe fällt fast ganz der deutschen Frau und Mutter zu.
Noch immer wird hier durch Unwissenheit ausserordent¬
lich viel gesündigt, indem man den Kindern gestattet, am täg¬
lichen Bier- oder Weingenuss von klein auf teilzunehmen, wo¬
bei die Deputate natürlich von Jahr zu Jahr grösser werden,
sodass die meisten Söhne an dem Zeitpunkt, wo sie das Eltern¬
haus verlassen, schon feste Biertrinker sind. Einem so er¬
zogenen Jüngling gegenüber nützt selbstverständlich eine von
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
261
aussen an ihn herantretende Belehrung und Ermahnung zur
Massigkeit wenig oder garnichts.
Er wird unfehlbar, wenn er auf die Universität, in den kauf¬
männischen Beruf, ins Regimentsleben oder wohin auch immer
hinaustritt, von den in allen Kreisen allmächtig regierenden
Trinksitten ins Schlepptau genommen und muss von neuem
alle damit zusammenhängenden bitteren Erfahrungen am eigenen
Leibe durchmachen, wobei er von vornherein verurteilt ist,
diese Erfahrungen teuer zu bezahlen. Wenn die deutschen
Mütter wüssten — schreibt Dr. Wolfgang Schulz, — in wie per¬
fider Weise die Trinksitten bei ihren Söhnen die Widerstands¬
kraft gegen die Verlockungen der Unsittlichkeit untergraben,
so würde diese eine Tatsache genügen, um uns Millionen be¬
geisterter Helferinnen erstehen zu lassen.“
Bei meinen Studien über die Prostitutionsfrage habe ich
einen erschütternden Einblick in den Zusammenhang zwischen
den Trinksitten und der Unsittlichkeit gewonnen. — Eine über¬
aus beschämende Tatsache trat mir bei diesen Studien vor
Augen, nämlich die, dass diejenige Gesellschaftsschicht, welche
man so gern als Blüte der Nation feiert, die akademische
Jugend, in sittlicher Hinsicht auf dem denkbar tiefsten Niveau
steht. Kein anderer Stand ist prozentual so hoch an den
Geschlechtskrankheiten beteiligt, wie die Studenten. Sie
kommen direkt nach den Prostituierten und Kellnerinnen. Und
womit hängt diese furchtbare Erscheinung zusammen? Haupt¬
sächlich mit dem sinnlosen Trinken unserer jungen Leute. Es
ist eine erfahrungsmässig unendlich oft bestätigte Tatsache, dass
der erste Fehltritt eines jungen Mannes fast immer im angetrun¬
kenen Zustand erfolgt. Gewöhnlich wird er von ebenso wenig
nüchternen Kameraden nach einem Trinkgelage ins Schlepptau
genommen und verführt. Bei klaren Sinnen würde der grösste
Teil aus ethischem und ästhetischem Widerstreben zu diesem
Schritte unfähig sein. Unter dem Einfluss des Alkohols aber
gehen diese Fehltritte allmählich in eine böse Gewohnheit über.
Dr. Georg Bonn charakterisiert in seiner Schrift über „Trink¬
sitten und Unsittlichkeit“ diese Verhältnisse folgendermassen:
Wie ein unsere deutsche Jugendkraft lähmender und unser
Mark zerfressender Bann lastet auf unserm deutschen Studenten¬
leben die Unsitte, nach der gewohnten Abendkneipe, nach dem
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262
Abhandlungeti.
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Kommers, sei es zu Ehren des scheidenden Rektors, sei es an
Kaisers Geburtstag, sei es nach dem Trauersalamander auf
den Fürsten Bismarck, sei es zur Feier der Wiederauferstehung
des deutschen Reiches, sei es nach bestandenem Doktor- oder
Staatsexamen, sei es zu Anfang oder zum Schluss des Se¬
mesters, allein oder in corpore, das genossene Bier, den ge¬
nossenen Wein ins Bordell zu tragen! — So also ist es um
unsere deutsche Jugend bestellt. — Physiologisch liegt der
Zusammenhang klar zu Tage. Der Alkohol umneb,elt den Ver¬
stand, lähmt die Willensenergie und die sittlichen Hemmungs¬
vorstellungen, erregt hingegen die Phantasie und durch sie die
Geschlechtssphäre und täuscht dem Menschen ein Gefühl von
überströmender Kraft vor, das nach brutalem Ausbruch hin¬
drängt. Eine Geselligkeit, welche derartige Folgen zeitigt, muss
auf der denkbar niedrigsten Stufe stehen. Sie wäre ohne die
Hilfe des Alkohols, der über die Leere und Langeweile dieser
Zusammenkünfte hinwegtäuscht, garnicht durchzuführen. Und
doch ist die Macht dieser Sitten so stark, dass sich nur wenige
ihrer Tyrannei ganz zu entziehen vermögen.
Aber einige entziehen sich ihr doch. Und wenn wir ge¬
nau hinsehen, wer diese sind, so sehen wir, dass es meist junge
Leute sind, die von Jugend auf zur Abstinenz oder doch zur
strengsten Massigkeit erzogen worden sind.
Deshalb sollte es sich jede Mutter zum Gesetz machen,
ihre Kinder völlig ohne Alkohol zu erziehen. Die Gelehrten
sind sich darüber einig, dass der Alkohol dem kindlichen
Körper in jeder Beziehung unzuträglich, ja gefährlich ist.
Warum also ihnen ein Bedürfnis anerziehen, das ihnen später zu
einer so furchtbaren Versuchung werden kann? Erziehen wir
unsere Kinder zur Massigkeit in materiellen Genüssen über¬
haupt, und richten wir statt dessen ihren Sinn auf ideelle
Freuden; gönnen wir ihnen Gelegenheit zu nervenstärkendem
Sport, lehren wir sie mit offenen Augen wandern, in Gottes
freier Natur, füllen wir ihr Leben mit mannigfaltigen Interessen,
je nach ihrer Anlage und Begabung, so werden sie von selbst,
wenn sie erwachsen sind, das öde Kneipensitzen fliehen, und
an Geist und Leib sich gesund und rein erhalten!
Ein Mittel hierzu könnte auch die gemeinsame Erziehung
der Geschlechter sein. Ich bin der Ansicht, dass die systema-
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
263
tische Absperrung der Geschlechter von einander während der
ganzen Jugend und Ausbildungsepoche von verhängnisvollem
Einfluss auf unsere kulturelle Entwicklung gewesen ist. Durch
diese künstliche Trennung und die ausserordentliche Verschieden¬
heit der Erziehung haben wir die Differenzierung zwischen
Knaben und Mädchen so weit getrieben, dass es ausser dem
erotischen Gebiet, fast keine gemeinsamen Interessen für sie gibt.
In dem gefährlichsten Moment der Entwickelung, wo dunkle,
kaum verstandene Triebe sich geheimnisvoll in ihnen zu regen
beginnen, führen wir dann die so lange getrennt Gehaltenen
einander zu, in einer von Alkohol, Tanz und Musik erhitzten
Atmosphäre auf Bällen und Gesellschaften und wundern uns
noch, dass so schwer ein harmloser, kameradschaftlicher Ver¬
kehr zwischen ihnen aufkommen kann! In Skandinavien,
Amerika und auch in England und der Schweiz besteht ein
viel freierer, gesünderer Verkehr zwischen den Geschlechtern;
dort herrschen aber auch nicht so eingefleischte Trinksitten bei
der Jugend wie bei uns. In der Sektion Zürich der akademischen
Abstinenten-Verbindung „Libertas“ verkehren männliche und
weibliche Studierende kameradschaftlich mit einander, wohl der
erste Studentenverein, der mit der verrohenden Herrschaft des
Alkohols auch die schädliche und unnötige Schranke zwischen
den Geschlechtern niedergezwungen hat.
Diese Länder sind m. E. auf dem richtigen Wege. Wie
die Allgemeinheit zur höheren Entwicklung der Sexual-Ethik
des weiblichen Einflusses im öffentlichen Leben dringend bedarf,
so hängt jeder einzelne Mann hinsichtlich seiner sittlichen Er¬
ziehung im Privatleben hauptsächlich von den ihn umgebenden
Frauen ab.
Deshalb ist es dringend nötig, dass unsere jungen Mädchen
dazu erzogen werden, ihren verfeinernden und veredelnden
Einfluss auf die männliche Jugend geltend zu machen. Hierzu
werden sie allerdings erst fähig sein, wenn an Stelle der ober¬
flächlichen, spielerischen Mädchenerziehung von heute eine ernste
Ausbildung zu pflichtmässiger Arbeit, zu einem ernsten Beruf
die Regel geworden sein wird. Ein solches Mädchen wird viel
besser imstande sein, einem jungen Mann die Achtung vor dem
weiblichen Geschlecht einzuflössen, die ihn vor niedrigem Um¬
gang zurückschrecken lässt; sie wird aber auch bei einer Ehe-
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Schliessung ihre Würde zu wahren verstehen und nicht aus
Furcht, unverheiratet zu bleiben, unbesehen dem ersten besten
Manne in die Ehe folgen. Eine notwendige Ergänzung dieser
Erziehung ist eine taktvolle sexuelle Aufklärung. Unsere jungen
Mädchen müssen vor ihrer Verheiratung erfahren, welche furcht¬
baren Folgen die Unsittlichkeit und die Trinkgewohnheiten der
Männer für ihre eigene Gesundheit und die ihrer einstigen Nach¬
kommenschaft mit sich bringen, wie diese beiden bösen Gewohn¬
heiten, die fast immer zusammen auftreten, direkt oder indirekt
das Glück der Ehe aufs schwerste gefährden. Unendlich oft
sind sie die Ursache der plötzlichen Kränklichkeit, des lang¬
jährigen Siechtums, der Unfruchtbarkeit junger Frauen, die als
blühende Mädchen in die Ehe traten, oder sie liefern durch
Degenerationserscheinungen bei der Nachkommenschaft den
traurigen Beweis für die Wahrheit des furchtbar ernsten Schrift¬
wortes, dass die Sünden der Väter heimgesucht werden an den
Kindern bis ins 3. und 4. Glied.
So unendlich schwer es für eine Mutter sein muss, ihren
harmlosen, nichtsahnenden Töchtern diese Verhältnisse aufzu¬
decken, so ist es doch unter unsern heutigen Verhältnissen für
jede denkende Mutter unabweisbare Pflicht. Nur Wahrheit
kann uns retten.
Ich bin der festen Ueberzeugung, dass erst dann, wenn
die Frauen auf der Höhe stehen werden, dass sie eine geistig¬
sittliche Zuchtwahl an dem männlichen Geschlecht ausüben
werden, der Mann anfangen wird, einen strengeren sittlichen
Massstab an sich selbst zu legen. Die Frau hat auf diesem
Gebiet eine sehr hohe Kulturmission zu erfüllen. In' unserer
Hand liegt es, diese Entwicklung anzubahnen, indem wir bei
der Erziehung unserer Kinder alle selbst einen praktischen
Anfang machen.
Es wäre jedoch falsch, alles nur von der heranwachsenden
Generation zu erwarten und eine Verantwortung der gegenwär¬
tigen Generation gegenüber abzulehnen mit der Ausflucht, dass
an der doch nichts mehr zu ändern sei, dass sie nun so, wie sie
ist, verbraucht werden müsse. Wir haben zu dem die Erziehung
unserer Kinder nicht allein in der Hand. Es wirken noch viele
andere Faktoren mit, Verwandte, Freunde, unser Umgang, die
Schule, vor allem aber der Vater unserer Kinder. Unsere Be-
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Srheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
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mühungen können nur mit Erfolg gekrönt sein, wenn er seine
Autorität in gleichem Sinne mit uns geltend macht und vor
allen Dingen durch di£ Macht seines Beispiels auf unsere Kinder
einwirkt. Die Ehe ist in meinen Augen ein Lebensverhältnis,
dessen Bestimmung es ist, beide Gatten auf die Höhe ihrer
physischen und sittlichen Entwicklung zu führen, deshalb sind
beide für einander verantwortlich und verpflichtet, sich gegen¬
seitig zu erziehen.
Wenn die Frau meistens von dem geistig reiferen, ihr an
Erfahrung und Lebensklugheit überlegenen Manne in geistiger
und praktischer Hinsicht erzogen werden muss, so sollte sie
dafür mit ihrer feineren Sexual-Ethik, ihrem natürlichen Streben
nach Masshalten, ihrer auf Beherrschung der rohen Instinkte
gerichteten weiblichen Zurückhaltung seine sittliche Erziehung
vollenden.
Diese Aufgabe aber kann sie nur erfüllen, wenn es ihr
gelingt, ihren Gatten aus dem Bannkreis der seinen Geschlechts¬
egoismus und damit die brutalen Eigenschaften der Mannesnatur
reizenden Trinksitten zu ziehen.
Unendlich viele Frauen werden um ihr schönstes Lebens¬
glück betrogen, weil sie den während seiner Junggesellenjahre
an den Stammtisch und die Zechgenossen gewöhnten Gatten
nicht ans Haus zu fesseln vermögen. Und für die Tragik einer
> solchen Ehe hat niemand ein rechtes Verständnis. Während
sich die Gesellschaft vom Trunkenbold mit Abscheu ab wendet,
hat sie für den festen Trinker nur ein humorvolles Verzeihen,
und die armen Frauen solcher Männer sind eine beliebte Ziel¬
scheibe billiger Witze in allen humoristischen Unterhaltungs¬
blättern.
Wenn es schon in den höheren Gesellschaftskreisen als
eine durchaus nicht so leicht zu erfüllende Forderung erscheint,
den Mann dazu zu erziehen, dass er im Haus die Quelle der
schönsten und beglückendsten Lebensfreuden suche, so begegnen
wir in Arbeiterkreisen, wo Vater und Mutter in den Kampf ums
Dasein hinaus müssen, leider sehr häufig Verhältnissen, denen
gegenüber es fast wie Hohn erscheint, wenn wir von der armen
geplagten Familienmutter verlangen, dass sie durch die Reize
des häuslichen Lebens den Mann vom Kneipenbesuch zurück¬
halte.
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Wer da weiss, was für ein elendes Dasein die Frau eines
Gewohnheitstrinkers im Arbeiterstande führt, wie ihre geistige
und physische Kraft sich verzehrt in täglich sich erneuernder
Qual, der weiss auch, dass eine solche Frau dem Verfall ihrer
häuslichen Verhältnisse ohnmächtig gegenübersteht.
In richtiger Erkenntnis der verzweifelten Lage einer solchen
Frau oder eines solchen Gatten, denn unter Umständen können
ja auch Frauen diesem Laster verfallen, hat man in England die
Trunksucht als Scheidungsgrund erklärt. 30 °/o aller Eheschei¬
dungen werden auf diese Ursache zurückgeführt.
Die Verhältniszahlen sind in anderen Ländern ebenso
ungünstige, in Dänemark 25 °; 0 , in der Schweiz 33 °/ 0 , in Russ¬
land 40 °/ 0 . Was für Kummer und Herzeleid wohl hinter diesen
trockenen Zahlen sich verbirgt! Und doch sind die Frauen
jener Länder, in denen unverbesserliche Trunksucht als Schei¬
dungsgrund gewertet wird, verhältnismässig günstig gestellt. Die
meisten Trinker-Frauen sind allein besser imstande, sich und
ihre Kinder durch die Welt zu bringen, als wenn ihnen der
brutalisierte Mann das sauer Erworbene immer von neuem aus
der Hand windet, ganz abgesehen von dem verhängnisvollen
Beispiel für die Kinder, das ein solcher Vater gibt. Wie oft
hört man nicht auch von Mordversuchen und schweren Miss¬
handlungen, die solche Männer beim Ausbruch des Deliriums
an ihren unglücklichen Angehörigen verüben! Muss es denn
erst soweit kommen? M. E. sollten auch bei uns die Frauen¬
vereine, die für die Besserung der rechtlichen Stellung der
Frau eintreten, bei einer Revision des B. G. B. beantragen,
dass unheilbare Trunksucht unter die Scheidungsgründe auf¬
genommen werde.
Sehr oft hängt das viele Trinken mit einer falschen Er¬
nährung zusammen, und hier müssen wir an die Frau in ihrer
Eigenschaft als Hausfrau appellieren, um Wandel zu schaffen.
Wenn in Arbeiterkreisen häufig die mangelnden Koch¬
kenntnisse der Frau, das mangelnde Verständnis für den Nähr¬
wert der Speisen und für die erziehliche Wirkung eines pünkt¬
lichen , schmackhaften, appetitlich zugerichteten Mahles die
Ursache des schlechten materiellen Lebens und damit der Wirts¬
hausfrequenz des Ehemannes sind, so wird in den besitzenden
Kreisen nicht weniger gesündigt durch übertrieben üppige,
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc,
267
scharf gewürzte, pikante Kost, durch welche der Durst und
das Bedürfnis nach Alkohol geweckt wird.
Von der schädlichen Wirkung einer derartigen Lebens¬
weise haben noch immer breite Schichten gar keine Ahnung.
Es liegt so sehr im Interesse der Frauen, dieser Wirkung vor¬
zubeugen, dass ich mir nach dieser Richtung hin viel von einer
zielbewussten Aufklärungsarbeit verspreche.
Eine gründliche radikale Aenderung aber kann erst erreicht
werden, wenn die Schule in den Dienst dieser hochwichtigen
Aufklärungs- und Volkserziehungsarbeit einbezogen sein wird,
durch praktischen Haushaltungsunterricht in der obligatorischen
Fortbildungsschule für Mädchen, worin den zukünftigen Müttern
und Hausfrauen des Volkes ohne Ausnahme theoretische und
praktische Belehrung über Ernährungslehre und Kochkunst
erteilt wird. Hierzu können wieder die Frauen, vor allem die
als Lehrerinnen beruflich tätigen Frauen helfen, indem sie durch
ihre grossen über ganz Deutschland verzweigten Organisationen
ihren Einfluss nach dieser Richtung hin geltend machen. Aber
noch in andererWeise könnte die Schule uns im Kampfe gegen
den Alkoholismus zu einem mächtigen Bundesgenossen erwachsen,
indem sie, wie es in Amerika mit so vortrefflichem Erfolge ge¬
schehen ist, eine auf wissenschaftlicher Grundlage basierte Be¬
lehrung über Physiologie und Hygiene unter spezieller Berück¬
sichtigung der Gefährlichkeit des Alkohols in biologischer, volks¬
wirtschaftlicher und ethischer Hinsicht in den Lehrplan aufnähme,
und so die Kenntnis dieser durch die Wissenschaft erforschten
Tatsachen zu einem Allgemeingut des deutschen Volkes machte.
Auf dem internationalen Kongress gegen den Alkoholismus
in Bremen 1903 erzählte Mts. Mary Hunt aus Boston über die
staunenswerten Erfolge, welche man in Amerika in verhältnis¬
mässig kurzer Zeit, nämlich in 15 Jahren, mit diesem System
errungen hat. Es ist charakteristisch für den praktischen Sinn
der Amerikaner, dass sie die von der europäischen Wissen¬
schaft erforschten und festgestellten Tatsachen sofort in ihrem
Lande in dieser Weise praktisch nutzbar machen. Bei uns ist
der Büreaukratismus in der Verwaltung leider so gross, dass
die modernen Forderungen einer gewandelten Zeit nicht so
rasch auf den traditionellen Gang der öffentlichen Einrichtungen
einwirken können.
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268
Abhandlungen.
Nachdem im Staat New-York, der 8 Millionen Einwohner
zählt, dies Gesetz 7 Jahre in Kraft war, hat ein Komitee von
Bürgern unter Mitwirkung der Frauentemperenzgesellschaft, eine
sorgfältige Enquete über die Wirkungen desselben angestellt
und die Resultate dieser Nachforschungen in einer Flugschrift
veröffentlicht. Es heisst darin: Niemand, welcher die zahlreichen
Zeugnisse aus allen Teilen des Staates durchsieht, kann ver¬
fehlen zu bemerken, dass eine Zunahme von weit verbreiteter
einsichtsvoller Ausübung der allgemeinen Hygiene einschliesslich
totaler Enthaltsamkeit in der Lebensweise unserer jungen Leute,
welche dieses Studium durchmachen, stattfindet, und dass das
Gesetz auch das vollbringt, wozu es bestimmt war. — Im Staate
Illinois ist eine gleiche Untersuchung mit gleich günstigen Resul¬
taten angestellt worden.
Nach der letzten Volkszählung haben jetzt 45 amerikanische
Staaten diesen Unterricht für insgesamt 22 Millionen Kinder
eingeführt. Ausserdem hat der Nationalkongress für alle Militär-,
Marine- und andere Schulen unter bundesmässiger Aufsicht eine
obligatorische Belehrung über Physiologie und Hygiene, welche
besondere Anweisungen über die Natur und Wirkungen der
alkoholischen Getränke und anderer Reizmittel einschliessen
muss, durch Gesetzeskraft eingeführt. Die letzte Volkszählung
zeigt ferner, dass seit dieser Zeit die durchschnittliche Lebens¬
dauer um 4,1 Jahr gestiegen ist. Es steht wohl ausser Zweifel,
dass diese Tatsache mit der Popularisierung der Gesundheits¬
lehre und der Temperenzerziehung in den Schulen im Zusammen¬
hang steht.
Diesen grossen sozialen und kulturellen Fortschritt verdankt
Amerika hauptsächlich den Frauen, die unter der Führung einer
genialen Persönlichkeit, Frances Willard, einen planmässig orga-
n’sierten Feldzug gegen den in Amerika furchtbare Verheerungen
anrichtenden Alkoholismus eröffneten und als erste Forderung
die Aufklärung und Belehrung der Jugend durch die Schule
aufstellten.
Was den amerikanischen Frauen möglich gewesen ist,
sollten auch die deutschen durchführen können. M. E. sind
hierzu besonders die Lehrerinnen berufen, die ja auch jetzt
schon ohne staatliche Autorisation ihren Einfluss nach dieser
Richtung vielfach aus privater Initiative geltend machen.
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Auch unsere Aerztinnen können auf diesem Gebiet eine
segensreiche Mission erfüllen, besonders wenn, wie es die
moderne Zeit dringend erfordert, Frauen als Schulärztinnen
amtlich angestellt sein werden.
In England haben die Frauen den obligatorischen Schul¬
unterricht in Hygiene und Temperenzbelehrung nicht durch¬
setzen können, doch bei der lebhaften Initiative, die dort die
Abstinentenvereine an den Tag legen, hat man es verstanden,
sich einen weitgehenden Einfluss auf die Kinder zu sichern,
indem man sie in speziellen Vereinen, den sog. Hoffnungs¬
scharen, Bands of Hope, zusammenschloss, wo ihnen die nötige
Belehrung neben Anregung zu fröhlicher Geselligkeit zu teil
wird. — Der grösste abstinente Frauenverein, die Womens’
Total Abstinence Union veranstaltet sogenannte Sommerschulen,
eine höchst originelle, echt englische Einrichtung. . ln einem
schön gelegenen, bequem erreichbaren Orte vereinigt man auf
2—3 Wochen junge Mädchen der gebildeten Stände, um sie
durch einen populär-wissenschaftlichen Ferienkursus in die
Temperenzsache einzuführen. —
Noch durchgreifender und radikaler, weil viel breitere
Schichten umfassend, könnte der weibliche Einfluss wirksam
werden, wenn die Frauen in solidarischer Verbundenheit sich
gegen die Tyrannei der Trinksitten in der Gesellschaft auf¬
lehnten. Es kommt bei der Kulturmenschheit im allgemeinen
viel weniger auf Gesetze und Regierungsformen als auf Sitten
und Lebensbedingungen an, denn wir wissen, dass Gesetze,
die mit den Sitten eines Volkes im Widerspruch stehen, nur
schwer zur Anwendung kommen können. Deshalb heisst es:
erst die Sitten reformieren.
Die im öffentlichen Leben arbeitenden Frauen empfinden
es oft als ein schweres Hemmnis, dass sie auf die Gesetzgebung
ihres Landes keinen Einfluss ausüben können — ich gehöre
auch zu diesen Frauen — und deshalb streben sie nach
diesem Rechte, das sie zu vollwertigen Staatsbürgerinnen
erheben soll.
So berechtigt dieser Wunsch an und für sich ist, so er¬
scheint er mir oft als eine Utopie, wenn ich die schmerzliche
Beobachtung mache, wie unendlich wenig Frauen die grosse
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Abhandlungen
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Macht, die sie bereits besitzen, nämlich die Beeinflussung der
gesellschaftlichen Sitten, in selbständiger kulturfördernder Weise
geltend zu machen verstehen; wie auch sie sich ins Schlepp¬
tau nehmen lassen von der herrschenden öffentlichen Meinung
und gedankenlos und kritiklos im Strome dahintreiben, ohne
rechts und links zu schauen, ohne zu ahnen, dass sie mitver¬
antwortliche Glieder der Gesellschaft sind.
Was ich von der deutschen Frau auf diesem Gebiet er¬
warte, ist, dass sie dazu beitragen wird, den verhängnisvollen
Trinkzwang aus der Geselligkeit zu verbannen, dass sie die
Hand bieten wird zu einer Regeneration unserer Geselligkeit
überhaupt, die diesen Namen kaum noch verdient. Unendlich
viele Kreise, Beamtenkreise, Offizierskreise, Honoratiorenkreise
der kleineren Städte seufzen unter dem Joch einer konven¬
tionellen Geselligkeit, die ihnen Lasten und Kosten auferlegt
und keine Befriedigung, wenn nicht die Befriedigung ihrer
Eitelkeit, zu gewähren im Stande ist. Aber mit der Herrschaft
dieser Konvention zu brechen, wagen sie nicht. Hier müssen
die Frauen vorangehen und versuchen, eine zwanglosere, ein¬
fachere, mehr auf gegenseitige geistige Anregung als auf ma¬
terielle Genüsse zugeschnittene Art der Geselligkeit auszubilden.
Wir sind in Deutschland sehr materiell geworden, seit¬
dem wir ein reiches mächtiges Volk geworden sind. Darin
liegt eine grosse Gefahr. Wir erkennen dies, wenn wir beo¬
bachten, welch abschreckend rohe Formen dieser Materialismus
überall da annimmt, wo grosse Zusammenflüsse von Männern
bei festlichen Gelegenheiten stattfinden.
Dass die grossen Sängerfeste, Schützenfeste, Turnfeste etc.
meistens zu widerlichen Trinkgelagen ausarten, ist bekannt, ja
sogar bei wissenschaftlichen Kongressen soll es Vorkommen;
ebenso dürfte es den meisten Frauen kein Geheimnis sein, dass
auch bei diesen Gelegenheiten der Alkohol seine Rolle als
Kuppler der Sinne zu spielen pflegt, und dass unendlich viele
Ehegelübde unter dem Einfluss dieser verrohenden Geselligkeit
gebrochen werden.
Noch immer strömen wie im Mittelalter an den Konzilien
und Reichstagen ganze Scharen von Prostituierten zu solchen
grossen Festen zusammen, und diese Erscheinung wird als
etwas so natürliches betrachtet, dass sogar mitunter die Stadt-
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
271
Verwaltungen deutscher Städte bei solchen Gelegenheiten die
Vermehrung des Personals in den öffentlichen Häusern offiziell
gestatten. Eine ähnliche Erscheinung ist es, wenn in Holland,
wo im Herbst in allen Orten grosse Kirmesfeste gefeiert werden,
statistisch nachgewiesen worden ist, dass die Zahl der unehe¬
lichen Kinder mit der Frequenz auf diesen Kirmessen steigt
und fällt. Ein paar Regentage können somit manches Menschen¬
kind vor viel Herzeleid und Jammer behüten. Aber dies Herze¬
leid und dieser Jammer würde nicht existieren ohne den Alko¬
hol, der alle diese tausende von Menschen zu ihren geschlecht¬
lichen Abenteuern verleitet und sie dann mit Schande und
Herzweh, oder Krankheit und ehelicher Trübsal dafür bezahlen
lässt. Ich begreife nicht, dass die Mehrzahl der gebildeten
Frauen, die doch zweifellos um diese traurigen Zusammen¬
hänge wissen, nicht begreifen, dass es nicht eher besser werden
wird, als bis sie energisch gegen diese Zustände ankämpfen.
Statt dessen nehmen sie diese Vorkommnisse hin wie ein Fatum,
wie etwas, an dem sie doch nichts ändern können und woran
sie selbst keine Schuld zu haben glauben. Dass dem nicht so
ist, dass es sich hier um eine Kollektivschuld der Gesellschaft
handelt, an der auch die Frauen in hohem Masse beteiligt sind,
indem sie das Gute nicht getan haben, das sie hätten tun können,
glaube ich durch meine bisherigen Ausführungen nachgewiesen
zu haben.
So unendlich wichtig der Einfluss der Frau in Haus und
Familie ist, so stellt doch die moderne Zeit, in der die Frau
immer mehr zu einem unentbehrlichen Faktor im öffentlichen
Leben sich entwickelt, noch weitergehende Forderungen an
unser Geschlecht. Sie bedarf der Mithilfe der Frauen im
Kampfe gegen den Alkoholismus auch auf dem Gebiet sozialer
Hilfsarbeit und volkserzieherischer Aufklärung.
Gegenüber den Riesenanstrengungen, die die Frauen
anderer Länder in dieser Arbeit gemacht haben, sind die
Leistungen der deutschen Frauen noch verhältnismässig gering,
aber die Entwicklung der letzten Jahre hat auch bei uns er¬
freuliche Fortschritte gezeitigt.
Waren es früher einzelne Frauen, die Initiative und Ver¬
ständnis durch die Gründung sozialer Schöpfungen bewiesen,
wie Lina Morgenstern, die schon 1866 mit der Gründung
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272 Abhandlungen
alkoholfreier Volksküchen begann, Berta Lungstras, die in
Bonn 1889 die erste Heimstätte für alkoholkranke Frauen er¬
richtete, Gräfin Schimmelmann, die auf Rügen alkoholfreie
Seemannsheime gründete, so haben jetzt die grossen Frauen¬
organisationen: der Bund deutscher Frauenvereine, der All¬
gemeine Deutsche Frauenverein, der Verband fortschrittlicher
Frauenvereine, der Deutsch-evangelische Frauenbund und
andere, die Bekämpfung des Alkoholismus in ihr Programm
aufgenommen und bemühen sich durch Verbreitung populär¬
wissenschaftlicher Literatur, durch eingehendes Studium der
Frage, durch Ausbildung von Rednerinnen, durch Petitionen
an die gesetzgebenden Körperschaften und Regierungen der
deutschen Bundesstaaten sowohl für wachsendes Verständnis
bei der Frauenwelt zu sorgen, als auch Einfluss auf die Gesetz¬
gebung zu gewinnen. Ausserdem ist durch die langjährige
Vertreterin der Mässigkeitsbestrebungen im Bund Deutscher
Frauenvereine, Fräulein Ottilie Hoffmann in Bremen ein
„Deutscher Bund abstinenter Frauen“ gegründet worden, der
bereits acht Ortsgruppen gebildet hat und alle Mässigkeits¬
bestrebungen einschliesslich Trinkerrettung und Gründung alko¬
holfreier Wirtschaften in sein Programm aufgenommen hat.
Es ist mir sehr wohl bewusst, verehrte Mitschwestern,
dass Sie nicht alle in diesen Organisationen selbst tätig sein
und ihre Kraft und Zeit diesen Bestrebungen widmen können.
Aber Sie müssen bedenken, dass die verhältnismässig
wenigen Frauen, die die geistige und praktische Arbeit in
diesen Vereinen leisten, dringend der finanziellen Unterstützung
bedürfen. Sie müssen Ihr sympathisches Verständnis für eine
derartige Kulturbewegung dadurch beweisen, dass Sie als Mit¬
glieder in diese Vereine eintreten und jedes Jahr Ihren Obolus
für die gute Sache opfern. Ohne Geld ist nun einmal in dieser
unvollkommenen Welt nichts zu machen, deshalb ist es für
jede unter uns, welche einmal die Notwendigkeit eines Kampfes
gegen diese Volksseuche erkannt hat, eine heilige Pflicht, auch
ihr Teil dazu beizutragen, dass es den mutigen Pionierinnen
wenigstens nicht an äusseren Mitteln gebricht. Leider ist dies
in Deutschland noch immer in hohem Masse der Fall. In
England und Amerika ist die Opferwilligkeit der besitzenden
Klassen eine viel grössere als bei uns. Wenn man in England
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
273
die grossartigen Anstalten Dr. Barnado’s besichtigt, in denen
7000 Kinder untergebracht sind, die man grösstenteils in den
slums von Ost-London und anderer englischer Fabrikstädte
zusammengelesen hat, und in ihnen arme Opfer eines durch
den Alkoholismus hervorgebrachten, oder wenigstens ohne
den Alkoholismus undenkbaren Pauperismus erkennt, so er¬
schrickt man wohl über die Grösse des sozialen Elends, aber
man staunt auch über die imponierenden Leistungen, die aus
privater Initiative und privater Hilfsbereitschaft hervorgegangen
sind. Diese 7000 Kinder und ein Stab von mehr als 100 An¬
gestellten werden Jahr aus, Jahr ein nur durch freiwillige
Gaben erhalten. — Ebenso verhält es sich mit den Schöpfungen
der Heilsarmee, die auch in der Trinkerrettung bedeutendes
leistet und dabei ganz auf freiwillige Unterstützungen ange¬
wiesen ist.
Und nicht nur das reiche England geht uns mit gutem
Beispiel voran, auch in der Schweiz, in Skandinavien und
Finnland sind aus der Privatinitiative sehr bedeutende
Schöpfungen hervorgegangen. Der Züricher Frauenverein
für Massigkeit und Volkswohl hat im Laufe von neun Jahren
neun alkoholfreie Wirtschaften gegründet und damit Vorbilder
geschaffen, die zum Anschauungsunterricht für Tausende ge¬
worden sind, sowohl für solche, die an die Errichtung und
Führung solcher Anstalten herantreten wollen, als auch für
die grosse Masse derer, die Lebensgenuss und heitere Gesellig¬
keit sich nicht ohne die Anreizungen des Alkohols vorstellen
können. Das fröhliche Leben und Treiben, dass sich an
schönen Tagen in dem grossen Volks- und Kurhaus auf dem
Zürichberg entwickelt, wo unter Verwischung aller Standes¬
unterschiede die Züricher Familien mit ihren Kindern einträchtig
beisammen sitzen, beweist das Gegenteil.
Aehnlich, wenn auch in kleinerem Massstabe, hat sich der
Verein belgischer Frauen gegen den Alkoholismus betätigt.
In Schweden hat eine einzige Frau, Valborg Ulrich,
es zu Stande gebracht, dass während der kalten Wintermonate
in Stockholm auf den Hauptplätzen Automaten mit warmer Milch
aufgestellt worden sind, zu welcher hauptsächlich Droschken¬
kutscher, Dienstmänner, Arbeiter und Arbeiterinnen ihre Zu¬
flucht nehmen, wodurch, wie man annehmen kann, der Schnaps-
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274 Abhandlungeri.
konsum eingeschränkt wird. Zahlreiche Aeusserungen von
Befriedigung über diese Einrichtung sind der Erfinderin aus
jenen Kreisen zu Ohren gekommen.
Auch in Holland haben die Frauen eine rege Tätigkeit
in der Temperenzbewegung entfaltet, und zwar arbeiten sie
hier zumeist gemeinsam mit den Männern in verschiedenen
Abstinenz- und Mässigkeitsvereinen. Sie haben, dem englischen
und amerikanischen Beispiel folgend, auch bereits angefangen,
unter den Kindern zu wirken und sie auf die Enthaltsamkeit
zu verpflichten. 3000 Kinder von 10—16 Jahren sind in 74
verschiedenen Vereinen organisiert, deren Leitung Männer und
Frauen in Händen haben.
Bei uns in Deutschland arbeiten die Frauen in den Or¬
ganisationen der Guttempler und des Alkoholgegnerbundes
st)wie im deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke ebenfalls gemeinsam mit den Männern. Auch an die
direkte Beeinflussung der Jugend ist der Guttemplerbund durch
die Gründung von Jugendtempeln herangeschritten. Leider ver¬
halten sich aber die Frauen der höheren Gesellschaftskreise
noch sehr kühl, ja geradezu ablehnend gegen diese hochwich¬
tige Kulturbewegung. Auch darin geht uns England wieder
mit gutem Beispiel voran. Frauen der höchsten Aristokratie
stehen an der Spitze der Vereinigungen. Lady Somerset, Lady
Carlisle und ihre Tochter, Lady Cecilie Roberts, Damen der
feinsten Gesellschaftskreise beteiligen sich an der Trinkerrettung
und an der volkserzieherischen Propaganda.
Es kommt der Frauenarbeit in England sehr zu statten,
dass dort schon vielfach Frauen in den Councils sitzen als
Mitglieder der Armenbehörden, des Waisenrats, der Schul¬
deputationen. Ihrem Einfluss ist es zweifellos mit zuzuschreiben,
dass die Behörden in England den Antialkoholbestrebungen im
allgemeinen sympathisch gegenüberstehen, und aus dieser ganzen
Sachlage erklärt es sich, dass man dort der weiblichen Initia¬
tive auch in Domänen, wo die Frauen bei uns gänzlich aus¬
geschlossen sind, Spielraum gestattet. Dies zeigt sich in einer
ganz eigenartigen und wohl einzig dastehenden Erscheinung,
in der Missionstätigkeit der Miss Agnes Weston unter den Ma¬
trosen der königlichen Marine. Seit 33 Jahren steht Miss Weston
in dieser Arbeit, und es ist ihr gelungen, allmählich eine grosse
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
275
abstinente Union mit 217 Zweigvereinen „die Royal Naval
Temperance Society“ an Bord der Kriegsmarine zu gründen.
Die Befehlshaber der Schiffe dulden die propagandistische Tätig¬
keit dieser Dame nicht nur, sondern sie unterstützen sie sogar,
denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass die nüchternen
Leute ihre besten zuverlässigsten, gesündesten und leistungs¬
fähigsten Mannschaften sind. Miss Weston geht häufig an Bord
der Kriegsschiffe und hält Ansprachen an die Matrosen, zu
denen sich manchmal 6—700 Leute einfinden.
Mit der Zeit ist die Royal Naval Temperance Society
ausserordentlich gross geworden. Sie hat in Portsmouth und
Devonport Seemannsheime gegründet und in Portsmouth ihr
Hauptquartier mit einem ganzen Stabe von Angestellten aufge¬
schlagen.
Einen Begriff von dem Umfang, den diese Tätigkeit ge¬
wonnen, geben folgende Zahlen: Im Jahre 1902 traten 6118
neue Mitglieder ein, 14334 Mitglieds-Karten wurden versandt,
666 Schiffsmitgliederbücher ausgegeben, das Organ des Vereins
in 636 450 Exemplaren gedruckt und verteilt.
In den beiden Seemannsheimen, die sich aus kleinen An¬
fängen zu den grössten Temperenzhospizen der Welt entwickelt
haben, stehen jeden Abend je 1000 Betten zur Verfügung, die
im Jahre 1902 278 355 Mal benutzt worden sind. Die Einnahmen
betrugen 1902 26 000 £. Ein Zweig dieser Temperenzarbeit
wird an den Frauen und Kindern der Seeleute betrieben, die
während der langen Abwesenheit des Gatten und Vaters oft
der Verlassenheit und der Versuchung zum Trunk anheimfallen.
Den Leuten ist ausserdem Gelegenheit zur Versicherung für
Krankheit und Todesfall geboten, wobei die m. E. fast zu
strenge Maxime herrscht, dass jeder, der sein Temperenzgelübde
bricht, des eingezahlten Geldes verlustig geht. Die englischen
Matrosen lassen sich aber, wie es scheint, trotzdem von der
Teilnahme nicht abhalten, denn das eingezahlte Kapital beträgt
l 1 /« Mill. £.
Wenn man bedenkt, dass an der Spitze dieses gross¬
artigen Unternehmens eine Frau steht, und dass diese impo¬
nierenden Schöpfungen aus den bescheidenen Versuchen dieser
Frau, auf einem englischen Kriegsschiff den Matrosen Abstinenz
zu predigen, herausgewachsen sind, so wird einem klar, dass
Die Alkoholfrage. 19
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276
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es in der Tat Frauen gibt, die der menschlichen Kultur neue
Bahnen weisen können, und dass die Länder glücklich zu preisen
sind, in denen die Genialität des Herzens nicht durch starren
Büreaukratismus an ihrer Entfaltung gehindert wird.
Nun werden gewiss viele von Ihnen glauben, verehrte
Anwesende, dass diese schönen Erfolge, die dank der uner¬
müdlichen Tätigkeit von Männern und Frauen im Kampfe
gegen den Alkoholismus errungen worden sind, zu einer be¬
deutenden Abnahme dieser sozialen Gefahr geführt haben.
Doch dies würde eine irrige Annahme sein. Die Gefahr ist
vielmehr immer noch im Wachsen begriffen. Aus England
wird berichtet, dass sogar unter den Frauen, hauptsächlich
unter den Fabrikarbeiterinnen der grossen Industriestädte die
Trunkfälligkeit zunimmt. In Manchester starben im Jahre 1878
100 Frauen an den Folgen des Alkoholismus, im Jahre 1902 250.
Unter den Männern richtet dieses Laster selbstverständlich
noch ganz andere Verwüstungen an. Wenn dies in England
geschieht, wo jeder 7. Mensch enthaltsam lebt, wie sieht
es erst in anderen europäischen Ländern aus?
In Deutschland und der Schweiz stirbt jeder 10. Mann
an den Folgen des Alkoholismus, wie Dr. Käferstein bei dem
kürzlich stattgehabten wissenschaftlichen Kursus gegen den
Alkoholismus in Berlin ausgeführt hat. 3 Milliarden Mk. werden
in Deutschland jährlich für Spirituosen verausgabt, 1 / 10 des
gesamten Volkseinkommens, % der Gerstenernte, 1 / ie der
Roggenernte, 1 I 1S der Kartoffelernte wird zur Alkoholerzeugung
verbraucht. Jede 14. erwerbstätige Person steht im Dienst
einer am Alkohol interessierten Industrie.
An diesem ungeheuren Konsum beteiligen sich die Frauen
in steigendem Masse. Wenn auch selten bis zur Trunkfällig¬
keit ausartend, haben die Trinkgewohnheiten doch schon breite
Schichten der Frauenwelt ergriffen. Selbst, wenn man von
Süddeutschland absieht, wo das Bier und der Most so all¬
gemeine Volksgetränke sind, dass selbst kleine Kinder daran
gewöhnt sind, bleibt diese unerfreuliche, ja beängstigende Tat¬
sache bestehen. Dieselben Verhältnisse, die den Mann ins
Wirtshaus und zum Alkohol treiben, führen auch die immer
mehr ins Erwerbsleben hinausströmenden, berufstätigen Frauen
aller Stände ganz naturgemäss diesen Gewohnheiten in die
Original from
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Scheven, Der Kampf gegen den Alkoholismus etc.
277
Arme. Tausende von Frauen sind heute genötigt, im Restau¬
rant zu Mittag zu essen, wo fast überall der Trinkzwang
herrscht, andere Tausende lernen in dem aufreibenden Kampf
ums Dasein das Bedürfnis nach dem Trostspender und Sorgen¬
brecher Alkohol kennen. So nimmt der Alkoholismus trotz
aller Bestrebungen zu seiner Bekämpfung, trotz aller gemein¬
nützigen Schöpfungen, die vorläufig nur die Wirkung des
Tropfens auf einen heissen Stein haben, immer noch zu. Es
bleibt also noch unendlich viel zu tun übrig, denn ein Um¬
schwung in dieser verhängnisvollen Entwicklung kann erst
eintreten, wenn die Mehrzahl der Bevölkerung sich zum Kampf
gegen diesen furchtbaren Feind ermannen wird, der die Ge¬
sundheit, die Sittlichkeit und den Wohlstand der Nationen
untergräbt. Da wir Frauen die Hälfte der Nation ausmachen,
so liegt es an uns, die Wagschale zu Gunsten einer rückläufigen
Bewegung zum Sinken zu bringen. Ich lebe der Hoffnung,
dass die Frauen in dem Masse, wie sie über die Schranken,
die ihren Horizont so lange eingeengt haben, hinaustreten,
diese soziale Pflicht immer mehr erkennen werden.
Es wird den Frauen klar werden, dass sie selbst das grösste
Interesse an dem Erfolg dieses Kampfes haben, denn nicht nur
ihr persönliches Glück, auch ihre ganze soziale Stellung steht
damit in engstem Zusammenhang. Es liegt auf der Hand, dass
das Ziel der Frauenbewegung, nämlich die geistige und soziale
Gleichstellung und Gleichbewertung der Geschlechter, erst er¬
reicht werden kann, wenn unsere Kultur sich soweit verfeinert
haben wird, dass die brutale Macht des Stärkeren sich vor
der Herrschaft sittlicher Potenzen zu beugen gelernt haben wird.
Darum liegt es im eigensten Interesse der Frau, alle
finsteren Mächte, die die Bestie im Menschen entfesseln, zu
bekämpfen: Krieg, Alkoholismus, Prostitution.
Die Frau ist nun einmal dem Manne gegenüber physisch
benachteiligt, daran lässt sich nichts ändern und wird sich in
alle Ewigkeit nichts ändern lassen.
Dieser Nachteil kann nur dadurch wett gemacht werden,
dass das männliche Geschlecht dazu erzogen wird, seinen
Geschlechtsegoismus, der aus seiner physischen Besserstellung
entsprungen und durch Jahrtausende kultiviert worden ist, zu
unterdrücken, und freiwillig auf die gewohnten, im Grunde auf
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roher physischer Gewalt beruhenden Geschlechtsprivilegien zu
verzichten.
Wir sehen bereits heute in einem ganz bestimmten, von
sozialen Idealen erfüllten Kreise viele Vertreter eines solchen
neuen Männergeschlechts, allgemein wird diese Weltanschauung
aber nur in dem Masse werden, als das rohe Triebleben der
grossen Menge von geistig sittlichen Mächten gebändigt wird.
Wie rasch oder wie langsam sich diese Entwicklung voll¬
zieht, wird zumeist von den Frauen abhängen, von ihrer Fähig¬
keit, die Forderungen der neuen Zeit zu verstehen, und dem
Manne als Führerin voranzuschreiten in dem Streben nach
einer höheren, auf Beherrschung der sinnlichen Leidenschaften
gerichteten, vergeistigten Kultur.
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Scharrelmaim, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 279
Die Bedeutung und Zukunft der Jugendlogen
des Guttemplerordens.
Von N. Scharrelmann in Bremen.
Vortrag, gehalten anlässlich des Deutschen Abstinententages
in Altona.
Die Aufgabe aller Freunde der Enthaltsamkeit und insbeson¬
dere unseres Guttemplerordens läuft vor allem darauf hinaus, eine
neue gesundere Weltanschauung anzubahnen. Dass diese Auf¬
gabe nicht mehr mit der gegenwärtigen, sondern erst mit Hülfe der
heranwachsenden Generation gelöst werden kann, liegt klar auf
der Hand. Unter den vielen Wegen nun, die dieser Aufgabe
dienen könnten, scheinen mir die folgenden vier die wichtigsten
und lohnendsten zu sein.
1. Lasst uns dafür sorgen, dass tüchtige Per¬
sönlichkeiten heranwachsen. Der Massenunterricht
in unseren grossen Staatsschulen liefert gar zu gern Fabrik¬
ware. Wir müssen durch Rat und Tat vor allem protestieren
gegen die öde Gleichmacherei und das Kasernenwesen in der
Erziehung. Wir müssen in jeder Jugendlogensitzung beitragen
zur Weckung der eigenen Persönlichkeit im Kinde. Wir wollen
versuchen, die Eltern für die Erziehung ihrer eigenen Kinder
zu interessieren. In grösserer Freiheit sollen diese Kinder auf¬
wachsen, damit ihre Eigenart um so kräftiger hervorbricht.
Persönlichkeiten, scharf ausgeprägte Charaktere haben wir nötig
und keine Dutzendmenschen. Arbeiten wir nach dieser Rich¬
tung in unseren Jugendlogen (und jeder, der ihre Arbeitsweise
kennt, wird sofort erkennen, in welch ausgedehntem Masse
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280
Abhandlungen.
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das möglich ist) dann helfen wir dadurch, dass ein Geschlecht
von Vätern und Müttern heran wächst, welches sich auch ohne
viele Wissenschaft von der Sklaverei unserer Sitten aus eigener
Machtvollkommenheit befreit, welches mit fester Hand das eigne
Leben führt und selbstverständlich eigne Wege geht, ohne sich
durch die feige Rücksicht auf den grossen Haufen vergewaltigen
zu lassen.
2. Lasst uns die heran wach senden Menschen
rücksichtsvoller machen. In der Schule lernen die Kinder
die zehn Gebote. Unsere Zeit ist nach meiner Meinung im
Begriff, die Reihe dieser Gebote um ein ausserordentlich wich¬
tiges zu vermehren, und dies neue Gebot ist es, welches der
Jugend ganz besonders ins Herz geschrieben werden sollte. Es
ist das Gebot: Du sollst kein böses Beispiel geben
deinem Nächsten!
Freilich werden tausende und abertausende heute lebender
Menschen die Verpflichtung auf dies Gebot einfach ablehnen.
Gerade uns Guttemplern macht man ja so gern den Vorwurf,
dass wir die sittliche Freiheit des Menschen beschränken.
Doch — mit der Freiheit des Willens ist es eine ganz
eigene Sache. Durch zweierlei wird sie im Menschen beschränkt:
1. durch den Widerstreit in seiner eigenen Brust und 2. durch
sein Zusammenleben mit Seinesgleichen resp. durch den Wider¬
streit der Menschen unter einander.
Nun meine ich, dass von der Freiheit des Willens immer
nur bedingungsweise gesprochen werden kann. Der eine Mensch
ist freier, der andere gebundener. Jeder stellt eine spezielle
Entwicklungsstufe dar. Wir werden um so freier, je mehr
die geistigen, „höchsten“ Kräfte (Verstand, Intuition, Phan¬
tasie, Vernunft, Gemüt usw.) die Herrschaft in uns ange¬
treten haben, je weniger wir uns von augenblicklichen Launen,
von allerlei Gelüsten und Trieben leiten lassen. Zu völliger
Willensfreiheit gelangt nur derjenige, der nichts will, was mit
seiner besten Ueberzeugung im Widerspruch steht, was nicht
Wille des inneren Königs ist.
Der Trinker wird immer an inneren Konflikten leiden
durch den Kampf zwischen seiner Leidenschaft und seiner Ver¬
nunft. Aber auch der Mässige kommt nicht zur vollen inneren
Harmonie. Er kann nicht dazu kommen, denn die Wissenschaft
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Scharrelmann, D. Eedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 281
(die Einsicht!) lehrt, dass es keinen Grund gibt, ein alkoholisches
Getränk einem alkoholfreien vorzuziehen, dass alle „Vorzüge“
des Alkohols sich als Täuschungen entpuppen, dass besonders
Alkohol als Quelle der Lebensfreude zu verwerfen ist, dass
infolge der giftigen Natur, seiner destruktiven Tendenz wegen
eine Schwächung gerade der feinsten und edelsten Kräfte her¬
vorgerufen wird usw.
Auch unser Zusammenleben beschränkt die Freiheit des
Willens. Eine unendlich lange Reihe der schauderhaftesten
Erfahrungen mag notwendig gewesen sein, ehe die Menschheit
begriff, dass Heiraten zwischen Blutsverwandten unnatürlich
und verderblich sind. Durch ebenso grausige und zahlreiche
Erfahrungen musste sich die Menschheit hindurch ringen, ehe
sie sich zur Anerkennung des Gebotes: Du sollst nicht töten!
verstand. Nichts deutet darauf hin, dass unsere sittliche Er¬
kenntnis schon ihr Endziel erreicht hat, dass unsere Zeit schon
die Fülle aller Sittlichkeit besässe, dass wir schon alle Ge¬
setze, die für das harmonische Zusammenleben der Menschen
nötig sind, erkannt haben. Es scheint mir nun, als wenn sich
langsam eine neue Erkenntnis Bahn brechen will, nämlich die,
dass es nicht nur unsittlich ist, den Nächsten zu bestehlen, zu
morden, ein falsches Zeugnis zu reden usw., sondern dass es
ebenso unsittlich ist, ein böses Beispiel zu geben. Natürlich
wehrt sich der sogenannte gesunde Menschenverstand gegen
die Anerkennung dieser neuen sittlichen Erkenntnis. „Soll ich
meines Bruders Hüter sein?" fragt gar mancher auch heutzu¬
tage. Wie sich die Menschheit damals gewehrt hat gegen die
Anerkennung gewisser Ehegesetze, wie sich heute noch Tau¬
sende wehren gegen die Unterscheidung von Mein und Dein,
wie der Mörder nicht das Gebot: Du sollst nicht töten! an¬
erkennen will, so wendet sich stets die Majorität der sittlich
weniger empfindsamen Menschen gegen jede weitere Beschrän¬
kung ihrer persönlichen Freiheit durch neue Gebote. Und im
Gegensatz zu der grossen Majorität, die als 11. Gesetz prokla¬
miert: „Es wird weiter getrunken!" betont eine Minorität desto
energischer die neue sittliche Erkenntnis: Du sollst kein
böses Beispiel geben deinem Nächsten! Diesem
neuen Gesetze will unser Kampf gegen die Trinksitten dienen.
Die Macht des bösen Beispiels, gegeben durch unsere Trink-
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sitten, ist es, die wir brechen wollen, zu Gunsten der uner¬
fahrenen Jugend und aller unserer willensschwachen Brüder.
Was hindert aber den Einzelnen daran, durch totale Ab¬
stinenz das denkbar beste überzeugendste Beispiel zu geben,
die denkbar schärfste Waffe gegen die unseligen Trinksitten
zu schwingen? — Nichts als nackter Egoismus. Es ist der
Egoismus allein, der die Notwendigkeit der Abstinenz nicht an¬
erkennen will, um die Herrschaft der Laune, des Augenblicks¬
impulses aufrecht zu erhalten. Man bedenke: Kein Mensch hat
einen einzigen stichhaltigen sachlichen Grund, der gegen die
Enthaltsamkeit spräche, zu entdecken vermocht, trotzdem sich
zahllose Interessenten unendliche Mühe damit gegeben haben.
Es ist immer wieder nichts anderes als Egoismus, der gegen
die Enthaltsamkeit Front macht. Der Trinker (auch der Massige!)
will für sich sein Gläschen retten, während der Enthaltsame
sich ein (sogenanntes!) „Opfer“ auferlegt zu Gunsten seiner
Mitmenschen.
Aber mit diesem „Opfer“ ist es ein eben so eigenes Ding
wie mit der Freiheit des Willens. Man glaubt ein Opfer zu
bringen und in Wirklichkeit erhält man, was man opferte, mit
reichlichen Zinsen zurück. Wer zum Beispiel beim Eintritt in
unsern Orden das Gelübde der Enthaltsamkeit auf Lebenszeit
ablegt, der opfert (so erscheint es zunächst!) seine Freiheit.
Sie scheint durch das Gelübde wenigstens stark beschränkt zu
werden. Die sittliche Freiheit aber ist das kostbarste Gut nach
Ansicht der meisten Menschen. Und weil das Ansicht so vieler
ist, scheut sich auch so mancher, einem Orden beizutreten, der
dies „kostbarste Gut“ beschneidet.
Nun steckt aber ein gewaltiger und verhängnisvoller Fehler
in dieser Anschauung. Es ist nicht wahr, dass die gesetz- und
schrankenlose Freiheit das höchste und kostbarste sittliche Gut
ist. Höher als die Freiheit steht der freiwillige Verzicht darauf
zu Gunsten anderer. Alles Gute und Grosse und Edle in der
Welt ist entstanden durch irgend welches freiwillige Aufgeben
eines Gutes. Der Reiche, der da Tausende hingibt zur Grün¬
dung einer Wohltätigkeitsanstalt, der verzichtet auf allen Nutzen,
den sein Geld ihm selbst bringt, er opfert es zu Gunsten anderer.
Die Gottheit musste sich selber Grenzen auferlegen, musste
ihre eigene Unendlichkeit beschränken, damit die Welt in ihr
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Scharrelmann, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 283
entstehen konnte. Christus opferte sich selbst am Kreuze.
Jeder Mensch, der für irgend eine Idee oder ein Gut seine
Bequemlichkeit, Geld, Zeit oder Kraft opfert, der hat das kost¬
barere Teil erwählt, indem er die Rücksicht auf das eigene
Wohl opferte zu Gunsten des Wohles seiner Mitmenschen.
So ist auch die gesetzlose und schrankenlose sittliche
Freiheit nicht das höchste Gut. Sittlicher ist das freiwillige
Aufgeben meiner Freiheit, das Opfer meiner augenblicklichen
Willensimpulse aus Rücksicht auf das Wohl anderer Menschen.
Die höchste Kraft im Menschen, die Krone unseres
geistigen Lebens, ist die Liebe, die nicht das Ihre sucht. Wer
sich selbst mit all seinem Denken und Handeln bewusst in den
Dienst dieser Königin stellt, der stellt sich damit unter das
denkbar engste und schwerste Gesetz, dessen Egoismus wird
von Tag zu Tag mehr eingeschränkt, die Freiheit des Handelns
wird immer mehr eingeschränkt, aber trotzdem wird erst ein
solcher Mensch in des Wortes höchster Bedeutung „frei“. Wer
sich unter das höchste Gesetz der selbstlosen Liebe stellt, der
hat keine Freiheit mehr im Handeln, der kann nur dem einen
Befehle folgen, den dies Gesetz ihm gibt; aber dadurch, dass
er nur einem Herrn dient, wird der Mensch befreit von allem
Kampf und Streit in seinem Innern — er wird frei. So kommt
die Freiheit, die er opferte, nein, die er zu opfern glaubte,
in reinerer, verschönter Form zu ihm zurück. Wahre, sittliche
Freiheit ist nur möglich, in strengster Gebundenheit: in der
bedingungslosen Unterordnung aller Willensrichtungen unter
die Herrschaft der Liebe zum Nächsten. -
„Du sollst kein böses Beispiel geben deinem Nächsten!“ —
Wer dies Gebot nicht nur mit dem Kopfe, sondern auch mit
dem Herzen begriffen hat, der wird ein höheres Verantwort¬
lichkeitsgefühl in sich erwecken, das ihn lehren wird, alles,
was er tut, nicht nur in Bezug auf den eigenen Nutzen oder
Schaden zu beurteilen, sondern ebenso ernst zu überlegen, in¬
wiefern nütze oder schade ich meinem Nächsten. Wer dies
Gebot in sich zur sittlichen Macht werden lässt, der wird auch
ganz selbstverständlich die Trinksitten, die Unzähligen verderb¬
lich werden, mit bekämpfen helfen.
„Du sollst kein böses Beispiel geben deinem Nächsten!“ —
Das Wort möchte ich als Trinkspruch an jedem Glase sehen!
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Abhandlungen.
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3. Wir müssen die Jugend erziehen zum Verständnisse
für den hohen Wert des menschlichen Lebens. Die Menschen
der Zukunft müssen ernster und fröhlicher zugleich werden.
Ernster, weil sie dann ein tieferes Verständnis für das Leben
haben, weil sie besser als wir erkennen werden, welch eine
starke Quelle des Glücks das Leben werden kann, wenn man
es seinem höchsten Ideale getreu lebt; und fröhlicher, weil sie
mehr als wir sich darin üben werden, die Fröhlichkeit, die un¬
mittelbar aus dem Herzen kommt, zu pflegen und sie jeder
anderen vorzuziehen.
Fröhlichkeit mit Alkohol ist bekanntlich am leichtesten
zu erhalten: man braucht nur Geld dazu, um den „Stoff“ zu
kaufen. Aber echte, direkt aus dem Herzen kommende Fröh¬
lichkeit — das ist ein ander Ding! Die will mit viel Seelen¬
kraft und feinem Takte gepflegt werden. In diese ungezwungene,
sich von selbst verstehende Fröhlichkeit, die das Spiegelbild
einer reinen, lauteren Seele ist, müssen wir die Kinder ein¬
führen. Wenn wir helfen, dass eine Generation heranwächst,
die es gelernt hat, auch ohne Reizmittel, die nur künstliche Stim¬
mung erzeugen, fröhlich zu sein, dann haben wir dadurch ein Stück
beigetragen, dass die Abstinenz zur Selbstverständlichkeit wird.
4. Die Jugend muss produktiver werden.
Unsere Schulen sind leider vorzugsweise Lernschulen. Alles
ist in ihnen auf das Aneignen von Wissen zugeschnitten. Das
Lernen ist nicht mehr Mittel, sondern Zweck. Wir aber müssen
helfen, die Kinder erfinderisch zu machen in allen Stücken.
Sie sollen sich in allen Lebenslagen zu helfen wissen. Menschen
aber, denen immer noch etwas einfällt, werden viel leichter
den Schicksalsschlägen trotzen, die werden nicht so schnell
den Kopf hängen lassen und zur Flasche greifen. Für die
wird Enthaltsamkeit auch dann noch Selbstverständlichkeit sein,
wenn andere schlaffe Seelen längst zu einem sogenannten
„Sorgenbrecher“ gegriffen haben.
Lasst uns die Kinder in den Jugendlogen vor allem selbst¬
ständiger, rücksichtsvoller, fröhlicher und erfinderischer machen,
dann haben wir ihnen die besten Waffen gegen die Trunksucht
und gegen alle anderen Laster überhaupt geschmiedet.*)
*) Wer sich für diese pädagogischen Ziele interessiert und über deren Durch¬
führung näher informieren will, dem seien des Verfassers Schriften: „Herzhafter
Go^ 'gle
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Scharrel mann, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 285
Nun werden Sie sagen: Ja, das ist ja alles nichts be¬
sonderes. Derartige Forderungen hat man schon oft gehört! —
Gewiss! Wer ein paar Blicke in unsere moderne pädagogische
Literatur wirft, der wird die oben genannten Forderungen da¬
selbst wiederfinden.
Aber deshalb sind sie nicht minder berechtigt. Ich wollte,
sie würden überall in jeder Schulanstalt und in jedem Eltern¬
hause noch viel energischer angestrebt, als es bis jetzt geschehen
ist. Aber, nun denken Sie sich diese vier Ziele in den Vorder¬
grund gerückt, versuchen Sie in der Arbeit an der Jugend alles
und jedes zuzuschneiden auf die Erreichung der vier genannten
Forderungen, gehen Sie ihnen ganz planmässig und unaufhör¬
lich zu Leibe und Sie werden selbst überrascht sein, wie schnell
und wie gründlich sich der Unterricht ändert.
Das ist ja das Schöne und Erfreuliche in unserm Jugend¬
werk, dass es uns die Möglichkeit gewährt, völlig eigene Wege
zu gehen. Da haben wir nicht wie in der Schule noch andere
Unterrichtsziele zu erreichen, wir fühlen uns in den Jugendlogen
frei von allen Vorschriften und Zwangsjacken, die die Tätigkeit
des Lehrers in der Schule so leicht' einengen, da können wir
ganz speziell unseren Zielen dienen, da bedeuten die vier For¬
derungen viel mehr als auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Aber mit all diesem soll nicht gesagt sein, dass die Kinder
in den Jugendlogen keine direkten Belehrungen über den Alko¬
hol und alles, was damit zusammenhängt, erhalten sollen! Be¬
wahre, im Gegenteil! Soviel wie Kinder davon verstehen
können, sollen sie sicher auch erfahren, — aber — wie wenig
ist das! Selbst bei bestem Willen und viel Geschick lässt sich
von der so verwickelten Alkoholfrage der Jugend nicht viel
begreiflich machen.
Das Verständnis für das ungeheure Alkoholelend unseres
Volkes und die grosse Bedeutung der Abstinenzbewegung pflegt
den Menschen erst aufzugehen, wenn er soziale Verhältnisse
durch seinen Beruf gründlicher kennen lernt.
Unterricht“, Verlag von A. Janssen, Hamburg 1902, und „Weg zur Kraft“ (erscheint
im Oktober dieses Jahres im gleichen Verlage) empfohlen. Für die Unterhaltung in
den Jugendlogen aber sei hingewiesen auf des Verfassers Sammlung von Kinder¬
geschichten: „Aus Heimat und Kindheit und glücklicher Zeit“ (A. Janssen,
Hamburg 1908.)
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Abhandlungen.
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Doch will ich hiermit durchaus nicht alle jene trefflichen
und hochzuschätzenden Versuche, Kindern direkte Belehrung
über Alkohol zu vermitteln, diskreditieren. Ich meine nur, wie
weit wir nach dieser Seite gehen wollen, das mag dem persön¬
lichen Geschick und dem Urteil des Einzelnen überlassen
bleiben.
Aber einen Weg, für die Abstinenz zu wirken, gibt es für
uns alle, einen durchaus gangbaren und sicherlich erfolgreichen,
einen Weg, den auch der Massige mit uns zu gehen sich nicht
scheuen wird: es ist der Weg der indirekten Unterstützung der
Antialkoholbewegung durch die moralische und intellektuelle
Kräftigung des Kindes.
Wenn wir sagen: Wir wollen die Kinder zu selbständigen,
rücksichtsvollen, herzensreinen und produktiven Menschen
machen, dann kann gegen diese Ziele sogar der Alkoholfreund
nichts einwenden und selbst derjenige wird die Tätigkeit unserer
Jugendlogen begrüssen, der sie verlachen und befeinden würde,
wenn wir nur vom Alkohol und von nichts anderem sprächen.
Indem wir uns aber bemühen, für die Abstinenz zu wirken,
ohne dieselbe fortwährend ausdrücklich zu betonen, haben wir
ein so allgemeines Ziel aufgestellt, dass die Freiheit des Einzelnen
nicht beschnitten wird. Doch wird dadurch ebensowenig der
eigenartige Charakter unserer Jugendlogen verwischt. Gilt es
doch nur in jeder Sitzung alle Anordnungen, alle Berichte, alle
Zwischenbemerkungen, alle Vorträge und Vorführungen darauf
zu prüfen, ob sie die Kinder selbständiger, rücksichtsvoller,
fröhlicher und erfinderischer machen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch ein Wort über
die allgemeine Bedeutung unseres Jugendwerkes sagen, über
eine Bedeutung, die es freilich noch erst erringen muss, die
es aber in Zukunft erringen wird, auch jenseits der Grenzen
unseres Ordens.
Die deutsche Schule kämpft schon seit Jahren einen
schweren Befreiungskampf. Sie möchte sich mit Hülfe des
Staates von der Herrschaft der Kirche befreien, wird aber,
indem sie sich von der Kirche zu emanzipieren sucht, die Beute
des Staates. Die Lehrer werden „Beamte“ und das Kasernen¬
wesen macht sich im Unterrichte geltend. — Leider! denn die
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Schairelmann, D. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 287
zarte und schwierige Arbeit der Erziehung und des Unterrichts
verträgt am wenigsten Drill, Kommando und Uniform. Die
moderne Staatsschule ist in Gefahr, zu Grunde zu gehen.
Es hilft nach meiner Ansicht nur eins: Es muss eine
Unterrichtsform geschaffen werden, die schulmeisterlicher Eng¬
herzigkeit und allem Bureaukratismus so wenig Vorschub wie
nur möglich leistet. Und eine solche Unterrichtsform geben
uns unsere Jugendlogen an die Hand.
Erwachsene und Kinder arbeiten in ihnen gemeinsam.
Das ist ein Vorzug, wie ihn kein anderes Unterrichts- oder
Schulsystem je aufzuweisen hatte. Eltern und Kinder sind in
demselben Raum vereinigt, leisten dieselbe Arbeit, das Kind
wird nicht mehr als Kind behandelt, es wird nicht mehr einem
hochweisen Erwachsenen, der seine geistige und sittliche Ueber-
legenheit offen und mit Ueberzeugung zur Schau trägt, von
oben herab behandelt, sondern in den Jugendlogen wird auch
das Kind ernst genommen, es wird als voll betrachtet, es fühlt
sich ein Mensch unter Menschen. Jung und Alt bilden bunte
Reihe.
Hier haben auch die Eltern Gelegenheit, wieder einmal
Unterricht kennen zu lernen, zu sehen und zu hören, wie man
mit Kindern sprechen muss, wie man sie zu belehren hat, auf
welche Weise man am zweckmässigsten auf sie ein wirkt. Ich
verspreche mir gerade davon grosse Vorteile für die häusliche
Erziehung.
Die Eltern lernen ferner Lehrarbeit recht würdigen. Die
meisten Menschen denken viel zu gering von der im Unterricht
geleisteten Arbeit. Worin die Ursachen dieser auffälligen Tat¬
sache zu suchen sind, mag jetzt unerörtert bleiben. Die nie¬
drige Bewertung der Arbeit des Lehrers aber ist der einzige
Grund für die mangelhafte soziale Stellung des Lehrerstandes.
Ich erwarte dadurch, dass die Eltern Einblick in die Schul¬
arbeit erhalten, auch einen besonderen Gewinn für die Beur¬
teilung und Bewertung derjenigen, denen die schwierige und
verantwortungsvolle Arbeit der Erziehung des heranwachsenden
Geschlechts obliegt.
In den Jugendlogen des Guttemplerordens ist Gelegenheit
gegeben, dass Erwachsene Lehrarbeit würdigen lernen. Wenn
die Oeffentlichkeit des Unterrichts allgemein üblich wäre, dann
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brauchte die Erinnerung an die eigene, weit zurückliegende,
gar zu subjektiv aufgefasste Schulzeit nicht mehr die einzige
Urteilsquelle zu sein.
Durch die gemeinsame Arbeit von Gross und Klein wird
ferner eine ganz neue vielversprechende Unterrichtsmethode
bedingt. Die frühere katechetische Lehrweise, die Jahrzehnte
lang für jeden waschechten Schulmeister die allein mögliche
Methode war und noch ist, verbietet sich vor unserem gemisch¬
ten Publikum von selbst. Eine zusammenhängend-darstellende
Lehrweise ist in den Jugendlogen einzig und allein an ihrem
Platze. Auch in methodischer Hinsicht könnten von den Jugend¬
logen aus Anregungen ausgehen, die auf dem Boden unseres
staatlichen Unterrichtswesens nicht keimen können.
Wir werden aber einen Sieg auf der ganzen Linie zu ver¬
zeichnen haben, wir werden die Gesamtheit der Lehrerschaft,
auch die nicht abstinente Majorität, für uns gewinnen, wenn es
gelingt, das Jugendwerk des Guttemplerordens zum Träger der
pädagogischen Entwicklung für die Zukunft zu machen.
Im Rahmen dieses Vortrages ist es mir leider nicht mög¬
lich, genauer den Weg zur Verwirklichung meiner Ziele Ihnen,
liebe Ordensgeschwister, darzulegen. Ich erlaube mir nur ganz
kurz auf eines hinzuweisen. Es scheint mir dringend nötig,
an jedem Orte (resp. in jedem Distrikte) eine Vereinigung.aller
derjenigen zu schaffen, die in der oben skizzierten Weise im
Jugendwerk tätig sein wollen. Es ist Ihnen vielleicht bekannt,
dass wir in Bremen zu diesem Zwecke eine Lehrloge gegründet
haben. Dieselbe hat folgende Aufgaben:
1. Geeignete Lehrkräfte für unsere Jugendlogen heranzu¬
bilden (Seminar!)
2. Direktiven für den Unterricht in den Jugendlogen zu
geben.
3. Die Themen und deren Behandlung zu erörtern.
4. Gemachte Erfahrungen zu diskutieren und gegenseitige
Anregungen zu empfangen.
5. Innerhalb und ausserhalb des Ordens das Interesse am
Jugendwerk zu fördern und für dessen Förderung und Kräf¬
tigung zu wirken.
Ueber die Tagesordnung unserer Lehrerlogensitzung und
manches andere habe ich seinerzeit im „Deutschen Guttempler“
Goi igle
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Scharrelmann, IJ. Bedeutung u. Zukunft d. Jugendlogen d. Guttemplerordens. 289
(No. 8 und 9 in diesem Jahre) berichtet. Um mich nicht zu
wiederholen, darf ich Interessenten wohl auf jenen Artikel auf¬
merksam machen. Es sind daselbst auch die Nebengesetze zu
der Verfassung der Jugendabteilung des I. O. G. T. unter
Deutschlands Grossloge II für den 12. Distrikt abgedruckt.
Meine lieben Ordensgeschwister! Im einzelnen mögen
Sie abweichender Ansicht, vielleicht in diesem oder jenem
Punkte gerade entgegengesetzter Meinung sein, das schadet
nichts, wir wollen hier nicht um Einzelheiten rechten. Auch
in der Reformarbeit, die ich hier vertrete, werden sich manche
Gedanken noch mehr klären müssen, werden andere über Bord
fallen und neue auftauchen. Diese Aussicht hat für mich viel
beglückendes, denn auch in der Gedankenwelt gilt unser Spruch:
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“
Aber auf eins kommt es immer hier an, nämlich zu be¬
tonen, dass die Erziehung zur Abstinenz vor allem indirekt an¬
gegriffen werden muss, indem wir zur Selbständigkeit, Herzens¬
fröhlichkeit, Toleranz und zur Produktion erziehen. Und
zweitens kommt es mir darauf an, in einem jeden von Ihnen
eine Vorstellung von dem gewaltigen Ernst der Erziehung zur
Abstinenz zu erwecken und Sie alle für diese Aufgabe zu be¬
geistern. Das Jugend werk hat Mitarbeiter nötig, die mit viel
Liebe, mit viel reiner Nächstenliebe und grossem Opfermut
unserer Aufgabe dienen wollen.
Unser Jugendwerk gleicht dem schlafenden Dornröschen.
Es harrt desjenigen, der es aufweckt und zu dem macht, wozu
es bestimmt ist: zur Königin in dem weiten, schönen und un¬
abhängigen Reiche des Guttemplerordens.
Aber nur derjenige wird es erwecken, der da stark ist
in Glaube, Liebe und Hoffnung, der da glaubt, d. h. un¬
erschütterlich überzeugt ist von der inneren Wahrheit unserer
Sache, der da die Liebe in sich lebendig werden lässt, die auch
im verkommensten Menschen noch den Bruder sieht und der
da die Hoffnung in sich trägt, dass die Menschheit trotz aller
Irrtümer und aller Bosheit doch allmählich der Vollendung ent¬
gegengeht.
„Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist
die grösste unter ihnen!“
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Der n. deutsche Abstinententag zn Altona
vom 15. bis 19. Juli 1904.
Von Dr. med. Meinert, Dresden.
Zu den Symptomen des seit der Jahrhundertwende besonders
raschen Fortschritts der jungen deutschen Enthaltsamkeitsbeweg¬
ung gehören auch die Deutschen Abstinententage. Dem ersten,
1903 in Berlin, folgte bereits 1904 der zweite in Altona. Und nächstes
Jahr soll in Danzig der dritte stattfinden. Die von den skandinavischen
Ländern veranstalteten »nordischen Abstinentenkongresse« treten nur alle
2—3 Jahre zusammen; dagegen sollen drei Abstinententage hinterein¬
ander in Norddeutschland stattfinden. Das ist nur recht und billig.
Denn vom Norden her kam uns nicht nur die Abstinenz, sondern in
den nördlichen Ländern des Reichs zieht sie auch heute noch ihre
dichtesten Kreise. Und das Zentrum dieser Kreise ist Hamburg-Altona
mit seinen 130 Guttemplerlogen. Natürlich spielten auf dem Abstinenten¬
tage die Guttempler, die zugleich ihr Grosslogenfest feierten, die Haupt¬
rolle. Ihnen war auch die ausgezeichnete Vorbereitung sämtlicher Ver¬
anstaltungen zu danken.
Gleich auf dem Altonaer Hauptbahnhof wurde das dem Ankömm¬
ling klar. Eine Schaar dort postierter, als Führer kenntlich gemachter
und wohlinstruierter Knaben — Mitglieder der Guttempler-Jugendlogen —
brannte vor Verlangen, die auswärtigen Gäste an ihr nächstes Ziel zu
bringen. Wir werden das »Jugendwerk« der Guttempler, zu welchem
diese Knaben gehörten, noch näher kennen lernen.
Für die offizielle Eröffnungsfeier am Abend des 16. Juli,
welcher Vorstands- und Abteilungssitzungen schon vorausgegangen waren,
hatte der unermüdliche Franziskus Hähnel — wie beim Bremer Inter¬
nationalen Kongress so auch hier — Plätze auf der Tribüne für die
Presse belegt. So konnte ich die ganze imposante Veranstaltung im
alten Zirkus Busch bequem verfolgen. Polizeimannschaften verhüteten
die Ueberfüllung des festlich ausgeschmückten Riesenbaues und wiesen
viele hundert Einlassbegehrende zurück. Immerhin fanden mindestens
4000 Platz. Das behaupte ich gegenüber niedrigeren Schätzungen.
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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona.
291
, Die für Ehrengäste vorbehaltenen wohl über ioo Plätze füllten
sich rasch. Der durch seine verdienstvolle Untersuchung »Hamburg und
der Alkohol« nichts bloss bei den Abstinenten zu hohem Ansehen ge¬
langte Landrichter Dr. Hermann Popert, war uns als Fest¬
redner bescheert und sprach über »Das nächste praktische Ziel
der Abstinenzbewegung.« Unter dem Jubel der Versammlung
gab er die Losung aus: »Ehrlos der Mann, der einen anderen durch
Spott zum Alkoholtrinken nötigt!« Als anderer Festredner nahm ein
Skandinavier das Wort, der sich gleichfalls vor kurzem durch eine
literarische Tat unschätzbare Verdienste um die Sache erworben hat,
der Gymnasialprofessor Dr. Johann Bergman - Stockholm, der Verfasser
einer grundlegenden »Geschichte der Antialkoholbestrebungen« (über¬
setzt von Dr. E. Kraut, im Verlage von Gebr. Lüdeking, Hamburg 1904.)
Die kampferprobten Führer der norddeutschen Guttemplerbe\vegung
Blume, Asmussen und Koopmann, schauten nicht nur im Bilde
auf ihre Getreuen herab, sondern wandelten auch in Person unter ihnen.
Die beiden erstgenannten erfreuten sogar durch kurze Ansprachen.
Ausserdem ergriffen das Wort: der Festleiter H. Leo-Altona, sowie
Altonas Oberbürgermeister Dr. Giese, dessen Verständnis, Wohlwollen
und Interesse für die Abstinenzbestrebungen angenehm überraschten,
und Vertreter einzelner Distrikte des Guttemplerordöns und anderer
Abstinenzvereine. Musikalische Darbietungen verschiedener Art ver¬
schönten die sich bis gegen Mitternacht ausdehnende würdige Feier.
Nun will ich, alphabetisch geordnet, über die Abteilungs¬
und Gruppensitzungen (soweit ich denselben beigewohnt oder
Sicheres über ihre Verhandlungen erfahren habe) berichten.
Der »Alkoholgegnerbund (Landesgruppe Deutsch¬
land)« tagte am 16. Juli. Er ist vor etwa 10 Jahren von Dr. Bode
(nachmals Geschäftsführer des deutschen Vereins gegen den Missbrauch
geistiger Getränke, jetzt in Weimar), dem Verlagsbuchhändler Tienken
u. A. gegründet worden. Bereits 1895 wurde er gelegentlich des Baseler
Kongresses gegen den Alkoholmissbrauch durch Fusion mit dem schweizer¬
ischen »Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses« als internationale
Organisation ausgestaltet. Von Anfang an haben namentlich Männer
von höherer Bildung im »A.-G.-B.« gearbeitet. Laut § 5 der Satzungen
verpflichtet sich jedes Mitglied durch die blosse Tatsache des Eintritts
auf Ehrenwort, das Äufgeben der Enthaltsamkeit sofort dem Vorstande
seines Ortsvereins mitzuteilen und dabei die Mitgliedskarte zurückzu¬
senden. Die Enthaltsamkeit der Mitglieder und ihre Propaganda hat
sich nicht nur gegen den Genuss alkoholischer Getränke, sondern (mit
Ausnahme ärztlicher Verordnung) auch gegen den Genuss von Aether,
Opium, Morphium, Chloral, Chloroform, indischen Hanf und Coca zu
richten. Hieran erkennt man den Einfluss von Prof. Forel. Organisato¬
risch ist der Bund noch nicht völlig ausgestaltet. Viele seiner Mitglieder
(Näheres soll durch eine Enquete festgestellt werden) gehören zugleich
einem anderen Abstinenzverein an (namentlich oft den Guttemplern),
wodurch manche Unklarheiten und Missverständnisse entstanden, deren
Die Alkoholfrage. 20
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Ausgleichung sich die Altonaer Ab geordneten Versammlung angelegen sein
liess. Die »Landesgruppe Deutschland« zählte am i. Juli 1903 : 1873
Mitglieder (hiervon 713 in Ortsvereinen), welche sich im Jahre 1904
durch zahlreiche Zu- und Abgänge wohl eher etwas vermindert haben.
Da sich der Aikoholgegnerbund nicht mit Trinkerrettung beschäftigt, so
fehlt ihm natürlich die propagandistische Kraft, wie dieselbe namentlich
den Guttemplern in so hohem Masse eigen ist. Doch wurden in Altona
Beschlüsse gefasst, wie z. B. bezüglich Verbreitung eigener Flugblätter,
welche wohl dazu angetan sind, den Alkoholgegnerbund in Deutschland
etwas mehr zur Geltung zu bringen. Ein ausführlicher Bericht über die
Tagung findet sich in Nr. 15 u. 16 des vom Vorsitzenden Dr. med.
Karl Strecker - Berlin vorzüglich geleiteten Organs der Landesgruppe
Deutschlands »Die Abstinenz«.
Das Hauptverdienst des Alkoholgegnerbundes besteht in der aus¬
gezeichneten Auswahl zum Teil geradezu klassischer Antialkoholschriften,
die wir dem Verlag seiner Schriftstelle (Basel) verdanken.
Die Konstituierung eines »Allgemeinen Deutschen Zen¬
tralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus« ge¬
hört zu den hervorragendsten Ergebnissen des Altonaer Abstinententages.
Die Satzung des Verbands wurde durch die bevollmächtigten Vertreter
von 20 deutschen Abstinenzorganisationen (mit zusammen rund 55 000
Mitgliedern) und von 11 Redaktionen (mit zusammen 110 000 Abonnenten)
anerkannt. Zum Vorsitzenden wurde Franziskus Hähnel (Bremen) und
zum Geschäftsführer Dr. phil. Kraut (Hamburg) gewählt. Die Haupt¬
aufgaben des Verbandes bestehen in gemeinsamem Vorgehen auf dem
gemeinsamen Arbeitsgebiet, insonderheit in der Abwehr öffentlicher An¬
griffe auf das Abstinenzprinzip, in Errichtung einer den Behörden und
dem Publikum sich unentgeltlich zur Verfügung stellenden Auskunfts¬
stelle (Abstinenz - Sekretariat), in der Einrichtung von Vortragskursen im
gesamten Reichsgebiet und in der alljährlichen Einberufung eines deutschen
Abstinentehtages.
Der »Deutsche Verein enthaltsamer Eisenbahner«
(Vorsitzender Eisenbahndirektor a. D. de Terra) beschäftigte sich im
wesentlichen mit einem Anträge von grosser prinzipieller Tragweite, mit
dem, wohl nur aus finanziellen Erwägungen hervorgegangenen Anträge,
auch auf dem Mässigkeitsstandpunkte stehende Berufsgenossen als ausser¬
ordentliche Mitglieder aufzunehmen. Der Antrag wurde namentlich aus
folgenden Gründen abgelehnt: 1) weil der Begriff der »Mässigkeit«
anerkanntermaßen überaus dehnbar und nicht zu umgrenzen ist; 2. weil
durch »mässige« Mitglieder, die es mit der Mässigkeit nicht allzu genau
nehmen, das Ansehen des Vereins geschädigt werden könnte; 3. weil
der Verein seiner bisherigen Stellung in der Enthaltsamkeitsbewegung
verlustig gehen würde.
Der »Deutsche Bund abstinenter Frauen« (Vorsitzende
Fräulein Ottilie Hoffmann - Bremen), der erst vor 2 Jahren gegründet
wurde, konnte seine Lebensfähigkeit bereits mit 8 Ortsgruppen belegen,
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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona. 21)3
von denen 6 (Bremen, Berlin, Hamburg, Dresden, Bremerhaven, Kiel)
ihre Vertreterinnen — zugleich Berichterstatterinnen — geschickt hatten.
Der gut besuchten und lebhaft gestimmten Versammlung, deren Seele
die Vorsitzende der Ortsgruppe Hamburg, Frau Prof. Wen dt, war,
wohnten auch viele Männer bei. Fräulein Ottilie Hoffmann, die
Schöpferin des Bundes, gab über die Arbeit des letzteren einen Ueber-
blick und behandelte ausserdem das Thema: »Wie betätigt sich der
Deutsche Bund abstinenter Frauen jetzt am wirksamsten?« (Antwort
natürlich: durch Gewinnung der Mütter und Schulen für die Erziehung
der Jugend in den Grundsätzen der Abstinenz!) — Einen Schritt weiter
ging die Vorsitzende der Berliner Ortsgruppe, Frau Dr. Wegscheider-
Ziegler, die ihren tiefempfundenen Vortrag über »Alkohol und soziale
Reformarbeit« in die Mahnung ausklingen Hess, dass es höchste Zeit
für die Frauen sei, selbst abstinent zu werden. An der lebhaften Be=
sprechung beteiligten sich auch Aerzte und Geistliche.
Die geschlossene Geschäftssitzung von Deutschlands Guttempler-
Grossloge II, Sonntag, den 17. Juli, im Zirkus Busch, soll 14 Stunden
gedauert haben. Mehr als 1000 Mitgliedern wurde der Grad der Gross¬
loge verliehen. Der »Deutsche Guttempler« No. 16 und 17 bringt
viel Interessantes aus dieser langen Tagung von Deutschlands grösster
Abstinenzorganisation, deren Mitgliederzahl von 1890 bis 1904 von 386
(in 13 Logen) auf 22 753 (in 642 Logen) gestiegen ist. Von England
waren der Vorsitzende der Welt-Grossloge Mr. Malins und die um die
Verpflanzung des Guttemplerwerks nach Deutschland und der Schweiz
hochverdiente Miss Gray herübergekommen. — Aus dem Jahresberichte
des Grosstemplers (Blume) von Deutschlands Grossloge II war zu ent¬
nehmen, dass die seit vielen Jahren erörterte »Braunbierfrage«
für die Guttempler Deutschlands wenigstens aus der Welt geschafft ist.
(Ueber die »Bierfrage« der dänischen Alkoholgegner vgl. S. 298 unten.) Die
Grossloge hat fast einmütig beschlossen, dass den Ordensmitgliedem der
Genuss von Braunbier und schwachalkoholischen Getränken, ja von bierähn¬
lichen Getränken überhaupt, verboten sein soll. Dieser Beschluss hat aller¬
dings den Verlust von 4 Logen mit 192 Mitgliedern im 4. Distrikte West-
Holstein zur Folge gehabt. Unter den Braunbiertrinkem hatten sich einige be¬
reits zu einem Tagesquantum von 7 Literflaschen entwickelt. — Ein anderer
Krebsschaden des Ordens bestand und besteht in den »Geschäfts¬
guttemplern«, das sind Ordensbrüder, welche versuchen, ihre Logen
beziehungsweise den Orden für ihre geschäftlichen Zwecke auszunutzen.
Es wird den Logen geraten, siclv dieser gefährlichsten Elemente bald¬
möglichst zu entledigen. — Recht einleuchtend war auch die Mahnung
zur Vorsicht mit der Schaffung alkoholfreier Wirtschaften,
durch welche, soweit sich dieselben in den Händen von Guttemplem
befinden, die Mitglieder der Logen gewöhnlich zu unnötigen Ausgaben
veranlasst werden. Die Regel ist in solchen Fällen der Niedergang der
Loge. Bewährt hat sich dagegen, wenn die Loge selbst oder ein aus
ihr hervorgegangener Verein sich ein Lokal mietet und einen Ordens¬
genossen als Verwalter einsetzt. Dann ist der Orden stets der Herr
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des Lokals und bestimmend für die Art der auszuschenkenden Getränke,
bezüglich deren leicht ein bedenklicher Grad von Luxus einreisst. Eine
alkoholfreie Wirtschaft soll aber überhaupt erst dann errichtet werden,
wenn an dem betreffenden Orte auch unter den Nichtordensangehörigen
das tatsächliche Bedürfnis nach einem solchen Lokal vorhanden ist.
Logenhäuser sollten nur gebaut werden, wenn ihre Rentabilität ausser
Zweifel steht, und nie ohne Genehmigung des Distriktstemplers. — Das
Distriktslogen-System ist eine erst seit wenigen Jahren bestehende
Guttemplereinrichtung, welche sich aber bereits durch eine gesteigerte
Rührigkeit der an Distriktslogen angeschlossenen Logen bezahlt gemacht
hat. Nur 2 Logen glauben von diesem Anschluss noch absehen zu
müssen. Auf Antrag der Distriktslogen kann die Schliessung von in
Unfrieden und Unordnung geratenen Logen verfügt werden. Geschlossene
Logen werden aber gewöhnlich nach kurzer Zeit, von den Störenfrieden
gesäubert, wieder eröffnet. So entwickeln sich die Guttempler auf dem
Wege der Organisation und Disziplin, auf welchem sie gross geworden
sind, immer weiter. Ihr von Asmussen ausgezeichnet geleitetes Organ
»Deutscher Guttempler« hat eine Auflage von 15000. — Die Gross¬
loge hat sich mit einem von Rektor Dannmeier verfassten Aufruf an
sämtliche Direktoren höherer Lehranstalten in Deutschland ge¬
wandt und dadurch vortreffliche Verbindungen mit jenen Kreisen erhalten.
»Im Herbst d. J. gedenkt die Grossloge in möglichst vielen dieser Lehr¬
anstalten Vorträge halten zu lassen, um so die Jugend unseres Volkes
für die Sache der Abstinenz und die Ziele unseres Ordens zu inter¬
essieren.« — In Anbetracht der Erfahrung, dass von den Mitgliedern,
welche nach Verletzung des Enthaltsamkeitsgelübdes
zur Wiederaufnahme zugelassen werden, verhältnismässig nur wenige treu
bleiben, werden die Bedingungen der Wiederaufnahme verschärft. Sie
darf in Zukunft nur durch diejenige Loge erfolgen, welche den Aus¬
schluss verfügt oder von dieser das Aufnahmerecht übertragen erhalten
hat. — Zu den von einigen Mitgliedern unter dem Titel des Ordens
gegründeten Vereinigungen für Stellenvermittelung und Arb ei ts-
losen-Unterstützung wurde seitens der Distrikte und der Gross¬
loge die Genehmigung nicht erteilt. »Wer unsern Orden schädigen,
sein Ansehen herabwürdigen und uns zweifelhafte Elemente aufdringen
will, der errichtet Unterstützungskassen.« »Die Unterstützung, die wir
jedem Guttempler geben, das sind unsere Ideen; wer ihnen nachlebt,
der wird auch im wirtschaftlichen Leben vorwärts kommen.« In unver¬
schuldete Not geratenen Brüdern hat die Hülfe aus dem Kreise der
Mitglieder noch nie gefehlt. So flössen auch für die abgebrannten
Ordensmitglieder in Aalesund reichliche Mittel in die vom Grosstempler
eröffnete Sammelstelle. — In dem Vorgehen gegen die durch Ordens¬
mitglieder errichteten Arbeitsvermittelungsstellen und gegen »alkoholfreie
Wirtschaften«, welche Braunbier oder ähnliche leicht alkoholische Getränke
führten, sind die Distrikte von den Behörden bereitwilligst unterstützt
worden. — Auch die Beziehungen zur Presse gestalten sich immer
günstiger. Notizen und selbst grössere Artikel werden vielerorts anstandslos
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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona.
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aufgenommen. — Im westlichen Teile Westfalens und in der Rheinprovinz
legt die katholische Geistlichkeit dem Orden immer noch
manche Hindernisse in den Weg. »Wir selbst aber haben unsern
katholischen Ordensgeschwistern gegenüber ein sehr ruhiges Gewissen.
Wissen wir doch, dass in unserer Ordensarbeit nichts liegt, was je einem
Katholiken das Gewissen beschwert hätte. Noch nie hat einen Katho¬
liken das eigene Gewissen zum Austritt gezwungen; wo das geschehen
ist, hat die Einwirkung der Geistlichkeit erst die Gewissensbedenken
erweckt.« Soviel ich weiss, datiert die Unduldsamkeit des katholischen
Klerus gegen den Guttemplerorden von einer Kundgebung des ad hoc
mangelhaft unterrichtet gewesenen verstorbenen Papstes. Einige absti¬
nente Priester gerade des Rheinlands bemühen sich, die Stimmung in .
Rom den Guttemplern günstiger zu gestalten. Die evangelische
Kirche hat den Guttemplern noch keine ernstlicheren Schwierigkeiten
bereitet; ja es haben sich ihnen evangelische Geistliche sogar als Mit¬
glieder angeschlossen. Die letzte Kreissynode zu Delmenhorst (Olden¬
burg) kennzeichnete ihre Stellung zum Orden durch folgende einstimmig
angenommene Thesen: i. Die Synode erkennt in dem Guttemplerorden
mit Freude eine wirksame Hülfe bei der Heilung der Trinker. 2. Sie
wird den Kirchenräten empfehlen, mit Wort und Tat den Orden zu
fördern.
Ein Nichtguttempler vermag natürlich niemals ganz in den Geist
des Gutemplertums, dieser Welt für sich, einzudringen. Mancher Aussen-
stehende wird sogar durch die Art und Weise, wie der Orden zuweilen
an die Öffentlichkeit tritt, zu einem ungünstigen Urteil über denselben
verleitet werden. Wer aber diese »Brüder« und »Schwestern« in ihrer Arbeit
und Geselligkeit (an der es auch in Altona nicht fehlte) sieht, wer ihre
ungekünstelte Lust am Erreichten und am Werdenden beobachtet, wer
ihre selbstlose Hingabe im Dienst der Menschen- und Bruderliebe und
ihren felsenfesten Glauben an den endlichen Sieg ihrer Sache ohne
Voreingenommenheit auf sich wirken lässt, der muss die Ueberzeugung
gewinnen, dass es sich hier um eine urgesunde Reaktion der Volksseele
gegen Einflüsse, durch die sie sich vergiftet fühlt, handelt. Er wird
aber auch bald erkennen, dass der Guttemplerorden mehr will, als die
Trinksitten abschaffen. Seine Arbeit gilt der Erneuerung des ganzen
innem Menschen. Und aus diesem Drange erklärt sich auch das bei
den Guttemplern immer deutlicher hervortretende Streben, ihre werbende
Kraft womöglich schon an die noch Unverdorbenen, an die Kinder,
anzusetzen.
Ich wohnte am 18. Juli in Altona der Sitzung einer »Jugend-
loge« bei. Diese Veranstaltungen sind jedem zugänglich, der seinen
Wunsch, als Gast teilnehmen zu dürfen, zu erkennen gibt. Mir waren
sie von Dresden her nicht ganz fremd. Ich muss sagen, dass der feier¬
liche Ernst und die treue Hingabe, womit die jugendlichen Mitglieder
beflissen waren, vor den mit ihnen arbeitenden Erwachsenen sich der
ihnen an vertrauten kleinen Aemter würdig zu erweisen, mich schon immer
gerührt hatte. Ein tieferes Verständnis für die Psychologie und für die
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Ziele des guttemplerischen Jugendwerkes gewann ich jedoch erst durch
einen Vortrag, welchen ich in der Sitzung der Altonaer Jugendloge zu
hören bekam. Es war der auf S. 279 in seinen wesentlichen Sätzen
abgedruckte Vortrag des Lehrers Scharrel mann aus Bremen, Leiter
der dortigen »Lehrloge«.
Die Gründung eines deutschen Vereins abstinenter
Juristen nahm an demselben Tage Landrichter Dr. Popert, der ge¬
feierte Redner der Eröffnungsversammlung, in die Hand. Zum Vorsitzenden
wurde Geh. Justizrat Buddee-Greifswald gewählt.
Gleichfalls am 17. Juli hielt der »D e u t s c h e Verein absti¬
nenter Kaufleute« unter Leitung seines rührigen Vorsitzenden
• Max Warm in g seine 3. Jahresversammlung ab, auf welcher nur ge¬
schäftliche und organisatorische Angelegenheiten zur Verhandlung kamen.
Den aus allen Gauen des Reiches zusammenfliessenden Berichten konnte
entnommen werden, dass die erst im 20. Jahrhundert entstandene kauf¬
männische Abstinenzbewegung überall grosse Fortschritte gemacht hat.
Das vom Vorsitzenden herausgegebene Vereinsorgan »Abstinenz-Rund¬
schau« (Verlag der Hanseatischen Druck- und Veriagsanstalt Hamburg)
gehört zu den bestredigierten alkoholgegnerischen Journalen. Von Wichtig¬
keit war die aufgeworfene Frage, ob es richtig sei, durch Alkohol ge¬
fährdete Personen aufzunehmen. Sie wurde einstimmig verneint mit der
Begründung, dass der Verein als freie Berufsvereinigung überzeugter
Abstinenten sich nicht mit Trinkerrettung befassen könne. (Mit letzterer
befassen sich bis jetzt vorzugsweise die Guttempler, das blaue Kreuz
und die abstinenten Arbeitervereine.) Ein ausführlicher Bericht über
die Tagung ist in No. 9 der »Abstinenz-Rundschau« 1904 enthalten.
Der »Deutsche Verein abstinenter Lehrer« (8. Haupt¬
versammlung) tagte am 16. Juli unter Leitung seines Vorsitzenden
J. Petersen in Kiel, zugleich Redakteur der auf ihrem speziellen Ge¬
biet in den Kreisen der Alkoholgegner ausserordentlich geschätzten
Vereinszeitschrift »Die Enthaltsamkeit« (Auflage 2000). Die Zahl der
Vereinsmitglieder hat 400 überschritten, von denen 255 auf Preussen,
102 auf Schleswig - Holstein, 33 auf Hannover, 27 auf Sachsen, je 24
auf Schlesien und Bremen, 23 auf Brandenburg, 21 auf Bayern usw.
kommen. Der Verein ist auf seinem scharf abgegrenzten Gebiet ausser¬
ordentlich rührig und wehrt sich wacker gegen seine Widersacher, (unter
denen auch ein Vorstandsmitglied des deutschen Vereins g. d. M. g. G.
im Jahresbericht als besonders streitbar erwähnt wird). Er habe die
Lehrer vor dem Anschluss an die Enthaltsamkeitsbewegung gewarnt.
Auf ein Preisausschreiben zur Erlangung eines guten Lesestückes
über den Alkohol wurden 241 Arbeiten eingesandt. Die Veröffent¬
lichung des Ergebnisses der sehr zeitraubenden Prüfung steht noch bevor.*)
Die Bemühungen des Vereins um Berichtigung und Ergänzung der Schul¬
bücher auf dem Gebiete der Alkoholfrage werden mit Erfolg fortge-
*) Sie ist inzwischen erfolgt. Keiner der eingereichten 2*26 Arbeiten konnte der
Preis zuerkannt werden („Die Enthaltsamkeit“ 1904 No. 9, S. 48).
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Meinert, Der II. deutsche Abstinententag zu Altona.
297
setzt, ebenso die Vorträge in Lehrervereinen und sonstigen geeigneten
Versammlungen. Allein die 4 Vorstandsmitglieder (Petersen - Kiel, Koop-
mann-Wenningstädt, Fr. Hähnel-Bremen und H. Bielenberg-Kiel) haben
in den letzten 9 Monaten zusammen etwa 100 Vorträge gehalten. Be¬
absichtigt ist ferner eine Zusammenstellung des in der Antialkohollitera¬
tur an brauchbaren Lesestücken Verstreuten. Die Aussprache über alle
diese Punkte war eine sehr lebhafte.
Die »Leiter von Abstinenzsanatorien« traten auf dem
Altonaer Abstinententage ebenfalls zusammen. Ihnen wurde ein ge¬
diegener Vortrag geboten. Dr. Georg Liebe, der bekannte Leiter des
Sanatoriums für Lungenkranke »Waldhof« in Elgershausen (Kr. Wetzlar)
und hochverdiente Bekämpfer der Darreichung von Alkohol an Lungen¬
kranke zumal in Heilstätten, sprach über: »Herz und Alkohol«. Er
stellte den Satz auf, dass ausser den Trinkerheilanstalten auch noch alle
Sanatorien für irgendwelche chronische Kranke durch und durch absti¬
nent geleitet und gehalten werden müssten. Sehr wertvoll war auch der
Hinweis auf einen neuerlichen Ausspruch des gegenwärtigen Chefarztes
der früher Brehmeischen Anstalt in Görbersdorf (von welcher die thera¬
peutische Alkoholisierung der Lungenkranken einst ihren Ausgang nahm)
Dr. v. Hahn: »Jetzt hat man die schädlichen Wirkungen des Alkohols
selbst für den gesunden Menschen erkannt. Umsomehr muss man den
geschwächten tuberkulösen Organismus davor schützen (Zeitschrift für
Krankenpflege 6. 1904).« Dr. Liebes Vortrag ist abgedruckt in der Inter¬
nationalen Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus Heft 8. 1904.
S. 230.
Der Schlussversammlung am Abend des 19. Juli war als
einziger Verhandlungsgegenstand das zugkräftige Thema »Wie be¬
wahren wir die Jugend vor dem Alkohol?« Vorbehalten.
Die Referate lagen in den Händen bewährtester Kräfte: Lehrer J. Petersen-
Kiel (vom Standpunkt des Pädagogen), Dr. med. Strecker - Berlin (vom
Standpunkt des Schularztes), Frau Dr. phil. Wegscheider-Ziegler - Berlin
(vom Standpunkt der Mutter). Dieser letztere treffliche Vortrag wird
seiner neuen Gesichtspunkte wegen im nächsten Heft unserer Viertel¬
jahrsschrift Aufnahme finden. Die Aussprache über die drei Vorträge
war eine äusserst angeregte und spiegelte nochmals den zielbewussten
und einheitlichen Willen wieder, welcher durch die deutsche Enthalt¬
samkeitsbewegung geht.
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298
Abhandlungen.
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Der VL Nordische Enthaltsamkeitskongress
in Kopenhagen
vom Juli 1904.
Von Karl Reinhard.
Wer hätte wohl bei uns in Deutschland vor etwa fünf oder sechs
Jahren nach einem skandinavischen Abstinenzkongresse gefragt? Erst
seit drei Jahren, seit dem grossen internationalen Antialkoholkongresse
zu Wien und vollends seit dem vorjährigen Bremer Kongresse pflegt
man in deutschen Alkoholgegnerkreisen für die Arbeit und die Erfolge
unserer ausländischen Mitkämpfer ein regeres Interesse an den Tag zu
legen. Ein erfreulicher Beweis unserer Entwickelung! So begaben sich
denn auch verschiedene unserer Landsleute im Juli d. J. nach Kopen¬
hagen, um an dem dort stattfindenden 6. nordischen »Afholdskongres«
teilzunehmen.*)
Wir deutschen Alkoholgegner nennen die Skandinavier unsere
Lehrmeister. Mit gutem Recht. Sind diese uns doch an organisatorischer
Entwickelung weit voraus. Wie viel können wir von ihnen lernen, die
seit einem Vierteljahrhundert den Kampf gegen den Alkoholismus mit
modernen Waffen führen, ja zum Teil schon früher diesen Kampf be¬
gonnen haben! Das gilt freilich nicht in gleichem Masse von den Dänen,
wie von den Norwegern, Schweden und Finnländern. Aber gerade in
jüngster Zeit hat es sich auch in Dänemark mächtig geregt. Die Zahl
der Abstinenten, die dort vor ca. 4 Jahren erst etwa 50 000 betrug, ist
jetzt auf nahezu 130000 angewachsen. Abstinenten? Ja, das ist so
eine Sache. Solange es eine alkoholgegnerische Bewegung in Dänemark
gibt, kann man dort auch von einer sogenannten »Bierfrage« reden. Bei
dem enormen Branntweinverbrauch hielt man das Bier anfänglich für
*) Diese nordischen Abstinenzkongresse werden von Norwegern, Schweden,
Dänen und Finnländern alle 2—3 Jahre veranstaltet. Der letzte (5.) Kongress dieser
Art fand im Juli 1902 zu Stockholm statt.
Gck igle
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Reinhaid, Der VI. Nordische Enthaltsamkeitskongress in Kopenhagen. 299
verhältnismässig ungefährlich. Man hatte ja auch unglaublich viel leichte
Biersorten, deren Genuss den Mitgliedern der meisten dänischen Alkohol¬
gegnervereine noch heute gestattet wird. Obergärig oder untergärig, das
ist einerlei. Wenn das Bier nur nicht mehr als 2 % Alkohol enthält, so
ist es »steuerfrei« und gilt als »harmlos«. Die Produktion stärkeren
(2 — 6 prozentigen) Bieres wird von der Regierung ziemlich hoch besteuert.
So sind Alkoholgegner und Bierbrauer gute Freunde geworden, ein Ver¬
hältnis, das bei Gelegenheit des Kongresses in Kopenhagen recht drastisch
zutage trat. Die Reklame der Brauer war eine ganz ungeheure, und die
grosse Masse fand darin nichts Unnatürliches. Aber unter den Führern
der Bewegung ist man sich im allgemeinen doch klar darüber geworden,
dass der steigende Verbrauch des »leichten« Bieres der Bewegung all¬
mählich gefährlich wird und dass etwas Energisches getan werden muss.
Wenn auch noch nicht alle leitenden Persönlichkeiten dieser Ansicht
sind, so scheint diese doch schon von vielen vertreten zu werden. Das
zeigten deutlich die Kongressverhandlungen, namentlich die des dritten
Tages; doch ich will von vorne beginnen.
Der Kongress wurde am Mittwoch, den 6. Juli eröffnet.
Bei dem Begrüssungsfest am Abend waren an 1000 Personen erschienen,
darunter die dänischen Minister, der Bischof von Seeland, der Stadt¬
kommandant, die Bürgermeister, viele Reichstagsmitglieder und manche
andere offizielle Vertreter der Regierung und der einzelnen Behörden.
Bei den am 7. Juli begonnenen V erhandlungen standen 6 Vorträge
auf dem Programm, unter denen der Vortrag des Kopenhagener Prof.
Westergaard ganz besonders hervorragte. Er behandelte das wichtige
Thema: »Was lehrt uns die Statistik in Betreff des Ein¬
flusses der geistigen Getränke auf die Gesundheit?«
Da dieser interessante Vortrag in Heft III dieser Zeitschrift (siehe
S. 227—238) vollständig abgedruckt ist, braucheich hier nichts darüber
zu berichten.
Ueber das Thema: »Der Einfluss der Natur- und Lebens¬
verhältnisse auf Alkoholgenuss und Enthaltsamkeits¬
bewegung in Norwegen« sprach der norwegische Rechtsanwalt
C. M. Jacobsen. An der Hand eines reichen Materials wies der Redner
nach, inwieweit die Trunksucht und die Bekämpfung des Alkoholismus
in Norwegen von den örtlichen und sozialen Verhältnissen der einzelnen
Landesteile abhängig seien. Er zeigte u. a., dass innerhalb der Arbeiter¬
klasse gleichmässige Lohnverhältnisse die Bewegung ausserordentlich
förderten, während ein starkes Schwanken zwischen hohen und niedrigen
Löhnen jede soziale Bestrebung, so auch den Kampf gegen den Alkohol
unendlich erschwere.
Den dritten und zugleich letzten Vortrag der Vormittagssitzung hielt
Direktor Ernst Beckman aus Schweden. »Der Alkoholgenuss
vom sozialen und ökonomischen Standpunkte« lautete sein
Thema. Von dem Satze ausgehend, dass die Armut im allgemeinen ein
guter Nährboden für den Alkoholismus sei und andererseits der Alkohol¬
genuss in hohem Grade Armut hervorrufe, beschäftigte der Redner sich
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300
Abhandlungen.
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zunächst mit den Arbeiterverhältnissen. In Stockholm — so führte er
u. a. aus — stiegen die Alkoholausgaben der m ä s s i g trinkenden ver¬
heirateten Arbeiter bis zu 88 % der Einnahme. Die ioo Millionen Kronen,
welche jährlich in Schweden für geistige Getränke verausgabt würden,
flössen zum grössten Teile aus den Taschen der Arbeiter. Die durch
den Alkoholgenuss bedingte kürzere Lebensdauer des arbeitenden Menschen
bedeute eine Verminderung seines ökonomischen Wertes. Dazu komme
der beträchtliche Verlust, den das Nationalvermögen durch ver¬
säumte und verschlechterte Arbeit des Einzelnen erleide. Ein weiterer
nationalökonomischer Verlust bestehe darin, dass die Arbeiter die für
Trinkzwecke so hohe Aufwendungen machten, nicht ausreichende Mittel
für Nahrung, Kleidung, Wohnung und andere notwendige Bedürfnisse
besässen, dass also nützliche Gewerbe und Industrien durch den Alkohol¬
verbrauch, der kein Nationalvermögen schaffe, benachteiligt würden.
Die Nachmittagssitzung, welche um 4 Uhr anfing, gestaltete sich
bedeutend lebhafter. Propst Th. Sörensen aus Skanderborg — auch
den deutschen Alkoholgegnern seit langem wohlbekannt — sprach
»über die Stellung der besser situierten Stände zur
Enthaltsamkeitsbewegung«. Er hob hervor, dass der Kampf
gegen den Alkoholismus in Dänemark in den unteren Schichten der
Bevölkerung begonnen habe und auch heute noch hauptsächlich von
ihnen geführt werde. Sodann führte er den Beweis, dass auch die
Gebildeten alle Ursache hätten, sich der Bewegung anzuschliessen, zumal
der Alkoholgenuss der Bemittelten seit Alters her nicht gering sei. Von
den vielen Beispielen, die Sörensen aus dem täglichen Leben und aus
der Geschichte anführte, interessierte besonders eins. Er erinnerte
nämlich an das berühmte Reisetagebuch Kristians IV., in dem gewissen¬
haft alle Trinkgelage, die der König mitgemacht, verzeichnet sind. Eine
eigenartige Bedeutung haben die Kreuze, welche das Verzeichnis auf¬
weist. Ein Kreuz bedeutet: angeheitert. Zwei Kreuze: betrunken; drei
Kreuze total betrunken. Manche Stellen des Buches, meinte Sörensen,
machten den Eindruck eines Kirchhofs: Lauter Grabkreuze. Drei Kreuze
sind garnichts seltenes: einmal findet man sogar vier, dazu die Bemerkung:
»Der Herr bewahre uns in Gnaden.« Das war nach einem Gelage, das
der König bei einem norwegischen Bischöfe mitgemacht hatte.
Der nächste Redner war der Krankenhausarzt M. H i n d h e d e
aus Skanderborg. Hindhede ist ein ausserordentlich gewandter und
humorvoller Redner, der das Thema »Die Stellung der Aerzte
zur A 1 k o h o 1 frage« in sehr interessanter Weise behandelte. Seine
Ausführungen über die Natur des Alkohols und die Gefährlichkeit des¬
selben als Genussmittel fanden ungeteilten Beifall. Als der Redner aber
dann zu seinem eigentlichen Thema gelangte, die Anwendung des
Alkohols als Medizin durchaus verdammte und schwere Vorwürfe gegen
die Aerzte erhob, die meist aus selbstsüchtiger Bequemlichkeit wider
besseres Wissen Alkohol verordneten und damit ihre Patienten nicht
selten zu Alkoholisten machten, erregte er einen Sturm der Entrüstung.
Seine Kollegen, die ihn in der Diskussion zu widerlegen suchten,
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Reinhard, Der VI. Nordische Enthaltsamkeitskongress in Kopenhagen. 301
(namentlich ein Dr. Carstensen) konnten jedoch die angeführten Tat¬
sachen, dass die Verwertung des Alkohols als Medizin — wie sie heute
üblich ist — unwissenschaftlich und von Aerzten verschuldet sei, nicht
aus der Welt schaffen.
In geistvoller und formvollendeter Weise sprach Lic. theol.'
Henry Ussing, Pastor an der Jesuskirche in Valby, über das
Thema: »Das Christentum und die Enthaltsamkeitssache«.
Er trat besonders für die Idee ein, dass die kirchlich-religiös gesinnten
Abstinenten von den übrigen getrennt marschieren sollten, damit keinerlei
Meinungsverschiedenheit die grosse Sache der Enthaltsamkeit störe.
»Lasset uns nicht mit Worten streiten, sondern in Taten wetteifern!«
Am Abend dieses ereignisreichen Tages bot ein von nordischen Gesang¬
vereinen veranstaltetes Konzert den Kongressteilnehmern Erholung und
Unterhaltung.
Am dritten Kongresstage sprach zuerst der bekannte Finnländer,
Dr. Helenius über »Alkohol und Gesetzgebung«. Die
leitenden Gedanken waren etwa folgende: Da der Alkohol erwiesener-
massen ein narkotisches Gift ist, muss die Gesetzgebung eingreifen und
den Gebrauch des Alkohols zu Genusszwecken wie den jedes anderen
Giftes bekämpfen. Das Gotenburger System und das Staatsmonopol
können für die Uebergangszeit empfohlen werden. Das Endziel aber
müsse — ärztliche Verordnung ausgenommen — die unbedingte Pro¬
hibition sein. Ehe jedoch die Gesetzgebung derart radikal in Tätigkeit
treten könne, sei eine lange und umfassende Aufklärungsarbeit zu leisten.
Nielsen-Grön vertrat in seinem Vortrage über das Thema:
»Was fördert unsere Sache am besten? Freie Volksbewegung, die Gesetz¬
gebung oder beides?« denselben Standpunkt. Auch er forderte als
erstes eine freie Volksbewegung gegen den Alkohol. Alsdann müsse die
Gesetzgebung das Ihre tun. Redner wandte sich zum Schlüsse in
scharfen Worten gegen den Genuss des »steuerfreien« Bieres. Die
Reklame, welche die Brauereien bei Gelegenheit des Kongresses ent¬
faltet hätten, gereiche der Bewegung zur Schande.
Jörgen-Lund interpretierte sein kurzgefasstes Thema »Macht«
dahin, dass es nicht genüge, dass die Abstinenten das Recht auf ihrer
Seite hätten; sie müssten auch danach streben, Macht und Einfluss
zu gewinnen und die Gesellschaft nach ihren Wünschen umzuformen.
Er gab u. a. den Rat, es sollten aus der Bewegung heraus Volks¬
universitäten geschaffen werden.
Die Ausführungen des Rechtsanwalts N. Nouboes über »Kom¬
munaler Selbstbestimmungsdienst« bezogen sich namentlich
auf die jüngsten sozialpolitischen Ereignisse in Dänemark. Er polemisierte
gegen einzelne politische Kreise, die das Recht der Kommunen, die Zahl
der Wirtshäuser innerhalb ihres Gebietes selbst zu bestimmen, einge¬
schränkt wissen wollen.
Lebhafte Diskussionen über die gehaltenen Vorträge beendeten
die Arbeit des Vormittags. Am Nachmittag folgten viele Mitglieder der
Einladung des Skodsborger Anstaltsarztes Dr. O 11 o s e n , um das
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302
Abhandlungen.
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geradezu mustergiltig eingerichtete und geleitete Sanatorium in Skodsborg
zu besichtigen.
In der Vormittagssitzung des letzten Verhandlungstages (Sonnabend)
beschloss man, den nächsten Nordischen Enthaltsamkeitskongress im
Jahre 1907 in Kristiania abzuhalten. Sodann erhielt Pastor E 1 1 z h o 1 tz,
der Vater der dänischen Enthaltsamkeitsbewegung, das Wort. Eltzholtz, #
der seit 38 Jahren in Nordamerika ansässig ist, und vor nunmehr
25 Jahren bei Gelegenheit eines mehrmonatlichen Aufenthaltes in seiner
dänischen Heimat hier die ersten Enthaltsamkeitsvereine gründete, war
vom Festkomitee eingeladen worden, dem diesjährigen Kongresse, dem
Jubiläum der dänischen Bewegung, durch seine Anwesenheit die rechte
Weihe zu geben. Abstinenten können bekanntlich vieles möglich
machen. So war denn Pastor Eltzholtz rechtzeitig auf dem Plane er¬
schienen und — insbesondere von seinen Landsleuten — in herzlichster
Weise begrüsst und gefeiert worden. Nun drängte es ihn, seinem
Dankesgefühl Ausdruck zu verleihen. In bewegten Worten erinnerte er
an vergangene Zeiten und frühere Mitkämpfer und schilderte die
Schwierigkeiten, mit denen man einst zu kämpfen hatte. Auch von der
amerikanischen Bewegung wusste Eltzholtz interessante Mitteilungen zu
machen und wünschte zum Schlüsse seinen Landsleuten einen ähnlichen
Erfolg, wie man ihn jenseits des Ozeans zu verzeichnen habe.
Für die Programmredner war die Zeit mittlerweile etwas knapp
geworden. Rasch folgten in der Vormittagssitzung sowie in der Schluss¬
sitzung am Nachmittage die einzelnen Vorträge aufeinander. So kam
manches wertvolle Wort nicht recht zur Geltung und wird erst die ge¬
bührende Würdigung erfahren können, wenn der gedruckte Kongress¬
bericht vorliegt. Am meisten fesselten der geistvolle und von Humor
gewürzte Vortrag des Pastors K. Bjerre über »Aufklärung und Ent¬
haltsamkeit« und die ungemein frischen und lebendigen Ausführungen
der berühmten finnischen Vorkämpferiri, Frau Alli Trygg-Helenius,
die das Thema: »Die Agitation unter der studierenden
Jugend« behandelte. Eine eingehendere Diskussion schloss sich auch
an den Vortrag des Dr. Ed. C ar s t en s e n - Söndersö an, welcher für
einen engeren Anschluss der Antialkoholbewegung an die Tuberkulose¬
bekämpfung plädierte.
Einen würdigen Abschluss des Kongresses bildete am Sonntag
der riesige Demonstrationszug aller in Kopenhagen anwesenden
Abstinenten nach dem Frederiksborger Park Sondermarken, wo am
Nachmittag und Abend ein allgemeines Volksfest stattfand.
Während sich in die Kongresslisten nur 1184 Mitglieder (darunter
8 Deutsche) eingezeichnet hatten, zählte der Demonstrationszug mindestens
40000 Teilnehmer. Vom Beginn des Abmarsches bis zu dem Augen¬
blick, in dem die letzten Reihen den Sammelort am Rathause ver-
liessen, verstrichen nicht weniger als zwei Stunden! Nur dieses Zuges
wegen nach Kopenhagen gereist zu sein, wäre schon der Mühe wert
gewesen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, diese Unmenge von
Fahnen und Bannern (über 1000 sollen es gewesen sein!), die vielen
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Reinhard, Der VI. Nordische EntbaltsamkeitskongTess in Kopenhagen. 303
Blumendekorationen und Musikkorps während des Vorbeimarsches zu
zählen. Die engagierten Musikkapellen reichten nicht aus. Diejenigen,
zu denen der Schall der Instrumente nicht drang, stimmten frohe Weisen
an, nach denen es sich nicht schlechter marschierte. Der Jubel und
die Begeisterung der Kopenhagener Bevölkerung erreichten eine solche
Höhe, dass man fast hätte meinen sollen, es gäbe in der dänischen
Reichshauptstadt nichts populäreres als die Abstinenzbewegung.
Draussen in Sondermarken gab es zahlreiche Reden — in allen
nordischen Mundarten — anzuhören, und an Unterhaltungen und Ver¬
gnügungen war alles aufgeboten, was zu einem echten, schönen Volks¬
feste gehört. Dass hierzu nicht die geistigen Getränke zählen, dass
diese vielmehr auch bei solcher Gelegenheit völlig überflüssig sind, das
haben, wie ich wiederholt vernommen, selbst enragierte Alkoholfreunde
zugeben müssen.
Noch manches liesse sich von den Kongressveranstaltungen be¬
richten, von den geselligen Zusammenkünften abends im Tivolipark, von
etlichen Gründungen und Stiftungen — so z. B. von der am Freitag
abend vollzogenen Gründung des abstinenten nordischen
Journalistenvereins, der schon jetzt über 50 Mitglieder zählen
soll — u. dgl. m. Sehr interessant war auch die Kongress¬
ausstellung, in der man u. a. einen vorzüglichen Ueberblick über
die internationale Alkoholgegnerliteratur erhielt.
Es würde jedoch zu weit führen, auf alles das näher einzugehen.
Ich will mit der Versicherung schliessen, dass sämtliche Veranstal¬
tungen des grossen und — soweit man schon jetzt darüber urteilen
kann — ergebnisreichen Kongresses würdig waren. Wir haben viel
gesehen, viel gelernt. Jetzt heisst es, die Erfahrungen verwerten und
rüstig schaffen, dass wir vorwärts kommen !
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304
Abhandlungen.
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Oie 21. Hauptversammlung
des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger
Getränke in Erfurt.
Am 9. September fand in Erfurt die 21. Hauptversammlung des
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke statt. Sie
war aus allen Teilen Deutschlands sehr zahlreich besucht. Besonders
erfreulich war, dass verschiedene Regierungen Vertreter gesandt hatten,
um ihre lebhafte Teilnahme an den Bestrebungen des Vereins auszu¬
sprechen. Im Aufträge des Reichsamts des Innern war Geheimer Ober-
Regierungsrat Dr. Würmeling erschienen, der auf die wiederholt be¬
kundete Geneigtheit des Staatssekretärs des Innern Dr. Grafen von Posa-
dowsky, die Arbeit des Vereins tatkräftig zu fördern, hinweisen konnte.
Geheimrat Freiherr von Zedlitz betonte im Namen des preussischen
Kultusministeriums und des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, dass
die deutschen Frauen und Mütter die besten Mitkämpferinnen gegen
das Alkoholelend seien und neuerdings auch in stiller und zäher Arbeit
ihre hohe Aufgabe zu erfüllen suchten. Mit Kraft und Wärme versicherte
er, dass die von ihm vertretenen Regierungen die vom Deutschen Ver¬
ein dargebotene Hand zur Befreiung unseres Volkes vom Alkoholjoch
freudig ergreifen. Sehr wirksam waren die Worte Kirchenrats Dr. Spinner,
der die Grossherzoglich Sächsische Staatsregierung vertrat. Den Kämpfern
gegen den Alkoholismus würde endlich der Erfolg nicht fehlen, denn
zwei mächtige Verbündete ständen ihnen zur Seite: Die Wahrheit und
die Liebe. — Der Oberpräsident der Provinz Sachsen versicherte durch
den Mund des Regierungspräsidenten in Erfurt, und die Stadt Erfurt
durch ihren Oberbürgermeister lebhafte Teilnahme an den Aufgaben
des Vereins. Auch verschiedene Vereine hatten Abgesandte geschickt,
um Grüsse zu bringen.
Nachdem der Vorsitzende des Vereins Senatspräsident Dr. von
Strauss u. Torney für die dargebrachten Grüsse und Wünsche gedankt,
und über das Wachstum des Vereins erfreuliche Mitteilungen gemacht
hatte, begannen die auf die Tagesordnung gesetzten Vorträge: »Der
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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 305
Flaschenbierhandel« (Berichterstatter Dr. Arthur Esche - Dresden, und
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Fränkel-Halle a. S.) und »Alkoholismus und
höhere Schule« (Berichterstatter Prof. Dr. Hartmann-Leipzig und Priv.-
Dozent Dr. med. et. phil. Weygandt-Würzburg).
Dr. Esche führte in seinem einstündigen Vortrage in der Haupt¬
sache folgendes aus:
Die bis vor kurzem weit verbreitete Ansicht, dass die Ursachen
des Alkoholismus nur im Branntweingenuss zu suchen, das Bier dagegen
als harmloses, nahrhaftes Getränk, ja als Bundesgenosse gegen den
Branntwein zu empfehlen sei, ist von allen, die sich ernst und vor¬
urteilsfrei mit der Alkoholfrage beschäftigt haben, aufgegeben. Es lässt
sich allerdings nicht leugnen, dass hier und da der zunehmende Bier¬
konsum den Branntwein zurückgedrängt hat. In der grösseren Menge
Bier wird aber oft eben so viel Alkohol, wenn nicht mehr genossen,
als vordem in dem Branntwein. Richtig ist auch, dass der Bierkonsum
in der letzten Zeit in Deutschland gesunken ist von 125 auf 124 auf
116 Liter auf der. Kopf der Bevölkerung in den Jahren 1900, 1901,
1902. Dieser erstmalig beobachtete merkliche Rückgang bietet aber
keine Gewähr für die Zukunft. Vielmehr ist ein fortgesetzt energischer
Kampf gegen den Biergenuss notwendig, umsomehr, da das Bier immer
mehr in alle Kreise eindringt und zum täglichen Genuss und Bedürfnis
der meisten Männer wird, aber auch o/t nicht nur ausnahmsweise, son¬
dern regelmässig von denen getrunken wird, die vor Jahren davon sich
noch freihielten: von den Frauen und der heranwachsenden Jugend.
Zu dieser erhöhten Gefahr ist das Bier hauptsächlich in der Form des
Flaschenbieres durch den Flaschenbierhandel geworden.
Der Umsatz an Flaschenbier hat fast in allen Gegenden Deutsch¬
lands, auch in München, in den letzten zehn Jahren ganz ausserordent¬
lich zugenommen. Von den Berliner Bierbrauereien setzten als Flaschen¬
bier ab z. B.
Die Aktien-Brauerei-Gesellschaft Friedrichhöhe
1889—1890: 3350000 Flaschen, 1898—1899: 18150000 Flaschen.
Die Schultheissbrauerei
1880—1881: 6700 Hektoliter, 1898—1899: 183990 Hektoliter.
In Berlin betrug 1898 der Gesamtverbrauch an Flaschenbier:
2184799 Hektoliter. In Dresden sollen zur Zeit ungefähr 300000
Hektoliter Bier als Flaschenbier verbraucht werden. Bei diesem un¬
geheueren Umsatz ist natürlich der Anteil des Flaschenbierumsatzes am
Gesamtbierumsatz sehr gross. Nach verschiedenen übereinstimmenden
Schätzungen betrug der Umsatz an Flaschenbier z. B. in Berlin 1 ‘s, in
Dresden 1 U f in den Bezirken der Handelskammern Oppeln und Münster
mindestens l / 3f im Deutschen Reich V 5 —V 4 des gesamten Bierumsatzes.
Die Gründe für die gewaltige Zunahme des Umsatzes an Flaschen¬
bier sind sehr verschieden.
Das Flaschenbier hat es verstanden, mannigfache Wege zu denen
zu finden, die danach verlangen, oder deren Verlangen erst geweckt
werden soll. Die Zahl derer, die nur nebenbei zur wirksamen Unter-
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306
Abhandlungen.
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Stützung ihres übrigen Handels Flaschenbier verkaufen (Flaschenbier¬
kleinhandel), hat sich in der letzten Zeit ausserordentlich vermehrt. Zu
dem Handel bedürfen diese Händler keiner besonderen Erlaubnis, keiner
Konzession, er ist für das stehende Gewerbe vollständig frei gegeben.
Mehr und mehr aber haben die Brauereien den Vertrieb ihres Flaschen¬
bieres unmittelbar an die Konsumenten selbst in die Hand genommen.
Sie haben sich dazu veranlasst gesehen, weil die Schankwirte versäumten,
da und dort auch ausdrücklich ablehnten, für entsprechenden Absatz,
auch des Flaschenbiers Sorge zu tragen, und ferner weil die Privat¬
konsumenten pünktlichere und zuverlässigere Bezahler waren als die in
vielen Orten immer mehr verschuldeten Wirte. Zur Verbreitung des
Flaschenbiers hat erheblich auch der Patentverschluss beigetragen,
denn er ermöglicht, die Flasche luftdicht zu verschliessen und auch
wieder leicht zu öffnen, sie immer zur Hand zu haben. Die Verbreitung
des Flaschenbiers in Arbeiterkreisen wurde durch den wirtschaftlichen
Aufschwung (Bauten, Fabriken) wesentlich gefördert, umsomehr, da die
stärkeren Flaschenbiere auch der gehobeneren Lebensweise der Arbeiter
entgegen kamen.
Der gewaltige Umsatz des Flaschenbiers hat den Gast- und Schank¬
wirten entschieden wirtschaftliche Nachteile bereitet Der Verkehr in
den Schank wirtschaften hat abgenommen, und auch der Ausschank von
Fassbier über die Strasse ist eii^ geringerer geworden. Den Hauptvorteil
vom Flaschenbier haben die grossen Brauereien.
Bei Beantwortung der Frage, welchen Einfluss das Flaschenbier auf
unser Volk ausübt, ist zweierlei zu betonen.
Unbestreitbar ist, dass das Flaschenbier zum Konsum des Biers,
vor allen auch der stärkeren Biere in Familie und Arbeitsstätte ganz
erheblich beigetragen hat. Dies ist deshalb eine sehr grosse Gefahr,
weil dadurch auch Frauen und Kinder an den täglichen Biergenuss ge¬
wöhnt werden. Die in verschiedenen Orten vorgenommenen Erhebungen
über den täglichen Biergenuss von Schulkindern beweisen deutlich, dass
das Flaschenbier an dem regelmässigen Biergenuss der Jugend schuld
ist. Andererseits dürfen auch die Vorzüge des Flaschenbiers nicht un¬
berücksichtigt bleiben, wenn wir die richtige Stelle finden wollen, wo
mit Erfolg die bessernde Hand angelegt werden kann.
Nach dem übereinstimmenden Urteil fast aller preussischer Handels¬
vertretungen, die sich auf den Erlass der drei preussischen Minister vom
4. Januar 1904 geäussert haben, hat das Flaschenbier den Branntwein,
vor allem auf den Bauten, den Arbeitsplätzen und in den Fabriken mehr
und mehr verdrängt Die Arbeiter werden alsbald wieder zur Schnaps¬
flasche greifen, wenn ihnen der Genuss des Flaschenbiers unmöglich
gemacht wird, sie werden dann nicht an der Arbeitsstätte, sondern in
der nächsten Schankwirtschaft ihr Verlangen nach Bier befriedigen und
dann sicher mehr Bier und nicht nur Bier, sondern auch Schnaps
trinken. Nach den Berichten einiger Handelsvertretungen ist aber auch
der Verbrauch von Fassbier mit der Verbreitung des Flaschenbiers zurück¬
gegangen, da und dort in demselben Masse wie der Verbrauch von
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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 307
Flaschenbier zugenommen hat, hie und da sogar noch mehr. Tatsäch¬
lich hat auch in ganz Deutschland der Verbrauch von Fassbier mehr
abgenommen als der Konsum an Flaschenbier gewachsen ist. Dieser
Rückgang des Fassbiers erklärt sich unschwer zum teil auch dadurch,
dass das Flaschenbier viele vom Besuche der Schankstätten abhält, weil
es dem Biertrinker ermöglicht, seinen Bierdurst daheim zu stillen. Dies
ist von der grössten Bedeutung auch für die Mässigkeitsbestrebungen.
Denn die Kneipen mit ihrem Trinkzwang, ihren Reizmitteln zum Trinken
sind zum grössten Teil daran schuld, dass unser Volk so tief in den
Biersumpf hineingeraten ist. Der Geist, der in der Kneipe herrscht,
zerstört die guten Sitten, das Familienleben, den Idealismus unserer
heranwachsenden Jugend. Befriedigt der Mann daheim seinen Bierdurst,
dann wird er weit weniger trinken als in der Kneipe. Frauen und
Kinder vor dem Trunk im Hause zu bewahren, ist nicht so schwere
Arbeit, wie den Trinkzwang, die Trinkmacht in der Kneipe und in der
Gesellschaft zu brechen. Da kann durch Aufklärung, vor allem durch
die für Enthaltsamkeit oder strengste Mässigkeit gewonnenen Frauen
sehr viel erreicht werden. Der Gefahr, dass an den Arbeitsplätzen zu
viel Flaschenbier getrunken wird, müssen die Arbeitgeber in ihrem
eigensten Interesse (Unfallgefahr) durch entsprechende Einrichtungen in
den Arbeiterkantinen begegnen (alkoholfreie Getränke).
Unter Berücksichtigung der geschilderten tatsächlichen Verhältnisse,
der Gefahren und der Vorzüge des Flaschenbiers unterbreitete Dr. Esche
am Ende seines Vortrags der Versammlung folgende Vorschläge zur
Begutachtung:
1. Unbedingt abzulehnen sind alle Massregeln, durch die die Befug¬
nis zum Flaschenbierkleinhandel ausschliesslich in die Hand der
Wirte gelegt werden soll. Durch solches Vorgehen würde der
Einfluss der Schankstätten zum Nachteile unseres Volkes erhöht,
der Biergenuss nicht eingeschränkt, vielmehr durch den verstärkten
Trinkzwang gefördert werden. An eine Monopolisierung des Flaschen¬
bierkleinhandels in den Schankwirtschaften kann erst gedacht werden,
wenn eine Reform des Schankkonzessionswesens auf der Linie des
Gothenburger Systems oder der in den Vereinigten Staaten Nord¬
amerikas bestehenden »local Option« in Deutschland durchgeführt ist.
2. Nicht gerechtfertigt ist, die Erlaubnis zum Flaschenbierhandel da¬
von abhängig zu machen, dass der Händler dieselben persönlichen
Eigenschaften besitzt, wie sie der Gast- und Schankwirt haben
soll. Im Kleinhandel mit Flaschenbier tritt die Persönlichkeit des
Verkäufers dem Käufer gegenüber ganz zurück.
3. Dagegen ist in Erwägung zu ziehen, ob nicht die Erlaubnis zum
Flaschenbierkleinhandel von dem Nachweis des vorhandenen öffent¬
lichen Bedürfnisses oder besser des vorhandenen öffentlichen
Nutzens abhängig zu machen ist.
4. Vom Gesetz zu verbieten ist:
ausserhalb des Gemeindebezirkes der Niederlassung des Flaschen-
Die Alkohollrage. 21
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Abhandlungen.
bierhändlers (der Brauerei, die Flaschenbierhandel betreibt) im
Umherziehen Bestellungen auf Flaschenbier aufzusuchen;
ferner aber auch
im Gemeindebezirk der Niederlassung des Flaschenbierhändlers
(der Brauerei, die mit Flaschenbier handelt) von Haus zu Haus
auf öffentlichen Wegen oder Plätzen, auf Arbeitsplätzen, vor
Bauten, gewerblichen Unternehmungen ohne Bestellung Flaschen¬
bier feilzubieten und von Haus zu Haus Bestellungen darauf
aufzusuchen.
Nur in besonderen Fällen darf in bestimmten Bezirken die höhere
Verwaltungsbehörde Ausnahmen von solchem Verbot vorübergehend
zulassen.
5. Die zuständigen Behörden haben streng darüber zu wachen, dass
die Flaschen unmittelbar vor der Füllung sorgfältig mit gesundem
Wasser gereinigt und nur in geeigneten, hellen und gut gelüfteten
Räumen das Bier auf die Flaschen gezogen wird und die gefüllten
Flaschen aufbewahrt werden.
6. Nicht minder haben die zuständigen Behörden streng darauf zu
achten, dass die nicht zum Ausschank von Bier ermächtigten
Flaschenbierhändler Flaschenbier nicht zum Genuss auf der Stelle
verkaufen.
Flaschenbierhändlern, die der gesetzlichen Vorschrift zuwider
Bier ausschänken oder Flaschenbier zum Genuss auf der Stelle
verkaufen und die deshalb vom Gericht verurteilt werden, kann
die Berechtigung zum Flaschenbierhandel für die Dauer oder für
bestimmte Zeit sogleich durch das Erkenntnis, das ihre Ver¬
urteilung ausspricht, aberkannt werden.
7. In Erwägung zu ziehen ist endlich, ob nicht dem Flaschenbier¬
händler gesetzlich die Verpflichtung aufzuerlegen ist, die von ihm
beim Handel verwendeten Bierflaschen mit genauer Massbezeich-
nung zu versehen.
Zum Schluss betonte Dr. Esche mit besonderem Nachdruck, dass
auch die besten gesetzlichen Bestimmungen gegen den Alkoholismus
nichts nützen, wenn nicht einsichtige Volksfreunde die wirksamste Hilfe
brächten, oder vielmehr gebracht hätten durch Aufklärung, unermüdliche
Aufklärung über die schädlichen Wirkungen alkoholischer Getränke,
mögen sie nun Branntwein oder Bier heissen.
Darum soll auch gegen das Flaschenbier der Verein diese Waffe
führen durch Wort und Schrift, ein jeder aber durch sein eigenes Beispiel.
An den Vortrag schloss sich eine lebhafte Aussprache. Von ver¬
schiedenen Rednern (Eisenbahndirektor de Terra, Kommerzienrat Dr.
Moeller,) Pfarrer Neumann (Mündt-Titz) wurde aus ihrer Erfahrung da¬
rauf hingewiesen, dass es am besten sei, dem Volke, den Arbeitern
durch entsprechende Veranstaltungen alkoholfreie Getränke zuzuweisen
(den Eisenbahnern Milchflaschen in ihren Unterkunftsräumen, den Fabrik¬
arbeitern Milchkaffee in ihren Kantinen, der Bevölkerung auf dem Lande
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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 309
verschiedene alkoholfreie Getränke in Volksgärten ohne jeden Verschank
alkoholischer Getränke).
Schliesslich wurde folgender vom Vorstand vorgeschlagener Be¬
schluss einstimmig angenommen :
»Der gewaltig wachsende Flaschenbierhandel ist eine Gefahr für
weitere Alkoholisierung des deutschen Volkes. Seine vollständige Unter¬
drückung oder seine Monopolisierung in den Schankstätten würde aber
den Bierkonsum nicht beschränken, vielmehr nur den Einfluss der Schank¬
stätten von neuem stärken. An solche Massregeln kann erst gedacht
werden, wenn eine Reform des Schankkonzessionswesens nach gemein¬
nützigen Gesichtspunkten in Deutschland durchgeführt ist. Auch Be¬
stimmungen über die Beschränkung des Umfanges des Flaschenbier¬
handels nach dem nachzuweisenden öffentlichen Bedürfnis oder nach
dem Verhältnis der Zahl der Flaschenbierhändler zur Einwohnerzahl
werden zweckmässig erst mit gleichartigen Bestimmungen über den Aus¬
schank alkoholischer Getränke erlassen.
Schon jetzt aber ist gesetzlich zu verbieten:
1. Im Gemeindebezirk des Wohnorts oder der Niederlassung des
Flaschenbierhändlers von Haus zu Haus auf öffentlichen Wegen
oder Plätzen, auf Arbeitsplätzen vor Bauten, gewerblichen Anlagen
ohne Bestellung Flaschenbier feilzubieten und von Haus zu Haus
Bestellungen darauf aufzusuchen.
2. Ausserhalb des Gemeindebezirks des Wohnorts oder der Nieder¬
lassung des Flaschenbierhändlers im Umherziehen Bestellungen
auf Flaschenbier aufzusuchen.
Nur in besonderen Fällen darf in bestimmten Bezirken die
höhere Verwaltungsbehörde Ausnahmen von solchem Verbot vor¬
übergehend zulassen.
Der Vorstand des Vereins wird ersucht, Bundesrat und Reichstag
um baldigen Erlass solcher Bestimmungen dringend zu bitten.«
Die zweite wichtige Hauptfrage, mit welcher sich die Erfurter
Jahresversammlung des Deutschen Vereins beschäftigte, betraf »Die
Alkoholfrage auf den höheren Schulen«. Es referierten
darüber Gymnasialprofessor Dr. Hartmann aus Leipzig und Privatdozent
Dr. med. et phil. Weygandt aus Würzburg.
Professor Hartmann bekannte im Eingang, dass er sich nur mit
Zögern zur Uebernahme des Vortrags entschlossen habe, da er wohl
wisse, dass die antialkoholischen Bestrebungen bis jetzt noch keinen
günstigen Boden in der höheren Lehrerschaft gefunden hätten. Zwar
habe die höhere Schule schon seit einigen Menschenaltern gegen die
Trinkneigung der Schüler anzukämpfen gehabt und bis in die neueste Zeit
wurden in den verschiedensten Teilen Deutschlands schwere Klagen
darüber erhoben. Aber freilich sei die bis jetzt eingeschlagene Methode
der Bekämpfung doch erfolglos gewesen. Die Lehrerschaft sei daher
zu einer gewissen resignierten Stimmung gegenüber dem Uebel gekommen.
Ein wirklicher Fortschritt sei nur dann erreichbar, wenn die höheren
Lehrer sich zu einem gründlichen Studium der Alkoholfrage entschlössen,
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der sie bis jetzt in der Regel ganz fremd gegenüberständen. Daher sei
es unbedingt notwendig, dass jede Lehrerbibliothek einer höheren Schule
die wichtigsten Schriften aus dem Gebiete der Alkoholliteratur besitze
und dass vor allem die Direktoren den Lehrerkollegien im Studium der¬
selben vorangingen. Aus der Kenntnis des Gegenstandes heraus würden
sich bald ganz naturgemäss Erörterungen darüber ergeben, in der Fach¬
presse, in den Konferenzen, in den Versammlungen der Direktoren oder
der Vereine. Ebenso zu wünschen sei möglichst zahlreicher Anschluss
der höheren Lehrer an eine der jetzt vorhandenen alkoholgegnerischen
Organisationen, wie z. B. an den Deutschen Verein gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke. In Anbetracht der vorgerückten Zeit konnte
Professor Hartmann die den Schulen zu erteilende Belehrung über die
Gefahren des Alkohols nur in ganz allgemeinen Zügen andeuten, ging
aber um so ausführlicher auf das wichtige Kapitel der Gewöhnung
ein, und führte hier aus, dass die höhere Schule nur dann hoffen könne,
aus dem die Schule schädigenden Trinkelend herauszukommen, wenn sie
sich entschlösse, die Jugend allmählich zu strenger Enthaltsam¬
keit zu erziehen. Da alle Vertreter der Wissenschaft, die dem Problem
nachgegangen, darüber einig sind, dass der Alkohol auf die Jugend
besonders als Nerven- und Gehirngift wirkt, so habe die höhere Schule
sowohl das Recht als die Pflicht, die Forderung strenger Enthaltsamkeit
von jeder Art geistiger Getränke für ihre Zöglinge aufzustellen, und von
den unteren Klassen an allmählich durchzuführen, nachdem sie die öffent¬
liche Meinung dank fortgesetzter Einwirkung auf das Elternhaus für diese
wichtige Reform vorbereitet habe. Für die von mancher Seite scheel
angesehenen Schülerabstinenzvereine legte Redner ein kräftiges Wort der
Fürsprache ein, da sie dem Hauptzwecke der Schule dienstbar seien,
wenn er auch zugab, dass ihre Organisation noch der Vervollkommnung
fähig sei. Eingehend behandelte Redner die Frage, wie die Schule bei
der ganzen Frage Hand in Hand mit dem Hause gehen müsse und
welche Mittel dabei im einzelnen anzuwenden seien. Doch betonte er
dabei nicht minder, dass die Schule auch manche Möglichkeiten unmittel¬
barer Einwirkung auf die Schüler habe, vor allem durch das Beispiel
der Lehrer. Professor Hartmann, der hier erklärte, dass er für seine
Person dank dem Studium der Alkoholfrage der Abstinenz zugeführt
worden sei, erhob diese nicht als allgemeine Forderung für die Lehrer¬
schaft, bezeichnete aber Mässigkeit im strengen Sinne der wissenschaft¬
lichen Erkenntnis als eine selbstverständliche von jedem Lehrer, jedem
Erzieher zu erfüllende Voraussetzung. Lebhaft trat er für die Einführung
alkoholfreier Schulspaziergänge ein, und gab praktische
Winke darüber, wie dies zu geschehen habe, wobei er voraussetzte, dass
bei solcher Gelegenheit auch die begleitenden Lehrer Enthaltsamkeit
übten. Gänzlich ablehnend verhielt sich Redner, wie schon Professor
Th. Ziegler 1898 in Heidelberg und viele andere namhafte Päda¬
gogen, gegenüber der Beteiligung der Lehrer an den Abiturienten¬
kommersen. Wenn er auch natürlich eine in ehrbarer Form gehaltene
gesellige Abschiedsfeier der Abiturienten als durchaus berechtigt zugab,
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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 311
so bezeichnete er doch den von der mittelalterlichen studentischen Trink¬
sitte beherrschten Kommers als eine Form, die unvereinbar sei mit dem
Erziehungsberufe der höheren Schule. Schliesslich betonte Professor Hart¬
mann noch, dass der Schule auch eine, wenn nur indirekte, aber deshalb doch
nicht zu unterschätzende Macht zum Umschwung der Trinkgewohnheiten
der Schule zu Gebote stände, dadurch dass sie die körperliche Bewegung
der Jugend noch energischer begünstige und höher bewerte als es bisher
geschehen sei. Dazu gehöre nicht bloss das Turnen, sondern auch jeder
gesunde, in vernünftigen Grenzen sich haltende Sport. In Verbindung
damit empfahl Redner die Beschränkung der Zeiteinheit der Unterrichts¬
stunden auf je 45 Minuten, wodurch die Möglichkeit gewonnen würde,
die mit mancherlei physiologischen Unzuträglichkeiten verbundene Sitz¬
zeit angemessen zu verkürzen. Eine nochmalige dringende Mahnung an
die höhere Lehrerschaft vor allem durch gründliches Studium der ein¬
schlägigen Literatur zu der für die Schule so überaus wichtigen Frage
Stellung zu nehmen, beschloss den Vortrag.
Der zweite Referent, Privatdozent Dr. Weygandt aus Würzburg
behandelte vorzugsweise die ärztliche Seite der Frage. Er betonte, dass
der wichtigste Lebensabschnitt, der in die Gymnasialzeit fällt, die Zeit
der Entwicklung zur völligen Reife, der Pubertät im weitesten Sinne
des Wortes sei. Die Pubertät gehört ebenso wie etwa Krankheitszustände
oder gewisse Vorgänge beim weiblichen Organismus, vor allem Schwanger¬
schaft, Wochenbett sowie Wechsel, zu den kritischen Zeiten im mensch¬
lichen Leben, in denen die Befolgung hygienischer Regeln noch dring¬
licher wird als sonst.
So wenig auch die Pubertätsperiode zum Gegenstand exakter, vor
allem experimenteller Forschung bis jetzt gemacht wurde, lässt sich nach
Ausführungen des Referenten über sie hinsichtlich der menschlichen
Entwicklung doch folgendes wenigstens feststellen:
1. Es handelt sich um die geschlechtliche Reife, die Erlangung
des Zeugungsvermögens mit der völligen Ausbildung der Geschlechts¬
teile, dann um die Erlangung der sogenannten sekundären Geschlechts¬
charaktere, männliche Stimme und späterhin Bartwuchs.
2. Es handelt sich um die fertige Ausbildung des Skelett- und
Muskelsystems.
3. Es handelt sich um die geistige Reife, vor allem um den
Uebergang von der blossen Receptivität zur Produktivität, in Verbindung
mit psychomotorischer Regsamkeit, leicht gehobener Stimmung und viel¬
fach dem Erwachen künstlerischer Neigungen.
Alle diese drei Richtungen könnten durch Alkohol besonders be¬
einflusst werden im Sinne einer Steigerung oder vielmehr Anreizung.
Die ruhige, natürliche Entwicklung würde zweifellos dadurch gestört,
vor allem weil auf die zunächst der physiologischen Richtung des Orga¬
nismus in der Pubertät parallel laufende erregende Wirkung des
Alkohols alsbald die jener normalen Richtung entgegenlaufende
lähmende Wirkung folgt. Aber schon die erregende Wirkung wäre
bedenklich.
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Gerade hinsichtlich des ersten Punktes, der geschlechtlichen Ent¬
wicklung ist zu sagen, dass eine frühzeitige Betätigung durchaus unrat¬
sam ist, weil sie, von rein ethischen und sozialen Gesichtspunkten ganz
abgesehen, den noch nicht ganz ausgebildeten Körper erschöpfen und
schädigen und die seelischen Leistungen, die gerade von Seite eines
nur halb bewussten, ungestillten Sexual-Triebs wertvolle Anregungen er¬
fahren, jedoch durch vorschnelle Befriedigung dieses Triebes sehr bald
eine Uebersättigung und Abstumpfung erleiden würden.
Dass die der Vollendung entgegenschreitende Entwicklung des
Bewegungssystems unseres Körpers, der Knochen und Muskeln, durch
Alkohol in bedenklicher Weise beeinflusst werden kann, ergibt sich be¬
reits aus der Zunahme der Roheitsverbrechen von Seiten jugendlicher
Personen.
Vor allem aber die ungemein wichtige psychische Entwicklung
der Pubertätsperiode erleidet eine Störung durch den Alkohol. Das
Erwachen einer gewissen Produktivität kann vielleicht hier und da an¬
gereizt werden durch Alkohol, der manche Hemmungen, die noch von
dem Kindesalter mit seiner Schüchternheit und Hilflosigkeit her haften,
allmählich überwinden lässt. Die Erziehung zu einem angestrengten,
folgerichtigen Denken jedoch wird von dem Alkohol, der, wie das Ex¬
periment beweist, gerade ideenflüchtige Erscheinungen zeitigt, ohne
Zweifel gestört.
Aber auch die reproduktive Leistung, die gerade für Gymnasiasten
noch von grosser Bedeutung ist, muss durch den Alkohol, dessen den
Merkakt schädigende Wirkung leicht experimentell nachgewiesen werden
kann, ganz besonders beeinträchtigt werden.
Hat somit der Alkohol durch seine irritierende Wirkung auf die
geschlechtliche Entwicklung und die Ausbildung der Körperkräfte für
jeden Menschen in der Pubertät seine bedenkliche Wirkung, so muss
er auf jene, die ihr Leben als Hirnmenschen, auf Grund geistiger Arbeit
führen wollen, ganz besonders verhängnisvoll wirken, da er ja in erster
Linie doch ein Nervengift darstellt.
Endresultat: Alkoholabstinenz für Schüler.
Die hochinteressanten Ausführungen der beiden Referenten und
die dem Referat folgende belebte Debatte führte zur Annahme eines von
beiden Referenten empfohlenen Antrages, der folgendermassen lautet:
»Es ist dringend zu wünschen, dass die höhere Schule auf der
durch die wissenschaftliche Kenntnis gewonnenen Grundlage am Kampfe
gegen den Alkoholismus teilnimmt, vor allem dadurch, dass sie die
Jugend frühzeitig über die Gefahren des Alkohols aufklärt und
ihr zugleich fest einprägt, dass jede Ausübung eines Trinkzwangs ver¬
werflich ist. Da der Alkohol, wie man jetzt weiss, namentlich auf die
Jugend als Nerven- und Gehirngift wirkt und daher unvereinbar ist mit
einer gesunden, körperlichen und geistigen Entwickelung, so ist als letztes
Endziel für die Jugend nichts anderes als strenge Enthaltsamkeit von
jeder Art alkoholischer Getränke ins Auge zu fassen, Es ist eine wich-
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21. Hauptversammlung d. Deutsch. Vereins g. d. M. g. G. in Erfurt. 313
tige Aufgabe der Schule, die unmittelbaren Erziehungspflichtigen für
dieses Ziel allmählich zu gewinnen und ihrerseits selbst alle Mittel an¬
zuwenden, die zur Erreichung desselben dienen können.«
Der Vorstand des Vereins wünschte eine Abschwächung dahin,
dass Abstinenz nur von den Schülern der Unter- und Mittelklassen zu
fordern sei. Der selbst abstinente Generalsekretär des Vereins Gonser
(Berlin) vertrat ebenfalls diese Ansicht, weil er ein weitergehendes Ziel
für utopistisch hielt. Der Vorstand wurde jedoch mit 15 gegen 13
Stimmen von der Versammlung überstimmt.
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Weitere Untersuchungen der Alkoholfrage
auf Grund von Fragebogen für Massige oder Enthaltsame.
Von Prof. I)r. Victor Böhmert.
Die in Heft i dieser Vierteljahrsschrift angeregten und begonnenen
und im Heft 2 fortgesetzten »Untersuchungen der Alkoholfrage auf Grund
von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame haben von vielen Seiten
zwar lebhafte Zustimmung, von mancher Seite aber auch Widerspruch
gefunden. Ein bewährter Freund der Massigkeit und Abstinenz schreibt: dass
ihm dieses beständige Lehren und Schreiben über diese Sache fast zu¬
wider sei, weil bei den meisten Zuhörern kein rechter Ernst für die
Sache sei. »Sie wollen den Pelz waschen, ohne ihn nass zu machen ,
»der Moral ein wenig dienen, aber keinen Genuss aufgeben usw. . . . Er
für seine Person halte die ganze Statistik für etwas Nebensächliches usw.
Was die Welt vorwärts bringe seien nicht statistische Daten, die über¬
haupt bloss für Materielles passten und den Materialismus als ihre Grund¬
lage hätten, sondern entschiedene persönliche Grundsätze und individuelles
Eintreten dafür.« Es ist dagegen zu bemerken: dass S o z i a 1 Statistik,
Moralstatistik, Armenstatistik, Kriminalstatistik, Statistik der Wohlfahrts¬
einrichtungen usw. neben materiellen Zwecken doch auch hohe ideale
Ziele verfolgen und dass die in den beiden letzten Jahrzehnten unter¬
nommenen Untersuchungen über die Verbreitung des Alkoholgenusses in
Fabriken, Schulen, Krankenhäusern, Vereinen usw. doch schon zu wich¬
tigen Ergebnissen und Massregeln geführt haben. Die neueste Statistik
will noch einen Schritt weiter gehen und nicht bloss Zahlen ermitteln,
sondern Tatsachen, Handlungen und Einrichtungen vorführen und frühere
Beobachtungen, Erfahrungen und Ansichten von Mässigen oder Enthalt¬
samen zusammenstellen. Die Zukunft des Menschengeschlechts gehört
nicht dem Materialismus, sondern jenem wahren Empirismus, der es
versteht, auch in Betreff des inneren Lebens und der Willensstärke der
Menschen Erfahrungen zu sammeln und zu verarbeiten. Es soll unter¬
sucht werden, welche Ursachen zur Mässigkeit oder Enthaltsamkeit führen
und welche Wirkungen der Alkohol nicht nur auf die Organe des Körpers,
sondern auch auf Geist und Gemüt des Menschen im häuslichen, beruf¬
lichen und gesellschaftlichen Leben austibt. Als Mitarbeiter sind nament¬
lich solche Personen willkommen, welche sowohl die Mässigkeit als auch
die Enthaltsamkeit am eigenen Leibe erprobt haben.
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Nr. 25. Prof. Dr. Emil Kraepelin in München.
1. Prof. Dr. Emil Kraepelin in München.
2. geh. 15. Januar 1856.
3. Neustrelitz, Mecklenburg.
4. Irrenarzt.
5. Studium der Medizin.
6. Verein abstinenter Aerzte, Studenten, Germania.
7. Seit 1895 enthaltsam.
8. In erster Linie die aus eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen gewonnene
Erkenntnis, dass sich für die Anwendung des Alkohols im täglichen Leben
keinerlei stichhaltige Gründe auffinden lassen; späterhin der Wunsch, durch das
eigene Beispiel auf die Beseitigung der Trinksitten hinzuwirken.
9. Keine.
10. a) Gänzliches Verschwinden einer früher sehr quälenden Migräne.
b) Grössere Gleichmässigkeit der Arbeitsbereitschaft.
c) Gefühl der Befreiung von einem als schädlich erkannten Reizmittel (einer
freilich früher nicht als solche empfundenen Sklaverei).
11. a) Meine ganze Familie ist enthaltsam und befindet sich sehr wohl dabei.
b) Die gewöhnlichen Erfahrungen des Irrenarztes: Unermessliches Alkoholelend,
entmutigende Verständnislosigkeit der gebildeten und ungebildeten Massen,
völlige Unzulänglichkeit unserer Hülfsmittel im Kampfe gegen die Alkohol¬
durchseuchung unserer gesamten Lebensgewohnheiten.
c) Anfangs Spott, später Duldung und Achtung, aber sehr langsame und zögernde
Nachfolge, zumal seitens der Aelteren.
d) Theoretische Zustimmung und praktische Verleugnung.
12. In früheren Jahren vielleicht 100—200 Mk. jährlich; allmählich immer weniger.
13. Nichts.
14. lieber eine Reihe von anderen Punkten habe ich verschiedentlich an anderen
Orten Gelegenheit gehabt, mich eingehender zu äussern.
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Nr. 26. Dr. med. von Hahn, Oberstabsarzt a. D. in Görbersdorf.
1. Dr. von Hahn, Oberstabsarzt a. D., Gürbersdorf.
2. geb. 14. August 1857.
3. Bartenstein, Ostpreussen.
4. Prakt. Arzt.
5. Akademische Bildung.
6. Nein.
7. Nein, war niemals Gewohnheitstrinker, nur Gelegenheitstrinker.
8 . —
9 - —
10. —
11. Dass er sich am wohlsten fühlte, wenn er massig lebte, wie immer; dass ein
Arzt seinen Beruf überhaupt nicht ausüben kann, wenn er nicht massig ist, dass
der Verkehr im geselligen Leben mit solchen Menschen, die unmässig tranken,
stets gemieden wurde.
12. Eine Summe lässt sich nicht genau nennen, früher wie jetzt täglich etwa
Mk. 0,50—1,00 (Bier und Wein).
* 3 - —
14. Ich bin der Ansicht, wie wohl die meisten Aerzte, dass ein mässiger Alkohol¬
genuss nicht nachteilig ist, aber gewisse Vorteile besitzt. Ich verlange daher
von jedem einsichtigen Manne, dass er nur soviel trinkt, als ihm nicht nach¬
teilig sein kann, und diese Selbstbeherrschung wird leider nicht vorausgesetzt,
sonst würde man nicht zur Abstinenz kommen.
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318
Nr. 27. Dr. med. Delbrück, Direktor des St. Jürgen-Asyls in Bremen.
1. Anton Delbrück.
2. geb. 23. Januar 1862.
3. Halle a/S., Preussen.
4. Irrenarzt, Direktor des St. Jürgen-Asyls in Bremen.
5. Universitätsstudium in Halle und München, seitdem Arzt an den Irrenanstalten
Alt-Scherbitz, Hamburg, Zürich, Bremen.
6. Ja. Alkoholgegnerbund, Verein abst. Aerzte des deutschen Sprachgebiets, Bremer
Mässigkeitsverein etc.
7. Seit 1890 wirklich massig. Seit 1892 enthaltsam.
8. Durch Prof. Forel-Zürich mit der Alkoholfrage vertraut gemacht, kam ich rasch
zu der Ueberzeugung, dass der in schroffem Gegensatz zu allen theoretischen
Mässigkeitsforderungen stehende unmässige Alkoholgenuss einer sehr grossen
Zahl von Menschen in allen Klassen und Schichten unseres Volkes nicht be¬
kämpft werden kann durch Forderung und Beispiel der Mässigkeit, sondern nur
durch ostentative Auflehnung möglichst vieler Abstinenten gegen die alles be¬
herrschende Trinksitte.
9. Keine.
10. —
11. Ich habe die Erfahrung gemacht:
a) dass meine Frau bald nach unserer Verehelichung 1894 aus dem gleichen
Grunde abstinent wurde;
b) dass Alkoholiker nur von einem abstinenten Arzt und in abstinenter Anstalt
rationell behandelt werden können.
Zu c und d conf. Bemerkungen zu Punkt 14.
/
12. —
* 3 - —
14. Nach meiner Uebersiedlung in die Schweiz wurde ich erst abstinent, verkehrte
dort aber 8 Jahre lang vorwiegend in mehr oder weniger abstinenten Kreisen.
Nur derartige Erfahrungen ermöglichen m. E. ein Urteil über die Enthaltsamkeit
als allgemeine Sitte. In der Anknüpfung zahlreicher geselliger und freundschaft¬
licher Beziehungen mit Nicht-Enthaltsamen hat mich meine Abstinenz nie behindert.
Man respektiert meine Bestrebung, wenn auch vielleicht teilweise nur jnit Rück¬
sicht auf meinen Beruf.
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Nr. 28. Franziskus Hähnel in Bremen.
1. Franziskus Hähncl-Bremen.
2. geb. 15. Mai 1S64.
3. Hamburg.
4. Schriftsteller und ordentlicher Lehrer am Technikum der freien Hansestadt Bremen.
5. Lehrerseminar und autodid. Studiengang.
6. Bremer Mässigkeitsverein, Deutscher Verein abstinenter Lehrer, Guttemplerorden.
7. Totalenthaltsam seit 7Jahren, Mitglied des Guttemplerordens seit 5 Jahren.
Seit 1892 verlangt, dass als massig nur Alkoholgaben bezeichnet werden, die
einen wahrnehmbaren Einfluss auf den Menschen nicht zu haben scheinen.
8. Die Ueberzeugung, dass die Trinksitte bekämpft werden muss, wenn anders man
dem Alkoholismus Abbruch tun will und dass eine Bekämpfung der Trinksitte
nicht stattfinde, wenn man sie durch das »mässige« Glas stützt. (Siehe
Anmerkung zu 14.) — 9. Keine.
10. a) Nicht wahrnehmbare, da der Alkoholgenuss vor der Abstinenzzeit meist gering
und selten war.
b) Anscheinend ist die geistige Leistungsfähigkeit gesteigert.
c) Die Lebensfreude ist entschieden noch gewachsen in dem Bewusstsein, der
Menschheit durch das propagandistische Eintreten für die Abstinenz zu dienen.
11. a) Meine Kinder haben alkoholische Getränke nie erhalten und einen natürlichen
Widerwillen dagegen.
b) Dass im allgemeinen der Akademiker an § 11 hängt, wie etwa der Morphium¬
kranke an seiner Spritze.
c) Mit dem Eintreten für die Totalenthaitsamkeit erfolgte zunächst ein voll¬
ständiger Bruch mit vielen Freunden, da auch Alkohol nicht angeboten
wurde, nach und nach söhnte man sich damit aus und — machte es be¬
sonders nach in der weiteren Familie.
d) Die Abstinenz war mir nie hinderlich, recht vielen allerdings war sie unbequem
und unbehaglich.
12. Soweit es aus Haushaltungsbüchern von 1889 — 95 festzustellen war, jährlich
ca. 90 bis 100 Mk. (einschl. häusliche Gesellschaften).
13. Seit 1897 nichts.
14. Als ich von 1902—1904 Herausgeber der »Neuen literarischen Blätter« war,
machte ich mehrfach eingehende Untersuchungen, um festzustellen, woher in so
vielen als gebildet geltenden Kreisen ein solcher Mangel an Interesse und Ver¬
ständnis für alle Kunstfragen herrühre, und immermehr kam ich zu der Ueber-
zeugung, dass der Alkoholismus den weitaus grössten Anteil daran hatte. Mir
erschienen immer mehr manche künstlerische Bestrebungen so lange als aussichts¬
los, wenn man nicht das grössere Publikum aufnahme fähig zu machen ver¬
standen habe. Den Kampf gegen das Wirtshausleben und Bierphilistertum vertrat
ich bereits 1893 in einem Leitartikel der erwähnten Zeitschrift, und jene Gedanken¬
gänge führten mich eigentlich erst zum eingehenden Studium der Alkoholliteratur.
Nach meinen Erfahrungen können wir in den Kreisen der Gebildeten nur dann
etwas erreichen, wenn man die Kenntnis der Alkoholfrage als einen notwendigen
Bestandteil der allgemeinen Bildung fordert. Viele sogenannte Gebildete sind
nicht zu bewegen, die alkoholgegnerischen Anschauungen nachzuprüfen oder
zu durchdenken.
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320
Nr. 29. Dr. med. Dominik Bezzola, Irrenarzt in Chur.
1. Dr. Dominik Bezzola.
2. geb. 13. Januar 1868.
3. Zemey, Engadin, Schweiz.
4. Irrenarzt in Chur.
5. Volksschule Zemey, Gymnasium Winterthur, Universitäten Genf, Heidelberg,
Zürich, Berlin.
6. A. G. B. und Verein abstinenter Aerzte des deutschen Sprachgebiets.
7. Enthaltsam seit 6. April 1899.
8. Studien über Alkohol und Vererbung, anfängl. experimentell.
9. Keine.
10. a) Pmtschieden grossere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit.
b) Geringe Gemütserregbarkeit.
c) Kein Eintrag in der Lebensfreude, im Gegenteil.
11. a) Onkel Dipsomane.
b) Als Irrenarzt viel Elend gesehen.
c) Keine Aenderung, ausser mit Alkoholkranken, die mich meiden.
d) Mehr Anerkennung meines Strebens.
12. Verschieden, als Student täglich ca. 1 Mk., später 50—60 Pf.
13. Nichts.
14. Dass ich, obwohl in meinen Studentenjahren sehr mässig, durch Enthaltsamkeit
nur gewonnen habe und bereue, nicht früher Totalabstinent geworden zu sein,
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321
Nr. 30. Oberhofprediger Dr. theol. Spinner in Weimar.
1. Dr. theol. Wilfrid Spinner, Weimar.
2. geb. i2. Oktober 1854.
3. Zürich, Schweiz.
4. Oberhofprediger und Grossherzogi. Kirchenrat.
5. Elementarschule, Gymnasium, Universität.
6. Mitglied d. deutschen Vereins gegen Missbrauch alkohol. Getränke.
7. Seit 1891 Abstinent.
8. Mangel an Neigung zu Alkoholgenuss von jeher, Gewöhnung an Abstinenz bei
Reisen in der heissesten Jahreszeit in Indien anno 1891.
9. Keine.
10. a) Sehr wesentliche nicht, da Mässigkeit immer beobachtet wurde. Immerhin
ist Hebung im Allgemeinbefinden nicht zu leugnen.
b) Die geistige Arbeit erleidet weniger Störung durch die Folgen einer Gesellig¬
keit, die sich in die Nachtstunden ausdehnt.
c) An Lebensfreude und gemütlicher Anregung ist durch Abstinenz nichts ver¬
loren gegangen; das seelische Gleichgewicht hat an Festigkeit gewonnen.
11. a) Keine, da die Frau fast völlige Abstinentin immer gewesen ist und die
Kinder noch klein sind.
b) Der Beruf des Geistlichen wird durch das Beispiel der Abstinenz nur gefördert.
c) Man anerkennt meinen Standpunkt als berechtigt, und da ich von Abstinenz¬
propaganda absehe, dagegen Freiheit der Bewegung für mich selber fordere,
habe ich weder äussere noch innere Konflikte erfahren. Dass aber das Bei¬
spiel der Abstinenz in privaten und öffentlichen Kreisen zur Nachahmung
ermuntert hat, durfte ich wiederholt konstatieren.
12. Da Notizen fehlen, mir unbekannt.
13. Für Gesinde jährlich ca. 40 Mk., für Gäste 100 Mk.
14. —
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Nr. 31. Pastor Kruse, Vorsteher der Heilanstalten in Lintorf.
1. Friedrich Kruse in Lintorf.
2. geh. 27. April 1860.
3. Iserlohn, Provinz Westfalen.
4. Pfarrer und Vorsteher der Heilanstalten für Alkoholkranke in Lintorf.
5. 1. Volksschule, 2. Realschule, 3. Gymnasium, 4. Universität, zwischen 2 und 3
eine sechsjährige Unterbrechung als Pharmazeut und Kaufmann.
6. Deutscher Verein g. d. Missbr. geist. Getr., Blaues Kreuz und Verein abstinenter
Pastoren.
7. Enthaltsam seit Ende April 1896.
8. Rücksicht auf meine Berufsarbeit unter den Opfern des Alkohols, allmählich
immer entschiedenere Alkoholgegnerschaft.
q. April—August 1898 während längerer Erkrankung.
10. Vortreffliche in jeder Hinsicht. Die Beschwerden weiterer Berufsreisen werden
schneller überwunden; das Interesse für Kunst und Natur ist lebendiger geworden.
Genussfähiger.
11. Keine, weil der Alkohol niemals im Hause eine Rolle spielte. Günstige. Die
alkoholfreie Geselligkeit breitet sich aus, die Gesellschaft zeigt gegenüber den
Enthaltsamen grössere Toleranz. Weil Pfarrer und Hausväter in Lintorf ent¬
haltsam sind, werden die Familienfeste auch anderer Häuser ohne Alkohol
gefeiert.
12. ca. 90 Mark.
13. Jährlich höchstens 15 Mark für seine Gäste, auf welche die Lebensweise des
Hausvorstandes nicht ohne Wirkung bleibt.
14. Seit Juli 1895 Vorsteher der Lintorfer Anstalten, erkenne ich in dem Alkohol¬
elend unsrer Zeit immer mehr eine Gesamtschuld, daran jeder einzelne be¬
teiligt ist, der, und geschähe es auch in der ehrbarsten Weise, den heutigen
Trinksitten huldigt. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Befreiung
unseres Volks von der Trinksitte und ihrer den einzelnen, ohne
dass er es will und weiss, gefangen nehmenden Macht. Ich halte die Trinker¬
rettungsvereine ebenso wie die Heilanstalten für unentbehrlich. Unser Haupt¬
ziel ist nicht nur Genesung des kranken Organismus, sondern Beeinflussung des
Menschen nach seinem innersten Kern; Erkenntnis der Fehler und Irrwege,
christlich geredet: Verbesserung auch der Stellung des Menschen zu Gott! Hier
aber kann methodistischer Zwang nur Schaden stiften. Von besonderer Be¬
deutung ist die PHziehung zur Abstinenz, worüber demnächst in diesen
Blättern die Rede sein soll. Diese Aufgabe erfordert Zeit: 6 —12 Monate,
letztere Zeit bei Dipsomanen. Die wenigen nach Wochen oder Monaten Ge¬
heilten sind die Ausnahmen, die beweisen, dass es in der Regel in so kurzer
Zeit nicht geht. In Lintorf zählt man jährlich etwa 100 Entlassungen, davon
z. B. 1903 52 Heilungen. Mit den Entlassenen wird möglichst korrespon¬
diert. Seit Anfang 1904 erscheint eine freudig begrüsste vertrauliche Viertel¬
jahrsschrift »Lintorfer Korrespondenzblatt« mit wissenschaftlicher Beilage, die
an 500 Adressen geht. Wir gehören zum »Verband von Trinkerheilanstalten
des deutschen Sprachgebietes«. Auf Grund unsrer Erfahrung fordern wir eine
gesetzliche Regelung der Trinkerfürsorge: Zwangsmassregeln,
öffentliche Anstalten geschlossenen Charakters, neben welchen die weitester
Ausdehnung und innerer Ausgestaltung bedürfenden bisherigen Anstalten unent¬
behrlich bleiben werden, ferner eine Regelung der finanziellen Frage, etwa in
der Weise, dass die Trunksüchtigen den übrigen Anstaltsbedürftigen zur Seite
gestellt werden, cf. preuss. Landarmengesetz vom n.Juli 1891.
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Nr. 32. Dr. med. Peipers, Anstaltsarzt in Lintorf.
1. Dr. Felix Peipers, wohnt in Rath bei Düsseldorf.
2. geb. ii. Dezember 1873.
3. Solingen, Rheinprovinz.
4. Arzt.
. Gymnasium, Universität.
. Deutscher Verein geg. d. Missbr. g. Getr., Verein abstinenter Aerzte, Alkohol¬
gegnerbund.
7. 1. Versuch 1895 während der Militärzeit aus hygienischen Rücksichten ca.
5 Monate lang, zum Schluss der Manöverzeit Rückkehr zum Biergenuss mit
sehr schlechtem gesundheitlichen und dienstlichen Erfolg. 2. Versuch Sommer
1896. Seitdem Totalabstinent bis heute.
8. Bei dem 2. Versuch zunächst persönliche hygienische Rücksichten. Dann wurde
ich mit Guttemplern bekannt, die mich zum Beitritt veranlassten. In der Loge
ging mir allmählich die soziale Bedeutung der Abstinenz auf. Nach iVtjähriger
Zugehörigkeit zur Loge trat ich aus Gründen persönlicher Natur aus dem Orden.
9. Seit 1896 keine.
10. a) Günstige.
b) Konzentration ist m. E. allein bei Abstinenz möglich.
c) Das Leben hat mir seither Werte gezeigt, deren Existenz ich früher nicht ahnte.
11. b) Ich bin Arzt an den Lintorfer Heilanstalten für Alkoholkranke.
c) Dieselben haben sich nicht geändert, soweit Freunde in Betracht kommen.
d) Ich habe beim letzten Kaisers Geburtstagsfest das Hoch auf Se. Majestät in
Selterswasser ausgebracht; das war im Kriegerverein!
12. u. 13. ca. 150 Mk. im Jahr. 13. Nichts.
14. Einige Mitteilungen aus den Lintorfer Anstalten für Alkoholkranke dürften von
allgemeinem Interesse sein. Selten finden unsere Patienten den Weg zu uns
aus eigener Initiative. Verwandte, Vorgesetzte und Behörden, neuerdings auch
die Invalidenkassen stehen meist dahinter.
Der Alkoholismus stellt sich vorzugsweise dar als das Produkt der
Einwirkung unserer Trinksitte auf ein weniger widerstandsfähiges Hirn, dessen
Hemmungszentren entweder von Natur geringer entwickelt waren (»angeborene
Degeneration«) oder durch den Alkohol in einen Zustand dauernder Lähmung
geraten sind (»erworbene Degeneration«). Ich gebrauche den Ausdruck »De¬
generation« hier in rein wissenschaftlichem Sinne und verbinde mit dem Worte
keinen Tadel hinsichtlich der allgemein-menschlichen Eigenschaften, die bei
unseren Patienten zuweilen die besten sind: liebe Menschen mit guter Begabung,
tüchtige Charaktere — daneben allerdings auch die Depravation und beginnende
Verblödung. Die Kur besteht in einer Entalkoholisierung, in einer Kräftigung des
Nervensystems und darauf aufbauend in einer systematischen Erziehung zur
Abstinenz. Unter letzterer verstehe ich nicht nur die Enthaltung vom Alkohol,
sondern die Lebensanschauung des sittlichen Menschen.
Die Entalkoholisierung wird fast ausnahmslos sofort vollständig durch¬
geführt; die Patienten versichern, sich dabei sehr wohl zu fühlen und folgern
daraus meist, dass sie keine Alkoholiker sind.
Vielen Patienten fehlt die Ausdauer, die Kur durchzuführen. 6 Monate
ist das Minimum. In schweren Fällen, besonders bei Dipsomanen, ist die drei¬
fache Zeit notwendig. Als »Geheilte« betrachten wir jene Kranken, deren Wille
zur Abstinenz ein ehrlicher ist und deren Willenskraft eine gewisse Gewähr
für die Durchführung der guten Vorsätze bietet. Am liebsten sehen wir natür¬
lich den Uebertritt in einen Verein.
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Nr. 33. Fräulein Ottilie Hoffmann in Bremen.
1. Ottilie Hoffmann, Bremen.
2. geb. 14. Juli 1835.
3. Bremen, Deutschland.
4. Privat-Lehrerin, mit Unterbrechung bis 1884.
5. Höhere Töchterschule und Studien nach eigner Wahl.
6. Mitglied des V. g. M. g. G., des Blauen Kreuzes, Vorsitzende des deutschen
Bundes abstinenter Frauen u. a. m.
7. Seit 24. November 1882 Anhängerin der gänzlichen Enthaltsamkeit. Ich unter¬
schrieb als Mitglied eines englischen Abstinenzvereins.
8. Ich war Augenzeuge der segensvollen Wirkungen der Enthaltsamkeitsbestrebungen
englischer Frauen und hielt dieselben nötig auch für unser Vaterland.
9. Ich bin seitdem konsequent abstinent geblieben.
10. Da ich mich stets guter Gesundheit zu erfreuen hatte, spürte ich nur länger
andauernde körperliche und geistige Frische und Leistungsfähigkeit, und erhöhte
Lebensfreudigkeit.
11. Zuerst Widerspruch, dann Zustimmung.
a) Durch Aufklärung wurden Vorurteile besiegt.
b) Viel Verspottung und fortwährendes Scherzen und Lächeln über die Abstinenz.
c) Manchen Freunden wird man unbequem, doch jetzt schon weniger als vor
10 Jahren.
12. ca. 50 oder 60 Mk. für mich und andere.
13. ca. 10 Mk. nur für sehr bejahrte Gäste, die der Mässigkeit angehören.
14. Seitdem ich 1882 abstinent wurde, bemerkeicheinen grossen Unterschied. Die
Abstinenz ist seitdem salonfähig geworden, durch konsequentes Festhalten an
derselben seitens der Abstinenten. Die Trinksitten scheinen mir nicht mehr so
rigoros in manchen Kreisen. Die Abstinenz hat vielen hohe Lebensfreudig¬
keit gebracht.
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Nr. 34. Freiherr von Pawel-Rammingen in Gotha.
1. Alexander Freiherr von Pawel-Rammingen.
2. geb. 30. Juli 1855.
3. Gotha (S.-G.).
4. Landwirtschaft (1875 — 87), Brauerei (1887 —1900), Land Wirtschaft (1900—1904).
5. Gymnasium Gotha, Schnepfenthal, Lyceum Bamberg. Polytechnikum Hannover
und Dresden, Universitäten Jena und Leipzig.
6. Nein.
7. Seit Juni 1903 enthaltsam.
8. Abscheu gegen allen Alkohol infolge Beobachtung bei Ausübung des Bauerei¬
berufs.
9. Keine.
10. a) Geistige Klarheit, Nervenstählung, seelisches Wohlbefinden, Lebensmut, Liebe
zur Arbeit.
b) Nerven-Abhärtung, Gewichtszunahme.
c) Arbeite jetzt ununterbrochen von früh bis abends ohne Ermüdung bei rein
geistiger Tätigkeit. Der Pessimismus weicht, die Ideale wachsen.
11. a) Mein ganzes Haus trinkt nur Wasser und fühlt sich glücklicher dabei als
je zuvor.
b) Siehe oben.
c) Der gesellige Verkehr wird durch die Enthaltsamkeit nach meinen Erfahrungen
eher gebessert als das Gegenteil.
d) Ebenso.
12. Circa 1000 Mk.
13. Null.
14. Würde zu weit führen, das Alles hier auseinandersetzen zu wollen.
Die Alkoholfrage. 22
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Nr. 35. Landgerichtsdirektor Buddee in Greifswald.
1. Karl Buddee, Greifswald.
2. geb. 4. Februar 1835.
3. Gross-Glogau (Schlesien).
4. Landgerichts-Direktor.
5. Gymnasialbildung usw., wie bei Juristen älteren Geschlechts selbstverständlich.
6. Mitglied des Vereins gegen Missbrauch usw. (Bezirksverein Stettin) und Einzel¬
mitglied des Alkoholgegnerbundes.
7. Enthaltsam seit Ende 1898. Früher pflegte ich alltäglich Bier oder Wein in
geringer Menge zu gemessen, doch bei Festen und in Gesellschaften zuweilen
ganz munter mitzutrinken.
8. Ein naher Angehöriger, den die studentischen Trinksitten sehr geschädigt und
der gänzlichen Entgleisung nahe gebracht hatten, musste sich zu einer Anstalts¬
kur entschliessen; die hierbei beratenden ärztlichen Autoritäten (u. a. Kraepelin)
empfahlen dringend zur besseren Aussicht auf Erfolg, das gute Beispiel in der
Häuslichkeit anzuwenden. Ich entschloss mich hierzu — nicht ohne inneres
Widerstreben.
9. Zweimal in den Sommerszeiten 1899 und 1900 habe ich auf ärztliche Verordnung
gegen akuten Darmkatarrh etliche Tage lang Rotwein getrunken, 1900 auch
weil beim ersten Anfall sich Herzscnwäche zeigte, minimale Gaben von
Kognak angewendet. Einen Reiz zur Fortsetzung übten diese Alkoholgaben
nicht mehr aus.
10. Die Folgen der Enthaltsamkeit waren in jeder Hinsicht vorzüglich.
Körperlich hat die Neigung zu Katarrhen abgenommen, der Verdauungs¬
apparat ist besser im Gange, als es seit der frühesten Jugend je der Fall
gewesen. Die geistige Leistungsfähigkeit hält viel besser aus, und auch die
Stimmung leidet nicht leicht unter dem Druck schwerer Arbeit. Früher erschien
mir Kraepelin’s Versicherung, er fühle sich als Abstinent viel genussfähiger, noch
schwer glaublich, jetzt bin ich längst derselben Meinung oder vielmehr habe
dieselbe Erfahrung gemacht. Die materiellen Genussmittel treten dabei mehr
zurück, obwohl feste, wie flüssige Nahrung, insbesondere auch frisches Obst,
Trauben, Südfrüchte, mit Behagen genossen werden, aber das Vergnügen an
geselliger Unterhaltung, Bewegung im Freien, Natur und Kunstgenuss, Lektüre,
freundliche Beziehungen haben sich wesentlich gesteigert.
11. Zwei erwachsene Söhne leben abstinent, die jüngeren Kinder trinken mit Vorliebe
Milch. Für Gäste wird Bier und Wein im Hause gehalten; mit der bestimmt
erklärten Entschliessung, dergleichen nicht mitzugeniessen, gibt sich jeder zu¬
frieden. Die Verwunderung über die Abstinenz Einzelner hat in den letzten
Jahren sich fast ganz verloren, und auch an öffentlichen Orten hat die Gelegen¬
heit, alkoholfreies Getränk zu erlangen, erstaunlich zugenommen.
Zu 12 und 13 habe ich nicht derartig Buch geführt, um Zahlen angeben zu können.
Der Wegfall des eigenen Alkoholbedarfs bildet eine erhebliche Ersparung.
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Nr. 36. Eisenbahnbeamter Curt Frege in Dresden.
1. Curt Frege, Dresden-Friedrichstadt.
2. geb. 13. Oktober 1867.
3. Freiberg in Sachsen.
4. Technischer Bureau-Assistent der Sächs. Staatsbahn.
5. Bürgerschule mit Selekta in Freiberg, 3jährige Praxis als Schlosser und Besuch
der Technischen Staatslehranstalten zu Chemnitz.
6. Nein.
7. Enthaltsam seit 31. Oktober 1901.
8. Lesen diesbezüglicher Schriften und Besuch von Vorträgen.
9. Etwa 2—3 mal in den 3 Jahren wurden bei ganz besonderen Festlichkeiten einige
Tropfen Wein mit Mineralwasser getrunken.
10. a) Nachteile wurden keinesfalls bemerkt.
b) Gegen früher erhöhter Drang nach geistiger Fortbildung.
c) Ruhigere Lebensanschauung und geringere Reizbarkeit.
11. a) Viel schöneres Familienleben als früher.
b) u. c) Mehrere Kollegen wollten mir, da ich nicht mehr Bier mittrinken wollte,
die Freundschaft kündigen, haben es aber bis jetzt noch nicht getan, d) vergl.zu 14.
12. Monatlich manchmal 30—40 Mk. (kann genau nicht mehr angegeben werden).
13. Für alkoholische Getränke keinen Pfennig.
Zu nd. Auf den im öffentlichen Leben oft gehörten Vorwurf, dass die Ent¬
haltsamen zu weit gehen, weil ein mässiges Glas Bier oder Wein niemals schade,
habe ich immer geantwortet: »Beweisen Sie mir erst einmal genau, wo die Mässig-
keit auf hört und wo die Unmässigkeit anfängt, dann wollen wir weiter darüber reden.«
Der Beweis ist aber niemals erbracht worden. Meine Ansicht geht dahin,
dass Alkohol die Energie lähmt. Wenn man zu dem Entschlüsse gelangt ist,
ernstlich an seiner Besserung arbeiten zu wollen, muss man mit der Selbstbeherrschung
und Bekämpfung irgend einer Schwäche oder Unsitte anfangen. Wer mit der Ent¬
haltsamkeit von alkoholischen Getränken beginnt, wird sehr bald merken, dass er
auch andere Schwächen und Fehler viel leichter überwindet.
Zu 14. Ich bin persönlich der Meinung, dass nach und nach diejenigen Dienst¬
zweige im Eisenbahnwesen, die mit besonderer Verantwortung verknüpft sind, z. B.
die Stellen der Lokomotivführer, Heizer, Zugführer, Bremser, Stationsbeamten des
äusseren Dienstes, der Weichenwärter etc. etc nur durch Abstinenten besetzt werden
sollten und ich glaube, dass sich diese Massnahme ohne besondere Härten ganz gut
durchführen liesse. Man braucht vorläufig nur bei Besetzung aller oben erwähnten
Beamtenstellen Umschau nach Abstinenten zu halten. Wenn dann bekannt würde,
dass der und jener teils wegen seiner sonstigen Fähigkeiten, teils aber auch
seiner Enthaltsamkeit wegen befördert worden ist, so würde dies wohl manchem
ein Ansporn sein, sich mehr als bisher mit der Alkoholfrage zu beschäftigen. Viele Be¬
amte würden, wenn die Enthaltsamkeit bei ihnen einkehrte, monatlich 30, 40 ja 50 Mk.
sparen bez. für bessere Sachen ausgeben können, sie würden zufriedener werden,
das Familienleben würde sich ganz anders gestalten, kurz und gut, mit der Erforschung
der Alkoholfrage würde ein grosser Teil der sozialen Frage von selbst gelöst werden.
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328 Vierteljahrscbronik über die Alkoholfrage.
Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
Chronik über die Monate Juli, August, September.
Das dritte Quartal des Jahres 1904 war, ebenso wie das zweite,
reich an wichtigen nationalen und internationalen Versammlungen, welche
entweder die Alkoholfrage selbst oder eng damit zusammenhängende
Fragen der Volksgesundheit erörterten. Als drei für unsre Zeitschrift
besonders wichtige Kongresse heben wir hervor i. den sechsten
nordischen Abstinenzkongress (für sämtliche skandinavische Staaten)
in Kopenhagen, der vom 6. bis 9. Juli tagte. 2., den zweiten deutschen
Abstinententag in Altona, der vom 16. bis 19. Juli 1904 stattfand
und 3., die 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins
gegen den Missbrauch geistiger Getränke, welche am 8. und
9. September 1904 in Erfurt abgehalten wurde. Ueber jeden dieser
drei wichtigen Kongresse sind in diesem Heft unserer Zeitschrift besondere
Berichte abgestattet und auch drei dabei gehaltene Vorträge von Prof.
Westergaardt, Pastor Haake und Lehrer Scharrelmann abgedruckt worden.
Als bedeutungsvoll für die deutschen Enthaltsamkeitsbestrebungen
erwähnen wir hier noch ausdrücklich die im Juli 1904 bei Gelegenheit
des zweiten Deutschen Abstinententages in Altona erfolgte Begründung
des »Allgemeinen deutschen Zentralverbandes zur Be¬
kämpfung des Alkoholismus«, welcher noch in diesem Jahr
eine chemische Zentralstelle für Untersuchung von Genussmitteln und
namentlich von angeblich alkoholfreien Getränken auf ihren etwaigen
Gehalt an Alkohol eröffnen will. Die Benutzung dieser Stelle soll jeder¬
mann gegen eine möglichst niedrig zu bemessende Gebühr freistehen.
Von weiterer Bedeutung für die gesamten internationalen Mässig-
und Enthaltsamkeitsbestrebungen, die mit den Sittlichkeitsbestrebungen
aufs engste Zusammenhängen, erscheinen uns ferner die Verhandlungen
der »Internationalen abolitionistischen Föderation«,
welche in den Tagen vom 22. bis 24. September 1904 in Dresden
ihren 6. Kongress abgehalten hat. Die sogenannte Internationale aboli-
tionistische Föderation, die wir als einen Weltbund zur Bekämpfung der
Unsittlichkeit bezeichnen möchten, hat das Verdienst, wiederholt auf die
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Vierteljahrschronik über die Alkohölfrage.
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komplexe Natur der geschlechtlichen Krankheiten mit dem Älkoholismus
hingewiesen und beide Uebel gemeinsam bekämpft zu haben. Sie tagte
in diesem Jahr zum ersten Mal auf deutschem Boden und hat in drei
Verhandiungstagen ein reichhaltiges Programm erledigt und hochinteressahte
Berichte von Delegierten aus England, Frankreich, Italien, Holland, der
Schweiz und Deutschland entgegengenommen. Die Verhandlungen wurden
von dem Präsidenten des Direktionsrats der Föderation, Prof. James Stiiart
aus Norwich, mit einer längeren Rede in englischer Sprache eröffnet
und betrafen folgende Hauptgegenstände: i. Die Verbreitung der aböli-
tionistischen Grundsätze in Deutschland, 2. Die Prostitution als straf¬
rechtliches Vergehen, 3. Den Neureglementarismus und 4. Die Rolle der
Krankenversicherung bei der Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten.
Es hat sich während der Tagung der Föderation gezeigt, dass
auch die heikelsten Fragen des öffentlichen Lebens mit Würde und
Anstand in Gegenwart beider Geschlechter besprochen werden können,
sobald nur die edeln und humanen Absichten der Veranstalter und Teil¬
nehmer eines Kongresses über alle Zweifel erhaben sind und die Ver¬
sammlungen mit Takt und Sachkunde vorbereitet und geleitet werden.
Am ersten Kongresstage hatte der Vorstand des* Kongresses Abends
sogar eine allgemeine Volksversammlung im grössten überfüllten Saale
des Tivoli veranstaltet, wobei die Grundsätze und Ziele der Föderation
von Holländern, Franzosen, Deutschen und Schweizern dargelegt wurden
und den Angehörigen der verschiedensten Nationen und ganz entgegen¬
gesetzter politischer, sozialer, naturalistischer und religiöser Richtungen
die Gelegenheit zur Begründung ihrer Anschauungen gegeben war und
vielseitig benutzt wurde. * Die Vorsitzende des deutschen Zweiges der
»Internationalen abolitionistischen Föderation«, Frau Katharina Scheven
aus Dresden, hielt gleich am ersten Kongresstage einen orientierenden
Vortrag über die Verbreitung der abolitionistischen Grundsätze in Deutsch¬
land und über die Aufgabe der Föderation, wobei sie nicht verfehlte,
auch auf den engen Zusammenhang der Prostitution und der geschlecht¬
lichen Verirrungen mit dem Alkoholismus nachdrücklich hinzuweisen.—
Dieser Zusammenhang war von der Rednerin schon auf der in Chem¬
nitz am 26. Juni 1904 abgehaltenen Jahresversammlung des sächsischen
Landesverbandes gegen den Missbrauch geistiger Getränke in ihrem
Vortrage über »den Kampf gegen den Alkoholismus, eine soziale Auf¬
gabe der Frau«, näher dargelegt worden. Es möge auf diesen Vortrag,
der in diesem Heft abgedruckt ist, hier noch besonders aufmerksam
gemacht werden.
Aus den inhaltreichen Verhandlungen, welche in Dresden am 22.,
23. und 24. September von der Internationalen abolitionistischen Föderation
gepflogen wurden, möchten wir noch einen Bericht über den akademi¬
schen Bund »Ethos« hervoiheben, welcher Satzungen, Leitsätze ünd
einen ersten Semesterbericht gedruckt vorgelegt hatte und durch seinen
Vertreter mitteilen liess, dass der Bund bereits 120 Mitglieder zähle
und seinen Sitz in Berlin sowie einen Zweigverein in Stuttgart habe.
Der Bund »Ethos« bezweckt nach § 1 seiner Satzungen »Die Förderung
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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einer vertieften und veredelten Auffassung des Geschlechtslebens, die
Läuterung der sittlichen Ehrbegriffe und den Kampf gegen die ge¬
schlechtlichen Ausschweifungen«. Nach § 2 betrachten es die Mitglieder
des Bundes als ihre Aufgabe, a) für die Keuschheit durch ihr Leben
und Wirken einzustehen, b) den Grundsatz der gleichen Moral beider
Geschlechter zu vertreten, c) ihre Kameraden vor schlechtem Einfluss
zu bewahren und Frauen oder Mädchen nach Möglichkeit vor Belästi¬
gungen zu schützen, d) rohe zweideutige Spässe und gemeine Reden
zu unterlassen und ihnen tunlichst entgegenzutreten, e) nach besten
Kräften aufklärend zu wirken.
Die Bestrebungen des akademischen Bundes »Ethos« können ebenso
wie die der akademischen Abstinenz-Vereine eine grosse Bedeutung für
die deutschen Sittlichkeits- und Mässigkeitsbestrebungen erlangen, wenn
sie, klug und energisch organisiert, auf allen Hochschulen festen Fuss
fassen und wenn der jugendliche Enthusiasmus, der vor hundert Jahren
einen Tugendbund der deutschen Studierenden zur Kräftigung im Kampf
gegen Napoleon ins Leben rief, recht lange aushält, um Körper und
Geist der deutschen Studierenden gegen die Gefahren des Alkohols und
der Prostitution zu schützen. Wenn die deutschen Hochschulen von
ihren Trinkunsitten und von geschlechtlichen Krankheiten geheilt werden,
so werden sehr bald auch weitere Volkskreise gesunden und unser
ganzes deutsches Volk für den internationalen Wettkampf ums Dasein
widerstandsfähiger und leistungsfähiger werden.
Das Interesse der deutschen Regierungen und Behörden für die
Mässigkeitsbestrebungen scheint im Wachsen begriffen zu sein und wird
durch mancherlei Massnahmen betätigt. Auf - der im September d. J.
abgehaltenen Erfurter Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke erörterte der Vertreter des preussischen
Kultusministeriums Geh. Regierungsrat Freiherr von Zedlitz die Gründe,
weshalb dem Anträge des Grafen Douglas auf Einsetzung einer Landes-
Alkoholkommission seitens des Kultusministeriums bisher nicht stattge¬
geben werden konnte, betonte aber die volle Geneigtheit der Staats¬
regierung, mit dien zweckmässigen Mitteln die Befreiung des Volkes
vom Alkoholismus zu fördern.
Ueber die weiteren »Erfolge des Kampfes gegen die
Trunksucht in Dänemark« hat der verdiente dänische Statistiker
Prof. Harold Westergaardt in einem Briefe an den Herausgeber dieser
Zeitschrift vom 19. Juli 1904 u. a. folgendes mitgeteilt:
Was die Trunksucht anbetrifft, ist in meinem Vaterlande eine merk¬
liche Veränderung eingetroffen. Vor 25 Jahren, als die Abstinenzbe¬
wegung in Fluss kam, war es fast ein Verbrechen, von den üblen
Wirkungen der geistigen Getränke zu reden, und der »Schnaps des armen
Mannes« war ein Heiligtum. Die Antialkoholbewegung zählt jetzt ausser¬
ordentlich viele Freunde und die Verteidiger der geistigen Getränke
haben nur dürftige Argumente zur Verfügung. Es war ganz kurios, die
achtungsvolle Sprache der Zeitungen bei dem Kongress wahrzunehmen,
welche früher behaupteten, dass die Trunksucht in Dänemark gar nicht
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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existiere, und den Kampf gegen den Alkoholismus nur als einen Kampf
gegen Windmühlen betrachteten. Die Antialkoholvereine zählen jetzt
wohl gegen iooooo Mitglieder, die vor wenigen Jahren emporge¬
kommenen christlichen Enthaltsamkeitsvereine allein
7000; -die letzteren sind namentlich in der Hauptstadt von grosser Be¬
deutung. Viele Arbeiter, die nicht in die Kirche gehen wollen, lassen
sich mit Freude in einen solchen Verein aufnehmen und allmählich wird
ihnen dann das Wort Gottes so gewaltig, dass sie sich bekehren.
Alkoholfrage und Sozialdemokratie im letzten Viertel=
jahre. Es werden alle möglichen Lösungen der sozialen Frage vor¬
geschlagen und angestrebt. Vor allem müssen natürlich Staat und Ge¬
meinde und die an ihrer Spitze stehenden Beamten durch gute Gesetze
und Vervvaltungsmassregeln beruflich für Sozialreform eintreten und
persönlich durch ihre ganze Lebensführung dem Volk ein gutes
Beispiel geben. Aber Staat und Gemeinde sind nicht die einzigen
öffentlich wirkenden Organe, mit ihnen müssen Schule, Kirche und
Vereine, Hand in Hand mit allen einzelnen Familienoberhäuptern und
mündigen Familiengliedern, auf erwachsene und jugendliche Staats¬
angehörige belebend und fördernd einwirken, um die Massen auf eine
höhere Kulturstufe emporzuheben. Mehr noch als Gesetze sind Sitten
und gute Gewohnheiten, vor allem einträchtiges gegenseitiges Helfen
entscheidend für die Zukunft eines Volkes. Gesetz und Recht sind erst
die kulturellen Blüten, welche aus langdauernden, allgemeinen Gewohn¬
heiten entstehen und nach und nach zu internationalen Gesetzen und
Menschenrechten sich umbilden und eine entsprechende Erfüllung von
Pflichten erheischen. Der moderne Arbeiterschutz beginnt, den Massen
der Völker ein internationales Arbeiterrecht zu gewähren. Nach und
nach streifen die Völker durch den innigen Weltverkehr auch manche
nationalen Unsitten ab und lernen feinere Sitten schätzen Es haben im
letzten Jahrzehnt auch auf deutschem Boden verschiedene internationale
Kongresse getagt, um innigere völkerrechtliche Beziehungen und inter¬
nationale Fortschritte anzubahnen, wir nennen den Bremer internationalen
Kongress gegen den Alkoholismus, den Düsseldorfer Kongress für
internationalen Arbeiterschutz, den Berliner internationalen Frauenkongress,
den Dresdner Kongress der internationalen abolitionistischen Föderation
zur Bekämpfung der Prostitution. Man hofft, durch alle diese Ver¬
anstaltungen bessere Rechtsanschauungen und Schutzmassregeln und
überhaupt grössere Mässigkeit, Enthaltsamkeit und Sittlichkeit unter den
Völkern zu verbreiten. Jedes einzelne Volk, jede einzelne Gemeinde
und Familie muss mit der Selbstzucht im eigenen Hause beginnen und
von den einzelnen Haushaltungen, aus auf andere Haushaltungen und Fami¬
lien helfend und fördernd einwirken. — Je weiter sich die modernen
Mässigkeits- und Sittlichkeitsbestrebungen verbreiten, um so leichter werden
sich auch die sozialen Fragen mit allen damit zusammenhängenden sozial¬
politischen und sozialdemokratischen Problemen lösen lassen.
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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Das eben abgelaufene dritte Quartal des Jahres 1904 hat der
Oeffentlichkeit belebte Verhandlungen auf dem internationalen Arbeiter¬
kongress in Amsterdam und auf dem Kongress der deutschen Sozialdemo¬
kratie in Bremen geboten. Für die deutsche Mässigkeits- und Sittlichkeits¬
bewegung erscheint uns besonders bedeutsam eine im September d. J. auf dem
Parteitage der deutschen Sozialdemokratie in Bremen fast einstimmig ange¬
nommene Resolution, welche folgendermassen lautet:
»In Anbetracht der ungeheuren Schädigungen, die der Alkohol
der Arbeiterschaft verursacht, indem er insbesondere zu einem grossen
Hindernis für die Verwirklichung unserer Ziele wird, hält es der
Parteitag im Interesse des Fortschreitens unserer Bewegung für un¬
bedingt erforderlich, den Alkoholmissbrauch in der Arbeiterschaft zu
bekämpfen. Er fordert daher alle Parteigenossen auf, die Arbeiter
noch mehr als bisher auf die Gefahren des Alkoholgenusses auf¬
merksam zu machen.«
Ein weiterer Antrag, die Alkoholfrage auf die Tagesordnung des
nächsten Parteitages zu setzen, wurde dem Parteivorstand zur Erwägung
überwiesen. Mit diesen beiden Beschlüssen ist ein Fortschritt erreicht,
den die Freunde der Mässigkeit und Enthaltsamkeit schon seit Jahren
angestrebt haben, und es bleibt nur zu wünschen, dass auch andere
Parteien auf diesem Wege nachfolgen werden. Vielleicht erleben wir
noch die Zeit, wo sich Abstinenten aus allen Parteien über die
trennenden Schranken der Parteiprogramme hinaus zur Bekämpfung des
gemeinsamen Feindes brüderlich die Hand reichen werden. Allen
Teilnehmern des Internationalen Kongresses gegen den Alkoholismus,
der im April 1903 in Bremen tagte, wird es noch in frischer Erinnerung
sein, wie der dänische Delegierte, Pastor Dalhoff von den Erfolgen der
Alkoholgegner in Dänemark berichtete, Erfolge, die er nicht zum
wenigsten dem Umstande zuschrieb, dass der sechste Teil der Abge¬
ordneten des dänischen Parlaments abstinent sei. Uns will scheinen,
als ob ein gut Teil Gehässigkeit aus unserem politischen Parteileben
verschwinden würde, wenn die politischen Parteiführer zugleich energische
Bekämpfer des Alkoholismus in jeder Gestalt und auch an ihrem
eigenen Leibe würden. Das Volk, dessen Bestes doch alle w r ollen,
würde dadurch gewiss keinen Schaden leiden. Der Alkoholismus im
Parteileben, mag er in der Form von sozialdemokratischen Parteifesten
oder von Kriegervereinsfesten auftreten, erzeugt eben einen Zustand
alkoholischer Massenerregung, der die Gemüter der Beteiligten wie mit
einem Nebelschleier verhüllt, sodass sie auch das Berechtigte an den
Bestrebungen und Forderungen der Gegner nicht erkennen.
Die Bedeutung der Beschlüsse des neuesten sozialdemokratischen
Parteitages liegt hauptsächlich darin, dass nunmehr die Freunde der
Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbestrebungen innerhalb der Partei offen
das Wort ergreifen können, und es fehlt glücklicher Weise auch in der
sozialdemokratischen Presse nicht daran. Bisher war bekanntlich der
Standpunkt der Partei der eines unfruchtbaren »Alles oder Nichts«. Der
Alkoholismus wurde als notwendige Folgeerscheinung des Kapitalismus
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
333
betrachtet und man stellte sich so, als ob man glaube, er werde mit
dem nahe bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus von selbst
verschwinden. Bis dahin wollte man seinen behaglichen Schoppen selber
nicht missen, und allzu grosse Heisssporne für die Sache der Mässigkeit
wurden wohl von einzelnen Parteiführern mit dem auch in bürgerlichen
Kreisen nicht unbekannten »überlegenen« Humor abgefertigt. Es fehlte
auch nicht an Spötteleien über die Alkoholgegner im bürgerlichen Lager,
die selbst gern ihr gutes Schöppchen tränken und dem Arbeiter seinen
Schnaps nicht gönnen wollten. Ja, man suchte wohl gar den Missbrauch
des Alkoholgenusses mit der traurigen Lage der arbeitenden Bevölkerung
zu entschuldigen, was tatsächlich nur auf eine indirekte Empfehlung,
mindestens auf einen haltlosen Quietismus hinauslief.
Damit ist es nun vorbei. Weder der Humor, noch die Ver¬
tröstung auf den nahen Zukunftsstaat wollen mehr verfangen. Es ist
eben jetzt weiten Kreisen der Bevölkerung, und nicht nur solchen im
bürgerlichen Lager, bitterer Ernst mit ihrem Kampf gegen den Alkohol
geworden. Gerade in Bremen konnte man sehen, welche leidenschaft¬
liche Erregung die Massen bei dieser Frage ergreifen kann. In den
Volksversammlungen, sowohl im vorigen wie in diesem Jahre, kam es
zu scharfen Angriffen auch gegen die Parteiführer, die dieser Sache lau
gegenüberständen.
Die Sozialdemokratie hat rasch begriffen, dass sie einlenken
müsse, wenn sie nicht die Macht über die Massen einbüssen wolle.
Es ist ihr hier genau so gegangen, wie in der Frage der Gewerk¬
schaften, die sich in ihrem Kampfe für wirtschaftliche Besserstellung
auch nicht mit dem nahen Kladderadatsch trösten lassen wollten.
Allerdings darf man die Bedeutung der neuesten in Bremen gefassten
Beschlüsse nicht überschätzen. Der Alkoholismus ist überhaupt nicht
mit Kongressbeschlüssen aus der Welt zu schaffen, dazu bedarf es einer
unausgesetzten Kleinarbeit, einer sittlichen Gesundung des Volkskörpers.
Auch von einer Verhandlung auf dem nächsten Parteitage, wenn eine
solche überhaupt stattfinden sollte, wird man sich wenig versprechen
dürfen. Die grosse Mehrheit der Delegierten stand der Frage offenbar
ohne grosses Interesse gegenüber und unter diesen Umständen werden
die wenigen aufrichtigen Alkoholgegner vor tauben Ohren predigen.
Man würde zu einer allgemein gehaltenen Resolution gelangen, die sich
wenig von der diesmaligen unterscheiden dürfte. In dieser Hinsicht
wäre es vielleicht besser, wenn die Diskussion auf einige Jahre ver¬
schoben worden wäre. Bis dahin wird die nunmehr durch den Partei¬
beschluss den Genossen geradezu zur Pflicht gemachte Agitation gegen
den Alkoholmissbrauch ihre Früchte getragen haben.
Welche Wirkung die Beschlüsse jetzt schon gehabt haben, mag an
einem Beispiel aus dem Organ der bremischen Sozialdemokratie, der
Bremer Bürger-Zeitung, gezeigt werden. In einer öffentlichen Abstinenten¬
versammlung hatte der Genosse Katzenstein, der auch auf dem Parteitag
mit tiefem, sittlichen Ernst für die Abstinenz eintrat, die Bemerkung
gemacht: »Wer den Alkohol bekämpft, bekämpft das soziale Elend«.
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334
Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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Hierzu schrieb die Zeitung am 27. September in ihrem Bericht über
die Versammlung in Parenthese folgendes: »Doch wohl nur einen ver¬
schwindend kleinen Teil des sozialen Elends. Er erreicht aber meist
recht wenig. Wer aber das soziale Elend bekämpft, bekämpft zugleich
den Alkoholismus mit weit besserem Erfolge.« In der Nummer vom
4. Oktober berichtete dieselbe Zeitung folgendes:
„Ein Drama des Alkoholismus.
Ein guter Parteigenosse, ein vortrefflicher Kamerad, ein zärt¬
licher Familienvater ist am Sonnabend als ein gebrochener Mann
in Berlin vor den Strafrichtern erschienen; aber die Sympathie
seiner Genossen hat ihn nicht auf die Anklagebank begleiten können,
die so oft schon die Stätte stürmischer Triumphe für die Arbeiter¬
bewegung gewesen ist. Denn für Paul Winzler, der sich mit seinem
Bruder Gustav und seinem Kollegen Pape, wegen Körperverletzung,
Angriffe auf Beamte und Misshandlung zu verantworten hatte, kann es
nur Worte des Mitleids, aber keine der Rechtfertigung geben. Am
Pfingstmontag d. J. hatten sich die unglückseligen Drei unter den Folgen
eines alkoholischen Exzesses zu sinnlosen und widerwärtigen Aus¬
schreitungen hinreissen lassen, die den völlig unverschuldeten Tod eines
pflichttreuen Beamten zur Folge hatten. Paul Winzler, der in seiner
Jugend eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte, der kein Trinker ist
und nach der Tagesarbeit im Studium seine Nerven anspannte, gehört offen¬
bar zu jenen Individuen, die an vollkommener, sog. »alkoholischerIntole¬
ranz« leiden; der überreiche Genuss vonBier hatte sein sonstiges Wesen in sein
gerades Gegenteil verkehrt, der ernste pflichttreue Mensch erschien plötzlich
als ein leichtfertiger Gassenjunge und gewalttätiger Raufbold. Das Unglück
wollte es, dass einer der Beamten, ein Familienvater, an Herzschwäche
litt und an den Folgen der erlittenen Angriffe starb. Der Gerichtshof
hielt es nicht für erwiesen, dass der kranke Beamte durch die ihn zu¬
gefügten Verletzungen getötet worden sei, gleichwohl verurteilte er die
beiden Hauptschuldigen, Paul und Gustav Winzler zu 4 Jahren Gefängnis,
Pape zu 6 Monaten Gefängnis.
Vier Familien sind dauernd oder auf lange Zeit hinaus ihrer
Ernährer beraubt! Ein unschuldiger Mensch tot, drei sonst treffliche
achtbare Leute in ihrer Ehre und in ihrem Ansehen unheilbar geschä¬
digt! Und das alles um ein Nichts, sinnlos, zwecklos, nutzlos — ein
Triumph der Unvernunft über Menschenlehre und Menschenehre!
Das Zeugnis, das dem unseligen Winzler von allen Seiten über¬
einstimmend erteilt wurde, macht die Absichten der Scharfmacherblätter
zu schänden, die schon vor der Verhandlung unanständig genug waren, den
traurigen Fall gegen die Sozialdemokratie ausspielen zu wollen. Es ist
offenbar geworden, dass Paul Winzler, so wie man ihn kannte, seiner
Vertrauensstellen vollkommen würdig war, würdiger ganz gewiss als die
Arenberg, Brüsewitz, Hüssener, Stietencron, Stollberg, Hollmann usw.
ihrer einstigen militärischen Ehrenstellen. Nicht für die Partei ist der
Fall Winzler ein Menetekel, wohl aber für alle einzelnen ist er eine
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Vierteljahischronik über die Alkoholfrage.
335
eindringliche Aufforderung zum Kampfe gegen den furchtbaren Massen¬
mörder : A 1 k o h o 1 !«
Die Vereine der abstinenten Arbeiter, die allerdings an Zahl noch
weit hinter den Guttemplern und Blaukreuzlern zurückstehen, rüsten sich
an allen Orten. Zur Zeit veröffentlichen sie in sozialdemokratischen Blättern
unter Berufung auf die Beschlüsse des Parteitages folgenden Aufruf:
Arbeiter! Parteigenossen! Der »Deutsche Arbeiter-Abstinenten-
Bund« hat bereits weit über iooo klassenbewusste Proletarier und
Proletarierinnen in zirka 70 Orten Deutschlands unter dem Banner der
Bekämpfung des Alkoholismus — als eines der gefährlichsten Auswüchse
des Kapitalismus — vereinigt. Wenn ihr dazu beitragen wollt, unzählige
eurer Klassengenossen den Fesseln des Alkohols zu entreissen und da¬
durch zu klareren Mitstreitern im Klassenkampfe zu machen, dann unter¬
stützt die idealen Ziele des deutschen Arbeiter-Abstinenten-Bundes.
Unser Agitations-Fonds ist noch klein! Daher haben wir bisher
nicht so erhebliche Lebenszeichen zu geben vermocht, wie wir gern
gewollt hätten. Das soll und muss jetzt anders werden. Jede Gabe, auch
die kleinste, wird gern entgegengenommen. Der Bundeskassierer Wilhelm
Giehm, Berlin SO. 36, Ratiborstr. 16, quittiert darüber öffentlich in »Der
abstinente Arbeiter«, Organ des Deutschen Arbeiter-Abstinenten-Bundes.«
So dürfen wir den diesjährigen Parteitag der Sozialdemokratie als
einen Merkstein in der Geschichte des Kampfes gegen den Alkoholismus
bezeichnen, wenn auch der Inhalt der Verhandlungen selbst ohne grosse
Erheblichkeit war. Hieran waren übrigens nicht diejenigen Delegierten
schuld, die gegen den Alkoholismus auftraten, sondern der Umstand,
dass der Alkoholismus selbst nicht den Gegenstand der Verhandlungen
bildete. Erfreulich war für den Alkoholgegner die Beobachtung, dass
sich keiner der Delegierten während der langwierigen Verhandlungen des
Parteitags Bier bringen liess. Dagegen war die Balustrade der Galerien,
auf denen sich das vorzugsweise aus Parteigenossen bestehende Publikum
befand, schon am Morgen mit Biergläsem geradezu garniert. Eine be¬
zeichnende Illustration für die Notwendigkeit einer energischen Agitation!
Wann wird endlich das Bierglas aus unseren öffentlichen Versammlungen
verschwinden? - N. N.
Die Sonderausstellung über den Alkoholismus in Char¬
lottenburg, Frauenhoferstr. 12 (im Gebäude der ständigen Ausstellung für
Arbeiterwohlfahrt, 5 Min. vom »Knie«) hat für die Wintermonate ein neues
Kleid angelegt. Es sind u. a. neu ausgestellt Tafeln über den Zusammenhang
zwischen Alkohol und Ernährung, Alkohol und Verbrechen, Tabellen über
die Unfallhäufigkeit an den einzelnen Wochentagen und Tagesstunden. Auch
sind die Tabellen über das Verhältnis des Konsums von Spiritus einerseits
als Trinkbranntwein, andererseits zu technischen Zwecken sehr lehrreich.
Die Ausstellungs-Bibliothek, welche vom 1. Oktober er. dem Publikum zur
Verfügung steht, enthält die wichtigsten einschlägigen Werke und gibt ein
gutes Bild über den gegenwärtigen Stand des Kampfes gegen den Alkohol.
Besuch der Ausstellung und Benutzung der Bibliothek ist unentgeltlich. Weitere
Auskunft wird erteilt von Herrn W. Miethke, Berlin NW. 87, Rostockerstr. 38,
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II. Besprechungen.
Tr ^DQr r ö
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, einschliess¬
lich Rassen- und Gesellschaftshygiene. Zeitschrift für die Erforschung
des Wesens von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Ver¬
hältnisses, für die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Ent¬
wickelung, sowie für die grundlegenden Probleme der Entwickelungslehre.
Herausgegeben von Dr. med. Alfred Ploetz (Schlachtensee) in
Verbindung mit Dr. Hermann Friedmann, Dr. jur. A. Nordenholz und
Professor Dr. Ludwig Plate.
Infolge eines bedauerlichen Versehens in der Druckerei ist bei
unserer Besprechung dieser vortrefflichen Zeitschrift im letzten Heft der
Alkoholfrage der unkorrigierte Satz zum Druck gelangt. Der Druckfehler¬
teufel hat die Zeitschrift zu einem Archiv für Rassen- und Geschlechts¬
biologie statt Gesellschaftsbiologie und den Herausgeber, den
durch sein Referat auf dem Bremer internationalen Kongress auch
unseren Freunden wohlbekannten Dr. Ploetz-Schlachtensee zu einem
Dr. Plock gemacht. Wir ergreifen die Gelegenheit, mit der Berichtigung
des Irrtums einen erneuten Hinweis auf das Archiv für Rassen- und
Gesellschaftsbiologie zu verbinden. Die weiteren Hefte der Zeitschrift
haben die Erwartung, die wir ausgesprochen haben, durchaus erfüllt und
auf die fundamentale Bedeutung, die dem Alkoholismus auch in Bezug
auf Rassenfrage zukommt, in mehreren lesenswerten Abhandlungen hin¬
gewiesen. Leider können wir wegen Raummangel auf die Einzelheiten
nicht näher eingehen, behalten uns aber vor, darauf bei gelegener Zeit
zurückzukommen. Dr. B.
Gesundheits- und Mässigkeitslehre in den Schulen.
Von 14718 einregistrierten praktischen Aerzten in England ist der
Zentral-Erziehungsbehörde (Board of Education) eine Petition überreicht
worden, welche verlangt, dass im Laufe der Schulzeit, sowohl in den
elementaren als höheren Schulen, die Kinder unterrichtet würden über
die Bedeutung der allgemeinen Reinlichkeit, der reinen Atmungsluft,
der Ernährung und der Getränke. Die Petition wurde dem Lord London-
derry, dem Präsidenten des Erziehungsrates, von einer Deputation der
hervorragendsten Mitglieder der Aerzteschaft des vereinigten König¬
reiches am ix. Juli d. J. überreicht. Die Petenten bemerkten, dass sie
wohl wüssten, dass in den Schulen die Gesundheitslehre jetzt mehr als
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Besprechungen.
337
früher gelehrt würde; sie verlangen aber, dass es regelmässiger und in
früherem Alter der Kinder als bisher geschehen solle. Die Schulkinder
sollten eingehender über die Wirkungen des Alkohols auf Körper
und Geist unterrichtet werden und deshalb sei es dringend notwendig,
dass die Lehrer selbst einen tieferen Unterricht in der Mässigkeits- und
in der Gesundheitslehre genössen. Die Deputation wurde dem Lord
Londonderry vpn Dr. Forguardson, dem Vorsitzenden der »Kommission für
öffentliches Gesundheitswesen« im Hause der Gemeinen zugeführt. Der
erste Redner, Sir William Broadbent, betonte ganz besonders den Wunsch
der Aerzte nach einer Vermehrung und nach einer frühzeitigeren Er¬
teilung des Unterrichts in der Hygiene und Mässigkeit. Dr. Griffiths,
Präsident der Britischen medizinischen Gesellschaft (British Medical
Association) bezog sich auf eine von dem Vorstande dieser Gesellschaft
im letzten Januar gefasste Resolution, welche als praktische Massnahme
gegen den physischen Rückgang der Nation, das Hauptgewicht auf die
Erziehung des Volkes zur Mässigkeit legte. Sir Thomas Barlow meinte,
dass die richtige Belehrung des Volkes über die erwähnten Fragen sich
bald in den Wirkungen auf die gesundheitliche und soziale Wohlfahrt
der Nation zeigen würde. Dr. Hutchinson, Parlamentsmitglied und
Mitglied der Public Health Committee, bemerkte, dass diese Bewegung
im Hause der Gemeinen Anklang finden werde, weil die Aerzte ihre
Mitwirkung zusicherten. Professor G. Sims Woodhead betonte die
Wichtigkeit der vorgetragenen Angelegenheit und verlangte eine eingehende
Berücksichtigung derselben seitens der zentralen Erziehungsbehörde. In
ähnlichem Sinne sprachen sich auch andere Mitglieder der Deputation,
hervorragende Führer der britischen Aerzte, wie Sir Lauder Brun ton,
Sir Victor Horsley, Dr. Scharlieb, aus. Es wurde auch auf die Be¬
schlüsse des internationalen Kongresses für Schulhygiene in Nürnberg
hingewiesen, und mit besonderem Nachdruck der Wunsch der Aerzte-
schaft hervorgehoben, dass der Unterricht in den Grundsätzen der
Gesundheitslehre und der Temperenz ein allgemeiner, obligatorischer
Elementar-Unterrichtszweig sein, und dass die Lehrerschaft in diesen
Lehren ganz besonders herangebildet werden müsse.
Lord Londonderry erklärte in seiner Erwiederung, dass der Gesund¬
heitsrat die volle Absicht habe, den Wünschen der Deputation entgegen
zukommen. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass eine genügend vor¬
gebildete Lehrerschaft bis jetzt noch nicht vorhanden sei, und dass es
mithin die erste Sorge des Erziehungsrates sein müsse, eine solche
Lehrerschaft heranzubilden. Man dürfe jedoch vertrauen, dass die
Anstrengungen nach dieser Richtung hin das gewünschte Resultat bringen
würde. Er wies darauf hin, dass eine andere kompetente Kommission
beschäftigt gewesen sei, die Ursache der angeblichen Verschlechterung
der körperlichen Tüchtigkeit der Nation zu ermitteln. Er hoffe, dass die
Tätigkeit, welche der Erziehunesrat in Beziehung auf den Unterricht in der
Gesundheitslehre entwickelt habe, sich ausreichend erweisen werde, um
die richtige Lösung der Frage zu finden. # Er gab der Deputation die
Versicherung, dass die Erziehungsbehörde die hohe Bedeutsamkeit der
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Besprechungen.
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Petition wohl zu würdigen wisse und sich der ihr obliegenden Verant¬
wortlichkeit für die Erziehung eines körperlich und geistig tüchtigen
Geschlechts voll bewusst sei.
(Lancet, 1904, Juli.) Dr. Baer, Berlin,
Ueber den Alkoholgenuss bei den amerikanischen
Arbeitern. In dem soeben erschienenen Werke von Paul Dehn:
»Weltwirtschaftliche Neubildungen« (Berlin 1904) ist in dem Kapitel:
»Was wir von Amerika lernen können«, auch der ausserordentlichen
Mässigkeit resp. Enthaltsamkeit der amerikanischen Arbeiter gedacht,
welche dieselben so leistungsfähig macht. Es heisst da (S. 227):
»Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Bekämpfung
des Alkoholgenusses, wie sie in Nordamerika vielfach mit grosser Strenge
erfolgt. So ist z. B. in den Kadettenanstalten den jungen Leuten bis
zu 22 Jahren jeder Alkoholgenuss, auch jeder Biergenuss unbedingt
verboten, und wird mit Entlassung bestraft. In den Schiffskantinen der
Marine dürfen alkoholische Getränke nicht verabreicht werden. Einige
Eisenbahngesellschaften haben die Abstinenz zur unerlässlichen Bedingung
für die Anstellung von Beamten gemacht, andere bevorzugen wenigstens
Beamte, die sich des Alkoholgenusses enthalten. Aehnlich wird in der
Industrie verfahren.
Ein hervorragender Vertreter der Elektrotechnik in Nordamerika
sprach mit einem Mitarbeiter an der »Marine - Rundschau« über die
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie gegenüber der nordameri¬
kanischen und äusserte dabei, die erste Bedingung für die Konkurrenz¬
fähigkeit Deutschlands sei das Verbannen des Alkohols aus den Werk¬
stätten. Der betreffende nordamerikanische Industrielle war auch an
einer Fabrik in Deutschland beteiligt. In dieser Fabrik verbot man das
Mitbringen alkoholischer Getränke in den Werkstätten. Viele Arbeiter
gingen deshalb, konnten aber leicht ersetzt werden und nun erfreut sich
die Fabrikleitung wenigstens der Dankbarkeit der Arbeiterfrauen, die
mit einem Schlage ganz anders dastanden. Tatsächlich ist der Alkohol¬
verbrauch in Nordamerika weit geringer als in Europa. Auf den Kopf
der Bevölkerung entfielen in Frankreich 16,1 Liter 100 prozentiger
Alkohol jährlich, in Deutschland 11,2, in England 9,2, in den Verei¬
nigten Staaten aber nur 6 Liter. Der Nordamerikaner nimmt annähernd
nur 1 / 4 soviel Alkohol zu sich als der Deutsche, ist also nüchterner,
und auf diesem Umstand beruht ein nicht unwichtiger Faktor der nord¬
amerikanischen Ueberlegenheit. Erstaunlich gross ist in der Union die
Zahl derjenigen Arbeiter, die alkoholische Getränke nicht mehr geniessen.
In den nordamerikanischen Fabrikordnungen wird der Genuss geistiger
Getränke nicht erst verboten, weil die Arbeiter es als selbstverständlich
erachten, während des Arbeitstages keine Spirituosen mehr zu geniessen.
Dr. Hoppe.
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Besprechungen.
339
Der Bieralkoholismus unter den Deutsch-Amerikanern.
Die wichtigen Bemerkungen Dr. W. A. Stilles in Leipzig über den Bier¬
alkoholismus unter den Deutsch-Amerikanern (in dieser Viertel¬
jahrsschrift Heft 2, 1904 S. 198) haben in der Presse der letzteren
viel Missvergnügen hervorgerufen. Die in Milwaukee erscheinende
„Germania-Abendpost“ vom 29. Juli 1904 nennt sie „dummen Quatsch“,
und schreibt: „Der ganze Aufsatz bekundet das Bestreben, den Deut¬
schen Amerikas eins auszuwischen und strotzt von Übertreibungen und
Entstellungen“. Aber das ist noch gar nichts gegen die Abkanzelung
unserer Vierteljahrsschrift und Dr. Stille’s durch das in Texas (San
Antonio) erscheinende Donnerstagsblatt „Texas - Banner“ vom 25. August
1904. Es heisst darin u. A.:
„In dem jetzt vorliegenden zweiten Vierteljahrsheft der Zeitschrift
„Die Alkoholfrage“ findet sich eine freche und empörende Beleidigung des
amerikanischen Deutschtums und zwar geht dieselbe von einem Deutschen aus,
der angeblich, „früher lange Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hat und
daher die dortigen Verhältnisse im allgemeinen und die der Deutsch-Amerikaner
im speziellen ganz genau kennt.“ Wenn das überhaupt wahr ist, dann ist
die Beleidigung nur eine um so ärgere und frechere, da der Manu dann wissen
musste, dass er der Wahrheit keck ins Gesicht schlägt und dass er selbst da,
wo seine Ausführungen einen Schimmer von Berechtigung enthalten, in der
wahnwitzigsten und masslosesten Art und Weise übertreibt.
Der bewusste Mann heisst Dr. Werner Stille. Er wohnt jetzt in Leipzig,
wo er als Naturwissenschaftler wirkt. Dieser Dr. Stille schreibt in der „Alkohol¬
frage“ über: „Das Bier in den Vereinigten Staaten von Nord - Amerika“, und
zwar speziell über „die volksschädigendeu Einflüsse des gewohnheitsmässigen
Biergenusses“, und zwar „auf Grund eigener Beobachtungen“. Wohlgemerkt:
Dr. Stille schreibt nicht etwa über die Folgen des übertriebenen oder un-
mässigen Biergenusses, sondern des „gewohnheitsmässigen“. Ganz nach ameri¬
kanischer Prohibitionisten - Art fängt man also drüben an, auch dem mass-
vollen Genüsse des Bieres — des gesunden und kräftigenden und dabei leichten
deutschen Bieres mit seinem geringen Alkohol-Gehalte — den Krieg zu er¬
klären! Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten?
Dr. Werner Stilles Ausführungen sind aber für uns Deutsch-Amerikaner
nicht nur von allgemeiner symptomatischer Bedeutung, sondern sie gehen uns
ganz direkt etwas an, sind sie doch die unverschämteste Verleumdung
der Deutsch-Amerikaner, welche dieselben sich jemals bieten lassen
mussten.“ „Wenn nun Stilles prohibitionistische Ausschleimung auf Dr. Böhmerts
Wassersimpel - Fachblatt beschränkt geblieben wäre , das wohl so ziemlich
„unter Ausschluss der Oeflfentlicbkeit“ erscheint, hätte man die Sache auch
noch hingehen lassen können; allein fast die gesamte Presse Deutschlands
druckte dieselbe ab — entweder ganz ohne Kommentar, oder noch mit solchen
wohlmeinenden Hinweisungen, wie das beispielsweise die doch sonst so tüchtig
redigierte liberale „Danziger Zeitung“ lut, indem sie meinte, dass Dr. Stille
die betieffenden Verhältnisse in den Vereinigten Staaten „in recht origineller
und anschaulicher Weise geschildert habe“. Dass in Bezug auf literarische
und wissenschaftliche Bestrebungen unter den Deutschen der Vereinigten Staaten
etwas mehr geschehen könnte, als in Wirklichkeit geschieht, mag ruhig zu¬
gegeben werden, aber von da an bis zu der Behauptung, dass .alle geistigen
Bestrebungen unter den Deutschen Amerikas in Bier ersäuft würden“, ist denn
doch noch ein himmelweiter Weg, den keck zu überspringen, nur jemand
fertig bringen konnte, der es mit der Wahrheit nicht genau nimmt.“
„Eine bodenlose Gemeinheit und eine erstunkene Lüge des Herrn Dr.
Weiner Stille ist es, wenn er frischweg behauptet „dass die deutschen Kinder
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Besprechungen.
in den Schulen der grossen amerikanischen Städte als etwas dumm gelten“.
„Uebrigens sollte sich die gesamte deutsche Presse — soweit sie
die Auslassungen Stilles kritiklos und widerspruchslos oder gar noch mit
hämischer Schadenfreude nachgedruckt hat — ein wenig schämen, aber ja
nicht zu wenig! Wenn man sich mit dem r Deutschtum im Auslande“ nicht
anders befassen kann als es zu verleumden und zu blamieren, dann lasse man
es lieber ganz in Ruhe !“
Die Redaktion bemerkt zu den im vorstehenden abgedruckten An¬
griffen deutschamerikanischer Zeitungen, dass es dem Herrn Dr. Stille
durchaus fern lag, dem Deutschtum im Auslande Untugenden vor¬
werfen zu wollen, die dem Deutschtum im Inlande fremd sind. Ihm kam
es lediglich darauf an, auf Grund 40 jähriger Anschauung einen Ver¬
gleich anzustellen zwischen den in den Vereinigten Staaten bei einander
lebenden Amerikanern und Deutschen. Dass ein solcher Vergleich ge¬
rade in bezug auf den gewohnheitsmässigen Biergenuss und seine Folgen
sehr zu Ungunsten der Deutschen ausfällt, ist doch wahrhaftig nichts
neues. Wir erinnern nur an die berühmte, nunmehr bereits seit 30
Jahren fortlaufend erhobene Krebsstatistik der Stadt Buffalo, welche er¬
gibt, dass die dortigen Deutschen verhältnismässig gerade 10 mal so
häufig an Magenkrebs sterben als die in Buffalo lebenden ungefähr ebenso
zahlreichen Amerikaner*), ein Unterschied, der von Statistikern und
Aerzten lediglich auf den übermässigen Biergenuss der Deutschen Buffalos
zurückgeführt wird. Dass der reichsdeutsche Bierdurst dem deutsch¬
amerikanischen wahrscheinlich nichts nachgibt, lehrt neben der Bier¬
konsum-Statistik das Urteil des Auslandes. In welchem französischen
oder englischen Witzblatt würde denn der Deutsche anders dargestellt
als mit aufgeschwemmtem Gesicht und dickem Bauch? Die zutreffen¬
den Bemerkungen Mrs. Anthony’s über das Aussehen der biertrinkenden
Deutschen, deren Bekanntschaft ihr der Berliner Frauenkongress ver¬
schaffte, sind noch in frischer Erinnerung. Wegen dieser Bemer¬
kungen fiel man in Deutschland wie in der deutschen Presse Amerikas
mit der ganzen Wut gereizter Alkoholiker über die ehrwürdige Vor¬
kämpferin idealer Bestrebungen her. Unser nicht minder ideal gesinnter
bewährter Mitarbeiter Herr Dr. Stille kann sich also mit ihr trösten.
Auch mit der Meinung, dass die Deutschen in den Vereinigten Staaten
bei ihrem Materialismus aller höheren Interessen bar sind, steht er nicht
vereinzelt da. Dr. Julius G o e b e 1 , Professor der deutschen Philologie
und Literatur an der Hassford - Universität in Kalifornien, nennt sie
»geistig tot« und »elende Knauser« im Vergleich zu den durch gross¬
artiges Bildungsstreben und fürstliche Freigebigkeit ausgezeichneten
Amerikanern. (Goebel, das Deutschtum in den Vereinigten Staaten
München 1904, J. F. Lehmann.)
*) Third Annual Report of the New-York State Pathological Laboratory of
the University of Buffalo. For tbe Year lyOO. Albany, James B. Lyon, State printer,
1901. p. 116.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. Viktor Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18.
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18.
Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul.
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v Gck »gle
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I. Abhandlungen.
Alkoholsitte and Opinmsitte.
Eine vergleichende Studie von Dr. med. A. Holitscher in Pirken-
hammer bei Karlsbad.
Die gegenwärtig noch sehr verbreiteten Vorurteile über
den Alkohol sind etwa die folgenden: 1. Unschädlichkeit bei
mässigem Genüsse; 2. Nützlichkeit als nährendes, wärmendes,
kräftigendes Mittel; 3. Heilkraft bei allen möglichen Krankheiten,
die ihn zu einem der weitverbreitetsten Hausmittel gemacht hat;
4. Die Ansicht, dass seine Erzeugung aus volkswirtschaftlichen
Gründen unentbehrlich sei und dass der allgemeine Wohlstand,
Ackerbau und Industrie durch Abschaffung seines Genusses
ungeheuer geschädigt würden.
Würde man bei uns zu Lande irgend Jemandem, Arzt oder
Laie, gebildet oder nicht, die Frage vorlegen, ob er Opium,
mässig genossen, für einen unschädlichen Stoff halte, der kräftigt,
nährt und verschiedene Krankheiten heilt, ob man es also der
Bevölkerung frei zum Kaufe anbieten und als Hausmittel em¬
pfehlen solle, so würde er diese Frage für lächerlich und ganz
undiskutierbar erklären und Opium als heftiges Gift in den
Sperrschrank der Apotheke verweisen. Und doch denken ein
paar Hundert Millionen Menschen, darunter sehr Hochstehende
und Gebildete, vom Opium gerade so gut und so falsch wie die
europäischen Kulturvölker vom Alkohol.
In Indien wird, wie allgemein bekannt, seit Jahrhunderten
dem Opiumgenusse gehuldigt. Ungeheure Bodenflächen stehen
dort unter Mohnanbau und die englische Regierung bezieht aus
dem von ihr monopolisierten Opiumhandel grosse Revenuen ;
Die Alkoholfrage. 23
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342
Abhandlungen.
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allerdings wird von dem gewonnenen Opium nur ein geringer
Teil im Lande verbraucht, die bei weitem grössere Menge wird
nach China exportiert. Es machte sich nun in England und
Indien eine immer mächtiger werdende Partei geltend, die mit
Rücksicht auf die ungeheuren Schäden des Opiumgenusses
den Vertrieb für unmoralisch erklärte und von der englischen
Regierung das Verbot des Mohnanbaues und der Opium-
Fabrikation forderte. Das Ministerium, nichts weniger als geneigt
dieser Forderung zu entsprechen, musste dennoch irgend etwas
tun; und sie wählte das so beliebte Mittel des Komitees und der
Enquete, um die Bewegung unschädlich zu machen. Im Jahre
1893 wurde die sogenannte „königliche Opiumkommission“ nach
Indien geschickt, welche 1895 den beiden Häusern des Parla¬
ments ihren Bericht erstattete ;>) er ist von acht Mitgliedern,
darunter einem Arzte, Sir William Roberts 2 ) gezeichnet; ein Mit¬
glied, Mr. Henry Wilson, 8 ) gab ein dissentierendes Minoritäts¬
votum ab.
Das Resultat der ganzen mit grossem Lärm in Szene ge¬
setzten Aktion war genau dasselbe, wie wenn die deutsche oder
österreichische Regierung eine Enquete zur Prüfung der Frage
ob Gründe für Verbot des Alkoholbetriebes vorhanden seien,
einsetzte und die Mitglieder des Komitees nach Ermessen der
Minister gewählt würden: es blieb alles beim Alten. Ja der Bericht
kann als eine Ehrenrettung des Opiums bezeichnet werden, die
nur durch das erwähnte Minoritätsvotum Mr. Wilsons etwas
*) Report of the Royal Kommission on Opium, Vol. VI. Part. 1. London 1895.
Ausser dem offiziellen Report of the royal Commission verdient noch*be¬
sondere Beachtung das motivierte Votum des Parlamentsmitgliedes H e n r y J.
Wilson. Der vollständige Titel dieses kürzlich erschienenen Votums lautet
folgendermassen: Royal Commission on Opium Minute of Dissent, presented
by Mr. Henry J. Wilson M. P. with hir Notes. Momorandum on the
Attitüde ot the Authorities in India and Protest against tseatmen of Native
commissioners etc. Published for. The Society for the suppression of the
Opium trade. Kinsburg House. Blomfield Sivers, London E. C. by P. S.
King & Co. Pailiementary booksellers King Street Westminster. S. W.
London 1895 Price one penny.
2 ) Inzwischen gestorben. Er war Alkoholiker.
3 ) Derselbe Henry Wilson, welcher so freundlich war, uns die in diesem
Hefte an anderer Stelle abgedruckte interessante Beantwortung unseres
Fragebogens einzusenden. (Die Redaktion.)
Gck igle
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Holitscber, Alkoholsitte und Opiumsitte.
343
verdunkelt wird. Von den einvernommenen 723 Zeugen und Sach¬
verständigen, welche sich über die gesamten, das Opium betreffen¬
den Verhältnisse äusserten, war die grosse Mehrzahl der festen
Ueberzeugung, es sei für die indische Bevölkerung ganz un¬
entbehrlich und — mässig genossen — völlig unschädlich.
Da uns natürlich die medizinische Seite der Frage vor
allem interessiert, will ich mich auf die Besprechung des von
Sir Roberts erstatteten Memorandums beschränken, der sein
Urteil auf die Aussagen von 161 befragten, darunter 65 von der
Regierung angestellten Aerzten stützt. Es wird ausdrücklich
betont, dass die meisten von ihnen an englischen Universitäten
studiert haben, sich grossen Ansehens erfreuten und wissen¬
schaftlich durchaus auf der Höhe der Zeit standen. Roberts
unterscheidet eine doppelte Opiumwirkung: die narkotische und
die euphorische; unter der letzteren versteht er eine er¬
frischende, restaurierende und belebende Einwirkung auf den
Organismus, um welcher willen die Indier Opium geniessen.
Er meint, dass die Empfänglichkeit für die narkotische Wirkung
zwar weit verbreitet sei, nicht aber die für die euphorische und
dass besonders die Europäer für letztere un- oder doch minder¬
empfindlich seien, sonst wäre nicht abzusehen, warum sie das
Opium nicht ebenso gut nach Europa gebracht hätten wie den
Tabak.
Wir sehen, dass da beim Opium derselbe Missbrauch mit
dem Begriffe „Euphorie" getrieben wird wie bei unserem
Alkohol; die Wirkung wird in zwei Componenten zerlegt, von
denen die narkotische als schädlich und unerwünscht betrachtet
wird, während die andere belebend und erfrischend sein soll.
Wir wissen aber heute, dass die sogenannte Alkoholeuphorie
nichts anderes ist als der erste Grad von Narkose, und die
leider bereits zahlreichen Erfahrungen bei Morphinisten haben
gelehrt, dass auch bei ihnen die Wirkung eine ausschliesslich
narkotische ist. Richtig ist allerdings, dass bei Organismen,
welche an das Gift gewöhnt sind, das sogenannte Excitations-
stadium länger und deutlicher ist. Kinder schlafen auf geringe
Mengen Alkohol ein, ohne erregt gewesen zu sein, so auch der
nicht an Opium gewöhnte Europäer auf kleine Dosen Opium
oder Morphium; der Indier, der von Opiumgewöhnten Ascen-
denten abstammt, der Morphinist, bekommt zuerst die „Euphorie",
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Abhandlungen.
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d. h. dasjenige Stadium, in welchem nur gewisse regulative, hem¬
mende physische Funktionen, die Unlustgefühle, gelähmt, nar¬
kotisiert sind. —
Ein sehr wesentlicher Unterschied besteht darin, dass der
Indier fast nie vor dem 35. bis 40. Lebensjahre mit dem Opium-
genusse beginnt, wenn die ersten Alterserscheinungen sich
zeigen, was bei den Eingeborenen viel früher der Fall ist als
bei den Europäern. Die Frage, warum der Opiumgenuss so
spät beginnt, beantwortet sich durch dieselbe Erwägung, die
auch die Antwort darauf erteilt, warum die indischen Frauen
ebenso wenig und — im Verhältnis — selten Opium essen als
die europäischen Bier und Schnaps trinken; es ist keineswegs
konstitutionelle Differenz, wie Roberts meint, sondern lediglich
Sitte, Gebrauch, Beispiel; sie sind die auf diesem Gebiete all¬
mächtigen und einzig wirklich massgebenden Faktoren. Man
könnte freilich einwenden, dass die Sitte vielleicht auf tiefer
liegenden Ursachen beruhe, die in der Natur der Rasse, des
Geschlechtes, des Genussmittels liegen; aber eine kleine Ueber-
legung lehrt, dass dies nicht der Fall ist. Die Frauen haben
z. B. ganz allgemein geschnupft; lange Zeit war dann der Tabak¬
genuss bei den Frauen verpönt, heute raucht die Dame, die
Frau aus dem Volke hält es für unschicklich — bei uns. Aber
die spanische Fabrikarbeiterin raucht ihre Zigarette, die
Zigeunerin, die wallachische Bäuerin ihre Pfeife. Der ganz
willkürlich fortgesetzte Beginn des Opiumgenusses mit erreichter
Höhe des Lebens lehrt uns aufs neue die Macht der Sitte, des
Milieus erkennen und ist ein neuer Beweis für die Lehre, dass
der Genuss der Narkotika durchaus kein Bedürfnis des Orga¬
nismus sondern nur ererbter und anerzogener Missbrauch ist,
also durch Bekämpfung der Sitte behoben werden kann. —
Man hält es in Indien für skandalös, wenn ein junger Mann
Opium isst, und es gelten solche Jünglinge für Lumpen; un¬
gefähr so wie wenn bei uns eine Frau aus der Bourgeoisie
Schnaps trinkt.
Eine weitere Analogie mit unseren Trinkgebräuchen ist
die Missachtung des Opiumrauchers durch den Opiumesser.
In ganz Indien wird das Opium nur gegessen, bloss in den Hafen¬
städten gibt es Butiken, in denen es geraucht wird. In China
hingegen ist das Rauchen zu Hause, und es ist nun interessant
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*■■■ 1
Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte.
345
und pikant zu lesen, wie sich die Opiumesser über das schädliche,
gefährliche, unmoralische und entwürdigende Rauchen entrüsten
— es ist Einem, als hörte man Bierbrauer oder ihnen nahestehende
Herren über das Schnapssaufen losziehen. Trotzdem aber in
China von dem dort eingeführten Opium so sträflicher Gebrauch
gemacht wird, konnte sich die Kommission nicht entschliessen,
der englischen Regierung zum Verbote des Exportes zu raten
bezw. mit Rücksicht auf die Kartoffel- — nein Mohnbauern,
welche dadurch ruiniert würden, und dann auch deshalb, weil
es ja doch nichts nützen und die Chinesen ihr Opium ganz ein¬
fach wo anders her beziehen würden. Wir gehen aber wohl
nicht fehl, wenn wir den Antrag der Kommission, es möge
alles so ziemlich beim Alten gelassen werden, hauptsächlich
auf die 7 Millionen Rupien zurückführen — es sind das 14 °/ 0
der gesamten Nettoeinnahmen Indiens — welche das Opium¬
monopol trägt. Wir erinnern uns dabei sofort an das Misstrauen
unserer Finanzminister gegen alle Bestrebungen, welche geeignet
sind, die Einnahmen aus der Trunksucht der Völker zu ver¬
ringern. — Die Gesamterzeugung betrug übrigens in Indien im
Jahre 1892 12 Millionen englische Pfund, das sind ca 50,000
Meterzentner, wobei das sehr bedeutende, sich jeder Schätzung
entziehende hinterzogene Quantum unberücksichtigt bleibt. Hie¬
von werden nur etwa 8 °/ 0 im Lande konsumiert, alles andere
geht nach China und in die Settlements.
Mehr noch als bei uns zeigt sich der Einfluss der sozialen
Stellung, jedoch in entgegengesetztem Sinne, da in den reicheren
Provinzen der Konsum ein weit grösserer ist als in den armen.
Der Gebrauch ist überhaupt in den verschiedenen Gebieten
äusserst ungleich und schwankt zwischen 141 gran (ca 912 cgr.)
in Assam bis zu 14 gran (ca 87 cgr.) in Madras (per Kopf und
Jahr). Freilich sind diese und alle folgenden Ziffern mit noch
viel grösserer Vorsicht aufzunehmen als die Alkoholkonsumziffern
bei uns; denn erstens sind die Erhebungen in diesen Ländern
an sich unzuverlässig und zweitens lässt sich Opium viel leichter
schmuggeln und verbergen als die geistigen Getränke. Immerhin
geht daraus hervor, dass die Schwankungen viel grösser sind
als beim Alkoholgenusse. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass
es sich um eine Bevölkerung von 212 Millionen Seelen handelt,
also etwa soviel als Europa ohne Russland und die Balkanhalb-
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Abhandlungen.
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insei zählt. In manchen Provinzen bleibt ein sehr grosser Teil
der männlichen Bevölkerung das ganze Leben hindurch Opium¬
abstinent ; dies erklärt sich durch religiöse Gründe. Die Moha-
medaner sind stärkere Konsumenten, da ihnen der Koran zwar
den Wein, nicht aber das Opium verbietet, während den Bud¬
dhisten auch dieses untersagt ist, was freilich nicht von allen,
wohl aber von einigen Sekten sehr strenge befolgt wird. Auch
besitzt die ganze Art des Opiumgenusses, der viel ruhiger und
heimlicher auftritt, keineswegs die werbende Kraft wie unser Al¬
koholbetrieb und endlich ist ja der Handel staatlich monopolisiert,
die Läden bedürfen der Konzession, es fällt also die so gefähr¬
liche Aneiferung durch das Kapital, die bei uns die Hauptschuld
trägt, in Indien weg. Wenn also bei manchen Stämmen, wie
bei den Mittirs 80—85 °/ 0 der Bevölkerung Opiumesser sind, bei
anderen jedoch nur 7—8 %, so liegt die Sache ganz so wie
bei uns, es ist lediglich Sitte und Beispiel massgebend, irgend
welche sachliche Gründe sind nicht vorhanden, wenn der
Kommissionsbericht sich auch — wie noch später zu berichten
— bemüht, solche ausfindig zu machen.
E r: (der Berichter) führt übrigens als Gründe für den Opium-
genussinIndienan:dieallgemeineNeigung,Stimulantienzu nehmen,
den Glauben an die medizinische Wirkung, die religiösen Zere¬
monien, die Stärke des Beispiels und der Mode — ich glaube
nicht, dass es irgend welche andere Gründe für den Alkohol¬
genuss geben kann. Ausdrücklich wird konstatiert, dass der
gewohnheitsmässige Gebrauch seit der Zeit datiert, in welcher
die medizinische Anwendung begann. Es ist ja notorisch, dass
auch die destillierten Getränke lange Zeit hindurch ausschliess¬
lich medizinisch verwendet wurden, und als Aqua vitae usw.
hervorragenden Ruf als Heilmittel genossen, der heute noch von
einem grossen Teile der Bevölkerung festgehalten wird.
In Indien ist das Opium Hausmittel wie bei uns der Alkohol.
Ich nehme wenigstens an, dass auch in anderen Ländern und bei
anderen Völkern ähnliche Gebräuche herrschen wie in meiner
Heimat, wo in den allermeisten Häusern grosse Flaschen mit
sogenanntem „Ansatz“, nämlich in Spiritus gesetzten Früchten
zu finden sind, welche bei allen möglichen grösseren und
kleineren Beschwerden, Leiden, Krankheiten als erste Hilfe ver¬
wendet werden. Weiter wird Tee mit Rum, Kognak, Wermut-
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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte.
347
oder Bitterschnaps, endlich Bitterwein, Warmbier usw. häufig
angewendet. Dieselbe Rolle spielt in Indien das Opium. Die
Krankheiten, bei welchen die Eingeborenen es nehmen, sind:
Rheumatismus, Diarrhöen, Dysenterie, Diabetes, Rückfallfieber,
Neuralgien, Asthma, schmerzhafte Leiden aller Art. Der General¬
chirurg Rice sagt nach 34 jähriger Erfahrung,dass Rheumatismen,
Neuralgien usw. unter den Einheimischen weit verbreitet sind
und dass die Aerzte ihnen fast ausschliesslich Opium verschreiben,
so dass sie es dann regelmässig nehmen müssen. Der Erfolg
sei ein zauberhafter; ein Mann, der infolge der Schmerzen,
die ihn unaufhörlich plagen, tatsächlich arbeitsunfähig ist, nimmt
früh morgens ein viertel oder halbes gran Opium; in wenigen
Minuten ist er ein anderer Mensch und kann sein Tagewerk
vor sich bringen. Wer denkt da nicht an die Gliederschmerzen
und die Bauchkrämpfe, welche unsere Schnapsbrüder jeden
Morgen plagen, bis sie ihr Heilmittel im Leibe haben, worauf
auch sie sofort andere Menschen werden.
Der für uns interessanteste Punkt ist denn überhaupt die
Ansicht der Aerzte über den therapeutischen Wert des Opiums.
Bei uns herrscht diesbezüglich wohl ziemlich vollständige Ueber-
einstimmung. Wir wissen, dass den Opiaten ausser schlaf¬
machender, schmerzstillender, beruhigender und lähmender
Wirkung kein Einfluss auf die Funktionen zukommt, geschweige
denn dass sie specifische Heilkraft besässen oder prophylaktischen
Schutz entfalteten. Die Rosenbach’sche Theorie von der ener¬
getischen Wirksamkeit der Opiate widerspricht dieser Ansicht
keineswegs; der von ihr supponierte „Reiz" auf die „wesentliche“
Arbeit ist nichts anderes als frei gewordene Energie, welche
durch Herabsetzung i. e. Lähmung der „ausserwesentlichen“
Tätigkeit erspart worden ist.
Anders in Indien, wo ein grosser Teil der Aerzte vom
Opium viel ausgedehnteren und weitgehenderen Gebrauch macht.
Am überraschendsten ist wohl die Anwendung des Opiums
als Prophylaktikum und Heilmittel gegen Malaria. Es wäre gar
nicht merkwürdig, wenn die Kranken, die Einheimischen dem
Opium solche Kräfte zusprächen, denn warum soll eine ordent¬
liche Dosis Opium nicht ebenso gut über eine Wechselfieber¬
attaque hinweghelfen wie ein Glas Kognak über einen Influenza¬
anfall ? Wohl aber sind wir erstaunt zu vernehmen, dass auch
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Abhandlungen.
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die Aerzte das Opium dort als Malariamittel verwenden, einige
es dem Chinin gleich, ja sogar darüberstellen. Als Erklärung
für den merkwürdigen Widerspruch zwischen den Erfahrungen
in Asien und Europa — da doch in occidentalischen Malaria¬
gebieten kein Mensch etwas von dieser Wirkung des Opiums
weiss — wird der Unterschied in der chemischen Zusammen¬
setzung zwischen indischem und Smyrnaopium herangezogen;
ersteres soll nämlich bedeutend ärmer an Morphium, hingegen
weit reicher an Anarkotin sein, einem der ziemlich wertlosen
Nebenalkaloide des Opiums, das von seinem Entdecken „Narkotin“
genannt, wegen Mangels an narkotischer Wirkung von den
indischen Aerzten aber umgetauft wurde. Allein auch die mit
diesem Stoffe angestellten Versuche haben — in Europa —
seine völlige Wirkungslosigkeit gegen das Wechselfieber ergeben.
Ich will auf die sonstige medizinische Verwendung nicht
eingehen; das Gesagte genügt um zu erklären, dass sie es war,
wie eine grosse Anzahl von Zeugen bestätigt hat, die dem
Genüsse die Wege geebnet hat; unzweifelhaft ist einjgrosser
Teil der herrschenden Vorurteile auf die ärztliche’Empfehlung
zurückzuführen. So z. B. seine Anwendung bei ungewohnten
und ausserordentlichen Anstrengungen. So wie bei uns der
Alkohol heute noch bei solchen Anlässen von vielen Menschen
in der Meinung genommen wird, dass er die Kräfte stimu¬
liere, geschieht es in Indien mit dem Opium. Freilich sind
auch dort schon die meisten Leute, besonders solche, an deren
Körperkräfte hohe Anforderungen gestellt werden, ebenso wie
bei uns zur Ueberzeugung von der völligen Unrichtigkeit dieser
Ansicht durchdrungen.
Ueberraschend ist, dass das Opium in Indien auch als
Ergänzung der Nahrung betrachtet wird und die Meinung herrscht,
die Armen könnten bei schmaler Kost länger und .besser leben,
wenn sie Opium dazu geniessen. Andererseits wird freilich
auch behauptet, dass der Wohlhabende mit reichlicher Kost
Opium straflos ertrage, der schlecht Genährte aber darunter
leide. Wir finden also genau dieselbe Konfusion wie bei uns
bezüglich des Alkohols; in dem Bemühen, den Genuss für Alle,
ob arm oder reich, als zweckmässig und unschädlich hinzustellen,
kommt man zu den widersprechendsten Behauptungen. Interessant
genug ist, dass auch viele Aerzte die immerhin seltsame Ansicht
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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte.
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von der nährenden und kräftigenden Wirkung des Opiums teilen
und sogar durch physiologische Gründe zu erklären suchen.
Natürlich ist das beim Opium nicht so leicht als beim Alkohol,
der mit seinen sieben Kalorien zu Hilfe kommt. Es wird be¬
hauptet, dass durch die Verlangsamung der Verdauung, welche
Opium erzeugt, die Nahrungsmittel besser ausgenützt werden
und dass den Reisessern, welche zu Diarrhöen neigen, die
gegenteilige Tendenz des Opiums von Nutzen sei. Ob Stoff¬
wechselversuche angestellt wurden, welche die erste Meinung
stützen, weiss ich nicht, ich glaube aber nicht, dass es der Fall
war; es wird wohl dieselbe Bewandtnis damit haben wie mit
der digestiven Wirksamkeit des Alkohols; es gibt ja heute noch
Menschen genug und selbst Aerzte, welche an die Verbesserung
der Fettverdauung durch ihn glauben. Die antidiarrhöische
Wirkung chronischen Opiumgenusses ist ganz sicher eine Fabel;
im Gegenteile, durch die mit der Zeit eintretende Atoxie des
Darmes kommt es zu habituellen Durchfällen mit dysenterischem
Charakter.
Was sagen aber die Wortführer des Alkohols, die seinen
Brennwert nicht entbehren zu können glauben, dazu, dass man
in Indien die Menschen mit ein paar Gran Opium nähren kann ?
Bei uns. gilt Alkohol als das unschädlichste unter den
giftigen Genussmitteln und es ist eine weitverbreitete Argu¬
mentation unserer Gegner — sie findet sich auch im Hueppe-
schen Vortrage — die Alkoholabstinenz berge die Gefahr in
sich, dass andere, noch gefährlichere Reizmittel an die Stelle
treten. Es ist beinahe selbstverständlich, dass genau dieselben
Gründe in Indien gegen das Opiumverbot ins Feld geführt
werden und sich viele Zeugen deshalb dagegen aussprachen,
weil dann die Ausbreitung des ungleich gefährlicheren Alkohol¬
genusses zu befürchten sei. Nun will ich nicht in Abrede stellen,
dass beide Parteien recht haben dürften. Für das tropische
Indien ist der Alkohol zweifellos noch weit gefährlicher als für
uns; Klima sowohl als Nahrungsweise und vermutlich auch
Rasse vermindern die Widerstandsfähigkeit ausserordentlich;
ausserdem flösst der zu Unruhe und Exzessen führende Alkohol¬
rausch dem beschaulichen Indier Entsetzen ein, während das
stumpfe Dahinbrüten des Opiumnarkotisierten ihm sympathisch
ist. Andererseits ist das Opium bei uns wieder gefährlicher,
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Abhandlungen.
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weil es beim Europäer offenbar in weit höherem Prozentsätze
Opiumsucht und das Bedürfnis nach fortwährendem Steigen mit
der Dosis erzeugt und dadurch deletär wirkt.
Aber nichtsdestoweniger leuchtet aus dieser Besorgnis vor
dem anderen viel gefährlicheren und verabscheuungswürdigeren
Gifte das Bestreben hervor, das einheimische Genussmittel zu
rechtfertigen und seine Gefährlichkeit herabzusetzen. Es gilt dies
in erster Linie von dem Einflüsse auf Gesundheit und Lebens¬
dauer. In Indien wird zwar zugegeben, dass der Genuss nicht
selten zum Exzesse führe, dass dieser schade und dadurch viele
Menschenleben verloren würden; andererseits wird behauptet,
dass mässige Dosen die Gesundheit nicht nur nicht schädigen,
sondern durch den Schutz, den sie gegen verschiedene Krank¬
heiten verleihen sollen, sogar stärken. Als „Beweis“ wurde
der Kommission eine ganze Reihe von alten Opiumessern vor¬
geführt, die sich-der blühendsten Gesundheit erfreuten und das
Resultat der Untersuchung einer weiteren Anzahl vorgelegt.
Wer könnte noch an der Unschädlichkeit des Mittels zweifeln,
wenn ein Arzt in Calcutta über 215 solche Mustergreise berichtet,
von denen 52 zwischen 60 und 70, 18 zwischen 70 und 80,
5 zwischen 80 und 90 Jahre zählten und einer sogar 106 Jahre
alt starb, der 56 Jahre lang täglich 180 gran, d. i. ll 1 ^ Gramm
gegessen hatte! Diese Demonstrationen ad oculos müssen doch
wohl jedermann davon überzeugen, dass Opium so gut wie
Alkohol ein Elixir zur Verlängerung des Lebens sei. Es gibt
immer noch Menschen und selbst Aerzte genug, die sich durch
solche Einzelfälle imponieren lassen.
Der Beweis des Gegenteiles, d. h. der gesundheits¬
schädigenden und lebensverkürzenden Wirkung ist beim Opium
natürlich noch viel schwerer zu erbringen als beim Alkohol.
Erstens deshalb weil es in Indien an den notwendigen statisti¬
schen Behelfen begreiflicher W eise fehlt, wie sie uns die Lebens¬
versicherungsgesellschaften und Krankenkassen in England zur
Verfügung stellen, dann aber auch aus dem Grunde, weil es
anatomisch nachweisbare Organveränderungen nach
Opiummissbrauch nicht gibt; es fehlen die Opiumkrankheiten,
welche man den zahlreichen und wohlcharakterisierten Alkohol¬
krankheiten an die Seite setzen könnte. Damit soll natürlich
nicht gesagt sein, dass das Opium nicht sehr schädlich für den
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Holitscber, Alkoholsitte und Opiumsitte.
351
Organismus ist; aber die Schädigung gibt sich durch allgemeine
und vieldeutige Symptome, durch Diarrhöen, Appetit- und
Schlaflosigkeit, Abmagerung, körperlichen und geistigen Ver¬
fall zu erkennen, die durch vorzeitigen Marasmus dem Leben
ein Ende setzen. Da die Malaria in vielen Gegenden Indiens
ausserordentlich häufig ist, Milztumoren daher zu den regel¬
mässigen Befunden bei den Autopsieen gehören, so wird die
Entscheidung, ob der Tod durch Malaria, Dysenterie oder Opium
herbeigeführt worden ist, in vielen Fällen gar nicht zu treffen
sein. Sicherlich liegt die Hauptgefahr des Opiums ebenso wie
die des Alkohols weit weniger in den direkt verschuldeten
Krankheits- und Todesfällen als vielmehr in der Herabsetzung
der Widerstandsfähigkeit gegen andere Krankheiten. Die
indischen Lebensversicherungsgesellschaften haben es übrigens
nicht für notwendig gefunden, die Prämie für mässige Opium¬
esser zu erhöhen, sie nehmen sie zu gleichen Bedingungen auf
wie Opiumabstinenten. Natürlich beweist das gar nichts; alle
kontinentalen Gesellschaften mit sehr wenig Ausnahmen ver¬
sichern mässige Alkoholkonsumenten zu denselben Sätzen wie
Abstinenten, obwohl die bedeutend bessere Lebenserwartung
der Letzteren ja durch die Erfahrung in England klar bewiesen
ist. Die Abstinenten müssen eben das höhere Risiko der Trinker
mit bezahlen. Einen noch so mässigen Opiumesser oder Mor¬
phinisten würden unsere Anstalten unzweifelhaft entweder ganz
zurückweisen oder doch in höhere Prämienklassen einreihen.
Diese Analogie zwischen den Verhältnissen in Indien und bei
uns lehrt uns abermals überzeugend, wie gross die suggestive
Kraft der allgemeinen Volksmeinung ist; selbst die gewiss vor¬
sichtigen, gerechten und genauen Berechnungen der Assekuranz¬
gesellschaften werden durch sie beeinflusst.
Da also alle statistischen und pathologisch-anatomischen
Beweismittel im Stiche lassen, sind wir ausschliesslich auf die
Erfahrungen der Aerzte angewiesen, um die Frage nach dem
Einflüsse des Opiums auf Gesundheit und Lebensdauer zu be¬
antworten und die sind genau so widerspruchsvoll wie die
unserer einheimischen Kollegen bezüglich des Alkohols. Während
die Einen jede Schädigung rundweg in Abrede stellen, selbst
den unmässigen Genuss für ungefährlich und jedenfalls weit
harmloser halten als die Trunksucht, erklären Andere, dass es
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Abhandlungen.
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selbst in mässigen Dosen die Verdauung störe, den Appetit so
sehr vermindere, dass die Leute fast gar nichts essen, die Körper¬
kräfte herabsetze, schläfrig und hinfällig mache, den Schlaf
schädige, zur Nervosität disponiere, die Neigung zu anderen
Krankheiten erhöhe. Unzweifelhaft ist die individuelle Kraft, dem
aufgenommenen Gifte zu widerstehen, beim Opium ebenso
wechselnd wie beim Alkohol und es lassen sich dadurch
die verschiedenen Ansichten der Beobachter leicht erklären.
Wir sind gewiss alle weit entfernt davon, die Tatsache der
Toleranz in Abrede stellen zu wollen; wohl aber müssen wir
uns dagegen verwahren, dass man — und das geschieht
beim Alkohol täglich — mit der Toleranz eines nicht unbe¬
deutenden Teiles der Menschen die Ungiftigkeit beweisen zu
können glaubt. Leuten, die das unternehmen, kann man als
besten Gegenbeweis das Opium entgegenhalten, dessen Giftig¬
keit bei uns Niemand in Zweifel zieht; und doch sind nicht
einmal die Aerzte darüber im Reinen, ob sein Genuss schadet
oder nicht.
Das allerdrastischste Faktum ist in dieser Hinsicht wohl
die Verabreichung des Opiums bei Kindern. Fast alle Kinder
der Eingeborenen erhalten in Indien von der Geburt oder den
ersten Lebenswochen an bis in das dritte oder vierte Lebens¬
jahr Opium; die Dose steigt von Viei V12 bis auf ein halbes
gran, nicht selten aber sogar auf 1—2 gran täglich. Die Mütter
geben den Kindern ein stecknadelkopfgrosses Stück rohen
Opiums, gewöhnlich früh und abends oder sie mischen es unter
die Milch oder sie reiben sich, wenn sie stillen, die Brustwarzen
damit ein; in Bombay werden meistens die „childrens pill“ oder
„bala-golis“ verwendet, die von der Monopolverwaltung eigens
zu diesem Zwecke hergestellt werden, der beste Beweis, dass
es sich um keine versteckte Unsitte, sondern um einen an¬
erkannten Gebrauch handelt.
Der ursprüngliche Zweck, das wird zugegeben, war die
Absicht, schreiende Kinder zu beruhigen, um den anderweitig
beschäftigten Müttern zu ermöglichen, ihre Arbeit zu verrichten,
also derselbe Vorgang, den wir auch bei uns hier und da treffen,
wenn Frauen aus dem Volke den Kindern Mohnabsud oder
Branntwein reichen. In Indien aber ist der Brauch allgemein
geworden und auch in die Häuser der Wohlhabenden gedrungen;
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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte.
353
man hält ihn für unentbehrlich; er ist schon Jahrhunderte alt
und wir können uns vorstellen, mit welcher Hartnäckigkeit in¬
dische Hebammen, Grossmütter, Basen und Gevatterinnen an
ihm festhalten werden; sehen wir ja tagtäglich in unserer
Praxis, mit welchem Fanatismus gerade bei der Pflege und
Ernährung des Säuglings diese inappelablen Instanzen die un¬
glaublichsten Torheiten verteidigen.
Was uns aber in Erstaunen versetzen muss, ist die Wärme,
mit der sich selbst viele Aerzte für diese nach unserer Auf¬
fassung beinahe verbrecherische Anwendung des Opiums ein-
setzen. Nicht als ob Einstimmigkeit darüber herrschte; von
84 Mitgliedern der Grant College Medical Society in Bombay
sprachen sich 27 dafür, 30 dagegen aus, 25 gaben keine, 2 eine
unbestimmte Antwort ab. Trotzdem lautet das vor der Kom¬
mission auf Grund der Sachverständigeneinvernahme abgegebene
Gutachten durchaus günstig. Der Bericht des ärztlichen Mit¬
gliedes Sir William Roberts ist so charakteristisch, dass ich mir
nicht versagen kann, einige Zeilen daraus hierherzusetzen. Er sagt
unter anderem: „Es ist schwer zu glauben, dass ein sich über
alle Schichten der Gesellschaft erstreckender und unter der
unmittelbaren Ueberwachung des aufmerksamen mütterlichen
Instinktes angewendeter Gebrauch sich so lange erhalten haben
könnte, wenn er im Ganzen und in irgend merkbarer Ausdehnung
schädlich wäre .... Die allgemeine Ansicht der Mitglieder des
indischen Aerztestandes, welche Gelegenheit hatten, die Folgen
des Gebrauches zu beobachten, war die, dass er im allgemeinen
harmlos und sogar manchesmal wohltätig sei.“ Finden wir nicht
dieselbe wirklich bestechende Argumentation von unzähligen
Alkoholverteidigern angewendet?“ Heisst es da nicht auch: „es
ist unmöglich, dass der Alkohol so schädlich wirkt, sonst hätten
es die Menschen schon länger bemerkt und sich von ihm ab¬
gewendet! Man kann, glaube ich, gar kein schlagenderes
Beweismittel dafür finden, auf welche Abwege die Sitte geraten,
wie hartnäckig ein evident schädlicher, durch garnichts zu recht¬
fertigender Missbrauch werden kann, als diese von Arm und
Reich gepflegte, von den Aerzten sanktionierte Opiumdarreichung
an kleine Kinder in Indien. Sie ist das klassische Beispiel dafür,
dass alles, sei es auch noch so zwecklos, töricht, schädlich und
gefährlich, durch das Alter eine derartige suggestive Macht
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Abhandlungen.
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erlangt, dass es nur mit den grössten Schwierigkeiten besiegt
werden kann. Es gibt genug solcher Gebräuche unter dem
Volke; diejenigen, an denen auch die gebildeten Stände teil¬
nehmen, sind natürlich am festesten bewurzelt und geradezu
sakrosankt.
Der Genuss narkotischer Mittel gehört dazu. Man macht
von abstinenter Seite, und gewiss nicht mit Unrecht, auf die
Trübung der Unbefangenheit des Urteiles durch den Genuss
selbst aufmerksam und meint, dass die Voreingenommenheit zu
Gunsten des Alkohols bei sehr vielen von ihrem eigenen
Genüsse herrühre; sie verteidigen ihr eigenes, ihnen unentbehr¬
lich scheinendes Bedürfnis. Wir dürfen, wie mir scheint, aus
der Begeisterung, mit welcher sich viele ärztliche und nicht¬
ärztliche Zeugen für das Opium bei Kindern aussprechen, wohl
den Schluss ziehen, dass die Betonung dieses Momentes gar
nicht notwendig ist; denn die englischen Aerzte und Beamten,
welche in Indien vernommen wurden, waren wohl keine Opium¬
esser, standen persönlich also nicht unter der Einwirkung des
Narkotikums. Durch ihren Mund sprach bloss die ausser¬
ordentliche suggestive Kraft, welche jeder Jahrhunderte alten,
ein ganzes Volk beherrschenden, durch Generationen ver¬
erbten, von Kindheit an dem Individuum eingeprägten Idee
innewohnt, auch dann innewohnt, wenn sie ganz bestimmt und
zweifellos nur schlecht ist und keinerlei gute Eigenschaften
hat, gut freilich nicht vom persönlichen, individuellen, sondern
vom gesellschaftlichen, vom Rassenstandpunkte aus zu nehmen.
Je älter die Sitte, desto schwieriger ihre Bekämpfung. ■
Für uns liegt darin natürlich keine Entmutigung, sondern
im Gegenteile Aneiferung; ein Beweis mehr für unsere Ansicht,
dass die Folgerung der Alkoholfreunde: Der Alkoholbetrieb
muss gut sein, weil er schon so alt ist, auf durchaus falscher
Praemisse beruht. Die Tatsache, dass der Opiumgenuss nicht
nur von ein paar hundert Millionen Menschen anderen Stammes
und anderer Kultur, sondern auch von den Europäern, welche
unter diesen Menschen leben, mit ganz denselben Gründen
verteidigt wird, wie der Alkoholgenuss bei uns, trotzdem dem
Opium alle die scheinbaren Vorteile vollständig abgehen, die
dem Alkohol zu gute kommen, lehrt uns aufs neue, dass
einzig und allein die narkotische Wirkung gesucht wird; denn
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Holitscher, Alkoholsitte und Opiumsitte.
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sie allein ist den beiden sonst so verschiedenen Stoffen gemein¬
sam. Bei uns zu Lande zweifelt kein Mensch daran, dass Opium
ein heftiges Gift ist, dessen gewohnheitsmässiger Genuss un.
bedingt schadet; es wird auf denkende Menschen, die sich von
der Richtigkeit unserer Grundsätze bisher noch nicht überzeugen
lassen wollten, nicht ohne Eindruck bleiben, wenn sie ver¬
nehmen, dass in einem fernen Lande aufgeklärte und vorurteils¬
freie Männer diesem Gifte die glänzendsten Eigenschaften nach¬
rühmen, aus keinem anderen Grunde, als weil das Volk, unter
welchem sie leben, ihnen diesen Glauben suggeriert; vielleicht
lernen sie dadurch einsehen, dass ein ganz analoger Prozess
sich im Occidente bezüglich des Alkohols abspielt; und darum
glaubte ich durch diese Nebeneinanderstellung unserer Sache
einen kleinen Dienst erwiesen zu haben.
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Abhandlungen.
Landesversicherungsanstalt nnd Alkohol-
bekämpfung.
Vom Landes versicherungsrat Hansen in Kiel.*)
Nicht lange mehr wird es dauern bis die ersten anderthalb
Jahrzehnte seit dem Inkrafttreten des Invaliditäts- und Alters¬
versicherungsgesetzes vom 22. Juni 1889 verflossen sind. Dieses
durch das Invalidenversicherungsgesetz vom 1?. Juli 1899 — man
möchte sagen in neuer, verbesserter und erweiterter Auflage —
ersetzte Reichsgesetz berührt die allerweitesten Kreise des
deutschen Volkes. Nicht weniger als zwölf Millionen Arbeiter
und auch Millionen von Arbeitgebern stehen mit seinen Vor¬
schriften in unmittelbarem Zusammenhang. Trotzdem lässt sich
nicht behaupten, dass das Gesetz in allen seinen wichtigen
Einzelheiten in den beteiligten Kreisen hinlänglich bekannt ge¬
worden ist und gewürdigt wird. Aber eine Tatsache ist doch
mehr und mehr in das Bewusstsein der Bevölkerung über¬
gegangen, diejenige, dass auf Grund des Invalidenversicherungs¬
gesetzes nicht nur Invaliden- und Altersrenten gewährt werden,
sondern auch eine ausgedehnte Heilfürsorge geübt wird.
Die letztere Tätigkeit der mit der Durchführung des Gesetzes
beauftragten Selbstverwaltungskörper, der Landesversicherungs¬
anstalten, beruht auf dem § 18 des Invalidenversicherungsgesetzes.
In diesem Paragraphen wird den Versicherungsanstalten die
Befugnis erteilt, bei Versicherten, die dergestalt erkrankt sind,
*) Vortrag, gehalten in der Jahresversammlung des schleswig-holsteinischen
Bezirks Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke zu Preetz am 18. November 1904.
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Go^ 'gle
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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung.
357
dass als Folge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen
ist, welche den Anspruch auf reichsgesetzliche Invalidenrente
begründet, zur Abwehr dieses Nachteils ein Heilverfahren in
dem ihnen geeignet erscheinenden Umfange eintreten zu lassen.
Ebensowenig wie der Verfasser des Gesetzentwurfes wird
wohl der Reichstag bei Beratung der wenigen Sätze, aus denen
der frühere § 12 und der jetzige § 18 des Gesetzes besteht,
vorausgesehen haben, zu welcher Bedeutung der Inhalt dieser
Bestimmung im Laufe der Zeit herauswachsen sollte. In ihm
haben wir die Grundlage vor uns für die mehr oder minder
mannigfaltigen und weitreichenden Massnahmen der Landes¬
versicherungsanstalten, die als vorbeugende Tätigkeit
gegen den Eintritt von Invalidität zu nennen sind, und die auch
zur Beseitigung bereits vorhandener, aber vor¬
aussichtlich noch wieder zu bannender Erwerbs¬
unfähigkeit angewendet werden.
Eine Ziffer schon kann zeigen, welche gewaltigen finan¬
ziellen Opfer auf diesem Gebiete gebracht werden. Im Jahre 1902
haben die 31 Landesversicherungsanstalten im Deutschen Reiche
als Kosten des Heilverfahrens die Summe von 8 570000 Mk.
verausgabt. Gegen sehr viele Krankheitszustände hat man den
Kampf aufgenommen. Immer mehr ist dem Worte gemäss ver¬
fahren worden, dass die beste Rente für einen durch Krankheit
oder Siechtum arbeitsunfähig Gewordenen die wiederher¬
gestellte Erwerbsfähigkeit bildet. Vor allem gilt dies,
wenn man es mit dem Ernährer einer Familie zu tun hat.
Einen breiten Raum in der Arbeit der Landesversicherungs¬
anstalten auf dem Gebiete der Heilfürsorge nimmt die Be¬
kämpfung der Lungenerkrankungen, der Schwindsucht,
der Tuberkulose in ihren verschiedenen Formen ein. Die ganze
Heilstättenbewegung, nahezu in allen Teilen des Deutschen
Reiches, hat hier ihren Ausgangs- und Stützpunkt. Es ist eine
allgemein feststehende Tatsache, dass Deutschland in der Arbeit
zur Unterdrückung jener verheerenden Volksseuche, die alljähr¬
lich Hunderttausende — vielfach im besten Lebensalter — hin¬
wegrafft, unter sämtlichen Kulturnationen voransteht. Ohne
unsere Invalidenversicherung, ohne das Eingreifen der Landes¬
versicherungsanstalten, ohne die Opfer, welche von dieser Seite
geleistet werden, wäre jene grosse Bewegung völlig undenkbar.
Die Alkoholfrage. 24
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358
Abhandlungen.
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Von der Summe, die wir vorhin nannten, wird sicherlich der
überwiegende Anteil gegen die Lungenerkrankungen in den
nach dem Invalidenversicherungsgesetz versicherten Bevölke¬
rungskreisen verwendet worden sein.
Auch die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein
ist in solchem Bemühen nicht zurückgeblieben. Freilich hat sie
keine erheblichen Gelder in grossen Sanatorien, Pflegestationen
oder dergl. festgelegt — sie ist in der glücklichen Lage ge¬
wesen, bereits vorhandene, für die Zwecke geeignete oder doch
mit geringen Unkosten brauchbar zu gestaltende Einrichtungen
benutzen zu können. Wie sehr sie aber den sonst an sie heran¬
getretenen Bedürfnissen entgegen gekommen ist, mag die folgende
Zahlenreihe ersichtlich machen, welche die Gesamtausgabe
dieser Versicherungsanstalt an
Heilkosten wiedergibt
1892: Mk.
2398
1898: Mk. 102 076
1893: „
2942
1899: „ 105 216
1894: „
6736
1900: „ 129 998
1895: „
11789
1901: „ 146167
1896: „
31 748
1902: „ 163 240
1897: „ *
78 450
1903: „ 161180
Wenn man nun berücksichtigt, dass von den Ausgaben
in den beiden letzten Jahren 48 394 Mk. bezw. 68 916 Mk. auf
die Behandlung von Lungenkranken entfallen sind, so erhellt
schon daraus, welche Rolle im Bezirk der Landesversicherungs¬
anstalt Schleswig-Holstein die Lungenerkrankung oder die
Schwindsucht spielt. Auch in unserer engeren Heimat gehört
sie zu den Würgengeln der Menschheit. Die Krankheitsursachen
sind offenbar mancherlei Art; sie liegen keineswegs nur in den
Einwirkungen der Berufsarbeit, obgleich diese von wesentlichem
Einfluss sein mögen. Die Schwindsucht verschont keinen Stand,
sie herrscht unter der städtischen wie unter der ländlichen Be¬
völkerung : sie liebt auch bei uns gerade das sog. bessere Lebens¬
alter auszusuchen, um ihre Macht zu zeigen.
Aber die Schwindsucht ist nur eine der verhängnisvollen
Volkskrankheiten, gegen welche sich die moderne ärztliche
Erkenntnis und Kunst, die praktische Tätigkeit in Heilstätten
und die Aufklärungsarbeit in den weitesten Volksschichten
richten. Neben der Schwindsucht gibt es andere, gleich gefahr-
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Original from
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Hansen, Landesversicberungsanstalt und Alkoholbekämpfung.
359
drohende Feinde der Menschheit, die nicht minder energisch
Zurückdrängung erheischen. Und da ist in erster Linie der
Alkoholismus zu erwähnen. Durch dieses Wort bezeichnen
wir die Folgen, die aus dem weit verbreiteten Gebrauch,
namentlich aus dem Missbrauch und übermässigen Genuss
geistiger, alkoholischer Getränke entstehen. Es ist keine neue
Zahl, die ich vorführe, wenn ich sage, dass in Deutschland
nach sorgfältiger Berechnung und Schätzung alljährlich drei
Milliarden Mark für alkoholische Getränke, für
Wein, Bier, Branntwein usw. verausgabt werden.
Für dieses ungeheure Kapital erwirbt sich das deutsche Volk
eine Summe von physischem Elend, von sittlicher Schädigung
und wirtschaftlichem Jammer, deren Umfang sich weder über¬
schauen noch schildern lässt. Die Folgen des Alkoholverbrauchs,
den wir in jener gigantischen Zahl vor uns haben, wirken wie
ein entsetzlicher Hemmschuh an der Aufwärtsbewegung, an der
Zukunft des deutschen Volkes; sie lassen ihre verheerenden
Spuren auf allen Gebieten offenbar werden. In diesem Augen¬
blick wollen wir sie aber nur als die grossen Erzeuger von
Krankheiten, körperlichen, seelischen und geistigen Krank¬
heiten betrachten. Ihre Wirkungen kann man in doppelter
Weise wahrnehmen: einesteils besorgt der Alkoholismus ganz
direkt, anscheinend ohne jede weitere Beihilfe, sein verhängnis¬
volles Werk, indem er die stärksten, physischen wie intellek¬
tuellen Kräfte mit seinen Einflüssen zerreibt urd zerbricht;
anderenteils — und zwar zumeist — wirkt er bei andern
Schwächezuständen eines menschlichen Organismus mit und
in diesen Fällen ist seine Arbeit eine noch leichtere, schneller
zum Ziele führende. Die Landesversicherungsanstalten können
bei sorgsamer Prüfung aller der Umstände, welche als die
Krankheitsursachen bei den alljährlich an sie herantretenden
Tausenden und Abertausenden von Invaliditätsfällen anzu¬
sehen sind, nicht verkennen, dass der Alkoholismus unendlich
oft hier unmittelbar oder mittelbar als bedeutsamer Faktor
in Betracht kommt. Die Aerzte bestätigen, dass in überaus
vielen Fällen das körperliche Siechtum der Invalidenrenten-
ansprecher und der Heilungsbedürftigen auf eigenen Alkohol¬
genuss oder schon auf die Sünden der Väter in diesem
Punkte zurückzuführen ist. Und wie oft stehen mangelhafte
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360
Abhandlungen.
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Ernährung, schlechte Wohnungsverhältnisse, unzulängliche Pflege
usw. ebenfalls mit dem Alkoholismus in nahem Zusammenhänge!
Vielfach wird das Alles offen in den ärztlichen Erklärungen
ausgesprochen, weit häufiger aber liest man’s zwischen den Zeilen.
Die Landesversicherungsanstalten können trotz des un¬
zweifelhaft vorhandenen, weitverbreiteten Notstandes aber freilich
nur selten eingreifen. Lungenkranke, Rheumatiker, Augenkranke
usw. sind bemüht, die Fürsorge der Versicherungsanstalt in
Anspruch zu nehmen; sie melden «ich, sobald ihr Zustand einen
gewissen sie beunruhigenden Charakter angenommen hat. Aber
die Alkoholiker kommen ganz ausnahmsweise von selbst an die
Anstalt heran. Ist ihr Zustand durch andere Krankheitsursachen
mit bedingt, so werden sie den von ihnen gepflegten Alkohol¬
genuss kaum jemals als mit im Spiele befindlich angeben. Und
nimmt die Wirkung der Trunksucht in dem Masse überhand,
dass sie eine besondere Behandlung — in einer Trinkerheil¬
anstalt — erforderlich macht, so wird der Kranke der Regel
nach nur auf Eingreifen der Angehörigen einem Heilverfahren
sich unterziehen. Tatsächlich können nur die zuletzt erwähnten
Fälle für eine Behandlung in Frage kommen. Hat man es mit
Lungen-, Herz- oder Nierenkranken, mit an Rheumatismus,
Venenentzündung oder dergl. Erkrankten zu tun, die gleichzeitig
unter dem Einflüsse des Alkohols stehen, so sind
dies fast immer Kranke, die keinerlei Heilstätten-, Krankenhaus-,
Bäder- oder häuslicher Behandlung zugängig sind. Einerseits
werden die Aussichten des Heilverfahrens bei solchen Personen
sehr zweifelhaft erscheinen, andererseits passen sie aus Gründen
der Disziplin in eine gewöhnliche Heilanstalt nicht hinein. Ja,
es ist ein feststehender Grundsatz bei den Landesversicherungs¬
anstalten, — insbesondere auch der Anstalt Schleswig-Holstein
— dass diejenigen Kranken, die ihrer Neigung zum Alkohol¬
genuss keine Zügel anzulegen vermögen, gleich von vornherein
von der Aufnahme in Heilbehandlung ausgeschlossen oder, sobald
Zuwiderhandlungen gegen die erlassenen Verbote stattfinden,
rücksichtslos zur Entlassung gebracht werden.
Es bleiben demnach die eigentlichen Trunkfälligen übrig,
für welche eine gesonderte Kur in einer Trinkerheil¬
stätte das gegebene und einzig mögliche Mittel ist. Manche
Versicherungsanstalten lehnen die Fürsorge auch in solchen
Original fro-m
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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung.
361
Fällen ab. Die Versicherungsanstalt Schleswig-Holstein hat es
sich jedoch zur Aufgabe gestellt, unter der Voraussetzung,
1. dass auch die sonst bei Heilfürsorgeanträgen einzu¬
haltenden Bedingungen (Beitragsleistung durch die
Quittungskarten etc.) erfüllt werden können ;
2. dass der behandelnde Arzt und der Vertrauensarzt der
Versicherungsanstalt auf Grund des allgemeinen Kräfte¬
zustandes, des Alters, der Dauer der Erkrankung u. a. m.
eine Wiederherstellung als wahrscheinlich bezeichnen;
3. dass der Betreffende sich mit einer längeren (mindestens
6 Monate währenden) Behandlung einverstanden erklärt,
auch bei Trunkfälligen das Heilverfahren zu übernehmen. Zu
diesem Zwecke wird die innerhalb der Provinz Schleswig-Hol¬
stein bestehende, von dem Landesverein für innere Mission ins
Leben gerufene Trinkerheilanstalt Salem bei Rick-
1 i n g benutzt.
Seit dem Jahre 1899 sind in dieser Hinsicht Versuche ge¬
macht worden. Die Zahl dieser Versuche ist aus dem Grunde,
der vorhin angedeutet wurde, gering geblieben. Aber doch
genügt sie, um einige feststehende Tatsachen erkennen zu lassen.
Darüber sei Nachstehendes gesagt:
1. Die Anstaltsbehandlung ist, bei verständnisvollem Zu¬
sammenwirken von Arzt und Seelsorger, im allgemeinen
eine durchaus angemessene; sie allein verspricht manchmal
noch Nutzen, wenn alle andern Mittel und Wege zur
Abkehr vom Alkoholgebrauch vergeblich gewesen sind.
2. Die Behandlung muss wenigstens sechs Monate dauern,
lieber noch auf eine längere Zeit, bis zu einem Jahre
erstreckt werden, falls die Verhältnisse des Behandelten
und seiner Familie solches gestatten.
3. Der Erfolg der Behandlung ist allein darin begründet,
dass neben der regelmässigen Arbeit eine absolute Ent¬
ziehung des Alkohols eintritt und dass auch nach der
Entlassung die vollständige Enthaltsamkeit von dem
Betreffenden beobachtet wird.
4. Die Enthaltsamkeit wird der Regel nach nur dann sicher
zu stellen sein, wenn es zu einem Anschluss an das Blaue
Kreuz oder an eine Guttempler-Verbindung (Loge) kommt,
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362
Abhandlungen.
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Hierzu ist folgendes zu bemerken:
Der längere Aufenthalt in der Anstalt wird einem Familien¬
vater dadurch wesentlich erleichtert, dass während seiner Ab¬
wesenheit den Angehörigen in dem gleichen Umfange eine fort¬
laufende Unterstützung gewährt wird, wie den Familienmitgliedern
aller sonst in Heilbehandlung genommenen Personen. Die Ver¬
sicherungsanstalt Schleswig-Holstein leistet eine wöchentliche
Beihilfe zum Unterhalt in Höhe von 50 °/ 0 des dem Manne zu¬
stehenden Krankengeldes für die Ehefrau und 10% für jedes
Kind bis zu 150 % des Gesamtbetrages der Krankenunterstützung
oder einen entsprechenden Satz des ortsüblichen Tagelohnes.
Fast immer verlassen die Kranken nach beendeter Kur die
Heilstätte mit dem festen Entschluss, sich hinfort vom Alkohol
völlig fern zu halten. Sie kennen oder ahnen die Gefahren,
die auch nur der bescheidenste Genuss mit sich führt. Dennoch
straucheln gar viele. Und wodurch geschieht dies? Es gibt
keine ärgere Versuchung für den geheilten oder geheilt er¬
scheinenden Alkoholkranken als dessen alte Umgebung, seine
Arbeitsstätte, seine guten Freunde und Kameraden. Nichts be-
trübenderes kann es geben, als die so häufig zu machende
Wahrnehmung, wie einem armen Arbeiter, der sich den Fesseln
des Trinklasters vorübergehend entwunden hat, die Aufrecht¬
erhaltung des Entschlusses, dem Alkohol zu entsagen, von
seiner Umgebung schwer gemacht wird. Da weiss oder achtet
man nicht, was auf dem Spiele steht, wie der andere für seine
Person, für Familie, für seine Ehre und Existenz ringt und wie
ein Rückfall in die alte unselige Leidenschaft alles gefährdet,
was sorgsam und so schwierig aufgebaut worden ist. Gelingt
es, ihn zu Falle zu bringen, so gilt das als eine Art von Helden¬
tat, auf die man sich noch etwas einbildet. Ja, wenn wir doch
ein Mittel hätten, diese unheilvollen Einflüsse abzuwehren!
Wie viel leichter würde dann der Erfolg, wie viel grösser der
Segen sein, der aus der Arbeit der Trinkerheilung hervor¬
wachsen könnte.
Die Landesversicherungsanstalt vermag nach der Ent¬
lassung der Betreffenden nur weniges für sie zu tun. Sie ist
bemüht, die Bestrebungen der Verwaltung der Trinkerheilstätte,
den ins Leben Zurücktretenden zum Anschluss an eine Ver¬
einigung, welche die Grundsätze der Enthaltsamkeit streng durch-
Original fro-m
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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung.
363
führt, zu bewegen, nach Kräften zu fördern. Gelingt es nicht,
dieses Ziel zu erreichen, so muss von vornherein fast immer
alle Mühe als vergeblich aufgewendet angesehen werden. Eine
nachdrückliche Mitwirkung von seiten der Geistlichen, Lehrer
und gemeinnützigen Frauenvereine wird hierbei in vielen Fällen
am Platze sein. Vielleicht lässt sich mit solcher Hilfe eine
geeignetere Arbeitsstätte ausfindig machen und möglicher
Weise dann auch den sonstigen ungünstigen Einflüssen das
rechte Gegengewicht bieten.
Von unendlicher Bedeutung für die Standhaftigkeit des
„geheilten“ Trinkers ist, wenn dieser verheiratet ist, die Frau.
Sie kann vielleicht alles zum besten wenden; sie kann aber
auch das Gegenteil hervorrufen. Wo immer Geistliche, Lehrer
oder Frauenvereine bei der Rettung von Trinkern mit arbeiten
wollen, da müssen sie vor allem einen Blick auf dessen Häus¬
lichkeit werfen und dort, soweit es nötig ist und geschehen
kann, in taktvoller Weise die bessernde Hand anlegen. Immer
wieder ist zu betonen, dass ein rechtes Familienleben den
besten Schutz für den Trinker liefert.
Verhältnismässig gross sind die finanziellen Opfer, welche
die Versicherungsanstalt für jeden Fall der Trinkerbehandlung
darbringen muss. Die Kosten der Unterbringung sind an sich
nicht niedrig. Hierzu kommt die lange Dauer der Heilbehand¬
lung, welche die bei andern Erkrankten zu rechnende Durch¬
schnittszeit weit übertrifft. Endlich sind auch bei derartigen
Pfleglingen die grösseren Aufwendungen für Bekleidung zu
machen, da sie infolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs,
in welchen sie durch ihren körperlichen und moralischen Zu¬
stand nach und nach hineingeraten sind, meist des allernötigsten
entbehren.*)
Und trotzdem und ungeachtet der „Nieten“, die in manchen
Fällen nicht ausbleiben, sollten die Versicherungsanstalten sich
*) Von allgemeinem Interesse ist eine Aeusserung des Vertrauensarztes der
Landes?ersiehernngsanstalt Schleswig-Holstein, Medizinalrat Dr. Bockendahl in
Kiel, in welcher er sich für eine ausgiebige Unterstützung der in Heilbehandlung
genommenen Trinker mit Kleidungsstücken ausspricht. Es heisst dort:
„Hand in Hand mit der moralischen Verkommenheit geht beim Trinker
meistens die Vernachlässigung des äusseren Menschen. Wie er durch zwangsmässige
Enthaltsamkeit allmählich zu anständiger Gesinnung erzogen werden muss, so muss
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364
Abhandlangen.
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nicht abhalten lassen, immer wieder Versuche zur Heilung der
Alkoholiker anzustellen. Da und dort gelingt es doch, den Un¬
glücklichen zu helfen und sie auch später durch alle Gefahren
hindurch zu bringen, und diese befriedigenden Erfolge werden
hoffentlich je länger desto mehr die Misserfolge aufwiegen.
Ja, von der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein
wird man sagen dürfen, dass diese Erfahrungen im grossen und
ganzen als günstige anzusehen sind. Bezüglich der grösseren
Zahl der bisher Behandelten ist auf grund neuerdings angestellter
sorgsamer Ermittelungen ein „voller Erfolg“ zu verzeichnen.
Die Versicherungsanstalten können noch in andererWeise
auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung tätig sein. Kraftvoll
hat in vielen Gegenden des Deutschen Reiches die Enthalt¬
samkeitsbewegung, die in erster Linie von den Guttemplern,
daneben vom „Blauen Kreuz“ getragen wird, eingesetzt. Diese
Bewegung sucht dort,, wo sie zu einer gewissen Bedeutung ge¬
langt ist, feste Stützpunkte in der Gestalt eigener Vereins¬
oder Logenhäuser, welche Versammlungs-, Unterhaltungs-,
Erholungsstätten, Herbergen u. s. w. bilden, zu schaffen. Wo
die Bedingungen für die Entstehung solcher Einrichtungen ge¬
geben sind, können die Landesversicherungsanstalten durch
Hergabe der erforderlichen Baukapitalien zu massigem Zinssatz
und unter sonstigen liberalen Bedingungen ein segensreiches
Werk tun. Die Versicherungsanstalt Schleswig-Holstein hat
derartige Veranstaltungen in den Städten Apenrade, Itze¬
hoe, Rendsburg, Tönning, Meldorf, Oldesloe mit
Darlehen unterstützt und wird voraussichtlich auch noch an
er erst allmählich wieder lernen, sich anständig zu kleiden und Wert zu legen auf
anständige Kleidung. Ist dieser Wunsch erst wieder vorhanden und durch das Ver¬
halten des Trinkers in dieser Hinsicht bekräftigt, so bewegt sich der Trinker schon
in aufsteigender Linie und muss in der Erfüllung dieses Wunsches unterstützt werden.
Ich würde daher für richtig halten, diejenigen Pfleglinge durch anständige, haltbare
Kleidung zu belohnen, welche sich bestreben, den Anforderungen der Anstalts¬
disziplin zu genügen, fleissig sind und nicht auf Entlassung drängen. Diese wird der
Leiter der Anstalt nach etwa 2—3 monatlichem Aufenthalt erkennen. Den sich
anders verhaltenden Pfleglingen würde trotz vielleicht gleicher Bedürftigkeit — die
aus naheliegenden Gründen wohl bei allen Trinkern vorzuliegen pflegt — nicht in
gleicher Weise entgegen zu kommen sein. Dei gute Wille, geheilt zu werden
und enthaltsam zu bleiben, muss doch gefordert werden als Aequivalent für solche
Wohltaten , u
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Hansen, Landesversicherungsanstalt und Alkoholbekämpfung.
365
anderen Orten Gelegenheit finden, in gleicher Weise tätig zu
sein. Sie wird um so bereitwilliger die von ihr verlangte
finanzielle Mitwirkung leisten, je mehr die gedachten Bestre¬
bungen von den nächstbeteiligten Gemeindebehörden ge¬
fördert werden. Erfreulicherweise geht unsern schleswig¬
holsteinischen Gemeindeverwaltungen, je länger desto mehr, die
Erkenntnis auf, welche dringende Veranlassung grade sie haben,
die Arbeit der Antialkoholbewegung nach Möglichkeit zu er¬
leichtern und zu begünstigen.
Eine freundliche Haltung nimmt die Landesversicherungs¬
anstalt Schleswig-Holstein auch gegenüber dem Wirken des
Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geis¬
tiger Getränke und seiner Bezirks- und Ortsvereine ein.
Sie begleitet dessen gemeinnützige Arbeit mit aufrichtiger Anteil¬
nahme und lässt es auch an tatsächlicher Unterstützung der¬
selben nicht fehlen.
In enger Fühlung mit diesen Vereinsbestrebungen steht
das Bemühen der Landesversicherungsanstalt, durch Auf¬
klärung in weiten Kreisen des Arbeiterstandes die Gefahren
des Alkoholgenusses und Alkoholmissbrauchs bekannt zu
machen. In ihren Pflegestätten für männliche und weibliche
Personen wird hierfür durch die Beschaffung geeigneter Lektüre
gesorgt; bei der Entlassung aus der Heilbehandlung werden
Schriften ins Haus mitgegeben, die in wissenschaftlich unan¬
fechtbarer Weise die Wahrheit über den Alkohol verbreiten.
Die Versicherungsanstalt Schleswig-Holstein gehört zu denjenigen
Versicherungsanstalten, welche überdies durch Vermittelung von
Krankenkassen Tausende von Exemplaren der vom kaiserlichen
Gesundheitsamt bearbeiteten Druckschrift: „Gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke! Alkohol-Merkblatt“ in die Hände
der arbeitenden Bevölkerung gebracht haben.
Das sind freilich nur kleine Mittel, aber sie tun zweifellos
ihr Gutes. Sie tragen mit dazu bei, die Einsicht über das wahre
Wesen des Alkoholismus, des Alkoholelends, immer allgemeiner
zu machen; sie werden den Boden vorbereiten für andere, noch
erfolgreichere Bestrebungen, die von dem Einzelnen wie von
der Gesamtheit, von Arbeitern und Arbeitgebern, von Gemeinde,
Staat und Reich ausgehen müssen.
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366
Abhandlungen.
Im innigen Zusammenhang mit den Bestrebungen, die
Uebel des Alkoholismus, wie der Tuberkulose, tief an der Wurzel
zu fassen, stehen die Bemühungen unserer Landes Versicherungs¬
anstalt, mit ihren finanziellen Kräften die Wohnungsver¬
hältnisse der arbeitenden Klassen zu verbessern.
Gegen niedrige Zinsvergütung (3°/ 0 ), bei massigem Tilgungs¬
satz und unter anderen günstigen Modalitäten gewährt sie Dar¬
lehen an Gemeinden, gemeinnützige Baugenossen¬
schaften und öffentliche Sparkassen für den an¬
gegebenen Zweck. Auf diese Weise ist es gelungen, eine
blühende baugenossenschaftliche Bewegung in
Schleswig-Holstein zu entwickeln. Zweiunddreissig
Baugenossenschaften gibt es, die zum grösseren Teile
mit der Landesversicherungsanstalt in Verbindung stehen, von
ihr, wenn man den Ausdruck gestatten will, „gespeist“ werden.
Einzelne dieser Baugenossenschaften haben seit einigen Jahren
auch aus Reichs- und Staatsmitteln erhebliche Anleihen er¬
halten. Die Landesversicherungsanstalt hat bis jetzt insgesamt
5 904 516 Mk. (wovon unterdes wieder 411539 Mk. getilgt
worden sind) an die Baugenossenschaften hergegeben. Von diesen
Geldern sind, teils zum allmählichen Uebergang in das Eigentum
der Bewohner bestimmt, teils als zur Vermietung vorgesehen,
gegen 3000 Wohnungen — gesunde, zweckentsprechende preis¬
werte Wohnungen — für Arbeiter und andere sog. „kleine
Leute“, — versicherte Personen — hergestellt worden. Diese
Bestrebungen und Leistungen gehören, wie wir wiederholen,
auch zum Kapitel der Alkoholbekämpfung.
Man darf sich überzeugt halten, dass die Versicherungs¬
anstalt Schleswig-Holstein es niemals an bereitwilliger Mitarbeit
auf dem wichtigen Felde der Volkswohlfahrt fehlen lassen wird.
Und die meisten andern gleichen Körperschaften im Deutschen
Reiche werden ebenso wenig Zurückbleiben!
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Original fro-m
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Wegscheider-Zieglev, Wie bewahren wir Mütter unsere Kinder etc. 367
Wie bewahren wir Mütter unsere Kinder vor
dem Alkoholismus?
Vortrag gehalten am 2. Abstinententag zu Altona von
Frau Wegscheider-Ziegler.
Nicht an die Mütter allein möchte ich mich heute wenden;
wenn auch an sie besonders. Aber was ich zu sagen habe,
das geht eigentlich alle an: alle die jungen Mädchen, welche
Mütter werden wollen, alle die Lehrer und Lehrerinnen, die
solche Mütter heranbilden, die Väter auch, ohne deren Hülfe
das beste Mutterwerk den Fluch der Halbheit trägt, und nicht
zuletzt die jungen Männer, die die neue Familie gründen werden,
damit in ihrem Schutz ein neues Geschlecht heranwachse, das
unsere Hoffnungen zu Wirklichkeiten machen kann. Sie alle
müssen helfen, dem neuen Geschlecht einen Hauptfeind seiner
Stärke und seiner Entwickelung, den Alkoholismus fernzuhalten.
Aber freilich: die Führenden, die Entscheidenden, die schliess¬
lich Siegenden müssen die Mütter sein. Sie müssen es sein,
und sie werden es sein.
Wenn sie nur erst alle wissen, um was es sich handelt!
Wenn sie ihre Verantwortung fühlen für das neue Leben, das
aus ihrem Schosse wächst, und wenn sie zugleich erfahren,
auf wie mannigfaltige Weise dies junge Leben durch die Trink¬
sitten unseres Volkes gefährdet wird !
Klärt darum zuerst die Frauen unseres Volkes auf! Sagt
ihnen wieder und wieder, dass Kinder, deren Eltern einzeln
oder gar beide regelmässig starkem Alkoholgenuss fröhnen,
in einer erschreckend grossen Anzahl Schwachsinnige, Epilep¬
tiker oder gar Verbrecher werden, und sie werden sich aufs
äusserste dagegen wehren, dem trinkenden Manne Kinder zu
schenken ! Sagt es den jungen Mädchen, ehe sie in die Ehe
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Original fro-m
UN1VERSITY OF CHICAGO
368
Abhandlungen.
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treten, dass selbst gelegentlicher Rausch den Schwachsinn des
in Rausch erzeugten Kindes verschulden kann, und sie werden
einmütig brechen mit unseren verbrecherischen Hochzeits¬
gebräuchen. Dann wird der Name „Hochzeitskind“ im Volks*
munde seine Bedeutung verändern ; er wird nicht mehr mitleidig
und gleichsam entschuldigend für schwachsinnige oder sonst
minderwertige Kinder gebraucht werden, sondern ein Ehren¬
name wird er werden für die starken und gesunden Kinder
junger bewusster Liebe.
Die jungen Mütter aber, die ihre Kindlein tragen und mit
unruhiger Sehnsucht auf die Stunde warten, da sie ihnen in
die Augen sehen können, die lehret: dass Alkohol nichts nützt,
dass er nicht nährt, nicht stärkt, nicht wärmt; sondern dass er
immer und unter allen Umständen Gift ist, und dass es ein
gefährlich Ding ist, solches Gift dem werdenden, noch wider¬
standslosen Kindesorganismus zuzuführen. Sie werden sich
freihalten von diesem Gift in ihren heiligen Monaten. Und wenn
sie erfahren, dass der genossene Alkohol teilweise nachweisbar
ist in der Milch der säugenden Mütter, so werden sie dafür
sorgen, dass das Kind diese erste und für seine spätere Ent¬
wickelung bedeutsamste Nahrung rein und giftfrei erhalte.
Glauben Sie mir: Wissende Mütter werden so
handeln. Und viel ist damit für die kommende Generation
gewonnen. Darum Ihr alle, die Ihr diese Tatsachen vom
Alkohol wisst, schweigt niemals still davon, werdet niemals
müde, lehrt sie auf immer neue, immer eindringlichere und
immer fester überzeugende Weise den Mädchen, den Bräuten,
den jungen Frauen! Ueberwindet ihre und Eure eigene Scham¬
haftigkeit und sprecht ihnen von dem, was ihres Lebens ein¬
fachster Sinn in den Jahren junger Frauenkfaft ist, von ihrem
Kinde. Sie werden’s verstehen und werden danach tun.
Aber von den Müttern der neuen Generation verlangen
wir mehr! Sie sollen das gesunde Kind nun auch gesund
erhalten.
Wenn ihnen in ihrer schweren Zeit die Enthaltsamkeit
leicht wurde, ja, wenn sie sie mit Freuden ausübten, weil sie
ihnen ihren Zustand erträglicher gestaltete, so müssen sie sie
als dauernde Lebensgewohnheit beibehalten, wenn sie das
heranwachsende Kind auch weiter vor den Schädigungen des
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Wegscheider-Ziegler, Wie bewahren wir Mütter unsere Kinder etc. 369
Alkoholgebrauches bewahren wollen. Das wird nicht immer
leicht sein. Den Sitten unserer Geselligkeit kann sich wohl
die schwangere und die säugende Frau entziehen, ohne Anstoss
zu erregen. Die erziehende Mutter muss, um den Widerstand
von allen Seiten zu besiegen, in den prinzipiellen Kampf gegen
diese Trinksitten eintreten. Sie weiss, wie schädlich der Alkohol
gerade auf den empfindlichen Körper des Kindes wirkt: ganz
geringe Verdauungsstörungen werden zu bedenklichen Magen-
und Darmkrankheiten, wenn man versucht, sie durch Alkohol
zu heilen. Kinder, die frühzeitig geistige Getränke erhalten,
bleiben auffallend klein. Epileptische und andere Krämpfe
sowie Veitstanz treten bei Kindern als Folge des Alkohol¬
genusses auf; trinkende Kinder erliegen Ansteckungen leichter,
als enthaltsame, ja selbst der Verlauf von Krankheiten pflegt
bei dem an Alkohol gewöhnten Kinde schwerer zu sein, als
beim abstinenten.
Es kommt in den ersten Lebensjahren des Kindes also darauf
an, ihm überhaupt jede Möglichkeit des Alkoholgenusses zu ver-
schliessen. Das kann mit Sicherheit nur dann geschehen, wenn
der ganze Hausstand abstinent ist. Sieht das Kind den Vater
bei Tisch sein Glas Bier trinken, so wird die Neugierde, die
Nachahmungslust, es immer wieder antreiben, auch nach diesem
Genüsse zu streben. Es wird bitten. Und welcher Vater
widersteht nach dem zweiten oder dritten Glase solcher Bitte?
Oder es wird sich in unbewachten Momenten an die Reste in
Flasche oder Glas heranmachen; und der Reiz der Heimlich¬
keit wird ihm einen Genuss vortäuschen, den es nicht einmal
wirklich empfindet. Denn der normale, kindliche Organismus
lehnt berauschende Getränke ab. Es gehört Mut und klare
Sicherheit dazu, um des Kindes willen dem Gatten seinen
Schoppen abzugewöhnen. Und eine nicht minder grosse
Forderung, die man an die abstinente Mutter stellen muss, ist
liebevolle Einsicht und erzieherische Beeinflussung ihrer Dienst¬
boten. Denn wie oft fühlen sich Kinder und Dienstboten herz¬
lich zu einander hingezogen, und wie bedenklich kann es
wirken, wenn diese den Kindern in bester Meinung von ihrem
eigenen Bier oder Landwein zu kosten geben und den Genuss
wohl gar durch Zucker noch zu erhöhen suchen!
Ganz besonders aber wird es die abstinente Mutter ver¬
meiden, den Alkohol als Mittel zur Erhöhung der Festfreude
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370
Abhandlungen.
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dem Kinde vor Augen zu führen. Würde er doch dadurch
mit einem geheimnisvollen Reiz umgeben und in der Phantasie
des Kindes leicht eine gefährliche Rolle spielen.
Das muss unter allen Umständen vermieden werden, um¬
somehr, da ja nach sechs Jahren schon die Mutter einen grossen
Teil ihres Einflusses an die Schule abgeben muss. Und für
das abstinente Kind bedeutet die Schule den Eintritt in das
bisher verschlossene Land der Trinksitten. Trinken doch die
grössere Hälfte aller deutschen Schulkinder täglich Bier, Wein
oder gar Schnaps, weiss doch dem kleinen Abstinenten fast
ausnahmslos jeder seiner Kameraden von Familienfesten zu er¬
zählen, in denen er „wie ein Erwachsener“ habe trinken dürfen.
Es kommt auf des Kindes Wesen an, was tieferen Eindruck
macht: dieses lockende Prahlen der Schulfreunde oder die Er¬
fahrung, dass auch der Lehrer „trinkt“, dass Bier oder Wein
unvermeidlich zu seiner Festfreude gehören.
Wie fest muss sich das Beispiel des Elternhauses beweisen,
um solchen Einwirkungen gegenüber Stand zu halten! Das
junge Schulkind hat ja nichts als den Glauben an die Persön¬
lichkeit seiner Eltern ihnen entgegenzustellen. Die abstinente
Mutter muss in jeder Handlung, in jedem Wort, in jeder Bewe¬
gung ihrem Kinde heilig und unantastbar geblieben sein: sonst
war ihre Arbeit vergebens, wie auf jedem anderen Gebiete der
Erziehung, so auch in unserer Sache.
Ist es nicht, Ihr Mütter, ein köstliches Ding um solch ein
Ideal, dem man dient ? Um ihm näher zu kommen, muss sofort
der ganze Mensch vollkommener und reicher werden; dieses
Ideal ist ein Herr, der eifrige Dienste, ja der die ganze Persön¬
lichkeit fordert; freilich nicht um sie zu verzehren, sondern um
sie reicher wieder sich selbst zurück zu geben.
Denn immer mehr wächst die Aufgabe der abstinenten
Mutter: sie muss ihr Kind für den Moment seines Lebens vor¬
bereiten, indem sein Glaube an Autoritäten überhaupt und auch
an die mütterliche die ersten Schwankungen erleidet. Sie muss,
was sie früher vermieden, ihm den Trunkenbold zeigen, und
es selbst den Schluss finden lassen, dass ein Getränk, dass so
wirken kann, niemals ungefährlich ist. Sie muss es ver¬
stehen lehren, warum gerade dem Rauschmittel gegenüber von
seiner ganzen Umgebung die Wahrheit so schwer erkannt und
Original fro-m
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Wegscheider-Ziegler, Wie bewahren wir Mütter unsere Kindei etc. 371
gesagt wird; es muss mit logischer Schärfe erkennen, dass in
der Natur der alkoholischen Getränke selbst mit Notwendigkeit
die Täuschung über ihren Wert für alle die begründet liegt,
die sich ihrer Wirkung aussetzen.
Sie muss seine Beobachtung verfeinern, damit es an seinen
Kameraden die erschlaffende oder irritierende Wirkung auch
kleiner Mengen Bieres oder Weines erkennt. Sie muss ihm
schliesslich seine geistige Rüstkammer anfüllen mit Waffen
gegen alle die ernsten und spöttischen Angriffe, denen der
Abstinent zu begegnen pflegt.
Schwer und an Sorgen reich, nicht allein wegen des Kampfes
gegen den Alkohol, sind diese ersten 4, 5, 6 Schuljahre. Ganz
allmählich scheint den Müttern der Kinder Seele zu entgleiten.
Als sei sie der gleichmässigen Wärme und Sicherheit der schütz¬
enden Mutterhände überdrüssig, sucht sie Fremdes, Neues.
Gefahren fangen an, zu locken. Verbotenes reizt. Alles, was sich
zeigt, wird zur Gelegenheit, die junge Kraft zu probieren.
Aber sorgt nicht zu sehr, Ihr abstinenten Mütter! Gerade
Euch ist ein Mittel gegeben, die flüchtigen Seelchen wieder
einzufangen, gebt ihrem Fluge ein Ziel! Vertieft Eure und Eurer
Kinder Auffassung des Kampfes gegen den Alkohol.
Nicht um der eigenen Gesundheit willen lasst den Knaben
abstinent sein. Diese Gesundheit ist Eurem Kinde, dem sie noch
nie fehlte, wenig wert, und täglich kann es in eine Lage kommen,
in der es sie für das geringste Vergnügen leichthin in die
Schanze schlägt. Lehrt den Knaben jetzt sehen, dass er nicht
allein lebt, dass seiner Nächsten Leben zu seinem gehört, und
sein Leben zu dem der Nächsten. Und dann lasst ihn hinein
sehen in das Elend, das die Trinksitten über unser ganzes Volk
bringen, lasst es ihn als sein eigenes Elend empfinden. Zeigt
ihm das Volk in seiner dumpfen Knechtschaft, wie es dem
Alkohol fröhnt, wie es ihm sein Geld und seine Zeit opfert,
und wie der Drache, damit nicht zufrieden, ihm auch noch seiner
Hände Kraft nimmt, ihm seiner Gedanken Klarheit umnebelt,
ihm seine Freudigkeit stiehlt, ihm sein Glück, sein Liebe und
schliesslich sein Letztes, seine Kinder, mordet. Glaubt Ihr nicht,
dass der junge Held gern zum Schwert greifen würde und gegen
diesen Drachen ausziehen? Auf diesem Wege werden ihm
Abenteuer und Gefahren genug begegnen, die seinem Wage-
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372
Abhandlungen.
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mut Genüge leisten, und auf diesem Wege trifft er auch seine
Muster wieder. Sie ist nun nicht mehr nur die Schirmende
und Warnende, sie ist seine Kameradin geworden, und das zu
einer Zeit, in der der Sohn ihrer am dringendsten bedarf, in
der bedeutungsvollen Zeit der Pubertät. Die Alkohol-Abstinenz
ist ja eins der sichersten Mittel, das den Knaben vor einem zu
frühen Entfalten des Geschlechtstriebes hütet. Kann er seiner
Mutter, weil er sich in seinen höchsten Interessen von ihr ver¬
standen sieht, von seinen ersten Anfechtungen erzählen, so wird
er mit lebendigem Dank für sein ganzes Leben vor andern
Jünglingen bevorzugt sein: denn sie wird ihm helfen können,
diesen Kampf zu einem guten Ende zu führen. Welches Sohnes
Mutter hat je Grösseres erstrebt!
Und das heranwachsende Mädchen, das nach Hingebung
irgend welch Art hungert und dürstet! Wisst Ihr seiner wirren
Schwärmerei einen würdigeren Gegenstand als das Ideal eines
Volkslebens, das frei von jeder Betäubung, erlöst aus der Dumpf¬
heit der Narkose, ein Leben in der Liebe, in freier Bildung, in
bewusster persönlicher und sozialer Gestaltung werden kann?
Könnt Ihr seinem natürlichen Sinn für die Schönheit und Reinheit
der Umgebung bessere Nahrung geben als die, dass Ihr es zum
Wächter der Schönheit und Reinheit in der Familie und in der Ge¬
selligkeit macht, die ja von nichts stärker bedroht werden, als vom
Alkohol? Und was kann Eure Töchter besser davor bewahren,
dass sie in ihrer natürlichen Abneigung gegen alles Niedere
und Gemeine sich in Absonderung und Weltfremdheit ver¬
irre, als dass Ihr ihr eine reale Aufgabe im Kampfe gegen eine der
Hauptstützen der Gemeinheit, gegen den Alkohol, gebt? Da
könnt Ihr all ihre kleine Hausmütterlichkeit mit an die Arbeit
heranziehen, all ihre Lust, zu beschützen, zu pflegen, zu
schmücken und zu feiern.
Wahrlich, Ihr habt es besser als andere Mütter, Ihr ab¬
stinenten Frauen. Euch erhaltet Ihr die Kinder. Mit ihnen
aber gebt Ihr unserm Volke ein herrliches Geschenk, die Gewähr
für unsere Zukunft, für eine klare, feine, freie Kultur, für ein
Leben ohne Narkose!
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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „W^in ist Gesundheit“? 373
Was lehrt uns die Broschüre:
„Wein ist Gesundheit“?*)
Von Dr. med. A. Steg man PI in Dresden.
Eines der erfreulichsten Zeichen für die Wirksamkeit des Kampfes
gegen den Missbrauch geistiger Getränke bilden die Abwehrversuche der
am Alkoholverbrauch materiell interessierten Kreise. Dieselben richten
sich freilich nur gegen die Abstinenz, man hat nie gehört, dass
Destillateure, Brauer und Weinhändler Schritte unternommen hätten,
um den Bestrebungen entgegenzutreten, welche ausschliesslich den un-
mässigen Genuss für verwerflich, den mässigen Gebrauch geistiger Ge¬
tränke aber für nützlich oder doch unschädlich erklären. Alle Freunde
der Mässigkeit, welche Richtung sie auch vertreten mögen, sind jedoch darin
einig, dass der ungeheuer angewachsene Alkoholkonsum eingeschränkt
werden muss, wobei natürlich die Interessen derer leiden werden, die von
der Bereitung und vom Verkauf geistiger Getränke leben. Dass die
Interessenten ihren Zorn so ausschliesslich gegen die Abstinenten richten,
ist daher höchst auffallend und legt den Gedanken nahe, dass die
Taktik dieser Richtung die bessere ist, dass sie dem allgemein gewünschten
Ziel am nächsten kommt. Weiterhin ist erfreulich, dass es den Interessenten
trotz aller Mühe nicht gelungen ist, irgendwelche Tatsachen beizubringen,
um die Behauptungen der Alkoholgegner zu widerlegen, es ist vielmehr über¬
raschend, zu sehen, in wie weitem Umfange die Feststellungen über die
Schädlichkeit des Alkoholgenusses selbst von dieser Seite als richtig
*) „Zur Antialkoholbewegung“. Wein ist Gesundheit, eine Widerlegung der
irrigen Ansichten der Alkoholgegner, auf Grund einer Reihe Gutachten ärztlicher
Autoritäten bearbeitet und zusammengestellt von Franz Goldschmidt, Redakteur
der „Deutschen Weinzeitung“, Weinsachverständiger des Kaiserlichen Statistischen
Amtes. Verlag der „Deutschen Weinzeitung“. Mainz 1904.
Die Alkoholfrage. 25
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Abhandlungen.
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anerkannt werden. Wer die neuerdings vom Redakteur der »Deutschen
Weinzeitung«, Herrn Goldschmidt, auf Grund einer Reihe von ärzt¬
lichen Gutachten verfasste Broschüre aufmerksam liest, wird darin Dinge
finden, die auch einen begeisterten Anhänger des Weines und anderer
geistiger Getränke stutzig machen könnten; er wird aber vergeblich nach
Mitteilungen über Tatsachen suchen, auf welche sich die Behauptung
von der Nützlichkeit und Unschädlichkeit des Alkoholgenusses gründen
liesse. Herr Gold Schmidt betont in der genannten Schrift, dass bei
Erörterungen über die Alkoholfrage subjektive Erfahrungen und Ueber-
zeugungen nicht massgeblich sein dürften und dem ist sicher voll bei¬
zustimmen. Eben aus diesem Grunde aber muss man die Mehrzahl der
von ihm herbeigezogenen »Gutachten« als ungeeignet zu ernsthafter
Besprechung bezeichnen. Unter den 17 Antworten, die der »Deutschen
Weinzeitung« auf ihre Umfrage zugingen, finden sich nicht weniger als
13, welche nur den persönlichen Standpunkt des Einsenders zum Aus¬
druck bringen, ohne für denselben eine eingehendere Begründung zu
geben; mit diesen ist eine Auseinandersetzung nicht möglich, weil eben
nicht durch Abwägen der Autorität, sondern nur durch Darlegung der
Gründe in derartigen Fragen entschieden werden kann, wer recht hat.
Die Mitteilung des Herrn Professor v. G r ü t z n e r ist dabei noch so
unvollständig wiedergegeben, dass der Einsender sich zu einem Protest
veranlasst gesehen hat, weil durch Weglassung eines wesentlichen Teiles
der Sinn seiner Aeusserung geradezu umgekehrt worden sei. Nur 4 der
Einsender haben ihren Standpunkt näher begründet und obgleich auch
bei ihnen die persönliche Ueberzeugung mehr als alles andere betont
ist, finden wir hier doch Dinge angeführt, über die man reden kann.
Auch in einigen der nicht besonders für diesen Zweck geschriebenen,
aber von Herrn Goldschmidt zitierten ärztlichen Aussprüche finden
sich tatsächliche Angaben, deren Richtigkeit wir zu prüfen haben.
Zunächst freilich müssen wir auf einige Behauptungen der Broschüre
eingehen, die sich nicht auf die Frage nach dem gesundheitlichen Wert
alkoholischer Getränke beziehen und die einer Richtigstellung bedürfen.
Es wird dort gesprochen von dem »vielleicht etwas starken Alkohol¬
konsum einzelner Volksklassen« und von »relativ hohen Summen«, in
welchen nicht nur die Ausgaben für geistige Getränke, sondern auch
alle Aufwendungen für die dabei entstehenden Nebenausgaben bis auf
die Trinkgelder enthalten seien. Demgegenüber muss daran erinnert
werden, dass der Verbrauch alkoholischer Getränke bisher stetig gestiegen
ist und eine so enorme Höhe erreicht hat, dass jedem, nicht nur, wie
die Broschüre sagt, dem »befangenen und etwas kritiklosen Hörer«
»angst und bange« werden muss.
Man berechnet den Aufwand für Branntwein, Bier und Wein, indem
man annimmt, dass dafür folgende Preise gezahlt würden:
1.— M. für 1 Liter 5O°/ 0 iger destillierter Getränke (Schnaps,
Likör, Kognak und dergl.)
—.30 M. für 1 Liter Bier,
1.25 M. für 1 Liter Wein (Sekt inbegriffen).
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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit“?
275
Jeder sieht, dass diese Preise viel zu niedrig angesetzt sind, und dass
von all den unvermeidlichen Nebenausgaben dabei gar keine Rede ist;
aber schon nach dieser niedrigen Berechnung stellt sich, wie das Statist.
Jahrbuch für das Deutsche Reich erweist, der für geistige Getränke auf¬
gewendete Geldbetrag im Jahre 1903 auf 3,3 Milliarden Mark. Selbst
wenn die Behauptung richtig wäre, dass Deutschland ein »reiches Land«
sei, könnte eine derartige Ausgabe nicht gleichgültig bleiben, es fehlt
aber doch, wie nicht näher ausgeführt zu werden braucht, auf allen
Gebieten unseres öffentlichen Lebens an Geld und man kann wohl nicht
wie es Herr Goldschmidt tut von nationalem Reichtum sprechen,
solange die Mittel für die notwendigsten Bedürfnisse nur mühsam oder
gar nicht aufgebracht werden können und die Schuldenlast des Reiches
stetig wächst.
Würde nur ein Teil der jährlich vertrunkenen 3 1 / s Milliarden für
andere Ausgaben verwendet, so könnte dies schon reichen Segen stiften
und es ist gar nicht auszudenken, welche Umwälzung zum Besseren ent¬
stehen würde, wenn einmal einträfe, was die Weinhändler zu befürchten
vorgeben: die völlige Beseitigung des Alkohols als Genussmittel. Dass
dies plötzlich geschehen könnte glaubt wohl selbst Herr Goldschmidt
nicht, es ist aber auch nicht einmal wahrscheinlich, dass es überhaupt
jemals der Fall sein wird; selbst wenn es indessen gelänge, durch
irgendwelche Mittel den ängstlichen Traum der Weinbändler zur Wahrheit
werden zu lassen, so würde aus dem allmählichen Verschwinden der Alkohol¬
industrie keineswegs eine wirtschaftliche Krise entstehen. Es stellt sich näm¬
lich heraus, dass keine Art von Unternehmungen grosseren Stils so wenig volks¬
wirtschaftlichen Wert hat wie die Alkoholindustrie. Die Zahl der in ihr be¬
schäftigten Arbeiter und der Anteil der Arbeitslöhne am Gesamtgewinne ist
geringer, hingegen der Unternehmergewinn grösser als in allen anderen Be¬
trieben. Nach Feststellungen und Berechnungen, die in England angestellt
wurden, beschäftigt eine Grossbrennerei bei 30 Millionen Mk. Kapital nur 130
Arbeiter, während in der Landwirtschaft oder in anderen Industrien das¬
selbe Kapital 12—15000 Arbeitern Beschäftigung gibt. — Im Brauerei-
Grossbetriebe kommen auf 20 Millionen Mark Kapital 143 Arbeiter mit
143000 Mark Lohn, im Eisenbahnbetriebe hingegen 760 Arbeiter mit
1 300000 Mark Lohn. — Auf 100 Mark Einkommen der Unternehmer
werden in der Brauerei 7,50 Mark, in allen anderen Gewerben durch¬
schnittlich 30,50 Mark Lohn gezahlt. Die grossen in der Alkohol¬
industrie angelegten Kapitalien bringen also hauptsächlich einem kleinen
Kreise wohlhabender Leute Nutzen und könnten, wenn sie für andere
Betriebe frei würden, weit mehr für die Volkswohlfahrt leisten. Das
Eingehen der ganzen Alkoholindustrie wäre aber auch allen in ihr
Arbeitenden nützlich, denn diese Arbeit ist eine der ungesundesten, die
wir kennen. Die Berechnungen der Krankenkassen zeigen, dass die
Angehörigen aller Berufsklassen, die. mit Alkohol in irgend einer Form
zu tun haben, öfter und länger krank sind als die übrige Bevölkerung,
auch sind Unfälle bei ihnen häufiger, und die Lebensversicherungen
haben lestgestellt, dass sie früher sterben, als nach den üblichen Berech-
25*.
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nungen zu erwarten wäre; die englischen Lebensversicherungen verlangen
daher von solchen Leuten, wenn sie sie überhaupt aufnehmen, erhöhte
Prämien.
Hiermit sind wir nun schon übergegangen auf die Frage nach der
Wirkung geistiger Getränke auf die Gesundheit und wir wollen kurz
überblicken was wir hierüber wissen.
Erfreulicherweise braucht man heute nicht mehr zu betonen, dass
länger dauernder Missbrauch grosser Mengen Alkohol schwere Organ¬
schädigungen hervorruft, selbst Herr Goldschmidt lässt diese Tatsache gelten
und hält vor allem den Schnaps für gefährlich. Er wünscht, dass der Schnaps¬
verbrauch eingeschränkt, ja sogar ganz verhindert werde und nähert
sich also darin den extremsten Abstinenten, weniger Uebereinstimmung
herrscht freilich schon bei Beurteilung des Bieres und vom Wein weiss
seine Broschüre natürlich nur gutes zu berichten. Die allgemein ver¬
breitete Meinung, dass Bier und Wein wesentlich andere Wirkungen
hätten als destillierte Getränke lässt sich aber durch keinerlei exakte
Beobachtung stützen: in allen darauf gerichteten Versuchen hat man ge¬
funden, dass der Alkohol, der ja immer derselbe chemische Körper
bleibt, die Wirkung erzeugt, und dass andere Beimengungen wie die
Fuselöle im Schnaps, der Hopfenextrakt im Bier und die Bukettstoffe
im Wein, zwar nicht ganz wirkungslos sind, aber doch nur eine unter¬
geordnete Rolle spielen. Die Alkoholmenge, die beim Trinken in den
Körper gelangt, gibt deshalb den direkten Massstab für die Grösse der
Wirkung.
Es ist, wie gesagt, allgemein anerkannt, dass grosse Mengen Alkohol
— und wir fügen hinzu: gleichgültig in welcher Form sie genossen
werden — dem Organismus schaden. Die Angaben der verschiedenen
Forscher über die zahlenmässige Bezeichnung dieser grossen Mengen
gehen freilich auseinander, doch ist anzunehmen, dass Herr Goldschmidt
die Ansicht des Herrn Professor Hüppe teilt, der sie mit ioo gr. an¬
setzt. ioo gr Alkohol sind enthalten, in 2 / l0 1 Kognak oder 2 */ 2 1 Bier
oder 1 1 Wein. Ueber den Genuss solcher Quantitäten brauchen wir
demnach hier nicht weiter zu reden, wir wenden uns vielmehr zu den
kleinen Mengen, die nach Ansicht des Herrn Goldschmidt und seiner
ärztlichen Berater unschädlich sind und zu einem normalen Leben un¬
entbehrlich sein sollen. Auch hier sind die Grenzen unsicher, immer
wird betont, dass sie individuell verschieden seien, die meisten Autoren
lassen aber etwa 30 — 40 gr Alkohol als »kleine Menge« gelten.
Eine nützliche Wirkung solcher Alkoholgaben glaubte man in
Versuchen beobachten zu können, in denen die Tätigkeit des Magens
geprüft wurde, hierauf beziehen sich die von Herrn Goldschmidt zitierten
Aeusserungen des Professor v. Leyden; später fanden jedoch ebenso zu¬
verlässige Forscher das gerade Gegenteil, eine Verschlechterung der
Magentätigkeit in jeder Richtung, schon durch ganz geringe Alkohol¬
zufuhr; ausserdem aber ist daran zu erinnern, dass Schwankungen in der
Intensität der Magenarbeit auch unabhängig von äusseren Einflüssen
beobachtet werden und dass diese noch grösser sein können, als sie in
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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit“:
377
jenen Versuchen waren. Auch vom Darm gilt dasselbe, nur ist allgemein
anerkannt, was Professor Hüppe sagt, dass nämlich schon kleine Mengen
Alkohol die Ausnutzung der Nahrung im Darm deutlich herabsetzen;
von der Wirkung derselben auf die Leber wissen wir nichts. Am Herzen
konnte Rosenfeld nach Alkoholmengen von 30—60 gr in Form von
Sherry keine Wirkung beobachten, weder der Puls noch der Blutdruck
wurden irgendwie beeinflusst; Wein kann also unmöglich so stark an¬
regend auf den Herzmuskel wirken, wie meist angenommen wird. An
den Lungen ist unter Alkohol Wirkung eine Vertiefung der Atemzüge
beobachtet worden, Professor Z u n t z und G e p p e r t haben aber nach¬
gewiesen, dass damit keinerlei günstiger Erfolg erzielt wird, die Aus¬
scheidung von Kohlensäure und die Aufnahme von Sauerstoff bleibt
unverändert, die vermehrte Arbeit der Atemmuskeln beschleunigt aber
naturgemäss den Eintritt der Ermüdung; — die Nieren werden wie aus
sorgfältigen Untersuchungen von M o r i hervorgeht, durch Bier und Wein
wie auch geringe Mengen reinen Akohols deutlich gereizt.
Dass Alkohol trotz seines hohen Verbrennungswertes die Körper¬
temperatur nicht erhöht, lässt sich leicht nachweisen und erklärt sich
durch seine Wirkung auf die kleinen Hautgefässe; diese werden gelähmt
und können dann das Blut nicht so rasch wie sonst weiter befördern
— daher kommt vermehrte Blutfülle der Haut und diese bewirkt das
täuschende Gefühl der Erwärmung, während sie zugleich einen ver¬
mehrten Wärmeverlust herbeiführt.
Der Streit, ob die Leistungen der Muskeln durch geistige Getränke
erhöht oder vermindert werden, ist durch die neuesten Versuche dahin
entschieden, dass zwar im Anfang eine Erhöhung eintritt, die indessen
wegen ihrer geringen Grösse kaum jemals praktische Bedeutung gewinnt,
dass aber dann eine erhebliche und lange dauernde Verminderung folgt.
Die Unbrauchbarkeit der alkoholischen Getränke als Nahrungsmittel ist
jetzt klar erkannt und selbst Herr Goldschmidt gibt dies zu; mag Alkohol
auch gelegentlich Körper-Fett und selbst -Eiweiss ersetzen können, so
überwiegt doch stets der durch seine Giftwirkung bedingte Schaden;
ganz besonders muss aber noch hervorgehoben werden, dass Bier und
Wein, insbesondere Rotwein, keinen günstigen Einfluss auf die Blut¬
bildung haben.
Fast alle diese Angaben, deren Zahl sich leicht noch vermehren
liesse, sind dem Buche von Rosenfeld entnommen, welches auch
von Herrn Goldschmidt zitiert und als »bedeutsam« bezeichnet wird.
Das ist es in der Tat auch für uns, denn wir lernen aus ihm, dass
irgendwie praktisch verwendbare günstige Wirkungen auf keinem Gebiete
unseres Körper-Haushaltes nachzuweisen sind, wenn kleine Mengen
Alkohol verzehrt werden; freilich ist auch aus den eben besprochenen
Untersuchungen eine grobe Schädigung der Organe nicht zu erkennen,
es ist aber zu bedenken, dass solche Schädigungen lange Zeit unserer
Wahrnehmung verborgen bleiben können und erst bemerkt werden, wenn
sie einen hohen Grad erreicht haben. Wir sehen ja ähnliches z. B. bei
der Bleivergiftung. Es ist übrigens auch sicher, dass neben dem Alkohol
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Abhandlungen.
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noch andere Schädlichkeiten auf denjenigen einzuwirken pflegen, der
geistige Getränke geniesst, es wird aber doch dadurch die Gefahr des
Alkoholgenusses nur noch grösser. Deshalb ist es unverständlich, warum
Professor Hüppe solchen Wert darauf legt, dass das sogenannte Bier¬
herz auch bei russischen Teetrinkern gefunden werde; zunächst ist ja
nie bewiesen worden, dass dieses »Teeherz« existiert, ferner wäre noch
zu beweisen, dass solche Teetrinker alkoholenthaltsam lebten, dann aber
hat doch noch niemand gemeint, dass es empfehlenswert sei, 20 Glas Tee
täglich zu trinken —als mässigen Genuss wird man das kaum bezeichnen dürfen.
Wenn aber auch ein schädlicher Einfluss sehr kleiner Alkohol¬
mengen am einzelnen Menschen meist nicht zu erkennen ist, so geht
doch aus statistischen Feststellungen unzweifelhaft hervor, dass ein solcher
Einfluss existiert. In Deutschland haben wir noch nicht soviel abstinent
Lebende, dass eine Untersuchung darüber möglich wäre, ob der landes¬
übliche Genuss geistiger Getränke, oder die Abstinenz vorteilhafter für
die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens ist. Mehrere der von
Herrn Goldschmidt zitierten Aerzte berufen sich hierauf und meinen,
dass nur durch solche, an grossen Zahlen in einwandfreier Weise an-
gestellte statistische Erhebungen diese Frage entschieden werden könne.*
Nun solche Zahlen liegen vor, und zwar werden sie geliefert von den
Krankenkassen und den Lebensversicherungsgesellschaften in England.
In den grossen englischen Krankenkassen, welche Säufer nicht aufnehmen,
deren Mitglieder aber mässig Alkohol geniessen dürfen, war die Zahl
der auf jedes Mitglied entfallenden Krankheitstage 3 mal so gross, als
bei der Krankenkasse »Sons of Temperance«, die nur Abstinente auf¬
nimmt. Diese von Hoppe nach K e r r ’s Bericht mitgeteilten Zahlen
sind freilich älteren Datums, es ist indessen bisher nichts angeführt worden,
was gegen ihre Richtigkeit spräche. Besonders sorgfältig bis in die
neueste Zeit fortgeführtes und ausgewähltes Material bieten aber die
englischen Lebensversicherungen dar, welche die grossen ihnen zur Ver¬
fügung stehenden Zahlen bereits seit Jahren darauf hin geprüft haben,
wie mässiger Alkoholgenuss die Sterblichkeit beeinflusst. Dass er sie
erhöht, wusste man schon längst und hat deshalb eigene Abteilungen
für Abstinente errichtet, in denen die Prämien geringer sind; man hat
aber auch schon seit langer Zeit in die allgemeinen Abteilungen nie¬
manden aufgenommen, bei dem der Verdacht bestand, dass er Gewohn¬
heitstrinker sei, sodass diese Abteilungen nur solche Leute enthalten, die
allgemein als streng mässig gelten. Die Zahl der eingetretenen Todesfälle
betrug nun in allen derartigen Versicherungen in England für die Abstinenten¬
abteilungen nur 67,5 % der zu erwartenden, während in den Abteilungen der
mässigTrinkenden 94,7 % der erwarteten Todesfälle eintraten. Es bleibt also
die Sterblichkeit der Abstinenten um 32,5 %, die der Mässigen aber nur
um 5,3 % hinter derjenigen der allgemeinen Bevölkerung zurück. Neuer¬
dings hat die älteste Gesellschaft mit Abstinenten-Abteilung die in den
Jahren 1840—1901 gesammelten Zahlen noch einmal unter Berück¬
sichtigung aller inzwischen gemachter Einwände prüfen lassen und ist zu
demselben Resultat gekommen, ja es hat sich herausgestellt, dass gerade
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Stegmann, Was lehrt uns die Breschüre: „Wein ist Gesundheit**?
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in der Zeit der besten Arbeitsleistung, vom 25.—60. Lebensjahr, die
Abstinenten eine um 35,7/0 geringere Sterblichkeit haben, als die übrige
Bevölkerung. Demnach ist kein Zweifel möglich, dass auch streng
mässiger Alkoholgenuss eine schädliche Wirkung auf den Körper hat,
und dass Abstinenz das Leben ganz wesentlich verlängert.
Nun sagen aber die Freunde des Herrn Goldschmidt: Es mag
sein, dass diese Nachteile mit dem Trinken verbunden sind, wir wollen
sie aber gern in Kauf nehmen, wir wollen lieber ein kürzeres Leben
voll geniessen, statt uns durch die Sorge um unsere Gesundheit zu
asketischer Entsagung bringen zu lassen; die Wirkung auf das Nerven*
System, auf Geist und Gemüt ist es, die wir brauchen, deshalb müssen
wir Alkohol trinken. Prüfen wir an der Hand der wissenschaftlich fest¬
gestellten Tatsachen wie es damit steht! Dass geistige Arbeit durch Alkohol
gefördert oder erleichtert werde, wird ernstlich kaum noch behauptet.
Die Versuche der Kraepelinschen Schule und andere exakte Be¬
obachtungen, die bisher nicht widerlegt sind, beweisen unzweideutig,
dass regelmässiger Genuss von Bier und Wein auch in Grenzen, die
allgemein für mässig gelten, eine erhebliche Schädigung der geistigen
Arbeitsleistung erzeugt. Die ^Arbeit wird nicht nur an Menge, sondern
auch an Wert geringer. Die unter dem Einfluss des Alkohols produzierten
Gedankenverbindungen sind weniger originell und die Zahl der Fehler
wächst. Dies tritt umso deutlicher hervor, je höhere Anforderungen an
die Versuchspersonen gestellt werden. Es ist aber von allen Forschem
bemerkt worden, dass diese Personen trotz unzweifelhaft verminderter
Leistung stets das Gefühl hatten, mehr geleistet zu haben. Die tatsächlich
nachweisbare Erschwerung der Tätigkeit durch Alkohol wurde von ihnen
also nicht empfunden, sondern sie glaubten im Gegenteil eine Erleichterung
zu spüren. Die Zahl solcher Untersuchungen ist jetzt so gross geworden
und ihre Ergebnisse sind unter so verschiedenen Bedingungen nachge¬
prüft, dass es nicht mehr möglich ist, sie zu ignorieren. Man hat aber ein¬
gewendet, dass doch viele Menschen trotz verhältnismässig hohen Alkohol¬
verbrauches in ihrem Berufe tüchtiges leisten und meinte, dies sei mit
den Erfahrungen beim Experiment unvereinbar. Die Tatsache, dass
Abstinenten oft weniger leisten, als mässig Trinkende kann freilich nicht
in Abrede gestellt werden und dies ist auch nie geschehen, nur das
können wir auf Grund der angeführten Tatsachen behaupten, dass unter
sonst gleichen Bedingungen d. h. bei gleich guter Veranlagung und gleich
schwerer Arbeit, der Abstinente im Vorteil ist. Im Leben werden diese
Vorbedingungen kaum jemals erfüllt sein und deshalb treten leicht
Täuschungen ein; man merkt nicht, dass ein Mensch, der Alkohol
trinkt, weniger leistet, weil das Mass von geistiger Kraft, das ihm trotz
des Trinkens noch bleibt, allen Anforderungen genügt, die an ihn her¬
antreten. Wir können uns denken, dass jemand für einen einfachen
Beruf nur die Hälfte der Spannkraft braucht, die ihm von Natur gegeben
ist, die andere Hälfte bleibt gewissermassen in Reserve und dient für ausser-
gewöhnliche Leistungen ; je mehr solcher Reserven vorhanden' sind, umso
leichter wird die tägliche Arbeit geleistet, umso sicherer bleibt auch auf
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380
Abhandlungen.
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die Dauer die Elastizität und Frische des Geistes erhalten. Wird nun
ein Teil dieses überschüssigen, aber doch keineswegs zwecklosen Kräfte¬
vorrates gelähmt durch regelmässigen Alkoholgenuss, so braucht das
nicht in die Erscheinung zu treten, es wird sich aber vielleicht erkennen
lassen, wenn einmal durch Krankheit oder Ueberlastung mit Arbeit die
äusserste Kraftanstrengung vom Organismus verlangt wird.
Dieser Mangel an Elastizität ist nun eine der wichtigsten Ursachen
für die immer mehr sich verbreitende Nervosität. Wie der vom Hause
aus schwach Veranlagte nervös wird, wenn er mehr leisten soll, als er kann,
ebenso wird es derjenige, der seine ursprünglich ausreichenden Fähigkeiten,
durch Alkohol vermindert hat. Es ist daher sehr merkwürdig, dass
einzelne der Aerzte in der Weinhändler-Broschüre alkoholische Getränke
zur Behandlung Nervöser empfehlen — sie stellen sich damit in einen
Gegensatz nicht nur zu sonst allgemein verbreiteten ärztlichen Ueber-
zeugungen, sondern auch zu andern von Herrn Goldschmidt zitierten
Autoritäten. So verlangt dort z. B. Professor Eulenburg auf Seite 42
der Broschüre, dass »das Abstinenzprinzip« »in Nervenheilanstalten, falls
sie auf diesen Namen mit wirklichem Recht Anspruch erheben wollen,
viel nachdrücklicher und konsequenter.,. . rücksichtslos durchgeführt
werden sollte.« Es soll nicht weiter eingegangen werden auf die in den
»Gutachten« niedergelegten Anschauungen über den Wert der geistigen
Getränke in der Krankenbehandlung. Dass sie kein stark wirkendes und
unentbehrliches Arzneimittel sein können, sahen wir ja schon und die
Erfahrungen des »Temperance Hospital» in London bestätigen, dass sie
in der Tat entbehrlich sind; aber nicht um die arzneiliche Anwendung
handelt es sich ja hier, sondern um den Einfluss der geistigen Getränke
auf Gesunde.
Herr Professor Schmidt-Rim pler schreibt nun an Herrn
Goldschmidt: »Wir sind doch nicht nur und nicht immer Verstandes-
Menschen« und wir müssen ihm darin beistimmen. Vom Standpunkt
des Arztes würde ein Opfer an Arbeitskraft und Gesundheit als das
kleinere Uebel erscheinen, gegenüber dem Verzicht auf frohen Lebens¬
genuss ; es müsste und könnte auch ertragen werden, wenn es notwendig
wäre zur Erhaltung der Lebensfreude. Die Frage ist nur, ob Alkohol
notwendig ist, um zu vollem Lebensgenuss zu gelangen, und ob das
Leben des Abstinenten tatsächlich eine dauernde Askese bedeutet.
Man behauptet dies und findet darin die Begründung und Be¬
rechtigung der bestehenden Trinksitten. Im Ernst wird man aber nicht
sagen können, dass das Streben, die Sorgen und Mühen des Lebens zu
vergessen, die alleinige oder auch nur die wichtigste Ursache des Trinkens
sei; die meisten Leute trinken, ohne sich klar zu werden warum, einfach
weil es die Gesellschaft erfordert, ja sie trinken nicht selten mit Unlust,
weil sie sich durch die allgemeine Sitte gezwungen fühlen. Dieser Zwang
existiert in der Tat und wird gerade in den führenden Kreisen unseres
Volkes am meisten geübt. Niemand denkt daran, auf die grosse Zahl
von Leuten Rücksicht zu nehmen, denen doch auch nach Professor
Eulen bürg und den andern Autoritäten, die Herr Goldschmidt zitiert,
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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit“?
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jede, auch die kleinste Menge Akohol schadet, obgleich man ihnen sonst
keinerlei krankhafte Erscheinungen anmerkt; sie alle werden mit mehr
oder weniger sanfter Nötigung gezwungen, die Trinksitte mitzumachen.
Wäre es anders und würde auch von den Gesunden das von jenen
Aerzten vorgeschriebene Mass eingehalten, so müsste man in jeder
grösseren Gesellschaft eine beträchtliche Anzahl von Wassertrinkern
treffen. Wer es versucht hat, wird aber bestätigen können, wie schwer
es ist, sich an das Prinzip zu halten, dass man nicht täglich und
nicht mehr als 30—40 gr. Alkohol d. h. also 2 Glas Bier oder 1 / 2 Flasche
Wein auf einmal zu sich nehmen dürfe; man ist ja damit bereits
gezwungen, sich der Trinksitte zu widersetzen, man fällt unangenehm
auf, kommt wohl auch in den Verdacht übertriebener Sparsamkeit und
was noch wichtiger ist, man kommt selbst nicht in eine gehobene Stimmung,
da hierzu das vorgeschriebene Mass erfahrungsgemäss nicht genügt. Herr
Goldschmidt freilich behauptet, dass dazu schon 1 Glas guten Weines hin¬
reiche, in der Praxis wird er selbst aber wohl, schon mit Rücksicht auf
seine Auftraggeber, mehr verbrauchen müssen, womit er übrigens nicht
allein steht, denn viele Leute müssen aus Geschäftsrücksichten mehr
trinken, als sie selbst wünschen und können das Mass nicht einhalten,
das ihnen frommt, weil es ihnen unmöglich ist, sich dem Trinkzwang
zu entziehen.
Wer sich aber wirklich Sorgen und Aerger durch Alkohol ver¬
scheuchen will, braucht in der Tat hierzu ein grösseres Quantum und,
setzt sich also den Gefahren aus, die auch in der Broschüre der Wein¬
händler deutlich genug geschildert sind. Die Wirkung des Alkohols ist
eben gerade dadurch so bedenklich, dass sie das Urteil trübt, die Neigung
zu weiterem Trinken schafft und den Trinker unfähig macht zu erkennen,
ob er bereits genug oder gar zu viel genossen hat.
Obgleich nun in unserer Geselligkeit gewiss nicht an Alkohol ge¬
spart wird, dürfte doch nicht bestritten werden, dass es oft gerade an
der gewünschten frohen Stimmung mangelt; wie könnte man sonst soviel
Klagen über lästige gesellschaftliche Verpflichtungen hören ; wozu sonst
die zahlreichen Ausführungen über die Reformbedürftigkeit unseres ge¬
selligen Lebens r Es kann also nicht wahr sein, dass Alkohol unter
allen Umständen erhöhten Lebensgenuss schaffe. Ebensowenig ist es
aber wahr, dass Fröhlichkeit nicht möglich sei ohne Alkohol — die
Hunderttausende von Abstinenten in allen Kulturländern, von denen
mehr als 2 5 000 in Deutschland leben, beweisen es und wer noch daran
zweifelt, kann auf ihren Festen oft genug sich davon überzeugen. Da
wird auch ohne die »moussierende Weinlaune« »manche gebundene
Stimmung, manche spielende Betätigung schöpferischer Phantasie unge¬
hemmt entfesselt« um mit Professor Eulenburg zu reden.
Es gibt aber noch viel ernstere Beweise dafür, dass Alkohol kein
unfehlbares Mittel zur Erhöhung der Lebensfreude und zur Pflege des
Gemütslebens ist. Die Zahl der Selbstmorde steigt überall im selben
Masse wie der Alkoholkonsum, und bei fast der Hälfte aller Selbstmörder,
deren Leichen er untersuchte, fand Professor Heller die körperlichen
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Spuren des Trunkes ; im Dresdner Stadt-Irrenhause sind bei mehr als 50 %
aller aufgenommenen Männer die Wirkungen des Alkoholmissbrauchs zu
konstatieren; 180000 Personen werden jedes Jahr in Deutschland be¬
straft wegen Gesetzes-Uebertretungen, die sie unter dem Einfluss des
Alkohols begingen; man denke ferner an die Beziehungen von Armut,
Bettelei und Prostitution zum Alkoholismus und man wird sagen müssen,
dass unzählige Menschen dem Alkohol nicht eine Erhöhung, sondern
geradezu die Vernichtung ihres Glücks zuschreiben müssen. Das sind
Opfer, die der Nation auferlegt werden, deren Zahl sich auch nicht
annähernd schätzen lässt, Opfer der Trinksitte und des Trinkzwanges,
und nur wer gewaltsam Augen und Ohren verschliesst, kann teilnahmlos
an ihnen vorübergehen.
Alle diese unsere Volksgenossen aber sind dem Alkoholismus ver¬
fallen, weil sie nicht die Kraft besassen, beim mässigen Trinken zu
bleiben, mit dem sie ja doch begonnen haben müssen. Es wird jeder
eine Anzahl solcher Leute kennen und man weiss, dass es oft nicht die
schwächsten und schlechtesten waren. Wenn ich aber sehe, wie Leute,
die klüger und energischer waren als ich, nicht zu erkennen vermochten,
welches Mass für sie das richtige war — wer sagt mir, ob ich dies
kann ? Professor Schottelius sagt: »dass gerade die Leute, am
meisten gefährdet sind, bei denen eine heftige Nachwirkung der Alkohol¬
vergiftung nicht eintritt«. Professor Eulenburg betont, dass »die mit Alko¬
holintoleranz behafteten Personen keineswegs ohne weiteres erkennbar sind«
und dass sie »sich selbst natürlich noch weniger kennen«, »die ihnen
verhängnisvolle Eigenschaft vielmehr erst spät kennen lernen .... dann
freilich mitunter zu tiefer eigener und fremder Schädigung«. Ähnlich
sprechen sich andere Autoritäten aus, nur sagt Professor G e p p e r t
wieder umgekehrt, dass man durch Beobachtung der Nachwirkung an
sich selbst das Mass dessen finden könne, was man trinken darf. Auf die
Frage, was i c h zu tun habe, um den mässigen Gebrauch von Alkohol
mir zu sichern, lassen mich also alle diese Autoritäten im Stich — ich
für meine Person möchte wenigstens nicht erst dann belehrt werden,
wenn ich die »tiefe Schädigung« schon erlitten habe — so oder so ähnlich
dürfte der unbefangene Leser jener Gutachten wohl ohne weiteres urteilen.
Wenn er nun noch auf der andern Seite von den Abstinenten behaupten
hört, dass sie sich freier, fröhlicher und gesünder fühlen, als vorher, so
mag er wohl Lust bekommen, sich auch von der Trinksitte frei zu
machen und den Alkohol ganz zu meiden. Der »gesunde Junge beiderlei
Geschlechts,« den Herr Professor Eulenburg so sehr schätzt, würde
danach wohl kaum auf den Gedanken kommen, weiter zu trinken, nur
um die Fröhlichkeit der andern nicht zu stören und er würde sich auf
denselben Standpunkt stellen, den Herr Professor Pelmann gegenüber
der Abstinenz einnimmt, indem er sagt, »ich erkenne zwar vielleicht die
Opferfreudigkeit einzelner Enthusiasten an«, aber nach ihrem Beispiel zu
handeln »fällt mir nicht ein«.
Das also ist der Erfolg, den die Broschüre bei einem aufmerk¬
samen Leser erzeugen wird — aber sie war doch im Aufträge der
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Stegmann, Was lehrt uns die Broschüre: „Wein ist Gesundheit^? 383
Weinhändler geschrieben? Haben die Herren da nicht einen schlechten
Anwalt gewählt? Wir können hoffen, dass es so sei, aber ich fürchte,
die Mehrzahl der Leser wird nicht aufmerksam genug die klein ge¬
druckten Stellen beachten, und Herr Goldschmidt wird recht behalten,
wenn er hofft, dass nur die ihm brauchbar erscheinenden Sätze, die er
deshalb auch im Druck hervorhob, gelesen, alles andere aber ignoriert
wird. So aber geht es erfahrungsgemäss mit allen «Gutachten», in denen
theoretisch erörtert wird, ob ein minimales Quantum Alkohol schade
oder nütze, während doch im Leben niemand daran denkt* sich auf ein
so geringes Mass zu beschränken.
Fassen wir noch einmal kurz zusammen, was uns die Broschüre
«Wein ist Gesundheit» lehrt, so kommen wir zu folgenden Sätzen:
1. Mässigkeit im Sinne der Broschüre «Wein ist Gesundheit» kann
nur unter Verzicht auf alkoholische Fröhlichkeit und nur von
wenigen Menschen auf die Dauer durchgeführt werden, sie ist
nirgendwo Volksgewohnheit. Den meisten Menschen schaden
auch kleinste Alkoholmengen.
2. Mässigkeit im landläufigen Sinne schadet nachweislich dem
Organismus erheblich und führt zur Erhöhung der Sterblichkeits-
Ziffer gerade im kräftigsten Alter. Abstinente von 25—60 Jahren
haben eine um 37,5 % geringere Sterblichkeit als die übrige
Bevölkerung.
3. Wer abstinent lebt, verliert dadurch nichts an Lebensfreude,
sondern gewinnt neue Genussfähigkeit. Eine schädliche Wirkung
der Abstinenz ist noch nie beobachtet worden.
4. In Deutschland wird infolge der herrschenden Trinksitten und
des Trinkzwanges jährlich die ungeheure Summe von mindestens
3 Va Milliarden Mark für alkoholische Getränke ausgegeben,
der Alkoholmissbrauch hat ausserdem noch zu den schwersten
Uebelständen geführt, der Kampf gegen den Alkoholismus
ist daher unabweislich.
5. Jeder einzelne kann zur Aenderung der Trinksitten beitragen,
indem er sie nicht mitmacht; wer Mässigkeit des ganzen Volkes
und gesetzliches Vorgehen gegen den Alkoholismus wünscht,
muss dafür eintreten, dass Alkoholabstinenz zur Lebensgewohnheit
möglichst weiter Kreise werde.
6. Die Broschüre der Weinhändler zeigt, dass die dort mitgeteilten
Gutachten, obgleich sie eindringlich zur Mässigkeit ermahnen,
doch verwendet werden, um für eine weitere Vermehrung des
Alkoholkonsums zu werben. Daraus folgt, dass derartige
Aeusserungen den so sehr notwendigen Kampf gegen den
Missbrauch geistiger Getränke nicht fördern, sondern erschweren.
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Das „mässige“ Trinken der Deutschen
in Amerika.
Von Dr. W. A. Stille, Hannover.
Meine Bemerkungen in Heft 2 dieser Zeitschrift über das Bier¬
trinken der Deutschen in Amerika, haben dort viel Zorn erregt, wie
aus dem betr. Referat in Heft 3 zu ersehen ist. Ob wohl diese Zomes-
ausbrüche die öffentliche Aufmerksamkeit der Deutschen in Amerika
insoweit wachgerufen haben, dass man endlich einmal anfangen möchte, die
Augen zu öffnen und nachzusehen, was Wahres an der Sache ist?
Wahrlich, bei ehrlicher Prüfung wird man sich überzeugen, dass ich
keineswegs übertrieben habe, sondern dass noch Vieles hinzuzufügen wäre!
Jedoch stehen grosse Schwierigkeiten dieser vorurteilsfreien Prüfung
entgegen. Zunächst der Unwille, der seit langer Zeit unter den Deutschen
in Amerika besteht, gegen alles was nach »Temperenz« aussieht. Dies
ist ein wunder Punkt. Seit mehr als 50 Jahren haben unsere Lands¬
leute gestritten für die »persönliche Freiheit«, nämlich die Freiheit, Bier
zu trinken, namentlich Sonntags und bei Musik; und immer sind die
Temperenzler noch nicht aus dem Felde geschlagen. Die Bierfrage hat
eine unverhältnismässig grosse Rolle gespielt, besonders bei den Wahlen
der städtischen Beamten in den Grossstädten. Alle deutschen Zeitungen
in den Vereinigten Staaten, so verschieden sie sonst in ihren Meinungen
sein mögen, in der Bierfrage sind sie einig, und Alle bekämpfen ein-
rfiütiglich Alles, was sich regt gegen den freien Biertrunk (wenigstens
ist mir keine einzige Ausnahme bekannt). Die Brauer könnten, wenn
sie wollten, manches Histörchen erzählen von den Umtrieben und ge¬
heimen Abmachungen und Kompromissen in den Legislaturen fast aller
Staaten der Union, wo allerdings die Geldmacht der Brauer eine Rolle
spielte. Gewiss, dies ist ein dunkles und unehrenvolles Gebiet; aber
unzweifelhaft ist es auch, dass hinter eben diesen Gesetzgebern eine
grosse Menge Menschen stand, die aus ehrlicher Ueberzeugung und mit
dem besten Willen und den edelsten Absichten Gesetze gegen den
Alkohol durchzubringen bemüht waren.
So wurde die Spannung immer grösser, und je mehr die Parteien
sich gegen einander erhitzten, um so weniger waren sie geneigt auf eine
Gck igle
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Stille, Das massige Trinken der Deutschen in Amerika.
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ernste, sachliche Prüfung einzugehen. Die Temperenzler kommen immer
wieder mit Argumenten, die ein für allemal bei unsern Landsleuten
nichts verschlagen, nämlich mit der Bibel und was sich daraus ableiten
lässt. Und reden sie vom Trinkerelend, so antwortet man ihnen, der
Mensch solle sich beherrschen lernen; und wenn es Trinker gibt, die
Unheil über sich und ihre Familien bringen, so sei das kein Grund für
die Abschaffung aller geistigen Getränke. So ist es gekommen, dass
jede der Parteien bei ihrer Meinung blieb, und es zu keiner Verständi¬
gung kommen konnte.
Anders sollte es aber doch billiger Weise sein, wenn überwältigendes
wissenschaftliches Material vorliegt, das die Schädlichheit jedes gewohn-
heitsmässigen Trinkens von alkoholischen Getränken beweist; wenn nach¬
gewiesen wird, dass man sich schwächt und schädigt durch den täg¬
lichen Biergenuss, ohne es zu merken. Aber leider, hierauf geht unser
deutscher Landsmann nicht ein. Er will nichts davon hören, weist es
von der Hand, denn er ist felsenfest überzeugt, dass der mässige Genuss
von Bier und Wein nicht nur unschädlich, sondern sogar der Gesund¬
heit zuträglich ist. Und in dieser Meinung ist er von jeher und bis
auf den heutigen Tag durch viele deutsch-amerikanischen Aerzte bestärkt
worden.
Es lohnt sich wohl der Mühe, zu zeigen, mit welcher Hartnäckig¬
keit die Deutschen in den Vereinigten Staaten alle Belehrung über die
schlimmen Folgen des gewohnheitsmässigen Biertrinkens von der Hand
weisen. Freilich fällt dabei die Hauptschuld auf die dortigen deutschen
Aerzte. Jeder deutsche Arzt weiss in Amerika (oder sollte wissen), dass man
in der Stadt Buffalo, im Staate New-York, seit 30 Jahren eine Krebs-
Statistik führt und dass sich aus derselben z. B. das höchst überraschende
Resultat ergeben hat, dass der Magenkrebs bei den Deutschen in Buffalo
gerade zehnmal so oft vorkommt als unter einer gleichen Anzahl
Anglo-Amerikaner in derselben Stadt. Die anglo-amerikanischen Aerzte
sind über die Ursache dieser furchtbaren Erscheinung gar nicht im
Zweifel, sie sagen: es ist das viele Biertrinken der Deutschen.
Lässt sich nun unser deutscher Landsmann warnen ? Nein, s o leicht
lässt er nicht ab von seinem guten Tropfen. Auch kommen ihm die
deutschen Aerzte zu Hülfe, denn sie sagen, die Sache sei ganz über¬
trieben durch die Wassersimpelei der anglo-amerikanischen Aerzte. Der
Magenkrebs könne aus mancherlei Ursachen entstehen, und sei sicherlich
keine direkte Folge des Biertrinkens. Aber sollten diese Aerzte auch
wohl, der Wahrheit gemäss, folgenden Zusatz machen : Das Biertrinken
bringt sehr oft Magenkatarrh hervor, hierdurch wird der Magen ge¬
schwächt und er wird daher jeder Erkrankung leichter zugänglich!
Sehr lehrreich in dieser Beziehung sind auch die Bemerkungen,
welche Professor Dr. Baelz (Tokio) in der 7. Sitzung des Deutschen
Komitees für Krebsforschung (25. Juni 1901)*) gemacht hat:
*) Deutsche medizinische Wochenschrift 1901, Yereinsbeilage S. 283.
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Abhandlungen.
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»Krebs ist im ganzen bei den Japanern unzweifelhaft seltener als
bei den Europäern. Dies ist sofort klar, wenn man die relativ zahl¬
reichen Fälle von Krebs bei den doch wenig zahlreichen Europäern
in Ostasien vergleicht mit dem was man bei den Eingeborenen zu sehen
bekommt. Damit ist auch schon gesagt, dass das Klima nichts mit der
grösseren oder kleineren Frequenz zu tun hat, dass dieselbe vielmehr
Rassensache oder Sache der Lebensweise ist. Der Einfluss der
Rasse oder Nationalität hat auch schon F. Billings in seiner grossen
Statistik über die Krankheiten in den Vereinigten Staaten
hervorgehoben. Nach ihm ist der Krebs (wenn ich mich recht erinnere
besonders der Magenkrebs) in den Vereinigten Staaten bei den Deutschen
unverhältnismässig häufiger als bei den Abkömmlingen anderer Völker.
Dass der Magenkrebs bei Potatoren besonders häufig vorkommt,
erscheint mir wenigstens für Japan zweifellos.«
Hierher gehört endlich die Bemerkung, dass die Schwächung des
Magens durch häufigen Magenkatarrh nur ein einzelner, besonderer Fall
einer allgemeinen physiologischen Wahrheit ist, nämlich dass jeder ge-
wohnheitsmässige Genuss alkoholischer Getränke den ganzen Menschen
schwächt. Ueber diesen äusserst wichtigen Punkt bitte ich das Referat im
2. Hefte dieser Zeitschrift, betitelt» Alcoholic Beveragesand Longe vity« nach¬
zulesen. Das dort entwickelte Hauptresultat lässt sich folgendermassen zu¬
sammenfassen: Vergleicht man die Sterblichkeit der enthaltsamen und der
nichtenthaltsaraen Männer während der Jahre der rüstigen Arbeit, von
25. biä 60., so zeigt sich, dass die Sterblichkeit der enthaltsamen um
35 % geringer ist als die der nichtenthaltsamen. Anders ausgedrückt:
nimmt man die Sterblichkeit der Enthaltsamen als Basis, so ist die
Sterblichkeit der Nichtenthaltsamen mehr als anderthalbmal so
gross als die der Enthaltsamen.
Wenn man die allgemeine Schwächung des Menschen durch den
Alkohol, speziell das gewohnheitsmässige Biertrinken, sich einmal klar
gemacht hat, so werden manche schlimme Erscheinungen unter den
Deutschen in Amerika sofort erklärlich, ja sie sind ein gewaltiges,
warnendes Massenbeispiel.
Der Alkohol ist vor Allem ein Gehirngift und seine abstumpfende
Wirkung zeigt sich nirgends schroffer als in den Vereinigten Staaten.
Reist man in Illinois, Wisconsin, Michigan, ja in einem beliebigen Staate
der Union und besucht die Städte, die vorwiegend oder ganz von
Deutschen und deren Abkömmlingen in der ersten Generation bewohnt
sind, und vergleicht diese mit gleichgrossen Städten, wo fast nur Anglo-
Amerikaner wohnen, so ist der Unterschied ausserordentlich gross und
für uns Deutsche beschämend. In der deutsch-amerikanischen Stadt ist
immer der Mittelpunkt des aussergeschäftlichen Lebens der Bierpalast.
Dort trifft man zu allen Tageszeiten Leute aus den verschiedensten
Gesellschaftskreisen, so jedoch, dass die arbeitenden, weniger bemittelten
Leute meistens andere Lokale aufsuchen, wo das Bier in grösseren
Gläsern ausgeschenkt wird und wo der freie Lunch weniger fein und
luxuriös ist, während das feine Bierlokal mit ausgesuchten Delikatessen
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Stille, Das massige Trinken der Deutschen in Amerika.
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zum freien Imbiss mehr den Geschäftsleuten und dem wohlhabenden
Publikum dient. Abends gibt es dort, wie in allen Bierlokalen, ein
reges Leben. Stammstuben und Stammecken nach bekanntem deutschen
Muster, häufig auch gibt es Musik, namentlich Sonntags. In einer
solchen Stadt fehlt nicht der Turnverein, der Kegelklub, der Skatklub,
der Schützenbund, der Männerchor. Auch ein Liebhabertheater ist manch¬
mal da. Und in allen diesen Vereinen und Klubs und Zusammenkünften
ist das Bier Trumpf und Hauptsache. Im Winter gibt es Bälle und
Konzerte und Theatervorstellungen, nachher natürlich Kneipe, nach altem
deutschen Brauch.
Und nun betrachten wir unsern deutschen Landsmann selbst, der
unter dieser Umgebung lebt. Meist zeigen sich an ihm schon früh die
Zeichen des sogenannten Wohllebens. Er ist recht wohlbeleibt, ein
gemütlicher Mensch, wie man zu sagen pflegt. Man kann mit ihm
über alle täglichen Dinge reden und über alles was in den Zeitungen steht,
aber über nichts anderes, denn er liest nichts als die Zeitung. Um die
grossen politischen Fragen kümmert er sich nicht und an Politik nimmt
er wenig Anteil. Von der geschichtlichen Entwickelung seines Adoptiv¬
vaterlandes hat er kaum eine dunkle Vorstellung und der englischen
Sprache ist er nur insoweit mächtig, wie es zu geschäftlichen Dingen
erforderlich ist. Sein geistiger Horizont ist beschränkt und seine An¬
sichten vom Leben und dessen Wert gehen nur auf äussere Dinge:
Gut essen und trinken, namentlich ein gutes Glas Bier oder Wein, wenn
es die Mittel erlauben, gelegentlich Musik und Theater, dazu der Stamm¬
tisch mit Kartenspiel, das ist so ziemlich die Summe seines Daseins.
Unser Landsmann steckt tief in dem baren Materialismus des Lebens,
seine Seele ist öde und leer.
Und nun zu der anglo-amerikanischen Stadt. Natürlich ist auch
hier nur die Rede von dem was der grossen, durchschlagenden Regel
gemäss ist. Dass es einzelne Anglo-Amerikaner gibt, für die das Bild
nicht zutrifft, versteht sich von selbst, ebenso wie es vereinzelt Deutsch-
Amerikaner gibt, die von der grossen Masse abweichen. Wie anders
sieht es in der yankee-town aus! Zunächst das äussere Ansehen.
Ueberall sieht man die Anzeichen von Wohlstand und Komfort. Es
sieht aus, als gäbe es hier gar kein Proletariat. Sieht man einen
schmutzigen Arbeiter, so ist er sicherlich ein geborener Ausländer, ein
Italiener, Irländer, Deutscher. Findet man überhaupt ein Trinklokal, so
wird es doch von keinem Menschen betreten, der etwas auf sich hält.
Freilich, es gibt auch einzelne Anglo-Amerikaner, die Spirituosen trinken,
aber die öffentliche Meinung ist streng dagegen, und in der guten Ge¬
sellschaft ist die Trinksitte verpönt. Wer dennoch trinkt, sucht es zu
verheimlichen. Wir gehen weiter in die Stadt. Nahe dem Mittelpunkt,
an einem öffentlichen Platz ist ein stattliches Gebäude. In den unteren
Räumen sind Lesesäle mit allem Komfort eingerichtet. Sie sind öffentlich
und frei für jedermann und werden viel benutzt, auch von Damen. Aber
sehen wir einmal zu was da zum Lesen aufliegt. Es gibt auch Zeitungen,
aber die Hauptsache sind die vielen gediegenen Zeitschriften, namentlich
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Monatsschriften. Und die scheinen uns viel zu hoch, als dass sie dem
grossen Publikum dienen könnten. Da ist das Atlantic Monthly, Scribner’s
Monthly, Century Monthly, Harper’s Monthly, The Forum, The Arena,
lauter Monatsschriften von hervorragendem literarischen Wert. Man denke
da nicht in erster Linie an Novellen, vielmehr sind es vorwiegend Auf¬
sätze höchst gediegenen Inhalts. Das Forum z. B. bringt meistens Dinge,
die zum Unterricht und zum Schulwesen und zum Universitätsstudium
gehören, die Arena bringt mehr politische, soziale etc. Dinge, das
Atlantic ist von jeher hervorragend gewesen als Organ der hochgebil¬
deten Bostoner Literatenkreise. Und alle diese Zeitschriften liegen nicht
bloss auf, sondern werden eifrig gelesen von jedermann im Volk. Ausser
diesen Monatsschriften gibt es viele Wochenschriften religiösen und wissen¬
schaftlichen Inhalts. An die Lesehallen schliesst sich die Bibliothek.
Diese ist auch weit reichhaltiger, als man wegen ihres populären Cha¬
rakters vermuten sollte. Die oberen Räume des Bibliotheksgebäudes
enthalten Säle, die hauptsächlich für öffentliche Vorträge gebraucht werden.
Auch dienen sie häufig den Debattierklubs. Wohl wäre es der Mühe
wert, auf den Inhalt der Vorträge etwas näher einzugehen. Sie sind
meist nicht nur gediegenen Inhalts, sondern zugleich schön an Form
und häufig gewürzt mit echtem," feinem amerikanischem Humor. Man
denke dabei ja nicht an die drastischen Dinge, denen wir manchmal in
den Zeitungen unter dem Namen »amerikanischer Humor« begegnen.
Und die Menschen, wie sind die? Zuerst und vor allen Dingen
sind sie von einem Optimismus durchdrungen, der uns übertrieben scheint.
Der Amerikaner sieht alle Dinge von der heiteren und hoffnungsvollen
Seite an. Er glaubt an den Fortschritt auf allen Gebieten und trägt
redlich seinen Teil zum Fortschritt bei. Der gebildete Amerikaner ist
intelligent und liebenswürdig im Umgänge, ein heiterer, heller Kopf.
Und wollte ich von der Intelligenz und dem Geist der amerikanischen
Frauenwelt reden, so würde das zu weit führen. Nur eins sei hierzu
gesagt: Nirgends in der ganzen Welt findet man wie in Amerika einen
so unschuldigen, feinen und doch kameradschaftlichen Umgang der Ge¬
schlechter mit einander.
Kann ein Zweifel bestehen, warum der Vergleich so sehr zum
Nachteil unserer Landsleute ausfallen musste? Gewiss nicht. Und dass
der Deutsche nicht notwendiger Weise in Bier versimpeln muss, sieht
man an solchen unter ihnen, die unter Anglo-Amerikanern aufgewachsen
sind, oder als ganz junge Leute in solche Umgebung kamen. Sie nehmen
alle die Eigenschaften des typischen Anglo-Amerikaners an.
Es wäre leicht, die unerfreulichen Vergleiche weiter zu führen.
Ich unterlasse es, um auf den gewaltigsten der Schäden hinzuweisen,
der meines Wissens noch niemals aufgedeckt worden ist, nämlich die
Vererbung der alkoholischen Gehirnschwächung.
In seinem inhaltreichen Buche »Die Amerikaner« führt Prof.
Münsterberg die sehr bedauerlichen Tatsachen an, von denen so¬
gleich die Rede sein soll, ohne sie aber auf irgend einen Grund zurück-
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Stille, Das mässige Trinken der Deutschen in Amerika.
389
zuführen. Dieser scheint ihm ganz entgangen zu sein, was ja auch er¬
klärlich genug ist bei der sehr mangelhaften Kenntnis der Alkoholfrage
unter unseren deutschen Gelehrten.
Münsterberg schildert die erstaunliche Armut der Deutsch-
Amerikaner an geistigen Produktionen und sagt von unseren dortigen
Landsleuten: »Anstatt auf geistige Güter hinzudrängen, haben sie sich
bei den reichlichen materiellen Gütern wohl sein lassen.« Und etwas
weiter hin : »Wird die Betrachtung auf die beschränkt, die in der neuen
Welt geboren sind, so liegt ein Mangel an geistiger Pro¬
duktion vor, der geradezu bedrückt.« Im Grunde handelt
es sich um einen Mangel an Leistungen jeder Art, wie auch Münster¬
berg nach weist. Fragen wir z. B. wie viele Abkömmlinge von Deutschen
im Kongress der Vereinigten Staaten Sitz und Stimme haben, oder gehabt
haben, wie viele von ihnen also zu der inneren Entwickelung der Ge¬
schichte des Landes beigetragen haben, so ist die Antwort ebenso be¬
schämend. Indessen erfordert die Gerechtigkeit, hier ein Wort zur teil¬
weisen Entschuldigung der ersten Generation unter den Abkömmlingen
der Deutschen einzufügen. Der geborene Deutsche nämlich, wenn er
in Amerika zu Wohlstand gekommen ist, lässt seine Kinder meist nur
auf Elementarschulen ausbilden. Die Jungen sollen früh ins Geschäft;
und wenn noch nach der Elementarschule etwas zur Ausbildung geschieht,
so wird der Junge auf das Commercial College geschickt. Dies ist aber
eine Schule für rein praktische Zwecke, wo Buchführen etc. gelehrt wird.
Schon die Namenverzeichnisse der Schüler in der High-School (einer
Mittelschule, die auf die Volksschule folgt) weisen überall eine erstaunlich
geringe Zahl deutscher Namen auf. Die einzige Ausnahme machen hier
die deutschen Juden, deren Kinder in grosser Zahl die höheren Schulen
besuchen, wo sie als sehr tüchtige Schüler bekannt sind.
Wenn ich nun dagegen die betrübende Tatsache wiederhole, dass
die nicht-jüdischen deutschen Kinder in den amerikanischen Schulen im
allgemeinen als etwas dumm gelten, so wird man nicht anders können,
als das ganz natürlich finden, sofern man nur nicht blindlings wegleugnen
will, was heutzutage über die Schädigungen der Kinder infolge der Trink¬
gewohnheiten der Eltern festgestellt ist. . Der Jude mag sich vielleicht
sonstigen Ausschweifungen hingeben, im Punkt des Alkoholgenusses ist er
meistens äusserst mässig und in Amerika macht er die Trinkgebräuche seiner
deutschen Landsleute nicht mit. Die alkoholische Vergiftung
der Keimzellen wird also in jüdischen Familien verhältnismässig selten
Vorkommen, während sie bei unseren nicht-jüdischen
deutschen Landsleuten ausserordentlich oft Vor¬
kommen muss.
Hier liegt ohne Zweifel der Schlüssel zum Verständnis jener
traurigen Verhältnisse. Möchten doch unsere deutschen Landsleute in
Amerika endlich einmal die Augen öffnen, und nicht mehr blindlings
alles von der Hand weisen, was nach »Temperenz« aussieht! Wahrlich
keine andere Frage hat für sie eine so gewaltige Wichtigkeit wie die
Alkoholfrage!
Die Alkoholfrage. 26
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Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol
am Ende des Jahres 1904.
Von Dr. med. Meiner!
Die besonderen Wege, auf welchen die allmähliche Emanzipation
der Deutschen von ihrem alten Erblaster erfolgen zu sollen scheint,
erklären sich zu einem nicht geringen Teil aus der für die germanische
Kultur charakteristischen Verquickung von höherer Bildung mit der
niedrigen Sitte, sich dem Genuss berauschender Getränke nach festen
Regeln hinzugeben. Der an den Hochschulen sich forterbende und wie
ein Palladium gehütete Trink-Comment ergiesst sich, einem nimmer ver¬
siegenden Strome gleich, weit über die Kreise der akademisch Gebildeten
hinaus, fort und fort in die oberen Schichten der Gesellschaft. Der in
diesem Strom schwimmende Deutsche gibt zwar zu, dass zuviel getrunken
wird, aber er selbst fühlt sich fast niemals mitschuldig. Bier, Wein,
Sekt, Cognak sind ihm einwandfreie Getränke. Dass er in ihnen mehr
Alkohol konsumiert, als der Arbeiter in seinem bei den Gebildeten
verpönten Schnaps, will er nicht hören. Er ist höchst einverstanden
mit dem Kampf gegen den Schnaps alkoholismus. Aber alle An¬
deutungen von der Existenz und Bedenklichkeit eines Alkoholismus der
höheren Stände verstummen ihn.
Es ist daher kein Wunder, dass die Bestrebungen des 1883 ge¬
gründeten deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke
bei den Gebildeten der Nation ungeteilten Beifall nur so lange fanden,
als der Verein unter »Missbrauch« im Wesentlichen die Trunksucht der
Schnapstrinker verstand und als seine Wortführer die Losung ausgaben,
dass der Schnaps durch das Bier zu bekämpfen sei. Die seit etwa zehn
Jahren sich sehr allmählich vollziehende und durchaus noch nicht zum
Abschluss gelangte Schwenkung des deutschen Vereins gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke zum Angriff auf das Uebermass in alkoho¬
lischen Getränken überhaupt, hat ihm die erstrebten Sympathien
der Arbeiterkreise nicht gewonnen, aber das Wohlwollen der höheren
Stände vielfach verscherzt. Man führt es wohl noch im Munde, weil
jeder verständige Mensch zu den Mässigkeitsfreunden gerechnet sein will,
aber pflegt es im Uebrigen zu betätigen.
Original fram
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Meinert, Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol etc.
391
Warme Vertreter des modernen Mässigkeitsgedankens sind selbst
im Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke verhältnis¬
mässig nicht in grosser Zahl vorhanden. Das Zugeständnis der Unmög¬
lichkeit, das für jeden Menschen erlaubte Mass geistiger Getränke zu
bezeichnen, war und ist leider noch heute vielen sogenannten Mässig-
keitsfreunden aus dem Herzen gesprochen. Denn am liebsten erteilt
ein gebildeter deutscher Mann auf die Frage »Wieviel darf man trinken?«
die Antwort: »Jeder nur soviel, als er vertragen kann.«
Die Aufstellung der gleich zu besprechenden neuen Definition von
»Mässig« und ihrer Uebernahme in das Programm des Deutschen Vereins
g. d. M. g. G. datiert erst seit dem VIII. internationalen Kongress gegen
den Alkoholismus (Wien 1901), dessen befruchtender Einfluss auf die
deutsche Antialkoholbewegung überhaupt immer deutlicher hervortritt.
Das Wort, welches damals in der Eröffnungssitzung der öster¬
reichische Ministerpräsident Dr. von K o e r b e r sprach, hat zweifellos
in so manches Gehirn und in so manches Gewissen hineingeleuchtet:
»Der Alkohol ist nur, wenn er als seltener Gast geduldet wird,
ein ungefährlicher Schmeichler; als Hausgenosse ist er ein Feind
des Menschen.«
Hervorragende Lehrer der Hygiene an deutschen Hochschulen ge¬
langten inzwischen zu der nämlichen Erkenntnis:
»Den gewohnheitsmässigen täglichen Konsum von Alkohol
auch in kleinen, bisher als relativ unschädlich betrachteten Mengen,
halte ich unter allen Umständen für schädlich.«
(Prof. Dr. R. Pf ei ff er ,
Direktor des hygienischen Instituts in Königsberg.)
»Ich verwerfe daher vom Standpunkt der Hygiene aus den ha¬
bituellen Genuss von alkoholischen Getränken selbst in kleinen
Mengen.«
(Hofrat Prof. Dr. Max Gruber,
Direktor des hygienischen Instituts in München.)
»Nur derjenige ist in Wahrheit mässig und befugt,
sich so zu nennen, der nichtjedenTaggeistigeGetränke
zu sich nimmt, »seinen« Wein und »sein« Bier trinkt, sondern
wer das nur gelegentlich tut und auch dann innerhalb der
oben angegebenen Grenzen bleibt.»
(Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Carl Fraenkel, Direktor des
hygienischen Instituts in Halle a. d. S.)
Der Deutsche Verein g. d. M. g. G., welchem diese wertvollen
Gutachten zur Verfügung gestellt waren, hätte, gestützt auf dieselben,
eine neue wirkungsvolle Agitation in Angriff nehmen können, wenn er
nicht genötigt gewesen wäre, in der von ihm veranlassten und redigierten
»Antwort der deutschen medizinischen Wissenschaft»
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auf die Frage: »Massigkeit oder Enthaltsamkeit?«, wenige Seiten vor
oder nach obigem autoritativen Erklärungen ganz entgegengesetzte Er¬
klärungen nicht minder hervorragender Hygieniker abzudrucken :
»Auf Ihre Anfrage vom 13. Dezember 1902 teile ich Ihnen mit,
dass meiner Auffassung nach ein m ä s s i g e r Alkoholgenuss nicht
schadet, denn Alkohol in kleinen Dosen ist kein Gift, sondern
ein angenehmes und unschädliches Anregungsmittel.«
(Geheimrat Professor Dr. A. Gärtner, Direktor des
hygienischen Instituts in Jena.)
»Selbstbeobachtung, sowie vergleichende Beobachtung an mir genau
bekannten Personen scheinen mir zu beweisen, dass die Grenzen
des gut bekömmlichen Alkoholquantums, in Gestalt von gutem
Wein und Bier, recht weit gezogen sein können.«
(Geheimrat Professor Dr. E. von Behring, Direktor des
hygienischen Instituts in Marburg.)
»Im ganzen kann wohl als feststehend gelten: Wenn der Alkohol
die Nahrung ersetzen soll — aus Not, aus Bequemlichkeit,
aus Gewohnheit oder aus Dummheit — dann wirkt er gesund¬
heitsschädlich, sonst aber nicht«
(Hofrat Professor Dr. J. Schottelius, Direktor des
hygienischen Instituts in Freiburg i. B.)
Durch diese und eine grosse Anzahl anderer sich schroff wider¬
sprechender Gutachten medizinischer Autoritäten ersten Ranges hatte die
»deutsche medizinische Wissenschaft« dokumentiert, dass zur Zeit in der
Alkoholfrage von ihr noch kein entscheidendes Wort gesprochen werden
dürfe, weil die Ansichten noch nicht genügend gereift seien. Der
Deutsche Verein g. d. M. £. G. aber, der sich in dem guten Glauben,
auf diese Weise den sichersten Weg zu gehen, an alle ordentlichen
Professoren der Physiologie, der Pathologie, der inneren Medizin, der
Psychiatrie, der Pharmakologie und der Hygiene an den Hochschulen
des Deutschen Reiches gewandt hatte, sah sich weniger durch die — an
sich höchst wertvolle — Enquete, als durch die von ihm gewählte Be¬
zeichnung : »Eine Antwort der deutschen medizinischen
Wissenschaft« 1 ) in eine recht kritische Lage versetzt.
Diese begann mit der überraschenden Auslage der ganz im Stillen
und selbst ohne Befragung des literarischen Ausschusses des Vereins
vorbereiteten Publikation in der Ausstellung des Bremer Internationalen
Kongresses (14.—19. April 1903).
T ) Mässigkeit oder Enthaltsamkeit? Eine Antwort der deutschen medizi¬
nischen Wissenschaft auf diese Frage. Im Aufträge des Deutschen Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke veröffentlicht von Professor Carl Fraenkel in
Halle a. d. S., Mässigkeitsverlag des Deutschen Vereins g. d. M. g. G., Berlin W. 15,
Fasanenstrasse 74 (ohne Jahreszahl). Das Vorwort Professor Fraenkels ist vom
18. Februar 1903 datiert.
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Meinert, Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol etc.
393
Zu allem Unglück erschien in Bremen Professor H u e p p e aus
Prag und provozierte schon in seiner Ansprache als Delegierter der
österreichischen Regierung die bekannten Lärmszenen. Da er erst wenige
Monate vorher eine im Mässigkeitsverlag erschienene Ehrenrettung des
Alkohols unternommen hatte, 1 ) die mit heftigen Ausfällen gegen die
Abstinenten gewürzt war, so glaubten viele der letzteren in ihm einen
vom Deutschen Verein geworbenen Angreifer vor sich zu haben. Mit
Unrecht. Hueppe war ohne Zutun des Deutschen Vereins nach Bremen
gekommen. Aber leider wurde das Misstrauen der Abstinenten genährt
durch den Beifall, den sein Abstinentenhass auf den Bänken der
Mässigen fand.
Noch einmal geriet der »Mässigkeitsverlag« bei der deutschen
Alkoholgegnerschaft in den Verdacht, es mit Hueppe zu halten, als
der Verlag eine weitere Kampfschrift Hueppes gegen die Abstinenten in
den Mässigkeitsblättern (1903, No. 8, S. 136) unentgeltlich ausbot. 2 )
In aller Form losgesagt hat sich der Deutsche Verein g. d. M. g. G.
von diesem gefährlichen Freund erst nach seinem Vortrag auf dem
Wiener Brauertage (Mai 1904) 8 ) und nach Professor Max Gruber’s
offenem Brief an seinen Spezialkollegen (vgl. »Die Gefahren des Alkohol¬
missbrauchs«, Korrespondenz, herausgegeben vom Oesterreichischen Ver¬
ein gegen Trunksucht und vom Sächsischen Landesverband g. d. M. g. G.
1904, No. 6, Beilage) mit dem wuchtigen Schlusswort:
»Ich beklage daher den Feldzug, den Herr Pro¬
fessor Hueppe gegen die Abstinenten führt. Ich fürchte,
alles das, was er gegen den Alkohol sagt, wird verhallen, das aber,
was er zu seinen Gunsten sagt, oder jene Worte, die wenigstens
zu seinen Gunsten gedeutet werden können, werden von gierigen
Ohren eingesogen werden und millionenfaches Echo finden. Möchte
Professor Hueppe, diese hervorragende Intelligenz, doch bald zur
Einsicht kommen, welchen ungeheuren Schaden er an¬
richtet, indem er einem vielleicht nicht ganz unberechtigten Aerger
nachgibt.«
Professor Grubers Befürchtungen sind eingetroffen. Die Schnaps-,
Bier und Weinproduzenten überschwemmten 1904 mit ihren Anpreisungen
ganz Deutschland, immer sich berufend auf Hueppe und andere hervoi-
ragende Mediziner, welche ihrem guten Zutrauen zum Alkohol (»mässig
genossen«) schwarz auf weiss Ausdruck verliehen hatten.
J ) Ist Alkohol nur ein Gift? Von Ferdinand Hueppe, Mässigkeitsverlag etc.
(ohne Jahreszahl). Der literarische Ausschuss des Deutschen Vereins g. d. M. g. G.
hatte diese Schrift gegen die einzige .Stimme des demselben angehörenden Arztes
gutgeheissen. Ihr erster Teü ist nur für Fachleute verständlich.
*) Der Kampf gegen den Alkoholismus auf dem Kongresse in Bremen. Von
Ferdinand Hueppe. Unentgeltlich zu beziehen vom Mässigkeitsverlag, Berlin W. 15.
®) „Alkoholmissbrauch und Abstinenz.“ Berlin 1904. August Hirschwald,
2. Auflage.
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Aufsehen erregten namentlich das Destillateur-Flugblatt: »Ist
Alkohol Gift?« oder »Ist Alkohol das Leben?« 1 ) und die Weinhändler-
Broschüre: »Wein ist Gesundheit.« 2 )
Aber nicht nur das unwissenschaftliche Eingreifen für den Alkohol
voreingenommener Gelehrter, sondern auch die mit fehlerhaften Voraus¬
setzungen auf dem Gebiete der Alkoholwirkungen arbeitende echte
Wissenschaft hat Verwirrung angerichtet. Das gilt namentlich von den
umfangreichen Versuchen über den Nährwert des Alkohols.
Die erste Phase dieser Versuche schloss zu Ungunsten, die zweite
zu Gunsten des Alkohols ab. Der Wert des Alkohols als Sparmittel
für Fett und Eiweiss war jedoch nur für — einige Wochen lang fort¬
gesetzte — tägliche Alkoholrationen erwiesen, welche über das als un¬
schädlich geltende Mass hinausgingen. Aber diesem Einwand gegen¬
über halfen sich die Experimentatoren mit der Erklärung, dass sie ihre
Versuchspersonen vorerst an die nötigen Mengen Alkohol gewöhnt,
also giftfest gemacht hätten. Diese Erklärung war nicht annehmbar.
Denn die in Frage stehenden Giftwirkungen des Alkohols in nicht be¬
rauschenden Gaben lassen sich durch Gewöhnung nicht verhüten, sondern
nur hervorrufen und steigern. Sie treten aber nicht bereits nach vier
Wochen (längste Versuchsdauer) ein, sondern nach Jahren und Jahr¬
zehnten, sind also experimentell überhaupt nicht erweisbar. Aber schon
die Annahme, dass es sich bei den an den Versuchspersonen nachweis¬
baren Ernährungseffekten um physiologische handle, war eine willkürliche.
Das ständige Massenexperiment, welchem sich die Gewohnheitstrinker
unbeabsichtigt unterwerfen, lehrt im Gegenteil, dass die Alkoholmast
eine pathologische Erscheinung ist, eine Anbildung von Fett und
Eiweiss am Unrechten Ort (z. B. »Bierherz«).
Diese naheliegenden Bedenken kamen aber merkwürdigerweise
keinem der im übrigen exakten Experimentatoren. Und so konnte der
Chemiker Prof. Duclaux, der inzwischen verstorbene Direktor des Instituts
Pasteur, auf Grund missverstandener Versuche seines amerikanischen
Kollegen Prof. Atwater 3 ) sogar behaupten, dass der Alkohol ein unent¬
behrliches Nährmittel sei. Diese Uebertreibung zog ihm allerdings
scharfe Zurückweisungen zu, namentlich durch Atwater selbst.
x ) Ein satirisches Gegenflugblatt desselben Titels ist vom Dresdener Bezirks¬
verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke in 90 000 Exemplaren verbreitet
worden und von dessen Geschäftssielle (Dresden-A., Holbeinstr. 105) zu beziehen.
2 ) Trefflich widerlegt vom Dresdener Nervenarzt Dr. Stegmann (vgl.
S. 373 ds. Heftes). Der vollständige Titel der sehr beachtenswerten Schrift lautet:
Wein ist Gesundheit. Eine Widerlegung der irrigen Ansichten der
Alkoholgegner auf Grund einer Reihe Gutachten ärztlicher Autoritäten,
bearbeitet und zusammengestellt von Fritz Goldschmidt, Redakteur der
Deutschen Wein-Zeitung, Weinsachverständiger des Kaiserlichen Statistischen Amtes.
Verlag der Deutschen Wein-Zeitung, Mainz (ohne Jahreszahl, aber 1904 erschienen;.
3 ) The nutritive value of alcohol. By Prof. W. O. Atwater. Physiological
aspects of the liquor probleu*. Boston and New-York, Houghton, Mifflin and
Company 1903,
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Meinert, Die deutsche Bewegung gegen den Alkohol etc.
395
Nach langen Kontroversen, an denen uns namentlich die geschickte
Ausbeutung der jeweiligen Konjunkturen durch die vom Alkoholkapital
abhängige Presse interessiert, einigten sich die Gelehrten dahin, dass der
Alkohol wohl wissenschaftlich (vom Standpunkt des Chemikers) zu cTen
Nährstoffen gerechnet werden müsse, weil er im Körper fast vollständig
verbrenne, dass er aber praktisch (vom Standpunkte des Physiologen)
seiner giftigen Eigenschaften wegen als Nährstoff nicht gelten zu lassen sei.
Aehnliche Verwirrung richteten die Forschungen über den Ein¬
fluss des Alkohols auf die Muskeltätigkeit an, ohne auch
hier zu neuer Erkenntnis zu führen.
Wie überhaupt die Antialkoholbewegung bei Alkoholfreunden, ge¬
bildeten, wie ungebildeten, kein Verständnis und keine Unterstützung,
wohl aber eine mehr oder weniger offene Gegnerschaft zu finden pflegt,
so geht es ihr auch mit den Verehrern eines guten Tropfens im ärzt¬
lichen Stand. Nur hieraus lassen sich z. B. die auffallenden Tatsachen
erklären, dass die Deutsche Volksheilstättenbewegung die wichtigen und
viel diskutierten Zusammenhänge zwischen Tuberkulose und Alkoholismus
und dass das deutsche Komitee für Krebsforschung die nicht minder
wichtigen Beziehungen zwischen Krebs und Alkoholismus in keiner Weise
würdigen und verfolgen, 1 ) während andererseits die »Blätter für Volks¬
gesundheitspflege« (Organ des Deutschen Vereins für Volks-Hygiene)
1904, No. 23, S. 361 die Phrasen Prof. Hueppes von der Minder¬
wertigkeit der Abstinenten, der Erleichterung der Muskel- und Gehirn¬
arbeit unter Umständen durch den Alkohol, vom Nährwert des Bieres,
von der Uebertriebenheit der Behauptung, dass Alkohol ein Gift sei,
dass er zu der Entartung der Rasse beitrage u. s. w., in weite Kreise
zu verbreiten sich für berufen fühlen.
Am meisten unter den für den Alkohol eintretenden Autoritäten
setzen sich wohl diejenigen dem Verdacht aus, selbst Alkoholiker zu
sein, welche offenbare Unwahrheiten behaupten, wie: dass die als Bier¬
herz bekannte Krankheit ebenso bei russischen Teetrinkern, auch wenn
sie niemals Alkohol getrunken hätten, beobachtet worden sei, oder: dass
*) Prof. v. Leydens bekannter Vortrag „V e 1 h ü t u n g der Tuber¬
kulose (1. Heft der Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für Volkshygiene)
gedenkt des Alkohols mit keinem Worte. — Die Abschaffung dei täglichen
Alkoholrationen in den Volksheilstätten für Lungenkranke ist bis
jetzt vergeblich gefordert worden und der „Sächsische Zentralverband zur Bekämpfung
des Alkoholismus“ hat diese dem „Sächsischen Landesverband gegen den Missbrauch
geistiger Getränke“ 1904 vom Sächsischen Heilstättenvoistand abgelehnte Forderung
bei diesem soeben erneut.
Im Bericht über das vorläufige Ergebnis der Sammelforschung vom
15. Oktober 1900 (Veröffentlichungen des Komitees für Krebsforschung I,
S. XVII) wurden die zahlreichen, später (S. 25) leider nur ganz summarisch er¬
wähnten Beobachtungen der einzelnen Berichterstatter über Krebs bei Alkoholikern
mit den befremdlichen Sätzen erledigt:
„Ebenso dürfte die Annahme des Alkohols als Krankheitsursache bei 14,7%
der Männer und 0,9% der Frauen mehr auf Vermutung als auf sicheren Beweisen
beruhen. Dass der Alkohol als solcher zu Krebs führen sollte, ist bei seinen anti¬
septischen Wirkungen von vornherein nicht wahrscheinlich.“
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jeder Mensch, auch der hartgesottenste Abstinenzler täglich »erhebliche
Mengen Alkohol« zu sich nehme, oder, um einen anderen Gewährsmann
für diese freie Erfindung reden zu lassen: — dass im frischen Brot
etwa V 2 % Alkohol enthalten sei.
So sehen wir, dass die Wissenschaft anstatt, wie man wohl zu er¬
warten berechtigt wäre, der Bewegung gegen den Alkohol geschlossen
Beistand zu leisten, neuerdings mannigfach mit oder ohne Absicht ihr
entgegenarbeitete. Während noch auf dem Wiener Kongress gegen den
Alkoholismus (1901) die Behauptung eines Arztes, dass die zweifelhafte
Stellungnahme und das nicht immer nachahmenswerte Beispiel so vieler
seiner Kollegen zur Zeit noch das Haupthindernis für den Sieg der
Antialkoholbestrebungen darstelle, — einen Entrüstungssturm in den
Reihen der anwesenden Aerzte hervorrief, würde nach den Erfahrungen
der letzten Jahre einer solchen Behauptung heute wohl kaum ernstlich
widersprochen werden können.
Die Erkenntnis, dass Urteilsfähigkeit in der Alkoholfrage einzig durch
Vertiefung in diese selbst und durch nüchternes Leben, nicht aber durch
medizinisches Studium sich erwerben lässt, bleibt aber nicht der einzige
Gewinn, welcher der deutschen Bewegung gegen den Alkohol aus der
Einmischung alkoholfreundlicher Aerzte in die Diskussion erwachsen ist.
Nach Austrag der absonderlichen Fehde scheint der Entwickelung
der deutschen Antialkoholbestrebungen eine friedlichere Zukunft zu winken.
Alle die gelehrten Aerzte, durch deren autoritative Zeugnisse das
im Schwinden begriffene Vertrauen zu Freund Alkohol wieder neu¬
gestärkt wurde, bekennen sich ausdrücklich zum Standpunkt der »Mässig-
keit«. Und doch wurden sie mit ihrer »Mässigkeit« zu Verführern.
Prof. v. Bunges ihm so übel vermerktes geflügeltes Wort »Die Mässi-
gen sind die Verführer«, hat sich also während der letzten beiden
Jahre leider nur allzusehr bewahrheitet. Dieses Zugeständnis müssen
wir Mässigkeitsvereinler den Abstinenten ehrlicherweise machen. Durch
dasselbe fällt aber eine der hauptsächlichsten Empfindlichkeiten weg,
durch welche die Eintracht zwischen zwei demselben Feind zu Leibe
gehenden natürlichen Alliierten, chronisch gestört wurde.
Wenn wir Mässigkeitsvereinler niemals wieder vergessen, dass wir
gegen den Alkohol kämpfen und nicht die Aufgabe haben, irgend
etwas zu seinen Gunsten vorzubringen, dann werden wir auch gegen den
verhängnisvollen Fehler gefeit sein, in der Hitze des Gefechtes die
Abstinenten für unsere Gegner zu halten.
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Peipers, Die Kuranstalt Siloah in Lintorf.
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Die Kuranstalt Siloah in Lintdri
in 25 jähriger Arbeit.
Von Dr. med. Peipers.
Die Kuranstalt Siloah in Lintorf feierte am 27. November 1904
ihr 2 5 jähriges Bestehen. Auf Einladung des Herrn Pastor Kruse, des
derzeitigen Vorstehers der Lintorfer Anstalten, hatte sich an dem ge¬
nannten Tage eine Reihe von Freunden und früheren Patienten zu einer
kleinen Feier in Siloah eingefunden, darunter auch der hochbetagte
Direktor Engelbert der Duisburger Diakonengesellschaft, dem die Lin¬
torfer Anstalten ihre Entstehung verdanken.
Siloah ist Deutschlands älteste Heilanstalt für Alkoholkranke, und
würde speziell zu diesem Zwecke erbaut. Schon der ältere Kliniker
Nasse hatte 1851 auf die Notwendigkeit eigener Asyle für Trinker hin¬
gewiesen. Er war in Deutschland wohl der erste Kliniker, der diese
Forderung aufstellte, während man in Amerika schon im Anfang des
vorigen Jahrhunderts zu dieser Erkenntnis gekommen war. In Nord-
Amerika war es bereits im Jahre 1809 von dem Arzte Dr. Russ aus¬
gesprochen worden, dass die :>intemperance« eine Krankheit sei und
dass eigene Hospitäler für diese Kranken errichtet werden müssten.
Auf dem Boden dieser Anschauungen wurde es dem Arzte Dr. Turner
möglich, einen Verein von Geistlichen, Aerzten und Beamten, dem die
Staatshilfe nicht fehlte, im Jahre 1854 zur Gründung eines Trinker-
Asyls zu gewinnen.
Aber schon 3 Jahre vorher hatte man in Lintorf eine Arbeit be¬
gonnen, die der in Newyork unternommenen ähnlich war. Dort in dem
weltabgeschiedenen Dorfe hatten die Duisburger Diakonen und an ihrer
Spitze Direktor Engelbert eine Zufluchtstätte für gescheiterte Existenzen
aller Art eröffnet. Aber bald war man zu der Erkenntnis gekommen,
dass die Schiffbrüchigen, die in diesem Hafen landeten, allesamt Alkohol
an Bord hatten und dass dieser die Hauptschuld an dem Schiffbruch
trage. Und so wurde aus dem Asyl in praxi eine Zufluchtsstätte für
Trinker, wenngleich man anfänglich der Arbeit nicht mit so klarer Er¬
kenntnis gegenüberstand, wie in Newyork. Denn während man in
Amerika im Jahre 1877 bereits 15 offizielle Trinkerheilanstalten, meistens
unter staatlicher Oberleitung, hatte, blieb in Deutschland das Lintorfer
Asyl die einzige Anstalt, die mit immer grösserer Klarheit sich dieser
Spezialarbeit widmete und in der neben dem einfachen Arbeiter Grafen
und Barone untergebracht wurden.
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Abhandlungen.
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Diese Vermischung der Stände wurde als grosser Missstand em¬
pfunden und Pastor Hirsch, der damalige Vorsteher des Asyls, sprach
es aus, dass man den Trinker vielmehr auf ein höheres geistiges und
gesellschaftliches Niveau heben müsse, als dass man ihn auf ein nied¬
rigeres herabdrücke.
Der jüngere Nasse, der Sohn des oben erwähnten Bonner Klinikers,
legte im Jahre 1877 der Konferenz für innere Mission die Resultate
vor, welche die amerikanischen Anstalten aufzuweisen hatten und die
durchweg recht günstige waren. Er formulierte, in völliger Ueberein-
stimmung mit seinem Korreferenten Pastor Hirsch, die Bedingungen für
eine Heilung der Trinker in folgenden 3 Forderungen :
1. Völlige Enthaltung von dem gewohnten Genüsse;
2. geeignete Körperpflege;
3. sittlich-religiöse Einwirkung, wesentlich erziehlicher Natur, drei
Faktoren, die geraume Zeit fort wirken müssten.
Die Ausführungen des berühmten Klinikers und seines Korreferenten
veranlassten die Duisburger Diakonengesellschaft, die im Lintorfer Asyl
begonnene Arbeit weiter auszubauen. Und als Siloah am 27. November
1879 seiner Bestimmung übergeben wurde, da begrüsste man diese Er¬
öffnung der ersten deutschen Heilanstalt für Alkoholiker als ein Ereignis,
das ein dringendes Bedürfnis befriedigen werde.
Siloah ist für viele der heute bestehenden Anstalten seinen Ein¬
richtungen und Prinzipien nach vorbildlich geworden. Es hat seinen
Charakter, der in den von Nasse aufgestellten Bedingungen zum Aus¬
druck kommt, nicht wesentlich geändert. Dagegen war es bemüht, in
seinen Einrichtungen den Anforderungen der Neuzeit nach Massgabe
seiner Mittel gerecht zu werden.
Arzt und Seelsorger haben einstens dem Unternehmen Gevatter
gestanden und unter diesen Auspizien hat »Siloah« und die im Jahre
1902 hinzugekommene dritte Anstalt »Bethesda« die wichtige Arbeit
fortgeführt. Materiellen Gewinn hat es seinen Gründern nicht gebracht;
aber es ist, das darf man wohl behaupten, zu einer Hülfe für viele ge¬
worden. 683 Kranke haben in den 25 Arbeitsjahren Aufnahme gefunden
und von manchen derselben traf am 27. November ein Gruss ein zum
Zeichen, dass er treu geblieben sei. Unter den 683 Patienten * waren
113 Ausländer. Dem Berufe nach waren es 280 Kaufleute, 81 Land¬
wirte, 53 Juristen, 25 Apotheker, 20 Offiziere, je 19 Theologen und
Mediziner, 31 Gastwirte, 7 Brauer, 14 Lehrer, 9 Architekten, 18 Rentner,
32 ^waren ohne Beruf und der Rest verteilt sich auf verschiedene Berufs¬
arten. Dem Alter nach waren unter 20 Jahren 8, von 21—30: 194,
von 31—40: 268, von 41—50: 162, von 51—60: 42, über 60: 9.
45 Patienten wuiden zweimal aufgenommen, 10 dreimal, 4 viermal, je
1 fünf- und sechsmal.
Die einfache Feier am 27. November 1904 gestaltete sich, wie
alle unsere Anstaltsfeiern, zu einer Art Familienfest, das wohl bei allen
Beteiligten freundliche Erinnerungen hinterlassen wird.
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Kruse, Die Mitwirkung Her Familie bei Her Behandlung des Alkoholkranken. 399
Die Hitwirkiing der Familie bei der
Behandlung des Alkoholkranken.
Von Pastor KrilS6, Vorsteher der Heilanstalten zu Lintorf.
Auf Grund der Anstaltserfahrungen soll in Nachfolgendem gezeigt
werden, wie sehr es an der Mitwirkung der Familie bei der Heilbe¬
handlung der Alkoholkranken fehlt. Schon auf der ersten Konferenz
der deutschen Heilanstalten (Dresden 1900) wurde ausgesprochen, dass
wir den Familien, die doch unsere vornehmsten Mithelfer sein sollten,
unsere ernstesten Bemühungen zuwenden müssten. Die letzte Konferenz
(Erfurt 1904) zeigte bei der Behandlung der Frage: »Wie erreichen wir
die Familien unserer Pflegebefohlenen?« volle Uebereinstimmung in der
Beurteilung des hier vorhandenen Notstandes und in dem Wunsche,
dass es gelingen möchte, die Familien zu verständnisvollerer Mitarbeit
zu gewinnen. Fan von der Lintorfer Anstaltsleitung dargebotenes, auf
die wichtigsten Punkte hinweisendes Anschreiben »An die Familien unserer
Pflegebefohlenen« wurde mit Beifall aufgenommen und soll von einer
grösseren Reihe der Anstalten benutzt werden. Dem gleichen Zwecke
wollen auch die nachfolgenden Zeilen dienen. Verfasser erkennt dankbar
an, dass er bei vielen Familien die verständnisvollste Unterstützung ge¬
funden hat, darf aber nicht verschweigen, dass die trüben Erfahrungen
weitaus überwiegen, und fühlt sich verpflichtet, zu zeigen, welche Fehler
vor allem zu vermeiden sind, wenn dasjenige Zusammenarbeiten von
Anstalt und Familie stattfinden soll, welches am sichersten dauernden
Erfolg verbürgt.
I.
Pastor Haake hat in dieser Vierteljahrsschrift (Heft 3, S. 239 ff.)
mit Recht nachgewiesen, dass die Fragestellung, ob die Trunksucht Sünde
oder Krankheit sei, durchaus falsch sei. Die Trunksucht ist beides, wie
ungleich im einzelnen Falle beides auch verteilt sein mag. Das ungemein
Wohltuende einer gesunden Anstaltsarbeit beruht gerade darauf, dass sie
den Pflegebefohlenen zunächst ausschliesslich als Kranken behandelt,
dem gegenüber Vorwürfe nicht am Platze sind. Nicht nur vor den Ver-
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suchungen, auch vor den Anklagen seiner Umgebung sicher, kommt der
Patient, je mehr er zu einem normalen Zustand zurückkehrt, in der
Anstaltspflege zur Selbstbesinnung. Jetzt wird der Blick rückwärts
und einwärts gelenkt, jetzt wird das Gewissen wach, während man früher,
für alles Bitten und Mahnen taub, durch die Vorwürfe der Umgebung
verbittert wurde. Ist doch auch der Trinker, zumal auf den vor¬
geschrittenen Stadien seines Zustandes gar nicht in der Lage, die zum
Ueberdruss oft empfangenen Weisungen zu befolgen. Dem in der rechten
Umgebung erwachenden Gewissen dürfen nun freilich keine Opiate ge¬
reicht werden. An diesem Punkte hat eine taktvolle Seelsorge einzutreten,
die zu tieferer Erkenntnis der gemachten Fehler führt, aber dann auch
für die Gewissenswunden die rechte Hilfe bietet. Zu siegreichen Kämpfern
gegen den Feind werden sich nur diejenigen entwickeln, welche ihrer
Schuld ledig und der Vergebung gewiss geworden sind. Während die
einseitige Betonung, dass die Trunksucht Krankheit sei, für den tiefsten
Schaden kein Auge hat, geschieht gründliche Arbeit nur dort, wo man,
das Moment der persönlichen Verschuldung nicht ausser Acht lassend,
die Persönlichkeit des Trinkers in ihrem innersten Kern zu fassen und
zu beeinflussen sucht.
Wir Berufsarbeiter der Trinkerheilung stehen in der Mitte zwischen
unseren Pflegebefohlenen und ihren Familien und müssen bestrebt sein,
dem altpreussischen suum cuique auch hier zu seinem Rechte zu ver¬
helfen. Bei Allem das Beste unserer Patienten im Auge, haben wir
auch die Anwälte der Familie zu sein, sonderlich dann, wenn unsere
Patienten, anstatt ernsterer Auffassung Raum zu geben und der eigenen
Mitschuld zu gedenken, gerade diejenigen für ihren Fall verantwortlich
machen, die vielleicht am allermeisten daiunter gelitten haben. Wollten
wir uns vorschnell gegen die Angehörigen einnehmen lassen, so bewiesen
wir damit nur einen bedauerlichen Mangel psychologischen Ver¬
ständnisses und pädagogischen Geschickes. — Auf der anderen Seite
aber sind wir auch oft genötigt, für unsere Pflegebefohlenen
einzutreten. Wir finden in den seltensten Fällen Verständnis dafür, dass
der Trinker, mag er auch durch eigene Schuld in sein Elend hinein¬
gekommen sein, sich in einem Zustand der Gebundenheit befindet. Die
Familien, die allerdings oft Entsetzliches zu leiden hatten, sind am aller¬
wenigsten geneigt, mildernde Umstände anzuerkennen : s i e sind es, die
in ihrem trunksüchtigen Gliede vor allem den lasterhaften Menschen
sehen, während wir oft das dankbare Wort eines Pfleglings hören, dass
er noch niemals mit solcher verständnisvollen Milde behandelt worden
sei, als in der Anstalt selbst, und dass die oft gehörte Ansicht, Trinker¬
heilanstalten seien voll finsteren Geistes, durchaus keine Berechtigung
habe. Die Familien sollten endlich begreifen, dass, wie schon der
harmlos scheinende, im Liede besungene Rauschzustand, so noch mehr
der chronische Alkoholismus eine Erkrankung des Gehirns bedeutet,
die um so tiefer geht, je länger der Kranke unter der schädigenden
Wirkung des Alkohols gestanden hat! Der Trinker selbst ist in erster
Linie der Leidende, dem gegenüber in hohem Grade das Wort am
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Kruse, die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 401
Platze ist, das für die in Unwissenheit Handelnden um Vergebung bittet.
Und je mehr erkannt wird, dass der Trinker nicht nur gegen seine
Umgebung frevelt, sondern sich selbst den Untergang bereitet, desto
mehr sollte geeilt werden, diejenige Behandlung eintreten zu lassen,
welche allein zur Freiwerdung und Umwandlung der gebundenen
und im innersten Kern angegriffenen Persönlichkeit führen kann. Solchen
Dienst wollen die Anstalten leisten. Aber wann und wie benutzt man
uns? Vielfach erst dann, wenns fast zu spät ist. Erst wenn Leib und
Geist den schwersten Schaden erlitten haben, wenn das Vermögen durch¬
gebracht ist, wenn auch Amerika, wohin man leider noch immer die
Charaktermollusken deportiert, nichts genützt hat, erst dann, wenn ein
unheilbarer Riss in der Familie entstanden ist oder das Amt auf dem
Spiele steht. Und weil man für das Wesen des Alkoholismus und die
Prinzipien der Heilanstalten kein Verständnis hat, so benutzt man
dieselben, um das lästige Familienglied nur für eine Weile loszuwerden.
Wie oft schreckt und droht man mit der Anstalt, anstatt dem der Be¬
handlung Bedürftigen Lust zu machen, zu seiner Genesung in dieselbe
einzutreten! Der Hinweis auf den bekannten Entmündigungsparagraphen
des bürgerlichen Gesetzbuches kann unter Umständen gute Wirkung
haben, aber er sollte erst dann ins Feld geführt werden, wenn Aerzte
oder Seelsorger sich vergeblich bemüht haben, dem Alkoholkranken
die Möglichkeit seiner vollständigen Heilung in gewinnender Weise vor
Augen zu führen. Am aussichtsvollsten ist es, wenn die Beeinflussung
von Jemandem ausgeht, der die Hilfe der Anstaltsbehandlung an sich
selbst erfahren hat. Gerade während diese Zeilen geschrieben werden, bringt
ein geheilter Patient zum zweiten Male schon einen Landsmann in unsere
Pflege. Solch Kommen ist viel aussichtsvoller, als wenn der Kranke
mit Gewalt oder List seitens der Seinen uns zugeführt wird, wogegen
wir uns ernstlich wenden müssen. Entgegen unsrer ausdrücklichen
Weisung hat man ihn über die Natur der Anstalt und über ihre Ordnungen
nicht aufgeklärt, der Patient glaubt für kurze Wochen in ein Erholungs¬
haus allgemeinen Charakters eingetreten zu sein und ist dann empört,
wenn er sich in einer Spezialanstalt für Alkoholkranke befindet, die
bei weitgehendster Schonung der Individualität ihrer Patienten doch auf
gewisse Beschränkungen ihrer Freiheit namentlich für den Anfang nicht
verzichten kann. Dieser Mangel an Aufrichtigkeit bereitet unsrer Arbeit
grosse Hindernisse, und es kann die Klage nicht unterdrückt werden,
dass vielfach nicht nur die Familie, sondern auch ihre ärztlichen Rat¬
geber den Patienten in Unklarheit lassen, indem sie die Heilung von irgend
einem sekundären Leiden in den Vordergrund schieben, von dem Kern
der Sache dagegen schweigen. Sehen sich aber die Patienten von ihren
heimischen Beratern also getäuscht, so wendet sich ihr Misstrauen in
der Regel gegen uns, und wir haben, wie sehr wir das Verhältnis zur
Heimat schonen möchten, dann kein anderes Mittel, als in der kräftigsten
Weise zu betonen, dass man ganz gegen unseren Willen gehandelt hat.
Dass man doch einsehen wollte, dass auf diesem Gebiete überhaupt
keine Zwangsheilungen möglich sind! Die Aufgabe, den Alkoholkranken zu
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einer Heilbehandlung willig zu machen, kann nicht früh und ernst genug
auf die angedeutete Weise zu lösen versucht werden; von früherer Ver¬
bringung, zumal wenn sie unter Anwendung von Gewalt oder List unter
Vorenthaltung der vollen Wahrheit geschieht, ist zum Mindesten nichts
Gutes zu erwarten. Erfolgreiche Arbeit ist nur auf der Grundlage des
Vertrauens möglich, darum sollte seitens der Familie alles mit Sorgfalt
vermieden werden, was das Vertrauen des Patienten zur Anstalts¬
behandlung vermindern und wohl gar untergraben könnte! Mit dem
Gesagten soll durchaus nicht gegen die angestrebten gesetzgeberischen
Massnahmen protestiert werden, durch welche auch die durchaus Wider¬
willigen und Einsichtslosen gefasst, in Anstalten geleitet und unter Um¬
ständen auch gegen ihren eigenen Willen in denselben zwangsweise
zurückbehalten werden sollen. Es gibt eine Kategorie von Trinkern, in
deren Interesse derartige Massnahmen unbedingt erforderlich sind. Das
wird in erster Linie von den Leitern der jetzigen, das Prinzip der
Freiwilligkeit vertretenden Anstalten gefordert, für welche dieser
schwierigste Teil der Trunksüchtigen eine kaum lösbare Aufgabe bedeutet.
Mag die eine oder andere bestehende Anstalt sich um eine geschlossene
Abteilung erweitern, die bisherigen Anstalten werden im grossen und
ganzen davon nichts wissen wollen, sie werden Wert darauf legen, eine
Genesungsstätte für solche zu sein, die den, wenn auch schwachen doch
aufrichtigen Willen haben, von ihrer Leidenschaft frei zu werden. Neben
ihnen sind jedoch mit Zwangsmitteln ausgestattete Bewahranstalten öffent¬
lichen Charakters ein dringendes Bedürfnis. —
II.
Aber auch während des Heilversuches erfährt unsere Arbeit seitens
der Familien mancherlei Hemmung, zumal wenn bei ihnen, ausser dem
rechten Verständnis für das Wesen des Alkoholismus, Liebe und Weis¬
heit fehlt. Mögen die Formen andere sein, tatsächlich ist zwischen ge¬
bildeten und ungebildeten Familien, wo Höheres fehlt, nur wenig Unter¬
schied. Ich schweige von einzelnen köstlichen Erfahrungen, wo ich die
Liebe sah, die alles trägt, glaubt, hofft und duldet und schliesslich auch
den Sieg erringt. Andere Erinnerungen steigen vor mir auf. Wie
vorher im persönlichen Umgang, so tritt jetzt beim brieflichen Verkehr
nichts als Groll und Bitterkeit hervor. Die Patienten hungern vielleicht
nach einem versöhnlichen Worte, aber es bleibt ungeschrieben. Die
Briefe, oft ohne Anrede, ohne Gruss, enthalten nur das Dürftigste. Oft
muss man wünschen, dass der Brief ungeschrieben geblieben wäre, denn
er enthält, wie jüngst der Geburtstagsbrief an den hier weilenden Mann,
neben einigen frommen Worten nur drohenden Hinweis auf Gefängnis
und Irrenhaus, im anderen Falle die Drohung: »Ich gehe mit meinen
Kindern auf und davon.« Eine Mutter schreibt, dass sie ihren Sohn
nicht Wiedersehen wolle und ein Vater kann’s bei dreimaligem Besuche
von der Anstaltsleitung nicht über sich gewinnen, sein Kind zu sehen,
obwohl man ihm sagen darf, dass die Versöhnung mit dem Vater, nach
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Kruse, Die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 403
der der Sohn lechzt, den allergünstigsten Einfluss auf des Sohnes Ent¬
wicklung ausüben werde. Da beantragt eine Familie Entmündigung
und Ehescheidung, gerade zu einer Zeit, als der anfangs der Heil¬
behandlung sehr abgeneigte Patient Vertrauen zu seinen Pflegern und
Beratern gewinnt und die ersten Spuren von Besserung zeigt. Wäre es
der Anstaltsleitung nicht gelungen, das Angedrohte noch in der letzten
Stunde zu verhüten, dann wäre Abbruch und Scheitern des .Heilver¬
suches die unvermeidliche Folge gewesen. Oft ist’s nur mit Mühe
gelungen, den durch solche nicht gerade unverständliche, aber doch im
höchsten Grade unzweckmässige Massnahmen der Familie, die doch die
Genesung des Trinkers herbeizuführen vorgibt, aufs höchste aufge¬
brachten Patienten zu beschwichtigen. Und wenn’s auch gelingt, Schaden
haben die Stürme doch gebracht, nicht bloss für den zunächst davon Be¬
troffenen, auch für die Mitpfleglinge, unter denen fast immer einige sind,
die die Neigung haben, sich gegenseitig in ihrer Erbitterung gegen die
Familie zu bestärken.
Aber nicht bloss Härte, auch falsche Nachgiebigkeit kann unsere
Arbeit aufs schwerste stören. Ohne Verständnis glaubt man dem
Patienten, wenn er nach kurzer Frist im Gefühl der wiederkehrenden
Kraft auf seine baldige Entlassung dringt. Solch eine kritische Zeit
kommt für die meisten Patienten. Alles zu ihren Gunsten deutend,
suchen sie mit Vorliebe aus dem Wort des Arztes, der das Schwinden
dieser oder jener Störung konstatiert, für sich Kapital zu schlagen, in¬
dem freudig in die Heimat geschrieben wird, obwohl es völlig unwahr
ist, der Arzt habe sie für gesund erklärt. Bedenklich steht es, wenn
die Familie solches glaubt, und, — entgegen den einsten Ratschlägen der
Anstaltsleitung, die klar zu machen sucht, dass ein durch langjährigen
Alkoholmissbrauch entstandener Schaden nicht in kurzen Wochen ge¬
heilt werden könne, dass vielmehr eine ganz andere Zeit nötig sei, da¬
mit der Patient sich zu einem widerstandsfähigen Alkoholgegner ent¬
wickle, — in die frühe Entlassung des Patienten willigt, der begreiflicher¬
weise nicht mehr zu halten ist, wenn schon die Familie, die oft über
den Kopf der Anstaltsleitung hinweg handelt, ohne dieselbe überhaupt
zu hören, in ihrem Widerstand erlahmte. Dieselbe Schwäche zeigt sich
auch dann, wenn der Patient an den Massnahmen der Anstalt, an ihren
Ordnungen, sonderlich an der unumgänglich notwendigen anfänglichen
Freiheitsbeschränkung etwas auszusetzen hat. Anstatt der Anstaltsleitung
Vertrauen zu schenken und nach Rücksprache mit ihr sein Möglichstes
zu tun, den Patienten zu überzeugen, dass die Anstalt in allem sein
bestes im Auge habe, gibt man vorschnell nach, lässt den Willen des
unverständigen und vielleicht auch unlauteren Patienten massgebend sein,
hat sich’s dann aber auch allein zuzuschreiben, wenn den etwa gehegten
Erwartungen ein baldiges Ende bereitet wird. Oft hat die ohne Wissen
und gegen den Willen der Anstaltsleitung geschehene, vom Patienten
durch unwahre Angaben erbetene Zusendung von Geld und Briefmarken
dem Heilversuche ein plötzliches, frühes Ende bereitet!
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404
Abhandlungen.
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Zu den wichtigsten Aufgaben der Anstaltsleitung gehört es, sich brief¬
lich über den Zustand des Patienten zu den Angehörigen auszusprechen.
Da gilt es, sorgsam die Worte abzuwägen, von jeder Schönfärberei sich
freizuhalten, Wahrheit in Liebe zu sagen, den mutlosen Angehörigen die
Hoffnung zu beleben, oft aber vor trügerischen Erwartungen zu warnen.
Die Patienten ahnen wohl selten, wie sehr gerade diese in ihrem Interesse
geschehende anwaltliche Tätigkeit die Anstaltsleitung in Anspruch nimmt.
Es tut not, zumal wenn das Korrespondieren auf direktes Bitten des
Pfleglings geschieht, sich die volle Selbständigkeit zu wahren, aber auch
das ist dringend zu empfehlen, dass die Korrespondenz, um keine, auch
nicht die leiseste Zwiespältigkeit aufkommen zu lassen, wodurch die
Familien unsicher gemacht würden, je nach der Organisation der An¬
stalt nur von einer einzigen Stelle aus geschieht, die schreibt, wenn
und soweit sie es für nötig hält, auch dann, wenn es sich um einen
Patienten handelt, der (auch das ist gar nicht selten) darüber empört ist,
dass man seinetwegen mit der Familie verkehre, demgegenüber man
dann energisch Recht und Pflicht, wie der Familie, so auch der
Anstaltsleitung, zu solchem brieflichen Umgang zu betonen hat. Aber
wie sehr wird das ohnehin nicht leichte Berichten in die Heimat er¬
schwert, wenn die Familien die Unvorsichtigkeit begehen, auch das nur
für sie Bestimmte dem Patienten mitzuteilen, ja, ihm wohl gar den
Anstaltsbrief zu übersenden! Durch solch unweises und taktloses Ver¬
fahren wird der Patient, der sich seinen Pflegern vielleicht gerade an¬
vertrauen wollte, für längere Zeit ihnen entfremdet, ohne dass es sobald
gelingen will, die Ursache solcher Entfremdung zu ergründen. Ein
weiterer Schade ist wohl der, dass mit einem solchen Briefe, wenn er
den Wünschen des Patienten nicht vollauf entspricht, eine böse Agitation
gegen die Anstaltsleitung getrieben wird. Dann will der Argwohn, dass
den Pfleglingen durch die Briefe der Anstaltsleitung in die Heimat alles
verdorben werde, nur mühsam schwinden.
Weisheit bezüglich des Briefwechsels mangelt auch in anderer
Hinsicht! Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit berichtet man kleine häusliche
und geschäftliche Sorgen, Unpässlichkeiten oder Unart eines Kindes,
Unbotmässigkeit eines Knechtes, das Ausbleiben eines Kunden, den er¬
littenen Verlust u. a. m. Oder man schreibt, welche Verlegenheiten es bereite,
den Aufenthaltsort des Mannes zu verschweigen, — dass ein Konkurrent
ihm üble Nachreden bereite, dass man den Kindern auf der Strasse
nachgerufen habe, der Vater sei im Gefängnis. Es braucht wohl nicht
näher ausgeführt zu werden, wie solche Botschaft wirkt. Gerade solche
Kranke, welche sich früherer Versäumnisse und Verfehlungen bewusst
sind, kommen oft infolge solcher Nachrichten zu dem gut gemeinten,
aber sehr verfrühten Entschlüsse, in die Heimat zurückzukehren. Man
will den Lästermäulern entgegentreten, der Gutgesinnten Achtung zu¬
rückgewinnen, die Zügel des häuslichen und geschäftlichen Regiments
wieder fest in die Hände nehmen. Gerade der Trinker, der vielleicht
für Familie’ und Beruf wenig oder nichts, vielleicht weniger als nichts,
nur eine Last bedeutet, hält sich, wenn er kaum in der allerersten
Original fro-m
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Kruse, die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 405
Ernüchterung sich befindet, für unentbehrlich. Wird aber dieser Gedanke
durch die Mitteilung irgendwelcher häuslicher Nöte, wie geringfügig sie
auch sein mögen, genährt, dann gibts kein Halten mehr. Neben einer
Reihe von Frauen, die durch ihr stilles Tragen und durch ihre für
schwache Frauenkraft ganz ausserordentliche Leistung ein Heldentum
beweisen, stehen andere, welche durch unweises Offenbaren ihrer Nöte
dem guten Anfang einer Genesung ihrer Männer ein frühes Ende bereiteten.
Neben der Korrespondenz verdienen die Besuche der Erwähnung.
Wir verdanken ihnen viel. Der Pflegebefohlene wird uns in ganz andrer
Weise nahe gebracht, wenn wir den Angehörigen ins Äuge geschaut und
darin wohl auch eine bewegliche Leidensgeschichte gelesen haben. Wir
empfinden es als einen Mangel, wenn sich brieflich wie persönlich,
niemand um den Pflegling kümmert. Und völlig unwillkommen ist es
uns, wenn etwa der Polizeidiener in Zivil den Patienten begleitet. Wir
sehen den Besuch der Familie auch um deswillen gern, «weil derselbe
uns die Möglichkeit bietet, die Familie bezüglich der späteren Lebens¬
gestaltung des Patienten eingehender zu beraten, als es brieflich möglich
ist. Oft denken wir auch milder über den Patienten, seit wir die An¬
gehörigen gesehen haben. Fragt man sich hier, wie aus solch kernigem
Geschlecht, in so idealen häuslichen Verhältnissen sich, unser Patient in
so ungünstiger Weise entwickeln konnte, so verstehen wir in anderen
Fällen, sobald wir die Familie sahen, recht gut, wie alles kam, zeigt
doch unser Patient nur in stärkerem Masse, was jenen gleicherweise
eignet. Auch die Uebertreibung, dass die Lebensverhältnisse den Menschen
machen, lebt nur von der in ihr enthaltenen Wahrheit. Wir gleichen
alle in gewisser Beziehung dem Milieu, in dem wir leben. — Dass sie
uns diese nähere Kenntnis bringen und uns die Möglichkeit einer
intensiveren Einwirkung bieten, das ist der Gewinn diesjer Besuche.
Welches aber ist ihre Gefahr? Ich schweige von jenen Besuchen, die dem
Patienten die gefüllte Flasche mitgebracht oder Geld zugesteckt haben,
es bleibe unerörtert, ob aus Bosheit oder törichtem Unverstand, aus
einer gewissen Schwäche, die der Bitte um einige Groschen nicht ent¬
gegen zu treten wagte; ich schweige von jenen Brüdern und Frauen,
die trotz unsrer ernsten Warnung auf dem Spaziergang im Wirtshaus
einkehrten, um selbst zu trinken, oft aber auch, um dem Pflegling bei
solcher Gelegenheit das Verbotene darzureichen. Ich denke an eine
andere Gefahr. Diese Besuche hindern den Patienten, sich bei
uns einzuleben, sie rütteln an dem Bäumchen, das gerade in
einem besseren Boden, als der heimische war, festwachsen wollte. In
dem einen Falle gibt’s Zank und Streit, indem man sich gegeneinander
verbittert. Im anderen Falle bringt die starke Zuneigung der Gatten
nach dem kurzen, frohen Wiedersehen um so schmerzlicheren Abschied.
Da berichtet man Ungünstiges über die heimischen Verhältnisse und
dort leiht man den Klagen des Patienten ein williges Ohr. Eine feste
Regelung in Sachen der Besuche tut not. Manche Genesung ist schon
durch das häufige Kommen unweiser Besucher vereitelt. Familien, die
in der Nähe wohnen, benutzen die Anstalt gern als das Ziel ihrer
Die Alkoholfrage. 27
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Abhandlungen.
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Sonntagsausflüge, und es kommen auch manche, die kein tieferes
Interesse für unsere Patienten haben. Eine Familie sandte innerhalb
dreier Wochen neunmal eines ihrer Glieder zum Besuche. Auch um
der Mitpfleglinge willen, zumal der fernher gekommenen, die deshalb
niemals Besuch erwarten können, ist möglichste Beschränkung der
Besuche notwendig. Aber auch um der in der Anstalt arbeitenden
Hauseltern willen, die gerade an den Sonntagen, die im Anstaltsleben
kritische Tage erster Ordnung sind, durch die oft masslos übertriebenen
Besuche der Pfleglinge doppelt belastet und des Segens, den sie selbst
im schweren Berufsleben am Sonntag haben sollen, zum guten Teile
beraubt werden.
III.
Treten unsere Patienten in die früheren Lebensverhältnisse zurück,
so will bedacht sein, dass es sich um Rekonvalescenten handelt, denen
man alles aus dem Wege zu räumen pflegt, was sie von neuem ge¬
fährden könnte. Es bedarf nur geringer Anlässe, um die zurückgedrängte
Leidenschaft wieder auf leben zu lassen. Wenn man weder vergeben
noch vergessen hat, wenn man den Zurückgekehrten geringschätzend oder
gar mit kränkendem Misstrauen behandelt, so ist das der sicherste Weg,
das Erreichte wieder zu schänden zu machen. Hat der Geheilte einen
neuen Grund und eine feste Stellung, so wird er sich auch eine solche
Behandlung zum Besten gereichen lassen, aber in den meisten Fällen
wird jene unmutige Stimmung die Folge sein, der sich der Alkohol nur
allzubald wieder als Tröster empfehlen wird. »Wenn mir mein redlicher
Wille doch nichts hilft, was soll dann weiteres Bemühen?« Auch darin
wird gefehlt, dass man die Geheilten trotz ernstlicher Warnung wieder
in die gefährlichen Berufsverhältnisse zurückkehren lässt. Weit entfernt,
zu wähnen, dass die Veränderung der Lebensverhältnisse ein Allheil¬
mittel sei, können wir doch den Patienten, die mit der Erzeugung und
mit dem Verschleiss alkoholischer Getränke, mit ihrem Vertrieb als
Reisende oder Agenten zu tun haben, nur raten, dass sie, wenn möglich,
einen anderen Erwerbszweig wählen. Oft stehen kaum überwindbare
Hindernisse im Wege; oft aber wird deshalb kein gangbarer Weg ge¬
funden, weil überhaupt — und zwar besonders bei den Familien — der
gute Wille zu einem ehrlichen und gewissenhaften Eingehen auf unsere
Ratschläge nicht vorhanden ist. Die Gastwirtsfrau, die bei ihrem Be¬
suche den Gatten damit unterhält, wie prächtig man an bestimmten
Abenden verdiene, wie wieder einmal die Champagnerpfropfen im Lokale
geknallt haben und der Wein in Strömen geflossen sei, ist entsetzt über
unseren Rat, dass man baldigst einen Wechsel vornehme. — Im anderen
Falle will eine Gattin auf die Freuden des gesellschaftlichen Lebens, auf
den abendlichen Gang in den Bierpalast oder in den Restaurationsgarten
nicht verzichten, und an anderer Stelle muss der Vater um der lebens¬
lustigen Töchter willen Festlichkeiten mitmachen, obwohl er noch nicht
die Kraft fühlt, der an solchen Stätten und in solchen Stunden an ihn
herantretenden Versuchung siegreich zu begegnen. —
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Kruse, Die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholki^anken. 407
Was ist bei der Anstaltsbehandlung unser Ziel? Es handelt sich
um weit mehr als um die Heilung der mannigfachen Schäden, welche
der Organismus des Patienten erlitten hat Nicht möglich ist es, den
früheren Trinker dahin zu bringen, dass er wieder, ohne Schaden zu
erleiden, trinken darf. Diese in den Lehrjahren der Trinkerbehandlung
gehegte Ansicht ist längst überall dort fallen gelassen worden, wo man
ehrliche Spezialarbeit treibt Bei einer zu Anfang 1903 veranstalteten
Rundfrage antwortete nur e i n Arzt, der vorgibt, in seinem Sanatorium
auch Alkoholkranken zu dienen, dass er seine Patienten zu mässigem
Alkoholgenuss erziehe; im Gegensatz zu diesem ehrenwerten Manne aber
lautete die einmütige Antwort aller Praktiker, dass der Alkoholintolerante
dauernd enthaltsam bleiben müsse. Vielfach folgt dem ersten Glas, das
sich der frühere Trinker wieder leistet, ein schneller Rückfall, und nicht
immer ist ein Wiederaufstehen möglich, oder es geschieht ein ganz all¬
mähliches Hinabgleiten. Wie er auch geschehen mag, der Rückfall
selbst ist unabwendbar, wenn der Trinksitte auch nur im Geringsten ent¬
gegen gekommen wird. — Vielleicht gelang es, den Patienten von der
unbedingten Notwendigkeit dauernder Abstinenz zu überzeugen — wie
wird es aber, wenn sofort aus seiner nächsten Umgebung ihm andere
Meinung entgegen tritt ? Hier legte man ein Fässchen echten Bieres
auf, als der Sohn in die Heimat zurückkehrte, und dort erklärte eine
Tochter, der wir wiederholt das Nötige gesagt zu haben meinten: »Ich
will mein Möglichstes zur Bewahrung des Vaters tun, er soll auch an
jedem Abend seine Flasche Bier vorfinden.« Beim Eintritt zweier Pa¬
tienten, die früher schon an einem anderen Orte eine Entziehungskur
durchgemacht hatten, gestanden die sie begleitenden Väter, dass sie
selbst an dem Rückfall ihrer Söhne nicht ohne Schuld seien : der Eine
hatte nach dem Theaterbesuche selbst den Sohn ermuntert, das erste
Glas Bier zu trinken, und der Andere gab zu, dass auch er den Sohn
in der Anschauung, dass nun wohl seine Alkoholintoleranz zu Ende sei,
bestärkt habe. Die Frau, aus dem Volke, die unter den Misshandlungen
des trunksüchtigen Mannes schwer zu leiden hatte, will an dem Mucker,
der keinen Tropfen mehr trinke, keine Freude haben. Man findet’s
recht, dass der Geheilte das Uebermass, dass er dasjenige Getränk ganz
meide, das ihm vorzugsweise geschadet hat, hält es aber für Fanatismus,
nun gleich alles, mit dem Missbrauch auch den vernünftigen Gebrauch,
mit dem gewohnheitsmässigen auch den ganz gelegentlichen, seltenen
Genuss geistiger Getränke auszuschliessen. Manchmal wird eine Unpäss¬
lichkeit des Geheilten dazu benutzt, neue Angriffe auf ihn zu unter¬
nehmen ; man beruft sich auf ärztlichen Rat, wenn man das Glas Glüh¬
wein oder einen Kognak bringt. Nicht alle sind unter solchen Anfech¬
tungen so standhaft, wie jener Freund, der noch auf dem letzen Lager
Familie und Arzt dringend bat, ihm unter keinen Umständen Alkohol
darzubieten. Was aber ist die letzte Ursache vieler Angriffe seitens der
Familie auf die Abstinenz des Geheilten ? Je taktvoller der Abstinent
auftritt, desto mehr sagt sein Beispiel der Umgebung, wie auch sie
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Abhandlungen.
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leben sollte; weil sie das aber nicht will, darum sucht sie den für sie
unbequemen Mahner dadurch los zu werden, dass man ihn, den Appetit¬
verderber baldigst wieder in ihre Trinkgemeinschaft hereinzieht. Leider
glaubt man auch dort, wo man auf christlichem Grunde zu stehen meint,
der Trinker müsse wieder zu einer Freiheit gelangen, die den Menschen
zum rechten, jeden Missbrauch der Gottesgabc ausschliessenden Gebrauch
befähige. Die Berufung auf Christus ist oft ein Mittel gewesen, den
Geheilten wankend zu machen. Demgegenüber ist zu sagen, dass die
Forderung der Enthaltsamkeit in bezug auf den früheren Trinker eine
schlechthin notwendige diätetische Massregel ist, die weiterer Stützen
gar nicht einmal bedarf. Aber gerade dem Christen sollte es einleuchten,
dass dies gauz im Sinn des Erlösers ist, der in seinem bekannten
Worte vom Ausreissen des Auges und vom Abhauen der Hand gegen¬
über allem, was einem Menschen Aergernis bereitet, bedingungslose Ent¬
schiedenheit fordert. Das unzweifelhaft vorhandene Recht eines jeden
Menschen zur Ablehnung einer ihn umgebenden Sitte wird, wenn diese
Sitte den Menschen seiner Freiheit berauben will, zu einer unabweis¬
baren Pflicht. Die höhere Freiheit, von der die Gegner sprechen, will
keinen Versuch, der die gottgeschenkte Genesung unzweifelhaft von
neuem gefährdet, sie wird sich vielmehr darin zeigen, dass der Mensch
in freiester Willensentschliessung verneint, was ihn in der gottgewollten
Entfaltung seiner Persönlichkeit zu hindern sucht. Eine Frucht freudigen
Beharrens auf dem einzig gangbaren Wege wird die sein, dass das alte
Verlangen mehr und mehr schwindet und auch die äussere Verlockung
durch Trinkgelegenheit und Trinksitte mehr und mehr ihre Kraft verliert.
Kaum irgendwo ist man in der Benutzung der Worte Sünde und Laster
bezüglich der Trunksucht so sparsam, als in der Trinkerheilanstalt, wo
man die allereingehendste Kenntnis davon hat, wie sehr der menschliche
Oiganismus unter der Einwirkung des Alkohols erkrankt. Hat nun aber
der frühere Trinker nicht nur eine oberflächliche Ernüchterung, sondern
eine tiefgehende Genesung erfahren, besitzt er volle Klarheit betreffs
des zu gehenden Weges, wirft er sich aber trotzdem durch Teilnahme
an der Trinksitte dem Verderben in die Arme, dann ist das ein sünd-
lich-frevelhaftes Handeln. Das ist es, was die Familien beachten, wo¬
durch sie sich bei ihrem Umgang mit dem Geheilten bestimmen lassen
müssen. Die Erfahrung aber lehrt leider auch hier, dass die Haus¬
genossen oft des Menschen gefährlichste Feinde sind. Gegenüber den
Klagen der Familie über die oft so kurze Dauer der Anstaltserfolge
haben wir mehr Veranlassung zu der Gegenklage, dass gerade die
Familie durch ihr Verständnis- und liebloses Handeln das Erreichte
wieder zu Grunde richtet. Wie schwer wird es dem Geheilten, sich zu
behaupten, wenn die Trinksitte der nächsten Umgebung an seinen
Grundsätzen rüttelt! Die rechte Hülfe wird dann geleistet,
wenn die ganze Familie sich mit dem Geheilten der
Enthaltsamkeit zu wendet! Von prächtigen Fällen kann hier
berichtet werden: Ein ganzer Geschwisterkreis wendete sich dem Blauen
Kreuze zu, um dem schwachen Bruder für die Zeit des Austritts aus
Original fro-m
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Knise, die Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alkoholkranken. 409
der Anstalt im eigenen Hause die ihm nottuende Gemeinschaft zu
bieten. Die Frauen der Patienten für ähnliches zu gewinnen, ist oft
gelungen. l)a zweifelt ein den obersten Gesellschaftsschichten an¬
gehörender Patient, dass es möglich sein werde, abstinent zu bleiben:
um ihm den Beweis zu bringen, wendet sich in der fernen Heimat der
Bruder der Enthaltsamkeit zu. Das ist die brüderliche Handreichung,
wie sie, auf den Geist der heiligen Schrift sich gründend, zu den Prin¬
zipien des Blauen Kreuzes gehört. Davon wusste aber jener hohe Be¬
amte nichts, der nur ein ironisches Fächeln hatte, als man ihm nahe zu
bringen suchte, was für den schwachen Sohn die beste Hülfe sei. Im
andern Falle war es gelungen, einen Patienten in die denkbar beste
Umgebung, zu begeisterten Abstinenten zu bringen. Gefährdet wurde
der junge Mann durch den Besuch seiner nächsten Angehörigen; von
der mit ihnen unternommenen Reise ins Gebirge musste der junge Mann
sehr bald schwer erkrankt in die sichere Hut seines Prinzipals zurück¬
gesandt werden : Die Rücksichtslosigkeit der Seinen, die sich bei keiner
Gelegenheit des (Bases Wein enthielten, hatte ihn wieder zu Falle ge¬
bracht. Angesichts solcher Verschuldung der Familie muss die Klage
wider den Rückfälligen verstummen. Wer seinem schwachen Familien-
gliede ein Mittel der Bewahrung werden will, der verbünde sich mit
ihm zu gleicher Lebensweise. Man wird erfahren, dass dieser Liebes¬
dienst sich reichlich lohnt für jeden, der ihn mit voller Freudigkeit leistet!
Mit dem Bisherigen ist aber das durch die Anstaltsbehandlung
zu erstrebende Ziel noch nicht gekennzeichnet. Nicht nur um ihrer
Intoleranz willen sollen unsere Patienten auf die Seite der Enthaltsamkeit
treten, wir suchen sie vielmehr dahin zu bringen, dass sie die Bedeutung
der Abstinenz nicht nur für eine gewisse Minderheit, zu der sie sich
zu rechnen haben, sondern liir die menschliche Gesellschaft überhaupt
erkennen. Darum teilen wir ihnen die gesicherten Resultate der Wissen¬
schaft mit, durch welche die heutige Bewegung gegen den Alkohol so¬
viel besser fundamentiert ist, als alle früheren Versuche zur Abschüttelung
seines Joches. Darum führen wir sie in die vielgestaltige Bewegung
unserer Tage ein, welche dem Kenner das frohe Wort auf die Lippen
legt, dass es eine Lust sei, zu leben. Darum lehren wir sie die Kern¬
truppen kennen, damit sie mit uns in die vorderste Reihe der Kämpfen¬
den und zwar gerade an die Stelle treten, die für sie passt. Treten sie
aus schüchterner Defensive zur entschlossenen Offensive über, dann ist
uns um die weitere Entwicklung solcher Geheilter nicht bange. Wer in
der rechten Waffenrüstung auf dem Posten steht, hat die Ueberrumpelung
des F'eindes nicht zu fürchten. Diese Stellung ist auch die einzige,
die demjenigen ansteht, der eben der Umschlingung des F'eindes ent¬
ronnen ist. Der Freigewordene kann die Knechtschaft seiner Mitmenschen
nicht ansehen, ohne dass es ihn drängt, die F'esseln derselben sprengen
zu helfen.
Dies ist nun auch die letzte Bitte, die wir den Familien
gegenüber auszusprechen haben, dass sie nicht sagen möchten : was gehet
uns das an ? Wir wünschen, dass sie für die F'rage, die für ein Glied
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Abhandlungen.
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ihres Hauses bereits solche Bedeutung gewann, das Auge auftun möchten.
Wenn sie das tun, dann tun sie zunächst genug, und wir haben bezüglich
der weiteren Entwicklung keine Sorge. Wer diese Frage einmal angefasst
hat, der wird von ihr gefasst, sie lässt ihn nicht los, bis auch der anfangs ihr
kühl gegenüberstehende zu einem immer überzeugteren Alkoholgegner wird.
Keinen unserer früheren Patienten möchten wir in vereinzelter Stellung sehen,
wir möchten sie alle einer festen Organisation eingefügt wissen. Ueber
den Wert der Vereinigungen, die den Kampf wider die Alkoholnot
unserer Zeit aufgenommen haben, kann man nicht hoch genug denken;
aber das Wertvollste für den geheilten Alkoholiker ist es doch, dass er
im eigenen Familienkreise verständnisvolle Gemeinschaft findet. Hat
die Trunksucht in vielen Fällen sich nicht ohne Verschulden der Fa¬
milien entwickelt, so ist für die dauernde Genesung die beste Aussicht
dann vorhanden, wenn ein Familienkreis zu dem ernsten Entschlüsse
kommt: Der Alkohol hat in unserer Mitte seine Rolle
ausgespielt!
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Nüchternheit und Landleben in Schleswig-Holstein.
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Nüchternheit
nnd Landleben in Schleswig-Holstein.
Der kleine Aufsatz »Wie ich Enthaltsamer wurde«, im
ersten Hefte dieser Zeitschrift, ist in einem Sonderabdruck einem im
Herzogtum Schleswig wohnhaften Landmann, der zugleich das Amt
eines Gemeindevorstehers bekleidet, zugestellt worden. Mit Bezug
darauf, schreibt letzterer das folgende:
»Ich habe die Schrift mit Interesse gelesen und wusste ihr keine
bessere Verwendung zu geben, als sie sofort in meiner Gemeinde zir¬
kulieren zu lassen. Vielleicht kann die Arbeit, die ja in der schlichten,
leicht fasslichen Form gerade geeignet ist, auf den sog. kleinen Mann
Eindruck zu machen, auch hier Segen stiften. Leider ist auch meine
kleine Gemeinde nicht ganz frei von Leuten, welche sich dem Trünke
ergeben, obwohl die Bewohner durchweg sehr solide sind. Als ich
neulich mich mit einem befreundeten Hufner aus einem Nachbarorte
unterhielt, sagte dieser: »Wenn doch ein Mittel zu finden wäre, um den
sittlichen Stand unserer Arbeiter zu heben, o, wie glücklich könnte das
deutsche Volk sein, denn für das materielle Wohl ist jetzt ziemlich aus¬
reichend gesorgt!« Nun, ein nicht zu unterschätzendes Mittel, um das
Volk glücklich zu machen, ist entschieden die Enthaltsamkeit vom Alko¬
hol. Bedauerlicher Weise gibt es ja noch andere sittliche Schäden, die
ebenso schlimm sind. Vor einigen Tagen kam ein Gemeindevorsteher
aus der Umgegend zu mir, um mich dafür zu gewinnen, gegen unsere
Gastwirte vorzugehen, die allzusehr bestrebt sind, durch Veranstaltung
von sog. Lustbarkeiten aller Art, ganz besonders nach den Lohnzahlungs¬
terminen (Mai und November) den jungen Leuten das Geld aus der
Tasche zu locken. Er bat mich, da ich Mitglied des Kirchen Vorstand es
und des Amtsausschusses sei, darauf hinzuwirken, dass diese beiden
Körperschaften dieserhalb irgendwelche Schritte tun möchten.
Die Lohnverhältnisse, namentlich der Dienstboten sind jetzt so
günstig, dass die jungen Leute wirklich gut weiter kommen können,
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Gck igle
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Abhandlungen.
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wenn sie nur sparen wollen und nicht zu frühzeitig heiraten. Die
Knechte verdienen von der Konfirmation an sofort hohe Löhne, mit
20 Jahren oft schon 3 bis 400 Mk. bei freier Station, die Mädchen
250 bis 300 Mk. Wenn diese jungen Leute nun mit der Eheschliessung
etwas warten — ebensolange, wie Leute anderer Berufsstände dies doch
fast immer müssen — so können Mann und Frau bis dahin nahezu
3000 Mk. erübrigt haben. Damit sind sie im Stande, entweder eine
Pachtung zu übernehmen oder sich ein kleines Anwesen zu kaufen.
Weil Dienstmädchen fast überhaupt nicht mehr zu bekommen
sind, werden jetzt vielfach sog. Melkerfamilien angestellt, die die ganze
Wartung des Viehzeuges übernehmen. Eine solche Familie (Mann,
Frau, eine alte Mutter oder herangewachsene Kinder) verdient 1600 Mk.
und mehr. Ein Melker bei einem meiner Nachbarn hat sich in einer
Reihe von Jahren jährlich ca. 500 Mk. erspart und neuerdings eine
Kathenstelle in nächster Nähe meines Wohnortes gepachtet. Die Vor¬
gänger haben sich auf dieser kleinen Pachtung von etwa 15 ha Land,
wo fast der ganze auf die Grundfläche entfallende Arbeitslohn der
Familie verbleibt, jährlich 5 bis 600 Mk. erübrigt. (Ich zahle Arbeits¬
lohn rund 70 Mk. pro ha.) Also: 3000 Mk. Ersparnis vor der Heirat
und 500 Mk. jährlich während einer 30jährigen Wirtschaftsperiode —
das ergibt 18 bis 20000 Mk. Kapitalvermögen für die alten Tage.
Dazu kann noch die Alters- oder Invalidenrente kommen! Kann ein
Amtsrichter, dessen Studium Tausende gekostet hat, es etwa weiter¬
bringen? Ich wollte mir gestatten, diese kleine Schilderung der tatsäch¬
lichen Verhältnisse in meiner Gegend zu geben, um zu zeigen, wie
vorteilhaft hier die Bedingungen für sparsame, vorwärtsstrebende und vor
allem nüchterne Leute aus einfachstem Stande liegen. H.
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Weitere Untersuchungen der Alkoholirage
auf Grund von Fragebogen für Mässige oder Enthaltsame.
Von Prof. Dr. Victor Böhmert.
Mit den im Nachstehenden veröffentlichten weiteren Antworten von
14 teils massig, teils enthaltsam lebenden Männern schliessen wir
die erste Serie der uns zugegangenen Antworten, die von 50 Mit¬
arbeitern herrühren, welche die Mässigkeit oder Enthaltsamkeit am
eigenen Leibe erprobt haben und zum grossen Teil über reiche Lebens¬
erfahrungen in ihrer Familie und in ihrem Beruf oder in ihrer Wissen¬
schaft verfügen. Im zweiten Jahrgange dieser Vierteljahrsschrift sollen
die Untersuchungen fortgesetzt und auch weiter nicht blosse Ansichten,
sondern wirkliche Lebenserfahrungen von Männern und Frauen in verschie¬
denen Ländern, aus den verschiedensten Berufszweigen und Altersstufen zu¬
sammengestellt werden. Die Leser unserer Zeitschrift werden aus jedem neuen
Heft einen tieferen Einblick in viele wichtige Tatsachen der Alkohol¬
frage gewonnen und sich davon überzeugt haben, dass man aus ver¬
schiedenen Beweggründen zur Erkenntnis und Bekämpfung der Alkohol¬
gefahr gelangt ist. Die ganze Serie von Antworten so verschiedener
Personen möge dazu beitragen, dass man im Mässigkeitslager immer
mehr Verständnis für die Abstinenz und mehr Sympathie für die ab¬
stinenten Personen gewinnt und mit ihnen als Bundesgenossen überall
einträchtig zusammengeht. In den nachstehenden Antworten berichten
uns zwei hochbejahrte Männer über 70 Jahre, dass sie von ihrer Kind¬
heit an durch ihre Eltern zur Abstinenz von alkoholischen Getränken
angehalten worden sind.
Ferner wird in einem Fragebogen über eine interessante Be¬
kehrung zur Abstinenz berichtet. Der Direktor des hygienischen Instituts
in Erlangen, Herr Professor Oberarzt Dr. Heim, hatte in der von Professor
Fränkel im Frühjahr 1903 herausgegebenen Schrift »Mässigkeit oder
Enthaltsamkeit« in einem dem Alkohol günstigen Sinne u. a. bemerkt, dass
eine Tagesration von 100 ccm Alkohol für den vollkommen gesunden,
erwachsenen Mann nicht nur nicht vom Uebel sei, sondern unter Um¬
ständen die Bekömmlichkeit z. B. einer fetten Mahlzeit wesentlich er¬
höhe.« Herr Professor Heim hat inzwischen seit Oktober 1904 die
Abstinenz versucht und sich freundlich bereit erklärt, unserer Zeitschrift
im nächsten Jahre genaue Mitteilungen über die Ergebnisse seiner neuen
Alkohol-Forschungen zu machen. Aehnliche Zeugnisse in grösserer An¬
zahl werden uns hoffentlich der Wahrheit in Betreff der Wirkungen des
Alkohols immer näher bringen.
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v Gck »gle
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No. 37. Sir Hermann Weber, Arzt in London.
Sir Hermann Weber, Arzt in London,
geb. 30. Dezember 1823.
Holzkirchen in Franken.
Arzt in London.
Gymnasium in Würzburg und Fulda; Universitäten : Marburg und Bonn.
Nein.
Nie gänzliche Enthaltung von geistigen Getränken. Stets äusserst mässig; früher
etwa Vs bis Vi Liter leichten Wein in 24 Stunden; jetzt nur selten Wein,
sondern statt dessen bei dem späten Mittagessen einen Esslöffel voll Cognac
oder Whisky in einem halben Wasserglas voll Wasser, sonst gar keine geistigen
Getränke.
9, 10 fallen bei mir weg.
a) Mein Vater und dessen Voreltern haben viel Wein getrunken, litten an Gicht
und Entartung der feinen Blutgefässe.
b) dass grössere Mengen von Alkohol in der Mehrzahl der Fälle auf die Ver¬
dauung, die Kreislaufsorgane und das Nervensystem nachteilig einvvirken; dass
die gänzliche Enthaltsamkeit auf die grosse Mehrzahl der Menschen sehr
günstig ein wirkt und zu grösserer Freudigkeit und Tüchtigkeit führt und zur
Verlängerung des Lebens.
d) dass unmässiger Alkoholgenuss die Ursache der Mehrzahl der Verbrechen ist.
Anmerkung der Redaktion.
Der Beantworter obiger Fragen, Sir Hermann Weber, hat in London erst kürzlich
sinem von der deutschen medizinischen Wochenschrift abgedruckten Vortrage
endes Bekenntnis abgelegt: »Mein Vater starb im 60. Lebensjahre am Gehirn-
ag; er war selbst kein Abstinenzler gewesen und seine Vorfahren hatten durch
i Generationen grosse Mengen der schwersten Rheinweine und Portweine getrunken
waren infolgedessen an gichtischen Erscheinungen gestorben. Mässigkeit und
hliche Uebung des Körpers und Geistes haben mich vor dieser Todesart
ahrt und haben mein Leben verlängert, wenn ich auch gestehen muss, dass
die durch fünf Generationen vererbte gichtische Blutmischung nicht ganz über¬
den habe.«
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415
No. 38. Parlamentsmitglied Henry J. Wilson in Sheffield, England.
1. Henry J. Wilson, Osgathorpe Hills, Sheffield.
2. 14. April 1833.
3. Nottingham, England.
4. Smelter. But now member of Parliament.
(Besitzer einer Erzschmelzerei, aber jetzt Parlamentsmitglied.)
5. At school tili 1851.
(Zur Schule bis 1851.)
6. Total abstainer. Temperance Federation.
(Vollständig enthaltsam. Mitglied des Temperenzbundes.)
7. Always an abstainer, — from birth.
(Der Befragte war von seiner Geburt an immer Abstinent.)
8. My father and mother taught me.
(Mein Vater und meine Mutter belehrten mich.)
9. Not any. (Keine Unterbrechung.)
10. a) I have always had excellent health.
(Ich habe immer eine vorzügliche Gesundheit gehabt.)
b) I can make no comparison; but I am satisfied with my condition.
(Ich kann keinen Vergleich anstellen, aber ich bin mit meinem Befinden zufrieden.)
11. I can make no comparison. But I never had alcohol in my house. My wife,
5 children, & 5 grandchildren are all abstainers.
(Ich kann keinen Vergleich anstellen, weil ich nie Alkohol in meinem Hause gehabt habe.
Meine Frau, 5 Kinder und 5 Enkelkinder sind sämtlich Abstinenten.)
12. Nothing. (Nichts.)
13. Nothing. (Nichts.)
14. Alcohol is a great evil in every way; and abstinence is best for every reason.
(Alkohol ist in jeder Hinsicht ein grosses Uebel, und Abstinenz ist unter allen Um¬
ständen am besten.)
Die Alkoholfrage. 28
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No. 39. Buchdrucker Bönicke in Dresden-N.
1. Georg Heinrich Albert Bönicke, Dresden.
2. geb. 15. Januar 1818.
3. Braunschweig Stadt.
4. Buchdrucker.
5. Bürgerschule zu Braunschweig.
6. Ja. Verein »Volkswohl« in Dresden.
7. Ich lebe von frühester Jugend an enthaltsam.
8. Ich bin von Vater und Mutter enthaltsam erzogen worden und habe das
Trinken von Alkohol immer verabscheut. Mein Bruder, welcher in Dorpat
studierte, hat von Jugend auf sowie als Student enthaltsam gelebt und ist Staats-
rat in Russland geworden.
9. (Siehe Antwort zu Punkt 14.)
10. Da ich nie Trinker war, kann ich auch diese Fragen nicht beantworten.
11. Ich beziehe mich auf vorherige Antwort und auf Nr. 14.
12. Dies ist so minimal, dass ich einen Betrag nicht anzugeben vermag.
13. Nichts.
14. Die erste Unterbrechung meiner Abstinenz erfolgte, als ich nach Abschluss
meiner Lehrzeit im Jahre 1838 nach London kam, es war gerade zur Krönungs¬
feier der Königin Viktoria. Vor dem Eintritt in eine Londoner Buchdruckerei
musste ich vor der betreffenden Abteilung »Einstand« geben und ein Glas Bier
in einem Zuge austrinken. Dadurch bekam ich starkes Erbrechen und schweres
Uebelbefinden. Aehnlich ging es mir im Jahre 1845 in Petersburg, wo ich beim
Eintritt in eine Druckerei ein kleines Bierglas mit Schnaps auf einen Zug
leeren und dies mit Erbrechen und schwerem Unwohlsein büssen musste. —
Im Jahre 1848 erkrankte icn in Petersburg an der Cholera. Zur Stillung meines
grossen Durstes empfahl der Arzt ein Glas Wein. Da kein Wein im Hause
war, wurde in einer der ersten Weinhandlungen eine Flasche Rüdesheimer Berg für
4 Thaler geholt. Ich trank das erste Glas mit grossem Appetit und leerte
dann unbeobachtet aus Durst die ganze Flasche auf einmal, bekam infolgedessen
heftige Zuckungen, schlug bewusstlos um mich herum, und habe dieser Krisis
vielleicht meine Genesung zu verdanken. Später habe ich, nicht zur Stärkung
sondern zur Bewältigung einer schweren Krankheit, noch einmal gleich eine
halbe Flasche Wein getrunken. Die Aerzte selbst haben mir jedoch wiederholt ge¬
sagt, dass ich meine Genesung und mein hohes Alter nicht ihrer Kunst, sondern
nur meiner gesunden und enthaltsamen Lebensweise zu danken hätte. Meine
Frau, mit der ich über 50 Jahre glücklich verheiratet war, trank ebenfalls keinen
Alkohol, wir haben uns meist durch Tee erquickt und auch in Gesellschaften
meist Wasser oder nichts getrunken. Ich habe viele Fälle gesehen, in denen
treffliche, geschickte Menschen und ganze Familien durch Alkohol untergingen.
Es ist mir gelungen, einen meiner jungen Freunde zu retten, der mir nach ernstem
Zuspruch versprach: »Onkel ich verspreche, dass ich von heute an kein Bier
mehr trinken werde« und dies Versprechen auch gehalten hat und ein tüchtiger
Mensch geworden ist. — Ich glaube nicht, dass die Trinkerheilanstalten viel
Erfolg hahen werden; nur ein kleiner Teil wird gesunden, während viele in
das alte Laster zurückfallen. Es sollte hauptsächlich auf die Eltern eingewirkt
werden, dass sie den Kindern den Genuss von alkoholischen Getränken ver¬
bieten. Ich selbst war Augenzeuge, dass die eigene Mutter den Säugling
am Bierglase nippen liess.
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417
No. 40. Professor Dr. Ludwig Heim, Direktor des hygienisch¬
bakteriologischen Instituts in Erlangen.
1. Dr. Ludwig Heim in Erlangen.
2. geb. 13. Februar 1857.
3. Eichstätt, Kreis Mittelfranken in Bayern.
4. k. Univers.-Professor, Direktor des hygienisch-bakteriologischen Instituts.
5. Gymnasium, Universität. Ich war von 1881 —1897 aktiver Sanitätsoffizier und
wurde seit meiner Berufung nach Erlangen als Oberstabsarzt ä la suite des k.
bayr. Sanitätskorps gestellt.
6. Zum D. Verein gegen den Missbrauch geist. Getränke.
7. Seit einigen Monaten eingeschränkt und seit dem 23. Oktober d. J. völlig ent¬
haltsam ; werde es wohl auch für immer bleiben.
8. Versuch, ob die völlige Enthaltsamkeit einen fühlbaren Vorteil vor dem mässigen
Genuss habe. —
10. Schon die kurze Zeit lässt fühlbare Vorteile erkennen:
a) Besserung früher vorhandener leichter Magen- und Verdauungsbeschwerden.
b) Gewinn von schätzungsweise 1 — 2 Stunden Arbeitszeit durch weniger Ruhe-
und Schlafbedürfnis, insbesondere nach Tisch.
11. a) Der Befragte ist nicht verheiratet.
b) Er hat die bekannten Erfahrungen eines Universitäts-Studenten und -Lehrers
gemacht (siehe die allgemeinen Bemerkungen zu Punkt 14).
d) Es ist in Hochschullehrerkreisen nicht schwer, enthaltsam zu sein und zu bleiben.
12. Mindestens etwa 210 Mk. jährlich, in früheren Jahren noch mehr.
14. Die bekannten Erfahrungen eines Universitäts - Studenten und -Lehrers gehen
dahin, dass in Studentenkreisen zu viel nähere und fernere Anlässe benutzt
werden, um zu trinken. Vielleicht hat sich der Alkoholgebrauch und -Missbrauch
seit meiner Studentenzeit (1876—1881) etwas verringert (ich kann das nicht
sicher beurteilen), zuviel wird aber sicher getrunken, bei festlichen Anlässen
selbst von manchen älteren Herren, die direkt oder indirekt die Jugend auch
noch ermuntern. — In Offizierkreisen sind Trinksitten bei festlichen Gelegen¬
heiten ebenfalls noch vorhanden. In meinem Hörsaale habe ich die Dresdner
Bilder gegen den Alkohol für ständig angebracht. Ich hoffe damit die Studieren¬
den zu veranlassen, dass sie diese Bilder während der Pausen wiederholt be¬
trachten und dabei einen Eindruck aufnehmen, der sich dem Gedächtnis
unwillkürlich einprägt und beim gelegentlichen Drandenken weitere Ueber-
legungen über die Wirkungen des Alkohols zur Folge haben muss. Gesprochen
habe ich in dieser Hinsicht im laufenden Semester noch kein Wort; das soll
nur einmal bei der Besprechung der Alkoholfrage geschehen ; denn ich fürchte,
dass i c h (ich sage nur ich ; ein anderer kanns vielleicht besser) bei vielen Worten
eher einen Trotz als eine Geneigtheit bei den Hörern erzielen könnte. Die
Aenderung der herrschenden Anschauungen vollzieht sich bekanntlich sehr schwer
bei der allgemeinen Fröhnung, bei der vermeintlichen Selbstverständlichkeit, dass
der Alkohol zur Erholung, zur Geselligkeit und Lust gehöre und ferner bei der
Hänselung, der ein junger Mann, der nur halbwegs mässig trinken will, seitens
seiner Gleichaltrigen ausgesetzt ist. Die Aenderung lässt sich nicht durch viele
Worte herbeiführen, die Jugend muss vorsichtig gefasst und diplomatisch geleitet
werden. Beispiele fruchten mehr als Reden!
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41 ft
No. 41. Eisenbahndirektor a. D. Otto de Terra in Marburg.
1. Otto de Terra in Marburg.
2. geb. io. Mai 1851.
3. Gut Kuflies in Ostpreussen.
4. Eisenbahndirektor a. D.
5. Nach bestandener Reifeprüfung in den preuss. Staatseisenbahndienst getreten,
später in Berlin Staatswissenschaften studiert.
6. Deutscher Verein enthaltsamer Eisenbahner, Guttemplerorden, Alkoholgegnerbund
und Deutscher Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke.
7. Von jeher im allgemeinen sehr mässig, seit August 1901 völlig enthaltsam.
8. Die Einsicht, dass es unter dem Zwange der herrschenden Trinksitten ausser¬
ordentlich schwer fällt, stets wirklich mässig zu bleiben, und dass im Kampf
gegen die Alkoholschäden völlige Alkoholenthaltung die weitaus erfolgreichste
Waffe ist.
9. Keine.
10. Durch den Verzicht auf den früheren regelmässigen Genuss geringer Mengen
leichten Weins wurde das körperliche Befinden nicht merklich beeinflusst; da¬
gegen führte das Bewusstsein, wirksamer als vorher an einer hohen Kultur¬
aufgabe mitzuwirken, zu erhöhter Arbeits- und Lebensfreude.
11. Für den gefahrvollen und verantwortlichen Eisenbahndienst ist der landläufige
gewohnheitsmässige Genuss alkoholischer Getränke eine stete Quelle schwerer
Gefahren, die, wie das Beispiel Nordamerikas und Englands zeigt, durch völlige
Alkoholenthaltung am wirksamsten verschlossen wird.
Im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben ist der anfängliche Spott über die
Abstinenz, als einer «Uebertreibung»,erstaunlich schnell einer anderen zutreffenderen
Beurteilung gewichen.
12. Für gesellschaftliche Zwecke und täglichen Bedarf früher jährlich etwa 3—400 Mark.
13. Nichts, da auch für die Geselligkeit im Hause der Alkohol mit bestem Erfolg
völlig ausgeschaltet ist.
14. In dem Bestreben, die segensreiche Enthaltsamkeitsbewegung in die Reihen des
deutschen Eisenbahnpersonals zu tragen, wurde vielfach, selbst in massgebenden
Kreisen, eine Schädigung des wohlbegründeten Ansehens und damit der In¬
teressen der Verwaltung erblickt, weil man annahm, es würde dadurch der
Anschein erweckt, als sei das deutsche Eisenbahnpersonal den in allen Berufs¬
kreisen herrschenden Trinksitten in ganz besonderem Masse unterworfen.
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410
No. 42. Landesversicherungsrat Hansen in Kiel.
1. Hansen, Peter Christian, Kiel.
2. geb. 12. März 1853.
3. Flensburg, Provinz Schleswig-Holstein.
4. Landesversicherungsrat in Kiel.
5. Volksschule. Selbstunterricht. Hospitant an der Technischen Hochschule in
Dresden. Universitäten: Leipzig, Paris und Strassburg. Ausgedehnte Reisen im
In- und Auslande.
6. Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, sowie Alkoholgegnerbund in Kiel.
7. Seit Juli 1896 enthaltsam. (Vergl. den Aufsatz »Wie ich Enthaltsamer wurde«,
Jahrgang 1904, Heft 1, S. 54—62 dieser Vierteljahresschrift.)
8. Mein Entschluss, enthaltsam zu sein, ist vor allem durch die Ueberzeugung von
den verhängnisvollen Folgen des Alkoholgenusses für unser Volksleben im ganzen
wie für den Einzelnen in körperlicher, sittlicher, geistiger und wirtschaftlicher
Beziehung bestimmt worden. Ich glaube erkannt zu haben, dass kaum eine
wirksamere Lehre für den Kulturfortschritt gepredigt werden kann als diejenige:
»Meidet den Alkohol?
9. Keine.
10. a) Mein körperliches Befinden ist in vieler Hinsicht gebessert worden. Ich litt
früher manchmal an Kopfschmerzen, die ich seitdem kaum noch kenne. Auch
Erkältungskrankheiten war ich ehedem weit mehr ausgesetzt.
b) Auch für meine sehr angespannte geistige Tätigkeit habe ich nur die günstigsten
Einwirkungen verspürt.
c) Ich habe immer Freude am Leben empfunden und bin in dieser Hinsicht
ganz der Alte geblieben. Nur empfinde ich heute mehr denn je Abscheu
gegenüber der Sorte von »Fröhlichkeit«, die künstlich durch den Alkohol
hervorgebracht wird.
11. Meinen erwachsenen Kindern lasse ich in Bezug auf diese Sache ein grosses
Mass von Freiheit. Auch meinen Gästen gegenüber übe ich keinen Zwang.
Meine gesellschaftlichen Beziehungen haben gegen früher keine erheblichen
Veränderungen erfahren. Meine Freunde haben mir die Durchführung der Ent¬
haltsamkeit nie erschwert. Manch einer derselben hat mir gesagt: »Du machst
es viel vernünftiger wie wir — vielleicht komme ich auch noch zu Deinem Stand¬
punkt«. Vorjahresfrist erklärte einmal ein mir bekannter Leiter einer Brauerei:
»Wenn ich nicht Bierbrauer wäre, würde ich es genau so wie Sie halten«. Im
öffentlichen Leben habe ich meine Grundsätze ebenfalls leicht durchsetzen können.
12. u. 13. Früher jährlich etwa 100 Mk., jetzt minimal.
14. Ich bedaure, dass ich zu der Erkenntnis von dem Werte der Enthaltsamkeit
erst so spät gekommen bin. Ich würde mich dann wahrscheinlich noch viel
besser befinden.
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420
No. 43. Nervenarzt Dr. Hugo Hoppe in Königsberg.
1. Hugo Hoppe.
2. geh. 14. Dezember 1860.
3. Kreuzburg O/Schl.
4. Nervenarzt in Königsberg.
5. Studierte 8 Semester Mathematik und Naturwissenschaft, sodann Medizin. Darauf
13 Jahre Arzt an öffentlichen Provinzial-Irrenanstalten. Seit 3 Jahren Nervenarzt.
6. Früh Mitglied des deutschen Ver. geg. Missbr. geist. Getränke; Mitglied des
Vereins abstinenter Aerzte seit seinem Bestehen; Vorstandsmitglied d. Königs¬
berger Bezirksvereins geg. d. Missbrauch geist. Getr.
7. Von jeher sehr massig, auf der Universität innerlich Feind aller Saufereien,
wenn ich auch gelegentlich, der Mode gehorchend, Kommerse u. dergl.
mitmachte und mir einen Rausch antrank, ohne aber regelmässig alkoholische
Getränke (es kam nur Bier in Betracht) zu geniessen. Regelmässiger Alkohol¬
genuss erst seit 1888 als Irrenarzt, da zu meiner Verpflegung auch Verabreichung
von Bier, in der einen Anstalt 2 Flaschen, in der zweiten 3 Flaschen täglich
gehörten, die ich mit der Zeit pflichtschuldigst zu leeren mich gewöhnte.
Späterhin liess ich jedoch 1 oder 2 Flaschen täglich stehen, bis ich mich
schliesslich 1894 zur Enthaltsamkeit bekehrte.
8 . Nachdem ich die Alkoholfrage an der Hand des Baer sehen Werkes studiert
und mir schon lange Selbstvorwürfe gemacht hatte, weil ich mich im ge¬
selligen Verkehr immer wieder hatte bewegen lassen, mehr zu trinken als mir
bekam, (besonders gegen Bier war ich sehr empfindlich, und schon 2—3 Glas
machten mir Magenbeschwerden), setzte ich mein Trinkquantum allen Spöttereien
gegenüber immer mehr herab und wurde endlich durch einen Aufsatz von
A. Smith in der Berliner klinischen Wochenschrift, der einen Appell an den
Arzt richtete, des Beispiels wegen auf den Rest von Alkohol zu verzichten, zur
Abstinenz gebracht.
9. Im allgemeinen keine; nur bei meiner Hochzeit, die etwa Jahr nach Beginn
der Abstinenz stattfand, nippte ich einigemal am Weinglase, und kurze Zeit
darauf trank ich einmal bei grossem Durst an einem heissen Sommertage, da
kein anderes Getränk zu haben war, einen Schnitt ( 2 / J0 Liter) Bier.
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421
10. Ich glaube nur gute. Doch habe ich keine richtige Schätzung, da ich zufällig
in der gleichen Zeit, als meine Abstinenz begann, durch andere Umstände nervös
geworden war. Meine geistige Arbeitskraft wurde trotz dieser Nervosität nicht
herabgesetzt, sondern eher etwas gesteigert. Gemütlich und an Daseinsfreude
habe ich durch das Aufgeben des geringen Alkoholgenusses nicht verloren, im
Gegenteil.
11. In meiner Familie machte es mir keine Schwierigkeit, die völlige Alkohol¬
abstinenz, die sich bald von selbst ergab, durchzuführen. In meinem Berufe
als Irrenarzt wurde ich energischer gegen die Alkoholverabreichung an Kranke,
und wenn ich da auch manche Schwierigkeiten zu bekämpfen hatte, so habe
ich doch da gutes gewirkt. In meinem jetzigen Berufe als Nervenarzt mag
mir vielleicht mein öffentliches Auftreten gegen den Alkohol in manchen
Kreisen schaden, die Abstinenz an und für sich wird es sicher nicht tun.
Meine geselligen Beziehungen haben gar nicht gelitten. Ich habe stets an
allen Vergnügungen Teil genommen, wobei die anfänglichen Spöttereien über
mein Wassertrinken bald verstummten. In der ersten Zeit verabreichte ich
noch Bekannten, die mich besuchten, alkoholische Getränke; nach 2 Jahren
aber machte ich mein Haus völlig alkoholfrei, ohne dass dies einen wesent¬
lichen Einfluss auf meinen allerdings sehr geringen Familien verkehr hatte.
12. Sehr wenig. Als Student so gut wie gamichts, gelegentlich einmal einige Groschen,
als Arzt, da ich regelmässig zur Beköstigung Bier erhielt, auch nur ausnahms¬
weise, vielleicht 30—50 Mk. im Jahre.
13. Nichts.
14. Durch die Abstinenz und den daraus für mich folgenden Kampf gegen den
Alkohol ist eine hohe Befriedigung über mich gekommen, welche die Mässigkeit
nie zu erzeugen imstande war.
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422
No. 44. Rechtsanwalt Dr. Eggers in Bremen.
1. Wilhelm Hermann Eggers in Bremen.
2. geb. 29. August 1867.
3. Bremen.
4. Rechtsanwalt und Notar.
5. Vorbereitungsschule, Gymnasium, Universität, Reisen in Deutschland, der Schweiz,
Italien, Frankreich.
6. Deutscher Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, Bremer Bezirksverein
des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke, Bremer Mässig-
keitsverein, Deutscher Verein für Gasthaus-Reform, Alkoholgegnerbund, Altmit¬
glied des Deutschen Vereins abstinenter Studenten.
7. Zuerst durchschnittlicher Alkoholgenuss. Dann Einschränkung. Dann enthaltsam
mit minimalen Ausnahmen. Dann ganz enthaltsam. Dann organisierter Abstinent.
8. Das Lesen der Mässigkeits- und Enthaltsamkeits-Literatur im Zusammenhang
mit dem Erkennen des Umfangs des Alkoholismus und dem Triebe, das Leben
theoretisch und praktisch einheitlich zu gestalten.
9. Keine.
10. a u. b) Nicht mit Sicherheit festzustellen.; c) Erhöhung der Lebensfreudigkeit
und Genussfähigkeit. Beglückendes Gefühl an einer weltgeschichtlichen Auf¬
gabe mitzuarbeiten.
11. a) Die Enthaltsamkeit wurde mir beinahe überall übel genommen.
b) Die Enthaltsamkeit erschwerte mir manchesmal meine berufliche Stellung.
c) Die Enthaltsamkeit war mir in den meisten Fällen ausserordentlich hinderlich
im harmlosen geselligen Verkehr, besonders früher.
d) Im allgemeinen verschlechterte die Enthaltsamkeit meine Stellung im öffent¬
lichen Leben nach oben, verbesserte sie nach unten.
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423
12 —14- Als Kind und Schüler war ich sehr empfindlich gegen Alkohol. Ich er¬
innere mich, dass mehrfach nach kleinen Quantitäten Alkohols Uebelkeit und Er¬
brechen eintrat. Auf der Universität wurde es mir zuerst nicht leicht, das nach
dem Comment jeweilig erforderliche Quantum zu vertilgen. Ich hielt das aber
für eine unmännliche Schwäche und übte mich so lange, bis ich so gut wie
der Durchschnitt meinen Mann stand. Eine gewisse Ueberwindung kostete es
mich aber doch noch meistens. Ich habe mich deshalb auch niemals an den
regelmässigen Genuss alkoholischer Getränke ausserhalb der Kneipe gewöhnt.
Bald nach Abschluss meiner Studien bekam ich die Mässigkeitsblätter regel¬
mässig zu lesen. Zugleich lernte ich aus der Praxis die sozialen Verhältnisse
genauer kennen und bildete mir so allmählich ein Urteil über die Alkoholfrage.
Es dauerte nicht lange, dass ich von der Wichtigkeit dieser Frage erfüllt wurde
und die Konsequenzen zog. Ich wurde Mitglied des Deutschen Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke und schränkte meinen Alkoholgenuss so ein,
dass ich gar nicht mehr regelmässig und bei besonderen Gelegenheiten selten
übermässig trank. Ich hatte aber mit diesem Mässigkeitsstandpunkt ausser¬
ordentliche Schwierigkeiten in meiner Umgebung. Ueber die Abstinenz erfuhr
ich aus den Mässigkeitsblättern nicht viel. Ich nahm der Abstinenz gegenüber
den landläufigen deutschen Standpunkt ein. Ich hielt sie gut für Kinder, Trinker,
Trinkerrettung, im Grunde hatte sie für mich etwas sehr Unsympathisches, ziem¬
lich Unbegreifliches, Fremdartiges.
Je mehr ich mich aber mit der Theorie und Praxis der Alkoholfrage be¬
schäftigte, um so näher kam ich — ohne es immer unmittelbar zu bemerken —
der Abstinenz. Das tägliche Leben und die Wissenschaft überzeugten mich,
dass die Verheerungen des Alkoholismus viel grösser waren, als ich es früher
geahnt hatte, und dass man ohne Alkohol gerade so gut in eine angeregte,
heitere, vergnügte Stimmung kommen kann, wie mit Alkohol, und dass der
Alkohol immer die Stimmung verflacht.
Nachdem ich lange Zeit abstinent gelebt hatte, ohne einer Organisation bei¬
zutreten, kam ich endlich auch zu der Ueberzeugung, dass ohne starke Abstinenz¬
organisationen die Bekämpfung des Alkoholismus aussichtslos erscheint, und trat
dem Alkoholgegnerbund bei. Ich fühlte mich zuerst durch diese Bindung
eingeengt, das Gefühl verlor sich aber. Ich wünschte, dass die Schilderung
dieser meiner Entwickelungen, die sich auf etwa zehn Jahre verteilt, recht viele
von den noch nicht abstinenten Lesern veranlassen möge, einen kürzeren und
schnelleren Weg zu gehen, da Theorie und Praxis des letzten Jahrzehnts genügendes
Material für die Abstinenz gebracht haben.
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424
No. 45. Pastor Hermann Josephson in Bremen.
1. Hermann Josephson in Bremen.
2. geb. 30. August 1864.
3. Barmen, Rheinprovinz.
4. Pastor prim, an U. L. Frauen in Bremen.
5. Volksschule und Gymnasium in Barmen; Universität in Halle, Greifswald, Berlin,
Bonn.
6. Ja. Verein gegen den Missbr. geist. Getr., Verein zum Blauen Kreuz und
Verein abstinenter Pastoren.
7. Enthaltsam seit Herbst 1891.
8. Ein gelegentlicher Besuch der Trinkerheilanstalt Lintorf mit einem Herz und
Gewissen packenden Vortrag von Pastor Hirsch. Ein sehr trauriger Fall von
Trunksucht und ihren Folgen in der weiteren Familie. Bekanntschaft und inten¬
sive Beschäftigung mit der Arbeit und den Schriften des »Deutschen Vereins
gegen den Missbrauch geistiger Getränke«, von dem ich 1893 in Hamm (Westf.),
meinem damaligen Wohnort, einen Zweigverein ins Leben rief.
9. Eine einzige Unterbrechung im Jahre 1900, wo ich nach einer schweren Nasen-
und Kehlkopfoperation etwa 4 Wochen auf Wunsch des Arztes täglich 1 — 2 Glas
guten Rotweines trank.
10. a—c) Die denkbar günstigsten. Nie bin ich körperlich so frisch, geistig so
regsam und produktiv, gemütlich so harmonisch und lebensfroh gewesen wie
in den Jahren der Enthaltsamkeit.
11. a) Frau und Kinder von 10—16 Jahren bleiben dem Alkohol völlig fern, ohne
dass je der geringste Zwang auf sie ausgeübt wird; sie begehren ihn auch nicht,
b—d) Nach einigen verwunderten Fragen und Seufzern in der ersten Zeit fast
völliges Verstummen von Spott oder Befremden. Die Enthaltsamkeit fällt
von Tag zu Tag weniger auf und stösst auch in Gesellschaften, Hotels und
Wirtschaften auf immer weniger nennenswerte Schwierigkeiten, zumal seit
dem Bremer Kongress (1903).
12. Früher im Jahre etwa für 100—150 Mk.
13. Etwa 10—20 Mk. für liebe Gäste, die des Weines oder Bieres nicht entbehren
zu können meinen.
14. Vor allem die Tatsache, dass der Antialkoholismus mit Riesenschritten Boden
gewinnt. Beispielsweise berichte ich nur: 1. Bei der Hochzeit der Tochter
eines Kommerzienrats unweit Bremen, die ich im Frühjahr 1904 mitfeierte,
erklärte der Hausherr gleich zu Anfang der Festtafel, seine dienstbaren Geister
würden sich ein »ganz besonderes Vergnügen daraus machen, auf Wunsch Selters¬
wasser herbeizuschaffen«. Nach wenigen Minuten standen Scharen von Mineral¬
wasserflaschen auf den Tischen, und während des ganzen Diners gab es — ausser
dem üblichen Glas Sekt gegen Schluss — nur je eine Sorte Weiss- und Rotwein!!
2. Im September 1904 fand im feinsten Lokale Bremens, dem »Museum«, die
Feier einer silbernen Hochzeit von über 100 Personen aus den ersten Fami¬
lien Bremens statt. Allerdings gab es mehrere Sorten Wein; aber gleich zu
Beginn des Festessens prangte auf der ganzen grossen Tafel immer abwechselnd
je eine Flasche Rotwein und — eine Flasche Fuchinger. Es geht voran!
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No. 46. Kaufmann Bruno Schulz in Dresden, früher Landwirt.
1. Bruno Schulz in Dresden.
2. geb. io. Juni 1871.
3. Crangen Kreis Schlawe in Pommern.
4. Früher Landwirt, jetzt zum Kaufmannsstande übergetreten.
5. Ich besuchte das Gymnasium und eine Vorschule für Einjahrig-Freiwillige.
6. Ich bin Mitglied des Guttemplerordens seit Januar 1901.
7. Abstinent vom 5. Oktober 1900.
8. Infolge allzugrossen Alkoholgenusses, dem ich mich stets zu Hause, niemals in Gesellschaft hin¬
gab, bekam ich am 4. Oktober 1900 eine Art Herzlähmung, welche eine mehrstündige Bewusst¬
losigkeit zur Folge hatte. Mein Hausarzt Dr. Börner in Fürstenberg i. Meckl., der herbeige¬
rufen wurde, sagte mir; er käme als Freund, nicht als Arzt, um mir zu erklären, dass, falls
ich dem Alkohol nicht ganz entsagte, er nach 8 Tagen wieder in meinem Hause sein würde,
doch diesmal im schwarzen Gehrock, um mir hinter meinem Sarge das letzte Geleite zu geben.
Da sagte ich mir: „Nun Alkohol fahr hin! u verschenkte sofort, was ich noch an alkoholischen
Getränken im Hause hatte, und wurde abstinent. Die Vorzüge der Abstinenz lernte'ich erst
recht durch die Lehren des Herrn Dr. Oolla in Buchheide kennen, wofür ich ihm stets
dankbar sein werde. Es gebührt ihm der Ruhm, viele von den Fesseln des Alkohols befreit
zu haben.
9. Keine.
10. a) Die Glieder wurden wieder elastisch, die Beängstigungen, besonders des Nachts hörten auf;
Leber und Herz, welche nach Aussage des Arztes stark vergrössert waren, schwollen ab;
mein Herzfehler (Heizklappenfehler), den ich infolge von Gelenkrheumatismus zurückbehalten,
und der mich verhinderte; Militär zu werden, heilte gänzlich aus. Während mir als Alkoholiker
das Gehen sehr schwer wurde und allmählich ganz eingestellt werden musste, bin ich jetzt
wieder ein ausserordentlich ausdauernder Fussgänger geworden. Das Nasenbluten, welches
häufig und andauernd eintrat, verlor sich gänzlich. Mein tägliches Erbrechen nach dem Genuss
von festen Speisen, was mich glauben machte, dass ich magenkrank wäre, hörte auf und ich
habe jetzt einen selten guten Magen, der alles verträgt. Das Zittern der Hände und Kniee,
was auf Nervosität zurückgefdhrt wurde, ist verschwunden. Die schmerzhaften Waden- und
Fersenkrämple haben sich auch gänzlich verloren, ebenso die beständigen Gliederschmerzen.
b) Mein Gedächtnis, das mich zur Zeit des Alkoholgenusses häufig im Stiche liess, habe ich
vollständig wiedererhalten, sogar schärfer als in meinen Kinderjahren, in denen ich Mittags
häufig ein Glas Bier oder Wein trank.
c) Durch die Abstinenz habe ich vor allen Dingen mein Selbstvertrauen wieder erlangt und
das Bedürfnis, zu schaffen, sowie Freude an Erfolgen und habe den Wert des Geldes
wieder schätzen gelernt.
11. a) Meine Frau und Schwiegermutter wurden mit mir abstinent und fühlen sich sehr glücklich
durch diese veränderten Lebensgewohnheiten. Meine kleine 6 l j 2 jährige Tochter ist eben¬
falls schon eine begeisterte Abstinentin, die es als persönliche Beleidigung auffasst, wenn
jemand ihr zumutet, alkoholische Getränke zu gemessen. So erklärte sie gelegentlich ihrer
plötzlichen Erkrankung an Influenza in der Schule dem \ om Direktor hinzugezoeenen Arzt,
als er ihr ein Glas Wein verordnet*:, mit Entrüstung, dass sie keinen Wein .riuke und
dass ihre Eltern überhaupt keinen Wein zu llause hätten.
b) In der ersten Zeit meiner Abstinenz ging ich mit meiner Frau auf Reisen, privatisierte dann
auf Rat des Arztes noch ein Jahr und habe mich, dem Drange zum Arbeiten und Schaffen
folgend, dann mit meinem ganzen Können meinem neuen Berufe gewidmet, der mir
Freude macht.
c) Meine Freunde haben mich oft bewundert, dass ich meinen Entschluss, total abstinent
zu sein, durchsetze und mir oft gesagt: Wir wünschten, wir könnten es auch!
12 u. 13. Früher zwischen 1000 —1500 Mark. Jetzt nichts.
14. Es ist für einen Kaufmann oder bei einem anderen Berufe nicht notwendig, wie oft gesagt
wird, aus Rücksicht auf das Geschäft zu trinken; es geht ohne Alkohol besser. Das Leben
ist der Güter höchstes nicht, aber mit Alkoholgetränken kann es zur Hölfe weiden.
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42G
No. 47. Jugenderzieher Wildner im Ehrlich’schen Gestift in Dresden.
1. Ernst Albin Wildner.
2. geb. 14. November 1876.
3. Aiierhammer im Erzgebirge, Sachsen.
4. Erzieher.
5. Volksschule in Auerhammer, Schlosser, Diakonenbildungsanstalt Obergorbitz,
Aufseher im Johanneum (Rettungshaus) in Chemnitz, kurze Zeit in den Herbergen
zur Heimat in Leipzig tätig, Brüderanstalt in Moritzburg und gegenwärtig Erzieher
im Ehrlich’schen Gestift, Dresden.
6. Nein.
7. Obwohl ich von jeher äusserst wenig Alkohol genossen habe und von dessen
schädlichen Wirkungen am eigenen Leibe weniger reden kann, so fasste ich im
August d. J. 1902 doch den Entschluss, dem Genüsse des Alkohols gänzlich
zu entsagen, und gedenke meinem Grundsätze auch ferner treu zu bleiben.
8. Zuerst folgte ich dem Beispiel meines Kollegen. Dann aber wurde es mir
immer klarer, dass ein Erzieher der Jugend berufen sei, durch sein Beispiel zu
beweisen, dass es möglich sei, auch ohne den schädlichen Genuss des Alkohols
ein echter deutscher Mann zu sein, da ja gerade bei der Jugend die falsche
Ansicht vorherrscht, dass vieles Trinken von Bier und Wein das Zeichen echter
Männlichkeit sei.
9. Zweimal in Gesellschaft ein kleines Glas Wein.
10. Da ich schon von Jugend auf äusserst wefiig Alkohol getrunken habe, kann ich
auch von besonderen Folgen der Enthaltsamkeit weniger berichten. Nur kann
ich sagen, dass es mir stets zur Beruhigung gereicht, nicht unter dem Einflüsse
des Alkohols zu stehen, und den schädlichen Wirkungen desselben nie aus¬
gesetzt zu sein.
11. a) In meiner Familie wird der Mässigkeit das Wort gesprochen; die Enthalt¬
samkeit aber hält man für Uebertreibung.
b) Unter den Berufsarbeitern der Inneren Mission, zu denen auch ich gehöre,
macht sich mehr und mehr eine Richtung bemerkbar, die wegen des steigenden
Alkoholelends von jedem Berufsarbeiter der Inneren Mission vollständige
Enthaltsamkeit fordert.
c) Stammtischverkehr habe ich nie gepflegt. Die Beziehungen zu meinen Freunden
haben keine Veränderung erlitten.
12. u. 13. — —
14. Die teueren Preise der alkoholfreien Getränke, die noch dazu grösstenteils
minderwertig sind, machen es Unbemittelten, namentlich zahlreichen Familien
sehr schwer, enthaltsam zu leben, besonders bei Ausflügen am dritten Ort. —
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No. 48. Arbeiter Moßig in Hannover.
i. Rieh. Moßig, Hannover.
2. geb. 29. November 1864.
3. Eilenburg, Preussen.
4. Arbeiter.
5. Bürgerschule.
6. Ja. Enthaltsamkeitsverein »Gut-Templer<.
7. Seit 4 Jahren total enthaltsam.
8. Belehrung über die Alkoholfrage und aus wirtschaftlichen Gründen.
9. Keine.
10. Ich fühle mich wohler, bin seit 4 Jahren noch nicht krank gewesen. Das
Gedächtnis hat sich bedeutend gehoben. Das Bewusstsein erfüllter Pflicht hilft
die Sorgen des täglichen Lebens leichter tragen.
11. a) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass beim Alkoholtrinker der Haushalt
nicht vorwärts, sondern eher rückwärts geht.
b) Wegen Nichttrinkens ist noch keiner arbeitslos geworden, aber wegen Trinkens
schon mancher meiner Kollegen.
c) Die früheren Freunde (Kneipgenossen) habe ich verloren, jedoch andere,
bessere dafür eingetauscht.
12. Pro Woche 4—5 Mark.
13. Nichts.
14. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass mein Beispiel der Enthaltsamkeit nicht
ohne Wirkung auf meine Arbeitsgenossen geblieben ist. Wenn auch nur wenige
enthaltsam geworden sind, so hat doch eine grosse Anzahl den Konsum von
Alkohol eingeschränkt. Trinkexzesse während der Arbeitszeit gehören jetzt zu
den Seltenheiten, während dieselben vor 4—5 Jahren an der Tagesordnung waren.
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49. Dr. Hermann Beck, sozialpolitischer Schriftsteller, Berlin.
1. Dr. Hermann Beck, Tegel bei Berlin.
2. geb. 25. August 1879.
3. Mühlheim a. d. Ruhr, Preussen.
4. Sozialpolitischer Schriftsteller.
5. Realgymnasiast, 2 Jahre Arbeiter als Maschinenschlosser, Eisendreher, Schmied
und Monteur, 6 Semester Technische Hochschule, einige Monate Bureau- und
Betriebsingenieur, 6 Semester Universität (Philosophie, Rechts- und Staatswissen¬
schaften), 1 Jahr Assistent eines Nationalökonomen, 2 Monate bei einer Handels¬
kammer, 2 Jahre Geschäftsführer einer gemeinnützigen Gesellschaft für Bildungs¬
zwecke, seitdem Herausgeber der Kritischen Blätter für die gesamten Sozialwissen¬
schaften.
6. Nein.
7. Von jeher (vermutlich erblich) keine Freude am Alkoholgenuss und dessen
Wirkungen; sehr seltener und dann mässiger Alkoholgenuss.
8—9. Enthaltsam bin ich nicht, weil ich einen Entschluss zu fassen noch nicht in
die Lage kam. Durch mein Beispiel zu wirken, bietet sich in meinem
Freundes- und Bekanntenkreise, der fast ganz (wie ich) den Alkoholgenuss nicht
braucht, und deshalb nur selten alkoholhaltige Getränke geniesst, fast gar
keine Gelegenheit.
10—11. Bei dem ganz seltenen Genuss bin ich gegen Alkohol sehr empfindlich
und kann, ohne im übrigen über Nerven und Magen klagen zu können (im Gegen¬
teil), nur wenig vertragen. Am wenigsten. bekommen mir Obstweine ; Bier macht
mich müde am Mittag, nicht selten schlaflos am Abend. Die anregende Wirkung
kenne ich nur als wenig wertvolle Begleiterscheinung der Verwischung des klaren
Blicks, weshalb ich bei Vorträgen und Diskussionen Alkohol streng meide.
Zitronenlimonade naturell, Mineralwasser und Milch.
12—13. Etwa 80—100 Mark pro Jahr, wovon etwa 85 — 90% auf ungetrunkene
kaum angebrochene teure Weine bei Festessen, repräsentativen Anlässen usw.
entfallen.
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i4- Ich habe erlebt und von Freunden bestätigt gefunden, dass im akademischen
Leben eine Tendenz der sinkenden Wertung des Alkohols platzgreift
und dass damit eine Abnahme des Alkoholgenusses als unmittelbare Folge¬
erscheinung unverkennbar ist. Wie die innerlich starke neustudentische Bewegung
der «freien Studenten», die gegenüber der konventionellen exklusiven Bier¬
geselligkeit sich neue Ideale und Ziele gesteckt haben, wohl als ein Haupt¬
träger dieser Strömung anzusehen ist, so sind es auch in anderen Berufen, be¬
sonders der literarischen und Künstlerwelt gerade die tüchtigsten unter den
Jungen, die intensiv leben wollen und doch mit Würde, — einem Stolz, der es ablehnt,
sich zur Steigerung des Empfindungslebens künstlicher Reizmittel zu bedienen.
Aber dieser Stolz kann nur dort wachsen, wo er Gesundheit, Kraftfülle und
Elastizität als Nährboden findet.
Erleben ist die Sehnsucht der Besten auch unserer Zeit. Ichbewusst-
sein sucht man, und die Skala der Empfindungen soll mit Bewusstsein
und Freude am Erlebnis durchlaufen werden. Wer dann nervlich und
künstlerisch unfähig ist, real zu erleben, der sucht es in der Reflexion. Unter
den Peitschenhieben der Stimulantien werden die Hemmungen der im Gleich¬
gewicht vielleicht willensschwachen und empfindungsarmen Seele ausgelöst, —
man erlebt!
L T nd demgegenüber der Künstler im tiefsten Sinne des Wortes: der
Mensch! Urwüchsig braust’s in ihm, verschmäht er im Bewusstsein der Kraft
künstliche Steigerung. — Auch solche fand ich, und mit dem Gefühle, dass ich
ihnen je länger, desto häufiger begegnen werde. Dass ein hochtalentierter junger
Maler auf meine Frage, wie er zum Alkoholismus stehe, nicht ohne ein etwas
spöttisches Lächeln antwortete: «Für Schwächere! Ich trinke lieber Milch»,—
das mag manchem bizarr klingen, enthält aber, als Symptom gedeutet, eine der
Wahrheiten, zu denen sich die mit Kulturgeräten überschwemmte und be¬
ängstigend verfeinerte Menschheit zurückfinden muss. In diesen Worten liegt
etwas vom Klang des Rousseau’schen «Zurück zur Natur!», das die Grössten
ihrer Zeit berauschte und heute noch lebt in den Besten, den Einsamen
und Tiefen.
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No. 50. Fabrikbesitzer Friedrich Otto Jedicke in Dresden,
Leipzigerstrasse 151.
1. Friedrich Otto Jedicke in Dresden.
2. geb. 2. Juni 1860.
3. Oschatz in Sachsen.
4. Kaufmann und Besitzer einer Zigarrenfabrik.
5. Kaufmännischer Bildungsgang seit 1874.
6. Nein.
7. Ja, ich habe meinen Alkoholgenuss nach und nach immer mehr eingeschränkt
und trinke, soweit ich es vermeiden kann, überhaupt keine alkoholhaltigen Getränke.
8. Ich musste Mittel sammeln, um mir eine Selbstständigkeit zu erringen.
9. Unterbrechungen der Enthaltsamkeit kommen nur noch aus geschäftlichen und
gesellschaftlichen Rücksichten vor.
10. Ich habe infolge der Vermeidung alkoholischer Getränke grössere Arbeitsfreudigkeit
speziell für geistige Arbeit und mehr Friedfertigkeit.
11. Da ich etwas lebhaftes Temperament habe, kann ich mich mancher erregten
Szenen früherer Jahre erinnern, wenn ich mich durch Genuss von Wein oder
Bier erregt hatte.
12. Jährlich wohl kaum 50—100 Mark.
13. Jetzt bedeutend weniger, weil ich meist nur alkoholfreie Getränke geniesse.
14. Nachdem ich seit Jahr und Tag infolge von Rheumatismus und viel Arbeit
Bier und Wein fast ganz gemieden habe, fühle ich mich wohler als je und
gewinne mehr Lust zur Arbeit und mehr Freude am Leben.
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Nachschrift der Redaktion zu der üntersnchnng der
Alkoholfrage anf Grand von Fragebogen.
Es sind der Redaktion noch eine Reihe weiterer Antworten zu¬
gegangen, die im zweiten Jahrgange erscheinen werden. Ein pensionierter
Postassistent schreibt, ohne die einzelnen Hauptfragen zu beantworten,
nur im allgemeinen folgendes: »Den Wirtshausbesuch habe ich
und meine Brüder nicht kennen gelernt. Erst im 28. Lebensjahr, am
Rhein, begann ich regelmässig etwas Bier und Wein zu trinken, soweit
die Befriedigung der Lebensnotdurft (Durst) einen solchen Genuss
verlangte. Während der Arbeit habe ich nur ausnahmsweise Spiri¬
tuosen genossen, und trifft dies auch jetzt noch zu, weil ich an mir,
besser aber noch an meinen Mitarbeitern bemerkte, wie arg ihr ganzer
Mensch an Ruhe und Festigkeit nach dem Trinken von Bier verlor. . . .
»Auch beim Radeln (150 km täglich), sowie beim Marschieren (60 km
täglich) trinke ich nie Spirituosen; ein Bedürfnis sind sie mir nicht und
ihr Genuss bereitet immer eine kleine Störung in meinem Organismus,
sobald es mehr wie 1—2 Glas sind und ich aus Höflichkeit dem Trink¬
zwange nachkomme. Jedenfalls wird man nach reichlichem Biergenuss
träge und stupide. Es lassen sich in diesem Zustande schwierige, das
Urteilsvermögen beschäftigende Arbeiten nur mühsam leisten. Die Gut¬
templer- und Mässigkeitsvereine wirken nicht bloss segensreich für die
Gewohnheitstrinker, sondern helfen auch im Kampfe gegen die lästigen
Trinksitten, welche bei leichtlebigen Naturen zur Leidenschaft und oft
zum Ruin führen.« Am Schlüsse seines Berichtes bemerkt der Briefschreiber
noch, dass er im Sommer an jedem zweiten Tage nach einem 8 / 4 Stunde
weitentfemten See sich begebe, um darin zu schwimmen, dass er jedoch
für den Weg dahin nie das Rad benutze, weil seiner Beobachtung nach
ein kaltes Bad erst dann gut wirke, wenn man von der Badestelle aus
einen scharfen Gang unternimmt. »Meine Bekannten — so schreibt er —
die mit mir im See badeten, haben sich regelmässig erkältet, sobald sie
am See längere Zeit lagerten in der Meinung, die Luft sei warm genug
dazu. Vor drei Jahren geriet ich beim Schlittschuhlaufen, mitten auf
der weiten Eisfläche in eine Eispressung (Spalte) des grossen Schwieloch-
Sees und kam bis an den Kopf in’s Wasser. Dieses kalte Bad und
der längere Marsch in den nassen, und bei 12 Grad erstarrten Kleidern
nach meinem 10 km weitentfemten Heim hat mir durchaus nicht ge¬
schadet. Als ich mich aber umkleidete, wurde ich gewahr, dass die von
Wasserdampf strahlenden Kleider, auch die Leibwäsche, ganz getrocknet
waren. Ausser Seewasser, das ich schlucken musste, hatte ich nichts
genossen. Dieses Erlebnis beweist doch, dass Alkohol ohne weiteres
nicht nötig ist, selbst in solchen, gewiss nicht angenehmen Lagen. (Siehe
auch Nansen »In Nacht und Eise.)
Die Alkohol frage.
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
Chronik über die Monate Oktober, November und Dezember.
Von internationaler Bedeutung für die gesamte Alkohol¬
frage ist das im Dezember 1904 veröffentlichte Programm für den
zehnten Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus,
welcher nunmehr endgültig auf die Tage vom 12. bis 16. Septem¬
ber 1905 in Pest angesetzt worden ist. In das Arbeitsprogramm
sind folgende Referate aufgenommen worden: 1. Der Einfluss des
Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen und tierischen
Organismus, mit besonderer Berücksichtigung der Vererbung. 2. Die
hygienische Bedeutung des Kunstweines gegenüber dem Alkoholgenuss
überhaupt. 3. Ist Alkohol ein Nahrungsmittel? 4. Alkohol und Ge¬
schlechtsleben. 5. Alkohol und Strafgesetz. 6. Die kulturellen Be¬
strebungen der Arbeiter und der Alkohol. 7. Alkohol und physische
Leistungsfähigkeit, mit besonderer Berücksichtigung des militärischen
Trainings. 8. Die Organisation der Antialkoholbewegung. 9. Schule
und Erziehung im Kampfe gegen den Alkohol. 10. Die Reform des
Schankwesens. 11. Die industrielle Verwertung des Alkohols als Kampfes¬
mittel gegen den Alkohol. 12. Der verderbliche Einfluss des Spirituosen¬
handels auf die Eingeborenen in Afrika. Als Referenten haben zu¬
gesagt : Gruber (München), Kassowitz, Wlassak (Wien), van der Velde
(La Hulpe), Forel (Chigny,) Lombroso (Turin), Bleuler (Zürich), Müller
(Groppendorf), Hähnel, Eggers (Bremen), Malins (Birmingham), Legrain
(Paris), Helenius (Helsingfors), Maday, Vambery, Kiss, Stein, Malcomes,
Klemp (Budapest), Fischer (Poszony). Abendversammlungen haben bis¬
her folgende Vereinigungen angemeldet: Die, abstinenten Arbeiter, die
abstinenten Universitätshörer, die ungarische Grossloge des Guttempler¬
ordens, und ausserdem sind Versammlungen der ungarischen Psychiater
und der Landesfrauenvereinigung Ungarns in Aussicht gestellt. — Alle
Zuschriften sind an den Generalsekretär des Internationalen Kongresses
gegen den Alkoholismus Dr. Philipp Stein in Budapest IV, Kösponti-
väroshaza zu richten. — Um vielen deutschen Vertretern zum Besuche
des Kongresses Gelegenheit zu geben, ist der vom »Allgemeinen deutschen
Zentralverbande zur Bekämpfung des Alkoholismus« vorzubereitende
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
433
III. Deutsche A b s ti n e n t e n t a g in Dresden auf den
9. und 10. September 1905 festgesetzt; alle sich auf ihn be¬
ziehenden Anfragen sind an den Vorsitzenden des »Allgemeinen
Deutschen Zentralverbandes«, Franziskus Hähnel-Bremen oder an den
Geschäftsführer desselben, Dr. R. Kraut-Hamburg 19 zu richten. — Die
früheren 9 internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus haben
seit dem Jahre 1885 alle zwei Jahre stattgefunden: in Genf, Zürich,
Christiania, Haag, Basel, Brüssel, Paris, Wien und Bremen. Auf allen
diesen Kongressen ist bisher die Alkoholwissenschaft wesentlich be¬
reichert und zugleich die praktische Agitation gegen die Trinksitten
mächtig gefördert worden. Man hat sich in den beiden letzten Jahr¬
zehnten immer mehr davon überzeugt, dass der Alkoholismus ein Welt*
übel und eine ansteckende Krankheit geworden ist, deren weitere Ver¬
breitung teils durch allgemeine staatliche Gesetze und Verordnungen, teils
durch volkstümliche Vereinsbestrebungen in allen Kulturstaaten ver¬
hütet werden muss.
Bei einem Rückblick auf wichtige Vorkommnisse in verschiede¬
nen Kulturstaaten können wir zunächst berichten, dass im deutschen
Reiche am 1. Oktober 1904 ein deutsches Abstinenz¬
sekretariat als unentgeltliche Auskunftsstelle für das gesamte Gebiet*
der Alkoholfrage in Hamburg eröffnet worden ist. Der Geschäftsführer
ist der als deutscher Bearbeiter des grossen Bergmannschen Werkes
wohlbekannte Dr. R. Kraut in Hamburg (Sophienallee 8). Wir wünschen
dieser wichtigen und nützlichen Gründung des Allgemeinen Deutschen
Zentralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus eine recht gedeihliche
Wirksamkeit und bemerken, dass in der Schweiz bereits eine ähnliche
Geschäftsstelle in Lausanne besteht und dass in Wien ein öster¬
reichisches Abstinenzsekretariat in der Entstehung begriffen ist. —
Weiter erwähnen wir auch an dieser Stelle, dass Deutschlands älteste
Heilanstalt für Alkoholkranke Siloah in Lintorf im November 1904
ihr 2 5 jähriges Bestehen gefeiert hat. Wir verweisen unsere Leser so¬
wohl auf den in diesem Hefte veröffentlichten Bericht des Anstalts¬
arztes Dr. med. Peipers als auch auf die Abhandlung des Pastor Kruse,
Vorsteher der Heilanstalt in Lintorf über das wichtige Thema: »Die
Mitwirkung der Familie bei der Behandlung des Alko¬
holkranken«.
Eine Untersuchungsstelle alkoholfreier Getränke hat
sich wegen des Entstehens alkoholfreier Industrieen als notwendig er¬
wiesen. Nach den Satzungen des am 19. Juli 1904 in Hamburg gegründeten
Zentralverbands zur Bekämpfung des Alkoholismus soll zur Tätigkeit des Ge¬
schäftsführers auch die ständige Kontrolle aller alkoholfreien Getränke
gehören, um die vielfach stattfindende Ankündigung alkoholhaltiger Ge¬
tränke als »alkoholfreie« zu bekämpfen. Auf der am 2. Oktober 1904
in Dresden stattgefundenen Vorstandssitzung des Zentralverbandes wurde
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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beschlossen, diese Kontrolle in folgender Weise zur Ausführung zu
bringen. Diejenigen Firmen, welche wirklich alkoholfreie Getränke her¬
zustellen versprechen, können sich unter folgenden Bedingungen unter
die Kontrolle des Zentralverbandes stellen : Der Geschäftsführer entnimmt
nach seiner Wahl Proben der in den Handel gebrachten alkoholfreien
Getränke und lässt sie im Laboratorium des Zentralverbandes auf Alkohol¬
gehalt und Zusätze, welche gesundheitsschädlich sind, oder den Verkaufs¬
wert vermindern, chemisch untersuchen. Kleine Fehler werden zuerst
nur brieflich den betreffendeA Fabrikanten mitgeteilt. Andauernde Un¬
regelmässigkeiten und Ungehörigkeiten in der Beschaffenheit der Fabrikate
werden veröffentlicht, und muss die Firma, falls Besserung nicht eintritt,
aus der Kontrolle entlassen werden. Auch die in den Handel gebrachten
Fabrikate der nicht unter Kontrolle stehenden Firmen werden in gleicher
Weise untersucht und die Analysen derjenigen Produkte, deren Zu¬
sammensetzung nicht den Erklärungen auf den Etiketten, oder der Reklame
entspricht, veröffentlicht. Die Firmen, welche sich der Kontrolle unter¬
worfen haben, erhalten hierdurch das Recht, auf ihren Etiketten, Pro¬
spekten und in ihren Inseraten anzugeben, dass ihre Waren vom Zentral-
verbande kontrolliert werden. Sie sind auch berechtigt, gegen ermässigte
Taxe ihre Erzeugnisse jährlich einmal im Verbandslaboratorium unter¬
suchen zu lassen. Die Analysen werden gratis in der »Alkoholfreien
Industrie'< veröffentlicht. Ratschläge für die Fabrikation werden diesen
Firmen auf Wunsch gratis erteilt. Zur Bestreitung der Kosten für Ana¬
lysen u. s. w. zahlen die Vertragsfirmen einen dem Umfange des Betriebes
angemessenen, in jedem Falle zu vereinbarenden Beitrag an die Kasse
des Zentralverbandes. Das Untersuchungslaboratorium wurde vom Zentral-
verbande der »Alkoholfreien Industrie«, Verlag von O. V. Böhmert in
Dresden, übertragen.
Die Zunahme der Guttemplerlogen in Deutschland
beweist am deutlichsten den Erfolg der Bewegung gegen den Alkohol.
Nach einem im Dezember erschienenen Bericht hat Deutschlands Gross¬
loge II des internationalen Guttemplerordens (I. O. G. T.) ihren Einzug
in 373 deutsche Städte und Dörfer gehalten, und zwar mit 780 Logen
und rupd 26000 erwachsenen Mitgliedern und mit 175 Jugendlogen und
5000 jugendlichen Mitgliedern. Vor 10 Jahren zählte Deutschlands
Grossloge II (I. O. G. T.) nur 730 Mitglieder in 28 Logen. Am kräf¬
tigsten ist die Guttemplerbewegung in Altona, Berlin, Bremen (Distrikt 12
mit 56 Logen), Danzig, Dresden, Flensburg und Hamburg (Distrikt mit
93 Logen) entwickelt. Das Organ der Grossloge, die von Oberingenieur
Georg Asmussen in Hamburg geleitete Zeitschrift »Deutscher Guttempler«
ist gegenwärtig auf 14 100 Abonnenten gestiegen (gegen 700 im
Jahre 1897). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Orden immer
sicherer sich auch in Mittel- und Süddeutschland festsetzt und sein
Wirken immer mehr die Sympathien der Behörden und Kommunen
findet, da, wie Landrichter Dr. jur. Herrn. M. Popert in Hamburg be-
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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merkt, jeder Fortschritt desselben meinen Sieg der Nüchternheit, der
Ordnung, des Fleisses und der Sitte bedeutet.«
Die Zunahme der Milchschankstellen ist nicht nur in allen
Grossstädten, sondern auch in Mittel- und Kleinstädten und sogar auf dem
Lande bemerkbar, wo sie bei Ausflügen zwar meist von der Jugend und dem
weiblichen Geschlecht, aber auch von männlichen Erwachsenen gern benutzt
werden. — Neben dem Privathandel und der Privatindustrie sorgen auch
gemeinnützige Vereine immer nachhaltiger für gesunde alkoholfreie Ge¬
tränke. Der Verkauf von kalter und warmer Milch in grossen und kleinen
Gläsern zu io und 5 Pfennigen hat in Dresden in allen sieben Volks¬
heimen des Vereins Volkswohl bedeutend zugenommen. Auch aus
Berlin, München wird ähnliches über die Steigerung öffentlicher Verkaufs¬
stellen von Milch berichtet: In Rheinland und Westfalen hat sich so¬
gar schon eine gemeinnützige Gesellschaft mit einem Kapital von
50 000 M. gebildet, welche die Errichtung von Milchschankstellen, in
der Art von Mineralwasserhäuschen, jedoch auch möglichst mit Sitz¬
gelegenheiten, anstrebt. In Essen und Mühlheim a. Ruhr hat man be¬
gonnen. Gelsenkirchen, Düsseldorf, Dortmund, Elberfeld-Barmen, Kalk,
Mühlheim a. Rhein und Oberhausen werden in Kürze folgen oder sind
schon gefolgt. Die Einrichtung, welche neben den milchliefernden Land¬
wirten auch Arbeitgeber und Gemeindeverwaltungen lebhaft interessiert,
ist so getroffen, dass Milch schon zum Frühtrunk vor Beginn der Arbeit
abgegeben wird, und dass Gelegenheit geboten ist, die nährende Milch,
auch Magermilch an Stelle von alkoholischen Getränken, aber auch statt
Kaffee, Mineralwasser oder Limonade zu trinken. Eine Förderung und
weitere Verbreitung derartiger Einrichtungen ist jedenfalls im öffentlichen
Interesse geboten.
In Schleswig-Holstein, woher die deutsche Bewegung für Mässig-
keit und Enthaltsamkeit bisher die kräftigsten Impulse erhalten hat, ist am
18. Nov. d. J. die Jahresversammlung des sehlesw.-holsteinischen Bezirks¬
vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke in . Preetz abgehalten
worden. Der auf dieser Jahresversammlung gehaltene Vortrag des Herrn
Landesversicheningsrat Hansen in Kiel über: Landesversicherungs-
anstaltund Alkoholbekämpfung ist in diesem Heft IV unserer
Vierteljahrsschrift vollständig abgedruckt und wird hoffentlich weithin
anregend wirken. Besonders erwähnenswert ist das kräftige Zusammen¬
wirken der Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine in Schleswig-Holstein.
Der Ortsverein zu Tondern besteht zur Hälfte aus Guttemplern. Dem
Gesellschaftshaus in Toenning, welches unter abstinenter Verwaltung steht,
hat der schleswig-holsteinische Bezirksverein 100 M. bewilligt.
Wie der schleswig-holsteinische Bezirksverein, hat auch der säch¬
sische Landesverband und der Dresdener Bezirksverein gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke im letzten Quartal eine rege öffentliche Tätig¬
keit entwickelt und eine stark besuchte öffentliche Versammlung zur
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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Widerlegung der vom Verein Dresdener Weinhändler herausgegebenen
Schrift »Wein ist Gesundheit« abgehalten. Der in dieser Ver¬
sammlung abgehaltene Vortrag des Dresdener Nervenarztes Dr. Stege¬
mann, welcher in diesem Hefte ebenfalls abgedruckt ist, hat eine leb¬
hafte Diskussion veranlasst, welche voraussichtlich noch lange nach¬
wirken wird.
In Dresden hat Ende November d. J. auch Dr. med. L a q u e t
aus Wiesbaden die Reihe seiner Vorträge »über die Alkohol¬
frage in den Vereinigten Staaten« begonnen, nachdem er
kurz vorher von einer im Aufträge der von der Berliner medizinischen
Fakultät verwalteten Gräfin Bose - Stiftung unternommenen Reise nach
Kanada und Nordamerika zurückgekehrt war. Der von Dr. Laquet in
der Aula der Dresdner Technischen Hochschule am Sonntag, den
27. November, unter Leitung des Herrn Dr. med. Meinert abgehaltene
Vortrag war von Herren und Damen aus den ersten Kreisen der Stadt,
u. a. auch von dem sächsischen Kriegsminister v. Hausen, Oberarzt
Dr. Müller und von dem Vortragenden Rat im Ministerium des Innern
Dr. Fraustadt besucht und bot eine fesselnde Schilderung der frischen
Eindrücke, welche der Vortragende auf seiner Reise in Nordamerika
über die Bekämpfung des Alkohols gewonnen hatte. In der Diskussion
wurden die Mitteilungen des Dr. Laquet durch den Professor an der
Dresdner Technischen Hochschule Dr. Möhlau, der ebenfalls erst kürz¬
lich aus den Vereinigten Staaten und von einem Besuche der Weltaus¬
stellung in St. Louis wieder zurückgekehrt war, vollkommen bestätigt und
zugleich über die Ansichten des neugewählten Präsidenten Roosefeldt
berichtet, welcher der Antialkoholbewegung durchaus günstig gesinnt ist.
— Herr Dr. Laquet, der nach seinem Dresdener Vortrage noch über
verschiedene an ihn gerichtete Anfragen über amerikanische Verhältnisse
und Wohlfahrtseinrichtungen nähere Auskunft erteilte, hat im Monat No¬
vember und Dezember noch in verschiedenen sächsischen und thüringischen
Städten, in Glauchau, Chemnitz, Leipzig, Halle, Jena, in ähnlicher Weise
wie in Dresden über die Bekämpfung des Alkoholismus in Amerika be¬
richtet und überall aufmerksame Zuhörer gefunden. In Leipzig hielt
Dr. Laquet seinen Vortrag im Saale der städtischen Handelshochschule
nicht nur vor Professoren der Universität und Handelshochschule und
hervorragenden Juristen, sondern auch vor Vertretern der Mässigkeits- und
Enthaltsamkeitsvereine, des Blauen Kreuzes und der Guttempler, unter
denen ein einfacher Arbeiter, der viele Jahre in Amerika gearbeitet
hatte, die Ausführungen Dr. Laquets bestätigte und ergänzte, während
Justizrat Dr. Ginsei, welcher die Diskussion leitete, die Gemeinsamkeit
aller gegen den Alkohol gerichteten Vereinsbestrebungen betonte.
Eine ähnliche Vortragsreise, wie Dr. Laquet hat der Geschäfts¬
führer des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke
Pfarrer Gonser, im Interesse der deutschen Bewegung gegen den
Alkohol in der Zeit vom 16. Oktober bis 10. November ausgefiihrt
und dabei in Baden, Elsass-Lothringen, Württemberg und Bayern zahl-
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Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
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reiche Freunde gewonnen und neue Mässigkeitsverein begründet. Das
Dezemberheft der Mässigkeitsblätter des Deutschen Vereins gegen den Miss¬
brauch geistiger Getränke berichtet Näheres über diese Urlaubsreise des
Geschäftsführers und ihre erfreulichen Ergebnisse.
Wir möchten an dieser Stelle als besonders wichtig für die
deutsche Bewegung gegen den Alkohol auch noch der 6 Vorträge in
München gedenken, welche im verflossenen Vierteljahr abgehalten und
am i. Dezember von Prof. Kraepelin mit einer trefflichen Beleuchtung
der pathologischen Wirkungen des Alkohols auf das Seelenleben ge¬
schlossen wurden, nachdem vorher Prof. Gruber die hygienische Seite,
Prof. Haushofer die staatswirtschaftliche und Merkel die pädagogische
Seite der Alkoholfrage beleuchtet hatte. Es ist von nicht geringer Be¬
deutung, wenn erste wissenschaftliche Autoritäten in der Bierstadt
München die Schädlichkeit des Biergenusses öffentlich beleuchten und
der Bevölkerung nicht nur strenge Mässigkeit, sondern noch besser die
Abstinenz empfehlen und sogar zur Erhöhung der Biersteuer ermuntern.
In Holland hat der Kampf gegen den Alkoholismus
einen bedeutenden Umfang angenommen. Dreizehn grosse Enhaltsam-
keitsvereine zählen rund 50000 Mitglieder, wozu noch eine erhebliche
Anzahl Abstinenten unter den Sozialdemokraten kommt. Auch in den
Kasernen wird der Alkoholkonsum von Offizieren und Unteroffizieren
energisch bekämpft. In der Pionierkaseme zu Dortrecht ist beispiels¬
weise der Verbrauch an Genever von 1222 Liter im Jahre 1896 auf
446 Liter im Jahre 1902 zurückgegangen, während der Konsum an
alkoholfreien Getränken sich von 235 auf 1736 Flaschen erhöht hat.
Von anderen Kasernen werden ähnliche Erfahrungen mitgeteilt. H.
Aus Schweden wird der Vierteljahrsschrift »Die Alkoholfrage<
über eine wichtige Anordnung der schwedischen Staatseisenbahnverwaltung
berichtet, dahingehend, dass beim Eintritt starker Kälte die Verab¬
reichung warmer Milch an das Zugpersonal auf den
grösseren Bahnstationen auf Kosten der Verwaltung erfolgen soll. Ein
für alle Länder jedenfalls sehr nachahmungswertes Vorgehen!
Weiter wurde aus Schweden bereits im zweiten Heft der »Alkohol¬
frage« über die verschiedenen Vorschläge berichtet, welche gemacht
worden waren, um der Feier des 25jährigen Bestehens der
Guttemplersache in Schweden ein dauerndes Erinnerungs¬
zeichen zu geben. Drei Anregungen waren zunächst ergangen : Begrün¬
dung einer Hochschule des Guttemplerordens; Errichtung eines Kinder¬
heims und Schaffung eines Unterstützungsfonds für ältere bedürftige
Guttempler. Es wurde dann noch weiter beantragt, ambulante Schul¬
küchenkurse zu veranstalten und Stipendien für den Besuch von Volks¬
hochschulen auszusetzen. Im ganzen lagen also fünf Projekte vor. Bei
Gelegenheit der Jubiläumsfeier in Gothenburg kam man jedoch nicht
zu einer endgiltigen Entscheidung. Es wurde nur beschlossen, eine
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438 Vierteljahrschronik über die Alkoholfrage.
Summe von mindestens iooooo Kronen (d. i. reichlich 110000M.) zu-,
sammen zu bringen und alsdann bei der Grosslogenversammlung im
Jahre 1905 einen weiteren Beschluss über die Verwendung zu fassen.
Gegenwärtig (im Dezember 1904) ist eine Sammlung unter den Gut¬
templern im ganzen Königreich Schweden im Gange, die voraussichtlich
einen grossen Ertrag liefern wird. Von unserer Zeitschrift wird den
Freunden in Schweden warm empfohlen, doch die Begründung
eines besonderen Lehrstuhls für die Alkoholfrage auf
einer schwedischen Hochschule in Erwägung zu ziehen.
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II. Besprechungen.
Alkoholgenuss und wirtschaftliche Arbeit, Schon vor
20 Jahren hat der Herausgeber dieser Zeitschrift Erhebungen darüber ver¬
anlasst, welche Rolle der Alkohol auf den Arbeitsplätzen spiele und wie sein
Missbrauch dort zu verhüten sei. Wenn diese Ermittelungen keine
sonderlich nachhaltigen Spuren hinterlassen haben, so mag dies daran
liegen, dass sie, der Auffassung jener Zeit entsprechend, den Feind
der Arbeit allzu einseitig im Branntwein erblickten, und dass man da¬
mals noch ziemlich allgemein der Anschauung huldigte, dass die alko¬
holischen Getränke in irgendwelcher Form ein namentlich bei schwerer
körperlicher Arbeit unentbehrliches »Stärkungs-« und Genussmittel seien.
Dass sich in beiden Punkten neuerdings ein völliger Umschwung der
Meinungen vollzieht, braucht hier nur angedeutet zu werden.
Die neue Erkenntnis ist freilich noch weit davon entfernt, Gemein¬
gut auch nur der »gebildeten« Volksklassen zu sein. Ihre grosse Be¬
deutung für unser Wirtschaftsleben ist überaus einleuchtend.
Umsomehr ist eine kürzlich erschienene Schrift zu begrüssen, in
der Dr. med. Alfred H. Stehr, Arzt in Magdeburg, auch Dr. der Staats¬
wissenschaften, das Ergebnis neuerer meist persönlich angestellter Unter¬
suchungen der Oeffentlichkeit übergibt.*) Ist ihre Zahl auch verhält¬
nismässig gering, so ist dafür grösserer Wert auf eingehendes Erfassen
der Einzelerscheinungen gelegt worden.
Bevor wir uns dem Inhalte der Schrift zuwenden, sei bemerkt,
dass sie in einem grundlegenden Teil unter sorgfältiger Benutzung ein¬
wandsfreier Quellen den Einfluss des Genusses geistiger Getränke auf
Muskel- und geistige Arbeit darlegt. In dem folgenden i. (eigentlich 2.) Teil
werden die in den gewerblichen Betrieben gesammelten Tatsachen be¬
handelt. Wir werden mit Art und Umfang des Alkoholgenusses der
Arbeiter während der Arbeit und in den Ruhepausen, wie namentlich
auch mit den mannigfaltigen Gründen und Ursachen dieses Genusses
bekannt gemacht. Sehr beachtenswerten Untersuchungen darüber, wie
dieser Genuss die Produktivität der Arbeit beeinflusst, folgen nach einem
kurzen Hinweis auf den daraus entspringenden Gegensatz zwischen
Arbeiter- und Unternehmerinteressen mancherlei Fingerzeige für eine
Steigerung der Intensität des Betriebes, die der Aufmerksamkeit aller
volkswirtschaftlich und sozial interessierten Kreise ganz besonders
empfohlen seien. Der 2. (richtiger 3.) Teil beschäftigt sich mit dem
*) AJkoholgenuss und wirtschaftliche Arbeit. Jena, G. Fischer. 235 S. , ■ •
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Besprechungen.
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Alkoholgenuss nach der Arbeit, seinen Ursachen und wirtschaftlichen
Wirkungen auf die Produktivität der Arbeit, um sich im letzten Ab¬
schnitt der Therapie des Alkoholismus zuzuwenden.
Ueberall zeigt sich der Verfasser nicht allein auf der Höhe seiner
medizinischen und nationalökonomischen Wissenschaft, sondern auch als
weitblickender und warmherziger Volksfreund. Offenbar kommen ihm
auch seine in jahrelanger Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter im
In- und Auslande gesammelten Erfahrungen zu statten.
Wie sehr er vielen seiner ärztlichen Berufsgenossen an Einsicht
überlegen ist, zeigt sich schon im grundlegenden Teil seiner Arbeit,
wo er zu dem Ergebnis kommt, dass der Alkohol dem ermüdeten
Muskel keine Kräfte, sondern nur Reize zuführt, die zwar für kurze Zeit
die Muskelleistung zu bessern vermögen, um sie nachher aber um so
weiter unter das gewöhnliche Mass sinken zu lassen. Die Alkohol¬
wirkung auf geistige Arbeit, losgelöst von den sich im einzelnen er¬
gebenden Verschiedenheiten, fasst er in folgende Sätze zusammen:
i) Das Gefühl erhöhter Leistung entspricht nicht immer einer tatsächlich
grösseren und namentlich besseren Leistung; 2) das Endergebnis für
eine nicht rasch vorübergehende geistige Leistung ist immer ein Ver¬
lust ; 3) die Schädigung der Arbeitsleistung ist um so grösser, je höher¬
wertig die geistigen Kräfte sind, deren sie bedarf. Dabei verkennt er
nicht, dass die Uebung in einer Arbeit die durch den Alkohol ver¬
ursachte Schädigung zu mindern vermag.
Alles das ist zwar keineswegs neu, bietet aber eine wertvolle Be¬
stätigung von Tatsachen, deren Richtigkeit unter dem Banne veralteter
Irrtümer und Vorurteile selbst in ärztlichen Kreisen noch immer nicht
durchweg anerkannt wird.
Das Hauptverdienst der Stehr’schen Schrift, die auch ausländische
und namentlich amerikanische Verhältnisse zum Vergleiche heranzieht,
dürfte in dem Nachweis zu erblicken sein, dass es in Deutschland heute
noch fast ausnahmslos die Gefahr der Trunkenheit allein ist,
die den Unternehmer bestimmt, die unbegrenzte Freiheit des Genusses
eines alkoholischen Getränkes auf seiner Arbeitsstätte einzuschränken,
während im Auslande (Amerika) die Erfahrung bestimmend ist, dass schon
geringe »mässige« Mengen, die noch keine sichtliche Anheiterung her-
vorrufen, die Leistungsfähigkeit mindern. Der grundlegende
Unterschied zwischen deutschen und ausländischen (amerikanischen) Ver¬
hältnissen ist hiermit treffend gekennzeichnet.
Nach den Stehr’schen Ermittelungen ist namentlich im Osten
Deutschlands der Alkohol selbst in seiner schärfsten und soweit
schädlichsten Form, dem Branntwein, noch nicht überall aus den Arbeits¬
stätten verbannt. Und es ist eine auffällige Erscheinung, dass er meist
nur noch in solchen Betrieben wenn nicht ausdrücklich zugelassen so
doch stillschweigend geduldet wird, die sich in den Händen von Aktien¬
gesellschaften, Gemeinden oder staatlichen Verwaltungen befinden. Neben
einem bedauerlichen Mangel an ausreichender Einsicht und Initiative
mag dafür eine gewisse Rücksicht auf die in den Arbeiterkreisen noch
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Besprechungen.
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vielfach verbreitete und von Dr. Stehr nicht selten angetroffene irrige
Meinung bestimmend sein, dass sie den Branntwein bei schwerer Arbeit,
Ueberstunden u. dergl. m. als »Stärkungsmittel« nicht entbehren könnten.
In den Betrieben des westlichen Deutschlands wird fast noch
durchwegs der Genuss von Bier zugelassen, fcum Teil in recht weiten
Grenzen. Nur vereinzelt ist der Genuss aller geistigen Getränke während
der Arbeitszeit verboten, u. a., was im Hinblick auf die sozusagen
branntweinfreundlichen staatlichen und sonstigen körperschaftlichen
Unternehmungen besonders hervorgehoben werden mag, in der könig¬
lichen Eisenbahnwerkstätte in Köln. Sehr beachtenswert ist, dass dort
weder Frühstücks-noch Vesperpausen bestehen und damit
auch die hauptsächliche Gelegenheit zum Alkohol¬
genuss entfällt.
Die verderbliche Wirkung des durch den Patentverschluss der
Flaschen zu gewaltiger Ausdehnung angewachsenen Flaschenbierhandels
wird auch von Dr. Stehr gebührend gewürdigt.
In den Kontoren und Bureaus ist der Genuss von Bier, namentlich
in den Frühstückspausen, in Deutschland meist nicht verwehrt, doch
wirkt hier das Beispiel der oberen Beamten oder Chefs meist wie ein
Verbot. Auch in Werkstätten u. dergl. hat Dr. Stehr übrigens vielfach
die hinlänglich bekannte Macht des Beispiels beobachten können.
Die sich erfreulich mehrenden Bemühungen, den Alkohol auf den
Arbeitsstätten durch zum Teil unentgeltliche Abgabe wohlfeiler Ersatz¬
getränke, wie Kaffee, Tee, Selterswasser, Limonaden, hier und da auch
wohl Milch, zu verdrängen, werden auch von Dr. Stehr rühmend hervor¬
gehoben.
Immerhin geht aus seinen Darlegungen deutlich hervor, dass wir
in Deutschland noch einen recht weiten Weg zurückzulegen haben, um
dahin zu gelangen, was im Auslande, namentlich in Amerika, in der
Ausschaltung des Alkohols als Genussmittel, nicht bloss auf den Arbeits¬
stätten, zum grossen Vorteil der heimischen Produktion bereits erreicht
wotden ist.
Wenn unserer nationalen Arbeit auf dem Weltmarkt dauernd eine
hervorragende Stelle gesichert werden soll, wird man nicht umhin können,
sich die Erfahrungen des Auslandes zu Nutze zu machen und den die
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit mindernden Genuss geistiger
Getränke in sehr viel weiterem Umfange als bisher wenigstens von den
Arbeitsstätten zu verbannen. Zur Mehrung dieser Erkenntnis wird die
Stehr’sche Arbeit wesentlich beitragen. Doch ist ihr nicht allein aus
diesem Grunde weiteste Verbreitung zu wünschen. Auch über die Mittel
und Wege zur Erreichung des Zieles bietet sie beachtenswerte Aufschlüsse.
Dem Wunsche des Verfassers im Vorworte seiner wertvollen Schrift,
»dass die einer fortschrittlichen Sozialpolitik geneigten Kreise unseres
Volkes daraus neue Antriebe für ihre menschenfreundlichen Bestrebungen
gewinnen«, wird man gerne zustimmen können. de Terra.
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Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. Die
Verhältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karls¬
ruhe. Bericht erstattet an das Grossherzogliche Ministerium des
Innern und herausgegeben von der Grossherzoglichen Badischen
Fabrikinspektion. Karlsruhe 1904. Verlag der C. Bruhnschen Hof¬
buchdruckerei. (272 S.)
Die Arbeiterwelt erblickt vielfach im Alkohol eine gewisse Kraft¬
quelle oder Stärkung und Mehrleistung und nimmt ihn als Nahrungsstoff
mit oder ohne andere Nahrungsstoffe zu sich. Dieses Vorurteil kann
nur ausgerottet werden, wenn man die Tatsachen des Alkohol Verbrauchs
im Volkshaushalt und das Verhältnis dieses Verbrauchs an den Ausgaben
für die wirkliche Ernährung, sowie Kleidung, Wohnung, Erholung, Ver¬
sicherung und Haushalt im allgemeinen genau vergleicht und sich be¬
müht, das Volk auch mit dem A.-B.-C. des Haushaltes bekannt zu
machen. Nach dem Vorgehen des verdienten badischen Fabrikinspektors
Wörrishoffer hat sein Nachfolger Dr. Fuchs eine Enquete über die Ver¬
hältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karlsruhe ver¬
anstaltet und bei der Verarbeitung auch den Alkoholkonsum der von
ihm näher beobachteten Bevölkerungsschichten näher beleuchtet.
Nach den von ihm geprüften Arbeiterhaushalten geniessen die männ¬
lichen Arbeiter fast ausnahmslos an Vor- oder Nachmittagen Bier oder
Wein; die Menge schwankt zwischen J / 4 und 1 Liter Bier und */ 4 und
1 / 2 Liter leichten Wein. Das Flaschenbier ist am beliebtesten, es wird
aus zahlreichen Kleinhandlungen nach Belieben auf Kredit abgegeben.
Ganz allgemein ist festzustellen, dass die Ausgaben für geistige Getränke
weitaus zu hoch sind. Im Durchschnitt wurden unter Einrechnung des
Wertes des eigenen Obstweinerzeugnisses 219 M. pro Familie ausgegeben,
während die Gesamtkosten des Haushalts (Nahrungs- und Genussmittel)
1021 M. im Durchschnitt betrugen. Demnach beträgt die Ausgabe für
geistige Getränke mehr als */ 6 der Haushaltungskosten. Bier erfordert
147 M., Wein 65 M., Branntwein 7 M. Die Darstellung von Dr. Fuchs
ist ein neuer wertvoller Beitrag zur Naturgeschichte des Alkoholismus und
zur Erkenntnis seiner Verbreitung unter den industriellen Arbeitern auf
dem Lande. — Schon vor Dr. Fuchs hatte Wörrishoffer in betreff der
Zigarrenarbeiter Badens nachgewiesen, dass sie bei einem Aufvvande von
440 M. für den Haushalt im Jahre 104 M. für Bier und nur 40 M. für
Fleisch verbrauchen. Aehnliche Enqueten hat für Böhmen Prof. Singer
gemacht und überall wird zugleich ersichtlich, dass die relativ hohen
Ausgaben für Alkohol auch die Ursachen eines ungenügenden Verbrauchs
wirklicher Nahrungsmittel sind.
Handbuch der eidgenössischen Fabrikinspektion. Von A.
Weidemann, stud. jur. Separatabdruck aus der Zeitschrift für schweize¬
rische Statistik, Bern 1904.
Dieses Handbuch der eidgenössischen Fabrikinspektion gibt eine
Uebersicht über alle Zweige der Inspektion auf Grund der Berichte von
1896—1901 und enthält auch einen lehrreichen Abschnitt über Alkohol,
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worin die verhängnisvolle Rolle dieses Reizmittels zum Durst zuerst an
den durch Alkohol verschuldeten Unfällen nachgewiesen wird. Der Montag
und der Samstag haben den grössten Anteil an den Unfällen. Am
Samstag wird die allgemeine Ermüdung und das Pressieren zum
Feierabendmachen, das Putzen der Maschinen während des Ganges,
ohne weiteres als Ursache anerkannt, der alle Arbeiter unterliegen. Für
die grössere Unfallzahl des Montags ist der Umstand zu berücksichtigen,
dass alle Arbeiter sich am Montag wieder in die Arbeit einleben müssen,
und sehr oft durch Alkoholgenuss und Exzesse am Sonntag mehr ent¬
kräftet als gekräftigt sind. Der Verfasser bemerkt u. a., dass einige
Fabriken nicht mehr an Samstagen auszahlen, um den leichten Elementen
die Gelegenheit zu nehmen, den Lohn sofort durchzubringen. — Die
Auszahlung des Lohnes am Samstag abend fördere das Trinken . . .
Bei vielen Frauen herrscht die Furcht, dass mit der Zahl der Zahltage
auch die Wirtschaftsbesuche des Gatten zunehmen. An einer anderen
Stelle wird berichtet: In grossen Geschäften arbeitet man statt 11 Stunden
nur io, aber ohne Pausen. Das Ergebnis war — mehr Ordnung, weniger
Betrunkene. — Verderblich wirken die Fabrikkantinen, wo geistige Ge¬
tränke in unbeschränkten Quantitäten zum Selbstkostenpreise abgegeben
werden. . . . Sehr bewährt hat es sich an Stelle der Spirituosen Kaffee
oder Tee, gratis oder zu minimalen Preisen verabfolgt, zu setzen . . .
In grossen mechanischen Werkstätten werden bei grosser Hitze bis
500 Liter Kaffee täglich verabreicht. Eine grosse Gasfabrik gibt Kaffee
nach Wunsch bei Tag oder Nacht, man braucht dort jährlich für 600
bis 700 Fr. Kaffee, hat aber damit den Alkoholverbrauch vermindert.
Eine grosse Fabrik hat begonnen, gekochte Milch zum Engros-Einkaufs-
Preis abzugeben Die Milch wird immer mehr begehrt und hat bei
manchem das Biertrinken in den Zwischenpausen verdrängt. In den
Brauereien ist das übermässige Quantum Freibier durch ein kleineres er¬
setzt worden und dafür eine kleine Lohnerhöhung eingetreten. Der
Abschnitt über den »Alkohol« schliesst mit der Bemerkung: »Die Ab¬
stinenz ist ein guter Massstab für die Ständigkeit des Arbeiterstandes.
Die Arbeiterfrage würde wohl eine ganz andere Perspektive annehmen,
wenn die gesamte Arbeiterschaft abstinent wäre, zum Wohle der Klasse
und des Volksganzen.«
Ueber die hauptsächlichsten Hindernisse der Alkohol¬
bewegung. Vortrag von Prof. Dr. Karl Hilty in der Versammlung
des Alkoholgegnerbundes in Bern am 22. Oktober 1904.
In der Schweiz ergibt eine jüngst veröffentlichte Aufstellung
des eidgenössischen Alkoholamtes im Jahrzehnt 1893—1902 eine Zu¬
nahme des Bierkonsums um 60,8%, des Traubenweins um 29,3%, des
Obstweins um 24,8 %. Bloss der Branntweinverkauf hat um 39,2 %
abgenommen. Der Bierverbrauch nimmt namentlich in ungeheuerlichem
Massstabezu. Er beträgt im Jahrzehnt von 1893—1902 jährlich 1975000 hl
gegenüber 1 040 000 hl im vorangehenden Jahrzehnt, also zur Zeit fast
200 Millionen Liter jährlich in der Schweiz. — Prof. Hilty wirft nach
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Mitteilung dieser Zahlen die Frage auf: Woher kommt denn eigentlich
dieses Alkoholbedürfnis und weshalb ist es so schwer, ihm zu steuern?
Hilty nennt als Hauptursachen: i. langjährige Gewohnheit, in die unsere
Völker versunken sind; 2. schlechte Ernährung, gegen die der Magen
eines Anreizes bedarf; 3. die unmittelbare Verbindung des Alkohol¬
genusses mit allen geselligen Veranstaltungen und den zahllosen Ver¬
einen und Festen; 4. das vielfach bestehende Vorurteil, dass Alkohol
Kraft gebe; 5. endlich die Interessen aller der sehr zahlreichen Per¬
sonen und Klassen der Bevölkerung, die aus dem Alkoholgenusse ihren
Lebensunterhalt beziehen. Als weitere Hauptursachen bezeichnet Hilty
noch die Langeweile und die vielen Sorgen des mensch¬
lichen Daseins.
Ferner führt er als Hindernisse der augenblicklichen Aktion an:
1. eine gewisse theoretische Hochachtung für unsere Bestrebungen, welcher
aber das Beste, nämlich das lebendige Beispiel fehlt; 2. die bis¬
herige Unwirksamkeit der Kirche; 3. die grosse Trennung
der Klassen, die auch in der schweizerischen Republik das Zu¬
sammenwirken erschwert und das daher rührende bedeutende Miss¬
trauen einer unteren Klasse gegen alles, was nicht aus ihr selbst her¬
vorgeht ; 4. endlich auch mitunter die Art der Abstinenten selber,
die nicht überall zeigen, dass sie in Arbeitskraft und Arbeitslust den
Nichtabstinenten voranstehen. Hilty betont, dass Abstinenten sich nicht bloss
alkoholischer Getränke enthalten, sondern auch andere Leidenschaften und
schlechte Gewohnheiten bekämpfen und überhaupt edel handelnde
Menschen werden müssen. Prof. Hilty folgert aus seinen Darlegungen,
dass wir auch die Abstinenzbestrebungen verbessern und von ihren
Fehlem reinigen müssen, »Es kommt jetzt, in einer Zeit, wo sich der
Kampf zwischen Gut und Böse immer mehr accentuiert, weit weniger
darauf an, die Bösen zu bekehren, als vorläufig die Guten oder
Halbguten zu verbessern und entschiedener zu machen.« — Bt.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. Viktor Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18«
Verlag von O. V. Böhmert, Dresden, Glacisstrasse 18.
Druck von Kupky & Dietze (Inh. Max Brummer), Dresden-Radebeul.
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Im Verlage von 0. V. Böhmert, Dresden, sind ferner er¬
schienen :
Alkohol, der Mörder im Jahre 1897. 39 Seiten 30 Pf.
Diese Schrift enthält eine Zusammenstellung der 1897
durch den Trunk verursachten Verbrechen.
Bode, Br. W., Bie deutsche Alkoholfrage, so Pf.
Böhmert, Prof. Br. V., Ber Branntwein in Fabriken.
1 Mark.
Böhmert, Prof. Br. V., Bie Reform der Gesellig"
keit und der Wirtshäuser. 40 Pf.
Filskow, J. P., Ber Guttempler. E in Kämpfer für
Ordnung und Sitte, gr. 8°. 28 Seiten. 30 Pf.
Flade, Br. med. E., Arbeiter und Alkohol. Ratschläge
an Arbeiter und Arbeitgeber zur Bekämpfung des Alkohol¬
missbrauchs. 29 Seiten. 40 Pfg.
Vereine und Arbeitgeber erhalten diese Schrift in grösserer
Anzahl zum halben Preise.
Flade, Br. med. E., Bie Heilung Trunksüchtiger
nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche. 65 Seiten 1 Mark.
Flade, Br. med. E., Wider den Trunk. Darstellung
der deutschen Bewegung gegen den Missbrauch geistiger
Getränke. 82 Seiten. 1 Mark.
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Graisowsky, E. v., Der Trunk auf dem Lande im
Königreiche Sachsen, nach einer Enquete von Prof.
Dr. Böhniert. 80 Pf.
Ganser, Hofrat Dr., Die Trunksucht eine heilbare
Krankheit. 20 Pf.
Martius, Pastor Dr., Die ältere deutsche Mässig~
keits- und Enthalfsamkeitsbewegung. Mk. 1 .60.
Matfhaei, Die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit eines
Heeres durch Enthaltung vom Alkohol. 20 Pf.
Priester, Assessor Dr., Wie ich abstinent ward.
30 Pf.
Schmidt, Bibliothekar P., Bibliographie des Alko~
holismus 1880—1900. I. Teil.
Schneider, Joh., Alkoholfreie Getränke und Er-
frischungen. 2 Mk.
Smith, Alfred, Für die Abstinenz.
Alkoholfreie Industrie.
Zentralblatt für die Herstellung und den Vertrieb von alkoholfreien
Getränken.
Redigiert von Dr. E. Luhmann, Halle a. S.
Erscheint monatlich 2 mal zum Preise von Mk. 1.20 pro Quartal.
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Jahrgang in 4 Heften Mfe. 6.—.
■5R
Jahrg. I.
Heft 1.
Die Alkoholfrage.
Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen
- des Alkohols. -
Herausgegeben von
Prof. Dr. Böhmert,
Geh. Regierungsrat in Dresden
Dr. med. Meinert
in Dresden
unter Mitwirkung von:
G. Asmussen, (F. G. X.), Hamburg. Geh. Med.-Rat Dr. A. Baer, Berlin.
Hofrat Dr. Binswanger, Prof. d. Psychiatrie, Jena.
Prof. Bäumlei, Freiburg. Direktor Dr. Böhmert, Bremen.
Dr. C. Brendel, Arzt, München. Dr. Delbrück, Direkt, d. Staatsirrenanst., Bremen.
Prof. Dr. Emminghaus, Direktor der Lebens-Versicherungsbank, Gotha.
Dr. Eggers, Bremen. Dr. Fock, Hamburg. Professor Dr. A. Frankel, Halle.
Hofrat Dr. med. Ganser, Direktor der städt. Irrenanstalt, Dresden.
Prof. Gaule, Zürich. Hofrat Prof. M. Gruber, München. Dr. Gudden, Bonn.
Geh. Med.-Rat Dr. Guttstadt, Berlin. Dr. med. H. Hänel, Dresden.
Landesrat Hansen, Kiel. Prof. Hilty, Bern. Prof. Dr. K. B. Lehmann, Würzburg.
Dr. Milliet, Bern. Prof. Dr. med. Ad. Schmidt, Dresden. Dr. Scheven, Dresden.
Dr. med. Stegmann, Dresden. Dr. med. Stille, Leipzig.
Eisenbahndirektor a. D. de Terra, Stolp. Prof. Harald Westergaard, Kopenhagen.
Dresden,
Verlag von O. V. Böhmert.
1904.
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Alle für die Redaktion bestimmten Sendungen bittet man zu richten
an: Herrn Prof. Dr. Böhmert, Dresden, Glacisstr. 18, I.
Die Herren Verleger werden gebeten, Recensionsexemplare über
einschlägige Literatur direkt an die Redaktion oder durch Vermittelung
der Verlagsbuchhandlung über Leipzig (Komm. F. Vo 1 c k m a r) zu senden.
Bezugs-Bedingungen.
Der Jahrgang der Alkoholfrage, welcher ca. 24 Bogen umfasst,
gelangt in 4 Heften zur Ausgabe. Er kostet 6 Mark und ist durch jede
Buchhandlung zu beziehen.
Einzelhefte werden zum Preise von 2,00 Mark abgegeben. Die Hefte
erscheinen am Ende eines jeden Vierteljahrs.
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